Religionswissenschaft: historisch orientiert 9783838552972, 3838552970

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Religionswissenschaft: historisch orientiert
 9783838552972, 3838552970

Table of contents :
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Impressum
Inhalt
Vorwort
1 Einleitung. Abgrenzung des Gegenstandes und Explikation der Fragestellung
1.1 Die „Weltreligionen“ oder „Die Religionen der Welt“? Die Problematik einer Klassifizierung der Religionen
1.2 Die Welt der religiösen Phänomene? Die Problematik einer Phänomenologie der Religion
1.3 Lokale Religionsgeschichte als Alternative? Europäische Religionsgeschichte als Beispiel
1.4 Religionswissenschaft zwischen Religionskritik und -apologetik
1.4.1 Der öffentliche Religionsdiskurs
1.4.2 Die religionswissenschaftliche Perspektive
Literatur
2 Religion und Kult. Das blutige Opfer und der kritische Opferdiskurs
2.1 Das Tieropfer in der „gemeingriechischen Religion“
2.2 Ablehnung des Tieropfers in der Antike
2.3 (Opfer)Kult und Kultkritik im Alten Israel
2.4 Ablösung des Tieropfers in Judentum und Christentum
Exkurs: Ablösung des Tieropfers in Hinduismus und Buddhismus
2.5 Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
3 Religion und Kunst. Theater in Religion und/oder als Religion
3.1 Antike Tragödien
3.2 Christliche Passionsspiele
3.3 Der kritische Theater-Diskurs in der europäischen Religionsgeschichte
Exkurs: Passionsspiele im Islam? Die Ta’ziyeh im Iran
3.4 Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
4 Religion und Philosophie. Philosophische Ethik als Religion
4.1 Die Sokratische Wende: von der Naturphilosophie zur Ethik
4.2 Philosophische Orientierungssysteme – Religion ohne Offenbarung
Platon, Mittel- und Neuplatonismus
Aristoteles und die Peripatetiker
Die Stoiker
Epikur und der Epikureismus
Die Kyniker
Die Skeptiker
Exkurs: Philosophische Ethik in der asiatischen Religionsgeschichte
4.3 Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
5 Religion und Politik. Politik als Religion – Religion als Ideologie
5.1 Hellenistischer Herrscherkult
5.2 Römischer Kaiserkult
Exkurs: Kaiserkult in Japan
5.3 Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
6 Religion und (In)Toleranz
6.1 Von der Toleranz zur Intoleranz
6.1.1 Religiöser Pluralismus und Toleranz im Römischen Reich
Isis-Mysterien
Die Mysterien von Eleusis
Die Mithras-Mysterien
Die Dionysos-Mysterien
6.1.2 Konstantin, der „erste christliche Kaiser“ und seine Toleranzpolitik
Exkurs: Kaiser A´soka – der „indische Konstantin“
6.1.3 Toleranz-Debatten in der Spätantike und das Ende des religiösen Pluralismus
6.1.4 Zusammenfassung und Ausblick
6.2 Von der Intoleranz zur Toleranz
6.2.1 Kreuzzüge und Inquisition. Gewalt gegen Ungläubige und gegen Christen
6.2.2 Toleranz-Debatten im Mittelalter: „Sind Häretiker zu tolerieren?“
Exkurs: Religionsverfolgung und Inquisition außerhalb des Christentums
6.2.3 Toleranz-Debatten in der Frühen Neuzeit: „Sind Häretiker zu verfolgen?“
6.2.4 Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
7 Religion und Dialog. Interreligiöser Dialog und/oder Kooperation
7.1 Der philosophische Dialog im frühen Christentum
Exkurs: Der philosophische Dialog im frühen Buddhismus
7.2 Der interreligiöse Dialog im mittelalterlichen Christentum
7.3 Alternativen zum interreligiösen Dialog im Mittelalter
7.4 Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
8 Religion und Magie
8.1 Dämonologie in der Späteren Antike und im Frühen Christentum
8.2 Von der Verurteilung zur Verteidigung des Hexenglaubens
8.3 Der Hexendiskurs im frühneuzeitlichen Europa
Exkurs: Hexenglaube und -diskurs im modernen Afrika
8.4 Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
9 Religion und Naturwissenschaft
9.1 Der Galilei-Prozess – Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Religion?
9.2 Debatten über das heliozentrische Weltbild und die „Kopernikanische Wende“
9.3 Debatten über die Evolutionstheorie und den Darwinismus
Exkurs: Rezeption des Darwinismus im Hinduismus
9.4 Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
10 Zusammenfassung und Ausblick
Literatur

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UTB 5297

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Basiswissen Theologie und Religionswissenschaft Herausgegeben von Lukas Bormann

Ulrich Berner

Religionswissenschaft (historisch orientiert)

Vandenhoeck & Ruprecht

Dr. theol. Ulrich Berner ist Professor em. für Religionswissenschaft an der Universität Bayreuth.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D‐37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com UTB‐Band‐Nr. 5297 ISBN 978-3-8385-5297-2

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Einleitung

Abgrenzung des Gegenstandes und Explikation der Fragestellung . . . . 11

1.1 Die „Weltreligionen“ oder „Die Religionen der Welt“? Die Problematik einer Klassifizierung der Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.2 Die Welt der religiösen Phänomene? Die Problematik einer Phänomenologie der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.3 Lokale Religionsgeschichte als Alternative? Europäische Religionsgeschichte als Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.4 Religionswissenschaft zwischen Religionskritik und -apologetik . . . . . . . . 23 1.4.1 Der öffentliche Religionsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.4.2 Die religionswissenschaftliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

2 Religion und Kult

Das blutige Opfer und der kritische Opferdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

2.1 Das Tieropfer in der „gemeingriechischen Religion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.2 Ablehnung des Tieropfers in der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.3 (Opfer)Kult und Kultkritik im Alten Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.4 Ablösung des Tieropfers in Judentum und Christentum . . . . . . . . . . . . . . . 62   Exkurs: Ablösung des Tieropfers in Hinduismus und Buddhismus . . . . 69 2.5 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

3 Religion und Kunst

Theater in Religion und/oder als Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

3.1 Antike Tragödien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.2 Christliche Passionsspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3.3 Der kritische Theater-Diskurs in der europäischen Religionsgeschichte 109   Exkurs: Passionsspiele im Islam? Die Taʿziyeh im Iran . . . . . . . . . . . . . . . 115 3.4 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

6

Inhalt

4 Religion und Philosophie

Philosophische Ethik als Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

4.1 Die Sokratische Wende: von der Naturphilosophie zur Ethik . . . . . . . . . . . 132 4.2 Philosophische Orientierungssysteme – Religion ohne Offenbarung . . . . 136 Platon, Mittel- und Neuplatonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Aristoteles und die Peripatetiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Die Stoiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Epikur und der Epikureismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Die Kyniker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Die Skeptiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162   Exkurs: Philosophische Ethik in der asiatischen Religionsgeschichte . . . 168 4.3 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

5 Religion und Politik

Politik als Religion – Religion als Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

5.1 Hellenistischer Herrscherkult . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 5.2 Römischer Kaiserkult . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196   Exkurs: Kaiserkult in Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 5.3 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

6 Religion und (In)Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 6.1 Von der Toleranz zur Intoleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 6.1.1 Religiöser Pluralismus und Toleranz im Römischen Reich . . . . . . . . 213 Die Isis-Mysterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Die Mysterien von Eleusis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Die Mithras-Mysterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Die Dionysos-Mysterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 6.1.2 Konstantin, der „erste christliche Kaiser“ und seine Toleranzpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235   Exkurs: Kaiser Aśoka – der „indische Konstantin“ . . . . . . . . . . . . . 239 6.1.3 Toleranz-Debatten in der Spätantike und das Ende des religiösen Pluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 6.1.4 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 6.2 Von der Intoleranz zur Toleranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 6.2.1 Kreuzzüge und Inquisition. Gewalt gegen Ungläubige und gegen Christen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

Inhalt

7

6.2.2 Toleranz-Debatten im Mittelalter: „Sind Häretiker zu tolerieren?“ . 261 Exkurs: Religionsverfolgung und Inquisition außerhalb des Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 6.2.3 Toleranz-Debatten in der Frühen Neuzeit: „Sind Häretiker zu verfolgen?“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 6.2.4 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

7 Religion und Dialog

Interreligiöser Dialog und/oder Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

7.1 Der philosophische Dialog im frühen Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324   Exkurs: Der philosophische Dialog im frühen Buddhismus . . . . . . . . . . 329 7.2 Der interreligiöse Dialog im mittelalterlichen Christentum . . . . . . . . . . . . 331 7.3 Alternativen zum interreligiösen Dialog im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . 341 7.4 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352

8 Religion und Magie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 8.1 Dämonologie in der Späteren Antike und im Frühen Christentum . . . . . . 357 8.2 Von der Verurteilung zur Verteidigung des Hexenglaubens . . . . . . . . . . . . 360 8.3 Der Hexendiskurs im frühneuzeitlichen Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364   Exkurs: Hexenglaube und -diskurs im modernen Afrika . . . . . . . . . . . . 385 8.4 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399

9 Religion und Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 9.1 Der Galilei-Prozess – Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Religion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 9.2 Debatten über das heliozentrische Weltbild und die „Kopernikanische Wende“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 9.3 Debatten über die Evolutionstheorie und den Darwinismus . . . . . . . . . . . 421   Exkurs: Rezeption des Darwinismus im Hinduismus . . . . . . . . . . . . . . . 431 9.4 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441

10 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454

Vorwort

Bei Übernahme dieser Aufgabe war es der ursprüngliche Plan des Verfassers, den Text der Vorlesung „Europäische Religionsgeschichte“ ein letztes Mal zu überarbeiten und schriftlich zu fixieren. Es stellte sich dann aber schnell die Überlegung ein, dass es nicht sinnvoll wäre, diesen Text ohne seinen Kontext zu veröffentlichen. Die Vorlesung war ja Teil eines Studienganges: „Kulturwissenschaft mit Schwerpunkt Religion“, und in diesem Studiengang waren natürlich auch Veranstaltungen zu außereuropäischen Religionen vorgesehen, sowie einzelne Seminare, die einen Zugang zu Fragestellungen der Theologie und (analytischen) Religions­philosophie ermöglichen sollten. So wurde das Programm abgewandelt zu der Form des Buches wie es jetzt vorliegt. Eine Besonderheit des religionswissenschaftlichen Studienganges in Bayreuth war das ständige Angebot von Lektüre-Übungen in religionsgeschichtlich relevanten Quellensprachen. Diese Übungen wurden oft als interdisziplinäre Veranstaltungen durchgeführt, in Kooperation mit Kollegen aus benachbarten Fächern. Der Verfasser dankt allen diesen Kollegen für die harmonische und ertragreiche Zusammenarbeit. Für die Griechisch-Lektüre sind zu nennen: die Neutestamentler Reinhard Feldmeier (Göttingen), Bernhard Heininger (Würzburg) und Lukas Bormann (Marburg), die jeweils für mehrere Jahre Kollegen des Verfassers in Bayreuth waren; sowie die Bayreuther Kollegen Herbert Scheit (Philosophie) und Ralf Behrwald (Alte Geschichte). Für die Latein-Lektüre sind zu nennen: Rudolf Schüssler (Philosophie), Ludwig Haag (Schulpädagogik) und Georg Leube (Islamwissenschaft). Für die Sanskrit-Lektüre war immer Oliver Freiberger zuständig, der mehrere Jahre Assistent am religionswissenschaftlichen Lehrstuhl war; auch nach seinem Weggang aus Bayreuth hat er diese Tradition in Form von Blockseminaren weitergeführt. Der Verfasser erinnert sich ebenfalls dankbar an die (viele Jahre zurückliegende) Zeit privater Hebräisch-­Lektüre bei dem Superintendenten i. R. Carl Apel, in seiner Heimatstadt Holzminden. Die entscheidende Anregung zu dieser Art religionswissenschaftlicher Arbeit verdankt der Verfasser seinem akademischen Lehrer Carsten Colpe, bei dem er noch in Göttingen studieren konnte, als dieser dort Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Religionsgeschichte war. Einzelne nützliche Hinweise zur Verbesserung des Textes, nach der Lektüre des ganzen Manuskriptes, gaben Oliver Freiberger (Austin, Texas), Gebhard Löhr (Göttingen/Osnabrück) sowie der Herausgeber der Reihe, Lukas Bormann. Der Verfasser dankt diesen Kollegen für ihre Gesprächsbereitschaft und Geduld. Die Reihenfolge der Kapitel folgt keinem besonderen Plan – die Kapitel können also in beliebiger Reihenfolge und selektiv gelesen werden. Die vielen Zitate aus den Quellen, die in Übersetzung gegeben werden, sollen zu eigener Quellenlektüre anregen.

1 Einleitung Abgrenzung des Gegenstandes und Explikation der Fragestellung

1.1 Die „Weltreligionen“ oder „Die Religionen der Welt“? Die Problematik einer Klassifizierung der Religionen Es gibt eine ganze Reihe von Büchern, die einen Überblick über „Die Weltreligionen“ bieten, verfasst von Religionswissenschaftlern, die als Experten ausgewiesen sind: Helmut von Glasenapp hat 1963 „Die fünf Weltreligionen“ dargestellt (Brahmanismus, Buddhismus, Chinesischer Universismus, Christentum, Islam). Peter Antes hat 1981 die Zahl der „fremden“ (Welt)Religionen auf drei reduziert (Hinduismus, Buddhismus, Islam), in einem kurzen Schlusskapitel „Christentum und Dialog“ aber noch eine vierte Weltreligion in den Blick genommen. Der im Jahre 2002 erschienene Band „Basiswissen Weltreligionen“ (Karl-Heinz Golzio et al.) bietet ebenfalls die Zahl vier, hat aber eine andere Auswahl getroffen (Judentum, Christentum, Islam, Buddhismus). Manfred Hutter hat 2005 die Zahl der „Weltreligionen“ auf sieben erhöht, indem er den Daoismus, den Hinduismus und die Bahai-Religion hinzunimmt. In einem der neuesten Bücher wird die Zahl noch einmal erweitert: 2011 erschien die deutsche Übersetzung eines Buches von Stephen Prothero, unter dem Titel „Die Neun Weltreligionen“. Neu und vielleicht überraschend hinzugekommen waren die „Yoruba-Weltreligion“ und, als neuntes und letztes Kapitel, eine „kurze Coda über den Atheismus“. Im Titel der englischen Originalausgabe war allerdings nur von acht Religionen die Rede gewesen: „Eight rival Religions that run the World“. Es erscheint also nicht ganz unproblematisch, einen Überblick über die Weltreligionen zu geben. Denn die Zahl der „Weltreligionen“ ist offensichtlich nicht unumstritten. Es ist eben nicht so einfach zu entscheiden, welche Kritierien gelten sollen: ist es die (große) Zahl der Anhänger oder die geographische (weltweite) Verbreitung und/oder der missionarische (universale) Anspruch? Und muss der Atheismus in die Reihe der Weltreligionen aufgenommen werden, wenn er doch alle diese Kriterien erfüllt?

Ein Überblick über die Weltreligionen müsste also nach dem ideologischen Hintergrund fragen, von dem aus die Auswahl bestimmt wird: wer entscheidet darüber, welche Religion das Prädikat „Weltreligion“ erhält, das doch – ebenso wie der Begriff „Weltliteratur“ – eine (positive) Wertung impliziert?1 Diese ideologische Problematik könnte, so scheint es, dadurch umgangen werden, dass auch die „anderen“ Reli1

Vgl. dazu Auffarth, ‚Weltreligion‘ als ein Leitbegriff der Religionswissenschaft im Imperialismus.

12

Einleitung

gionen in die Betrachtung einbezogen werden, also alle Religionen der Welt. Das zweibändige Werk „World Religions“, von Willard G. Oxtoby herausgegeben, lässt im Untertitel – Eastern Traditions und Western Traditions – bereits den Übergang zu einer solchen Betrachtungsweise erkennen: in dem einen Band wird z. B. auch die Religion der Aborigines Australiens behandelt, in dem anderen z. B. auch die Religionen des Alten Orients, die ja sonst nie als Weltreligionen aufgeführt werden. Die „Einführung in die Weltreligionen“, zusammen mit Alan F. Segal herausgegeben, beginnt mit einer Darstellung der „Indigenous Religious Traditions“ und überschreitet damit ebenfalls den Bereich der „Weltreligionen“. Der Titel „World Religions“ ist also durch die Kombination mit dem Begriff „Traditions“, der im Untertitel und in den Kapitelüberschriften erscheint, in seiner Bedeutung erweitert worden und bezieht sich eigentlich auf alle Religionen der Welt. Es gibt auch eine ganze Reihe von Büchern, die einen Überblick über alle Religionen der Welt zu geben versprechen und die den Begriff der Weltreligion gar nicht verwenden. Als ein Vorläufer könnte das Büchlein „Die Religionen der Erde“ genannt werden, zuerst erschienen 1913 und verfasst von Nathan Söderblom: er setzte ein bei der „unzivilisierten Menschheit“, behandelte dann die „höhere geistige Kultur“ und schließlich die „höheren Religionen“. Ähnlich umfassend in der Anlage, aber ungleich ausführlicher war das Buch „Die Religionen der Menschheit“, 1959 von Friedrich Heiler und anderen Autoren verfasst, von Kurt Goldammer ab der dritten Auflage 1979 neu herausgegeben: einsetzend bei der „Religion in prähistorischer Zeit“ führt die Darstellung bis zum Islam, der aber nicht explizit als „Weltreligion“ bezeichnet wird. In dem „Grundriss der Religionsgeschichte“, 1972 in der Reihe „Theologische Wissenschaft“ erschienen, war eine ähnliche Konzeption gewählt worden: Ernst Dammann hatte neben den „Hauptreligionen“ (fünf an der Zahl) auch „Natur­ religionen“ berücksichtigt, sowie „kleinere Religionsgemeinschaften der älteren Vergangenheit“, „nachklassische Religionen oder Bewegungen“ und „Neureligionen der Gegenwart“. In der neuen Version dieses „Grundrisses“, aus dem Jahre 2006, bietet Peter Antes neben einer Darstellung der „Hochreligionen“ (elf an der Zahl) auch einen Überblick über „Frühe Kulturen“, „Traditionelle Stammes- und Natur­ religionen“ sowie „Neuere religiöse Bewegungen“. Peter Antes hatte vorher noch andere Überblicks-Werke herausgegeben: 1996 „Die Religionen der Gegenwart“, in dem nicht nur die Traditionen, die „zu den größten in der heutigen Menschheit zählen und deshalb oft Weltreligionen genannt werden“ behandelt werden, sondern auch die „ethnischen“ und die „neuen“ Religionen; und 2002 den Sammelband „Vielfalt der Religionen“, in dem der Beitrag von Gustav-Adolf Schoener einen neuen Akzent setzt: „Astrologie als Religion?“ Alle diese Bücher bieten jeweils einen neuen Versuch, „die Vielfalt der reli­ giösen Traditionen und Bewegungen einigermaßen geordnet zu benennen und zu beschreiben“.2 2

Antes, Grundriss der Religionsgeschichte, 11.

Die „Weltreligionen“ oder „Die Religionen der Welt“?

13

Bei der Einordnung und Benennung der Religionen gibt es aber wieder neue Probleme: so erscheint die Bahai-Religion bei Antes unter den „Neueren religiösen Bewegungen“, während sie bei Hutter unter den „Weltreligionen“ aufgeführt wird; die Yoruba-Religion erscheint bei Prothero als „Weltreligion“, während sie bei Antes überhaupt nicht erwähnt wird, obwohl sein Buch „die gesamte Religionsgeschichte der Menschheit in den Blick nimmt“ und auch einen Abschnitt über Afrika enthält.3 Ein besonderes Problem stellt sich bei der Benennung jener Religionen, die nicht in die elitäre Klasse der „Welt-“, „Haupt-“ oder „Hochreligionen“ aufgenommen werden und die auch nicht als „neuere religiöse Bewegungen“ eingeordnet werden können. Im Englischen wird neben Begriffen wie „ethnic“, „primal“ oder „traditional“ in der neueren Literatur vorzugsweise der Ausdruck „indigenous (religions)“ verwendet;4 im Deutschen ist z. B. von „Naturreligionen“ oder „Stammesreligionen“ gesprochen worden,5 in neuerer Zeit auch von „primalen Religionen“ und „primärer Religionserfahrung“.6 Jeder dieser Begriffe bringt aber wieder neue Probleme mit sich. So hat Peter Antes selbst festgestellt, seine eigene Terminologie – „Traditionelle Stammes- und Naturreligionen“ – beinhalte eine „gewisse Verlegenheit“, und früher hatte er bereits bemerkt, die Benennungen „ethnische“ und „neue Religionen“ seien „Verlegenheitsbezeichnungen, da bessere Alternativen fehlen“.7 Die Problematik all dieser Ordnungs- und Klassifikationsversuche – soweit das Problem nicht durch eine konsequent geographische Einteilung umgangen wird – liegt aber letztlich in der Tendenz zur Essentialisierung, d. h. der Tendenz, das „Wesen“ oder die „Sinnmitte“ der einzelnen Religionen oder der Religion überhaupt zu definieren.

Eine solche Tendenz, deren Problematik den genannten Autoren natürlich nicht unbekannt war, ist fast unausweichlich, wenn es darum geht, einen Überblick über die (Welt)Religionen zu geben: dann liegt es nur allzu nahe, das „Wesen“ oder die „Sinnmitte“ der verschiedenen Religionen zu beschreiben, um dem Interesse der Leser gerecht zu werden, die eine solche Orientierung erwarten. So sprach Helmuth von Glasenapp vom „Wesen“ des Hinduismus und von den „allgemeinen Wesenszügen“ der westlichen Religionen.8 Stephen Prothero charakterisiert die neun Weltreligionen jeweils als einen „Weg“: z. B. den Islam als „Weg der Unterwerfung“, das Christentum als „Weg der Erlösung“, den Hinduismus als „Weg der Frömmigkeit“, … Peter Antes definiert die „Sinnmitte“ des Hinduismus als „Enstase“, die 3 4 5 6 7 8

Antes, ebda, 9. Siehe Cox, From Primitive to Indigenous, 1–5. Glasenapp, Die Fünf Weltreligionen, 339; Quack, Religion der Stammeskulturen, 11. Sundermeier, Implizite Axiome, 91. Antes, Grundriss, 45; ders., Religionen der Gegenwart, 12. Glasenapp, Die Fünf Weltreligionen, 12; 178.

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des Islams als „Ekstase“, die des Buddhismus als „Kenostase“, die „Sinnmitte“ des Christentums schließlich als „Synstase“.9 Die Tendenz zur Essentialisierung zeigt sich besonders deutlich darin, dass die Rede von den Religionen, wie z. B. von „dem“ Christentum oder von „der“ Religion überhaupt, oft von einer Metaphorik Gebrauch macht, die sich an der Vorstellung einer Person orientiert, so z. B. wenn von dem (doppelten oder wahren) „Gesicht von Religion“ die Rede ist.10 Am deutlichsten wird diese Art der Konzeptualisierung vielleicht in der metaphorischen Aussage, der Islam sei „der Muhammad Ali unter den Religionen der Welt“,11 oder auch in der Aussage „Hinduism was and is on the warpath“.12 Einen kritischen Akzent enthält die Person-Metapher, die der atheistische Philosoph Herbert Schnädelbach verwendet, wenn er von den „Geburtsfehlern des Christentums“ als „einer altgewordenen Weltreligion“ spricht.13 Sicherlich würden die Autoren solcher Formulierungen sagen, ihre Metaphorik sei ja nur ein rhetorisches Mittel und könne in eine präzise Begrifflichkeit rückübersetzt werden. Die Ausdrucksweise bleibt aber problematisch, insofern als diese Metaphern dazu verleiten können, die Religionen als Entitäten zu konzeptualisieren, die eine Identität oder einen Charakter haben – eben wie Personen. Alternative Auslegungen in den einzelnen Religionen, die von den Vertretern der dominierenden Richtung bekämpft und als „Häresien“ ausgegrenzt worden sind, wie z. B. das Christentum der Markioniten oder der Katharer, müssten dann als Abweichungen vom Wesen der betreffenden Religion beschrieben werden. Auf diese Weise würde die Religionswissenschaft aber nur die theologische Unterscheidung zwischen Orthodoxie und Häresie reproduzieren. Auch der Neutestamentler Heikki Räisänen ist der Meinung, dass „Orthodoxie“ und „Häresie“ in einer religionsgeschichtlichen Darstellung „als Deutungskategorien nicht in Frage“ kommen.14 Aus der Sicht der Religionswissenschaft sind eben auch „Häretiker“, wie z. B. die Markioniten oder die Katharer, als Christen zu betrachten, ganz einfach deshalb, weil sie sich als Christen verstanden und bezeichnet haben. So erscheint es nur konsequent, wenn der Religionshistoriker Christoph Auffarth den Plural „(Die frühen) Christentümer“ verwendet, ebenso wie der Neutestamentler Bart Ehrman den Plural „(Lost) Christianities“. Allerdings könnte der Plural wiederum die Vorstellung nahelegen, dass eine Religion sich in verschiedene Religionen oder Konfessionen aufspaltet, von denen jede wieder ein eigenes Wesen hat. Es ist deshalb zu überlegen, ob es nicht eine Möglichkeit gibt, in die Religionsgeschichte einzuführen, ohne ein „Wesen“ der einzelnen Religionen (und ihrer Abspaltungen) zu (re)konstruieren.

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Antes, Die Botschaft fremder Religionen. Siehe z. B. Weingardt, Religion Macht Frieden, 176. Prothero, Die Neun Weltreligionen, 31. Von Brück, War and Peace in Hinduism, 11. Schnädelbach, Der Fluch des Christentums, 14. Zur Personifikation als einer Unterart ontologischer Metaphern siehe Lakoff, Metaphers we live by, 33f. 14 Räisänen, Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative, 79.

Die Welt der religiösen Phänomene?

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1.2 Die Welt der religiösen Phänomene? Die Problematik einer Phänomenologie der Religion Einen solchen alternativen Ansatz hatte eigentlich schon die Religionsphänomenologie geboten, die in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts entstand. Das Hauptwerk dieser Richtung war die „Phänomenologie der Religion“ des Groninger Religionshistorikers Gerardus van der Leeuw. In diesem Werk finden sich Kapitel wie z. B.: „Heilige“; „Die Sekte“; „Das Sakrament“; „Gottesliebe“; „Anbetung“ – und in jedem dieser Kapitel werden Beispiele aus verschiedenen Religionen aufgeführt, wie z. B. Gottesliebe im Judentum, Gottesliebe im Hinduismus, usw.. Diese Art der Darstellung, einen Überblick über die Welt der religiösen Phänomene zu geben, sollte den Eindruck vermitteln, dass allen Religionen letztlich eine Einheit zugrundeliegt: die eine göttliche Offenbarung, die sich eben in all den religiösen Phänomenen spiegelt.15 Auf diese Weise sollte es vermieden werden, zwischen wahrer und falscher Religion zu unterscheiden, wie es in einer missionarisch orientierten Theologie immer noch üblich war. Ein vergleichbares Werk ist das Buch „Erscheinungsformen und Wesen der Religion“ des Marburger Religionshistorikers Friedrich Heiler, der damit die Reihe der „Religionen der Menschheit“ einleitete. Den Darstellungen der einzelnen Religionen wurde also ein zusammenfassender Überblick vorangestellt, der dazu führen sollte, die „Einheit der Religion“ in der „Mannigfaltigkeit der Religionen“ zu erkennen.16 Die phänomenologische Methode wurde von Heiler als „der Weg der konzentrischen Kreise“ konzipiert: Von der „sinnlichen Erscheinungswelt“ der Religion, zu der z. B. Institutionen gehören, führt der Weg der phänomenologischen Methode zu der religiösen „Vorstellungswelt“, zu der z. B. Schöpfungsideen gehören; dann führt der Weg zur religiösen „Erlebniswelt“, zu der z. B. Ehrfurcht und Glaube gehören. Das letzte Ziel dieses Weges ist die „Gegenstandswelt“ der Religion, die Wirklichkeit Gottes, der sich dem Menschen offenbart (Deus revelatus), letztlich aber verborgen bleibt (Deus absconditus).17 In diesem Modell der konzentrischen Kreise werden, Heiler zufolge, alle Religionen erfasst. Wenn die Zahl der Vorstellungen von Gott auch unendlich zu sein scheint, so gebe es eben doch nur ein religiöses „Grund­ erlebnis“: die Ehrfurcht als „das Substrat allen religiösen Erlebnisses“.18 Der Religionsphänomenologie zugerechnet wird zumeist auch das Werk von Mircea Eliade, bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein sicherlich einer der bekanntesten und einflussreichsten Vertreter der Religionswissenschaft. Er hat diese Disziplin zwar immer als Religionsgeschichte („history of religions“) bezeichnet, nicht als „phenomenology of religion“, doch hat er in seinen Büchern immer wieder Beispiele aus verschiedenen Religionen nebeneinandergestellt, wie es eher dem 15 16 17 18

Die Metapher des Spiegels bei v. d. Leeuw, Phänomenologie der Religion, 777. Heiler, Erscheinungsformen und Wesen, 14. Heiler, ebda, 19f. Heiler, ebda, 543.

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Stil der Religionsphänomenologie entsprechen würde.19 Es ging ihm darum, dem modernen Menschen, der sich weitgehend der Religion entfremdet hat, die Existenzweise des archaischen, religiösen Menschen – des „homo religiosus“ – nahezubringen und verständlich zu machen. Seine „kreative Hermeneutik“, die einen „neuen Humanismus“ zum Ziel hatte, ging damit weit hinaus über den Anspruch, historisches Wissen über die Religionen der Welt zu vermitteln.20 In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts geriet die Religionsphänomenologie zunehmend in die Kritik und wurde schließlich ganz an die Peripherie gedrängt. Die Kritik richtete sich in erster Linie gegen den (krypto)theologischen Charakter des phänomenologischen Ansatzes.21 Im Falle Eliades kam noch hinzu, dass einige Kritiker auf den ideologischen Hintergrund seines Werkes aufmerksam machten – auf seine Verbindung zu faschistischen Bewegungen in seiner rumänischen Heimat, in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg.22 Die Tatsache, dass die bekanntesten Phänomenologen, wie v. d. Leeuw und Heiler, sich selbst als religiöse Menschen und speziell als Christen verstanden haben, müsste ihre Arbeiten nicht unbedingt als unbrauchbar erscheinen lassen. Es ist ja durchaus möglich, dass die Ergebnisse phänomenologischer Arbeit von dem theologischen Hintergrund gelöst und in anderem Kontext sinnvoll angewandt werden könnten. Das gilt z. B. für den Begriff des „Numinosen“, der von Rudolf Otto, dem bekannten Marburger Theologen, in die Religionswissenschaft eingeführt worden war. Dirk Johannsen konnte zeigen, dass dieser Begriff, gelöst von theologischen Bezügen, sinnvoll als eine kulturwissenschaftliche Kategorie verwendet werden kann. Es ist nicht die Verbindung zur Theologie als solche, sondern die spezifische theologische Tendenz der Religionsphänomenologie, die aus der Sicht der Religionswissenschaft problematisch erscheinen muss: das Postulat einer „Einheit der Religionen“ führt dazu, die Konflikte in der Geschichte der Religionen und den historischen Kontext religiöser Phänomene – z. B. ihre ideologische Funktion – aus der Betrachtung auszuschließen oder zumindest in den Hintergrund zu drängen.23

Die beste Möglichkeit, die religiösen Phänomene in ihrem Kontext zu betrachten, könnte sich dann ergeben, wenn die Betrachtung auf einen engeren historischen Bereich begrenzt wird. Ein solcher Ansatz ist unter dem Stichwort „lokale Religionsgeschichte“ vorgeschlagen und am Beispiel der „europäischen Religionsgeschichte“ vorgestellt worden. 19 20 21 22 23

Eliade, Die Religionen und das Heilige. Vgl. dazu Berner, Mircea Eliade. Siehe Rudolph, Die Problematik der Religionswissenschaft, 22–33. Siehe Berger, Mircea Eliade. Vgl. dazu Grottanelli/Lincoln, A Brief Note, 321–323.

Lokale Religionsgeschichte als Alternative?

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1.3 Lokale Religionsgeschichte als Alternative? Europäische Religionsgeschichte als Beispiel Die Konzeption einer „lokalen Religionsgeschichte“, wie sie von Hans G. Kippenberg eingeführt wurde, lenkt den Blick auf die Frage, „ob und wie Schriftreligionen lebenspraktisch wirksam werden“.24 Diese Fragestellung führt dazu, Abstand zu nehmen von jedem Versuch, das „Wesen“ einer Religion zu bestimmen und eventuell „anstößige Züge“ aus den „Beschreibungen von Religionen“ zu entfernen. Richtungsweisend für das Programm einer „europäischen Religionsgeschichte“ war ein Aufsatz von Burkhard Gladigow. Dieses Programm ist aber nur als ein Beispiel zu sehen, denn es liegt auf der Hand, dass in der gleichen Weise auch eine „asiatische Religionsgeschichte“ konzipiert werden könnte,25 vielleicht eingeschränkt auf die indische oder die chinesische. Die folgende Darstellung ist diesem methodischen Ansatz verpflichtet und setzt nur einzelne Akzente anders. Der wichtigste Gesichtspunkt dieses neuen Ansatzes, wie er von Gladigow konzipiert wurde, war: „daß nicht nur die ‚positiven Religionen‘, d. h. die institutionell verfestigten Religionen vorgestellt werden sollen, sondern die koexistierenden informellen – oder anders organisierten – religiösen Orientierungsmuster und Deutungssysteme“.26 Zu diesem „Gesamtspektrum an religiösen Orientierungen“ gehören auch jene religiösen Bewegungen, die von der „Amtskirche“ als häretisch ausgegrenzt wurden. Gladigow formulierte den „Appell an den Historiker“, „die weiterwirkenden Potentiale als häretisch klassifizierter Entwicklungen zu würdigen, – selbst wenn ihre Träger von Fall zu Fall physisch vernichtet wurden. Vielleicht gerade dann.“27 Dieser Appell könnte in der Weise modifiziert und noch verstärkt werden, dass das „vielleicht“ gestrichen und der Religionswissenschaft die Aufgabe zugeschrieben wird, gerade jene alternativen Stimmen, die zum Schweigen verurteilt wurden, wieder zu Gehör zu bringen. Die von Gladigow eröffnete religionsgeschichtliche Perspektive umfasst aber nicht nur „häretische“ religiöse Bewegungen, die ja immer noch als Gegenstand der Kirchengeschichte betrachtet werden könnten: daneben müsste auch „der ‚vertikale Transfer‘ von Ergebnissen, Thesen der Geistes- und Naturwissenschaften in den Bereich von Religion“ bedacht werden, ebenso „wie die ‚sinnstiftende Funktion‘ von Literatur und neuen Medien“.28 Diese Ausweitung der Perspektive könnte noch verstärkt werden, indem auch die „sinnstiftende Funktion“ der Musik und Kunst in die Betrachtung einbezogen wird. So könnte z. B. dem musik­dramatischen Werk Richard Wagners eine solche Funktion zugeschrieben werden, und es wäre etwa zu überlegen, ob das Bayreuther Festspielhaus als ein „Ort der europäischen Reli­ 24 Kippenberg, Lokale Religionsgeschichte, 13. 25 Vgl. dazu Rüpke, Europa und die europäische Religionsgeschichte, 11: eine afrikanische oder asiatische Religionsgeschichte sei „sicher nicht weniger sinnvoll als eine europäische“. 26 Gladigow, Europäische Religionsgeschichte, 24. 27 Gladigow, ebda, 25. 28 Gladigow, ebda, 29.

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gionsgeschichte“ betrachtet werden kann.29 Für die religionswissenschaftliche Arbeit würde das allerdings bedeuten, dass sie auf die Kooperation mit den benachbarten Fächern, wie z. B. der Musik- und Theaterwissenschaft angewiesen ist.30 Die Ausrichtung der Perspektive auf die „sinnstiftende Funktion“ führt auch zu der Frage nach „den Bedingungen von Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Sinn-, Symbol- oder Deutungssystemen“. Gladigow zufolge ist „spätestens seit der Renaissance eine Wahlmöglichkeit zwischen Sinnsystemen möglich“.31 Die Frage nach den Bedingungen dieser Möglichkeit müsste aber auch im Hinblick auf die Zeit vor der Renaissance gestellt werden. Christoph Auffarth hat den Blick auf den religiösen Pluralismus im Mittelalter gelenkt und von der bunten „Vielfalt der lokalen und regionalen ‚Mikro-Christenheiten‘“ im mittelalterlichen Europa gesprochen.32 Die Vernichtung der Katharer-Kirche durch die römisch-katholische Kirche im 13./14. Jahrhundert ist nur eines von mehreren Beispielen des – in diesem Fall erfolgreichen – Versuches, ein alternatives Sinnsystem zu liquidieren und damit jede „Wahlmöglichkeit“ auszuschließen. Die Sicht Europas als „das christliche Abendland“ und des Mittelalters als „das Zeitalter des Glaubens“ erweist sich bei näherer Betrachtung jedenfalls als eine Projektion – Auffarth zufolge „eine historische Projektion des Katholizismus im 19. Jhd., der der Reformation vorwarf, diese Einheit zerstört zu haben“.33 Die „europäische Religionsgeschichte“ ist nicht auf den geographischen Raum Europas begrenzt, und dadurch unterscheidet sie sich von einer „Religionsgeschichte Europas“, wie sie zuletzt Christoph Elsas vorgelegt hat. Es müssten auch jene religionsgeschichtlichen Prozesse in den Blick genommen werden, die im Zuge der europäischen Expansion aufgetreten sind.

So sind z. B. schon im 16. Jahrhundert christliche Missionare in Ostasien tätig gewesen. Ihre Berichte über die chinesischen Religionen, insbesondere über den Konfuzianismus, sind im Europa der Aufklärungs-Epoche mit großem Interesse zur Kenntnis genommen worden und haben Kontroversen ausgelöst, an denen Philosophen und Theologen beteiligt waren. Diese interkulturellen Begegnungen und Wechselwirkungen gehören ebenfalls zur europäischen Religionsgeschichte. Bei einer konventionellen Betrachtung, die den Blick nur auf die großen Welt­ religionen richtet, würden sich keine Schwierigkeiten ergeben, die Quellen abzugrenzen: jede Darstellung würde den Kanon der „heiligen“ oder „geoffenbarten“ Schriften zum Ausgangspunkt nehmen, wie z. B. die Bibel oder den Koran. Im Hinblick auf die 29 30 31 32 33

Siehe Gebhardt/Zingerle, Pilgerfahrt ins Ich; Berner, Wagner und Bayreuth. Vgl. dazu Berner, Contextualization. Gladigow, Europäische Religionsgeschichte, 27. Auffarth, Die Ketzer, 25. Auffarth, Art. Europäische Religionsgeschichte, 333.

Lokale Religionsgeschichte als Alternative?

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Antike stellt sich dann aber bereits ein Problem: auch wenn die homerischen Epen manchmal als „Bibel der Griechen“ bezeichnet werden,34 so ist doch Walter Burkert zuzustimmen, der in seiner Darstellung der griechischen Religion feststellt, es gebe „keine Heilige Schrift“ und „kaum feste Gebetsformeln und Liturgien“; und wenn spätere Sekten „ihre besonderen Bücher“ hätten, wie z. B. die des ‚Orpheus‘, dann seien auch diese „nichts dem Veda oder Avesta, geschweige der Thora Vergleichbares“;35 oder, wie es Jean-Pierre Vernant in seiner kleinen Einführung formuliert hat: die griechische Religion verfüge nicht „über ein heiliges Buch, in dem die Wahrheit ein für allemal ihren schriftlichen Niederschlag gefunden hätte“.36 Deshalb kann die Abgrenzung der (schriftlichen) Quellen, die als relevant gelten sollen, nur über eine metasprachliche Definition des Religionsbegriffes selbst erfolgen. Über die Definition dieses Begriffes, der doch den Gegenstand der Disziplin benennt, konnte allerdings nie Einigkeit erzielt werden. In neuerer Zeit ist sogar vorgeschlagen worden, den Religionsbegriff ganz fallen zu lassen, mit der Begründung, es handele sich um eine Konstruktion, die am westlichen Christentum orientiert sei und deshalb nicht für interkulturelle Vergleiche geeignet.37 In seiner Darstellung der römischen Religion hat Jörg Rüpke diese Problematik gleich zu Beginn angesprochen: „‚Religion‘ ist nicht etwas empirisch Feststellbares, sondern ein Begriff, dessen Verwendung selbst Teil der Religionsgeschichte ist.“38 Antike Religion kenne zwar „durchaus das, was auch heute Religionen im Alltagsverständnis ausmacht“, wie z. B. Götter, Tempel, Festtage und Priester; in den antiken Gesellschaften lasse Religion sich aber „nicht leicht auf Orte, Zeiten und Personen festlegen“. Rüpke denkt dabei an „die Präsenz von Religionsartigem in Bereichen, die heute mehrheitlich programmatisch von Religion ausgeschlossen werden“, wie z. B. der politische Bereich.39 Fritz Graf hat dasselbe im Hinblick auf die griechische Religion betont: es sei nicht möglich, einen „Sonderbereich, der nur mit Göttern und Heroen, ihrem Kult und dem Glauben an sie zu tun hätte“ auszugliedern, und „erst recht“ sei „ein Gegensatz zwischen ‚Religion‘ und ‚Politik‘ anachronistisch“. So wird der Religionsbegriff zwar nicht aufgegeben, doch wird die Notwendigkeit einer „komparatistischen Distanz“ betont und die „aus christlicher Sicht beträchtliche Andersartigkeit“ hervorgehoben.40 Zur Beschreibung dieser Andersartigkeit verwendet Graf die Metapher der „eingebetteten Religion“ (embedded religion), im Anschluss an Jan Bremmer. 34 Siehe Finkelberg, Homer as a Foundation Text, 91: „… its status is closer to the status of the Bible than to that of other works of literature in ancient Greece.“ 35 Burkert, Griechische Religion, 27. 36 Vernant, Mythos und Religion, 199. 37 Siehe Fitzgerald, a critique of „religion“, 93. Zur Kritik der These von der „Einzigartigkeit des westlichen Religionskonzepts“ siehe Kleine, Wozu außereuropäische Religionsgeschichte?, 11. Zur kritischen Debatte über die Dekonstruktion des Religionsbegriffes siehe Haanegraaf, Reconstructing „Religion“. 38 Rüpke, Religion der Römer, 12. 39 Rüpke, ebda, 12f. 40 Graf, Griechische Religion, 457.

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Im Hinblick auf das klassische Griechenland hatte Bremmer den kollektiven Charakter stark betont: „Diese Einbettung der griechischen Religion ging mit dem faktischen Fehlen einer privaten Religiosität einher, …“.41 Um diese Unterschiede deutlich zu machen, verwendet Rüpke ebenfalls eine metaphorische Redeweise und spricht vom „Eingebettetsein von Religion in viele gesellschaftliche Lebensvollzüge“ und vom „Verwobensein von Religion mit anderen gesellschaftlichen Bereichen“.42 Er betont zwar auch den kollektiven Charakter der antiken Religion, warnt aber zugleich davor, „das Kollektive für die Antike zu verabsolutieren“ – es habe durchaus Raum für individuelle Religiosität gegeben. Neben den metaphorischen Beschreibungen hat Rüpke aber auch einen metasprachlichen Religionsbegriff formuliert, indem er auf den theoretischen Ansatz zurückgreift, der die Religion als „ein System von Zeichen oder Symbolen“ deutet, „die Wirklichkeit deuten, ja konstruieren helfen und Orientierung in dieser Wirklichkeit vermitteln“.43 Der Begriff der Orientierung soll hier aufgegriffen und in seiner inhaltlichen Auslegung wie folgt bestimmt werden: „Religion“ soll als ein Orientierungssystem betrachtet werden, das eine Summe von Normen für das richtige Leben enthält, die aus einer Reflexion über die Bedingungen der menschlichen Existenz abgeleitet sind. Dieser Religionsbegriff ist nicht beschränkt auf den Glauben an die Existenz von Göttern oder anderen „übermenschlichen“ Wesen – Vorstellungen, die konventionell als „religiös“ gelten.44

So könnte also auch Atheismus als ein Phänomen der antiken Religionsgeschichte betrachtet werden, eventuell abweichend von Rüpke, der nicht darauf eingeht, aber in Übereinstimmung mit Hildegard Cancik-Lindemaier, die „Religionskritik, Materialismus, Atheismus“ als „feste, alte, bedeutende Bestandteile der antiken Religionsund Geistesgeschichte“ nennt.45 Als „religiös“ soll eben gelten, was dem Menschen eine letztgültige Orientierung für das Leben gibt. Im Vordergrund des Interesses steht deshalb nicht die Vielfalt der Vorstellungen von Göttern und anderen „übermenschlichen“ Wesen“, sondern die Vielfalt der Vorstellungen vom richtigen, gelingenden Leben. Es ist jedenfalls nicht nötig, und es wäre auch gar nicht sinnvoll, in anderen Sprachen jeweils nach dem Wort zu suchen, das dem europäischen Religionsbegriff in 41 Bremmer, Götter, Mythen und Heiligtümer, 3. 42 Rüpke, Religion der Römer, 13; 16. Vgl. auch Parker, On Greek Religion, Chapter 2: „Religion without a Church“. 43 Rüpke, ebda, 19. 44 Vgl. dazu Waardenburgs Überlegungen zu einem „vorläufigen Religionsbegriff “, in denen er „Religionen“ als „Orientierungssysteme einer besonderen Art“ definiert (Religionen und Religion, 34f). 45 Cancik-Lindemaier, Gottlosigkeit im Altertum, 33. Vgl. dazu den Beitrag des (atheistischen) Philosophen Herbert Schnädelbach, der zeigen will, dass es sich beim Atheismus „sehr wohl um eine Variante von Religiosität handelt“ (Was Atheisten glauben, 7).

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seiner alltäglichen Verwendung genau entsprechen würde. Denn das Bedeutungsfeld, das durch einen metasprachlichen Begriff, wie z. B. den des Orientierungs­ systems, abgegrenzt wird, kann in einer anderen Kultur ja in verschiedene Bereiche aufgeteilt sein und durch mehrere Begriffe abgedeckt werden. In den antiken Religionen gibt es zwar keine Theologie, die für die verbindliche Auslegung der einzelnen Kulthandlungen, wie z. B. des Tieropfers, zuständig wäre, vergleichbar der christlich-theologischen Deutung des Abendmahls. Insofern ist es richtig, dass der antike Polytheismus „keine ‚Religion‘ in dem Sinne“ ist, „in dem wir von Judentum, Islam oder Christentum als Religion sprechen“.46 Dieser Unterschied besteht aber nur auf der Ebene der religiösen Institutionen, nicht unbedingt auf der Ebene der individuellen Religiosität – letztere könnte ja sehr viel mehr umfassen als die Teilnahme an den Kultakten, die im lokalen Kontext vollzogen werden: die Teilnahme am lokalen Kult ist ja vielleicht nur ein kleiner Teil des Orientierungssystems, das in seiner Ganzheit, wie z. B. in Verbindung mit dem Anschluss an eine philosophische Schule, sehr wohl vergleichbar ist mit einer Religion, wie z. B. dem Christentum. Der Unterschied würde dann eventuell darin liegen, dass es im antiken Polytheismus einen Freiraum der Wahlmöglichkeiten gab, wie z. B. den Anschluss an die eine oder andere philosophische Schule und/oder die Einweihung in den einen oder anderen Mysterienkult – einen religiösen Pluralismus, der später im Rahmen des institutionalisierten Christentums zumeist als unzulässig galt und unterdrückt wurde. Das Programm einer „Europäischen Religionsgeschichte“ ist bereits in einem zweibändigen Studienbuch umgesetzt worden, herausgegeben von Hans G. Kippenberg, Jörg Rüpke und Kocku von Stuckrad. Das Werk bietet Einzelanalysen in vier thematischen Bereichen: zum „Problem einer Europäischen Religionsgeschichte“, zu den „Entwicklungspfaden des Pluralismus“, zu „Religion und Gesellschaft“ sowie zur „Religiösen Kommunikation“. In diesem Studienbuch ist das klassische Schema eines Überblicks über „die Religionen“ aufgebrochen und die Gefahr einer essentialisierenden Darstellung vermieden worden. Das leitende Prinzip, das auf der ersten Seite des ersten Bandes formuliert wird, ergab sich aus der „Beobachtung, dass Europa seit der Antike von einem religiösen Pluralismus geprägt ist“. So konnten neue Perspektiven auf religiöse Konflikte eröffnet werden: eben nicht auf die Konflikte zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen, wie sie in der Kirchengeschichte behandelt würden, sondern auf solche Konflikte, die innerhalb der Konfessionen ausgetragen wurden, wie z. B. die Debatten „Für und Wider die Hexenverfolgung“ (Günter Jerouscheck), oder die „Interferenzen und diskursiven Transfers“ zwischen Religion und Naturwissenschaft (Kocku von Stuckrad). Diese Beispiele aus der europäischen Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit sind deshalb so wichtig, weil sie dazu geeignet sind, der Tendenz zur Dekontex­ 46 Rüpke: Polytheismus und Pluralismus, 21.

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tualisierung entgegen zu wirken: an ihnen lässt sich zeigen, dass religiöse Diskurse nicht isoliert vom kulturellen Kontext stattfinden – so waren z. B. an den Debatten über die Hexenverfolgung nicht nur Theologen beteiligt, sondern auch Juristen und Mediziner, und in diesen Debatten ging es ja nicht (nur) um die Auslegung der biblischen Texte, in denen von Hexen die Rede ist, sondern (auch) um die gesellschaftliche Wirklichkeit – die (Folter)Praxis der Hexenprozesse. Aus der Betrachtung solcher Debatten ergeben sich Antworten auf die Frage „ob und wie Schriftreligionen lebenspraktisch wirksam werden“,47 und bei dieser Betrachtung kommen „Diskrepanzen“ in den Blick, die nicht in das Bild passen, wie es in einer konventionellen, essentialisierenden Darstellung der einen oder anderen Religion gezeichnet wird.48 Die Konzeption dieses Studienbuches – in dieser thematischen Breite und den Zeitraum von der Antike bis zur Gegenwart umfassend – konnte allerdings nur von einem Expertenteam verwirklicht werden. Für die folgende Darstellung sind also Einschränkungen vorzunehmen, was die Breite der Themen und die Begrenzung des Zeitraums betrifft. Im Gegenzug dazu soll aber jedes Kapitel einen Exkurs enthalten, in dem Ansatzpunkte für interkulturelle Vergleiche angedeutet werden. Dies erscheint deshalb sinnvoll, weil auf diese Weise die eurozentrische Perspektive aufgebrochen werden kann – es könnte sonst der Eindruck entstehen, dass die Konflikte, die in der europäischen Religionsgeschichte ausgetragen worden sind, im Wesen des Christentums begründet und deshalb auf diesen Kontinent beschränkt waren. Auch in dieser Hinsicht gilt, dass es sich bei dem Programm einer „euro­pä­ ischen Religionsgeschichte“ nur um ein Beispiel handelt: möglich und wünschenswert wären spiegelbildlich entsprechende Darstellungen aus der Perspektive der asiatischen Religionsgeschichte, die jeweils durch Exkurse einen Blick auf Europa eröffnen. Die vergleichende Perspektive hat ja von Anfang an zum Selbstverständnis der Religionswissenschaft gehört und scheint in der Gegenwart gerade wieder verstärktes Interesse zu finden.49 Das historische Material soll, wie in jenem zweibändigen Studienbuch, thematisch geordnet werden. Die Auswahl der Themen soll sich aber an dem öffentlichen, kritischen Religionsdiskurs orientieren. Dabei wird vorausgesetzt, dass es zu den Aufgaben der Religionswissenschaft gehört, diesen Diskurs wahrzunehmen und zu den Thesen, die in öffentlichen Debatten vertreten werden, Stellung zu beziehen – eine Stellungnahme, die sich jeweils zwischen Kritik und Apologetik der Religion bzw. einzelner Religionen bewegen muss. 47 Kippenberg, Lokale Religionsgeschichte, 13. 48 Vgl. Kippenberg, ebda, 11/12. 49 Siehe Freiberger, Modes of Comparison. Auch in einer neuen Darstellung der europäischen Religionsgeschichte ist, in kritischer Abgrenzung gegen die Konzeption Kippenbergs und Gladigows, die vergleichende Perspektive als unverzichtbar betrachtet und deshalb fortlaufend berücksichtigt worden (siehe Zander, „Europäische“ Religionsgeschichte, 30). Zander konzentriert sich in seiner Darstellung auf „eine einzige Dimension“, von der er meint, dass sie die europäische Religionsgeschichte entscheidend geprägt hat – die Idee der religiösen Zugehörigkeit durch Entscheidung, wie sie im Christentum gegeben sei (ebda, 3f.).

Religionswissenschaft zwischen Religionskritik und -apologetik

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1.4 Religionswissenschaft zwischen Religionskritik und -apologetik 1.4.1 Der öffentliche Religionsdiskurs „Öffentlicher Religionsdiskurs“ wird hier verstanden als ein Diskurs, der zumindest über die Grenzen eines Faches hinausgeht, also interdisziplinär geführt wird, wie z. B. zwischen Theologen und Ägyptologen, und der auch in populären, nichtwissenschaftlichen Medien weitergeführt wird. So erschien z. B. im „Spiegel“, in der Weihnachtsausgabe 2006, ein Interview zum Thema „Eine neue Form der Gewalt“, mit dem Untertitel „Der Ägyptologe Jan Assmann über die Intoleranz der monotheistischen Religionen“;50 genau ein Jahr später erschienen in der „Zeit“ fünf Thesen des Soziologen Ulrich Beck, unter der Überschrift „Gott ist gefährlich“; im Magazin „Zeit Wissen“ stellte im Oktober 2012 der bekannte Moderator der Tagesthemen, Ingo Zamperoni, die Frage „Macht Religion die Welt besser oder schlechter?“; 2015 gab es im „Deutschlandradio Kultur“ ein Interview mit dem Historiker Philippe Buc, unter dem Titel „Das Böse gehört zum Monotheismus“. Daneben gibt es einen Religionsdiskurs in populärwissenschaftlichen Büchern, die von anerkannten Naturwissenschaftlern verfasst sind, wie z. B. von Biologen, die den Anspruch erheben, das Phänomen der Religion (natur)wissenschaftlich zu erklären;51 solche Diskurse über Religion finden sich auch in breit orientierten naturwissenschaftlichen Medien, wie z. B. in den Zeitschriften „Nature“ oder „Science“.52 In den letzten Jahrzehnten hat das Thema „Religion und Gewalt“ wohl die größte Aufmerksamkeit gefunden, verstärkt sicherlich durch das Ereignis vom 11. September 2001. Die Zahl der Monographien und Sammelbände zu diesem Thema ist kaum überschaubar. Als ein Ausgangspunkt der Debatte könnte aber schon ein Buch des französischen Literaturwissenschaftlers und Historikers René Girard genannt werden, das 1972 erschien: „Das Heilige und die Gewalt“. Bekannt wurde Girard vor allem durch seine Theorie des „Sündenbocks“ – eine Deutung religiöser Rituale, wie z. B. des Tieropfers, als Mittel zur Kanalisierung der Gewalt. Gleichzeitig erschien ein Buch des Altphilologen Walter Burkert, der den Blick auf den (blutigen) Opferkult lenkte, auf die Tieropfer in den antiken Religionen – der religiöse Mensch wurde damit als „homo necans“ dargestellt, als „der Mensch, der tötet“.

50 Assmann hat sich später von diesem Interview distanziert, wie er berichtet (Monotheismus und Gewalt, 53, Anm. 2). 51 Siehe z. B. E.O. Wilson, On Human Nature, 169–193; Hinde, Why Gods Persist. 52 Siehe z. B. Fehr/Gächter, Altruistic punishment; Norenzayan/Shariff, Evolution of Religious Prosociality.

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Obwohl die theoretischen Ansätze verschieden waren, wie auch die Folgerungen der beiden Autoren im Hinblick auf das Christentum, haben diese Bücher eine Debatte über den Zusammenhang von Religion und Gewalt angeregt. Diese Debatte war auch für die Theologie relevant, wie ein Blick auf den theologischen Diskurs zum Thema „Opfer“ zeigt.53 In den 90er Jahren begann eine neue Debatte zum Thema „Religion und Gewalt“, ausgelöst durch Thesen des bekannten Ägyptologen Jan Assmann. Assmann hatte den Begriff der „Mosaischen Unterscheidung“ eingeführt, eine prägnante Formel zur Beschreibung des exklusiven Monotheismus, der zwischen wahrer und falscher Religion unterscheidet.54 Ohne Assmann zu zitieren, hat der Soziologe Ulrich Beck in seiner Thesen-Reihe „Gott ist gefährlich“ ebenfalls von der „neuen Fundamentalunterscheidung“ gesprochen: der Unterscheidung „zwischen Gläubigen und Ungläubigen“. Zu Beginn der Assmann-Debatte wurde oft angenommen, seine Formel impliziere die These, dass der Monotheismus, wie er im Alten Testament formuliert wird, notwendig eine Tendenz zur Intoleranz enthält, die schließlich, im Christentum und Islam, auch zur Anwendung von Gewalt führt.55 Die Debatte um die (In)Toleranz des Monotheismus ist in etlichen Sammelbänden dokumentiert, und sie ist wohl immer noch nicht abgeschlossen, auch wenn Assmann seine Thesen modifiziert hat und seinen Kritikern in manchen Punkten entgegengekommen ist.56 Neuerdings hat der Historiker Philippe Buc die Thesen Assmanns wieder aufgegriffen und zustimmend zitiert.57 Die Ereignisse vom 11.9.2001 haben die Aufmerksamkeit auf den islamischen Fundamentalismus gelenkt und der Monotheismus-Debatte eine ungeahnte Aktualität verliehen. In dem Spiegel-Interview hat Assmann selbst auf diesen Zusammenhang hingewiesen: „Denken Sie an den Dshihad, den 11. September, die Reden des iranischen Präsidenten – da trifft eine Kritik am Monotheismus einen Nerv der Zeit.“ Der bekannte Biologe Richard Dawkins, ein Vertreter des „Neuen Atheismus“, hat unmittelbar nach dem 11. September eine Erklärung abgegeben, dass es nun an der Zeit sei, zur offenen Kritik der Religion überzugehen: „Time to Stand Up“.58 In seinem Buch „Der Gotteswahn“, wie das Assmann-Interview im Jahre 2006 erschienen, hat Dawkins gleich zu Beginn seine Auffassung angedeutet, dass die Religion für viele Übel dieser Welt verantwortlich sei:59 53 Siehe z. B. Schwager, Schöpfung und Opfer. 54 In einem seiner letzten Beiträge zu dieser Debatte hat Assmann eine „Neufassung“ dieser Formel vorgelegt (Mose und der Monotheismus der Treue, 26). 55 So hat es anscheinend auch der Neutestamentler und Christentumskritiker Gerd Lüdemann aufgefasst (Die Intoleranz des Evangeliums, 223, Anm. 27). Eine kurze und korrekte Zusammenfassung der Theorie Assmanns bietet Kippenberg, Gewalt als Gottesdienst, 17f. Vgl. auch Berner, Die Debatte über den Monotheismus des Mose. 56 Siehe z. B. Assmann, Monotheismus und Gewalt; ders., Mose und der Monotheismus der Treue. 57 Buc, Das Böse gehört zum Monotheismus. 58 Siehe Dawkins, Time to stand up, in: Dawkins, The Devil’s Chaplain. 59 Dawkins, The God Delusion, 23.

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Imagine, with John Lennon, a world with no religion. Imagine no suicide bombers, no 9/11, …, no Crusades, no witch-hunts, … Eine ähnliche Aufzählung destruktiver Wirkungen von Religion findet sich in einem mehrfach abgedruckten Text des bekannten Psychologen Steven Pinker:60 Religions have given us stonings, witch-burnings, crusades, inquisitions, jihads, fatwas, suicide bombers, … Pinker hat darüber hinaus auch auf die ideologische Funktion der Religion hingewiesen: Religions, like other cultures, have produced great art, philosophy, and law, but their customs, like those of other cultures, often serve the interests of the people who promulgate them. In beiden Fällen richtet sich die Kritik vor allem gegen Christentum und Islam, also gegen die monotheistischen Religionen, nicht z. B. gegen den Buddhismus. Das gilt auch für die Religionskritik des Physikers und Nobelpreisträgers Steven Weinberg: God in the Old Testament tells us to bash the heads of infidels and demands of us that we be willing to sacrifice our children’s lives at his orders, and the God of traditional Christianity and Islam damns us for eternity if we do not worship him in the right manner. So kommt Weinberg zu dem Urteil: „… on balance, the moral influence of religion has been awful“.61 Auch der französische Philosoph Michel Onfray hat seine Kritik in gleichem Maße gegen die monotheistischen Religionen gerichtet, von denen er annimmt, dass „die Grundsubstanz dieser drei Religionen immer die gleiche ist“: Der Glaube an einen gewalttätigen, eifersüchtigen, intoleranten und streitlustigen einzigen Gott hat deutlich mehr Haß, Leid und Tod hervorgebracht als Frieden. Im Blick auf das Christentum nennt Onfray die größte Zahl von Beispielen, u. a. die Kreuzzüge und die Inquisition – die „gefährliche Rechtfertigungsgrundlage“ sieht er in dem christlichen „Verweis auf die Händler im Tempel und einen von Paulus gefärbten Jesus, der vorgeblich kommt, um das Schwert zu bringen“.62 Religionskritische Äußerungen finden sich oft in einem Kontext, in dem es um die Vereinbarkeit von Religion und (Natur)Wissenschaft geht. Die Behaup60 Pinker, Whence Religious Belief?, 312. 61 Weinberg, A Designer Universe?, 38. 62 Onfray, Wir brauchen keinen Gott, 69/70.

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tung der Unvereinbarkeit findet sich z. B. schon im Titel eines Buches des Biologen Jerry Coyne, der religiösen Glauben (religious faith) als solchen für gefährlich und schädlich hält.63 Seine Kritik entfaltet er nicht im Rückblick auf die Geschichte, sondern im Blick auf die Gegenwart: „Faith as Substitute for Medicine“, „Suppression of Research and Vaccination“, „Opposition to Assisted Dying“ sowie „Global-­ Warming Denialism“.64 Von besonderem Interesse ist wieder die Position des Biologen Richard Dawkins. Er widerspricht in diesem Kontext seinem Kollegen, dem Biologen Stephen Jay Gould, der die Auffassung vertrat, dass es eigentlich keinen Konflikt gebe, weil es sich bei (Natur)Wissenschaft und Religion um zwei ganz verschiedene „magisteria“ handele, die sich gar nicht überschneiden:65 The net of science covers the empirical realm: what is the universe made of (fact) and why does it work this way (theory). The net of religion extends over questions of moral meaning and value. Das würde bedeuten, dass Religion als Grundlage der Moral erhalten bleiben und als ein konsistentes System von Aussagen konstruiert werden kann, das nicht weniger rational ist als die (Natur)Wissenschaft, ohne dass es mit dieser in einen Konflikt geraten könnte. Dawkins behauptet dagegen, die Hoffnung, Moral auf Religion gründen zu können, sei trügerisch. Er begründet dies mit dem Hinweis auf den selektiven Umgang mit den moralischen Aussagen der Bibel, die, wie Dawkins meint, nie in ihrer Gesamtheit in Betracht gezogen werden:66 Instead, we pick and choose the nice bits of scripture (like the Sermon on the Mount) and blithely ignore the nasty bits (like the obligation to stone the adulturesses, execute apostates, and punish the grandchildren of offenders).67 Die Grundlage der Moral kann, Dawkins zufolge, aber auch nicht in der Wissenschaft gefunden werden – darin stimmt er mit Gould überein. Er will aber die Religion ganz eliminieren und durch Ethik ersetzen: er plädiert deshalb für eine säkulare Moralphilosophie, die das Moralsystem, das auf Überzeugungen beruht, kritisch untersucht, um verborgene Implikationen und Inkonsistenzen aufzu­decken. Religion wäre demnach schlichtweg überflüssig, eine Position die auch Steven Weinberg vertritt:68

63 64 65 66 67

Siehe Coyne, Faith vs. Fact, 229. Siehe Coyne, ebda, 229–250. Gould, Nonoverlapping Magisteria, 195. Dawkins, You Can’t Have It Both Ways, 208. Wie der Neutestamentler Heikki Räisänen berichtet (Marcion, 100), hat es in Finnland eine öffentliche Diskussion über genau diese Frage gegeben: ob es erlaubt sei, selektiv aus dem Alten Testament die moralisch akzeptablen Normen zu zitieren und die anstößigen Aussagen zu übergehen. 68 Weinberg, A Designer Universe?, 40.

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One of the great achievements of science has been, if not to make it impossible for intelligent people to be religious, then at least to make it possible for them not to be religious. Wieder eine andere Position hat der Biologe Dean Hamer vertreten: Er unterscheidet zwischen Spiritualität und Religion, und er glaubt, mit naturwissenschaftlichen Methoden die Anlage zur Spiritualität beschreiben und als universal sowie als invariant gegenüber den verschiedenen Religionen mit ihren Dogmen und Institutionen darstellen zu können.69 Der Widerspruch zwischen Religion und Wissenschaft würde dann eingeschränkt sein und den Teil der Religion, der in den Genen verankert ist, die Spiritualität, gar nicht betreffen. Der Titel seines Buches – „The God Gene“ – ist ein gutes Beispiel für diese Art populärwissenschaftlicher Beiträge zum Religionsdiskurs, ebenso wie Dawkins’ Buch „The God Delusion“: beide Autoren sind ausgewiesen als Vertreter einer Naturwissenschaft, und sie legen in ihren Büchern auch großen Wert darauf, immer wieder ihre Kenntnis der strengen, naturwissenschaftlichen Methodik zu demonstrieren. In ihrer ideologischen Ausrichtung, sozusagen ihrer „Botschaft“, sind diese beiden Bücher aber unterschiedlich. Hamer setzt sich kritisch mit Dawkins auseinander und wirft ihm vor, einen Schritt zu weit gegangen zu sein und selbst zum Verkünder einer (atheistischen) Religion zu werden.70 Im Unterschied zu Hamer und Gould besteht Dawkins darauf, dass Religion nicht getrennt vorgestellt werden kann von dem Anspruch, theoretische Aussagen über die Welt zu machen: „Religions make existence claims, and this means scientific claims.“71 Demnach wäre der Konflikt unausweichlich, und es wäre ein Konflikt, in dem, Dawkins zufolge, die Religion unterliegen muss. Ein solches populäres (Vor)Urteil, dass Religion und Wissenschaft letztlich unvereinbar sind, könnte auch durch einen Artikel in der Zeitschrift „Science“ bestätigt erscheinen, der im Titel die Andeutung macht, dass „analytisches Denken“ den Unglauben stärkt.72 Dawkins betrachtet diesen Prozess aber nicht als eine „Entzauberung der Welt“, wie er in einem seiner neuesten Bücher ausführt: die Wirklichkeit habe ihren eigenen Zauber (The Magic of Reality), der durch die (Natur)Wissenschaft, die an die Stelle der religiösen Mythen trete, erst richtig zur Geltung komme. Gleichzeitig erschien ein Buch des Wissenschaftshistorikers Ernst Peter Fischer, der unter dem Titel „Die Verzauberung der Welt“ eine „andere Geschichte der Naturwissenschaft“ vorstellt. Die Intention, den „Zauber der Wirklichkeit“ gerade durch die Naturwissenschaft erkennbar zu machen, könnte in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden: in den Diskurs über die „Wiederverzauberung der Welt“ (the re-enchantment 69 70 71 72

Siehe Hamer, The God Gene, 10; 18; 215 u. ö. Siehe Hamer, ebda, 209. Dawkins, You can’t have it both ways, 210. Siehe Gervais/Norenzayan, Analytical Thinking Promotes Religious Disbelief.

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of the world), der von den Vertretern verschiedener Kulturwissenschaften geführt wird, jeweils in kritischer Auseinandersetzung mit Max Weber und seiner Rede von der „Entzauberung der Welt“ – in englischer Übersetzung manchmal, und korrekt, als „Elimination of magic“ wiedergegeben: Weber’s account was, however, incomplete. What he neglected to mention is that each time religion reluctantly withdrew from a particular area of experience, a new, thoroughly secular strategy for re-enchantment cheerfully emerged to fill the void. … the progressive disenchantment of the world was thus accompanied, from the start and continually, by its progressive re-enchantment.73 In den Beiträgen von Seiten diverser Kulturwissenschaften werden Phänomene aus verschiedenen kulturellen Bereichen betrachtet, in denen „Transformationen des Religiösen“ entdeckt werden können, wie z. B. in Literatur, Kunst und Theater.74 An dieser kulturwissenschaftlichen Debatte ist auch die Theologie beteiligt: In einer neuen „Kulturgeschichte“ des Christentums hat Jörg Lauster gleich zu Beginn Max Webers These von der „Entzauberung der Welt“ zitiert, um sofort festzustellen, daran sei „vieles, aber nicht alles richtig“.75 Dieser Ent-/Verzauberungs-Diskurs, der die ganze Breite der Kulturwissenschaften überspannt, kann dazu anregen, die Frage nach den „Transformationen des Religiösen“ aufzugreifen und damit eventuell den Gegenstandsbereich der Religionswissenschaft neu zu bestimmen. Parallel zu dem kritischen Diskurs über das Gewaltpotential der Religion hat sich ein gegenläufiger, apologetischer Diskurs über das Friedenspotential der Religion entwickelt, initiiert und getragen zumeist von Theologen. Dem katholischen Theologen Hans Küng ist es gelungen, diese Initiative in eine größere Öffentlichkeit zu tragen. In den 90er Jahren hat er immer wieder auf die Notwendigkeit eines interreligiösen Dialoges hingewiesen, und beim Weltparlament der Religionen, in Chicago 1993, hat er eine „Erklärung zum Weltethos“ vorgelegt, die dann auch akzeptiert und verabschiedet wurde. Bekannt ist seine Formel, dass es „keinen Frieden zwischen den Nationen geben wird ohne einen Frieden zwischen den Religionen“ und dass es „keinen Frieden unter den Religionen gibt ohne einen Dialog der Religionen“.76

Mit der Gründung der „Stiftung Weltethos“ (Tübingen 1995; Zürich 1996) hat er versucht, dem interreligiösen Dialog eine institutionelle Gestalt zu geben. Um die Botschaft vom Friedenspotential der Religionen wirksam werden zu lassen, wur73 74 75 76

Landy/Saler, The Varieties of Modern Enchantment, 1f. Siehe Fischer-Lichte, Die Wiederverzauberung der Welt. Lauster, Die Verzauberung der Welt, 13. Küng, Wider den Zusammenprall der Kulturen, 124; ders., Weltfrieden durch Religionsfrieden, 135.

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den auch Kontakte zu hochrangigen Politikern gesucht – so hat z. B. der damalige Premierminister Großbritaniens, Tony Blair, am 30. Juni 2000, die erste der „Weltethos-Reden“ gehalten. Die dritte dieser Weltethos-Reden, die von der Stiftung Weltethos zusammen mit der Universität Tübingen veranstaltet werden, wurde am 12. Dezember 2003 von Kofi Annan gehalten, dem damaligen Generalsekretär der UNO. Beide Politiker haben im Anschluss an ihre Reden jeweils einen „Dialog“ mit Hans Küng geführt.77 Die Verbindung zwischen Religion und Politik tritt vielleicht noch deutlicher hervor in der Gründung einer anderen Institution, die dem Dialog zwischen den Religionen und Kulturen gewidmet ist und damit dem Weltfrieden dienen soll: das „King Abdullah Bin Abdulaziz International Centre for Intercultural and Interreligious Dialoge“ (KAICIID) in Wien (2012), getragen von den Regierungen Saudi-­ Arabiens, Spaniens, Österreichs, und (mit Beobachterstatus) des Vatikans, finanziert aber fast ausschließlich von Saudi-Arabien. In der österreichischen Öffentlichkeit ist diese Dialog-Institution nicht unumstritten, gerade wegen der Verflechtung religiöser, politischer und ökonomischer Interessen. So wurde in einer Pressemitteilung über die „Schließungsdebatte“ des Zentrums festgestellt: „Kritiker sahen darin den Versuch des Geldgebers, Riad, sein ramponiertes Image in Bezug auf die Menschenrechte durch ein Dialogzentrum aufzupolieren.“78 Das Thema „Religion und Politik“ war auch in einem anderen Kontext berührt worden, in der Debatte über die Selbstmordattentate: Der Religionskritiker Sam Harris sah darin, wie auch Dawkins, nur einen Ausdruck des religiösen Fanatismus, machte also die (monotheistische) Religion dafür verantwortlich; er musste sich dabei aber mit einer konkurrierenden Deutung auseinandersetzen, die in der Politikwissenschaft formuliert wurde: Robert Pape hatte behauptet, dass es sich nicht einfach um einen Ausdruck irrationalen Hasses handelt, sondern in den meisten Fällen um eine Strategie zur Erreichung bestimmter politischer Ziele.79 Wenn es denn zu den Aufgaben der Religionswissenschaft gerechnet wird, zu den Themen des öffentlichen Religionsdiskurses, von denen hier einige benannt wurden, Stellung zu nehmen, so ist zunächst noch die religionswissenschaftliche Perspektive – im Unterschied zur theologischen – genauer zu bestimmen. 1.4.2 Die religionswissenschaftliche Perspektive Der Unterschied zur theologischen Perspektive liegt nicht im Gegenstandsbereich – auch die Religionen der Antike können zum Gegenstand theologischer Reflexion werden, wie ein Blick auf das Werk großer Kirchenhistoriker, wie z. B. Adolf von Harnack, und großer Neutestamentler, wie z. B. Rudolf Bultmann, zeigt. Diese bei77 www.weltethos.org/politik-weltethos-reden/ 78 Siehe Pressemitteilung Vienna Online vom 18. 01. 2015. 79 Siehe Pape, Suicide Terrorism, 345; Harris, End of Faith, 250. Zur Kritik am „Mythos der religiösen Gewalt“ vgl. auch Francis, Understanding Terrorism, 914–916.

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den Theologen waren zugleich ausgezeichnete Kenner der (spät)antiken Religionsund Philosophiegeschichte. Der Unterschied liegt auch nicht in der Methode, die ja nur eine historische sein kann. Es ist auch nicht so, dass die Religionswissenschaft eine Objektivität in dem Sinne beanspruchen könnte, dass sie nie standortgebunden sei und deshalb völlig voraussetzungslos arbeiten könne. Der Neutestamentler Gerd Theißen bemerkt mit Recht: „Weder Theologie noch Religionswissenschaft sind wertneutral.“80 Der Unterschied kann nur darin liegen, dass in der Religionswissenschaft eine Pluralität von Standorten zugelassen und sogar erwünscht ist – nicht nur Standpunkte verschiedener Religionen, sondern auch agnostische ebenso wie atheistische, dezidiert religionskritische –, wie dies im Rahmen der Theologie wohl nicht möglich wäre, zumindest nicht in jeder theologischen Fakultät. In der Anwendung religionstheoretischer Ansätze kann sich durchaus eine Überschneidung der Perspektiven ergeben: so hat Gerd Theissen für seine Darstellung der „Religion der ersten Christen“ gerade jenen Ansatz gewählt, der in der „kulturwissenschaftlichen Wende“ der Religionswissenschaft eine zentrale Rolle gespielt hat: Clifford Geertz’ Sicht der Religion als Zeichen- oder Symbolsystem.81 Es ist also nicht unmöglich, eine „Theorie des Urchristentums“ im Rahmen der Theo­ logie zu entwickeln. Der Unterschied zwischen theologischer und religionswissenschaftlicher Perspektive tritt erst dann hervor, wenn Gerd Theissen, im Blick auf die verschiedenen Gestalten des (Ur)Christentums schließlich nach der „Einheit der urchristlichen Religion“ fragt, diese Einheit inhaltlich bestimmt und durch das Bild der „semiotischen Kathedrale“ veranschaulicht.82 Der Neutestamentler Heikki Räisänen verwendet demgegenüber eine Metapher, die im Rahmen der religionswissenschaftlichen Perspektive bleibt und die Vielheit betont, nicht die Einheit: Er sieht die urchristliche Gedankenwelt nicht als eine Kathedrale, sondern als „eine Reihe von Kapellen mit je eigener Architektur“.83 Wenn der Kirchenhistoriker Adolf von Harnack über „das Wesen des Christentums“ schrieb, so hatte er damit bereits den Übergang von der religionsgeschichtlichen zur theologischen Argumentation vollzogen, insofern als er eine von vielen möglichen Auslegungen der christlichen Tradition – seine eigene Auslegung – normativ als die richtige gesetzt hatte.84 Demgegenüber unterscheidet der Neutestamentler Heikki Räisänen konsequent zwischen religionsgeschichtlicher und theologischer Perspektive, und er 80 Theißen, Theologie und Religionswissenschaft, 133. Vgl. dazu Berner, Braucht Religionswissenschaft konfessionelle Theologie?, 257–259. 81 Theißen, Die Religion der ersten Christen, 19f. 82 Theißen, ebda, 19; 340 u. ö.. 83 Räisänen, Eine Kathedrale aus dem Chaos?, 61. In diesem Rahmen bewegt sich auch noch die Metapher, die der Neutestamentler Ulrich Luz einführt: das Urchristentum sei „keine „semiotische Kathedrale““ gewesen, sondern „eher eine Baustelle“ (Der frühchristliche Christusmythos, 1245). 84 Siehe dazu Harnacks Vorreden aus den Jahren 1900 bis 1925.

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lehnt es deshalb ab, in einer religionswissenschaftlichen Darstellung „spekulativ nach dem „Wesen“ des Christentums, des biblischen Glaubens oder dergleichen zu fragen“.85

Aus der religionswissenschaftlichen Perspektive würde also gerade die Vielheit in der (scheinbaren) Einheit betont werden, und so wäre z. B. dem Soziologen Pierre Bourdieu zuzustimmen, der im Hinblick auf die „gemeinhin als christlich bezeichneten Glaubensinhalte und Praktiken“ feststellen zu können glaubte, dass ihnen „kaum mehr als der Name gemein ist“; das „Zirkulieren der religiösen Botschaft“ impliziere eben „notwenigerweise eine Umdeutung, die entweder von Spezialisten bewusst vorgenommen wird, um die Botschaft auf die Erwartungen der Empfänger hin zuzuschneiden, oder unbewusst von den Rezipienten, die die Botschaft vermittelt über ihre eigenen Wahrnehmungs- und Beurteilungskategorien begreifen“.86 Der Religionswissenschaftler Hubert Seiwert hatte zur gleichen Zeit die gleiche These im Hinblick auf den Buddhismus aufgestellt: „… the contents of a religion may change almost beyond recognition as the substantial differences between the various forms of Buddhism from Ceylon via Tibet to Japan show. It seems difficult if not impossible to define the identity of a religion on such grounds.“87 Was bleibt, ist demnach nur die Bezugnahme auf den Buddha als letzte Autorität – das ist aber nur eine formale, keine inhaltliche Identität. Auch für den Buddhismus würde also gelten, dass den „Glaubensinhalten und Praktiken“, die „gemeinhin“ als buddhistisch bezeichnet werden, „kaum mehr als der Name gemein ist“. Neuere Forschungen zum Buddhismus haben diese Sichtweise bestätigt. So ist z. B. das Bild vom Buddhismus als einer wesenhaft friedlichen und toleranten Religion in die Kritik geraten. Die Zeitschrift für Religionswissenschaft brachte 2003 ein Themenheft „Buddhismus und Gewalt“, mit dem Ziel, „ein differenziertes Bild buddhistischer Lehren und Praktiken und ihrer Rezeptionen an unterschiedlichen Orten und Zeiten zu skizzieren, um den immer noch weit verbreiteten Klischees und Stereotypisierungen entgegenzuwirken“.88 In seinem Beitrag stellt Christoph Kleine in pointierter Formulierung fest, es sollte „inzwischen eigentlich bekannt sein, dass das Klischee vom friedlichen Buddhis­mus weitgehend ein Produkt exotistischer orientalistischer Wunschprojektionen „des Westens“ ist und einer Überprüfung kaum standhält“.89 Am Beispiel der „Militarisierung des buddhistischen Ordens in Japan“ will er zeigen, dass es sich nicht um eine „Korruption“ des ursprünglichen Buddhismus im Sinne einer „zunehmenden Abweichung der Praxis von der Norm“ handelt, dass sich vielmehr „das Normsystem (beziehungsweise eines von mehreren) selbst nach den Maß­ 85 86 87 88 89

Räisänen, Die frühchristliche Gedankenwelt, 258; vgl. ders., Comparative Religion, 219f. Bourdieu, Struktur des religiösen Feldes, 59f. Seiwert, What constitutes the identity, 6. Kollmar-Paulenz/Prohl, Einführung 146. Kleine, Üble Mönche oder Bodhisattvas?, 236.

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gaben der mahayanistischen Ethik einer inneren Logik folgend gewandelt“ habe – die kanonische Literatur des Mahayana-Buddhismus enthalte „unverblümte Aufrufe zur Gewalt gegen Feinde der Religion“.90 Auch im japanischen Zen-Buddhismus, der im Westen am wenigstens mit Gewalt in Zusammenhang gebracht wird, gab es im frühen 20. Jahrhundert Unterstützung für die aggressive Expansionspolitik und den Krieg gegen China.91 Es handelt sich aber nicht um eine Eigenart des Mahayana-­ Buddhismus, wie die Forschungen über den buddhistischen Gewaltdiskurs und die Militarisierung des Mönchsordens in Ländern des Theravada-Buddhismus, wie z. B. in Sri Lanka, gezeigt haben.92 Es ist also festzuhalten „dass man Religionen nicht wie Menschen irgendwelche Charaktereigenschaften zuschreiben kann“ – es gibt keine friedliche und keine kriegerische Religion, sondern lediglich „Menschen, die ihr friedfertiges oder kriegerisches Handeln religiös interpretieren, begründen und rechtfertigen“.93 Und es sind nur Menschen, die friedlich oder kriegerisch handeln, nicht Religionen: „properly speaking, it is only human subjects, who possess agency.“94

Als vorbildlich aus der Sicht der Religionswissenschaft kann auch die Darstellung des Islams „in practice“ gelten, die der Ethnologe Reinhold Löffler gegeben hat: Als Ergebnis seiner Feldforschung hat er 21 Fälle vorgestellt – „the individual worldviews of a score of men in a Shiite Iranian village“.95 Die Unterschiedlichkeit dieser individuellen Weltsichten ist, Löffler zufolge, „amazing“: „I say amazing variety because it appears in the framework of a religion which probably more than any other denies the laity personal discretion and insists on the unquestioning acceptance of what has been defined by an elite as orthodoxy.“ So kommt er zu der Folgerung, dass jede essentialistische Vorstellung von „dem“ Islam aufzugeben sei.96 Eine weitere Folgerung ist, dass es verschiedene „religiöse Typen“ unter den Muslimen jenes Dorfes gibt – („activists, mystics, pilgrims, peasants, etc.“) – die jeweils ihre Entsprechungen an anderen Orten der islamischen Welt haben, so dass z. B. der „Aktivist“ in jenem iranischen Dorf dem charismatischen Heiligen Lyusi in Marokko näher verwandt sei als irgendeiner Person in seinem eigenen Dorf.97 In einer historischen Betrachtung zum Islam im Spanien des 10. Jahrhunderts hat Hanna Kassis eine vergleich-

90 91 92 93 94 95 96 97

Kleine, ebda, 255; 253. Siehe Victoria, Soldier Zen. Siehe Kent, Onward Buddhist Soldiers. Kleine, Üble Mönche oder Bodhisattvas?, 236. Lincoln, Sanctified Violence, 85. Löffler, Islam in Practice, 1. Löffler, ebda, 246. Löffler, ebda, 249.

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bare Differenzierung vorgenommen, wenn sie „den Weg al-Hakams“ und „den Weg al-Mansurs“ gegenüberstellt: als „den Weg der Feder“ und „den Weg des Schwertes“.98 Der Soziologe Ulrich Beck hat in einem seiner letzten Bücher ebenfalls die innere Diversität der einzelnen Religionen betont, metaphorisch beschrieben in der Feststellung, dass sie „nicht monolithisch“ seien. Er ist aber noch einen Schritt weitergegangen, indem er bemerkt, dass „wir leicht die Tatsache übersehen (können), daß Menschen, die sich unterschiedlichen Religionstraditionen zurechnen, oft mehr Überzeugungen teilen, als (wie ganz selbstverständlich unterstellt wird), mit ihren ‚Glaubensbrüdern und –schwestern‘“.99 Es ist also zu bedenken, dass es auf Grund der inneren Diversität religiöser Traditionen zu partiellen, von den Anhängern unbemerkten Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Religionen kommen könnte, und diese Beobachtung würde die Tendenz zur Darstellung des „Wesens“ einzelner Religionen vollends problematisch erscheinen lassen. Die religionswissenschaftliche Perspektive lässt es nicht zu, eine apologetische Haltung einzunehmen und z. B. „das“ Christentum oder gar „die“ Religion gegen die Kritik, wie sie im zeitgenössischen Religionsdiskurs geäußert wird, zu verteidigen. Eine solche apologetische Haltung findet sich nicht nur bei Theologen, wie z. B. Alister McGrath, der sich mit Richard Dawkins auseinandergesetzt hat, sondern manchmal auch bei Vertretern benachbarter Disziplinen, wie z. B. bei dem Historiker Lutz E. von Padberg oder dem Soziologen Rodney Stark. Padberg, als Mediävist ausgewiesen, hat die „10 häufigsten Vorwürfe gegen das Christentum“ erörtert, wie z. B. den Vorwurf, die Kirche sei für die Hexenverfolgung verantwortlich gewesen. Als Historiker kommt er zu dem Urteil, dies sei „eine Verfälschung der Geschichte“.100 Sein abschließender Kommentar deutet aber darauf hin, dass es ihm letztlich darum geht, das (wahre) Christentum zu verteidigen: „Das Christentum ist eben doch nicht an allem schuld“. So fällt er auch manchmal explizit normative, theologische Urteile, z. B. im Hinblick auf die Inquisition, die er als „zutiefst unchristlich“ bezeichnet; und er hält es ebenso für berechtigt, die Kreuzzugsbewegung „prinzipiell als unchristlich einzustufen“.101 Vergleichbar ist das theologische, kritische Urteil des Kirchenhistorikers Arnold Angenendt, der, in seiner Auseinandersetzung mit der Christentums-Kritik Schnädelbachs, feststellt, der Kreuzzug gegen die Katharer „zeige insofern einen der wirklichen Sündenfälle des Christentums, als man Abgefallene meinte mit Gewalt zurückzwingen zu können“.102 Die Einordnung einer Argumentation als „theologisch“ kann auch dann zutreffend sein, wenn ein buddhistischer Autor, wie z. B. Brian Daizen Victoria, ein Phänomen aus der Geschichte des japanischen Buddhismus – „Soldier-Zen“ – nicht nur darstellt,

98 Kassis, Können sich der Islam und der Westen versöhnen?, 119. 99 Beck, Der eigene Gott, 69. 100 Padberg, In Gottes Namen?, 166. 101 Padberg, ebda, 152; 131. 102 Angenendt, Vom Segen des Christentums, 74.

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sondern auch „buddhologisch“ kritisiert, als mit dem Wesen des Buddhismus unvereinbar, als „besonders üble Variante“ einer „Verirrung“.103 Als Historiker ist Padberg darum bemüht, Urteile „aus der Perspektive des späteren Besserwissers“ zu vermeiden, und so gibt er zu bedenken, dass die Teilnehmer der Kreuzzüge „ernsthaft Gottes Willen erfüllen“ wollten.104 Der Soziologe Rodney Stark hat sogar ein ganzes Buch geschrieben, um Verständnis für die Kreuzzugsbewegung zu wecken: er will die negativen Urteile widerlegen, die schon „während der Aufklärung verbreitet“ gewesen seien – „in jener völlig zu Unrecht so genannten Epoche, in welcher französische und britische Intellektuelle das „finstere Mittelalter“ erfanden, um das eigene Zeitalter zu glorifizieren und die katholische Kirche zu diffamieren“.105 Der vorherrschenden Auffassung, dass „die Kreuzzüge ein Werkzeug des expansionistischen, imperialistischen Christentums“ waren, „das Territorien eines toleranten und friedlichen Islams brutal unterwerfen, ausplündern und kolonisieren wollte“, stellt Stark die Behauptung entgegen: „So war es nicht. Die Kreuzzüge waren, wie wir sehen werden, durch islamische Provokationen ausgelöst: durch jahrhundertelange blutige Versuche, das Abendland zu kolonisieren, …“.106 Stark vertritt ebenso wie Padberg die Auffassung, dass die Kreuzfahrer durch ihren Glauben motiviert waren: Die Kreuzritter „glaubten ernsthaft, dass sie in Gottes Bataillonen dienten“.107 Vergleichbar in der apologetischen Tendenz ist das populärwissenschaftliche, explizit als „Verteidigung des Christentums“ vorgestellte Buch von Tommy Ballestrem, der sicherlich nicht zu Unrecht feststellt, „Jeder Versuch, das Christentum in ein positives Licht zu rücken, stößt irgendwann auf den Einwand: „Ja, aber die Kreuzzüge …““.108 Aus der religionswissenschaftlichen Perspektive kann es aber nicht darum gehen, „das“ Christentum – oder „die“ Religion überhaupt – zu kritisieren oder zu verteidigen und z. B. die Frage zu erörtern, ob „der christliche Glaube durch die Epoche der Kreuzzüge diskreditiert“ sei.109 Es kann nur darum gehen, die verschiedenen Auslegungen des christlichen Glaubens, also z. B. den Gewalt-Diskurs im mittelalterlichen Christentum, in ihrer ganzen Breite zu erfassen und, zumindest ansatzweise, zu erklären, warum sich die Protagonisten der einen oder anderen Auslegung, z. B. die Befürworter der Kreuzzüge, zeitweise durchgesetzt haben. Bei der Betrachtung der „Konfliktverläufe“ sind nicht (nur) ganze „Religionsgemeinschaften“ und ihre Gegner als „Akteure“ in den Blick zu nehmen,110 sondern auch individuelle Akteure, die innerhalb ihrer religiösen Gemeinschaft Konflikte hervorgerufen haben.

103 Victoria, Zen, Nationalismus und Krieg, 315. Vgl. ders., „Soldier Zen“. 104 Padberg, In Gottes Namen?, 131. 105 Stark, Gottes Krieger, 14f. 106 Stark, ebda, 17. 107 Stark, ebda, 344. 108 Ballestrem, Ja, aber die Kreuzzüge …, 13. 109 Padberg, In Gottes Namen?, 115. 110 Vgl. dazu Kippenberg, Gewalt als Gottesdienst, 62.

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Aus dem kurzen Überblick über den öffentlichen Religionsdiskurs ergeben sich Gesichtspunkte für die Auswahl der Beispiele aus der europäischen Religionsgeschichte. Das zentrale Thema „Religion und Gewalt“ kann ausdifferenziert werden in die „Opfer“-Thematik einerseits und die „Intoleranz“-Thematik andererseits: Das blutige (Tier)Opfer hat in den antiken Religionen eine zentrale Rolle gespielt, und im Christentum ist es zumindest auf der Ebene der metaphorischen Rede vom „Lamm Gottes“ weiterhin gegenwärtig; die bekanntesten Beispiele für religiöse Intoleranz und Gewalt gegen Menschen sind wahrscheinlich die Kreuzzüge, als Gewalt gegen Ungläubige, und die Inquisition, als Gewalt gegen Häretiker. Dazu gehört auch das Thema „Hexenglaube und -verfolgung“, das von Religions- und Christentums-Kritikern, wie z. B. von Sam Harris und Kurt Flasch, als ein Beispiel angeführt wird.111 Im Blick auf die Debatte über den Konflikt zwischen Religion und Naturwissenschaft erscheint es naheliegend, den Galilei-Prozess im 17. Jahrhundert und die Rezeption des Darwinismus im 19. Jahrhundert zum Gegenstand zu machen. Die These, dass Religion schlichtweg überflüssig sei und als Grundlage der Moral sowieso nicht in Frage komme, ist ein Ansatzpunkt für die Betrachtung der Ethik in der antiken Philosophie und ihrer Rezeption im Christentum. Für die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Politik – also das Thema „Religion als Ideologie“ – bieten der hellenistische Herrscherkult sowie der römische Kaiserkult die besten Ansatzpunkte zur Erörterung. Im Blick auf die Frage nach den Transformationen des Religiösen in der Kunst, wie z. B. im modernen (Musik)Theater, bietet es sich an, die griechische Tragödie der klassischen Epoche zum Ausgangspunkt der Betrachtung zu machen. Im Hinblick auf die Forderung nach interreligiösen Dialogprogrammen könnte es aufschlussreich sein, die Rezeption des philosophischen Dialogs im Frühen Christentum zu betrachten sowie die Ansätze eines interreligösen Dialoges im Mittelalter. Die Beispiele für die Erörterung der genannten Themen werden jeweils aus der europäischen Religionsgeschichte genommen. Für die Exkurse gilt, dass die Beispiele aus dem nichtchristlichen und außereuropäischen Bereich zu wählen sind, ohne eine weitere Einschränkung. Am Ende der einzelnen Kapitel wird jeweils in dem Abschnitt „Zusammenfassung und Ausblick“ der Versuch gemacht, einen Bezug zu aktuellen Debatten herzustellen und weiterführende Fragestellungen anzudeuten – der Akzent liegt also auf dem „Ausblick“. In der Darstellung wird gelegentlich auf religionstheoretische Ansätze Bezug genommen, manchmal in etwas abgewandelter Form. Aus der Geschichte der Religionswissenschaft wird vor allem die Unterscheidung zwischen „(cumulative) Tradition“ und „Faith“ aufgegriffen, die Wilfred Cantwell Smith schon in den 6oer Jahren eingeführt hatte;112 sie wird aber abgewandelt in die Unterscheidung zwischen „(religiöser) Tradition“ und „(individueller) Religiosität“, so dass die Verwendung des Begriffes „Religion“ weitgehend vermieden werden kann. Aus der Religions111 Siehe Harris, The End of Faith, 88f; Flasch, Warum ich kein Christ bin, 257. 112 Siehe Smith, Meaning and End of Religion, 178.

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Einleitung

soziologie sei die Theorie der religiösen Ökonomie genannt, wie sie von Rodney Stark und Roger Finke entwickelt wurde;113 aus dem Bereich der kognitiven Reli­ gionstheorien die Theorie der „Modes of Religiosity“ von Harvey Whitehouse;114 aus der analytischen Religionsphilosophie, die in der Religionswissenschaft weitgehend unbeachtet geblieben ist, vor allem die nicht-kognitiven Theorien der religiösen Sprache.115 Genannt seien auch die evolutionsbiologischen oder -psychologischen Theorien über den Zusammenhang von Religion und Kooperation.116 Literatur Überblicksdarstellungen (Auswahl) Antes, Peter: Die Botschaft fremder Religionen, Mainz 1981. Antes, Peter (Hg.): Die Religionen der Gegenwart. Geschichte und Glauben, München 1996. Antes, Peter (Hg.): Die Vielfalt der Religionen, Hannover 2002. Antes, Peter: Grundriss der Religionsgeschichte. Von der Prähistorie bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006. Cox, James: From Primitive to Indigenous. The Academic Study of Indigenous Religions, Aldershot 2007. Dammann, Ernst, Grundriss der Religionsgeschichte, Stuttgart 1972. Eliade, Mircea: Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte, Salzburg 1954. Elsas, Christoph: Religionsgeschichte Europas, Darmstadt 2002. Glasenapp, Helmut von: Die Fünf Weltreligionen, München 1963. Golzio, Karl Heinz et al. (Hg.): Basiswissen Weltreligionen, Gütersloh 2002. Heiler, Friedrich et al.: Die Religionen der Menschheit. Herausgegeben von Kurt Gold­ ammer, 5. Aufl. Stuttgart 1991 (1959). Heiler, Friedrich: Erscheinungsformen und Wesen der Religion, Stuttgart 1961. Hutter, Manfred: Die Weltreligionen, München 2005. Kippenberg, Hans G./Jörg Rüpke/Kocku von Stuckrad (Hg.): Europäische Religions­ geschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, Göttingen 2009. Leeuw, Gerardus van der: Phänomenologie der Religion, Tübingen 1970 (1933). Oxtoby, Willard (Ed.): World Religions. Western Traditions/Eastern Traditions. Second Edition Oxford 2002. Oxtoby, Willard/Alan F. Segal (eds.): A Concise Introduction to World Religions, Oxford 2007. Prothero, Stephen: Die Neun Weltreligionen. Was sie eint, was sie trennt, München 2011.

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2 Religion und Kult Das blutige Opfer und der kritische Opferdiskurs

In seinem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Homo Necans“ – „der Mensch, der tötet“ – hat der Altphilologe Walter Burkert einen Aspekt der ‚heiligen Handlung‘ des Tieropfers in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt: den Tötungsakt, und er hat darauf eine ganze Religionstheorie aufgebaut: „Grunderlebnis des ‚Heiligen‘ ist die Opfertötung. Der homo religiosus agiert und wird sich seiner selbst bewußt als homo necans.“1 Er hat damit zugleich einen weiten Vergleichshorizont eröffnet, über die antike Religionsgeschichte hinaus. So weist er darauf hin, dass es im alten Israel bis zur Zerstörung des Tempels nicht anders war und dass auch der Islam das Tieropfer nicht beseitigt habe;2 als Volksbrauch habe das Tieropfer „selbst der Christianisierung getrotzt“ und sei „erst der technischen Zivilisation erlegen“.3 Burkert verfolgt die Nachwirkung dieses Motivs aber nicht nur auf der Ebene der christlichen Volksreligiosität, sondern auch auf der Ebene der Dogmatik und Theologie: er verweist auf die „Redeweise vom ‚Lamm Gottes‘“, in der „das uralte Bild vom Opfertier bewahrt“ ist,4 und er stellt fest, dass „selbst die Grundlage des Christentums ein Mord ist, das unschuldige Sterben des Gottessohns, wie auch schon der Bundesschluß des Alten Testaments das fast vollzogene Opfer des Sohnes durch Abraham voraussetzt.“ So kommt er zu der provozierenden Feststellung: „Gerade in der Mitte der Religion droht faszinierend blutige Gewalt.“5 Burkert hat immer wieder auf den Titel eines Buches verwiesen, das gleichzeitig mit seinem „Homo Necans“ erschienen war: „The basic paradox that continues to draw attention is best described by the title of René Girard’s book Violence and the Sacred, which shows slaughter, blood, and killing as the central ritual of religion.“6 Einig mit Girard ist Burkert in der Fragestellung, die er besonders anschaulich formuliert hat in einer kurzen Reflexion über den berühmten Friedensaltar des Kaisers Augustus (Ara Pacis Augustae) in Rom, errichtet zur Feier des Weltfriedens: der Kaiser ist abgebildet in dem Opferzug, zu dem auch Beilträger und Opfertiere gehören. Daraus ergibt sich für Burkert die Frage, die auch Girard gestellt hätte: „Wieso eigentlich muß man Tiere schlachten, damit Friede sei?“7 Im theoretischen

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Burkert, Homo Necans, 9. Burkert, ebda, 9; 19. Burkert, ebda, 16. Burkert, Anthropologie des religiösen Opfers, 16. Burkert, Homo Necans, 8. Burkert, Ritual Killing, 162. Burkert, Anthropologie, 17.

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Religion und Kult

Ansatz stimmen Burkert und Girard nicht überein, und so kommen sie auch zu verschiedenen Deutungen des Opfermotivs im Christentum. Während Girard die Diskontinuität betont und einen tiefen Unterschied zwischen mythologischer und biblischer Religion zu erkennen glaubt, richtet Burkert den Blick auf die Kontinuität: „Later, Christianity transformed the world, only to bring sacrificial ideology to a climax in the theology of redemption.“8 Im Hinblick auf diese Debatte über die (Dis)Kontinuität zwischen paganer und christlicher Opfervorstellung erscheint es sinnvoll, die Institution des Tieropfers und seine Ablösung näher zu betrachten.

2.1 Das Tieropfer in der „gemeingriechischen Religion“ Das Tieropfer, mit dem anschließenden Gemeinschaftsmahl, ist, wie Martin P. Nilsson in seiner „Geschichte der Griechischen Religion“ feststellte, „… das weitaus häufigste aller Opfer und der wichtigste und am meisten charakteristische Ritus der gemeingriechischen Religion. Schon bei Homer wird es nach einem festen und komplizierten Ritual verrichtet“.9 Wenn die homerischen Epen damit als eine religionsgeschichtliche Quelle genannt werden, dann erscheint es naheliegend, zunächst einen Blick auf die Religion oder Theologie Homers zu werfen. Bekannt ist die anthropomorphe Darstellung der Götter in den Epen Homers, und dieser Anthropomorphismus hat zu verschiedenen Deutungen Anlass gegeben und sogar polemische Kontroversen hervorgerufen. Die homerischen Epen als religionsgeschichtliche Quelle – das „Paradox des homerischen Anthropomorphismus“10 Im ersten „Gesang“ der „Ilias“ berichtet der Dichter von dem Streit zwischen Agamemnon, dem obersten Heerführer der Griechen, und Achilles, dem größten Helden im Heer der Griechen. Der Streit führt dazu, dass Achilles eine Zeit lang dem Kampfgeschehen fernbleibt, was zur Folge hat, dass die Griechen an den Rand einer Niederlage kommen. Die Ursachen des Streites sind einerseits Neid und Eitelkeit der Menschen – wenn das Geschehen nicht als menschlicher Konflikt nachvollziehbar wäre, dann wäre das Epos kaum als Vorlage für den Hollywood-Film „Troja“ geeignet gewesen; die Ursachen des Streites liegen andererseits im göttlichen Willen begründet, wie der Dichter gleich zu Anfang erklärt: neben dem Zorn des Achilles, 8 Burkert, Ritual Killing, 163. 9 Nilsson, Geschichte, 142. Vgl. Vernant, Mythos und Religion, 63–65; Graf, Griechische Religion, 460–462. 10 Burkert, Homer’s Anthropomorphism, 81.

Das Tieropfer in der „gemeingriechischen Religion“

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der so viel Leid zur Folge hat, wird eben auch der Wille des Zeus genannt, der sich gerade in diesem Handeln der Menschen verwirklicht. Diese Doppelbödigkeit, die Verknüpfung intentionaler Handlungen auf der mensch­ lichen und auf der göttlichen Ebene, hat Anlass gegeben zu kontroversen Deutungen der „Religion“ Homers. Aus religionswissenschaftlicher Sicht ist hier eine Episode aus der älteren Forschungsgeschichte von besonderem Interesse: die Debatte zwischen Martin P. Nilsson und Walter F. Otto. Diese Debatte zeigt, wie stark das eigene Religionsverständnis des Forschers – und vielleicht auch die eigene religiöse Einstellung – die Deutung des Gegenstandes bestimmen kann.

Martin P. Nilsson hatte 1924 in einem Aufsatz über „Götter und Psychologie bei Homer“ die Ausdrücke „Götterapparat“ und „Göttermaschine“ verwendet und damit eine negative Wertung gerade jener Doppelbödigkeit angedeutet: Die negative Wertung kommt besonders deutlich zum Ausdruck in der Rede von der „Abnutzung“ oder dem „leeren Gerassel der Göttermaschine“.11 Am Beispiel des Streites zwischen Achilles und Agamemnon glaubte Nilsson zeigen zu können, dass „das Hineinziehen des Götterapparates“ ein abgenutztes Schema ist: als der Streit zu eskalieren droht und Achilles überlegt, ob er Agamemnon töten soll, erscheint die Göttin Athene – „nur ihm sichtbar“ – und bringt ihn dazu, auf Gewalt zu verzichten. Nilsson bemerkt dazu, die Entwicklung des Streites zwischen Achilles und Agamemnon sei „psychologisch so wohlberechnet und wohlbegründet wie nur möglich“, und deshalb sei „Das Erscheinen der Athena … vollkommen überflüssig.“12 Der Regisseur des modernen Troja-Films, in dem weitgehend auf den Götterapparat verzichtet wird, hätte sich also auf Nilsson berufen können. In seiner „Geschichte der griechischen Religion“ hat Nilsson seine Sicht der homerischen Religion kurz zusammengefasst und seine Kritik pointiert formuliert: „Der Götterapparat ist eine offenbare Verflachung der Religion, …“. Der homerische Anthropomorphismus – „die Götter handeln, wirken und gebärden sich wie Menschen“ – habe die erste Religionskritik hervorgerufen und den Weg bereitet für die Naturphilosophie, die griechische Wissenschaft. Aus der Sicht Nilssons sind die homerischen Epen also eher der Literaturgeschichte zuzuordnen: „Im ganzen ist der Götterapparat hauptsächlich ein Mittel der epischen Technik, ein dichterisches Schema, und deswegen weniger von Interesse für die Religion; …“.13 Nilssons Kritik der homerischen Religion richtete sich letztlich gegen die Amoralität der Götter und die mangelnde Gerechtigkeit des göttlichen Handelns. In dem „Fehlen eines rechten Verhältnisses zwischen den Göttern und der Gerechtigkeit“ sah Nilsson ein 11 Nilsson, Götter und Psychologie, 368; 390 u. ö. 12 Nilsson, ebda, 374. 13 Nilsson, Geschichte, 372f.

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„Hauptproblem in der Geschichte der griechischen Religion“ überhaupt, und er sah darin auch einen Grund für ihre Auflösung.14 Es scheint auf der Hand zu liegen, dass das Religionsverständnis Nilssons von einem christlichen Hintergrund geprägt ist, in dem das Motiv der göttlichen Gerechtigkeit zentral ist. Eine extrem entgegengesetzte Deutung – und Wertung – der homerischen Religion vertrat Walter F. Otto, der in den homerischen Epen eine „klare, in sich geschlossene Weltanschauung“ zu erkennen glaubte, die er unbedingt als „religiös“ bezeichnen wollte, „so weit sie sich auch von der Religion anderer Völker und Zeiten entfernen mag“.15 In geradezu hymnischer Rede sprach Otto von der griechischen Religion, wie er sie auch und gerade in den homerischen Epen zum Ausdruck gekommen sah: „das großartigste Beispiel einer gänzlich undogmatischen, keiner natürlichen Erfahrung widersprechenden und doch das ganze Dasein durchdringenden und umfassenden Religiosität.“16 Und diese Großartigkeit erkannte er gerade in jener Doppelbödigkeit, an der Nilsson Anstoß nahm: „Der Religions­historiker steht dieser Tatsache ziemlich ratlos gegenüber und verfällt immer wieder auf die Verlegenheitsauskunft, daß es sich schließlich doch nur um eine Eigenheit der poetischen Technik handeln möchte.“17 Aus der Sicht Ottos ist das Erscheinen der Göttin Athene während des Streites zwischen Achilles und Agamemnon keineswegs überflüssig: es bezeichnet „den Ausschlag auf der Waage der Empfindungen und Gedanken“.18 Diese positive Wertung der „undogmatischen“ griechischen Religiosität könnte schon darauf hindeuten, dass Otto dem Christentum gegenüber eine negative Einstellung hat – tatsächlich hatte er sich in einem frühen Werk explizit christentumskritisch geäußert, wie er ja auch später als Verehrer Nietzsches bekannt geworden ist, eines der schärfsten Kritiker des Christentums. Der „Triumph des Christentums“ ist, aus der Sicht Ottos, „das traurigste Ereignis in der europäischen Geistesgeschichte“.19 Die „Amoralität“ der homerischen Götter ist für Otto kein Stein des Anstoßes, sondern im Gegenteil gerade der Beweis für die Tiefe und Wahrheit der homerischen Religiosität. Im Hinblick auf die Episode von der Täuschung Hektors durch Athene bemerkt Otto: „Es ist kaum zu glauben, daß man den Mut aufbringt, die Gewaltigkeit dieses Geschehens mit dem Maßstab der Moralität zu messen; daß man über dem naiven Wunsch, das göttliche Walten möchte doch der Treue und Redlichkeit die Ehre gegeben haben, die Wahrheit dessen, was hier vor sich geht, und die Frömmigkeit seiner schlichten Anerkennung übersieht.“20 Nilsson hat, wie zu erwarten, kritisch zu Ottos Deutung Stellung genommen: Ottos Versuch, „die wohlbekannten Schwächen der homerischen Götter zu ver14 15 16 17 18 19 20

Nilsson, Die Griechengötter und die Gerechtigkeit, 193. Otto, Götter Griechenlands, 19. Otto, ebda, 167. Otto, altgriechische Gottesidee, 122. Otto, Götter Griechenlands, 180. Otto, Geist der Antike, 79. Zur „Theologie“ Walter F. Ottos vgl. Cancik, Dionysos 1933, 86f. Otto, altgriechische Gottesidee, 123f.

Das Tieropfer in der „gemeingriechischen Religion“

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schönern“, könne „trotz aller schönen Formulierungen nicht überzeugen“. „Was Walter F. Otto vorträgt“, stellt Nilsson abschließend fest, „ist eine theologisierende Verteidigung der vom Epos geformten Göttervorstellung, jedoch keine religionsgeschichtliche Forschung.“21 In den letzten Jahrzehnten ist die Forschung natürlich über diese Kontroverse hinausgegangen, und es ist immer wieder versucht worden, die Funktion der Götter in den homerischen Dichtungen frei von solchen ideologischen Vorgaben zu erfassen.22 Herausgehoben seien hier die Überlegungen von Walter Burkert, der das „Paradox des homerischen Anthropomorphismus“ aufgelöst hat, indem er auf die „narrative Funktion der Götterburlesque“ verweist: „In a situation of oral storytelling everything depends upon catching and holding the attention of the audience.“ Und: „What a chance to catch attention by the inverse, portraying glorious gods in banal family situations or even in a childlike position.“23 Burkerts Deutung des homerischen Anthropomorphismus als einer narrativen Strategie, die Aufmerksamkeit erregen und halten soll, würde sich gut in den theoretischen Rahmen der „cognitive science of religion“ einfügen. Dieser reli­ gionstheoretische Ansatz, der erst in den 90er Jahren aufkam, hat die Frage in den Mittelpunkt gestellt, welche Bedingungen religiöse Vorstellungen erfüllen müssen, um im Gedächtnis haften zu bleiben und überliefert zu werden. Die „Inversion“ göttlicher und menschlicher Eigenschaften, wie Burkert sie im homerischen Anthro­pomorphismus konstatiert, könnte eine neue Kategorie sein unter den „leicht kontraintuitiven“ Vorstellungen, die, der kognitiven Religionstheorie zufolge, dazu geeignet sind, Aufmerksamkeit zu erregen und im Gedächtnis gespeichert zu werden.24 Auch wenn Homers Darstellung der Götter extrem verschiedene Reaktionen hervorgerufen hat, Bewunderung und Ablehnung, so gilt doch auf jeden Fall, dass sie im Gedächtnis aufbewahrt worden ist und dass seine Epen eine geradezu kanonische Stellung erlangt haben. Wie auch immer die Religion Homers gedeutet wird, auf jeden Fall können die Epen als Quelle für die Rekonstruktion religiöser Handlungen ausgewertet werden. Gleich im ersten Buch der Ilias, in dem es um den Streit zwischen Achilles und Agamemnon geht, wird ein Tieropfer beschrieben, und die „Schilderungen, die Homer von Tieropfern gibt, werden an Ausführlichkeit und Anschaulichkeit durch nichts in der späteren griechischen Literatur übertroffen“.25

21 22 23 24 25

Nilsson, Geschichte, 373/374. Siehe z. B. Kullmann; Erbse; Schmitt. Burkert, Homer’s Anthropomorphism 82. Siehe Barrett, Cognitive Science of Religion, 770f. Himmelmann, Tieropfer, 15; eine ausführliche Beschreibung des Rituals findet sich bei Burkert, Griechische Religion, 101–103; Homo Necans, 10–14; Vernant, Mythos und Religion, 63–65, Himmelmann, Tieropfer, 10.

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Die Situation, in der es zu jenem Streit kommt, war bereits durch die Interaktion zwischen menschlicher und göttlicher Welt bestimmt, und das Tieropfer hat in dieser Interaktion zwischen den beiden Ebenen seinen Platz: Im Lager der Griechen war die Pest ausgebrochen, und dieses Unglück wird vom Dichter sogleich als göttliche Strafe gedeutet. Agamemnon habe den Priester Apollons dadurch beleidigt, dass er ihm die Herausgabe der geraubten Tochter verweigert habe. Daraufhin habe der Priester zu seinem Gott gebetet: Höre mich, Gott, … Hab ich dir je überdacht den prangenden Tempel, oder hab ich dir je von erlesenen Farren und Ziegen Fette Schenkel verbrannt, so gewähre mir dieses Verlangen: Räche mit Deinem Geschoß meine Tränen an Danaos Söhnen. (I, V. 40–42) Der Gott erhört dieses Gebet, und sein Eingreifen zeigt sich eben in der Seuche, die das Heer der Griechen dezimiert. Es ist Achilles, der daraufhin den Anstoß zu dem Versuch gibt, die Ursache dieses Unglücks in Erfahrung zu bringen: durch die Befragung eines Priesters, eines Sehers oder eines Traumdeuters. Ein Seher wird befragt und gibt eben jene Erklärung, dass die Ursache des Geschehens in der Beleidigung des Apollon-Priesters liege: Nicht versäumte Gelübde und Opfer kränken Apollon, Sondern er zürnt um den Priester, den ihm Agamemnon entehrte, Weil er die Tochter behielt … (I, V. 93f) Die Deutung des Geschehens, die der Seher gibt, führt zwar nicht dazu, dass der Streit zwischen Agamemnon und Achilles geschlichtet wird, doch wird ein Weg gezeigt, wie der Zorn Apollons besänftigt werden kann. Es reicht aber nicht, dass die Tochter zurückgegeben und damit die Entehrung des Priesters rückgängig gemacht wird. Zur Versöhnung mit dem Gott gehört offensichtlich auch ein Opfer, eine ganze „Sühnhekatombe“. Auf das Gebet des versöhnten Priesters, der nun den Gott bittet, die Griechen von der Seuche zu befreien, und der wieder von dem Gott erhört wird, folgt die Beschreibung des Opferrituals: Und nachdem sie gefleht und heilige Gerste geschüttet, beugten zuerst sie die Nacken und schlachteten, zogen das Fell ab, Schnitten die Lenden heraus, umhüllten sie dann mit des Fettes Doppelter Schicht und legten darauf noch die Glieder. Das verbrannte der Greis auf Scheitern und sprengte darüber Funkelnden Wein, und Jünglinge neben ihm hielten die Gabeln. Als sie die Lenden verbrannt und die Eingeweide gekostet,

Das Tieropfer in der „gemeingriechischen Religion“

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Schnitten sie auch das übrige klein und steckten’s an Spieße, Brieten es vorsichtig dann und zogen alles herunter. Aber nachdem sie das Werk vollbracht und das Mahl sich gerüstet, Schmausten sie, …“ (I, V. 451–467) Nilsson hat dieses Ritual, das „häufigste Opfer der gemeingriechischen Religion“, als „Speiseopfer“ bezeichnet, und ebenso hat Jean-Pierre Vernant festgestellt, dass es sich bei dem „zentralen Ritus der griechischen Religion“ normalerweise „um ein blutiges Opfer alimentären Typs“ handelt, in dem ein Haustier geschlachtet wird.26 Walter Burkert hat die Normalität und Funktionalität dieses Rituals besonders präg­nant formuliert: „Inbegriff der ‚Heiligen Handlung‘ …, ist im Griechischen ein schlichter, keineswegs wunderbarer Vorgang: das Schlachten und Verzehren eines Haustieres ‚für‘ einen Gott.“27 Burkert hat in seinem Buch „homo necans“ nicht nur einen Vergleichshorizont eröffnet und die Nachwirkung des Motivs verfolgt, sondern auch eine „genetische Erklärung“ entwickelt, die eine „Kontinuität vom Jägertum zum Opferritus“ postuliert.28 Er hatte sich dabei an Karl Meuli angeschlossen, der dem Verständnis der griechischen Opferbräuche „eine ganz neue Dimension“ erschlossen habe, indem er das Brauchtum von Jäger- und Hirtenvölkern Sibiriens sowie vorgeschichtliche Funde zum Vergleich und zur Erklärung herangezogen hatte.29

Einen Ansatzpunkt im Material der griechischen Religion bieten wieder die homerischen Epen durch ihre Beschreibung des Opfers: die Schenkelknochen werden auf den Altar gelegt, und es werden zusätzlich Fleischstücke darauf gelegt, die, Burkert zufolge, „die Ganzheit des getöteten Wesens andeuten“. 30 Burkert gewinnt diese Deutung aus dem Vergleich mit dem ‚Schädel- und Langknochenopfer‘ sibirischer Jägervölker, das „als Versuch einer Restitution, einer ‚Auferstehung‘ im handfesten Sinn“ zu verstehen sei: „Die Hoffnung auf Kontinuität der lebendigen Lebensnahrung, die Angst vor ihrem Erlöschen prägt das Handeln des Jägers, der nur vom Töten leben kann.“31 Das griechische Tieropfer, wie es bei Homer beschrieben wird, könnte auf diese Weise tatsächlich erklärt werden, insofern als die urprüngliche Intention erkennbar würde, die das Verbrennen der Knochen auf dem Altar sinnvoll erscheinen lässt. Es ist allerdings festzuhalten, dass diese Bedeutung des Ritus, wenn denn eine histo26 27 28 29 30 31

Vernant, Mythos und Religion, 63. Burkert, Griechische Religion, 101. Burkert, Homo Necans, 20; 24. Burkert, ebda, 20. Ausführlicher dazu Burkert, Opfer als Tötungsritual. Burkert, Homo Necans, 13; vgl. Burkert, Anthropologie, 23. Burkert, Homo Necans, 21; 24.

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rische Kontinuität besteht, verloren gegangen ist, jedenfalls nicht als eine explizite Deutung in der Antike nachweisbar. Die Tatsache, dass den Göttern eigentlich nur jene Teile ‚geopfert‘ werden, die für den menschlichen Verzehr ungeeignet sind, wie die Knochen und die Gallenblase, ist, wie Burkert selbst feststellt, schon in der Antike als anstößig empfunden worden und hat zu neuen Deutungen – und in der griechischen Komödie zum Spott – Anlass gegeben. Eine neue Deutung des Ritus, die den ursprünglichen Sinn – die Restitution des Lebewesens – gar nicht mehr kennt, wurde von Hesiod gegeben, dem anderen großen Dichter der archaischen Epoche. In der „Theogonie“ erzählt der Dichter die Geschichte vom Opferbetrug des Prometheus. Dieser habe das erste Tieropfer in zwei Teile aufgeteilt und Zeus aufgefordert, einen zu wählen – Zeus habe jenen Teil gewählt, der die unter dem Fett versteckten Knochen enthielt: Seit jenem Tag verbrennen Die Völker der Menschen auf der Erde Den Unsterblichen die weißen Knochen Auf duftenden Altären. (V. 556f). Hesiod hat in seiner Fassung des Mythos betont, dass Zeus den Betrug durchschaut hatte – eine ältere Fassung könnte erzählt haben, wie Burkert meint, „dass der Göttervater übertölpelt wurde“.32 Aber auch eine solche frühere Fassung würde nicht das Motiv der „Restitution“ enthalten, wie es im Ritual der Jägervölker gegeben sein soll. Ein anderer Vergleichshorizont würde sich eröffnen, wenn die Prometheus-Gestalt, dem Religionshistoriker Ugo Bianchi folgend, als ein „demiurgischer Trickster“ betrachtet würde, der den göttlichen Plan, die Welt einzurichten, gestört hat. Ein solches Motiv ist aus vielen Mythen außereuropäischer Kulturen bekannt.33 Das Ritual der Jägervölker enthält, Burkert zufolge, auch das Motiv der „Entschuldigung und Wiedergutmachung“, das sich aus dem Gefühl „der Verschuldung dem getöteten Tier gegenüber“ ergibt.34 Von da aus, meint Burkert im Anschluss an Meuli, fällt Licht auf ein merkwürdiges Ritual, das in Athen bis in die Kaiserzeit hinein gefeiert wurde: der „Ochsenmord“ (Bouphonia), eine „Farce“, die das Opfer in der Weise inszeniert, dass die Schuld an der Tötung schließlich dem Messer zugewiesen wird, nicht dem Menschen, der es geführt hat.35 Burkerts Deutung der griechischen Opferriten – seine Fokussierung der Betrachtung auf den Tötungsakt und die damit verbundenen Schuldgefühle – ist nicht auf ungeteilte Zustimmung gestoßen.36 Jean-Pierre Vernant weist darauf hin, dass die Opferung selbst „in einer festlichen und fröhlichen Atmosphäre“ stattfindet. Er 32 33 34 35 36

Burkert, Griechische Religion, 104. Siehe Bianchi, Prometheus. Burkert, Homo Necans, 24. Ausführliche Schilderung bei Burkert, ebda, 154–161; Henrichs, Blutvergießen, 83f. Zur Debatte um Burkerts Opfertheorie vgl. Henrichs, ebda, 61f; McClymond, Beyond Sacred Violence, 16f; Parker, Greek Religion, 128f.

Das Tieropfer in der „gemeingriechischen Religion“

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sieht die Intention der rituellen „Inszenierung“ des Tötungsaktes eben darin, „die Spuren der Gewalt und des Mords zu tilgen, um den Aspekt friedlicher Feierlichkeit und eines glücklichen Festes in den Vordergrund zu rücken“, und er fügt hinzu, dass die anschließenden rituellen Verrichtungen, vom Zerlegen des Opfers bis zum Festmahl, „nicht weniger wichtig sind als die rituellen Verrichtungen der Tötung“.37 Damit verschiebt er den Akzent vom Töten auf das Essen. Jan Bremmer hat eingewandt, dass es „bei den Griechen praktisch keine Zeugnisse für Angst und Schuld“ gebe; aus dem besonderen Opferritual der Bouphonia könne nicht auf eine „generelle Sicht des Tötens im griechischen Opfer“ verallgemeinert werden.38 Er ist aber bereit, zumindest die Existenz „gemischter Gefühle bei der Opfer-Tötung“ anzunehmen, da man sonst kaum erklären könne, „weshalb Orphiker, Pythagoräer und Empedokles den Tieropfern insgesamt eine Absage erteilten“.39 Dirk Obbink hat Burkerts Deutung am Beispiel der Opferkritik Theophrasts untersucht, und er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Quelle keine Bestätigung liefert für Burkerts Behauptung, es habe eine weit verbreitete „Aversion“ gegen die Tieropfer gegeben: Theophrast habe nur argumentiert, dass die Menschen eine solche Aversion gegen blutige Opfer fühlen sollten, und er habe vielleicht selbst eine solche Aversion gefühlt.40 Auf jeden Fall bleibt aber festzuhalten, dass es alternative Stimmen gab, die das blutige Opfer ablehnten, und allein diese Tatsache könnte Burkerts Opfertheorie bestätigen, wenn auch in etwas abgewandelter Form: auch wenn es nur eine Minderheit war, die das Tieropfer grundsätzlich ablehnte, so könnte dies auf die Existenz von Schuldgefühlen hinweisen, wie Burkert sie als gegeben annimmt. Dies würde aber nur für eine Minderheit gelten, und die rituelle Inszenierung der Tieropfer, insbesondere die Vorstellung, dass das Tier seine Zustimmung zur Opferung gibt,41 würde sich dann als ein Kompromiss darstellen, der so weit wie möglich auf die verschiedenen möglichen Gefühlsreaktionen Rücksicht nimmt und das Ritual damit mehrheitsfähig macht. So konnte z. B. auch Plutarch, der in seiner Jugend Vegetarier war und die Tiere in den Geltungsbereich der Ethik einbezog,42 als Priester in Delphi tätig sein und die Praxis der Tieropfer akzeptieren. Bildliche Darstellungen des Tieropfers zeigen den Tötungsakt äußerst selten, was darauf hindeutet, wie Folkert van Straten meint, dass dieser Moment des Rituals für die Masse der Teilnehmer gar nicht von Interesse war. Doch muss auch dieser Befund nicht unbedingt der Opfertheorie Burkerts widersprechen, wie van Straten

37 Vernant, Mythos und Religion, 68. 38 Bremmer, Götter, 48f. Auch Henrichs, Blutvergießen 84, bezweifelt die Möglichkeit einer solchen Verallgemeinerung. 39 Bremmer, ebda, 50. 40 Siehe Obbink, The Origin of Greek Sacrifice, 272; 285. 41 Vgl. Vernant, Mythos und Religion, 68. 42 Vgl. dazu Lorenz, Tiere, 373–375.

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selbst feststellt, denn es ist ja nicht ausgeschlossen, dass die ursprüngliche Bedeutung des Rituals zumindest für einige Griechen der klassischen Zeit noch aktuell war.43 Auf jeden Fall kann das Tieropfer-Ritual, in Anknüpfung an Vernant, als „religiös“ im Sinne der eingangs gegebenen Definition gedeutet werden, als ein Orientierungssystem: Das Opfer ist ein „Akt gesellschaftlicher Kommunion“, der „die Bande verstärkt, die die Bürger vereinen und einander gleichstellen sollen“, und es eröffnet zugleich einen „Weg der Kommunikation“ zwischen Menschen und Göttern,44 so dass die Teilnehmer des Rituals wie in einem Koordinatensystem ihren Platz zugewiesen erhalten – horizontal in der Gemeinschaft der Bürger und vertikal unterhalb der Götter, von denen sie durch die Endlichkeit ihres Daseins getrennt sind.

Es erscheint naheliegend, in diesem zentralen Ritual mit seiner zweifachen Orientierungsfunktion das „Wesen“ oder die „Sinnmitte“ der griechischen Religion zu sehen. Doch hat Vernant ja selbst auf die tiefen „Meinungsverschiedenheiten in der religiösen Ausrichtung“ hingewiesen: neben dem Tieropfer und dem öffent­ lichen Kult gebe es ja noch andere „Strömungen und Gruppen, die andere religiöse Bestrebungen an den Tag legen“.45 Er denkt dabei an die Mysterien von Eleusis, den Dionysoskult und die Orphik, drei Phänomene, die er unter dem Begriff des griechischen „Mystizismus“ zusammenfasst. Damit ist schon angedeutet, dass es in der griechischen Religion eben doch eine Pluralität von Orientierungssystemen gab, so dass die Entscheidung von Simon Price, im Plural von „den griechischen Religionen“ zu sprechen, durchaus sinnvoll erscheinen kann. Robert Parker will zwar nicht so weit gehen, den Plural zu verwenden, betont aber doch in pointierter Form die Pluralität, indem er in Anlehnung an einen berühmten Titel von William James eine Kapitelüberschrift formuliert: „The Varieties of Greek religious experience“.46 Burkert selbst hatte zumindest die rhetorische Frage gestellt, ob es nicht eher angemessen wäre, im Plural von den griechischen Religionen zu sprechen. Um die Pluralität in den Blick zu bringen, gäbe es also die Möglichkeit, jene anderen religiösen „Strömungen und Gruppen“ genauer zu betrachten, auch wenn es sich nur um marginale Phänomene handeln sollte. Eine weitere Möglichkeit würde darin bestehen, die Pluralität der Opferriten selbst darzustellen, also alle jene Opfertypen zu betrachten, die keinen Tötungsakt, kein Blutvergießen, enthalten. So hat z. B. Kathryn McClymond die Engführung der Opfertheorien kritisiert, die das Tieropfer und damit die Gewalt in den Mittelpunkt stellen.47 43 44 45 46 47

Siehe v. Straten, Images of Animal Sacrifice, 187f. Vernant, Mythos und Religion, 69f. Vgl. ders., At Man’s Table, 24f. Vernant, Mythos und Religion, 76; 81. Siehe Price, Religions of the ancient Greeks, 224f. Siehe McClymond, Beyond Sacred Violence, 13–17.

Ablehnung des Tieropfers in der Antike

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Gerade im Hinblick auf die aktuellen Debatten über „Religion und Gewalt“ erscheint es aber doch sinnvoll, jene Engführung beizubehalten und die Ablehnung des Tieropfers näher zu betrachten, zumal diese Form des Opfers aus soziologischer Sicht von besonderem Interesse zu sein scheint: der (blutige) Opferkult als „Aggressions-Regulans“, das „jene Stelle im sozialen Raum besetzt, an der sich Gewalttätigkeit und Rache gleichsam epidemisch ausbreiten würden“.48

Dass es schon in der Antike kritische Stimmen gab, die das blutige Opfer grundsätzlich ablehnten, hat Walter Burkert zwar immer wieder erwähnt, aber nur am Rande, weil es sich eben um Randphänomene zu handeln scheint – die Kritiker des Tieropfers konnten sich ja nicht durchsetzen.49 2.2 Ablehnung des Tieropfers in der Antike Ein Ansatz zu kritischer Reflexion über das Tieropfer ist eigentlich schon bei Hesiod gegeben, der eine ätiologische Erklärung gibt, in der er die ungleiche Verteilung der Gaben auf einen Betrug zurückführt. Doch zielt seine Erklärung nicht darauf, die Praxis des Opfers zu kritisieren, er will sie ja vielmehr begründen und als ewig gültig darstellen. Eine Kritik der Opferriten scheint es erst bei Heraklit zu geben, also in der ersten Phase der griechischen Philosophie, bei den sogenannten Vorsokratikern:50 Sie suchen Sühnung umsonst, indem sie mit Blut sich besudeln, wie wenn einer, der in Schmutz getreten, sich mit Schmutz abwüsche. Für verrückt muß der gelten, bemerkt man nur, daß er dies tut. Auch zu den Götterbildern dort beten sie, wie wenn einer mit Häusern schwatzte und wüßte nicht, was Götter und Heroen in Wahrheit sind. Diese Aussage scheint eine scharfe Kultkritik zu enthalten, die das blutige Opfer durch einen anschaulichen Vergleich ad absurdum führen will. So hat es auch Martin Nilsson aufgefasst: „Die Reinigung durch Blut vergleicht er mit dem Treten in Kot und die Gebete an die Götterbilder mit dem Sprechen an eine Wand.“51 In der neueren Forschung wird aber eher zur Vorsicht gemahnt: Peter Eich hat mit Recht auf das „Kontextvakuum“ hingewiesen, das es fast unmöglich mache, Text-­Fragmente dieser Art richtig einzuordnen.52 48 Vollmer, Das Heilige und das Opfer, 35. Vollmer orientiert sich in erster Linie an Girard, zitiert aber auch Burkert. 49 Siehe z. B. Burkert Anthropologie, 17; ders., Homo Necans, 15. 50 Heraklit, Fragment B 5. 51 Nilsson, Geschichte, 741. 52 Eich, Gottesbild und Wahrnehmung, 124.

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Religion und Kult

Die Ablehnung blutiger Opfer, in Verbindung mit Vegetarismus, wurde in der Antike dem Philosophen Pythagoras zugeschrieben. Zu der Seelenwanderungslehre, die Pythagoras ebenfalls zugeschrieben wurde, würde eine solche Einstellung gut passen. Allerdings ist die Überlieferung in diesem Punkt widersprüchlich.53 Diogenes Laertios, ein Autor der späteren Antike, überliefert in seiner Pythagoras-­ Biographie widersprüchliche Aussagen: einerseits berichtet er, nach der Entdeckung des berühmten mathematischen Lehrsatzes habe Pythagoras eine ganze Hekatombe geopfert;54 andererseits zitiert er einen Bericht von Aristoteles, dass Pythagoras nur am Altar des Lebensspenders Apollon in Delos, der hinter dem Hornaltar liegt, seine religiösen Referenzen erwies, weil dort nur Weizen, Gerste und Kuchen dargebracht und weder Feuer noch Opfertiere verwendet wurden, …55 Und etwas später findet sich die anscheinend ganz eindeutige Aussage:56 Er verbot, Opfertiere zu schlachten für die Götter, die nur am unblutigen Altar zu verehren seien. Da Pythagoras nicht nur als Philosoph bekannt ist, sondern auch als Gründer einer religiösen Gemeinschaft, ist seine Stimme nicht nur als die eines Einzelnen zu registrieren, sondern als repräsentativ für ein Orientierungssystem, in dem das Tieropfer keine Bedeutung hat. In der späteren Antike, im Neupythagoreismus, wird diese opferkritische Tradition wieder zur Geltung gebracht werden. Eine eindeutige Ablehnung des Tieropfers war bei Empedokles gegeben, ebenfalls ein Vertreter der Seelenwanderungslehre. Von ihm wird der Ausspruch überliefert: Nicht aber wurde der Altar vom reinen Blut ermordeter Stiere benetzt, sondern die größte Befleckung war dies unter den Menschen, den Lebensgeist herauszureißen und die edlen Glieder zu verzehren.57 Von diesen beiden Philosophen, Pythagoras und Empedokles, wird in der späteren Antike berichtet, sie hätten Fleischnahrung und Tieropfer abgelehnt, aufgrund der Theorie einer Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier: For there is one spirit which pervades all the universe like a soul, and which also makes us one with those animals. Hence, if we kill them and eat their flesh we shall be doing wrong and committing a sacrilege, because we are destroying our kin.58 53 54 55 56 57 58

Vgl. dazu Burkert, Weisheit und Wissenschaft, 167f. Diogenes Laertios, VIII, 12. Diogenes Laertios, VIII, 13. Diogenes Laertios, VIII, 22. Porphyrios, Enthaltsamkeit von fleischlicher Nahrung II,27. Übersetzung: Mansfeld Nr. 175. Sextus Empiricus, against the physicists I, 127–129.

Ablehnung des Tieropfers in der Antike

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Auch Theophrast, Schüler und Nachfolger des Aristoteles, hat eine Verwandtschaft aller Lebewesen angenommen und damit die Tiere in die ethische Argumentation einbezogen.59 Als eine „fromme Handlung“ dürften Opfer keinem Wesen Schaden zufügen:60 aber, wenn die Tiere geopfert werden, bringt dies ihnen doch einen Schaden, da sie das Leben verlieren. Daher darf man diese nicht opfern. Außerdem hat Theophrast historisch argumentiert und behauptet, die blutigen Opfer seien erst spät eingeführt worden.61 Die schärfste Kritik des Tieropfers findet sich bei Lukian, einem satirischen Schriftsteller des 2. Jahrhunderts n. Chr., der als ein Kritiker des Aberglaubens bekannt ist – Goethes berühmte Ballade vom Zauberlehrling geht auf Lukian zurück. Die Schrift „von den Opfern“ wird eröffnet mit der provozierenden Feststellung: Wer einen unbefangenen Blick auf das Benehmen des großen Haufens bey Opfern, öffentlichen Festen und feyerlichen Besuche der Tempel wirft, und auf das was die einfältigen Leute von den Göttern bitten, und auf die Begriffe, so sie sich von denselben machen, Acht giebt, müßte wahrlich außerordentlich niedergeschlagen und betrübtes Herzens seyn, wenn er sich des Lachens über ihre unbegreifliche Albernheit enthalten könnte.62 Lukian distanziert sich also gleich zu Beginn von dem zentralen Ritual der griechischen Religion, und kurz vor dem Ende kommt er auf das – Burkert zufolge – zentrale Element dieses Rituals zu sprechen, den Tötungsakt: Die kläglichen Laute, die das arme sterbende Tier von sich giebt, werden, wie natürlich, als Töne von guter Vorbedeutung ausgelegt, …63 Der Spott Lukians gilt auch besonders dem Handeln des Opferpriesters, dessen blutige Hände in eigentümlichem Kontrast stehen zu der Reinheit, die am Eingang des ‚heiligen‘ Bezirkes gefordert wird. Wenn Lukian im Anschluss noch auf die Menschenopfer der Skythen hinweist, dann will er damit den Opfergedanken im Ganzen, jedenfalls auf die blutigen Opfer bezogen, als sinnlos erweisen. Es scheint nahe zu liegen, Lukian als einen areligiösen Menschen zu betrachten, zumindest als einen Skeptiker, wenn nicht als einen Atheisten und Vorläufer der modernen Religionskritik. Es ist aber zu bedenken, dass er vielleicht nur die 59 60 61 62 63

Theophrast, Fragment 20. Theophrast, Fragment 7. Theophrast, Fragment 2. Vgl. dazu Meijer, Philosopher, 250–252. Lukian, Von den Opfern. Übersetzung: Christoph Martin Wieland Bd. 5, S. 209. Lukian, Von den Opfern, S. 221/222.

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Religiosität der „einfältigen Leute“ kritisiert und verachtet, insbesondere die Vorstellung, dass Töten und Blutvergießen eine gottgewollte Handlung sein könnte. Das würde ja nicht ausschließen, dass er einen anderen, von derartigen abergläubischen Vorstellungen gereinigten Gottesbegriff vertritt, so dass er doch als eine der „alternativen Stimmen“ zur Geschichte der griechischen Religion gehören würde.64 Auch eine radikale Kritik, die Religion als Aberglauben verwirft, kann ein eigenes Orientierungssystem bieten und damit wiederum zur Religion werden, wie es ja auch für den „Neuen Atheismus“ des 20./21. Jahrhunderts gilt. Im dritten Jahrhundert n. Ch. schrieb Philostrat, wie er behauptet auf Wunsch der Kaiserin Julia Domna, eine Biographie des Apollonius von Tyana, den er als einen Anhänger und Verkünder der pythagoreischen Philosophie darstellt. Immer wieder wird in dieser Biographie festgestellt, dass die pythagoreische Lebensweise eine vegetarische ist und blutige Opfer ausschließt. Diese opferkritische Einstellung wird exemplarisch dargestellt in einem Gespräch mit dem persischen König, der Apollonios einlädt, an einem (Pferde)Opfer teilzunehmen:65 Apollonios erwiderte jedoch: „Opfere du, mein König, nach deiner Art, mir aber gestatte, nach der meinigen die Opfer darzubringen.“ Hierauf nahm er eine Handvoll Weihrauch, … Darauf trat er zurück, um nicht am Blutopfer teilnehmen zu müssen. Die Ablehnung des Tieropfers ist zwar eindeutig, wird aber nicht mit einer polemischen Tendenz oder missionarischen Absicht vorgetragen. Sie ergibt sich als eine Konsequenz aus der vegetarischen Lebensweise, die auf Pythagoras zurückgeführt wird:66 Nach der Art des Pythagoras trage ich auch das Haar aufgelöst und wallend. Außerdem ist es ein Gebot jener Weisheit, sich jeglicher tierischen Nahrung zu enthalten. Im 3. Jahrhundert n. Chr. findet sich mit dem Werk des neuplatonischen Philosophen Porphyrios (233–305) eine weitere Position zur Ablehnung des Tieropfers. Wie Theophrast nimmt Porphyrios an, dass die Tiere, aufgrund der Verwandtschaft aller Lebewesen, in den Geltungsbereich der Ethik einzubeziehen sind.67 Deshalb propagiert er auch eine vegetarische Lebensweise.68 Im 4. Jahrhundert, nach der „Konstantinischen Wende“, gab es noch einmal einen Versuch, das antike Heidentum wiederzubeleben und damit

64 65 66 67 68

Vgl. dazu Berner, Religion explained?, 135. Philostrat, Apollonios von Tyana, I, 31f. Philostrat, Apollonios von Tyana, I, 32. Porphyrios, Über die Enthaltsamkeit von fleischlicher Nahrung III,1. Vgl. dazu Tanaseanu-Döbler, Rituale und Ritualkritik bei Porphyrios,113–116.

(Opfer)Kult und Kultkritik im Alten Israel

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auch die blutigen Opfer als sinnvoll und notwendig zu begründen.69 Der Versuch des Kaisers Julian Apostata, die Praxis des Tieropfers wieder einzuführen, stieß aber nicht einmal bei seinen Anhängern auf ungeteilte Zustimmung.70

2.3 (Opfer)Kult und Kultkritik im Alten Israel Tieropfer haben auch im Judentum eine große Rolle gespielt: bis zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n. Chr. wurden solche Opfer täglich dar­gebracht, wie es in Ex 29,38–42 und Num 28,3–38 vorgesehen war – in verschiedener Form, als Brand- oder Schlachtopfer.71 Folker Siegert hat treffend festgestellt: „Heute hat man Mühe, sich vorzustellen, daß auch im Judentum Opferhandlungen einmal Höhepunkt aller Festlichkeit waren: da wo Blut floß und Rauch aufstieg, war Gott am nächsten.“72 Im Hinblick auf diese Kontinuität der Opferpraxis, die mit der griechisch-­ römischen durchaus vergleichbar ist, wäre es interessant, diejenigen Stellen im Alten Testament zu betrachten, die einer kultkritischen Haltung Ausdruck zu geben scheinen. Da diese Stellen immer wieder Gegenstand exegetischer und theologischer Überlegungen gewesen sind, soll hier nur ein Überblick über die Forschungsgeschichte gegeben werden. Aus der Sicht der Religionswissenschaft wäre dann auch die Frage von Interesse, ob das theologische Urteil über die Notwendigkeit des Kultes – die eigene Einstellung des Exegeten zum Kult – jeweils mit dem Ergebnis der Exegese übereinstimmt. Kultkritische Aussagen finden sich in weisheitlichen und in prophetischen Texten sowie in einigen Psalmen. Ein besonders prägnantes Beispiel weisheitlicher Kultkritik ist Spr. 21,3: Gerechtigkeit tun und Recht ist Jahwe lieber als Schlachtopfer.73 Auf den ersten Blick scheint es so, als ob hier eine Antithese formuliert wird: Ethos gegen Kult. Allerdings muss die Frage gestellt werden, was die komparativische Formulierung, das „lieber als“ (hebr.: min) bedeutet: ist es so zu verstehen, dass dem Schlachtopfer „ein gewisser Wert“ bleibt, „ist es also Jahwe „lieb“ …, nur eben in geringerem Maße als Gerechtigkeit und Recht?“ oder ist es so zu verstehen, „daß 69 Siehe Sallustius, XVI. 70 Vgl. dazu Bradbury, Julian’s Pagan Revival and the Decline of Blood Sacrifice; Wedemeyer, Religionspolitik des Kaisers Julian, 142f. 71 Vgl. dazu Willi-Plein, Opfer und Kult; dies., Opfer und Ritus, 151f; Kaiser, Kult und Kultkritik, 410. 72 Siegert, Die Synagoge, 340. 73 Übersetzung nach Ernst, Weisheitliche Kultkritik, 34.

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Religion und Kult

Jahwe Gerechtigkeit lieb ist „und nicht“ Schlachtopfer?“74 Die letztere Deutung würde, Alexander Ernst zufolge, jedenfalls für einen Spruch der prophetischen Kultkritik, Hosea 6,6, zutreffen: An Güte/Treue habe ich Gefallen – und nicht … am Schlachtopfer, an Gotteserkenntnis – statt … an Brandopfern. Da die hebräische Grammatik beide Möglichkeiten der Deutung erlauben würde, muss die Struktur und Intention vergleichbarer komparativischer Formulierungen im Sprüchebuch untersucht werden. In seiner exegetischen Untersuchung kommt Ernst zu dem Ergebnis, dass solche Sentenzen „sehr oft einen durchaus „absoluten Anspruch“ erheben“, und so kann er feststellen: „Das Interesse der Weisen gilt allein dem Ethos.“75 Er will zwar nicht so weit gehen, zu behaupten, dass „die Weisen“ den Kult prinzipiell ablehnen; er spricht aber doch von einer „kritischen Beurteilung des Kults“, die sich „aus der Einsicht der Weisen“ ergibt, „daß sich Jahwefurcht im Verhalten den Mitmenschen gegenüber vollzieht, Jahwe-ehren nicht durch Schlachtopfer, sondern durch Barmherzigkeit“.76 So würde sich auch im Blick auf das Alte Testament das Bild einer Pluralität von Orientierungssystemen ergeben, wenn es zutrifft, dass die priesterliche Theologie die „Gegenüberstellung von Ethos und Kult“, wie sie in der weisheitlichen Theologie vertreten wird, nicht kennt. Otto Kaiser zitiert ebenfalls Spr 21,3 und „eine ganze Reihe von weisheitlichen Wahrsprüchen, die dem gemeinschaftsgerechten Verhalten den Vorzug vor dem Opfer geben“; er stützt sich in seiner Deutung aber mehr auf ein anderes Werk der weisheitlichen Literatur, Ben Sira 32,1–13: Wer das Gesetz beachtet, vermehrt die Opfer, Heilsopfer schlachtet, wer die Gebote hält. … Dieser Spruch, so scheint es wieder auf den ersten Blick, enthält eine radikale Kultkritik, die das (Tier)Opfer dadurch entwertet, dass es das „gemeinschaftsgerechte Verhalten“ als Opfer beschreibt. Aus den Sprüchen, die im Kontext folgen, geht, Kaiser zufolge, aber hervor, dass es sich nicht um eine prinzipielle Ablehnung des Opferkultes handelt: Die Gabe des Gerechten macht den Altar fett, und sein Wohlgeruch kommt vor den Höchsten. Das Opfer des Gerechten ist willkommen, und sein Gedächtnis wird nicht vergessen. … 74 Ernst, Weisheitliche Kultkritik, 36. 75 Ernst, ebda, 36; 38. 76 Ernst, ebda, 39f.

(Opfer)Kult und Kultkritik im Alten Israel

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So kommt Otto Kaiser zu einem anderen Ergebnis als Alexander Ernst: die weisheitliche Kultkritik richte sich nur „gegen die religiöse Heuchelei und gegen den Aberglauben, der Sünder könne sich ohne Umkehr von seiner Schuld loskaufen“.77 Von Opfer- und Kultkritik könnte demnach nur in einem eingeschränkten Sinne gesprochen werden: es ginge ja nur um die Erkenntnis, dass der Vollzug des Opfers nicht von dem Ethos des Opfernden getrennt werden kann, also nicht als solches ohne die richtige Einstellung, die „Umkehr“, wirkt. Diese Deutung vertritt Kaiser auch in Bezug auf die prophetische Kultkritik, die ihrerseits die weisheitliche Kritik voraussetzt.78 In der älteren Forschung war die Radikalität der prophetischen Kultkritik stark betont worden. So sprach z. B. Paul Volz immer wieder von dem „Angriff der Propheten“, der sich „nicht bloß gegen kultische Irrwege der damaligen Zeit“ richte, „sondern gegen die Kultreligion selbst“.79 Im Israel des 8. und 7. Jahrhunderts v. Chr. standen, Volz zufolge, „Prophet und Priester in unversöhnlichem innerstem Gegensatz einander gegenüber“. Zumindest im Hinblick auf diese Zeit, also vor dem Exil, würde demnach gelten, dass es eine Pluralität von Orientierungssystemen gab, die in Konkurrenz zueinander stehen – von Volz beschrieben als Konflikt zwischen Propheten und Priestern, „Prophetenreligion“ und „Priesterreligion“, ein Konflikt, der sich, Volz zufolge, im „Angriff Jesu gegen die frömmste Führerschicht seiner Zeit, den Pharisäismus“, wiederholt.80 Volz war aber nicht daran interessiert, eine Pluralität von Orientierungssystemen im Alten Testament aufzuzeigen und nebeneinander stehen zu lassen. Er stellt sich der Tatsache, dass in der Bibel beides nebeneinandersteht: „die prophetische Botschaft, die das Opfer im Namen Gottes radikal ablehnt, und die priesterlich=prophetische Darstellung, die dem Opfer das Siegel des göttlichen Willens gibt“; und er löst die Spannung auf, indem er eine historische Perspektive einführt und die Synthese von Propheten- und Priesterreligion als eine Errungenschaft der nachexilischen Zeit erklärt. Es gibt, Volz zufolge, also eine „geläuterte Tempelreligion“, in der das „im menschlichen Gemüt liegende Bedürfnis nach Kultus zu seinem gewissen Recht kommen und befriedigt werden“ kann, nachdem „die Gefahr der Kultreligion grundsätzlich und rückhaltlos aufgedeckt worden war“.81 Wenn er im folgenden nicht nur auf Paulus verweist, sondern auch auf Luther – „Großkampftage, in denen die menschliche Werkerei abgetan und die Priestermacht umge­ stoßen wurde“ – dann ist der Kontext protestantischer Theologie, die seine Interpretation bestimmt, unschwer zu erkennen.82 Eines der wichtigsten Beispiele prophetischer Kultkritik, das in allen exegetischen Arbeiten zum Thema diskutiert wird, findet sich in Amos 5,21–27: 77 78 79 80 81 82

Kaiser, Kult und Kultkritik, 416. Vgl. dazu Ernst, Weisheitliche Kultkritik, 202f. Volz, radikale Ablehnung der Kultreligion, 64; 70. Volz, ebda, 70. Volz, ebda, 81. Volz, ebda, 82.

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21. Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. 22. Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich keinen Gefallen daran und mag auch eure fetten Dank­opfer nicht ansehen. 23. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder: denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! 24. Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach. 25. Habt ihr vom Hause Israel mir in der Wüste die vierzig Jahre lang Schlachtopfer und Speisopfer geopfert? …83 Der Vers 25 war Volz besonders wichtig erschienen: er sah darin eine Aussage über die Mosezeit als eine Zeit der Kultlosigkeit, und diese „geschichtliche Begründung des Angriffs“ war aus seiner Sicht ein weiterer „Beweis dafür, dass der Angriff der gesamten Kultreligion galt“. Die parallele Formulierung bei Jeremia 7,22f ist für Volz ein weiterer Beleg für seine Deutung der prophetischen Botschaft als grundsätzliche Ablehnung des Kultes.84 Die Auffassung, dass die Propheten „gegen den offiziellen israelitischen Kultus überhaupt“ polemisieren, war mit besonderer Klarheit von Reinhard Hentschke vertreten und exegetisch begründet worden.85 Die neuere Forschung ist, Otto Kaiser zufolge, zu einer anderen Auffassung gekommen.86 Auch Rainer Albertz hatte schon festgestellt, es sei „der heute breite Konsens“, die „prophetische Polemik“ richte „sich nicht gegen die Opfer und nicht gegen die kultische Gottesverehrung als solche“.87 In einer kurzen exegetischen Untersuchung zitiert Kaiser ebenfalls Amos 5, geht allerdings vor allem auf die Verse 21–24 ein, weniger auf den Vers 25, den er für einen deuteronomistischen Zusatz hält, so dass die Theorie einer kultlosen Phase weniger Gewicht erhält.88 Er erwähnt auch nicht die parallele Aussage in Jeremia 7,22f, die für Volz so wichtig war. In seiner Deutung der prophetischen Kultkritik stützt Kaiser sich stärker auf Jesaja 1,10–17, insbesondere auf Vers 13b, in dem das Wort Jahwes besagt: „ich ertrage nicht Frevel und Feier“. Darin sieht Kaiser die Auffassung ausgesprochen, dass die Opfer (nur) dann ihren Zweck verfehlen, wenn der sittliche Gehorsam fehlt.89 In einer ausführlichen exegetischen Untersuchung war Alexander Ernst zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen: wie in der Spruchweisheit sei auch bei Amos das Ethos das Kriterium für die Beurteilung des Kultes. Daneben benennt er aber ein zweites Kriterium der prophetischen Absage an den Kult: Jahwes „Ankündigung des Endes „für mein Volk Israel“ (8,2), die das „Ende“ seiner Zuwendung im Gottesdienst impliziert.“90 83 84 85 86 87 88 89 90

Übersetzung: Das Alte Testament hebräisch-deutsch. Volz, Ablehnung der Kultreligion, 69. Vgl. dagegen Hertzberg, prophetische Kritik, 223. Hentschke, Die Stellung der vorexilischen Schriftpropheten, 109. Siehe Kaiser, Kult und Kultkritik, 416f. Zur älteren Forschungsgeschichte vgl. Hentschke, Schriftpropheten, 1f. Albertz, Religionsgeschichte Israels, 268. Kaiser, Kult und Kultkritik, 425. Kaiser, ebda, 421; 426. Ernst, Weisheitliche Kultkritik, 126.

(Opfer)Kult und Kultkritik im Alten Israel

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Die These der älteren Forschung, dass die prophetische Kritik den Opferkult als Ganzes verwarf, ist vielleicht doch nicht einfach als überholt und veraltet zu betrachten. Die „historische“ Aussage in Jeremia 7,22, die Volz als einen Beweis für seine Deutung zitiert hatte, ist auch in der neueren Forschung wieder zum Gegenstand der Betrachtung geworden.

Armin Lange erkennt darin ebenfalls die Auffassung, dass der Opferkult „dem am Horeb gegebenen und sich im Dekalog manifestierenden Gebot“ widerspricht.91 Die „Tempelrede Jeremias“ verschärft, Lange zufolge, die Kultkritik: es gehe nicht mehr um die „ethische Priorität“, sondern es gelte „Gebotsobservanz statt Opferkult und Tempelideologie“.92 Lange macht auch einen plausiblen Vorschlag zur historischen Kontextualisierung: die „Tempelrede“ richte sich gegen die „hochgespannten Heilserwartungen“, die sich mit dem Wiederaufbau des Tempels verbinden, eben gegen eine „Tempelideologie“.93 Nach einem kritischen Überblick über die Forschungsgeschichte kommt Thomas Krüger zu dem Ergebnis, dass es „eine Strömung kultkritischen Denkens innerhalb der prophetischen Tradition des Alten Testaments“ gab, von den Anfängen bei Hosea und Amos bis zu Tritojesaja (Jes 66), die im Widerspruch steht zu „anderen prophetischen Haltungen zum Kult, wie sie etwa in Ez 40ff, Hag oder Mal dokumentiert sind“.94 Ebenso wie schon Paul Volz verweist auch Thomas Krüger auf Amos 5,25 und sieht darin die Auffassung ausgesprochen, dass „zumindest der Opferkult (Schlachtopfer und Gaben) für Jahwe wie für Israel verzichtbar ist“.95 Folker Siegert hat sogar eine Parallele zur Opferkritik griechischer Philosophen gesehen: er zitiert Psalm 51,17–19, und glaubt feststellen zu können, dass ein Pythagoreer „sich von Herzen gefreut“ hätte, „so etwas zu hören“.96 Demnach würde es doch eine Pluralität von Orientierungssystemen gegeben haben, vergleichbar der Situation in Griechenland, auch wenn die Argumente der Kult- und Opferkritik ganz verschieden sind. Eine weitere Pluralität zeigt sich auch im Vergleich mit der Kultkritik in den Psalmen, auf die Hans Jochen Boecker hingewiesen hat. Er erkennt in den Psalmen eine „Spiritualisierung des Kultus“, die sich z. B. in Psalm 69,31f findet: Rühmen will ich den Namen Gottes im Lied, erheben will ich ihn im Danklied. Das wird Jahwe lieber sein als ein Rind, als ein Stier mit Hörnern und gespaltenen Klauen. 91 92 93 94 95

Lange, Gebotsobservanz statt Opferkult, 28. Lange, ebda, 30. Lange, ebda, 31. Krüger, Erwägungen zur prophetischen Kultkritik, 49f. Krüger, ebda, 47. Vgl. schon Hentschke, Schriftpropheten, 114: es werde hier (Jeremia 7,21–28) „mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit gesagt, daß Jahwe kein Opfer verlangt“. 96 Siegert, Die Synagoge, 339.

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Religion und Kult

Im Hinblick darauf, dass die Propheten auch die Kultmusik ablehnen, sieht er in den Psalmen den „Ausdruck eines anderen theologischen Bewußtseins“: die Opferkritik in den Psalmen sei „das Ergebnis einer theologischen Reflexion über das Wesen des Kultes“, die Kultkritik der vorexilischen Propheten entspringe dagegen der „Botschaft des kommenden Gerichts“.97 Ebenso wie im Blick auf Griechenland könnte also auch im Blick auf Israel der Begriff des Opfers weiter gefasst werden, so dass sich auch im Bereich des Kultes eine Pluralität der Kommunikationsmittel zwischen menschlicher und göttlicher Sphäre zeigen würde – verschiedene Formen der Interaktion, von denen das blutige Opfer nur eines wäre.

Es liegt nahe, einen Vergleich zur iranischen Religionsgeschichte zu ziehen: auch hier galt es in der älteren Forschung als sicher, dass der Prophet Zarathustra die blutigen (Tier)Opfer grundsätzlich verworfen hatte.98 Die Tieropfer im Zoroastrismus wären dann später, gegen die ursprüngliche Intention des Propheten, wiedereingeführt worden. In der neueren Forschung ist dem widersprochen worden – die Kritik des Propheten habe sich nicht grundsätzlich gegen den Opferkult gerichtet.99 Immerhin kann festgestellt werden, dass die Tieropfer in einer Tradition des modernen Zoroastrismus, bei den Parsi in Indien, abgeschafft worden sind, was ja auf eine kritische Debatte innerhalb der Gemeinde schließen lässt.100 Besonders reiches Material für eine Rekonstruktion kritischer Diskurse über das Tieropfer gibt es in der indischen Religionsgeschichte. 2.4 Ablösung des Tieropfers in Judentum und Christentum Es ist eine bekannte Tatsache, dass die jüdische Opferpraxis mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels – durch Titus im Jahre 70 n. Chr. – zu einem Ende kam. Dieses Ereignis hat, dem Jerusalemer Religionshistoriker Guy Stroumsa zufolge, „mehr als jedes andere“, jene „Transformation der Religion in Gang“ gesetzt, „der wir unter anderem die europäische Kultur zu verdanken haben“. Stroumsa betont dabei die Unfreiwilligkeit dieser Entwicklung im Judentum: „Die Juden sollten Titus, dessen Andenken sie verabscheuen, zweifellos dankbar sein, weil er ein zweites Mal ihren Tempel zerstörte und sie offensichtlich gegen ihren Willen zwang, sich noch vor jeder anderen Gesellschaft vom Opfer und seiner rituellen Gewalt zu befreien …“101 97 Boecker, Überlegungen zur Kultpolemik, 178f. 98 Siehe z. B. Widengren, Religionen Irans, 109. 99 Zur Forschungsgeschichte siehe de Jong, Animal Sacrifice, 128–131. 100 Vgl. dazu de Jong, ebda, 128, der diese Entwicklung als eine Anpassung an die religiöse Umwelt Indiens erklärt. 101 Stroumsa, Ende des Opferkults, 94.

Ablösung des Tieropfers in Judentum und Christentum

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Ein Jahrhundert zuvor hatte der Kirchenhistoriker Adolf von Harnack bereits die gleiche positive Bewertung angedeutet, wenn er bemerkte, den Juden habe „ein günstiges Geschick durch die Zerstörung des Tempels den Opferdienst entzogen“.102 Harnack war aber der Meinung, dass der Opferkultus im Judentum schon längst einer „inneren Neutralisierung“ verfallen gewesen sei, so dass die Zerstörung des Jerusalemer Tempels „in Wahrheit nichts“ zerstört habe.103 In der neueren Forschung ist noch stärker betont worden, dass die Entwicklung zu einem unblutigen Kult schon viel früher eingesetzt hatte: während der babylonischen Gefangenschaft und in der jüdischen Diaspora. So gab es den Tempelkult in Jerusalem und den Synagogen-Gottesdienst nebeneinander, und der „Gegensatz“ zwischen diesen beiden „Arten von Gottesdienst“ ist, wie Folker Siegert mit Recht feststellt, „religions­ geschichtlich von hoher Bedeutung“.104 Demnach wäre das Judentum schon vor der Zerstörung des Tempels durch die Einführung des Synagogen-Gottesdienstes, der keine blutigen Opfer enthält, „unversehens an die vorderste Spitze der Entwicklung der antiken Religionen“ geraten.105 Dieser Bewertung würde auch Harnack zugestimmt haben, denn er sah die entscheidende Schwäche des („höheren“) Heidentums darin, dass es „zwar vieles transformiert, moralisiert und spiritualisiert, aber vor dem Opfer Halt gemacht hat, während sich doch das äußerliche, und namentlich das blutige, Opferwesen vor dem neugewonnenen moralisch-religiösen Bewußtsein nur noch durch Sophismen zu halten vermochte“.106 Burkhard Gladigow hat gegen Harnack eingewandt, dass die Opfer als das zentrale Ritual der antiken Religionen gar nicht hätten abgeschafft werden können.107 Doch hat Harnack vielleicht gerade die entscheidende Schwäche des antiken Heidentums erkannt: die Zentrierung auf ein Ritual, das vor der intellektuellen Elite nicht mehr plausibel begründet werden konnte. Es gibt ein zweites Ereignis, das für die Deutung der religiösen Transformation im Judentum aufschlussreich sein müsste: der – missglückte – Versuch des Kaisers Julian Apostata, im 4. Jahrhundert, den Jerusalemer Tempel wieder aufbauen zu lassen. Die Frage ist, wie die Juden reagierten, und hier hat es in der Forschung verschiedene Antworten gegeben. Die Quellenlage ist einseitig: christliche Zeitgenossen berichten, dass es auf der Seite der Juden Zustimmung gegeben habe; in der rabbinischen jüdischen Literatur gibt es, Stefan Schreiner zufolge, aber keinen Hinweis auf das Tempelbau-Projekt, geschweige denn Belege für eine positive Reaktion. Schreiner schließt daraus, dass der Tempel zu jener Zeit „nicht nur obsolet, sondern geradezu überflüssig geworden“ war, „zumindest für jene jüdischen Kreise, denen wir das Korpus der rabbinischen Literatur verdanken. Sie hatten für den Tempel längst 102 Harnack, Mission und Ausbreitung, 944. 103 Harnack, ebda, 15. 104 Siegert, Die Synagoge, 342. 105 Siegert, ebda, 343. 106 Harnack, Mission, 944 (Hervorhebung im Original). 107 Gladigow, Opferkritik, 280f.

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einen Ersatz, …“.108 Stroumsa hat demgegenüber daran festgehalten, dass die Juden auf das Angebot Julians eingehen wollten, und er nimmt dies als einen Beleg dafür, dass die „Befreiung vom Opfer und seiner rituellen Gewalt“, eben doch durch die Zerstörung des Tempels erzwungen und damit gegen den Willen der Juden geschehen sei.109 Der Widerspruch würde sich auflösen, wenn nicht von „dem“ Judentum gesprochen wird, sondern gleich angenommen wird, dass es im Judentum eine Pluralität von Meinungen und Einstellungen gab – neben den rabbinischen Kreisen, die kein Interesse am Wiederaufbau des Tempels haben konnten, eben auch andere, von deren Reaktion die zeitgenössischen christlichen Schriftsteller berichten. So würde sich die einseitige Quellenlage erklären. Auf jeden Fall gilt, dass es im Judentum einen Ersatz für den (Tier)Opferkult im Tempel gegeben hat: Stroumsa spricht im Hinblick auf diese Entwicklung von den „drei Säulen“, „auf denen nach dem Fall des Tempels die Religion neu errichtet wurde“: Gebet, Fasten und Almosen.110

Schreiner zitiert etliche rabbinische Antworten auf die Frage, wie „in der tempel­losen Zeit Sühne erwirkt werden könne“, und es zeigt sich, dass es verschiedene Antworten gegeben hat: es ist das Studium der Opfergesetze selbst, das als ein gleichwertiger Ersatz betrachtet wird, wie auch das Gebet und das Fasten; im Rückgriff auf Hosea 6,6 können aber auch „Taten der Nächstenliebe“ als ein gleichwertiges Mittel zur Sühne genannt werden.111 Allgemein gilt, Schreiner zufolge, dass die prophetische Kult- und Opferkritik „zur Rechtfertigung dieser prinzipiellen Verzicht- und Ersetzbarkeit des Tempelgottesdienstes dienen“ konnte.112 Im Werk Philos von Alexandrien, eines Zeitgenossen des Apostels Paulus, finden sich Auslegungen der Opfergesetze, die den Eindruck vermitteln, dass es ihm eigentlich nur darum ging, den tieferen Sinn dieser Gesetze zu ermitteln, auch wenn die Notwendigkeit des Vollzugs der Opfer, von denen die blutigen Opfer auch nur einen Teil darstellen, (noch) nicht in Frage gestellt wird.113 Wenn ihm die theo­ logische Auslegung der Opfergesetze aber wichtiger war als die praktische Ausführung, dann würde zumindest für ihn das dictum Harnacks gelten können, dass die Tempelzerstörung „in Wahrheit nichts zerstört“ habe, oder, um eine treffende For-

108 Schreiner, Wo man Tora lernt, 374. 109 Stroumsa, Ende des Opferkults, 94. 110 Stroumsa, Ende des Opferkults, 100. Hoheisel (Opfer und Gebet im Judentum, 77) bringt ein Beispiel aus der rabbinischen Literatur, für das Fasten als Äquivalent des Darbringens von Fett und Blut beim Tieropfer. 111 Schreiner, Wo man Tora lernt, 381; 384. 112 Schreiner, ebda, 387. 113 Siehe z. B. Philo, special laws I, 166–197.

Ablösung des Tieropfers in Judentum und Christentum

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mulierung von Horst Seebass zu zitieren: dass es „genug Substanz“ gab, „die nicht betroffen wurde“, als der Opferkult im Jahre 70 n. Chr. eingestellt werden musste.114 Im Werk Philos findet sich auch eine Deutung des Opfers Isaaks (Genesis 22), die im frühen Christentum eine Nachwirkung gehabt haben könnte. Philos Traktat über Isaak sowie seine Auslegung von Genesis 22 sind allerdings verloren. Doch gibt es in den erhaltenen Werken einige Andeutungen, die von großem Interesse sind, insofern als sie Themen der Christologie vorwegzunehmen scheinen. Stroumsa hat die Aufmerksamkeit auf diese wenig bekannten esoterischen Lehren Philos gelenkt und daraus geschlossen, dass es im Judentum des ersten Jahrhunderts oder zumindest in einigen Richtungen des hellenistischen Judentums die Vorstellung gab, dass Isaak Gottes Sohn war und geboren von einer Jungfrau.115 Das würde, Stroumsa zufolge, auch die Entstehung der doketischen Christologie erklären, also jener als häretisch verurteilten Konzeption, die davon ausging, dass das Opfer Jesu – wie das Opfer Isaaks – letztlich abgewendet worden sei. Die Annahme einer solchen Verbindung bleibt zwar hypothetisch, ist aber von Interesse für die Frage nach den „jüdischen Ursprüngen“ des Christentums, wie Stroumsa mit Recht feststellt.116 Die opferkritischen Aussagen im Alten Testament konnten nicht nur in rabbinischen Kreisen des Judentums, sondern auch von Theologen des frühen Christentums dazu verwendet werden, die Ablösung der Tieropfer zu begründen. So wird schon im Neuen Testament vereinzelt an die prophetische Kultkritik angeknüpft, wie z. B. in Mt 9,13 an Hosea 6,6 – „ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer“ –, oder in Hebr 10,5–7 an Ps 40,7–9: „Opfer und Gaben hast du nicht gewollt, …“.

Der Hebräerbrief enthält zugleich eine besonders pointierte Form der Opfer-­ Metaphorik, in zweifacher Anwendung: Zum Einen wird der Begriff des Opfers auf das Leben der Christen übertragen, wie in Hebr 13,15f; zum Andern wird der Tod Jesu in der Begrifflichkeit des Opfers gedeutet, als das einmalige Opfer, das die Erlösung von den Sünden bewirkt – eben nicht durch das Blut der Tiere, die immer wieder geopfert werden, sondern durch das Blut Jesu (Hebr. 9,12–14; 10,11f).117 Ein weiterer Bereich für die Anwendung der Opfer-Metaphorik ist der christliche Kult, das Abendmahl. In einer der frühen Kirchenordnungen, der „Zwölf-ApostelLehre“, wohl um 100 n. Chr. entstanden, ist es noch nicht eindeutig zu erkennen, ob es sich um eine Eucharistiefeier im engeren Sinne handelt, wenn gesagt wird:

114 Seebass, Opfer, 264. 115 Stroumsa, Christ’s laughter, 286. 116 Stroumsa, ebda, 288. 117 Vgl. dazu Brandt, die „das Opfer Jesu Christi“ nach Hebr 10,4–10 auf „Jesu Existenz im Leibe“ bezieht, „nicht in erster Linie“ auf den Tod am Kreuz (War Jesu Tod ein Opfer?, 72).

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Religion und Kult

Wenn ihr am Herrentag zusammenkommt, brecht das Brot und sagt Dank, nachdem ihr zuvor eure Übertretungen bekannt habt, damit euer Opfer rein sei. (14,1) Eindeutige Aussagen und eine konsistente Weiterentwicklung der Opfer-Metaphorik finden sich dann im zweiten Jahrhundert bei Justin, dem „Philosophen und Märtyrer“. In seinem „Dialog mit dem Juden Tryphon“ knüpft er an die prophetische Kultkritik an und zitiert u. a. Amos und Jeremia, um seine Behauptung zu begründen, dass Gott die Opfergesetze nur wegen der Sünden des Volkes und wegen seines Götzendienstes angeordnet habe, und dass auch der Jerusalemer Tempel nur dem Zweck gedient habe, das Volk vom Götzendienst abzuhalten.118 In dem Gesetz über das Passah-Lamm, das ganz gebraten werden muss und deshalb kreuzförmig aufgespießt wird, sieht Justin einen Hinweis auf das „Kreuzesleiden, dem sich Christus unterziehen wollte“, und in dem Gesetz über die beiden Böcke, von denen der eine als Sündenbock und der andere als Opfer diente, sieht er einen Hinweis auf „das zweimalige Erscheinen Christi“.119 Und auch der christliche Kult wird jetzt zu einem Anwendungsbereich der Opfer-Metaphorik:120 Das Opfer des Weizenmehles, welches nach der Überlieferung für die vom Aussatz Gereinigten dargebracht wurde, war ein Vorbild des Brotes der Eucharistie (Danksagung), deren Feier Jesus Christus, unser Herr, angeordnet hat zur Erinnerung an das Leiden, das er erduldete für die, welche sich von jeder Sünde gereinigt haben. Das Werk Justins, der sich von der Philosophie zum Christentum bekehrt hatte, scheint also das dictum Burkerts nur allzu gut zu bestätigen: dass die Opferideo­ logie im Christentum ihren Höhepunkt erreicht habe. Doch ist zunächst einmal zu fragen, ob es auch alternative Positionen im frühen Christentum gegeben hat – Versionen des Christentums, in denen das Opfer-Motiv fehlt oder zumindest nicht im Mittelpunkt steht. Eine solche Alternative zeigt sich im „Octavius“ von Minucius Felix, einem christlichen Autor, der ebenfalls einen Dialog geschrieben hat, um für seine neue Religion zu werben. Auch dieser Autor verwendet die Opfer-­Metaphorik, beschränkt sie aber auf den ethischen Bereich:121 Kleine und große Tiere, die er mir zu meinem Nutzen erschaffen hat, sollte ich Gott als Opfer darbringen …? … Ein gutes Herz aber, ein reiner Sinn, unbefleckte Gedanken: das sind die Opfergaben, die Gott wohlgefallen. Darum: … wer Gerechtigkeit übt, der opfert ihm; … wer einen Menschen aus Gefahr errettet, der bringt Gott das schönste Opfer dar. So sind unsere Opfer beschaffen, … 118 Justin, Dialog, XXII. 119 Justin, Dialog, XL, 3/4. 120 Justin, Dialog, XLI, 1. 121 Minucius Felix, Octavius, 32, 2.3. (Übersetzung: Kytzler).

Ablösung des Tieropfers in Judentum und Christentum

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Nicht einmal dann, wenn der Autor auf das Kreuz zu sprechen kommt, geht er auf die Opfer-Thematik ein, und ebenso vermeidet er die Opfer-Metaphorik, wenn er auf die christlichen Märtyrer hinweist.122 Dieser erstaunliche Befund wird verständlich im Kontext des Werkes: das Christentum wird im Hinblick auf die Praxis dargestellt als eine Lebensform (genus vivendi), „die in ihrer Vorzüglichkeit andere in den Schatten stellt“,123 im Hinblick auf die Theorie als ein Monotheismus, den es mit den besten Philosophen gemeinsam hat:124 Ja, man könnte meinen, die Christen wären die Philosophen von heute – oder die Philosophen wären schon damals Christen gewesen! Im Unterschied zu Justin, dem bekannten „Philosophen und Märtyrer“, hat Minucius Felix keinen Platz im christlichen Heiligenkalender gefunden. Auch wenn sein Werk vom „mainstream“ der frühen christlichen Theologie abweicht – und vielleicht auch nur durch einen Zufall erhalten geblieben ist –, muss es als eine Alternative zur Kenntnis genommen werden: als eine Version des Christentums, die nicht auf die Opfer-­ Thematik zentriert ist.

Die ganze Breite der Opfer-Thematik findet sich im Werk Augustins, an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert im lateinischen Westen des Römischen Reiches. Wie Justin greift er die kultkritischen Aussagen aus dem Alten Testament auf, aus den Propheten und den Psalmen, aber auch Aussagen aus dem Neuen Testament, aus dem Hebräerbrief. Im Hinblick auf Ps 50,18f bemerkt er:125 Beachten wir, wie er dort, wo er sagt, Gott wolle kein Opfer, doch zugibt, daß Gott sehr wohl ein Opfer will. Nur will Gott nicht das Opfer eines hingeschlachteten Tieres, sondern er will das Opfer des zerknirschten Herzens. Augustin bleibt aber nicht dabei stehen, die „wahren Opfer“ als „Werke der Barmherzigkeit“ im ethischen Sinne zu definieren. Denn diese Werke erreichen, Augustin zufolge, ihr Ziel nur dann, wenn sie auf Gott bezogen sind, und diese Beziehung setzt einen Mittler voraus:126 Darum wollte der wahre Mittler, der als Mensch Christus Jesus Knechtsgestalt annahm und Mittler zwischen Gott und den Menschen geworden ist, obwohl 122 Minucius Felix, Octavius, 29, 6.7; 37,1. 123 Minucius Felix, Octavius, 31, 7. 124 Minucius Felix, Octavius, 20, 1. Vgl. dazu den Kommentar von Schubert, 388, der in dieser Sentenz aber keine „Reduktion der Lehre auf den Monotheismus“ sehen möchte. 125 Augustin, Der Gottesstaat, X, 5. 126 Augustin, Der Gottesstaat, X, 20.

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er in Gottesgestalt das Opfer mit dem Vater annimmt, mit dem er auch der eine Gott ist, trotzdem lieber in Knechtsgestalt Opfer sein als es annehmen, damit niemand Anlaß nehme, irgend einem Geschöpf zu opfern. Augustin ist sicherlich der einflussreichste Theologe der Alten Kirche geworden, und so ergibt sich verstärkt der Eindruck, dass die Opfer-Thematik im Zentrum „des“ Christentums steht, wie es der Religionshistoriker Guy Stroumsa pointiert formuliert hat: „In a way, early Christianity, a religion centred upon a sacrificial ritual celebrated by priests, represents a more obvious continuity with the religion of Israel than that of the Rabbis.“127 Doch ist wieder die Frage zu stellen, ob es auch zur Zeit Augustins alternative Stimmen gegeben hat, die in ihrer Darstellung des Christentums nicht vom Opfer sprechen. Eine solche Alternative bietet Synesios von Kyrene, ein Zeitgenosse Augustins, der sein Leben im griechischen Osten des Römischen Reiches verbracht hat. Er hatte bei Hypatia studiert, der letzten heidnischen Philosophin in Alexandrien, und auch nach seiner Wahl zum Bischof hat er den Kontakt zu ihr nicht abgebrochen. Seine Dichtungen, eine Reihe von Hymnen, enthalten zwar einige christliche Motive, sind aber in ihrer religiösen Thematik so allgemein gehalten, dass seine „Bekehrung“ zum Christentum kontrovers diskutiert werden konnte. Der achte Hymnus ist dem „Sohn der Jungfrau Jerusalems“ gewidmet und beschreibt in mythischen Bildern den Abstieg zur Erde, den Gang in die Unterwelt und den Wiederaufstieg. Zu diesem Weg, den der „Sohn“ zurückgelegt hat, gehört ja auch der Tod am Kreuz, doch wird dieser nicht in der Opfer-Begrifflichkeit beschrieben, ja eigentlich gar nicht erwähnt:128 Du stiegst auch hinab zur Erde, weiltest unter den Eintagswesen in sterblichem Leib; Du stiegst hinab in den Tartarus, wo der Seelen unzählige Scharen der Tod beherrschte; da erschauderte vor dir der Alte, Hades, der Urzeit entstammend, und der Hund, der die Völker frißt, riesenstarke Dämon, wich von der Schwelle. Du erlöstest von Leiden Der Seelen heilige Scharen Und mit keuschem Reigen Läßt du die Söhne zum Vater emporsteigen.

127 Stroumsa, End of Sacrifice Revisited, 112. 128 Synesios, Hymnen, VIII, 13–27.

Exkurs: Ablösung des Tieropfers in Hinduismus und Buddhismus

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Das Heilsgeschehen, von dem er als Bischof ja predigen muss, wird in diesem Hymnus nicht mit der Opfer-Metaphorik beschrieben. Die Beschreibung erinnert eher an den Mythos von der Hadesfahrt des Herakles.129 Wenn es zutrifft, dass der Opfer-Gedanke in der Theologie des Synesios überhaupt keinen Platz gehabt hat130, dann könnte die Folgerung naheliegend erscheinen, dass Synesios eben kein „richtiger“ Christ gewesen sei – doch wäre dies eine normative, theologische Aussage. Aus religionswissenschaftlicher Sicht ist nur festzustellen, dass es offenbar zur gleichen Zeit, an der Wende zum 5. Jahrhundert, ganz verschiedene Auslegungen der christlichen Tradition – oder verschiedene „Christentümer“ – gegeben hat. Für Synesios, der ja immerhin das Amt eines Bischofs bekleidete, würde jedenfalls nicht gelten, dass eine Opferideologie im Zentrum des Christentums steht. Exkurs: Ablösung des Tieropfers in Hinduismus und Buddhismus Das moderne Bild des Hinduismus ist sicherlich stark durch die Gestalt Gandhis geprägt, der sich für das Prinzip der Gewaltlosigkeit eingesetzt und einen vegetarischen Lebenswandel propagiert hat. Weit verbreitet ist auch die Annahme, dass die beiden anderen Religionen, die in Indien entstanden sind, Buddhismus und Jainismus, von Anfang an den Vegetarismus als Lebensform gefordert haben. Aus den Quellen geht aber hervor, dass weder der Buddha noch der Jina Vegetarier waren.131 Allerdings haben beide die blutigen (Tier)Opfer abgelehnt, die es in ihrer religiösen Umwelt gab – in der vedischen Religion, aus der sich der Hinduismus entwickelte. Die Existenz „häretischer“ Gemeinschaften, die das Tieropfer und die Autorität der „heiligen Schriften“ ablehnten, war eine Herausforderung für die „orthodoxen“ Anhänger der vedischen Religion, und so kam es auch in diesen Kreisen zu einem kritischen Diskurs über das Opfer und das Prinzip der Gewaltlosigkeit. Im Manusmrti (Gesetzbuch des Manu), dem „berühmtesten und autoritativsten der sogenannten indischen Rechtsbücher“, finden sich Spuren eines solchen Diskurses, allerdings als ein Neben- und Nacheinander widersprüchlicher Stellungnahmen.132 So wird einerseits behauptet, der Tötungsakt im Opfer sei eigentlich kein solcher und er diene den geopferten Wesen eigentlich nur zum Besten, da diese eine höhere Wiedergeburt erlangen:133

129 Vgl. dazu Tanaseanu-Döbler: „Synesios versteht die Gestalt Christi durch die Analogie zu Herakles.“ (Konversion zur Philosophie in der Spätantike, 248) 130 Ilinca Tanaseanu-Döbler hat den Verfasser darauf hingewiesen, dass Synesios „das christliche Sprachspiel kennt und bei Bedarf durchaus gekonnt einsetzt (ep. 41)“; sie ist aber auch der Meinung, „dass die Interpretation der Kreuzigung als Opfer für ihn theologisch irrelevant ist.“ (Korrespondenz im November 2018). 131 Vgl. dazu Alsdorf, Vegetarismus, 561–570. 132 Siehe Alsdorf, ebda, 561; 572f. Als Entstehungszeit gibt Alsdorf die Zeit von 200 v. Chr. bis einige Jahrhunderte n. Chr. an. 133 Manusmrti, 5, 39f.

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Der Selbstgeborene hat selbst das Vieh für das Opfer geschaffen, und das Opfer ist für das Wohl dieser ganzen Welt; daher ist im Opfer die Tötung keine Tötung. Kräuter, Vieh, Bäume, wilde Tiere und Vögel, die für ein Opfer getötet werden, erlangen zum Ausgleich höhere Geburten. Das Tieropfer wird damit verteidigt als zur Schöpfungsordnung gehörend, und in einem der folgenden Verse wird es zusätzlich durch den Hinweis begründet, die Tötung sei durch die heiligen Schriften, die Veden, legitimiert und vorgeschrieben, und deshalb sei sie als eine „Nichtverletzung“ zu betrachten.134 Andererseits wird im gleichen Kapitel der Vegetarismus propagiert, abgeleitet aus dem Prinzip der Gewaltlosigkeit:135 Fleisch ist niemals ohne Tötung von Lebewesen zu bekommen, und die Tötung von Lebewesen führt nicht zum Himmel; deshalb soll man Fleisch vermeiden. … Wer (Töten) erlaubt, schlachtet, tötet, (Fleisch) kauft oder verkauft, es kocht, darreicht oder ißt, der ist ein Mörder. Der Widerspruch, der sich auf den ersten Blick darstellt, könnte in einer „theologischen“ Exegese sicherlich aufgehoben werden, indem nur das Töten im Opferritual als legitim und gefordert betrachtet wird, das Töten außerhalb dieses Rituals dagegen als illegitim und verboten. Tatsächlich haben indische „Apologeten des Veda“, wie z. B. Kumarila und Shankara, in der Auseinandersetzung mit Buddhisten und Jainas eine solche Differenzierung als Argument verwendet.136 Spuren dieser Auseinandersetzung finden sich auch in einigen philosophischen Abschnitten des Mahabharata, und das Tieropfer ist immer noch, Alsdorf zufolge, der „kritische Kernpunkt des Ahimsa-­ Problems und der eigentliche Stein des Anstoßes“.137 Im zwölften Buch werden diskursartig, in etlichen Dialogen, die verschiedenen möglichen Standpunkte entfaltet. Einerseits wird der Opferkult, einschließlich des Tötungsaktes, verteidigt – allerdings unter der Voraussetzung, dass er mit der richtigen Einstellung ausgeübt wird:138 Nichts tötet oder vergewaltigt oder überlistet der, welcher mit dem Gedanken: Das Opfer muß dargebracht werden, ohne Verlangen nach Lohn opfert. … Darum, o Brahmane, soll man ohne Bedenken opfern und opfern lassen; wer nach der den Himmel betreffenden Vorschrift opfert, dem wird nach dem Tode als großer Lohn der Himmel zuteil. 134 Manusmrti, 5, 44. 135 Manusmrti, 5, 48–51. 136 Vgl. dazu Halbfass, Vedic Apologetics, 89–93; vgl. Houben, To kill or not to kill, 115, zu einem ähnlichen Befund in Chandogya-Upanisad 8.15. 137 Alsdorf, Vegetarismus, 590. 138 Mahabharata XII, 269, 31; 39 (Deussen S. 452).

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Andererseits wird der Opferkult verworfen und durch ein spirituelles Opfer ersetzt: Die Götter haben ihre Freude nur an einem Opfer, welches in rechter Weise dargebracht wird, nämlich mit Verehrung als Opferspeise und mit Vedastudium als Kräutersäften. Denn man soll die Götter so verehren, wie es der Schrift­ kanon vorschreibt.139 Speziell im Hinblick auf den Kult des Gottes Vishnu wird eine andere Differenzierung vorgenommen, indem nur das Tieropfer aus dem Kult ausgeschlossen wird:140 und dessen Opfer geschieht nach der Überlieferung nur mit Milchspenden und Blumen, und wenn etwa noch opferwürdige Bäume dafür im Veda vorgesehen sind, … Eine Pluralität von Orientierungssystemen zeigt sich also nicht nur im Gegensatz zwischen Hinduismus einerseits und Buddhismus/Jainismus andererseits, sondern auch innerhalb des Hinduismus selbst: ebenso wie die Buddhisten und die Jainas haben ja auch die Vishnuiten, die eine Richtung des Hinduismus vertreten, das Tieropfer abgelehnt. Und wie Heinrich von Stietencron feststellt, könnte man „die Liste der Unterschiede im Opferritual der einzelnen Hindu-Religionen noch beträchtlich erweitern und im Detail verfeinern“.141

Im Hinblick auf die Theorie Walter Burkerts sind jene Texte von besonderem Interesse, die das Töten als ein Nicht-Töten deuten, wie z. B. in einem Brahmana-Text:142 Not to death, in truth, do they lead (the animal) which they lead to the sacrifice. Es erinnert geradezu an Burkerts Ausführungen über die „Unschuldskomödie“, wenn Hanns-Peter Schmidt im Hinblick auf das Opferritual der vedischen Religion feststellt: „the whole ritual is pervaded by acts meant for immediately eliminating any killing and injury – the acts of appeasing (santi)“.143 Schmidt spricht sogar von einer „Ritual-Theorie der Gewaltlosigkeit“ (a ritual ahimsa-theory) und kommt damit Burkerts Deutung des griechischen Opferrituals nahe.144 J.C. Heesterman kommt dieser Deutung noch näher, wenn er in Anknüpfung an Schmidt bemerkt: „… not only Vedic sacrifice, but sacrifice in general the world over, evinces a deep-seated awe and fear before the wilful death and destruction that nonetheless are required 139 Mahabharata XII, 264,8 (Deussen S. 429). 140 Mahabharata XII, 266, 11 (Deussen S. 437) 141 Stietencron, Der Hinduismus, 111f. 142 Übersetzung: Schmidt, Origin of Ahimsa, 646. Vgl. Houben, To kill or not to kill, 118. 143 Schmidt, The Origin of Ahimsa, 646. 144 Schmidt, ebda, 649.

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by sacrifice“.145 In Indien, so meint Heesterman, ist dieses Phänomen aber besonders stark ausgeprägt. In einer späteren Arbeit spricht er sogar von einem „obsessive concern with the killing“ im vedischen Ritual: nicht nur, dass der Tod des Opfers geleugnet werde – eine Idee, die es auch in anderen Religionen gebe: „but Vedic ritual is permeated with the urge to undo all possible injury“.146 Diese „Ritual-Theorie der Gewaltlosigkeit“, die sich in den Quellen zur indischen Religionsgeschichte findet, lässt Burkerts Deutung des griechischen Opferrituals sinnvoll und gut begründbar erscheinen. Theo Sundermeier hat dieser Deutung widersprochen mit dem Hinweis auf Tieropfer in archaischen Gesellschaften, wie z. B. in Afrika: „The slaughtering of an animal does not make the participants shudder, but it produces joy, as now they will have meat.“147 Die rituellen Vorkehrungen, den Gewaltaspekt im Opferritual zu verschleiern, sowie die explizite Opferund Kultkritik, wie sie sich in der griechischen und indischen Religionsgeschichte finden, weisen aber darauf hin, dass das Ritual des Tieropfers zumindest von einer Minderheit der Teilnehmer doch als problematisch betrachtet wurde. Sonst wäre ja auch die Ablehnung des Tieropfers im Buddhismus nicht verständlich. Im frühen Buddhismus wird der brahmanische Opferkult heftig kritisiert, zum Teil mit einer ironischen Schärfe, die geradezu an die Opferkritik des Skeptikers Lukian erinnert:148 Wenn einer rein wird, der beim Opfer tötet, Und tote Tiere in den Himmel steigen, Müßt’ doch ein Priester andre Priester opfern Und Menschen, denen dieser Glaube eigen. Statt dessen bitten niemals doch die Tiere Den Priester sie zum Himmel zu befördern, Im Gegenteil, sie zittern um ihr Leben, Und schaudern vor den priesterlichen Mördern, Selbst wenn auch jene an dem Opferpfosten Mit einem schönen Wort zu ihnen sagen: „Der Pfosten wird erfüllen deine Wünsche Und dich empor ins bess’re Jenseits tragen.“ Es ist aber nicht so, dass im Buddhismus das ganze Opferritual einfach abgelehnt worden wäre. Vielmehr haben sich schon im frühen Buddhismus, wie er im Pali-Kanon repräsentiert ist, verschiedene Strategien zur Umdeutung des Opfers entwickelt. Oliver 145 Heesterman, Non-Violence and Sacrifice, 122. 146 Heesterman, Broken World of Sacrifice, 34. Hier findet sich auch eine Bezugnahme auf Burkert. Zur „Ambivalenz“ in der Einstellung zum blutigen Opfer und ritueller Gewalt vgl. auch Houben, To kill or not to kill, 115–124; dort allerdings keine Bezugnahme auf Burkert. 147 Sundermeier, Sacrifice, 6. 148 Jataka 543. Übersetzung: Glasenapp, Pfad zur Erleuchtung, 116f.

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Freiberger hat drei Arten buddhistischer „Reinterpretation“ des Opfers unterschieden, die wiederum auf eine Pluralität von Interessengruppen in der frühen buddhistischen Gemeinde schließen lassen könnten:149

1. Reinterpretation durch Substitution einzelner Elemente, also etwa Ersetzung des Tieropfers durch unblutige Opfer, entsprechend dem Prinzip der Gewaltlosigkeit, aber im konventionellen Rahmen des Opferkultes; 2. Reinterpretation durch Ethisierung, also etwa Definition des idealen Opfers als Gabe – von Almosen an Asketen; 3. Reinterpretation durch Spiritualisierung, indem nicht nur Gaben an Asketen und den buddhistischen Orden zum „Opfer“ erklärt werden, sondern auch die Entscheidung zur Weltentsagung und zur Nachfolge des Buddha auf dem Weg zur Erlösung überhaupt. Es liegt auf der Hand, dass diese Strategien zur Umdeutung des Opfers ihre Parallelen in Judentum oder Christentum haben. Auf die Ansatzpunkte zum religionsgeschichtlichen Vergleich hat Freiberger bereits selbst hingewiesen.150 Am Beispiel des Askese-Diskurses im frühen Christentum und Buddhismus hat er einen solchen Vergleich auch selbst durchgeführt.151 2.5 Zusammenfassung und Ausblick Wenn von der Ablösung des Tieropfers in den beiden großen religiösen Traditionen, der europäischen und der indischen Religionsgeschichte, die Rede ist, dann ist noch zu bedenken, dass dieser Prozess vielleicht nur auf der „höheren“ Ebene der Theologie stattgefunden hat: sowohl für Christentum und Judentum als auch für den Buddhismus gilt, dass es Hinweise auf eine Kontinuität in der Volksreligion gibt. Ekaterina Kovaltschuk hat Belege zusammengestellt, die den Eindruck vermitteln können, das Tieropfer sei bis ins Mittelalter hinein „im christlichen Kontext eine geläufige Erscheinung“ gewesen.152 Curtis Hutt ist der Meinung, auch im Judentum sei das Tieropfer nach der Zerstörung des Tempels nicht ganz aus der religiösen Praxis verschwunden.153 Und auch im Buddhismus, wo es am wenigsten wahrscheinlich erscheinen könnte, zeigt sich in begrenztem lokalen Kontext die Duldung von Tieropfern.154 In der afrokubanischen Santeria, um ein Beispiel aus der Gegenwart zu nennen, spielen Tieropfer ohnehin eine zentrale Rolle; es ergeben sich dann Konflikte, wenn diese Religion in der Fremde praktiziert werden soll, wie

149 Freiberger, The ideal sacrifice, 47. 150 Freiberger, ebda, 48. 151 Siehe Freiberger, Der Askesediskurs in der Religionsgeschichte. 152 Vgl. auch Georgourdi, Sanctified Slaughter; Stroumsa, End of Sacrifice Revisited, 197. 153 Vortrag auf dem Kongress der IAHR in Erfurt, August 2015. 154 Siehe Feddema, Lesser Violence, 133.

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z. B. in Deutschand, wo „der Tierschutz rechtlich aufgewertet und in das Grund­ gesetz aufgenommen worden ist“.155 Auf der „höheren“, theologischen und philosophischen Ebene, ist der kritische Opferdiskurs gerade in den letzten beiden Jahrzehnten auf großes Interesse gestoßen. Es ist insbesondere die „Vorstellung vom so genannten stellvertretenden Opfer Christi“, die „heutigen Menschen Schwierigkeiten“ macht, wie der evangelische Theologe Werner Ritter feststellt, in der Einleitung zum Sammelband „Erlösung ohne Opfer?“.156 Reinhard Feldmeier und Wolfgang Schoberth, ebenfalls evangelische Theologen, haben in ihren Beiträgen übereinstimmend darauf hingewiesen, dass es im Neuen Testament durchaus eine Vielfalt von Antworten auf die Frage nach der Bedeutung des Kreuzestodes Jesu gibt: diese Antworten seien nicht einfach „auf einen Nenner“ zu bringen,157 und „die Deutung des Todes Jesu als Opfer“ könne „nicht notwendigerweise als die privilegierte oder gar die einzig legitime gelten“.158 Beide halten aber daran fest, dass diese Deutung des Todes Jesu nicht einfach eliminiert werden kann und deshalb in sorgfältiger Reflexion ausgelegt werden muss. In seinem eigenen Beitrag erörtert Werner Ritter zunächst die Frage, ob der Opfermythos „in unserer postmodernen Gesellschaft überholt“ sei, kommt aber schließlich auch zu dem Ergebnis, dass die Opferthematik unverzichtbar sei, und er „reformuliert die Bedeutung des Opfertodes Christi als befreiende Lebenshingabe für Andere“.159 Zu einer anderen Konsequenz kommt Klaus-Peter Jörns, ebenfalls ein evangelischer Theologe: aus seiner Sicht, die durch die Arbeiten Walter Burkerts beeinflusst ist, erscheint ihm die Rede vom Opfertod Jesu unhaltbar, und so fordert er den „Abschied vom Verständnis der Hinrichtung Jesu als Sühnopfer und von dessen sakramentaler Nutzung in einer Opfermahlfeier“.160 In der „assoziativen Verbindung der Hinrichtung Jesu mit einem Opfer“ ist, Jörns zufolge, „ganz und gar nichts spezifisch Christliches zu finden“.161 Das „Nebeneinander von Todesdeutungen und Mahlfeiern“ im frühesten Christentum hat, Jörns zufolge, damit zu tun, „dass es rivalisierende Vorstellungen gab“: „Sie haben um die Vorherrschaft in der Frage gerungen, ob Todesdeutung und Mahlverständnis mit dem Sühnopfergedanken verbunden sein sollten oder nicht.“162 Jörns sieht Jesus ganz in der Tradition der prophetischen und weisheitlichen Kultkritik, und so kommt er zu der kritischen These, dass Jesus mit diesem Kampf „ausgerechnet an der christlichen Kirche gescheitert“ sei.163 155 Rossbach de Olmos, Tieropfer, 123; M.A. de la Torre, Santeria 124f, gibt eine Liste der Orishas und der von ihnen bevorzugten Opfertiere; dort auch der Hinweis auf die Legende von der Ersetzung des Menschenopfers durch Tieropfer (126f). 156 Ritter, Erlösung ohne Opfer?, 9. 157 Feldmeier, Gottes Torheit?, 20. 158 Schoberth, Der Kreuzestod Jesu ein Opfer?, 94. 159 Ritter, Erlösung ohne Opfer?, 13. 160 Jörns, Notwendige Abschiede, 286. 161 Jörns, ebda, 293. 162 Jörns, ebda, 307. 163 Jörns, ebda, 314.

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Eine Kontroverse über die Rede vom Opfertod Christi ist z. B. auch in einem Sammelband der Züricher Theologischen Fakultät dokumentiert: Regula Strobel hatte über „die unheilsamen Folgen“ der christlichen Opfertheologie gesprochen und ein „grundsätzlich anderes Reden vom Kreuz und von Erlösung“ gefordert: „Solange das Kreuz als Ort des Heilshandelns Gottes bezeichnet wird, beschönigen und idealisieren wir die Gewalttaten der Herrschenden unweigerlich.“164 Ingolf U. Dalferth hat ihr scharf widersprochen und betont, dass es Gott „nicht am Opfer vorbei“ gibt: „Nicht weil er auf Opfer angewiesen wäre, wie fortwirkendes Unwissen meint, sondern weil wir nicht ohne Opfer sein können, wie die Realitäten unseres Lebens belegen.“165 Dalferth hält die Rede vom Opfertod Jesu also für notwendig, bezieht den Begriff aber auf die Bedingungen menschlichen Lebens überhaupt, um das (Miss)Verständnis auszuschließen, Gott habe für sich Opfer gefordert. In der katholischen Theologie gibt es einen vergleichbaren Opferdiskurs, erscheint doch auch die Rede vom Messopfer vielen Menschen der Gegenwart als problematisch. Der Jesuit Robert Daly hat sich über vier Jahrzehnte hinweg mit diesem Thema befasst und versucht, missverständliche und falsche Deutungen zu eliminieren. Er sieht zwar auch die Problematik des Opfer-Begriffes – „… sacrifice is a word laden with anything but happy connotations and implications“ –, hält es aber ebenfalls für unmöglich, das Wort zu vermeiden: „The word is simply too closely identified with central Christian faith and practice.“166 Daly ist durchaus bereit, Autoritäten katholischer Theologie, wie z. B. Anselm von Canterbury, zu kritisieren, und solche Theologen zu Wort kommen zu lassen, die als Ketzer verurteilt wurden, wie z. B. Peter Abälard.167 In seiner eigenen Deutung des Messopfers kritisiert Daly die verbreitete, populäre Auffassung von der „Macht des Priesters“ und stellt ausdrücklich fest, der Priester, den er als „presider“ der Gemeinde bezeichnet, sei nicht ein „Mittler“ (mediator) zwischen der Gemeinde und Gott oder Christus; und die Worte der Konsekration seien nicht performativ gemeint.168 So versucht er, ein Verständnis der Messe zu entwickeln, das auch für Nicht-Katholiken akzeptabel erscheinen kann. In seiner theologischen Deutung der Rede vom Opfertod Christi versucht Daly, die verbreitete Vorstellung abzuwehren, das Opfer sei etwas, das der „Vater“ vom „Sohn“ verlangt habe – die Einheit der Trinität, o meint Daly, schließe ein solches Verständnis aus: „… authentic Christian sacrifice can never be something that someone does to or demands from someone else.“169 Daly hätte sich hier auf einen Jesuiten des 17. Jahrhunderts berufen können, auf Friedrich von Spee, der allerdings nur als Bekämpfer des Hexenwahns und als Dichter von Kirchenliedern bekannt ist, nicht als Theologe. In einem seiner poetischen Texte aus der „Trutznachtigall“ 164 Strobel, Gekreuzigt für uns –?, 129. 165 Dalferth, Opfer als Glücksfall des Lebens, 132. 166 Daly, Sacrifice Unveiled, 4f. 167 Siehe Daly, ebda, 112–114. 168 Daly, ebda, 16. 169 Daly, ebda, 10.

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hat Spee das Leiden Jesu am Kreuz thematisiert, und er hat dabei eine Deutung des Opfertodes entwickelt, die den Tod Jesu als Selbstopfer des Sohnes beschreibt, das nicht im Willen des Vaters begründet ist. Auf die kritische Frage Jesu, wie der Vater ihn habe verlassen können, lässt der Dichter den Vater antworten:170 … Du mitt süsser Flamm gezündet Selber woltest auf die Welt, … Du mich selber hast getrieben, Ich dich sollte reysen lan. … Offt ich warnet, offt ermanet, Sohn es Dir wird ubel gan; Was doch warnet was ermanet Du mittnichten hörtest an. … Im Raum der Poesie – und wohl auch nur dort – konnte der Jesuit Friedrich von Spee eine Deutung entfalten, in der die Vorstellung eines Gottes, der ein solches Opfer verlangt – also gerade jene Vorstellung, die bei vielen Menschen der Gegenwart auf Befremden stößt –, ausdrücklich ausgeschlossen wird. In dieser poetischen Version wird der Tod Jesu als reines Selbstopfer dargestellt, bedingt nur durch die Grausamkeit der Menschen. Ein vergleichbares Beispiel, das nicht nur im Christentum, sondern gleichermaßen auch im Judentum und Islam immer wieder Anlass zur theologischen Reflexion gegeben hat, ist das Motiv der Opferung Isaaks (Gen 22) – aus der Sicht der „Neuen Atheisten“, wie z. B. Christopher Hitchens,171 natürlich ein beliebtes Beispiel für den verderblichen Einfluss der Religion. Gegen die dominierende Auffassung, die Abraham als Vorbild des Glaubens oder des Gehorsams hinstellt, wandten sich schon im Mittelalter die Katharer: wie Alanus ab Insulis (1120–1202) berichtet, sahen sie in der Haltung Abrahams einen Widerspruch zum moralischen Naturgesetz;172 eine Kritik, die in der Theologie und Philosophie der Aufklärung wieder begegnet, so bei Thomas Morgan (1680–1743).173 In Anknüpfung an Morgan, dessen Werk er kannte, sprach Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) im Blick auf Abraham von dem „Carakter eines unsinnigen Fanatici“;174 Immanuel Kant merkte an, Abraham

170 Friedrich Spee, Trutznachtigall, 236. 171 Hitchens, God is not great, 206. 172 Alanus ab Insulis, contra haereticos I, 37. 173 Thomas Morgan, The Moral Philosopher, Vol. III, 96–98. 174 Reimarus, Apologie, 238.

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hätte auf die „vermeinte göttliche Stimme“ mit Ablehnung reagieren müssen, weil das Gebot offensichtlich dem moralischen Gesetz widersprach.175 In dieser Tradition der Aufklärung stand der anglikanische Bischof John William Colenso (1814–1883), wenn er in seiner Predigt über Gen 22 von Abrahams „Fehler“ und einer „Konfusion“ sprach.176 Wie Kant ging er davon aus, dass kein göttliches Gebot jenen moralischen Normen widersprechen kann, die allen Menschen erkennbar sind. Und zu diesen Normen gehören auch „the strongest instincts of parental love“.177 So stand es für ihn fest, dass Gott niemals in dieser Weise Abraham versucht haben würde, und deshalb versuchte er, seiner Gemeinde zu erklären, es habe sich um einen Fehler Abrahams gehandelt: dieser habe eine seiner Phantasien, Gott zu gefallen, mit der Stimme Gottes verwechselt. Der Mensch müsse zwar der „inneren Stimme“ folgen, doch sei dabei immer die Gefahr gegeben, einer Verwechslung zum Opfer zu fallen; diese müsse dann durch das Eingreifen Gottes korrigiert werden – wie im Falle Abrahams.178 Im Hinblick darauf, dass diese Predigt sehr weit von der üblichen Auslegung abweicht, indem sie die „Prüfung durch Gott“ umdeutet in eine Fehldeutung menschlicher Phantasie, erscheint es nicht allzu verwunderlich, dass Colenso sich einem Häresie-Prozess stellen musste.179 Im mittelalterlichen Judentum wurde das Motiv des Isaak-Opfers zitiert, wenn es darum ging, das „aktive Martyrium“ in den Judenverfolgungen während des ersten Kreuzzuges zu deuten, wie z. B. in den hebräischen Dichtungen von Dawid bi-rabbi Mesullam.180 Von besonderem Interesse ist nun, dass es auch im Judentum einzelne Stimmen gibt, die der dominierenden Tradition widersprechen und Abraham nicht als Vorbild des Glaubens oder Gehorsams sehen. So berichtet Emil Fackenheim von der Begegnung mit einem anonym bleibenden jungen Mann, in der „Kleidung der Ultra-Orthodoxen“, der gesagt habe:181 Abraham hat die Prüfung nicht bestanden. … Als Er Abraham befahl, Isaak zu opfern, wollte Er Abrahams Weigerung. Er wollte nicht „Ja“, sondern „Nein“. Eine andere kritische Stellungnahme hat der Philosoph Omri Boehm abgegeben, vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen in der israelischen Armee, und mit dem Versuch einer exegetischen Begründung:182 If Gen XXII, 1–10,13;19 makes up the original account, then Abraham actually disobeyed the divine command … 175 Kant, Streit der Fakultäten, 333. 176 Colenso, Natal Sermons, 362. 177 Colenso, ebda, 360. 178 Colenso, ebda, 364f. 179 Vgl. dazu Draper, The Trial of Bishop John William Colenso. 180 Dawid bi-rabbi Mesullam, Elohim, 72. 181 Fackenheim, Geleitwort, 9. 182 Boehm, The Binding of Isaac (2002), 3.

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Gerade in Abgrenzung zu den typologischen Auslegungen im frühen Christentum, beginnend mit Paulus, der die „Bindung“ (Akeda) Isaaks als Präfiguration der Kreuzigung Jesu deutet, stellt Boehm die Gestalt Abrahams als Vorbild des Ungehorsams hin183: The survival of Abraham’s seed was not the result of his readiness to kill the beloved son – it was the result of his refusal to do so. Wenn Omri Boehm, der israelische Philosoph, in einer seiner neuesten Veröffentlichungen zum Thema feststellt, das „israelische Selbstverständnis und Gewissen“ stehe „noch immer vor der Aufgabe, sich endlich vom Opfermotiv der Akeda zu lösen“,184 so erinnert dies an die Forderung von Klaus-Peter Jörns, des christlichen Theologen, sich vom Opfermotiv (in der Deutung) der Kreuzigung zu verabschieden. Und auch im modernen Islam gibt es eine kritische Stimme, die der traditionellen, dominierenden Auffassung vom Vorbild-Charakter Abrahams zu widerspre-

Abb. 1: Michelangelo Merisi Caravaggio, Die Opferung Isaaks, 1594–1596. Florenz, Galleria degli Uffizi. (c) bpk/Scala – courtesy of the Ministero Beni e Att. Culturali. 183 Boehm, The Binding of Isaac (2002), 3. 184 Boehm, Zwischen Opfer und Gehorsam, 58.

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chen und damit das Opfermotiv in Frage zu stellen scheint. Der iranische Autor Navid Kermani hat in seinem „ungläubigen Staunen“ über das Christentum u. a. über Caravaggios berühmtes Bild des Isaak-Opfers reflektiert. Der Maler zeigt in dieser Version einen leidenden Isaak, der den Betrachter anblickt, und einen Abraham, der, Kermani zufolge, aussieht wie „ein Verwalter, ein intellektuell immer schon beschränkter, im Alter erst recht verstockter Hausmeister Gottes“. Der Kern der Geschichte ist deshalb, aus der Sicht Kermanis: „Nicht, daß er es getan hätte“, sondern: „daß er es nicht tun durfte“.185 Literatur Quellen Alanus ab Insulis: contra haereticos (Patrologia Latina, ed. J. Migne, Vol. 210). Das Alte Testament hebräisch-deutsch. Biblia Hebraica mit deutscher Übersetzung. Stuttgart: Würtembergische Bibelanstalt 1974. Augustin: Der Gottesstaat. In deutscher Sprache von Carl Johann Perl, Salzburg 2. Aufl. 1966. Dawid bi-rabbi Mesullam: Elohim al domi le-dami, Seliha, in: Hebräische liturgische Poesien zu den Judenverfolgungen während des Ersten Kreuzzuges, hrsg. von Avraham Fraenkel, Abraham Gross mit Peter Sh. Lehnardt, Wiesbaden 2016, 72–89. Didache. Zwölf-Apostel-Lehre. Übersetzt und eingeleitet von Georg Schöllgen, Freiburg u. a. 1991 (Fontes Christiani 1). Diogenes Laertios: Leben und Lehre der Philosophen. Aus dem Griechischen übersetzt und hrsg. von Fritz Jürß, Stuttgart 1998. Empedokles: Fragmente, in: Die Vorsokratiker. Auswahl der Fragmente, Übersetzung und Erläuterungen von Jaap Mansfeld. Band II, Stuttgart 1989. Friedrich Spee: Trutz-Nachtigal. Kritische Ausgabe nach der Trierer Handschrift, herausgegeben von Theo G.M. van Oorschot, Stuttgart 1985. Heraklit: Fragmente. Griechisch und Deutsch. Herausgegeben von Bruno Snell, München 7. Aufl. 1979. Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. I. Altes Testament, hrsg. von Gerhard Alexander, Frankfurt 1972. Hesiod: Sämtliche Gedichte. Theogonie. Erga. Frauenkataloge. Übersetzt und erläutert von Walter Marg, Darmstadt 2. Aufl. 1984. Homer: Ilias. Übertragen von Hans Rupe. Mit Urtext, Anhang und Registern, München 7. Aufl. 1980. Homerische Hymnen. Griechisch und deutsch herausgegeben von Anton Weiher, München 4. Aufl. 1979. Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten, in: Werke in sechs Bänden herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd. VI, Darmstadt 1970, 267–393. Justin: Die beiden Apologien Justins des Märtyrers. Übersetzt von Gerhard Rauschen, 185 Kermani, Ungläubiges Staunen, 92. Siehe auch Abb. 1.

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Kempten/München 1913 (Bibliothek der Kirchenväter. Frühchristliche Apologeten und Märtyrerakten I. Band). Justinus: Dialog mit dem Juden Tryphon. Übersetzt von Philipp Haeuser. Neu heraus­ gegeben von Katharina Greschat und Michael Tilly, Wiesbaden 2005. Lukian: Vergnügliche Gespräche und burleske Szenen. Ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Horst Gasse, Leipzig 3. Aufl. 1985. Lukian: Lucians von Samosata Sämtliche Werke/5. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen von C.M. Wieland, Wien 1798. Mahabharata: Vier philosophische Texte des Mahabharatam. In Gemeinschaft mit Otto Strauss aus dem Sanskrit übersetzt von Paul Deussen, Bielefeld 1980 (1906). Manusmriti: Manus Gesetzbuch. Aus dem Sanskrit übersetzt und herausgegeben von Axel Michaels unter Mitarbeit von Anand Mishra, Berlin 2010. Minucius Felix: Octavius. Lateinisch/Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Bernhard Kytzler, Stuttgart 1993. Philostratos: Das Leben des Apollonios von Tyana. Griechisch-Deutsch. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Vroni Mumprecht, München/Zürich 1983. Porphyrios: Über die Enthaltsamkeit von fleischlicher Nahrung. Bearbeitet und neu herausgegeben von Detlef Weigt (Übersetzung: Eduard Baltzer 1879), Leipzig 2004. Porphyry: On The Cave of the Nymphs. Translation and Introductory Essay by Robert Lamberton, New York 1983. Sallustius: Concerning the Gods and the Universe. Edited with Prolegomena and Translation by Arthur Darby Nock, Hildesheim u. a. 1988 (Cambridge 1926). Sextus Empiricus: Selections from the Major Writings on Scepticism, Man, & God. Edited with Introduction and Notes by Philip P. Hallie. Translated from the Original Greek by Sanford G. Etheridge, Indianapolis 1985. Synesios von Kyrene: Hymnen. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Joachim ­Gruber/­Hans Strohm, Heidelberg 1991. Theophrastos: Peri eusebeias. Griechischer Text. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Walter Pötscher, Leiden: Brill 1964. Thomas Morgan: The Moral Philosopher. Vols. I-III London 1738–1740, Faksimile-­ Neudruck in einem Band herausgegeben und eingeleitet von Günter Gawlik, Stuttgart-­ Bad Cannstatt 1969. Xenophanes: Die Vorsokratiker I. Griechisch/Deutsch. Auswahl der Fragmente, Übersetzung und Erläuterungen von Jaap Mansfeld, Stuttgart 1988.

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3 Religion und Kunst Theater in Religion und/oder als Religion

In der modernen westlichen Welt, so scheint es, sind Theater und Religion zwei ganz verschiedene Bereiche der Kultur, und so gibt es ja auch verschiedene Disziplinen, die sich mit ihnen beschäftigen: die Theaterwissenschaft und die Religionswissenschaft bzw. die Theologie. Es könnte also auf den ersten Blick unnötig erscheinen, ausführlich auf das antike Drama, und hier besonders auf die Tragödie der klassischen Zeit einzugehen. Die Wiederentdeckung des antiken Dramas, in der Zeit der Renaissance, hat zur Entstehung der Oper geführt, die ja wiederum Gegenstand einer eigenen Disziplin ist, der Musikwissenschaft.1 Und die modernen Adaptionen von Motiven der klassischen Tragödie, wie z. B. Goethes „Iphigenie“, sind Gegenstände der Literaturwissenschaft, werden sicherlich selten, wenn überhaupt, aus einer religionswissenschaftlichen Perspektive betrachtet. Anders stellt sich die Sache dar, wenn vom Passionsspiel die Rede ist: sofort wird sich die Assoziation einstellen, dass es um Leiden und Tod Christi geht, wie es z. B. in den Oberammergauer Passionsspielen dargestellt wird – also um religiöses Theater. Dagegen wird es vielleicht überraschend erscheinen, wenn festgestellt wird, dass Hans Sachs, der bekannte Dichter des 16. Jahrhunderts, eine „Tragedia“ geschrieben hat, die die „gantz Passio nach dem Text der vier Evangelisten“ zum Gegenstand hatte.2 Der Dichter scheint also Gemeinsamkeiten von antiker Tragödie und christlichem Passionsspiel gesehen zu haben, und in der modernen Forschung ist die „typologische Vergleichbarkeit des antiken und mittelalterlichen Dramas (und Theaters)“ denn auch hervorgehoben worden.3 Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, welche Strategien eingesetzt werden, um beim Publikum die Emotion des Mitleids auszulösen. Diese Forschung wird vor allem von Literatur- und Theaterwissenschaftlern betrieben, doch müsste sie auch für die Religionswissenschaft von größtem Interesse sein, zumal der Begriff „Passionsspiel“ nicht auf den Bereich des Christentums beschränkt ist: auch eine Form des Theaters im schiitischen Islam wird in der neueren Forschung als „Passionsspiel“ bezeichnet. Wieder ist es vielleicht überraschend, festzustellen, dass die christlichen Passionsspiele des Mittelalters und der Frühen Neuzeit in der Religionswissenschaft anscheinend wenig Beachtung gefunden haben.4 Wenn der Germanist Franz Simmler die verschiedenen Disziplinen aufzählt, die an der Forschung über die Passionsspiele beteiligt sind – Literatur-, Theater- und Musikwissenschaft; Theologie, Volkskunde, 1 2 3 4

Siehe Schmierer, Geschichte der Oper, 17f. Siehe Schulze, Geistliche Spiele, 30; Toepfer, Passion Christi, 165. Kühnel, antikes und mittelalterliches Drama, 7. Eine Ausnahme ist Christoph Auffarths Betrachtung zum Wormser Passionsspiel.

Antike Tragödien

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Soziologie, Kulturwissenschaft und Sprachwissenschaft –, so erwähnt er die Religionswissenschaft nicht, hat sie vielleicht unter „Kulturwissenschaft“ subsumiert.5 Das Thema „Tragödie und Passionsspiel“ erscheint also besonders gut geeignet als ein Ansatzpunkt für die Religionswissenschaft, mit den benachbarten Kulturwissenschaften ins Gespräch zu kommen. Und zugleich ist es dazu geeignet, über die Grenzen der europäischen Religionsgeschichte hinauszugehen und in einem Exkurs auf das religiöse Theater in anderen Kulturen einzugehen, wie z. B. im (schiitischen) Islam. 3.1 Antike Tragödien Dass die griechische Tragödie der klassischen Epoche, wie sie für Athen beonders gut dokumentiert ist, nicht nur ein Gegenstand der Theatergeschichte, sondern auch der Religionsgeschichte ist, kann zunächst durch den Hinweis auf Raum und Zeit der Aufführungen begründet werden: die Tragödien wurden nicht an irgendeinem geeigneten Ort und nicht zu einer beliebigen Zeit – wie in einem Theater-Spielplan der Gegenwart – aufgeführt, sondern an einem besonderen, sakralen Ort, der dem Gott Dionysos geweiht war, und zu einer besonderen Zeit, während des jährlichen Festes zu Ehren dieses Gottes. Das größte dieser Feste waren die „großen städtischen Dionysien“.6 Ein Blick auf den Inhalt der erhaltenen Stücke zeigt, dass nicht nur die Helden, sondern auch die Götter der homerischen Epen auf der Bühne auftreten – mit Ausnahme von Zeus –, was erwarten lässt, dass die Tragödie zur griechischen Religion als Orientierungssystem gehört.7 Denn die ‚tragischen‘ Geschichten von Menschen und Göttern in ihrer Interaktion könnten ja Beispiele zur Warnung oder Nachahmung bieten.8 Umstritten ist die Herkunft und ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Tragödie“: es bedeutet ja eigentlich „Bocksgesang“ – „ein Wort, das die Fratze des Tieres in die Entwicklung hoher Menschenkultur hineinblicken läßt, das Primitive und Groteske in die erhabenste literarische Schöpfung“.9 Entweder ging es um ein Bocksopfer – um einen Bock als Siegespreis, mit anschließendem Opfer des Bockes – oder es war ein „Gesang der Böcke“, d. h. der als Böcke verkleideten Sänger.10 Wenn die Entstehung der Tragödie auch nicht in allen Einzelheiten rekonstruiert werden kann, so kann doch festgehalten werden, dass zwei Traditionen in ihr zu einer Syn5 Siehe Simmler, Das Passionsspiel, 137. 6 Vgl. dazu Seeck, Tragödie, 58f; Sourvinou-Inwood, Tragedy, 513f. Einen Überblick über die Organisation gibt Seidensticker, Das antikeTheater, 16–22. 7 Zur Orientierungsfunktion der Dichtung vgl. Nicolai, Euripides’ Dramen, 5–8. 8 Der Begriff der Nachahmung (mimesis) begegnet schon bei Aristoteles in seinen Ausführungen zur Entstehung und Definition der Tragödie (Poetik 1449b). 9 Burkert, Griechische Tragödie und Oferritual, 13. 10 Burkert hält die erstere Deutung für wahrscheinlich und rekonstruiert damit einen rituellen Hintergrund, der bis in die Vorgeschichte zurückreicht.

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these verbunden sind: die Heroengeschichten des Epos, wie z. B. der homerischen Epen, und der Dionysoskult, aus dem die Maske, der Chor und die Flöte stammen. Organisiert waren die Aufführungen der Tragödien als ein Wettbewerb (agon), zu dem ein Dichter jeweils drei Tragödien und ein viertes, als Satyrspiel bezeichnetes Theaterstück einreichen konnte. Da diese Stücke in der klassischen Zeit nur einmal aufgeführt wurden, ist zu erschließen, wie groß die Zahl der Tragödien gewesen sein muss. Erhalten ist nur das Werk von drei Dichtern, und auch dieses nur zu einem kleinen Teil. Der älteste der drei Dichter, Aischylos (525–455), hat aktiv am politischen Geschehen seiner Zeit teilgenommen, und im Krieg gegen die Perser hat er bei Marathon (490) sowie bei Salamis (480) mitgekämpft.11 Seine erste erhaltene Tragödie, „Die Perser“, reflektiert denn auch dieses kriegerische Geschehen, indem es den Sieg der Griechen in der Schlacht bei Salamis aus der Sicht der Perser als Unglück der Besiegten schildert. Zugleich gibt der Dichter eine theologische Deutung, indem er auf die Hybris des Perser-Königs Xerxes verweist, die darin bestand, den Hellespont zu überbrücken und die griechischen Götterbilder nicht zu achten:12 Denn Hochmut, aufgeblüht, bringt Frucht im Ährenkorn Der Schuld, draus tränenreiche Ernte mäht der Herbst. … Denn Zeus, Zuchtmeister über allzu unbezähmt Hochmütigen Sinn, waltet des Rechts, ein strenger Wart. Solche historischen Dramen, die ihren Stoff aus der jüngsten Geschichte nehmen und eine eindeutige Botschaft formulieren, sind aber die Ausnahme geblieben. Die mythischen Stoffe aus den Epen Homers und Hesiods lassen der Interpretation mehr Spielraum, wie ein Blick auf die divergierenden Interpretationen in der modernen Forschung zeigt. Unter dem Namen des Aischylos ist auch „Der gefesselte Prometheus“ überliefert, eine Tragödie, die den Mythos aus den Dichtungen Hesiods aufgreift. Der Dichter betont explizit, dass Prometheus aus Liebe zu den Menschen (philanthropia) gehandelt hat, und dass die Menschen „alle Künste“, über die sie verfügen, eben jenem menschenfreundlichen Gott, Prometheus, verdanken.13 Wenn dieser menschenfreundliche Gott nun in der Auflehnung gegen Zeus unterliegt und von diesem grausam bestraft wird, dann drängt sich die Folgerung auf, dass Zeus, der die Welt regiert, nicht gerecht handelt, sondern willkürlich und grausam – wie ein

11 Vgl. dazu Görgemanns, Aischylos, 13–18. 12 Aischylos, Die Perser, V. 821f; 827f. 13 Aischylos, Prometheus, V. 28; 506.

Antike Tragödien

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Tyrann. Und diese Anklage gegen Zeus wird tatsächlich auf der Bühne formuliert, wenn der gefesselte Prometheus sagt:14 Ich weiß, er ist hart, und nach Willkür nur Handhabt er das Recht;… Und die Tragödie schließt mit dem Ausruf des gefesselten Prometheus „Du siehst, was für Unrecht ich leide!“15 Zu dem Zweifel an der Gerechtigkeit des Zeus kommt noch der Zweifel an seiner Macht, wenn Prometheus auf der Bühne behauptet, auch Zeus könne nicht „dem ihm verhängten Los“ entfliehen.16 Gestützt auf sein Vorauswissen des Schicksals, beharrt Prometheus in seiner Auflehnung gegen Zeus, und diese Version des Mythos hat in der europäischen Geistesgeschichte eine große Nachwirkung gehabt: Prometheus konnte zum Symbol der Auflehnung gegen Gott werden – gegen den Gott des Christentums bzw. gegen eine bestimmte Version desselben. So hat z. B. der junge Goethe in seiner Abwendung von einer pietistischen Version des Christentums „die alte mythologische Figur des Prometheus“ für sich entdeckt und das bekannte Gedicht sowie einen Dramenentwurf verfasst.17 Dieses Bild des ungerecht handelnden Zeus steht im Widerspruch zu den Aussagen über seine Gerechtigkeit in den „Persern“, so dass es auch die Auffassung gegeben hat, Aischylos könne gar nicht der Autor gewesen sein.18 Der Widerspruch könnte sich aber auflösen, wenn bedacht wird, dass es auch eine Tragödie mit dem Titel „Der erlöste Prometheus“ gegeben hat, die allerdings verloren ist. Es könnte also sein, dass Aischylos in der allein erhaltenen Prometheus-Tragödie nur den Höhepunkt eines Konfliktes dargestellt hat, der dann in dem folgenden Stück als dem letzten Teil der Trilogie aufgelöst wurde. Der Dichter hätte dann die Funktion des Theologen wahrgenommen, das Publikum durch den Zweifel hindurch zum Glauben an die göttliche Gerechtigkeit zu führen, vielleicht mit Hilfe der Vorstellung von einer „Wandlung des obersten Gottes“.19 Diese hypothetische Deutung könnte gestützt werden durch einen Blick auf die einzige vollständig erhaltene Trilogie des Aischylos, die heute noch als „Orestie“ bekannt ist und aufgeführt wird. Der Stoff ist aus den Geschichten vom Trojanischen Krieg übernommen: Orestes tötet seine Mutter Klytaimnestra, weil diese seinen Vater Agamemnon getötet hat. Der tragische Konflikt besteht darin, dass diese Tat im Auftrag eines Gottes, Apollons, geschah, dass dieselbe Tat aber von anderen Göttern, den Erinnyen, als Verbrechen verurteilt wird. Der Konflikt, in den der 14 15 16 17

Aischylos, Prometheus, V. 186. Aischylos, Prometheus, V. 1093. Aischylos, Prometheus, V. 518. Goethe, Dichtung und Wahrheit, 15. Buch. Vgl. dazu Berner, Der Prometheus-Mythos in antiker und moderner Literatur. 18 Seeck zufolge ist diese Vermutung „nicht unbegründet“ (Tragödie, 94). 19 Görgemanns, Aischylos, 33.

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Täter gerät, scheint also unauflöslich zu sein, insofern als es in der Götterwelt selbst widersprüchliche Normen gibt, die dem Menschen eine Orientierung unmöglich machen. Im ersten Teil hatte der Chor noch Zeus angerufen und das Vertrauen zu ihm zum Ausdruck gebracht:20 Zeus, der uns der Weisheit Weg Leitet, der dem Satz: „Durch Leid Lernen!“ vollste Geltung leiht. Im mittleren Teil scheint dieses Vertrauen gründlich widerlegt zu werden, wenn Orestes hilflos zwischen den streitenden Parteien der Götter steht, ohne dass ein Plan des höchsten Gottes, Zeus, erkennbar wäre. Im letzten Teil der Trilogie hat der Dichter den Konflikt, den er mit großer dramatischer Kunst aufgebaut hat, wieder aufgelöst:21 Durch das Eingreifen der Göttin Athene kommt es zum Freispruch des Täters und zu einer Versöhnung zwischen den Erinnyen als den „alten Göttern“ und Apollon als dem Vertreter der neuen Götter-Generation. So kann im dritten Teil das Vertrauen zu Zeus, das im ersten Teil zum Ausdruck gebracht wurde, wieder bestätigt werden. Die Göttin Athene stellt nach der Versöhnung der streitenden Götter-Parteien fest: „Doch Herr ward hier Zeus, Der Redenden Hort“. Zugleich gibt der letzte Teil der Trilogie eine mythische Begründung für die Gerichtsbarkeit des Areopags, wie sie zur Zeit des Aischylos institutionalisiert war. So übernimmt das Theater die Funktion, die so oft der Religion zugeschrieben wird, wie z. B. von dem Soziologen Pierre Bourdieu: das Zufällige als unveränderlich erscheinen zu lassen.22 Denn der Dichter lässt die Göttin Athene sprechen:23 Als unbestechlich setz ich diesen hohen Rat, … Als ewig wache Hut des Landes stiftend ein. Die theologische Leistung des Dichters kann darin gesehen werden, dass er die Problematik des Gottesglaubens – des Glaubens an eine göttliche Gerechtigkeit – in ihrer ganzen Tiefe entfaltet, bevor er versucht, eine Lösung und damit dem Menschen eine Orientierung zu geben. Er kann dies nur verwirklichen anhand der Überlieferungen, die ihm zur Verfügung stehen und die seinem Publikum bekannt sind. Im Falle der Orestie kann diese „Arbeit am Mythos“ nachvollzogen werden. Im Falle der Promethie ist es nicht oder nur hypothetisch möglich, da nur ein Teil der Trilogie erhalten ist.

20 21 22 23

Aischylos, Agamemnon, V. 176–178. Aischylos, Eumeniden, V. 973f. Siehe Bourdieu, Religion, 53f. Aischylos, Eumeniden, V. 704–706.

Antike Tragödien

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Der zweite große Tragödien-Dichter, Sophokles (494–404) hat ebenfalls intensiv am politischen Geschehen seiner Zeit teilgenommen und verschiedene, politische und militärische Ämter in Athen bekleidet.24 Von den drei berühmten Dichtern war er der erfolgreichste, der in den Wettbewerben die meisten Siege errungen hat. Von den 120 Tragödien, die Sophokles geschrieben haben soll, sind nur sieben vollständig erhalten. Aus dem Schulunterricht ist heute vielleicht am ehesten die „Antigone“ bekannt. In der Antigone-Tragödie geht es um den Konflikt zwischen zwei Arten von Recht: zwischen dem Recht, das der Herrscher setzt – Kreon, der König von Theben verbietet, jenen Bruder der Antigone, der als Feind Thebens gefallen ist, zu beerdigen –, und den ewigen, göttlichen Gesetzen, an die Antigone sich hält, wenn sie ihren Bruder gegen den Willen Kreons beerdigt.25 Kreon bereut seine Entscheidung, Antigone zum Tode verurteilt zu haben, als er die Folgen sieht – den Selbstmord seines Sohnes und seiner Frau. So scheint die Botschaft des Dramas eindeutig zu sein: ein Verstoß gegen jene göttlichen Gesetze wird sich rächen. Da Antigone eine Tochter des Königs Ödipus ist, bleibt aber die Frage, ob sie durch ein unverdientes, grausames Schicksal in diese tragische Situation gekommen ist. Der Chor hat denn auch von dem Fluch gesprochen, der auf dem Hause des Ödipus liegt, verhängt von einem Gott, „der kein Erlösen kennt“.26 Die Geschichte von Ödipus, der unwissentlich seinen Vater erschlagen und seine Mutter geheiratet hat, ist auch heute noch bekannt, in erster Linie wahrscheinlich durch die Rede vom „Ödipus-Komplex“, wie sie durch Siegmund Freud geprägt wurde. Das theologische Problem liegt darin, dass dieses Schicksal durch einen Orakelspruch vorausgesagt war,27 so dass sich die Frage stellt, ob Ödipus diesem Schicksal überhaupt hätte entgehen können – der göttliche Wille würde allzu ungerecht erscheinen, wenn er den Menschen zu unrechtem Tun treibt und ihn dann bestraft. Sophokles hat diese Problematik in zwei Tragödien bearbeitet. Bekannt ist wahrscheinlich eher die frühere Version, der „König Ödipus“, in dem auf der Bühne dargestellt wird, wie Ödipus durch seine eigenen Nachforschungen schrittweise zu der Erkenntnis kommt, wer er ist und was er getan hat. Das erste Ödipus-Drama scheint zumindest in einem Punkt eine eindeutige Botschaft zu enthalten: nachdem immer wieder Zweifel an der Wahrheit der Orakelsprüche geäußert worden sind, bis hin zu der Aussage „Das Göttliche schwindet“,28 stellt sich schließlich heraus, dass sie doch wahr gewesen sind und sich im Schicksal des Ödipus verwirklicht haben. So ist das Ergebnis, Vertrauen (pistis) zu dem Gott sei doch die richtige Haltung.29 Offen ist aber die Frage nach der Schuld des Ödipus und damit auch die Frage nach Sinn und Gerechtigkeit des göttlichen Willens. 24 25 26 27 28 29

Vgl. dazu Diller, Sophokles, 51f. Sophokles, Antigone, V. 450–460; 520. Sophokles, Antigone, V. 598. Sophokles, König Ödipus, V. 790–793. Sophokles, König Ödipus, V. 910. Sophokles, König Ödipus, V. 1445.

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Religion und Kunst

Aus religionswissenschaftlicher Sicht ist die Interpretation des Literaturwissenschaftlers René Girard von besonderem Interesse. Er sieht im Ödipus des Sophokles ein Beispiel des Sündenbocks, wie er in allen Religionen eine zentrale Rolle spielt – mit Ausnahme des Christentums. Die Theorie Girards behauptet, dass die Religionen im Ritual einen Mechanismus bereitstellen, die Eskalation der Gewalt zu verhindern. Die Aggression, die sich aus dem Zwang zur Nachahmung ergibt, muss auf einen Einzelnen abgeleitet werden: die drohende Gewalt Aller gegen Alle wandelt sich zur Gewalt gegen ein einzelnes Opfer, sei es ein Mensch oder ein Tier. Dieses Opfer muss als schuldig betrachtet werden, sein Tod muss als gerechtfertigt gelten können, damit der Friede wiederhergestellt wird. Dieser Mechanismus wirkt aber nur, wenn er nicht durchschaut wird. Einzig in der biblischen Tradition, also im Alten und vor allem im Neuen Testament, ist, Girard zufolge, dieser Sündenbock-Mechanismus erkannt und aufgehoben worden: Hiob wird entgegen der Auffassung seiner Freunde als unschuldig dargestellt, wie auch Jesus, in dessen Passionsgeschichte eben das Leiden des Unschuldigen dargestellt wird.30 Die Ödipus-Gestalt des Sophokles dient Girard als ein Beispiel, den Unterschied zwischen den mythischen oder heidnischen Religionen und dem Christentum zu verdeutlichen: Sophokles habe den Sündenbock-Mechanismus nicht durchschaut, denn er habe noch daran festgehalten, dass Ödipus schuldig sei und mit Recht aus seiner Stadt vertrieben werde: „Man betrachte Ödipus am Ende der Tragödie. Er wiederholt unablässig, er sei eine abscheuliche Befleckung, … Er fordert seine eigene Verstoßung … Letzten Endes verdankt er sein Leben nur seinem Verhalten als exemplarisches Opfer – genau das Gegenteil von Hiobs Verhalten.“31 Girard gibt zwar zu, dass Sophokles etwas „ahnt“. Er bleibt aber dabei, Sophokles gehe „in der Enthüllung des strukturierenden Sündenbocks nie so weit wie die Evangelien oder auch die Propheten. Die griechische Kultur untersagt es ihm.“32 Aus der Sicht Girards haben „Hiobs Geschwür und Ödipus’ Pest … irgendwie verwandtschaftliche Züge.“ Diese Verwandtschaft wird erkennbar aus der Perspektive der Sündenbock-Theorie. Entscheidend ist aus Girards Sicht aber der Unterschied: „Die Dialoge im Buch Hiob stellen einen Ödipus-Mythos dar, dessen Opfer sich bis zum Schluß weigert, in den Chor der Verfolger einzustimmen.“ So ist, Girard zufolge, Ödipus ein „gelungener“, Hiob dagegen ein „mißlungener Sündenbock“.33 Es erheben sich allerdings schwere Bedenken gegen Girards Gegenüberstellung von heidnisch/mythischer und biblisch/christlicher Religion. Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass ein theologisches Vorurteil – Girards persönliche Überzeugung von der Wahrheit des Christentums – die Interpretation der nichtchristlichen Quellen beeinflusst. Hier könnte sich eventuell wieder zeigen, wie stark 30 31 32 33

Siehe Girard, Der Sündenbock, 237. Girard, Hiob, 144; vgl. Girard, ebda, 64. Girard, Der Sündenbock, 180. Girard, Hiob, 52.

Antike Tragödien

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die Interpretation der Quellen durch den eigenen religösen Standpunkt des Forschers bestimmt werden kann. Girard wendet sich z. B. gegen James George Frazer, der die zentralen Dogmen und Riten des Christentums vor dem Hintergrund der „primitiven“ Religionen erklären und damit kritisieren wollte.34 Im Hinblick auf die Interpretation der Quellen ist es jedenfalls auffällig, dass Girard ausschließlich auf den „König Ödipus“ verweist, nicht auf den „Ödipus auf Kolonos“, die zweite Bearbeitung dieses Stoffes, die Sophokles kurz vor seinem Tode abgeschlossen hat. In dieser zweiten Version geht es um das Ende des Ödipus, und im Rückblick auf sein Leben weist dieser jede Schuld von sich. Nicht nur, dass Ödipus im Hinblick auf seine Verfehlungen feststellt, nichts „aus eignem Entschluß“ getan zu haben und den Vater „unwissend“ erschlagen zu haben.35 In der Auseinandersetzung mit Kreon, der – ganz im Sinne der Sündenbock-Theorie Girards – Ödipus’ Verfehlungen aufzählt,36 weist Ödipus die Beschuldigung zurück, mit der Begründung, dass es den Göttern so gefiel:37 „Sie grollten unserm Haus vielleicht seit langem schon.“ Ödipus verweist dann auf das göttliche Orakel, das es dem Vater bestimmt habe, durch den Sohn zu sterben, um dann die Frage zu stellen:38 Wenn ich dann unglückselig, wie ich sichtlich war, dem Vater in die Hände lief und ihn erschlug, nicht ahnend was ich tat und gegen wen ich’s tat, wie darfst du tadeln diese ungewollte Tat? Die Verteidigung, mit der Ödipus seine Schuld leugnet, ist zusammengefasst in der Aussage, dass er „geführt von Göttern“ in dieses Unheil geraten sei.39 Diese zweite Version, die das letzte Wort des Dichters ist, widerspricht der Interpretation Girards: ebenso wie Hiob weigert Ödipus sich, die Opfer-Rolle – im Sinne Girards – anzunehmen. In seiner „Arbeit am Mythos“ scheint Sophokles letztlich doch dazu gekommen zu sein, den Sündenbock-Mechanismus aufzulösen, was Girard nur den biblischen Autoren zubilligen möchte.

Es bleibt aber die Frage, ob in dem göttlichen Handeln, auf das Ödipus sein Unheil zurückführt, ein Sinn zu erkennen ist. Der Schluss dieser Tragödie enthält einige Andeutungen, die das göttliche Handeln zumindest als nicht grausam und nicht sinnlos erscheinen lassen. In dieser letzten Bearbeitung des Ödipus-Mythos – die 34 35 36 37 38 39

Siehe Girard, Der Sündenbock 177f; 184; 272. Sophokles, Ödipus auf Kolonos, V. 523; 547f. Sophokles, Ödipus auf Kolonos, V. 944–946. Sophokles, Ödipus auf Kolonos, V. 964f. Sophokles, Ödipus auf Kolonos, V. 974–977. Sophokles, Ödipus auf Kolonos, V. 998.

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Religion und Kunst

bei Girard keine Berücksichtigung findet – ist von einer positiven Weissagung die Rede, die eine komplementäre Ergänzung ist zu der Ankündigung des Unheils, in das Ödipus geraten müsse. An einem Ort in der Nähe Athens angekommen, im heiligen Hain der Eumeniden, erinnert Ödipus sich an diese Weissagung des Gottes Apollon:40 der, als das viele Leid er mir verkündigte, für späte Zeit mir diesen Frieden hier verhieß, wenn ich ein letztes Land erreichte, wo am Sitz der hehren Göttinnen ich eine Zuflucht fänd’, um dort des Lebens Leidensweg zu endigen, einbringend Segen denen, die sich gastlich mir erweisen, denen Fluch, die mich hinweggejagt. Als Zeichen dessen komme, dies tat er mir kund, Erdbeben oder Donner oder Blitz von Zeus. Dazu kommt noch eine neue Weissagung, Ödipus werde „tot oder lebend“ von den Menschen „einst um der Wohlfahrt willen sehr ersehnt sein“ und in ihm werde ihre Macht bestehen.41 Gestützt auf diesen Orakelspruch kann Ödipus sich der Stadt Athen als „Retter“ (soter) anbieten, wenn er denn gastfreundlich aufgenommen und vor den Nachstellungen seiner Feinde gerettet werde.42 Dies wird ihm gewährt, die angekündigten Zeichen von Zeus treffen ein, und so kommt der Lebensweg dort zu einem Ende, friedlich und ohne Schmerzen, ja als eine Gnade (charis) für Ödipus selbst, und segensreich für die, die sich zu ihm bekannt haben.43 Sophokles ist kein Theologe, der Lehren über die göttliche Gerechtigkeit und das Schicksal im Jenseits aufstellt. Als Dichter belässt er es bei der Andeutung, dass aus scheinbar sinnlosem, unverschuldetem Leiden ein Segen entstehen kann, dass der göttliche Wille, der das menschliche Schicksal bestimmt, also einen Plan verfolgen könnte. Der Germanist Friedrich Ohly hat, anders als René Girard, die beiden Ödipus-Dramen des Sophokles als eine Einheit betrachtet und damit die Gemeinsamkeit von antiker Tragödie und christlicher Dichtung des Mittelalters in den Blick gebracht. So wie in der christlich-mittelalterlichen Gregorius-Legende, die ja das Ödipus-Motiv verarbeitet, der Verfemte schließlich zum Erwählten wird, so gelte auch für die Ödipus-Tragödien des Sophokles: „Auf die Tragödie des ‚König Ödipus‘ folgt im ‚Ödipus auf Kolonos‘ das Drama der Verklärung. Der Verfemte wurde der Erwählte.“44

40 41 42 43 44

Sophokles, Ödipus auf Kolonos, V. 87–95. Sophokles, Ödipus auf Kolonos, V. 389f, 1331f. Sophokles, Ödipus auf Kolonos, V. 460; 463. Sophokles, Ödipus auf Kolonos, V. 1585f; 1663–1665; 1720; 1752; 1524. Ohly, Der Verfluchte und der Erwählte, 139.

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Der jüngste der großen Tragödien-Dichter, Euripides (484–406), hat nicht in der gleichen Weise am politischen Leben seiner Zeit teilgenommen. Er galt schon in der Antike als ein Außenseiter und als ein Kritiker der Religion. Dieses Bild ergibt sich aus der Darstellung des Komödien-Dichters Aristophanes. In der Komödie „Thesmophoriazusen“ stellt eine Kranzbinderin fest, ihr Geschäft gehe nicht mehr so gut, seit Euripides lehre, dass es keine Götter gibt.45 Und in der Komödie „Die Frösche“ lässt Aristophanes den verstorbenen Dichter im Hades auftreten, im Wettstreit mit Aischylos – in dem Euripides unterliegt.46 Tatsächlich hat Euripides zu Lebzeiten im Vergleich zu Aischylos und Sophokles die wenigsten Siege errungen.47 Von den zweiundneunzig Dramen, die er geschrieben haben soll, sind 17 Tragödien und ein Satyrspiel erhalten. In der modernen Forschung gehen die Meinungen über die Religiosität des Euripides besonders weit auseinander. Wie Jens Holzhausen festgestellt hat, gibt es „fast nichts, was man der euripideischen Theologie nicht unterstellt hat: sie sei atheistisch … oder … sie wolle die alte Polisreligion erneuern … Die Theologie des Tragikers sei als Glaube an die kosmische Macht des Irrationalen zu verstehen … sie sei der Kampf gegen den Irrationalismus neuer Religionen. Euripides wolle das traditionelle Götterbild zerstören – nein, er wolle es erneuern, und zwar in einer für die Intellektuellen Athens annehmbaren Weise, oder gar für die Segnungen der Dionysos-Mysterien werben.“.48 Christian Wildberg hat auf einen tiefer liegenden Unterschied zwischen zwei Forschungsansätzen hingewiesen: auf der einen Seite das Interesse „an einer eindeutigen Bestimmung der intellektuellen Position des Dichters und der Intention, mit welcher er seine Dramen geschrieben haben mag“, auf der anderen Seite die Auffassung, dass die Tragödie überhaupt eine literarische Gattung sei, „die gar keine bestimmten Aussagen vermittele“; im Zuge dieses Ansatzes sei „immer wieder auf die absichtlich spannungsreiche Mehrschichtigkeit und augenscheinliche Ambivalenz gerade auch der Euripideischen Götterfiguren hingewiesen worden“.49 Wildberg hat selbst aber auch einen „Versuch“ vorgelegt, die Bedeutung der Götter in den Dramen des Euripides zu bestimmen. Er hat einen neuen Akzent in die Debatte eingebracht, indem er die Aufmerksamkeit auf den Begriff der „Hyperesie“ (Dienst) lenkt, der allerdings nur an wenigen Stellen im Werk des Euripides vorkommt. Dieser Begriff bezeichne „eine neue Vision des Verhältnisses von Mensch und Gott“, die sich in einem Kreis von Intellektuellen, zu der auch Euripides gehörte, herausgebildet habe: Dieser „Dienst“ sei „in erster Linie eine intellektuelle und moralische Aufgabe, keine kultisch-rituelle“ – ein Dienst, „den der Mensch aus freien Stücken auf sich nimmt und damit eigentlich dazu beiträgt, daß 45 46 47 48 49

Aristophanes, Thesmophoriazusen, V. 450–452. Zum Wettstreit zwischen Aischylos und Euripides in der Unterwelt vgl. Hose, Euripides, 9–16. Vgl. dazu Matthiessen, Euripides, 105f. Holzhausen, Religion bei Euripides?, 29. Wildberg, Hyperesie und Epiphanie, 5.

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die Macht und Wirklichkeit eines Gottes in dieser Welt durchgesetzt und offenbar wird“.50 Wildberg verifiziert diese Interpretation auch an dem Beispiel der Tragödie von Medea, der Kindsmörderin – die ihre Kinder tötet, um sich für den Treuebruch ihres Mannes, Jason, zu rächen: „Der dramatische Verlauf des Stücks bestätigt Medeias Gewißheit, Komplizin und Instrument der Götter zu sein;“ im Dienst für die Götter, die über das Recht wachen, werde Medeia so „zum tragischen Opfer ihrer eigenen Integrität“.51 Holzhausen hat dieser Deutung widersprochen und im Hinblick auf die „Medea“ Wildbergs These „geradezu auf den Kopf “ gestellt: der Dichter zeige, „wohin es führt, wenn ein Mensch sich zum Diener Gottes erklärt und das Göttliche in der Welt durchsetzen will und dabei sich nicht scheut, den Tod der eigenen Nachkommen in Kauf zu nehmen“.52 Euripides hätte demnach nur untersucht, „in welcher Weise unterschiedliche Grundpositionen – sei es einer traditionellen Religiosität, sei es eines aufgeklärten Glaubens, sei es einer atheistischen Position – Anteil nehmen am ethisch-moralischen Denken seiner Umwelt“; demnach wären die Tragödien des Euripides „nur als Belege für religiöse Positionen im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr.“ auszuwerten, und hier wäre „die ungeheure Vielfalt des Möglichen“ zu konstatieren.53 Was die eigene Religiosität des Euripides betrifft, so kommt Holzhausen zu dem Ergebnis, dass er ein Agnostiker war, dass er aber nicht für diese Position werben wollte. Denn er sei „in erster Linie ein politischer Dichter“ gewesen, „der das Handeln der Menschen seiner Zeit analysiert“,54 und dieses Handeln wird eben auch durch – ganz verschiedene – religiöse Positionen bestimmt. Die euripideische „Arbeit am Mythos“ lässt sich besonders gut beobachten in seiner zweiten Bearbeitung des Mythos von Herakles: „Der Wahnsinn des Herakles“. Das Gebet des Amphitryon, des Vaters, Zeus möge die Familie des abwesenden Herakles vor der Vernichtung bewahren, scheint zunächst erhört zu werden: im rechten Augenblick erscheint Herakles und tötet den Feind, der seine Familie bedroht hat.55 Doch nimmt die Handlung dann eine jähe Wendung: Iris und Lyssa, zwei göttliche Gestalten erscheinen auf der Bühne und kündigen an, dass sie auf Geheiß der Hera, der Gemahlin des Zeus, Herakles mit Wahnsinn schlagen werden. In diesem Zustand tötet Herakles seine eigene Familie – durch göttlichen Willen. Daraus entsteht dann die berechtigte kritische Frage des Herakles, wer noch zu dieser Göttin bete, die aus Neid einen schuldlosen Menschen vernichtet habe.56 Der Freund Theseus verweist zum Trost auf die Geschichten von den Göttern:57 50 51 52 53 54

Wildberg, ebda, 108. Wildberg, ebda, 51; 61. Holzhausen, Religion bei Euripides?, 34. Holzhausen, ebda, 35. Holzhausen, ebda, 37. Vgl. auch Hose, Euripides, 203: „… der Fokus Euripideischer Tragik pflegt eben nicht auf dem Verhältnis zwischen Mensch und Gott, sondern auf dem Verhältnis der Menschen zueinander zu liegen“. 55 Euripides, Der Wahnsinn des Herakles, V. 498; 773f. 56 Euripides, Der Wahnsinn des Herakles, V. 1308. 57 Euripides, Der Wahnsinn des Herakles, V. 1313f.

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Sie mißhandeln die Väter und brechen die Eh, Leben weiter im Himmel mit all ihrer Schuld. Du bist nur ein Mensch, trag auch du deinen Teil! Die Antwort des Herakles weist diesen Trost, der aus dem Mythos abgeleitet wird, zurück:58 … Nie hab ich geglaubt, Noch glaub ich, ein Gott habe Ehen versehrt, Habe andre gefesselt, zu Knechten gemacht. Ein Gott, der ein Gott ist, braucht nichts auf der Welt. Von Menschen sind all diese Märchen erdacht. Die Kritik zeigt sich hier wieder als eine interne Religionskritik, die nur die anthropomorphen Götter-Vorstellungen trifft. Es bleibt aber eine Ambivalenz der Aussage, die entweder als Andeutung eines Atheismus – als Leugnung der Götter überhaupt – verstanden werden kann oder als Andeutung eines sublimierten und ethischen Gottesbegriffes.59 Es bleibt offen, ob der Dichter geglaubt hat, dass einem solchen Begriff auch eine Realität entspricht.60 Diese Auffassung, dass der Dichter nur das Handeln der Menschen analysieren will und sich dabei eben auch für die Wirkung verschiedener religiöser Vorstellungen interessiert, wirft vielleicht auch Licht auf die „Bakchen“, die am meisten umstrittene Tragödie des Euripides. Der Gott Dionysos erscheint selbst auf der Bühne und kündigt an, den König von Theben, Pentheus, betrafen zu wollen, weil dieser ihm die Verehrung verweigere:61 Denn schwer bereuen soll es diese Stadt, Daß sie der Weihen nicht teilhaftig ist Und daß sie meine Mutter falsch verklagt, Die mich, den Gott, der Welt von Zeus gebar. Wenn Pentheus sich diesen „Weihen“ verweigert, so liegt dies eben in der Art der Religiosität begründet, die mit dem Kult des Dionysos verbunden ist: Tanz und Ekstase spielen dort eine große Rolle. Im Streit mit Pentheus sagt der Seher Teire58 Euripides, Der Wahnsinn des Herakles, V. 1341–1346. 59 Vgl. dazu Lefkowitz, ‚Impiety‘ and ‚Atheism‘ in Euripides‘ dramas. Bremmer hat mit Recht festgestellt, dass die atheistischen Aussagen in den Dramen nicht belegen, „daß der Dichter ein Atheist war“, sondern nur, „daß solche Ansichten erörtert werden konnten“ (Götter, 103). 60 Von besonderem Interesse ist die Deutung von Matthiessen (Euripides, 151f), Euripides habe den unvollkommenen und zwiespältigen Zustand der Welt eben auf eine Vielzahl von mit- und gegeneinander wirkenden Göttern zurückgeführt – eine Vorstellung, die aus der indischen Religionsgeschichte bekannt ist. 61 Euripides, Bakchai, V. 39–42.

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sias, der ebenso wie Kadmos, der Großvater des Pentheus, bereit ist, dem neuen Gott zu dienen:62 Der neue Gott, den du so sehr verhöhnst – Wie unbeschreiblich groß wird seine Macht In Hellas sein! Zwei Gaben ehrt der Mensch Als höchste Güter: die der Demeter, Der Mutter Erde (nenn sie, wie du willst), Die mit der trocknen Frucht die Menschen nährt; Dann kam Semeles Sohn, von gleichem Rang, Erfand den Trank der Traube, brachte ihn Den armen Menschen, linderte den Schmerz Jedwedem, der des Weinstocks Becher leert; Pentheus verdächtigt den neuen Kult der Amoralität und versucht zunächst mit Gewalt, das Treiben der Bakchen, der Anhänger des Dionysos, zu verhindern. Dieser Versuch gelingt nicht, und Pentheus ist orientierungslos: „Der Einbruch des Übernatürlichen in seine Stadt und in seine Macht hat ihn zutiefst verwirrt.“63 Der Gott Dionysos, in Menschengestalt erschienen und unerkannt, bringt ihn schließlich dazu, von Neugier getrieben den Versuch zu machen, das ekstatische Treiben der Bakchen zu beobachten. Pentheus ist schließlich sogar bereit, Frauenkleider anzulegen, um von den Frauen, unter denen auch seine Mutter ist, nicht erkannt zu werden. Dionysos kündigt darauhin den Tod des Pentheus an:64 Den Schmuck, mit dem er in den Hades zieht, Geschlachtet von der eignen Mutter Hand, Leg ich ihm an, daß er Dionysos, Den Sohn des Zeus und aller Menschen Freund, Begreifen soll in seiner Schrecklichkeit. Dieses Ende tritt tatsächlich ein: Pentheus wird von seiner eigenen Mutter, die sich im ekstatischen Zustand befindet, getötet, ist also vom Gott selbst ins Verderben geführt worden – ein Verderben, das aber seine ganze Familie betrifft, auch seinen Großvater Kadmos, der sich ja zusammen mit dem Seher Teiresias in den Dienst des neuen Gottes gestellt hatte. Kadmos kann deshalb zum Schluss den Gott anklagen, in seiner Rache allzu hart gewesen zu sein.65

62 63 64 65

Euripides, Bakchai, V. 272–280. Hose, Euripides, 211. Euripides, Bakchai, V. 857–861. Eurpides, Bakchai, V. 1348.

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So scheint sich wieder die Frage nach der religiösen Einstellung des Dichters zu stellen – ob er den Dionysoskult ablehnt und kritisieren will oder ob er ihn als notwendig anerkennt und als sinnvoll propagieren will. Doch liegt es am nächsten, mit Jens Holzhausen in dieser Tragödie wieder das Interesse des Euripides zu erkennen, das Verhalten der Menschen zu analysieren. In diesem Fall sind es eben zwei verschiedene Arten von Religiosität, die in ihrem Konflikt beschrieben werden. Der Dionysoskult zeigt Züge der „imagistischen Religiosität“, wie sie der Ethnologe Harvey Whitehouse definiert hat, in Abgrenzung gegen die „doktrinale Religiosität“, die der Ekstase keinen Raum gibt.66

Was in der Darstellung des Euripides fiktiv ist – der Widerstand gegen das Eindringen eines neuen Kultes –, ist später in der römischen Religionsgeschichte tatsächlich eingetreten: es ist der sogenannte Bacchanalien-Skandal im Jahre 186 v. Chr., über den der römische Historiker Livius berichtet. Diesem Bericht zufolge hatte ein Grieche den Kult des Dionysos in Italien eingeführt, und der Kult hatte in Rom viele Anhänger gefunden, die allerdings verbrecherischen Neigungen nachgingen, so dass der römische Senat eingreifen und den neuen Kult unterdrücken musste.67 Im Hinblick auf die Tragödien des Euripides stellt sich die Frage, ob die oben eingeführte Definition des Religiösen überhaupt für die Tragödie gilt, wenn diese doch keine eindeutige theologische Botschaft enthält und deshalb vielleicht auch keine Orientierung geben kann. Auch jene Tragödien des Euripides, in denen zum Schluss ein rettender „deus ex machina“ auftritt, sind in ihrer Deutung umstritten und können das Bild nicht wesentlich ändern.68 Es ist aber zu bedenken, dass es zum Wesen der imagistischen Religiosität gehört, dass sie Freiheit zur „spontanen exegetischen Reflexion“ gibt.69 Was alle Zuschauer verbindet, so unterschiedlich ihre Deutungen sein mögen, ist die Teilnahme am Ritual der Tragödien-Aufführungen, das aber nur ein Element in einem komplexen religiösen System ist: es gab eine ganze Reihe von Elementen, die in individuellen Kombinationen den religiös interessierten Menschen eine eindeutige Orientierung bieten konnten – Mysterienkulte, Orakelstätten und die Philosophie. 3.2 Christliche Passionsspiele Als erstes stellt sich die Frage nach der Nachwirkung der griechischen Tragödie im Christentum: gibt es diese erst seit der Renaissance, in der Entstehung der Oper und dann in der neuzeitlichen Kunst und Literatur Europas, wie z. B. in den Pro66 67 68 69

Siehe Whitehouse, Modes of Religiosity. Siehe Livius, Römische Geschichte, XXXIX, 9–18. Vgl. dazu Berner, religio und superstitio, 48–51. Vgl. dazu Nicolai, Euripides’ Dramen mit rettendem deus ex machina. Siehe Whitehouse, Modes of Religiosity, 72.

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metheus-Gedichten Goethes oder Byrons?70 Zunächst wäre an eine Nachwirkung in der christlich-byzantinischen Kultur zu denken, in der die Texte der klassischen Tragödien ja weiter überliefert wurden. In einem Werk der Theaterwissenschaft wird tatsächlich eine Brückenfunktion zwischen Byzanz und christlichem Abendland angenommen: Heinz Kindermann verweist u. a. auf die „Dirigierrolle“ eines „byzantinischen Passionsspiels“, das im 10. oder 11. Jahrhundert in Konstantinopel aufgeführt worden sei.71 Als das „interessanteste und berühmteste christlich-byzantinische Drama“ stellt er den Text des „Christos paschon“ vor, von dem allerdings nicht sicher ist, ob er jemals szenisch aufgeführt wurde.72 Auf jeden Fall kann er feststellen, dass der Verfasser „genaue Kenntnisse der griechisch-antiken Tragiker“ besaß – denn ein Drittel der Verse des Textes seien „Umformungen von Versen aus sieben Dramen des Euripides (…), aus dem Prometheus und Agamemnon des Aischylos, und aus der Kassandra des Lykophron“. So habe der Verfasser den „in ganz Europa einzigartigen Versuch“ unternommen, „griechische Tragödie und christ­ liches Passionsspiel zur unmittelbaren Deckung zu bringen“.73 Wie immer dieser Versuch einer „Überschichtung“ aus der Sicht der Theaterund/oder Literaturwissenschaft bewertet wird, er hat jedenfalls nicht als Vorbild für die Passionsspiele im christlichen, lateinischen Abendland gedient. Das mittelalterliche Drama ist offensichtlich ganz unabhängig von der Theatertradition der Antike entstanden, aus kultischen bzw. liturgischen Ursprüngen, und darin liegt eine Vergleichbarkeit mit der antiken Tragödie.74 Im christlichen Kontext ist es die Liturgie der Osterfeier, aus der schließlich die „Osterspiele“ als eine selbständige dramatische Gattung hervorgegangen sind. Dialogische Einschübe in die Liturgie, die sogenannten Tropen, konnten als Ausgangspunkt für die Entwicklung quasidramatischer Formen dienen, wie es seit dem 10. Jahrhundert belegt ist. Wenn einzelne Geistliche die Rollen der verschiedenen Sprecher von Frage und Antwort übernehmen und sich auch entsprechend kostümieren, als Engel bzw. als die Frauen auf dem Weg zum Grabe, dann ist damit schon der Ansatzpunkt zu einem „geistlichen Spiel“ gegeben:75 Quem quaeritis in sepulcro, Christicole? Ihesum Nazarenum crucifixum, o celicole. Non est hic, surrexit sicut praedixerat; Ite, nunciate, quia surrexit de sepulcro.

70 Vgl. dazu Berner, Das Prometheus-Motiv in antiker und moderner Literatur. 71 Siehe Kindermann, Theatergeschichte Europas, 225. 72 Vakonakis hält es für unmöglich, dass das Werk auf der „Bühne“ aufgeführt wurde (Das griechische Drama, 152). 73 Kindermann, 225/226. Zur Forschungsgeschichte vgl. Vakonakis, Das griechische Drama, 65–96. Vakonakis datiert das Werk, das früher Gregor von Nazianz (330–390) zugeschrieben wurde, ins 12. Jahrhundert (99). 74 Siehe Stemmler, Liturgische Feiern, 5; Kühnel, antikes und mittelalterliches Drama, 7. 75 Zitiert nach Schulze, Geistliche Spiele, 47. Vgl. dazu Stemmler, Liturgische Feiern, 23–46.

Christliche Passionsspiele

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Wen sucht ihr im Grab, christliche Frauen? Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten, o ihr Himmlischen. Er ist nicht hier, er ist auferstanden, wie er es vorhergesagt hat. Geht hin und verkündet, dass er aus dem Grab auferstanden ist. Die weitere Entwicklung des „liturgischen Dramas“ oder „geistlichen Spieles“ ist oft dargestellt worden, besonders übersichtlich von Gordon Crosse und von Ursula Schulze. Crosse hat dabei auch versucht, die Entstehung der christlichen Theater­ tradition im christlichen Abendland zu erklären: Die Gründe sieht er zum einen in dem „mimetischen Instinkt“, der zur menschlichen Natur gehöre, und zum andern in der wesentlich dramatischen Natur des christlichen Evangeliums und Gottesdienstes.76 Zu den Oster- und Weihnachtsspielen tritt später auch das Passionsspiel, und hier stellt sich die Frage nach einer inhaltlichen Vergleichbarkeit mit der antiken Tragödie. Wenn szenische Darstellungen der Passion Christi im 15. und 16. Jahrhundert als „tragoedia“ bezeichnet werden,77 dann bleibt doch die Frage, welches (Miss)Verständnis des Begriffes hier vorliegt. Denn es ist ja zu überlegen, ob es im Mittelalter überhaupt die Voraussetzungen gab, tragisches Theater, im Sinne der antiken Tragödie, zu schaffen oder auch nur zu rezipieren. In einer neuen Darstellung der Theatergeschichte findet sich denn auch die lapidare Feststellung: „Tragisches Theater kannte das Mittelalter nicht.“ Als Begründung wird angegeben, die „in der Lehre des Christentums verankerte Gewissheit vom Dasein Gottes und der Glaube an die von Gott gewollte Ordnung der Welt“ habe „jenen Sinnverlust“ ausgeschlossen, „mit dem sich die Protagonisten der antiken Tragödie konfrontiert sahen“.78 In der neueren Forschung gibt es aber auch Ansätze, diese Auffassung zu kritisieren und als ein Vorurteil zurückzuweisen. Die Germanistin Regina Toepfer verweist auf die „Vielzahl der Verwendungen“ und die daraus resultierenden „Unstimmigkeiten im Verständnis“ des Tragik-Begriffes, und sie stellt die berechtigte Frage: „Wenn es nicht gelingt, sich auch nur annähernd auf eine Tragödiendefinition zu einigen, wie kann dies dann für die Negation des Tragischen möglich sein?“79 Sie richtet ihren Blick auf „tragische Handlungsstrukturen in der deutschen Literatur des Mittelalters“, und sie findet solche nicht nur in Epen, wie z. B. im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach, sondern auch in den christlichen Passionsspielen, so dass sie nicht zögert, die „Passion Christi“ als „tragisches Spiel“ zu bezeichnen. Als Ausgangspunkt ihrer Argumentation dient die bekannte Aussage aus der „Poetik“ des Aristoteles, die Funktion der Tragödie bestehe darin, Mitleid und Furcht (eleos und phobos) hervorzurufen.80 Dies gilt, Regina Toepfer zufolge, z. B. für das Frank76 77 78 79 80

Crosse, Arts of the Church, 9f. Siehe Toepfer, Passion Christi, 165; Schulze, Geistliche Spiele, 90. Brauneck, Europas Theater, 105. Vgl. auch Müller, Studien zum persischen Passionsspiel, 157. Toepfer, Passion Christi, 162. Siehe Aristoteles, Poetik 1449b. Fuhrmann übersetzt: „Jammer und Schaudern“.

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furter Passionsspiel von 1493. Die Klage Marias fordert die Zuschauer direkt zum Mit-leiden auf:81 Ach, du geschätzte Christenheit, denke heute an mein Herzeleid. … Das lasst euch zu Herzen gehen und helft mir, mein Leid zu beklagen, das mein betrübtes Herz trägt. Die Rede Jesu verweist darauf, dass es ein stellvertretendes Leiden ist:82 Weil das Gebot gebrochen wurde, deswegen habe ich mich selbst nicht geschont und habe meinen Vater gebeten, dass er seinen Zorn nun aufgebe und das Holz der Barmherzigkeit schenke, das mir heute, an diesem Tag, auferlegt wird und an dem ich den Tod für die Qual des armen Sünders erleiden muss. … „Schrecken und Schuldbewußtsein“, so meint Regina Toepfer, seien „eine wahrscheinliche Reaktion der Rezipienten angesichts der Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit der Menschheit“, und damit werde „eine mit der antiken Tragödie vergleichbare Wirkung erzielt“: „Mitleid und Schrecken“ hervorzurufen.83 An zwei Beispielen kann dies, Regina Toepfer zufolge, verdeutlicht werden: zum Einen an der Gestalt des Judas, der ja nicht einfach aufgrund seiner Schlechtigkeit der ewigen Verdammnis anheimfällt, sondern aufgrund eines Fehlers: im Frankfurter Passionsspiel bereut Judas zunächst seine Tat, um dann in seiner Verzweiflung den Entschluss zum Selbstmord zu fassen:84 Wegen des großen Leids will ich nicht wanken, ich will fortgehen und mich selber erhängen und niemals mehr an Gott denken. Und eben dieser Entschluss ist der entscheidende Fehler, der ihn der göttlichen Gnade verlustig gehen lässt. Dies wird im Spiel selbst durch den Kommentar des

81 82 83 84

Frankfurter Passionsspiel, V. 4020–4030. Übersetzung: Toepfer, Passion Christi, 166. Frankfurter Passionsspiel, V. 3633–3640. Übersetzung: Toepfer, ebda, 167. Toepfer, Passion Christi, 167. Frankfurter Passionsspiel, V. 2650–2657; 2668–2670. Übersetzung: Toepfer.

Christliche Passionsspiele

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Kirchenvaters Augustin, der tatsächlich genau diese Auffassung vertreten hatte, ausdrücklich festgestellt:85 Hätte sich Judas in dieser Stunde nicht Wegen seines großen Schmerzes erhängt, hätte ihn Gott gerne empfangen. Aristoteles hatte eine Bedingung für den Erfolg der Tragödie darin gesehen, dass der Untergang des tragischen Helden nicht einfach in seiner Schlechtigkeit begründet ist, sondern in einem Fehler (hamartia), den er begeht – wie z. B. Ödipus, den Aristoteles an dieser Stelle nennt.86 Eine solche Vergleichbarkeit von Judas und Ödipus würde tatsächlich die Beschreibung der Passionsspiele als Tragödie gut begründbar erscheinen lassen. Zumindest erscheint es berechtigt, von der „Tragik des Judas“ zu sprechen, die darin besteht, „dass seine Verdammnis zur Hölle … vermeidbar gewesen wäre und er sie selbst zu verantworten hat, weil er nicht an die Vergebung Gottes glaubte“.87

Abweichend von diesem methodischen Ansatz greift Regina Toepfer auf eine andere Tragik-Definition zurück, wenn es um die „Tragik Jesu“ geht: im Anschluss an Hegel deutet sie diese als „Antagonismus zwischen göttlicher und menschlicher Natur, die unvereinbar sind und dauerhaft nur getrennt voneinander existieren können“, so dass die unvermeidbare Auflösung dieser Einheit zwangsläufig zum Tode führe.88 Der Germanist Ulrich Barton kritisiert diese Abweichung von der aristotelischen Tragödien-Konzeption, und er kritisiert auch die „tragische“ Deutung der Judas-­ Gestalt als eine vereinfachte Anwendung des aristotelischen hamartia-Begriffes.89 Er geht aber ebenfalls davon aus, dass es in der Tragödie wie im Passionsspiel darum geht, Mitleid zu erregen, und so untersucht er „diejenigen Strategien, die die Tragödie bzw. das Passionsspiel anwendet, um bei den Rezipienten Mitleid hervorzurufen“.90 Im Blick auf die Judas-Gestalt in den Passionsspielen nimmt er an, dass die Zuschauer den Selbstmord des Judas zunächst als angemessene Strafe betrachten und dass sie dann „Mitleid und Furcht“ empfinden könnten, wenn sie erfahren – wie es jedenfalls in den theologisch „korrekten“ Passionsspielen, in denen die Auffassung Augustins zur Sprache gebracht wird, dargestellt wird –, dass gerade dieses für gerecht gehaltene Handeln ins Unglück führt. Barton vergleicht Judas nicht mit Ödipus – obwohl gerade das Ödipus-Motiv in der mittelalterlichen Legende auf Judas übertragen worden ist –, sondern mit dem Aias der sophokleischen Tragödie: 85 86 87 88 89 90

Frankfurter Passionsspiel, V. 2678–2680. Übersetzung: Toepfer, Passion Christi, 169. Siehe Aristoteles, Poetik 1453a. Toepfer, Passion Christi, 169. Toepfer, Passion Christi, 172. Barton, eleos und compassio, 25f. Barton, ebda, 35.

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„Beide tun aus Verblendung eine Untat, die sie hinterher als so entsetzlich bewerten, dass sie sich nicht mehr in die menschliche Gemeinschaft einfügen können und die entsprechende Konsequenz ziehen.“91 Im Falle des Judas sei die Tragik allerdings größer, insofern als sein Handeln heilsgeschichtlich notwendig war – die Erlösung der Menschheit hatte ja sein schuldhaftes Handeln zur Voraussetzung. Diese Tragik des Judas ist in neuerer Literatur, wie z. B. im Drama von Walter Jens, als ein Pro­ blem christlicher Theologie thematisiert worden.92 Es bleibt immer noch die Frage, ob auch das Schicksal Jesu selbst, also der zentralen Figur in den Passionsspielen, als „tragisch“ bezeichnet werden kann, nicht im Sinne Hegels, sondern im Sinne der aristotelischen Tragödien-Definition. Hier scheint sich zuerst der Vergleich mit der Prometheus-Gestalt im aischyleischen Drama anzubieten. Barton sieht eine „dramaturgische Ähnlichkeit“ zwischen dem „Gefesselten Prometheus“ des Aischylos und einem christlichen Passionsspiel: „In beiden wird an einem Mann, der zugleich menschlich und übermenschlich ist und der die Menschheit aus Mitleid vor Tod und Unterwelt rettet, eine grausame Bestrafung vorgenommen, die er stellvertretend für die Menschheit erleidet, und sein Leiden wird von einem beinahe universalen Mitleiden begleitet.“93

Die „theologischen Unterschiede“ dürfen natürlich nicht verschwiegen werden: so weist Barton z. B. darauf hin, dass „das Göttliche“ im aischyleischen Drama sich aufspaltet in die Gestalten von Zeus und Prometheus – „in Vernichter und Erretter, in Zorn und Barmherzigkeit“. Dieser Unterschied, der natürlich ins Auge fällt, würde sich aber vielleicht relativieren, wenn die ganze Trilogie der aischyleischen Prometheus-Dramen erhalten wäre. Denn der „Erlöste Prometheus“, das verlorene Drama, könnte eine theologische Lösung gebracht haben, in der die Spaltung des Göttlichen aufgehoben wurde, so dass das Mitleiden mit Prometheus schließlich zur Einsicht führt in die dem göttlichen Handeln geschuldete „Dankbarkeit“. Und dies würde, Barton zufolge, eben auch für das christliche Passionsspiel gelten: „Wer Christi Passion nicht affektiv mitträgt, der hat sie nicht verdient.“94 Am Beispiel des Themas „Tragödie und Passionsspiel“ zeigt sich, dass in der Literaturwissenschaft religionswissenschaftlich relevante Themen behandelt werden, die in der Religionswissenschaft selbst bisher kaum wahrgenommen worden sind. Dies gilt nicht nur für die aktuellen germanistischen Arbeiten von Regina Toepfer und Ulrich Barton, sondern auch, und vielleicht noch mehr, für eine romanistische Arbeit aus den 70er Jahren: Rainer Warning hatte die These aufgestellt die „volks91 92 93 94

Barton, ebda, 313. Jens, Der Fall Judas. Barton, eleos und compassio, 301f. Barton, ebda, 302.

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sprachige geistliche Bühne“ sei „zum Spielraum paganer Rezidive“ geworden.95 Sein Ausgangspunkt war die Feststellung, dass „die spätmittelalterlichen Aktualisierungen ihre biblischen Vorlagen gewaltig überschießen“, indem sie das Kreuzigungsgeschehen „mit allen nur erdenklichen Details“ ausbreiten.96 Auffällig ist tatsächlich die szenische Darstellung grausamer Details, wie z. B. im Donaueschinger Passionsspiel, wenn die Nägel stumpf gemacht und die Bohrlöcher in zu weiten Abständen gesetzt werden, um das Leiden Jesu zu steigern.97 Warning war nun der Meinung, diese „Grausamkeit des Martyriums“ sei „mit dem Erbaulichen der gloria passionis nicht hinlänglich erklärbar“, und er glaubte darin einen Rückfall in ein archaisches Ritual zu erkennen: „die Spiele inszenieren die ‚Schlachtung‘, und dies in einer Drastik, die das in der Messe so subtil verdrängte archaische Substrat des Opfers in seiner ganzen psychologischen Brisanz wieder hervorkehrt, …“.98 Diese Deutung erinnert an die Sicht Walter Burkerts, der diesen Aspekt des Opfer-Rituals, die Schlachtung, in den Mittelpunkt gerückt und immer wieder auf die sublimierte Nachwirkung im Christentum hingewiesen hatte. Warnings Deutung der Passionsspiele, noch vor dem Erscheinen von Burkerts „Homo Necans“ konzipiert, könnte als Bestätigung für die Theorie Burkerts aufgefasst werden: die Passionsspiele würden demnach nur in die szenische Darstellung überführen, was als Rede vom Opfertod Christi in der christlichen Theologie erhalten geblieben ist.

Wenn Warning in der 1974 erschienenen Dissertation auch noch die Begriffe des „Sündenbockrituals“ und des „Sündenbock-Mechanismus“ zur Anwendung bringt, so erinnert dies an die Theorie René Girards, und Warnings Differenzierung zwischen Kerygma und Mythos würde auch mit Girards Gegenüberstellung von bib­ lischer und mythischer Religion übereinstimmen.99 Tatsächlich hatte Warning sich aber an Eliade orientiert.100 Diese Deutung der Passionsspiele ist natürlich nicht unwidersprochen geblieben. So ist Warning vorgeworfen worden, dass er „das Selbstverständnis der Spiele oft genug in den Wind schlägt, indem er es als „vordergründig-offizielles Selbst­

95 Warning, Mythos und geistliches Spiel, 236. 96 Warning, ebda, 231. 97 Siehe Simmler, Passionsspiel, 154–156; vgl. auch Müller, Mimesis und Ritual, 565. 98 Warning, Mythos und geistliches Spiel, 236; 232; ders. Ambivalenzen des geistlichen Spiels, 215f. In neueren Arbeiten wird versucht, von der Neuropsychologie aus die Frage zu beantworten, welche Reaktionen die Gewaltszenen der Passionsspiele beim Publikum hervorrufen (Pfeiffer, Feeling the Passion, 330). 99 Siehe Warning, Ambivalenzen des geistlichen Spiels, 211–213. 100 Siehe Warning, ebda, 29f.

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verständnis“ – …- denunziert“.101 Joerg Fichte weist darauf hin, dass die Einbindung „in einen strengen dogmatischen Rahmen“ durch expositorische Figuren geleistet werden kann, wie z. B. im Frankfurter Passionsspiel durch Augustin, der die theologische Bedeutung erklärt.102 Ursula Schulze sieht kein Problem darin, den wachsenden „Detailrealismus bei der verbalen und mimischen Darstellung der Marter und der Kreuzigung Christi“ aus der Intention zu erklären, „Mit-Empfinden von Leid und Trauer“ bei den Zuschauern hervorzurufen.103 Neben diesen ablehnenden Stellungnahmen gibt es auch vermittelnde und weiterführende Deutungen: Jan-Dirk Müller übernimmt den Begriff des Sündenbockrituals, bezieht ihn aber, anders als Warning, auf die Ausgrenzung „der Anderen“ – das sind die Juden, die auf der Bühne ein solches Ritual vollziehen, die Realität aber falsch einschätzen: so kann das blutige Opfer „zugleich schaudernd genossen und, da es sich im Licht christlichen Offenbarungswissens als Verblendung erweist, auf seine Urheber verschoben werden“.104 Diese Deutung hat den Vorteil, dass sie den sozialen und politischen Kontext der Städte in den Blick nimmt, in denen die Passionsspiele aufgeführt werden: es ist unvermeidlich, dass in den Spielen das spannungsreiche Verhältnis zwischen der christlichen Mehrheit und der jüdischen Minderheit reflektiert wird – „im Spiel nur symbolisch, doch latent auf eine Überschreitung der Grenzen des Spiels appellierend“.105 Berichte über gewalttätige Ausschreitungen gegen Juden, im Anschluss an die Spiele, bestätigen diese Annahme einer latenten Funktion, die in der „Grundambivalenz ästhetischer Erfahrung“ immer als Möglichkeit enthalten ist.106 So kann mit Recht festgestellt werden, „Warnings Einsicht“ habe „die ästhetische Dimension der Spiele neu erschlossen“ – nur dass die „Freisetzung theatralischer Möglichkeiten“ eben bedeutet, dass der „Rückfall“ in ein „archaisches paganes Sündenbockritual“ zwar möglich, aber nicht notwendig ist.107 In den Passionsspielen sind ja immer Juden als Akteure beteiligt, und so stellt sich auch die Frage, ob diese Spiele die Entwicklung der Judenfeindschaft – eventuell auch die Entstehung des Antisemitismus – beeinflusst haben, waren es doch „häufig mehrere Tage dauernde Großveranstaltungen“, ein Medium, das in seiner Wirkung auf die Masse sogar mit dem modernen Fernsehen verglichen worden ist.108 Dabei ist allerdings zu differenzieren zwischen den frühen (13. und 14. Jahrhundert) und den späten Passionsspielen (15. und 16. Jahrhundert).109 101 Ohly, Der Verfluchte und der Erwählte, 140. 102 Fichte, Darstellung von Jesus Christus, 285. 103 Schulze, Schmerz und Heiligkeit, 230. Vgl. auch Freise, Geistliche Spiele, 363. 104 Müller, Mimesis und Ritual, 568. 105 Ebd. 106 Zu dieser „Grundambivalenz“ vgl. Barton/Ridder, Ästhetik des Bösen, 232. 107 Müller, Mimesis und Ritual, 570. 108 Vgl dazu Rommel, Judenfeindliche Vorstellungen, 207. Anthonius H. Touber spricht von „spektakulären Happenings“ (Das Donaueschinger Passionsspiel, 10). Zur Nachwirkung vgl. Wenzel, Martin Luther und der mittelalterliche Antisemitismus, 311 mit Anm. 48. 109 Siehe Rommel, Judenfeindliche Vorstellungen, 185.

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In einem der frühen Spiele, dem St. Galler Passionsspiel, gibt es, wie Florian Rommel herausgearbeitet hat, zwei Gestalt(ung)en des Judentums: auf der einen Seite den ‚hässlichen‘ Juden Rufus, der den römischen Soldaten Geld bietet, um Jesus noch mehr zu quälen:110 So wahr ich Jude bin, seid versichert, dass ich euch eure Mühe gut lohnen werde. Zwanzig Mark sollt ihr bekommen. Wenn ihr ihn euch ordentlich vornehmt. Auf der anderen Seite gibt es den ‚guten‘ Juden Malchus, der aus der Gruppe der Verfolger Jesu ausscheidet, nachdem er festgestellt hat:111 Jesus ist ein sehr guter Mensch. Er kann Ohren wieder ansetzen. So lang ich lebe, darüber bin ich froh, werde ich ihm niemals wieder Leid zufügen. In einem der späten Spiele, dem Frankfurter Passionsspiel, gibt es keine solche positive Reaktion auf die Heilung durch Jesus: der Knecht Malchus benutzt diese Erfahrung vielmehr dazu, Jesus als Zauberer und Gaukler zu diffamieren:112 Hört, ihr Juden, was ich euch berichte: Mir wurde ein Ohr abgeschlagen, Das nahm der Zauberer, Jesus, der Gaukler, und setzte es mir wieder an, als sei es nie ab gewesen. Diese negative Reaktion ist, Florian Rommel zufolge, bezeichnend für alle späten Passionsspiele, die nicht mehr mit der Möglichkeit einer Bekehrung rechnen – wie es im Falle der St. Galler Passion noch gegeben war – und die das Jude-sein als einen unveränderlichen Zustand definieren, was nicht ohne Konsequenzen ist für den Umgang mit den Juden.113 In einem anderen der späten Spiele, in dem Donau­ eschinger Passionsspiel, ist es „Christiana“, die zur Rache auffordert und „zu aller Welt“ spricht:114 110 St. Galler Passionsspiel, V. 902–907. Übersetzung: Rommel, Judenfeindliche Vorstellungen, 195. 111 St. Galler Passionsspiel, V. 741–745. Übersetzung: Rommel, ebda, 197. Zu den frühen Passionsspielen vgl. auch Bremer, Das Bild der Juden in den Passionsspielen. 112 Frankfurter Passionsspiel, V. 2381–2396. Übersetzung: Rommel, Judenfeindliche Vorstellungen, 204. 113 Lehnen (Das Egerer Passionsspiel, 289) spricht sogar von einer „antisemitischen Agitation“. 114 Donaueschinger Passionsspiel, V. 3617–3627.

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O ir fromen cristen all die verlorn waren durch adams val nemend mit mir hie ze hertzen dissenn bittern tod und schmertzen denn hüt hat er gelitten Ihesus crist der himels und erd ein schöpffer ist die juden hand im genomen sin leben … O ir schwestern und brüder min hellfent mir rechen diese tat an dem falschen iudischen rat … In dem Alsfelder Passionsspiel ist es sogar Jesus selbst, der am Kreuz zur Rache an den Juden aufruft, von der Vorlage im Lukas-Evangelium deutlich abweichend:115 lieber beschirmer und vatter myn, reche an enn myn groisse pyn! Und das gilt auch für das Frankfurter Passionsspiel:116 ach, du vil dorichte Iudisheit, mit der lantzen hastu eyn himelschen durchstochen. das wird ich nit lassen ungerochen. Im Hinblick auf diese judenfeindlichen Äußerungen in einigen späten Passionsspielen erscheint es fast unnötig, mit Warning vom Sündenbockritual als einer „latenten“ Funktion zu sprechen – es wird ja offen ausgesprochen, wer als Sündenbock zu gelten hat und entsprechend zu behandeln ist: es sind die Juden, die auf der Bühne ein solches Ritual vollziehen und deren ungläubige Existenz in der Gegenwart ein Beweis dafür ist, dass sie die Realität immer noch nicht erkannt haben. Im Frankfurter Passionsspiel schweigt der Proklamator, der am ersten Tag der Aufführung durch seine Kommentare die Rezeptionshaltung des Publikums zu steuern versuchte, am zweiten Tag; er lässt nun die Handlungen der Juden, die Jesus kreuzigen, unkommentiert, was „auch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit antijüdischer Ausschreitungen zur Folge hat“.117

115 Alsfelder Passionsspiel, V. 4276f. Vgl. dazu Rommel, Judenfeindliche Vorstellungen, 183; Wenzel, Synagoga und Ecclesia, 58–64. Das Rache-Motiv begegnet auch in dem byzantinischen Passionsspiel „Christos paschon“, der Mutter Jesu in den Mund gelegt. Vgl. dazu Vakonakis, Das griechische Drama, 101; 130. 116 Frankfurter Passionsspiel, V. 3673f. 117 Ehrstine, Präsenzverwaltung, 77.

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3.3 Der kritische Theater-Diskurs in der europäischen Religionsgeschichte Überraschend ist vielleicht die Feststellung, dass die Theaterfeindlichkeit so alt ist wie das Theater selbst.118 Einzelne kritische Stimmen gibt es schon in der Antike, noch vor der vernichtenden Kritik, die von den Kirchenvätern geübt wurde. In seiner Platon-Biographie berichtet Diogenes Laertios, Platon habe sich zunächst als Tragödien-Dichter versucht, habe seine Verse aber verbrannt, nachdem er Sokrates vor dem Dionysos-Theater gehört hatte.119 Diese Anekdote – die Wandlung vom Dichter zum Philosophen – könnte die spätere Kritik tatsächlich gut erklären. Als „Nachbildner“ sind alle Dichter, Platon zufolge, weit von der Wahrheit entfernt:120 Dieses also, wie sich zeigt, ist uns ziemlich klargeworden, daß der Nachbildner nichts der Rede Wertes versteht von dem, was er nachbildet, sondern die Nachbildung eben nur ein Spiel ist und kein Ernst, und daß, die sich mit der tragischen Dichtung beschäftigen in Jamben sowohl als in Hexametern, insgesamt Nachbildner sind so gut als irgendeiner. Der schwerste Vorwurf gegen die Dichtkunst ist der, „dass sie imstande ist, auch die Wohlgesinnten, einige gar wenige ausgenommen, zu verderben“;121 diese Gefahr ist damit gegeben, dass die Emotionen des Zuschauers angeregt und eventuell in eine falsche Richtung gelenkt werden:122 Auch die Besten von uns, wenn wir den Homeros hören oder einen anderen Tragödiendichter, wie er uns einen Helden darstellt in trauriger Bewegung und eine lange Klagerede haltend, …: so wird uns wohl zumute, wir geben uns hin und folgen mitempfindend, und die Sache sehr ernsthaft nehmend, loben wir den als einen guten Dichter, der uns am meisten in diesen Zustand versetzt. Diese Wirkung der Tragödie, eine emotionale Beteiligung der Zuschauer hervorzurufen, ist von Aristoteles genauer beschrieben – in der berühmten Formel von „Furcht und Mitleid“ –, aber nicht kritisiert worden. Die theaterkritische Tradition zeigt sich dann wieder in den Werken der frühchristlichen Apologeten und Kirchenväter, die allerdings weniger die klassischen Tragödien vor Augen haben als vielmehr den ganzen römischen Theaterbetrieb, der alle Arten von Schau-

118 Siehe Brunnschweiler, Theaterfeindlichkeit im alten Zürich, 101. 119 Diogenes Laertios, Leben und Lehre der Philosophen III, 5. 120 Platon, Politeia, 602b. 121 Platon, Politeia, 605c. Vgl. dazu Barish, The Antitheatrical Prejudice, 5–28. Eine andere Deutung gibt Puchner, der in den sokratischen Dialogen Platons „komplette Dramen“ sieht, Platon also als „Dramatiker“ retten will (Platon und das moderne Drama, 194). 122 Platon, Politeia, 605c/d.

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spielen umfasste, darunter auch z. B. Gladiatorenkämpfe.123 Eine Schrift gegen diese „Spiele“ (spectacula) verfasste der bekannte Apologet des frühen Christentums, Tertullian. Der Anlass zu dieser Schrift war offenbar die unter Christen verbreitete Theater-­ Leidenschaft – Christen pflegten sich darauf zu berufen, dass es doch kein biblisches Verbot gebe, das ausdrücklich sagt: „Du sollst nicht in den Circus gehen, nicht in das Theater; du sollst keinem Athletenwettkampf und keinem Gladiatorenspiel zusehen“.124 Tertullian hält dem entgegen, dass jedes Schauspiel (spectaculum) als „Versammlung der Gottlosen“ einzuordnen sei, gemäß dem ersten Wort Davids „Glücklich der Mann, der nicht zur Versammlung der Gottlosen gegangen ist, …“.125 Wie der Kirchenhistoriker Christoph Brennecke meint, dürfte diese „halsbrecherische Exegese“ die Kritiker Tertullians „nicht übermäßig beeindruckt“ haben.126 Tertullian gründet seine Kritik vor allem auf die Behauptung, dass alle Spiele mit Götzendienst (idolatria) in Verbindung stehen, so sei der Circus dem Sonnengott geweiht, das Theater der Venus.127 Sodann richtet seine Kritik sich gegen die Art der emotionalen Beteiligung, die bei den Zuschauern hervorgerufen wird: Gott hat uns befohlen, mit dem Heiligen Geist, der ja seiner grundsätzlich guten Natur entsprechend zart und sanft ist, in Stille und Milde, in Ruhe und Frieden umzugehen, ihn nicht durch Raserei, nicht durch Zorn, nicht durch Wut und nicht durch Schmerz zu beunruhigen. Wie sollte sich der Besuch der Schauspiele mit ihm vereinbaren lassen? Denn es gibt kein Schauspiel ohne heftige Erschütterung des Geistes. 128 Über diese emotionale Beteiligung hat später Augustinus reflektiert, wenn er über seine eigene Theater-Leidenschaft, die ihn in seiner Jugend gepackt hatte, berichtet:129 Wie kommt es, daß der Mensch dort schmerzlich fühlen will, wenn er Trauriges und Tragisches sich ansieht? Er möchte es gewiß nicht an sich selbst erleiden, und gleichwohl, als Zuschauer will er Schmerz dabei empfinden, und gerade der Schmerz ist sein Genuß. Was ist das, wenn nicht Irrsinn zum Erbarmen? 123 Einen Überblick gibt Weismann, Kirche und Schauspiele, 33–68; Schnusenberg, Kirche und Theater, 27–43. Zur Einordnung in den intellektuellen, theaterkritischen Diskurs der Zeit vgl. Brennecke, Pompa diaboli?, 30f. 124 Tertullian, De spectaculis, 3, 2. 125 Tertullian, De spectaculis, 3, 3; 8. 126 Brennecke, Pompa diaboli?, 25. 127 Tertullian, De spectaculis, 8, 1; 10, 3. 128 Tertullian, De spectaculis, 15, 2.3. Ähnlich auch z. B. Laktanz, in der Nachfolge Tertullians. Vgl. dazu Brennecke, ebda, 28f. 129 Augustin, Confessiones, III, 2,2. Vgl. dazu auch Weismann, Kirche und Schauspiele, 125–130; ­Barish, The Antitheatrical Prejudice, 52–57. Zu möglichen Anregungen Augustins aus der antiken Literatur – weniger Aristoteles als vielmehr Platon – vgl. Weismann, Kirche und Schauspiele, 134–148.

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Diese kritischen Äußerungen, formuliert in polemischer Schärfe bei Tertullian und in psychologischer Reflexion bei Augustin, beziehen sich offensichtlich auf den Theaterbetrieb in ihrer kulturellen Umwelt, in der es ja noch kein christliches Theater gab. Deshalb stellte sich später, im christlichen Abendland, die Frage, ob diese theaterkritischen Äußerungen prinzipielle Geltung beanspruchen können, also auch auf das christliche Theater, wie z. B. für die Passionsspiele, zu beziehen seien. Diese Frage wurde z. B. im ersten Hamburger Theaterstreit von 1681 kontrovers diskutiert. Anton Reiser, Hauptpastor an St. Jacobi, veröffentlichte 1681 die Schrift „Theatromania“, in der er die Auffassung vertrat, es sei „recht unbillich und in der Warheit un=christlich was man mit denen Glaubens=Genossen in der Welt eine traurige Paßion spielt und dieselbe zu einem Schauspiel mit dem Theatro der Antichristischen Verfolgung darstellt. …“.130 Er antizipierte den kritischen Einwand, die Kritik Tertullians habe sich ja nur gegen heidnische Schaupiele gerichtet, zitierte und diskutierte dann aber die einzelnen kritischen Äußerungen der Kirchenväter und einzelner vorchristlicher Philosophen. So kam er schließlich zu dem Ergebnis, „kein redlicher Lutherischer Theologus“ könne das Theaterwesen gut heissen, wenn dieses doch von so vielen Autoritäten der Alten Kirche verworfen worden sei.131 Auf die „Theatromania“ antwortete Christoph Rauch, ein Hamburger Opern-­ Schauspieler, im folgenden Jahr 1682 mit der „Theatrophania“, in der er eben jenen, von Reiser schon antizipierten Einwand entfaltete, dass die ­Kirchenväter-Kritik auf den modernen Opernbetrieb gar nicht anwendbar sei. Einige Jahre später griff auch Heinrich Elmenhorst in die Debatte ein, Prediger an St. Catharinen in Hamburg, mit der Schrift „Dramatologia Antiquo-Hodierna“, im Untertitel bereits das ganze Opern-apologetische Programm entfaltend: Das ist: Bericht von denen Oper-Spielen / Darinn gewiesen wird / Was sie bey den Heyden gewesen / und wie sie des dabey vorgegangenen abgöttischen und lästerhafften Thuns halber von den Patribus und Kirchen-Lehrern verworffen / Ferner Was die heutige Oper-Spiele seyn / und daß sie nicht zur Unerbarkeit / und sündlicher Augen = Lust / sondern zur geziemenden Ergetzung / und Erbauung im Tugend Wandel vorgestellet / Dannenhero von Christlicher Obrigkeit / als Mittel = Dinge / wohl können erlaubet / und von Christen ohn Verletzung des Gewissens geschauet und angehöret werden / Aus Liebe zur Wahrheit geschrieben. Vergleichbare Debatten, Kritik und Verteidigung des Theaters, gab es im Frankreich des 17. Jahrhunderts, und in England wurden 1642 die Theater geschlossen, „womit der (vorläufige) Endpunkt einer seit Ende des 16. Jahrhunderts wachsenden

130 Reiser, Theatromania, 12. 131 Reiser, Theatromania, 394.

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anti-theatralen Stimmung erreicht ist“.132 Im Hinblick auf die Frühe Neuzeit scheint zu gelten, was Barish feststellt: dass die Theaterkritik immer dann einen Höhepunkt erreicht, wenn auch die Theaterbegeisterung blüht.133 Die Frage stellt sich dann, ob das Mittelalter tatsächlich eine Ausnahme darstellt, wie Barish meint – aus dieser Zeit gibt es ja kein solches corpus theaterkritischer Schriften, und dies würde sich daraus erklären, dass die geistlichen Spiele des Mittelalters ja christliche Themen zum Gegenstand hatten. In der Forschung gibt es jedenfalls verschiedene Antworten auf diese Frage, und auch Barish muss einige Ausnahmen von der Ausnahme vorstellen. Er erwähnt kurz Gerhoh von Reichersberg, einen Theologen des 12. Jahrhunderts, der gegen Theateraufführungen in der Kirche polemisiert, und er geht ausführlich auf einen anonymen Text ein, der im England des 14. Jahrhunderts entstanden ist.134 Der anonyme Autor dieses Textes hielt es für gänzlich unangebracht, den Ernst der Passion Christi in einem Spiel darzustellen, und er formulierte eine klare Alternative, indem er den biblischen Satz aufgriff, der Mensch könne nicht zwei Herren dienen:135 And sithen miraclis playinge is of the lustis of the fleyssh and mirthe of the body, no man may efectuely heeren hem and the voice of Crist at onys, as the voice of Crist and the voice of the flesh ben of two contrarious lordis. Die Befürworter der Spiele werden verglichen mit den Kindern Israel, die nach einem Götterbild verlangten:136 And therfore as unkindely seiden to Aaron the children of Israel, Moyses beinge in the hil, „We witen never hough it is of Moyses, make us therfore goddis that gon biforn us,“ so unkindely seyen men nowe on dayes, „Crist doth now no miraclis for us, pleye we therfore his olde“, … Auch wenn dieser Text eine Ausnahme zu sein scheint, so ist es auf jeden Fall festzuhalten, dass der anonyme Autor eine Debatte führt: er zählt die Argumente der Befürworter auf – wie z. B. das Argument, dass doch auch Bilder erlaubt seien – um sie dann einzeln zu widerlegen.137 Dieser Aufbau des Textes lässt einen kritischen Theater-Diskurs im Hintergrund erkennen. Die kritische Minderheits-Meinung, die „niemals völlig verstummte“, avancierte, Freise zufolge, „in der Reformation zur Mehrheitsmeinung“.138 Es ist tat132 Kolesch, Theater als Sündenschule, 20. Zum Theaterverbot in England vgl. auch Kotte, Theater­ geschichte, 248f. 133 So Barish, The Antitheatrical Prejudice, 66. 134 Siehe Barish, ebda, 67–79. Zu Gerhoh vgl. Freise, Geistliche Spiele, 47–51. 135 Miraclis pleyinge, Z. 112–115. 136 Miraclis pleyinge, Z. 619–624 137 Miraclis pleyinge, Z. 372–385. 138 Freise, Geistliche Spiele, 65; 58f: Beispiele aus der Debatte im 15. Jahrhundert im deutschen Sprachbereich.

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sächlich so, dass im England des Reformationszeitalters die großen, mehrtägigen Fronleichnamszyklen, die die ganze Heilsgeschichte szenisch dargestellt hatten, verboten wurden, ebenso wie in Zürich und Genf nach Einführung der Reformation die Theateraufführungen für lange Zeit verboten blieben. In Zürich erschien 1624 eine theaterkritische Schrift von Johann Jakob Breitinger, Pfarrer am Großmünster, der seine „Bedencken“ gegenüber den „Comoedien oder Spilen“ darlegte und, wie zu erwarten, mit Zitaten der Kirchenväter, darunter natürlich auch Augustin, begründete. Dieser reformierte Pfarrer betrachtete nicht nur die „Comoedien der Heiden“ als „unrecht“, sondern auch die der Christen – diese erschienen ihm als:139 nur desto ein grössere sünd / darumb daß man vermeinen will / es dörffind unnd könnind die werck deß gesegneten wahren Gottes gehandlet und gespilt werden in form und gestalt / wie einist gehandlet unnd gespilt worden die Fablen unnd Unthaten der Heidnischen und erdichteten Abgötteren. Der Zürcher Pfarrer vertrat die radikale Position, dass jede Art von Theater mit der Konzentration auf das Wort, wie es ja von den Reformatoren gefordert worden war, unvereinbar ist:140 Die H. Schrifft ist uns nit gegeben / daß sie in Comoedien unn Schawspilen presentiert / sonder dem volck fürgetragen / außgelegt / unnd eingepflanzet werde in den Kilchen.“ Diese Auffassung konnte sich durchsetzen, und das Theaterverbot blieb im reformierten Zürich bis Anfang des 18. Jahrhunderts bestehen, obwohl es immer wieder zu Konfrontationen zwischen Geistlichkeit und Rat der Stadt kam.141 Es scheint allzu nahe zu liegen, die verschiedenen Einstellungen zum Theater den verschiedenen Konfessionen zuzuordnen und das Ende der geistlichen Spiele eben der Reformation zuzuschreiben. Die historische Realität stellt sich bei näherer Betrachtung aber differenziert dar: auch wenn es gilt, dass Calvinisten, Puritaner und Pietisten im allgemeinen theaterfeindlich eingestellt waren,142 so ist doch festzuhalten, dass es nicht nur unter den Puritanern, sondern auch unter ihren Gegnern, anglikanischen Geistlichen, Kritiker des Theaters gab,143 und dass die Argumente der Pietis­ ten „austauschbar“ waren und sich z. B. auch bei den Calvinisten in der Schweiz finden;144 vor allem aber ist festzustellen, dass es unter den Lutheranern ganz verschiedene Einstellungen gab – Verteidiger wie Kritiker des Theaters, was sich eben 139 Breitinger, Bedencken, 23. 140 Breitinger, Bedencken, 41. 141 Siehe Brunnschweiler, Theaterfeindlichkeit, 204. Vgl. auch Metz, Das protestantische Drama, 289ff. 142 Siehe Diebel, Theaterfeindlichkeit protestantischer Geistlicher, 198; Barish, The antitheatrical Prejudice, 89; Jahn, Die Sinne und die Oper, 126. 143 Siehe Barish, The Antitheatrical Prejudice, 82. 144 Jahn, Die Sinne und die Oper, 127.

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daraus erklärt, dass Luther selbst „ein entspanntes Verhältnis zur dramatischen Darstellung biblischer Stoffe“ hatte, die er allerdings auf eine didaktische Funktion reduziert und nicht auf die Passion Christi selbst angewandt wissen wollte.145 So konnte sich ja auch ein „evangelisches geistliches Theater“ entwickeln, ebenso wie das Jesuitentheater auf die belehrende Funktion reduziert und einer wirksamen theologischen Kontrolle unterworfen.146 Wenn protestantische Geistliche sich die „Munition“ für ihre Theaterkritik bei Katholiken holten, nicht bei Luther, so ist dies nicht unbedingt zu den „‚Treppenwitzen‘ der Weltgeschichte“ zu zählen,147 weist aber darauf hin, dass es eben nicht in der Zugehörigkeit zu konfessionellen Lehrmeinungen lag, sondern „im Ermessen der eigenen Persönlichkeit, sich pro oder contra Theater zu entscheiden“.148 Solche Unterschiede können nicht mit den Begriffen „Religion“ oder „Konfession“ erfasst werden, sondern eher mit dem Begriff der „Religiosität“, in Anknüpfung an die von Harvey Whitehouse eingeführte Unterscheidung von „doktrinaler“ und „imagistischer Religiosität“: letztere ist charakterisiert durch hohe Emotionalität (emotional arousal) bei geringer Frequenz der rituellen Wiederholung, was sicherlich für die Passionsspiele des späten Mittelalters gelten würde, im Gegensatz zu der Messliturgie mit ihrer höheren Frequenz bei entsprechend schwächerer emotionaler Beteiligung.

Die doktrinale Religiosität impliziert, Whitehouse zufolge, die Gefahr der Langeweile, und so müssen Strategien entwickelt werden, diesem „tedium effect“ entgegenzuwirken.149 Im Mittelalter hatte es schon Versuche gegeben, „imagistische“ Elemente in die Gestaltung des Gottesdienstes einzuführen – Honorius Augustodunensis (1080–1154) scheute sich nicht, den Liturgen, der im „Theater der Kirche“ (in theatro ecclesiae) auftritt, mit dem Tragödienschaupieler der Antike zu vergleichen.150 Solche Ansätze stießen aber immer wieder auf Kritik, wie schon der Streit zwischen Amalarius von Metz (775–850) und Florus von Lyon im 9. Jahrhundert zeigt. Amalarius hatte eine allegorische Deutung der Liturgie entwickelt und jedem Element eine zusätzliche Bedeutung zugeschrieben, die ihm geeignet erschien, ein Ereignis der Heilsgeschichte in Erinnerung zu rufen. So sollte z. B. der Einzug des Bischofs in die Kirche – also die Bewegung im heiligen Raum – zugleich als Ein-

145 Freise, Geistliche Spiele, 67. Vgl. auch Metz, Das protestantische Drama, 123–126; 131f. 146 Siehe dazu Metz, Das protestantische Drama, 817–819. 147 So Diebel, Theaterfeindlichkeit, 198. 148 Diebel, ebda, 204. 149 Siehe Whitehouse, Modes of Religiosity, 66f. 150 Gemma animae I, 83. Vgl. dazu Berner, Auferstehungs- und Unsterblichkeitsglaube, 277–280; ders., Anticipation and Representation, 123f.

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tritt Jesu in die Welt vorgestellt werden;151 und überhaupt sollte die Wirkung des Wortes verstärkt werden durch theatralische Elemente: durch Gestik und durch die Modulation der Stimme. Dieser Ansatz, der sich in der Folgezeit durchsetzte und schließlich zur Entstehung der geistlichen Spiele führte, stieß aber bei Zeitgenossen, wie z. B. bei Agobard von Lyon und Florus von Lyon, auf schärfste Kritik, so dass Amalarius sogar als Häretiker angeklagt wurde. Auch wenn politische Interessen und Gegensätze dabei eine große Rolle spielten,152 so hat Warning doch mit Recht den religiösen Gegensatz betont: mit Amalarius beginne „ein Prozeß unvermerkter Mythisierung der Heilsereignisse“, der „das Kerygma in eine mythisch-archetypische Dimension“ zurückspielt, ein Prozess, der in den Passionsspielen des späten Mittelalters einen Höhepunkt erreicht.153 Allerdings sind die Begriffe „Kerygma“ und „Mythos“ nicht unproblematisch, insofern als sie den Eindruck einer normativ-theologischen Beurteilung nahelegen können. Es wäre deshalb besser, die Begrifflichkeit von Harvey Whitehouse aufzugreifen und den Streit zwischen Ama­ larius und Florus als den Gegensatz zwischen verschiedenen Arten der Religiosität – imagistisch und doktrinal – zu beschreiben.154 Dieser Sichtweise kommt JanDirk Müller nahe, wenn er feststellt: „Amalars Versuch klagt die Beteiligung der Sinne am Kult gegen dessen abstrakt theologische Bedeutung ein; deshalb ist er so erfolgreich, …“.155 Exkurs: Passionsspiele im Islam? Die Taʿziyeh im Iran Im 19. Jahrhundert berichteten europäische Reisende über Theater-Aufführungen, die sie im Iran gesehen hätten. Einen solchen Bericht, verfasst vom Grafen Gobineau, las der englische Literaturkritiker Matthew Arnold, und er fühlte sich spontan an die Passionsspiele von Oberammergau erinnert, die er aus eigener Anschauung kannte. So fühlte er sich zu einem Vergleich herausgefordert, in dem er zu dem Ergebnis kam, dass das Christentum, und hier schon das Alte Testament, dem Islam und dem Koran überlegen sei, dass die Vergleichbarkeit der Motive aber darauf hindeute, „that Jesus Christ was indeed, what Christians call him, the desire of all nations“.156 Es ist weniger das theologische Urteil Arnolds, das dieses Dokument interessant erscheinen lässt, als vielmehr sein Ansatz zu einem interkulturellen Vergleich, der auf einer ausführlichen Beschreibung der verglichenen Phänomene mit Angabe der Quellen beruht. 151 Liber officialis. Prooemium III,5,1. Vgl. dazu Berner, Auferstehungs- und Unsterblichkeitsglaube, 275–277; ders., Anticipation and Representation, 122f. 152 Dies betont Zechiel-Eckes, Florus von Lyon, 61–71: „Liturgischer Schulgegensatz oder kirchenpolitischer Konflikt?“ 153 Warning, Ambivalenzen des geistlichen Spiels, 49. Zur Verwendung der Begriffe „Kerygma“ und „Mythos“ vgl. ders., Alterity of Medieval Religious Drama, 277. 154 Siehe Berner. Anticipation and Representation, 121–123. 155 Müller, Realpräsenz und Repräsentation, 121. 156 Siehe Arnold, A Persian Passion Play, 39.

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Im Hinblick auf Oberammergau gab Arnold nur eine kurze Beschreibung, in der Annahme, dass diese Spiele allgemein bekannt seien. Wichtig erschien ihm hier vor allem die interkonfessionelle Zusammensetzung des Publikums, die er als Ausdruck eines erweiterten und vertieften Religionsverständnisses deutet. Ausführlich ist dagegen sein Bericht über den Inhalt und die Organisation des „persischen Passionsspiels“, das er der englischen Öffentlichkeit damit zugänglich machen will: Gobineau habe es mit dem griechischen Drama auf eine Stufe gestellt: „as a great and serious affair, engaging the heart and life of the people who have given birth to it“; er selbst sei allerdings der Meinung, dass die Passionsspiele von Oberammergau eine bessere Parallele seien.157 In den Theater-Aufführungen, die im Iran des 19. Jahrhunderts einen Höhepunkt hatten und die dort als Taʿziyeh bezeichnet werden, geht es um eine Episode aus der Frühgeschichte des Islams: der Tod Husseins, des Propheten-Enkels, in der Schlacht bei Kerbela, im Kampf gegen den Kalifen Yazid.158 Es geht also um jene Episode, die zu der Spaltung in Sunna und Schi’a führte. Aus der Sicht der Schiiten war dies ein Märtyrertod, den Hussein, der einzig legitime Nachfolger des Propheten, freiwillig auf sich genommen hatte. Das Leiden Husseins und seiner Familie, im aussichtslosen Kampf gegen das zahlenmäßig weit überlegene Heer des ungerechten Kalifen, war schon früh zum Gegenstand von Trauer-Riten im Bereich des schiitischen Islams geworden, im 18. oder 19. Jahrhundert schließlich zum Gegenstand von Theater-Aufführungen.159 Das Motiv des freiwilligen Leidens war für die europäischen Beobachter ein Ansatzpunkt, von „Passionsspielen“ zu sprechen. Dieser Sprachgebrauch ist auch in die neuere Forschung zur Taʿziyeh eingegangen. So spricht z. B. Armin Tous von Passionsspielen, Passionszeit, Passionsgeschichte und Passionsritualen im (schiitischen) Islam.160 Damit ist ein Ansatzpunkt für Vergleiche im Rahmen der Literaturwissenschaft und auch in der Religionswissenschaft gegeben, die aber bisher nur selten wahrgenommen und anhand von Beispielen realisiert worden sind. Der Germanist Ulrich Barton hat in einem Anhang seiner Dissertation, die dem Vergleich von griechischer Tragödie und mittelalterlichem Passionsspiel gewidmet ist, den Vergleich mit dem schiitischen Passionsspiel angedeutet: er sieht darin eine „Theatertradition“, die „nicht unerwähnt bleiben darf, weil sie derjenigen der mittelalterlichen Passionsspiele so verblüffend nahe kommt und für die auch bereits Überschneidungspunkte mit der griechischen Tragödie festgestellt wurden“.161 Im Hinblick auf die Inszenierungsbedingungen hat Barton eine Liste der Gemeinsamkeiten von schiitischen und christlichen Passionsspielen aufgestellt, von denen als die wichtigsten hier nur drei genannt werden sollen: 157 Arnold, ebda, 18f. 158 Zum historischen Hintergrund vgl. Müller, Studien, 23–43; Chelkowski, Taʿziyeh. 159 Kermani, Die Wahrheit des Theaters, 167, zufolge stammt der früheste Beleg aus dem Jahre 1811. 160 Siehe Tous, Geschichte und Aufführung, 21–30; vgl. auch Kermani, Katharsis und Verfremdung; ders., Die Wahrheit des Theaters. 161 Barton, eleos und compassio, 319. Vgl. dazu Müller, Studien zum persischen Passionsspiel, 156f.

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Die Rollendistanz – die Darsteller repräsentieren nur, identifizieren sich nicht; Ein Spielleiter ist anwesend und kann die Handlungen kommentieren; Die Darsteller können Appelle an das Publikum richten. Gemeinsam ist auch und vor allem die Intention – sowie die dafür eingesetzten Strategien –, Mitleid zu erregen. Wenn es in den schiitischen Passionsspielen das Motiv gibt, dass die Zuschauer dem Märtyrer zu Mitleid und Dank verpflichtet sind, weil dieser „für sie“ gestorben ist, und wenn dieses Mitleid während der Aufführung als eine heilswirksame Leistung gilt, dann erscheint die Behauptung einer „verblüffenden“ Nähe der beiden Theatertraditionen durchaus plausibel.162 In einer der Text-Versionen des „Martyriums von Hussayn“, wird das Publikum direkt angesprochen – eine Schar von Engeln singt, an das Mitleid der Zuschauer appellierend:163 O Schiiten, für euch gibt der König des Ostens und Westens, Der im Schosse von Gottes Gesandten aufgezogene Husayn, Sein Haupt – Husayn, der Sohn Alis, o Anhänger, Für euch, Freunde, liebende Schiiten! Warum sitzt ihr alle ruhig da, Männer und Frauen? Schlagt euch den Kopf in Trauer um diesen durch Leiden Getöteten. Das „für euch (gelitten und gestorben)“ legt die Frage nahe, ob es nicht nur um ein „vorbildliches Leiden“ geht – diesen Aspekt hat der Religionshistoriker Christoph Auffarth thematisiert –,164 sondern auch um ein erlösendes Leiden, wie es aus dem Christentum bekannt ist. Es gibt Anhaltspunkte, die den Schluss nahelegen, dass es im Bereich des (schiitischen) Islams tatsächlich eine solche Vorstellung gegeben hat, so dass gerade in dieser Hinsicht eine Vergleichbarkeit christlicher und schiitischer Passionsspiele gegeben ist. Diese Auffassung hat schon Hildegard Müller in ihrer Dissertation vertreten: es gebe „sogar eine Reihe von Passionsspielen um Husain, in deren Schlussakt Gericht und Auferstehung unter Hervorhebung der überragenden Mittlerrolle Husains in breiter Darstellung vergegenwärtigt werden. … wenn auch die Apotheose nicht mehr im Schauspiel selbst erscheint, so ist dieses doch auf Husains Mittlerrolle gegenüber Gott und auf sein erlösendes Leiden hin orientiert.“165 William Beeman spricht davon, dass Hussein in der Volksreligion zu einer Christus-ähnlichen Gestalt (a kind of Christ figure) geworden ist, und er zitiert eine Studie des Ethnologen Reinhold Löffler, der berichtet habe, einige Schiiten wür162 Siehe Barton, eleos und compassio, 320–325. 163 Zitiert nach Monchi-Zadeh, Das persische Passionsspiel, 102. 164 Siehe Auffarth, Vorbildliches Leiden – ist das spezifisch christlich? 165 Müller, Das persische Passionsspiel, 157. Zur Deutung des Martyriums Husseins als vorherbestimmtes, kosmisches Ereignis und als „redemptive suffering“ vgl. auch Ayoub, Redemptive Suffering in Islam, 141f.

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den so weit gehen, „as to say something akin to „Imam Hossein died for our sins.“166 Tatsächlich zitiert Löffler aus einem der Interviews, die er im Iran geführt hat, die individuelle Auffassung eines gläubigen Muslims, dass Hussein eigentlich unüberwindbar gewesen sei, das Martyrium aber freiwillig auf sich genommen habe, was eine erlösende Funktion für die Gläubigen habe:167 For the sake of this innocently shed blood they will be pardoned on the Day of Judgement: this people of the shi’ah of the Amir al-Muminin, the people of the Prophet – all of them. Auch der Begiff des Opfers begegnet in diesem Zusammenhang, bezogen auf den freiwilligen Tod Husseins:168 On the last Day, when all the dead are brought before God, the Imam will come and say, „Oh God, I have given my head as sacrifice to your cause. You have to pardon those who are my people and who love me.“ Auch im Hinblick auf den Islam erscheint auf den ersten Blick die Annahme naheliegend, dass die verschiedenen Einstellungen zum Theater auf die verschiedenen Konfessionen verteilt sind – dass ein islamisch-religiöses Theater sich nur bei den Schiiten entwickelt hat, nicht bei den Sunniten.169 Wie im Falle des Christentums stellt sich die Sache bei näherem Hinsehen aber differenziert dar: schon Matthew Arnold berichtet, wenn auch nur auf der Grundlage des Berichtes von Gobineau, dass schiitische Religionsgelehrte die Passionsspiele ablehnen: aus der Sicht der „Moollahs, or regular ecclesiastical authorities“ seien die Passionsspiele eine „Innovation“, die sie ablehnen und für gefährlich halten.170 Im 19. Jahrhundert wurden die Passionsspiele im Iran von der Regierung in politischem Interesse gefördert, so dass eine öffentliche einhellige Ablehnung eigentlich nicht zu erwarten war.171 Doch gab es offensichtlich auch in dieser Zeit verschiedene Meinungen unter den Religionsgelehrten im Iran und einen kritischen Diskurs – ein Hinweis darauf findet sich in einem Werk aus dem Jahr 1818/19, in dem die Frage erörtert wird: „Is it lawful on the days of Ashura to play the roles of the Imam or the enemies of the Family of the Prophet in order to induce the people to weeping?“172 Auch wenn der Verfasser dieses Werkes zu einer positiven Antwort kam, blieb seine Auffassung schon im 19. Jahrhundert nicht unbestritten, und im 166 Beeman, Iranian Performance Traditions, 204. 167 Löffler, Islam in Practice, 42. Vgl. ebda, 98; 109; 177. 168 Löffler, ebda, 159. 169 Forough betont stark den national-iranischen Charakter der schiitischen Passionsspiele (A Comparative Study of Abraham’s Sacrifice, 65). 170 Arnold, A Persian Passion Play, 24. Ebenso Müller, Das persische Passionsspiel, 53f. 171 Siehe Aghaie, The Martyrs of Karbala, 18. 172 Aghaie, ebda, 17.

Zusammenfassung und Ausblick

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20. Jahrhundert wurden die kritischen Stimmen lauter.173 Der bekannte iranische Autor Navid Kermani gibt eine Interpretation dieser Kritik, die an den kritischen Theaterdiskurs in Europa erinnert: „Die meisten Theologen müssen spüren, daß es nicht religiöse Erbauung, sondern sinnliche Trieb- und Gefühlsentladung ist, die von vielen Zuschauern gesucht wird, eben jener schon in der Antike analysierte kathartische Rausch. Wohl auch deshalb lehnt ein Teil des schiitischen Klerus diesen Aspekt der Volksreligiosität seit jeher ab.“174 Eine autobiographische Reminiszenz dieses iranisch-deutschen Autors ist noch einmal ein deutlicher Hinweis auf die Diversität innerhalb der Schi’a: „genau dieser Aspekt der Schia“, so erinnert sich Kermani, habe keine Rolle gespielt „in Grossvaters Glauben, der mehr als jeder andere Bezugspunkt meine eigene religiöse Erziehung bestimmt hat“; dieser Aspekt sei sogar „als Volks- und Aberglaube abgelehnt“ worden.175 Die Begriffe „Volksglaube“ und „Aberglaube“ haben allerdings eine normative Bedeutung, sollten also nicht als deskriptive religionswissenschaftliche Kategorien verwendet werden. Als Beschreibung bieten sich wieder die von Harvey Whitehouse eingeführten Kategorien der „modes of religiosity“ an: wie in den christlichen dominieren auch in den schiitischen Passionsspielen die imagistischen Elemente, die eben auch im islamischen Kontext von Vertretern der doktrinalen Religiosität mit Misstrauen betrachtet und manchmal abgelehnt werden.

3.4 Zusammenfassung und Ausblick Die Beispiele aus der europäischen Geschichte – sowie das Beispiel aus dem Exkurs zur außereuropäischen Geschichte – haben deutlich gemacht, dass es eine Überschneidung im Gegenstandsbereich von Religionswissenschaft und Theaterwissenschaft gibt: die antiken Tragödien wie die christlichen und die schiitischen Passions­ spiele können als „Theater in der Religion“ betrachtet werden und sind deshalb Gegenstand beider Disziplinen. Von einer interdisziplinären Kooperation könnte die Religionswissenschaft, die sich bisher relativ wenig mit diesem Gegenstand beschäftigt hat, sicherlich noch profitieren – auch in dem „Studienbuch“ zur Europäischen Religionsgeschichte gibt es keinen Beitrag zum „religiösen Theater“ oder zu „geistlichen Spielen“. 173 Siehe Aghaie, ebda, 17/18. Vgl. Beeman, Iranian Performance Traditions, 202f, über Kritik von Seiten der schiitischen Geistlichkeit im Iran. 174 Kermani, Die Wahrheit des Theaters, 179. Vgl. ebda 187 die Bemerkung, dass „die Theologen den Trauerzeremonien ohnehin ablehnend gegenüberstanden“. 175 Kermanis Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung 14. März 2009; zitiert nach Auffarth, Vorbildliches Leiden, 199.

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Aus der Sicht der Theaterwissenschaft ist das Verhältnis von Theater und Religion in den westlichen Kulturen beschrieben worden als eine „widersprüchliche Beziehung der gegenseitigen Verkennung, der Verwandtschaft und der Rivalität“.176 Der Begriff der Rivalität legt die Frage nahe, ob es auch sinnvoll sein könnte, vom „Theater als Religion“ zu sprechen. Das würde bedeuten, dass die Religionswissenschaft ihren Gegenstandsbereich erweitern und nicht nur die institutionalisierten Religionen – und das „Theater in der Religion“ – in den Blick nehmen müsste, sondern auch solche Werke, die üblicherweise der säkularen Theatergeschichte zugerechnet werden. Ein Beitrag zu diesem Thema findet sich in einem Werk der klassischen Religionsphänomenologie. Gerardus van der Leeuw hatte neben der vieldiskutierten – und viel kritisierten – „Phänomenologie der Religion“ auch ein Buch zum Verhältnis von Religion und Kunst geschrieben, und darin hatte er sich auch zur „Feindschaft zwischen Religion und Theater“ geäußert.177 Er illustriert diese „Feindschaft“ durch einen Hinweis auf Streitigkeiten in Amsterdam, die dem oben erwähnten „Hamburger Theaterstreit“ vergleichbar sind. Den „Widerstand der christlichen Kirche gegen das Theater“ erklärt er aus dem geschichtlichen Erbe: das frühe Christentum sei im römischen Reich ja nicht auf die klassische Tragödie und Komödie gestoßen, sondern auf mimus und pantomimus, die ältesten, aber „am wenigsten erhabenen Formen“ des Theaters, und so seien eigentlich zwei Religionen aufeinander geprallt: „die alte Fruchtbarkeitsreligion des Sacer Ludus mit ihrer Offenherzigkeit und ihren sexuellen Symbolen, und die neue asketische des Christentums.“178 Neben der Feindschaft sieht v. d. Leeuw aber auch einige Momente der „Harmonie“, der „Berührung zwischen Religion und dramatischer Kunst“. So kann er z. B. die „religiöse Bedeutung“ des Werkes von Henrik Ibsen würdigen, und er denkt dabei nicht etwa an die „sog. ‚christlichen‘ Elemente der ältesten Teile seines Werkes“. Die religiöse Bedeutung sieht er vielmehr in der „überwältigenden Kraft, in dem verblüffenden Pathos seiner Handlungen, … Und es ist uns, als könnten wir mit Hilfe der Dramen Ibsens einen Blick werfen in das Drama Gottes.“179 Es ist der Religionsbegriff Rudolf Ottos – die Fokussierung auf das ambivalente „numinose“ Gefühl, das der religiöse Mensch (und nur dieser) als Erlebnis des Heiligen deutet –, der es dem Phänomenologen v. d. Leeuw ermöglicht, religiöse Phänomene auch außerhalb der Religionen zu erkennen. So hat er „das Lob der Oper“ gesungen, weil ihm „merkwürdigerweise“ in der Oper „das religiöse Wesen der Musik am stärksten zum Bewußtsein“ komme,180 und in diesem Bereich sind es nicht etwa die eindeutig religiösen Themen oder gar der „religiöse Anlaß eines Kunstwerkes“, die er als Auslöser nennt. Im Hinblick auf das „Champagnerlied“ aus 176 Primavesi, Theater und Religion, 53. 177 v. d. Leeuw, Vom Heiligen in der Kunst, 106–113. 178 v. d. Leeuw, ebda, 107. 179 v. d. Leeuw, ebda, 118. 180 v. d. Leeuw, ebda, 259f.

Zusammenfassung und Ausblick

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Mozarts „Don Giovanni“ stellt er fest: „Wenn es darauf ankommt, ist das „letzte Wort“ über Champagner dem Worte Gottes näher als ein leeres Wort über Gott.“181 Der phänomenologische Ansatz, der durch die „kulturwissenschaftliche Wende“ der neueren Religionswissenschaft fast in Vergessenheit geraten ist, erscheint also durchaus als geeignet, den Blick auf die ganze Breite der kulturellen Phänomene zu öffnen. Die Verbindung mit der Theologie – der zentrale Kritikpunkt in der Abwendung von der Religionsphänomenologie – stellt sich jedenfalls in diesem Werk v. d. Leeuws nicht als problematisch dar, insofern als er seine theologische Beurteilung jeweils in einem besonderen, abschließenden Abschnitt als solche gekennzeichnet hat, wie z. B. in dem Abschnitt „Theologische Ästhetik des Dramas“.

Dort finden sich dann allerdings eindeutig normative Aussagen, wie z. B. die Feststellung, die Renaissance haben „einen fatalen Einfluß auf die Liturgie ausgeübt“, die zu seiner eigenen, theologischen Deutung des Dramas „zwischen Gott und den Menschen“ überleiten.182 Aus der Sicht der neueren, kritischen Religionswissenschaft kann diese theologische Deutung der Phänomene einfach ignoriert oder auch wiederum zum Gegenstand gemacht werden. Eine kritische Betrachtung würde in erster Linie feststellen müssen, dass v. d. Leeuws phänomenologischer Ansatz den Kontext und damit die ganze Ideologie-Problematik vernachlässigt, so dass er z. B. die Möglichkeiten einer politischen Instrumentalisierung des religiösen Theaters, sei es im mittelalterlichen Europa oder im modernen Iran, nicht in den Blick nehmen würde. Im Hinblick auf die Entwicklung des modernen Theaters, die v. d. Leeuw nicht mehr verfolgen konnte, sind wiederum von Seiten der Theaterwissenschaft einige Beobachtungen gemacht worden, die für die Religionswissenschaft von Interesse sind. Navid Kermani vergleicht das schiitische Passionsspiel mit dem „epischen“ Theater von Bertolt Brecht und stellt fest, dass es eine Übereinstimmung in der Intention der „Verfremdung“ gibt: dabei geht es „um die bewußte und zur Schau gestellte Aufrechterhaltung der Distanz von Schauspieler und Rolle“; dieses Prinzip der Verfremdung, wie es von Brecht genannt wurde, zeige sich im schiitischen Passions­spiel z. B. darin, „daß die Schauspieler oft ein Textbuch in der Hand halten“.183 Kermani sieht diese Übereinstimmung allerdings nur auf einer formalen Ebene und behauptet, im schiitischen Passionsspiel fehle die Intention der Gesellschaftskritik, die mit dem Verfremdungsprinzip im Sinne Brechts verbunden sei.184 In seiner späteren Darstellung bemerkt er allerdings, dass die Passionsspiele im 20. Jahrhundert, 181 v. d. Leeuw, ebda, 233f. 182 v. d. Leeuw, ebda, 119. 183 Kermani, Katharsis und Verfremdung, 35; ders., Die Wahrheit des Theaters, 169. 184 Kermani, Katharsis und Verfremdung, 58f; Die Wahrheit des Theaters, 188f.

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als sie von der Staatsmacht unterdrückt wurden, „oft einen politisch-­oppositionellen Charakter“ erhielten.185 Dieser Gesichtspunkt ist für die Religionswissenschaft von größtem Interesse: gerade durch die Erregung von Mitleid, wie es in den (schiitischen wie in den christlichen) Passionsspielen intendiert wird, kann das religiöse Theater in verschiedenen Richtungen politisch instrumentalisiert werden und stabilisierend wie destabilisierend wirken, je nachdem ob die Aggression auf äußere oder innere Feinde der Gesellschaft gelenkt wird.

Kermani vergleicht das schiitische Passionsspiel außerdem mit dem „Theater der Grausamkeit“ von Antonin Artaud (1896–1948) und entdeckt damit auch auf einer inhaltlichen Ebene einige Übereinstimmungen zwischen einer traditionell-religiösen und einer modernen, säkularen Form des Theaters.186 Aus diesen Vergleichen ergibt sich für die Religionswissenschaft die Anregung, nach den „Transformationen des Religiösen“ in der gegenwärtigen Kultur zu fragen, wie es in der Theaterwissenschaft bereits unternommen worden ist: so verweist z. B. Jens Roselt u. a. auf den Regisseur Peter Brook und dessen Rede vom „Heiligen Theater“; er hätte auch noch erwähnen können, dass dieser Regisseur tief beeindruckt war von den schiitischen Passionsspielen, die er im Iran erlebt hatte.187 Unter den Beispielen der „Transformationen des Religiösen im zeitgenössischen Theater“ nennt Roselt auch ein Werk „der charismatischen Nervensäge Christoph Schlingensief “: die Aktion „Passion impossible – 7 Tage Notruf für Deutschland. Eine Bahnhofsmission“ aus dem Jahr 1997.188 Schlingensief hatte auch durch seine Parsifal-Inszenierung in Bayreuth Aufsehen erregt, als er Motive aus verschiedenen Religionen und Kulten, wie z. B. aus dem Voodoo, in seine Inszenierung integrierte. Schlingensiefs Auseinandersetzung mit Richard Wagner und Bayreuth kann wiederum als ein Ausgangspunkt dienen, den Blick auf die religiösen Motive im Musiktheater des 19. Jahrhunderts zu richten. Als Richard Wagner am „Parsifal“, seinem letzten Musikdrama arbeitete, schrieb er auch eine theoretische Abhandlung über „Religion und Kunst“, die er mit der These eröffnete, „daß da, wo die Religion künstlich wird“ – und dieses kritische Urteil erschien ihm eben als für seine Zeit zutreffend –, „der Kunst es vorbehalten sei den Kern der Religion zu retten“.189 Wagners „Parsifal“ könnte also, zumindest im Hinblick auf die Intention des Komponisten, als religiöses Musikdrama bezeichnet werden, und zwar in dem engeren Sinne von „Theater als Religion“, nicht „Theater in der Religion“. Und diese Bezeichnung 185 Kermani, Die Wahrheit des Theaters, 182. Vgl. dazu auch Dabashi, Theatre of Protest, 181. 186 Kermani, Katharsis und Verfremdung, 47–55; Die Wahrheit des Theaters, 180–183. 187 Roselt, Transformationen des Religiösen, 265. Vgl. dazu Kermani, Katharsis und Verfremdung, 43f. 188 Roselt, ebda, 277. 189 Richard Wagner, Religion und Kunst, 211.

Zusammenfassung und Ausblick

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erscheint auch sinnvoll im Hinblick auf die Rezeption des Werkes, wie sie sich z. B. im Zeugnis von Franz Liszt spiegelt: der „Parsifal“ sei „mehr als ein Meisterwerk“, er sei „eine Offenbarung im Musikdrama“.190 Dieser religiöse Anspruch des Wagnerschen Musikdramas konnte allerdings auch diametral entgegengesetzte Reaktionen hervorrufen, wie im Falle des russischen Komponisten Igor Strawinsky, der nach einem Bayreuth-Besuch zu dem Urteil kam, es sei „entschieden an der Zeit, mit der unzulänglichen und frevelhaften Auffassung der Kunst als Religion und des Theaters als Tempel ein für allemal aufzuräumen“ – ein Urteil, das in einer Linie steht mit der Theaterkritik mittelalterlicher Theologen.191 Strawinskys Protest gegen das Wagnersche Musikdrama in Bayreuth ist aber eigentlich nur eine indirekte Bestätigung der Sichtweise, dass die Kunst hier, der Intention Wagners entsprechend, die Funktion der Religion übernommen hatte. Im Blick auf Wagner und Bayreuth können abschließend zwei Fragen erörtert werden: Zum Einen die Frage nach der „Entzauberung“ und „Wiederverzauberung der Welt“, wie sie in der Auseinandersetzung mit Max Weber diskutiert worden ist, zum Andern die Frage nach Sinn und Grenze der klassischen Religionsphänomenologie, wie sie in der Auseinandersetzung mit Gerardus v. d. Leeuw diskutiert worden ist. Max Weber hat ebenfalls Bayreuth besucht, im Jahre 1912, und anschließend hat er sich über den „Parsifal“ geäußert, also gerade über jenes Werk Wagners, das am ehesten die Bezeichnung „religiöses Theater“ verdienen würde. Im Unterschied zu Liszt auf der einen und Strawinsky auf der anderen Seite, zeigte Weber sich aber völlig unbeeindruckt: „Und die Anmaßung, daß man dies als ein religiöses „Erlebnis“ empfangen und auf sich wirken lassen solle, lehnt man natürlich ab. Das ist einfach lächerlich.“192 Dieses Urteil Webers ist relevant für den modernen Diskurs über die „Wiederverzauberung der Welt“: die in der Einleitung zitierte Kritik, dass Webers Rede von der „Entzauberung der Welt“ nur einen Teil der Wirklichkeit beschreibe, erscheint berechtigt im Hinblick auf die Wagner-Rezeption im 20. Jahrhundert, und zwar gerade während der Herrschaft des Nationalsozialismus. Weber hat zwar von Wagner – zu dem er ein „sehr zwiespältiges Verhältnis“ hatte – als dem „großen Hexenmeister“ gesprochen, doch hat er offensichtlich nicht an die Möglichkeit gedacht, dass dieser „Hexenmeister“ im Bereich des (Musik)theaters eine gegenläufige Entwicklung einleiten könnte, die gleichzeitig mit der „Entzauberung“ der Welt durch die Wissenschaft eine „Wiederverzauberung“ durch die Kunst bewirkt. Von Seiten der Theaterwissenschaft ist, im Hinblick auf das postmoderne Theater, explizit von einer „Wiederverzauberung der Welt“ gesprochen und auf eine parallele, zeitlich verzögerte Entwicklung in der Wissenschaft selbst hingewiesen worden.193 190 Vgl. dazu Berner, Wagner und Bayreuth, 191. 191 Strawinsky, Mein Leben, 34. Vgl. dazu Berner, Wagner und Bayreuth, 190. 192 Max Webers Brief an seine Mutter, vom 14.8.1912. 193 Siehe Fischer-Lichte, Die Wiederverzauberung der Welt, 42f.

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Religion und Kunst

Der Blick auf die Wagner-Rezeption durch den Nationalsozialismus ist besonders gut dazu geeignet, die Grenze des religionsphänomenologischen Ansatzes noch einmal deutlich zu machen: Gerardus v. d. Leeuw hat zwar mit Recht Werke des Musiktheaters, und hier unter anderem gerade Wagners „Parsifal“, als religiöse Phänomene betrachtet und damit den Gegenstandsbereich der Religionswissenschaft erweitert; gerade am Beispiel Wagners zeigt sich aber die Begrenztheit seines methodischen Ansatzes, der die religiösen Phänomene isoliert und den historischen Kontext unberücksichtigt lässt, wie in diesem Falle die politische Instrumentalisierung der Kunst/Religion Wagners im Nationalsozialismus. Zur Kontextualisierung der Phänomene würde es auch gehören, die ökonomischen Aspekte wahrzunehmen – ohne das Mäzenatentum des bayerischen Königs hätte Wagner sein Festspielprojekt ja nicht verwirklichen können, und so ist die Religionsgeschichte, wie sich an diesem Beispiel aus dem 19./20. Jahrhundert zeigt, nie von den politischen und ökonomischen Bedingungen ihrer Entwicklung zu trennen. Unter dem Vorbehalt, dass die Dekontextualisierung der Phänomene vermieden wird, kann der phänomenologische Ansatz gerade nach der „kulturwissenschaftlichen Wende“ in der Religionswissenschaft dazu verwendet werden, die „Transformationen des Religiösen“ weiterhin zu erforschen.194 In der Theologie gibt es einen vergleichbaren, kulturgeschichtlichen Ansatz, der Kunst, Literatur und Musik in die Betrachtung einbezieht, allerdings nur auf die „Transformationen des Christentums in der Moderne“ bezogen.195

Zur (europäischen) Religionsgeschichte des 20. Jahrhunderts würden auch die reli­giösen Theaterkonzeptionen zu rechnen sein, die z. T., wie z. B. Adolphe Appia (1862–1928), gerade an Richard Wagners Theaterreform anknüpften.196 Als ein Dokument der Religionsgeschichte des 20. Jahrhunderts wäre z. B. auch das Werk des jüdischen Komponisten Arnold Schönberg zu nennen, der zunächst nur als ein Revolutionär in der Musik bekannt war, dann aber, nach seiner Re-Konversion zum Judentum, mit seiner Oper „Mose und Aron“ eine ganz eigene Auslegung der „Mosaischen Unterscheidung“ gegeben hat.197 Aus dem Bereich der Kunst wäre z. B. das Werk des russischen Malers Wassili Kandinsky zu nennen, der zeitweise in einer engen Freundschaft mit Schönberg verbunden war: Kandinsky hat seine eigenen Bilder, besonders die ungegenständlichen, als „christliche Bilder“ bezeichnet, und er hat es als das „Ziel“ seiner Kunst benannt: „Licht vom Lichte, das fließende Licht der Gottheit, den Heiligen Geist zu verkünden“.198 194 Zur kulturwissenschaftlichen Wende vgl. Berner, Gegenstände der Religionswissenschaft, 54–63. 195 Lauster, Die Verzauberung der Welt, 616. 196 Siehe Hermann, Religiöse Theaterkonzeptionen, 290–294. 197 Vgl. dazu Assmann, Die Mosaische Unterscheidung in Schönbergs Oper. 198 So der Bericht seines Kollegen Lothar Schreyer: Erinnerungen, 233; 235.

Literatur

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Diese Verbindung zwischen moderner Kunst und Religion ist von Seiten der Kunstwissenschaft und der Theologie bearbeitet worden,199 wäre aber auch ein Thema der Religionswissenschaft. Letztere könnte die Perspektive sogar noch ausweiten auf andere, scheinbar weit entfernte, Bereiche der modernen Kultur, wie z. B. den (Extrem)Sport.200

Die Frage erscheint allerdings unumgänglich, ob eine solche Ausweitung der Perspektive den Religionsbegriff nicht allzu stark ausweitet und damit unbrauchbar macht. „Religion“ wird ja z. B. von dem Soziologen Rodney Stark enger definiert als „concerned with the supernatural“, und dieses wiederum noch näher bestimmt als die Vorstellung von Gott oder Göttern.201 Die Ausweitung der Perspektive erscheint aber doch vertretbar, wenn in Erinnerung gerufen wird, dass die Religionswissenschaft ja nicht eine theologische, sondern eine anthropologische Disziplin ist, es also (nur) mit dem Menschen zu tun hat; und dann gehören zum Gegenstandsbereich auch solche Aktivitäten und Gemeinschaftsbildungen, die als eine Alternative zum Leben in einer konventionell als „Religion“ bezeichneten Institution oder Tradition gewählt werden können. Der Religionshistoriker Jacques Waardenburg hatte schon vorgeschlagen, „in der gelebten Wirklichkeit religiöse Aspekte und ‚Religion‘ aufzuspüren und offenzulegen und diese dann auf ihre Bedeutung und Wirkung hin zu erforschen“.202 Ebenso hat Johann Figl den Gegenstandsbereich der Religionswissenschaft ausgeweitet und als „die Gesamtheit der Religionen und des Religiösen“ bestimmt. In beiden Bereichen, den institutionalisierten Religionen wie der „freischwebenden Religiosität“ geht es ja um Erfahrungen, die „die gewöhnliche (alltägliche) Erfahrungswelt transzendieren und als solche in einer letzten Bedeutsamkeit (ultimate concern) erlebt werden“.203 Literatur Quellen Aischylos. Tragödien und Fragmente. Herausgegeben und übersetzt von Oskar Werner, München 3. Aufl. 1980. Das Alsfelder Passionsspiel, in: Die Hessische Passionsspielgruppe. Edition im Paralleldruck. Herausgegeben von Johannes Janota. Bd. II Tübingen 2002. Amalarius von Metz: Amalarii episcopi opera liturgica omnia. Volume 2: Liber Officialis. Edited by Ioanne Michaele Hanssens, Citta del Vaticano 1948. 199 Siehe Ringbom, Mystik und gegenstandslose Malerei; Rombold, Kunst als Prophetie. 200 Vgl. dazu Berner, Initiationsriten und –motive, 24f; Gumbrecht, „Lost in Focused Intensity“. 201 Stark/Finke, Acts of Faith, 89f. 202 Waardenburg, Religionen und Religion, 247. 203 Figl, Religionsbegriff, 76.

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4 Religion und Philosophie Philosophische Ethik als Religion

4.1 Die Sokratische Wende: von der Naturphilosophie zur Ethik In der archaischen Epoche der griechischen Kultur gab es Ansätze zu einer Naturphilosophie, die eine Alternative zur mythischen Beschreibung der Naturprozesse darstellt. In seiner Ursachen-Lehre gibt Aristoteles einen Überblick über die Anfänge der Naturphilosophie und nennt Thales als den ersten der Philosophen, die vor ihm „über die Wahrheit philosophiert haben“ und die „von gewissen Prinzipien und Ursachen“ gesprochen haben:1 Thales, der Begründer dieser Art von Philosophie (…) sagt, das Wasser sei Prinzip, weshalb er auch erklärte, die Erde sei auf dem Wasser. Wahrscheinlich begründete er diese Annahme damit, daß er beobachtete, die Nahrung aller Lebewesen sei feucht … Der Eindruck, dass es sich hier wirklich um den „Anfang einer Alternative zur religiösen Erklärung“ der Naturphänomene handelt,2 wird bestätigt durch den Bericht bei Herodot, Thales habe eine Sonnenfinsternis vorausgesagt, die tatsächlich in dem Jahr stattfand, das er angegeben hatte.3 Die alternative, philosophische Naturbetrachtung konnte auch zur Religionskritik führen, indem die anthropomorphen Gottesvorstellungen kritisch betrachtet wurden. So werden von Xenophanes nicht nur naturphilosophische Thesen überliefert – „Denn alles aus Erde, und alles endet als Erde“ –,4 sondern auch kritische Bemerkungen über die Mythen und ihre Dichter:5 Homer und Hesiod haben die Götter mit allem belastet, was bei Menschen übelgenommen und getadelt wird: stehlen und ehebrechen und einander betrügen. Über den Naturphilosophen Anaxagoras schließlich wird berichtet, er sei wegen Unfrömmigkeit (Asebie) angeklagt worden: „wegen Asebie …, d. h. wegen seiner Äußerung, die Sonne sei eine glühende Metallmasse“.6 Eben dieser Vorwurf, naturphilosophische Theorien zu vertreten, die der traditionellen Religion widersprechen, wurde auch gegen Sokrates erhoben. Platon berichtet darüber in der „Apo1 2 3 4 5 6

Aristoteles Metaphysik A 3 (983 b) (Mansfeld, Nr. 10) Mansfeld, Die Vorsokratiker I, 15. Herodot I, 74 (Mansfeld, Nr. 2). Sextus Empiricus, adv. Math. X, 313 (Mansfeld, Nr. 2) Sextus Empiricus, adv. Math. IX, 193 (Mansfeld, Nr. 25) Diogenes Laertios II, 12.

Die Sokratische Wende: von der Naturphilosophie zur Ethik

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logie des Sokrates“: einer der Ankläger habe vor Gericht gesagt, Sokrates behaupte, „dass die Sonne aus Stein bestehe, und der Mond aus Erde“. Eben diesen Vorwurf habe Sokrates zurückgewiesen, indem er sich von dieser Art, Philosophie zu betreiben, distanziert habe: „Du bildest dir wohl ein, daß du Anaxagoras anklagst, …“.7 Cicero hat später die „Sokratische Wende“, als Abwendung von der Natur­ philosophie, anschaulich beschrieben:8 Sokrates aber rief als erster die Philosophie vom Himmel herab, machte sie in den Städten heimisch und führte sie sogar in die Häuser ein und zwang sie, über das Leben, die Sitten und die guten und schlechten Dinge Untersuchungen anzustellen. Diese „Wende“ war auch schon von Platon angesprochen worden, wenn er im „Phaidon“ Sokrates erzählen lässt, wie er sich zunächst mit Interesse der Philosophie des Anaxagoras zugewandt und sich dann enttäuscht davon abgewandt habe – weil eine Theorie über die materiellen Ursachen der Naturprozesse dem Menschen nicht hilft, „das Beste zu erkennen und das Schlechtere“.9 Konkret geht es im „Phaidon“ – dem letzten Gespräch zwischen Sokrates und seinen Schülern – darum, dass Sokrates es „für gerechter und schöner gehalten“ hat, das Todesurteil anzunehmen und nicht etwa zu versuchen, sich durch Flucht zu retten.10 Eine solche Entscheidung ist aber nicht aus naturphilosophischen Theorien abzuleiten, erfordert vielmehr eine eigene Art rationaler Begründung, wenn die Entscheidung nicht aus Quellen religiöser Offenbarung abgeleitet werden kann oder soll. So eröffnet sich ein besonderes Feld philosophischer Reflexion, die Ethik oder Moralphilosophie, die an die Stelle der Religion treten kann – wenn „Religion“ als Orientierungssystem definiert wird. Genau dies, ein Orientierungssystem, bietet aber die Philosophie, wenn ihr nach der sokratischen Wende die Aufgabe zugeschrieben wird, „das rechte Leben“ zu lehren.11 Zur Lehre vom rechten Leben gehört auch die Vorbereitung auf das Sterben, und eben diese Funktion erfüllt Platons Bericht über den Tod des Sokrates: der Tod wird als eine „Erlösung und Absonderung der Seele vom Leibe“ gedeutet,12 und die Möglichkeit dieser Trennung, also die Unsterblichkeit der Seele, wird in mehreren Argumentationsgängen bewiesen. Damit wird aber zugleich auch bewiesen, dass es nicht gegen die Vernunft ist, sondern vielmehr ein „schönes Wagnis“, an ein gerechtes Gericht nach dem Tode zu glauben.13 So soll die Philosophie den Menschen die Angst vor dem Tod nehmen, und sie soll die Menschen zugleich dazu anleiten, 7 8 9 10 11 12 13

Platon, Apologie, 26d. Cicero, Tusculanae disputationes V, 4 (10). Platon, Phaidon, 98b. Platon, Phaidon, 99a. Dihle, Philosophie als Lebenskunst, 5. Platon, Phaidon, 67d. Platon, Phaidon, 114d.

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Religion und Philosophie

ihr Leben so zu führen, dass sie vor dem Totengericht bestehen können, in dem sie nach ihren Taten gerichtet werden. Cicero hat diese doppelte Funktion der Philosophie in geradezu hymnischer Weise, wie an einen Gott gerichtet, beschrieben:14 … zu dir nehmen wir unsere Zuflucht, von dir erbitten wir Hilfe, dir vertrauen wir uns an, … Wessen Hilfe sollen wir also eher in Anspruch nehmen als die deine, die du uns Ruhe im Leben geschenkt und die Schrecken des Todes genommen hast? Die Philosophie als Orientierungssystem ist offen für die Verbindung mit anderen religiösen Elementen, wie z. B. mit der Einweihung in einen Mysterienkult, ein Ritus, der ebenfalls dazu dienen kann, dem Menschen die Angst vor dem Tod zu nehmen. So hat auch Cicero, der doch den Trost in der Philosophie suchte, wenn er von einem Schicksalsschlag getroffen wurde,15 in Erinnerung an die Einweihung in die eleusinischen Mysterien festgestellt, „dass wir daraus nicht nur ein besseres Leben gewinnen, sondern auch mit mehr Hoffnung in den Tod gehen“.16 Dasselbe gilt für Plutarch, der, nach einem ähnlichen Schicksalsschlag, in dem Trostbrief an seine Frau zwar in erster Linie auf philosophische (platonische) Theorien der Unsterblichkeit zurückgreift, daneben aber auch auf die gemeinsame Erinnerung an die Einweihung in einen Mysterienkult: den Glauben an die Unsterblichkeit aufzugeben, schreibt Plutarch, daran „hindert dich die von den Vätern überkommene Lehre, hindern dich die mystischen Formeln aus den geheimen Riten des Dionysos­kults,  …“.17 Das gilt auch z. B. für die Darstellung des Apollonios von Tyana, wie sie im 3. Jahrhundert n. Chr. von Philostrat verfasst wurde: Apollonios wird als ein Philosoph bezeichnet, seine Tätigkeit als „philosophieren“, und diese Tätigkeit umfasst auch den Trost. In der Begegnung mit dem persischen König lehnt Apollonios zwar die Einladung ab, an einer Jagd teilzunehmen, bietet ihm aber Trost im Gespräch – in der Rolle des Philosophen als Seelsorger:18 Als der König einmal auch krank wurde, besuchte er ihn und sprach so viel Göttliches über die Seele zu ihm, daß der Kranke wieder Atem schöpfte und sagte: ‚Apollonios befreit mich nicht nur von den Sorgen um die Königsherrschaft, sondern auch von der Angst vor dem Tode.‘ Diese Art der Philosophie, die ein Orientierungssystem bietet, gehört offensichtlich zum Gegenstandsbereich der Religionswissenschaft. Der Religionshistoriker 14 15 16 17 18

Cicero, Tusculanae disputationes V 2 (5/6). Siehe Ciceros Brief an Atticus (XII, 13 (14)), nach dem Tod seiner Tochter. Cicero, Über die Gesetze II, XIV, 36. Plutarch, Trostbrief 10. Philostrat, Leben des Apollonios von Tyana I, 37.

Die Sokratische Wende: von der Naturphilosophie zur Ethik

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Pierre Hadot war sogar der Meinung, darin liege der „Charakter der von den Philosophen der Antike geschriebenen Werke“ überhaupt: „Diese sind nämlich weniger dazu bestimmt, Informationen über abstrakte Theorien zu vermitteln, als dazu, die Seelen der Schüler zu formen. Niemals sind sie von dem im Rahmen einer Schule geführten philosophischen Leben ablösbar.“19 Dagegen könnte die Auffassung vertreten werden, die eigentlich philosophischen Werke seien gerade jene, die vom philosophischen Leben in einer Schule ablösbar sind, wie z. B. die „Analytiken“ des Aristoteles, in denen es um Logik und Wissenschaftstheorie geht. Wie immer das Wesen der Philosophie bestimmt wird, aus der Perspektive der Religionswissenschaft sind jedenfalls alle Texte von unmittelbarem Interesse, in denen es um das rechte Leben – und Sterben – des Menschen geht, wie z. B. in Platons „Phaidon“.20 Wenn der „Phaidon“ aus beiden Perspektiven – der Religionswissenschaft und der Philosophie – gleichermaßen von Interesse ist, so gilt dies nicht unbedingt für den pseudoplatonischen Dialog „Axiochus“: die Argumentation ist hier ganz auf die Trostfunktion abgestimmt, so dass philosophische Gedanken, die miteinander unvereinbar sind, nebeneinanderstehen, ohne dass die (Un)vereinbarkeit der Argumente thematisiert wird. Doch ist dabei „die ihnen zugedachte besondere Intention“ zu bedenken, „der es weniger um ein exercitium logicum als um eine Therapie der Affekte geht, welche vernünftiges Denken behindern“.21 Sokrates erscheint hier in der Rolle des Seelsorgers, der zum Bett eines Sterbenden gerufen wird, um diesem die Angst vor dem Tod zu nehmen:22 Sokrates, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, deine immer gerühmte Weisheit unter Beweis zu stellen. Denn mein Vater hat plötzlich einen Schwächeanfall bekommen, ist dem Ende des Lebens nahe und trägt das Ende mit Bekümmerung, … Nach der Präsentation verschiedener Deutungen des Todes, von denen erst die letzte, die Unsterblichkeitslehre, den erwarteten Trost bietet, wird als ein zusätzliches Argument schließlich noch ein Jenseitsmythos angeführt, in dem auch auf die Riten der Mysterien von Eleusis angespielt wird.23 Dieser Mythos beschreibt „dieselbe Einsicht, die Sokrates Axiochos auch vorher zu vermitteln suchte, nämlich, dass der Tod für Menschen, die anständig gelebt haben, nicht zu fürchten sei“.24 Damit ist

19 20 21 22

Hadot, Philosophie als Lebensform, 9. Eine Betrachtung des „Phaidon“ aus philosophischer Perspektive bietet Dorothea Frede. Erler, „Argumente, die die Seele erreichen“, 82. Ps.-Platon, Axiochos, 364b. Vgl. dazu Erler über die im Hellenismus verbreitete „konkrete Auffassung von der Philosophie als Medizin und dem Philosophen als lebensweltlichem Ratgeber“ (Zur Einordnung des Dialogs, 104). 23 Ps.-Platon, Axiochos, 371d/e. 24 Männlein-Robert, Einführung, 17.

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die Trostfunktion vollkommen erfüllt, und am Schluss steht die zweifach wiederholte Erklärung des Axiochos, dass er nun keine Angst vor dem Tode mehr habe:25 … ich bin so weit davon entfernt, den Tod zu fürchten, dass ich nun schon nach ihm verlange. Nach der sokratischen Wende hat sich eine Vielzahl von philosophischen Schulen herausgebildet, die jeweils eigene Orientierungssysteme anbieten. Die bekanntesten sind, neben der platonischen Schule, wahrscheinlich die Schulen der Stoiker und der Epikuräer. Sie unterscheiden sich voneinander in der Lehre vom rechten Leben wie auch in der Einstellung zur religiösen Praxis – hier kann es auch eine immanente Religionskritik geben, die sich z. B. als eine Kritik des „Aberglaubens“ (deisidaimonia) darstellen kann, und es kann auch zu Konflikten mit den Vertretern einer traditionellen Religiosität kommen, wie es z. B. in den Anklagen wegen Unfrömmigkeit (asebeia) erkennbar ist – das bekannteste Beispiel ist ja der Prozess gegen Sokrates. 4.2 Philosophische Orientierungssysteme – Religion ohne Offenbarung Platon, Mittel- und Neuplatonismus In der Verteidigungsrede vor Gericht, wie sie von Platon dargestellt wird, hat Sokra­ tes den Vorwurf, er glaube überhaupt nicht an Götter, zurückgewiesen.26 Und im „Phaidon“ hat er, der Darstellung Platons zufolge, ein eindeutiges Bekenntnis zum Glauben an die Unsterblichkeit der Seele abgelegt und diesen Glauben rational begründet. Es ist das letzte Gespräch, das Sokrates mit seinen Schülern führt, im Gefängnis, während er auf den Giftbecher wartet.27 Sokrates behauptet, es sei das „Geschäft der Philosophen“, die Seele von dem Leib zu befreien, und deshalb trachteten die Philosophen eigentlich danach, zu sterben: „und tot zu sein ist ihnen unter allen Menschen am wenigsten furchtbar“.28 Einer seiner Schüler meldet jedoch Zweifel an: „… das von der Seele findet großen Unglauben bei den Menschen, ob sie nicht, wenn sie vom Leibe getrennt ist, nirgend mehr ist,…“.29 So ergibt sich ein Dialog, in dem mehrfach Zweifel geäußert werden, und zum Schluss erfolgt ein

25 26 27 28 29

Ps.-Platon, Axiochos, 372a; vgl. 370d/e. Platon, Apologie, 26d-27e. Zur Historizität des Dialoges vgl. Frede, Phaidon, 1f. Platon, Phaidon, 67e. Platon, Phaidon, 70a.

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Wechsel der Argumentations-Ebene, der Übergang zum Mythos.30 Sokrates gibt eine ausführliche Beschreibung der Unterwelt, in der die Seelen gerichtet werden, um dann festzustellen:31 Daß sich nun dies alles gerade so verhalte, wie ich es auseinandergesetzt, das ziemt wohl einem vernünftigen Mann nicht zu behaupten; daß es jedoch, sei es nun diese oder eine ähnliche Bewandtnis haben muß mit unseren Seelen und ihren Wohnungen, wenn doch die Seele offenbar etwas Unsterbliches ist, dies, dünkt mich, zieme sich gar wohl und lohne auch, es darauf zu wagen, daß man glaube, es verhalte sich so. Der Schluss des Dialoges bietet noch einmal einen Wechsel der Argumentationsebene, von der mythischen zur narrativen Beschreibung: Platon beschreibt, wie Sokrates den Giftbecher leert, ohne die geringste Furcht vor dem Tod zu zeigen. So wird das Leben des Sokrates zu einem Beispiel, das als solches dazu beitragen kann, den Glauben an die Unsterblichkeit begründet erscheinen zu lassen. Wenn Sokrates direkt vor seinem Tod als Letztes noch die Anweisung gibt, dem Gott Asklepios einen Hahn zu opfern,32 dann wird damit eine Brücke geschlagen zur religiösen Praxis seiner Zeit. Der Tod des Sokrates, wie der Unsterblichkeitsglaube überhaupt, konnte später in der christlichen Theologie verschiedene Beurteilungen erfahren, im Vergleich mit dem Tod Jesu und mit dem Auferstehungsglauben überhaupt.33 In der Rede vom „Wagnis“ des Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele und an das Totengericht ist schon angedeutet, dass die Argumentation dazu dient, eine bestimmte Lebensform zu begründen. Im Dialog „Gorgias“ hat Platon diese Lebensform, die er propagiert, ausführlicher dargestellt und gegen alternative Entwürfe verteidigt. Sokrates vertritt die Meinung, Unrecht tun sei schlimmer als Unrecht leiden.34 Er verteidigt diese Auffassung in mehreren Redegängen gegen die Gegenmeinung, Unrecht leiden sei schlimmer und die Unrechttuenden seien glücklich, wenn sie nicht entdeckt und bestraft werden.35 In einem dieser Redegänge wird die Gegenmeinung dahingehend präzisiert:36 (es sei)

30 Zur Funktion der Mythen in der Philosophie Platons vgl. Frede, Phaidon, 152f.; Kobusch zufolge hat der Mythos bei Platon die Funktion, „den im Dialog geprüften Logos zu veranschaulichen“ (Wiederkehr des Mythos, 50). Vgl. ders., Wie man leben soll, 61; anders Rechenauer, Veranschau­lichung des Unanschaulichen, 416. Ebert betont die pythagoreische Perspektive, in die Sokrates durch Platon gerückt wird (Schlussmythos, 436): Platon mache „seinen Sokrates zum jenseits­trunkenen Verkünder einer Erlösungsreligion“. Vgl. auch Alt, Platons Jenseitsmythen. 31 Platon, Phaidon, 114d. 32 Platon, Phaidon, 118a. 33 Jüngel, Tod, 73, sprach von der „Entplatonisierung des Christentums“ als einer theologischen Aufgabe. 34 Platon, Gorgias, 473a. 35 Platon, Gorgias, 473b. 36 Platon, Gorgias, 491e/492a.

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das von Natur Schöne und Rechte, …, daß, wer richtig leben will, seine Begierden muß so groß werden lassen als möglich und sie nicht einzwängen; und diesen, wie groß sie auch sind, muß er dennoch Genüge zu leisten vermögen durch Tapferkeit und Einsicht und befriedigen, worauf seine Begierde jedesmal geht. Es geht in diesem Dialog also darum, dass „in der Tat offenbar werde, wie man leben muß“.37 Die Tendenz, die Platon verfolgt, ist eindeutig jene, welche er im Leben und Sterben des Sokrates verwirklicht sieht und welche er Sokrates im „Gorgias“ vertreten lässt: Unrecht leiden sei dem Unrecht tun vorzuziehen. Am Schluss des Dialoges, nach mehreren Ansätzen rationaler Argumentation, bringt Platon wieder den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele ins Spiel: der vernünftige Mensch fürchte nicht das Sterben, sondern das Unrecht tun: „Denn mit vielen Vergehungen die Seele angefüllt in die Unterwelt zu kommen ist unter allen Übeln das ärgste“.38 So erfolgt am Ende des Dialoges wieder ein Wechsel der Argumentationsebene, indem Platon auf mythische Schilderungen der Unterwelt und des Totengerichts zurückgreift und Sokrates noch einmal für seine Lebensweise werben lässt:39 Ich meines Teils, …, habe mich durch diese Reden überzeugen lassen und trachte, wie ich mich mit möglichst gesunder Seele dem Richter darstellen will. … ich ermuntere aber auch die übrigen Menschen alle dazu, soweit ich kann. Daher ich dann meinesteils auch dich ermuntere zu dieser Lebensweise … Der Mythos wird also auch hier in die philosophische Argumentation einbezogen, als eine zusätzliche Begründung der Aufforderung, jene Lebensform zu wählen – „als weiterentwickelnde Veranschaulichung“ des „mit eisernen und stählernen Gründen befestigten Logos“.40 Im letzten Buch der „Politeia“ hat Platon sogar einen quasi-empirisch gewonnenen Jenseitsmythos angehängt, in dem von den Erlebnissen eines Scheintoten berichtet wird, dessen Seele sich für kurze Zeit vom Körper gelöst hatte.41 Das Konfliktpotential, das der Ansatz einer philosophischen Ethik mit sich bringt, wird in einem anderen Dialog erkennbar, in dem Platon die Begegnung zwischen Sokrates und Euthyphron, einem Seher – also einem Vertreter traditioneller religiöser Praxis – darstellt: Beide treffen vor dem Gerichtsgebäude aufeinander, Sokrates auf dem Weg, seine Anklage entgegenzunehmen, und Euthyphron auf dem Weg, eine Anklage einzureichen. Auf die Frage, wen er denn anklagen wolle, antwortet Euthyphron, dass er seinen eigenen Vater wegen Totschlags anklagen werde, weil dieser für den 37 38 39 40 41

Platon, Gorgias, 492d. Platon, Gorgias, 522e. Platon, Gorgias, 526d/e. Kobusch, Wie man leben soll, 61. Politeia X, 614–621.

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Tod eines Bediensteten, der selbst ein Totschläger war, verantwortlich sei. Sokrates äußert seine Verwunderung oder Bestürzung: „Um Himmels willen, Euthyphron, da wissen die meisten Menschen doch wohl kaum, wie sie in einem solchen Falle richtig verfahren; …“; und er fragt weiter, ob Euthyphron denn wirklich sicher sei, das göttliche Recht und das Fromme und Unfromme so genau zu kennen, dass er nicht befürchte, seinerseits eine unfromme Tat zu begehen, wenn er seinen eigenen Vater anklage.42 Aus dieser Ausgangsfrage ergibt sich ein Gespräch, in dem verschiedene Gottesvorstellungen sowie religiöse und philosophische Ethik in Konflikt geraten. Mit der bekannten „sokratischen Ironie“ bittet Sokrates darum, belehrt zu werden über das Wesen des Gottesfürchtigen und Gottlosen und stellt schließlich die Frage: „was ist nach deiner Meinung das Fromme, was das Unfromme?“.43 In einem ersten Redegang verweist Euthyphron auf den Mythos von Zeus und leitet daraus seine moralische Entscheidung ab: Zeus selbst habe sich ja gegen seinen Vater erhoben, weil dieser ungerecht gehandelt habe.44 Sokrates äußert sogleich seine Zweifel an der Wahrheit der Mythen. Er stellt fest, dass er es immer „irgendwie unwillig aufnehme, wenn jemand Dinge solcher Art von den Göttern behauptet“, und er deutet an, dies sei vielleicht der Grund dafür, dass er angeklagt werde.45 Von Sokrates gedrängt, den Begriff des Frommen zu definieren, versucht Euthyphron es mit einer ersten Definition: „Es ist also das, was den Göttern lieb ist, fromm, was ihnen aber nicht lieb ist, unfromm“.46 Dieser Versuch scheitert, weil Sokrates gleich darauf hinweisen kann, dass die Götter, den Mythen zufolge, ja untereinander uneins sind. Dasselbe würde also von den Göttern geliebt und gehasst werden – der Vater des Zeus würde sicherlich anders über den Fall des Euthyphron denken.47 Ein Ausweg aus der Schwierigkeit scheint darin zuliegen, das Fromme als das zu bestimmen, was alle Götter lieben.48 Doch bricht eine tiefere Problematik auf, wenn Sokrates die Frage stellt, die als „das Euthyphron-Dilemma“ bekannt ist:49 Wird das Fromme, weil es fromm ist, von den Göttern geliebt, oder ist es fromm, weil es von ihnen geliebt wird? Damit hat Platon ein Problem angesprochen, das sich in allen theistischen Orienterungssystemen stellen kann: die Frage nach der Letztbegründung religiöser Gesetze – ob es 42 Platon, Euthyphron, 4b/d. Eine Betrachtung des „Euthryphon“ aus philosophischer Perspektive bietet Günter Patzig. 43 Platon, Euthyphron, 5d. 44 Platon, Euthyphron, 5e/6a. 45 Platon, Euthyphron, 6a. 46 Platon, Euthyphron, 6e/7a. 47 Platon, Euthyphron, 8a/b. 48 Platon, Euthyphron, 9e. 49 Platon, Euthyphron, 10a.

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unveränderlich gültige Normen gibt, die mit der Vernunft zu erfassen sind, oder ob es einen souveränen göttlichen Willen gibt, der vom Menschen Gehorsam verlangen kann, auch wenn der Befehl jeder Vernunft zu widersprechen scheint. In der modernen ethischen Diskussion ist das „Euthyphron-Dilemma“ manchmal zusammen mit der Geschichte von der Opferung Isaaks (Genesis 22) behandelt worden.50

Es folgen mehrere Redegänge, in denen Euthyphron sich immer wieder in Widersprüche verwickelt. Im Verlauf dieser Reden wird die Frömmigkeit in konventioneller Weise definiert: zunächst als ein „Sichverstehen auf Opfern und Beten“, dann als eine Art „Handelsfertigkeit … zwischen Göttern und Menschen, beruhend auf Gegenseitigkeit“.51 Auch dies ist aber nicht unproblematisch, was sich zeigt, wenn Euthyphron im Hinblick auf die Opfer feststellt, die Gabe der Menschen, also die Frömmigkeit, sei den Göttern lieb – das ist ja jene Definition, die zu Anfang geprüft und verworfen worden war.52 So kann Sokrates feststellen, „daß das Gespräch sich uns im Kreise gedreht hat“, woraufhin Euthyphron das Gespräch abbricht, mit der Ausrede, keine Zeit mehr zu haben.53 Der Dialog hat also ein offenes Ende, und eben darin zeigt sich das religionskritische Potential der platonischen Philosophie: Es ist sicherlich kein Zufall, dass der Gesprächspartner des Sokrates in diesem Fall ein Seher ist, also ein professioneller Vertreter der traditionellen griechischen Religion. Die Suche nach einer konsistenten und rationalen Begründung moralischer Normen zeigt, dass die mythische Überlieferung von den Göttern problematisch ist und jedenfalls nicht als Grundlage der Moral dienen kann. Und ganz zum Schluss deutet sich an, dass auch das konventionelle Verständnis der Frömmigkeit – verstanden als eine Beziehung auf Gegenseitigkeit – nicht unproblematisch ist. Im philosophischen Gespräch erweist sich das Wissen des religiösen Experten als inkonsistent und inadäquat. Die Philosophie Platons erfüllt zwar eine religiöse Funktion, insofern als sie eine Lebensform propagiert und begründet, impliziert aber zugleich eine interne Religionskritik, und gerade dies bot später zusätzliche Ansatzpunkte für eine Rezeption im Christentum.

Der bekannteste Vertreter des „Mittleren Platonismus“ ist Plutarch von Chaironeia (45–125), der auch als Priester in Delphi tätig war. In der Schrift „Über die späte Strafe der Gottheit“ verteidigt er den Glauben an die Vorsehung. Die Schrift, in der Form eines philosophischen Gesprächs, beginnt mit dem Abgang eines gewis50 51 52 53

Siehe Rachels, God and Human Attitudes. Platon, Euthyphron, 14c/e. Platon, Euthyphron, 15b. Platon, Euthyphron, 15, b-e.

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sen Epikuros, der offensichtlich in aggressiver und polemischer Weise gegen diesen Glauben argumentiert hatte. Einer der Gesprächsteilnehmer stellt fest: „er hat seine Argumente von überall fetzenweise hergeholt und dann in einer Art Wutausbruch, einer Schimpfkanonade, allesamt über die Vorsehung ausgeschüttet.“54 Ein anderer Gesprächspartner zeigt sich aber doch beeindruckt von der Polemik und gibt damit den Anstoß zu der folgenden Erörterung: „Daß die höhere Macht so langsam und zögerlich ist, wenn böse Menschen zu bestrafen sind, das scheint mir persönlich besonders anstößig zu sein.“ Ein zweiter Gesprächspartner nimmt diese kritische Überlegung auf:55 Und wie groß ist doch der Widersinn, …, der im Abwarten und Zögern der Gottheit in diesen Dingen liegt, insofern die Langsamkeit der Vorsehung ihr die Glaubwürdigkeit nimmt. Bevor ein drittes kritisches Argument eingeführt wird, greift Plutarch selbst in das Gespräch ein und stellt zunächst, im Anschluss an die skeptische Richtung der platonischen Philosophie, das Prinzip auf, nur mit großer „Behutsamkeit“ über das Göttliche zu sprechen: „Wir wollen uns also feierlich dagegen verwahren, über diese Dinge so zu sprechen, als ob wir etwas wüßten.“ Wenn Menschen „Dinge der Götter und Dämonen erörtern“, sei dies noch bedenklicher „als wenn über musikalische Dinge unmusikalische Menschen und über Fragen des Krieges ungediente Leute sprechen“.56 Plutarch bringt dann die Metapher des „Hafens“, um die Funktion seines skeptischen Prinzips zu verdeutlichen:57 ich möchte, daß unser Reden gewissermaßen einen bergenden Hafen in Sicht behält, damit es sich um so zuversichtlicher mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsargumenten gegen den Sturm der ungelösten Schwierigkeiten behaupten kann. Damit ist der erkenntnistheoretische Status seiner theologischen Aussagen angedeutet: es kann im Folgenden nicht darum gehen, den Glauben an die Vorsehung Gottes zwingend zu begründen; es kann aber gezeigt werden, dass die Argumente der Vorsehungsleugner nicht zwingend sind und dass der Vorsehungsglaube als eine mögliche und sinnvolle Deutung der Wirklichkeit aufrecht erhalten werden kann – trotz der „späten Vergeltung“, die als solche nicht bestritten werden kann.58 Ein erster Argumentationsgang dieser Art knüpft an den platonischen Gedanken an, dass „Gott sich selbst als Modell alles Guten allgemein sichtbar hingestellt“ habe.59 Daraus kann abgeleitet werden, dass es einen Grund geben könnte, „warum 54 55 56 57 58 59

Plutarch, Die späte Strafe, 548C. Plutarch, Die späte Strafe, 549B. Plutarch, Die späte Strafe, 549E. Plutarch, Die späte Strafe, 550C. Vgl. dazu Berner, Plutarch und Epikur, 133f. Plutarch, Die späte Strafe, 550D.

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Gott den Bösen erst mit der Zeit und nach ruhigem Bedenken die Vergeltung auferlegt“ – „er will uns die tierische und überstürzte Art des Vergeltens abgewöhnen“.60 Nach diesem ersten Gesprächsgang, in dem Plutarch bereits erste Argumente gebracht hat, die zeigen, dass die „späte Vergeltung“ mit dem Vorsehungsglauben durchaus vereinbar ist, führt ein dritter Gesprächspartner ein drittes kritisches Argument ein. Er verweist auf Euripides, der den Göttern den Vorwurf gemacht habe, dass sie die Sünden der Eltern an den Nachkommen heimsuchen – was eine Ungerechtigkeit sei.61 Das Gespräch kommt dann bald auf die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele. Einer der Gesprächsteilnehmer unterbricht Plutarch: „Mir scheint, daß du bei dem, was du sagst, eine gewaltige Voraussetzung machst, nämlich die Fortdauer der Seele.“.62 Plutarch gibt zu, dass dies zu den Axiomen seiner Weltanschauung gehört, und so wird festgehalten, es sei ein und derselbe Gedankengang, der gleichzeitig die Vorsehung Gottes und das Überdauern der Seele begründet, und man kann nicht an dem einen festhalten, wenn man das andere aufgibt.63 Als Ergänzung zu der Reihe von (Wahrscheinlichkeits)Argumenten erzählt Plu­tarch zum Schluss noch eine Geschichte, angekündigt als ein „Mythos“, eine Parallele zum Schlussmythos in Platons „Politeia“.64 Es ist die Geschichte von einem Mann, der scheintot war, nach drei Tagen wieder zu sich kam und danach seinen Lebenswandel änderte. Der Grund für diese Wandlung war das Erlebnis seiner Seele, deren bewusster Teil sich für kurze Zeit vom Körper getrennt hatte, beim Aufstieg ins Jenseits den Seelen der Gestorbenen begegnet war und so einen Einblick erhalten hat in das Totengericht und das Prinzip der Seelenwanderung.65 Plutarch hat seiner Verteidigung des Vorsehungsglaubens damit noch ein quasi-empirisches Argument hinzugefügt: einen Erlebnisbericht, der allerdings über die Grenzen der normalen Erfahrung hinausgeht und sich damit der Verifizierung entzieht. Während Plutarch hier den Glauben an die göttliche Vorsehung und Fürsorge gegen den Atheismus verteidigt, hat er in einer frühen Schrift, deren Authentizität manchmal angezweifelt wurde, den Atheismus durchaus zu würdigen gewusst – er schätzt ihn jedenfalls höher ein als den Aberglauben:66 Der Atheismus ist „eine irrige Lehre, der Aberglaube aber ein Affekt, der im Menschen aus einer falschen Lehre entsteht.“67 Der Affekt, der den Abergläubischen 60 61 62 63 64 65 66

Plutarch, Die späte Strafe, 550E. Plutarch, Die späte Strafe, 556E/F. Plutarch, Die späte Strafe, 560B Plutarch, Die späte Strafe, 560F Plutarch, Die späte Strafe, 563B. Plutarch, Die späte Strafe, 563C-568. Die Authentizität dieser Schrift ist deshalb manchmal bestritten worden. Doch ist dies keineswegs zwingend. Vgl. dazu Klauck, Moralphilosophische Schriften 59f; Berner, Plutarch und Epikur, 135. 67 Plutarch, Über den Aberglauben, 165C.

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beherrscht, ist die Furcht, die sich aus der Auffassung ergibt, dass die Götter Leid und Schaden bringen. Und dies ist eben, Plutarch zufolge, eine völlig verfehlte Vorstellung vom Wesen Gottes, und er hält es für besser, blind gegenüber dem Göttlichen zu sein, als ein falsches Bild vom Göttlichen zu haben.68 Am Atheisten schätzt Plutarch die Rationalität – die „Neuen Atheisten“ der Gegenwart hätten ihm hier zugestimmt:69 Bei einer Krankheit stellt der Atheist rationale Überlegungen an und besinnt sich auf Unmäßigkeiten beim Essen und Trinken, … Der Abergläubische dagegen erklärt alles – Krankheiten des Körpers, … – als Schläge Gottes und Anfechtungen eines Dämons. Darum wagt er es nicht einmal, Maßnahmen dagegen zu ergreifen, … Wenn er krank ist, wird der Arzt aus dem Haus gewiesen; wenn er trauert, wird der mahnende und tröstende Philosoph nicht zugelassen. Plutarch bringt in seiner Gegenüberstellung einen Gesichtspunkt, der im Hinblick auf den „Neuen Atheismus“, wie er z. B. von Richard Dawkins vertreten wird, von Interesse ist. Der Atheismus sei nicht schuld an der Entstehung des Aberglaubens, aber umgekehrt sei der Aberglaube schuld am Entstehen des Atheismus. Denn es ist nicht die Betrachtung der Natur, die zum Atheismus führt:70 Es sind vielmehr die absurden Handlungen und Gefühle des Aberglaubens, seine rituellen Formeln und Gebärden, die Zaubereien und Hexereien, … all das legt es manchen Menschen nahe zu sagen, besser sei es, daß es gar keine Götter gebe, als solche, die derartige Riten empfangen, über derartiges sich freuen, die so grausam sind, so kleinlich und reizbar. Plutarch scheut sich auch nicht, eine Reihe von Beispielen zu bringen, die geeignet sind, den Götterglauben als schädlich erscheinen zu lassen: es wäre, Plu­ tarch zufolge, z. B. für die Gallier und Skythen besser gewesen, überhaupt keine Vorstellung von Göttern zu haben, „als an Götter zu glauben, die sich am Blut geschlachteter Menschen freuen und darin die höchste Form vom Opfer und Gottesdienst sehen“.71 Der Aberglaube ist aus der Sicht Plutarchs eine Krankheit, die man fliehen soll. Allerdings bestehe dabei die Gefahr, dass man auf der Flucht in den Atheismus gerate und das überspringe, „was in der Mitte liegt: die Frömmigkeit“ (eusebeia).72

68 69 70 71 72

Plutarch, Über den Aberglauben, 167C-D. Plutarch, Über den Aberglauben, 168B-C. Plutarch, Über den Aberglauben, 171A-B. Plutarch, Über den Aberglauben, 171B. Plutarch, Über den Aberglauben, 171E.

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Plutarchs Konzeption der wahren Frömmigkeit, zwischen Atheismus und Aberglaube, sein Vorsehungs- und Unsterblichkeitsglaube sowie seine Ethik, all dies erschien in späterer Zeit manch einem christlichen Theologen als verwandt. So hat der byzantinische Bischof Johannes Mauropos im 11. Jahrhundert darum gebetet, Gott möge Plutarch, neben Platon, in den Himmel aufnehmen.73

Es könnte missverständlich sein, Plutarch als „heidnischen Kirchenvater“ zu bezeichnen.74 Abgesehen von inhaltlichen Berührungen in Gottesbild und Ethik, ist eine Vergleichbarkeit aber schon darin gegeben, dass Plutarch als Philosoph und Priester theologische Reflexion und rituelle Praxis miteinander verbunden hat. Als Exeget hat er nicht nur auf die philosophische, vor allem die platonische, sondern auch auf die mythologische Tradition zurückgegriffen, wie seine Schrift über Isis und Osiris zeigt. In dieser integrativen und interpretativen Leistung ist er den großen christlichen Kirchenvätern vergleichbar. Ein Unterschied liegt darin, dass er keinen verbindlichen Kanon schriftlich fixierter Quellen zur Verfügung hatte, diesen Kanon vielmehr erst selbst in der Auswahl aus der philosophischen und mythologischen Tradition schaffen musste – seine Aufgabe war insofern schwieriger als die der christlichen Kirchenväter, und vielleicht war sie auch unlösbar. Spätere Zeitgenossen Plutarchs, wie Justin, der als Philosoph in derselben (mittel) platonischen Tradition stand, haben vielleicht deshalb den Schritt vollzogen, sich den Christen anzuschließen – die Schriften und Riten, die er dort vorfand, erschienen ihm als eine bessere Grundlage für seine theologischen Reflexionen. Im dritten Jahrhundert gab es neue Ansätze in der Schule der platonischen Philosophie, bekannt als Neuplatonismus. Plotin (205–270), der bekannteste Vertreter dieser Richtung, ist im Vergleich zu Plutarch mehr der Philosophie- und weniger der Religionsgeschichte zuzurechnen. Er hat jedenfalls kein großes Interesse an den religiösen Institutionen und ihren Riten gezeigt. Dies geht aus einer Anekdote hervor, die Porphyrios (233–305), einer seiner Schüler, von ihm berichtet: „Und als Amelios, der ein eifriger Opferer war und von den Gottesdiensten beim Neumond und den Kultfesten keines ausließ, eines Tages den Plotinos aufforderte mit ihm zu kommen, erwiderte er: ‚Jene müssen zu mir kommen, nicht ich zu jenen‘.“75 Allerdings hat Plotin in einer anderen Hinsicht große Bedeutung für die europä­ ische Religionsgeschichte gewonnen: die neuplatonische Philosophie hat bei der Bekehrung Augustins eine große Rolle gespielt, als eine Brücke auf dem Weg zur Wahrheit.76 73 74 75 76

Zum Nachleben vgl. Hirsch-Luipold, Plutarch, 28–30. Siehe Berner, Plutarch und Epikur, 135–139. Porphyrios, Vita Plotini 60. Siehe Augustin, Confessiones, VII, 9,13.

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Fand sich bei Plutarch noch keine Erwähnung der Christen, und damit auch noch keine Spur der Auseinandersetzung oder gegenseitigen Beeinflussung, so ist dies im dritten Jahrhundert anders: Plotins Schüler Porphyrios hat sich intensiv mit dem Christentum auseinandergesetzt. Er galt den Kirchenvätern als einer der schärfsten Kritiker des Christentums. In der spätantiken Religionsgeschichte spielt er eine wichtige Rolle in der Debatte über (Tier)Opfer und Rituale. Aristoteles und die Peripatetiker Wenn von der griechischen Philosophie zu Beginn des hellenistischen Zeitalters die Rede ist, dann wird jeder zuerst an Aristoteles denken, den Lehrer Alexanders des Großen. Aristoteles war Schüler Platons, hat aber eine eigene Schule gegründet, deren Mitglieder als die Peripatetiker bekannt sind. Im christlichen Abendland hat die aristotelische Philosophie eine große Nachwirkung gehabt, allerdings erst im Mittelalter und zum Teil vermittelt durch die islamische Philosophie, also auf dem Umweg über lateinische Übersetzungen aus dem Arabischen. In der Zeit der Renaissance waren die griechischen Originaltexte im Abendland wieder zugänglich geworden, und so erscheint denn Aristoteles neben Platon als eine der beiden zentralen Gestalten im Bild „Die Schule von Athen“, gemalt von Raffael für den Papst, in Räumen des Vatikans, den sogenanten „Stanzen“ des Vatikans. Für die Religionsgeschichte der hellenistischen Epoche ist die Philosophie des Aristoteles aber nicht von der gleichen Bedeutung wie die Platons. Der Gottes­beweis in der „Metaphysik“ des Aristoteles führt zu einem abstrakten Gottesbegriff – dem „ersten Beweger“ –, der keine Beziehung zu religiöser Praxis erkennen lässt:77 Da nun aber dasjenige, was bewegt wird und bewegt, ein Mittleres ist, so muß es auch etwas geben, das ohne bewegt zu werden selbst bewegt, das ewig und Wesenheit (ousia) und wirkliche Tätigkeit (energeia) ist. … Die Gottheit, sagen wir, ist das ewige, beste lebendige Wesen, also Leben und stetige, ewige Fortdauer (…) wohnet in der Gottheit; denn sie ist Leben und Ewigkeit. Auch in der aristotelischen Ethik ist ein Bezug zum Gottesbegriff kaum zu erkennen, wird jedenfalls nur hypothetisch angedeutet:78 Wenn es nun überhaupt ein Geschenk der Götter an die Menschen gibt, so kann folgerichtig auch das Glück eine Gabe der Gottheit sein … Doch ist soviel klar: selbst wenn uns das Glück nicht von den Göttern gesandt wird, sondern durch ethisches Handeln und in gewisser Weise durch Lernen und Üben zuteil wird, so gehört es doch zu den göttlichsten Gütern.

77 Aristoteles, Metaphysik, 1072a, 23–26; 1072b, 27–30. 78 Aristoteles, Nikomachische Ethik, I, 10 (1099b).

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Noch vorsichtiger formuliert Aristoteles an anderer Stelle: „Denn wenn die Götter, wie man glaubt, sich irgendwie um menschliches Tun und Treiben kümmern, …“.79 So kann Walter Burkert mit Recht feststellen, die metaphysische Theologie des Aristoteles sei mit der praktischen Religion „kaum mehr in Kontakt zu bringen“.80 Anders als Aristoteles ist sein Schüler und Nachfolger Theophrast von größtem Interesse für die griechische Religionsgeschichte, insofern als er sich für die religiöse Praxis seiner Zeit interessiert und auch Vorschläge zur Reform gemacht hat. Seine Schrift „Über die Frömmigkeit“, in der er die Tieropfer kritisiert hat, ist allerdings nur auszugsweise im Werk des neuplatonischen Philosophen Porphyrios überliefert. Ein allzu großer Aufwand im Opfern würde, Theophrast zufolge, nur zum Aberglauben führen.81 Die Kritik des Aberglaubens (deisidaimonia) hat Theophrast in einem anderen Zusammenhang expliziert, in seinen „Charakteren“, in denen er auch den abergläubischen Menschen charakterisiert und karikiert:82 Der Aberglaube erscheint natürlich als Feigheit vor dem Übersinnlichen, der Abergläubische aber ist einer, der … Wenn eine Maus einen Mehlsack angefressen hat, geht er zum Zeichendeuter und fragt was zu tun sei, und antwortet dieser, er solle ihn beim Sattler flicken lassen, so achtet er nicht darauf, sondern kehrt heim und bringt ein Opfer dar.

Die Stoiker Die Philosophie der Stoiker, benannt nach dem Ort ihrer Schule, einer Säulenhalle (Stoa), steht in dem Ruf, der Religion gegenüber aufgeschlossen zu sein. Als Gründer der stoischen Philosophenschule gilt Zenon von Kition auf Zypern (333–262). Diogenes Laertios berichtet über seinen Weg zur Philosophie: er habe das Orakel befragt, „in welcher Tätigkeit die beste Lebensform bestehe; und der Gott habe geantwortet, er solle sich den Toten anpassen. Das verstand er und studierte die alten Denker.“83 Wenn die Suche nach der besten Lebensform am Anfang steht, und wenn diese Suche beim Orakel beginnt, also die Antwort in der Sphäre des Göttlichen gesucht wird, dann zeigt sich wieder besonders deutlich, dass diese Art von Philosophie eine Orientierungs-Funktion erfüllt und damit für die Religionswissenschaft von Interesse ist. Diese Funktion zeigt sich in der zentralen Stellung der Ethik, die nicht isoliert, sondern in untrennbarem Zusammenhang mit der Naturphilosophie behandelt und außerdem auf die religiöse Praxis bezogen wird. 79 80 81 82 83

Aristoteles, NikomachischeEthik, X, 9 (1179a). Burkert, Griechische Religion, 487. Siehe Theophrast, Über die Frömmigkeit, Fragment 8. Theophrast, Charaktere XVI,1.5. Diogenes Laertios, VII, 2.

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In einer späteren Quelle werden einige Gleichnisse überliefert, die den Zusammenhang der philosophischen Disziplinen – Logik, Physik und Ethik – anschaulich machen sollen:84 Sie symbolisieren die Philosophie durch ein Lebewesen, wobei die Logik den Knochen und Sehnen, die Ethik dem Fleisch, die Naturphilosophie der Seele entspreche; oder auch mit einem Ei, dessen Schale der Logik, dessen Eiweiß der Ethik und dessen Dotter der Naturphilosophie vergleichbar sei; oder mit einem fruchtbaren Feld, wobei der Zaun die Logik, die Frucht die Ethik und Erde oder Bäume die Naturphilosophie darstellen; oder auch mit einer gut befestigten und vernünftig verwalteten Polis. Diese Vergleiche lassen vielleicht am besten erkennen, dass die stoische Philosophie (auch) die Orientierungs-Funktion der Religion erfüllt – ohne dass auf eine Offenbarung verwiesen wird. Denn die stoische Ethik wird aus der Naturphilosophie entwickelt:85 Denn unsere Naturen sind Teil der Gesamtnatur. Daraus ergibt sich als höchstes Ziel das naturgeleitete, d. h. das seiner eigenen wie der Gesamtnatur gemäße Leben. Dann tut man nichts, was die Weltordnung verbietet, welche die alles durchdringende ‚rechte Vernunft‘ ist, identisch mit Zeus, dem herrschenden Verwalter des Weltalls. Diesem Bericht aus der späteren Antike zufolge haben die Stoiker die Vernunft, die das Weltall durchwaltet, mit Zeus identifiziert. Und damit haben sie versucht, die Verbindung zur religiösen Tradition und Praxis aufrecht zu erhalten. So berichtet Diogenes Laertios auch, dass stoische Philosophen, wie z. B. Poseidonios, bezeugt hätten, dass der Weise betet und Gutes von den Göttern erbittet.86 Die Götter der griechischen Mythologie werden als Aspekte des einen Gottes gedeutet, der als Vernunft (logos) die Welt durchwaltet, „voller Fürsorge für die Welt und ihre Geschöpfe“: „Gott sei Einheit, Vernunft, Schicksalsnotwendigkeit (heimarmene), Zeus und habe auch noch viele andere Namen“.87 Letzteres ist ein geradezu modern anmutendes Programm eines religiösen Pluralismus;88 so ist es den Anhängern dieser Philosophie möglich, die kultischen Traditionen zu bewahren, die mit den verschiedenen Göttern der Mythologie verbunden sind: „Die Guten aber seien religiös, denn sie sind vertraut mit den die Götter betreffenden Kultbräuchen.“89 84 85 86 87 88

Diogenes Laertios, VII, 40. Vgl. dazu Sextus Empiricus, adv. Math. 7,17. Diogenes Laertios, VII, 88. Diogenes Laertios, VII, 124. Diogenes Laertios, VII, 147; 135. Zu pluralistischen Programmen in der modernen christlichen Theologie siehe z. B. Hick: „God has many Names“. 89 Diogenes Laertios, VII, 119.

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Im Bereich der Moral im engeren Sinne, auf Pflichten gegenüber Menschen bezogen, gelten elementare Normen: „Pflichtgemäß sei, was die Vernunft zu tun fordert, z. B. Eltern, Geschwister, Vaterland ehren, Freunden gefällig sein; …“.90 Es sind gerade diese Normen, die – in Kenntnis der stoischen Philosophie – Jesuiten-­ Missionare bei ihrer China-Mission im 16./17. Jahrhundert aufgegriffen haben, um eine gemeinsame Grundlage zu finden, in der das Erbe europäischer und chine­ sischer Kultur übereinstimmen. Das stoische Ideal des Weisen ist ansonsten dafür bekannt, dass es Freiheit von seelischen Affekten fordert, unter anderem auch Freiheit vom Mitleid. Für die Weisen gilt: „Mitleidig seien sie nicht und würden niemandem verzeihen.“91 Die Bewertung des Mitleids – als einer Tugend oder einer Schwäche – ist in der Philosophie und Theologie des christlichen Abendlandes kontrovers diskutiert worden, z. B. in der Debatte über die Hexenprozesse. Die von den Stoikern propagierte Lebensform beinhaltet auch in anderer Hinsicht eine gewisse Strenge, da die guten Menschen „keine Beziehung zur Lust haben noch die Vergnügungen anderer tolerieren“.92 Der Nachfolger Zenons in der Leitung der stoischen Schule war Kleanthes (331– 232), der zuvor Faustkämpfer gewesen war.93 Er hat einen Zeus-Hymnus verfasst, der in der Form an die homerischen Hymnen anknüpft und traditionelle religiöse Vorstellungen mit stoischen philosophischen Begriffen verbindet:94 Erhabenster der Unsterblichen, vielnamiger, stets alles beherrschender Zeus, Herr über die Natur, der du alles nach dem Gesetz lenkst, sei gegrüßt! Denn dich anzusprechen, ziemt sich für alle Sterblichen … … Zeus, du Allesgeber, Dunkelumwölkter, Herr mit dem hellen Blitz, so bewahre die Menschen vor verderblicher Unerfahrenheit! Die vertreibe, Vater, von der Seele und gib, daß wir auf Einsicht stoßen, auf die gestützt du mit Recht alles lenkst, … Im letzten Teil des Hymnus wird Zeus also als „Vater“ angesprochen, und im Hinblick auf dieses Schlussgebet ist der Zeus-Hymnus des Kleanthes mit dem „Vaterunser“ verglichen und sogar als „antikes Vaterunser“ bezeichnet worden.95 Wie auch immer der Vergleich mit neutestamentlichen Texten ausfällt,96 es kann auf jeden Fall festgestellt werden, dass Rationalität und Religiosität in diesem Hymnus zu einer

90 91 92 93 94 95 96

Diogenes Laertios, VII, 108; vgl. VII, 120. Diogenes Laertios, VII, 123; vgl. VII, 111. Diogenes Laertios, VII, 117. Diogenes Laertios, VII, 168. Kleanthes, Zeus-Hymnus, 1–3; 32–35. Siehe Quack, Der Zeushymnus des Kleanthes. Bei diesem Vergleich würde V.4 des Zeus-Hymnus eine wichtige Rolle spielen, doch ist gerade hier der Textbestand höchst umstritten. Vgl. dazu Thom, Cleanthes’ hymn to Zeus, 54–66.

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Einheit verbunden werden. Denn die Einsicht in die Gesetzlichkeit der Natur lässt das Gebet als die angemessene Antwort des Menschen erscheinen.97 Die Philosophie der Stoiker erfreute sich auch in der römischen Kaiserzeit großer Beliebtheit. Ein prominenter Vertreter dieser Schule war L. Annaeus Seneca (1–65), bekannt vielleicht in erster Linie als Lehrer des Kaisers Nero, der ihn zum Selbstmord zwang. Der römische Historiker Tacitus hat beschrieben, wie Seneca ohne jede Furcht in den Tod geht, eine Szene, die der Barockmaler Rubens in einem berühmten Bild dargestellt hat.98 Seneca war ein vielseitiger Schriftsteller, neben philosophischen Traktaten verfasste er einige Tragödien, die große Sammlung der „Epistulae morales ad Lucilium“, sowie die weniger bekannten „Naturales quaestiones“. In dem letztgenannten Werk bestimmt er gleich zu Beginn die Aufgaben der Philosophie, und diese Bestimmung lässt bereits erkennen, dass diese Art des Philosophierens teilweise die Funktionen von Religion und Theologie erfüllt: ein Teil der Philosophie beschäftige sich mit dem Menschen, der andere Teil mit den Göttern. Zwischen diesen beiden Teilen der Philosophie herrsche derselbe Unterschied wie zwischen Gott und Mensch. Die eine lehrt, wie wir auf Erden handeln müssen; die Theologie, was im Himmel geschieht; die eine zerstreut unsere Irrtümer und bringt Licht, um die Zweifelsfragen des Lebens zu entscheiden; die andere steigt hoch über das Dunkel hinauf, das uns umfängt, sie entreißt uns der Finsternis und führt uns zur Quelle des Lichtes.99 Neben der Ethik deckt diese Art der Philosophie also den Bereich der Theologie ab, wie es in der obigen Übersetzung zum Ausdruck gebracht wird. Da Seneca aber keine Offenbarungstexte kennt, im Unterschied zu den christlichen Philosophen späterer Zeit, kann seine theologische Forschung nur bei der Betrachtung der Natur ansetzen, was in der Übersetzung der „Naturales quaestiones“ als „Naturwissenschaftliche Untersuchungen“ allerdings nicht so recht deutlich wird. Die Betrachtung der Naturphänomene und -prozesse soll ja nicht nur dazu führen, zu erkennen „woraus das All besteht“, sondern auch wer sein Urheber oder Hüter ist, was die Gottheit ist, ob sie ganz für sich lebt oder manchmal auch auf uns sieht, ob sie täglich etwas erschafft oder alles auf einmal schuf, ob sie nur ein Teil des Alls ist oder dieses selbst, ob sie auch heute

97 Vgl. dazu Thom, ebda, 27: „According to Cleanthes’ Hymn, the philosophical life is a religious life, and vice versa.“; Quack, Der Zeushymnus, 90: „Erkenntnisstreben und religiöse Verehrung“ gehen „Hand in Hand“. Anders Glei, Der Zeushymnus, 579, der darin nur den Ansatz einer philosophischen Theo-Logie sieht. 98 Tacitus, Annalen XV, 62f. Das Rubens-Bild z. B. bei Maurach 1991. 99 Seneca, Naturales quaestiones I, praefatio 1.

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noch Entscheidungen treffen und das Gesetz des Schicksals teilweise aufheben kann, …100 So wird gleich zu Beginn der „naturwissenschaftlichen Untersuchungen“, bevor als erstes Naturphänomen die Feuererscheinungen am Himmel untersucht werden, die Frage nach Gott gestellt: „Und was ist Gott?“ In der Antwort, die Seneca gibt, findet sich eine Formulierung, die dem Kenner der christlichen Philosophie des Mittelalters bekannt vorkommen könnte:101 Alles, was du siehst, und alles, was du nicht siehst. Dann erst gewinnt Gott seine Größe, jenseits derer sich nichts Größeres denken läßt, wenn er allein alles ist, wenn er seine Schöpfung innen und außen zusammenhält. Bei aller Offenheit seiner „naturwissenschaftlichen Untersuchungen“ setzt Seneca, als Anhänger der stoischen Tradition, doch zu Beginn ein Axiom fest: dass Gott Vernunft (ratio) sei und dass die Welt nicht ein Werk des Zufalls sein könne – offenbar gegen eine andere, konkurrierende Naturphilosophie gerichtet.102 In einem seiner philosophischen Traktate hat Seneca eine Frage erörtert, die aus der Religionsgeschichte als „das Theodizeeproblem“ bekannt ist: „Du hast mich gefragt, Lucilius, wieso, wenn die Welt durch eine Vorsehung gelenkt werde, guten Menschen viel Unheil zustoße.“103 Die Antwort, die Seneca von der stoischen Tradition her entfaltet, ruft zum Ertragen der Schicksalsschläge auf. Diese seien eben nicht als ein Übel zu betrachten, sondern als eine Prüfung, in der es sich zu bewähren und zu wachsen gilt: gute Menschen lassen sich nicht vom Schicksal ziehen, sondern folgen ihm freiwillig.104 Der Gott, der dem Menschen Schicksalsschläge zuteilwerden lässt, wird von Seneca mit einem strengen Vater und mit einem strengen Lehrer verglichen – die Härte der Erziehung ergibt sich aus der Liebe zu den Kindern und entspricht der Hoffnung, die auf die Schüler gesetzt wird.105 Die Frage stellt sich, ob und wie dieser Gottesbegriff, der dem christlichen Monotheismus nahezukommen scheint,106 mit dem Kult der im römischen Reich verehrten Götter in Zusammenhang gebracht werden kann. Seneca scheint kein persön­liches Interesse an Mysterienkulten gehabt zu haben, und er hat auch der öffentlichen Religion mit ihren Tempeln und Götterbildern distanziert gegenübergestanden, wie aus einem seiner Briefe an Lucilius hervorgeht:107

100 Seneca, Naturales quaetiones I, praefatio 3; vgl. I, 1.4. 101 Seneca, Naturales quaestiones I, praefatio 13. 102 Seneca, Naturales quaestiones I, praefatio 14. 103 Seneca, De providentia I, 1. 104 Seneca, De providentia 5,4. 105 Siehe Seneca, De providentia 2,6; 4,11. 106 Vgl. dazu Fürst, Seneca – ein Monotheist?, 102. 107 Seneca, ep. 41, 1–2.

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Nicht brauchen wir die Hände zum Himmel zu erheben noch den Tempelhüter anzuflehen, daß er uns zum Ohr des Götterbildes Zutritt gewähre, als ob wir so eher erhört werden könnten: Nahe ist Dir Gott, mit Dir ist er, in Dir ist er. Das behaupte ich, Lucilius, ein heiliger Geist wohnt in uns, als Beobachter und Überwacher unserer bösen und guten Taten; … Neben dieser Möglichkeit, Gott im Innern des Menschen zu begegnen – was an das Daimonion als die innere Stimme des Sokrates erinnert, von dem Platon in der „Apologia Socratis berichtet –, kennt Seneca noch eine andere Möglichkeit, zum Gottesglauben zu finden:108 Wenn Dir ein Hain auffällt mit einem dichten Bestand von alten, über die normale Höhe hinausgewachsenen Bäumen, … so wird jene Erhabenheit des Waldes … in Dir den Glauben an ein göttliches Walten aufkommen lassen. Von kultischer Verehrung des Göttlichen erwähnt Seneca in diesem Zusammenhang nur die Altäre, die an natürlichen Quellen aufgestellt sind – dies erscheint ihm offensichtlich sinnvoll. Dieser Bezug der Religiosität zur Natur lässt es verständlich erscheinen, wenn der Gottesbegriff Senecas in der Forschung oft als Pantheismus bezeichnet worden ist, nicht als Monotheismus. In der modernen Naturschutz-­ Bewegung hat diese religiöse Betrachtung der Natur wieder eine große Aktualität erlangt. Das würde auch für das Axiom der Ethik Senecas gelten: denn das höchste Gut des Menschen besteht darin, sich „nach dem Willen der Natur zu verhalten“.109 Aus der Betrachtung der Natur hat Seneca auch einzelne moralische Ideale abgeleitet, wie das Ideal der Milde: die Natur habe gerade den König der Bienen ohne Stachel gelassen – „Die Natur wollte nämlich nicht, daß er wild sei und nach einer Rache strebe, die teuer bezahlt werden müßte. So hat sie ihm die Waffe entzogen und seinen Zorn waffenlos gelassen. Das ist für große Könige ein gewaltiges Vorbild.“110 Dieser Ansatz seiner Ethik hat ihn zwar nicht dazu geführt, die Institution der Sklaverei überhaupt als naturwidrig zu erkennen. Doch hat Seneca immerhin ein Prinzip formuliert, das in der modernen Menschenrechts-Bewegung Aktualität erhalten hat, besonders was die Debatte über die Folter betrifft. Im Hinblick auf einen Zeitgenossen, der seine Sklaven besonders grausam zu bestrafen pflegte, bemerkt Seneca:111 Obwohl dem Sklaven gegenüber alles erlaubt ist, gibt es etwas, was das allgemeine Recht der Lebewesen verbietet, daß es gegen Menschen erlaubt sei.

108 Seneca, ep. 41, 3. 109 Seneca, ep. 66, 39. 110 Seneca, De clementia I, 19,3. 111 Seneca, De clementia I, 18,2.

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Die stoische Ethik Senecas wird zwar in der Reflexion über die Endlichkeit des menschlichen Daseins entfaltet – Seneca hat die Möglichkeit des Selbstmords explizit angesprochen, und er hat diese Möglichkeit ja auch selbst realisiert und, dem Bericht des Tacitus zufolge, demonstriert, dass er keine Furcht vor dem Tod hatte. Die Reflexion über die Endlichkeit hat aber nicht zu einer eschatologischen Theorie geführt. Seneca hat weder eine Unsterblichkeit der Seele behauptet, wie Platon, noch eine Auflösung der Seele, wie Epikur.112 Die mangelnde Bindung an öffentliche, staatliche Kulte führt aber nicht zu einer Inkompatibilität. Dies zeigt sich schon darin, dass Seneca bereit ist, von dem vergöttlichten Kaiser Augustus zu sprechen: „Daß er ein Gott ist, glauben wir nicht wie Leute, denen es befohlen wurde.“113 Damit erkennt er die Institution der Konsekration an, allerdings unter der Voraussetzung, dass der betreffende Kaiser im Leben seiner Aufgabe gerecht geworden ist. Dies lässt Seneca für Augustus gelten, insofern als dieser sich in fortgeschrittenem Alter zu einem „milden“ Herrscher entwickelt hatte. Senecas Gottesbegriff ist von einigen Vertretern des frühen Christentums als verwandt empfunden worden, so von Laktanz.114 Diese Auffassung hat einen anonymen Verfasser im vierten Jahrhundert dazu geführt, einen Briefwechsel zwischen Paulus und Seneca zu schreiben, mit dem Ziel, den Philosophen zu einem Christen zu machen und damit für das Christentum zu vereinnahmen. Interessant an diesem Versuch ist allerdings weniger der Inhalt, als vielmehr die Intention des Verfassers, eine Verbindung zwischen Christentum und stoischer Philosophie herzustellen: „Der Inhalt dieser kurzen Schreiben ist nämlich an Dürftigkeit kaum zu über­bieten.“, wie Alfons Fürst in seiner Einführung zur Ausgabe des Briefwechsels bemerkt.115 Um die Wende zum zweiten Jahrhundert hat Epiktet (50–138) gelehrt, ebenfalls ein bekannter Vertreter der stoischen Philosophie, der in seiner Auslegung dieser Tradition aber andere Akzente setzt. Neben der ethischen Unterweisung treten in Epiktets populären Lehrreden (Diatriben) theologische Themen noch stärker in den Vordergrund. Wie Seneca geht er davon aus, dass die Arbeit des Philosophen darin besteht, „seinen eigenen Willen in Übereinstimmung mit dem Weltgeschehen“ zu bringen. Bei der Frage, wie dieses Ziel erreicht werden kann, kommt Epiktet aber gleich auf Gott zu sprechen:116 Wie die Philosophen sagen, muß man zuerst lernen, daß es einen Gott gibt und daß er für alles vorsorgt und daß es unmöglich ist, vor ihm verborgen zu bleiben – … 112 Siehe z. B. De providentia 6,6; ep. 65,24. 113 Seneca, De clementia I, 10,3. 114 Vgl. dazu Fürst, Seneca – ein Monotheist?, 102. 115 Fürst, Einführung, 3. 116 Epiktet, Diatriben 2, 14.

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Sodann müssten die Eigenschaften der Götter erforscht werden, an denen sich dann das Verhalten der Menschen orientieren müsse: Wenn die Gottheit zuverlässig und treu ist, dann muß auch der Mensch treu und zuverlässig sein. Wenn sie wohltätig ist, dann muß auch der Mensch wohltätig sein. Wenn sie großzügig ist, dann hat auch der Mensch großzügig zu sein. Deshalb muß er sich in allem, was er sagt und tut, als ein Nachahmer Gottes erweisen. Auf die naheliegende, kritische Frage, „wie er davon überzeugt sein könne, daß alles, was er tue, von Gott gesehen werde“ antwortet Epiktet zunächst mit dem Hinweis auf die geordneten Abläufe in der Natur.117 Sodann richtet er den Blick auf den Menschen, der als Teil der Natur zugleich darüber reflektieren kann, um dann die rhetorische Frage zu stellen: Da sollte Gott nicht imstande sein, alles zu überblicken, in allem gegenwärtig zu sein und von allem eine bestimmte Mitteilung zu empfangen? Aus der Erkenntnis Gottes, zu der Epiktet seine Schüler führen will, folgt dann sogleich eine Verpflichtung, die in dieser Lehrrede im Vergleich mit dem Eid des Soldaten beschrieben wird: „Und was werdet ihr schwören? Niemals ungehorsam zu sein, niemals euch zu beklagen und über etwas zu schimpfen, was euch von Gott gegeben worden ist, …“. Wie Seneca kann auch Epiktet vom Gott im Menschen sprechen:118 Du Unglücksmensch, du trägst einen Gott mit dir herum und weißt es nicht. … Du trägst ihn in dir, und du merkst gar nicht, daß du ihn durch unreine Gedanken und schmutzige Handlungen besudelst. Anders als Seneca legt Epiktet aber auch Wert darauf, die Verbindung zur traditionellen, religiösen Praxis zu erhalten. Für den, der sich um Frömmigkeit bemüht, gilt auch:119 Aber Trank- und Rauchopfer und die Erstlingsgaben nach Vätersitte darzubringen, ist stete Pflicht – mit reinem Herzen, nicht zerstreut, nicht nachlässig, nicht knausrig, aber auch nicht über unsere Mittel hinaus. So geht es Epiktet nicht nur darum, die richtigen Vorstellungen über Gott zu haben, sondern auch darum, Dankbarkeit zu zeigen und Gott zu preisen: „Denn was kann ich, ein hinkender alter Mann, sonst noch, außer Gott zu preisen?“120 117 Epiktet, Diatriben I, 14. 118 Epiktet, Diatriben II, 8. 119 Epiktet, Handbüchlein der Moral, 31. 120 Epiktet, Diatriben I, 16.

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Die Verbindung von stoischer Philosophie und traditioneller religiöser Praxis ist im zweiten Jahrhundert z. B. im Werk und im Leben des Kaisers Mark Aurel zu erkennen: im Bereich seiner persönlichen Religiosität philosophiert er in der stoischen Tradition,121 im Bereich seiner öffentlichen Tätigkeit als politischer Funktionsträger beteiligt er sich am traditionellen Kult. Der Religionshistoriker Pierre Hadot hat ihm besondere Aufmerksamkeit gewidmet, in seiner Deutung der antiken Philosophie als Lebensform. Epikur und der Epikureismus Im Gegensatz zu den Stoikern haben die Epikuräer überwiegend ein schlechtes Image gehabt, und das Erstaunliche ist, dass die antiepikuräische Polemik sowohl von Heiden als auch von Christen kommt. Diogenes Laertios berichtet über die heidnische Polemik, dass z. B. der Stoiker Diotimos, „der Epikur nicht ausstehen konnte …50 obszöne Briefe unter dessen Namen edierte“, um ihn in Verruf zu bringen.122 Der Philosoph Plutarch, der zugleich Apollon-Priester in Delphi war, hat mehrere Schriften gegen Epikur verfasst, und der Kirchenvater Klemens von Alexandrien hat Epikur als „Bahnbrecher der Gottlosigkeit“ bezeichnet.123 Im christlichen Abendland ist der Begriff „Epikuräer“ geradezu zu einem Schimpfwort geworden, das den Addressaten als Hedonisten und/oder als Atheisten diffamieren soll.124 Allerdings hat es immer wieder auch einzelne Versuche gegeben, Epikur zu rehabilitieren und die epikureische Lebensweise zu verteidigen.125 Diogenes Laertios hat die Polemik gegen Epikur als völlig unbegründet zurückgewiesen und die Humanität Epikurs betont, sein Wohlwollen gegenüber allen Menschen, auch gegenüber Sklaven.126 Die Vorwürfe des Hedonismus und des Atheismus lassen es auf den ersten Blick vielleicht zweifelhaft erscheinen, ob der Epikureismus als ein Teil der europäischen Religionsgeschichte gelten kann. Der Blick auf die Originalschriften Epikurs, von denen nur ein verschwindend kleiner Teil erhalten ist, zeigt allerdings schnell, dass die Polemik nicht berechtigt ist. Einer der drei erhaltenen Lehrbriefe Epikurs, der Brief an Menoikeus, handelt „von den Problemen der Lebensgestaltung“, wie Diogenes Laertios feststellt, der diese Briefe überliefert.127 In diesem Brief wird zwar gesagt, die „Lust“ (hedone) 121 Siehe z. B. Marc Aurel, Wege zu sich selbst II, 11; 17. 122 Diogenes Laertios, X, 3. 123 Vgl. dazu Berner, Plutarch und Epikur, 117f. Plutarch hat u. a. auch die unpolitische Haltung Epikurs kritisiert, die Propagierung einer „alternativen Lebensform“ (vgl. dazu Peter Scholz, Der Philosoph und die Politik, 313). 124 Siehe z. B. Hieronymus’ Polemik gegen Jovinian. Vgl. dazu Berner, Epicurus’ role, 45–47; vgl. auch Kimmich, Epikureische Aufklärungen, 60–67. 125 Siehe z. B. Cosma Raimondi (1400–1435) und Lorenzo Valla (1405–1457). Vgl. dazu Kimmich, Epikureische Aufklärungen, 83–88; Zintzen, Epikur in der Renaissance, 260–265; Berner, Epicurus’ Role, 49–51. 126 Diogenes Laertios, X, 9f. 127 Diogenes Laertios, X, 29.

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sei „Ursprung und Ziel des glückseligen Lebens“, doch wird das Verständnis dieser Lust ausdrücklich gegen die Missverständnisse abgegrenzt, die sich mit dem Begriff des „Lustprinzips“ verbinden können:128 Wenn wir also sagen, die Lust sei das Ziel, meinen wir damit nicht die Lüste der Hemmungslosen und jene, die im Genuß bestehen, wie einige, die dies nicht kennen und nicht eingestehen oder böswillig auffassen, annehmen, sondern: weder Schmerz im Körper noch Erschütterung in der Seele zu empfinden. Epikur hat also nicht dazu aufrufen wollen, dem Lustprinzip zu folgen, ohne Rücksicht auf die konventionellen moralischen Normen zu nehmen. Er hat vielmehr einen notwendigen Zusammenhang zwischen Lust und Tugend postuliert und in demselben Lehrbrief ausdrücklich behauptet, „daß es nicht möglich ist, lustvoll zu leben, ohne einsichtsvoll, vollkommen und gerecht zu leben“.129 In einer späteren Darstellung des Epikureismus wird das Ergebnis der Weisheit in einer Weise beschrieben, die geradezu an den Buddhismus erinnert: „Von ihren Lehren unterwiesen kann man ein Leben in Ruhe führen, wenn die Glut sämtlicher Begierden erloschen ist.“130 Wenn noch hinzugenommen wird, dass Epikur selbst ein bescheidenes, um nicht zu sagen asketisches Leben geführt hat – wie Diogenes Laertios berichtet, war er mit Wasser und billigem Brot zufrieden –, dann stellt sich die Frage, wie es zu dem Image Epikurs als eines Hedonisten und geradezu Anti-Asketen gekommen ist. Dasselbe gilt für den Vorwurf des Atheismus: In dem Brief an Menoikeus stellt Epikur ausdrücklich fest, dass die Götter existieren, denn „unmittelbar einleuchtend ist deren Erkenntnis“.131 Er scheint nur seine eigene Vorstellung von den Göttern entwickelt zu haben, wenn er fortfährt: „Wofür sie jedoch die Masse hält, so geartet sind sie nicht“. Und es scheint so, als ob er sich hier bereits gegen den Vorwurf des Atheismus verwahren will: Ehrfurchtslos aber ist nicht der, der die Götter der Masse abschafft, sondern der, der die Vermutungen der Masse den Göttern anhängt. Epikur wäre demnach in die Tradition der internen Religionskritik einzuordnen, die schon mit den Vorsokratikern beginnt, in der es darum geht, die anthropomorphen Vorstellungen durch einen gereinigten Gottesbegriff zu ersetzen. Umso dringlicher stellt sich dann die Frage, wie es zu der Polemik gegen Epikur kommen konnte. Diese Frage lässt sich beantworten, wenn der Blick auf Epikurs Naturphilo­sophie gerichtet wird, aus der seine Ethik und seine Theologie abgeleitet sind: es ist ein materialistisches Weltbild, in dem Sinne, dass es – im Gegensatz zu Platon – nicht 128 Diogenes Laertios, X, 128; 131 129 Diogenes Laertios, X, 132. Vgl. Cicero, de finibus, I, 57. 130 Cicero, De finibus, I, 43. 131 Diogenes Laertios, X, 123.

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zwischen körperlichem und unkörperlichem Sein unterscheidet, sondern Atome als letzte Grundlage annimmt. Epikur konnte hier bereits an Philosophen der klassischen Zeit anknüpfen, vor allem an Demokrit.132 Wenn die Seele des Menschen aber „ein feinteiliger Körper ist“, wie Epikur in dem naturphilosophischen Lehrbrief an Herodot feststellt, dann folgt daraus, dass die Seele nicht unsterblich ist.133 Diese Konsequenz wird in dem Brief an Menoikeus thematisiert:134 Gewöhne dich ferner daran zu glauben, der Tod sei nichts, was uns betrifft. Denn alles Gute und Schlimme ist nur in der Empfindung gegeben; der Tod aber ist die Vernichtung der Empfindung. Daher macht die richtige Erkenntnis – der Tod sei nichts, was uns betrifft –, die Sterblichkeit des Lebens erst genußfähig, weil sie nicht eine unendliche Zeit hinzufügt, sondern die Sehnsucht nach der Unsterblichkeit von uns nimmt. Aus dem atomistischen, materialistischen Weltbild ergibt sich auch die besondere Theologie Epikurs: dass er zwar die Existenz von Göttern annimmt, weil die Vorstellung von Göttern irgendeine reale Grundlage haben muss; dass er aber den Göttern jedes Interesse am Schicksal der Welt und der Menschen abspricht, weil die Prozesse in der Welt eben nach Naturgesetzen ablaufen, die keine übernatürliche Einwirkung zulassen. Damit entfällt aber die Möglichkeit, mit den Göttern in Kontakt zu treten, sie um etwas zu bitten oder ihren Willen zu erfahren. Die Teilnahme am traditionellen Kult wäre dann nur noch in der Art einer Meditation sinnvoll, die sich vom Gebet – wie z. B. des stoischen Philosophen – deutlich unterscheidet. Epikur widerspricht damit all jenen, die den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und an die Fürsorge der Götter für unverzichtbar halten. So ist es verständlich, dass sich eine Polemik gegen Epikur entwickelt hat, die ihn als Zerstörer der Religion zu diffamieren sucht, wie es Cicero in dem Dialog Über das Wesen der Götter gleich zu Beginn andeutet:135 wenn die Götter sich um uns überhaupt nicht kümmern, unser Tun nicht beachten und von ihnen her nichts auf das Leben der Menschen einwirkt, wozu sollen wir dann den unsterblichen Göttern irgendwelche Kulte einrichten, ihnen Ehren erweisen und Gebete an sie richten? Diese Überlegung dürfte auch in der Gegenwart auf große Zustimmung stoßen, weil es eine verbreitete Meinung ist, dass das Wesen des Gottesglaubens gerade in 132 Siehe Cicero, De finibus, I, 17f. 133 Siehe Diogenes Laertios, X, 63. 134 Diogenes Laertios, X, 124. 135 Cicero, De natura deorum, I, 3. Zur Verteidigung Epikurs gegen den Vorwurf des Atheismus in Philodems „De pietate“ vgl. Obbink, 3–18.

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der Vorstellung der Interaktion liegt.136 Und wenn es zutrifft, dass die Ethik Epikurs „ein Modell der Normenbegründung darstellt, das versucht, unser Handeln auf eine durch und durch rationale Grundlage zu stellen“,137 dann stellt sich noch einmal die Frage, ob es sinnvoll ist, die Philosophie Epikurs in die Religionsgeschichte einzuordnen. Es ist aber nicht unmöglich, dass eine Ethik, die eine „echte Wissenschaft der Lebenskunst, keine Praktik“ ist,138 eine religiöse Funktion erfüllt. Denn die Aufgabe der Naturphilosophie, aus der die Normen für das richtige Leben abgeleitet werden, besteht ja darin, den Menschen zur Glückseligkeit und Ataraxie zu führen.139 Damit ist zugleich die Grenze des Interesses an (natur)wissenschaftlicher Forschung angedeutet: die Weisheit ist als Lebenskunst zu betrachten (ars vivendi), und sie wird gesucht, weil sie etwas bewirkt.140 Außerdem gibt es Zeugnisse aus der späteren Antike, die eindeutig erkennen lassen, dass die Philosophie Epikurs für einzelne Menschen jene Orientierungsfunktion übernehmen konnte, die eingangs als „religiös“ definiert worden ist. Zunächst wäre der römische Dichter Lukrez zu nennen (1. Jahrhundert v. Chr.), der die atomistische Naturphilosophie Epikurs übernimmt und die Tradition der internen Religionskritkik fortführt. Gleich im ersten Buch bringt er eine Geschichte aus dem trojanischen Sagenkreis zur Sprache: dass Agamemnon seine Tochter Iphigenie für die Göttin Artemis geopfert hat, um günstigen Fahrtwind für seine Flotte zu erhalten – „Soviel hat Furcht vor den Göttern raten können Verbrechen!“141 Dieses Lukrez-Zitat hat der Atheist Christopher Hitchens in seinem Buch „God is not Great“ als Motto dem Kapitel „Religion kills“ vorangestellt:142 To such heights of evil are men driven by religion. Die Befreiung vom Aberglauben und die Erkenntnis der Natur führen zur Seelenruhe, und so kann Epikur in hymnischem Stil gepriesen und als geradezu göttliches Vorbild verehrt werden:143 Aus so tiefem Dunkel so strahlendes Licht zu erheben der du als erster vermocht hast, die Güter des Lebens erleuchtend, dir folg ich nach, o Zierde des griechischen Stammes, in deiner Füße geprägtes Mal setz ich die haftenden Spuren, nicht begierig so sehr zu streiten, als vielmehr aus Liebe, weil dir nachzustreben ich glühe …

136 Vgl. dazu z. B. Stark/Finke, Acts of Faith, 91. 137 Hossenfelder, Der Epikureismus, 49. 138 Hossenfelder, ebda. 139 Siehe Diogenes Laertios, X, 78; 85. 140 Siehe Cicero, De finibus, I, 42. 141 Lukrez, De rerum natura, I, 101. 142 Hitchens, God is not great, 15. 143 Lukrez, De rerum natura, III, 1–6.

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Der Epikureismus war noch vor dem Beginn der Kaiserzeit in der römischen Welt bekannt geworden, nicht nur durch Lukrez, sondern auch durch die Darstellung des epikureischen Standpunktes in den philosophischen Dialogen Ciceros. Der Papyrusfund von Herculaneum, der Nachbarstadt des bekannteren Pompeii, hat Schriften des Epikuräers Philodemos zutage gefördert. Seneca hat oft auf Lehren Epikurs Bezug genommen, und dies ohne Polemik, wie es bei einem Stoiker hätte erwartet werden können.144 Die Tatsache, dass Plutarch mehrere Schriften gegen die Epikuräer verfasst hat, zeigt ja, dass diese Schule um die Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert lebendig war. Dies zeigt sich auch in der Stadt Oenoanda, in der heutigen Türkei: dort ist eine monumentale Inschrift gefunden worden, in der ein gewisser Diogenes ein Bekenntnis zum Epikureismus ablegt und die Lehre Epikurs als Heilmittel gegen falsche Vorstellungen darstellt.145 Die Länge der Inschrift, die öffentlich an der Wand einer Säulenhalle angebracht war, wird auf 80 Meter geschätzt. Es gab hier, wohl im 2. Jahrhundert, offensichtlich einen Kreis von Epikuräern – um nicht zu sagen eine „Gemeinde“ –, die es auch für angebracht hielten, ihre Gedanken den Mitbürgern und den Fremden, die ausdrücklich erwähnt werden, mitzuteilen. Der Kirchenvater Augustin fühlte sich auf seinem langen Weg zum Christentum zeitweise von der Lehre Epikurs angezogen, die ihm durch die Schriften Ciceros bekannt geworden war. Im Gespräch mit seinen Freunden, so berichtet er rück­ blickend in seinen „Bekenntnissen“, habe er erklärt:146 in der Frage nach dem höchsten Gut und dem größten Übel müßte ich im Geist dem Epikur die Palme reichen, wenn nicht ich für meinen Teil an das Weiterleben der Seele nach dem Tode und das Fortwirken von Verdienst und Miß­ verdienst glaubte, woran ja Epikur nicht glauben wollte. Diese Unvereinbarkeit von Epikureismus und Christentum, was die Seelenlehre betrifft, hat einzelne christliche Theologen aber nicht daran gehindert, die epikureische Mythenkritik aufzugreifen und zur Verteidigung des Christentums zu verwenden, wie z. B. Minucius Felix in seinem Dialog „Octavius“. Die Kyniker Wenn es schon im Falle des Epikureismus problematisch erscheinen konnte, von Religion zu sprechen, so gilt dies noch viel mehr für den Kynismus – der moderne Begriff des Zynismus ist ja davon abgeleitet. Und die Bezeichnung als „Kyniker“, die 144 Siehe z. B. Seneca, De otio 3 (2). 145 Scholz spricht von einem „philosophischen Manifest“ (Ein römischer Epikuräer, 212). Vgl. dazu Smith, Introduction, 121–127. Zu den neuesten Forschungsergebnissen siehe Hammerstaedt, The Philosophical Inscription of Diogenes. 146 Augustin, Confessiones, VI, 16,26.

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von dem griechischen Wort „kyon“ = Hund abgeleitet ist, bezieht sich ursprünglich wohl auf die Schamlosigkeit (anaideia), die Diogenes von Sinope in seinem Verhalten gezeigt habe, wie der antike Philosophiehistoriker Diogenes Laertios über ihn berichtet: „Alles erledigte er in der Öffentlichkeit, die Befriedigung sowohl seiner Nahrungs- als auch seiner Sexualbedürfnisse.“147 Außerdem hat es den Anschein, dass die Kyniker wenig Interesse an religiösen Themen gehabt haben, nach den Titeln der Schriften zu urteilen, die von kynischen Philosophen verfasst wurden.148 Da in der neueren Forschung aber auch von Jesus als einem jüdischen Kyniker die Rede ist,149 erscheint es doch notwendig, nach der Religiosität oder auch nach der „Frömmigkeit der Kyniker“ zu fragen.150 Die philosophische Schule – oder vielleicht besser: Richtung oder Tradition – der Kyniker ist noch vor dem Beginn der hellenistischen Epoche entstanden. Als Gründer gilt Antisthenes, ein Schüler des Sokrates. Der bekannteste Vertreter ist aber sicherlich jener Diogenes von Sinope, der in einer Tonne gelebt haben soll. Bekannt ist die Geschichte von der Begegnung zwischen Diogenes und Alexander dem Großen: „Während er sich einmal im Kraneion sonnte, trat Alexander an ihn heran und sagte: „Wünsch dir, was du möchtest!“ Und er: „Geh mir aus der Sonne!“.151 Es ist noch eine andere Begegnung mit Alexander dem Großen überliefert, in der Diogenes sich als „Hund“ vorstellt und damit zugleich die Bezeichnung „Kyniker“ erklärt, die ursprünglich eine Fremdbezeichnung war, dann aber als Selbstbezeichnung übernommen wurde:152 Einst trat Alexander heran und sagte: „Ich bin Alexander der Große“, worauf er: „Und ich bin Diogenes der Hund“. Auf die Frage, weshalb er Hund heiße, antwortete er: „Weil ich mit Schwänzeln begrüße, die mir etwas geben, anbelle, die mir nichts geben, und beiße, die Böses tun.“ Dem Bericht des Diogenes Laertios zufolge war es die Stärke des Diogenes, „die Zeitgenossen zu verhöhnen“.153 Seine kritischen, provozierenden Bemerkungen richteten sich auch gegen religiöse Institutionen:154 Den Athenern, die ihn aufforderten, sich in die Mysterien einweihen zu lassen, mit der Begründung, daß die Eingeweihten ja priviligierte Plätze im Hades bekämen, antwortete er: „Es wäre lächerlich, wenn Agesilaos und Epameinondas da 147 Diogenes Laertios, VI, 69. 148 Vgl. dazu Goulez-Caze, Kynismus und Christentum, 57–59. 149 Siehe Lang, Jesus der Hund. 150 Siehe Rahn, Die Frömmigkeit der Kyniker. 151 Diogenes Laertios VI, 38. 152 Diogenes Laertios, VI, 60. Diese Begegnung ist auch im Arabischen, also im islamischen Kontext, überliefert. Vgl. dazu Overwien, Die Sprüche des Kynikers Diogenes, 363. 153 Diogenes Laertios, VI, 24. 154 Diogenes Laertios, VI, 39.

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im Dreck vegetierten, Nichtsnutze aber, nur weil eingeweiht, auf den Inseln der Seligen wohnen würden.“ Wenn diese Anekdote noch als ein Beispiel der internen Religionskritik gedeutet werden kann, so scheint eine andere schon eine grundsätzliche Kritik der Religion anzudeuten: „Einst beobachtete er, wie die Tempelpriester einen Schatzverwalter abführten, der eine Schale gestohlen hatte, und bemerkte: „Die großen Diebe fangen die kleinen.“155 Von einem Atheisten könnte die Bemerkung stammen, die Diogenes Laertios überliefert: Als jemand die Weihegeschenke auf der Insel Samothrake bestaunte – gestiftet von denen, die nach ihrem Schiffbruch gerettet worden waren, habe Diogenes dazu bemerkt: „Es wären noch viel mehr, wenn auch die nicht Geretteten hätten stiften können.“156 Diogenes Laertios fügt hinzu, diese Bemerkung werde von anderen dem Diagoras von Melos zugeschrieben.157 Dieser Zusatz lässt zugleich die unsichere Quellenlage deutlich werden. Ein kritisches Urteil über Diogenes, das ihn wegen seiner Schamlosigkeit als einen Außenseiter der menschlichen Gesellschaft erscheinen lässt, findet sich in einer Satire Lukians von Samosata, eines Autors aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. Im „Verkauf von Philosophentypen“ wird auch Diogenes zum Verkauf angeboten; und nachdem er sich das Programm der kynischen Lebensform angehört hat, sagt der potentielle Käufer „Geh; was du vorbringst, ist schmutzig und entspricht nicht der Würde eines Menschen.“ Auch im „Tod des Peregrinus“ hat Lukian die Karikatur eines kynischen Philosophen gezeichnet: gleich zu Beginn seiner Darstellung deutet er die Selbstverbrennung dieses Kynikers als Folge von Dummheit und Ruhmsucht. Es gab in der späteren Antike aber auch ein anderes, positives Bild von Diogenes und den „wahren“ Kynikern. Der stoische Philosoph Epiktet hat ein Idealbild des kynischen Philosophen gezeichnet und ihn als einen Diener (hyperetes) des Zeus bezeichnet.158 Und der Kaiser Julian „Apostata“, der vom Christentum abgefallen war, hat in seiner „Rede gegen die ungebildeten Hunde“ den „wahren“ Kynismus verteidigt, als einen der (philosophischen) Wege, die zur Wahrheit führen: 159 Das Endziel der kynischen Philosophie ist nun freilich wie bei der Philosophie überhaupt die Erreichung der Glückseligkeit. Sie sucht die Glückseligkeit aber in dem naturgemäßen und nicht von den Meinungen der großen Menge abhängigen Leben. Epiktet wie Julian waren sich dessen bewusst, dass sie nur das Ideal der kynischen Lebensform verteidigen, wie sie es z. B. bei Diogenes verwirklicht sehen, dass es 155 Diogenes Laertios, VI, 45. 156 Diogenes Laertios, VI, 59. 157 So auch Cicero, de natura deorum III, 89. Zu Diagoras als einem der aus der Antike bekannten Atheisten vgl. Winiarczyk, Methodisches zum antiken Atheismus. 158 Epiktet, Diatriben, III, 22,82. 159 Julian Apostata, Werke 193D.

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daneben aber viele Nachahmer des Diogenes gibt, die den Kynismus in Verruf bringen. Ob und wie weit das idealisierte Bild von Diogenes als dem „wahren“ Kyniker der historischen Wirklichkeit entspricht, ist eine andere Fage, die nicht entschieden werden kann, weil es nur eine Sammlung von Anekdoten über Diogenes gibt – er selbst hat ja nichts Schriftliches hinterlassen. Goulet-Caze spricht von „Aufklärung“ und betrachtet Diogenes als einen Agnostiker.160 Auf jeden Fall ist es im Hinblick auf die spätere Tradition, die das Ideal des Kynikers beschreibt, vertretbar, wenn Helmut Rahn den antiken Kynismus als „religiöses Phänomen“ beschreibt, als „Antithese zur konventionellen Kultfrömmigkeit“ und als einen wichtigen „Bestandteil gerade der griechischen Religionsgeschichte“.161 Die polarisierende Wirkung des Kynismus zeigt sich auch in der Gegenwart. Der französiche Philosoph Michel Onfray glaubt bei den Kynikern eine grundsätzliche Kritik der Religion zu erkennen: „Der Kyniker mag die Religion nicht: er weiß, wie sehr sie darauf erpicht ist, die individuellen Freiheiten und Besonderheiten einzuschränken.“162 Onfray, selbst ein bekannter Kritiker der Religion, und insbesondere des Christentums, stellt Diogenes auf eine Stufe mit Friedrich Nietzsche: „Diogenes gegen Platon, Nietzsche gegen das Christentum – Jesus verstanden als Echo des Platonismus an die Adresse der Massen.“163 Wenn es zutrifft, dass Diogenes „schamlos seine Verachtung und Gleichgültigkeit gegenüber den Göttern“ gezeigt hat, und dass die Kyniker uns „die Unverschämtheit gegenüber allem“ lehren, „was sich mit den Federn des Heiligen schmückt“,164 dann könnte es wieder als fraglich erscheinen, ob diese philosophische Schule in die Religionsgeschichte eingeordnet werden kann – in welchem Sinn von einer Religiosität oder gar Frömmigkeit der Kyniker gesprochen werden kann. Es gibt aber auch ganz andere Deutungen, die den Kynismus nicht als Antithese zum Christentum sehen. So ist z. B. das Armutsideal als ein Ansatzpunkt für Vergleiche mit neutestamentlichen Texten entdeckt worden. Der Alttestamentler und Religionshistoriker Bernhard Lang geht davon aus, dass Jesus der kynischen Philosophie begegnet ist und „manches aus ihr begeistert aufgegriffen“ hat.165 Er geht so weit, Jesus als einen „kynischen Philosophen“ zu bezeichnen, sowie als „Vorbild und Leitgestalt des christlichen Kynismus“.166 Lang und Onfray stimmen darin überein, dass die kynische Philosophie große Aktualität hat. Lang verweist auf drei moderne Philosophen – Popper, Foucault und Sloterdijk – die Diogenes als Vorbild des freien 160 Goulet-Caze, Religion and the Early Cynics, 79f; vgl. dies., Kynismus und Christentum, 44f. 161 Rahn, Die Frömmigkeit der Kyniker, 255/56. Das Bild eines religiösen Diogenes konnte auch in der arabischen Überlieferung seiner Sprüche, also im islamischen Bereich, rezipiert werden. Vgl. dazu Overwien, Sprüche, 205f. 162 Onfray, Der Philosoph als Hund, 138. 163 Onfray, ebda, 84. 164 Onfray, ebda, 138; 176. 165 Lang, Jesus der Hund, 12. Vgl. auch schon Downing, Cynics and Christian Origins, 3: „… some kind of Cynic influence may well have been accepted by Jesus of Nazareth himself “. 166 Lang, ebda, 51; 149. Zur Debatte über die Position von Bernhard Lang siehe Goulet-Caze, Kynismus und Christentum, 182–186.

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Menschen betrachtet haben, und er reflektiert über die Möglichkeit eines Christentums, „das sich auf ihr kynisches Erbe wieder besinnt“.167 Er verweist aber nicht auf den Atheisten Onfray, der ebenfalls Diogenes als ein Vorbild hinstellt: „Unbestreitbar könnte Diogenes im ausgehenden 20. Jahrhundert seinen Platz finden. Schade, daß er ihn nicht einnimmt, er fehlt uns grausam!“.168 Onfray jedoch denkt dabei gerade an den Abschied vom Christentum, im Anschluss an Nietzsche. Aus der Sicht der Religionswissenschaft stellen sich zwei Fragen: zum einen die Frage, ob eine Begegnung Jesu mit kynischer Philosophie und/oder Spuren eines jüdischen Kynismus im Neuen Testament nachweisbar sind;169 zum andern die Frage, ob und wie weit der Widerspruch zwischen dem Lob des Kynismus, wie es sich auf der einen Seite bei Onfray und auf der anderen Seite bei Lang findet, auf unterschiedlichen Vorstellungen vom Kynismus und/oder dem Christentum beruht. Die Skeptiker Ebenso wie im Falle des Kynismus könnte es auch auf Widerstand stoßen, den Skeptizismus in die Religionsgeschichte einzubeziehen. Es ist ebenfalls eine philosophische Schule, die noch vor Beginn der hellenistischen Epoche entstanden ist und sich in den folgenden Jahrhunderten entfaltet hat. Es könnte eingewandt werden, dass Skeptizismus gerade das Gegenteil von Religion ist, insofern als der Zweifel den Glauben untergräbt. In der christlichen Tradition gibt es ja die Geschichte vom ungläubigen Thomas, die den Skeptiker als das Gegenbild zum wahren Jünger Jesu erscheinen lässt. Und zumindest die evangelischen Christen könnten den Ausspruch des Reformators Martin Luther kennen, der festgestellt hat, „der Heilige Geist ist kein Skeptiker“.170 Luthers Abneigung gegen den Skeptizismus erscheint verständlich, wenn zur Kenntnis genommen wird, dass es in der Gegenwart eine „skeptic society“ gibt, die ein religionskritisches Programm verfolgt, und dass die Vertreter des „Neuen Atheismus“ den Skeptizismus als Alternative zur Religion betrachten und positiv bewerten.171 Außerdem ist es vielleicht kein Zufall, dass sich unter den antiken Philosophenstatuen keine Darstellung eines Skeptikers findet. Die „dogmatischen“ Philosophenschulen sind vertreten und in ihren wichtigen Schulhäuptern dargestellt, jeweils die Ausrichtung ihrer Lehre anschaulich machend. Der klassische Archäologe Paul Zanker hat die Unterschiede in der Darstellung epikureischer Philosophen und eines Stoikers beschrieben: es falle sogleich ins Auge, „wie sehr die Epikureer in Habitus und Haltung einander ähneln und wie grundsätzlich sie sich von dem Stoiker unterscheiden. Im Gegensatz zu dessen von Anstrengung geprägten Gesicht 167 Lang, ebda, 166; 172–176. 168 Onfray, Der Philosoph als Hund, 174. 169 Zur Kritik der Konstruktion einer Nachwirkung des Kynismus im Neuen Testament siehe Döring, Die Kyniker, 105. Döring spricht von einem „Phantasieprodukt“. 170 Siehe Luther, Vom unfreien Willen, 160 (605). 171 Siehe Hitchens, God is not great, 278; Harris, The End of Faith, 281f.

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und gekrümmten Körper sitzen die drei Epikureer ruhig und gemessen, in klassisch ponderierter Haltung und mit sorgfältig drapiertem Mantel.“172 Es gibt allerdings auch einige Indizien, die es doch begründet erscheinen lassen, den Skeptizismus unter der Fragestellung zu betrachten, ob es sich um eine Strömung in der hellenistischen und vielleicht sogar der ganzen europäischen Religionsgeschichte handelt. Zunächst ist festzuhalten, dass der bekannteste Vertreter der skeptischen Philosophie, Pyrrhon von Elis (365–275), von seiner Vaterstadt dadurch geehrt wurde, „daß er zum Oberpriester berufen und seinetwegen Steuerfreiheit für alle Philo­ sophen beschlossen wurde“.173 Diese Überlieferung widerspricht der naheliegenden Erwartung, dass die Skeptiker – aufgrund des fehlenden Glaubens – sich von jeder religiösen Praxis ferngehalten hätten. Und in der christlichen Tradition hat es später einzelne Ansätze gegeben, den Skeptizismus zu integrieren und für die Verkündigung des Glaubens nutzbar zu machen. Außerdem ist wieder an den Streit zwischen Luther und Erasmus zu erinnern, in dem der letztere bekannt hat, dass er es gern mit den Skeptikern halten würde.174 Im Hinblick auf die skeptische Philosophie des Hellenismus und der späteren Antike ist zu unterscheiden zwischen der pyrrhonischen und der akademischen Skepsis. Erstere ist nach ihrem Gründer, Pyrrhon, benannt, letztere nach der „Akademie“ Platons, in der sie für einige Zeit herrschend wurde.175 Der Pyrrhonismus ist aus der Sicht der Religionswissenschaft die interessantere Version des Skeptizismus. Pyrrhon selbst hat nichts Schriftliches hinterlassen, so dass es wieder notwendig ist, auf das Material zurückzugreifen, das Diogenes Laertios überliefert hat. Hier finden sich auch einige Angaben zur Biographie: Pyrrhon soll sich als Maler versucht haben, bevor er zur Philosophie kam, und er soll mit den indischen Gymnosophisten und den Magiern zusammengekommen sein.176 Diesem Bericht zufolge wäre Pyrrhon also durch weite Reisen vielen verschiedenen Kulturen und Religionen begegnet, und diese Erfahrungen könnten seine skeptische Haltung gegenüber moralischen und ästhetischen Normen erklären, wie Diogenes Laertios selbst andeutet:177 Daher denn wohl auch die vorzügliche Form zu philosophieren durch Begründung der Unerkennbarkeit der Dinge und der Urteilsenthaltung, … Denn er lehrte, nichts sei schön oder häßlich, gerecht oder ungerecht usw., also sei nichts in Wirklichkeit so, sondern nur durch Konvention und Sitte werde der Menschen Tun bestimmt. 172 Zanker, Die Maske des Sokrates, 113. 173 Diogenes Laertios, IX, 64. 174 Siehe Erasmus, Vom freien Willen Ia4; Luther, Vorrede zu „Vom unfreien Willen“. Vgl. dazu Berner, Skeptizismus und Religionskritik, 51f. 175 Siehe Striker, Academics versus Pyrrhonists. 176 Diogenes Laertios, IX, 61. 177 Diogenes Laertios, IX, 61.

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Diese Urteilsenthaltung wird auch auf die im engeren Sinne religösen Vorstellungen bezogen: „Jedes Volk hat seine eigenen Götter, und manche glauben an die Vorsehung, andere nicht.“178 In der systematischen Darstellung des Skeptizismus, wie sie später von Sextus Empiricus gegeben wurde, ist dieser Aspekt, die Enthaltung von einem Urteil über die Existenz der Götter, breiter ausgeführt worden.179 So stellt sich doch wieder die Frage, ob der Skeptizismus als Teil der Religionsgeschichte betrachtet werden kann: Die Urteilsenthaltung in Fragen der Moral und Religion könnte es fraglich erscheinen lassen, ob der Skeptiker im Leben Orientierung finden und diese vermitteln kann. Festzuhalten ist auf jeden Fall, dass die Skeptiker dasselbe Ziel verfolgten wie alle anderen philosophischen Schulen, die „Dogmatiker“ der verschiedensten Richtungen. Denn auch die philosophischen Bemühungen des Skeptikers sollen letztlich zur Seelenruhe (Ataraxie) führen. Der Unterschied liegt darin, dass die Skeptiker behaupten, jene Seelenruhe würde gerade dann eintreten, wenn der Mensch es aufgibt, nach der letzten Wahrheit zu suchen und über deren Besitz zu streiten. Diogenes Laertios zitiert diese Auffassung in kurzer Form: „Die Skeptiker bezeichnen die Urteilsenthaltung als höchstes Ziel, dem die Ataraxie wie ein Schatten folge, …“.180 Sextus Empiricus beschreibt etwas ausführlicher, wie die skeptische Philosophie zu diesem Ziel führt:181 Die Skepsis ist die Kunst, auf alle mögliche Weise erscheinende und gedachte Dinge einander entgegenzusetzen, von der aus wir wegen der Gleichwertigkeit der entgegengesetzten Sachen und Argumente zuerst zur Zurückhaltung, danach zur Seelenruhe gelangen. Zur Beantwortung der Frage, ob der Skeptizismus eine Orientierung leisten und damit eine religiöse Funktion erfüllen kann, sind aber noch zwei Einwände zu bedenken: Der eine betrifft die Frage nach der logischen Konsistenz, der andere die nach der praktischen Bewährung. Die Vertreter der „dogmatischen“ Schulen haben behauptet, dass die Skeptiker sich in Widersprüche verwickeln, wenn sie auf der Unerkennbarkeit der Wahrheit insistieren: „Wenn sie sagen, nichts sei zu definieren und jeder Aussage widerspreche eine andere, dann definieren und lehren sie doch gerade dieses.“182 Darauf antworten die Skeptiker, Diogenes Laertios zufolge:183 In dem, was wir als Menschen erfahren, sind wir mit euch einer Meinung; denn daß es Tag ist, daß wir leben und daß es die anderen Erscheinungen der Lebenswirklichkeit gibt, erkennen auch wir an. Was hingegen sonst die Dogmatiker 178 DiogenesLaertios, IX, 84. 179 Siehe Sextus Empiricus, Grundriss III, 1–12. 180 Diogenes Laertios, IX, 107. 181 Sextus Empiricus, Grundriss, I, 8. 182 Diogenes Laertios, IX, 102. 183 Diogenes Laertios, IX, 103.

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rational begründet und erkannt zu haben behaupten, das beurteilen wir als unbekannt überhaupt nicht … Demnach würden die Skeptiker „nur die Erkennbarkeit des den Erscheinungen zugundeliegenden Unbekannten“ bestreiten,184 sich also nicht selbst widersprechen, wenn sie behaupten, dass sie nichts lehren. Wenn die Urteilsenthaltung sich nur auf metaphysische Aussagen bezieht, wie z. B. über die Unsterblichkeit der Seele und die Existenz Gottes, dann ist es kein Widerspruch in sich selbst, zu behaupten, dass die Wahrheit unerkennbar ist. Der andere Einwand, der schon in der Antike geäußert wurde, ist die Behauptung, dass die Skeptiker das Leben unmöglich machen, „weil sie alles eliminieren, was Leben begründet“.185 So gab es die Karikatur Pyrrhons als des skeptischen Philosophen, der seinen Wahrnehmungen misstraut und deshalb nicht lebensfähig wäre, wenn seine Schüler ihn nicht retten würden: „Entsprechend seiner Lehre lebte er, …, nahm alles, was ihm in die Quere kam, gleichgültig hin, waren es nun Wagen oder Steilhänge oder Hunde usw., denn auf die Wahrnehmungen gab er gar nichts. Vor Unglück bewahrt wurde er dabei allerdings von den anwesenden Schülern, wie Antigonos von Karystos angibt.“186 Dass es sich hier um eine Karikatur handeln dürfte, die der Polemik gegen den Skeptizismus dient, ergibt sich aus der Fortsetzung des Berichtes: „Ainesidemos aber berichtet, daß er in der Philosophie nach dem Grundsatz der Urteilsenthaltung verfuhr, in der Praxis hingegen die Dinge auch umsichtig bedachte.“187 Die Kritik von Seiten der Dogmatiker konnte so zugespitzt werden, dass die Lebensweise des Skeptikers als moralisch indifferent erscheinen musste, also in gewissem Sinne als orientierungslos: „Die Dogmatiker meinen, der Skeptiker könne dann in seiner Lebensweise auch damit zurechtkommen, wenn ihm befohlen würde, den eigenen Vater zu schlachten.“188 Die Entgegnung der Skeptiker, wie sie Diogenes Laertios referiert, bezieht die Orientierung allerdings nur auf die Konventionen, beantwortet nicht die Frage, ob es auch für den Skeptiker Grenzen der Anpassung gibt:189 Dazu sagen die Skeptiker, daß man mit der Urteilsenthaltung in allen dogmatischen Fragen leben könne, nicht aber in den Fragen der Lebenskonventionen. Daher akzeptieren und meiden wir etwas nach der Lebensgewohnheit und respektieren die Gesetze. Diese Antwort mag theoretisch unbefriedigend sein, zeigt aber, dass der Skeptizismus der pyrrhonischen Richtung, wie Diogenes Laertios ihn auf der Grundlage sei184 Diogenes Laertios, IX, 105. 185 Diogenes Laertios, IX, 104. 186 Diogenes Laertios, IX, 62. 187 Diogenes Laertios, IX, 62. 188 Diogenes Laertios, IX, 108. 189 Diogenes Laertios IX, 108.

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ner Quellen darstellt, in der Praxis keineswegs zum Scheitern verurteilt ist. Dies gilt auch und gerade für die Einstellung zur religiösen Praxis, wie das Beispiel Pyrrhons zeigt, der – wie Diogenes Laertios berichtet – in seiner Heimatstadt das Amt des Oberpriesters übernommen und damit jeden möglichen Konflikt vermieden hat. Im letzten Teil seines Werkes behandelt Sextus Empiricus ausführlich die Haltung des Skeptikers gegenüber der Religion. Zunächst stellt er fest, dass es schon in den Gottesvorstellungen der Dogmatiker unentscheidbare Widersprüche gibt, so dass es eigentlich gar nicht möglich ist, einen klaren Begriff von Gott zu entwickeln.190 Sodann fährt er fort:191 Mag der Gott aber auch gedacht werden können, so muß man sich doch notwendig darüber zurückhalten, ob es ihn gibt oder nicht, im Sinne der Dogmatiker. Denn die Existenz des Gottes ist nicht offenbar. Der Argumentationsgang, der dazu führt, die Frage nach der Existenz Gottes offenzulassen, hat noch eine überraschende Fortsetzung. Die Dogmatiker, „die die Existenz Gottes mit Sicherheit behaupten“, könnten nämlich gerade deshalb „zum Frevel gezwungen werden“:192 Wenn sie ihn nämlich für alle Dinge vorsorgen lassen, behaupten sie, der Gott sei Urheber von Übeln. Lassen sie ihn aber nur für einige Dinge oder sogar für nichts vorsorgen, dann werden sie gezwungen, den Gott entweder mißgünstig oder schwach zu nennen. Das aber ist offenkundig Frevel. Der Skeptiker setzt dabei einen Gottesbegriff voraus, der dem Plutarchs entspricht – dass Gott niemals Urheber von Übeln sein könne. Im Unterschied zu Plutarch sieht er aber keine Möglichkeit, den Glauben an die Existenz dieses Gottes angesichts der Welt, wie sie ihm erscheint, zu rechtfertigen. Genau dies hatte Plutarch versucht, und dieses Problem, die Frage nach der Herkunft des Übels, wird später Augustin beschäftigen. Aus der verwirrenden Vielfalt der Gottesvorstellungen ergibt es sich, dass „auch die Ansichten über Opfer und überhaupt über die Götterverehrung sehr uneinheitlich sind“.193 Nach einer Aufzählung verschiedener, einander widersprechender Opferbräuche und kultischer Vorschriften folgert der Skeptiker, dass „die Vorschriften für die Götterverehrung und die unerlaubten Dinge“ nicht „von Natur“ existieren – sie sind also menschliche Einrichtungen, und es ist nicht möglich, zu entscheiden, welche Art der Gottesverehrung die richtige ist.194 Ebenso wie die Epi190 Siehe Sextus Empiricus, Grundriss, III, 3–5; vgl. III, 218f. 191 Sextus Empiricus, Grundriss, III, 6. 192 Sextus Empiricus, Grundriss, III, 12. 193 Sextus Empiricus, Grundriss, III, 220. 194 Sextus Empiricus, Grundriss, III, 226.

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kuräer, wenn auch mit einer anderen Einstellung, sind auch die Skeptiker bereit, am Kult teilzunehmen. Die Einsicht in die Relativität der Götterverehrung, die in ihrer kulturellen Bedingtheit erkannt wird, führt also nicht zu einer grundsätzlichen Religionskritik, sondern zu einer Anpassung an die jeweils geltenden Normen der kulturellen Umwelt. Die skeptische Religionskritik richtet sich eben nur gegen jeden dogmatischen Wahrheitsanspruch, der zum Streit über die rechte Verehrung Gottes führt. Sextus Empiricus hat die Bereitschaft des Skeptikers, sich an die religiösen Traditionen anzupassen, gleich zu Beginn seines Werkes angedeutet: „Denn wir folgen einer bestimmten Lehre, die uns gemäß dem Erscheinenden ein Leben nach den väterlichen Sitten, den Gesetzen, den Lebensformen und den eigenen Erlebnissen vorzeichnet.“195 Wer Religion über den Glauben definiert, könnte allerdings Anstoß nehmen an einer solchen Anpassung an religiöse „Lebenskonventionen“ und sie entweder als Heuchelei verurteilen oder den Bericht für unglaubwürdig halten. Es könnte fraglich erscheinen, ob dies als eine religiöse Identität vorstellbar ist: auf der theoretischen Ebene Skeptiker zu sein und doch an der religiösen Praxis teilzunehmen. Aus der Literatur der späteren Antike ist ein solches Beispiel bekannt, das in der Forschung denn auch kontrovers diskutiert worden ist. Der Dialog „Octavius“ des Minucius Felix, ein Beispiel aus der christlich-apologetischenLiteratur, stellt die Position des heidnischen Gesprächspartners in dieser Weise dar: Er ist einerseits Skeptiker und insistiert auf der Unerkennbarkeit der Wahrheit – deshalb eben seine Kritik des christlichen Wahrheitsanspruches –; er bekennt sich andererseits zur römischen Tradition der religiösen Praxis.196 Wenn diese Kombination von skeptischer Philosophie und religiöser Praxis nur in christlicher Literatur als Modell heidnischer Religiosität beschrieben würde, dann könnte allerdings die Annahme naheliegend erscheinen, dass es sich um ein Konstrukt handelt. Es gibt aber auch neben dem Bericht über Pyrrhon – Skeptiker und Priester – noch weitere Beispiele, die es vertretbar erscheinen lassen, eine „skeptische Religiosität“ als eine von mehreren Möglichkeiten religiöser Identität anzunehmen. So hat z. B. Cicero, der sich in seinen philosophischen Schriften als Skeptiker zu erkennen gibt, nicht gezögert, ein priesterliches Amt gemäß römischer Tradition zu übernehmen. Es ist gut vorstellbar, dass er gegenüber dem Wahrheitsanspruch der Christen und ihrer Verachtung der römischen Tradition genau wie jener heidnische Gesprächspartner im „Octavius“ argumentiert hätte – also als Skeptiker ihren absoluten Wahrheitsanspruch zurückgewiesen und als Amtsträger des römischen Staates die traditionellen Kulte verteidigt hätte. Aus der frühen Neuzeit könnte Michel de Montaigne als Vergleichsbeispiel herangezogen werden: er hat die Leitsprüche des antiken Skeptizismus an der Decke sei195 Sextus Empiricus, Grundriss, I, 16. 196 Zur Debatte siehe Lieberg, Die römische Religion; Wlosok, Rom und die Christen, 78.

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nes Arbeitszimmers in die Balken eingraviert, und er ist der Religion seiner Umwelt, dem Katholizismus, treu geblieben – nicht aus Überzeugung von der Wahrheit des Katholizismus, sondern in dem Bestreben, zum Frieden zwischen den Konfessionen beizutragen. Sein Beispiel könnte zugleich als Ansatzpunkt genommen werden, die These zu prüfen, dass der Skeptizismus – wie immer er aus theologischer Sicht be- oder verurteilt werden mag – jedenfalls den Vorteil mit sich bringt, dass er die Toleranz fördert.197 Es gibt darüber hinaus aber auch die Möglichkeit, dem Skeptizismus einen Wert im Rahmen oder sogar als Fundament des Gottesglaubens zuzugestehen. So hat Philo von Alexandrien eine Reihe der skeptischen Argumente (Tropen) dazu benutzt, die Vernunft in ihre Schranken zu weisen, um auf dieser Grundlage den jüdischen Gottesglauben aufzubauen – eben als Glauben.198 Augustin hat den Skeptizismus rückblickend immerhin als ein wichtiges Durchgangsstadium in seiner Entwicklung würdigen können – als eine Hilfe bei der Befreiung von der Irrlehre des Manichäismus.199 Allerdings hat Augustin es dann für notwendig gehalten, den Skepizismus zu widerlegen, um eine feste Grundlage für den Gottesglauben zu finden – eine dogmatische Religiosität im Unterschied zur fideistischen Religiosität Philos.200 Das Werk des Sextus Empiricus wurde erst in der Zeit der Renaissance im christlichen Abandland wiederentdeckt. Der Mönch Savonarola, Gegenspieler der Medici und für kurze Zeit der einflussreichste Politiker in Florenz, wollte es ins Lateinische übersetzen lassen – er hielt es offensichtlich für eine gute Grundlage, um den Glauben darauf aufzubauen.201 Sein Plan wurde nicht mehr realisiert, da er als Ketzer angeklagt und hingerichtet wurde. In der Frühen Neuzeit hat das Werk dann aber eine große Wirkung entfaltet, und eben nicht nur im Sinne einer Bedrohung der Religion, sondern vereinzelt auch wieder als Versuch einer Grundlegung der Theologie. Von besonderem Interesse wäre hier Pierre Gassendi (1592–1655), ein Zeitgenosse und Kritiker des ungleich bekannteren Philosophen René Descartes. Exkurs: Philosophische Ethik in der asiatischen Religionsgeschichte Es hat sich gezeigt, dass die antike Philosophie eine Reihe von Orientierungssystemen bietet, die zwar eine religiöse Funktion erfüllen, sich von einer religiösen Ethik, wie sie aus den monotheistischen Religionen bekannt ist, aber dadurch unterscheiden, dass sie nicht auf eine Offenbarung gegründet sind. Der Religionskritiker Richard Dawkins könnte sich deshalb in seinem Urteil, Religion sei überflüssig, 197 Vgl. dazu Stroll, Scepticism and Religious Toleration. 198 Siehe Philo, Über die Trunkenheit 166f; 205. Vgl. dazu Berner, Skeptizismus und Religionskritik, 47f. Auch die Position des jüdischen Philosophen Juda Halevi (1085–1141) wäre in diesem Zusammenhang von Interesse, als Beispiel einer fideistischen Religiosität. Vgl. dazu Floridi, Influence of Scepticism, 274. 199 Siehe Augustin, Confessiones V, 14,25. Vgl. dazu Berner, Skeptizismus und Religionskritik, 49f. 200 Zu dieser Begrifflichkeit vgl. Berner, ebda, 50–54. 201 Vgl. dazu Floridi, Sextus Empiricus, 32f.

Exkurs: Philosophische Ethik in der asiatischen Religionsgeschichte

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bestätigt sehen. Sein kritisches Urteil bezog sich ja nur auf die monotheistischen Religionen – er stellte ausdrücklich fest, seine Kritik richte sich nicht gegen Buddhismus und Konfuzianismus, die, wie er meint, vielleicht auch gar nicht als Religionen einzuordnen seien: „Indeed, there is something to be said for treating these not as religions at all but as ethical systems or philosophies of life.“202 Es liegt deshalb nahe, einen Vergleich mit der Ethik des Buddhismus und Konfuzianismus vorzunehmen. Zu Beginn der Buddhismus-Forschung, im 19. Jahrhundert, war das Interesse darauf gerichtet, den frühen, ursprünglichen Buddhismus darzustellen, wie er in Indien entstanden war. Einflussreich war das Werk des französischen Indologen Eugene Burnouf, dem es wichtig war, „den historischen Buddha zu entmythologisieren – ihn als einen zwar außergewöhnlichen, aber menschlichen Lehrer und Philosophen darzustellen, der unter Verzicht auf Dogmen, Rituale und Metaphysik Menschen aller Kasten seine Ethik des Mitgefühls predigte“.203 Diese Betonung des rational-ethischen Aspektes hatte zur Folge, dass sich die Frage stellte, ob und in welcher Weise der Buddhismus überhaupt als „Religion“ bezeichnet werden konnte. Der Soziologe Emile Durkheim erörterte dieses Problem und zitierte neben Burnouf u. a. auch Hermann Oldenberg, mit den Aussagen, der Buddhismus stehe „im Gegensatz zum Brahmanismus, wie eine Moral ohne Gott“ oder sei „eine Religion ohne Gott“. Als den „Kern des Buddhismus“ zitiert Durkheim „vier Sätze, die die Gläubigen die Vier Heiligen Wahrheiten nennen“, und er stellt fest, in „keinem dieser Prinzipien“ sei „von einer Gottheit die Rede“.204 So kam er zu dem Ergebnis, dass „Religion“ anders definiert werden müsste, jedenfalls nicht durch den Bezug zum Gottesglauben. Sein eigener Vorschlag zur Definition beruhte auf der Beobachtung, dass überall zwischen „heilig“ und „profan“ unterschieden wird, und diese Unterscheidung schien ihm auch auf den Buddhismus anwendbar zu sein: Die zentralen buddhistischen Lehren werden ja als die „vier heiligen Wahrheiten“ bezeichnet.205 Wie immer der Religionsbegriff gefasst wird, es bleibt die Frage, ob der (frühe) Buddhismus ein Orientierungssystem geboten hat, das mit den verschiedenen Schulen der griechischen Philosophie vergleichbar ist und deshalb als eine „Religion ohne Offenbarung“ betrachtet werden kann. Die vier „heiligen“ oder „edlen“ Wahrheiten, die Durkheim zitiert, haben lange Zeit wirklich als „Kern“ oder „Wesen“ des Buddhismus gegolten, was sich vielleicht daraus erklärt, dass es in Europa ein Interesse gab, eine rationale, ethische Religion zu entdecken.206 Auch wenn diese Sichtweise einseitig ist und – wie jede Wesensbestimmung einer Religion – problematisch, so kann doch festgehalten werden, dass jene „Wahrheiten“ tatsächlich keinen Bezug zu einem Gottesglauben erkennen lassen: Es geht um das Leiden, die Ursache des Leidens, die Aufhebung der 202 Dawkins, God Delusion, 59. 203 Freiberger/Kleine, Buddhismus, 13. 204 Durkheim, Die elementaren Formen, 54. 205 Durkheim, ebda, 63. 206 Zur Verschiebung der Perspektiven in der Buddhismusforschung des 19. und 20. Jahrhunderts vgl. Freiberger/Kleine, Buddhismus, 12–20.

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Ursache und den Weg zur Aufhebung des Leidens; als Ursache, die zur Entstehung des Leidens führt, wird der „Durst“ genannt, „der von Wiedergeburt zu Wiedergeburt führt“, und die Aufhebung des Leidens geschieht durch „die Aufhebung dieses Durstes durch gänzliche Vernichtung des Begehrens“.207 So gibt es zwar eine metaphysische Annahme – die Theorie einer Folge von Wiedergeburten, die nach rational-ethischen Prinzipien verknüpft sind –, aber keine Bezugnahme auf eine Gottheit, der gegenüber der Mensch sich verfehlt haben könnte; und der Weg, den der Buddha empfiehlt, ist ein Weg der Praxis, der Moral und Meditation umfasst. Dieser Bezug zur Praxis ist besonders gut in einem Text aus dem Pali-Kanon zu erkennen, dem Cula-Malunkya-Sutta:208 ein Anhänger des Buddha nimmt Anstoß daran, dass der Buddha nicht Stellung nimmt zu metaphysischen Problemen, wie z. B. zu der Frage, ob die Welt ewig oder endlich ist, oder zu der Frage, ob der Erlöste nach dem Tode noch existiert oder nicht; als Antwort auf diese kritische Anfrage stellt der Buddha fest, dass er solche Fragen nicht beantwortet, weil eben dies, … nicht mit dem Heil verknüpft ist, weil es nicht zu den Grundlagen des heiligenWandels gehört; es führt nicht hin zum Gleichmut, zur Leidenschaftlosigkeit, zur Ausrottung (des Daseinsdurstes), zum Frieden, zur rechten Einsicht, zum Erwachen, zum Nirvana. Diese Ausrichtung auf die Praxis wird im Text noch durch ein Gleichnis erläutert: Wenn ein Mensch von einem Giftpfeil getroffen ist, und wenn die Freunde und Verwandten einen kundigen Arzt holen wollen, dann wäre es doch unvernünftig, wenn der Getroffene sich weigern würde, den Pfeil herausziehen zu lassen, bevor er nicht genaue Kenntnis über die Umstände erlangt hat, wie z. B. über den Namen dessen, der den Pfeil geschossen hat oder über die Art der Bogensehne – genau so falsch wäre das Verhalten dessen, der erst über jene metaphysischen Fragen belehrt werden will, bevor er bereit ist, „beim Erhabenen den heiligen Wandel“ zu führen. Demnach geht es bei der buddhistischen Lehre also um eine Therapie der Affekte, nicht um die Diskussion und Lösung theoretischer Probleme um ihrer selbst willen – diese Ausrichtung der Lehre auf die Bewährung in der Praxis ist durchaus dem pseudoplatonischen „Axiochus“ vergleichbar. Es gibt allerdings auch Texte buddhistischer Philosophie, wie z. B. die „Fragen des Milinda“ (Milindapanha), in denen gerade jene theoretischen Probleme erörtert werden, die nach dem Pfeil-Gleichnis als irrelevant von der Erörterung ausgeschlossen werden. Es wäre eine Verengung der Perspektive – und ohnehin eine unzulässige Essentialisierung – wenn der „wahre“ oder „reine“ Buddhismus als eine „rational-philosophische Ethik“ dargestellt würde, jene Version, die Durkheim aus der Forschung des 19. Jahrhunderts übernommen hatte. In der Geschichte dieser Religion gibt es ja eine große Zahl divergierender Richtungen, von denen der Zen-­Buddhismus, der 207 Siehe Oldenberg, Buddha 137f. 208 Majjhima-Nikaya Nr. 63.

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sich in China und Japan entwickelt hat, vielleicht die bekannteste ist, neben dem tibetischen Buddhismus, der im Westen durch den Dalai Lama bekannt geworden ist. Weniger bekannt ist vielleicht der in Japan verbreitete Amida-­Buddhismus, auch als „Schule des Reinen Landes“ bezeichnet, der oft mit dem protestantischen Christentum, also einer theistischen Religion, verglichen worden ist, und zwar nicht nur von Theologen, sondern auch von den Vertretern der phänomenologischen Religionswissenschaft.209 Der Religionssoziologe Rodney Stark hat mit Recht festgestellt, jene rational-ethische Version des Buddhismus könne doch wohl nur die Religion einer Minderheit gewesen sein, die fast vernachlässigt werden kann; der Buddhismus der Massen sei demgegenüber immer eine Religion im – seiner Meinung nach – eigentlichen Sinne des Wortes gewesen: die Beziehung des Menschen zu übernatürlichen Wesen. So glaubte er, Durkheim kritisieren zu müssen: „… apparently Durkheim confused the Buddhism of a small intellectual elite with Buddhism in general, and seemingly was unaware that popular Buddhism is particularly rich in supernatural beings“.210 Auch wenn es nur die Religion einer Minderheit gewesen sein kann, so bleibt doch festzuhalten, dass es in der indischen Religionsgeschichte Orientierungssysteme gegeben hat, die mit der antiken Philosophie, soweit diese eine „Lebenskunst“ gelehrt hat, verglichen werden können. Und es ist gerade diese Sicht des Buddha als des Lehrers einer Ethik, die im 19. Jahrhundert in Europa großes Interesse gefunden hat, so z. B. bei dem Philosophen Arthur Schopenhauer, und, zum Teil durch ihn vermittelt, bei dem Komponisten Richard Wagner – der zugleich auch ein großer Freund und Bewunderer griechischer Philosophen war, und hier insbesondere Plutarchs.211 Anders als im Falle des Buddhismus erscheint es im Hinblick auf den Konfuzianismus immer noch als eine sinnvolle Frage, ob es sich um eine Religion handelt oder um eine Ethik oder Philosophie.212 Helmuth von Glasenapp behandelte den Konfuzianismus zwar unter den Weltreligionen – allerdings nur als eine der „Ausprägungen“ des „chinesischen Universismus“ –, betonte aber den Unterschied im Vergleich zum Christentum als einer theistischen Religion: „Konfuzius erteilt seine ethischen Lehren, ohne sich auf einen Gott zu berufen, der die moralischen Gebote erlassen hat. Er unterscheidet sich damit wesentlich von den christlichen Moraltheologen, welche alle sittlichen Ordnungen auf die Befehle eines himmlischen Gesetzgebers gründen.“213 Ebenso betont Heiner Roetz, dass „die Religion als mögliche Absicherung der Ethik bei Konfuzius ganz in den Hintergund tritt“: „Wovon die konfuzianische Ethik letztlich lebt, ist nicht ein göttliches Gebot, sondern der Respekt, den der Mensch sich selbst gegenüber als ein vom Tier unterschiedenes Wesen entwickelt“.214 209 Vgl. dazu Freiberger/Kleine, Buddhismus, 332f; Kleine, Honens Buddhismus des reinen Landes. 210 Stark/Finke, Acts of Faith, 90. Vgl. Stark, Why Gods?, 1–7. 211 Seine Kenntnis des Buddhismus hat Wagner aber auch und gerade direkt aus dem Werk Burnoufs bezogen. Vgl. dazu Berner, Wagner und Bayreuth, 193f. 212 Siehe Gentz, Understanding Chinese Religions, 53. 213 Glasenapp, Weltreligionen 146f. Vgl. Roetz, Konfuzius, 83. 214 Roetz, Konfuzius, 81; 83.

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Julia Ching, die den Vergleich von einem christlich-theologischen Standpunkt aus vorgenommen hat, bezeichnete den Konfuzianismus als „eine Tradition menschlicher Weisheit“, und sie sah eben darin den Unterschied zum Christentum, „das zuallererst eine Offenbarungsreligion ist“.215 Roman Malek zufolge beinhaltet der Konfuzianismus zwar religiöse Elemente, „kann aber – streng genommen – nicht als Religion gelten; es ist vielmehr eine „Weltanschauung“ bzw. eine ethisch-soziale Lehre“.216 Konrad Meisig verzichtet ganz auf den Religionsbegriff, stellt Konfuzius als Philosophen vor und vergleicht ihn mit Sokrates: „Konfuzius lehrte eine Ethik, also war er Philosoph.“217 Die Ethik des Konfuzius ist, Meisig zufolge, anthropozentrisch, da der Mensch im Mittelpunkt steht, und zwar „nicht der Mensch als Einzelner, sondern in seinem Bezug auf den Anderen“. Als das wichtigste der ethischen Prinzipien, die „Orientierung auf dem rechtenWeg … ermöglichen“, nennt Meisig das Prinzip der „Gegenseitigkeit (shu)“, das als die „Goldene Regel“ bekannt ist und, wie Meisig mit Recht feststellt, „weltweit in den verschiedensten Kulturen und Religionen“ belegt ist:218 (Schüler) zi Gong … fragte: „Gibt es ein Wort, nach dem man sein Leben lang handeln kann?“ Der Meister sprach: „Doch wohl Gegenseitigkeit: Was du selbst nicht willst, das füge anderen nicht zu!“ (15.24) Aus diesem Prinzip lassen sich die anderen moralischen Normen der Ethik des Konfuzius ableiten, wie z. B. die „Kindesliebe“, als „Achtung vor den Eltern“, und die „Brüderlichkeit“:219 … Kindesliebe und Brüderlichkeit, ja die sind die Grundlage für einen, der Menschlichkeit übt“. (1.2) Die Ethik des Konfuzius ist, Meisig zufolge, „in ein metaphysisches Weltbild“ eingebettet und mit dem Glauben „an den Himmel als Schöpfer und prima causa“ verbunden; es gebe aber „keinerlei Hinweise darauf, daß Konfuzius sich diesen „Himmel“ in personifizierter Gestalt, etwa als anthropomorphen Gott, vorgestellt hat“.220 Heiner Roetz weist allerdings darauf hin, dass der Text (Lunyu) „Spielraum für konkurrierende Deutungen“ lässt, so dass Konfuzius „sowohl als Theist … wie auch als Agnostiker“ gesehen worden ist.221 Wie auch immer die Frage nach der „Theologie“ des Konfuzius beantwortet wird, auf jeden Fall würde gelten, Roetz zufolge, dass die konfuzianische Ethik „weit ent215 Ching, Konfuzianismus, 12. 216 Malek, Konfuzianismus, 298. 217 Meisig, Die Ethik des Konfuzius, 1. 218 Meisig, ebda, 10f. 219 Meisig, ebda, 14. 220 Meisig, ebda, 3. 221 Roetz, Konfuzius, 81f.

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fernt davon“ war, „blutige Exzesse über China zu bringen, wie sie die monotheistischen Religionen über Europa und den Orient gebracht haben. Ihr fehlt der missionarische, eifernde Fanatismus und die kompromißlose Feindseligkeit, gegen die prophetische Ethiken selten immun waren.“222 Das gilt jedenfalls, wie Roetz gleich einschränkend hinzufügt, für die ursprüngliche Lehre, nicht unbedingt für die, wie er mit einem wertenden Ausdruck bemerkt, „späteren Degenerationen“ der Lehre des Konfuzius. Auch wenn jede Wertung vermieden wird – der neutrale Begriff des „Neokonfuzianismus“ lässt schon darauf schließen, dass es Veränderungen gegeben hat: aus dem „Lehrer des Lunyu“ wird später „ein mit Wunderkräften ausgestatteter Übermensch, … Seine überlieferten Worte werden zu Chiffren einer spekulativ zu erschließenden Geheimlehre“, und Konfuzius wird ein „Adressat kultischer Verehrung“.223 Joachim Gentz spricht im Hinblick auf die spätere Zeit, seit dem 11. Jahrhundert, von einer „Landschaft“ konfuzianischer Positionen, von denen einige kaum von buddhistischen Positionen zu unterscheiden seien – was dazu geführt habe, dass viele Forscher den Konfuzianismus als eine religiöse Tradition betrachten. 224 Es ist aber gerade die Rekonstruktion der „ursprünglichen Lehre“ des Konfuzius, die bei Vertretern der europäischen Aufklärung, im 17./18. Jahrhundert, großes Interesse gefunden hat: „Sein Werk und dessen Wirkung erwiesen in ihren Augen die Möglichkeit einer natürlichen Moral ohne kirchliche Belehrung.“225 Es waren vor allem die Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff, die mit großem Interesse die Berichte über chinesische Religion und Philosophie zur Kenntnis nahmen, die von den Jesuiten, die in China tätig waren, nach Europa geschickt wurden.

4.3 Zusammenfassung und Ausblick Orientierungssysteme, die nicht auf Offenbarung gegründet und deshalb nicht von der Religionskritik des „Neuen Atheismus“ betroffen sind, hat es auch in der europäischen Religionsgeschichte gegeben, nicht nur in Buddhismus und Konfuzianismus. Es waren die philosophischen Schulen der hellenistisch-römischen Zeit, die eine solche Orientierung, als „Lebenskunst“, geboten haben und die zugleich offen waren für die Verbindung mit religiösen Institutionen, wie z. B. den Mysterien­kulten. Einzelne Elemente der griechischen Philosophie konnten in das Christentum integriert werden, wie auch in das Judentum und den Islam, auch wenn diese Integra222 Roetz, ebda, 84. 223 Roetz, ebda, 104f. 224 Gentz, Understanding Chinese Religions, 64. 225 Roetz, Konfuzius, 83.

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tion philosophischer Elemente jeweils kontrovers diskutiert wurde. Es bleibt aber die Frage, ob – und wenn ja, in welcher Weise – auch die Konzeption einer autonomen, rational-philosophischen Ethik als Orientierungssystem integiert werden konnte, oder ob der Gegensatz zwischen einer theistischen Religion, wie z. B. dem Christentum, und einer „Religion ohne Offenbarung“ immer als unüberbrückbar gegolten hat. Die Annahme der Möglichkeit, dass es gültige Orientierungssysteme auf der Grundlage einer autonomen Ethik gibt, könnte, so scheint es, die Notwendigkeit einer spezifisch religiösen Ethik, die auf eine Offenbarung Bezug nimmt, in Frage stellen. Dies war ja eine Behauptung der „Neuen Atheisten“, dass Religion als Begründung der Moral schlichtweg unnötig sei. Genau diese Behauptung, dass eine philosophische Ethik als Orientierungssystem völlig ausreichend sei, ist in einem Text aus dem 12. Jahrhundert zur Diskussion gestellt worden: Petrus Abaelardus (1079–1142), wohl der größte christliche Philosoph des Mittelalters, hat einen fiktiven Dialog verfasst, in dem ein Philosoph, ein Jude und ein Christ miteinander diskutieren und ihn, Abaelard, zum Schiedsrichter wählen – weil er in Philosophie und Theologie gleichermaßen bewandert sei.

Der entscheidende Punkt ist die Stellung des Problems: Es geht nicht um den alten Streit zwischen Judentum und Christentum, sondern um die Frage, ob spezifisch religiöse Gesetze, die nicht aus der Vernunft, sondern aus einer Offenbarung abgeleitet sind, überhaupt notwendig sind – und diese Problemstellung lässt den Juden und den Christen als „Brüder“ erscheinen, die gemeinsam gegen den Philosophen und die Konzeption einer autonomen, rationalen Ethik argumentieren.226 So will der Jude zwar als erster auf die kritischen Fragen des Philosophen antworten – „weil wir als erste zur Verehrung Gottes gelangt sind oder die erste Einübung des Gesetzes übernommen haben“ –, fügt aber gleich hinzu:227 Dieser mein Bruder aber, der sich als Christen bekennt, wird da, wo er bemerkt hat, daß ich versage oder weniger vermag, meiner Unvollkommenheit, wo es ihr mangelt, abhelfen. Gleichsam über zwei Hörner verfügt er mit seinen zwei Testamenten, mit denen bewaffnet er kräftiger dem Feind wird widerstehen und ihn bekämpfen können. In seiner (fiktiven) Selbstvorstellung macht der Philosoph sogleich provozierende Bemerkungen über die beiden Offenbarungsreligionen: Er beschreibt sein Studium der verschiedenen philosophischen Schulen, insbesondere der Moralphilosophie – 226 Es ist deshalb nicht anzunehmen, dass der Philosoph den Islam vertreten soll (so Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte, 135). 227 Peter Abailard, Dialog, S. 21.

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„welche das Ziel aller Disziplinen ist“ –, und er behauptet schließlich, sich auch mit jenen beiden Religionen bschäftigt zu haben, um herauszufinden, „was in höherem Maße mit der Vernunft übereinstimmt“; er sei zu dem Ergebnis gekommen, „daß die Juden töricht, die Christen verrückt sind“.228 Er erhebt den Anspruch, die Debatte beginnen zu dürfen, weil er mit dem „natürlichen Sittengesetz“ (lex naturalis), welches das erste ist, zufrieden sei:229 Das natürliche Sittengesetz aber, d. h. jene Wissenschaft der Moral, die wir Ethik nennen, besteht allein in moralischen Beweisführungen. Die Lehre eurer Gesetze jedoch fügte diesen aus äußeren Zeichen gewisse Vorschriften hinzu, die uns insgesamt überflüssig erscheinen, … Provozierend – und erstaunlich modern – klingt dann die Frage, die der Philosoph an den Juden wie an den Christen richtet: „ob euch nämlich irgendein Vernunftgrund in diese Glaubensrichtungen eingeführt hat oder ob ihr hier allein der Meinung der Menschen und der Liebe zu eurer Herkunft folgt“.230 Und im Hinblick auf die Menschen, die „Gewohnheit in Anlage umwandeln“ (consuetudinem in naturam vertentes) und als Erwachsene beharrlich festhalten, „was immer sie als Kinder gelernt haben“, bemerkt der Philosoph kritisch:231 Sie macht die Einzigartigkeit ihrer eigenen Glaubensrichtung so anmaßend und hochmütig, daß sie urteilen, wen auch immer sie im Glauben von sich getrennt gesehen hätten, der sei der Barmherzigkeit Gottes entfremdet, und, während alle anderen verdammt seien, sich als einzige selig preisen. Die Lehre der beiden Religionen wäre demnach nicht nur überflüssig, sondern, wegen ihrer Intoleranz, auch schädlich – eine Auffassung, die sicherlich den Beifall der „neuen Atheisten“, wie z. B. Richard Dawkins, gefunden hätte. Im Gespräch mit dem Juden weist der Philosoph darauf hin, dass im Alten Testament Gestalten erwähnt werden, wie z. B. Noah und seine Söhne, die „vor der Überlieferung des Gesetzes“ gelebt haben und die doch „vor Gott höchst angenehm waren“.232 Als Beispiel nennt er auch „den Heiden Hiob, der nach Abraham ohne Gesetz gelebt hat“,233 und wenn Gott „höchstpersönlich dessen Gerechtigkeit darlegt, damit wir sie nachahmen,“ erwähnt er nichts von jenen Werken des Gesetzes, sondern nur die Werke des natürlichen Sittengesetzes, die jedem einzelnen die natürliche Vernunft von sich aus nahelegt. 228 Peter Abailard, Dialog, S. 11. 229 Peter Abailard, Dialog, S. 15. Tatsächlich hat Abälard selbst eine „Ethik“ verfasst („Scito te ipsum“). 230 Peter Abailard, Dialog, S. 17. 231 Peter Abailard, Dialog, S. 19. 232 Peter Abailard, Dialog, S. 37. 233 Peter Abailard, Dialog, S. 49.

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Wie zu erwarten, kommt der Philosoph zu dem Ergebnis, er sehe sich nicht verpflichtet, sich unter die Bürde des jüdischen Gesetzes zu begeben – „als ob es notwendig wäre, jenem Gesetz, das uns Hiob durch sein Vorbild vorzeichnete, noch irgendetwas hinzuzufügen, oder jener Morallehre, die unsere Philosophen über die Tugenden, die für die Glückseligkeit ausreichen, der Nachwelt hinterlassen haben“.234 Die Kritik des Judentums als einer Gesetzesreligion geht aber nicht in Polemik über: Abälard hat schon zu Beginn des Dialoges anschaulich beschrieben, wie die Juden unter der Verfolgung durch die Christen leiden, und er hatte schon vorher anhand eines Gleichnisses gezeigt, dass es durchaus vernünftig ist, wenn die Juden ihrem Gesetz gehorchen – ein Argument, das geradezu an die berühmte „Pascalsche Wette“ erinnert.235 Im Dialog mit dem Christen zeigt der Philosoph, bzw. Abälard, seine gute Kenntnis der antiken Philosophie, wenn er z. B. Epikur gegen seine Kritiker in Schutz nimmt, mit dem Hinweis, dass Seneca, der Stoiker, wohl kaum Epikur zitiert hätte, wenn die antiepikureische Polemik zutreffend gewesen wäre.236 Auch gegenüber dem Christen scheint der Philosoph an seiner Behauptung festhalten zu wollen, dass dem „natürlichen Gesetz“, das mit der Vernunft erkennbar ist, nichts hinzugefügt werden muss und „daß die Tugend zum Glück ausreicht“.237 Der Leser wartet allerdings vergeblich auf eine abschließende Stellungnahme des „Schiedsrichters“, also Abälards selbst – der Text ist unvollendet, sei es, dass Abälard vor der Fertigstellung verstorben ist, sei es, dass er nicht gewagt hat, seine persönliche Meinung zu veröffentlichen; seine Erfahrung, zweimal als Häretiker verurteilt worden zu sein, könnte ihn daran gehindert haben. Anders ist es im Falle Uriels da Costa (1586–1640), der in Portugal als Christ aufgewachsen war, sich dann aber zum Judentum, der Religion seiner Vorfahren, bekehrte und in Amsterdam, wohin er geflohen war, in die jüdische Gemeinde eintrat. Er musste jedoch bald feststellen, dass er mit dem Judentum, wie es dort praktiziert wurde, ebensowenig einverstanden sein konnte wie vorher mit dem katho­ lischen Christentum. Nach wiederholtem Ausschluss aus der jüdischen Gemeinde, denunziert von Mitgliedern der eigenen Familie, nahm er sich schließlich das Leben. Seine Autobiographie wurde gerettet und später von einem christlichen Theo­logen veröffentlicht. Aus diesem Text geht hervor, dass Uriel da Costa sich zuletzt zu einer rationalen Religion bekannte, die nicht auf Offenbarung beruht, sondern auf dem „natürlichen Gesetz“ (lex naturalis), das vergessen zu haben, er den „Pharisäern“ vorwirft:238 O du blinder Pharisäer, der du jenes Gesetz vergessen hast, welches das ursprüngliche ist und von Anbeginn war und immer sein wird, du tust lediglich der 234 Peter Abailard, Dialog, S. 97. 235 Siehe Peter Abailard, Dialog, S. 31f; 23f. 236 Siehe Peter Abailard, Dialog, S. 129. 237 Peter Abailard, Dialog, S. 165. 238 Uriel da Costa, Exemplar humanae vitae, S. 25.

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anderen Gesetze Erwähnung, die später zu existieren begonnen haben und die du selbst verdammst, ausgenommen das deine, über das auch, du magst wollen oder nicht, andere urteilen nach der rechten Vernunft, welche der wahre Maßstab jenes natürlichen Gesetzes ist, das du vergessen hast und das du gern beerdigen möchtest, … Dieses ursprüngliche Gesetz ist allen Menschen gemeinsam und angeboren, und es ist „Lehrmeisterin des guten Lebens, unterscheidet zwischen Gerecht und Ungerecht, zwischen Häßlich und Schön“. Was im Gesetz des Mose gut ist, wie z. B. das Gebot, die Eltern zu ehren, sei auch im natürlichen Gesetz enthalten, und alles, was davon abweiche, schaffe nur Streit zwischen den Menschen. Uriel da Costa lässt auch das Argument nicht gelten, „das Gesetz des Moses oder das des Evangeliums enthalte noch etwas Höheres und Vollkommeneres, nämlich unsere Feinde zu lieben“. Er hält dem entgegen, dass der Mensch „eine natürliche Neigung zu Mitgefühl und Barmherzigkeit hat“, so dass „wir bereits nicht mehr schlechthin bestreiten“ dürfen, „daß eine solche Vollkommenheit im Gesetz der Natur eingeschlossen ist“239. Wie der Philosoph Abälards vertritt Uriel da Costa also die Auffassung, dass die Religionen – und er denkt dabei an Judentum und Christentum, die er aus eigener Erfahrung kennt – nicht nur unnötig sind, sondern auch schädlich, weil sie die natürlichen menschlichen Bindungen zerreißen und Zwietracht stiften. Im Falle Uriels da Costa war es wirklich sein letztes Wort, das er aufgrund seiner negativen Erfahrungen mit Christentum und Judentum, Theologen und Rabbinern, zu Papier gebracht hat. Im Falle Abälards musste es ja offenbleiben, ob die Meinung des Philosophen sein letztes Wort war oder ob er vorgehabt hat, die Konzeption eines natürlichen Gesetzes, als einer ausreichenden Heilsbedingung, in ein umfassendes (christlich)theologisches System zu integrieren. Der letztere Fall könnte vorliegen bei einem etwas früheren Zeitgenossen Abälards: bei Petrus Alfonsi, einem spanischen Juden, der zum Christentum konvertierte und nach seiner Taufe in Frankreich und England tätig war. In seinem „Dialog“ legte er Rechenschaft ab über die Gründe seiner Konversion, indem er Judentum und Islam kritisierte und das Christentum als die mit der Vernunft am besten zu vereinbarende Religion darstellte. Von größerem Interesse als dieser sein Beitrag zur christlichen „adversus Judaeos“-Literatur, ist aber seine „Disciplina clericalis“, eine Sammlung von Weisheitssprüchen, Geschichten und Gleichnissen, die er aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt und damit dem christlichen Abendland zugänglich gemacht hat. Dieses Unternehmen erschien ihm sinnvoll, wie er im Prolog erklärt, im Blick auf die menschliche Natur, die schwach und vergesslich sei: „Damit sie nicht in Verdruss gerät, muss sie gleichsam Schritt für Schritt mit ganz Wenigem unterwiesen werden, …“. Wenn er hier andeutet, dass die religiöse Unterweisung den Zustand der „Langeweile“ (taedium) bewirken kann, dann entspricht das genau dem „tedium effect“, der sich, der Modes-Theorie 239 Uriel da Costa, Exemplar humanae vitae, S. 27.

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des Ethnologen Harvey Whitehouse zufolge, bei einseitiger Betonung des Modus der „dogmatischen Religiosität“ einstellen wird.240 Kurze Geschichten, die Beispiele (exempla) menschlichen Verhaltens bieten, schienen Petrus Alfonsi eben dazu geeignet zu sein, diesem „tedium effect“ entgegen zu wirken. Und für diesen Zweck, meinte er, könnten eben auch Beispiele aus der nichtchristlichen Welt verwendet werden – „Philosophen“, wie z. B. Sokrates, und etliche „Araber“ werden zitiert. Im Prolog gibt Petrus Alfonsi der Überzeugung Ausdruck – und dies nach seiner Bekehrung zum Christentum: … dass der menschliche Geist nach Vorschrift des Schöpfers gewiss dazu bestimmt ist, sich der Übung der erhabenen Philosophie zu unterziehen, solange er in dieser Welt lebt … und durch sie soll er den Weg in dieser Welt beschreiten, der ihn zum Himmelreich führt. Die Übersetzer haben mit Recht festgestellt, dass diese im Mittelalter beliebte Sammlung von Geschichten, die aus dem Arabischen übersetzt waren, „die Entfaltung einer bibelunabhängigen Orientierung“ fördert.241 Diese Orientierung, die in der nichtchristlichen Welt möglich und damit jedem Menschen zugänglich ist, kann aber bruchlos in das christliche Glaubenssystem integriert werden, zu dem Petrus Alfonsi sich im Prolog ausdrücklich bekennt. Er habe sich bemüht, erklärt er hier, alles zu vermeiden, „was unserer Religion widerspricht oder auch von unserem Glauben abweicht“, und er deutet seine Bereitschaft an, eventuell theologische Kritik anzunehmen – allerdings würde auch dann seine philosophische Identität erhalten bleiben: „Denn der Philosoph hält nichts in menschlichen Erfindungen für vollkommen.“ Das Problem, ob eine autonome Ethik – eine „bibelunabhängige Orientierung“ – in das Christentum integriert werden kann, ist in der Epoche der europäischen Aufklärung kontrovers diskutiert worden, am Beispiel der Ethik des Konfuzius. Die Berichte der Jesuiten, die in China den Konfuzianismus entdeckt hatten, waren in Europa auf großes Interesse gestoßen, auch bei Vertretern des protestantischen Christentums, wie z. B. bei dem Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz. Ein Streit über die Ethik des Konfuzius ergab sich nicht nur unter Katholiken, wie im „chinesischen Ritenstreit“,242 sondern auch unter Protestanten. Ausgelöst wurde dieser Streit durch den Philosophen Christian Wolff (1679–1754), der an der Universität Halle tätig war. Im Jahre 1721 hielt Christian Wolff eine Rede, aus Anlass der Übergabe des Prorektorats, in der er über die „praktische Philosophie der Chinesen“ sprach. Gleich zu Beginn kommt er auf Konfuzius zu sprechen, der „durch die göttliche Vorsehung China geschenkt worden war“ und der den Chinesen heutzutage so viel gelte 240 Vgl. dazu Berner, Modes of Religiosity, 161–164. 241 Petrus Alfonsi, Disciplina clericalis, S. 25. 242 Vgl. dazu Berner, Jesuit Missionaries in East Asia, 484–488.

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„wie Moses den Juden, Mohammed den Türken, ja sogar genausoviel wie Christus uns gilt, sofern wir ihn als Propheten und Lehrer, der uns von Gott gegeben worden ist, verehren“.243 Wolff erklärte, die Prinzipien der chinesischen Weisheit prüfen zu wollen, und als Prüfstein wählte er „die Natur des menschlichen Geistes“.244 Seine Behauptung war, „in bezug auf die Ausübungen der Tugenden und der Sitten“ hätten die Chinesen nichts festgesetzt, „als das, von dem sie einsahen, daß es mit dem menschlichen Geist vorzüglich übereinstimmt“,245 und eben deshalb seien ihre Anstrengungen erfolgreich gewesen. Als ein Beispiel aus der ersten Stufe des erfolgreichen zweistufigen Bildungssystems der Chinesen nennt Wolff die Erziehung zur „Ehrfurcht vor den Eltern, den Alten und den Herren“, die den Zweck verfolgt habe, „mit den Gesetzen der Bescheidenheit und der Demut“ vertraut zu machen.246 Es war ja gerade die Ehrfurcht vor den Eltern, die in dem „chinesischen Ritenstreit“ eine große Rolle gespielt hatte, und es waren gerade diese elementaren menschlichen Beziehungen, die aus der Sicht Uriels da Costa durch die Offen­ barungsreligionen gefährdet sind. Wolff stellt gleich zu Beginn klar, dass es nur um die praktische Philosophie der Chinesen geht – da sie den Schöpfer der Welt nicht kannten, hätten sie auch keine „natürliche Religion“ gehabt, geschweige denn Zeugnisse der Offenbarung.247 Es sind aber gerade die Kräfte der menschlichen Natur, die Wolff so hoch einschätzt:248 Da also der Mensch, der sich der Kräfte der Natur bedient, das Gute vom Bösen unterscheiden kann, von der Süßigkeit des Guten ergriffen werden kann, die Bitterkeit des Bösen verschmähen und eines Vorsatzes eingedenk bleiben kann, so sehe ich nicht, wie jemand die Stirn haben könnte, zu leugnen, daß es einige Kräfte der Natur gibt, die zur Ausübung der Tugend und zur Vermeidung der Laster ausreichen. China ist für Wolff geradezu ein Beweis für die Richtigkeit dieses Menschenbildes, das dem Menschen die Freiheit des Willens zugesteht, das Gute zu wählen, und die Kraft der Vernunft, das Gute zu erkennen. Und zum Schluss stellt Wolff explizit fest, dass die Prinzipien der Weisheit der alten Chinesen mit seinen eigenen Prinzipien – die ja die eines Christen sind – übereinstimmen.249 Diese Rede stieß auf Kritik von Seiten seiner theologischen Kollegen, und diese Kritik führte schließlich dazu, dass Wolff auf königliche Order – unter Androhung des Stranges – Halle verlassen musste. Er fand Zuflucht in Marburg und konnte erst 1740 nach Halle zurückkehren. In seiner „Lebensbeschreibung“ geht er kurz 243 Wolff, Oratio, S. 17f. 244 Wolff, Oratio, S. 23. 245 Wolff, Oratio, S. 25. 246 Wolff, Oratio, S. 41. 247 Wolff, Oratio, S. 27. 248 Wolff, Oratio, S. 33. 249 Wolff, Oratio, S. 65.

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auf die „Fatalitäten in Halle“ ein und deutet an, dass der Streit mit den Theologen begann, als er nicht nur über Mathematik, sondern auch über Philosophie zu dozieren anfing: der „applausus vermehrete sich dergestalt, daß ich vieler Misgunst auf mich lud, … Insonderheit entstunden gleich Klagen bey den Herrn Theologis, als wenn denen Studiosis ein Eckel vor der Theologie, ja gar der Schrift beygebracht würde, als einige studiosi beßere Erklärungen und Beweis von ihnen forderten.“250 Es war ein tiefliegender Konflikt zwischen Wolffs Philosophie und der pietistischen Theologie, die in Halle stark vertreten war, wie aus einer Äußerung von August Hermann Francke (1663–1727), dem bekannten Vertreter des Pietismus, hervorgeht: „Ehe das Geringste wider Wolffen vorgenommen und geschrieben ist, habe ich die realen Beweise von seinen gottlosen Lehren aus dem Bekenntniß seiner Discipul in Händen gehabt … Ich habe auch in meinem Gemüthe von den entsetzlichen Verführungen, … solchen Jammer und Herzeleid gehabt, daß ich nachher, … oft nicht ohne große Bewegung zum Lobe Gottes die Stelle angesehen, da ich auf den Knieen Gott um die Erlösung von dieser großen Macht der Finsterniß, die in wirkliche professionem atheismi ausgeschlagen, angerufen hatte, …“.251 Diese theologische Kritik könnte fast den Eindruck erwecken, sie sei gegen den Philosophen Abälards oder gegen Uriel da Costa gerichtet, also gegen die Auffassung, alles was über das natürliche, in der Vernunft gegebene Gesetz hinausgehe, sei nicht nur überflüssig, sondern geradezu schädlich. Dies war aber keineswegs die Auffassung Wolffs, dem es vielmehr darum ging, den christlichen Glauben zu verteidigen. Allerdings kann aus seiner Würdigung des Konfuzianismus geschlossen werden, dass er die christliche Mission, also die Bekehrung der sogenannten Heiden, nicht für notwendig hält. Das bedeutet aber nicht, dass er dem Christentum nicht einen besonderen, höheren Wert zuerkannt hätte.

Es ist vielmehr eine Integration der natürlichen Vernunftreligion in einen größeren Rahmen, der durch die Kraft der Gnade die Kräfte der Natur vertieft und erweitert – dies hatte Wolff schon zu Beginn erklärt, als Entgegnung auf einen möglichen Einwand der Theologen, die er ironisch als „Männer von übermenschlicher Weisheit“ bezeichnet.252 Der entscheidende Punkt ist, dass aus Wolffs Auffassung von der Überlegenheit des Christentums nicht abgeleitet werden kann, dass die Christen in irgendeiner Weise den Nichtchristen überlegen sind und dass letztere bekehrt werden müssten. Heinrich Wuttke, der im 19. Jahrhundert die „eigene Lebens­

250 Wolff, Eigene Lebensbeschreibung, 147. Vgl. ebda 189–201. 251 Wuttke, Abhandlung über Wolff, 17f. 252 Wuttke, Abhandlung über Wolff, 23.

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geschichte“ Wolffs herausgegeben hat, beschreibt den Standpunkt der „rechtgläubigen Christen“, das sind die Hallenser Pietisten, so:253 Deren Grundüberzeugung war, daß gleichwie der Mond dunkel sei, wenn er nicht sein Licht von der Sonne empfängt, also die verderbte Vernunft des Menschen sich keiner Erleuchtung rühmen könne, als allein von der Offenbarung und daß sie ohne diese beständig in der Finsterniß irren müße. Der chinesische Weltweise kann nichts anderes als unchristliches lehren, folglich auch Wolff, der mit ihm übereinstimmt … Demnach würde der Unterschied letztlich im Menschenbild liegen, und es würde sich um einen Konflikt zwischen verschiedenen Auslegungen des Christentums handeln, die nicht auf der Ebene konfessioneller Bekenntnisformeln zu erkennen sind – beide Seiten waren ja darum bemüht, das evangelische Christentum zu verteidigen, stimmten also auf der Bekenntnisebene überein – ebenso wie die katholischen Theologen im „chinesischen Ritenstreit“ auf dieser Ebene übereingestimmt hatten. Das Problem, ob und in welchem Sinne das „natürliche Gesetz“ der Vernunft, das allen Menschen gemeinsam ist, in einer Religion, die auf einer besonderen Offenbarung beruht, „aufgehoben“ werden kann, hat sich auch in einer anderen christlichen Konfession gestellt: in der anglikanischen Kirche des 19. Jahrhunderts ist ein solcher Fall verhandelt worden, und der Streit ist mit der gleichen Erbitterung ausgetragen worden wie im Falle Wolffs. John William Colenso (1814–1883) war der erste anglikanische Bischof in Natal, Südafrika. Dort war er konfrontiert mit der Zulu-Religion und -Kultur, in der die Verehrung der Ahnen eine große Rolle spielt, vergleichbar dem Konfuzianismus im alten China. Im Gegensatz zu der Mehrzahl christlicher Missionare betrachtete er diesen Aspekt der Zulu-Religion – „this reverence for parents“ – aber nicht als Aberglauben, sondern als „the very seed and germ of true religion“.254 Diese Auffassung entwickelt er in einer Predigt über das VaterUnser, in der er den Begriff oder vielmehr die Metapher „Vater“ als Ausgangspunkt nimmt: „The very essence of the Gospel is the revelation of the fatherhood of God.“255 So kommt er dazu, diese natürliche Religion (natural piety), die er in Afrika vorfindet, als die beste Grundlage für die christliche Verkündigung (Christian instruction) zu wählen. Diese Verkündigung ist dann aber nur eine Vertiefung oder Erweiterung der Religiosität. Eine Bekehrung, im Sinne einer Abkehr von der alten Religion, war aus seiner Sicht nicht notwendig – eine Einstellung, die von der Mehrzahl der Missionare abgelehnt wurde. Der Erzbischof von Kapstadt sah das ganze Werk christlicher Mission durch die Theologie Colensos in Frage gestellt – ein Vorwurf, den Colenso energisch zurückwies. Colenso wurde zwar als Häretiker in der anglikanischen Kirche 253 Wuttke, Abhandlung über Wolff, 20. 254 Colenso, Natal Sermons, 136. 255 Colenso, Natal Sermons, 135.

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verurteilt, fand aber, anders als Wolff, Unterstützung bei seiner Regierung, und so konnte er nicht von seiner Wirkungsstätte vertrieben werden.256 Der Philosoph Wolff und der Theologe Colenso stimmen darin überein, dass sie der menschlichen Natur die Fähigkeit zuschreiben, das Gute zu wählen und das Böse zu meiden. Dieser Auffassung zufolge könnte es in den verschiedensten Kulturen das gleiche Orientierungssystem geben, unabhängig voneinander entstanden. Religion, im Sinne des Bekenntnisses zu einer der Religionen, wie z. B. zum Christentum, wäre dann nicht unbedingt notwendig, aber auch nicht schädlich. Denn mit der Reduzierung des Missionseifers entfällt auch der Anlass zum Streit zwischen den Religionen.

Darin unterscheidet sich ihre Position von der Religionskritik, wie sie von Abälards Philosophen und von Uriel da Costa vertreten wurde. Doch sahen sich auch Wolff und Colenso dem Vorwurf ausgesetzt, das Christentum zu zerstören – was jedenfalls nicht ihre Intention gewesen war, da sie ja beide ihrer Kirche und dem Christentum dienen wollten. Wie immer ihre Auslegung des Christentums theologisch beurteilt wird, auf jeden Fall wäre sie nicht von der Kritik des „Neuen Atheismus“ betroffen. Das gilt auch für einige Ansätze in der Religionsphilosophie und Theologie des 20. Jahrhunderts. Der Philosoph Richard Braithwaite hat sich in den 50er Jahren mit der Religionskritik des Logischen Positivismus auseinandergesetzt, also mit der Auffassung, dass religiöse Aussagen sinnlos sind, weil nicht verifizierbar. Er widerspricht dieser Auffassung, indem er religiöse Aussagen (religious beliefs) als Ausdruck der Intention deutet, einer bestimmten Lebensweise (way of life) zu folgen, wie z. B. einer „agapeistischen Lebensweise“ – darin sieht er das Wesen des Christentums.257 Demnach sind religiöse Aussagen, ebenso wie moralische Aussagen, nicht sinnlos, auch wenn sie nicht verifizierbar sind. Der Unterschied zwischen moralischen und religiösen Aussagen liegt, Braithwaite zufolge, darin, dass letztere jeweils auf Geschichten (stories) Bezug nehmen, die Vorbilder zur Orientierung bereitstellen.258 Tatsächlich findet sich in den kanonischen oder zumindest als rechtgläubig geltenden Schriften der Religionen, wie z. B. im Christentum und im Buddhismus, jeweils eine große Anzahl von „Geschichten“, die zur Propagierung einer Lebensform verwendet worden sind – so z. B. die „Legenda aurea“ im mittelalterlichen Christentum und das Jataka-Buch im frühen Buddhismus. Wenn Religion im Sinne Braithwaites als Bekenntnis zu einer Lebensform aufgefasst wird, dann ergibt sich allerdings das Problem, dass Anhänger verschiedener Religionen behaupten könnten, dieselbe Lebensform, z. B. die „agapeistische“, 256 Vgl. dazu Draper, The Trial of Bishop John William Colenso. 257 Siehe Braithwaite, Die Ansicht eines Empiristen, 173f; 178. 258 Siehe Braithwaite, ebda, 181f.

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sei auch die ihre. Der Unterschied zwischen den Religionen würde sich in diesem Falle darauf reduzieren, dass dieselbe Lebensform mit verschiedenen Geschichten (sets of stories) verknüpft ist. Damit würde der Grund für einen Streit zwischen den betreffenden Religionen entfallen. Es ist diesem Philosophen zweifellos gelungen, die eigene Religion – d. i. ist in seinem Fall das Christentum – „aus der Sicht eines Empiristen“ zu betrachten und so zu deuten, dass sie sich bruchlos in ein modernes, wissenschaftliches Weltbild einfügt. Den meisten Theologen dürfte diese Auslegung des Christentums allerdings als unakzeptabel oder zumindest als unvollständig erscheinen. Letzteres gilt z. B. für John A. T. Robinson (1919–1983), den bekanntesten Vertreter der „Gott-ist-tot Theologie“, einer theologischen Richtung der 60er Jahre. Im Anschluss an Theologen wie Bonhoeffer, Bultmann und Tillich, die auch heute noch bekannt sind, hatte Robinson sich darum bemüht, das Christentum so auszulegen, dass es für die moderne, säkulare Welt verständlich ist. Er forderte eine „Kopernikanische Revolution“, die darin bestehen sollte, die Identifikation von Christentum und Theismus aufzubrechen:259 Suppose belief in God does not, indeed cannot, mean being persuaded of the ‚existence‘ of some entity, even a supreme entity, which might or might not be there, like life on Mars? Robinson war überzeugt, dass nicht nur „metallene“, wie bei den Heiden, sondern auch „mentale“ Gottesbilder, wie bei den Christen, zu Götzendienst (idolatry) führen können, und so war er bereit, „Agnostiker mit den Agnostikern zu sein“, ja sogar „Atheist mit den Atheisten“.260 Die Auffassung Braithwaites konnte er, bei aller Sympathie, aber nur als „Humanismus“ einordnen:261 For the humanist, to believe in a ‚religion of love‘, is to affirm the conviction that love ought to be the last word about life, … Thus Professor R.B. Braithwaite maintains that to assert that God is love (agape) is to declare one’s ‚intention to follow an agapeistic way of life‘. … But the Christian affirmation is not simply that love ought to be the last word about life, but that, despite all appearances, it is. Dieses Urteil hätte Robinson sicherlich auch über Don Cupitt abgegeben, den Theologen und Religionsphilosophen, der seit den 80er Jahren an der Entwicklung einer zukunftsfähigen Auslegung des Christentums arbeitet, die seiner Meinung nach nur in einem „nichtrealistischen“ Gottesglauben bestehen kann: „Die Liebe zu einem Gott, der tot ist, ist eine sehr reine – und religiöse – Form von Liebe.“262 Diese Reli259 Robinson, Honest to God, 17. 260 Robinson, ebda, 125–127. 261 Robinson, ebda, 128 (Hervorhebung im Original); vgl. ebda, 49. 262 Cupitt, Nach Gott, 120.

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gion der Zukunft wäre die Entscheidung für eine Lebensform, die Cupitt mit der Metapher „solares Leben“ beschreibt: „zu leben, indem wir ständig sterben, unbekümmert wie die Sonne und im Geist der Bergpredigt. Solare Ethik ist eine radikal gefühlsbetonte und expressionistische Deutung der Ethik Jesu.“263 Die Zeit der alten Religionen, die er als „Haßmaschinen“ bezeichnet,264 wäre damit endgültig überwunden und eine Allianz mit dem „Neuen Atheismus“ wäre durchaus denkbar, würde vielleicht nur daran scheitern, dass die unterschiedliche Verwendung des Religionsbegriffes die Verständigung unmöglich macht. Der Rückblick auf die neuere Epoche der europäischen Religionsgeschichte hat jedenfalls gezeigt, dass es einige Ansätze gegeben hat, eine rational-philosophische Ethik als Basis des Orientierungssystems zu nehmen, ohne die Identität des Christentums aufgeben zu wollen. Wie immer diese Ansätze theologisch beurteilt werden, aus der religionsgeschichtlichen Perspektive betrachtet handelt es sich jeweils um legitime Auslegungen der christlichen Tradition, auch wenn sie in den betreffenden kirchlichen Institutionen als Häresien verurteilt oder als Randphänomene abgetan worden sind.

Für die Religionswissenschaft sind gerade solche Phänomene einer Überschneidung von Religion und Religionskritik, Christentum und Atheismus, von besonderem Interesse.265 Literatur Quellen Anaxagoras, in: Die Vorsokratiker II. Griechisch/Deutsch. Auswahl der Fragmente, Übersetzung und Erläuterungen von Jaap Mansfeld, Stuttgart 1989. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt und kommentiert von Franz Dirlmeier. 5. Aufl. Darmstadt 1969. Aristoteles: Metaphysik. Übersetzt von Hermann Bonitz, Rowohlts Klassiker 1968. Christian Wolff: Oratio de Sinarum philosophia practica. Lateinisch-deutsch. Eingeleitet und herausgegeben von Michael Albrecht, Hamburg 1985. Christian Wolff: Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung. Herausgegeben mit einer Abhandlung über Wolff von Heinrich Wuttke, Leipzig 1841 (Scriptor Reprint 1982). Cicero: Tusculanae disputationes. Gespräche in Tusculum. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Ernst Alfred Kirfel, Stuttgart 1997.

263 Cupitt, ebda, 125. 264 Cupitt, ebda, 134. 265 Vgl. dazu Berner, Religion und Atheismus.

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5 Religion und Politik Politik als Religion – Religion als Ideologie

In der Geschichte der griechischen Religion wird traditionell unterschieden zwischen der klassischen und der hellenistischen Epoche. Letztere beginnt bekanntlich mit dem Siegeszug Alexanders des Großen, der bis nach Indien vorgedrungen war, bevor er 322 v. Chr. starb. Der Blick auf die Religionsgeschichte dieser Epoche wird sich zunächst auf die Begegnung mit fremden Religionen konzentrieren, wie sie sich auf dem Boden Ägyptens oder des Irans ergeben haben muss. So wird das Interesse sich z. B. auf die Entstehung des Gottes Serapis richten, der eine ägyptisch-griechische Mischgestalt zu sein scheint. Wenn es sich dabei wirklich um eine überlegt konzipierte Konzeption handeln sollte, die vom griechischen Herrscher in Ägypten in Auftrag gegeben war, dann kommt damit unweigerlich die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Religion oder Religion und Ideologie in den Blick. Diese Frage stellt sich aber grundsätzlich im Hinblick auf ein anderes Phänomen der hellenistischen Religionsgeschichte: die Entstehung des Herrscherkultes, der kontrovers diskutiert worden ist. Eine Fortsetzung findet sich später im Römischen Kaiserkult, und hier hat sich wieder die Frage gestellt, ob es sich um ein politisches oder ein religiöses Phänomen handelt. 5.1 Hellenistischer Herrscherkult In Ägypten begegneten die Griechen einer alten Tradition, die als „Gottkönigtum“ oder auch als „Sakralkönigtum“ bekannt ist, in der Formulierung von Jan Assmann: „In Ägypten herrscht Pharao als Gott auf Erden.“1 So legt sich die Annahme nahe, dass Alexander von daher die Anregung aufnahm, sich als Gott ansprechen und verehren zu lassen. Der Blick auf die Erfolge Alexanders, die menschliches Maß zu überschreiten schienen, lässt es plausibel erscheinen, den Herrscherkult bei den Griechen mit Alexander beginnen zu lassen. Allerdings berichtet Plutarch später, dass der spartanische Feldherr Lysander zu Beginn des 4. Jahrhunderts, also

1 Assmann, Politik und Religion, 83. Barta hatte eine Differenzierung vorgenommen und vorgeschlagen, den Begriff „Gottkönigtum“ als irreführend zu vermeiden und nur von Sakralkönigtum zu sprechen (Untersuchungen zur Göttlichkeit des regierenden Königs, 136); Die „Göttlichkeit des Königs“ ist, Barta zufolge, „allenfalls als gottähnlich, nicht aber als gottgleich“ zu definieren (ebda); Blumenthal verwendet zwar den Begriff „Gottkönigtum“, stellt aber zu Beginn fest: „Er war gottähnlich, jedoch nicht Gott.“ (Die Göttlichkeit des Pharao, 53f).

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Religion und Politik

vor der Zeit Alexanders, auf Samos kultische Ehren erhalten habe, nachdem er die Insel befreit hatte:2 Er war der erste Grieche, so berichtet Duris, dem die Städte wie einem Gott Altäre errichteten und Opfer darbrachten, und der erste, auf den Päane gesungen wurden. Diesem Bericht zufolge hätte es bei den Griechen also doch schon Ansatzpunkte für die Entwicklung eines Herrscherkultes gegeben. Dem Kult, der dem Herrscher gewidmet wird, entspricht auf der Seite des Herrscher selbst die theomorphe Darstellung, die ihn mit göttlichen Attributen zeigt, wie z. B. mit der Strahlenkrone des Sonnengottes. Es bleibt aber die Frage, wie dieses Phänomen zu deuten ist – als religiös oder politisch, wenn die Alternative denn überhaupt sinnvoll ist.3 Diese Frage wird sich im Hinblick auf den Kaiserkult im Römischen Reich und den Konflikt mit dem Christentum wieder stellen. Als Problem der Forschung kann es auf die Formel „Worship oder Homage“ gebracht werden und in der Alternative „Identifikation oder Metaphorik“ formuliert werden.4 Marianne Bergmann kommt in ihrer Untersuchung zu den theomorphen Herrscherbildern des Hellenismus zu dem Ergebnis, dass diese Art der Darstellung metaphorischen Charakter hat: „metaphorisch nicht im umgangssprachlichen Sinne einer abgeschwächten Bedeutung, sondern im präzisen Sinn eines Vergleichs oder Gleichnisses“.5 Ein sprachliches Zeugnis des hellenistischen Herrscherkultes ist der Hymnos auf Demetrios Poliorketes, einen der Nachfolger Alexanders, aus dem Jahr 291/90. Als Demetrios in Athen eintraf, wurde er nicht nur als ein erfolgreicher Feldherr und Befreier begrüßt, sondern – so scheint es – als ein Gott:6 Wie sind die größten unter den Göttern und die liebsten in der Stadt gegenwärtig! Denn hierher führte Demeter und Demetrios zusammen der glückliche Augenblick. … O du, des stärksten Gottes Poseidon Sohn und der Aphrodite, sei gegrüßt! Andere Götter sind nämlich entweder weit entfernt (15) oder haben keine Ohren oder Existieren nicht oder achten nicht auf uns,…; dich aber sehen wir gegenwärtig anwesend, 2 3 4 5 6

Siehe Plutarch, Lysandros 18. Vgl. dazu Habicht, Gottmenschentum, 3–6. Der Religionswissenschaftler Timothy Fitzgerald würde bestreiten, dass diese Alternative sinnvoll ist. Siehe dazu Discourse on Civility and Barbarity, 13. Vgl. auch Wlosok, Römischer Kaiserkult, 34f. Siehe Bergmann, Die Strahlen der Herrscher, 16–18; 20f. Dort auch ein kurzer Überblick über die Forschungsgeschichte und eine Reflexion der methodischen Problematik. Bergmann, Die Strahlen der Herrscher, 38. Übersetzung von Bernd Effe.

Hellenistischer Herrscherkult

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nicht aus Holz, auch nicht aus Stein, sondern echt. So beten wir denn zu dir: (20) Zunächst schaffe Frieden, Liebster, der Herr bist ja du;… D. Fishwick hat den Unterschied zwischen einem echten Gebet – zu einem Gott – und dem „Gebet“ der Athener zu Demetrios betont: „Despite the term „pray“, they were asking for a temporal benefit that Demetrius as a human ruler was very capable of giving.“7 Sein Begriff des Gebetes im engeren, religiösen Sinne, ist offensichtlich gebunden an den Bezug zur Transzendierung irdischer Güter, und dies gilt offensichtlich nicht für die Athener, die den Hymnus auf Demetrios singen: „… but what they wanted was an end to war, not peace of soul.“8 Der Althistoriker Manfred Clauss hat dem widersprochen und demgegenüber betont, dass „die meisten Menschen der Antike auch von den Göttern des Olymp weitaus eher irdische Gaben erwarteten als ‚Himmelslohn‘.“9 Clauss hält es deshalb für angebracht, die Aussagen des Hymnus wörtlich zu nehmen und von Demetrios als einer Gottheit zu sprechen: „Das Entscheidende an der Gottheit Demetrios, wie an allen ähn­ lichen Gottheiten, war ihre irdische Präsenz.“10 Otto Weinreich hatte schon darauf hingewiesen, dass der Hymnus in einem sakralen Versmaß – dem Ithyphallos, der zum Dionysoskult gehört – verfasst ist, was „Demetrios gleichsam zu einem Dionysos“ mache.11 In Anknüpfung an Theorien aus der Anfangszeit von Ethnologie und Religionswissenschaft hatte er den religiösen Charakter des Machtbegriffes betont und vom „Königsmana“ gesprochen.12 Marianne Bergmann sieht in diesem Hymnus eine Parallele „auf verbaler Ebene“ zur Metaphorik der theomorphen Herrscherbilder: „‚Sohn der Aphrodite‘„ war Demetrios „wegen seiner Schönheit“, und „wegen seiner Seemacht“ war er „‚Sohn des Poseidon‘“.13 Es bleibt aber die Frage nach der Intention der Metaphorik: die Annahme erscheint naheliegend, dass es sich bei der Übertragung sprachlicher Elemente aus dem religiösen in den politischen Bereich um eine Strategie handelt, die den erfolgreichen Feldherren dazu bewegen soll, die Interessen der Athener gegenüber ihren Feinden zu vertreten.14 Und dasselbe könnte auch für den rituellen Vollzug der Vergöttlichung geltend gemacht werden – wenn in Athen ein Kult für den neuen Machthaber eingerichtet wird, wie es Plutarch in seiner Demetrios-Biogra-

7 Fishwick, The Imperial Cult, I, 38. 8 Ebda. 9 Clauss, Kaiser und Gott, 21. 10 Clauss, ebda, 483. 11 Weinreich, Antikes Gottmenschentum, 74. 12 Siehe Weinreich, ebda, 57; 77. 13 Bergmann, Die Strahlen der Herrscher, 33f; 25. 14 Wlosok, Römischer Kaiserkult, 3, spricht von einer „gängigen diplomatischen Praxis“, die sich nach dem Tode Alexanders entwickelt habe, „hinter der verschiedene, meist ganz massive Interessen und politischer Kalkül standen“.

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phie berichtet:15 … den Platz, wo er zuerst vom Wagen gestiegen war, weihten sie, setzten einen Altar hin und nannten ihn den des ‚niedersteigenden Demetrios‘. Plutarch berichtet auch über das Ende der „göttlichen“ Verehrung, die sich geradezu ins Gegenteil verkehrte, nachdem die militärischen Erfolge des Demetrios in Misserfolge umgeschlagen waren – die Athener hätten die Todesstrafe darauf gesetzt, „wenn einer von Frieden und Vergleich mit Demetrios rede“.16 Eine andere Frage ist, wie die Selbstdarstellung des Herrschers zu deuten ist, wenn Demetrios sich auf Münzen mit Stierhörnern darstellen lässt.17 Die Stierhörner könnten auf den Gott Poseidon verweisen, was ja zu der metaphorischen Deutung der Benennung als „Sohn Poseidons“ passen würde. Sie könnten aber auch auf den Gott Dionysos verweisen, und es gibt Hinweise darauf, dass Demetrios sich diesen Gott in seiner Lebensform zum Vorbild genommen hatte.18 Plausibel erscheint die Deutung von Linda-Marie Günther, die zusammenfassend feststellt, dass es „in vielen, wohl den meisten Fällen“ nicht eindeutig zu beantworten ist, „ob das Münzbild eines hellenistischen Königs den Herrscher oder einen Gott darstellt“, und die zu dem Ergebnis kommt, dass es sich um eine „gewollte Mehrdeutigkeit“ handelt, um einen ikonographischen „Code interpretatorischer Unschärfe“, der es dem Betrachter überlassen habe, „ob er auf den Münzen einen Gott als Herscher oder einen Herrscher als Gott erkennen mochte“.19 Es bleibt aber auch hier die Frage, die in der Forschung immer noch umstritten ist, ob das Phänomen des Herrscherkultes als Konstrukt politischer Ideologie oder als religiöses Phänomen einzuordnen ist. Der Religionshistoriker Gebhard Löhr hat nach einer Betrachtung der Forschungsgeschichte festgestellt, „daß sich eine unterschiedliche Einordnung des Herrscherkultes je nach der Perspektive und dem begrifflichen Rahmen ergibt“: Wenn der Begriff der Religion „durch abendländische Kategorien“ geprägt ist, wie z. B. „Gebet, persönliche Beziehung, religiöses Gefühl etc.“, dann erscheine der Herrscherkult „nicht als Religion oder höchstens als deren Verfallsstadium“.20 Ein Beispiel ist das Urteil von Martin P. Nilsson, dass der Herrscherkult „eine Verfallserscheinung der griechischen Religion ist, der es an wirklich religiösem Gehalt mangelt“.21 Demgegenüber kann der Herrscherkult als religiöses Phänomen betrachtet werden, „wenn der Rahmen der Betrachtung auf die außereuropäische Kultur- und Religionsgeschichte ausgeweitet wird“ und theoretische Ansätze aus der Ethnologie aufgenommen werden.22 Ein Beispiel ist S.R.F. Price’s Kritik an der Verwendung christlicher Kategorien in 15 Plutarch, Demetrios, 10. Vgl. dazu Habicht, Gottmenschentum, 48–53. 16 Plutarch, Demetrios, 34. 17 Siehe Svenson, Darstellungen hellenistischer Könige, Tafel 21; Bergmann, Die Strahlen der Herrscher, Tafel 5,1. 18 Siehe Svenson, ebda, 42–44. 19 Günther, Herrscher als Götter, 109f. 20 Löhr, Legitimation politischer Macht, 756. 21 Nilsson, Die Bedeutung des Herrscherkultes, 300. 22 Löhr, Legitimation politischer Macht, 756.

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der Deutung des Herrscherkultes: „The criterion of feelings and emotions as the test of authenticity in ritual and religion, is in fact an appeal to the Christian virtue of religio animi, religion of the soul, …“23 In seiner eigenen Deutung knüpft Price an den Ethnologen Clifford Geertz an.24 Wenn der Herrscherkult als eine Strategie aufgefasst wird, im Sinne der „Theorie der Praxis“ Bourdieus, dann kann durchaus von einem neuen religiösen Phänomen gesprochen werden, insofern als der Herrscherkult denselben Zweck verfolgt wie die konventionelle religiöse Praxis: der Versuch, durch Opfer und Gebet zu bewirken, dass die Wünsche des Beters erfüllt werden.25 Der Unterschied liegt nur darin, dass der Adressat in dem einen Fall unsichtbar ist und als intentionales Gegenüber nur postuliert werden kann, in dem anderen Fall körperlich gegenwärtig und sichtbar, wie es in dem Hymnus ja auch explizit benannt wird. Die Frage, ob die Menschen, oder zumindest einige der Beteiligten, den Herrscher wirklich für ein göttliches Wesen gehalten haben – dem sie andere, „übermenschliche“ Eigenschaften und Fähigkeiten zuschreiben – ist damit noch nicht beantwortet. Auch hier gilt wieder, dass ganz verschiedene Vorstellungen und Glaubensüberzeugungen nebeneinander bestanden haben können – die Gemeinsamkeit, die diese Unterschiede in den Hintergrund treten lässt, liegt eben in der Bereitschaft, die kultische Handlung auszuführen. Plutarch berichtet auch über eine Opposition zur „göttlichen“ Verehrung des Demetrios in Athen, die sich demnach schon während der Zeit seiner Erfolge artikuliert hat.26 Es ist also wieder davon auszugehen, dass die Meinungen über die Göttlichkeit des Herrschers geteilt waren, und dass wieder zu untersuchen ist, welche religiöse Konzeption politisch durchgesetzt werden konnte. Homage und Worship könnten ja nebeneinander bestanden haben, wenn die theomorphen Herrscherbilder und ihre verbalen Paralellen von den einen als Metaphern, von den anderen als Identifikation verstanden wurden.27 Ein solches Nebeneinander verschiedener Auslegungen war möglich, solange die Übereinstimmung in der religiösen Praxis im Vordergrund stand, nicht die Übereinstimmung in der Dogmatik – Der Kirchenvater Augustin wird Jahrhunderte später sein Verständnis der Religion dagegen stellen: der ganze Irrtum der Heiden, so bemerkt er gleich zu Beginn seiner Schrift über die wahre Religion, zeige sich schon darin, dass sie verschiedene Meinungen über das Göttliche haben und doch gemeinsame Tempel.28

23 24 25 26 27 28

Price, Rituals and Power, 10. Siehe Price, ebda, 8. So auch Mikalson, Ancient Greek Religion, 215. Siehe Plutarch, Demetrios, 12. So auch Mikalson, Ancient Greek Religion, 214. Augustin, De vera religione I,1.

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Religion und Politik

5.2 Römischer Kaiserkult Wenn vom Aufstieg des Christentums die Rede ist, wird jeder als Erstes an die Christenverfolgungen denken, also an die Widerstände, denen diese neue Religion im Römischen Kaiserreich begegnet ist. Diese Erinnerung wird dann die Vorstellung nach sich ziehen, dass die Christen gezwungen werden sollten, anderen Göttern zu opfern. Und zu den Göttern, an die jeder Römer zu glauben verpflichtet war, so ist es als eine populäre Meinung verbreitet, gehörte auch der römische Kaiser. Diese Meinung ist nicht ganz unbegründet. Denn in einem der ersten Zeugnisse von Christenprozessen wird die Kaiserstatue neben den Götterbildern erwähnt. Plinius der Jüngere berichtet in einem Brief an den Kaiser Trajan über einen solchen Prozess, den er als Statthalter in der Provinz Bithynien zu führen hatte:29 Mir wurde eine anonyme Klageschrift mit zahlreichen Namen zugestellt. Da gab es nun welche, die leugneten, Christen zu sein oder jemals gewesen zu sein. Sie riefen, meinem Beispiel folgend, die Götter an und opferten Deiner Statue, die ich mit den Götterbildern zusammen zu diesem Zweck hatte herbeibringen lassen, Weihrauch und Wein. Außerdem lästerten sie Christus, und zu all dem lassen sich, so heißt es, wahre Christen nicht zwingen. Aus dem Bericht des Plinius geht nicht eindeutig hervor, ob er die Angeklagten aufgefordert hat, Christus zu lästern, oder ob dies freiwillig geschah, um der Behauptung, kein Christ zu sein, Nachdruck zu verleihen. In dem Bericht über die Märtyrer von Scilly, gegen Ende des 2. Jahrhunderts, wird jedenfalls nur verlangt, dass die Angeklagten „beim Genius unseres Herrn, des Kaisers“ schwören und „für sein Heil Bittgebete“ darbringen“.30 Abgesehen davon kann der Bericht des Plinius wirklich den Eindruck vermitteln, dass von den Christen verlangt wurde, den Kaiser als einen Gott zu verehren – wenn dessen Statue neben den Götterbildern aufgestellt wird –, was die „wahren“ Christen eben nicht zu tun bereit gewesen wären, weil der Kaiser in ihren Augen eben nur ein Mensch war, kein Gott. Wie schon im Hinblick auf den Herrscherkult im hellenistischen Zeitalter stellt sich aber wieder die Frage, ob es sich um ein religiöses oder ein politisches Ritual handelt – ob die Handlung wirklich den Glauben an die Göttlichkeit des Kaisers voraussetzt. Es könnte ja sein, dass dies nur aus der Sicht der Christen so erscheint, da sie davon ausgehen, dass Glaube und Ritus zusammengehören. So scheint es Tertullian aufgefasst zu haben, in seiner Verteidigung des Christentums, um die Wende zum dritten Jahrhundert.31 Er ist zwar bereit, den Kaiser

29 Plinius, ep. X, 96. 30 Passio Sanctorum Scillitanorum 3. 31 Zum Leben und Werk Tertullians vgl. den Kommentar von Georges, 16–22.

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zu ehren – als von Gott eingesetzt –, er ist aber nicht bereit, den Kaiser auf eine Stufe mit Gott zu stellen:32 Denn Gott könnte ich den Kaiser nicht nennen, weil ich nicht zu lügen verstehe oder weil ich ihn nicht zu verspotten wage oder weil auch er selbst nicht Gott genannt werden will. Wenn er ein Mensch ist, muß ihm als Menschen daran liegen, Gott den Vorrang zu lassen; … Um so weniger ist daran zu denken, daß der Kaiser „Gott“ genannt werden muß, wofür man ihn unmöglich halten kann – mit einer nicht nur ganz würdelosen, sondern zugleich verderblichen Schmeichelei. Überraschend ist nun die Feststellung, dass Plinius selbst, der doch die Christen aufforderte, den Kaiser mit einem religiösen Ritus zu verehren, genau dieselbe Auffassung wie Tertullian vertreten hat. In seiner Lobrede auf den Kaiser Trajan, also in dessen Gegenwart, hat Plinius explizit festgestellt, dass er ihn nicht als einen Gott betrachtet. Schon in der Eröffnung seiner Rede deutet Plinius die Grenze zwischen Menschen und Göttern an, die kein Mensch zu Lebzeiten überschreiten kann, auch nicht der Kaiser:33 Denn welches Geschenk der Götter ist großartiger oder herrlicher als ein Princeps, der in seiner untadeligen Lauterkeit seinerseits den Göttern gleicht? Wenig später wird es explizit festgestellt, dass der Kaiser Trajan nicht als ein Gott betrachtet wird und auch nicht als ein solcher betrachtet werden will:34 Laßt uns an keiner Stelle ihm schmeicheln wie einem Gott, wie einem höheren Wesen – …„Ich bin nur einer von euch“ – und gerade dadurch ragt er noch mehr heraus, daß er sich für einen von uns hält und sich gleichermaßen bewußt ist, ein Mensch zu sein, wie Vorgesetzter von Menschen zu sein! Das Gegenbild ist einer der Vorgänger Trajans, der Kaiser Domitian, der ein Tyrann war und sich göttliche Ehren angemaßt hatte. Sueton, ein Zeitgenosse des Plinius, berichtet in seiner Biographie Domitians, dass dieser den Titel „Gott“ (deus) beansprucht habe:35 Mit gleichem Hochmut bediente er sich, als er im Namen seiner Prokuratoren ein Rundschreiben diktierte, der Anfangsworte „Unser Herr und Gott befiehlt, daß folgendes geschehe. Infolgedessen wurde es Brauch, daß ihn weder schriftlich noch mündlich irgend jemand anders anredete.“ 32 33 34 35

Tertullian, Apologeticum, 33,3; 34,3. (Übersetzung: Becker). Plinius, Panegyrikus 1,3. Plinius, Panegyrikus 2,3; 4. Sueton, Domitian, 13,2.

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In Anspielung auf die Ermordung Domitians stellt Plinius spöttisch fest:36 „Nichts nützte ihm da sein Gottsein, …“. Trajan wird sodann in seiner Bescheidenheit dem Tyrannen, der sich wie ein Gott verehren lässt, gegenübergestellt:37 Hätte ein anderer nur eine von diesen Leistungen vollbracht, so trüge er schon längst die Strahlenkrone; inmitten der Götter stünde sein Thron aus Gold oder Elfenbein, und man riefe ihn an vor besonders herrlichen Altären und mit besonders reichen Opfern. Du aber betrittst einen Tempel nur, um selbst anzubeten; … Sodann wird die Stellung des Kaisers zwischen Göttern und Menschen genau definiert, als von den Göttern eingesetzt als Herrscher über die Menschen – eine Parallele zu der christlichen Sicht, wie sie Tertullian formulieren wird:38 Aus diesem Grunde garantieren die Götter dir den höchsten Platz unter den Menschen, da du selbst keinen Platz unter den Göttern erstrebst. Die Stellung des Kaisers zwischen Gott und den Menschen kann auch durch den Begriff des Stellvertreters (Vice) beschrieben werden: Der „Vater und Lenker der Welt“ kann sich „jetzt ganz dem Himmel widmen, jetzt, wo er dich uns gegeben hat als seinen Stellvertreter gegenüber dem ganzen Menschengeschlecht.“39 Diese Formulierung lässt deutlich werden, dass es sich um einen Vergleich handelt: Wenn der Kaiser Stellvertreter Gottes auf Erden ist, dann ist seine Herrschaft über alle Menschen damit legitimiert, und deshalb kann er uneingeschränkten Gehorsam von seinen Untertanen verlangen. Es ist eben dieser Gehorsam, den die Christen verweigern, wenn sie sich weigern, der Statue des Kaisers Weihrauch und Wein zu opfern, und es ist eben dieser „obstinate“ Ungehorsam, den Plinius glaubte bestrafen zu müssen, was immer ihre Glaubensvorstellungen sein mochten, für die er sich gar nicht interessiert:40 „Denn darüber bestand für mich kein Zweifel: Was es auch sein mochte, das sie zu gestehen hatten – ihr Starrsinn und ihre trotzige Verstocktheit verdienten auf jeden Fall Bestrafung.“ Es ging also nicht darum, die Christen zu dem Glauben zu bringen, dass der Kaiser ein Gott sei – dies glaubt Plinius ja selber nicht, wie er es explizit in seiner Rede an den Kaiser Trajan feststellt.41 Die rituelle Handlung des Opfers vor der Kaiserstatue hatte vielmehr 36 37 38 39 40 41

Plinius, Panegyrikus, 49,1. Plinius, Panegyrikus, 52,1; 2. Plinius, Panegyrikus, 52, 2; vgl. 67,5. Plinius, Panegyrikus, 80,4. Plinius, ep. X, 96,3. Vgl. dazu Herz, Der römische Kaiser, 139, der zu dem Ergebnis kommt, dass „für den antiken Gläubigen trotz allem ein kaum zu verwischender Unterschied zwischen dem lebenden Kaiser und den Göttern bestand“.

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den Sinn, die uneingeschränkte Loyalität gegenüber dem Kaiser als dem von Gott eingesetzten Herrscher zum Ausdruck zu bringen.42 Und der uneingeschränkte Gehorsam kann eben am besten durch die Übertragung ritueller Formen, wie sie sonst im Kult der Götter Verwendung finden, zur Darstellung gebracht werden.

Der Gottesbegriff erfährt damit eine Erweiterung, im Vergleich zu dem des Christentums etwa, doch könnte diese Erweiterung wieder durch Differenzierungen gegliedert sein. Am Ende der römischen Republik hatte Cicero eine dreifache Unterscheidung getroffen: Er unterschied zwischen jenen Göttern, die immer schon im Himmel waren, jenen, die aufgrund ihrer Leistung in den Himmel aufgestiegen sind, wie z. B. Herkules, und jenen Tugenden, durch die der Mensch Zugang zum Himmel findet, wie z. B. Mens, Virtus, Pietas, Fides – tatsächlich wurden jenen Tugenden Tempel errichtet. Cicero hat die Anfänge des römischen Kaiserkultes nicht mehr erlebt. Doch könnte sein Schema leicht in dieser Weise erweitert werden: Neben mythischen Gestalten wie Herkules können ja auch die Kaiser, wenn sie denn ihre Pflicht erfüllen, zu jenen Göttern gerechnet werden, die aufgrund ihrer Leistung in den Himmel aufgestiegen sind. Der Unterschied zwischen den olympischen Göttern und den (nach ihrem Tod) vergöttlichten Kaisern würde damit aber nicht aufgehoben. Als Vergleichsbeispiel einer individuellen Einschätzung und Deutung des Herrscherkultes kann noch einmal der Bericht Plutarchs über die „göttliche“ Verehrung des Demetrios Poliorketes herangezogen werden: Nachdem Plutarch den Namen eines Mannes genannt hat, der „diese feinen und auserlesenen Kriechereien ausheckte“ – nämlich Priester einzusetzen und einen Altar aufzubauen –, nennt er einen anderen, der jenen „an knechtischer Gesinnung noch überbieten“ wollte und der den Antrag gestellt habe, „man solle Demetrios, sooft er komme, mit den religiösen Ehren empfangen wie Demeter und Dionysos, und demjenigen, der beim Empfang am meisten Glanz und Pracht entfalte, solle aus der Staatskasse eine Geldsumme für eine Stiftung ausgezahlt werden“. Wenn Plutarch dazu bemerkt, in den meisten Fällen habe „die Gottheit ihren Zorn zu erkennen“ gegeben, dann hat er damit eindeutig seine kritische Sicht des Herrscherkultes zum Ausdruck gebracht – ebenso wie Plinius, und ebenso ohne daraus Konsequenzen für die Praxis zu ziehen.43 Was Manfred Clauss im Hinblick auf die antike Religion allgemein feststellt, dass sie „Handlung, nicht Haltung“ sei und dass der Begriff des Glaubens für die antike Religiosität keine Bedeutung habe, scheint gut auf das Zeugnis des Plinius-Briefes zuzutreffen.44 Was von den Menschen, die als Christen angeklagt sind, verlangt 42 Vgl. dazu Wlosok, Römischer Kaiserkult, 52: es ging „um die Anerkennung der Herrschaft des Kaisers und seiner selbst als der numinosen Verkörperung der im Sakralen begründeten römischen Staatsmacht, …“. 43 Plutarch, Demetrios, 11/12. Vgl. dazu Diefenbach, Ruler Cult, 126–129. 44 Clauss, Kaiser und Gott, 23.

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wird, ist das Ausführen einer Handlung. Wenn die Angeklagten diese Handlung widerspruchslos ausführen, wird nicht weiter nach ihren Glaubensvorstellungen gefragt – was sie über den Kaiser denken. Plinius hält das, was er über den Glauben der Christen erfahren hat – er hat einige Diakonissen unter der Folter befragen lassen –, nicht für wichtig genug, um es dem Kaiser mitzuteilen. Er fasst das Ergebnis zusammen in der Feststellung:45 „Ich fand aber nichts anderes als einen verworrenen, maßlosen Aberglauben.“ Allerdings könnte gerade der Begriff der „Haltung“ geeignet sein, im Unterschied zum Begriff des Glaubens, jene uneingeschränkte Loyalität zu bezeichnen, die gefordert wird: Die Christen nehmen eben eine andere Haltung ein, wenn sie dem Kaiser den unbedingten Gehorsam verweigern. So ist es besser, die begriffliche Alternative aufzunehmen, die Fritz Graf im Hinblick auf die griechische Religion formuliert hat: Grundlage sei nicht der Glaube, sondern der Kult.46 Und es ist eben die Haltung, um die es geht, wenn ein Richter von den angeklagten Christen verlangt, die traditionellen Opfer vor den Bildern der Götter und/oder des Kaisers zu bringen. Manchmal hat ein Richter dies direkt angedeutet, wenn er fragt: „Was ist so schwierig daran, Weihrauch zu opfern und wegzugehen?“47 Ein anderer Richter appelliert ebenfalls nicht an den Glauben, sondern an den gesunden Menschenverstand (bona mens) der Angeklagten, und er stellt schließlich in seinem Urteil fest, nachdem er ihnen Zeit zum Bedenken angeboten hat: „Da sie, obwohl ihnen die Möglichkeit eröffnet worden war, zur herkömmlichen Lebensform der Römer zurückzukehren, starrköpfig beharrten, sollen sie mit dem Schwert hingerichtet werden!“48. Der Konflikt aus der Sicht des römischen Staates liegt nicht im Glauben, sondern in der Haltung oder Einstellung zur römischen Tradition: mos Romanorum oder ritus Christianorum. Der Neutestamentler Hans-Josef Klauck hat den Kaiserkult treffend als eine „institutionelle Metapher“ bezeichnet, „die das anders nicht verbalisierbare Grund­ gefüge des Gesellschaftssystems auf eine Kurzformel bringt und aktiv an seiner Tradierung mitwirkt.“49

Der Kaiserkult im Römischen Reich umfasst aber noch mehr als die rituelle Verehrung des lebenden Kaisers,50 und hier kommt der Begriff der Vergöttlichung in 45 Plinius, ep. X, 96,8. 46 Graf, Griechische Religion, 458. 47 Passio Iuli Veterani, 2 (Musurillo Nr. 19, S. 260, Z. 14f: Quid enim graue est turificare et abire?). Übersetzung: Clauss, Kaiser und Gott, 28. 48 Passio sanctorum Scillitanorum, 14. 49 Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums, 72f. 50 Daneben wäre auch noch der (Volks)glaube an den „Kaiser als Wundertäter“ zu berücksichtigen. Siehe dazu Sueton, Vespasian 7,1; Tacitus, Historien IV, 81; Cassius Dio, Römische Geschichte 65,8.

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engerem, nicht nur metaphorischem Sinne ins Spiel. Plinius berührt diesen Aspekt im ersten Teil seiner Rede, wenn er den Werdegang Trajans schildert. Es geht um die Vergöttlichung des verstorbenen Vorgängers: So wie andere Kaiser vor ihm, hat auch Trajan seinen Vorgänger, den Kaiser Nerva, der auch sein Adoptivvater war, nach dessen Tod vergöttlicht. Plinius benutzt auch diese Gelegenheit, ein Kontrastbild zu zeichnen:51 Tiberius hat den Augustus zum Gott erhoben – um die Anklage wegen Majestätsverletzung einzuführen; Nero den Claudius – um ihn zu verspotten; Titus den Vespasian, Domitian den Titus – um im einen Falle als Sohn, im andern als Bruder eines Gottes zu gelten. Du aber hast deinen Vater zu den Sternen erhoben, nicht um die Bürger in Schrecken zu versetzen, nicht um die wahren Gottheiten zu verunglimpfen, nicht um deine eigene Ehre zu erhöhen, sondern weil du ihn wirklich als Gott siehst. So scheut Plinius sich also nicht, einem Kaiser göttliches Wesen zuzusprechen, doch hat er eine klare Grenze gezogen, zwischen dem lebenden und dem verstorbenen Kaiser – Göttlichkeit in ontologischem Sinne, nicht nur als Metapher oder Vergleich, gesteht er nur dem verstorbenen Kaiser zu. Es muss immer noch dahingestellt bleiben, ob Plinius letztlich doch einen Unterschied zwischen den „wahren“ Göttern und den vergöttlichten Herrschern voraussetzt, was er in diesem Zusammenhang nicht thematisieren würde. Auf jeden Fall ist festzuhalten, dass diese postume Vergöttlichung ja an ethische Kriterien gebunden ist: wenn dem verstorbenen Kaiser Nerva, dem Adoptivvater Trajans, dies zugestanden wird, dann ja ausdrücklich und nur deshalb, weil er seinen Verpflichtungen nachgekommen ist, was sich vor allem darin beweist, dass er den besten Nachfolger – eben Trajan – ausgewählt hat. Für Domitian, den Tyrannen und verhassten Vorgänger Nervas, gilt dies nicht. Diese Möglichkeit, den Herrscher nach seinem Tod zu vergöttlichen, hatte Octavian, bekannt als der Kaiser Augustus, eingeführt. Er hatte seinen Adoptivvater Caius Iulius Caesar nach dessen Ermordung als „divus“ und sich selbst dann als „divi filius“ bezeichnet. Das Erscheinen eines Kometen am Sternenhimmel bot noch einen weiteren, willkommenen Ansatzpunkt, die Rede von der Vergött­ lichung Caesars plausibel zu machen.52 Octavian selbst war sehr vorsichtig in seinem Umgang mit der Problematik des Herrscherkultes, vor allem gegenüber dem römischen Senat: „Bezeichnend für den Ausgleich mit dem Senat ist vor allem der Ehrenname „Augustus“, der dem Herrscher eine sakrale Aura verlieh, ohne ihn zu einem Gott zu machen.“53 Seine Politik in Bezug auf den Herrscherkult ist gekenn51 Plinius, Panegyrikus, 11, 1; 2. 52 Siehe Sueton, Caesar 88. Vgl. dazu Wlosok, Römischer Kaiserkult 1978, 22; Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums, 48. 53 Schlange-Schöningen, Augustus, 111f. Vgl. dazu auch Wlosok, Römischer Kaiserkult, 37f; Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums, 49.

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zeichnet durch eine „planvolle Uneinheitlichkeit“,54 da er den verschiedenen Provinzen des römischen Reiches Zugeständnisse machte, die er in Rom selbst nicht hätte machen können. Doch legte er jeweils genau die Grenzen der erlaubten Verehrung fest. Wie Sueton berichtet:55 Obgleich er wußte, daß der Bau von Tempeln sogar zu Ehren von Prokonsuln beschlossen wurde, ließ er diese jedoch in keiner Provinz für sich errichten, außer wenn sie auch für die Göttin Roma bestimmt waren. Denn in Rom lehnte er eine solche Ehre ganz energisch ab;… In seiner Selbstdarstellung vermeidet er es konsequent, Göttlichkeit für sich in Anspruch zu nehmen. Er hat es vorgezogen, sich in der Rolle des frommen Menschen, der den Göttern opfert, darzustellen, so wie er sich auch in alle wichtigen Priester-Kollegien hat wählen lassen, bis er schließlich auch das Amt des pontifex maximus übernahm, als dieses frei geworden war.56 Auf diese seine Frömmigkeit weist er hin in der großen Inschrift, dem „monumentum Ancyranum“, wenn er die Tempel aufzählt, die er hat erbauen oder wiederherstellen lassen.57 Dies berichtet auch Sueton in seiner Biographie: Augustus habe Sakralbauten, „die durch ihr Alter verfallen oder von Feuersbrunst vernichtet waren“ wiederherstellen lassen und mit reichen Geschenken ausgetattet; auch habe er die „Zahl und die Würde der Priesterstellen, aber auch die finanziellen Vergünstigungen“ erhöht; und er habe sogar „einige alte Zeremonien, die nach und nach abgeschafft worden waren“, wieder eingesetzt, wie z. B. das Amt des Jupiterpriesters.58 In den Reliefs der „Ara Pacis Augustae“ ist diese Frömmigkeit anschaulich dargestellt, wenn die kaiserliche Familie zum Opfer schreitet.59 Das zentrale Thema ist der Friede (pax), der durch den Kaiser und seine Frömmigkeit garantiert wird, nicht durch die Göttlichkeit des Kaisers selbst. Exkurs: Kaiserkult in Japan Nach der Niederlage Japans im zweitenWeltkrieg hat der japanische Kaiser, so sagt es jedenfalls eine weit verbreitete Meinung, explizit auf den Anspruch auf Göttlichkeit verzichtet. In der genaueren Beschreibung von Herbert Zachert wird gesagt, „daß der Tenno in seiner Neujahrsansprache an das japanische Volk am 1. Januar 1946 auf seine von seiner göttlichen Herkuft abgeleiteten Vorrechte verzichtet hat, 54 Wlosok, RömischerKaiserkult, 32. 55 Sueton, Augustus. 52. Vgl. dazu Kienast, Augustus, 246, der stärker den Herrscherkult als die „Loya­ litäts­religion der neuen Monarchie“ betont. 56 Vgl. dazu Kienast, Augustus, 220–227. 57 Siehe Augustus, res gestae 19–21; Sueton, Augustus 30; 31. Zur augusteischen Restauration, zu seinen religionspolitischen Maßnahmen vgl. Schlange-Schöningen, Augustus, 100–106. Zum Bildprogramm vgl. Zanker, Augustus und die Macht der Bilder. 58 Sueton, Augustus, 30, 2; 31, 3f. 59 Zur ara pacis vgl. Zanker, Augustus und die Macht der Bilder, 126–130.

Exkurs: Kaiserkult in Japan

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um der neuen Verfassung Raum zu geben“.60 Wie immer diese Erklärung unter den politischen Umständen zustande kam und was sie genau aus der Sicht des Betroffenen bedeutet hat, auf jeden Fall gilt, was der Althistoriker Takashi Fujii feststellt, dass „eine Untersuchung der Herrscherkulte im Orient, z. B. in Japan, Korea, China, Iran und Indien, dazu beitragen würde, die kultische Verehrung des römischen Kaisers weltweit im historischen sowie religiösen Kontext einzuordnen.“61 Die Liste der Vergleichsmöglichkeiten könnte noch erweitert werden, indem das „Gottkönigtum“ der Maya einbezogen wird.62 Tatsächlich sind in der Forschung Begriffe verwendet worden, die der Deutung des Althistorikers Manfred Clauss erstaunlich nahekommen: So hat Zachert im Hinblick auf die Nara-Zeit (8. Jahrhundert) festgestellt, dass „der Tenno das japanische Volk als „gegenwärtig seiender Gott“ beherrscht, und einen kaiserlichen Erlass aus dieser Zeit hat er so übersetzt:63 Der Kaiser, das Liebe Kind von Yamato, der als Gegenwärtige Gottheit über das Reich regiert, läßt seinen erlauchten Worten gemäß künden: … Die japanischen termini sind aki-tsu-mikami und arahitogami, von Zachert übersetzt als „Gegenwärtig seiender Gott“ bzw. als „Gegenwärtig seiender Mensch-Gott“.64 Herman Ooms übersetzt akitsukami als „manifest kami“; arahitokami übersetzt er wörtlich als „a kami appearing (ara) as a human (hito)“, hält aber auch „God incarnate“ für eine passende Übersetzung.65 Zachert betont zwar, dass „kami“ im Japanischen nicht mit dem christlichen Gottesbegriff gleichgesetzt werden darf, spricht aber von den „Benennungen“ für den Kaiser, „die auf einen religiösen Hintergrund zurückgingen oder die Macht des jeweiligen Herrschers kennzeichnen sollten“.66 Der japanische Historiker Inoue vertritt anscheinend dieselbe Auffassung vom religiösen Hintergrund der Benennungen, betont aber noch stärker die herrschaftslegitimierende Funktion dieser Begrifflichkeit: „Der tenno dieses Staates galt als Nachkomme der Götter, die auch das Land geschaffen hatten, repräsentierte als akitsu mikami (gegenwärtiger Gott) höchste Autorität, ein Despot, ausgestattet mit absoluter Macht und dem Eigentumsrecht an Volk und Land. … er stand über dem Gesetz.“67 In den Jahrhunderten nach der Nara-Zeit kam es zu einer Verschiebung in den Machtverhältnissen: der Kaiser, bzw die kaiserliche Dynastie, war schließlich nur noch das symbolische Machtzentrum, während die reale Macht von einem Mili60 61 62 63 64 65

Siehe dazu Zachert, Die Mythologie des Shinto, 82. Takashi Fujii, Der Kaiserkult, 47. Siehe Grube, Das Gottkönigtum bei den Maya. Zachert, Die Mythologie des Shinto, 27f. Zachert, ebda, 25; 85. Ooms, Imperial Politics, 69; 284, Anm. 69. Kleine übersetzt jap. genjin als „sichtbare Gottheit“ („Wie die zwei Flügel eines Vogels“, 173; 179). 66 Zachert, Die Mythologie des Shinto, 85. 67 Inoue, Geschichte Japans, 55.

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tärdiktator, dem Shogun, ausgeübt wurde. Die letzte und bekannteste Dynastie, die das Shogunat innehatte, war die der Tokugawa, vom frühen 17. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese Verschiebung änderte aber nichts daran, dass der Kaiser als „gegenwärtiger Gott“ weiterhin die Herrschaft legitimierte, eben die Herrschaft des Shoguns, der im Namen des Kaisers regierte. So musste der Shogun gerade ein Interesse daran haben, die Autorität des Kaisers zu bewahren und gegebenfalls, wenn nötig, zu restaurieren.68 Die Frage stellt sich, ob und in welcher Weise der Buddhismus, der ja schon im 7. Jahrhundert nach Japan gekommen war, sich in die politische Landschaft eingefügt hat. Die Annahme könnte naheliegend erscheinen, dass der Buddhismus als eine Universalreligion ein kritisches Potential mitgebracht hatte, das mit der Kaiser-­ Ideologie in Konflikt geraten musste – ähnlich wie das Christentum im römischen Kaiserreich. Es ist aber festzustellen, dass die verschiedenen buddhistischen Schulen oder Sekten die (göttliche) Autorität des Kaisers anerkannt und die Rolle einer staatstragenden Religion übernommen haben, so dass geradezu von dem „staatsschützenden Buddhismus“ gesprochen werden kann.69 Christoph Kleine hat die Entwicklung des Verhältnisses von Buddhismus und Staat in Japan in fünf Phasen eingeteilt: „Von einem importierten Sippenkult zur Staatskirche“; „Von einer Staatskirche zur Staatsreligion“; „Von einer Staatsreligion zu einem Staat im Staate“; „Der Buddhismus als Staatsorgan unter der absoluten Militärdiktatur der Tokugawa-­ Shogune“; und schließlich „Der Buddhismus unter den Bedingungen des Kapitalismus: zwischen Verfolgung und indifferenter Duldung“.70 So ergibt sich, zumindest im Blick auf Mittelalter und Frühe Neuzeit, der Eindruck, dass der Buddhismus in Japan zur Legitimation der Herrscher – des Kaisers bzw. des Shoguns – beigetragen hat. Es scheint allerdings doch eine Ausnahme zu geben: Nichiren hat im 13. Jahrhundert eine der neuen buddhistischen Schulen begründet, indem er einen einzigen buddhistischen Text, das Lotus-Sutra, in den Mittelpunkt gestellt und zum Gegenstand der Verehrung gemacht hat. Er hat dabei einen Exklusivanspruch vertreten, der im Rahmen des Buddhismus überraschend erscheinen kann. Jacqueline Stone hat aber gerade in diesem Exklusivanspruch die Basis einer buddhistischen Herrschaftskritik erkannt: „ … Nichiren believed that loyalty to the Lotus Sutra should take precedence over loyalty to both ruler and country. … By thus according the Lotus Sutra a transcendent priority, Nichiren established both for himself and for his later followers a source of moral authority for challenging the existing political order.“71 Dabei ist er, Sato Hiroo zufolge, so weit gegangen, dass er auch die auf der göttlichen Abstammung beruhende Autorität der kaiserlichen Dynastie in Frage gestellt hat: „… during the medieval period, 68 Vgl. dazu Inoue, Geschichte Japans, 192. 69 Vgl. dazu Kleine, „Wie die zwei Flügel eines Vogels“, 183. Victoria geht von der religionshistorischen Darstellung zur theologischen, bzw. buddhologischen, Kritik über, wenn er den „staatsbeschützenden Buddhismus“ als „Verrat am Buddha-Dharma“ bezeichnet (Zen, Nationalismus und Krieg, 315). 70 Kleine, „Wie die zwei Flügel eines Vogels“, 172–199. 71 Stone, Nichirenist Exclusivism, 234f.

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Nichiren was the only one who openly put into question the absolute authority of the divinely descended Tenno, and affirmed the possibility of transfer (through revolution) of legitimate authority as ruler of the nation to other individuals.“72 So ist es nicht verwunderlich, dass es immer wieder, schon zu Lebzeiten Nichirens, zu Konflikten mit den politischen Machthabern kam – und dass schließlich jene Anhänger Nichirens, die nicht kompromissbereit waren, von staatlicher Seite verfolgt wurden, parallel zu der Christenverfolgung im Japan des 17. Jahrhunderts.73 Christoph Kleine hat in der Lehre Nichirens kein solches revolutionäres Potential gesehen. Aus seiner Sicht ging es Nichiren um „die vollkommene Verschmelzung von Staat und Religion“. Er weist aber auch darauf hin, dass „die radikale Nichiren-Gruppe Fuju-fuse-ha“ unter der Tokugawa-Regierung „kurzerhand verboten“ wurde und in den Untergrund gehen musste.74 Im Blick auf die Geschichte Japans im 20. Jahrhundert hat Brian Victoria den „Buddhismus des kaiserlichen Weges“ dargestellt, eine Bewegung, die von Repräsentanten verschiedener buddhistischer Schulen propagiert wurde, unter anderem auch von Vertretern der Nichiren-Schule. Diese bekannten sich – nach Ausbruch des Krieges gegen China – vorbehaltlos zum Gehorsam gegenüber dem Kaiser, und sie beriefen sich dabei auf den Gründer ihrer Gemeinschaft, den „heiligen Nichiren“, der „auf die göttliche Einheit des Herrschers und des Buddha“ hingewiesen habe.75 Brian Victoria hat daneben aber auch einige Ansätze individuellen, buddhistischen Widerstandes gegen diese Entwicklung dargestellt, so z. B. die explizite Behauptung eines Soto-Zen Priesters, der Kaiser sei „nicht der Sohn der Götter“, und die kriegskritischen Äußerungen eines Priesters des Shin-Buddhismus. Diese Ansätze waren allerdings nicht erfolgreich und führten, zumindest in dem ersten Fall, zu einem Hochverrats-Prozess und zur Hinrichtung des buddhistischen Kritikers.76 Auch in der Geschichte Koreas finden sich Hinweise darauf, dass es im Buddhismus einige Versuche gegeben hat, „ein geistiges Widerlager zur Macht des Königshauses zu bilden“.77 5.3 Zusammenfassung und Ausblick Der Vergleich mit einigen Phänomenen außerhalb der europäischen Religions­ geschichte verstärkt den Eindruck, dass der Herrscherkult gerade dann, wenn er „nur“ als politisches Phänomen betrachtet wird, den Blick freigibt auf die politische Funktion der Religion, die darin besteht, Herrschaft zu legitimieren, was eben durch die Verwendung religiöser Formen und Formeln bewerkstelligt wer72 73 74 75 76 77

Sato, Nichiren’s View, 317. Vgl. dazu Sato, ebda, 321f. Kleine, „Wie die zwei Flügel eines Vogels“, 192; 195. Victoria, Zen, Nationalismus und Krieg, 128. Victoria, ebda, 73f.; 115f. Lienemann-Perrin, Religion und staatliche Macht in Korea, 148.

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den kann. In seiner Darstellung des Gottkönigtums bei den klassischen Maya hat Nikolai Grube diese Funktion besonders deutlich beschrieben: „Geschichten über die fremde Herkunft halfen den Königsdynastien, die sozioökonomischen Unterschiede ideologisch zu zementieren und den Führungsanspruch festzuschreiben. Die Könige gaben sich eine Identität, die sie vom Rest der Bevölkerung unterschied. … Fremde Namen und Orte wurden zu räumlichen Metaphern für das Transzendente und Exotische. Sie erlaubten es den Königen einen göttlichen Ursprung für sich zu reklamieren, eine Verbindung zu der übernatürlichen Welt, die keine andere soziale Gruppe innerhalb einer Gemeinschaft beanspruchen konnte.“78 Grube fügt noch hinzu, dass die Könige der Maya „in einer Welt des Luxus“ lebten, dass sie „gesünder und wohlgenährter als die Menschen in ihrer Umwelt“ waren und auch „deutlich länger“ lebten. Der Herrscherkult im griechisch-römischen Bereich sowie die angeführten Vergleichsbeispiele bieten auf den ersten Blick eine perfekte Bestätigung für die Religionstheorie des Soziologen Pierre Bourdieu: „Der Religion kommt die praktische und politische Funktion der Verabsolutierung des Relativen und der Legitimierung des Willkürlichen zu, die darin besteht, das Potential an materieller und symbo­ lischer Kraft zu verstärken, das von einer Gruppe mobilisiert werden kann, um die Gruppe als solche zu konstituieren, sowie all das zu legitimieren, was sie gesellschaftlich definiert, … Die Religion übt eine Konsekrationswirkung aus, insofern sie durch ihre heiligenden Sanktionen die faktischen politischen wie ökonomischen Grenzen und Barrieren in rechtliche Grenzen verwandelt; …“.79 Am Beispiel des Herrscherkultes hat sich aber auch gezeigt, dass Religion nicht auf diese legitimierende oder „konsekrierende“ Funktion reduziert werden kann. Denn es hat neben der religiösen Herrschaftsbegründung auch immer wieder Herrschaftskritik gegeben. Bourdieu hat selbst bemerkt, dass „Spannungen und Konflikte zwischen der politischen und der religiösen Macht“ auftreten können.80 Er denkt dabei an den Gegensatz zwischen Priester und Prophet: ersterer ist „mit der gewöhnlichen Ordnung verbunden“, also der Träger der legitimierenden und „konsekrierenden“ Funktion, letzterer ist „der Mensch außeralltäglicher Situationen, also solcher Situationen, in denen die Hüter der gewöhnlichen Ordnung nichts zu sagen haben, und das aus gutem Grund, da die einzige Sprache, über die sie verfügen, um sie zu denken, die des Exorzismus ist“.81 Den Propheten sieht Bourdieu, im Anschluss an Max Weber, als einen unabhängigen „Heilsunternehmer ohne jegliches Ausgangskapital und ohne eine andere Bürgschaft und Garantie als seine 78 Grube, Das Gottkönigtum bei den klassischen Maya, 26. 79 Bourdieu, Religion 53f. So ist z. B. die „paulinische Loyalitätsparänese“ (Rm 13,1–7) „in gegensätzlichen politischen Kontexten herangezogen“ worden, „um Machtverhältnisse zu legitimieren“ (Bormann, Politische Theologe bei Paulus?, 56). Dies gilt aber, Bormann zufolge, nicht für Paulus selbst, dessen Distanz zur römischen politischen Theologie „nicht neutral, sondern kritisch“ gewesen sei (ebda, 55). 80 Bourdieu, Religion 83. 81 Bourdieu, Religion, 84; 87.

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‚Person‘“.82 Diese Gegenüberstellung von Priester und Prophet ist zwar unverzichtbar für die Beschreibung der Dynamik innerhalb des religiösen Feldes, sie reicht aber nicht aus, die Konflikte zwischen der religiösen und der politischen Macht zu beschreiben. Wie der Blick auf das frühe Christentum – oder auch auf den modernen japanischen Buddhismus – zeigt, sind es nicht nur einzelne Propheten als „unabhängige Heilsunternehmer“, die sich der „konsekrierenden“ Funktion verweigert haben, am Herrscherkult teilzunehmen, sondern auch einzelne Vertreter religiöser Institutionen, also „Priester“ im Sinne Bourdieus.83 Die Ambivalenz der Religion, die sich in den verschiedenen Einstellungen zum Herrscherkult darstellt, kann am besten beschrieben werden, so scheint es, durch die Gegenüberstellung von Heidentum und Monotheismus, wie sie von Jan Assmann eingeführt worden ist: „Heidentum, …, bedeutet die Immanenz Gottes bzw. des Heiligen in der Welt, Monotheismus besteht demgegenüber auf der Transzendenz Gottes und der kategorialen Unterscheidung zwischen Gott und Welt.“84 Ein Fall von „Weltimmanenz des Göttlichen“ ist eben die Sakralherrschaft oder das Gottkönigtum, und eine solche „politische Idolatrie“ findet Assmann im alten Ägypten besonders deutlich ausgeprägt: „In Ägypten herrscht Pharao als Gott auf Erden.“85 Die Gegenposition findet Assmann in der Bibel: Den Auszug der Israeliten aus Ägypten beschreibt er als den „Kampf zweier theopolitischer Systeme“, „des heidnisch-pharaonischen und des monotheistisch-israelitischen“.86 Der (exklusive) Monotheismus, der auf der „‚mosaischen Unterscheidung‘ zwischen wahren und falschen Göttern sowie wahrer und falscher Religion“ beruht,87 ist, Assmann zufolge, eine Religion neuen Typs, die das Gottkönigtum als heidnisch ablehnen muss, weil dieses die Immanenz des Göttlichen in der Welt behauptet: „Es war ein Befreiungsschlag der Bibel, die altorientalische Einheit des Politischen und des Sakralen, von Herrschaft und Heil, aufzusprengen, …“.88 Assmann sieht natürlich auch, dass das „Heidentum“ damit nicht endgültig überwunden war, wie schon ein Blick in die Geschichte von Christentum und Islam zeigt: in der politischen Theologie habe das Heidentum „immer wieder neue Auferstehungen gefeiert, im vatikanischen Kirchenstaat, im byzantinischen und französischen Cäsaropapismus, im islamischen Kaliphat, überall dort wo Priester politische Gewalt und Herrscher religiöse Heilskompetenz ausgeübt haben“.89 Obwohl klar und konsistent definiert, könnte Assmanns Begrifflichkeit missver82 Bourdieu, ebda, 66. 83 Vgl. dazu Berner, Christentum und Herrscherkult, 67–69, zum Konflikt zwischen dem Bischof Ambrosius und dem Kaiser Theodosius; ders., The Bishop and the Politician, 151–161, zum Konflikt zwischen dem Bischof Colenso und der Kolonialregierung. 84 Assmann, Politische Theologie, 11. 85 Assmann, Politik und Religion, 83. 86 Assmann, ebda, 101 87 Assmann, Politische Theologie, 11. 88 Assmann, Politik und Religion, 104. 89 Assmann, Politische Theologie, 12.

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standen werden als eine Apologetik der drei großen monotheistischen Religionen oder sogar nur des Christentums und hier speziell des Protestantismus. Er selbst hat aber immerhin schon ein Beispiel aus der asiatischen Religionsgeschichte genannt, wenn er in einer Fußnote auf Gandhi hinweist, als eines der wenigen positiven Beispiele dafür, dass „Religion sich als eine Gegenmacht zur Staatsgewalt aufstellen“ kann.90 Vergleichbare Beispiele finden sich, wie sich im Exkurs gezeigt hat, auch im ostasiatischen Buddhismus. Und auch für die europäische Religionsgeschichte gilt, dass eine kritische Einstellung zum Herrscherkult – wie immer dieser von den Praktizierenden verstanden wurde – nicht nur auf der Grundlage des (christlichen) Monotheismus vertreten werden konnte: So hat z. B. Philostrat in seiner Biographie des Apollonius von Tyana – die ja vielleicht sogar als Gegenentwurf zum Christentum geplant war –, den Konfikt zwischen Philosoph und Kaiser beschrieben, in dem ersterer sich weigert, die Autorität des Herrschers als göttlich oder sakral und deshalb als unhinterfragbar zu akzeptieren:91 Apollonius aber gönnte dem Kaiser überhaupt keinen Blick und übersah ihn so vollkommen, daß ihn der Ankläger des Hochmutes bezichtigte und ihn aufforderte, zum Gott aller Menschen aufzublicken. Da hob Apollonius seine Augen zur Decke empor, zum Zeichen, daß er zu Zeus aufschaue. Denjenigen aber, der sich auf eine so gottlose Weise schmeicheln ließ, hielt er für schlimmer als den Schmeichler selbst. Diese Absage an die Vorstellung eines sakralen Königtums ergibt sich nicht aus dem biblisch-christlichen, exklusiven oder „revolutionären“ Monotheismus, der auf der „Mosaischen Unterscheidung“ beruht, sondern aus dem inklusiven oder „evolutionärem“ Monotheismus, der sich aus dem Polytheismus entwickeln kann. Die „Überwindung des heidnischen Systems“, die sich „vor allem in der Form einer Destruktion der Herrscherrolle“ vollzieht,92 kann also auch innerhalb des Heidentums selbst stattfinden – „Heidentum“ jetzt nicht im Sinne Assmanns essentialistisch definiert, sondern deskriptiv als Bezeichnung der religiösen Umwelt des frühen Christentums. Und dazu gehört eben auch die Philosophie, aus der Philostrat den Maßstab nimmt, an dem der Herrscher gemessen wird, um dann gegebenfalls, wie im Falle Domitians, verurteilt zu werden.93 Wenn der Blick noch ausgeweitet wird über die Grenzen der europäischen Religionsgeschichte hinaus, dann ergibt sich vollends der Eindruck, dass es nicht die religiösen Ideen als solche sind, die eine „Überwindung des heidnischen Systems“ ermöglichen, sondern die Menschen, die ihre jeweilige religiöse Tradition auslegen und dabei entweder zur Herrschaftsbegründung oder zur Herrschaftskritik tendieren. 90 91 92 93

Assmann, ebda, 14. Philostrat, Apollonios von Tyana, VIII, 4. Assmann, Politik und Religion, 101. Vgl. dazu Berner, Christentum und Herrscherkult, 65–67.

Literatur

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Es bleibt noch die Frage, ob die Formeln „Politik als Religion“ oder „Religion als Ideologie“ geeignet sind, den Herrscherkult in der hellenistisch-römischen Welt und vergleichbare Phänomene zu beschreiben. Erstere Formulierung erscheint als brauchbar, wenn darunter verstanden wird die Übertragung religiöser Formen, sprachlich und rituell, in den politischen Bereich als Strategie zur Legitimierung von Herrschaft auf der einen und Anerkennung von Herrschaft auf der anderen Seite. Als naheliegend könnten auch die Rede von der „Sakralisierung der Politik“ sowie der Begriff der „politischen Religion“ erscheinen. Doch könnte dies zu Missverständnissen führen, da diese Begriffe eng mit der Totalitarismus-Forschung verbunden sind, die sich mit modernen Phänomenen des 20. Jhs beschäftigt.94 Der Ideologie-Begriff könnte besser geeignet sein, da er bereits in einer Darstellung des „Gottkönigtums“ bei den klassischen Maya begegnete. Außerdem wird dieser Begriff in der kritischen Religionswissenschaft, wie sie z. B. von Bruce Lincoln vertreten wird, zur Deutung religiöser Aussagen verwendet.95 Diese Deutung könnte zwar Missverständnisse hervorrufen, erscheint aber im Hinblick auf den Phänomenbestand des Herrscherkultes als berechtigt und sinnvoll, also dann, wenn es um Begründung von Herrschaft und der damit verbundenen – ausgeübten oder angedrohten – Gewalt geht.96 Literatur Quellen Augustus: Res gestae. Tatenbericht (Monmentum Ancyranum). Lateinisch/Griechisch/ Deutsch. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Marion Giebel, Stuttgart 1986. Cassius Dio: Dio’s Roman History. With an English Translation by Earnest Cary. In Nine Volumes. VIII, London/Cambridge Ma. 1968. Passio Iuli Veterani: The Acts of the Christian Martyrs. Introduction Texts and Translations by Herbert Musurillo, Oxford 1979, 260–265. Passio sanctorum Scillitanorum: Die römische Literatur in Text und Darstellung. Kaiserzeit II. Herausgegeben von Hans Armin Gärtner, Stuttgart 1988, 35–42. Philostratos, Das Leben des Apollonios von Tyana. Griechisch-Deutsch. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Vroni Mumprecht, München/Zürich 1983.

94 Vgl. dazu z. B. Gentile, The Sacralization of Politics. Zur Anwendbarkeit des Begriffes der „Zivilreligion“, allerdings nur auf die Zeit vom 4. bis zum 6. Jahrhundert, vgl. Raschle, Bis wann bleibt der Kaiser „Kult“? 95 Siehe Lincoln, Theses on Method, 226f; Grottanelli/Lincoln, A Brief Note, 321f. 96 Vgl. dazu Lincoln, Sanctified Violence, 86f, der allerdings nicht auf den Herrscherkult eingeht. Sinnvoll erscheint auch der Begriff der „politischen Theologie“, wie ihn Bormann verwendet (Politische Theologie bei Paulus?, 52; 54). Doch wird dieser Begriff in der neueren Religionswissenschaft mit dem Namen von Carl Schmitt und seiner Deutung des modernen Liberalismus verbunden. Vgl. dazu Yelle, Carl Schmitt’s „Exception“ as a Challenge for Religious Studies, 192.

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Plinius der Jüngere: Panegyrikus. Lobrede auf den Kaiser Trajan. Herausgegeben, übersetzt und mit Erläuterungen versehen von Werner Kuhn, Darmstadt 1985. Plutarch: Demetrios. Große Griechen und Römer. Eingeleitet und übersetzt von Konrat Ziegler. Band V, Zürich/München 1980. Plutarch: Lysandros. Große Griechen und Römer. Eingeleitet und übersetzt von Konrat Ziegler. Band III, Zürich/Stuttgart 1955. Sueton: Caesar. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Dietmar Schmitz, Stuttgart 1999. Sueton: Augustus. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Dietmar Schmitz, Stuttgart 2002. C. Suetonius Tranquillus: Sämtliche erhaltene Werke. Unter Zugrundelegung der Übertragung von Adolf Stahr neu bearbeitet von Franz Schön und Gerhard Waldherr, Essen 1987. Tacitus: Historien. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Helmuth Vretska, Stuttgart 1999. Tertullian: Apologeticum. Verteidigung des Christentums. Lateinisch und Deutsch. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Carl Becker, München 2. Aufl. 1961. Tertullian: ‚Apologeticum‘, übersetzt und erklärt von Tobias Georges, Freiburg et al. 2011.

Sekundärliteratur Assmann, Jan: Einleitung: PolitischeTheologie und die monotheistische Wende, in: Jan Assmann/Harald Strohm (Hg.), Herrscherkult und Heilserwartung, München 2010, 11–17. Assmann, Jan: Politik und Religion. Altägyptische und biblische Ausprägungen eines aktuellen Problems, in: Jan Assmann/Harald Strohm (Hg.), Herrscherkult und Heilserwartung, München 2010, 83–105. Barta, Winfried: Untersuchungen zur Göttlichkeit des regierenden Königs. Ritus und Sakralkönigtum in Altägypten nach Zeugnissen der Frühzeit und des Alten Reiches, München/Berlin 1975. Bergmann, Marianne: Die Strahlen der Herrscher. Theomorphes Herrscherbild und politische Symbolik im Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit, Mainz 1998. Berner, Ulrich: Christentum und Herrscherkult. Religion und Politik im Römischen Kaiserreich, in: Werner H. Ritter/Joachim Kügler (Hg.), Gottesmacht. Religion zwischen Herrschaftsbegründung und Herrschaftskritik, Berlin 2006, 57–73. Berner, Ulrich: The Bishop and the Politician: Inter-Field Dynamics in 19 th Century Natal, South Africa, in: Magnus Echtler/Asonzeh Ukah (eds.), Bourdieu in Africa. Exploring the Dynamics of Religious Fields, London 2016, 139–165. Bormann, Lukas: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit“ (Röm 13,1) – Politische Theologie bei Paulus?, in: Werner H. Ritter/Joachim Kügler (Hg.), Gottesmacht. Religion zwischen Herrschaftsbegründung und Herrschaftskritik, Berlin 2006, 35–56. Bourdieu, Pierre: Genese und Struktur des religiösen Feldes, in: ders.: Religion. Schriften zur Kultursoziologie 5, hrsg. von Franz Schultheis und Stephan Egger, Berlin 2011, 30–90. Blumenthal, Elke: Die Göttlichkeit des Pharao. Sakralität von Herrschaft und Herrschaftslegitimierung im alten Ägypten, in: Franz Reiner Erkens (Hg.), Die Sakralität von Herrschaft. Herrschaftslegitimierung im Wechsel der Zeiten und Räume, Berlin 2002, 53–61.

Literatur

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6 Religion und (In)Toleranz

6.1 Von der Toleranz zur Intoleranz 6.1.1 Religiöser Pluralismus und Toleranz im Römischen Reich Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde das Thema „Monotheismus und Intoleranz“ zum Gegenstand mehrerer, voneinander unabhängiger Diskurse: Der Ägyptologe Jan Assmann hatte nur eine bestimmteArt des Monotheismus im Blick, den „exklusiven“ oder „revolutionären“, wenn er von der inhärenten Neigung zur Intoleranz sprach; der Soziologe Rodney Stark hat demgegenüber ganz allgemein behauptet, jedenfalls im Hinblick auf Christentum und Islam: „religious intolerance is inherent in all monotheisms“.1 Daraus scheint zu folgen, dass Toleranz eher dort zu erwarten ist, wo Monotheismus keine dominierende Rolle spielt, wie z. B. im Römischen Reich vor der Christianisierung. Tatsächlich hat Rodney Stark auch genau dies behauptet: „In many respects Rome provided for a greater level of religious freedom than was seen again until after the American Revolution.“ Und für die Christen im Römischen Reich habe gegolten: „… informally they were free to do pretty much as they wished, in most places, most of the time.“2 Diese Behauptung eines Soziologen könnte auf Skepsis stoßen, wenn an die Christenverfolgungen gedacht wird, doch ist auch von Experten im Bereich der Alten Geschichte festgestellt worden, den Christen habe bis zur Mitte des dritten Jahrhunderts von Seiten des Staates „kaum Gefahren“ gedroht, da der Staat „sich gegenüber den verschiedenen Religionen, die im Reich praktiziert wurden, im Normalfall tolerant“ verhalten habe.3 Zur Begründung kann zunächst auf die Vielzahl philosophischer Schulen hingewiesen werden, die geduldet wurden, obwohl ihre Lehren und die damit verbundenen Lebensentwürfe ganz unterschiedlich waren. Diese Orientierungssysteme, die der „doktrinalen Religiosität“ im Sinne Whitehouse’s zugeordnet werden können, waren offen für die Verbindung mit verschiedenen Mysterienkulten, die ebenfalls als Orientierungssysteme betrachtet werden können, aber der „imagistischen Religiosität“ zuzuordnen sind. Auch hier gab es eine Vielzahl heterogener Traditionen, verschiedene Riten und Mythen, die im römischen Reich toleriert und zum Teil sogar staatlich gefördert wurden. Das Nebeneinander verschiedener Kulte und Philosophien, deren Verbindung der individuellen Initiative überlassen blieb, kann als „religiöser Pluralismus“ bezeichnet werden, zumindest im weiteren Sinne, wenn damit nur die Duldung der Plu1 2 3

Stark, One True God, 82. Vgl. dazu Berner, Monotheismusdebatte, 48–53. Stark, Rise of Christianity, 192. Piepenbrink, Konstantin der Große, 21.

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ralität gemeint ist. „Religiöser Pluralismus“ im engeren Sinne, wie es in der Gegenwart zumeist verstanden wird, würde demgegenüber eine theoretische Konzeption bezeichnen, die verschiedene Religions- und Kultgemeinschaften als gleichwertig betrachtet – ob diese Pluralität faktisch gegeben ist oder nicht. Es scheint nahe zu liegen, den Pluralismus und die damit verbundene Toleranz dem Polytheismus zuzuordnen, im Gegensatz zur Intoleranz des Monotheismus. Die Verwendung dieser Begriffe ist aber nicht unproblematisch, schon deshalb, weil verschiedene Arten von Monotheismus zu unterscheiden wären.4 Als ein alternativer Ansatz bietet es sich an, danach zu fragen, auf welche Quellen der (Gottes)Erkenntnis in den verschiedenen Religionen rekurriert wird, und hier könnte der entscheidene Unterschied liegen: In der griechisch-römischen Welt gab es eben keinen Kanon von Offenbarungsschriften, die der Bibel oder dem Koran vergleichbar wären. In der „olympischen Rede“ Dions von Prusa (40–120 n. Chr.), eines heidnischen Philosophen und Redners, wird eine Vielzahl von Quellen der Gotteserkenntnis aufgezählt:5 Drei Entstehungsfaktoren also für die Wahrnehmung des Göttlichen bei den Menschen haben wir bislang vorgestellt: die natürliche Erkenntnis sowie die von den Dichtern und die von den Gesetzgebern vermittelte. Als vierten Faktor wollen wir nunmehr die bildende Kunst benennen … Später in seiner Rede fügt Dion dann noch einen fünften Faktor hinzu, den er, da er die „natürliche Gotteserkenntnis“ an dieser Stelle nicht zählt, als vierten einführt:6 Auch ganz abgesehen von dieser einfachen, ältesten Vorstellung hinsichtlich der Götter, die sich bei allen Menschen artbedingt zugleich mit der Vernunft herausbildet, erweist es sich als notwendig, zu den drei genannten Interpreten und Lehrern – Dichtern, Gesetzgebern, Künstlern – noch einen vierten hinzuzunehmen, der seine Aufgabe keineswegs leicht nimmt und sich in der Götterlehre für nicht unbewandert hält. Ich meine den Philosophen. Wenn die Gotteserkenntnis aus einer Vielzahl von Quellen gewonnen wird, von denen keine einen Exklusivanspruch erhebt, dann wird es eher verständlich, dass eine Vielzahl von Mythen und Kulten nebeneinander bestehen kann, ohne in ein Verhältnis der Konkurrenz zu geraten. Ein Beispiel findet sich im Roman „Metamorphosen“, bekannt unter dem Titel „Der goldene Esel“, verfasst von Lucius Apuleius (124–170 n. Chr.) aus Madaura in Nordafrika. Er war philosophisch gebildet und, nach eigener Aussage, in „viele“ Mysterienkulte eingeweiht.7 Damit bietet er

4 5 6 7

Siehe Berner, Monotheismusdebatte, 42–44. Dion von Prusa, Olympische Rede, § 44. Zur Datierung der Rede vgl. Klauck, 25–27. Dion von Prusa, Olympische Rede, § 47. Siehe Apuleius, De magia 55,8; 56,8.

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wieder ein Beispiel für die komplexe Religiosität, die nicht durch einen einfachen Begriff wie „römische“ oder „griechische Religion“ beschrieben werden kann.8 Die Isis-Mysterien Dieser Text, der Roman des Apuleius, ist die wichtigste Quelle für die Isis-­ Mysterien, einen der Mysterienkulte, die im Römischen Reich verbreitet waren. Die Handlung des Romans, dessen Stoff zum größten Teil einer griechischen Vorlage entnommen war,9 kreist um das Schicksal des Lucius, der in einen Esel verwandelt und schließlich wieder in seine menschliche Gestalt zurückverwandelt wird. Die Verwandlung in tierische Gestalt wird als Folge eines leichtfertig unternommenen Versuches in der Magie vorgestellt; die Rückverwandlung wird demgegenüber als Folge eines ernsthaft unternommenen Versuches in der Religion dargestellt, der mit einem Gebet beginnt und zur Einweihung in die Isis-Mysterien führt. Der Schluss des Romans, das elfte Buch, ist nicht aus der Vorlage übernommen, scheint also die eigene Leistung des Apuleius zu sein. Dieser Schluss berührt das Thema der Erlösung und enthält auch einige Andeutungen über das geheime Initiationsritual. Die religiöse Wendung beginnt mit einem Gebet des noch in seiner tierischen Gestalt befindlichen Lucius, der sich an die „Himmelskönigin“ wendet, ohne dass er sie schon genau kennt:10 Himmelskönigin! Seist du Ceres, die mütterliche Erstspenderin der Kornfrüchte: …; – seist du die himmlische Venus: …; – seist du Phoebus’ Schwester: …; – seist du mit furchtbarem Nachtgeheul Proserpina: …; – mit welchem Namen immer, nach welchem Brauch immer, unter welcher Gestalt immer man dich rufen muß -: du hilf mir jetzt in meiner höchsten Not, … Das Gebet lässt schon den nichtexklusiven Charakter dieser Art von Religiosität erkennen – die Vielzahl göttlicher Gestalten und der dazu gehörigen Kulte und Mythen, auf die angespielt wird, scheint nicht zu einer Entscheidung herauszufordern. In der Selbstvorstellung der Göttin, die dem Lucius im Traum erscheint, bestätigt der Autor noch einmal diese Konzeption einer nichtexklusiven Religiosität:11 Von deinem Gebet gerufen bin ich da, die Mutter der Natur, Herrin aller Elemente, Keimzelle der Geschlechter, – Geisterfürstin, Totenkönigin, Himmels8 Der Begriff „Missionsroman“, den Merkelbach (Isis regina, VII) verwendet, ist deshalb irreführend. Auch der Begriff „religiöse Propagandaschrift“ (Geyer, Roman und Mysterienritual, 185) trägt der Nicht-Exklusivität nicht Rechnung; er gilt im engen Sinne nur für den griechisch geschriebenen, jüdischen Roman „Josef und Aseneth“ (Geyer, ebda, 186–188). 9 Vgl. dazu Merkelbach, Isis regina, 418. 10 Apuleius, Metamorphosen, XI, 2, 1–4. 11 Apuleius, Metamorphosen, XI, 5, 1–3.

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herrin, – Inbegriff der Götter und Göttinnen. …; ein Wesen bin ich, doch in vielen Gestalten, wechselnden Bräuchen, mancherlei Namen betet mich der ganze Erdkreis an. Dort bei den uralten Phrygern bin ich die Göttermutter von Pessinus, hier bei den attischen Autochthonen Pallas Athene, …; Juno rufen mich die einen und Bellona die anderen, …; doch die Äthiopier …, und die Ägypter mit ihrer mächtigen altenWeisheit verehren mich mit den eigentlichen Bräuchen und heißen mich mit meinem echten Namen Königin Isis. Diese Selbstoffenbarung der Göttin führt zur Ankündigung der Erlösung – zunächst ganz konkret als Chance zur Rückverwandlung in menschliche Gestalt. Die „Erlösung“, die dem Leiden des Lucius ein Ende bereiten wird, hat aber Konsequenzen für sein weiteres Leben, da die Göttin ihn in ihren Dienst nehmen wird:12 Doch mußt du dir dessen ganz bewußt sein und es immer mit allen Fasern deines Herzens festhalten: mir ist der Rest deines Erdenlaufs bis zum allerletzten Atemzug verfallen! Billig ists, der dein ganzes künftiges Leben zu weihen, deren Gnade dich unter die Menschen zurückgeführt hat. Doch ein Leben voll Glück, ein Leben voll Ruhm wartet auf dich unter meiner Obhut. Scheint zunächst nur das dieseitige Leben im Blick zu sein, so wird im Folgenden gleich der Blick auf das jenseitige Leben gerichtet und die Gewissheit ausgesprochen, dass die Göttin auch im Jenseits gegenwärtig sein wird:13 Und ist einst die Frist deiner Zeitlichkeit abgelaufen und bist du zur Unterwelt hinabgestiegen: auch dort in der unteren Halbkugel werde ich, wie du mich siehst, der Höllenfinsternis leuchten und dem Totenpalast gebieten, du aber wirst – auch selbst dann Bewohner der elysischen Gefilde – beständig zu mir, deiner Gönnerin, beten. Es wird also ein Unsterblichkeitsglaube angedeutet, der in einigen Einzelheiten an altägyptische Vorstellungen erinnert. Es ist zwar nicht explizit von einem „ewigen Leben“ die Rede,14 doch ist die ewige Dauer der postmortalen Existenz impliziert in der Vorstellung des Laufs der Sonne durch die Unterwelt. Es wird aber Rücksicht genommen auf den allzu menschlichen Wunsch, den Tod möglichst lange hinauszuschieben, und so wird in einem Zusatz zu der Jenseitshoffnung eine Verlängerung des Lebens im Diesseits in Aussicht gestellt:15

12 Apuleius, Metamorphosen, XI, 6, 5. 13 Apuleius, Metamorphosen, XI, 6, 6. 14 Vgl. Liebeschütz, Continuity and Change, 221: „But life after death is given much less emphasis than it is in Christianity. In fact, the hope of eternal life is not offered explicitly.“ 15 Apuleius, Metamorphosen, XI, 6, 7.

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Hast du mit emsigem Gehorsam, frommem Dienst und zäher Kasteiung unsere Gnade verdient, so wisse: über die dir vom Schicksal gesetzte Spanne hinaus gar dein Leben zu verlängern, ist mir allein verstattet. All diese Verheißungen gelten aber nur dem Eingeweihten, wie in allen Mysterien­ kulten, und so führt die Darstellung zu der Grenze, die der Autor nicht überschreiten darf, da das Ritual der Einweihung, die Initiation, eben geheim ist. Um den Leser, wie er bemerkt, nicht „mit anhaltender Unruhe“ zu quälen, macht Apuleius einige Andeutungen:16 Ich nahte dem Grenzbezirk des Todes, stieg über Proserpinas Schwelle und fuhr durch alle Elemente zurück; um Mitternacht sah ich die Sonne in weißem Licht flimmern, trat zu Totengöttern und Himmelsgöttern von Angesicht zu Angesicht und betete sie ganz aus der Nähe an. – Da habe ich dir berichtet, was du nun wohl gehört hast, aber doch nicht verstehen kannst! Apuleius führt die Handlung des Romans aber noch etwas weiter und lässt Lucius noch zwei weitere Weihen erleben, von denen aber keine weiteren Andeutungen gegeben werden: Es wird nur klar, dass Lucius „nur in die Weihen der Göttin eingeführt, aber noch nicht von den Weihen des großen Gottes und obersten Göttervaters, des unbesieglichen Osiris erleuchtet“ war, so dass noch ein weiteres Ritual nötig ist:17 „Denn wenn auch die Gottes- und Glaubensvorstellung zusammenhänge, ja sogar eine Einheit bilde, bestehe doch in der Weihe ein bedeutender Unterschied.“ Wenn zum Schluss der Gott Osiris ins Spiel kommt, der aus Ägypten als Totengott – gestorben und auferstanden – bekannt ist, dann verstärkt sich der Eindruck, dass es in den Isis-Mysterien letztlich um die Vermittlung der Jenseits- und Unsterblichkeitshoffnung ging. Eine umstrittene Stelle in der antiheidnischen Polemik des christlichen Apologeten Firmicus Maternus ist sicherlich auf ein Osiris-Ritual zu beziehen,18 in dem Tod und Auferstehung des Gottes vergegenwärtigt wurden:19 In irgendeiner Nacht wird das Götterbild rücklings auf eine Tragbahre gelegt und mit Wehklagen, die sich auf die Scharen verteilen, betrauert. Wenn sie dann an dem eingebildeten Klagegeschrei genug bekommen haben, wird ein Licht hereingebracht. Hierauf wird der Hals aller, welche weinten, gesalbt; nach dieser Salbung flüstert der Priester Folgendes in langsamem Gemurmel: „Habt guten Mut, ihr Eingeweihte des erlösten Gottes; denn es wird uns Erlösung von den Leiden.“ 16 Apuleius, Metamorphosen, XI, 23, 5–7. Klauck referiert kurz die Versuche der Forschung, zu rekonstruieren, „wie das bewerkstelligt wurde“ (Die religiöse Umwelt, 118). Vgl. auch Burkert, Antike Mysterien, 82. 17 Apuleius, Metamorphosen, XI, 27, 2–3. 18 Es ist Engster (Mysterienkulte, 270f) darin zuzustimmen, dass diese Deutung überzeugend ist. 19 Firmicus Maternus, de errore profanarum religionum XXII,1 (Übersetzung: Engster, Mysterienkulte, 270).

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Der Totenkult hat bekanntlich in Ägypten eine große Rolle gespielt hat, vor allem in seiner Verbindung mit dem Gott Osiris – „an diesen verehrtesten Totengott haben Hunderte von Generationen ihre Hoffnung geknüpft“.20 Der Mythos von Isis und Osiris – als Götternamen vielleicht am ehesten aus Mozarts „Zauberflöte“ bekannt – ist aus ägyptischen Quellen schwer zu rekonstruieren. Die einzige ausführliche und zusammenhängende Erzählung stammt erst aus römischer Zeit, von dem griechischen Philosophen Plutarch. Doch kann festgestellt werden, dass die Göttergestalten, die zu diesem Mythos gehören – Isis und Osiris sowie das feindliche Brüderpaar Horus und Seth – „Hoffnung und Trost für die Menschen durch viele Jahrhunderte“ gegeben haben.21 Die Organisation als ein Mysterienkult ist sicherlich erst im Zuge der Ausbreitung im Römischen Reich entstanden, nicht schon in Ägypten. Es wäre aber problematisch, die Unsterblichkeitshoffnung als das einzige Ziel der Isis-Mysterien zu bestimmen, wie überhaupt jede Wesensbestimmung eines Kultes oder einer Religion problematisch ist – es liegt ja an der Intention der Teilnehmer, welche Bedeutung der Kult oder die Religion für ihr Leben hat. In der Darstellung des Apuleius deutet sich bereits an, dass die Einweihung mehrere Funktionen erfüllt und auch einen Bezug zum diesseitigen Leben hat: Mehrfach wird darauf hingewiesen, dass die Teilnahme an den Riten kostenpflichtig und kostspielig ist.22 Es gibt also auch eine ökonomische Grundlage der Isis-Mysterien, und der Erfolg der Einweihung zeigt sich nicht nur in der „Erlösung“ des Lucius und in der Hoffnung auf Unsterblichkeit, sondern auch in der Steigerung seines Einkommens, wie zum Schluss noch berichtet wird.23 Walter Burkert hat diese komplexe Funktionalität der Mysterien-Einweihung gerade in Bezug auf Apuleius und den Lucius-Roman betont: „Man hat hier von einer ‚Bekehrung‘ zu einer neuen Religion gesprochen. Doch was durch die Glanzleistungen religiöser Rhetorik hindurchscheint, ist durchaus realistisches Geschehen, das von keineswegs nur spirituellen Interessen bstimmt ist; es läßt sich auf der Ebene der Realität und auch psychologisch durchaus einleuchtend verstehen.“24 Auch wenn die „nicht-spirituellen“ Interessen, wie z. B. der Aspekt des ökonomischen Erfolgs, nicht ausgeblendet werden dürfen, so ist doch festzuhalten, dass es sich bei diesem Roman um einen religiösen Text handelt, im Sinne der hier vorausgesetzten Definition: Apuleius beschreibt an einem Beispiel den Weg zu einem gelingenden Leben, das in einer neuen Lebensform gewonnen wird, die nach dem Durchgang durch eine rituell vermittelte Erfahrung der Grenzüberschreitung gewählt wird.

20 21 22 23 24

Brunner, Altägyptische Religion, 127. Brunner, ebda, 60. Siehe Apuleius, Metamorphosen, XI, 28,1; vgl. 23,1; 30,1. Siehe Apuleius, Metamorphosen, XI, 30.2. Burkert, Antike Mysterien, 23.

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Die religiöse Konzeption des Apuleius, wie sie im Lucius-Roman entfaltet wird, entspricht genau dem Religionsbegriff, wie er von einem Vertreter der analytischen Religionsphilosophie entwickelt worden ist. Ian T. Ramsey hat in seiner Analyse der religiösen Sprache die (wahre) Religion beschrieben als den (plötzlichen) Durchbruch zur Gotteserkenntnis (discernment/disclosure), der gefolgt wird von dem Gefühl einer (absoluten) Verpflichtung (commitment).25 Gerade so beschreibt Apuleius die religiöse Wende im Leben des Lucius: Plötzlich entsteht die Gewissheit, dass es eine göttliche Vorsehung (providentia) gibt und damit Hoffnung auf Erlösung (spem salutis), und aus dieser Gewissheit ergibt sich unmittelbar die absolute Verpflichtung (militia; ministerii iugum) zu einem neuen Leben im Dienst der Göttin – ein Dienst, der wiederum als „Freiheit“ interpretiert wird.26 Der Roman des Apuleius ist ein gutes Beispiel für die Überschneidung im Gegenstandsbereich von Religions- und Literaturwissenschaft. Allerdings kann der Bereich der Überschneidung verschieden bestimmt werden, je nachdem wie der Religionsbegriff verwendet wird. So hat z. B. der Altphilologe Reinhold Merkelbach nur solche Romane als „religiös“ betrachtet, die zwei Bedeutungsebenen haben und die auf der zweiten Ebene implizit oder explizit auf religiöse Riten Bezug nehmen. Dies gilt, Merkel­bach zufolge, neben dem Roman des Apuleius noch für drei weitere Werke antiker Literatur, die er als „Isis-Romane“ bezeichnet.27 Dagegen erkennt er den Roman des Chariton von Aphrodisias nicht als religiös an und bezeichnet ihn als einen „rein profanen Text“.28 Abgesehen von der umstrittenen Zwei-Ebenen-­Theorie, die überwiegend auf Skepsis gestoßen ist,29 erscheint es aber nicht zwingend, den „religiösen“ Charakter der Literaturwerke durch den Bezug zu Ritualen des einen oder anderen Kultes zu definieren. Es ist auch nicht nötig, eine zweite Ebene der Bedeutung als die „religiöse“ von der Erzählebene abzuheben. Gerade der Roman des Chariton kann als ein religiöser Text betrachtet werden, insofern als auf der Erzählebene konventionelle religiöse Fragen gestellt und beantwortet werden: etwa die Frage nach der Erhörung von Gebeten, die in diesem Fall an die Göttin Aphrodite gerichtet werden.30 Die Mysterien von Eleusis Die Erwähnung der Göttin Ceres im Roman des Apuleius ist eine Anspielung auf die Mysterien von Eleusis, den Demeter-Kult, den ältesten und in der Antike berühmtesten Mysterienkult. Öffentlich waren nur die vorbereitenden Riten, denen sich die „Mysten“ zu unterziehen hatten und die mehrere Tage in Anspruch nahmen. Dazu gehörte die Prozession von Athen nach Eleusis, einmal im Jahr, im Herbst. Das Hei25 Siehe Ramsey, Religious Language, 18. Vgl. dazu Berner, Religionswissenschaft und Religionsphilosophie, 162f; 171f. 26 Siehe Apuleius, Metamorphosen, XI, 1, 2–3; 6,5; 15,5. 27 Siehe Merkelbach, Isis regina, 335f. 28 Merkelbach, ebda, VIII. 29 Siehe z. B. Burkert, Antike Mysterien, 56f; Klauck, Die religiöse Umwelt, 116, Anm. 85. 30 Vgl. dazu Berner, Das Gebet aus der Sicht der analytischen Religionsphilosophie, 98f.

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ligtum von Eleusis, das nur für die Mysten und die Eingeweihten zugänglich war, hatte einige Besonderheiten: Anders als die griechischen Tempel war das Gebäude für die Versammlung der Gläubigen bestimmt, und die verschiedenen Funktionen der in Eleusis amtierenden Priester wurden in Familien vererbt.31 Der Kult ist schon in archaischer Zeit bezeugt und hat Bestand gehabt bis zum Abschluss der Christianisierung des römischen Kaiserreiches im 4. Jahrhundert. Über das zentrale Ritual, das in der Nacht stattfand, gibt es nur Andeutungen aus späterer Zeit – von Christen, die sich natürlich nicht an die Pflicht zur Geheimhaltung gebunden fühlten.32 Anhaltspunkte für die Interpretation finden sich auch in dem Demeter-Hymnus, der unter dem Namen Homers überliefert ist und der die Einrichtung der Mysterien in Eleusis auf die Göttin Demeter selbst zurückführt. Der homerische Hymnus an Demeter erzählt die Geschichte von dem Raub der Persephone: Demeter sucht ihre Tochter Persephone, die vom Gott der Unterwelt, Hades, geraubt worden ist; auf der Suche kommt Demeter, unerkannt in menschlicher Gestalt, nach Eleusis, wo sie freundlich aufgenommen wird, sich schließlich als Göttin offenbart und befiehlt, einen Tempel und Altar zu bauen.33 Aus Gram über den Verlust der Tochter lässt Demeter die Natur verdorren, so dass Zeus sich genötigt sieht, einzugreifen; es kommt schließlich zu einer Versöhnung in der Götterwelt, die durch Zeus herbeigeführt wird und die einen Kompromiss darstellt:34 … die Tochter solle ein Dritteil Jedes laufenden Jahres im dämmrigen Düster verbringen, Zwei aber dann mit der Mutter vereint und den anderen Göttern. … … die schön bekränzte Demeter gehorchte, Ließ in den großen Schollen der Äcker sogleich wieder Früchte Wachsen, … Der Demeter-Hymnus beschreibt also in mythischer Form den ewigen Kreislauf der Natur, wie er zu erkennen ist in dem Wechsel der Jahreszeiten, der immer wieder Leben aus dem Tod entstehen lässt. Und der Sinn der Einweihung könnte darin bestanden haben, dem Menschen die Gewissheit zu geben, an dieser Ewigkeit teilhaben zu können – vermittelt eben durch die Teilnahme an dem Ritual:35 Selig der Erde bewohnende Mensch, der solches gesehen! Doch wer die Opfer nicht darbringt, oder sie meidet, wird niemals Teilhaft solches Glücks; er vergeht in modrigem Düster. 31 32 33 34 35

Zur Organisation der Mysterien siehe Mylonas, Eleusis, 229–237. So Klemens von Alexandrien und Hippolyt. Siehe Burkert, Griechische Religion, 426. Ps.-Homer, Demeter-Hymnus, V. 273f. Ps.-Homer, Demeter-Hymnus, V. 445–447; 470f. Ps.-Homer, Demeter-Hymnus, V. 480–482.

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Wenn es also darum ging, dem Menschen eine Hoffnung auf Unsterblichkeit zu vermitteln und damit die Furcht vor dem Tod zu nehmen,36 dann ist der Mysterienkult eine Alternative oder eine Ergänzung zu den Unsterblichkeitsbeweisen Platons: Die Gewissheit wurde hier nicht durch rationale Argumentation vermittelt, sondern durch rituelle Partizipation, worin auch immer sie bestanden haben mag, und vor allem durch das Schauen, was auch immer vom amtierenden Priester in der Mysteriennacht gezeigt wurde. Glaubhaft ist, Burkert zufolge, die Überlieferung, es sei eine geschnittene Ähre gewesen,37 also ein Symbol für die Entstehung des Lebens aus dem Tode, wie es auch im Neuen Testament verwendet wird (Joh 12,24). Walter Burkert hat auch einen Vergleich mit dem Christentum angedeutet: die Mysteriennacht von Eleusis habe sich vielleicht „von einem östlichen Osterfest oder einem Weihnachtsfest gar nicht so sehr unterschieden“.38 Der Vergleich könnte noch konkretisiert werden, wenn an die dramatischen Darstellungen in mittelalterlichen Osternacht-Liturgien gedacht wird: Die Auferstehung Jesu aus dem Grab wurde im wahrsten Sinne des Wortes den Gläubigen vor Augen geführt.39 Tatsächlich ist in den späteren Zeugnissen von einem „drama mystikon“ die Rede, das in Eleusis aufgeführt werde.40 In der christlichen Liturgie der Osternacht ist die dramatische Darstellung natürlich nur eine Ergänzung zu der Lehre, die durch Worte übermittelt wird. Die Frage ist, ob es in Eleusis auch eine vergleichbare Lehre gab oder ob es nur um ein Erleben ging, wie es ein Aristoteles-Zitat nahelegt: in Eleusis gehe es nicht darum, etwas zu lernen (mathein), sondern darum, etwas zu erleben oder zu erleiden (pathein).41 Burkert hat allerdings auf den Kontext verwiesen, in dem dieses Zitat überliefert ist, und daraus geschlossen, dass das „Erleiden“ nur die letzte Stufe gewesen sei, der eine Belehrung und ein Lernen vorausgegangen sei.42 Zumindest gab es ja den Mythos von Demeter und Persephone, und dieser Mythos könnte ja in seiner Bedeutung erklärt worden sein, so dass die Mysterienfeier doch zur „Übermittlung“ (paradosis) von Wissen gedient haben könnte.43 Neben den Dingen, die getan werden (dromena) und denen, die gezeigt werden (deiknymena), werden in 36 Cicero spricht davon, dass er durch die Teilnahme an den Mysterien „nicht nur die Unterweisung erhalten“ habe, „wie man mit Freude lebt“, sondern auch „wie man mit einer Hoffnung auf Besseres stirbt“ (Über die Gesetze II, 36). Zur „eschatologischen Komponente“ der Eleusinischen Mysterien vgl. Sourvinou-Inwood, Festival and Mysteries, 28; 41. 37 Mylonas hält diese Überlieferung nicht für glaubhaft (Eleusis, 275f). Sourvinou-Inwood bringt die Kornähre mit dem Ritus des Findens der Persephone in Zusammenhang (Festival and Mysteries, 37). 38 Burkert, Griechische Religion, 432; vgl. auch Mylonas, Eleusis, 262; Sourvinou-Inwood, Festival and Mysteries, 34. 39 Vgl. dazu Crosse, Arts of the Church, 14–20; Clinton, Myth and Cult, 84. Bruit Zaidman/Schmitt Pantel (Religion der Griechen, 138) sprechen von „Aufführung der liturgischen Dramen“ in Eleusis. 40 Klemens, Protr. 2,12. Vgl. dazu Sourvinou-Inwood, Festival and Mysteries, 29f; 40: „sacred drama“. 41 So verstehen es auch Mylonas, Eleusis, 262; Clinton, Myth and Cult, 86f; Bruit Zaidman/Schmitt Pantel, Religion der Griechen, 139. 42 Siehe Burkert, Antike Mysterien, 58f. 43 Mylonas, Eleusis 272: „short liturgical statements and explanations, and perhaps invocations“. Zur Frage nach Büchern in den Mysterienkulten vgl. Burkert, Antike Mysterien, 59f.

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Eleusis ja auch Worte, die gesprochen werden (legomena), erwähnt. Und schließlich war die Beherrschung der griechischen Sprache eine Voraussetzung für die Teilnahme. Aus der Sicht der Modes-Theorie von Harvey Whitehouse wäre festzustellen, dass die Übermittlung des religiösen Wissens, wie sie in den Mysterien von Eleusis erfolgt, überwiegend dem Typ der imagistischen Religiosität zuzuordnen wäre: Die geringe Frequenz des Rituals und die Geheimhaltung haben sicherlich bewirkt, dass die emotionale Intensität der Erfahrung sehr hoch war und im episodischen Gedächtnis gespeichert wurde.44 Das Beispiel von Eleusis würde aber zugleich eine Modifikation der Modes-Theorie notwendig erscheinen lassen: Die imagistische Religiosität kann zu einer dauerhaften Institution werden, wenn sie als Teil in ein größeres Religionssystem integriert ist: Ein Mysterienkult ist ja nur eine „Option“ oder eine „Mode“ innerhalb „des einen uneinheitlichen und doch kontinuierlichen Konglomerats, das wir die Religion der Antike nennen“, vergleichbar mit Pilgerreisen „im Rahmen mittelalterlicher Religiosität“.45 Wenn die Mysterien von Eleusis also als rituelle Ergänzung zur Bestärkung des Unsterblichkeitsglaubens betrachtet werden können, so ist doch nicht zu vergessen, dass Ploutos, der Reichtum, der Sohn der Göttin Demeter ist: Die Mysterienfeier konnte auch „als Garantie für die beständige Versorgung mit Getreide“ verstanden werden; die Funktion des Rituals kann also auch im Diesseits verortet werden, im Sinne der „Votivreligion“, die auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruht.46 Es ist also mit der Möglichkeit zu rechnen, dass ein und dasselbe Ritual von den Teilnehmern aus verschiedenen Gründen gesucht und auf verschiedene Weise erlebt wurde. Auf der Ebene der individuellen Religiosität gibt es eben eine Variationsbreite, die in der Rekonstruktion des Rituals nicht zu erkennen ist. Die Mithras-Mysterien Im römischen Kaiserreich haben sich neben den Isis-Mysterien auch die Mithras-­ Mysterien verbreitet. Der Mithraskult ist persischer Herkunft. Das persische Wort mithra bedeutet „Vertrag“, und ein Gott dieses Namens begegnet nicht nur in der iranischen, sondern auch in der indischen Religionsgeschichte. Einen Mysterienkult des Mithras hat es aber erst im römischen Reich gegeben. Es ist unsicher, ob dies bereits für die „Geheimkulte“ kilikischer Seeräuber im 1. Jahrhundert v. Chr. gilt, von denen Plutarch berichtet, dass „der des Mithras bis heute lebendig ist,

44 Sourvinou-Inwood spricht von „strong emotional experiences“/„intense religious experience“ (Festival and Mysteries, 40). Vgl. Mylonas, Eleusis, 261: „… the initiates apparently went through certain experiences which left them perhaps filled with awe and even confusion, but also overflowing with bliss and joy“. 45 Burkert, Antike Mysterien, 11; 17. 46 Siehe Burkert, Antike Mysterien, 26. Sourvinou-Inwood verteilt die beiden Bedeutungen auf die Ebenen der Gemeinschaft und des Individuums (Festivals and Mysteries, 40).

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nachdem er zuerst von ihnen eingeführt worden war“.47 Obwohl es – wie es eben für einen Mysterienkult nicht anders zu erwarten ist – keine schriftlichen Quellen für die Lehre gibt, haben die erhaltenen archäologischen Zeugnisse den Eindruck eines geschlossenen Systems vermittelt, so dass die Annahme vertreten worden ist, „daß die Mithras-Mysterien eine einmalige Schöpfung eines unbekannten religiösen Genies“ gewesen sind.48 Im zweiten und dritten Jahrhundert gab es eine starke Verbreitung der Mithras-­ Mysterien, allerdings nur in einigen Teilen des römischen Reiches, nicht z. B. in Griechenland und Ägypten, also nicht in direkter lokaler Konkurrenz zu dem sich in der gleichen Zeit ausbreitenden Christentum. Der Kirchenhistoriker Adolf von Harnack hatte schon auf den Befund hingewiesen, dass sich die Verbeitungsgebiete von Mithraskult und Christentum nicht decken – die meisten archäologischen Zeugnisse des Mithraskultes finden sich in Rom selbst und an der Peripherie des Reiches, wie am germanischen Limes und am Hadrianswall.49 Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts scheint das Interesse von seiten der Kaiser zugenommen zu haben – in einer späteren Quelle wird sogar berichtet, dass der Kaiser Commodus eingeweiht war.50 Den Höhepunkt kaiserlicher Förderung des Mithraskultes hätte dann eine Inschrift Diokletians dargestellt – während der letzten Christenverfolgung. Offensichtlich erschien dieser Kult dem Kaiser Diokletian, der das Reich in einer Krise erhalten musste, als förderungswürdig, ganz im Gegensatz zum Christentum. Nach der Konstantinischen Wende verschwindet der Mithraskult erstaunlich schnell aus der Geschichte, scheint also auf die staatliche Duldung und Förderung angewiesen gewesen zu sein. Dies könnte sich daraus erklären, dass die Anhänger dieses Kultes hauptsächlich zur Armee und zur kaiserlichen Verwaltung gehört hatten, also in einer besonders engen Loyalitätsbeziehung zum Kaiser gestanden hatten. Diese Beziehung hätte ja ihren Sinn verloren, wenn der Kaiser selbst seine religiöse Identität geändert und sich dem Christentum zugewandt hatte. Wenn der Name des Gottes Mithras auf den Vertrag und damit auf Treue und Zuverlässigkeit verweist, so ist es gut verständlich, dass der Mithraskult eine passende Ergänzung zur „Loyalitätsreligion“ des Kaiserkultes sein konnte und eben deshalb nie unterdrückt worden ist – er war eben selbst „eine Religion der Loyalität“.51 Dass die Einweihung – an der nur Männer teilnehmen konnten – auch mit der Verkündung moralischer Normen verbunden war, geht aus einer Bemerkung des Philosophen Porphyrios hervor, der berichtet, dass bei einer bestimmten Stufe der Einweihung den Mysten die Hände statt mit Wasser mit Honig gereinigt werden: 47 Plutarch, Pompeius 24,7. Vgl. dazu Merkelbach, Mithras, 45. 48 So Nilsson, dem sich Merkelbach (Mithras, 77) anschließt. Ulansey hat eine Theorie zur Entstehung entwickelt, die spannend wie ein Kriminalroman ist – möglich, aber nicht beweisbar und deshalb in der Forschung überwiegend auf Ablehnung gestoßen. Ein Referat der wichtigsten Kritiken und eine differenzierte Stellungnahme bei Beck, The Religion of the Mithras Cult, 36. 49 Siehe Harnack, Mission, 939f. 50 Historia Augusta, Commodus Antoninus 9. 51 Merkelbach, Mithras, 159.

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„… they call upon them to keep their hands pure of all that which is painful, harmful, or dirty, … They also purify the tongue of all sin by means of honey.“52 Dass die Mithras-Mysterien eine Ethik enthielten, die der christlichen zumindest in einigen Punkten vergleichbar war, geht aus einer polemischen Bemerkung Justins hervor, des Philosophen und Märtyrers: dieser behauptet, die Lehrer der Mithras-­ Mysterien hätten Worte aus dem Buch Jesaja entlehnt und es fertiggebracht, „Worte der Gerechtigkeit im Munde zu führen“.53 Die eigentliche Lehre der Mithras-Mysterien ist kaum zu rekonstruieren, da sie nur aus den zahlreich erhaltenen Kultbildern sowie aus einigen wenigen, sekundären Zeugnissen erschlossen werden kann. Nach dem Bericht des Celsus, eines Christentums-Gegners, könnte es eine komplizierte Lehre vom Aufstieg der Seele durch die Planetensphären gegeben haben. In seiner Schrift gegen Celsus hat der Kirchenvater Origenes daraus zitiert:54 Von diesen Dingen findet sich auch in der Lehre der Perser und in dem Geheimdienst des Mithras, der bei ihnen eingeführt ist, eine dunkle Andeutung. Wir haben dort nämlich eine sinnbildliche Darstellung der zwei Kreisläufe am Himmel, nämlich des Kreislaufs der Fixsterne und des den Planeten zugewiesenen Umlaufs, und des Durchgangs der Seele durch diese. Von solcher Art ist das Sinnbild: eine Leiter mit sieben Toren, und an ihrer Spitze ein achtes Tor. … Diese Tore werden dann den verschiedenen Metallen und den Planeten(göttern) zugeordnet. Dem Bericht des Origenes zufolge hat Celsus an dieses Referat einer „Theologie der Perser“ noch „musikalische Lehren“ angeknüpft, so dass der Eindruck entsteht, die Mithras-Mysterien könnten eine komplizierte Seelen- und Erlösungslehre enthalten haben, eine Verbindung von Mythos und griechischer Philosophie. Reinhold Merkelbach hat aus dem Bericht des Celsus geschlossen, „daß die Theologie der Mithras-Mysterien hier wie so oft auf doppelte Quellen zurückzuführen ist, auf persische Mythen und auf griechische Philosophie“.55 Die archäologischen Zeugnisse bestätigen die Darstellung des Celsus: In Ostia, in der Nähe von Rom, ist ein Mithräum gefunden worden, das im Bodenmosaik eine Leiter mit sieben Türen und den dazu gehörigen Symbolen zeigt.56 Der Deutung Merkelbachs zufolge, der eine Verbindung mit platonischer Kosmologie des „Timaios“ annimmt, haben die sieben Einweihungsgrade der Mithras-Mysterien den „Weg der Seele durch die Planetensphären auf Erden vorweggenommen; nach dem Tod sollte die Seele durch die 52 53 54 55 56

Porphyry, On the cave of the nymphs, 15. Vgl. dazu Merkelbach, Mithras, 189. Justin, Dialog mit dem Juden Tryphon, 70,1. Vgl. dazu Merkelbach, Mithras 190–192. Origenes, Contra Celsum, VI, 22. Merkelbach, Mithras, 215. Siehe Merkelbach, Mithras, Abbildung 38.

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veränderlichen Kreisläufe der Planeten hindurch zur Fixsternspäre aufsteigen, in die Region des Ewigen, und zu jenem Stern zurückkehren, der nach dem Timaios ihre wahre Heimat war“.57 Durch die „tröstliche Verheißung der Unsterblichkeit der Seele und ihres Zusammenhangs mit Gott“ seien die Mithras-Mysterien der religiösen Sehnsucht der Zeit entgegengekommen, und „der Verstand der Menschen konnte seine Befriedigung finden in der Wissenschaftlichkeit dieser Lehre, welche dem damaligen Stand der Astronomie entsprach“. Diese Hoffnung auf Unsterblichkeit, als Lehre nur hypothetisch zu rekonstruieren, ist aber in erster Linie wohl mythisch und rituell vermittelt worden. Das zen­ trale Kultbild aller Mithräen zeigt Mithras, der einen Stier tötet, aus dessen Schwanz Kornähren wachsen.58 Der Mythos von Mithras und der Stiertötung ist nicht vollständig zu rekonstruieren, auch wenn einzelne Elemente, wie die Felsgeburt des Mithras, das Einfangen und das Wegtragen des Stiers, auf einigen Kultbildern wiedergegeben werden.59 Kosmische Symbole, wie vor allem die Tierkreis-Zeichen, könnten andeuten, dass die Stiertötung als kosmogonischer Akt zu betrachten ist. Das Symbol der Kornähre legt den Schluss nahe, dass die Botschaft dem eleusinischen Mythos von Persephone vergleichbar gewesen ist: Das Leben entsteht aus dem Tod, und der Mensch, der sich einweihen lässt, wird in diesen Prozess ewigen Lebens einbezogen. Diese Gewissheit könnte durch die Initiationsriten vermittelt werden, von denen sich Andeutungen in bildlichen Darstellungen eines Mithräums in Capua erhalten haben.60 Dass es in den Einweihungsritualen dramatische Darstellungen gab, lässt sich aus einer Andeutung in der Biographie des Kaisers Commodus erschließen: „Den Mithraskult befleckte er durch ein richtiges Menschenopfer, während es sonst in diesem Kult bei bloßen Formeln oder vorgespiegelten Handlungen zum Zweck der Einschüchterung sein Bewenden hat.“61 In dem Inititiationsritual hat es offenbar auch Elemente gegeben, die mit christlichen Riten vergleichbar waren, so dass sich einige Kirchenväter veranlasst gesehen haben, eine Erklärung zu entwickeln. Justin, der Philosoph und Märtyrer, spricht in seiner Apologie des Christentums von einer teuflischen Nachahmung des christlichen Abendmahls:62 Denn die Apostel haben in den von ihnen stammenden Denkwürdigkeiten, welche Evangelien heißen, überliefert, es sei ihnen folgende Anweisung gegeben worden: Jesus habe Brot genommen, Dank gesagt … Auch diesen Brauch haben 57 Merkelbach, Mithras, 244. Zur Debatte zwischen Clauss und Merkelbach über die Einweihungsgrade – für alle Anhänger oder nur für Priester – vgl. Engster, Mysterienkulte, 423–426. 58 Siehe z. B. Merkelbach, Mithras, Abbildungen 71; 73; 101. 59 Siehe Merkelbach, ebda, Abbildungen 52; 73; 101; 116.; s. Abb. 2. 60 Siehe Merkelbach, ebda, Abbildungen 28–32. 61 Historia Augusta, Commodus Antoninus 9. Vgl. dazu Merkelbach, Mithras, 108; 189. Burkert, Antike Mysterien, 87f. 62 Justin, I. Apologie, 66.

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Abb. 2: Das Kultbild des Mithräums von Heddernheim, gefunden 1826. Stadtmuseum Wiesbaden. Mit freundlicher Genehmigung der Stiftung Stadtmuseum Wiesbaden.

die bösen Dämonen in den Mithrasmysterien nachgeahmt und Anleitung dazu gegeben. Denn daß Brot und ein Becher Wassers bei den Weihen eines neuen Jüngers unter Hersagen bestimmter Sprüche hingesetzt werden, das wißt ihr oder könnt es erfahren. Die naheliegende Frage, ob ein Stieropfer zum Mithraskult gehört hat – dies würde ja dem zentralen Kultbild entsprechen –, ist wohl negativ zu beantworten, da die Mithräen schon aufgrund ihrer geringen Größe zu einer solchen rituellen Praxis nicht geeignet waren. Die Inschrift aus einem Mithräum in Rom scheint aber darauf hinzuweisen, dass die Unsterblichkeitshoffnung auch auf das Stieropfer und das darin vergossene Blut gegründet werden konnte: „Auch uns hast du gerettet, indem du

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das ewige Blut vergossest“.63 Auch dieses Element einer Mithras-Soteriologie ist mit christlichen Vorstellungen durchaus vergleichbar, was aus der Sicht der christ­lichen Apologeten natürlich nur als teuflische Nachahmung betrachtet werden konnte. Wichtiger als die Frage nach der Beeinflussung in die eine oder andere Richtung, die von den Kirchenvätern apologetisch beantwortet wurde, sind die Fragen nach den Gemeinsamkeiten und dementsprechend nach dem Konkurrenzverhältnis zwischen Christentum und Mithras-Mysterien. Was die „Verwandtschaft“ betrifft, so hat schon Adolf von Harnack festgestellt, „Als Erlösungsreligion haben beide gewisse gemeinsame Hauptzüge, …“; die „spezifischen geschichtlichen Vorstellungsreihen des Christentums“ hätten aber „mit der Mithrasreligion nicht zu tun“; im Hinblick auf die noch in den Anfängen befindliche historische Forschung wagte Harnack nur das vorsichtige Urteil, es sei „wahrscheinlicher, dass die Mithrasreligion bei der Kirche Anleihen gemacht hat, als umgekehrt“. Was die Frage nach dem Konkurrenzverhältnis betrifft, so war Harnack der Meinung, der Mithraskult sei „weder als ein sehr gefährlicher noch als d e r Rivale der Kirche anzusehen“.64 Der Neutestamentler Hans-Josef Klauck hat die Gesichtspunkte zur Bestätigung dieses Urteils übersichtlich zusammengefasst: Der Mithraskult hatte „mit zu vielen Begrenzungen“ zu tun, die seine Verbreitung behinderten – sozialer, ethnischer und geographischer Art.65 Die wichtigste dieser Begrenzungen dürfte darin bestanden haben, dass Frauen von der Teilnahme ausgeschlossen waren. Es ist aber zu bedenken, dass der Mithraskult ja nicht exklusiv war, sondern mit anderen Mysterienkulten kombiniert werden konnte, wie auch mit verschiedenen philosophischen Schulen. Die Frage nach der Konkurrenz zum Christentum kann also erst im Blick auf die ganze religiöse Umwelt beantwortet werden. Eben deshalb ist auch der Ausdruck „Mithrasreligion“, der von Harnack gebraucht wurde, als missverständlich zu vermeiden. Der Begriff „(Mithras)kult“ ist besser dazu geeignet, auf den nicht-­ exklusiven Charakter hinzuweisen. Es ist umstritten, ob der Unsterblichkeitsglaube wirklich im Mittelpunkt gestanden hat. Einige Forscher haben mit Recht darauf hingewiesen, dass Motive aus den Mithras-Mysterien nicht in der Sepukralkunst begegnen und dass die Inschriften auf den Votivgaben keinen Bezug zu einer Unsterblichkeitshoffnung erkennen lassen: „On the face of it Mithraists expected from their god the same kind of assistance as other Romans: health, and success for themselves and their colleagues and – diplo­ matically – for their superiors, not least the emperor.“66 Wenn dies für die Mehrzahl der Anhänger gelten würde, so ist damit ja nicht ausgeschlossen, dass die Mithras-­ Mysterien auch jenen Anhängern, die eine über das diesseitige Leben hinaus­gehende 63 Siehe Merkelbach, Mithras 145. Burkert (Antike Mysterien, 94) zufolge wäre das Wort „ewig“ als Lesung unsicher und inzwischen aufgegeben worden. Das Motiv der Erlösung durch das vergossene Blut ist aber auf jeden Fall gegeben. 64 Harnack, Mission, 940; 942. 65 Klauck, Religiöse Umwelt, 125. 66 Liebeschütz, The Expansion of Mithraism, 213f. Vgl. Burkert, Antike Mysterien, 23: „Die Erfüllung liegt offenbar in diesem Leben: Hier hat Mithras seine Macht bewiesen, hier wird er weiter helfen.“

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Erwartung hatten, eine Antwort gegeben haben. Überhaupt ist zu bedenken, dass die Symbolik der Mysterien verschiedene Bedeutungen gehabt haben kann, die jeweils für die verschiedenen Grade der Eingeweihten galten. So hat schon der Religionshistoriker Luther H. Martin festgestellt, dass seine Deutung des zentralen Kultbildes, der Stiertötung, gerade für einen der niederen Einweihungsgrade gilt, der bezeichnenderweise „miles“ heißt: „As cosmic image, the tauroctony invokes, on this level, the universal sphere of Roman political and military aspirations.“67 Und das schließe eben nicht aus, dass dasselbe Motiv des Kultbildes für die Eingeweihten eines höheren Grades, den des „Sonnenläufers“, eine andere, astrologische oder metaphysische Bedeutung erhält, wie sie von Roger Beck rekonstruiert wurde.68 In der neuesten Forschung ist eine grundsätzliche Kritik an den bisherigen Deutungen und ihren Methoden geübt worden. Roger Beck sah die Forschung zu Beginn des 21. Jahrhunderts an einem toten Punkt angekommen: „Scholarly interpretation of the Mithraic Mysteries, …, appears to have reached something of a dead end …“.69 Es sei nicht sinnvoll, weiterhin zu versuchen, die Lehre oder die Mythologie der Mithras-Mysterien zu rekonstruieren. Beck hat, im Anschluss an Clifford Geertz, den Begriff des Symbolsystems verwendet, und in seinen neuesten Arbeiten hat er sich an eine neue Richtung der Religionswissenschaft angeschlossen, bekannt als „cognitive science of religion“ und geprägt vor allem durch Pascal Boyer.70 Es geht ihm weniger um das „was“, sondern um das „wie“: „how the initiates apprehended the symbol systems of their mysteries“.71 Dieser kognitive Ansatz bietet auf der einen Seite den Vorteil, von dem Zwang zur Rekonstruktion einer Lehre zu befreien, ohne dass das Fehlen einer Lehre zu einer Abwertung der Mithras-Mysterien als „Religion zweiter Klasse“ führen müsste. Im Gegenteil, Beck kommt gerade auf diesem Wege zu einer besonders positiven Wertung, da diese Art der Religion keine Häretiker kennt – im Unterschied zum Christentum.72 Auf der anderen Seite bringt der kognitive Ansatz neue Probleme mit sich, insofern als er die Perspektive begrenzt auf die Betrachtung der mentalen Mechanismen in der Repräsentation „übernatürlicher Wesen“.73

Diese Mechanismen sind evolutionär entstanden und deshalb bei allen Menschen gleich. So eröffnet sich zwar eine neue Perspektive auf die Art der Religiosität, die eine Tradition ohne explizite Lehre aufrecht zu erhalten vermag, doch geraten damit 67 68 69 70 71 72 73

Martin, Reflections on the Mithraic tauroctony, 224. Siehe Beck, In the Place of the Lion, 41. Beck, The Religion of the Mithras Cult, 39. Siehe Beck, ebda, 4f; 93. Beck, ebda, 13. Siehe Beck, ebda, 95f. Siehe Beck, ebda, 88–92.

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andere Aspekte religionsgeschichtlicher Forschung aus dem Blick: Sowohl die Ausbreitung der Mithras-Mysterien im römischen Kaiserreich – lokal, zeitlich und sozial begrenzt – als auch ihr Untergang nach der Konstantinischen Wende kann nicht allein im Rahmen einer kognitiven Theorie erklärt werden.74 Außerdem ist wieder zu bedenken, dass es sich um einen nicht-exklusiven Kult handelt – die Eingeweihten konnten ja noch andere religiöse Bindungen eingehen und Aktivitäten entfalten. Deshalb kann es irreführend sein, von der „Religion“ des Mithraskultes zu sprechen.75 Die Dionysos-Mysterien Was Beck in seiner neuen Deutung der Mithras-Mysterien entwickelt hat, scheint viel besser auf die Dionysos-Mysterien zuzutreffen. Denn auch Merkelbach, der viel Mühe darauf verwendet hat, die Lehre der Mithras-Mysterien zu rekonstruieren, hat festgestellt: „Der Sinn der dionysischen Religion ist niemals in Worten formuliert worden.“76 Wenn es keine in Worten formulierten theologischen Lehren gab, dann bedeutet das, Merkelbach zufolge, jedoch nicht, „daß die Dionysosdiener gedankenlos gewesen sind“. Die Bedeutung der dionysischen Symbole habe auf der Hand gelegen, keiner habe sie je verkennen können: „Die Fichte ist immergrün; der Efeu wächst aus den kleinsten Überresten immer wieder empor; der Wein schlägt immer aufs neue aus.“77 Es wäre durchaus der Mühe wert, Merkelbachs Interpretation in der Begrifflichkeit des neuen kognitiven Ansatzes zu formulieren, wie er von Beck in seinen neueren Mithras-Studien angewandt worden ist. Allerdings ist wieder darauf hinzuweisen, dass es irreführend sein kann, von der Dionysos-­Religion zu sprechen. Auch für die Dionysos-Mysterien gilt ja, dass sie keinen exklusiven Charakter haben, sondern Teil eines komplexen Systems individueller Religiosität sein können – in der Verbindung mit anderen Kulten und/oder Philosophien, wie es von Apuleius und Plutarch bekannt ist. Die Einweihung in die Dionysos-Mysterien, auf die Plutarch in dem „Trostbrief an seine Frau“ zu sprechen kommt, ist ja nur ein Teil seiner Argumentation, die gegen den falschen Trost der Epikuräer gerichtet ist – dass die völlige Auflösung der Seele ja auch die Freiheit vom Übel bedeute:78 Ich weiß: Daran, das zu glauben, hindert dich die von den Vätern überkommene Lehre, hindern dich die mystischen Formeln aus den geheimen Riten des Dionysoskults, deren Kenntnis wir, die wir (als Eingeweihte an den Feiern) teilnehmen, miteinander teilen.

74 Vgl. dazu Echtlers Erörterung der begrenzten Reichweite kognitiver Ansätze, an einem Beispiel aus Afrika (Ritual und Kognition, 87–90). 75 Beck hat seinen Religionsbegriff gleich zu Beginn sorgfältig definiert und eingeführt, geht aber nicht auf die möglichen Verbindungen mit anderen Kulten und/oder Philosophien ein. 76 Merkelbach, Die Hirten des Dionysos, 96. 77 Merkelbach, ebda, 123. 78 Plutarch, Trostschrift, 10 (611 D).

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Zu fragen wäre noch, ob mit den „symbola“, auf die Plutarch anspielt, „Gegenstände, Merkzeichen oder Gebräuche“ gemeint sind oder eine „formelhafte Verdichtung der Jenseitshoffnung“. Klauck denkt an letzteres,79 Merkelbach an ersteres: es habe in den Dionysos-Mysterien kein fixiertes Credo gegeben – „Man gab seinen Hoffnungen Ausdruck, das war etwas sehr Natürliches. Wenn sich doch alles erneuert, warum dann nicht auch das Leben der Menschen?“80 Auf jeden Fall verbindet Plutarch diese Erinnerung an eine rituell vermittelte Hoffnung, die nur die Eingeweihten teilen, mit einer platonisch-pythagoreischen Seelenlehre, die wiederum in einem Gleichnis dargestellt wird: „Bedenke also, daß es der Seele, die unsterblich ist, genauso ergeht wie eingesperrten Vögeln: …“81 Und schließlich verweist Plutarch zum Schluss auch noch auf die Gesetze als eine weitere Quelle des Trostes, neben Mysterienkult und Philosophie: „Die von den Vätern überkommenen, alten Bräuche und Vorschriften machen die Wahrheit des bisher Gesagten noch einleuchtender.“82 Es ist nicht verwunderlich, dass Plutarch als Anhänger der platonischen Philosophie dann auf die Dionysos-Mysterien zu sprechen kommt, wenn es um den Trost angesichts des Todes und den Glauben an die Unsterblichkeit geht. Die Tatsache, dass dionysische Motive in der Sepukralkunst stark vertreten sind – ganz anders als im Falle der Mithras-Mysterien – zeigt jedenfalls, dass dies eine Funktion des Dionysoskultes gewesen ist, zumindest in späterer Zeit.83 Doch ist wieder davon auszugehen, dass dieser Aspekt nicht für alle Eingeweihten im Zentrum des Interesses gestanden haben muss – es können auch durchaus diesseitige Erwartungen, wie Gesundheit und Reichtum, mit der Einweihung verbunden gewesen sein. In den orphischen Hymnen, dem Liederbuch einer dionysischen Kultgruppe, werden denn auch öfter solche diesseitigen Hoffnungen ausgesprochen, wie z. B. im Hymnus an die Natur (Physis): „Allen gib Frieden, Gesundheit und Wachstum!“84 Um ein erfülltes Leben im Diesseits geht es auch in dem Roman des Longos, „Daphnis und Chloe“, der – Merkelbach zufolge – für Dionysos-Mysten geschrieben worden ist.85 Im Mittelpunkt stehen Eros, Pan und die Nymphen; ihnen ist der Roman gewidmet, und sie werden im Roman von den Hauptpersonen – die als Hirten auf dem Lande leben – verehrt. Erst am Schluss wird ein Bezug zu Dionysos angedeutet: Die Person, die in die verwirrte Handlung eingreift und sie zu einem glücklichen Ende führt, trägt den Namen „Dionysophanes“. Ohne Merkelbachs Zwei-Ebenen-Theorie, die im „Grundriß des Romans“ die „dionysischen Zeremo79 80 81 82 83

Klauck, Plutarch. Moralphilosophische Schriften, 224, Anm. 25. Merkelbach, Die Hirten des Dionysos, 132; vgl. ebda, 100. Plutarch, Trostschrift, 10 (611 D). Plutarch, Trostschrift, 11 (612 A). Abbildungen von Sarkophagen mit dionysischen Motiven bietet Merkelbach 1988, Abb. 46–83. Vgl. dazu auch Burkert, Antike Mysterien, 27f. 84 Zur „Vielzahl dionysischer Kultgruppen“ vgl. Graf, Nachwort, 171. 85 Merkelbach, Die Hirten des Dionysos, 137.

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nien“ erkennen lässt,86 kann der Roman nur im weitesten Sinne als Darstellung einer dionysischen Lebensform gelesen werden: Der Autor beschreibt ein Leben in der Natur, das aufgrund der Fömmigkeit der Menschen und der Fürsorge der Götter zu einem glücklichen Ende kommt, so dass jede Angst vor dem Tode aufgehoben und die Frage nach einem jenseitigen Leben gar nicht mehr gestellt wird. Ein vergleichbares Zeugnis aus dem Bereich der Kunst findet sich in dem berühmten Freskenzyklus der „Mysterienvilla“ in Pompeii.87 Wieder gibt es keinen Text, der die einzelnen Szenen und ihre Abfolge deuten würde. Ein Teil der Bilderfolge scheint auf ein ein zentrales Motiv der Initiationsrituale zu verweisen: Auf eine Flagellationsszene folgt ein Tanz – „eine Antithese offenbar von Schrecken und Seligkeit“.88 Doch ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden, ob und wie weit es sich um symbolische Darstellungen handelt oder um Abbildungen der einzelnen Ritualhandlungen. Auf jeden Fall kann die bildliche Repräsentation der Initiations-­ Erfahrung im Zusammenhang gesehen werden mit der sprachlichen Repräsentation (re-presentation) dieser Erfahrung bei Plutarch und Apuleius. Die Initiation wird durch „symbola“ in Erinnerung gerufen, seien es materielle Gegenstände, die von den Eingeweihten aufbewahrt werden oder eben durch bildliche Darstellungen, nicht durch Rekapitulation und argumentative Entfaltung einer Lehre. Eben diese Art der Traditionsbildung ohne Lehren und Dogmen, von Merkelbach in Bezug auf die Dionysos-Mysterien und von Beck in Bezug auf die Mithras-­ Mysterien so stark betont, könnte im Rahmen der neuen kognitiven Religionstheorien erklärt werden. In erster Linie bietet sich die Modes-Theorie des Ethnologen Harvey Whitehouse an, der zwei Arten (modes) von Religiosität (religiosity) unterschieden hat, die er mit verschiedenen Gedächtnisfunktionen in Zusammenhang bringt.89 Für die „doktrinale Religiosität“ (doctrinal mode) gilt, dass sie auf dem semantischen Gedächtnis basiert, in dem abstrakte Lehren gespeichert und durch hohe Frequenz der rituellen Wiederholung gesichert werden. Für die „imagistische Religiosität“ (imagistic mode) gilt, dass sie auf dem episodischen Gedächtnis basiert und durch Riten vermittelt werden kann, die eine niedrige Frequenz der Wiederholung haben. Der Grad der emotionalen Erregung (emotional arousal) ist dabei umgekehrt proportional zur Häufigkeit der Frequenz: niedrig bei hoher Frequenz, wie z. B. bei regelmäßigem Verlesen von Texten, und deshalb Speicherung im semantischen Gedächtnis; hoch bei niedriger Frequenz, wie z. B. einem Initiationsritual, und deshalb Speicherung im episodischen Gedächtnis. Die Modes-Theorie behauptet außerdem noch einen Zusammenhang mit verschiedenen Arten und Graden der Vergemeinschaftung und sozialen Bindung, eine „soziale Morphologie“. Im Hinblick auf die Mysterienkulte der Antike ist aber zunächst nur die Unterscheidung 86 Merkelbach, Die Hirten des Dionysos, 138. Geyer (Roman und Mysterienritual, 191) spricht vom „dionysischen Hintergrund“ des Romans, sieht aber keine Bezüge zum dionysischen Mysterien­ ritual. 87 Siehe Merkelbach, Die Hirten des Dionysos, Abbildungen 2–4. 88 Burkert, Antike Mysterien, 81. Vgl. ebda 88. 89 Siehe Whitehouse, Modes of Religiosity. Vgl. dazu Berner, The Imagistic Tradition of Dionysos.

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„doctrinal/imagistic“ und die Beziehung zu den verschiedenen Gedächtnisfunktionen von Interesse. Wenn es zutrifft, dass der „Sinn der dionysischen Religion … niemals in Worten formuliert worden“ ist,90 dann legt es sich nahe, den Begriff „imagistic mode“ anzuwenden, um diese Art von Religiosität zu beschreiben. Bilder, wie die in der Mysterienvilla, oder Gegenstände, wie die im Besitz des Apuleius, haben anscheinend die Funktion von Lehren und Bekenntnisformeln übernommen, und dies würde ja besonders gut zu dem Begriff „imagistic“ passen. Auf jeden Fall kann angenommen werden, dass das Initiationsritual einen unauslöschlichen Eindruck im episodischen Gedächtnis hinterlässt, gerade wegen der geringen Frequenz und verstärkt durch die Geheimhaltung. Es ist durchaus vorstellbar, dass diese Art von Religiosität tradiert werden kann, ohne dass es eine zentrale Instanz zur Wahrung der rechten Lehre geben muss – was Beck im Hinblick auf die Mithras-Mysterien zu zeigen versucht hat. Es ist aber wieder zu bedenken, dass es sich um Teile eines größeren, komplexen Systems individueller Religiosität handeln kann, so dass die Erinnerung an die Einweihung, gespeichert im episodischen Gedächtnis, eventuell nur die Funktion hat, die Überzeugungskraft der im semantischen Gedächtnis gespeicherten Lehre zu verstärken. Dies würde z. B. für Plutarch gelten, der im „Trostbrief “ auf beide Gedächtnisfunktionen zugreift, wenn er platonische Lehren entfaltet und als ein zusätzliches Argument, das nicht sprachlich entfaltet werden kann, die dionysische Einweihung in Erinnerung ruft. Plutarch und Apuleius sind Beispiele für die Möglichkeit einer harmonischen Verbindung von doktrinaler und imagistischer Religiosität. Beide sind gleichermaßen an philosophischer Theorie und rationalen Begründungen interessiert wie an ritueller Praxis und irrationalen Erlebnissen, und beide hatten die Freiheit, sich ihr eigenes religiöses System individuell zusammenzustellen, die Dogmatik platonischer Tradition mit der Einweihung in die Dionysos- bzw. die Isis-Mysterien sowie mit diversen priesterlichen Ämtern zu verbinden. Ein weiteres Vergleichsbeispiel wäre Cicero, der im Bereich der Philosophie zum Skeptizismus neigte und sich in Eleusis hatte einweihen lassen, daneben aber auch noch das Amt des Augurs bekleidete. Das Nebeneinander verschiedener, nicht-exklusiver Mysterienkulte, die in der individuellen Religiosität auch noch mit verschiedenen philosophischen Systemen kombiniert werden können, bestätigt, so scheint es, eindrucksvoll Bernhard Köttings Rede von der „Religionsfreiheit und Toleranz im Altertum“: „Den verschiedenen Formen religiöser Betätigung begegnete die römische Staatsleitung mit einem erstaunlichen Maß von Gelassenheit und Toleranz.“91

90 Merkelbach, Die Hirten des Dionysos, 96. 91 Kötting, Religionsfreiheit und Toleranz, 23.

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Es wäre allerdings zu überlegen, ob es nicht doch Grenzen der Toleranz geben muss, ob Toleranz nicht „immer auch auf eine gewisse Intoleranz angewiesen bleibt“: „denn Toleranz ohne Grenzen und damit ohne Züge der Intoleranz führt“, wie Wolfgang Speyer meint, „zur Auflösung jedweder Identität und damit zum Ungeformten, Anarchischen und Chaotischen“.92 Als Ansatzpunkt für eine solche Überlegung bietet sich der Dionysoskult an, der in republikanischer Zeit mit dem römischen Staat in Konflikt geraten war, ein Ereignis, das als der „Bacchanalienskandal“ bekannt ist. Wie Livius berichtet, hat der römische Senat eingegriffen, als sich das Gerücht verbreitete, dass die Anhänger des Dionysoskultes in Rom gegen moralische Normen verstoßen und Verbrechen begehen.93 Es ist dem Senat und den amtierenden Konsuln gelungen, den Dionysoskult zu unterdrücken, doch wurde, dem Bericht des Livius zufolge, dann ein Weg gefunden, den Kult im privaten Bereich unter staatlicher Kontrolle zuzulassen und damit genügend Freiraum für diese Art der Religiosität zu geben. Der Bericht wird bestätigt durch eine Inschrift:94 Bezüglich der Bacchanalienfeiern beschlossen sie folgende Proklamation für die (mit Rom) Verbündeten: Niemand von ihnen darf (einen Platz für) ein Bacchanal haben. Sollte es Personen geben, die erklären, (einen Platz für) ein Bacchanal nötig zu haben, müssen sie zum Stadtprätor nach Rom kommen, und nach ihrer Anhörung soll unser Senat darüber entscheiden in Anwesenheit von mindestens 100 Senatoren bei dieser Verhandlung. … So erklärt es sich, dass nach diesem Skandal und den restriktiven Maßnahmen, die auch Hinrichtungen einschlossen, der Dionysoskult im römischen Reich weiter existieren und sich ausbreiten konnte. Die Anhänger des Dionysoskultes waren ja auch bereit, sich in das pluralistische religiöse System, das keinen Exklusivanspruch kennt, integrieren zu lassen, wenn ihnen nur der Freiraum zur Ausübung gegeben wurde – im Unterschied zu den Christen, die sich dieser Art von Integration verweigerten und lieber das Martyrium auf sich nahmen. Der Vergleich der Christenverfolgungen mit dem Bacchanalienskandal ist insofern aufschlussreich, als er das bestimmende Prinzip der römischen Religionspolitik erkennen lässt. Das entscheidende Kriterium für die Unterdrückung oder Zulassung religiöser Gemeinschaften war die Frage, ob sie zur Stabilisierung des Staates beitragen oder dieselbe gefährden, wie der Religionshistoriker Carsten Colpe festgestellt hat: „Eines aber blieb immer grundsätzlich wichtig: der neue Kult, der neue Gott mußte sich in das System des Imperiums fügen und seine Stabilität mitgarantieren, seine Würde mitlegitimieren. Tat ein Kult das nicht, wurde mit äußerster Schärfe gegen ihn vorgegangen“.95 92 93 94 95

Speyer, Toleranz und Intoleranz, 104. Siehe Livius, Geschichte, XXXIX, 9–18. SC de Bacchanalibus. Colpe, Einführung, 4.

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Umgekehrt gilt aber auch, dass der Versuch der Unterdrückung dann eingestellt wird, wenn der Eindruck entsteht, dass diese Maßnahme sich nicht als nützlich, sondern als schädlich für den Staat erweist. Diese Logik der römischen Religionspolitik zeigt sich im Toleranzedikt des Galerius, der als der letzte und größte Christen­verfolger bekannt war und der schließlich zu der Einsicht kam, dass es für den Staat wohl besser wäre, den Christen die Ausübung ihrer Religion zu erlauben. In dem Edikt, das im Jahre 311 kurz vor dem Tod des Kaisers Galerius erlassen wurde, wird zunächst auf die Intention der Religionspolitik Bezug genommen:96 Unter den übrigen Anordnungen, die wir stets zum Vorteil und Nutzen des Staates treffen, hatten wir jedenfalls bisher beabsichtigt, gemäß den alten Gesetzen und der staatlichen Ordnung der Römer alles zu regeln und dafür zu sorgen, daß auch die Christen, die die Denk- und Handlungsweise ihrer Väter aufgegeben hatten, wieder zu einem vernünftigen Verhalten zurückkehrten, … Sodann wird in einem Rückblick zunächst die Verweigerungshaltung der Christen beschrieben – negativ als „Dummheit“ (stultitia) bewertet –, und dann wird festgestellt, dass es nicht gelungen ist, die Christen dazu zu bringen, zu den Bräuchen ihrer Vorfahren zurückzukehren, um daraus die Folgerung zu ziehen, dass es angebracht erscheint, in Anbetracht unserer allergnädigsten Huld …, unsere bereitwilligste Nachsicht auch auf sie ausdehnen zu sollen, damit sie von neuem Christen sein und ihre Versammlungsstätten einrichten können, jedoch nur unter der Bedingung, daß sie in keiner Weise gegen die öffentliche Ordnung verstoßen. … Demnach werden sie infolge dieses unseres Gnadenerweises ihren Gott für unser Wohlergehen, für das des Staates und ihr eigenes bitten müssen, damit in jeder Beziehung der Staat ohne Schaden bleibt und sie unbesorgt an ihren Aufenthaltsorten leben können. In diesem Fall ist es klar, dass es eine politische Entscheidung des Kaisers war, nicht etwa ein Gesinnungswandel im Sinne einer „Bekehrung“ zum Christentum. Denn die persönliche Abneigung gegen das Christentum wird deutlich zum Ausdruck gebracht, und es liegt auf der Hand, dass es dem Kaiser Galerius nur um die Integration des Christentums ging, keinesfalls um eine Christianisierung des römischen Reiches. Anders ist es im Falle des Kaisers Konstantin, dessen religions­ politische Maßnahmen, ebenso wie sein religiöses Selbstverständnis, nicht so einfach zu deuten sind.

96 Laktanz, De mortibus persecutorum, 34, 1–5.

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6.1.2 Konstantin, der „erste christliche Kaiser“ und seine Toleranzpolitik Die entscheidende Wende in der frühen Geschichte des Christentums ist mit dem Namen Konstantin verbunden, der als der „erste christliche Kaiser“ bekannt ist.97 Kaum ein anderer Herrscher hat solche Aufmerksamkeit gefunden, wie ein Blick auf die zahlreichen Konstantin-Biographien zeigt, die in den letzten Jahrzehnten erschienen sind. In einer der neuesten Biographien spricht der Verfasser im Hinblick auf die Forschungsgeschichte von einem Kaleidoskop der Konstantin-Bilder.98 Es ist nicht nur umstritten, ob und in welchem Sinne von einer „Bekehrung“ Konstantins gesprochen werden kann.99 Auch die Rede von einer (konstantinischen) „Wende“ überhaupt ist nicht ganz unumstritten.100 Der Begriff der „Bekehrung“ impliziert die Vorstellung, dass Konstantins Politik gegenüber Heidentum und Christentum durch religiöse Motive bestimmt war, nicht (nur) durch machtpolitische; der Begriff der „Wende“ legt die Vorstellung nahe, dass er nicht nur eine Integration des Christentums angestrebt hat, sondern eine Christianisierung des römischen Reiches.101 Aufgrund der Quellenlage ist es nicht möglich, sichere Aussagen über den „Glauben“ Konstantins zu machen – die literarischen Zeugnisse, die seine religiöse Einstellung präsentieren, vor allem die Berichte des Bischofs Eusebius, repräsentieren ja eine religiöse oder ideologische Tendenz, und die überlieferten Briefe, Gesetzestexte sowie die Münzprägungen Konstantins repräsentieren ja nur seinen politischen Willen, so dass Manfred Clauss zuzustimmen ist, wenn er feststellt: „wir haben keinen Schlüssel zu der Persönlichkeit Konstantins“.102 Wenn darauf verzichtet wird, nach der „Bekehrung“ Konstantins zu fragen, dann bleibt noch die Möglichkeit, zu fragen, wann er sich öffentlich und eindeutig zum Christentum bekannt hat, was auch immer seine Vorstellung vom Christentum gewesen sein mag. Ein solches Bekenntnis ist darin gesehen worden, dass Konstantin im Oktober 312, nach seinem Sieg über Maxentius, beim Einzug in Rom darauf verzichtet hat, den Jupiter-Tempel zu besuchen und ein traditionelles – heidnisches – Opfer darzubringen.103 Abgesehen davon, dass auch diese Episode nicht unumstritten ist – allein schon im Hinblick auf das Datum des „Opferverzichts“ –, würde dann immer noch die Frage bleiben, ob die Abneigung gegen die blutigen Tieropfer, die im Falle Konstantins eindeutig vorzuliegen scheint, allein schon ein 97 Siehe z. B. Brandt, Konstantin; Girardet, Die Konstantinische Wende, 37f. 98 Wallraff, Sonnenkönig der Spätantike, 7. 99 Kritisch dazu z. B. Clauss, Konstantin, 99; Wallraff, Sonnenkönig der Spätantike, 166f. 100 Siehe z. B. Piepenbrink, Konstantin, 131; dagegen Brandt, Konstantin, 42; 47. 101 Zur Forschungsgeschichte vgl. Bleicken, Constantin, 1–6; Herrmann-Otto, Konstantin, 42–48; Girardet, Der Kaiser und sein Gott, 22–24. Zur Frage der „Gleichstellung“ oder „Privilegierung“ des Christentums vgl. Piepenbrink, Konstantin, 87; Brandt, Konstantin, 81. 102 Clauss, Konstantin, 99. 103 So Girardet, Die Konstantinische Wende, 68; 71, der darin einen „qualitativen Sprung“ sieht. Vorsichtiger äußert sich Brandt, Konstantin, 47–49.

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Bekenntnis zum Christentum darstellen würde – die Ablehnung der blutigen Opfer war ja in der Spätantike weiter verbreitet, würde also nur auf einen Monotheismus schließen lassen, der nicht unbedingt christlich geprägt sein müsste.104 Als nächstes bietet es sich an, zu fragen, welche Einstellung gegenüber Heidentum und Christentum in der Gesetzgebung Konstantins zu erkennen ist. Im Jahre 312, eventuell also ein Jahr nach der „Opferverweigerung“ in Rom hat Konstantin, gemeinsam mit seinem Kollegen Licinius die sog. „Mailänder Vereinbarung“ formuliert:105 Nachdem wir … glücklich in Mailand zusammengekommen waren …, glaubten wir … ganz besonders den Bereich regeln zu sollen, der sich auf die Verehrung der Gottheit bezog, um sowohl den Christen als auch allen anderen die uneingeschränkte Möglichkeit zu geben, die Religion auszuüben, die ein jeder wollte, damit jede Gottheit in ihrer himmlischen Wohnung uns und allen, die unter unserer Herrschaft leben, gewogen und gnädig sein kann. Eine Wende zur Intoleranz oder auch nur zu einer Bevorzugung des Christentum ist hier nicht zu erkennen, so dass es nicht unangebracht erscheint, von einem „Integrationsprogramm“ zu sprechen.106 Wenn hier völlige Religionsfreiheit gewährt wird, dann erscheint es aber auch sinnvoll, von Toleranz zu sprechen, in dem Sinne, dass verschiedene Arten, die Gottheit zu verehren, als gleichberechtigt zugelassen werden – wie immer der Einzelne von seinem Standpunkt aus die anderen Arten beurteilt. Persönliche Präferenzen der beiden Kaiser sind nicht zu erkennen, werden jedenfalls nicht explizit benannt. Darin unterscheidet sich dieses Edikt – oder diese Vereinbarung – von dem Toleranzedikt, das der Kaiser Galerius, einer der letzten Christenverfolger, im Jahre 311 kurz vor seinem Tod erlassen hatte. Im Rückblick auf die Christenverfolgungen, die im Jahre 303 begannen, und gewissermaßen zur Verteidigung derselben, sprach Galerius von der „Dummheit“ der Christen, die sich von den traditionellen Kulten abgewandt hatten, stellte dann aber fest, dass die Versuche, die Christen „zur Vernunft zu bringen“, gescheitert seien. Die eigentliche Wende war also schon vor der Mailänder Vereinbarung eingeleitet – die Integration des Christentums in die religiöse Welt des römischen Reiches, um es mit Bourdieu zu sagen: die Anerkennung der Christen als gleichberechtigte Akteure im religiösen Feld. Das Edikt des Galerius ist ein Beispiel für Toleranz im einfachen, ursprünglichen Sinn: Er ist bereit, die Christen in seinem Herrschaftsbereich zu dulden, obwohl er sie für dumm hält und ihre Religion ablehnt. Im Unterschied dazu lässt die Mailänder Vereinbarung eine positive Einstellung gegenüber dem Christentum erkennen. 104 In dieser Richtung argumentiert auch Wallraff, Sonnenkönig der Spätantike, 146f, der das Ereignis eher in das Jahr 326 setzen würde. Vgl. auch Bleckmann, Konstantin und die Kritik des blutigen Opfers, 171f. 105 Laktanz, De mortibus persecutorum 48,2. (Früher meistens als „Mailänder Edikt“ bezeichnet) 106 So Wallraff, Sonnenkönig der Spätantike, 178.

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Wenn angenommen wird, dass Konstantin sich zu dieser Zeit bereits als Christ verstand, dann stellt sich allerdings die Frage, ob die Erklärung der Religionsfreiheit in der Mailänder Vereinbarung nur ein Kompromiss war – ob er eine weitergehende Privilegierung des Christentums (noch) nicht gegen seinen heidnischen Kollegen Licinius durchsetzen konnte. Spätestens nach seinem Sieg über Licinius, als Konstantin Alleinherrscher war, im Jahre 324, hätte er die Möglichkeit gehabt, die Religionsfreiheit einzuschränken und eine Wende zur Intoleranz einzuleiten. In einem Brief „an die Orientalen“ aus dieser späten Zeit zeigt sich aber, dass Konstantin an dem Prinzip der Religionsfreiheit festgehalten hat:107 Doch darf keiner mit dem, was er durch eigene Überzeugung angenommen hat, dem anderen schaden. Was der eine sieht und verstanden hat, damit soll er seinem Nächsten, wenn möglich, nützen. Wenn es aber unmöglich ist, soll er es sein lassen. Denn es ist etwas anderes, den Wettkampf für die Unsterblichkeit freiwillig auf sich zu nehmen, als unter Strafe dazu zu zwingen. Dieses Bekenntnis zur Religionsfreiheit entspricht genau dem Toleranzedikt des Galerius – nur mit umgekehrtem Vorzeichen: Beide Herrscher lassen klar ihre Präferenzen erkennen – der eine für das Heidentum, der andere für das Christentum, doch halten es beide offensichtlich für richtig, die jeweils andere Religion, der sie ablehnend gegenüberstehen, zu dulden. Als nächstes stellt sich dann die Frage, ob Konstantin, wenn er denn an dieser toleranten Politik gegenüber dem Heidentum bis zuletzt festgehalten hat, dies als Realpolitiker getan hat, weil er darauf Rücksicht nehmen musste, dass die Bevölkerung immer noch mehrheitlich heidnisch war,108 oder ob er das Prinzip der Toleranz aus seiner religiösen – vielleicht sogar christlichen – Überzeugung abgeleitet hat. Das „Sonntagsgebet“, das Konstantin für die nichtchristlichen Soldaten eingeführt hat, ist als Beispiel für seine „politische Sensibilität“ aufgefasst worden, aber auch als „Beweis für die Echtheit der von ihm gewährten Duldung“:109 Er befahl, dass alle in römischer Sprache folgendermaßen beten sollten: „Dich allein kennen wir als Gott, Dich erkennen wir als König an, Dich rufen wir als Beistand an. … vor Dir sind wir alle Bittsteller, daß unser Kaiser Konstantin und seine Söhne, die Gott wohlgefällig sind, uns über die längste Zeit des Lebens unversehrt und siegreich bewahrt werden, darum bitten wir!“ 107 Euseb, Vita Constantini, II, 60,1. 108 So Brandt, Konstantin, 91. 109 Brandt, Konstantin, 84; Dörries, Konstantinische Wende und Glaubensfreiheit, 39. Euseb, Vita Constantini, IV, 19/20,1.

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Dieses monotheistische Gebet ist jedenfalls einer der Belege, die zeigen, dass Konstantin „im Grunde mehr inklusiv als exklusiv verfahren wollte“ und dass seine Intention „auf Integration gerichtet“ war.110 Diese Intention zeigt sich, vielleicht überraschend, auch in seinem Eingreifen in dogmatische Streitigkeiten unter Christen. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich der arianische Streit. Bekanntlich hat Konstantin auf dem Konzil von Nikaia, im Jahre 325, dafür gesorgt, dass die heute noch gültige dogmatische Formel zur Trinitätslehre angenommen wurde. Weniger bekannt ist, dass er vorher – vergeblich – versucht hatte, gerade eine solche dogmatische Festlegung zu vermeiden, indem er die Kontrahenten dazu aufforderte, auf die Erörterung solcher Fragen zu verzichten und den Streit beizulegen:111 Denn es entbrannte der Anlaß für Eure Streiterei auch nicht wegen des Hauptpunktes der Gebote im Gesetz noch auch wurde von Euch eine neue Häresie über die Religion Gottes eingeführt, … Denn während Ihr untereinander über unwichtige und allerunwichtigste Fragen streitsüchtig debattiert, gilt doch, daß es weder in Ordnung ist noch überhaupt göttlicher Satzung entspricht, daß ein so großes Volk Gottes, das von Eurem Verstand gelenkt werden sollte, gespalten ist. Dieses Schreiben Konstantins lässt noch einmal deutlich erkennen, dass es ihm in erster Linie darum ging, sicherzustellen, dass die eine göttliche Macht auf die rechte Weise verehrt wird, weil der Bestand des Reiches davon abhängt. Die traditionelle Opferpraxis der griechisch-römischen Welt, das Tieropfer, erschien ihm, wie vielen seiner Zeitgenossen, als gänzlich unangebracht. Das Christentum bot demgegenüber eine Art des Kultes, die ihm angemessen erschien. Auf die Debatten über die exakte theologische Auslegung des Glaubens an eine göttliche Vorsehung hätte er durchaus verzichten können, wie jenes Schreiben zeigt:112 Über die göttliche Vorsehung also soll es bei Euch einen Glauben geben, ein Verständnis, eine Vereinbarung über den Höheren. Was Ihr aber untereinander über diese allerunwichtigsten Fragen untereinander wissenschaftlich herausfindet, wenn Ihr das nicht zu einer einhelligen Meinung zusammenbringen könnt, dann muß es im Innern Eures Denkens bleiben, bewacht von Euren Gedanken im Geheimen. Im Hinblick auf Äußerungen wie diese erscheint es verständlich, dass Konstantins Christlichkeit als „Christentum light“ bezeichnet worden ist oder als „unorthodox“.113 Aus religionsgeschichtlicher Sicht ist allerdings darauf zu achten, dass 110 Wallraff, Sonnenkönig der Spätantike, 178; vgl. ebda, 142. 111 Euseb, Vita Constantini, II, 70/71,1. 112 Euseb, Vita Constantini, II, 71,7. 113 Brandt, Konstantin, 90; Wallraff, Sonnenkönig der Spätantike, 175.

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kein normativer Begriff vom Christentum vorausgesetzt wird, keine Vorstellung vom Wesen des Christentums, dem Konstantins Politik gegenüber dem Heidentum wie seine Einschätzung der theologischen Debatten dann widersprochen hätte. Wenn seine Religionspolitik nicht darauf ausgerichtet war, einen Exklusivanspruch gegenüber jeder nichtchristlichen Gottesvorstellung durchzusetzen – auch wenn diese monotheistisch war und nicht mit anstößigen Kultpraktiken verbunden –, dann ist dies nicht als ein mangelhaftes Verständnis oder eine mangelnde Konsequenz in der Umsetzung des Christentums zu werten. Die Religionspolitik Konstantins ist vielmehr ein Beleg für die Möglichkeit, das Christentum als die richtige Art der Gottesvorstellung und -verehrung zu propagieren, was er zweifellos getan hat, ohne in jene Intoleranz zu verfallen, die sich erst später unter Theodosius dem Großen durchgesetzt hat und die eben so oft als „der“ Exklusivanspruch mit dem Wesen „des“ Christentums in Verbindung gebracht wird.114 Ein Spiegelbild, mit umgekehrten Vorzeichen, ist die Religionspolitik seines Neffen Julian, der als „Julian Apostata“, der vom Christentum abgefallene Kaiser, in die Geschichte eingegangen ist: In seiner kurzen Regierungszeit hat Julian das Heidentum propagiert und seine Abneigung gegen das Christentum unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, ohne dass er sich zu einer Christentenverfolgung hätte hinreißen lassen.115 Es erscheint fast unmöglich, in der Konstantin-Forschung neue Akzente zu setzen. Einen solchen Versuch hat zuletzt Martin Wallraff unternommen, wenn er einen Vergleich mit Ludwig XIV. vornimmt und vom „Sonnenkönig der Spätantike“ spricht. Eine andere, noch nicht ausgeschöpfte Möglichkeit könnte darin bestehen, einen Vergleich mit Aśoka vorzunehmen, einem Herrscher der Maurya-­ Dynastie im 3. Jahrhundert v. Chr., der als der erste buddhistische Kaiser Indiens in die Geschichte eingegangen ist und der eben deshalb, in der älteren Forschung, oft als „der indische Konstantin“ bezeichnet worden ist. Exkurs: Kaiser A´soka – der „indische Konstantin“ Die Religionswissenschaft ist von Anfang an als eine vergleichende Disziplin konzipiert worden, und der Vergleich Konstantins mit Aśoka als dem ersten buddhistischen Kaiser begegnet schon im Werk Max Müllers, einem der „Väter“ der Religionswissenschaft. In seiner „Missionsrede“ behauptete Max Müller, Aśoka sei für „den Buddhismus das gewesen, was Constantin für das Christenthum war, der mit den Ueberlieferungen der alten Religion der Brahmanen gebrochen, und die Lehren Buddha’s als die neue Staatsreligion seines Reiches anerkannt hatte“.116 114 Vgl. dazu Ando, Pagan Apologetics, 48, der den „consensus of moderate Christians and pagans in favor of a religiously neutral public space“ als wichtigste Errungenschaft Konstantins wertet. 115 Die Berichte über Martyrien unter Julian erweisen sich als nicht glaubwürdig. Vgl. dazu Hahn, Gewalt und religiöser Konflikt, 173–177. 116 Müller, Eine Missionsrede, 29.

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Auch wenn der Begriff der Staatsreligion problematisch ist, so erscheint es doch plausibel, einen Vergleich vorzunehmen, vor allem dann, wenn in Erinnerung gerufen wird, dass zur „alten Religion der Brahmanen“ auch die blutigen Opfer gehörten, also gerade jene Kultpraxis, die Konstantin abgelehnt hat. Ein anderer Vergleichspunkt ergibt sich aus dem Blick auf die Schismen und Konzilien in der Geschichte des Buddhismus, vor allem im Hinblick darauf, dass Aśoka, der buddhistischen Geschichtsschreibung zufolge, bei einem der großen Konzile der Buddhisten den Vorsitz geführt hat. Max Müller hatte Aśoka auch deshalb als den „indischen Konstantin“ bezeichnet:117 Max Müller sah in der Geschichte der großen Religionen eine Geschichte des Verfalls: „Whenever we can trace back a religion to its first beginnings, we find it free from many of the blamishes that offend us in its later phases. … As soon as a religion is established, and more particularly when it has become the religion of a powerful state, the foreign and worldly elements encroach more and more on the original foundation, …“ Im Hinblick auf diese Entwicklung in der Geschichte des Buddhismus wie des Christentums erschien es ihm vertretbar und lehrreich, A´soka und Konstantin zu vergleichen: „and at the Great Council which had to settle the Buddhist canon, A´soka, the Indian Constantine, had to remind the assembled priests that ‚what had been said by Buddha, that alone was well said;’ …“.

Ähnlich wie Max Müller, in leichter Abwandlung, sprach der Indologe und Religionshistoriker Edmund Hardy von Aśoka als dem „buddhistischen Konstantin“. Er dachte dabei an „unerfreuliche Dinge“, die „eine täuschende Aehnlichkeit mit den Nöten innerhalb der Christenheit haben, nachdem es seit Konstantin vorteilhaft geworden war, den Christennamen zu führen“.118 Der Vergleich Aśoka – Konstantin, der in der frühen Religionswissenschaft und Indologie bekannt und verbreitet war, hat in der Konstantin-Forschung kein großes Interesse gefunden: Jacques Moreau hatte 1952 in einer Fußnote die Meinung geäußert, der Vergleich werde „sehr lehrreich“ sein – er dachte dabei an die Diskrepanz zwischen Selbstzeugnissen und Tradition. Diese Anregung wurde aber von Kurt Aland energisch zurückgewiesen, und damit scheint das Interesse erloschen zu sein.119 Wenn dieser Vergleich wiederaufgenommen werden soll, dann ist zunächst ein Blick auf die Quellenlage zu werfen – wenn in den Quellen ähnliche Motive begegnen, so könnte dies für die Frage nach dem historischen Gehalt der Überlieferungen durchaus von Interesse sein. 117 Müller, Chips from a German Workshop, XXIV. 118 Hardy, König Aśoka, 59. 119 Vgl. dazu Berner, Kaiser Aśoka – der „indische Konstantin“, 58, Anm. 8. In der Aśoka-Forschung spielt der Vergleich mit Konstantin noch eine Rolle: siehe Thapar, Aśoka and the Decline of the Mauryas, 173; 183.

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In erster Annäherung kann unterschieden werden zwischen Selbstzeugnissen Aśokas auf der einen Seite und der späteren Überlieferung auf der anderen Seite – letztere kann wieder unterteilt werden in buddhistische Geschichtsschreibung auf der einen und buddhistische Legenden auf der anderen Seite. In allen drei Quellengattungen, wenn auch in verschiedener Akzentuierung, wird über eine Wende im Leben des Herrschers berichtet, so dass es sich auf den ersten Blick nahelegt, von einer Bekehrung zum Buddhismus zu sprechen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass die Anwendung dieses Begriffes nicht unproblematisch ist, ebenso wie im Falle Konstantins. In der buddhistischen Geschichtsschreibung, in den beiden ceylonesischen Pali-Chroniken, wird die Rolle Aśokas in der Feststellung der rechten Lehre, die durch Konzile herbeigeführt werden musste, herausgestellt. Das Aufkommen von Häresien habe es unmöglich gemacht, den zentralen Ritus der Mönchsgemeinschaft durchzuführen, und so habe Aśoka eingegriffen: zusammen mit einem buddhistischen Mönch habe er sich die verschiedenen Versionen der Lehre angehört, um dann die Häretiker auszustoßen:120 And all these adherents of false doctrines did the king cause to be expelled from the order. Danach habe unter dem Vorsitz des Herrschers ein weiteres Konzil stattgefunden, auf dem die rechte Lehre und der Kanon der Schriften endgültig festgelegt wurde. In der anderen Textgattung der buddhistischen Überlieferung, den Sanskrit-Legenden, wird Aśokas Rolle bei den buddhistischen Konzilen gar nicht erwähnt. Im Mittelpunkt steht hier das Bekehrungs-Narrativ, das im Vergleich zu den Chroniken ungleich weiter ausgestaltet wird. Das Motiv des Verwandtenmordes, das schon in den Chroniken begegnet, wird in den Legenden durch ein spezielles Motiv ergänzt, das ebenfalls aus der Konstantin-Biographie bekannt ist: ein Sohn Aśokas sei einer Intrige seiner Stiefmutter, der Frau Aśokas, zum Opfer gefallen.121 Wichtiger als die Berichte und Legenden über die Bekehrung Aśokas sind sicherlich seine Selbstzeugnisse, die in den erhaltenen Felsen- und Säulenedikten vorliegen und die vielleicht über seine Stellung zum Buddhismus und die Prinzipien seiner Religionspolitik Aufschluss geben können.122 In einem dieser Felsenedikte berichtet Aśoka selbst über eine Wende in seinem Leben: nach einem erfolgreichen Feldzug gegen das Reich der Kalinga habe er sich dem Studium des dhamma ergeben:123 120 Mahavamsa, V, 270. 121 Aśokavadana 105–125. Vgl. dazu Strong, The Legend of King Aśoka, 151, Anm. 32. Zum Motiv des Verwandtenmordes in der Konstantin-Biographie siehe Zosimus, Neue Geschichte II, 29. 122 Zur Textgeschichte, zur Frage der Autorschaft und zum literarischen Charakter vgl. Olivelle, Aśoka’s Inscriptions, 158–169. 123 Felsenedikt XIII.

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(C) Seither ist nun, da Kalinga eingenommen worden ist, strenges Dhamma-Studium, Liebe zum Dhamma und Dhamma-Unterweisung (Sache) des Göttergeliebten. (D) Das ist die Einstellung des Göttergeliebten, nachdem er Kalinga erobert hat. Die Frage stellt sich, was „dhamma“ in diesem Zusammenhang bedeutet: Ist es die buddhistische Lehre, so dass es sinnvoll wäre, von einer Bekehrung zum Buddhismus zu sprechen? In einem Säulenedikt Aśokas findet sich eine Definition von „dhamma“:124 Thus speaks the Beloved of the Gods, the king Piyadassi: Dhamma is good. And what is Dhamma? It is having few faults and many good deeds, mercy, charity, truthfulness, and purity. Etwas ausführlicher wird „dhamma“ im elften Felsenedikt beschrieben: (B) Es gibt nicht eine derartige Gabe wie die Dhamma-Gabe, die Dhamma-­ Lobpreisung, die Dhamma-Beschenkung, den Dhamma-Kontakt. (C) Darin ist das: gegen Sklaven und Diener korrektes Benehmen, gegen die Eltern Gehorsam, gegen Freunde, Bekannte und Verwandte, (ferner) gegen Sramanas und Brahmanas Freigebigkeit, gegen Tiere Nicht-Töten. Diese Auslegung des dhamma-Begriffes lässt klar erkennen, dass es Aśoka in erster Linie um moralische Normen geht, nicht um Lehren und Vorstellungen, wie z. B. den Weg zum Nirvana – dieser Begriff, der meistens als das zentrale Element der buddhistischen Lehre betrachtet wird, kommt in den Inschriften Aśokas überhaupt nicht vor. Nun könnte die Annahme naheliegend erscheinen, dass Aśoka in dem Begriff des dhamma die spezifisch buddhistische Ethik zusammenfassen will, so dass wenigstens in diesem Sinne von einer Bekehrung zum Buddhismus gesprochen werden kann. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass die moralischen Normen, die in dieser und anderen Inschriften den dhamma definieren, so allgemein gehalten sind, dass sie nicht als spezifisch buddhistisch gelten können.125 Patrick Olivelle hat vorgeschlagen, den Begriff „civil religion“, der durch Robert Bellah in den USA bekannt geworden ist, auf Aśokas „Dharma Aktivitäten“ anzuwenden: „I propose that in the case of Aśoka’s civil religion, the place of ‚God‘ is taken by ‚Dharma‘. … like ‚God‘, Dharma was a vacuous concept into which individuals and groups could read whatever content they desired.“126 Gerade im Hinblick auf diesen integrativen Charakter des Dharma-Begriffes würden sich wieder Vergleichs124 Säulenedikt II. Übersetzung: Thapar, Aśoka and the Decline of the Mauryas, 392. 125 Vgl. dazu Schneider, Felsenedikte, 156f; Olivelle, Aśoka’s Inscriptions, 170f. 126 Olivelle, ebda, 174. Zur Anwendung des Begriffes der „Zivilreligion“ auf die Zeit nach Konstantin siehe Raschle, Wie lange bleibt der Kaiser „Kult“?, 481–492.

Exkurs: Kaiser A´soka – der „indische Konstantin“

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punkte zur Religionspolitik Konstantins ergeben. Das gilt auch für die Grenzen der Integrationspolitik, wie z. B. Aśokas Ablehnung der Tieropfer.127 In den kleineren Felseninschriften Aśokas gibt es einen Hinweis darauf, dass seine persönliche Präferenz dem Buddhismus galt:128 … Thus speaks the Beloved of the Gods, Aśoka: I have been a Buddhist layman for more than two and a half years, but for a year I did not make much progress. Now for more than a year I have drawn closer to the Order and have become more ardent. Wenn Aśoka sich damit zum Buddhismus bekennt, so hat er doch nicht die Konsequenz gezogen – ebenso wenig wie Konstantin –, die anderen Religionsgemeinschaften zu unterdrücken. In dem großen Felsenedikt XII, bekannt als das „Toleranzedikt“, hat er ausdrücklich festgestellt: Der König D.P. ehrt alle Religionsgemeinschaften, Ordinierte oder Haushälter, mit Geschenken und Ehrungen verschiedener Art. (B) Nicht aber hält der Göttergeliebte Geschenke oder Ehrungen für so (wichtig) wie, daß Wachstum im Wesentlichen bei allen Religionsgemeinschaften sei. In Bezug auf den Buddhismus selbst hat Aśoka aber nicht gezögert – wiederum ebenso wie Konstantin – energische Maßnahmen zu ergreifen, um Spaltungen innerhalb der buddhistischen Mönchsgeneinschaft (samgha) zu verhindern. In einer der Säuleninschriften, die als das „Schismen-Edikt“ bekannt ist, hat Aśoka festgestellt, dass Mönche oder Nonnen, die Anlass zur Spaltung des Ordens geben, aus der Gemeinschaft auszustoßen sind:129 … Whoever creates a schism in the Order, whether monk or nun, is to be dressed in white garments, and to be put in a place not inhabited by monks or nuns. For it is my wish, that the Order should remain united and endure for long. Wenn der Indologe Ludwig Alsdorf von der „Exkommunizierung“ der „Häretiker“ spricht und annimmt, dass Aśoka ein Anhänger des Theravada-Buddhismus gewesen sei, so erscheint es allerdings naheliegend, an einen Vergleich mit Konstantin und dem arianischen Streit zu denken.130 Der Indologe Heinz Bechert hat dem­gegenüber betont, dass Begriffe aus der christlichen Tradition, wie z. B. „Häretiker“ und „Schisma“, nicht auf den buddhistischen Kontext übertragen werden sollten. In jenem Schismen-Edikt, geht es, Bechert zufolge, eben nicht darum, dass 127 Vgl. dazu Olivelle, ebda, 175/176. 128 Brahmagiri-Felsenedikt. Übersetzung: Thapar, Aśoka and the Decline of the Mauryas, 387. 129 Übersetzung: Thapar, ebda, 390. Vgl. Alsdorf, Schismen-Edikt, 163. 130 Alsdorf, Schismen-Edikt, 174. Alsdorf selbst hat den Vergleich nicht vorgenommen.

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eine bestimmte Version der buddhistischen Lehre mit staatlicher Hilfe durchgesetzt werden soll; es gehe vielmehr um Fragen der Disziplin, des Ordensrechts.131 Es wäre allerdings zu überlegen, ob nicht genau dieses der beste Vergleichspunkt ist: die Intention Aśokas, die Einheit der Ordens-Disziplin zu sichern. Im Blick auf die beiden Prinzipien der Religionspolitik Aśokas – das Eingreifen in innerbuddhistische Streitigkeiten und die Duldung nichtbuddhistischer Gemeinschaften – kann festgestellt werden, dass ein Vergleich mit der Religionspolitik Konstantins durchaus sinnvoll erscheint und „lehrreich“ sein könnte, wie es Jacques Moreau in den 50er Jahren erwartet hatte. Was die Toleranz betrifft, so ist allerdings anzunehmen, dass Aśoka, anders als Konstantin, die „anderen“ Religionsgemeinschaften nicht nur geduldet, sondern auch in ihrem Wert höher eingeschätzt und sogar unterstützt hat. Wie der Indologe Richard Gombrich feststellt: „This support went far beyond passive toleration: …“.132 In einer der Inschriften kommt diese Auffassung zum Ausdruck:133 (E) Aber gerade geehrt werden müssen fremde Religionsgemeinschaften in dieser oder jener Form. (F) Wenn man so handelt, fördert man in starkem Maße seine eigene Religionsgemeinschaft und nützt auch der fremden Religions­ gemeinschaft. Aśoka scheint damit einem modernen Toleranz-Verständnis und auch einer Konzeption des religiösen Pluralismus näher zu kommen. Diese Deutung findet eine Bestätigung in der zweisprachigen (griechisch/aramäisch) Kandahar-Felsenschrift, in der Aśokas dhamma-Begriff im Griechischen durch eusebeia wiedergegeben wird, was als „Frömmigkeit“ übersetzt werden kann: Es sind nun zehn Jahre vergangen, in denen König Piodasses den Menschen die Frömmigkeit gelehrt hat, und seit dieser Zeit hat er die Menschen frommer gemacht: und alles gedeiht im ganzen Land; …134 Der Begriff „eusebeia“ hat auch in den Toleranz-Debatten der Spätantike eine zentrale Rolle gespielt. Der heidnische Philosoph und Redner Themistios hat diesen Begriff dazu verwendet, eine Theorie des religiösen Pluralismus und die Forderung der religiösen Toleranz zu begründen – eine Konzeption, die sich gegen die Entwicklung zur religiösen Intoleranz allerdings nicht hat durchsetzen können. 131 Siehe Bechert, Aśokas „Schismenedikt“, 37; 51. 132 Gombrich, Aśoka – the Great Upasaka, 2. 133 Felsenedikt XII; vgl. auch VII: (A) Alle Religionsgemeinschaften mögen Wohnung haben; (B) denn sie alle wünschen Selbstbezähmung und Herzensreinheit. 134 Übersetzung: Merkelbach/Stauber, Jenseits des Euphrat, S. 35 (dort auch der griechische Text). Vgl. dazu Thapar, Aśoka and the Decline of the Mauryas, 388. „Eusebeia“ steht auch in der griechischen Fassung des 12. Felsenedikts (soweit in Kandahar erhalten; siehe Merkelbach, ebda, S. 28) für „dhamma“.

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6.1.3 T oleranz-Debatten in der Spätantike und das Ende des religiösen Pluralismus Nachfolger des Kaisers Julian Apostata wurde Jovian, der, obwohl selbst ein Christ, eine tolerante Religionspolitik vertreten hat – so jedenfalls hat es Themistios im Jahre 364 in einer Lobrede auf Jovian dargestellt. Ob Jovian nun tatsächlich ein solches Toleranzgesetz erlassen hatte oder ob er solches auch nur beabsichtigte,135 seine kurze Regierungszeit, noch kürzer als die Julians, hat es jedenfalls nicht ermöglicht, die Religionspolitik im vierten Jahrhundert langfristig zu beeinflussen. Im vorletzten Teil der Rede geht Themistios auf Jovians „Gesetzgebung in Religionsfragen“ ein und stellt anerkennend fest, dass darin auf jede Art von Zwang verzichtet wird:136 Allein du nämlich weißt offenbar, daß der König auf die Untertanen nicht in allen Belangen Zwang auszuüben vermag, daß es vielmehr Bereiche gibt, die sich dem Druck grundsätzlich entziehen und jeglicher Drohung und jeglichem Befehl widerstehen, wie die Sittlichkeit und insbesondere die Gottesfurcht. Diese Auffassung, dass Toleranz in Religionsfragen das einzig vernünftige Prinzip ist, wird theologisch begründet durch den Ansatz zu einer Theorie des religiösen Pluralismus, die erstaunlich modern anmutet:137 Auch darin folgst du der Gottheit, die die Anlage zur Frömmigkeit zu einem gemeinsamen Merkmal aller Menschen gemacht hat, aber die Art der Verehrung der Entscheidung des einzelnen überlassen hat. Wer Zwang übt, zerstört die Freiheit, die die Gottheit gewährt hat. Als guter Redner versucht Themistios auch, seine Theorie durch anschauliche Vergleiche plausibel erscheinen zu lassen. So vergleicht er den – möglicherweise sinnvollen – Wettstreit auf dem Gebiet der religiösen Kulte mit dem – offensichtlich sinnvollen – Wettstreit im Bereich des Sports:138 Im Stadion rennen zwar alle zu demselben Kampfrichter, aber nicht alle auf derselben Bahn, … Dementsprechend bist du dir darüber im klaren, daß zwar der große und wahre Richter ein einziger ist, daß aber nicht ein einziger Weg zu ihm hinführt, … 135 Zur neueren Debatte und zu der These, dass es ein solches Religionsgesetz wirklich gegeben habe: siehe Marcos, Emperor Jovian’s Law of Religious Tolerance. 136 Themistios, oratio 5, 9 (67 b/c). 137 Themistios, oratio 5,9 (68 a/b). Vgl. dazu auch Daly, Themistios’ Plea for Religious Tolerance, besonders 74f. 138 Themistios, oratio 5,10 (68d/69a).

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Das Bild der vielen Wege, die zu demselben Ziel führen – bekannt vor allem aus der indischen Religionsgeschichte –, begegnet in vereinfachter Form zwei Jahrzehnte später in der bekannten, dritten „relatio“ des römischen Senators Symmachus. Dieser hat – vergeblich – versucht, den heidnischen Kulten einen gleichberechtigten Platz neben dem christlichen Kult zu sichern.139 Diese „relatio“ hat den bekannten „Streit um den Victoria-Altar“ ausgelöst: Als Sprecher der heidnischen Fraktion im Senat bat Symmachus darum, den Victoria-Altar, der von christlichen Kaisern als ein Symbol des Heidentums betrachtet und deshalb aus dem Senatssaal entfernt worden war, wieder aufstellen zu lassen. Neben den Argumenten, dass die alten Kulte dem römischen Reich so lange nützlich gewesen seien und dass die „Liebe zur Gewohnheit“ (consuetudinis amor) groß sei, formuliert Symmachus auch einen Ansatz zur Theorie des religiösen Pluralismus:140 Es ist billig, daß das, was alle Menschen verehren, als Eines angesehen wird. Wir sehen die gleichen Sterne, der Himmel ist uns gemeinsam, das gleiche Weltall schließt uns ein. Warum ist es so wichtig, nach welcher Lehre jeder die Wahrheit sucht? Man kann nicht nur auf einem einzigen Weg zu einem so erhabenen Geheimnis finden. Ambrosius, der bekannte Bischof von Mailand, hat durch seine Stellungnahmen verhindert, dass der Kaiser die Bitte der heidnischen Senatoren erfüllte. Schon bevor er den Text der relatio gesehen hatte, schrieb der Bischof an den Kaiser, um ihn zu warnen:141 Welche Antwort wirst Du einem Priester geben, wenn er zu Dir sagt: Die Kirche will Deine Geschenke nicht, weil Du die Tempel der Heiden mit Geschenken geschmückt hast. Nachdem ihm der Text der relatio zugänglich gemacht war, verfasste Ambrosius ein zweites Schreiben an den Kaiser, in dem er die einzelnen Argumente des Symmachus kritisch erörterte. Dabei ging er auch auf das Modell des religiösen Pluralismus ein und erteilte diesem eine klare Absage:142 Man kann nicht nur auf einem einzigen Weg, sagt Symmachus, zu einem so erhabenen Geheimnis finden. Wir Christen haben das, was ihr nicht wißt, aus dem Munde Gottes erfahren. Das, was ihr in einer dunklen Ahnung wissen wollt, haben wir als zuverlässigen Besitz aus der Weisheit und der Wahrheit Gottes. 139 Das Bild der vielen Wege korrespondiert antithetisch einer Aussage im Neuen Testament: Joh 14,6. Vgl. dazu Ando, Pagan Apologetics, 188. Zu den pluralistischen Religionstheorien im Hinduismus vgl. Löhr, Das indische Gleichnis vom Elefanten. 140 Symmachus, relatio III, 10. 141 Ambrosius, Brief 17, 14. 142 Ambrosius, Brief 18, 8.

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Die Überzeugung des Bischofs Ambrosius, im vollständigen „Besitz“ der Wahrheit zu sein, zeigt sich auch in der „Affäre von Callinicum“, in der es um das Verhältnis zum Judentum ging. Ambrosius wandte sich in diesem Fall an den Kaiser des römischen Ostreiches, Theodosius:143 Der Comes Orientis berichtete vom Brand einer Synagoge auf die Anstiftung des Ortsbischofs hin. Du hast angeordnet, daß die anderen bestraft werden sollten und der Bischof persönlich für die Wiederherstellung der Synagoge Sorge zu tragen habe. Diese Anordnung des Kaisers war für den Bischof der Anlass zu energischem Widerspruch. Er verlangte vom Kaiser, diese Anordnung zurückzunehmen, und er verlieh seiner Forderung dadurch Nachdruck, dass er drohte, den Kaiser vom Abendmahl auszuschließen. Eines seiner Argumente war, dass die Juden die vom Kaiser angeordnete Wiedergutmachung als einen Sieg über die Christen betrachten würden:144 Soll (aber allen Ernstes) dem Unglauben der Juden ein Platz geschaffen werden auf Kosten der Kirche …? … Sollen die Juden diese Inschrift an der Stirnseite ihrer Synagoge anbringen: „Der Tempel der Ungerechtigkeit, errichtet aus der den Christen abgenommenen Beute?“ Tatsächlich konnte der Bischof sich mit seiner Auffassung gegen den Kaiser durchsetzen und die Rücknahme der Anordnung erzwingen.145 Es scheint auf der Hand zu liegen, Ambrosius’ Haltung gegenüber Heidentum und Judentum als intolerant zu bezeichnen. Es ist allerdings zu bedenken, dass diese Intoleranz nicht die Intention impliziert, die anderen Religionen, also die diversen heidnischen Kulte sowie das Judentum, mit Gewalt zu unterdrücken; wenn er auch im Fall der „Affäre von Callinicum“ nicht bereit ist, diesen Akt gewaltsamer Zerstörung zu verurteilen. Im Streit um den Victoria-Altar hat er jedenfalls festgestellt, dass den Menschen die Freiheit des Glaubens nicht durch Zwang genommen werden darf:146 Ihr zwingt keinen, gegen seinen Willen etwas zu verehren, was er nicht will. … Selbst den Heiden pflegt die Freundschaft eines Menschen zu mißfallen, der seinen Glauben verleugnet; denn frei soll jeder die ehrliche Überzeugung seines Herzens verteidigen und bewahren. Was Ambrosius in beiden Fällen verhindern will, ist offensichtlich die Möglichkeit einer Stärkung der – aus seiner Sicht – falschen Religionen, des Aberglau143 Ambrosius, Brief 40, 6. 144 Ambrosius, Brief 40, 10. 145 Vgl. dazu Gotter, Zwischen Christentum und Staatsräson, 145f. 146 Ambrosius, Brief 17, 7.

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bens (superstitio) bzw. des Unglaubens (perfidia). Er befürchtet eben, eine solche Stärkung könnte das Resultat einer Religionspolitik sein, die den Heiden bzw. den Juden Zugeständnisse macht. Was er in beiden Fällen – mit Erfolg – zu erreichen versucht hat, ist, dass die Religionspolitik des Kaisers jenen „Eifer im Glauben und in der Frömmigkeit“ (fidei studium et devotionis) widerspiegelt, der den – aus der Sicht des Bischofs – wahren Christen auszeichnet.147 Religionspolitische Maßnahmen dürfen – aus der Sicht des Bischofs – eben keinesfalls den Eindruck erwecken, dass der exklusive Wahrheitsanspruch des katholischen Christentums in irgend­ einer Weise relativiert würde. Dieser Eifer im Glauben, der außerhalb des (katholischen) Christentums nur Aberglauben oder Unglauben kennt, impliziert nicht unbedingt eine Aufforderung zur Gewalt, konnte aber auch in diesem Sinne verstanden werden. Im Osten des Römischen Reiches kam es gegen Ende des 4. Jahrhunderts immer wieder zur Zerstörung heidnischer Tempel, eine Entwicklung, über die der heidnische Redner Libanios vor dem Kaiser Theodosius berichtet und Klage führt. Zu Beginn seiner Rede erinnert er – nicht zu Unrecht – an die tolerante Religionspolitik des Kaisers Konstantin, der zwar die Schätze der Tempel zum Bau seiner neuen Hauptstadt verwendet, aber „nicht eine Einzelheit an den rechtmäßigen Formen der Götterverehrung“ geändert habe:148 So herrschte in den Heiligtümern jetzt zwar Armut, doch konnte man sehen, dass alles andere (in den Kulten) weiterhin vollzogen wurde. Die gleiche Toleranz bescheinigt er – ebenfalls nicht ganz zu Unrecht – auch dem Kaiser Julian Apostata, der den christlichen Kult, von dem er sich abgewandt hatte, nicht verboten habe.149 Den Kaiser Theodosius, an den er sich wendet, will er eben auf diese Linie der Religionspolitik festlegen. Ebenso wie schon Themistios vor dem Kaiser Jovian rühmt Libanios die tolerante Haltung des Theodosius, der ja ein Edikt zum Glaubenszwang hätte erlassen können, dies aber nicht getan habe:150 Dieses Edikt zu erlassen wäre für dich leicht gewesen; aber du hast dies jedenfalls nicht für richtig gehalten und nicht den Seelen der Menschen in diesem Bereich ein Joch auferlegt, sondern du glaubst zwar, dass deine Religion besser ist als jene, aber du siehst in jener jedenfalls keine Gottlosigkeit noch etwas, wofür jemand in gerechter Weise bestraft werden könnte. Libanios fügt dann noch die Feststellung hinzu – und dies ist durchaus zutreffend –, dass Theodosius ja nicht zögere, wichtige politische Ämter an Nichtchristen zu 147 Ambrosius, Brief 17, 2. 148 Libanios, oratio 30, 6. 149 Libanios, oratio 30, 54. 150 Libanios, oratio 30, 53.

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vergeben. Die Situation der heidnischen Kulte, wie Libanius sie beschreibt – ob zutreffend oder nicht –, ist die einer eingeschränkten Freiheit ritueller Praxis: blutige Opfer sind verboten, nicht jedoch unblutige Opfer, wie z. B. von Weihrauch.151 Diese Einschränkung der Opferpraxis ist für Libanius aber kein Ärgernis, waren die Tieropfer doch nicht nur von den Christen, sondern auch von vielen heidnischen Philosophen abgelehnt worden. Was Libanius vorschwebt, ist also eine pluralistische Situation, in der es verschiedene Arten der Gottesverehrung nebeneinander gibt, nachdem die Anhänger der verschiedenen Kulte sich auf einen verbindlichen Rahmen geeinigt haben – den Verzicht auf blutige Opfer. Ebenso wie Themistios geht er dabei von der Annahme aus, dass Zwang im Bereich der Religion niemals zum Ziel führen werde und keinesfalls heilsam sein könne.152 Die Entwicklung der Religionspolitik des christlichen Kaisers ist aber in einer ganz anderen Richtung verlaufen, so dass der heidnische Redner sich in seiner Hoffnung getäuscht gesehen hätte:153 Wenig später wurde der große Serapis-Tempel in Alexandrien zerstört und schließlich wurden auch die Weihrauch-Opfer ausdrücklich verboten.154 Die Frage, ob es nicht doch einen heilsamen Zwang in Glaubensfragen geben könnte, wurde zu Beginn des folgenden Jahrhunderts diskutiert, im Kontext des sog. Donatistenstreites, der in Nordafrika zu einer Spaltung der Kirchen geführt hatte. Durch die Autorität des Bischofs Augustinus wurde die Frage in positivem Sinn entschieden.

Der als „Lehrer des Abendlandes“ bekannte Bischof von Hippo, Aurelius Augustinus, hatte in seiner Jugend, nach seiner Bekehrung zum Christentum, zunächst selbst die Auffassung vertreten, in Glaubensfragen dürfe es keinen Zwang geben:155 Denn ursprünglich war meine Ansicht, es solle niemand zur Einheit Christi gezwungen werden; man müsse das Wort wirken lassen, den Irrtum durch Erörterung bekämpfen und durch Gründe besiegen, … In seinem Brief an den Bischof Vincentius, den Vertreter einer Richtung der donatistischen Gegenkirche, erklärt Augustin, warum er seine Meinung geändert habe. Er sei durch Beispiele, die seine Mitbischöfe ihm vorgehalten hätten, überzeugt worden: er habe erkannt, dass es eben doch einen heilsamen Zwang gebe, denn viele Häretiker seien durch den „Stachel des Schreckens“, ausgelöst durch kaiser­ 151 Zur Frage des Opferverbotes vgl. Behrends, Libanios’ Rede pro Templis in rechtshistorischer Sicht, der die Darstellung des Libanius für unzutreffend hält. 152 Siehe Libanios, oratio 30, 26–30. 153 Vgl. dazu Hahn, Gesetze als Waffe?; ders., Gewaltanwendung ad maiorem gloriam dei?. 154 Siehe Codex Theodosianus XVI, 10,12. 155 Augustin, Brief 93, 17.

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liche Gesetze, dazu bewegt worden, in die einzig wahre, katholische Kirche zurückzukehren und – rückblickend – für die erzwungene Bekehrung dankbar zu sein.156 Der „Schrecken“ (terror), den Augustin in diesem Fall durchaus für heilsam hält, war ausgelöst worden durch kaiserliche Gesetze, die den Eintritt in die katholische Kirche erzwingen sollten – den Anhängern der donatistischen Kirche drohte z. B. die Konfiskation des Besitzes; radikale Zwangsmaßnahmen, wie die Androhung der Todesstrafe, standen nicht zur Debatte, und diese hätte Augustin auch nicht befürwortet. Er weist sogar ausdrücklich darauf hin, dass die Strenge gegenüber den Häretikern relativ milde sei, im Vergleich zur Todesstrafe, die in der Gesetz­gebung gegen die heidnischen Opfer vorgesehen sei – letzteres hielt Augustin offensichtlich für durchaus angemessen.157 Der kritischen Frage des Vincentius, ob es überhaupt im Geiste des Evangeliums und im Sinne Christi sei, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen und dazu die Hilfe des Staates in Anspruch zu nehmen, antwortet Augustin mit einer Reihe von Argumenten, darunter auch Zitate aus der Bibel:158 Du meinst, man dürfe niemanden zur Gerechtigkeit zwingen, obwohl du liest, daß der Hausvater zu seinen Knechten gesagt hat: „Alle, die ihr findet, zwinget einzutreten“, und obwohl du liest, daß auch Saulus, der spätere Paulus, unter dem Zwange einer gewaltsamen Einwirkung Christi zur Erkenntnis und Annahme der Wahrheit gebracht worden ist; … Du meinst, man dürfe dem Menschen keine Gewalt antun, um ihn von einem verderblichen Irrtume zu befreien, während du doch an den unzweideutigsten Beispielen siehst, daß auch Gott, der uns durch seine Liebe den allergrößten Nutzen verschafft, dieses tut, … In diesen und anderen Stellen der Heiligen Schrift findet Augustin seine Auffassung bestätigt, dass „es nicht darauf ankommt, ob jemand überhaupt gezwungen wird, sondern wozu er gezwungen wird“.159 Zwang ist aus der Sicht Augustins immer dann gerechtfertigt, wenn er durch Liebe zu den Menschen motiviert ist und dazu eingesetzt wird, die Menschen vom verderblichen Irrtum zu befreien und zur Wahrheit zu führen. Dieser Zwang darf natürlich nur von dem ausgeübt werden, der im Besitz der Wahrheit ist, was Augustin eben für sich in Anspruch nimmt. Damit hat er der Idee des religiösen Puralismus eine klare Absage erteilt: Nicht einmal innerhalb des Christentums würde er eine Pluralität von Bekenntnissen als gleichberechtigt akzeptieren.160 Seine Absage an den Pluralismus hat Augustin besonders deutlich in seiner Schrift „über die wahre Religion“ zum Ausdruck gebracht. Gleich zu Beginn kommt er darauf zu sprechen, dass die heidnischen Philosophen „zwar verschie156 Augustin, Brief 93, 17/18. 157 Siehe Augustin, Brief 93, 10. 158 Augustin, Brief 93, 5. 159 Augustin, Brief 93, 16. 160 Vgl. dazu Vanderspoel, The Background to Augustine’s Denial of Religious Plurality, 189.

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dene Schulen, gleichwohl aber gemeinsame Tempel hatten“.161 Diese Vorstellung einer Kultgemeinschaft von Menschen, die in der Lehre voneinender abweichen, erscheint ihm völlig absurd und für Christen unannehmbar:162 Wir Christen glauben und lehren ja, und unser Heil hängt daran, daß Philosophie, das heißt Weisheitsstreben, und Religion nicht voneinander verschieden sind. So können denn diejenigen, deren Lehre wir ablehnen, nicht an unseren Sakramenten Anteil haben. Diesen Exklusivanspruch hat Augustin rhetorisch eindruckvoll formuliert, wenn er zusammenfassend feststellt, nachdem er den Blick auf die verschiedenen christlichen Gruppierungen und auch noch auf die Juden gerichtet hatte:163 So ist die wahre Religion weder im Wirrwar des Heidentums noch im Unflat der Ketzer, weder bei der Krankhaftigkeit der Sektierer noch bei der Blindheit des Judentums zu suchen, sondern allein bei denen, die Christen, Katholiken und Rechtgläubige genannt werden, da sie Wächter der Reinheit und Wanderer auf dem rechten Wege sind. 6.1.4 Zusammenfassung und Ausblick Im Blick auf den Ausgang der Toleranzdebatten im 4./5. Jahrhundert könnte sich als erstes der Eindruck ergeben, dass die Religionskritik, die den monotheistischen Religionen eine inhärente Tendenz zur Intoleranz und Gewalt zuschreibt, vollauf bestätigt wird. Dagegen wäre aber zunächst einzuwenden, dass es verschiedene Arten des Monotheismus gibt. Denn die Vertreter des Heidentums, die das Modell eines religiösen Pluralismus propagierten, waren nicht einfach Polytheisten, sondern ebenfalls Monotheisten, allerdings Anhänger eines Monotheismus, der als „inklusiv“ bezeichnet werden kann oder, in der Formulierung Jan Assmanns, als „evolutionär“, insofern als er sich aus einer Spätphase des Polytheismus heraus entwickeln kann. Dann könnte aber als zweites die Folgerung unausweichlich erscheinen, dass die Kritik eben nur das Christentum trifft, das einen exklusiven – in der Formulierung Assmanns „revolutionären“ – Monotheismus verkündete, im Gegensatz zum Heidentum, das sich in seiner monotheistischen Ausprägung als tolerant darstellt. Doch wäre auch dies noch eine Vereinfachung, wie sich im Blick auf die innerchristlichen Toleranzdebatten zeigt: die Position Augustins, der Zwangsmaßnahmen befürwortet und theologisch begründet hat, ist ja nur eine von mehreren Auslegungen der christlichen Tradition. Denn er argumentierte gegen Vincentius, einen Bischof, der alle Zwangsmaßnahmen als unchristlich verworfen hatte. Augustins 161 Augustin, De vera religione, I, 1. 162 Augustin, De vera religione, V, 8 (26). 163 Augustin, De vera religione, V, 9 (29).

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Auslegung ist allerdings jene, die sich in der Folgezeit weitgehend durchgesetzt hat. Die alternative Auslegung, wie sie von Vincentius vertreten wurde, konnte aber doch nicht ganz unterdrückt werden. Es haben sich immer wieder Theologen gefunden, die jede Form von Zwang und Gewalt im Bereich der Religion als unchristlich abgelehnt haben, wie sich im Blick auf das Mittelalter und die Reformationszeit zeigen wird. Aus der Sicht der Religionswissenschaft sind jene alternativen Stimmen jedenfalls nicht als „häretisch“ zu bezeichnen – dies wäre ja ein theologisches Urteil –, müssen vielmehr als gleichberechtigte Auslegungen des Christentums gelten; es wäre dann nur zu untersuchen, warum sie sich nicht haben durchsetzen können. Zu Beginn des fünften Jahrhunderts gab es in Alexandrien einen aufsehenerregenden Fall von physischer Gewalt gegen Menschen, ausgeübt von Christen: der Lynchmord an der heidnischen Philosophin Hypatia.164 Einzelfälle wie dieser erscheinen geeignet, die religionskritische These über einen Zusammenhang zwischen exklusivem Monotheismus und Gewalt zu bestätigen. Demgegenüber ist aber festzuhalten, dass es unter den Anhängern dieses christlichen Monotheismus konträre Stellungnahmen zu diesem Fall gab. So hat Sokrates von Konstantinopel, ein zeitgenössischer Christ, den Vorfall in Alexandrien scharf verurteilt und festgestellt, „denen, die an Christus glauben“, sei „Totschlag und Kampf und alles was dem ähnlich ist, ganz und gar fremd“.165 Im Gegensatz dazu hat der Bischof Johannes von Nikiu später die Meinung vertreten, dieser Mord sei durchaus gerechtfertigt, weil er von Menschen tiefen christlichen Glaubens ausgeübt wurde und der Vernichtung des Heidentums gedient habe.166 Diese konträren Stellungnahmen zur (christlich motivierten) Gewalt können nicht einfach den verschiedenen Arten des Monotheismus – inklusiv oder exklusiv – zugeordnet werden. Die Reaktionen auf den „Fall Hypatia“ zeigen, dass es möglich ist, aus dem exklusiven Monotheismus selbst, der nur einen einzigen Weg zur Wahrheit kennt, ganz verschiedene Handlungsnormen abzuleiten – Gewalt abzulehnen oder zu rechtfertigen.

Die andere Art des Monotheismus, die nicht-exklusive, scheint im Fall des Bischofs Synesios von Kyrene gegeben zu sein: Er war Schüler der heidnischen Philosophin Hypatia, und er hat auch nach seiner Wahl zum Bischof, die er nur nach großen Bedenken angenommen hat, versucht, diesen Kontakt aufrecht zu erhalten, ohne dass er versucht hätte, sie zum Christentum zu bekehren.167 Seine Hymnen vermitteln den Eindruck, dass er kein Problem darin gesehen hat, Motive der griechischen 164 Zur Forschungsgeschichte vgl. Harich-Schwarzbauer, Hypatia, 5–20. Vgl. auch Watts, The Murder of Hypatia. 165 Historia Ecclesiastica 7,15,6. Übersetzung: Harich-Schwarzbauer, Hypatia. 166 The Chronicle of John, Bishop of Nikiu LXXXIV, 100–103. 167 Zum Briefwechsel vgl. Harich–Schwarzbauer, Hypatia, 152–167.

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Mythologie und der christlichen Theologie miteinander zu verbinden.168 So könnte er als Beispiel eines inklusiven oder evolutionären Monotheismus innerhalb des Christentums gelten, ein Gegenbeispiel zu seinem Zeitgenossen Augustin, der das Bild von „dem“ Absolutheitsanspruch „des“ Christentums entscheidend geprägt hat. Auch der Blick auf die Religionspolitik der christlichen Kaiser im 4. Jahrhundert lässt deutlich werden, dass es ganz verschiedene Modelle der (In)Toleranz im Christentum gibt. Wie auch immer die persönlichen Überzeugungen und Motive Konstantins beurteilt werden: Seine Gesetzgebung kann, in Bezug auf die nichtchristlichen Kulte, als tolerant bezeichnet werden, im Unterschied zu der des Theodosius, der die heidnischen Kulte endgültig verboten hat. Konstantin ist zwar bekannt durch seine Beteiligung an dogmatischen Entscheidungen innerhalb des Christentums, vor allem im arianischen Streit. Doch darf nicht vergessen werden, dass er zunächst dafür plädiert hatte, die verschiedenen theologischen Positionen als gleichberechtigte private Meinungen zuzulassen und nur die Einheit des christlichen Kultes zu bewahren.169 Er hatte hier sogar auf das Beispiel der Philosophie verwiesen, in der es eine Vielfalt der Lehren gebe, ohne dass ihre Einheit dadurch gefährdet sei – diesen Vergleich hätte Augustin energisch zurückgewiesen, da er sich eine Kultgemeinschaft mit Menschen, die verschiedene Lehren vertreten, nicht vorstellen kann. Zwei Jahrhunderte später ist es unter einem anderen christlichen Kaiser, Theoderich dem Großen, tatsächlich möglich gewesen – wenigstens für die Dauer seiner Herrschaft –, dass zwei Versionen des Christentums, die arianische und die katholische, gleichberechtigt nebeneinander existieren. So gab es in Ravenna, der Hauptstadt des Ostgotenreiches, zwei Baptisterien, eins für die Arianer und eins für die Katholiken. Die Regierungszeit des christlichen Kaisers Jovian war zu kurz und die Überlieferung der Religionsgesetze ist lückenhaft, so dass es kaum möglich ist, seine Religionspolitik zu rekonstruieren. In der Darstellung des heidnischen Philo­sophen Themistios erscheint die Position Jovians jedenfalls als Musterbeispiel eines religiösen Pluralismus. Der Einwand scheint nahe zu liegen, dass eine solche Position im Rahmen des Christentums gar nicht möglich gewesen wäre, da der Absolutheitsanspruch, der „aus dem Wesen der jüdisch-christlichen Gottesvorstellung“ folgt, „sich nicht in Toleranz auflösen konnte“.170 Aus der Sicht der Religionswissenschaft wäre aber wieder festzuhalten, dass die dominierende Auslegung einer religiösen Tradition nicht einfach zu ihrem „Wesen“ erklärt werden kann, so dass z. B. auch die Unterscheidung zwischen „wahren Christen“ und „halben Christen“ nicht übernommen werden dürfte.171 168 Zur „Verschmelzung antiker Mythologie und christlicher Tradition“ im 8. Hymnus, vgl. Tanaseanu-­ Döbler, Konversion zur Philosophie, 249f. 169 Das betont auch Drake (Constantinian Echoes in Themistios, 50). 170 Speyer, Toleranz und Intoleranz, 122. 171 Siehe Daut, Die „halben Christen“. Zur Kritik solcher Grenzziehungen vgl. von Stuckrad, „Christen“ und „Nichtchristen“, 195.

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Im Hinblick auf Themistios wäre noch zu bemerken: Auch wenn er dem Christen Jovian eine Position zugeschrieben haben sollte, die dieser nicht in dieser Konsequenz vertreten hat, so ist doch die Tatsache zu bedenken, dass die pluralistische Position des Themistios in den Toleranzdebatten der Frühen Neuzeit wieder Interesse gefunden hat, auch unter christlichen Theologen. Im 16. Jahrhundert wurde die lateinische Übersetzung einer Rede des Themistios in Umlauf gebracht, von der sich kein griechischer Text erhalten hat. In der modernen Forschung wurde die Auffassung vertreten, die Rede sei in Wirklichkeit von Andreas Dudith, einem ehemaligen katholischen Bischof, verfasst worden.172 Ob Übersetzung oder Fälschung – auf jeden Fall hat die pluralistische Toleranz-Konzeption des Themistios in den theologischen Debatten Interesse gefunden, und es wäre zu untersuchen, ob es christliche Theologen gab, die sich davon haben inspirieren lassen. Im 20. Jahrhundert hat John Hick eine „kopernikanische Revolution“ in der Theologie gefordert – hin zur Konzeption eines religiösen Pluralismus. Hick war nicht nur christlicher Theologe, sondern auch ein führender Vertreter der analytischen Religionsphilosophie, und deshalb konnte mit Recht festgestellt werden, dass seine Ausführungen sich „durch hohe begriffliche Präzision und argumentative Stringenz“ auszeichnen.173 Als Metapher zur Beschreibung des Pluralismus hat er dabei unter anderem das Bild der vielen Wege verwendet, ebenso wie Themistios und Symmachus. Hick hat dieses Bild allerdings aus der Bhagavadgita übernommen, also aus dem Hinduismus, nicht aus dem spätantiken Heidentum, für das er sich anscheinend nicht interessiert hat.174 Wie immer die Position Hicks theologisch beurteilt wird,175 dieses Beispiel zeigt jedenfalls, dass die tolerante, pluralistische Konzeption des Themistios durchaus in das Christentum integrierbar ist, so wie Themistios es sich nach dem Regierungsantritt des christlichen Kaisers Jovian für die Zukunft – wenn auch vergeblich – erhofft hatte.

172 Siehe Förster, Andreas Dudith und die zwölfte Rede des Themistios. Zur neueren Debatte siehe Goulding, Who wrote the Twelfth Oration of Themistios?; Almasi, The riddle of Themistios’ twelfth oration. 173 Schmidt-Leukel, Theologie der Religionen, 339. Eine kurze Auseinandersetzung mit Hick, aus religionswissenschaftlicher Perspektive, bietet Löhr, Das indische Gleichnis vom Elefanten, 195f. 174 Bhagavadgita IV, 11. Siehe Hick, „Welchen Weg auch immer“, 84f. Hick verwendet u. a. auch die Metapher des Regenbogens. 175 Zur Kritik vgl. z. B. Pannenberg, Religious Pluralism, der mit Hick nur darin übereinstimmt, dass ein einfacher Exklusivismus abzulehnen ist. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit John Hick bietet Schmidt-Leukel, Theologie der Religionen, 339–485.

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6.2 Von der Intoleranz zur Toleranz Wenn vom Mittelalter die Rede ist, dann wird sich als Erstes die Assoziation einstellen, dass es das Zeitalter der Kreuzzüge und der Inquisition ist, also eine Zeit der Gewalt gegen Andersgläubige – Heiden und Ketzer oder Häretiker. Der Titel eines Buches des Mediävisten Gerd Althoff – „‚Selig sind, die Verfolgung ausüben‘. Päpste und Gewalt im Hochmittelalter“ – scheint vollends die These zu bestätigen, dass es einen immanenten Zusammenhang gibt zwischen Monotheismus und Intoleranz. Tatsächlich handelt es sich bei jener überraschenden, provozierenden Formulierung, die einen bekannten Spruch aus der Bergpredigt abwandelt, um ein Zitat aus der christlichen Literatur des Mittelalters: Bonizo von Sutri, aus dem Kreis des Papstes Gregor VII. – der bekannt ist durch den Streit mit König Heinrich IV. und dessen „Gang nach Canossa“ –, zitiert den Kirchenvater Augustin, der gesagt habe, dass die, die Verfolgung ausüben um der Gerechtigkeit willen, ebenso selig seien wie die, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen.176 Augustin hat dies zwar nicht explizit gesagt, doch kann seine Rede von einer „gerechten Verfolgung“ durchaus in diesem Sinne verstanden werden.177 Der Standpunkt Augustins markierte ja das Ende des religiösen Pluralismus in der Spätantike, und seine Rechtfertigung von Zwangsmaßnahmen gegen Häretiker und Ungläubige kann metaphorisch als eine Weichenstellung beschrieben werden, die der Entwicklung des mittelalterlichen Christentums die Richtung gewiesen hat. Dies gilt jedenfalls für die römisch-katholische Kirche als jene Institutionalisierung des Christentums, die ihre Monopolstellung im Mittelalter verteidigen und ausbauen konnte, so dass alternative, pazifistische Auslegungen des Christentums verdrängt und sogar zum Gegenstand der „gerechten“ Verfolgung wurden. 6.2.1 K  reuzzüge und Inquisition. Gewalt gegen Ungläubige und gegen Christen Der erste Kreuzzug – das einzige Unternehmen dieser Art, das wirklich erfolgreich war – führte im Jahr 1099 zur Eroberung Jerusalems. Dabei kam es, wie in verschiedenen, christlichen Chroniken übereinstimmend berichtet wird, zu einem Massaker an der nichtchristlichen Bevölkerung.178 Gerechtfertigt wurde dieses Massaker durch das Motiv der „Reinigung“ der heiligen Stätten, die durch die Riten der Ungläubigen verunreinigt worden waren, ein Motiv, das auch schon in der – allerdings nicht im Original überlieferten -Kreuzzugspredigt des Papstes angeklungen 176 Liber ad amicum VIII, S. 619: (Augustinus) … equaliter dixit beatos eos, qui persecutionem inferunt propter iusticiam, acsi qui persecutionem paciuntur propter iusticiam. 177 Vgl. dazu Althoff, „Selig sind die Verfolgung ausüben“, 11f; 83f. Zur Augustin-Rezeption vgl. Schreiner, „Duldsamkeit“ oder „Schrecken“; Buc, Heiliger Krieg, 43; 239 u. ö.. 178 Siehe z. B. Gesta Francorum 38f; Wilhelm von Tyrus, Geschichte VIII, 19f. Vgl. dazu Althoff, „Selig sind die Verfolgung ausüben“, 125, Anm. 8.

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war.179 So schreibt Wilhelm von Tyrus, nachdem er das „Blutbad“ beschrieben hat, das die Kreuzfahrer in der Halle des Tempels angerichtet hatten:180 Es war dies ein gerechtes Urteil Gottes, daß die, welche das Heiligtum des Herrn mit ihren abergläubischen Gebräuchen entweiht und dem gläubigen Volk entzogen hatten, es mit ihrem eigenen Blut reinigen und den Frevel mit ihrem Tod sühnen mußten. Es sei dahingestellt, ob diese Gewalt gegen die „Ungläubigen“ im „Heiligtum des Herrn“ von vornherein zum Programm des Kreuzzuges gehört hatte.181 Auf jeden Fall erscheint die theologische Rechtfertigung des Massakers als eine weitere Bestätigung der Behauptung eines immanenten Zusammenhanges zwischen Monotheismus und Intoleranz. In der Forschung gilt allerdings gerade Wilhelm von Tyrus, wenn auch nicht unumstritten, als ein Vertreter religiöser Toleranz – obwohl auch er jenes Massaker theologisch gerechtfertigt hat. Seine Haltung gegenüber dem Islam ist als eine „Alternative“ zur Kreuzzugsideologie des 12. Jahrhunderts beschrieben worden.182 Der Begriff der Toleranz kann missverständlich sein, doch ist auf jeden Fall festzuhalten, dass Wilhelm von Tyrus in seinem Machtbereich die Existenz von Moscheen geduldet hat, also zumindest in diesem elementaren Sinn tolerant gewesen ist. Ein Ansatzpunkt für die Forschungs-Kontroversen ist die Tatsache, dass Wilhelm sich explizit und uneingeschränkt kritisch über den Propheten Muhammad und die von ihm gegründete Religion des Islam geäußert hat – er bezeichnet den Propheten als den „Erstgeborenen des Satans, der mit seiner Lüge, daß er ein gottgesandter Prophet sey, die Morgenlande und hauptsächlich Arabien verführte“.183 Dem steht gegenüber, dass er ausnehmend positiv über einzelne Muslime sprechen kann, wie z. B. über den Kalifen Harun al Raschid, den er als einen „bewunderungswürdigen Mann“ beschreibt.184 Er hat jedenfalls nicht das Ziel verfolgt, die Bekehrung zum Christentum durch Gewalt zu erzwingen. Denn sein politisches Programm war darauf ausgerichtet, eine friedliche Koexistenz mit den benachbarten muslimischen Machthabern sicher zu stellen. Dieses Programm ist gleich am Anfang seiner Chronik zu erkennen, wenn er, im Rückblick auf die Geschichte der christlich-islamischen Beziehungen, die Zeit des Kalifen Harun al Raschid positiv beschreibt: Der christliche Kaiser Karl hatte „das schönste Bündniß“ mit ihm geknüpft, und unter der Herrschaft jenes Kalifen war den Christen „eine Zeit der Ruhe“ gegeben, als lebten sie unter der Herrschaft des Kaisers Karl.185 Und im Blick auf die eigene Zeit, in der Funktion als Bischof und 179 Vgl. dazu Althoff, ebda, 129–137. 180 Wilhelm von Tyrus, Geschichte, VIII, 20. 181 Althoff, ebda,145, glaubt, ein solches Programm zu erkennen. 182 Siehe Schwinges, Kreuzzugsideologie und Toleranz, 285. 183 Wilhelm von Tyrus, Geschichte, I, 1. 184 Wilhelm von Tyrus, Geschichte, I, 3. 185 Wilhelm von Tyrus, Geschichte, I, 3.

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Kanzler des christlichen Königreiches Jerusalem, vertritt er den Grundsatz, dass Verträge mit Muslimen unter allen Umständen einzuhalten seien. Diesen Grundsatz hat er nicht nur pragmatisch-politisch, sondern auch theologisch begründet, wie aus seiner Verurteilung eines Vertragsbruches hervorgeht, den der christliche König begangen hatte:186 Aber der Herr, der gerechte Vergelter, der Gott der Rache, ließ uns nicht lange eines solchen schändlichen Gewinns froh seyn, sondern zeigte, daß man auch den Unglaubigen Treue und Glauben halten muß, …, wie dieß im Folgenden erzählt werden wird. Das scheinbar widersprüchliche Verhältnis Wilhelms zum Islam, das Anlass zu Forschungs-Kontroversen über seine (In)Toleranz gegeben hat, erklärt sich aus der grundlegenden Unterscheidung zwischen dem Islam als einer religiösen Tradition und der individuellen Religiosität der Muslime: erstere lehnt er rundweg ab, letztere betrachtet er durchaus differenziert, im Falle des Islams ebenso wie des Christentums, je nachdem ob das Verhalten der einzelnen Muslime oder Christen menschlich oder unmenschlich ist. Tatsächlich hat Wilhelm extrem verschiedene Urteile über einzelne Muslime ebenso wie über einzelne Christen gefällt: negativ z. B. über den muslimischen Herrscher von Aleppo, Zengi, positiv über dessen Sohn Nuraddin; negativ über den christlichen Kaiser von Byzanz, Alexios Komnenos, positiv über dessen Sohn Johannes Komnenos. Und er hat nicht nur den Propheten Muhammad, sondern z. B. auch den christlichen Bischof Arnulf als den „Erstgeborenen des Satans“ bezeichnet. Wenn schließlich noch gefragt wird, ob Wilhelms Konzeption wirklich als eine Alternative oder Antithese zur Kreuzzugsideologie seiner Zeit gelten kann, dann muss eine differenzierte Antwort gegeben werden: Einerseits ist nicht zu bestreiten, dass er den ersten Kreuzzug, der zur Eroberung Jerusalems führte, uneingeschränkt für legitim hielt, ebenso wie auch den zweiten Kreuzzug, der das eroberte Territorium des „Heiligen Landes“ sichern sollte; andererseits ist festzuhalten, dass er eine christliche Eroberungspolitik, die über die Grenzen des Heiligen Landes hinausgeht, wie z. B. den Angriff auf das islamische Ägypten, verurteilt hat. Damit unterscheidet sich seine Konzeption doch stark von jener Kreuzzugsideologie, die eine Ausbreitung des Christentums fordert und fördert, wie sie z. B. im Rolandslied des Pfaffen Konrad vorliegt, in dem es um den Kampf gegen die Muslime in Spanien geht. Der Dichter lässt hier eine Rede des christlichen Kaisers Karl, der eine Aufforderung zur Bekehrung an den muslimischen Herrscher schickt – und ihm für den Fall des Widerstandes den Tod androht –, mit den Worten enden:187 Uns aber mögen alle Seine Engel helfen, daß wir Gottes Ruhm vermehren und das Christentum ausbreiten. 186 Wilhelm von Tyrus, Geschichte, XVIII, 11. 187 Rolandslied des Pfaffen Konrad, V. 1531–1533.

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Das ist offensichtlich eine andere Art von Kreuzzugsideologie, kann doch für die Rückgewinnung Spaniens nicht die Begründung gelten, es gehe um die Rückgewinnung und Sicherung des „Heiligen Landes“, in dem Jesus gelebt hat und gestorben ist. Im mittelalterlichen Christentum gab es auch grundsätzliche Kritik an den Kreuzzügen, und zwar nicht nur bei den Katharern oder bei den Waldensern, die jede Art von Gewalt ablehnten und die schließlich aus der katholischen Kirche ausgegrenzt wurden.188 Auch innerhalb des katholischen Klerus gab es Kritik. So hat z. B. Radulfus Niger die Auffassung vertreten, es sei eine Sünde, Heiden zu töten: Gott habe gesagt „ich will nicht den Tod des Sünders“, und schließlich seien die Sarazenen Menschen „von derselben Natur wie auch wir“ und sie dürften zwar aus dem Besitz der Christen vertrieben, aber nicht getötet werden. Auch wenn er nicht eindeutig eine pazifistische Auslegung des Christentums vertritt,189 so lehnt er es jedenfalls grundsätzlich ab, den Glauben durch Gewalt (per violentiam) zu verbreiten.190 Die Existenz pazifistischer Auslegungen des Christentums wird indirekt dadurch bestätigt, dass ein Verfechter der Kreuzzugsidee wie Humbert de Romanis im 13. Jahrhundert große Mühe darauf verwandt hat, seine Auffassung gegen grundsätzliche theologische Kritik zu verteidigen.191 Ebenso hatte Gratian sich in seiner theologischen Rechtfertigung der Gewaltanwendung mit den Vertretern der Gegenmeinung, den Pazifisten, auseinandersetzen müssen.192 Der Verweis auf die menschliche Natur, die Heiden und Christen gemeinsam ist, begegnet im 13. Jahrhundert auch bei dem Dichter Wolfram von Eschenbach. Er hat daraus die Folgerung abgeleitet, dass die Heiden zu „schonen“ seien. Diese Aufforderung zur „Schonung“ der Heiden hat er einer Frau in den Mund gelegt – Gyburg, eine der Hauptfiguren in dem Epos „Willehalm“. In diesem Epos geht es zwar um eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Christen und Muslimen, doch sind die Grenzen zwischen den Religionen nicht so eindeutig festgelegt und nicht so eindeutig mit verschiedenen Wertungen belegt, wie es etwa im „Rolandslied“ des Pfaffen Konrad der Fall ist. Denn Wolfram lässt Gyburg am Vorabend der entscheidenden Schlacht eine versöhnliche Perspektive einführen, bekannt – etwas missverständlich – als „die Toleranzrede“ Gyburgs:193 Hört auf die Lehre einer ungelehrten Frau: schont die Geschöpfe aus Gottes Hand! Ein Heide war der erste Mensch, den Gott erschuf.

188 Vgl. dazu Siberry, Criticism of Crusading, 212–216. 189 Dies betont Siberry, Criticism, 211. 190 Radulfus Niger, de re militari, 90. 191 Vgl. dazu Throop, Criticism of the Crusade, 162; Siberry, Criticism, 212; Hiestand, Will Gott es wirklich?, 32f. 192 Vgl. dazu Siberry, Criticism, 210. 193 Wolfram von Eschenbach, Willehalm, VI, 306, 27–30.

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Es folgt dann die Aufzählung alttestamentlicher Gestalten, wie z. B. Hiob, die Heiden waren und doch von Gott angenommen wurden – der Dichter lässt hier die „ungelehrte Frau“ jene Lehre vortragen, die von goßen Theologen des 12. Jahrhunderts vertreten worden war: Peter Abälard und Anselm von Havelberg.194 Folgerichtig wird dann die Feststellung getroffen: „Nicht alle Heiden sind verdammt“, und es wird zum „Erbarmen“ mit dem Feind aufgerufen – für den Fall, dass Gott den Christen den Sieg gewähren würde.195 Die Frage, ob es nicht Ausnahmen gibt – Heiden, die es verdient hätten, ins Paradies zu kommen, ist im Mittelalter immer wieder erörtert worden, wie sich z. B. in der Gregor-Legende zeigt:196 Als der Papst Gregor, so berichtet der Kompilator der Legendensammlung, eines Tages in Rom über das Trajans-Forum ging, musste er an die Milde und Gerechtigkeit dieses Herrschers denken, ging in die Peters-Kirche und weinte über den „Irrtum“ Trajans – also darüber, dass dieser ein Heide gewesen war und deshalb, wie es die Christen anzunehmen pflegten, der ewigen Verdammnis überlassen war; daraufhin sei ihm vom Himmel geantwortet worden, seine Bitte sei erhört und Trajan von der ewigen Strafe verschont – er solle sich aber hüten, noch für weitere Heiden zu bitten. Der Kompilator zählt noch eine ganze Reihe von Variationen der „himmlischen“ Antwort auf, was zeigt, dass zu seiner Zeit die Frage diskutiert wurde, ob es nicht doch eine Erlösung außerhalb des Christentums geben könne – ob das Leben und die Taten eines Menschen vielleicht doch wichtiger seien als sein Bekenntnis. Im 12. Jahrhundert, nach dem ersten Kreuzzug, stellte sich das Problem der (religiös motivierten) Gewalt noch einmal mit besonderer Schärfe, als es um die Gründung des Ordens der Tempelritter ging, also um die Frage, ob die Lebensformen des Mönches und des Ritters miteinander vereinbar seien. Auch hier wurde Kritik geäußert, und es bedurfte der ganzen Autorität eines Bernhard von Clairvaux, des einflussreichen Zisterzienser-Abtes, dieser neuen Idee zum Durchbruch zu verhelfen.

In seiner „Lobrede auf das neue Rittertum“ vertritt Bernhard von Clairvaux die Auffassung, dass Gewalt und Kriegsdienst für den Christen keinesfalls verboten ist, dass ein christliches Rittertum durchaus erlaubt ist:197 Ein Ritter Christi, sage ich, tötet mit gutem Gewissen, noch ruhiger stirbt er. Wenn er stirbt, nützt er sich selber; wenn er tötet, nützt er Christus. …

194 Abälard, Dialog; Anselm von Havelberg, Anticimenon I,3. 195 Wolfram von Eschenbach, Willehalm, VI, 307, 14f; VI, 309, 6. 196 Legenda aurea XLVI (S. 297). 197 Bernhard von Clairvaux, Lobrede auf das neue Rittertum, III,4.

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Der Christ rühmt sich, wenn er einen Ungläubigen tötet, weil Christus zu Ehren kommt. Ganz anderer Meinung war offensichtlich Isaak von Stella, ein anderer, allerdings weniger einflussreicher, Zisterzienser-Abt. Aus seiner Sicht war diese Idee eines „neuen Kriegsdienstes“ ein „neues Ungeheuer“ (monstrum novum):198 Man zwingt die Ungläubigen mit Lanzen und Knüppeln zum Glauben … und tötet sie mit Berufung auf die Religion. Wenn aber welche bei deren Plünderung fallen sollten, nennt man sie christliche Märtyrer. Isaak betonte die Milde und Geduld Jesu, wie sie in der Art seiner Verkündigung zum Ausdruck komme; Bernhard hatte demgegenüber gerade auf die Strenge Jesu verwiesen, wie sie sich in der gewaltsamen Tempelreinigung darstelle. Könnten solche Kontroversen noch den Eindruck bestärken, dass es sich bei den Kreuzzügen um reine „Glaubenskämpfe“ handelt, so zeigt eine nähere Betrachtung der Kämpfe, dass diese Annahme zu relativieren ist. Schon den Zeitgenossen war klar, dass die Motive der Kreuzfahrer durchaus verschieden waren – so bemerkt Wilhelm von Tyrus im Hinblick auf den ersten Kreuzzug, dass manche sich nur „aus Leichtsinn“ anschlossen „oder um ihrer Gläubiger spotten zu können, denen sie schwer verschuldet waren“.199 Es ist bekannt, dass der vierte Kreuzzug zur Eroberung Konstantinopels führte, also einer von Christen bewohnten Stadt. Kämpfe zwischen Christen gab es aber auch schon zu Beginn der Kreuzzüge: so hat z. B. der Normanne Bohemund, einer der bekanntesten Teilnehmer am ersten Kreuzzug, vorher und nachher Angriffe auf das byzantinische Reich unternommen, so dass der christliche Kaiser von Byzanz, Alexios Komnenos, in einem Fall auch türkische, also muslimische Hilfstruppen einsetzen musste, wie seine Tochter, Anna Komnena berichtet.200 Ihr Bericht vermittelt den Eindruck, dass die Spannungen zwischen christlichen Kreuzrittern aus dem Westen und christlichen Byzantinern im Osten mindestens ebenso groß waren wie die zwischen Christen und Muslimen. Gegen Ende des Berichtes über die Taten ihres Vaters, des Kaisers Alexios, kommt Anna Komnena auch auf die Ketzer im byzantinischen Reich zu sprechen, die Bogomilen. Sie geht nicht detailliert auf die Lehren der Bogomilen ein, bemerkt nur, dass diese „unsere Theologie mit Verachtung“ behandeln und die Sakramente der byzantinischen Kirche ablehnen.201 In ihrer Beschreibung des Ketzerprozesses hebt Anna Komnena hervor, dass ihr Vater alles versucht habe, den Führer der Bogomilen und seine Anhänger zu bekehren und Todesurteile zu vermeiden – schließlich 198 Isaak von Stella, sermo 48,8. 199 Wilhelm von Tyrus, Geschichte, I, 16. 200 Siehe Anna Komnena, Alexias V, 5,2; vgl. auch X, 9,1 über den Streit zwischen Alexios und Bohemund. 201 Anna Komnena, Alexias, XV, 8,5.

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wird auch nur ein einziges Todesurteil vollstreckt.202 Wenn Anna Komnena sich auch große Mühe gegeben hat, die Milde herauszustellen, die der christliche Kaiser im Umgang mit den Häretikern gezeigt habe, so scheint sie doch nicht daran gezweifelt zu haben, dass ein Häretiker zu töten ist, wenn er sich als unbelehrbar erweist. 6.2.2 Toleranz-Debatten im Mittelalter: „Sind Häretiker zu tolerieren?“ Diese Frage, ob Häretiker zu tolerieren seien – d. h. am Leben zu lassen – hat im 13. Jahrhundert der Dominikaner Thomas von Aquin erörtert, ein Heiliger in der katholischen Kirche. Seine Antwort war ein entschiedenes „Nein“, doch wäre seine Antwort etlichen großen Theologen im 11. und 12. Jahrhundert unannehmbar erschienen, und auch in der Folgezeit verstummte der Widerspruch nie ganz. Bei den Häretikern handelte es sich jedenfalls um Christen, d. h. sie verstanden sich selbst als Vertreter des (wahren) Christentums, auch wenn sie sich in Fragen der Dogmatik manchmal von der katholischen Kirche weit entfernt hatten, wie z. B. die Katharer, die als Nachfolger der „Manichäer“ betrachtet wurden. Die Frage, ob es Christen überhaupt erlaubt sei, im Dienste der Kirche Gewalt anzuwenden, war schon im 11. Jahrhundert, also noch vor dem ersten Kreuzzug, kontrovers diskutiert worden, zunächst im Hinblick auf die „ungehorsamen Christen, die Häretiker und Schismatiker“.203 Beide Seiten konnten sich auf biblische Texte berufen, die Befürworter der Gewalt z. B. auf Ex 32 oder Dt 13,6ff, also auf alttestamentliche Texte; ihre Gegner demgegenüber eher auf neutestamentliche Texte, wie z. B. auf Mt 26,51f.204 Das Alte Testament bietet sicherlich mehr Ansatzpunkte zur Befürwortung der Gewalt, doch konnten die Befürworter der Gewalt auch im Neuen Testament einige Anhaltspunkte zur Begründung ihrer Auffassung finden: z. B. die Geschichte von der Tempelreinigung.205 Die Befürworter der Gewalt hatten in der Debatte den Vorteil, dass sie sich auf die Autorität des heiligen Augustinus berufen konnten, der mit seiner Haltung gegenüber den Donatisten einen Weg gezeigt hatte, Zwangsmaßnahmen zu legitimieren. Im 11. Jahrhundert kam es zu ersten Hinrichtungen von Häretikern – oder Ketzern, wie sie später eher genannt wurden –, zumeist, wenn auch nicht immer, durch Verbrennung, und, wie in den Quellen berichtet wird, als spontane Reaktion des Volkes, noch nicht von der Kirche organisiert und legitimiert. Diese Art der Strafe, die Verbrennung, sollte sich später durchsetzen und als angemessene Bestrafung der Häretiker gelten.206 Gegen solche Anwendung von Gewalt gab es aber Widerstand, nicht nur in Gruppierungen von Laien, wie den Waldensern, oder in der Kirche der 202 Anna Komnena, Alexias, XV, 10,4. 203 Althoff, „Selig sind die Verfolgung ausüben“, 119. 204 Einen Überblick über die verwendeten biblischen Texte gibt Hackelsperger, Bibel und mittelalterlicher Reichsgedanke, 87–99. 205 Vgl. dazu Berner, Kreuzzug und Ketzerbekämpfung, 17–25; ders., Die Bibel in der mittelalterlichen Diskussion, 12–20. 206 Vgl. dazu Schmitz-Esser, The Cursed and the Holy Body.

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Katharer, sondern auch unter den Amtsträgern in der katholischen Kirche selbst. So hat es z. B. Wazo, der Bischof von Lüttich, im 11. Jahrhundert entschieden abgelehnt, die Todesstrafe auf Häretiker anzuwenden, wie es sein Biograph, Anselm von Lüttich, im 12. Jahrhundert behauptet und belegt.207 Er verwies in dieser Debatte auf das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13), einen Text, der in den Toleranzdebatten immer wieder herangezogen und – mit diametral entgegengesetzten Ergebnissen – ausgelegt wurde.208 Aus der Sicht des Bischofs Wazo ergab sich aus jenem Gleichnis die Ablehnung der Gewalt und die Verpflichtung zur Geduld, im Blick auf einen barmherzigen Gott, der nicht den Tod des Sünders will. So hat der Chronist Anselm von Lüttich sicherlich Recht, wenn er im Hinblick auf einen aktuellen Fall behauptet, Wazo würde niemals dem Todesurteil zugestimmt haben: In Goslar hatte der Kaiser Heinrich III. einige Ketzer aufhängen lassen, die als „Manichäer“ identifiziert wurden – sie hatten sich geweigert, ein Küken zu töten, und damit hatten sie sich als Anhänger einer pazifistischen Auslegung des Christentums zu erkennen gegeben. Eine pazifistische Auslegung des Christentums gab es im Mittelalter aber nicht nur bei Anhängern einer dualistischen Weltanschauung, die als „Manichäer“ eingeordnet und ausgegrenzt werden konnten. Es gab sie auch bei den Waldensern, einer Laien-Bewegung, im 12. Jahrhundert gegründet von Peter Waldes und getragen von der Intention, die katholische Kirche im Kampf gegen die „Ketzer“ zu unterstützen. Konflikte ergaben sich aber bald aufgrund der Weigerung, sich völlig der kirchlichen Hierarchie unterzuordnen und z. B. das Verbot der freien Predigt zu akzeptieren. So wurden die Waldenser schließlich selbst als Häretiker verurteilt und verfolgt. Im 12. Jahrhundert verfasste Alanus ab Insulis (1120–1202), ein gelehrter Kleriker, der auch als Dichter bekannt ist,209 eine Schrift „contra haereticos“, in vier Büchern, von denen das zweite den Waldensern gewidmet ist. Hier setzt Alanus sich u. a. mit der Auffassung auseinander, dass es unter keinen Umständen erlaubt sei, einen Menschen zu töten.210 Er folgt dabei der Methode, die er in diesem Werk immer zur Anwendung bringt: Zunächst wird der Standpunkt der „Häretiker“ dargestellt, indem ihre Begründungen referiert werden, eingeteilt in Autoritätsbeweise und rationale Argumente; dann wird die „Antwort“ aus der Sicht der katholischen Kirche gegeben, indem die Argumente der Häretiker Schritt für Schritt widerlegt werden. Dem Referat des Alanus zufolge haben die Waldenser ihren pazifistischen Standpunkt mit einzelnen Aussagen der Bibel begründet – vor allem aus der Bergpredigt, also dem Neuen Testament, aber auch mit Zitaten aus dem Alten Testament, z. B. Ez 18, sowie mit einzelnen Aussagen Augustins, soweit dieser sich zurückhaltend in Bezug auf Todesurteile geäußert hatte; als rationale Begründung hätten die Waldenser demnach u. a. auf das „natür207 Anselmi gesta episc. Leod. 63f. Vgl. dazu Schmitz-Esser, The Cursed and the Holy Body, 132f. 208 Vgl. dazu Angenendt, Toleranz und Gewalt, 255–257. 209 Vgl. dazu Berner, Antike und Christentum im Mittelalter. 210 Siehe Alanus ab Insulis, contra haereticos, II, 20.

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liche Gesetz“ verwiesen, das als die goldene Regel bekannt ist und das auch in der Bergpredigt erwähnt wird.211 Alanus versucht dann, all diese Argumente zu widerlegen, indem er z. B. erklärt, die Aussage Ezechiels – „Gott will nicht den Tod des Sünders“ – sei auf den Tod der Seele zu beziehen, nicht auf den Tod des Körpers; die Todesstrafe sei also nicht pinzipiell abzulehnen. Er ist allerdings der Meinung, die Todesstrafe sei nur im Fall weltlicher Verbrechen anzuwenden. Und er stellt explizit fest, und dies ist der entscheidende Punkt, dass Häretiker nicht wegen ihrer Häresie getötet werden dürften: wegen ihres „christlichen Charakters“ seien sie vielmehr wieder in die „Schafhürde“ der Kirche zurückzuführen.212 Alanus setzt die Häretiker an dieser Stelle ausdrücklich in Parallele zu den Juden: Auch für diese gilt ja, dass Christen sie nicht töten dürfen – es sei denn, dass sie sich irgendwelcher „weltlichen“ Verbrechen schuldig machen. Mit dieser Meinung, Häretiker dürften nicht mit dem Tod bestraft werden, stand Alanus nicht allein. So hat z. B. Gerhoh von Reichersberg (1092–1169) ausdrücklich erklärt, Arnold von Brescia (1090–1155) – ein Abälard-Schüler und Kirchenkritiker – sei zwar ein Ketzer gewesen, es sei aber nicht richtig gewesen, ihn deshalb zum Tode zu verurteilen und hinzurichten.213 Auch Petrus Cantor (gest. 1197), ein zu seiner Zeit bekannter und einflussreicher Theologe, der an der Pariser Kathedralschule tätig war, hatte sich scharf gegen die Todesstrafe ausgesprochen und außerdem auf Fälle von Missbräuchen in den Ketzerprozessen hingewiesen.214 Im Hinblick auf die Gefahr, dass hartnäckige Häretiker ihre Lehren weiterverbreiten würden und damit andere „infizieren“ würden – später ein Standardargument der Befürworter der Ketzertötung –, plädierte er für die (lebenslängliche) Einkerkerung als Höchststrafe. Und im Hinblick auf die Verbrennung von Katharern verwies er nicht nur darauf, dass im Neuen Testament nur vom Meiden der Häretiker die Rede ist, nicht vom Töten; er verwies auch auf die vergleichsweise humane Praxis der Christenverfolgung bei den Römern – diese hätten den Angeklagten eine Bedenkzeit eingeräumt, und sie hätten nicht versucht, das Gewissen und den Glauben zu erforschen. Diese Auffassung, dass es dem Christentum widerspreche, die Häretiker zu töten, hat sich in der Folgezeit allerdings nicht durchsetzen können, so dass die Feststellung nahe zu liegen scheint: „The protests of Peter on the punishment of heretics were relegated to oblivion for the remainder of the Middle Ages.“215 Als ein Vertreter der Toleranz im Mittelalter könnte auch Anselm von Havelberg (1095–1158) genannt werden, der als Diplomat im Dienste dreier Kaiser tätig war und seine Karriere als Erzbischof von Ravenna beendete. In der Einleitung zu seinen „Dialogen“, in denen es eigentlich um die Beziehung zwischen Rom und 211 Alanus ab Insulis, contra haereticos, II, 21. 212 Alanus ab Insulis, contra haereticos, II, 22. 213 De Investigatione Antichristi I, 40. Vgl. dazu Schmitz-Esser, Arnold von Brescia, 34; 48. 214 Petrus Cantor, verbum abbreviatum LXXVIII. Vgl. dazu Baldwin, The Social Views of Peter the Chanter I, 321f; Müller, Ketzer und Kirche, 185. 215 Baldwin, ebda, 323.

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Byzanz geht, beschreibt er zunächst die wachsende Pluralität kirchlicher Lebensformen. Er verteidigt diese Pluralität gegen konservative Kritik, die keine Neuerungen zulassen will. Um deutlich zu machen, dass es eine Einheit in der Vielheit geben kann – ein Motiv, das eher mit dem Renaissance-Philosophen Cusanus verbunden wird – nennt er eine Reihe von Gestalten aus dem Alten Testament, die keinen einheitlichen Ritus kannten und doch von Gott aufgrund ihres Glaubens angenommen wurden: von Adam bis zu Noah und von Noah bis zu Abraham habe es viele „Gläubige“ gegeben, die dem Naturgesetz gefolgt seien, Gott als den Schöpfer verehrt hätten und „das, was sie für sich nicht wollten, auch keinem ihrer Nächsten antaten“ bzw. „was sie für sich selber wünschten, ihren Nächsten auf menschliche Weise erwiesen“.216 Als Theologe und kirchlicher Amtsträger hat Anselm von Havelberg zwar alle Häresien verurteilt, dabei aber eine bemerkenswert tolerante Einstellung erkennen lassen: Er gibt einen Überblick über die Geschichte der Kirche, gegliedert nach den sieben Siegeln der Johannes-Apokalypse, und hier kommt er auch auf die Gefährdung durch Häretiker sowie durch Heuchler zu sprechen. Er zählt alle Häresien der Frühzeit auf, um dann festzustellen, das „Schlangengift der Häretiker“ sei durch die Konzilien der Alten Kirche unschädlich gemacht worden, und die Kirche sei „in diesem Stadium so durch ihre bewunderswerte Weisheit angesichts der Häretiker“ gewachsen, „wie sie in dem vorhergehenden Stadium bei der Verfolgung der Märtyrer durch ihre siegreiche Geduld gewachsen ist“; das nächste Stadium ist der Kampf gegen die Heuchler in der Kirche, und auch hier redet Anselm nicht der Gewalt das Wort, fordert vielmehr dazu auf, sie zu „ertragen“ (tolerare): „… lasst sie uns in Liebe ertragen und darauf warten und darum beten, dass sie ihre Verstellung ablegen und wahre Brüder werden“. In der Zusammenfassung verwendet Anselm auch das Substantiv „Tolerantia“: „… es litt die Kirche in ihren falschen und heuchlerischen Brüdern und sie wuchs in der Toleranz“.217 Es ist also festzuhalten, dass Anselm nicht dazu aufruft, Häretiker und Heuchler zu verfolgen. Er scheint vielmehr davon auszugehen, dass die Exkommunikation der Häretiker, wie sie auf den Konzilien der Alten Kirche ausgesprochen wurde, das geeignete Mittel ist, die Lehre rein zu erhalten. Dass die alternativen Stimmen nie ganz verstummt sind, ist schon aus der Tatsache ersichtlich, dass die Befürworter der Häretikerverfolgung und -tötung es immer für nötig gehalten haben, ihre Auffassung gegen Kritik zu verteidigen. Dies zeigt sich auch in der „Summa theologica“ des Thomas von Aquin, in der betreffenden „quaestio“, wenn er auf die Frage zu sprechen kommt, ob Häretiker „zu tolerieren seien“.

216 Anselm von Havelberg, Anticimenon I, 3. Vgl. dazu Holze, Toleranz im Mittelalter?, 43f. 217 Anselm von Havelberg, Anticimenon I, 9–11.

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Bevor Thomas diese Frage erörtert, hat er in der vorhergehenden quaestio zunächst einmal festgestellt, dass niemand zum Glauben gezwungen werden dürfe – er scheint also eine tolerante Haltung zu vertreten im Umgang mit Ungläubigen, das sind Heiden und Juden. Seine Toleranz endet allerdings dann, wenn es um „andere Ungläubige“ geht, die den christlichen Glauben einmal angenommen hatten, das sind Häretiker und Abtrünnige: für diese gelte, dass sie „auch mit körperlichen Mitteln zu nötigen“ seien, „zu erfüllen, was sie versprochen, und festzuhalten, was sie ein für allemal angenommen haben“.218 Was darunter zu verstehen ist, wird klar in seiner Auslegung des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen. In korrekt scholastischer Manier hatte er dieses Gleichnis zitiert und dazu zunächst die Auslegung des Kirchenvaters Chrystostomos referiert: Dieser hatte daraus das Verbot, Ketzer zu töten, abgeleitet; als Gegenargument zitiert Thomas dann aber aus dem Brief des Kirchenvaters Augustin, in dem dieser Zwangsmaßnahmen rechtfertigt, und daraus leitet er dann seine Auffassung ab, das Gleichnis vom Unkraut verbiete keineswegs die Tötung der Ketzer. So steht es eigentlich schon von vornherein fest, zu welchem Ergebnis er kommen wird, wenn er in der folgenden quaestio die Frage erörtert, ob Häretiker zu tolerieren seien. Zunächst wird korrekt eine Definition des Begriffes der Häresie gegeben: Sie wird definiert als „eine Art des Unglaubens, geltend für solche, die zwar den Glauben Christi bekennen, aber seine Lehrsätze entstellen“219 Wenn Thomas dann zu der Frage nach der Toleranz kommt, zitiert er zunächst wieder korrekt einige Autoritäten, die für das Gebot der Duldung sprechen (2. Tim 2,24ff; 1. Kor 11,19), um dann Tit 3,10f als Gegen-Autorität zu zitieren – ein geschickter Schachzug, der dem Leser den Eindruck vermittelt, dass ein Apostelwort aus dem Neuen Testament die Todesstrafe für Häretiker empfiehlt.220 Tatsächlich ist an jener Stelle (Tit 3,10f) ja nur davon die Rede, die Häretiker zu meiden, nicht davon, sie zu töten – ein Unterschied, auf den Petrus Cantor ausdrücklich hingewiesen hatte. In seiner „Antwort“ sagt Thomas dann explizit, dass Häretiker nicht zu tolerieren seien und dass diese notwendige Intoleranz auch die Todesstrafe einschließe: Entstellung des wahren Glaubens sei schlimmer als Herstellung falscher Münzen, und wenn Falschmünzer mit Recht getötet werden, dann hätten Häretiker es noch viel mehr verdient, dass sie „nicht nur aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, sondern auch rechtens getötet werden“. Er zitiert dann noch einmal Tit 3,10f und verweist auf die Barmherzigkeit der Kirche, die nach diesem Apostelwort handele und die Häretiker mehrfach ermahne, kommt dann aber zu dem Schluss, dass die Kirche in ihrer Verantwortung für „die Rettung der anderen“ keine andere Wahl habe, als den hartnäckigen Ketzer „dem weltlichen Gericht“ zu überlassen, „damit er durch den Tod von der Welt getilgt werde“. Mit Stillschweigen übergeht Thomas dabei den naheliegenden Einwand, die Ausbreitung der Häresie könne auch durch Einkerkerung der Häretiker verhindert 218 Thomas von Aquin, Summa theologica, II, II, 10,8. 219 Thomas von Aquin, Summa theologica, II, II, 11,1. 220 Siehe Thomas von Aquin, Summa theologica, II, II, 11, 1–3.

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werden, die „Rettung der anderen“ erfordere also keineswegs die Todesstrafe. Dieser Einwand würde auch Geltung haben im Hinblick auf die letzte Überlegung, die Thomas zu diesem Thema anstellt: rückfällige Ketzer seien zwar zur Buße wiederaufzunehmen, um ihnen nicht den Weg des Heils zu verschließen, sie seien aber trotzdem hinzurichten.221 Thomas zufolge zeigt sich in diesem Handeln die „Liebe“ (caritas) der Kirche, eine Auslegung, der z. B. Petrus Cantor und Alanus ab Insulis sicherlich widersprochen hätten. Thomas liefert eigentlich nur eine theologische Rechtfertigung der kirchlichen Praxis, Gewalt gegen Ketzer anzuwenden: Nach dem Scheitern friedlicher Bekehrungsversuche im 12. Jahrhundert, hatte der Papst zu Beginn des 13. Jahrhunderts zu einem „Kreuzzug“ gegen die Katharer in Südfrankreich aufgerufen. Dieses Unternehmen ist bekannt als der „Albigenser-Kreuzzug“, von dem der katholische Kirchen­ historiker Arnold Angenendt sagt, dass er „dann allerdings zum brutalen Eroberungskrieg mit entsetzlichem Blutvergießen wurde und zuletzt der Französischen Krone die Oberherrschaft über den Süden einbrachte“.222 Nachdem die politischen Kräfte, die das Christentum der Katharer geduldet und damit geschützt hatten – das war in erster Linie der Graf von Toulouse –, militärisch ausgeschaltet waren, erschien es aus der Sicht der katholischen Kirche immer noch notwendig, die letzten Katharer zu verfolgen und aufzuspüren. Dies war Aufgabe der Inquisition, einer Institution, die ursprünglich dazu dienen sollte, Missstände innerhalb der katho­lischen Kirche zu korrigieren, die dann aber dazu eingesetzt wurde, Ketzerei zu unterdrücken – also die Monopolstellung der römisch-katholischen Kirche zu sichern.223 In Toulouse, wo 1233 der „erste förmliche Inquisitionsprozess“ stattfand, kam es zu gewalttätigen Konflikten zwischen den Dominikanern, die mit der Inquisition betraut waren, und der städtischen Bevölkerung.224 Die direkt vom Papst ernannten Inquisitoren „waren nicht an die Zustimmung des Ortsbischofs gebunden und konnten kirchliche und weltliche Stellen zur Amtshilfe verpflichten“, und ihre Vollmachten „umschlossen ausdrücklich die Aufspürung, Prozessführung, Verurteilung und Bestrafung“ der Ketzer.225 Mit dieser Aufgabe wurden in erster Linie die Dominikaner betraut, doch auch Franziskaner, also Angehörige der beiden im 13. Jahrhundert entstandenen Bettelorden. Es ist nicht verwunderlich, dass es zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen Inquisitoren und Bischöfen kommen konnte, vor allem dann, wenn es um die Verteilung der konfiszierten Güter ging: Die Arbeit der Inquisition verursachte hohe Kosten, die durch die Konfiskation der Güter verurteilter Ketzer gedeckt wurden. Das Strafmaß variierte, sicherlich auch in Abhängigkeit von der Person des Inquisitors, von leichten Strafen, wie Auferlegung von Bußwallfahrten, bis zur Todestrafe durch Verbrennung. Ein Überblick über das Verhältnis der 221 Siehe Thomas von Aquin, Summa theologica, II, II, 11,4. 222 Angenendt, Toleranz und Gewalt, 268. 223 Vgl. dazu Oberste, Ketzerei und Inquisition, 87–94. 224 Oberste, Der Kreuzzug gegen die Albigenser, 187. 225 Oberste, Ketzerei und Inquisition, 87.

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Strafen ergibt sich aus dem Register des Dominikaners Bernard Gui (1261–1331), durch Umberto Ecos „Der Name der Rose“ sicherlich der bekannteste Inquisitor: Während seiner Tätigkeit in Toulouse (1308 bis 1323) wurden 637 Strafen verhängt, gegen 544 Lebende und gegen 89 Verstorbene. In 41 Fällen lautete das Urteil über Lebende auf Todesstrafe durch Verbrennung. Der Mediävist Jörg Oberste schließt „nach abwägendem Vergleich“ auf „eine durchschnittliche Hinrichtungsquote von ca. fünf Prozent“.226 Einen Einblick in den Ablauf eines Inquisitionsverfahrens geben die Protokolle, die Jacques Fournier hinterlassen hat, von 1317 bis 1327 Bischof von Pamiers, bekannt vielleicht eher als Papst Benedikt XII in Avignon (1334–1342), wo er den Papstpalast ausbauen und ausschmücken ließ. Er war u. a. auch an dem Prozess gegen den bekannten Mystiker Meister Eckart beteiligt, so dass der Mediävist Emmanuel LeRoyLadurie mit Recht feststellen konnte, Jacques Fournier habe die „vermeintlich oder wirklich in ihrem Bestand bedrohte Papstkirche gegen einige der besten Geister seines Jahrhunderts“ verteidigt.227 Seine Tätigkeit als Bischof und Inquisitor ist gut dokumentiert und erforscht, vor allem durch das Buch von LeRoyLadurie: „Montaillou – ein Dorf vor dem Inquisitor“. Als Bischof von Pamiers hat Jacques Fournier erfolgreich die Finanzen seiner Diözese saniert, durch Erhebung neuer Steuern; und als Inquisitor hat er sich durch seine Erfolge bei der Bekämpfung der Häresie das Lob des Papstes Johannes XXII verdient, zu dessen Nachfolger er später gewählt wurde. Als Bischof von Pamiers hat er nicht nur die letzten Katharer verfolgt und aufgespürt, sondern auch einige Waldenser. Wenn die Verfolgung der Katharer noch als Kampf gegen eine andere Weltanschauung gedeutet werden könnte – als Konflikt zwischen Monotheismus und Dualismus –, so gilt dies jedenfalls nicht für die Verfolgung der Waldenser. Letztere vertraten den gleichen Monotheismus wie die katholische Kirche, wie sich im Verhör des Waldensers Raimund da Costa zeigt.228 Der Konflikt mit den Waldensern ergab sich daraus, dass diese die Autorität Jesu höher einschätzen als die des Papstes, also den absoluten Gehorsam gegenüber der katholischen Kirche verweigern. So weigert sich der Angeklagte, Raimund da Costa, gleich zu Beginn des Verhörs, zu schwören. Er beruft sich dabei auf die Aussage Jesu in der Bergpredigt (Mt 5,34), deren Autorität ihm eben mehr gilt als ein Dekret des Papstes und alle Aussagen der Kirchenväter.229 Ein anderer Punkt, in dem sich ein Autoritätskonflikt ergibt, ist die im Mittelalter aufgekommene Lehre vom Fegefeuer, dem Purgatorium: Auch hier beruft sich der Waldenser auf eine Aussage Jesu im Neuen Testament (Lk 23,43), und er ist nicht bereit, die Lehre der Kirche zu akzeptieren, da sie ihm der Lehre Jesu zu widersprechen scheint.230 Zu 226 Oberste, ebda, 101f. 227 LeRoyLadurie, Montaillou, 25. Zur Biographie von Jacques Fournier und zu seiner Tätigkeit als Bischof/Inquisitor vgl. auch Müller, Ketzer und Kirche, 249–251. 228 Le Registre d’Inquisition de Jacques Fournier I, 43. 229 Ebda, I, 40; 51; 107; 114. 230 Ebda, I, 103; 110f.

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den „Irrtümern“ des Waldensers, wie sie abschließend im Protokoll aufgelistet werden, gehört auch, dass er jede Gewalt ablehnt und es insbesondere als eine Sünde betrachtet, hartnäckige Ketzer mit dem Tode zu bestrafen.231 Der angeklagte Waldenser ist dabei so weit gegangen, sich für den Fall seiner Hinrichtung mit den frühchristlichen Märtyrern, wie z. B. Stephanus, zu vergleichen – eine kirchen­ kritische Betrachtung, die dem Inquisitor und dessen Tribunal die Rolle der Juden zuweist, die, wie auch Saulus vor seiner Bekehrung zum Paulus, die Christen verfolgt haben.232 Noch einen Schritt weiter ging Prous Boneta, die 1325 vor dem Inquisitions­gericht in Carcassone stand: Sie verglich den amtierenden Papst Johannes XXII, der Ketzer verbrennen ließ, mit dem Hohepriester Kaiphas, der Christus kreuzigen ließ.233

Zu dem Verfahren der Inquisition gehörte es auch, dass die Angeklagten nicht nur der Häresie abschwören mussten, sondern auch die Namen der ihnen bekannten Häretiker nennen mussten. Diese Bereitschaft zur Denunziation sollte die Reue der Angeklagten und ihre Rückkehr in die katholische Kirche glaubhaft erscheinen lassen. Auch in diesem Punkt hat der angeklagte Waldenser Raimund da Costa die Kooperation mit der Inquisition verweigert, wie aus dem Schluss des Protokolls hervorgeht.234 Seine Verurteilung war also unausweichlich, obwohl festzuhalten ist, dass Jacques Fournier, der als Inquisitor fungierende Bischof, sich die größte Mühe gegeben hat, den Angeklagten durch ausführliche Belehrung und wiederholte Ermahnungen zu der aus seiner Sicht einzig wahren Lehre zu bekehren. Hier zeigt sich die letzte Grundlage des Konfliktes: Der Angeklagte war durchaus bereit, mehrere Kirchen und damit eine Pluralität von Auslegungen des Christentums als gleichberechtigt anzuerkennen – in beiden Kirchen, so gab er zu Protokoll, könne Vergebung der Sünden erlangt werden.235 Auf dieses Angebot, eine religiöse Pluralität zuzulassen, konnte und wollte der Bischof allerdings nicht eingehen, denn es hätte die Monopolstellung der katholischen Kirche untergraben. Und diese Stellung war durchaus gefährdet, insofern als nicht nur theologische Lehren der katholischen Kirche, z. B. die Eucharistie betreffend, in der einfachen Bevölkerung auf Unglauben stießen, sondern auch ihre Praxis, z. B. die Einziehung des Zehnten – gerade durch neue Kirchensteuern hatte Jacques Fournier sich bei den Bauern seiner Diözese unbeliebt gemacht. Die Drohung der Exkommunikation für den Fall, dass die Steuern verweigert würden, erschien den Betroffenen als ein Mittel zur Ausbeutung – als eine Erfindung des Klerus, die keine Grundlage in 231 Ebda, I, 112; 120. Das Protokoll vermittelt den Eindruck, dass der Angeklagte nach anfänglichem Zögern (I, 87) sich erst am Schluss zu diesem Bekenntnis durchgerungen hat. 232 Ebda, I, 72. 233 Siehe Prous Boneta, Confession, 12. Vgl dazu Müller, Der Prozess gegen Prous Boneta, 203f. 234 Siehe Jacques Fournier, Le Registre d’Inquisition I, 118. 235 Siehe ebda, I, 87.

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der Verkündigung Jesu habe.236 Die „Unzufriedenheit mit der katholischen Kirche“ war weit verbreitet, so dass mit Recht von einer Legitimations- oder Autoritätskrise gesprochen werden kann.237 Das Amt der Inquisition (officium inquisitionis) war ja eben zu dem Zweck geschaffen worden, diese Krise zu überwinden und die Monopolstellung der Kirche zu sichern, wenn nötig durch Gewalt – seit 1252 war auch die Folter im Inquisitionsprozess zugelassen. Diese Entwicklung war aber auch innerhalb der katholischen Kirche selbst nicht unumstritten, und es gab immer wieder kritische Stimmen, nicht nur gegen die Missbräuche in der inquisitorischen Praxis, sondern auch gegen den Machtanspruch der Kirche überhaupt. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts machte sich der Franziskaner Bernardus Delitiosus zum Sprecher der Menschen, die, wie er meinte, zu Unrecht von der Inquisition verfolgt wurden. Den Höhepunkt seiner zunächst erfolgreichen Tätigkeit erreichte er im Jahre 1306, als es ihm gelang, die Gefangenen der Inquisition aus dem Gefängnis in Carcassone zu befreien. Zunächst hatte er auch Erfolg mit seiner Appellation an den französischen König, dem er über Missstände in der Arbeit der Inquisitoren berichtete. Dies änderte sich aber, als er durch ungeschickte politische Manöver den Rückhalt bei der französichen Krone verlor. Er wurde schließlich selbst als Häretiker angeklagt und im Jahre 1319 in einem Inquisitionsverfahren, das auch die Folter einschloss, zu lebenslanger, verschärfter Haft verurteilt – in eben jenem Turm, aus dem er zur Zeit seiner Erfolge die Gefangenen befreit hatte.238 Die Akten seines Prozesses sind erhalten, und daraus geht hervor, dass es eben nicht um die Frage ging, ob er mit seinen konkreten Vorwürfen gegen die Arbeit der Inquisitoren – Dominikaner – im Recht gewesen war; es ging vielmehr darum, dass er durch seine öffentliche Kritik und seine Eingaben an den König die Arbeit der Inquisition – des officium inquisitionis – behindert und den Ruf der Dominikaner geschädigt hatte.239 Dieser Vorwurf wird auch genannt in dem Bericht des Franziskaners Angelus Clarenus, der über den Streit zwischen den Dominikanern und den Franziskanern berichtet. In diesem Bericht wird Bernardus Delitiosus als ein vorbildlicher Christ dargestellt, der zu Unrecht verurteilt wurde.240 Es ging also eigentlich darum, dass er den (Menschen)Rechten der betroffenen Individuen – einzelner Christen, die der Häresie verdächtigt und deshalb in Haft gehalten wurden – Vorrang gegeben hatte vor dem Interesse der Kirche als Institution. Seine Häresie bestand also nicht in einer Abweichung von Sätzen des Bekenntnisses, sondern in dem Ungehorsam gegenüber dem Papst, der die Inquisitoren mit der Aufgabe betraut hatte, Häretiker aufzuspüren. Ungehorsam gegenüber dem Papst galt aber als eine Häresie, die mit dem Tod zu bestrafen war, wie auch aus jenem Bericht des Franziskaners Angelus Clarenus hervorgeht: Vier Franziskaner wur236 Siehe ebda, I, 236–238; III, 434. Vgl. dazu Weis, Die Welt ist des Teufels, 341f. 237 Siehe Thomassen, Ketzerei im Mittelalter, 93; Auffarth, Die Ketzer, 16f. 238 Vgl. dazu Friedlander, The Hammer of the Inquisitors, 169–177; 258–264. 239 Siehe Friedlander, The Trial of Fr. Bernard Delicieux, 53–79. 240 Angelus Clarenus, Historia septem tribulationum ordinis minorum VII (S. 293; 299).

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den verbrannt, weil sie dem Papst das Recht bestritten hatten, die Regel des heiligen Franz zu ändern.241 Zur gleichen Zeit, im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts, vertrat Marsilius von Padua (1275–1342) die Interessen der weltlichen Herrscher gegenüber dem Machtanspruch des Papstes – es war dies „der letzte große mittelalterliche Konflikt zwischen Kaisertum und Papsttum“.242 In seinem Hauptwerk, dem „Defensor Pacis“ – „Verteidiger des Friedens“ – beklagt er den Unfrieden in seiner Zeit und erklärt den Frieden zum Zentrum der Verkündigung Jesu. Gleich im ersten Kapitel verweist er auf die Friedensbotschaft der Weihnachtsgeschichte und u. a. auf die Abschiedsreden im Johannes-Evangelium. Das ganze Werk, so sein Anspruch, soll die verborgenen Ursachen aufdecken, die den Frieden zerstören. Diese Ursachen erkennt er letztlich in dem päpstlichen Machtanspruch, der unbegründet sei und auf einer falschen Auslegung des Christentums beruhe:243 „sehr viele Gläubige“ seien durch Fehlschluß zu der Meinung gebracht worden, der römische Bischof samt seinen Klerikern, den sogenannten Kardinälen, könne über die Gläubigen bestimmen, was sie wollen; dies zu befolgen, seien alle durch göttliches Gesetz verpflichtet; … Das ist jedoch … das offenbare Gegenteil der Wahrheit. Die Frage ist nun, ob Marsilius mit dieser Absage an den Machtanspruch des Papstes einen Weg zu Toleranz und Pluralismus eröffnen wollte. Tatsächlich hat er den Priestern und Bischöfen die Macht abgesprochen, Häretiker in diesem Leben zu bestrafen. Es gibt nur einen einzigen Richter, Marsilius zufolge, der Verstöße gegen das göttliche Gesetz strafen kann und darf, und das ist Christus:244 Christus jedoch wollte und ordnete an, alle Übertreter dieses Gesetzes sollten durch ein zwingendes Gericht erst in der kommenden Welt gerichtet … werden, nicht in der irdischen … Denn bis zum letzten (Augenblick), dem Übergang aus dieser Welt, dem Tode, hat er in seiner Barmherzigkeit den Sündern die Möglichkeit gewährt, sich Verdienste zu erwerben und zu bereuen. Der Bischof sei Richter nur in einer anderen Bedeutung: seine Aufgabe bestehe (nur) darin, die Häretiker „zu belehren, zu ermahnen, zu überführen, zu rügen“ und durch den Verweis auf „ein Gericht in der kommenden Welt mit der ihnen drohenden Verdammung und mit Verhängung einer Strafe durch den zwingenden Richter, Christus, zu schrecken“.245 Wenn die Priester und Bischöfe zwar die Häresien verurteilen können, das Urteil aber nicht vollstrecken dürfen, dann könnte 241 Siehe Angelus Clarenus, Historia VII, S. 296. 242 Goez, Papsttum und Kaisertum, 100. 243 Marsilius von Padua, Defensor pacis, II, 26,19. 244 Marsilius von Padua, Defensor pacis, II, 10,2; vgl. II, 9,1. 245 Marsilius von Padua, Defensor pacis, II, 10,2.

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zunächst gefolgert werden, dass Marsilius volle Gewissensfreiheit für die Menschen gewährt wissen und damit den Weg zur religiösen Toleranz beschreiten will. Gegen diese Folgerung hat der Jesuit Josef Lecler geltend gemacht, dass Marsilius die Vollstreckung des Urteils, also Zwangsmaßnahmen gegen Häretiker, keineswegs ausschließe, dass er sie nur in den Verantwortungsbereich des weltlichen Herrschers verschiebe – Marsilius ist, Lecler zufolge, deshalb nur ein „Pseudoverteidiger der Gewissensfreiheit“.246 Tatsächlich hat Marsilius dem weltlichen Herrscher die Freiheit zugestanden, Häresien in seinem Machtbereich zu verbieten oder zu erlauben.247 Im ersteren Fall würden die Häretiker zwar bestraft, aber nur wegen eines Verstoßes gegen welt­liches Recht, nicht gegen göttliches Recht. Und es wäre anzunehmen, dass Marsilius nicht an die Todesstrafe gedacht hat, sondern nur an die Ausweisung als Höchststrafe, da er ja ausdrücklich festgestellt hat, Christus wolle in seiner Barmherzigkeit jedem Menschen bis zu seinem natürlichen Tode die Möglichkeit zur Umkehr geben – das weltliche Recht würde also dem göttlichen Recht widersprechen, wenn es die Todesstrafe für Häretiker vorsehen würde. Im zweiten Fall, wenn der weltliche Herrscher die Häresien duldet, würden die Priester und Bischöfe jedenfalls daran gehindert, ihr Urteil durch den Staat vollstrecken zu lassen, denn der weltliche Herrscher wäre nicht an ihr Urteil gebunden. Das ist ein entscheidender Unterschied im Vergleich zur Lehre des Thomas von Aquin: Dieser hatte dem „weltlichen Arm“ ja nur die Funktion zugebilligt, das Urteil der Kirche zu vollstrecken – kein Herrscher „im christlichen Europa“ konnte demnach „seine Herrschaft zu Recht beanspruchen, wenn er der Kirche nicht im Kampf gegen die Häresien beistand“,248 und damit war auch der Albigenser-Kreuzzug theologisch legitimiert. Der Fall, dass ein weltlicher Herrscher eine Häresie in seinem Machtbereich duldet, also eine religiös pluralistische Situation zulässt, war ja gerade im 12. Jahrhundert gegeben, im Machtbereich des Grafen von Toulouse, und in der städtischen Führungsschicht gab es dort bereits ein „tolerantes Nebeneinander“ von Katharern und Katholiken.249 Auf ein solches friedliches Nebeneinander lässt auch die Tatsache schließen, dass die katholischen Bürger von Beziers sich geweigert hatten, wie der katholische Chronist berichtet, die Katharer ihrer Stadt dem Belagerungsheer auszuliefern – eine Entscheidung, die fatale Konsequenzen für sie hatte, da nach der Eroberung alle Einwohner der Stadt getötet wurden.250 Aus der Sicht des Marsilius von Padua erscheint eine pluralistische Situation, wie sie in der Grafschaft Toulouse im 12./13. Jahrhundert gegeben war, völlig legitim, und die Kirche hätte es bei dem Versuch der Belehrung und dem drohenden Hinweis auf das Jüngste Gericht belassen müssen; keinesfalls hätte sie zum Kreuzzug aufru246 Lecler, Geschichte der Religionsfreiheit I, 161–165. 247 Marsilius von Padua, Defensor pacis, II, 10,7. 248 Oberste, Der Kreuzzug gegen die Albigenser, 39. 249 Oberste, ebda, 41. 250 Siehe Pierre des Vaux-de-Cernay, Historia Albigensis, S. 39–41.

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fen und die Entmachtung des Grafen von Toulouse betreiben dürfen. Diese klare Trennung zwischen den „Feldern“ – um die Metapher Bourdieus aufzunehmen – der Religion und der Politik, wie Marsilius von Padua sie eingeführt hatte, kann also doch als ein Schritt auf dem Weg zur religiösen Toleranz betrachtet werden. Aufkommen und Unterdrückung der katharischen „Häresie“ bietet ein gutes Beispiel zur Bestätigung von Rodney Starks Theorie der religiösen Ökonomie:251 Ohne staatliche Regulierung tendiert der religiöse Markt zum Pluralismus, weil die religiösen Neigungen und Bedürfnisse auf der individuellen Ebene verschieden sind. Eine einzelne religiöse Firma kann das Monopol nur mit staatlicher Unterstützung durchsetzen und erhalten; es ist aber keiner einzelnen religiösen Firma möglich, alle Nischen des Marktes zu besetzen und zu versorgen. Deshalb bleibt die Tendenz zum Pluralismus als latente Gefahr erhalten, und es entstehen immer wieder individuelle Abweichungen und religiöse Bewegungen, die dann als „Häresien“ bekämpft werden.

Exkurs: Religionsverfolgung und Inquisition außerhalb des Christentums Wenn es einen inneren Zusammenhang zwischen Monotheismus, Intoleranz und Gewalt gibt, dann wäre zu erwarten, dass es Religionsverfolgung und Inquisition auch im Islam geben würde. Tatsächlich begegnen beide Begriffe in großen Darstellungen der islamischen Welt. Es geht dabei allerdings nur um eine begrenzte Episode in der frühen Geschichte des Islams: um religionspolitische Maßnahmen des Kalifen al-Mamun. Tilman Nagel verwendet in seiner Beschreibung dieser Maßnahme den Begriff der Inquisition, der sofort einen Vergleich mit dem Christentum nahelegt: „Im Jahre 833, kurz vor seinem Tod, erließ er eine Verfügung, mit der er eine Inquisition einsetzte, die alle Amtsinhaber auf ihre Rechtgläubigkeit im Sinne seiner Lehren überprüfen sollte.“252 Unter den Nachfolgern al-Mamuns sei die „Inquisition“, mit „wechselhafter Tatkraft fortgeführt“, allerdings schon bald, unter dem Kalifen al-Mutawakkil, im Jahre 847 wieder aufgehoben worden.253 Neben dem Begriff der Inquisition erinnert auch die Rede von der „Überprüfung der Rechtgläubigkeit“ stark an die Entwicklung des Christentums im Mittelalter – eben an die Intoleranz, die keine Abweichung von der reinen Lehre duldet und die deshalb die Vertreter abweichender Meinungen aufzuspüren versucht. Ein anderer Islamwissenschaftler, Josef van Ess, vermeidet den Begriff der Inquisition und verwendet konsequent den arabischen Begriff „mihna“ – sicherlich bewusst, um vorschnelle Gleichsetzungen zu verhindern. Er beschreibt diese „mihna“ aber ebenso 251 Siehe Stark/Finke, Acts of Faith, 193–217, bes. 198f. 252 Nagel, Die islamische Welt, 63. Vgl. ders., Rechtleitung und Kalifat, 256. Auch Rudi Paret hatte den Begriff der Inquisition verwendet (Toleranz und Intoleranz im Islam, 357f). 253 Nagel, Die islamische Welt, 64; ders., Rechtleitung und Kalifat, 484.

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als eine Prüfung der „Rechtgläubigkeit“, der „die maßgeblichen Juristen und Religionsgelehrten der Hauptstadt“ unterzogen wurden, „vor allem diejenigen, welche ein Amt bekleideten oder ein staatliches Gehalt bezogen“, und er spricht auch von einer „Religionsverfolgung“, die unter dem Kalifen al-Mamun stattgefunden habe.254 In dieser „Verfolgung“ soll es immerhin zu Auspeitschungen und sogar zu einzelnen Hinrichtungen gekommen sein.255 Schon im Hinblick auf die zeitliche Ausdehnung ist die „mihna“, wie sie durch den Kalifen al-Mamun eingeführt wurde, also nicht mit der Inquisition vergleichbar, die im 13. Jahrhundert in der römisch-katholischen Kirche eingerichtet wurde und weit in die Frühe Neuzeit hinein Bestand gehabt hat. Ein Vergleich, wie er durch die Verwendung des Inquisitions-Begriffes in einer islamwissenschaftlichen Darstellung implizit angedeutet wird, erscheint aber doch sinnvoll, wenn es in beiden Fällen darum ging, Irrlehren zu unterdrücken und ihre Vertreter zu verfolgen – also keine Abweichungen von der einen wahren Lehre zu dulden und Häretiker nicht zu tolerieren. Auch im Hinblick auf den Inhalt der wahren Lehre, die jeweils durch die mihna bzw. durch die Inquisition geschützt werden sollte, ist ein Vergleich durchaus von Interesse: Die „Rechtgläubigkeit“, die al-Mamun durch seine Maßnahmen prüfen und durchsetzen wollte, bestand in dem Glauben an die Erschaffenheit des Korans, eine Vorstellung, die im Widerspruch stand zu dem Glauben an die Ewigkeit des Korans – eine Kontroverse, die an christlich-theologische Debatten über die Ewigkeit oder Erschaffenheit des „Sohnes“ erinnert.

Überraschend ist vielleicht, dass es auch im Zoroastrismus, also einer Religion, die nicht zu den „abrahamitischen“ Monotheismen gehört, Vorgänge gegeben hat, die mit der Inquisition im Christentum verglichen werden konnten, und zwar gerade mit der spanischen Inquisition.256 Ebenso überraschend könnte es erscheinen, dass es auch in Japan, im 17. Jahrhundert Vorgänge und Maßnahmen gegeben hat, die als Religionsverfolgung und Inquisition beschrieben worden sind. Die ersten christlichen Missionare, Jesuiten, waren schon in der Mitte des 16. Jahrhunderts in Japan gelandet, und für einige Jahrzehnte schien ihre Mission einigermaßen erfolgreich zu sein. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts zeigten die überregionalen Machthaber, die das Reich einigten, wie Oda Nabunaga und Toyetomi Hideyoshi, eine positive Einstellung gegenüber den christlichen Missionare, während sie die militanten Buddhisten bekämpften.257 254 van Ess, Theologie und Gesellschaft, 446f; 472. 255 Siehe van Ess, ebda, 465; 472. Vgl. Paret, Toleranz und Intoleranz, 358; Nagel, Rechtleitung und Kalifat, 444; 464. 256 Siehe Boyce, Toleranz und Intoleranz im Zoroastrismus, 332/333. 257 Vgl. dazu Drummond, A History of Christianity in Japan, 73–77.

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Diese Politik änderte sich, für die europäischen Missionare überraschend, im Jahre 1587, als Hideyoshi ein Edikt zur Ausweisung der Jesuiten erließ: „In the language of the decree the only particularized charge stated was that in Japan, which is the land of the Kami, the padres converted people to their devilish creed and destroyed Shinto Shrines and Buddhist temples. Portugese merchants, however, … were not forbidden to enter Japan so long as they did not interfere with the laws of the Shinto and Buddhist deities.“258 Es liegt auf der Hand, dass die religionspolitischen Maßnahmen der Folgezeit durch politische und ökonomische Motive bestimmt waren, doch hatten die Jesuiten, durch ihre radikale Kritik des Buddhismus, die Opposition der japanischen Buddhisten hervorgerufen und den politischen Machthabern zumindest einen Vorwand geliefert, das Christentum als Gefahr für den Staat darzustellen und zu unterdrücken. Die christenfeindlichen Maßnahmen wurden zunächst noch nicht konsequent umgesetzt, auch wenn es schon 1597 zu ersten Exekutionen kam.259 Weitere Edikte unter den Nachfolgern Hideyoshis, Ieyasu und Hidetada, in den Jahren 1614 und 1616, brachten eine Bestätigung und Verschärfung der christenfeindlichen Politik, und es begann eine Phase der Christenverfolgung, die das Ziel verfolgte, durch Anwendung der Folter die Apostasie zu erzwingen.260 Eine neue Phase der Verfolgung begann 1640, als eine staatliche Institution gegründet wurde, „a kind of permanent religious inquisition“, mit der Aufgabe, die Anhänger des Christentums, die im Untergrund lebten, aufzuspüren.261 Die Instruktionen für die Amtsträger erinnern tatsächlich an die Handbücher der christlichen Inquisitoren im mittelalterlichen Christentum, so dass es plausibel erscheint, wenn George Elison in Bezug auf das 1640 geschaffene Amt des shumon-aratame yaku feststellt: „… the name translates very well as Inquisitor“.262 Diese Institution wurde erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts abgeschafft, ist also in ihrer zeitlichen Ausdehnung schon eher mit der christlichen Inquisition vergleichbar. Der Vergleich liegt auch deshalb nahe, weil es in Japan ebenfalls darum ging, die Pluralität der Religionen zu reduzieren und die Monopolstellung einer Religion, der einheimischen, zu sichern: Alle Japaner mussten sich bei einem buddhistischen Tempel registrieren lassen, so dass ihre religiöse „Konformität“ überwacht werden konnte.263 Das Beispiel aus der japanischen Religionsgeschichte zeigt jedenfalls, dass es nicht möglich ist, Religionsverfolgung und Inquisition einfach dem Monotheismus zuzuordnen und den Monotheismus „unter Gewaltverdacht“ zu stellen.264

258 Drummond, History, 80/81. 259 Siehe Drummond, ebda, 86. 260 Siehe Drummond, ebda, 95–108. 261 Drummond, ebda, 109. 262 Elison, Deus Destroyed, 195; 204–207. 263 Siehe Drummond, History, 95/96. 264 Siehe den Titel des Sammelbandes, in dem Assmann, Monotheismus der Treue, enthalten ist: „Monotheismus unter Gewaltverdacht“.

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6.2.3 T oleranz-Debatten in der Frühen Neuzeit: „Sind Häretiker zu verfolgen?“ Diese Frage, Titel einer kleinen Schrift im Jahre 1554, eröffnete eine Toleranz-­ Debatte in der Frühen Neuzeit, bekannt am ehesten vielleicht durch die literarische Darstellung des jüdischen Schriftstellers Stefan Zweig, verfasst während der NS-­Diktatur. Es handelte sich um ein Sammelwerk, verfasst und zusammengestellt von Sebastian Castellio, einem ehemaligen Mitarbeiter Calvins, der sich wegen Meinungsverschiedenheiten von Genf nach Basel begeben hatte, wo er zunächst in einer Druckerei und später an der Universität tätig war. Castellio stellte Äußerungen bekannter Theologen zusammen – darunter auch Luther und Calvin selbst in ihren frühen Werken –, die sich zur Toleranz bekannt hatten, und er fügte eigene Texte hinzu, zum Teil unter einem Pseudonym. Castellio beantwortete die im Titel gestellte Frage mit einem klaren „Nein“, vertrat also die Gegenposition zu Thomas von Aquin. So könnte die Annahme naheliegend erscheinen, dass es sich um eine interkonfessionelle Debatte handelt, in der die Vertreter der Reformation, die den Machtanspruch des Papstes nicht anerkennen, gegen die Intoleranz der katholischen Kirche Stellung beziehen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber ein ganz anderes Bild: Konkreter Anlass für diese Toleranz-Debatte war ein Ereignis im reformierten Genf, wo im Oktober 1553 Michael Servet als Häretiker lebendig verbrannt worden war. Die gegensätzlichen Positionen, die es in der katholischen Theologie des Mittelalters gegeben hatte, treten also innerhalb der reformatorischen Theologie wieder in Erscheinung. Der aus Spanien stammende Servet war als Geograph und Mediziner tätig gewesen, hatte aber auch einige theologische Schriften verfasst, in denen er die Trinitätslehre kritisierte und eine radikale Reform des Christentums forderte. Der Ansatzpunkt seiner kritischen Überlegungen war die Feststellung, dass der Begriff der Trinität im Neuen Testament gar nicht vorkommt. Die komplizierte Trinitätslehre erschien ihm deshalb als unnötig und irreführend, außerdem als Ursache für die Entstehung des Islams. Er hatte frühzeitig den Kontakt mit Calvin gesucht, war aber bald abgewiesen worden. Wegen seiner theologischen Auffassungen war er von der katholischen Inquisition in Lyon verhaftet worden, war aber entkommen und wurde auf Betreiben Calvins in Genf wieder verhaftet. Dort erlitt er dann das Schicksal, das ihn beinahe schon in Lyon bei den Katholiken ereilt hätte. Wer von der Reformation einen Schritt auf dem Weg zu religiöser Toleranz erwartet hatte – wie offensichtlich Castellio –, musste sich enttäuscht sehen und sich die Frage stellen, ob die Reformierten ebenso intolerant seien wie die Papisten. Tatsächlich erhielt Calvin, der Reformator in Genf, viel Zustimmung von führenden Vertretern der protestantischen Kirchen, so z. B. von Melanchthon, der aus dem lutherischen Wittenberg schrieb:265 265 Brief vom 14. Oktober 1554. Siehe Melanchthon, Opera VIII, Sp. 362 (= Calvin, Opera XV, 268). Übersetzung: Lecler, Geschichte der Religionsfreiheit I, 454.

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Ich stimme Eurem Urteil völlig zu. Ich behaupte, daß Eure Magistrate recht handelten, als sie einen Lästerer nach einem ordnungsgemäßen Urteil zum Tode verdammten. Ein Jahr später bekräftigte Melanchthon seine Zustimmung noch einmal, in einem Brief an Bullinger, den Nachfolger Zwinglis in Zürich: die Hinrichtung des Häretikers sei richtig gewesen, und er fügte noch hinzu: „Ich wundere mich, daß es Menschen gibt, die diese Härte tadeln.“266 Wie es mit dem – allerdings wenig bekannten – Namen Castellio schon angedeutet ist, gab es unter evangelischen Theologen aber nicht nur Zustimmung, sondern auch Protest: Es sind immerhin zwei Verteidigungsschriften erhalten sowie anonyme „Verse zugunsten Servets“.267 So sah Calvin sich veranlasst, seine Auffassung in einer Schrift zur „Verteidigung des orthodoxen Glaubens“, die 1554 erschien, öffentlich zu begründen und sich gegen seine Kritiker zu verteidigen. Gleichzeitig hatte Castellio das oben genannte Werk vorbereitet und anonym veröffentlicht. Als Antwort auf Calvins „Verteidigung“ verfasste Castellio dann noch eine Gegenschrift „Contra Calvinum“, in der er Aussagen Calvins wörtlich zitiert, um sie dann – unter dem rätselhaften Pseudonym „Vaticanus“ – zu widerlegen; dieses Werk wurde aber erst später veröffentlicht. Der Calvin-Anhänger Theodor Beza griff in die Debatte ein und kritisierte Castellio scharf, was wiederum eine Antwort Castellios hervorrief, der nun gegenüber Beza die Auffassung verteidigte, dass Häretiker nicht zu bestrafen seien. Wenn der Blick ganz auf die theologischen Kontroversen zwischen den Konfessionen fokussiert ist, wie z. B. auf die Abendmahlslehre, dann gerät leicht in Vergessenheit, dass die führenden Gestalten der Reformation in der Frage, wie Ketzer zu behandeln seien, mit der Papstkirche übereinstimmten. So konnte der Soziologe Ulrich Beck behaupten: „Martin Luther und John Calvin, die gegen den „institutionalisierten Irrglauben“ der katholischen Kirche rebellierten, waren, was die blutige Intoleranz betrifft, mindestens so katholisch wie die Katholiken.“268 Es sollte nur hinzugefügt werden, dass es auch schon im Mittelalter, also unter den Katholiken, Protest gegen die „blutige Intoleranz“ gegeben hat.

Zutreffend ist jedenfalls, dass Calvin und Melanchthon, wie der Fall Servet zeigt, dieselbe Auffassung vertreten haben wie Thomas von Aquin: unbelehrbare Häretiker seien nicht zu tolerieren, sondern zu töten. Unterschiede gab es nur in der Beantwortung der Frage, wer die Häretiker seien, die mit Recht getötet werden. Und es 266 Brief vom 20. August 1555. Siehe Melanchthon, Opera VIII, Sp. 523. Übersetzung: Lecler, ebda, 353. 267 Siehe Plath, Der Fall Servet, 177–190. 268 Beck, Der eigene Gott, 143.

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ist eben diese Situation, die Castellio in den Blick zu rücken versucht, um auf ihre Absurdität aufmerksam zu machen: In dem Vorwort, an den Herzog von Württemberg gerichtet, stellt Castellio, unter dem Pseudonym Martinus Bellius schreibend, fest, er habe „trotz vieler Nachforschungen darüber, was ein Ketzer sei, nichts anderes feststellen“ können als dass jeder für einen Ketzer gilt, der anders denkt als wir. Dies erhellt bereits aus der Tatsache, dass es unter allen Sekten (…) kaum eine gibt, die nicht die andern für Ketzer hält, so dass du, wenn du in der einen Stadt oder Gegend ein Rechtgläubiger bist, in der nächsten als Ketzer giltst.269 Unter dem Pseudonym Basilius Montfort schreibend, zitiert Castellio eine der Begründungen, die von den Befürwortern der Gewalt vorgebracht wird: Die Häretiker, „welche die Heilige Schrift falsch auslegen“ würden andere „vom wahren Gottesdienst“ ablenken und damit „zur Verehrung fremder Götter“ aufrufen. Aus der Sicht Castellios ist das „teuflisch erdacht zum Zweck des Blutvergießens“, denn, so meint Castellio, „Gott verzeiht die Unwissenheit“, wäre also nicht beleidigt, wenn die Schrift falsch ausgelegt wird.270 Und diesen Grundsatz wollte Castellio eben auch auf den Fall Servet angewendet wissen: Dieser habe nach bestem Wissen und Gewissen eine eigene Auslegung der Trinität – Vater, Sohn, Heiliger Geist – gegeben, und wenn er darin geirrt habe, so sei dies kein Verbrechen, und schon gar kein todeswürdiges Verbrechen. Castellio hat seine Auffassung, dass Häretiker nicht zu töten sind, auf mehrfache Weise begründet, u. a. durch den Anschluss an jene exegetische Tradition, die das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,28– 30) auf die Häretiker bezieht:271 Lasst uns dem gerechten Richter gehorchen und das Unkraut stehenlassen bis zur Ernte, auf dass wir nicht etwa, indem wir klüger sein wollen als der Meister, das Korn mitausreißen. Denn noch ist das Ende der Welt nicht gekommen, und wir sind nicht die Engel, denen diese Aufgabe aufgetragen ist. Demgegenüber hat Calvin die Meinung vertreten, ebenso wie Thomas von Aquin, jenes Gleichnis könne nicht als Argument gegen die Ketzertötung verwendet werden. Er sah die Gefahr, dass „nicht nur die Obrigkeit am Gebrauch des Schwertes gehindert, sondern notwendigerweise die ganze Kirchenzucht abgeschafft“ wird.272 Calvin hat seine Position natürlich auch durch biblische Belege zu begründen versucht, nicht nur aus dem Alten, sondern auch aus dem Neuen Testament. Im Alten Testament bietet sich als Erstes jene Geschichte an, die auch Assmann in der moder269 Castellio, Über Ketzer, S. 65. 270 Castellio, Über Ketzer, S. 177. 271 Castellio, Über Ketzer, S. 156. 272 Siehe Castellio, Gegen Calvin, Nr. 96 (S. 157).

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nen Monotheismus-Debatte immer wieder zitiert hat: Moses’ Aufforderung an die Leviten, alle zu töten, die vom wahren Gottesdienst abgefallen waren (Ex 32,27–29). Aus der Sicht Calvins ist es vorbildlich, wie entschieden Moses sich „für die Bewahrung des Gottesdienstes“ einsetzt:273 Oder glauben wir wirklich, er habe nur aus einem Anfall plötzlicher Wut seine gewohnte Milde damals so vergessen, dass er den heiligen Leviten befahl, im Blut zu baden? Aus dem Neuen Testament hat Calvin u. a. die Geschichte von der Tempelreinigung herausgegriffen (Mt 21,12f):274 Wenn nun der Sohn Gottes aus einem plötzlichen Entschluss heraus diejenigen vertrieb, die unter dem Vorwand des Gottesdienstes Hostien in der Vorhalle des Tempels verkauften, warum sollte eine fromme Obrigkeit nicht das ihr anvertraute Schwert ziehen, um die gottlosen Apostaten zu bestrafen, die den ganzen Tempel Gottes mit unverhüllten Beleidigungen völlig entweihen? Castellio sah in dieser Geschichte keine Legitimierung der Todesstrafe für Ketzer, und so antwortet „Vaticanus“: Wenn Christus jene Händler nur hinausgeworfen und nicht getötet hat, so muss auch die Obrigkeit die Apostaten nur vertreiben, aber nicht töten. So bleibt Castellio in der Tradition jener Theologen, die für Verbannung oder Einkerkerung als Höchststrafe plädiert hatten, wie z. B. Peter Cantor im 12. Jahrhundert. Eine Beleidigung Gottes wäre aus der Sicht Castellios nur in offenem Atheismus gegeben, und hier würde auch Castellio eine Grenze der Toleranz sehen. Eine solche Beleidigung Gottes konnte er aber nicht im Falle Servets erkennen, der zwar dogmatische Formulierungen der Trinitätslehre kritisiert, aber nicht die Existenz Gottes geleugnet hatte. Aus der Sicht Calvins gehörte die Trinitätslehre, wie er sie verstand, jedoch zu den „Fundamenten“ des Christentums, und jeder Angriff auf diese müsste mit der härtesten Strafe, dem Tod, geahndet werden – eine gute Definition fundamentalistischer Religiosität:275 Aber sobald die Religion in ihren Grundfesten erschüttert wird, verabscheuungswerte Lästerungen gegen Gott vorgebracht, durch gottlose und unheilvolle Lehren die Seelen ins Verderben gezogen werden; sobald man schließlich offen vom einzigen Gott und seiner reinen Lehre abzufallen versucht, muss zum äußersten Mittel gegriffen werden, damit das tödliche Gift nicht weiter um sich greift. 273 Castellio, Gegen Calvin, Nr. 124 (S. 196f). 274 Castellio, Gegen Calvin, Nr. 82 (S. 138). 275 Castellio, Gegen Calvin, Nr. 123. Siehe Calvin, Opera VIII (Corpus Reformatorum XXXVI), Sp. 477: Sed ubi a suis fundamentis convellitur religio, … ad extremum illud remedium descendere necesse est, ne mortale venenum longius serpat.

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Ebenso wie Thomas von Aquin verweist Calvin zur Begründung der Todesstrafe auf die Gefahr einer Ausbreitung der Häresie, und ebenso wie Thomas übergeht er mit Stillschweigen das Gegenargument, dass diese Gefahr auch durch Einkerkerung gebannt werden könnte, die Häretiker also nicht getötet werden müssten. Castellio hat die Fundamente des Christentums ganz anders bestimmt, wie es in seiner Metapher der goldenen Münze zum Ausdruck kommt:276 Eine goldene Münze, die überall, in welcher Gestalt auch immer, Gültigkeit hat, gibt es auch in religiösen Dingen. Der Glaube nämlich an Gott, den Vater, und an den Sohn und den Heiligen Geist und die Beachtung der Gebote der Frömmigkeit, wie sie geschrieben stehen in der Heiligen Schrift: … Doch hat diese Münze bis heute ganz verschiedene Prägungen, je nachdem, welche Ansichten die Menschen über das Abendmahl, die Taufe und dergleichen mehr vertreten. Seien wir daher duldsam zueinander … Zu den verschiedenen Prägungen, die nichts am Wert der Münze ändern, gehört auch das Trinitätsdogma des Athanasius, mit dem Castellio sich in seinem letzten Werk, über die „Kunst des Zweifelns“, ausführlich beschäftigt hat. Gleich zu Beginn des zweiten Buches erörtert er dieses umstrittene Dogma – das Servet zum Gegenstand seiner Kritik gemacht hatte –, um „mit Hilfe der Vernunft“ der Frage nachzugehen, „ob es eine Dreieinigkeit gibt und was es damit auf sich hat“.277 Er wählt die rhetorische Form eines Dialogs zwischen Athanasius und einem „Jemand“, der kritische Fragen stellt, weil ihm das Trinitätsdogma unverständlich ist. Castellio kommt zu dem Schluss, dass er die Lehre des Athanasius beim besten Willen nicht verteidigen könnte. Damit deutet er vorsichtig an, dass dieses Dogma in sich widersprüchlich und deshalb unverständlich ist –, dass er aber an dem einfachen Bekenntnis zu Gott dem Vater, Sohn und Heiligem Geist festhalten wolle; er sei davon überzeugt, „dass diejenigen, die wahrhaft an diesem einfachen … Glauben festhalten, auf dem Weg des Heils sind, auch wenn sie jene unerklärbaren Spitzfindigkeiten, …, weder bekennen noch glauben“. Wenn es sich bei solchen dogmatischen Lehren um „Spitzfindigkeiten“ handelt, die für das Heil nicht notwendig sind, dann erscheint es allerdings als absurd, Abweichungen von der „wahren“ Lehre zu unterdrücken und die „Häretiker“ zu töten. Also sollten die Christen, wie Castellio schon in seiner ersten Toleranzschrift sagt, als Folgerung aus der Metapher der goldenen Münze: „duldsam zueinander“ sein und aufhören, „dauernd den Glauben des anderen, sofern er auf Christus gegründet ist, zu verdammen“. In dieser Formulierung ist unschwer eine Anspielung auf Servet zu erkennen: Wie in der „Historia de morte Serveti“ berichtet wurde, hatte dieser auf dem Scheiterhaufen Christus angerufen – allerdings nur als „Sohn des

276 Castellio, Über Ketzer, S. 66 (Martinus Bellius an Christoph Herzog von Württemberg). 277 Castellio, Die Kunst des Zweifelns, II, 2

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ewigen Gottes“, nicht als den „ewigen Sohn Gottes“, so dass er nach der Auffassung Calvins als ein Häretiker starb und den Tod verdient hatte.278 Der Konflikt zwischen Calvin und Castellio liegt letztlich darin begründet, dass ihre Vorstellungen von Gott völlig verschieden sind – dass sie sozusagen gar nicht denselben Gott anbeten. Der Gott Calvins erwartet von den Gläubigen, dass Gottes­ lästerungen streng bestraft werden:279 Was ist absurder, als wenn ein Richter Diebstahl streng bestraft, Gotteslästerungen dagegen freien Lauf lässt? Wenn man seine eigene Ehre zu bewahren sucht, die Ehre Gottes dagegen den Gottlosen zum Fraß vorwirft? Castellio kann es nicht akzeptieren, dass Christen, die eine falsche Lehre vertreten, von anderen Christen „grausamer behandelt werden als irgendwelche Räuber oder Wegelagerer“, und ein Gott, der solches erwartet, ist ihm völlig fremd, und der Glaube an einen solchen Gott erscheint ihm geradezu als ein Rückfall ins Heidentum:280 Wer würde nicht glauben, dass Christus eine Art Moloch oder irgendein Gott dieser Art sei, wenn er es will, dass ihm lebendige Menschen als Opfer dargebracht und verbrannt werden? Diese kritische Bemerkung Castellios ist deshalb von Interesse, weil sie als Ansatz zu einer religionswissenschaftlichen Betrachtung verstanden werde könnte, die den Blick darauf richtet, wie die verschiedenen Auslegungen ein und derselben Religion in der Praxis umgesetzt werden. Damit ist der Weg zu einer distanzierten, historischen Betrachtungsweise beschritten, die es ermöglicht, die Verfolgung der Häretiker als einen Prozess zu beschreiben, der sich in der Geschichte der Religionen immer wiederholt. Hatte der Waldenser Raimundo da Costa sich selbst mit den Märtyrern des frühen Christentums und die Inquisitoren mit den Christenverfolgern verglichen, so geht Castellio einen Schritt weiter und weist immer wieder darauf hin, dass Christus selbst als Häretiker angeklagt und hingerichtet wurde – von denen, die sich als die Verteidiger der reinen Lehre sahen und glaubten, den Willen Gottes zu vollstrecken: „Haben es doch die Schriftgelehrten und Pharisäer fertiggebracht, dass selbst Christus und die Seinen für einen Ketzer gehalten wurde.“281 Und so bringt die Anwendung der Todesstrafe auf Ketzer die Gefahr mit sich, „dass wir unter den Räubern (die wir zu Recht kreuzigen) auch Christus zu Unrecht kreuzigen“.282 278 Siehe Castellio, Über Ketzer, S. 45; Castellio, De haereticis non puniendis, S. 152. 279 Castellio, Gegen Calvin, Nr. 112. Siehe Calvin, Opera VIII, 474. 280 Castellio, Über Ketzer, S. 70 (Martinus Bellius an Herzog Christoph von Württemberg). 281 Castellio, Über Ketzer, S. 191 (unter dem Pseudonym Basilius Montfort); vgl. ebda, S. 317 (Widmungsbrief an den Landgrafen von Hessen). 282 Castellio, Über Ketzer, S. 157 (an den König von England, im Vorwort zur Bibel).

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Er geht sogar so weit, die Hinrichtung Servets aus dieser Perspektive zu betrachten. Er zitiert Calvins spöttische Feststellung, dass Servet „in den Händen des Henkers“ seine Lehre nicht (mehr) verteidigt hatte, und er hält dem entgegen: „Dasselbe könnte man über Christus sagen. Ich behaupte nicht, dass Servet dem Christus gleicht; aber ich sage, dass er auf die gleiche Weise verleumdet worden ist.“; auch Christus habe „unter der Hand des Henkers“ nicht (mehr) diskutieren wollen. Und so kann er in rhetorischer Zuspitzung Calvin mit Pilatus vergleichen, mit Anspielung auf Mt 27,24: „Holt Wasser für Calvin, damit er seine Hände waschen kann! Er ist „unschuldig am Blute dieses Mannes“. 283 Aus dieser Einsicht in die Vergleichbarkeit der Prozesse ergibt sich für Castellio die Forderung nach Toleranz – die Vertreter abweichender Lehren nicht zu verdammen und schon gar nicht zu töten. Der Bereich der Toleranz endet aus der Sicht Castellios erst dort, wo es keine Religion mehr gibt, wo der Atheismus beginnt, den er eben als Nichtreligion betrachtet. Doch würde er es als Ausdruck christ­licher Milde betrachten – also empfehlen –, wenn die Obrigkeit die Atheisten nicht töten, sondern nur einkerkern würde.284 Einen Schritt weiter ging Dirk V. Coornhert, der einige Werke Castellios ins Holländische übersetzt hat: Er wollte auch die „Gott­ losen“ in die Toleranz einbeziehen.285 Coornhert (1522–1590) war ein vielseitiger Schriftsteller und Künstler, als Theologe ein Autodidakt, insofern als er erst in fortgeschrittenem Alter Latein lernte, um (früh)christliche und klassische Autoren im Original lesen zu können. Seine eigenen Schriften verfasste er aber weiterhin in seiner niederländischen Muttersprache, weshalb er auch außerhalb Hollands nicht so bekannt ist, wie er es als engagierter Teilnehmer an der Toleranzdebatte seiner Zeit verdient hätte.286 Als Mitglied der katholischen Kirche aufgewachsen, hat er diese formell nicht verlassen, obwohl er sich in seiner eigenen Auslegung des Christentums eher an Castellio orientierte.287 Ebenso wie dieser wandte er sich scharf gegen die Intoleranz Calvins und Bezas, die in den nördlichen Niederlanden viele Anhänger gefunden hatten. Politisch war er mit Wilhelm von Oranien verbunden, der eine Zeit lang – allerdings vergeblich – versucht hatte, eine gegenseitige Toleranz von Calvinisten und Katholiken zu erreichen. Seine Auffassung von der Toleranz hat Coornhert in Dialogform entfaltet: in der „Synode von der Gewissensfreiheit“. Hier lässt er, in 19 Sitzungen und in wechselnder Besetzung, Vertreter der verschiedenen Konfessionen miteinander diskutieren, u. a. einen Katholiken, einen Reformierten, Calvin und Beza, sowie Gamaliel – letzterer bekannt aus der Apostelgeschichte als jener Vertreter des Judentums, der von 283 Castellio, Gegen Calvin, Nr. 148 und Nr. 140. 284 Siehe Castellio, Gegen Calvin, Nr. 129 (S. 227). 285 Siehe Güldner, Das Toleranzproblem, 72; Voogt, Constraint on Trial, 75; 149f; 167f. 286 Zur Biographie Coornherts vgl. Schapendonk, Religiöse Toleranz, 129–133. 287 Zu den verschiedenen Einordnungen Coornherts vgl. Pietsch, Ekklesiologie jenseits der Kirchen, 463; es wäre zu überlegen, ob der Begriff der „religiösen Indifferenz“ anwendbar sein könnte. Vgl. dazu Greyerz, Religiöse Indifferenz; Grochowina, Grenzen der Konfessionalisierung.

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der Verfolgung abrät, und dieser dürfte am ehesten die Stimme des Verfassers sein. Dieser Gamaliel bricht in der 13. Sitzung in die Klage aus:288 Oh, if only God would make everyone realize how hurtful it is when we make others suffer what we do not want to suffer ourselves from others! If this were the case, everyone would kindly tolerate his neighbor and not be a case of sorrow and suffering, especially in religious matters. Ebenso wie Castellio orientiert Coornhert sich also an einer universalen moralischen Norm, die auch in der Bergpredigt zitiert wird, der Goldenen Regel, aus der allein schon das Verbot, Ketzer zu töten, abgeleitet wird. In der vorletzten Sitzung werfen die beiden Befürworter der Ketzertötung, Beza als Calvinist und der Katholik, sich gegenseitig vor, grausam zu sein. Wenn Beza vor der „Tyrannei“ der „Papisten“ warnt, weist der Katholik darauf hin, dass die Reformierten ja auch Ketzer töten, und fragt zurück, wieso eine und dieselbe Sache zugleich eine Tugend und eine Sünde sein kann. Coornhert lässt Beza antworten:289 Easily. Just as it is a sin to kill Christians, but a virtue to kill heretics. You do the former, we the latter. In der letzten Sitzung kommt der Katholik auf den Fall Servet zu sprechen, als deutlichsten Beleg dafür, dass die Reformierten, was aus den Schriften Calvins und Bezas hervorgeht, die gleiche Auffassung vertreten wie die Papisten, was den Umgang mit Ketzern betrifft.290 Coornhert will es offenbar vermeiden, durch Verallgemeinerungen zur Verhärtung der Fronten beizutragen. Denn er weist auf Differenzen innerhalb der Konfessionen hin, indem er den „Reformierten“ eine eigene Meinung vertreten lässt, die nicht mit der Calvins und Bezas übereinstimmt. Dieser „Reformierte“ stellt fest, er könne in der Schrift keinen Text finden, der auf die Todesstrafe für Häretiker hinweise:291 How can we dare to adopt such a dangerous course of action without God’s express decree? Wie zu erwarten, stößt diese Distanzierung von der Gewalt bei Gamaliel, und das ist offensichtlich Coornhert selbst, auf begeisterte Zustimmung: „That sounds good, that is in the spirit of Christ, that is spoken biblically by a man of the Bible, …“. Und ganz im Sinne Castellios lässt Gamaliel/Coornhert dann die Mahnung an die Fürsten folgen:292 288 Coornhert, Synod on the Freedom of Conscience, 158. 289 Coornhert, Synod, 213. 290 Siehe Coornhert, Synod, 221. 291 Coornhert, Synod, 225. 292 Coornhert, Synod, 225/226.

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please do not believe those who advise you to shed blood in the cause of religion, and refuse to act as their executioner. … Theological doctrine cannot be discussed with the sword. Einige Jahre später hat Coornhert sich in eine Kontroverse mit dem bekannten, gelehrten Justus Lipsius begeben, dem er unterstellte, die Gewissensfreiheit nicht genügend zu verteidigen. Lipsius war ebenso wie Coornhert katholisch aufgewachsen, hatte dann aber die Konfession gewechselt, als er den Ruf an eine protestantische Universität annahm, um zuletzt wieder zu rekonvertieren und an seinen Ausgangspunkt zurückzukehren, als er an die katholische Universität Leuven wechselte. In seinem Werk zur Politik vertrat er die Auffassung, dass es zwar nur eine einzige Religion in einem Staat geben sollte, dass aber andere Religionen zu tolerieren seien, wenn dies im politischen Interesse liegt – nur in Ausnahmefällen seien strenge Strafen zu verhängen. Da Lipsius in diesem Kontext die Ausdrücke „brennen“ und „abschneiden“ verwendete (ure; seca), sah Coornhert sich zum Protest herausgefordert – er glaubte, darin eine Annäherung an die Praxis der Inquisition zu sehen, eine implizite Legitimierung der Todesstrafe für Häretiker. Ähnlich wie Castellio in seiner Schrift „Gegen Calvin“ arbeitete Coornhert bis zuletzt an einer Widerlegung einzelner Aussagen aus dem Werk von Lipsius. Postum erschien eine gekürzte lateinische Übersetzung dieser seiner letzten Schrift. Es ist in der Forschung umstritten, ob und wie weit Coornhert die politische Theorie seines Kontrahenten missverstanden hat.293 Wie dem auch sei, festzuhalten ist als Erstes, dass Coornhert, wie schon Castellio und dessen mittelalterliche Vorläufer, die Position, dass Häretiker unter keinen Umständen getötet werden dürfen, vertreten und weiter ausgebaut hat – dass er sozusagen auf dem Weg zur religiösen Toleranz einen Schritt vorangegangen ist.294 Ein Thema dieser Kontroverse ist aus der Sicht der Religionswissenschaft von größtem Interesse: Der Dissens über die Frage, ob die Zulassung mehrerer Religionen schädlich oder nützlich für den Staat ist – auf beiden Seiten wurden Beispiele aus Geschichte und Gegenwart zur Begründung angeführt. Als ein aktuelles Beispiel konnte gegen Ende des 16. Jahrhunderts Polen gelten. Dort waren, wie vorher schon in Siebenbürgen, mehrere Konfessionen zugelassen, und diese Pluralität der Bekenntnisse hat anscheinend keine Schwächung des Staates mit sich gebracht – im Gegenteil, gerade diese staatliche Toleranzpolitik schien das Land vor 293 Güldner betont das mangelnde Verständnis auf seiten Coornherts (Das Toleranzproblem, 101f). Bonger ist dagegen geneigt, Coornhert in seiner Kritik an Lipsius zuzustimmen (Life and Work, 146). 294 Kritisch zu Bongers Darstellung Coornherts als „champion of religious tolerance“ und zum „Coorn­ hert-Kult“ im Allgemeinen äußert sich Roobol (Disputation by Decree, 43–55). Allerdings beschäftigt Roobol sich nicht mit dem literarischen Werk Coornherts, sondern mit seiner Rolle bei öffentlichen, organisierten Disputationen.

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Konfessionskriegen zu bewahren, wie sie in Frankreich ausgebrochen waren. Coornhert verweist auf dieses Beispiel, an dem sich die Politik in den Niederlanden, wie er meinte, orientieren sollte.295

Tatsächlich hat der Fürst von Siebenbürgen, Stefan Bathory, nach seiner Wahl zum polnischen König, seinen Untertanen weitgehende Religions- und Gewissensfreiheit gewährt. Obwohl er selbst ein überzeugter Katholik war, hat er sich auch durch die Ermahnungen des päpstlichen Legaten nicht dazu bewegen lassen, die „häretischen“ Sekten zu unterdrücken. Sogar die polnischen Unitarier, die sonst überall als Antitrinitarier in der Nachfolge Servets betrachtet und von allen Seiten verfolgt wurden, genossen „wie nirgendwo sonst zu jener Zeit die freiheitsliebende Gesinnung eines großen katholischen Königs“.296 Polen war im 16. Jahrhundert als ein „Asyl für Häretiker“ bekannt, und so wollten „Vertreter einflußreicher protestantischer Geschlechter“ sogar Castellio, den Gegner Calvins, nach Polen holen. Ein religiöser Emigrant, der sich dort bereits aufhielt, schrieb an Castellio: „Du hättest hier eine große, ja sehr große Lebensfreiheit entsprechend Deinen Anschauungen und Grundsätzen, auch die Freiheit zu schreiben und zu verlegen.“297 Auch wenn der polnische Historiker Januz Tazbir die Behauptung, es habe keine Zensur gegeben, etwas einschränkt und auf einzelne Bücherverbrennungen hinweist, so kann doch festgehalten werden, dass es in Polen zu jener Zeit keine Religionskriege und keine Todesurteile über Häretiker gegeben hat. Coornhert hat es nicht mehr erlebt, dass sich die Situation in Polen einige Jahrzehnte später geändert hat: Die Einschränkung der Glaubens- und Gewissensfreiheit begann mit der Schließung der Akademie von Rakow (1638) und setzte sich fort mit der Ausweisung der Antitrinitarier – auch unter Androhung der Todesstrafe – und dem Gesetz, das den Abfall vom Katholizismus unter die Strafe der Verbannung stellte.298 Den Sieg der katholischen Gegenreformation hätte sein Kontrahent Lipsius sicherlich als eine Bestätigung seiner Position gewertet.299 Die Antitrinitarier, die Polen verlassen mussten und sich nach den Niederlanden begaben, sorgten dort für die weitere Verbreitung der Toleranz-Idee. Als die kleinste konfessionelle Gruppierung hatten sie die Forderung nach Toleranz am stärksten ausgearbeitet. Eine Sammlung ihrer Schriften konnte in den Niederlanden 1656 gedruckt werden, als „Bibliothek der polnischen Brüder“, darin enthalten eine Schrift von Johann Crell (1590–1633), in der „das Gedankengut Castellios durchzuschimmern“ scheint.300 Eine Nachwirkung Castellios ist auch, 295 Vgl dazu Voogt, Constraint on Trial, 174. Tazbir, Geschichte der polnischen Toleranz, 89. 296 Lecler, Geschichte der Religionsfreiheit, 547. Vgl. auch Völker, Stefan Bathorys Kirchenpolitik; Kamen, Toleranz und Intoleranz, 121f; Tazbir, Geschichte der polnischen Toleranz, 111f. 297 Tazbir, ebda, 76; 117. 298 Vgl. dazu Tazbir, ebda, 175f. 299 Zur Einschränkung der Glaubens- und Gewissensfreiheit im 17. Jh, vgl. Tazbir, ebda, 175f. 300 Guggisberg, Religiöse Toleranz, 196.

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wenn auch nicht immer durch Zitate nachweisbar, im England des 17. Jahrhunderts zu erkennen.301 In den englischen Kolonien in Amerika stellte sich die Frage nach der Tolerierung verschiedener Konfessionen in ganz neuer Weise, und hier ergab sich wieder die Kontroverse über die (Todes)Strafe für Häretiker. Die Kontrahenten waren John Cotton (1585–1652), Prediger in Boston, Massachusetts, und Roger Williams (1603– 1683), bekannt als Gründer von Providence, Rhode Island. In seiner bekanntesten Schrift „The Bloudy Tenent of Persecution“ (1644), gestaltet als Dialog zwischen „Peace“ und „Truth“, wandte Roger Williams sich gegen die Verfolgung der Häretiker, und stellte gleich zu Beginn, als erste einer Reihe von Thesen, die Behauptung auf:302 Das Blut von so vielen hunderttausenden von Protestanten und Katholiken, das in den Kriegen der Gegenwart und der Vergangenheit um ihrer Gewissen willen vergossen wurde, wird von Jesus Christus, dem Friedensfürsten, weder gefordert noch angenommen. Diese These hätte genau so von Castellio formuliert werden können, so dass die Annahme naheliegt, Williams hätte Schriften Castellios gekannt. Das ist aber nicht nachzuweisen, da er den Namen nicht nennt und keine Zitate bringt. Es bleibt die Frage, ob er einen Grund gehabt haben könnte, den Namen nicht zu nennen.303 John Cotton vertrat demgegenüber die Auffassung, gestützt unter anderem auf die Autorität von Calvin und Beza, dass die Verfolgung und Bestrafung eines unbelehrbaren Häretikers in schweren Fällen eben doch legitim und notwendig ist:304 … if such a man, after such Admonition, shall still persist in the Error of his way, and be therefore punished, He is not persecuted for cause of Conscience, but for sinning against his own Conscience. Ebenso wie alle Befürworter der Toleranz unter den Theologen zitiert Williams das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, gleich zu Beginn des ersten Kapitels, also als den stärksten biblischen Beleg. In seiner Erwiderung von 1647, gestaltet als Dialog zwischen „Discusser“ und „Defender“, hat Cotton der Interpretation dieses Gleichnisses viel Raum gewidmet, wie zu erwarten mit dem gegenteiligen Ergebnis:305 It is not the will of Christ, that Antichrist and Antichristians, and Antichristianitie should be tolerated in the world, untill the end of the world. 301 Vgl. dazu Guggisberg, Sebastian Castellio, 280–283. 302 Siehe Guggisberg, Religiöse Toleranz, 166. 303 Vgl. dazu Guggisberg, Castellio im Urteil seiner Nachwelt, 108f; ders., Sebastian Castellio, 281. 304 Cotton, The Bloudy Tenent, 27. Vgl. Williams, The Bloudy Tenent, 20; 29. 305 Cotton, The Bloudy Tenent, 42.

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Demgegenüber verweist Williams, ebenso wie Coornhert, auf den polnischen König Stefan Bathory, der gesagt habe, „I am a king of men, not of consciences; a commander of bodies, not of souls.“.306 Auch in diesem Fall ist der Befürworter der Ketzer-Verfolgung nicht verlegen um Gegenbeispiele: Cotton verweist auf „viel größere Könige“, u. a. auf Konstantin den Großen, der scharfe Gesetze gegen Häretiker erlassen habe.307 Außerdem sieht Cotton in der Aussage des polnischen Königs überhaupt keine Herausforderung:308 „That which the King or Magistrate can doe, or doeth in this case, is to punish the bodyes of men for destroying, or disturbing Religion.“ Das ist die Position von Calvin und Beza, auf die Cotton sich auch beruft, mit einem kurzen, zustimmenden Hinweis auf die Verbrennung Servets.309 Ebenso wie Calvin und Beza ist Cotton auch der Meinung, dass die strengen mosaischen Gesetze gegen Religionsfrevel keineswegs durch das Neue Testament aufgehoben worden seien:310 He that shed his own bloud to plant his Church, did never abolish that Law, which enacted, that his bloud should be upon him, who should supplant his Church. Williams vertritt demgegenüber, wie Castellio, gerade die Gegenposition.311 In einer späteren Schrift, die im Aufbau noch mehr an Castellios „Contra Calvinum“ erinnert, hat Williams sich minutiös mit den einzelnen Argumenten aus der Schrift Cottons auseinandergesetzt, in der Form wieder als ein Dialog zwischen „Peace“ and „Truth“ gestaltet. Auch in diesem Werk wird das Beispiel des Kaisers Konstantin aufgegriffen, und die Beurteilung fällt wieder ganz verschieden aus. Während Cotton auf die spätere, antihäretische Gesetzgebung Konstantins als vorbildlich verweist, sieht Williams gerade in dem frühen, gemeinsam mit Licinius herausgegebenen Edikt das Vorbild christlicher Religionspolitik:312 … when he put forth that imperiall Christian Decree, that no mans Conscience should be forced, and for his Religion (whether to the Romane Gods, or the Christian) no man should be persecuted or hunted: … So wie die einzelnen biblischen Texte, kann auch dieses historische Beispiel als Beleg für beide Positionen in Anspruch genommen werden, je nachdem wie das Interesse des Interpreten ausgerichtet ist – ob er Gewaltanwendung im Namen Christi befürworten oder ablehnen will. Williams rechtfertigt zwar Konstantins Gewaltanwendung im Krieg gegen Maxentius, den Christenverfolger; insoweit stimmt er 306 Williams, The Bloudy Tenent, 13. 307 Siehe Williams, The Bloudy Tenent, 25; vgl. ders., The Bloody Tenent yet More Bloody, 198. 308 Cotton, The Bloudy Tenent, 125. 309 Siehe Williams, The Bloudy Tenent, 29; Cotton, The Bloudy Tenent, 128/129; 181f. 310 Cotton, The Bloudy Tenent, 126. 311 Siehe Williams, The Bloody Tenent yet More Bloody, 273. 312 Williams, The Bloody Tenent yet More Bloody, 263; vgl. ebda, 202.

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mit Cotton überein. Höhepunkt und Vorbild der Konstantinischen Religionspolitik sieht er aber in dem „Toleranzedikt“; und er betrachtet die antihäretische Gesetzgebung, die aus der Sicht Cottons vorbildlich ist, als eine Wende, in der Konstantin seine Prinzipien verraten habe:313 …, then began the great Mysterie of the Churches sleepe, the Gardens of Christs Churches turned into the Wildernesse of Nationall Religion, and the World (under Constantines Dominion) to the most unchristian Christendome. Am Schluss des Werkes versucht Williams zu zeigen, dass auch die Eingrenzung der Verfolgung auf den Fall der Apostasie nicht akzeptiert werden kann. Der Puritaner Cotton wird zitiert mit der Auffassung, die schon der Dominikaner Thomas von Aquin vertreten hatte, dass der Abfall vom christlichen Glauben nicht toleriert werden kann:314 It is true that Christ delighteth not in the bloud of men, while they gainsay and bloudily persecute him and his, out of Ignorance: but he delights in the bloud of such, who after the acknowledgement of his Truth, doe tread the bloud of his Covenent under-foote, and wittingly and willingly reject him from raigning over them: … Williams wirft die Frage auf, wie ein weltliches Gericht diesen Fall der bewussten, sündhaften Abwendung von der christlichen Wahrheit erkennen und aburteilen kann, und er beschließt die Kontroverse in diesem Punkt mit der Darstellung seines Christus-Bildes:315 … I further observe, that Christ Jesus not only praid and dyed for his Enemies, who bloudily persecuted him and his out of Ignorance, but gave this reason against bodily Death to be inflicted on any for his cause and sake, Luc. 9, The Son of Man is not come to destroy Mens lives … Cotton hatte sich demgegenüber auf ein anderes Wort aus dem Lukas-Evangelium berufen:316 „Those mine enemies, that would not that I should reigne over them, bring them hither and slay them before my face, Luk.19,27.“ Wie sein Vorbild Calvin besteht Cotton darauf, dass es die Aufgabe des „Hirten“ ist, die ihm anvertrauten Schafe gegen die Wölfe zu beschützen, und, wenn nötig, die Wölfe zu töten; und

313 Williams, The Bloody Tenent yet More Bloody, 264. 314 Williams, The Bloody Tenent yet More Bloody, 286. Cottons Argumentation wird etwas gekürzt, aber nicht unkorrekt referiert. Siehe Cotton, The Bloudy Tenent, 191. 315 Williams, The Bloudy Tenent yet more bloudy, 288. 316 Cotton, The Bloudy Tenent, 191.

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das bedeutet eben, dass Toleranz gegenüber Häretikern, die zur Apostasie verführen, nicht zu verantworten ist:317 … when the Wolve runneth ravenously upon the sheep, is it against the nature of the true sheep, to run to their Shepheard? And is it then against the Nature of the true Shepeard to send forth his Dogs to worry such a Wolfe, without incurring the reproach of a persecutor? Demgegenüber argumentiert Williams ähnlich wie Castellio, der die Ketzerprozesse mit dem Prozess Jesu verglichen und damit implizit angedeutet hatte, dass sich dieser Vorgang in der Geschichte ständig wiederholen könnte. Williams richtet seinen Vorwurf gleichermaßen an alle Ketzerverfolger der verschiedenen Konfessionen:318 Out of their owne Mouthes shall Papists and Protestants be condemned, for slaughtering Christ Jesus (the Shepheard) in his poore Sheepe and Servants, …, yet all pretending to save the sheepe, and onely to resist Wolves, Thieves, & c. Die Kontroverse bewegte sich in diesem Fall im Rahmen protestantischer Richtungen des Christentums, der Puritaner bzw. Baptisten, und so könnte der Eindruck entstehen, dass ein solches Experiment praktizierter Toleranz, wie Williams’ Gründung der Kolonie von Rhode Island, eben nur in diesem Rahmen möglich war. Tatsächlich hatte es aber schon vorher ein vergleichbares Experiment gegeben, das von einem Katholiken durchgeführt wurde: von Lord Baltimore in Maryland.319 Beide Vertreter der Toleranz-Forderung stießen in ihrem konfessionellen Umfeld jeweils auf die gleichen Widerstände.

Die Forderung nach Toleranz – verstanden als Ablehnung der (Todes)Strafe für Häretiker und/oder Apostaten und Zulassung konfessioneller und/oder religiöser Pluralität – hat sich in der Frühen Neuzeit nur langsam durchsetzen können. Noch im Jahre 1697 wurde in Edinburgh der Medizinstudent Thomas Aikenhead zum Tode verurteilt und aufgehängt, weil er sich „blasphemisch“ über die Bibel und das Christentum, insbesondere über die Trinitätslehre, geäußert hatte.320 Dieser Fall hätte sicherlich die Kritik von Roger Williams hervorgerufen, hatte der Angeklagte doch widerrufen und Reue gezeigt, was offenbar von dem Gericht nicht ernst genommen wurde. Sicherlich hätte auch der jüdische Philosoph Spinoza (1632–1677) diesen Prozess kritisiert, als einen Verstoß gegen die Freiheit des Philosophierens und die Meinungsfreiheit im Bereich der Religion. 1670 war anonym sein „Theo317 Cotton, The Bloudy Tenent, 171. 318 Williams, The Bloody Tenent yet More Bloody, 251. 319 Vgl. dazu Kamen, Toleranz und Intoleranz, 187f. 320 Vgl. dazu Hunter, ‚Aikenhead the Atheist‘.

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logisch-Politischer Traktat“ erschienen, der, wie im Titel angekündigt wird, „einige Abhandlungen“ enthält, in denen gezeigt wird, daß die Freiheit zu Philosophieren nicht nur ohne Schaden für die Frömmigkeit und den Frieden im Staate zugestanden werden kann, sondern daß sie nur zugleich mit dem Frieden im Staate und mit der Frömmigkeit selbst aufgehoben werden kann. Dieser Traktat, der 1674 in den Niederlanden verboten wurde, enthielt nicht nur kritische Thesen zum Text der Bibel – die jenem Studenten in Edinburgh wahrscheinlich bekannt geworden waren –, sondern auch eine scharfe Kritik aller Streitigkeiten über religiöse Glaubenssätze. Sein Verständnis der (christlichen) Religion erinnert im Ansatz an Castellio:321 Wenn die Menschen das, was sie mit Worten von der Bibel bezeugen, aufrichtig meinten, dann müßten sie auch eine ganz andere Lebensweise haben; dann würde nicht so oft ein Zwist ihre Geister in Aufruhr bringen, sie würden sich nicht mit solchem Hasse befehden, und es würde sie nicht dieser blinde und unbesonnene Eifer beherrschen, die Schrift auszulegen und Neues in der Religion zu ersinnen; … Ein Zeitgenosse Spinozas, der englische Philosoph John Locke (1632–1704), hat den Fall Aikenhead noch erlebt, und er hat ihn mit größtem Interesse verfolgt. Locke hatte einige Jahre (1683–1689) in den Niederlanden im Exil gelebt, und er kannte mehrere Toleranz-Schriften Castellios und die Werke von Coornhert, was aus seinem Bücher-Verzeichnis und seiner Korrespondenz mit holländischen Freunden hervorgeht.322 Sein „Brief über die Toleranz“ erschien, zunächst ebenfalls anonym, 1689 in lateinischer Sprache, dann auch in englischer Übersetzung. Schon der erste Absatz seines Briefes über die Toleranz lässt die große Ähnlicheit mit der Position Castellios erkennen, den er allerdings nie mit Namen nennt und nie wörtlich zitiert. Auf die Frage, was er über die wechselseitige Duldung (mutua inter Christianos tolerantia/the mutual toleration of Christians in their different professions of religion) der Christen verschiedener Bekenntnisse denke, antwortet er: „… that I esteem that toleration to be the chief characteristical mark of the true church“.323 Und gleich im zweiten Satz bemerkt er, dass alle die eigene Version des Christentums für die einzig richtige halten – „for everyone is orthodox to himself “. Die Absurdität dieser Situation beschreibt er ganz in der Art Castellios, erweitert den Gesichtskreis aber noch über Europa hinaus:324 321 Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat, Kapitel 7 (S. 133f). 322 Siehe Guggisberg, Castellio im Urteil seiner Nachwelt, 117f. 323 Locke, A Letter concerning Toleration, 2. 324 Locke, Letter, 68.

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If, therefore, such a power be granted unto the civil magistrate in spirituals, as that at Geneva, for example; he may exstirpate, by violence and blood, the religion which is there reputed idolatrous; by the same rule, another magistrate, in some neighbouring country, may oppress the reformed religion, and, in India, the Christian. Wenn Locke die Exkommunikation als die höchste Form der irdischen Strafe zulässt, die Todesstrafe kategorisch ausschließt und das eigentliche Gericht über die Häresie „dem obersten Richter über alle Menschen“ zuweist, so steht er damit ebenfalls in der Tradition von Castellio und Coornhert, eine Tradition, die sich über Marsilius von Padua bis ins Mittelalter zurückverfolgen lässt.325 Locke kennt allerdings auch eine Grenze der Toleranz:326 Lastly, Those are not at all to be tolerated who deny the being of God. Promises, covenants, and oaths, which are the bonds of human society, can have no hold upon an atheist. Wenn er also Atheisten ausschließt, so steht er damit wieder in der Tradition von Castellio, fällt allerdings hinter die Position von Coornhert zurück. Ein Blick auf die Philosophie Epikurs, die ja seit der Zeit der Renaissance auch wieder in Originalquellen bekannt war, hätte dazu führen können, diese Ausgrenzung der Atheisten zu vermeiden. Im Werk des katholischen Theologen und Philosophen Pierre Gassendi (1592–1655), der Locke durchaus bekannt war, wäre eine positive Würdigung Epikurs greifbar gewesen. Ebenso wie Roger Williams gegenüber Cotton, und Castellio gegenüber Calvin, lehnt Locke es ab, die Autorität Moses’ zur Begründung der Todesstrafe für Häretiker anzuführen – das Gesetz des Moses sei eben nur für das Volk Israel verbindlich gewesen, gelte nicht für die Christen.327 Eine Anspielung auf die Verbrennung Servets und auf Castellios Vorwurf, Machthunger und Grausamkeit seien die wahren Motive gewesen, scheint vorzuliegen, wenn Locke den Befürwortern der Todesstrafe Ehrgeiz und Streben nach weltlicher Macht unterstellt:328 For it will be very difficult to persuade men of sense, that he, who with dry eyes, and satisfaction of mind, can deliver his brother unto the executioner, to be burnt alive, does sincerely and heartily concern himself to save that brother from the flames of hell in the world to come.

325 Siehe Locke, Letter, 26;32. 326 Locke, Letter, 94. 327 Locke, Letter, 72f. 328 Locke, Letter, 42.

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Ein Zeitgenosse Lockes, der französische Philosoph Pierre Bayle (1647–1706), hat die Möglichkeit wahrgenommen, mit dem Hinweis auf das moralische Verhalten der Epikuräer das Vorurteil gegen die Atheisten zu widerlegen. Eben deshalb hat ihn später im 19. Jahrhundert der bekannte Religionskritiker Ludwig Feuerbach würdigen können – als einen nicht- oder antitheologischen, und eben deshalb „denkenden“ Kopf.329 Der große Toleranz-Kommentar Bayles war in erster Linie gegen Augustin gerichtet, der die Formel „coge intrare“ als eine biblische Begründung des religiösen Zwanges verwendet hatte:330 Wie hat er nicht gesehen, dass er sich dem Gespött der Heiden aussetzte, als er behauptete, Gott gestatte mit seinen Worten die Verfolgung der Religion; tatsächlich gibt es nichts Widersinnigeres, als beim anderen dieselben Handlungen zu verurteilen, die man für sakrosankt erklärt, wenn man sie selber begeht; … Augustin ging es ja bekanntlich nicht um die Einführung der Todesstrafe für Häretiker, sondern um die Anwendung von Zwangsmaßnahmen, um sie zur wahren Kirche zurück zu bringen – eine Situation, die zu Lebzeiten Bayles in Frankreich aktuell war: So wurde z. B. seit 1681 versucht, „Protestanten durch die Einquartierung von Soldaten (Dragonern) in protestantische Privathäuser – die sogenannten Dragonaden – zum Religionswechsel zu zwingen, …“.331 Mit der Ablehnung aller Zwangsmaßnahmen im Bereich der Religion ist natürlich auch die Todesstrafe für Häretiker ausgeschlossen, doch wollte Bayle den Fall Servet, sicherlich das bekannteste Beispiel, nicht allzu stark betonen: dieser Fall werde „heutzutage als ein grauenvoller Schandfleck für die Frühzeit der Reformation und als trauriges und bedauernswertes Relikt des Papismus betrachtet“.332 Mit dieser Einschätzung will er dem Vorwurf entgegentreten, dass die Protestanten ebenso intolerant seien wie die Katholiken. So erklärt es sich vielleicht, dass Bayle nicht direkt auf Castellios Calvin-Kritik zurückgreift und dass sein Lob für Castellio nicht ganz uneingeschränkt ist.333 Auch seine Anknüpfung an Coornhert ist sehr zurückhaltend formuliert: In seiner äußerst scharfen Kritik an Lipsius erwähnt er nur kurz, dieser sei „von einem gewissen Theodor Cornhert angegriffen und in Bedrängnis gebracht“ worden, ohne diesen Vertreter der Toleranz, dessen Namen er nicht ganz korrekt zitiert, näher vorzustellen.334 Mit diesen theologischen Vorläufern stimmt Bayle aber in den wichtigsten Punkten überein. So betont er die Absurdität der Idee, die wahre Religion dürfe Verfolgung ausüben:335 Es sei klar,

329 Feuerbach, Pierre Bayle, 162. 330 Bayle, Toleranz, 171. 331 Buddeberg/Forst 2016, 19. 332 Bayle, Toleranz, 252. 333 Vgl. dazu Guggisberg, Castellio im Urteil seiner Nachwelt, 149. 334 Bayle, Toleranz, 218. 335 Bayle, Toleranz, 352.

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dass es eine äußerst lächerliche Vorstellung ist zu sagen, nur die Rechtgläubigen sollten verfolgen: Denn es bedarf sonst weiter nichts, um jede Sekte zu veranlassen, zum Verfolger zu werden, denn jede hält sich für die reine und wahre Religion. Auch die Auffassung von der „Überlegenheit des Evangeliums, durch die es über dem Gesetze Mose steht“ sowie die Bestimmung der „Hauptcharaktermerkmale Jesu Christi“ – Demut, Geduld und Sanftmütigkeit – stehen in der Tradition seiner theologischen Vorläufer;336 diese hatten ebenfalls bestritten, dass die strengen mosaischen Gesetze auf die Häretiker anzuwenden seien, und sie hatten ebenfalls die Milde und Sanftmut Jesu als Maßstab genommen. Wie seine theologischen Vorläufer wendet Bayle sich auch gegen die Auffassung, die Todesstrafe sei zumindest auf jene Häretiker anzuwenden, die „gegen die Gottheit lästern“, wie z. B. Servet, der die Heilige Trinität in gotteslästerlicher Weise beschimpft habe. Er reflektiert zunächst über den Begriff der Gotteslästerung: diese liege nur dann vor und sei dann allerdings strafwürdig, wenn ein Christ „ebendiese Gottheit verunglimpft, an die zu glauben er bekennt“; dies sei jedoch nicht der Fall, wenn ein Christ, der nicht an die Trinität glaubt, die Meinung äußert, „der Gott der Katholiken und der Protestanten sei ein falscher, ein kontradiktorischer Gott etc.“. Aus der Sicht jenes Christen sei dies keine Gotteslästerung, denn er sage ja „nichts gegen die von ihm anerkannte Gottheit, sondern gegen eine, deren Existenz er bestreitet“.337 Bayle verweist sodann auf die Absurdität der Folgerungen, die sich ergeben, wenn die Definition der Gotteslästerung einfach den Verfolgern überlassen wird: Er erinnert an die „Lästerungen“ der frühen Christen gegen die Götter der Römer und an die antikatholische Polemik der Protestanten, um dann die Frage zu stellen: „Folgt daraus, dass die ersten Christen Gotteslästerer waren, die den Tod verdienten, oder dass die Reformierten das sind?“ Er verneint diese Frage mit der Begründung, dass in diesen Fällen die Gotteslästerung ja nicht durch einen „dem Verfolger und dem Verfolgten gemeinsamen Grundsatz definiert“ worden sei. Angewandt auf den Fall Servet, bedeutet dies, dass er nicht als Gotteslästerer bestraft werden konnte,338 es sei denn, man folgert, dass die Christen von den Heiden als Götteslästerer hätten bestraft werden können wie die Reformierten von den Papisten und all diejenigen, die an die Trinität glauben, von den Sozinianern. Bayle wendet sich mit dem gleichen Argument gegen die Auffassung, die aus Calvins Verteidigung des Servet-Urteils bekannt ist, dass die Todesstrafe dann geboten sei, wenn die „Fundamente“ des Christentums bedroht seien. Auch hier gilt Bayle 336 Siehe Bayle, Toleranz, 109. 337 Bayle, Toleranz, 273f. 338 Bayle, Toleranz, 275.

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zufolge der Grundsatz: „Man muss sich der Prinzipien bedienen, die von beiden Seiten zugelassen und anerkannt sind.“ Es sei aber gerade umstritten, was diese „Fundamente“ seien, und so würde sich wieder die absurde Situation ergeben, dass alle Verfolger das Recht auf Verfolgung haben:339 … dann hätten die Heiden die Prediger des Evangeliums nicht dulden müssen, und wir könnten die katholische Kirche nicht dulden, ebensowenig wie die katholische Kirche uns; … Bayle legt Wert auf die Feststellung, dass er seinen Toleranz-Kommentar nicht als Theologe schreibt, sondern als Philosoph.340 So kann er nicht einfach das Evangelium als den bestimmenden „Maßstab der Moral“ voraussetzen; als Maßstab kann er das Evangelium nur deshalb gelten lassen, weil es „durch die reinsten Ideen der rechten Vernunft“ verifiziert werden konnte. Ein Verstoß gegen den „Geist des Evangeliums“ ist also zugleich ein Widerspruch zur Vernunft, metaphorisch als das natürliche Licht bezeichnet, das allen Menschen gegeben ist. Daraus ergibt sich ein Kriterium zur Abgrenzung gegen unvertretbare Glaubenssätze, wie z. B. gegen die augustinische Lehre vom heilsamen Zwang im Bereich der Religion, die Bayle zufolge beidem widerspricht, der Vernunft und dem Geist des Evangeliums:341 Jeder besondere Glaubensgrundsatz, sei es, dass man behauptet, er sei in der Schrift enthalten, sei es, dass man ihn auf andere Weise propagiert, ist falsch, sobald er durch die klarsten und deutlichsten Begriffe des natürlichen Lichts widerlegt ist, vor allem im Hinblick auf die Moral. Inhaltlich steht Bayle auch hier in der Tradition Castellios, der die Vernunft metaphorisch als „Gottes Tochter“ oder „Gottes ewige Rede“ bezeichnet hatte.342 Im Unterschied zu Castellio würde Bayle als Philosoph sich aber nicht berufen fühlen, in theologische Debatten direkt einzugreifen – so wie Castellio z. B. eine eigene Auslegung und Veranschaulichung der Rechtfertigungslehre entwickelt hatte.343 Es könnte auch hierin begründet sein, dass Bayle Castellios Verteidigung der Toleranz nicht uneingeschränkt würdigen konnte – oder dass er „das Toleranzargument des Humanisten im Grunde gar nicht mehr verstehen konnte“.344 Bayles Selbstverständnis als Philosoph zeigt sich besonders deutlich darin, dass er zu Beginn seines Toleranz-Kommentars auf einer Einheitlichkeit und Konsistenz der Ethik insistiert. Er kann es nicht hinnehmen, dass moralische Handlungen mit verschiedenen Maßstä339 Bayle, Toleranz, 277. 340 Bayle, Toleranz, 106. 341 Bayle, Toleranz, 100. 342 Castellio, Die Kunst des Zweifelns, I, 25. 343 Castellio, Die Kunst des Zweifelns II, 24–26. 344 Guggisberg, Sebastian Castellio, 298. Das Verhältnis Bayles zu Castellio wird anders akzentuiert dargestellt bei Tinsley, Pierre Bayle’s Reformation, 255f.

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ben beurteilt werden: „… dass etwas, das ungerecht wäre, wenn es nicht zugunsten der wahren Religion geschehen ist, gerecht wird, sobald es im Namen der wahren Religion geschieht“ – dies bezeichnet er als „die abscheulichste Lehre, die man sich vorstellen kann“,345 damit seien alle Grenzen, die die Tugend vom Laster trennen, aufgehoben, es wird keine noch so ehrlose Handlung geben, die nicht zu einer frommen und religiösen Handlung wird, sobald man sie zur Unterdrückung der Ketzerei begeht. Wenn die philosophischen Toleranz-Traktate des 17. Jahrhunderts die Toleranzschriften der Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts schon an Bekanntheit übertroffen haben, so gilt dies noch viel mehr von dem Werk Voltaires (1694–1778), vielleicht der bekannteste Vertreter der Aufklärungs-Epoche. Voltaire entwickelte seinen Toleranz-Traktat, ebenso wie Castellio, aus Anlass eines konkreten Falles religiöser Intoleranz, die zu einer grausamen Hinrichtung geführt hatte: die sogenannte Calas-Affäre in Toulouse. Dort war im Jahre 1662 ein Protestant von der katholischen Bevölkerung verdächtigt worden, seinen Sohn umgebracht zu haben, um dessen Konversion zum Katholizismus zu verhindern. Voltaire beschäftigte sich intensiv mit diesem Fall und konnte erfolgreich den Nachweis führen, dass die Verurteilung nicht auf Indizien beruhte, sondern durch den Hass auf die Hugenotten bedingt war:346 Was seine Hinrichtung noch beschleunigte, war die Nähe des berüchtigten Festes, das die Toulousaner jährlich zum Andenken der Niedermetzelung der viertausend Hugenotten feiern. Im Anschluss an die Darstellung dieses Falles entwickelt Voltaire seine Toleranz-Konzeption, und auch hier gilt wieder, dass es ebenso von einem seiner frommen, theologischen Vorläufer gesagt sein könnte, wenn Voltaire, der Philosoph der Aufklärung, zum Schluss ausruft:347 Oh ihr Sektierer, die ihr einen gnädigen Gott anbetet! Wenn euer Herz grausam gewesen ist; wenn ihr den verehrt, dessen ganzes Gesetz in diesen Worten besteht: „Liebe Gott und deinen Nächsten“, und dieses reine, heilige Gesetz mit Sophismen und unverständlichen Zänkereien belastet habt; …: so werd’ ich mit Tränen, die ich der Menschheit weihe, zu euch sagen: „Versetzt euch mit mir an jenen Tag, wo Gott alle Menschen richten wird, einen jeden nach seinen Werken. …

345 Bayle, Toleranz, 117. 346 Voltaire, Toleranz, 48. 347 Voltaire, Toleranz, 179.

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Voltaire verurteilt also die Anmaßung, das göttliche Gericht über die Menschen vorwegnehmen zu können, und damit steht er in der Tradition jener Theologen, die das vieldiskutierte Gleichnis Mt 13 – vom Unkraut unter dem Weizen – schon immer in diesem Sinne ausgelegt hatten. Eine Kontinuität zeigt sich auch im Rückgriff auf einige Kirchenväter, wie z. B. Laktanz, den Castellio schon in seiner ersten Toleranzschrift zitiert hatte.348 Im Unterschied zu seinen theologischen Vorläufern in Mittelalter und Reformationszeit kann Voltaire auf „den weisen und tugendhaften Konfuzius“ verweisen, dessen Ethik ja erst im 17. Jahrhundert, durch Vermittlung der Jesuiten, in Europa bekannt geworden war. Diese Ausweitung des Horizontes ist zweifellos neu, doch ist auch hier eine Kontinuität zu erkennen, da Voltaire in diesem Zusammenhang auch jene gerechten und frommen Heiden nennt, die im abendländischen Christentum immer schon bekannt waren, wie z. B. „den guten Trajan“,349 dessen Verdammnis ja schon im Mittelalter als problematisch empfunden wurde. Voltaire hat das Menschenrecht auf Religionsfreiheit im Naturrecht begründet gesehen, und er hat als den großen „Grundsatz beider über den ganzen Erdboden“ die berühmte Goldene Regel zitiert,350 die ja auch in der Bibel belegt ist (Tob 4,16; Mt 7,12; Lk 6,31). Ebenso hatte schon Coornhert argumentiert, und in seinem letzten Werk hatte auch Castellio diesen Grundsatz, der allen Menschen von Natur aus gegeben sei, zitiert, um daraus die Absage an dogmatische Zänkereien und Ketzer-­ Verfolgung abzuleiten – dies sei der Weg, den Christus gelehrt habe:351 Ja, selbst heute gibt es keine besseren Christen als die, welche, ohne sich viel um die Feinheiten solcher Dispute zu kümmern, ihre Pflicht erfüllen nach den Geboten Christi. Christus selbst wird am Jüngsten Tag sein Urteil fällen, und zwar unabhängig von diesen Fragen, allein gemäß der getanen Pflicht. Voltaire hätte diesen Sätzen Castellios nur zustimmen können, wenn er sie gekannt hätte. Dass er Castellio kannte, geht aus einer kurzen Bemerkung hervor, in der er ihn mit Calvin vergleicht – allerdings nur im Hinblick auf die Gelehrsamkeit – und letzterem Eifersucht unterstellt.352 Er erwähnt und rühmt aber den Toleranzbrief von John Locke, dessen Kenntnis der Werke Castellios ja gesichert ist. Jedenfalls war auch Voltaire der Meinung, dass es sinnlos sei, über dogmatische Fragen, z. B. über die Trinität, zu streiten, die, im Unterschied etwa zu Theoremen der Geometrie, jenseits des Bereiches sicherer Erkenntnis liegen: „Je weniger Dogmen, desto weniger Streitigkeiten. Je weniger Streitigkeiten, desto weniger Unglück.“353 Im Unterschied zu Castellio verfügte Voltaire als Schriftsteller allerdings über andere rhetorische Mittel, die Sache der Toleranz mit größerer Wirkung zu befördern. Er nahm jene 348 Voltaire, Toleranz, 154. 349 Voltaire, Toleranz, 179. 350 Voltaire, Toleranz, 77. 351 Castellio, Die Kunst des Zweifelns, I, 20. 352 Siehe Guggisberg, Castellio im Urteil seiner Nachwelt, 171. 353 Voltaire, Toleranz, 173.

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wirkungsvollen, medizinischen Metaphern auf, die Calvin verwendet hatte, um sie gegen diesen zu wenden. Hatten Calvin und seine Anhänger die Häresie mit einer schleichenden Krankheit verglichen, deren Ausbreitung unbedingt verhindert werden müsse – eben deshalb sei Toleranz unverantwortlich –, so beschreibt Voltaire gerade den Fanatismus der Intoleranz mit den Metaphern der Krankheit:354 Hat der Fanatismus das Gehirn einmal verpestet, so ist die Krankheit fast unheilbar. … Gegen diese Seuche gibt es kein anderes Mittel als den Geist der Philosophie, … Gesetze und Religion vermögen wenig gegen die Verpestung der Seelen. Wird der Fanatismus, der keine Abweichung von der eigenen Meinung gelten lässt, als Krankheit betrachtet, dann bietet sich als Heilmittel gerade die Toleranz an, die aus dem Geist der Philosophie entspringt, eben aus der Einsicht in die Grenzen der Erkenntnis oder, um Castellios Formel aufzugreifen, aus der Übung in der „Kunst des Zweifelns“. Den Vorwurf der Intoleranz richtet Voltaire ausdrücklich gegen das Christentum, während er die Religion der Römer sowie das Judentum davon abzuheben versucht: „Wir, wir Christen allein sind Verfolger, Henker und Meuchelmörder gewesen. Und gegen wen? Gegen unsere Brüder.“ Seit der Regierung Konstantins hätten die Christen nicht aufgehört, „Blut zu vergießen und Scheiterhaufen anzuzünden“.355 Sein Urteil über Konstantin, den ersten christlichen Kaiser, ist aber durchaus differenziert: Konstantin habe „mit einem Erlass“ begonnen, „der alle Religionen gestattete“; „am Ende“ sei er aber „zum Verfolger“ geworden.356 Ein Jahrhundert zuvor hatte Roger Williams dieselbe Differenzierung vorgenommen und ebenso wie Voltaire die Entwicklung Konstantins negativ bewertet. Ein Zeitgenosse Voltaires, der schottische Philosoph David Hume (1711–1776), ebenso als Vertreter der Aufklärung bekannt, hat den Vorwurf der Intoleranz nicht nur gegen das Christentum gerichtet, sondern allgemein gegen den Monotheismus. Damit hat er fast schon die moderne Monotheismusdebatte vorweggenommen. In seiner „Naturgeschichte der Religion“, die mit Recht als Beginn der Religions­ wissenschaft betrachtet werden könnte, vergleicht er die Religionen im Hinblick auf Verfolgung und Toleranz (persecution and toleration) und stellt fest:357 The intolerance of almost all religions, which have maintained the unity of God, is as remarkable as the contrary principle of polytheists. Die Toleranz, die neuerdings in England und Holland herrsche, ist, Hume zufolge, ein Ergebnis der Trennung von Staat und Religion, der Opposition des Staates gegen die Machtansprüche der Religion – also das Ergebnis einer Entwicklung, die 354 Voltaire, Toleranz, 22. 355 Voltaire, Toleranz, 106. 356 Voltaire, Toleranz, 31; 174f. 357 Hume, The Natural History of Religion, 50.

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schon Marsilius von Padua, den Hume wohl nicht gekannt hat, im späten Mittelalter gefordert hatte: „… this singularity has proceeded from the steady resolution of the civil magistrate, in opposition to the continued efforts of priests and bigots“. Ebenso wie David Hume könnte auch Gotthold Ephraim Lessing (1729–1783) zu den Ahnen der Religionswissenschaft gerechnet werden. Seine „Rettung des Hier. Cardanus“ galt einem Renaissance-Gelehrten, der die Religionen verglichen hatte, ohne ein Urteil über die wahre Religion zu fällen;358 und seine Veröffent­lichung eines Werkes von Samuel Reimarus trug dazu bei, der historisch-kritischen Religionsforschung den Weg zu bereiten. In der modernen Monotheismusdebatte ist Lessings Drama „Nathan der Weise“ zitiert worden. In dem Spiegel-Interview im Dezember 2006 antwortete Jan Assmann auf die Frage des Reporters, wie denn eine ‚tolerante‘ Religion aussehen könnte: „Die Antwort hat Lessing in seiner Ringparabel gegeben.“ Lessing hatte dieses Gleichnis, in dem die drei ununterscheid­baren Ringe für die drei monotheistischen Religionen stehen, von Bocacchio übernommen – es war also schon im 14. Jahrhundert bekannt.359 Die Ringparabel in der Version Bocacchios war im Italien des 16. Jahrhunderts offensichtlich gut bekannt, bevor sie von der kirchlichen Zensur aus dem Text getilgt wurde. Der Historiker Carlo Ginzburg hat ein Zitat dieser Geschichte in einem Inquisitionsprotokoll aus dem Jahr 1599 gefunden: Domenico Scandella, bekannt als Menocchio, ein Müller aus einem Dorf in der Nähe Pordenones, hat in seinem zweiten Prozess vor dem Inquisitionsgericht darum gebeten, eine Geschichte erzählen zu dürfen: I beg you, sir, listen to me. Once upon a time there was a great lord, who declared that his heir would be the person who had a certain precious ring of his, and when death was near, he had two other rings made like the first, since he had three sons, … Der angeklagte Müller zog daraus die radikale Konsequenz, Gott habe verschiedene Kinder, die er gleichermaßen liebe – Christen, Türken und Juden; und er habe allen den Willen gegeben, nach seinem Gesetz zu leben, „and we do not know which is the good one“. Mit dieser Geschichte wollte der Müller die Frage des Inquisitors beantworten – dies war ein Punkt der Anklage – „if he had said that he was born a Christian and so wants to live as a Christian, but if he had been born a Turk, he would have wanted to remain a Turk“.360 Diese Antwort war strategisch allerdings 358 Vgl. dazu Berner, Aufklärung als Ursprung und Aufgabe der Religionswissenschaft, 164f. Übrigens hatte sich schon der Großvater Lessings, der Jurist Theophil Lessing (1647–1735) für religiöse Toleranz ausgesprochen: „De religionum tolerantia“; allerdings hatte er zwischen Duldung und Anerkennung unterschieden. 359 Zur Vorgeschichte der Ringparabel vgl. Kuschel, „Jud, Christ und Muselmann vereinigt?“, 133–163; Weltecke, Müssen monotheistische Religionen intolerant sein?, 308–311. 360 Verhör vom 12. Juli 1599 (Del Col, Domenico Scandella. His Trials before the Inquisition, 132f). Vgl. dazu Ginzburg, Der Käse und die Würmer, 79–81.

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höchst ungeschickt, da sie aus der Sicht des Inquisitors die Anklage bestätigte. So wurde der Müller am 8. August 1599 als rückfälliger Ketzer zum Tode verurteilt, unter anderem deswegen, weil er die Auffassung vertreten – und verbreitet – habe, dass alle Menschen, auch Häretiker und Nichtchristen, den heiligen Geist haben und gerettet werden können. Lessing hat der Ringparabel ein Motiv hinzugefügt: dass der „wahre“ Ring „die geheime Kraft“ hatte, „vor Gott und Menschen angenehm zu machen“;361 und daraus konnte Lessing dann die Folgerung ableiten:362 Es eifre jeder seiner unbestochnen / von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette / Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag zu legen! … Der Ausgangspunkt dieses berühmten Dialoges über die wahre Religion war die Frage des Sultans, welche Gründe den „weisen“ Nathan dazu bewogen haben, der Religion seiner Väter, dem Judentum, treu zu bleiben: „Ein Mann wie du bleibt da / Nicht stehen, wo der Zufall der Geburt / Ihn hingeworfen: oder wenn er bleibt, / Bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern.“363 Diese beiden Ideen, dass die eigene religiöse Identität durch einen abwägenden Vergleich der Religionen begründet werden müsste, und dass die wahre Religion an ihrer Wirkung im Leben erkennbar sein müsste, scheinen auf den ersten Blick neu zu sein und könnten als Errungenschaft der Aufklärung betrachtet werden. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass diese Ideen schon von den „toleranten“ Theologen der Reformationszeit und auch des Mittelalters vertreten worden waren. So hat z. B. Castellio, ebenso wie schon Abälard im 12. Jahrhundert, die Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt, dass die religiöse Identität ja nur das Ergebnis der religiösen Sozialisierung ist, die durch den Zufall bedingt ist:364 Der größte Teil der Christen glaubt nämlich nicht anders an Christus als die Türken an Mohammed … Denn sie glauben an Christus, weil sie von klein auf in seiner Lehre erzogen wurden und sie von ihren Eltern empfangen haben. Wären sie aber in gleicher Weise in Mohammeds Lehren erzogen worden, würden sie ebenso an Mohammed glauben. Im Anschluss an diese Überlegung hat Castellio dann tatsächlich einen Vergleich vorgenommen, um herauszufinden, welches die beste Religion ist – um nicht im „Kinderglauben“ zu verharren, sondern aus „Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern“ ein Christ zu bleiben. Auch das Kriterium der Wahl hat er ähnlich wie Lessing 361 Lessing, Nathan der Weise, V. 1915f; vgl. 2016f. 362 Lessing, Nathan der Weise, V. 2041–2045. 363 Lessing, Nathan der Weise, V. 1845–1848. 364 Castellio, Die Kunst des Zweifelns, I, 5.

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bestimmt: Es stehe außer Zweifel, „dass diejenige als die beste anzusehen ist, welche die Menschen so rechtschaffen wie möglich werden lässt“. Er zitiert dann einige Texte aus dem Neuen Testament, wie z. B. Acta 2,44–47, um zu dem Ergebnis zu kommen, „dass die christliche Lehre von der Gerechtigkeit von allen bei weitem die beste ist“. Aufgrund dieser wertenden Stellungnahme kann Castellio nicht zu den Vorläufern der kritischen Religionswissenschaft in der Nachfolge Humes gerechnet werden, wohl aber zu den Vorläufern der religiösen Religionswissenschaft oder der religionsgeschichtlichen Theologie, wie sie z. B. durch Max Müller bzw. durch Ernst Troeltsch vertreten wurde. Als Merkmal der Aufklärung gilt das Vertrauen auf die Vernunft, von der Voltaire sagt, dass sie die Krankheit des Verstandes, den Fanatismus, heilt und „die Menschen langsam, aber untrüglich aufklärt“.365 Auf die Vernunft setzte aber auch schon Castellio seine Hoffnung, in seinem Versuch, die „Kunst des Zweifelns“ zu lehren:366 die Vernunft sei „gleichsam Gottes ewige Rede, bei weitem älter und verlässlicher als Schriften und Riten“; der Vernunft folgend hätten „Abel und Henoch und Noah und Abraham und viele andere bereits vor den Büchern Moses gottesfürchtig gelebt“, und auch Jesus selbst sei in der Auslegung des Gesetzes immer der Vernunft gefolgt, wie es z. B. seine Berufung auf das Beispiel Davids zeige, der sich vernünftigerweise über ein religiöses Gesetz hinweggesetzt habe (Mk 2,25f). Die Vernunft lehre, was recht und unrecht ist, und daraus entstehe das Gewissen, von dem Paulus gesprochen habe (Rm 2,14–16). Mit seiner Meinung, dass die Vernunft dem Menschen die Möglichkeit gibt, zwischen recht und unrecht zu unterscheiden, steht Castellio zugleich in einer Tradition, die sich weit ins Mittelalter zurückverfolgen lässt: Schon Abälard und Anselm von Havelberg hatten jene alttestamentlichen Gestalten, von Abel bis Abraham, aufgeführt, die vor oder ohne Offenbarung spezieller religiöser Gesetze, allein dem Naturgesetz folgend, ein Gott wohlgefälliges Leben geführt hätten.367 6.2.4 Zusammenfassung und Ausblick Im Blick auf die europäische Religionsgeschichte hat sich gezeigt, dass der Weg zur religiösen Toleranz, wie sie im 20. Jahrhundert schließlich als ein Menschenrecht definiert wurde, nicht einfach als eine Folge von Stufen beschrieben werden kann, die vom Mittelalter über die Reformation und/oder über die Aufklärung zum Ziel geführt haben. Der Fall Servet hat gezeigt, dass die bekanntesten Reformatoren, wie z. B. Calvin und Melanchthon, mit Thomas von Aquin, dem katholischen „Kirchenlehrer“ aus dem Mittelalter, darin übereingestimmt haben, dass hartnäckige Ketzer getötet werden müssen – insofern hat die Reformation als solche nicht einen Fortschritt auf dem Weg zur Toleranz gebracht. Im Zeitalter der Reformation gab es 365 Voltaire, Toleranz, 74. 366 Siehe Castellio, Die Kunst des Zweifelns, I, 25. 367 Siehe Anselm von Havelberg, Anticimenon I,3.

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aber Debatten über die Toleranz, ausgelöst gerade durch den Fall Servet, und die Vertreter der Toleranz haben die Aufklärung zu einem großen Teil schon vorweggenommen oder zumindest vorbereitet. Diese tolerante Auslegung des Christentums, die es schon in der Spätantike und im Mittelalter gegeben hat, hatte sich allerdings nicht durchsetzen können, auch in der Zeit der Reformation noch nicht, und so kann durchaus der Eindruck entstehen, wie z. B. bei den „Neuen Atheisten“, dass der Toleranz-Gedanke – die Absage an Verfolgung der Häretiker – erst in der Aufklärung aufkommen konnte und an Philosophie und Religionskritik gebunden ist. Die Vertreter dieser Sichtweise könnten sich auf Voltaire berufen, den bekanntesten Aufklärungs-Philosophen, der Vernunft und Philosophie als einziges Heilmittel gepriesen hat:368 Die Philosophie, sie allein, diese Schwester der Religion, hat die Hände entwaffnet, die durch den Aberglauben so lange von Blut trieften. Der Menschenverstand erstaunte beim Erwachen aus seiner Trunkenheit über die entsetzlichen Dinge, zu welchen ihn der Fanatismus verleitet hatte. Diesen Eindruck vermittelt z. B. auch die populärwissenschaftliche Darstellung des bekannten Psychologen Steven Pinker, der das Christentum des Mittelalters als „eine Kultur der Grausamkeiten“ beschreibt. Die entscheidende Veränderung in der Geschichte begann, Pinker zufolge, „mit dem Zeitalter der Vernunft im 17. Jahrhundert und erreichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Aufklärung ihren Höhepunkt“.369 Nach einem kurzen Überblick über den unvorstellbar großen „Blutzoll, den die Verfolgung von Ketzern und Ungläubigen im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Christentum forderte“, bringt Pinker jeweils ein Zitat von Luther und Calvin, über die Vertreibung der Juden bzw. die Tötung von Ketzern.370 Pinker erwähnt mehrfach den Fall Servet, und in diesem Zusammenhang kommt er auf Castellio zu sprechen und bietet ein Zitat aus der ersten Toleranzschrift, mit der Bemerkung, diese Argumente hätten im 17. Jahrhundert nachgewirkt, bei Autoren wie z. B. Spinoza und Locke.371 Diese Darstellung ist nicht unkorrekt, aber doch etwas irreführend, insofern als er Castellio nur als einen „französischen Gelehrten“ vorstellt, neben Erasmus als einem der „skeptischen Philosophen“ seiner Zeit. So könnte dem unbefangenen Leser die Tatsache verborgen bleiben, dass diese beiden Autoren ihre tolerante Gesinnung ja als Theologen innerhalb des Christentums vertreten wollten, jeweils im Kontext der Konfession, der sie sich zugehörig fühlten. Ebenso irreführend könnte die Darstellung des christentumskritisch eingestellten Neutestamentlers Gerd Lüdemann wirken: Korrekt beschreibt er die intolerante Haltung des Reformators 368 Voltaire, Toleranz, 67. 369 Pinker, Gewalt, 208/209. 370 Pinker, ebda, 222/223. 371 Pinker, ebda, 225/226.

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Melanchthon, der die Hinrichtung Servets lobte, und erwähnt dann die „ohnmächtige Protestschrift des Humanisten Sebastian Castellio“, die „gegen die im Gottesgedanken begründete Intoleranz“ nicht ankam.372 Dem Leser wird an dieser Stelle die Information vorenthalten, dass der „Humanist“ Castellio ja auch Theologe war und seine Toleranz ebenfalls aus dem Gottesgedanken abgeleitet hatte. In einer vergleichbaren, populärwissenschaftlichen Darstellung ist von den „geistigen Quantensprüngen im Denken des 17. Jahrhunderts“ die Rede.373 Als Vorläufer aus dem 16. Jahrhundert wird mit Recht Montaigne gewürdigt, der als Skeptiker bekannt ist. Doch hätte hier erwähnt werden sollen, dass Montaigne ein Bewunderer Castellios war, wie aus einem seiner Essays hervorgeht.374 Der Historiker Perez Zagorin hat Castellio als „The First Champion of Religious Toleration“ gewürdigt und seine Schriften, wie zu erwarten, richtig in ihren historischen Kontext eingeordnet. Gestützt vor allem auf diese Darstellung hat der Soziologe Ulrich Beck Castellios „de haereticis“ als einen „Leuchtturm im Kampf für religiöse Freiheit und Toleranz“ bezeichnet.375 Zagorin bietet einen Überblick über die Toleranzdebatten der Neuzeit, beginnend mit der Kontroverse zwischen Castellio und Calvin, über die Debatten in den Niederlanden, England und Frankreich bis zur Aufklärung; er bringt dann noch einen kurzen Ausblick auf das 20. Jahrhundert, bis zur Festschreibung der Religionsfreiheit in der Menschenrechts-Erklärung der UNO (1948) und in der Erklärung zur Menschenwürde im zweiten Vatikanischen Konzil (1965). Seine Darstellung macht völlig korrekt die Kontinuität erkennbar, die zwischen den theologischen und den philosophischen Toleranzdebatten besteht. Es bleibt aber festzuhalten, dass diese Kontinuität ja noch weiter zurückverfolgt werden kann: In seiner Darstellung der „christlichen Theorie der Verfolgung“, wie sie in der Spätantike entstand und im Mittelalter ausgebaut wurde, erwähnt Zagorin keinen der Theologen, die sich gegen die Verfolgung und vor allem gegen die Todesstrafe für Häretiker ausgesprochen haben.376 Es ist zwar nicht unkorrekt, die Inquisition als Vollendung des „Systems der Intoleranz“ zu bezeichnen und Thomas von Aquin als wichtigste Autorität für die „Theorie der Verfolgung“ im Mittelalter zu zitieren.377 Doch sollten auch die Kritiker der Inquisition erwähnt werden, wie z. B. der Franziskaner Bernardus Delitiosus. Dasselbe gilt im Hinblick auf die Debatten über Gewalt gegen Ungläubige, im Zeitalter der Kreuzzüge: Auch hier gab es Widerspruch innerhalb der Kirche, und neben dem berühmten Zisterzienser-Abt Bernhard von Clairvaux sollte auch der unbekannte Zisterzienser-Abt Isaak von Stella erwähnt werden, der dem neuen Ideal des Mönchsritters ablehnend gegenüberstand. 372 Lüdemann, Das Unheilige in der Heiligen Schrift, 118f. In einer späteren Schrift hat er aber Castellio korrekt als „Theologen und Humanisten“ vorgestellt (Die Intoleranz des Evangeliums, 206). 373 Rattner/Danzer, Philosophie im 17. Jahrhundert, 9. 374 Siehe Montaigne, Essays, I, 35. 375 Beck, Der eigene Gott, 145. 376 Zagorin, the Idea of Toleration, 14–45. 377 Zagorin, ebda, 42f.

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Es ist also irreführend, wenn das mittelalterliche Christentum als eine Einheit vorgestellt wird, mit dem Hinweis auf das Kirchenrecht, das eindeutige Festlegungen für die Verfolgung der Häretiker enthält. Auf diese Weise kommt nicht in den Blick, dass es immer ganz verschiedene Meinungen über den rechten Umgang mit Häretikern gegeben hat, dass es Vertreter der Toleranz nicht nur außerhalb der Kirche gab, in den „häretischen“ Bewegungen, sondern auch innerhalb der kirchlichen Hierarchie selbst.

Wenn die Vorgeschichte der philosophischen Toleranzdebatten zurückverfolgt wird bis in die theologischen Debatten des Mittelalters, dann ergeben sich Gesichtspunkte für die aktuelle Frage nach dem Verhältnis von Religion und (In)Toleranz. Als erstes kann festgestellt werden, dass es eigentlich nicht mehr sinnvoll erscheint, die Frage zu stellen, ob „die monotheistischen Religionen“ im allgemeinen oder „das Christentum“ im besonderen „notwendig intolerant“ sind. Dorothea Weltecke hat die erstere Frage erörtert und abschließend verneint. Als Beispiel für den „Diskurs der religiösen Vielfalt im Mittelalter“ nennt sie u. a. den „Willehalm“ Wolframs von Eschenbach, der eine „Denkfigur“ eingeführt habe, „die den Gegensatz zwischen ‚gläubig‘ und ‚ungläubig‘ durch eine universale Kategorie auf einer anderen Ebene, … überbrücken kann“. So kommt sie zu dem differenzierten Urteil, dass „die mittelalterlichen Religionen“ u. a. „nicht nur zwischen ‚Gläubigen‘ und ‚Ungläubigen‘“ unterschieden haben, und stellt schließlich fest, dass „die monotheistischen Religionen nicht notwendig intolerant sind“.378 Perry Schmidt-Leukel hat die zweite Frage erörtert, und sie abschließend ebenfalls verneint. Als repräsentativ für die Vertreter der Intoleranz zitiert er Augustin und Thomas von Aquin, als Vertreter der Toleranz, in ihren verschiedenen Ansätzen, Locke und Castellio.379 Damit hat er zwar eine repräsentative Auswahl getroffen, doch hat er die Positionen jeweils isoliert betrachtet, ohne sie in ihren historischen Kontext einzuordnen und als Teil eines Diskurses vorzustellen. Seine ganze Erörterung beruht auf der Voraussetzung, dass Religionen als Subjekte aufgefasst werden können, denen Eigenschaften wie „tolerant“ oder „intolerant“ zugeordnet werden können. Unter dieser Voraussetzung erscheint der Versuch sinnvoll, zu klären, ob „das“ Christentum „so etwas wie einen überstarken Hang zur Intoleranz hat“, und es kann die Frage gestellt werden: „Wie kann eine Religion, die bekennt, daß Gott Liebe ist, …, Intoleranz rechtfertigen?“380 Problematisch ist dabei die Voraussetzung, dass es sich bei Religionen um Einheiten handelt, die in verborgen metaphorischer Redeweise wie Personen, eben als „Subjekte“, beschrieben werden können. Es sind aber nicht Religionen, die etwas „bekennen“ oder „rechtfertigen“; es sind Menschen, die etwas bekennen oder recht378 Weltecke, Müssen monotheistische Religionen intolerant sein?, 305; 319. 379 Schmidt-Leukel, Ist das Christentum notwendig intolerant?, 180–192. 380 Schmidt-Leukel, ebda, 180f.

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fertigen, und die betreffenden Bekenntnisformeln erhalten ihre Bedeutung erst in der Aneignung und Auslegung durch die Menschen, die sie bekennen. Und in dem Prozess der Aneignung können sich völlig verschiedene Auslegungen ergeben, wie es sich gerade im Hinblick auf die Gewaltfrage gezeigt hat: Ein und dasselbe Bekenntnis, sei es das der katholischen Kirche des Mittelalters oder das der verschiedenen protestantischen Kirchen, konnte ganz verschieden ausgelegt werden, als Befürwortung oder Verweigerung der Gewaltanwendung. Das corpus der Quellen, Texte der Bibel sowie der Kirchenväter, bietet ja Ansatzpunkte zur Begründung der verschiedensten theologischen Positionen. Castellio hatte dies schon bemerkt und resigniert festgestellt:381 Letztlich lassen sich, …, die allermeisten Meinungen mit der Autorität der Heiligen Schrift verteidigen, und die an solchen Meinungen hartnäckig festhalten, kann man davon nicht abbringen. Ein „Hang zur Intoleranz“ kann einzelnen Menschen zu- oder abgesprochen werden, nicht aber der betreffenden Religion, zu der diese Menschen sich bekennen. Die Problematik der Metaphern, die dazu verleiten, Religionen als Personen zu konzeptualisieren, ist besonders deutlich in der Rede von den „Geburtsfehlern“ des Christentums: Unter den sieben „Geburtsfehlern“ dieser „altgewordenen Weltreligion“ nennt der Philosoph Herbert Schnädelbach den christlichen Missionsbefehl, den er als ein „Toleranzverbot“ betrachtet. So kann er zu dem Urteil kommen: „Wo das Christentum tolerant wird, hat es sich in Wahrheit schon aufgegeben, …“.382 Der Religionskritiker Schnädelbach kommt zu einem anderen Ergebnis als der Theologe Schmidt-Leukel, doch ist beiden die Voraussetzung gemeinsam, dass es ein Wesen des Christentums gibt – nur dass sie dieses Wesen verschieden bestimmen. Aus der Sicht der Religionswissenschaft erscheint es nicht sinnvoll, zu diesen Wesensbestimmungen Stellung zu nehmen, oder, wie es der Kirchenhistoriker Angenendt unternimmt, im Widerspruch gegen Schnädelbach vom „Segen des Christentums“ zu sprechen. In der Religionswissenschaft wäre z. B. die Frage zu stellen, warum die Toleranzforderung – ob diese nun zum Wesen des Christentums gehört oder ihm widerspricht – in der Geschichte zeitweise realisiert werden konnte, wie z. B. in Polen im 16. Jahrhundert. Im Hinblick auf dieses Beispiel wäre zu fragen, welche Bedingungen es ermöglicht haben, dass die religiös-pluralistische Situation für einige Jahrzehnte stabil blieb, und welche Veränderungen im 17. Jahrhundert das Ende dieser Situation herbeigeführt haben. Dabei wäre in erster Linie das regionale politische System in den Blick zu nehmen: die Stellung des Adels und die Wahlmonarchie in Polen; sodann die überregionalen politischen Machtverhältnisse: die direkte Begegnung der katholischen und der islamischen Mächte, der Habsburger und der Osmanen, in 381 Castellio, Die Kunst des Zweifelns, I, 21. 382 Schnädelbach, Der Fluch des Christentums, 20/21.

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Ungarn und Siebenbürgen; schließlich auch das militärische Eingreifen Schwedens, als einer protestantischen Macht, in Polen, was dort zur Verbindung von Katholizismus und Nationalismus beitragen konnte.383 Für die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Monotheismus und Intoleranz bietet es sich als ein weiterer Ansatzpunkt an, die Inquisition zu betrachten, die zu Recht als die „extremste Form der Intoleranz in der mittelalterlichen katholischen Kirche“ bezeichnet worden ist.384 In der Geschichte des Islams gibt es nur eine zeitlich und lokal begrenzte Episode der Religionsverfolgung, die als „Inquisition“ bezeichnet werden könnte. Eine ganz andere Episode, die Christenverfolgung im Japan des 17. Jahrhunderts, ist schon eher mit der Inquisition im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Christentum vergleichbar. Gerade dieses Beispiel lässt aber deutlich werden, dass jene extreme Form der Intoleranz, die organisierte Verfolgung von Dissidenten, nicht einfach als Folge oder Begleiterscheinung des Monotheismus erklärt werden kann. Zur Erklärung müssten also ganz andere Faktoren berücksichtigt werden, in erster Linie sicherlich die politischen Interessen der Machthaber, im Falle Japans also des Shoguns, der das geeinte Reich gegen mögliche Einflußnahmen durch europäische Mächte schützen wollte. Die Inquisition bietet weiterhin einen Ansatzpunkt zur kritischen Betrachtung des bekannten Vorurteils, dass nur der Gottesglaube, nicht aber der Atheismus, Religionskriege verursacht habe – dass eine Welt ohne Religion eben eine bessere Welt sein würde. Der Soziologe Klaus-Peter Riegel hat in den 80er Jahren die Inquisitionspraxis in revolutionären Glaubensgemeinschaften – in der SowjetUnion und in China – untersucht und mit der Inquisitionspraxis verglichen, wie sie aus der Geschichte der katholischen Kirche bekannt ist, insbesondere im Spanien der Frühen Neuzeit. Er hat dabei einige gemeinsame Strukturmerkmale aufgewiesen, wie z. B. öffentliche Schuldbekenntnisse und Geständnisrituale, die es sowohl in der spanischen Inquisition als auch in den Moskauer Schauprozessen (1936–1939) gegeben hat: „Beide Inquisitionssysteme bedienen sich der theatralischen Machtdemonstration. … Die öffentliche Bloßstellung, Demütigung und dauernde soziale und moralische Stigmatisierung der angeklagten, geständigen und verurteilten Häretiker dient der angestrebten Festigung der normativen Grundordnung der jeweiligen Glaubensgemeinschaft.“385 Die „Denkreform“ der KP in China war, Riegel zufolge, „die wohl konsequenteste Fortführung der römischen Inquisitionspraxis“.386 Auch in der marxistischen Geschichtsschreibung war die Inquisition als ein aktuelles Thema entdeckt worden, allerdings mit einer ganz anderen Zielrichtung: Eine Fortführung der „verbrecherischen“ Inquisitionspraxis wurde hier natürlich nicht in kommunistischen Systemen gesehen, sondern bei denen, „die die kapitalistische 383 Vgl. dazu Tazbir, Geschichte der polnischen Toleranz, 173f. 384 Mensching, Toleranz, 48. 385 Riegel, Inquisitionssysteme, 188. 386 Riegel, Die Inquisitionspraxis, 263. Buc spricht diesen Vergleich mit den Moskauer Schauprozessen an (Heiliger Krieg, 172–178), scheint aber die Arbeiten von Riegel nicht zu kennen.

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Ordnung mit nicht weniger Verbissenheit und Grausamkeit verteidigen als seinerzeit die dominikanischen Inquisitoren die feudale Gesellschaftsordnung“. Als Beispiele aus dem 20. Jahrhundert wurden der Nationalsozialismus, Franco-Spanien und die USA der 60er Jahre genannt.387 Es liegt auf der Hand, dass diese Betrachtung für die Religionswissenschaft weniger von Interesse ist als Riegels Vergleich der Strategien, die entwickelt worden sind für den Umgang mit Dissidenten, die vom Dogma der katholischen Kirche bzw. von der Linie der kommunistischen Partei abgefallen sind. Ein solcher Vergleich, der Begriffe wie „Glaubensgemeinschaft“ und „orthodoxe Glaubenswächter“ auf den Katholizismus wie auf den Stalinismus anwendet, könnte auf Kritik stoßen, wenn der Religionsbegriff definiert wird durch den Bezug zum Gottesglauben oder zumindest zur Transzendenz. Die Unterschiede in den „Glaubenssystemen“ sind allerdings unverkennbar, und doch könnte es für die Religionswissenschaft von größtem Interesse sein, die Strategien zu vergleichen, die dazu gedient haben, die Monopolstellung einer Institution – Kirche bzw. Partei – zu sichern. Und bei diesem Vergleich zeigt sich, dass eine extreme Form der Intoleranz, die als „Inquisitionspraxis“ bezeichnet werden kann, im Rahmen ganz verschiedener Weltanschauungen auftreten kann, in monotheistischen ebenso wie in atheistischen.

Wie immer der Religionsbegriff definiert wird, als Ergebnis kann jedenfalls festgehalten werden, dass die Abwendung vom Monotheismus und die Hinwendung zum Atheismus nicht unbedingt einen Fortschritt auf dem Weg zur Toleranz bedeutet. Es ist eben nicht davon auszugehen, wie es z. B. die viel erörterte Frage nach dem „Gewaltpotenzial der Religionen“ oder dem „Friedenspotenzial von Religion“ nahelegt, dass Ideen die Akteure in der Geschichte der Religionen sind. Denn die Ideen, wie z. B. die „Mosaische Unterscheidung“ zwischen dem wahren Gott und den falschen Göttern, werden immer von Menschen ausgelegt, und in dieser Auslegung können sich ganz verschiedene Bedeutungen ein und derselben Formel ergeben. In der Praxis können sich daraus ganz verschiedene Konsequenzen ergeben – dasselbe Bekenntnis kann als Aufforderung zur Tötung oder zur Schonung der Häretiker aufgefasst werden. Das ist der Unterschied zwischen Memen und Genen, der in der modernen Religionskritik wie auch in der Apologetik vernachlässigt worden ist. Der Biologe Richard Dawkins hatte den Begriff der (religiösen) Meme als Analogie zu dem Begriff der Gene eingeführt, und er hatte diese Meme, wie z. B. die Idee des einen Gottes, metaphorisch als „Viren“ bezeichnet, um auf ihre Schädlichkeit aufmerksam zu machen.388 In seiner kritischen Entgegnung hat der Theologe

387 Grigulevic, Geschichte der Inquisition I, 3–10. 388 Dawkins, The Selfish Gene, 192f; ders., The God Delusion, 216f.

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Alister McGrath die Existenz der „Meme“ bezweifelt und das ganze Konzept als überflüssig zurückgewiesen.389 Der entscheidende Einwand wäre aber darin zu sehen, dass die Meme im Zuge der Weitergabe ihre Bedeutung völlig verändern können, im Unterschied zu den Genen, die doch relativ stabile Programme weitergeben. Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen kann als Beispiel eines religiösen „Mems“ dienen. Es ist unverändert im Wortlaut und im Geltungsanspruch überliefert worden, und doch hat es in dieser Überlieferung ganz verschiedene Bedeutungen angenommen: es ist von den Befürwortern wie von den Gegnern der Verfolgung jeweils als Bestätigung der eigenen Position verstanden worden. Im Unterschied zur Theologie gilt für die Religionswissenschaft, dass nicht nach der „wahren“ oder „richtigen“ Auslegung gefragt und nicht versucht wird, die verschiedenen Bedeutungen zu beurteilen als dem ursprünglichen Sinn mehr oder weniger nahekommend. Aus der Sicht der Religionswissenschaft stellt sich vielmehr die Frage, wie die Entstehung und die Veränderung der Dominanzverhältnisse zu erklären sind, warum sich z. B. die Auffassung eines Thomas von Aquin, dass hartnäckige Ketzer zu töten seien, durchgesetzt hat gegen die Meinung anderer Theologen, wie z. B. Alanus ab Insulis oder Petrus Cantor, die jene Auffassung als mit dem Christentum unvereinbar abgelehnt hatten. Als ein Ansatzpunkt zur Erklärung legt sich die Frage nahe, welche dieser Auffassungen, z. B. welche der verschiedenen Auslegungen des Gleichnisses vom Unkraut unter dem Weizen, nützlicher war für die Institution, in deren Dienst die Theologen standen. Thomas von Aquin lieferte mit einer rationalen Argumentation die theologische Rechtfertigung für die Praxis der katholischen Kirche, der es im 13. Jahrhundert gelungen war, ihre Monopolstellung durch Anwendung von Gewalt zu behaupten, zunächst mit Hilfe des französischen Königs im Albigenser-Kreuzzug und schließlich mit Hilfe der Inquisition. Seine „Theorie der Verfolgung“ war zweifellos sehr nützlich für die Institution der er diente, auf jeden Fall nützlicher als z. B. die Auffassung eines Petrus Cantor, der auf die Gefahr des Missbrauchs der Häresieprozesse hingewiesen hatte. Im 14. Jahrhundert wurde Thomas von Aquin heiliggesprochen, während Bernardus Delitiosus, der den Missbrauch in einigen Häresieprozessen angeprangert hatte, als Häretiker verurteilt wurde. Marsilius von Padua vertrat eine Gegenposition zu Thomas, indem er in ebenso rationaler Argumentation bestritt, dass die Kirche das Recht habe, Gewalt anzuwenden. Seine Theorie musste aus der Sicht der betroffenen Institution geradezu schädlich erscheinen, und so wurde er von demselben Papst Johannes XXII, der Thomas heiligsprach, als Ketzer verurteilt. Der drohenden Verhaftung hatte er sich nur durch die Flucht von Avignon nach München entziehen können – zu dem Kaiser Ludwig, der mit dem Papst in Streit lag. Mit seiner Kritik am Machtanpruch des Papstes vertrat Marsilius die Interessen dieses Kaisers, der ihm denn auch seinen Schutz gewährte – der sich aber letztlich mit seiner Politik nicht durchsetzen konnte. 389 McGrath, Dawkins’ God, 133–135.

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Eine vergleichbare Situation ergab sich im 16. Jahrhundert, als die reformierte Auslegung des Christentums in Genf bereits eine institutionelle Gestalt gewonnen hatte: Calvin lieferte mit seiner Verteidigung der Hinrichtung Servets, ebenso wie Thomas von Aquin zu seiner Zeit, eine theologische Rechtfertigung für die intolerante Praxis im Umgang mit Häretikern. Ebenso wie Petrus Cantor wies Castellio auf die Gefahren hin, die sich bei der Verfolgung der Häretiker ergeben, und ebenso wie Marsilius von Padua bestritt er diesen Machtanspruch der Kirche. Sein Protest war aus der Sicht der betroffenen Institution genauso schädlich und wurde deshalb in derselben Weise unterdrückt. Da er schon vor dem Fall Servet von Genf nach Basel übergesiedelt war, konnte er nicht unmittelbar zur Rechenschaft gezogen, sondern nur publizistisch bekämpft werden. Die tolerante Auslegung des Christentums konnte sich erst sehr viel später durchsetzen, unter veränderten politischen Bedingungen, und nachdem sie auf einer breiteren Grundlage von den Philosophen der Aufklärung weiterentwickelt worden war. Diese Philosophen sind zwar auf dem Weg zur religiösen Toleranz weiter vorangeschritten, standen aber in einer Tradition christlicher Theologen, die in Vergessenheit geraten waren, weil sie zu ihrer Zeit und in ihrem institutionellen Umfeld marginalisiert oder auch verfolgt worden waren. Wenn schon für Castellio gilt, dass die Aufklärung ihn „im ganzen gesehen, wenig beachtet“ habe,390 so gilt das ja noch viel mehr für seine theologischen Vorläufer, die sich schon in der Spätantike und im Mittelalter gegen die Tötung von Häretikern ausgesprochen hatten. Und so kann eben der Eindruck entstehen, wie er in religionskritischen Darstellungen vermittelt wird, dass der Fortschritt auf dem Weg zur religiösen Toleranz zusammenfällt mit der Loslösung vom christlichen Monotheismus. Das Verdienst der Aufklärungsphilosophen wird nicht in Frage gestellt, wenn darauf hingewiesen wird, dass sie Vorläufer unter christlichen Theologen der verschiedenen Konfessionen hatten.391 Toleranz und Intoleranz, letztere bis hin zur Inquisitionspraxis, sind eben nicht an einen weltanschaulichen Rahmen gebunden, können als verschiedene Auslegungen ein und derselben Religion oder Ideologie auftreten. Diese verschiedenen Auslegungen sind nicht eigentlich als dogmatische Differenzen zu beschreiben, und schon gar nicht als konfessionelle Differenzen, sondern eher als verschiedene Arten der Religiosität, die auf einer Skala von skeptischer bis zu fundamentalistischer Religiosität angeordnet werden können.392 Letztere ist dadurch definiert, dass ihre Vertreter es für geboten halten, hartnäckige Häretiker oder Apostaten physisch zu eliminieren, ein religiöses Selbstverständnis, das im zeitgenössischen Sprachgebrauch als „Fundamentalismus“ bezeichnet worden ist.393 390 Guggisberg, Sebastian Castellio, 296. 391 Es ist das Verdienst des Religionshistorikers Michael Pye, darauf hingewiesen zu haben, dass es eine Aufklärung nicht nur in Europa gegeben hat: in Japan gab es gerade zur Zeit Lessings ebenfalls eine Aufklärung, und ganz unabhängig von europäischem Einfluss. Siehe Pye, Aufklärung and Religion in Europe and Japan, sowie seine Übersetzung des Hauptwerkes von Tominaga Nakamoto. 392 Vgl. dazu Berner, Skeptizismus und Religionskritik, 50–54. 393 Vgl. dazu Wießner, Der Fundamentalismus in der Religionsgeschichte.

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Steht also die Intoleranz an diesem Ende der Skala, so die Toleranz am anderen Ende: Die skeptische Religiosität kennt keine Häretiker oder Apostaten. Von den Positionen, die zwischen den Extremen liegen, ist die dogmatische Religiosität von besonderem Interesse: Ihre Vertreter sind sich der Wahrheit ihres Glaubens genauso sicher wie die „Fundamentalisten“, halten es aber nicht für erlaubt, die Leugner dieser Wahrheit physisch zu eliminieren. Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen konnte offensichtlich im Sinne beider Parteien, der „Fundamentalisten“ wie der „Dogmatiker“, ausgelegt werden: Die einen wollten die Vollstreckung des Urteils in der Gegenwart vollziehen, die anderen wollten es dem zukünftigen Gericht überlassen. Es sind zwei Varianten des „exklusiven“ oder „revolutionären“ Monotheismus, der auf der „Mosaischen Unterscheidung“ beruht, von denen die eine intolerant, die andere tolerant ist. Die Neigung zur Toleranz oder Intoleranz liegt eben nicht in der religiösen Idee, sondern in den Menschen, die sie auslegen und ihr erst eine Bedeutung verleihen. Ein Beispiel ist die Auslegung von Ex 32 in der Oper „Mose und Aron“ des jüdi­ schen Komponisten Arnold Schönberg. Wie Jan Assmann mit Recht feststellt, gehört diese Oper „zu den Höhepunkten der abendländischen Auseinandersetzungen mit der Moses-Gestalt und ist daher als ein Meilenstein nicht nur der Musik-, sondern auch der Religionsgeschichte zu würdigen“. Die „‚Mosaische Unterscheidung‘ zwischen dem wahren Gott und den falschen Göttern“ wird hier, Assmann zufolge, „für die Moderne in einem völlig neuen Sinne getroffen“.394 Entgegen der Erwartung – und auch entgegen der Interpretation Assmanns – hat Schönberg den exklusiven, mosaischen Monotheismus als gewaltfrei dargestellt. Denn Schönberg hat den Schluss der alttestamentlichen Geschichte, in der berichtet wird, dass Moses die Apostaten töten lässt, einfach ignoriert. Im Gegenzug hat er gerade den Polytheismus als gewalttätig dargestellt, indem er den Tanz um das goldene Kalb zu einer Folge blutiger Riten ausgebaut hat. Sein Verständnis des exklusiven, revolutionären Monotheismus wird deutlich in der letzten Szene der Oper, die er kreativ als seine eigene Auslegung gestaltet hat: Als Aron von zwei Kriegern gefesselt zu Mose gebracht wird und die Frage gestellt wird: „Sollen wir ihn töten?“, antwortet Moses den Kriegern: Gebt ihn frei, und wenn er es vermag, so lebe er. Die von Schönberg hinzugefügte Regiebemerkung besagt: Aron frei, steht auf und fällt tot um. Schönberg hat sich in dieser Schlussszene offensichtlich von der Auffassung distanziert, dass Mose selbst Gewalt anwendet oder anwenden lässt. Es könnte deshalb irreführend sein, wenn Assmann im Hinblick auf diese Szene davon spricht, dass Aron – der, Assmann zufolge, eine Komponente der Persönlichkeit des Moses 394 Assmann, Die Mosaische Unterscheidung in Arnold Schönbergs Oper, 5.

Von der Intoleranz zur Toleranz

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ist – „förmlich exekutiert“ werde, und dass Schönberg den Monotheismus auf diese Weise „einigermaßen gewaltsam“ therapiert habe, „durch Abspaltung, Abtötung und Verleugnung des Aronitischen“.395 Die Pointe in der Version Schönbergs ist ja gerade, dass der Prophet, der die richtige Gotteserkenntnis hat, den Apostaten leben lässt, sich also nicht dazu berufen sieht, das Urteil Gottes zu vollstrecken. Das ist jene Auffassung, die auch die Befürworter der Toleranz unter den christlichen Theologen immer schon vertreten hatten, wie z. B. Castellio in seiner Auslegung der Geschichte von Petrus und Ananias (Apg 5,1ff): Im Gegensatz zu Calvin, der hier eine Rechtfertigung der Gewalt sah – denn der Apostel selbst habe Ananias getötet –, wies Castellio darauf hin, dass Petrus eben nicht zum Schwert gegriffen habe: „… denn Ananias wurde von Petrus nicht getötet, sondern nur heftig zurechtgewiesen“. Wenn Ananias aber, „bestürzt über die Zurechtweisung, starb, darf man dafür nicht den Tadelnden verantwortlich machen, sondern den strafenden Gott“. Und so stellte Castellio dann die kritische, spöttische Frage: „Warum also hat Calvin den Servet nicht mit dem Wort durchbohrt, wie Petrus den Ananias? Warum hat er diese Aufgabe dem Henker übertragen?“396 Schönbergs Moses-Oper könnte also auch zu den „tatsächlichen Lektüren der Offenbarungsdokumente“ gerechnet werden, die „für die Theoriebildung über monotheistische Religionen einbezogen werden“ müssen.397 Und an diesem Beispiel zeigt sich wieder, dass dasselbe „Mem“ des exklusiven Monotheismus – die „Mosaische Unterscheidung“ zwischen dem einzigen wahren Gott und den falschen Göttern – ganz verschiedene Bedeutungen annehmen kann: Es konnte ebenso als Aufforderung zur Tötung wie als Aufforderung zur Schonung der Häretiker/Apostaten verstanden werden, es kann also Intoleranz ebenso wie Toleranz implizieren. Für beide Auslegungen finden sich Ansatzpunkte in den kanonischen Texten – so konnten die Vertreter der Intoleranz z. B. auf ein mosaisches Gesetz zur Tötung der Apostaten verweisen und dann z. B. die Aussage des Propheten Ezechiel, Gott wolle nicht den Tod des Sünders, in ihrem Sinne (um)deuten, d. h. auf den Tod der Seele beziehen; die Vertreter der Toleranz konnten sich z. B. gerade auf jene prophetische Aussage berufen, auf den Tod des Körpers bezogen, und dann das Gesetz Moses’ in ihrem Sinne (um)deuten, indem sie es für überholt erklärten. Derselbe Befund ergibt sich im Blick auf die Debatten über Gewalt gegen Ungläubige, z. B. auf dem Konzil von Lyon (1274). In seiner Werbung für einen neuen Kreuzzug musste sich der Kardinal Humbert a Romanis u. a. mit der Partei der Pazifisten auseinandersetzen, die sich für ihre Ablehnung des Kreuzzuges auf Mt. 26,51 beriefen: Jesus habe selbst gegen das Ergreifen des Schwertes gesprochen; der Kardinal konnte für seinen Widerspruch ebenfalls ein Wort Jesu anführen: Er berief sich eben auf Lk 22,36 – Jesus habe selbst die Jünger aufgefordert, ein Schwert zu kaufen.398 395 Assmann, ebda, 28. 396 Contra Calvinum Nr. 89 (S. 151f). 397 Weltecke, Müssen monotheistische Religionen intolerant sein?, 319. 398 Lugdunense Concilium Cap. XI (Mansi Vol 24, Sp. 113f).

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Die Entscheidung für die eine oder andere Auslegung der kanonischen Texte ergibt sich aus der Einstellung der Menschen, die sich zu diesem Kanon bekennen und die sich dort einen Text zur Bestätigung der eigenen Auffassung suchen. Dieser Text dient dann als Ausgangspunkt für die Deutung aller anderen Texte. So können sich jeweils kohärente, einander widersprechende Auslegungen – tolerante und intolerante – derselben Religion ergeben, so dass es sinnvoller erscheint, nicht von einer Religion zu sprechen, sondern nur von einer (religiösen) Tradition, die in der Auslegung ihrer Anhänger ganz verschiedene Bedeutungen annehmen kann. Diese Divergenz der Auslegungen einer Tradition ist nicht zu verwechseln mit der Aufspaltung in Konfessionen. Gerade so fundamentale Fragen wie die (Menschen)Rechte der Ungläubigen sind in ein und derselben Konfession kontrovers erörtert und verschieden beantwortet worden, z. B. in der Disputation von Valladolid (1550/51), zwischen Las Casas und Sepulveda, also innerhalb der katholischen Kirche; oder in dem „chinesischen Ritenstreit“, der zwischen verschiedenen katholischen Missionsorden ausgetragen wurde. Im ersten Fall ging es um die Frage, ob heidnische Riten, wie das Menschenopfer der Azteken, den Grund für einen gerechten Krieg der Christen darstellen, oder ob sie für eine Übergangszeit zu tolerieren sind, um die Kollateralschäden eines Eroberungskrieges zu vermeiden. In zweiten Fall ging es um die Frage, ob den neubekehrten Christen die Teilnahme an heidnischen Riten, wie z. B. der Ahnenverehrung, zu verbieten ist, oder ob sie zu tolerieren ist, weil jene Riten den Menschen dazu dienen, ihren Gefühlen Ausdruck zu geben und ihre familiären Beziehungen zu erhalten. In beiden Fällen ging es nicht um dogmatische Streitigkeiten zwischen verschiedenen Konfessionen, sondern um fundamentale Differenzen in der Auffassung vom Sinn der Religion, innerhalb einer Konfession, des Katholizismus.399 Vergleichbar wäre die Kontroverse über die Beurteilung der chinesischen Ethik zwischen Wolff und Francke, also innerhalb einer Konfession, in diesem Falle des Protestantismus. Die Frage scheint nahe zu liegen, ob ein Verständnis von „Toleranz“ und „Intoleranz“, das sich an Thomas von Aquin orientiert, der die Frage erörtert hatte, ob Ungläubige und Häretiker zu tolerieren seien – „utrum sint tolerandi“ –, nicht ganz anachronistisch ist. Schmidt-Leukel hat diese Frage aufgeworfen und zwischen Toleranz als „Duldung“ und Toleranz als „Wertschätzung“ unterschieden.400 Die Frage wäre also, ob der Weg zur religiösen Toleranz erst dann zum Ziel kommt, wenn jene Einstellung einer „Wertschätzung“ aller Religionen und Konfessionen erreicht wird, wie sie in den modernen Theorien eines religiösen Pluralismus gegeben ist, wie z. B. bei dem christlichen Religionsphilosophen John Hick. Der Titel eines seiner Bücher – „God has many names“ – lässt schon erkennen, dass hier eine andere Version des christlichen Monotheismus vorliegt. Es ist nicht der „exklusive“ oder „revolutionäre“ Monotheismus, der auf der „Mosaischen Unterscheidung“ beruht, 399 Vgl. dazu Berner, Synkretismus, 58f; ders., Jesuit Missionaries, 484–488. 400 Schmidt-Leukel, Ist das Christentum notwendig intolerant?, 205; 211. So hatte schon Theophil Lessing zwischen tolerantia und approbatio unterschieden, letztere Einstellung aber abgelehnt.

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sondern der „inklusive“ oder „evolutionäre“ Monotheismus, aus dem die Idee der Toleranz als „Wertschätzung“ abgeleitet werden kann: die Anerkennung einer Pluralität von Konfessionen oder Religionen als gleichwertig, nicht nur als gleichberechtigt. Eine solche Theorie des religiösen Pluralismus scheint auf den ersten Blick das Problem der (In)Toleranz zu lösen, doch stellt sich auch in diesem Modell das Problem, wie die Grenzen der Toleranz zu bestimmen sind. Denn religiöser Pluralismus ist nicht mit einem grenzen- und kritiklosen Relativismus gleichzusetzen, wie auch Schmidt-Leukel, als Vertreter dieses Ansatzes betont. Auch der Philosoph Themistios, der eine solche Position in der Spätantike vertreten hat, hatte schon eine Grenze der Toleranz benannt und damit auch die Notwendigkeit kritischer Urteile, nur dass er diese Grenze anders gezogen hatte als die Kirchenväter: nicht zwischen Christentum und heidnischen Kulten, sondern zwischen Religion und Magie.

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7 Religion und Dialog Interreligiöser Dialog und/oder Kooperation

7.1 Der philosophische Dialog im frühen Christentum In der Einleitung zu dem Sammelband „The End of Dialogue“ hat der Herausgeber, der Altphilologe Simon Goldhill, die provozierende Frage gestellt: „Why don’t Christians do Dialogue?“ Diese Frage weckt die Erwartung, dass die Ära des Dialoges, die mit Platon beginnt und die mit Rationalität und Demokratie assoziiert wird, mit der Christianisierung in der Spätantike zu Ende gegangen sein könnte. Ein Blick auf das Werk Augustins scheint diese Überlegung zu bestätigen: Nach seiner Bekehrung zum Christentum hat Augustin zunächst noch einige Dialoge verfasst, hat sich dann aber anderen Literatur-Gattungen zugewandt – Traktaten und Kommentaren –, die eben besser zu dem Selbstverständnis der Christen passen würden, im sicheren Besitz der Wahrheit zu sein. Gegen eine solche Überlegung ist als Erstes einzuwenden, dass die Werke Augustins ganz verschiedene Versionen des Christentums repräsentieren könnten, die er in seiner Entwicklung durchlaufen hat: eine philosophische und eine dogmatische, wenn nicht fundamentalistische, Phase; die erstere interessiert am Dialog, weil nur Argumente gegeneinander abgewogen werden sollen, ohne dass Zwangsmaßnahmen angewandt oder auch nur angedroht werden dürfen; die letztere nicht mehr am Dialog interessiert, weil neben Argumenten auch Zwangsmaßnahmen angewandt oder zumindest angedroht werden können.1 Welche dieser beiden Versionen des Christentums, die sich in Bezug auf die Einstellung zu Toleranz und Gewalt unterscheiden, vorzuziehen und/oder als christlich zu bezeichnen wäre, könnte nur auf der Grundlage einer ethischen und/oder theologischen Stellungnahme entschieden werden. Als zweites ist gegen eine vorschnelle Gegenüberstellung von Christentum und Dialog einzuwenden, dass die Rationalität des philosophischen Dialoges, wie sie sich im Werk Platons darstellt, durchaus nicht die Intention der Belehrung – oder sogar der Bekehrung – des Dialogpartners ausschließt.2 Es gibt ja nicht nur Dialoge mit offenem Ende, wie den „Euthyphron“, in dem die Frage nach dem richtigen, „frommen“ Handeln nicht beantwortet wird, sondern auch Dialoge wie den „Gorgias“, in dem eine klare Stellungnahme für eine bestimmte Lebensform abgegeben 1 2

Vgl. dazu Clark, Can we talk?; der den Wechsel der literarischen Gattungen auf den Wechsel der Situation zurückgeführt: auf die neue Funktion als Bischof, die andere Aufgaben mit sich bringt. Clark geht allerdings nicht auf das Thema der Zwangsmaßnahmen ein. Vgl. dazu Long, Plato’s dialogues, der die verschiedenen Funktionen der Dialogform im Werk Platons betont.

Der philosophische Dialog im frühen Christentum

325

wird, also versucht wird, den Dialogpartner zu belehren und zur Wahrheit zu führen. Es ist also gut vorstellbar, dass christliche Theologen diese Tradition aufnehmen und den philosophischen Dialog in dieser Funktion als Mittel zur Belehrung oder auch Bekehrung verwenden. Augustin steht in dieser Tradition, wenn er nach seiner Bekehrung zum Christentum auf die Dialogform zurückgreift, z. B. um die Frage zu erörtern, „ob Gott der Urheber des Übels ist“.3 Rückblickend schreibt er später darüber:4 Als wir noch in Rom weilten, nahmen wir uns vor, in gemeinsamem Gespräch zu erforschen, woher das Böse. Wir bemühten uns dabei, das, was wir, göttlicher Autorität uns unterwerfend, bereits glaubten, womöglich mit Gottes Hilfe durch vernünftige Überlegung und Erörterung uns einsichtig zu machen. Dabei ging es Augustin darum, eine rationale Begründung zu finden für die Ablehnung des Manichäismus, einer Religion, die „eine unwandelbare, Gott gleichewige Natur des Bösen“ annimmt.5 Das Christentum, wie er es in dieser Phase, kurz nach seiner Bekehrung, verstand, bot als Alternative die Lehre vom freien Willen des Menschen: „nach sorgfältiger Behandlung des Themas“ schreibt er später, seien sie übereingekommen, „daß das Böse seinen Ursprung allein im freienWillen hat“, eine Auffassung, die er später wiederum revidieren musste, um sie mit seiner Gnadenlehre in Einklang zu bringen. Dabei ging es ihm darum, die Lehre der Pelagianer abzulehnen, jene „neuen Häretiker“, „die beim Eintreten für den freien Willen der Gnade Gottes keinen Raum lassen und behaupten, sie werde uns nur nach Verdienst gewährt“.6 Für diese Auseinandersetzung, die er in seiner Funktion als Bischof führte, hat er nicht mehr auf die Dialogform zurückgegriffen.7 Als literarische Gattung war der Dialog schon vor Augustin von christlichen Autoren verwendet worden, schon im zweiten Jahrhundert, obwohl im Neuen Testament vor der Philosophie gewarnt wurde (Kol 2,8). Justin, bekannt als „Philosoph und Märtyrer“, hat nach seiner Bekehrung zum Christentum den „Dialog mit dem Juden Tryphon“ verfasst, und er hat damit zugleich jene Gattung des Dialoges begründet, die in der Gegenwart so aktuell ist: den interreligiösen Dialog. Als Vorläufer in der Antike kann hier nicht Platon in Anspruch genommen werden, eher vielleicht Cicero. In dem Dialog „Über das Wesen der Götter“ lässt Cicero die Vertreter verschiedener philosophischer Systeme diskutieren, so dass nicht nur Lebensformen, sondern auch ganze Weltbilder 3 4 5 6 7

Augustin, Vom freien Willen, I, 1. Augustin, Retractationes, I, 8,1. Augustin, Retractationes, I, 8,2. Augustin, Retractationes, I, 8,3. Zu den verschiedenen Arten des Dialoges im Frühwerk Augustins und zu dem „Denkweg“, der ihn „schließlich zur Aufgabe der Dialogform überhaupt“ führte, vgl. Metz, Augustinus, 24. Vgl. auch Fuhrer zur „Inszenierung der Einheit von religiöser Praxis und philosophischem Dialog“ in Augustins Frühdialogen.

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Religion und Dialog

gegeneinandergestellt werden, in diesem Fall das epikureische und das stoische. Ein Unterschied würde allerdings darin liegen, dass Cicero am Ende keine eindeutige Stellungnahme abgibt, sondern nur von einer Annäherung an die Wahrheit spricht und dem Leser das Urteil überlässt: der Epikuräer habe den Vortrag (disputatio) des Skeptikers für zutreffender (verior) gehalten, während ihm selbst der des Stoikers „der Wahrscheinlichkeit näher zu kommen schienen“.8 Anders als Cicero ist Justin sicher, die Wahrheit bereits gefunden zu haben, und in dieser Überzeugung ist er dem Stoiker vergleichbar, der den Glauben an die göttliche Vorsehung gegen den Epikuräer und den Skeptiker verteidigt. Anders als der Stoiker gründet Justin seine Überzeugung nicht auf eine der philosophischen Traditionen – Platon kam der Wahrheit immerhin noch am nächsten, wie er im Bericht über seinen Weg zum Christentum feststellt –, sondern auf die biblische Überlieferung: Nach der Begegnung mit einem Christen, der ihm von den Propheten als glaubwürdigen Zeugen der Wahrheit erzählte, schreibt Justin, habe ihn „die Liebe zu den Propheten und jenen Männern, welche die Freunde Christi sind“ erfasst; er habe über die Lehren jenes Christen nachgedacht und „darin die allein verlässige und nutzenbringende Philosophie“ gefunden.9 Wie zu erwarten, ist der ganze „Dialog“ ein Versuch, den bzw. die Juden davon zu überzeugen – und ebenso, und vielleicht in erster Linie, die Christen in ihrer Sicherheit zu bestärken –, dass die christliche Deutung der Propheten die richtige ist, so dass die jüdischen Gesetze eben überholt und nicht mehr bindend sind. Was Justin dabei als „Beweise“ für seine Deutung der Propheten anführt, ist natürlich nur die christliche Sicht, eine mögliche, aber nicht als richtig beweisbare Interpretation der betreffenden Texte. So scheint das kritische Urteil nahe zu liegen, dass es sich um eine „Kümmerform“ des Dialoges handelt, weil die „neue Lehre, die Justin im Dialogus behandelt“, Offenbarung ist und „verkündet, nicht aber in gemeinsamem, vernunftgeleitetem Gespräch von Menschen entwickelt werden“ kann.10 Es bleibt aber festzuhalten, dass Justin das Christentum als die neue und beste Philosophie präsentieren will, weil er davon ausgeht, dass die Propheten, die selbst nicht Beweise verwendet haben, durch Ereignisse in der Geschichte als Verkünder der Wahrheit erwiesen sind – und eben dies, glaubt er, kann im gemeinsamen vernünftigen Gespräch vermittelt werden. Was aber auf jeden Fall dazu berechtigen könnte, dieses Werk trotz seiner belehrenden, missionarischen Tendenz als philosophischen Dialog einzuordnen, ist zum einen die Rationalität der Argumentation und zum andern die Neutralität der Gesprächssituation: Justin verzichtet auf Polemik und betont, gerade zu Beginn und am Ende des Gespräches, auf beiden Seiten die Höflichkeit im Umgang mit dem Gesprächspartner. Und dieses Verhältnis wird auch dadurch nicht beeinträchtigt, dass es am Schluss nicht zu einer Bekehrung des Juden kommt, das missionarische 8 Cicero, De natura deorum, III, 91 (… ad veritatis similitudinem videretur esse propensior). 9 Justin, Dialog, VIII, 1. 10 Voss, Der Dialog, 37.

Der philosophische Dialog im frühen Christentum

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Ziel also nicht erreicht wird.11 Hervorzuheben ist noch, als ein Aspekt der Rationalität des Dialoges, dass Justin die Pluralität von Meinungen innerhalb des Christentums nicht verschweigt. Er selbst hält es für legitim, dass ein Jude, der sich zu Christus bekennt, weiterhin die jüdischen Gesetze hält:12 „Nach meiner Meinung“, erklärt Justin, wird er das Heil erlangen, wenn er nicht seine Mitmenschen, das sind die Heiden, welche Christus beschnitten und vom Irrtum befreit hat, auf jede Art zur Beobachtung der gleichen Vorschriften zu bewegen sucht, welche er selbst einhält;… Er gibt aber zu, dass es Christen gibt, „die behaupten, daß die Genannten nicht selig werden“ und „welche es nicht einmal wagen würden, mit den Genannten sich zu unterhalten und mit ihnen in einer Wohnung zusammen zu sein“. Justin stellt fest, dass er diesen Christen nicht zustimmt und der Meinung ist, man müsse die genannten Juden-Christen „annehmen und in allem mit ihnen wie mit Blutsverwandten und Brüdern verkehren“.13 Er geht sogar so weit, zu sagen, dass seiner Meinung nach „auch die, welche von den Erwähnten sich verleiten lassen, nach dem Gesetze zu leben, selig werden, wenn sie fortfahren, den Christus Gottes zu bekennen“.14 Anders als der „Dialog mit dem Juden Tryphon“ endet der „Octavius“, der Dialog des Christen Octavius mit dem Heiden Caecilius. Am Ende dieses Dialoges, verfasst von Minucius Felix um die Wende zum 3. Jahrhundert, steht die Bekehrung des Gesprächspartners zum Christentum:15 So gingen wir froh und heiteren Herzens auseinander. Caecilius freute sich, weil er zum Glauben gelangt war, Octavius, weil er gesiegt hatte, ich selbst war glücklich über die Bekehrung des einen und den Sieg des anderen. Dieses Ende des Dialoges lässt den Unterschied im Vergleich zu Ciceros Dialog erkennen, noch größer als im Falle Justins.16 Was den „Octavius“ trotz dieser missionarischen Tendenz als philosophischen Dialog qualifizieren könnte, ist weniger die Argumentation, die im einzelnen viel von Cicero übernimmt, als vielmehr die inhaltliche Auslegung des Christentums. Es wird als eine rationale, monotheistische Religion dargestellt, die mit den philosophischen Systemen der Antike kompatibel ist:17 11 So auch Campenhausen, Griechische Kirchenväter, 19. Vgl. dagegen Hoffmann, Der Dialog, 20: ein „ruhiger und sachlicher Ton“ sei eigentlich nur bei dem jüdischen Gesprächspartner zu finden. 12 Justin, Dialog, 47, 1. 13 Justin, Dialog, 47, 2. 14 Justin, Dialog, 47, 4. 15 Minucius Felix, Octavius, 40, 4. (Übersetzung: Kytzler). 16 Vgl. dagegen Hoffmann, Der Dialog, 39: Minucius wirke „nicht so aufdringlich missionarisch wie Justin“. 17 Minucius Felix, Octavius, 20, 1.

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Die Meinungen fast sämtlicher Philosophen von Rang habe ich dargelegt; alle haben den einen Gott, wenn auch unter vielerlei Namen, gelehrt. Ja, man könnte meinen, die Christen wären die Philosophen von heute – oder die Philosophen wären schon damals Christen gewesen! Die Kritik, die am Schluss der Rede des Christen geäußert wird, betrifft nicht die Philosophie als ganze, sondern zum einen (nur) den Skeptizismus, und zum andern die Lebensführung der Philosophen, denen Überheblichkeit und Lasterhaftigkeit vorgeworfen wird. So werden die Christen wieder als die Erben und Vollender der wahren Philosophie dargestellt:18 Wir tragen unsere Weisheit nicht im äußeren Gehaben zur Schau, sondern hegen sie im Herzen. Wir reden nicht von großen Dingen, wir leben sie. Die Beschäftigung mit der Philosophie – auch wenn diese durch das Christentum überboten ist – bleibt eine nützliche Übung, können doch die „Übelwollenden mit ihren eigenen Waffen, den Pfeilen der Philosophie, zurückgeschlagen“ werden, wie Minucius Felix am Schluss feststellt.19 Eine andere Einstellung zur Philosophie zeigt sich im Werk Tertullians, eines Zeitgenossen, der ebenfalls um die Wende zum 3. Jahrhundert zur Verteidigung des Christentums schrieb. Er sah keine Kontinuität zwischen Philosophie und Christentum, betonte vielmehr den Widerspruch, geradezu die Unvereinbarkeit, wie es rhetorisch eindrucksvoll in der Gegenüberstellung von Athen und Jerusalem zum Ausdruck kommt, den Symbolen für Philosophie und Christentum:20 Dieselben Gegenstände werden von Häretikern wie von Philosophen bis zum Überdruß traktiert …: Woher das Böse stamme (unde malum), und warum es überhaupt da sei? … Was … (aber) hat Athen mit Jerusalem zu schaffen (quid ergo Athenis et Hierosolymis)? Was die Akademie mit der Kirche, was die Häretiker mit den Christen? … Hüte man sich vor solchen, die ein stoisches, platonisches und dialektisches (aristotelisches) Christentum erfunden haben! Wir bedürfen seit Christus Jesus des Forschens nicht länger, noch des Untersuchens, seit wir das Evangelium besitzen … Tertullian stand mit dieser Auffassung in der Tradition einer Aussage aus dem Neuen Testament – der einzigen Stelle, an der das Wort „Philosophie“ vorkommt –, in der ausdrücklich vor der Philosophie gewarnt wird:21 18 Minucius Felix, Octavius, 38, 6. Vgl. dazu den Kommentar von Schubert, 695, demzufolge Minucius aber nicht „die Konvergenz als solche“ aufdecken will, sondern sie nur „dort als Brücke zum Christentum“ nutzen will, „wo es möglich ist“. 19 Minucius Felix, Octavius, 39, 1. 20 Tertullian, Über die Prozesseinrede, 7, 5–12. 21 Kol 2,8 (Nestle-Aland).

Exkurs: Der philosophische Dialog im frühen Buddhismus

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Sehet zu, daß euch niemand beraube durch die Philosophie und lose Verführung nach der Menschen Lehre und nach der Welt Satzungen, und nicht nach Christo. Wie die Beispiele aus den Werken Justins und des jungen Augustin zeigen, hat es aber doch schon bald Versuche gegeben, an die Philosophie anzuknüpfen und die christlichen Lehren rational zu begründen, und dafür bietet sich eben die Dialogform an. Solche Tendenzen hat es auch im frühen Buddhismus gegeben, und hier, an der Grenze zwischen hellenistischer und indischer Kultur, zeigt sich ebenfalls die Nachwirkung der griechischen Philosophie. Exkurs: Der philosophische Dialog im frühen Buddhismus Der Buddhismus wurde in Europa zunächst als „rational-philosophische Ethik“ aufgefasst,22 und so könnte man erwarten, im buddhistischen Kanon philosophische Dialoge im Stile Platons zu finden. Diese Erwartung würde allerdings enttäuscht werden, wie auch überhaupt im Hinblick auf die Lehre des Buddha gilt, in der Formulierung von Erich Frauwallner: „Wer erwartet, ein eindrucksvolles philosophisches Lehrgebäude … zu finden, wird, wenn er sie kennenlernt, schwer enttäuscht sein. Was der Buddha verkündet, ist kein philosophisches System, sondern ein einfacher Erlösungsweg, mit wenigen philosophischen Gedanken untermauert.“ In den Lehrreden zeigt sich immer wieder, „wie der Buddha mit vollendeter Geschicklichkeit auf die Hörer zu wirken und sie für seine Lehre zu gewinnen weiß. Aber er beweist nicht die Richtigkeit eines Systems, sondern er weckt das gläubige Vertrauen, daß der von ihm gewiesene Weg der richtige ist.“23 Die Ablehnung theoretischer Überlegungen, als nicht förderlich für die Praxis des Erlösungsweges, wird im buddhistischen (Pali)Kanon mehrfach explizit ausgesprochen, vergleichbar der Warnung vor der Philosophie im Neuen Testament. Ein Beispiel findet sich im Cula-Malunkya-Sutta:24 Es wird erzählt, dass einer der Anhänger des Buddha sich nicht damit zufriedengeben will, dass der Buddha philosophische Fragen nicht beantwortet, wie z. B. die Fragen, ob die Welt ewig oder nicht ewig ist, ob der Erlöste nach dem Tod existiert oder nicht – er will erst dann „den heiligen Wandel“ in der Nachfolge des Buddha führen, wenn dieser alle derartigen Fragen beantwortet hat. In dem folgenden Lehrgespräch stellt der Buddha zunächst fest, dass er nie versprochen hat, solche Fragen zu beantworten, um dann ein Gleichnis zu konstruieren: Wenn ein Mann von einem vergifteten Pfeil getroffen wird, dann wäre es doch wohl unsinnig, wenn er sich der ärztlichen Behandlung verweigern würde, weil er vorher unbedingt in Erfahrung bringen will, wie der Mann aussieht, der den Pfeil abgeschossen hat, aus welchem Holz der Bogen war, wie der Pfeil beschaffen war usw. Dieses Gleichnis gibt eine anschauliche Begrün22 Siehe Freiberger/Kleine, Buddhismus, 13. 23 Frauwallner, Geschichte der indischen Philosophie, 156. 24 Majjhima-Nikaya Nr. 63.

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dung für die Weigerung des Buddha, philosophische Fragen zu beantworten, wie z. B. die nach der Existenz des Erlösten nach dem Tode: Weil eben dies, …, nicht mit dem Heil verknüpft ist, weil es nicht zu den Grundlagen des heiligen Wandels gehört; es führt nicht hin zum Gleichmut, zur Leidenschaftslosigkeit, zur Ausrottung (des Daseinsdurstes), zum Frieden, zur rechten Einsicht, zum Erwachen, zum Nirvana. Auch wenn diese Verweigerungs-Haltung so anschaulich begründet wird, ist doch zu erwarten, dass nicht alle Anhänger des Buddha sich mit dieser Auskunft zufriedengegeben haben – philosophisch interessierte Buddhisten werden immer wieder solche Fragen gestellt und dann auch Antworten gegeben haben. Tatsächlich gibt es schon bald im frühen Buddhismus, außerhalb des Kanons, Ansätze einer buddhistischen Philosophie, und hier wird auch die Dialogform aufgegriffen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass ein philosophischer Dialog, in dem buddhistische Grundlehren erörtert werden, an der Grenze des indisch-griechischen Kulturraums angesiedelt ist: das Gespräch zwischen dem griechischen König Milinda (griechisch: Menandros) und dem buddhistischen Mönch Nagasena.25 Nach der Einigung auf die Regeln einer rationalen, gewaltfreien Diskussion – die Art, wie Weise diskutieren, im Unterschied zur Art der Könige – werden in diesem Dialog alle Grundlehren des frühen Buddhismus abgehandelt, wie z. B. die Lehre von der Wiedergeburt:26 Der König sprach: „Derjenige, ehrwürdiger Nagasena, der wiedergeboren wird, ist dies wohl derselbe (wie derjenige, der stirbt) oder ein anderer?“ Diese Frage stellt sich vor dem Hintergrund der buddhistischen anatman-Lehre, die zu Beginn des Gespräches behandelt wurde: die Auffassung, dass die Wirklichkeit „ohne Selbst“ (anatman) ist, gerichtet „gegen die brahmanische Lehre vom atman, welcher unverändert in immer neuen Körpern wiedergeboren“ wird. Wenn es aber kein unveränderliches Selbst gibt, dann stellt sich eben jene Frage, was denn wiedergeboren wird, und so kann mit Recht festgestellt werden, die anatman-Lehre werfe „fundamentale philosophische Fragen auf, die wohl letztlich unlösbar sind (– vielleicht vergleichbar mit dem Theodizee-Problem in der christlichen Theologie)“.27 Das Besondere des „Milindapanha“ ist nun, dass die philosophische Frage, die der griechische König stellt, nicht als irrelevant abgewiesen, sondern ausführlich und geduldig beantwortet wird. Die Antwort des buddhistischen Mönches lautet: „Weder 25 Heinz Bechert zufolge kann ein griechischer Einfluss „fast als sicher“ gelten, was die Form des Dialoges betrifft (Einleitung zur Übersetzung des Milindapanha, 16). Die Urfassung des Textes könnte aus dem 2. oder 1. Jahrhundert v. Chr. stammen. 26 Milindapanha, II, 2. 27 Freiberger/Kleine, Buddhismus, 200.

Der interreligiöse Dialog im mittelalterlichen Christentum

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derselbe noch ein anderer“ (wird wiedergeboren), und diese Antwort, die zunächst unverständlich erscheint, wird dann in mehreren Schritten anhand von Gleichnissen erläutert. Zunächst wird die Frage erörtert, ob der erwachsene Mensch identisch ist mit dem Kind, das er einmal war, oder eine andere Person; dann die Frage, ob die Flamme, die in einer Lampe die ganze Nacht hindurch brennt, während dieser Zeit immer dieselbe Flamme ist oder eine andere. Auf die Bitte des Königs, „noch ein weiteres Gleichnis“ zu geben, antwortet der Mönch:28 Es ist genau derselbe Vorgang, o König, wenn die frische Milch nach einiger Zeit zu Dickmilch wird, die Dickmilch zu Butter und die Butter zu Butteröl. Wenn da nun einer sagen sollte, daß Milch und Dickmilch, oder Butter und Butteröl ein und dasselbe seien, spräche der wohl die Wahrheit? Gewiß nicht, o Herr! Denn erst durch Abhängigkeit von dem einen Zustand ist der andere ins Dasein getreten. Genau in derselben Weise, o König, schließt sich die Kette der Erscheinungen aneinander. Eine Erscheinung entsteht, eine andere schwindet. Dies verläuft, als gäbe es kein Vorher oder Nachher. Daher ist es weder derselbe noch ein anderer, (der wiedergeboren wird). Anders als in der oben zitierten Lehrrede des Pali-Kanons wird in diesem außerkanonischen Text versucht, die „Richtigkeit eines Systems“ zu beweisen, nicht einfach „das gläubige Vertrauen“ zu wecken, dass der vom Buddha gewiesene Weg der richtige ist. Die kritischen Fragen, die dem buddhistischen Weisen gestellt werden, dienen jeweils als Ansatzpunkte, buddhistische Lehren zu erläutern, um sie verständlich zu machen und damit den Zweifel an ihrer Konsistenz und Rationalität auszuräumen – vergleichbar dem Prinzip „fides quaerens intellectum“, wie es aus der christlichen Theologie bekannt ist. Da die kritischen Fragen von einem Außenstehenden, in diesem Fall einem Griechen, gestellt werden, ist der „Milindapanha“ auch mit den interreligiösen Dialogen vergleichbar, wie sie aus der Geschichte des mittelalterlichen Christentums bekannt sind. 7.2 Der interreligiöse Dialog im mittelalterlichen Christentum Der Philosoph Vittorio Hösle hat mit Recht darauf hingewiesen, dass es gerade im Mittelalter jene Art des Dialoges gab, die in der Gegenwart so aktuell ist: der interreligiöse Dialog.29 Eines der Beispiele, die er vorstellt und die er daraufhin betrachtet, ob aus ihnen etwas für die Zukunft zu lernen sein könnte, ist die „Disputatio mit einem Juden“, verfasst von Gilbertus Crispinus, dem Abt von Westminster, gegen Ende des 11. Jahrhunderts. Wie Gilbert im Prolog behauptet, handelt es sich um 28 Milindapanha, II, 2. 29 Hösle, Interreligious Dialogues, 60f.

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die Niederschrift eines Religionsgesprächs, das in seinem Kloster stattgefunden hat. Wie immer die Authentizität dieses „Dialoges“ beurteilt wird,30 es ist festzuhalten, dass kurz vor den Judenpogromen, die eine Begleiterscheinung des ersten Kreuzzuges waren, ein Vertreter des kirchlichen Christentums über seine freundschaftliche Beziehung zu einem Juden berichtet: Eng mit mir befreundet, kam er oft zu mir, bald wegen seiner Geschäfte, bald aus Freude darüber, mich zu sehen, weil ich ihm in einigen geschäftlichen Dingen sehr behilflich war. Und sooft wir uns trafen begannen wir sogleich, uns freundschaftlich über die (heiligen) Schriften und über unseren Glauben zu unterhalten. Gilbert legt auch Wert darauf, das Gespräch als einen philosophischen Dialog zu charakterisieren: rational, insofern als nur Argumente gelten sollen, ohne auf den Beifall der Zuhörer zu achten; und gewaltfrei, denn das Gespräch soll auf beiden Seiten in toleranter und geduldiger Haltung (toleranti animo; animo patienti) geführt werden – „… es soll am Schluss gewinnen, wem die Vernunft beispringen und für wen die Autorität der Schrift sprechen wird“.31 Dieses Versprechen, in „toleranter Haltung“ zu diskutieren, wird insofern eingelöst, als „der Christ“ auch dann nicht aggressiv reagiert und polemisch wird, wenn „der Jude“ scharfe Kritik äußert, wie z. B. in Bezug auf die christliche, allegorische Deutung prophetischer Texte aus dem Alten Testament, wie z. B. Ez 44,2f:32 Jude: Du tust der Schrift Gewalt an und verdrehst die Schriftstellen so lange, bis sie euren Glauben belegen. Denn eindeutig bezieht sich der Prophet Ezechiel auf ein Tor und spricht von einem Tor, du aber beziehst dich auf eine Frau, redest über sie gerade wie es dir gefällt. Diese Kritik von jüdischer Seite wird in der „Fortsetzung“ des Gespräches, die wohl als ein späterer Zusatz zu betrachten ist, als grundsätzlicher Einwand und noch schärfer formuliert:33 Jude: Wo immer ihr wollt, setzt ihr Allegorien und sprachliche Figuren voraus. … Bei dieser Vorgehensweise, sage ich, könnt ihr die Schriften an alles, was ihr wollt, angleichen. Denn ihr ordnet euer Verständnis nicht der Schrift unter, sondern unterwerft die Schrift eurem Verständnis.

30 Wilhelm/Wilhelmi 15: „ein Gesprächsprotokoll“, „das bei der Niederschrift aufgearbeitet wurde“. Vgl dagegen Werblowski, Crispin’s Disputation, der den Abstand zwischen echten Gesprächen und der literarischen Stilisierung betont. 31 Gilbert Crispin, Dialog mit einem Juden, I (S. 35/37) (vincat cui ratio attestabitur et scripturae auctoritas contestabitur). 32 Gilbert Cripin, Dialog mit einem Juden, IV (S. 81). 33 Gibert Crispin, Dialog mit einem Juden. Fortsetzung IV (S. 127).

Der interreligiöse Dialog im mittelalterlichen Christentum

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Es liegt auf der Hand, dass der christliche Verfasser, Gilbertus Crispinus, wenn er denn diese grundsätzliche Kritik zitiert, ganz sicher sein muss, die Kritik widerlegen zu können. Das ist aber nicht einfach, wenn es ohne Polemik geschehen soll, und so ist es nicht verwunderlich, dass seine Antworten länger ausfallen als die kritischen Stellungnahmen des jüdischen Gesprächspartners. Diese Asymmetrie könnte wiederum das kritische Urteil des Jerusalemer Religionshistorikers Zwi Werblowski plausibel erscheinen lassen, der das Prinzip des „fides quaerens intellectum“ in dieser Dialogliteratur verwirklicht sieht: „ … the Jew is a stage-hand, enabling Crispin to develop his views in a dialectical viva voce. … his probing questions are the mechanism by which the thinking of faith moves towards its aim – the full and rational understanding of itself. Clearly, therefore, Crispin’s Jew serves a Christian purpose and fulfills a specifically theological need.“34 Dieses Urteil Werblowskis könnte auch auf den Juden-Dialog Odos von Cambrai (oder von Tournai) zutreffen, der einige Jahre später entstanden ist.35 Der letzte Satz des Dialoges, in dem es im Gespräch mit dem Juden Leo um die Inkarnation geht, scheint anzudeuten, dass es etliche Christen gibt, die sich der Meinung des Juden anschließen. Das würde die Intention der Selbstvergewisserung nur allzu verständlich erscheinen lassen, zumal es gerade zu jener Zeit einige Bekehrungen zum Judentum gegeben hatte, wie z. B. des Erzbischofs von Bari, der sich schließlich in Kairo niederließ.36 Es bleibt aber festzuhalten, dass diese beiden Beispiele christlich-theologischer Selbstvergewisserung im Geist der Toleranz geschrieben sind, wie er sich in der literarischen Gattung des philosophischen Dialoges darstellt: im Verzicht auf Polemik und in der Zeichnung der Gesprächssituation als freundschaftlich und gewaltfrei – zweifellos eine Alternative zu jener Kreuzzugsmentalität, die in jener Zeit zu den ersten großen Judenpogromen führte. Allerdings vermittelt Gilberts Dialog zugleich den Eindruck, dass eine Verständigung in der Sache nicht möglich ist – in der Frage nach Christus, „in dem der gesamte Kern der Fragestellung und der Auseinandersetzung liegt“, wie es Gilbert den Juden formulieren lässt.37 Neben dem unentscheidbaren Streit über die Auslegung alttestamentlicher Texte, ist es vor allem die unbeantwortete Frage nach einer verständlichen Erklärung der Trinitätslehre, die eine Verständigung unmöglich macht. Wenn der „Christ“ auf die kritische Frage des Juden feststellt, dass die Christen nicht eine „Dreimaligkeit“ (triplicitas) in Gott behaupten, sondern nur eine „Dreiheit“ (trinitas“) der Personen, so ist die Frage nach einer vernünftigen, für Außenstehende verständlichen Erklärung damit ja nicht beantwortet. Gilbert hat

34 Werblowski, Crispin’s Disputation, 70/71. 35 Der Übersetzer hält Odos Dialog allerdings für authentisch: „Leo is not at all the straw man so common in this controversial literature, …“ (Resnick, Introduction, 30). 36 Vgl. dazu Resnick, Introduction, 30f. 37 Gilbert Crispin, Dialog mit einem Juden, II (S. 47).

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das wohl selbst gesehen, wenn er diesen Redegang mit der ausweichenden Bemerkung beschließt:38 Weshalb aber nicht von Dreimaligkeit, sondern von der Dreiheit gesprochen werden kann, werden wir zu gegebener Zeit ausführen. Und was wir ausführen werden, werden wir dann mit Vernunftgründen und Schriftzeugnissen untermauern. Tatsächlich hat Gibert dieses Thema an anderer Stelle aufgegriffen, allerdings in einem anderen Text, dem „Dialog mit einem Heiden“. Am Schluss seiner kritischen Fragen und Einwände kommt der „Heide“ (gentilis), bevor er sich zurückzieht, auf die Trinität zu sprechen:39 Über jene Frage nach der Dreifaltigkeit in der göttlichen Einheit, die ich vorgebracht habe, willst du dich mit mir, wie ich glaube, auf keinen Fall auseinandersetzen, weil du weder in der Lage wärst, mir einen vernünftigen Grund zu nennen, noch imstande wärst, mir meine Zustimmung durch irgendeine Überredungskunst abzuringen. Gilbert führt diesen Dialog, an dem er nur als Zuhörer teilgenommen haben will, in der Weise zu Ende, dass er den „katholischen Lehrer“, der das Gespräch geführt haben soll, zunächst feststellen lässt, das Heilige dürfe nicht „den Hunden“ gegeben werden, um dann seine Bereitschaft anzudeuten, dieses „Geheimnis des Glaubens“ im Kreise der Gläubigen zu erklären. So wird das Gespräch unter Christen fortgesetzt, und nach dem Versuch einer abstrakten Erklärung, anhand des Begriffs der Relation, bringt Gilbert zum Schluss ein Gleichnis zur Veranschaulichung: Aus der Quelle des Nils fließt ein Bach, der schließlich einen See bildet, und trotz der Verschiedenheit gilt: „ein und dasselbe Wasser ist die Substanz der Quelle, des Bachs und des Sees“.40 Wer dies begreifen könne, solle Gott Dank sagen, und wer es nicht begreifen könne, solle glauben, dass es so ist – und für Kinder wie für einfache Katholiken gelte, dass Glaube und Taufe zum Heil ausreichend seien. Wenige Jahre später hat Petrus Alfonsi, der zum Christentum konvertierte Jude, einen Dialog verfasst, in dem er – zur Rechtfertigung seiner Konversion – den Juden „Moses“, sein früheres Ich, und den Christen „Petrus“ diskutieren lässt. In diesem Gespräch wird, wie zu erwarten, auch die Trinitätslehre behandelt. Gegenüber den kritischen Fragen von jüdischer Seite behauptet Petrus (Alfonsi), zu Beginn des 6. Buches des Dialogs, die Dreiheit der Personen in Gott sei mit der Vernunft aufzuweisen:41 38 39 40 41

Gilbert Crispin, Dialog mit einem Juden, II (S. 65). Gilbert Crispin, Dialog mit einem Heiden, VII (S. 181). Gilbert Crispin, Dialog mit einemHeiden, VIII (S. 195). Petrus Alfonsi, Dialog, VI (S. 165). (Mieth, S. 73, Z. 31f: M. Possuntne ratione inveniri haec tria? P. Possunt.)

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Moses: Can these three be discovered by reason? Petrus: They can. … Petrus Alfonsi geht in seinem Versuch, die Vernünftigkeit der Trinitätslehre zu beweisen, von seiner Definition der drei Personen aus, die er als „Substanz“ (substantia), „Weisheit“ (sapientia) und „Wille“ (voluntas) bezeichnet. So erscheint es ihm völlig einsichtig, dass die „Substanz“, als Schöpfer aller Dinge, auch Weisheit und Willen haben muss:42 This is so that it would know what it wills to make before it makes it, and even so that it will to make it, because before it may produce a work in reality (in demonstratione) it is first formed in the mind by imagining it, and this imagination is wisdom. Wenn es von christlicher Seite keinen Einspruch gegen diese eigenwillige Auslegung des Trinitätsdogmas gegeben hat, so sicherlich deshalb, weil die ersten vier Bücher des Dialoges eine Kritik des Judentums enthalten, die im christlichen Abendland gut zu gebrauchen und zu verwerten war. Dies gilt insbesondere für den im ersten Buch enthaltenen Vorwurf, die Juden würden naiverweise an einer wörtlichen Auslegung jener biblischen Aussagen festhalten, die vernünftigerweise allegorisch verstanden werden müssten. Dieser Vorwurf geht allerdings ins Leere, insofern als jüdische Theologen natürlich auch von dieser Methode der Schriftauslegung Gebrauch gemacht haben, wie z. B. Joseph Kimhi, der ebenfalls einen interreligiösen Dialog verfasst hat, aber mit einer jüdisch-apologetischen Tendenz, also gerade das Gegenstück zu dem Dialog Petrus Alfonsis:43 … it is the way of Scripture to speak in ordinary human language. … All of this is expressed metaphorically, so that people might know something about Him by conceiving of Him as a human being, … Ebenso wie Petrus Alfonsi, der Apostat, vertritt Joseph Kimhi, der Apologet des Judentums, den Ansatz, die Vernünftigkeit der eigenen Religion und damit ihre Überlegenheit gegenüber der anderen aufzuweisen. Gleich zu Beginn seines Dialoges kritisiert er die Trinitätslehre, indem er den Glauben an den „Sohn“ als nicht vernünftig begründbar zurückweist – dieses Problem hatte Petrus Alfonsi in seiner rationalen Auslegung der Trinität umgangen – und indem er nachweist, dass die Schrift-Stellen, die von Christen angeführt werden, keineswegs als Beweis gelten können. So dienen beide interreligiösen „Dialoge“ der Selbstvergewisserung des eigenen Standpunktes. Dasselbe Ergebnis ergibt sich bei der Betrachtung des Dialoges „mit einem Sarazenen“, verfasst von Euthymios, einem sonst unbekannten byzantinischen Autor, 42 Petrus Alfonsi, Dialog, VI (S. 165). 43 Joseph Kimhi, The Book of the Covenant, S. 42. Vgl. dazu Resnick, Petrus Alfonsi, 72.

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der ein Zeitgenosse Gilberts und Petrus Alfonsis gewesen sein könnte. In diesem Religionsgespräch, das in Melitene, also am östlichen Rand der christlichen Welt stattgefunden haben soll, antwortet ein christlicher Mönch auf die kritischen Fragen eines muslimischen Philosophen. Der Ton ist zunächst freundlich und entspricht der „toleranten Gesinnung“ Gilberts, bis dann im Schlussteil der Ton schärfer wird – hier geht die handschriftliche Überlieferung zunehmend weit auseinander, so dass der Verdacht naheliegt, dass es sich um einen späteren Zusatz handelt, ebenso wie im Falle der „continuatio“ zum Juden-Dialog Gilberts. Der Muslim eröffnet das Gespräch sogleich mit der kritischen Frage nach der christlichen Trinitätslehre: warum die Christen von Vater, Sohn und heiligem Geist sprechen und damit eine Vielheit (polytheia) einführen. Der Christ bekräftigt zunächst die monotheistische Grundlage des Christentums, um dann einfach die Trinitätsformel von der Einheit der göttlichen Substanz und Natur in den drei Personen zu wiederholen. Der Begriff „Sohn“ wird dabei allerdings ersetzt durch den Begriff „logos“, wie er den Christen aus dem Johannes-Prolog bekannt ist, und so kann im folgenden leicht der Nachweis geführt werden, es sei durchaus angemessen und sinnvoll, in Bezug auf Gott von logos und pneuma zu sprechen: da der Mensch als Geschöpf Gottes beides besitze, müsse dies auch von Gott, dem Schöpfer ausgesagt werden können. Nach diesem Argument der rationalen Überlegung bringt der Verfasser dann einige Schriftzitate aus dem Alten Testament als Autoritäten, wie z. B. das dreifache „hagios“ in der Vision Jesajas. Sodann wird als zusätzliches Argument ein Vergleich (homoioma) gebracht, mit dessen Hilfe die Rede von der Vaterschaft Gottes erklärt werden soll: es sei ja auch verständlich, von der menschlichen Vernunft (nous) als dem Vater des Wortes (logos) zu sprechen, da sie eben das Wort hervorbringt.44 Im nächsten Gesprächsgang geht es um die Inkarnation Gottes. Die Frage nach der Möglichkeit der Inkarnation wird mit dem bekannten Sonnen-Gleichnis beantwortet, die Frage nach ihrer Notwendigkeit durch ein Gleichnis aus der Menschenwelt: der Teufel wird getäuscht, da er die göttliche Natur in Christus nicht erkannt hat, so wie der Fisch getäuscht wird, der den Angelhaken im Köder nicht erkennt. Die Frage nach der Einheit in der Dreiheit wird dann noch einmal gestellt, und sie wird wieder mit einem Gleichnis beantwortet: So wie ein König über Nous, Logos und Pneuma verfügt und es doch nicht drei Könige sind, sondern nur einer, so werde auch die Einheit Gottes nicht aufgespalten, wenn die Christen vom „Gott mit Logos und Pneuma“ sprechen.45 In dieser Weise, vor allem mit Hilfe von Vergleichen – wie der buddhistische Mönch im „Milindapanha“ wird auch der christliche Mönch in diesem „Dialog“ immer wieder darum gebeten, ein „Gleichnis“ zu geben – werden alle strittigen Fragen abgehandelt, die christlichen Dogmen und Riten betreffend. Noch stärker als im Falle von Gilberts Juden-Dialog drängt sich der Eindruck auf, dass der „Dialog“ 44 Euthymios, Dialexis, § 2. 45 Euthymios, Dialexis, § 4. Vgl. auch Abälards Auslegung von Röm 1,20.

Der interreligiöse Dialog im mittelalterlichen Christentum

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nur der christlichen Selbstvergewisserung dient und dienen kann, nicht aber einer wirklichen Verständigung mit einem Nicht-Christen, in diesem Fall dem Muslim. Um dies zu erreichen, müsste ja explizit erklärt werden, was die umstrittene Rede vom „Sohn Gottes“ bedeutet. Diesem Ziel ist Petrus Abälardus nahegekommen, der umstrittene Theologe des 12. Jahrhunderts, und nach dem Urteil des Abtes von Cluny, Petrus Venerabilis, der größte Philosoph seiner Zeit. Von Interesse ist hier weniger sein „Dialog“, der ja nicht im gleichen Sinne „interreligiös“ ist, insofern als Jude und Christ als „Brüder“ gegen den Philosophen argumentieren. Relevant ist vielmehr seine „Theologia Summi Boni“, in der er auf die Eigenart der religiösen Sprache reflektiert und die umstrittenen Begriffe „Vater, Sohn und heiliger Geist“ als Namen deutet, die verschiedene Eigenschaften Gottes bezeichnen, also die eine göttliche Substanz aus verschiedenen Perspektiven beschreiben:46 Gott ist drei Personen, d. h. Vater, Sohn und Hl. Geist, bedeutet also: Die göttliche Substanz ist mächtig, weise und gütig, … Mit dem Namen ‚Vater‘ wird wie gesagt die Macht bezeichnet, mit dem Namen ‚Sohn‘ die Weisheit und mit dem Namen ‚Hl. Geist‘ der gute Affekt gegenüber den Geschöpfen. Im folgenden werden wir Gründe für diese Namen anführen, weshalb sie nämlich von ihren gebräuchlichen Bedeutungen auf Unterscheidungsbedürftiges in Gott übertragen werden. Dieser Hinweis auf die metaphorische Verwendung der umstrittenen Begriffe, ihre Übertragung von der Alltagssprache in die religiöse Sprache, würde es ermög­ lichen, sich mit Außenstehenden, die nicht mit der christlichen Dogmatik vertraut sind, über die Bedeutung der trinitarischen Formel zu verständigen – das, was die Namen „Vater, Sohn und hl. Geist“ bezeichnen: Macht, Weisheit und Güte Gottes. Dass ­Abälard dies für möglich hält und anstrebt, zeigt sich auch darin, dass er gleich hinzufügt, die trinitarische Unterscheidung sei nicht durch Christus eingeführt worden, sie sei vielmehr schon den Propheten bei den Juden wie den Philosophen bei den Heiden bekannt gewesen – durch göttliche Inspiration. Der Trinitätsglaube wäre demnach nicht eine Besonderheit des Christentums, die eine Grenze markiert und eine Bekehrung verlangt, sondern eine Verdeut­lichung des universal erkennbaren Gottesbegriffs:47 Der Glaube an die Trinität wurde in der Zeit der Gnade umso leichter von beiden Völkergruppen akzeptiert, als sie sahen, daß diese Distinktion auch von den alten Lehrern übermittelt worden war.

46 Abaelard, Theologia summi boni I, 2, Z. 14–16; 46–51. 47 Abaelard, Theologia summi boni, I, 2, Z. 57–60; vgl. auch Abälards Auslegung von Rm 1,20.

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Religion und Dialog

Ebenso wie Gilbert und Euthymios hat Abälard auch versucht, die Rationalität des Trinitätsglaubens durch Vergleiche zu verdeutlichen, wie z. B. durch den Rekurs auf die Theorie der Grammatik:48 Wundere dich nicht, wenn in derselben göttlichen Substanz drei Personen unterschieden werden im erklärten Sinn. Denn auch nach der grammatischen Lehre (Priscians) geben wir zu, daß der eine Mensch drei Personen ist, eine erste, demgemäß, daß er spricht, eine zweite insofern, als die Rede an ihn gerichtet wird, und endlich eine dritte, wenn einer zum andern über ihn spricht. Abälards rationale Erklärung der Trinitätslehre, bei der kein Glaubensgeheimnis übrigbleibt, wurde von den kirchlichen Autoritäten seiner Zeit als häretisch verurteilt, konnte also nicht als Grundlage eines interreligiösen Dialoges dienen, obwohl sie dazu geeignet gewesen wäre. Als der größte Vordenker und Vorbereiter des interreligösen Dialoges unter den mittelalterlichen Theologen gilt aber nicht Abälard, sondern Raimundus Lullus (1232–1316), der schon deshalb eine besondere Stellung einnimmt, weil er die arabische Sprache erlernt und sich dafür eingesetzt hat, im Abendland Arabisch-Studien einzuführen. Sein „Buch vom Heiden und den drei Weisen“ ist nicht nur als „einer der bedeutendsten Beiträge zum Religionsdialog im Mittelalter“ bezeichnet worden, sondern auch als „ein zukunftsweisendes Werk, insofern es den Beginn einer Traditionslinie markiert, die über Nikolaus von Kues (1401–64) zu Gotthold Ephraim Lessing (1729–81) reicht“, und das auch „Impulse für unsere Zeit“ geben könnte.49 Raimundo Panikkar, selbst ein bekannter Vertreter des interreligiösen Dialoges im 20. Jahrhundert, sprach vom „Geist der großen Ökumene“ in diesem Werk Ramon Lulls: „Wenn wir auf ihn gehört hätten, wäre der Lauf der Geschichte ein anderer gewesen. Doch vielleicht können wir auch heute noch etwas von ihm lernen …“.50 Der erste Eindruck bei der Lektüre scheint dieses Urteil zu bestätigen, denn die Höflichkeit im Umgang und die gegenseitige Wertschätzung wird, im Vergleich etwa zu Gilberts Juden-Dialog, noch stärker betont, und außerdem wird die Perspektive ausgeweitet auf die drei monotheistischen Religionen, wie es dem gegenwärtigen Interesse am interreligiösen Dialog entspricht:51 Währenddessen geschah es, daß drei Weise sich vor den Toren einer berühmten und großen Stadt trafen. Einer von diesen Weisen war Jude, der andere Christ, der dritte Sarazene. Als sie sich dort draußen erblickten, begrüßten sie einander freudig und gingen gemeinsam des Weges. … Sie beschlossen, einen geeigneten Ort aufzusuchen, an dem sie ihren von Studien ermüdeten Geist erfrischen 48 49 50 51

Abaelard, Theoogia summi boni, II, 5, Z. 20–26. Pindl, Nachwort zur Übersetzung des Werkes, 260f. Panikkar, Eintracht als Ziel, 11f. Ramon Lull, Das Buch vom Heiden, Prolog (S. 8f).

Der interreligiöse Dialog im mittelalterlichen Christentum

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könnten. Auf dem Weg dorthin erzählte jeder der Weisen von seinem Glauben und der Wissenschaft, die er seine Schüler lehrte. Diese vorbildlich modern anmutende Athmosphäre des Religionsgespräches wird zum Schluss nochmals eindrucksvoll beschrieben, wenn die drei Weisen zum Ausgangspunkt ihres Spazierganges zurückgekehrt sind:52 Jeder bat die anderen um Verzeihung für den Fall, daß er irgendein beleidigendes Wort gegen ihre Religion gesagt haben sollte. Und sie verziehen einander. Das Besondere dieses Religionsgespräches liegt darin, dass die drei „Weisen“ nicht nur untereinander diskutieren, sondern gemeinsam, aber eben auch im Wettstreit miteinander, einen Heiden belehren und zur wahren Religion führen wollen. Dieser Rahmen gibt Ramon Lull die Gelegenheit, die Gemeinsamkeiten zwischen den drei Religionen ebenso wie die Unterschiede herauszuarbeiten. Im ersten Buch des Dialoges wird dem Heiden, der von einer tiefen Depression befallen ist, die Erkenntnis des einen Gottes und der Auferstehung vermittelt – eine Demonstration, dass es eine gemeinsame Grundlage der drei Religionen gibt. Doch ist Ramon Lull weit davon entfernt, diese Grundlage als ausreichend für das Heil des Menschen zu betrachten. Vielmehr ist diese gemeinsam vermittelte Erkenntnis nur der Ausgangspunkt für die Darstellung der Unterschiede, die in den folgenden Büchern des Dialoges nacheinander entfaltet werden, offensichtlich mit dem Ziel, den Heiden für eine der drei Religionen zu gewinnen. Anders als im Religions-Dialog Abälards wird die Trinitätslehre als ein Spezifikum des Christentums vorgestellt: rational beweisbar und deshalb wahr, aber eben nicht als universal geoffenbart und bereits den Juden und Heiden in Grundzügen bekannt – damit werden die Grenzen zwischen den Religionen stärker betont. Eine weitere Besonderheit dieses Dialoges liegt nun darin, dass es ein offenes Ende zu geben scheint. Der Heide entscheidet sich schließlich für eine der drei Religionen, und als er fragt, ob die Weisen denn nicht wissen wollten, welche Wahl er getroffen habe, erfolgt eine überraschende Reaktion:53 Die drei Weisen antworteten, sie wollten es nicht wissen, damit ein jeder von ihnen glauben könne, er habe seine Religion gewählt. Der Eindruck, dass es ein offenes Ende gibt, könnte noch verstärkt werden durch den Blick auf den Schluss, wenn weitere Gespräche der „drei Weisen“ geplant werden und bemerkt wird, sie „legten die Verhaltensregeln für einen respektvollen Umgang miteinander in der Diskussion fest. Sobald sie zu einem Einverständnis

52 Ramon Lull, Das Buch vom Heiden, IV (S. 248). 53 Ramon Lull, Das Buch vom Heiden, IV (S. 246).

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Religion und Dialog

hinsichtlich ihres Glaubens gekommen seien, würden sie durch die Welt ziehen, um den Namen Gottes, unseres Herrn, zu preisen.“54 Dieser Eindruck wäre aber falsch, wie ein Blick auf das Ende des ersten Buches zeigt, eine Stelle, die leicht übersehen wird: Hier beschreibt Ramon Lull die Irritation des Heiden, der fragt, ob die drei Religionen gleichermaßen wahr seien und daraufhin hören muss, „wie jeder dem anderen seinen Glauben als Irrtum vorhielt, durch den der Mensch die himmlische Herrlichkeit verwirke und zu ewigen Höllenstrafen geführt werde“.55 Die Höflichkeit und Rationalität der Gesprächsführung, die so modern anmutet, darf also nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ramon Lull an dem Exklusivanspruch des Christentums unbedingt festhält, der Dialog also nur eine gewaltfreie Strategie der Mission ist, eine Einladung, dem Christentum näher zu treten. Wer dieser freundlichen Einladung Folge leistet, würde aber keineswegs einen gewaltfreien Raum betreten: Es dürfte Ramon Lull nicht verborgen geblieben sein, dass die kirchliche Hierarchie ihren Monopolanspruch auf die Wahrheit mit Gewalt durchzusetzen pflegte, wie die Verbrennung von Ketzern, z. B. der Mystikerin Margarete Porete im Jahre 1307, zeigt. Auch die Erinnerung an den Albigenser-Kreuzzug in Südfrankreich – den Kreuzzug gegen die Katharer, die sich als die wahren Christen betrachteten – dürfte ihm gegenwärtig gewesen sein. Dieser Blick auf den historischen Kontext, die innere Zerstrittenheit des Christentums und die nur gewaltsam unterdrückte Kritik an der katholischen Kirche, lässt vollends als Illusion erscheinen, was Ramon Lull sich als Ziel und Ergebnis seiner Religionsgespräche vorgestellt und im Prolog wie am Schluss angedeutet hat – dass die Einigung auf eine einzige Religion zum Frieden führen würde:56 Wie gut wäre es, stellt einer der Weisen fest, wenn alle Menschen sich in einem einzigen Gesetz und einem einzigen Glauben zusammenfinden könnten! Auf diese Weise verschwänden Streit und Haß zwischen den Menschen, die wegen der verschiedenen Glaubensüberzeugungen und der gegensätzlichen Gesetze der Völker entstehen. Es ist nicht zu bestreiten, dass Ramon Lull die religiöse Einheit auf gewaltfreie Art, eben durch rationale Religionsgespräche, erreichen wollte, jedenfalls in der ersten Phase seiner missionarischen Tätigkeit. Damit bietet er wieder ein Beispiel für die mögliche Verbindung von exklusivem Monotheismus und Toleranz. Es ist aber auch nicht zu bestreiten, dass seine missionarischen Bemühungen keinen Erfolg gehabt haben, und es ist auch nicht anzunehmen, dass seine Strategie jemals hätte Erfolg haben können, wenn das

54 Ramon Lull, Das Buch vom Heiden, IV (S. 249). 55 Ramon Lull, Das Buch vom Heiden, I (S. 55). 56 Ramon Lull, Das Buch vom Heiden, Prolog (S. 16f).

Alternativen zum interreligiösen Dialog im Mittelalter

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Ziel darin bestand, alle Menschen zum Christentum zu bekehren und dadurch Frieden in der Welt herzustellen.

So wäre zu fragen, ob es schon im Mittelalter Ansätze zu expliziter oder impliziter Kritik an solchen Dialog-Bemühungen gegeben hat – Überlegungen, dass Bekehrung und/oder Frieden auf andere Weise eher zu erreichen sei. Ein Beispiel könnte sich in einem Bekehrungsbericht aus dem 12. Jahrhundert finden, sowie in einer „Geschichte des christlichen Königreichs Jerusalem“, ebenfalls aus dem 12. Jahrhundert. 7.3 Alternativen zum interreligiösen Dialog im Mittelalter In der Autobiographie Hermanns von Scheda, der sich vom Judentum zum Christentum bekehrte, wird auch über ein Religionsgespräch berichtet. Wie auch immer die Authentizität dieses Berichtes und überhaupt die der ganzen Biographie eingeschätzt wird,57 der Text lässt auf jeden Fall erkennen, wie der Verfasser sich ein solches Gespräch vorstellt und wie er die Erfolgsaussichten des interreligiösen Dialoges einschätzt. Im Kontext der Biographie wird das Religionsgespräch als einer der Versuche dargestellt, die von christlicher Seite unternommen wurden, um den Juden zu bekehren – gerade dieser Versuch hat aber nicht zum Erfolg geführt. Der Abt Rupert von Deutz, eine Autorität auf diesem Gebiet, führte das Gespräch in der Bereitschaft, alle kritischen Fragen des Juden anzuhören, und auch in der festen Überzeugung, jede Kritik zurückweisen zu können:58 Darauf antwortete Rupert: „Von allen Punkten, die du mir anscheinend mit Recht entgegengehalten hast, fürchte ich keinen einzigen. Denn um die Wahrheit unserer Religion zu verteidigen und zu bekräftigen, steht uns eine reiche Fülle von Autoritäten gerade aus euren Büchern zur Verfügung; … Wie Hermann nach seiner Bekehrung, also als Christ, rückblickend bemerkt, waren seine Augen damals nicht imstande, das Licht der Wahrheit zu erblicken, obwohl der Abt mit „den herrlichsten Vernunftgründen“ und mit „den überzeugendsten Autoritäten der Heiligen Schrift“ der jüdischen Kritik entgegengetreten war. Damit wird im Rückblick zwar die „jüdische Blindheit“ kritisiert, doch wird implizit auch Kritik geübt an dem Programm des interreligiösen Dialoges als Strategie der Mission und als Hilfe auf dem Weg zur Wahrheit. Diese implizite Kritik wird deutlich erkennbar, wenn er unmittelbar im Anschluss an die Wiedergabe des Religionsgespräches von einem Beispiel christlicher Liebe (caritas) erzählt, die ihm von einem 57 Zur Forschungsgeschichte siehe Schmitt, Die Bekehrung Hermanns des Juden, 37–47. 58 Hermann von Scheda, Opusculum, 4 (S. 294).

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Religion und Dialog

einfachen Christen entgegengebracht worden sei: dieses Erlebnis sei für ihn ein Anreiz zur Bekehrung gewesen, und es könne „zudem den Lesern ein herr­liches Beispiel vollkommener Liebe und echten Glaubens vor Augen stellen, das zur Nachahmung aufruft“.59 Was dann folgt, ist der Bericht über eine ganz andere Art der Interaktion zwischen Christen und Juden, eine Alternative zur disputatio: Der Hausverwalter des Bischofs, an dessen Residenz der Jude sich aus geschäftlichen Gründen aufhält, gibt den gebratenen Hecht, der für ihn bestimmt war, an den Juden weiter und begnügt sich mit Wasser und Brot. Diese Geste, schreibt Hermann von Scheda, habe ihn nicht nur mit Dankbarkeit, sondern auch mit Verwunderung erfüllt: „… weil der Mann, von dem ich bis dahin glaubte, er sei jenseits des Gesetzes und ohne Gott, so von der Tugend der Nächstenliebe durchdrungen war, …“.60 In seinem Bestreben, den Juden zu bekehren, bietet der Hausverwalter schließlich noch ein praktisches Experiment an: Er will ein glühendes Eisen in die Hand nehmen und, wenn er sich nicht verbrennt, soll dies die Wahrheit des Christentums beweisen. Dieses Experiment wird durch Einspruch des gelehrten Bischofs verboten, und Hermann, „der einstige Jude“, bemerkt rückblickend, die Leser sollten sich „an der großen Urteilsfähigkeit des Bischofs und an dem bewundernswerten Glauben und vor allem der vollkommenen Nächstenliebe seines Verwalters ein Beispiel nehmen“.61 Der entscheidende Durchbruch zur Bekehrung, wie sie in dieser (Auto)Biographie dargestellt wird, erfolgt schließlich durch eine ähnliche Art der Interaktion, eine weitere Alternative zur disputatio: Nachdem exegetische Diskussionen mit gelehrten Christen wieder ergebnislos verlaufen waren,62 wandte er sich an einfache, fromme Frauen, zwei Klausnerinnen, und diese versprachen unter Tränen, für ihn zu beten. Im Rückblick auf diese Begegnung stellt er fest:63 Mich konnten weder die Vernunftgründe, die mir von vielen in dieser Angelegenheit vorgelegt wurden, noch die Diskussion mit hohen Geistlichen zum christlichen Glauben bekehren, doch das fromme Gebet einfacher Frauen hat mich zum Christentum gebracht. Wie auch immer der Grad der Fiktionalität dieser (Auto)Biographie eingeschätzt wird, auf jeden Fall skizziert der Verfasser ein Programm für den Umgang mit Andersgläubigen, wenn er im Anschluss an den Bericht über jenen Verwalter, der ihn, den Juden, wie einen christlichen „Mitbruder“ behandelt habe, die Forderung aufstellt:64 59 60 61 62 63 64

Hermann von Scheda, Opusculum, 5 (S. 297). Hermann von Scheda, Opusculum, 5 (S. 297). Hermann von Scheda, Opusculum, 5 (S. 299). Siehe Hermann von Scheda, Opusculum, 9; 11. Hermann von Scheda, Opusculum, 12 (S. 316). Hermann von Scheda, Opusculum, 5 (S. 299)

Alternativen zum interreligiösen Dialog im Mittelalter

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Mögen also auch diejenigen, die von einem ähnlichen frommen Eifer beseelt sind, davor zurückscheuen, auf den Irrglauben eines Juden oder irgendeines anderen Menschen, wie manche es zu tun pflegen, zu spucken, und mögen sie als wahre Christen, das heißt als Nacheiferer Christi, der für seine Henker betete, ihnen gütig das Herz ihrer brüderlichen Liebe öffnen. In diesem Programm spielt der interreligiöse Dialog im engeren Sinne, die disputatio, nur eine untergeordnete Rolle. Aus der Sicht des Verfassers ist das Beispiel (exemplum) wichtiger als das Wort (verbum).65 Die Werke der Nächstenliebe (caritas) bewirken das, was die disputatio vergeblich zu erreichen versucht. Eine andere Alternative zur disputatio findet sich im Werk eines Zeitgenossen: Wilhelm von Tyrus (1130–1186), Erzbischof und zeitweise Kanzler im christlichen Königreich Jerusalem. In seinem Geschichtswerk hat er ebenfalls ein Programm für den Umgang mit Andersgläubigen entwickelt, in seinem Fall die Muslime. Er kannte den Islam gut, wie sich zu Beginn seines Geschichtswerkes zeigt, wo er zwischen Sunniten und Schiiten unterscheidet. Und er hat sogar ein eigenes Werk über die muslimischen Reiche verfasst, das allerdings verloren ist. Sein politisches Programm war darauf ausgerichtet, eine friedliche Koexistenz mit den benachbarten muslimischen Machthabern sicher zu stellen. An Religionsgesprächen scheint er aber gar nicht interessiert gewesen zu sein. Um das Ziel einer friedlichen Koexistenz zu erreichen, hat Wilhelm von Tyrus sich nicht gescheut, die Kooperation mit Muslimen zu legitimieren und zu propagieren. So berichtet er ausführlich und geradezu mit Begeisterung über eine gemeinsame militärische Aktion von Christen und Muslimen, aus Jerusalem und Damaskus, die sich gegen den muslimischen Herrscher von Aleppo richtete:66 Hier hatte man den außergewöhnlichen Anblick, daß Feinde von Feinden zum Kampfe ermuthigt wurden und sich mit einander ohne allen Trug zum Verderben eines Dritten verbanden, und es war schwer zu unterscheiden, welcher von beiden Theilen die Waffen hitziger gegen den gemeinschaftlichen Feind führte, … Der „gemeinschaftliche Feind“ wird als „unmenschlich“ und „grausam“ beschrieben,67 und darin deutet sich an, dass aus der Sicht Wilhelms die Religionszugehörigkeit der Menschen weniger wichtig ist als ihr Verhalten, das in jeder Religion menschlich oder unmenschlich sein kann. Wilhelm beschreibt interreligiöse Kooperation nicht nur auf der politischen Ebene zwischenstaatlicher Beziehungen, sondern auch auf der individuellen Ebene zwischenmenschlicher Beziehungen. Wie er an einem Beispiel zeigt, kann individu65 Siehe Hermann von Scheda, Opusculum, 5. 66 Wilhelm von Tyrus, Geschichte, XV, 9. 67 Wilhelm von Tyrus, Geschichte, XV, 7.

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Religion und Dialog

elle Kooperation sogar wieder politische Konsequenzen haben. Ausführlich berichtet er über das menschliche Verhalten, das der christliche König von Jerusalem gegenüber einer Gefangenen zeigt, die er bei einer Razzia erbeutet hatte. Dieses Verhalten, die „Menschlichkeit“ (humanitas) ruft bei dem Ehemann der Gefangenen, einem Muslim, entsprechende Dankbarkeit hervor, so dass dieser später dem christlichen König, als dieser in bedrängter Lage ist, zu Hilfe kommt und ihn rettet. So hat ein Muslim das christliche Königreich vor dem Untergang gerettet, wie Wilhelm von Tyrus ausdrücklich bemerkt.68 Die Überwindung der Grenze zwischen den Religionen erfolgt hier also nicht durch den Dialog – durch die konsequente Anwendung der Regeln des rationalen Diskurses im Gespräch mit dem „Ungläubigen“ –, sondern durch die „humanitas“, die konsequente Anwendung der Regeln menschlichen Verhaltens im Umgang mit dem „Ungläubigen“. An die Stelle des interreligiösen Dialoges, der entweder die Bekehrung oder den Frieden zum Ziel hat, tritt im Falle Wilhelms von Tyrus die interreligiöse Kooperation, die eine friedliche Koexistenz von Christen und Muslimen ermöglichen sollte. Mit diesem Programm, ist er allerdings in zweifacher Hinsicht gescheitert: Auf der politischen Ebene haben sich seine Gegner durchgesetzt und seinen Rücktritt als Kanzler erzwungen; und auch in der Kirche hatte er Gegner und musste sich schließlich gegen den Vorwurf der Häresie verteidigen.

Wenn gefragt wird, welche theologische Konzeption seinem politischen Programm zugrundelag, dann scheint die Annahme nahezuliegen, dass er den Monotheismus als die gemeinsame Grundlage von Christentum und Islam betrachtet und daraus seine „Toleranz“ abgeleitet hat.69 Allerdings hat Wilhelm die Idee einer solchen Gemeinsamkeit in der Dogmatik der beiden Religionen nicht formuliert. Es gibt aber eine andere Möglichkeit, seine theologische Konzeption zu rekonstruieren: Seine Betonung der Ethik, wie sie sich in den Urteilen über menschliches bzw. unmenschliches Verhalten zeigt, lässt die Annahme naheliegend erscheinen, dass er die Idee des „natürlichen Sittengesetzes“ (lex naturalis) aufgegriffen hatte, die in der abendländischen Theologie seiner Zeit bekannt war. Wilhelm hatte nahezu 20 Jahre in Frankreich und Italien studiert, u. a. bei einem Abälard-Schüler, und Abälard hatte in seinem „Dialog“ den Philosophen eben die These vertreten lassen, dass das natürliche Gesetz, das jedem Menschen von Gott gegeben ist, ausreichend sei. Er hatte dies u. a. damit begründet, dass Hiob ein Heide war und doch von Gott selbst als Vorbild der Frömmigkeit empfohlen worden sei:70 68 Siehe Wilhelm von Tyrus, Geschichte, X, 11; 21. 69 So Schwinges, Kreuzzugsideologie und Toleranz, 129; 141. Vgl. dazu Berner, Toleranz und/oder Kooperation?, 188f. 70 Abaelard, Dialog, S. 49.

Zusammenfassung und Ausblick

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Indem er uns höchstpersönlich dessen Gerechtigkeit darlegt, damit wir sie nachahmen, erwähnt er nichts von jenen Werken des Gesetzes, sondern nur die Werke des natürlichen Sittengesetzes, die jedem einzelnen die natürliche Vernunft von sich aus nahelegt. Vor dem Hintergrund dieser Auffassung würde es verständlich werden, dass Wilhelm von Tyrus so scharf zwischen der religiösen Tradition und der individuellen Religiosität unterschieden hat und dass er deshalb nicht für den interreligiösen Dialog optiert hat, sondern für die interreligiöse Kooperation. 7.4 Zusammenfassung und Ausblick Der interreligiöse Dialog, der in der Gegenwart so aktuell ist und oft als notwendig betrachtet wird – als erster Schritt auf dem Weg zum Religions- und Weltfrieden – hat eine lange Vorgeschichte: diese beginnt nicht erst mit dem Weltparlament der Religionen 1893 in Chicago;71 sie lässt sich nicht nur bis ins Mittelalter zurückverfolgen,72 sondern bis in die spätere Antike, bis zum Juden-Dialog Justins, des Philosophen und christlichen Märtyrers. Der Dialog als literarische Gattung wurde aus der antiken Philosophie übernommen und führte zur Ausbildung einer eigenen Art der Religiosität, wie das Beispiel Justins zeigt, der das Christentum als eine neue – und die einzig wahre und nützliche – Philosophie verstand und verkündete, vergleichbar der Ausbildung einer philosophischen Religiosität im frühen Buddhismus, wie das Beispiel des Milindapanha zeigt. In der interreligiösen Auseinandersetzung kann der philosophische Dialog einen Teil seiner Identität verlieren und zur Methode theologischer Selbstvergewisserung werden. Doch bleibt er, wie die Beispiele Gilberts und Euthymios’ zeigen, eine Alternative zu jener fundamentalistischen Religiosität, wie sie in der Zeit der Kreuzzüge mehrfach in Erscheinung tritt, wie z. B. in den gewaltsamen Übergriffen auf jüdische Gemeinden oder in der Ausweisung der Muslime aus Jerusalem. So erscheint es nachvollziehbar, dass Ramon Lulls Religionsgespräch, in dem die Vertreter der drei Religionen gleichberechtigt als „Weise“ auftreten, als Vorbild für die Gegenwart gerühmt worden ist. Allerdings wäre zu überlegen, ob gerade im Falle Ramon Lulls zutrifft, was der christliche Religionsphilosoph John Hick über die Grenzen des „konfessionellen Dialogs“ gesagt hat: wenn jeder der Gesprächspartner davon ausgeht, die ganze Wahrheit zu besitzen – und für Ramon Lull gilt zweifellos, dass er davon ausging – dann kann ein solcher Dialog „only result either in conversion or in a hardening of differences – occasionally the former but more often the latter.“73 71 Siehe Swidler, The Age of Global Dialogue, X. 72 Siehe Hösle, Interreligious Dialogues, 60. 73 Hick, Christian belief and interfaith dialogue, 121.

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John Hick könnte diese seine Bedenken in der Autobiographie Hermanns von Scheda bestätigt finden, oder noch mehr in den organisierten Dialogen, wie z. B. in dem Religionsgespräch von Barcelona im Jahre 1263: Auf Anordnung des Königs mussten hier ein Rabbiner und ein Dominikaner, der selbst ein jüdischer Konvertit war, öffentlich diskutieren. Das Ergebnis war, dass jede der beiden Seiten sich als Sieger sah, wie aus dem lateinischen bzw. hebräischen Protokoll hervorgeht. So berichtet z. B. der jüdische Vertreter, er sei vom König freundlich verabschiedet und mit einem Geldgeschenk ausgestattet worden, während der offizielle christliche Bericht behauptet, der jüdische Vertreter sei heimlich abgereist, weil er seinen Irrglauben nicht verteidigen konnte.74 Die Forschungsgeschichte bietet hier interessante Beispiele einseitiger, parteiischer Interpretationen, die entweder die christliche oder die jüdische Darstellung für authentisch halten und jeweils die andere für ein Lügenwerk.75 Hans-Georg von Mutius kommt zu dem überzeugenden Ergebnis, beide Texte seien kein Protokoll, sondern ein „Propagandatraktat“, und das bestätigt eben Hicks Behauptung, ein „konfessioneller Dialog“, der eine missionarische Absicht verfolge, führe meistens zu einer „Verhärtung“ (a hardening of differences) auf beiden Seiten. Als Theologe war John Hick der Meinung, das Christentum müsse sich unbedingt von der konfessionellen zur wahrheitssuchenden Haltung im Dialog bewegen.76 Diese Bereitschaft, von der konfessionellen Haltung abzugehen, ergab sich aus seinem Ansatz einer pluralistischen Religionsphilosophie – er hatte eine „kopernikanische Revolution“ in der Theologie gefordert, die den Exklusivanspruch des Christentums endgültig aufgibt.77 Unter dieser Voraussetzung ist es natürlich möglich, dass die Teilnehmer im interreligiösen Dialog voneinander lernen, da keiner den Besitz der ganzen Wahrheit für sich beanspruchen kann und will. Wer diese Voraussetzung nicht teilt, wird eine solche Wende allerdings nicht mitvollziehen, und so ist die Position Hicks natürlich auch auf Widerspruch gestoßen. Gerade die Beschäftigung mit den Dialog-Versuchen im Mittelalter könnte aber dazu geeignet sein, weitere Alternativen zum konfessionellen Dialog in den Blick zu bringen, ohne die theologische Position Hicks übernehmen zu müssen. Eine erste Alternative bietet schon die (Auto)Biographie Hermanns von Scheda, der dem Dialog im engeren Sinne, als disputatio, eine untergeordnete Stellung zuweist, indem er seine Grenzen aufweist und das Prinzip der caritas als Strategie des interreligiösen (konfessionellen) Dialoges propagiert. Eine zweite Alternative bietet dann Peter Abälard, der vom Schema des interreligiösen Dialoges abweicht: Er lässt ja nicht den Juden und den Christen miteinander oder gegeneinander diskutieren; vielmehr lässt er beide durch den Philosophen herausfordern, der die 74 Siehe Mutius, Die Zwangsdiputation, 295–300. Mutius betont mit Recht die Asymmetrie der Situation, in der sich die beiden Verfasser der Protokolle befanden (300); Chazan betont stark die Asymmetrie der ganzen Gesprächssituation (The Barcelona Disputation, 79). 75 Siehe den Überblick über die ältere Forschung bei Mutius, Die Zwangsdisputation, 8–15. 76 Siehe Hick, Christian Belief and Interfaith Dialogue, 126. 77 Siehe Hick, God has Many Names, 36.

Zusammenfassung und Ausblick

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Juden als „dumm“ und die Christen als „verrückt“ bezeichnet und damit die Religion überhaupt in Frage stellt. Für den kritischen Religionsdiskurs der Gegenwart dürfte Abälard – der sich zweimal einem Häresie-Prozess stellen musste – damit eher von Interesse sein als Ramon Lull. Eine radikale und damit besonders interessante Alternative bietet Wilhelm von Tyrus, der in der Begegnung mit dem Islam den interreligösen Dialog suspendiert und an dessen Stelle die interreligiöse Kooperation propagiert hat, als eine theologisch fundierte, politische Strategie zur Sicherung der friedlichen Koexistenz. In der neueren Religionswissenschaft ist dem Begriff der Kooperation einige Aufmerksamkeit gwidmet worden, vor allem von den Vertretern eines „kognitiven“ Ansatzes. Schon seit längerer Zeit war in anderen Wissenschaften, z. B. in der Politikwissenschaft, aber auch in der Biologie, die Frage erörtert worden, wie Kooperation entstehen kann. Im Rahmen eines darwinistischen Weltbildes ist dieses Verhalten ja schwer zu erklären:Es scheint doch auf der Hand zu liegen, dass die natürliche Selektion, im Sinne Darwins, den Egoismus fördern wird, also das Verhalten jener Individuen, die selbst nicht kooperieren und eben deshalb vom kooperativen Verhalten anderer profitieren. So konnte festgestellt werden: „Human cooperation is an evolutionary puzzle.“78 Zur Lösung dieses Rätsels bietet es sich an, Religion als einen, vielleicht den entscheidenden, Faktor in Betracht zu ziehen, so dass sich zugleich eine naturwissenschaftliche, evolutionstheoretische Erklärung für die Entstehung und die erstaunliche Persistenz der Religion(en) ergeben würde: Die Gottesidee und die Vorstellung „übernatürlicher Strafen“, denen kein Mensch entgehen kann, könnte dem natürlichen Egoismus entgegengewirkt und altruistisches Verhalten evolutionär gefördert haben.79 Zusätzlich, oder vielleicht sogar noch stärker, könnten religiöse Rituale dazu beigetragen haben, Gruppen-Solidarität zu stärken und damit egoistisches Verhalten einzudämmen.80 Gerade die Kreuzzugschroniken, auch die Wilhelms von Tyrus, berichten über Vorfälle, die diese Funktion der Religion, die Solidarität der Gruppe zu stabilisieren, deutlich erkennen lassen – so war es z. B. unmittelbar vor der Eroberung Jerusalems notwendig, wie Wilhelm berichtet,81 durch ein öffentliches Bußritual die Eintracht unter den zerstrittenen christlichen Heerführern herzustellen. Dieses Ritual hat tatsächlich, dem Bericht zufolge, die Kooperation sichergestellt und damit erst den Erfolg des Unternehmens ermöglicht – die Eroberung der Stadt und das anschließende Massaker an der (ungläubigen) Bevölkerung. Gerade dieses Beispiel lenkt den Blick aber auf die „dunkle Seite“ der Religion, die in den evolutionstheoretischen Erklärungen nur am Rande angesprochen wird: Religion verstärkt auf der einen Seite die Kooperation innerhalb der Gruppe, auf der anderen Seite in demselben Maße die Konflikte zwischen ver78 79 80 81

Fehr/Gächter, Altruistic punishment, 137. Vgl. dazu Johnson/Behring, Hand of God. Vgl. dazu Hayden, Alliances and Ritual Ecstasy. Siehe Wilhelm von Tyrus, Geschichte, VIII, 10/11.

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schiedenen Gruppen.82 Das wäre gerade jener Zusammenhang von Religion und Kreuzzugsmentalität, wie er z. B. von Richard Dawkins behauptet wird, gleich zu Beginn seines Buches über den „Gotteswahn“. Dies würde zweifellos für den Pfaffen Konrad und sein „Rolandslied“ gelten, nicht aber für Wilhelm von Tyrus und seine Chronik. Denn Wilhelm hat die Kooperation ja gerade nicht auf die eigene Gruppe, die Gemeinschaft der Christen, beschränkt, sondern ausdrücklich auf die Muslime ausgeweitet und damit als grenzüberschreitend konzipiert und propagiert. Kooperation zwischen Christen und Muslimen war in den Kreuzfahrer­ staaten gar nicht so selten, wie Michael Köhler an vielen Beispielen belegt hat, doch könnte das in vielen Fällen rein politisch bedingt gewesen sein und in religiöser Indifferenz begründet.83 Im Falle Wilhelms von Tyrus war es aber nicht nur ein politisches, sondern auch ein theologisches Programm. Eine narrative Entfaltung dieses Programms war im Werk Wilhelms, das ja eine Chronik sein soll, nur beschränkt möglich – immerhin werden einige Beipiele von gelungener Kooperation zwischen Christen und Muslimen berichtet, auf den Ebenen individuellen und politischen Handelns. Demgegenüber bietet die Gattung des Heldenepos den Rahmen, solche Beispiele interreligiöser Kooperation anhand einer Biographie narrativ zu entfalten. Hier könnte zunächst die volkstümlich-epische Tradition von Digenis Akritas genannt werden, ein griechisch-byzantinisches Heldenepos, das in verschiedenen Versionen vorliegt. Der Name des Helden verweist zum einen auf seine zweifache Abstammung (digenis) – von syrisch-muslimischen und griechisch-christlichen Vorfahren –, zum andern auf den historischen Kontext der Biographie: den Kämpfer an der Grenze zwischen der christlichen und der islamischen Welt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass dieser „Grenzkämpfer“ eher als ein Grenzgänger einzuordnen wäre, insofern als die Kämpfe, die an der „Grenze“ zu bestehen sind, zunehmend gegen gesetzlose Räuber geführt werden, die auch die Gegner der Muslime sind: „The primary enemy is not the infidel but the marauder and the brigand.“84 So erklärt es sich, dass schließlich Muslime und Christen gleichermaßen den Tod des Helden betrauern, der sich im Grenzland niedergelassen und dort den Frieden gesichert hatte (Buch VIII). Im altspanischen Epos „Cantar de Mio Cid“ findet sich ein Beispiel, das vergleichbar sein könnte. Es geht in diesem Epos ebenfalls um einen Grenzgänger zwischen Christentum und Islam: Rodrigo Diaz, bekannt als El Cid, der im 11./12. Jahrhundert in Spanien mehrfach die Grenze zwischen den christlichen und den muslimischen Herrschaftsbereichen überschritten und auf beiden Seiten erfolgreich gedient hat. Ob er „nur“ ein Söldner war und religiös indifferent, ist eine histori82 Siehe Norenzayan/Shariff, Origin and Evolution of Religious Prosociality, 62. Auf diese „dunkle Seite“ der Religion geht Nowak (Kooperative Intelligenz, 299) nicht ein, wenn er allgemein feststellt, „die Lehren der Weltreligionen“ könnten „als Rezepte für Kooperation gelten“. 83 Vgl. dazu Köhler, Allianzen und Verträge, 186; 365f. 84 Fletcher, The Cross and the Crescent, 71. Vgl. Blanks, Byzantium and the Muslim World, 115–120: „The Emergence of Dispassionate Attitudes“.

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sche Frage, die vielleicht nicht zu klären ist.85 In jenem altspanischen „Lied vom Mio Cid“ wird nichts über die Taten des Cid in muslimischen Diensten berichtet, und daraus schließt Robert Fletcher, dass der Cid in diesem Epos als ein „kompromissloser Christ“ dargestellt wird, nur als Gegner der Muslime.86 Es ist aber festzuhalten, dass schon im ersten Buch des Epos über den Kampf des Cid gegen den christlichen Grafen von Barcelona berichtet wird und im dritten Buch über einen Rechtsstreit, in dem der Cid über die christlichen Grafen von Carrion triumphiert, seine ärgsten Feinde – eine Episode, die der Dichter offensichtlich erfunden hat.87 So kann zumindest festgestellt werden, dass der Verfasser die Grenze zwischen Freund und Feind nicht mit der Grenze zwischen den Religionen zusammenfallen lässt: Er beschreibt ausführlich die verschiedenen Beziehungen von Freundschaft und Feindschaft, die das Handeln des Helden bestimmen, und dabei ergibt sich das Bild, dass er Feinde unter den Christen wie auch Freunde unter den Muslimen hat – so kann er sich in der Auseinandersetzung mit seinen christlichen Feinden auf einen Muslim verlassen, auf den Mauren Avengalvon, der ihm durch ein Friedensabkommen verbunden ist.88 Robert Fletcher sieht darin nur eine Beziehung der Abhängigkeit durch Tributpflicht: der Muslim sei nur „ein Freund, dem man Befehle erteilen kann“.89 Dagegen spricht aber, dass dieser Muslim den Cid als seinen „natürlichen Freund“ (amigo natural) bezeichnet, und dass ausdrücklich festgestellt wird, er habe „aus Liebe zum Cid“ gehandelt.90 So erscheint doch die Deutung vertretbar, dass in diesem alt­ spanischen Epos ein altruistisches Handeln dargestellt und als vorbildlich hingestellt wird, das sich nicht an der Religionszugehörigkeit orientiert.91 Ebenso war in der Chronik Wilhelms von Tyrus das Urteil über Menschen, ob sie Diener Gottes oder Satans sind, unabhängig davon, ob sie Christen oder Muslime sind. Diese Beispiele von Grenzgängern zwischen den Religionen lenken den Blick auf eine andere Art des Dialoges – einen Dialog im Rahmen interreligiöser Kooperation, in dem es darum geht, gemeinsame Interessen zu verfolgen und gemeinsame Probleme zu lösen, ohne dass die Religionszugehörigkeit oder gar die Frage nach der Wahrheit der Religion(en) überhaupt berührt wird. Eine solche Art des Dialoges, in dem es eben nicht um die Wahrheit der Religionen geht, sondern nur um den Frieden und die Gerechtigkeit, wurde von den Vertretern des interreligiösen Dialoges nur am Rande berührt: Hick sprach von dem „praktischen Dialog“, 85 Zu den Quellen und den Problemen ihrer Interpretion im Hinblick auf historische Informationen vgl. Fletcher, El Cid, 143–167; speziell zum (mangelnden) historischen Wert des „Cantare de MioCid“ vgl. Fletcher, ebda, 305–312. 86 Siehe Fletcher, El Cid, 310f. 87 Vgl. dazu Fletcher, ebda, 308. 88 Siehe Cantar de Mio Cid, V. 1464; 1528; 2636. 89 Fletcher, El Cid, 311. 90 Cantar de Mio Cid, V. 1479; 2656; 2883. 91 Diese Deutung vertritt wohl auch Grant (Ambivalence in Medieval Religious Polemic, 176/177), die den Autor mit Petrus Alfonsi vergleicht.

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„concerned with common human problems“, Swidler ebenso von dem „Dialog der Hände“, „where we cooperate to help humanity“, in späteren Arbeiten auch schon von „cooperation“.92 Doch waren beide Theologen primär an der religiösen Vertiefung im gegenseitigen Lernen interessiert. In der gleichen Zeit, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, war eine religiöse Organisation geschaffen worden, die eben die Praxis als Programm hatte: die World Conference on Religion and Peace (WCRP), deren Name 2002 geändert wurde in World Conference of Religions for Peace (RfP). Von Anfang an ging es um die interreligiöse Kooperation: „for the realization of world peace“. Wie der Religionshistoriker und Theologe Norbert Klaes, der selbst in der WCRP tätig war, feststellt, ging es demnach nicht um den interreligösen Dialog im konventionellen Sinn: „It is, ­therefore, not a direct intention to cultivate inter-religious dialogue as a possibility of a deeper mutual understanding, … In practice, it makes inter-religious gatherings more easy if not the truth of the religions is at stake but the needs and wants of the human family.“93 Wenn Klaes dann auch noch über konkrete Aktionen der WCRP in Krisengebieten, wie z. B. in Bosnien-Herzegowina in den 90er Jahren, berichten kann, dann stellt sich zunächst der Eindruck ein, dass hier ein alternatives, erfolgreiches Dialogprogramm entwickelt worden ist. Allerdings weist Klaes auch auf ein grundlegendes Problem hin, die Frage der Repräsentanz betreffend: Wer wird ausgewählt, die verschiedenen Religionen in der WCRP zu repräsentieren? Klaes zufolge gab es zwei verschiedene Auffassungen, „an underlying tension between two different conceptions“: WCRP als „a global network of leading religious personalities“, die ihren politischen Einfluss geltend machen können, oder als „an inter-religious grassroots movement“, mit dem Ziel, eine Massen-Bewegung für den Frieden zu werden.94 Wenn die Religionen durch Funktionäre der großen Institutionen repräsentiert werden – wie z. B. durch den früheren anglikanischen Erzbischof von Canterbury und einige Kardinäle der römisch-katholischen Kirche, die 1999 in das erweiterte Governing Board der WCRP gewählt wurden – dann ist anzunehmen, dass alternative Positionen von „Häretikern“ nicht zur Geltung kommen. Es könnten aber die „Häretiker“ sein, die sich stärker für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen, über die Grenzen der Religionen hinweg. Als Beispiel könnte neben Wilhelm von Tyrus der anglikanische Bischof Colenso genannt werden, der sich in der Kolonialzeit für die Rechte der kolonisierten Bevölkerung eingesetzt hat, ungeachtet der Religionszugehörigkeit.95 Das Beispiel dieser beiden „häretischen“ Bischöfe ist von Interesse im Hinblick auf die Theorie des Soziologen Bourdieu, der die soziale Funktion der Religion als Legitimierung oder „Konsekration“ der bestehenden Ordnung gedeutet hatte, 92 Hick, Christian Belief, 116; Swidler, Dialoge Decalogue, 4; Trialogue, 505. 93 Klaes, Peace and Multireligious Co-operation, 205. 94 Klaes, ebda, 218. Ein späterer Bericht vermittelt den Eindruck, dass die Politik in der RfP unverändert dem Prinzip folgt, „hochrangige Persönlichkeiten“ in den „Weltrat der Religionen für den Frieden“ zu berufen. Siehe Gebhardt, Interreligiöse Zusammenarbeit, 200. 95 Vgl. dazu Berner, The Bishop and the Politician.

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als „Verabsolutierung des Relativen“ oder „Legitimation des Willkürlichen“.96 Es ist eben diese Konsekrationsleistung, die jene beiden Bischofe verweigert haben, wenn sie die Legitimität der Herrschaft an dem höheren Prinzip der Gerechtigkeit messen, das unabhängig ist von der Religionszugehörigkeit. Abälard, ebenfalls ein „Häretiker“, hatte eine solche kritische Sichtweise geradezu in der Begrifflichkeit Bourdieus formuliert, wenn er den Philosophen bemerken ließ, die Vertreter der einen oder anderen Religion würden ja nur die „Gewohnheit in Natur verwandeln“. Das Beispiel dieser drei „Häretiker“ verweist noch auf ein Problem, das in der Theorie und Praxis des interreligiösen Dialoges, des konventionellen wie auch des praktischen, zumeist ausgeblendet wird: die innere Diversität und Widersprüchlichkeit innerhalb jeder der religiösen Traditionen, die im offiziellen Dialog jeweils als eine Einheit – als „das“ Christentum oder „der“ Islam – dargestellt werden. Diese Diversität betrifft eben nicht in erster Linie verschiedene konfessionelle Richtungen, die institutionell verfestigt sind, sondern die verschiedenen Auslegungen der betreffenden Religion in Bezug auf fundamentale und universale Probleme des menschlichen Zusammenlebens. So ist z. B. die Frage nach dem gerechten Krieg innerhalb der katholischen Kirche, also auf der Grundlage desselben Bekenntnisses, ganz verschieden beantwortet worden, als sie nach der spanischen Eroberung Mexikos zwischen Las Casas und Sepulveda in Valladolid diskutiert wurde.97 Als ein Beispiel der Differenzen innerhalb einer protestantischen Kirche könnte der Streit über den Umgang mit Häretikern genannt werden, wie er zwischen Calvin und Castellio ausgetragen wurde.98 Auch hier ging es um eine fundamentale, allgemein menschliche Problematik: die Frage nach der Anwendung von Zwang und Gewalt bis hin zur Todesstrafe für Dissidenten, und die entgegengesetzten Antworten wurden aus demselben Bekenntnis abgeleitet. Dasselbe Bild ergibt sich bei der Betrachtung des Hexerei-Diskurses, der in den verschiedenen christlichen Konfessionen der Frühen Neuzeit geführt wurde, manchmal auch in der literarischen Form des Dialoges: In jeder der Konfessionen, also aus dem gleichen Bekenntnis abgeleitet, sind entgegengesetzte Stellungnahmen vertreten werden, mit dramatisch verschiedenen Konsequenzen für die Betroffenen. Der Blick auf die innere Diversität in einer Religion, in diesem Fall „des“ Christentums, lässt Zweifel aufkommen am Sinn eines interreligiösen Dialoges, in dem („hochrangige“) Repräsentanten der verschiedenen religiösen Institutionen jeweils das Wesen ihrer Religion zur Darstellung und/oder zur Wirkung zu bringen versuchen. Auf der Grundlage von Feldforschungen kommt der indische Theologe Muthuraj Swamy ebenfalls zu einer kritischen Sicht auf den interreligiösen Dialog, wenn er feststellt, „the foundations on which dialogue stands seem to be dubious. The basic ingredients in dialogue are religion, religions, and world religions, but the existence

96 Siehe Bourdieu, Die Religion, 54; 80. 97 Literarisch dargestellt von Reinhold Schneider: Las Casas vor Karl V. 98 Literarisch dargestellt von Stefan Zweig: Ein Gewissen gegen die Gewalt.

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of these aspects can be questioned from postcolonial and subaltern perspectives.“99 Seine Kritik richtet sich unter anderem gegen den elitistischen Charakter der konventionellen Dialog-Bemühungen, in denen die Realität der Menschen „at the grass roots“ nicht ernst genommen oder überhaupt nicht wahrgenommen wird – ihre Fähigkeit zur Problemlösung in einer pluralen religiösen Situation. Die Berichte über „Grenzgänger“ zwischen Christentum und Islam im Mittelalter, im Kontrast zu den literarischen Dialogen gelehrter Theologen, passen anscheinend gut zu den Ergebnissen einer Feldforschung im modernen Indien. Literatur Quellen Augustinus: Theologische Frühschriften: Vom freien Willen. Von der wahren Religion. Übersetzt und erläutert von Wilhelm Thimme. Zürich/Stuttgart 1962. Cantar de Mio Cid. Das Lied von Mio Cid. Altspanisch/deutsch, herausgegeben und übersetzt von Victor Millet und Alberto Montaner, Stuttgart 2013. Cicero: De natura deorum. Vom Wesen der Götter. Drei Bücher. lateinisch – deutsch. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Wolfgang Gerlach und Karl Bayer, Darmstadt 1987. Digenis Akritis. The Grottaferrata and Escorial versions. Edited and translated by Elizabeth Jeffreys, Cambridge University Press 1998. Euthymios: Erich Trapp, die Dialexis des Mönchs Euthymios mit einem Sarazenen, in: Jahrbuch der österreichischen Byzantinistik 20 (1971), 111–131. Gilbert Crispin: Religionsgespräche mit einem Juden und einem Heiden. Lateinisch – Deutsch, übersetzt und eingeleitet von Karl Werner Wilhelm und Gerhard Wilhelmi, Freiburg u. a. 2005. Hermannus quondam Judaeus: de conversione sua. Herausgegeben von Gerlinde Niemeyer, Weimar 1963. Hermann der frühere Jude. Opusculum seiner Bekehrung, in: Jean-Claude Schmitt: Die Bekehrung Hermanns des Juden. Autobiographie, Geschichte und Fiktion, Stuttgart 2006. Joseph Kimhi: The Book of the Covenant. Translated by Frank Talmage, Toronto: The Pontifical Institute of Mediaeval Studies 1972. Justinus: Dialog mit dem Juden Tryphon. Übersetzt von Philipp Haeuser. Neu herausgegeben von Katharina Greschat und Michael Tilly, Wiesbaden 2005. Milindapanha. Die Fragen des Königs Milinda. Zwiegespräche zwischen einem Griechenkönig und einem buddhistischen Mönch. Aus dem Pali übersetzt von Nyanatiloka. Herausgegeben und teilweise neu übersetzt von Nyanaponika, Interlaken 1985. Minucius Felix: Octavius. Lateinisch/Deutsch, herausgegeben und übersetzt von Bernhard Kytzler, Stuttgart 1993. 99 Swamy, The Problem with Interreligious Dialogue, 206. Im Unterschied dazu hält der afrikanische Theologe Laurenti Magesa daran fest, dass Christentum und Afrikanische Religion distinkte Einheiten mit jeweils eigener Identität sind und eben deshalb in Dialog treten können (African Religion, 22).

Literatur

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8 Religion und Magie

In seiner Vision einer Welt ohne Religion hat der Biologe und Religionskritiker Richard Dawkins u. a. auch die These angedeutet, dass die Hexenjagd eine der negativen Auswirkungen von Religion ist: no religion – no witchhunt. Der Philosoph und Christentumskritiker Kurt Flasch nennt den Hexenglauben als ein Beispiel für das „Christentum der Unvernunft“: „Der christliche Glaube hat Menschen in lebenswichtigen Dingen irregeführt, indem er z. B. versicherte, es gebe Hexen.“1 Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Behauptungen sich aus einer religions- bzw. christentumskritischen Position ergeben. Es ist aber daran zu erinnern, dass der berühmt-berüchtigte „Hexenhammer“, eines der „unheilvollsten Bücher der Weltliteratur“, erschienen im Jahre 1487, das Werk eines Theologen ist, des Dominikaners Heinrich Kramer (Institoris).2 Dieses Werk gibt nicht nur eine Anleitung für die Durchführung von Hexenprozessen, es verteidigt den Hexenglauben gegen seine Kritiker und behauptet, dass es … rechtgläubig und nur zu wahr ist, daß es Zauberer gibt, die mit Hilfe der Dämonen wegen des mit ihnen geschlossenen Paktes tatsächliche Wirkungen mit der Zulassung Gottes erzielen können, …3 Zur Begründung dieser Behauptung beruft der Verfasser des Hexenhammers sich u. a. auf die Dämonenlehre des Kirchenvaters Augustin. Zudem konnte er darauf verweisen, dass der Papst Innozenz VIII. in seiner „Hexenbulle“ (1484) ihn als Inquisitor erwähnt und damit in seiner Tätigkeit legitimiert hatte.4 Deshalb erscheint es doch unumgänglich, den Zusammenhang zwischen Christentum und Hexenglauben näher zu betrachten. Die Betrachtung ist allerdings einzuschränken auf Europa, soweit dieses im Spätmittelalter „der Autorität des römischen Papsttums unterstand“. Denn nur in diesem Bereich gab es „systematische, ausgedehnte Verfolgungen von Zauberern oder Hexen“.5 Eine nähere Betrachtung zeigt allerdings sofort, dass noch weitere Differenzierungen nötig sind, so dass es voreilig wäre, den Hexenglauben mit all seinen Konsequenzen als eine „Auswirkung“ des europäischen, katholischen Christentums einzuordnen. Der zweite Verfasser des Hexenhammers, der Dominikaner und Theologieprofessor Jakob Sprenger, scheint an dem Werk gar nicht beteiligt gewesen zu sein: Die Forschung hat gezeigt, dass Heinrich Institoris ihn ungefragt als Co-Autor genannt 1 2 3 4 5

Flasch, Warum ich kein Christ bin, 257. Segl, Heinrich Institoris, 126. Zur Frage der Verfasserschaft vgl. Segl, ebda, 116f. Hexenhammer I,1 (Behringer/Jerouschek, 148). Siehe Behringer/Jerouschek, Hexenhammer, 103. Behringer, Hexen und Hexenprozesse, 72.

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hat und dass es in der Folgezeit sogar einen Machtkampf innerhalb des Dominikaner-Ordens gegeben hat – Jakob Sprenger scheint kein Interesse an den Hexenprozessen gehabt zu haben.6 Hexenglaube und -prozesse könnten also auch innerhalb der katholischen Kirche umstritten gewesen sein. Deshalb erscheint es sinnvoll und nötig, die kirchliche Tradition näher zu betrachten und nach den Voraussetzungen des Hexenglaubens zu fragen, die ja schon ein Erbe der vorchrist­lichen Antike sein könnten. 8.1 Dämonologie in der Späteren Antike und im Frühen Christentum Schon in der vorchristlichen Antike gab es Gesetze gegen Magie und damit auch die Möglichkeit, einzelne Menschen wegen magischer Handlungen vor Gericht zu ziehen. Das bekannteste Beispiel ist der Prozess, der gegen den Philosophen Lucius Apuleius angestrengt wurde: Er wurde angeklagt, sich durch Liebeszauber – dies war auch später eines der Hexerei-Delikte – eine reiche Heirat verschafft zu haben. Seine Verteidigungsrede – „de magia“ – ist erhalten und bietet einen Einblick in diesen Bereich der Gesetze und Prozesse. Seine Einstellung gegenüber der Magie ist aber nicht eindeutig zu erkennen, da sein Roman „Metamorphosen“ etliche Zaubergeschichten enthält,7 darunter auch das zentrale Motiv der Verwandlung von Menschen- in Tiergestalt, ein Motiv, das in der Frühen Neuzeit von Verteidigern des Hexenglaubens aufgegriffen wurde. Wie weit der Glaube an magische Praktiken und Zauberei verbreitet war, zeigt eine Schrift Lukians von Samosata – Goethe hat das Motiv seiner bekannten Ballade vom „Zauberlehrling“ daraus entnommen.8 Der Titel dieser Schrift Lukians – „Die Lügenfreunde“ – lässt allerdings schon erkennen, dass Lukian eine eindeutig kritische Sicht auf die Magie vertritt. Es gab also auch alternative Stimmen, skeptische Einstellungen bis hin zum Spott über den (Aber)Glauben an die Wahrheit solcher Geschichten. Lukian berichtet über eine Versammlung, in der allerlei Wundergeschichten erzählt werden, wie z. B. von Statuen, die nachts vom Podest steigen und herumwandeln.9 Am Schluss wird die Position des skeptischen Außenseiters deutlich formuliert:10 Aber seien wir getrost, … weil wir als Abwehrmedikament gegen derartige Dinge die Wahrheit haben und den gesunden Menschenverstand in allen Dingen; wenn wir den einsetzen, wird uns ganz sicher nichts verwirren von diesen hohlen und dummen Lügen. 6 7 8 9 10

Siehe Jerouschek/Behringer, Hexenhammer, 39. Vgl. dazu Nesselrath, Lukian und die Magie, 165f. Zur Nachwirkung vgl. Ribbat, „Die ich rief, die Geister …“. Siehe Lukian, Die Lügenfreunde, § 18. Vgl. dazu Berner, Religion explained?. Lukian, Die Lügenfreunde, § 40.

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Gerade der Fall Lukians könnte aber wieder den Schluss nahelegen, dass allein die Skepsis oder der Unglaube es ermöglichen, sich vom Aberglauben zu befreien. Religions- und Christentumskritiker würden sicherlich gern diesen Schluss ziehen. Doch wäre zunächst einmal zu fragen, ob Lukian nicht doch einen eigenen Begriff von Gott hatte, also eine Religion ohne Zauber- und Wunderglauben. Und dann ist im Hinblick auf die Ära der Hexenprozesse im abendländischen Christentum zu fragen, ob eine Kritik des Hexenglaubens, wie sie von den Vertretern der Aufklärung propagiert wurde, von christlichen Theologen schon vorweggenommen worden ist. Zunächst ist allerdings festzustellen, dass es im frühen Christentum einen Dämonenglauben gegeben hat, der dem seiner religiösen Umwelt vergleichbar und vielfach davon beeinflusst war. So hat z. B. Justin, einer der ersten Apologeten, der Philosoph und Märtyrer, erklärt, die Götter der Heiden seien in Wirklichkeit (nur) Dämonen. Diese Dämonen hätten „den Menschen Schreckbilder vorgezeigt“ und die Menschen damit „verwirrt“:11 von Furcht berückt und verkennend, daß es böse Dämonen waren, nannten sie jene Götter und legten den einzelnen den Namen bei, den ein jeder der Dämonen sich selbst gab. Mit dieser Deutung der heidnischen Götterwelt hat Justin eine Strategie entwickelt, die es ihm ermöglicht, übernatürliche Wirkungen, die durch die Verehrung dieser falschen Götter zustandegekommen sein sollen, zu erklären. Diese Strategie leistet noch etwas Anderes: Justin kann auf diese Weise auch erklären, wer für die Verfolgung der Christen, die sich dem Kult der heidnischen Götter verweigern, letztlich verantwortlich ist – es sind eben jene bösen Dämonen, die auch schon Sokrates verfolgt haben. Denn Sokrates habe das Wesen der Dämonen erkannt und versucht, die Menschen von der Verehrung dieser falschen Götter abzubringen – doch hätten „die Dämonen es durch Menschen, die an der Schlechtigkeit ihre Freude hatten, dahin gebracht, daß er als Gottesleugner und Religionsfrevler hingerichtet wurde, …“.12 Eine solche Deutung der heidnischen Götterwelt wurde zu einer breiten Tradition in der frühchristlichen Apologetik, wie z. B. im Werk Tatians – möglicherweise ein Schüler Justins –, dessen Dämonologie „wahrscheinlich eine der komplexesten im gesamten Zusammenhang des frühen Christentums“ ist.13 Es gab allerdings auch alternative Ansätze in der frühchristlichen Apologetik. So hat z. B. Aristides von Athen, ein Zeitgenosse Tatians, in seiner Kritik des antiken Heidentums die Dämonen überhaupt nicht erwähnt:14 11 Justin, I. Apologie, 5. 12 Justin, I. Apologie, 5. 13 Timotin, Gott und die Dämonen, 274. Zur Dämonologie Tertullians vgl. Georges, 364–401; zu Minucius Felix vgl. Schubert, 495–526. 14 Aristides, Apologie, II.I, 8, 2a (Übersetzung (der syrischen Version): Lattke, 167). Zur Textüberlieferung vgl. Lattke, 13–19.

Dämonologie in der Späteren Antike und im Frühen Christentum

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Gottlosigkeit also und Lächerliches und törichte Rede, o Kaiser, haben die Griechen über/gegen ihre Götter und sich selbst eingeführt, dadurch dass sie diese, welche so sind, Götter genannt haben, welche doch gar keine Götter sind. Dasselbe gilt für den „Brief an Diognet“, in welchem der unbekannte, christliche Verfasser das Heidentum wie das Judentum kritisiert.15 Seine Kritik richtet sich insbesondere gegen den Opferkult, der bei den Heiden stummen Götterbildern dargebracht wird, „welche die Ehre nicht genießen können“, bei den Juden dagegen dem Gott, „der keiner Sache bedarf “.16 Seine Darstellung des Christentums bietet eigentlich keinen Ansatzpunkt für eine Dämonenlehre. Der einflussreichste Kirchenvater, Augustin, steht in jener breiten, dominierenden Tradition der Apologetik, in der die Dämononenlehre eine „zentrale Rolle“ spielt.17 Seine theologischen Gegner, wie Pelagius und Julian von Eclanum, die anscheinend kein Interesse an einer Dämonologie hatten, konnten sich nicht gegen ihn durchsetzen. Nach dem „pelagianischen Streit“, in dem es um die Gnade, den freien Willen und die Erbsünde ging, wurden sie aus der Kirche ausgeschlossen. Ihre Schriften sind nur in Zitaten und Referaten der Gegner, vor allem Augustins, erhalten. Die Dämonenlehre wird darin nicht explizit angesprochen, doch hat sie eigentlich keinen Platz in der Gedankenwelt jener Theologen, die sich gegen die augustinische Lehre von der Erbsünde ausgesprochen haben. Augustin hat jenen Aspekt des Dämonenglaubens angesprochen, der im späteren Mittelalter für die Theorie des Hexenglaubens besonders relevant werden sollte: der Dämonenpakt.18 Im zweiten Buch über „Die christliche Lehre“ kommt Augustin auf die Möglichkeit zu sprechen, dass Menschen „Pakte mit den Dämonen“ abschließen (pacta quaedam significationum cum daemonibus):19 Abergläubisch ist alles, was die Menschen zur Aufstellung und zur Verehrung von Götzen erfunden haben. Diese Erfindungen dienen teils dazu, irgendein Geschöpf oder auch nur einen Teil eines Geschöpfes als Gott zu verehren, teils dazu die bösen Geister um Rat zu fragen, ja mit ihnen in aller Form gleichsam Wahrsagungsverträge abzuschließen, wie uns dergleichen in den Versuchen der magischen Künste vorliegen, … Darüber hinaus hat Augustin auch andere Aspekte des Dämonenglaubens behandelt, die später für den Hexenglauben und die Hexenprozesse relevant werden sollten: die Möglichkeit der Verwandlung von Menschen in Tiere und die Möglichkeit der geschlechtlichen Vereinigung der Dämonen mit Menschen.20 In beiden Fällen hat 15 16 17 18 19 20

Zum Verfasser, Ort und Zeit, vgl. Lona, Diognet, 63–69. Brief an Diognet, 3, 5. Siehe Trelenberg, Tatianos, 45. Zur Nachwirkung vgl. Götz, Der Dämonenpakt bei Augustinus, 75–84. Augustin, Über die christliche Lehre, II, 20 (30). Siehe Augustinus, Der Gottesstaat XVIII, 17f; XV, 23.

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Augustin zwar nur vorsichtig argumentiert und im ersten Fall eine eigene, komplizierte Theorie entwickelt. Er hat es aber auch vermieden, diese Vorstellungen eindeutig zurückzuweisen, so dass später die Vertreter des Hexenglaubens, wie z. B. der Verfasser des „Hexenhammers“, Augustins Äußerungen in ihrem Sinne auslegen und auswerten konnten. So kann festgestellt werden, es sei zwar „verfehlt, Augustin die ‚Schuld‘ an den späteren Entwicklungen und ihren furchtbaren Folgen anzulasten“, doch könne es nicht bestritten werden, „daß er es war, der sie mit ermöglicht hat“.21 Diese Nachwirkung Augustins im Bereich der Dämonologie zeigt sich aber noch nicht im frühen Mittelalter. 8.2 Von der Verurteilung zur Verteidigung des Hexenglaubens Im 9. Jahrhundert hat Agobard, Erzbischof von Lyon, die im Volk verbreitete Vorstellung, das Wetter könne durch Zauberei beeinflusst werden – also eine der Vorstellungen, die in den Hexenprozessen der späteren Zeit eine große Rolle spielen –, als „Dummheit“ (stultitia) bezeichnet.22 Er war zugleich davon überzeugt, dass eine solche Annahme, Menschen könnten durch Beschwörungen (incantationes) Unwetter hervorrufen, nicht nur gegen jede Vernunft ist, sondern auch unvereinbar mit den Aussagen der Bibel. Im 10. Jahrhundert hat der Abt Regino von Prüm eine Sammlung von kirchenrechtlichen Bestimmungen zusammengestellt, die den sogenannten „canon episcopi“ enthält, einen Text, der – wohl irrtümlich – auf ein Konzil von Ancyra im 4. Jahrhundert zurückgeführt wurde. In diesem Text werden „die Bischöfe und ihre Mitarbeiter“ dazu aufgerufen, „die verderbliche und vom Teufel erfundene Weissage- und Zauberkunst vollständig in ihren Sprengeln auszurotten“.23 Wer dieses Verbrechens schuldig ist, solle vertrieben werden; zitiert wird Tit 3,10f, also jener Text, der dazu auffordert, die Häretiker zu meiden. Im 13. Jahrhundert wird Thomas von Aquin diesen Text aus dem Neuen Testament heranziehen, um die Todesstrafe für Häretiker zu begründen – davon ist bei Regino von Prüm zu Beginn des 10. Jahrhunderts keine Rede. Im „canon episcopi“ ist eine kritische, aufgeklärte Einstellung zu erkennen, insofern als eine Vorstellung, die später zu dem Komplex des Hexenglaubens gehören wird, als Wahnvorstellung erklärt wird:24 Auch dies darf nicht übergangen werden, dass einige verruchte, wieder zum Satan bekehrte Frauen von den Vorspiegelungen und Hirngespinsten böser Geister verführt sind und glauben und behaupten, sie ritten zu nächtlicher Stunde mit Diana, der Göttin der Heiden und einer unzähligen Menge von Frauen auf 21 22 23 24

Götz, Der Dämonenpakt bei Augustinus, 84. Agobard, liber de grandine (PL 104, Sp. 148). Regino von Prüm, Sendhandbuch, II, 371. Regino von Prüm, Sendhandbuch, II, 371.

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gewissen Tieren und legten in der Stille der tiefen Nacht weite Landstrecken zurück und gehorchten ihren (Dianas) Befehlen wie denen einer Herrin und würden in bestimmten Nächten zu ihrem Dienst herbeigerufen. Im „canon episcopi“, im frühen Mittelalter, wird diese Vorstellung, die später als „Hexenflug“ bekannt war, also (noch) nicht als Realität betrachtet, und so werden die kirchlichen Amtsträger dazu aufgerufen, den (Aber)Glauben an die Realität der Hexerei zu bekämpfen: Deswegen müssen die Priester überall in den ihnen anvertrauten Kirchen dem ganzen Volk eindringlich predigen, damit alle wissen, dass diese Dinge vollkommen falsch sind und dass derartige Hirngespinste den Seelen der Ungläubigen nicht vom göttlichen, sondern von einem bösen Geist eingegeben werden, … Die theologische Erklärung, dass solche Vorstellungen vom Teufel eingegeben werden, verbindet sich mit der psychologischen Beobachtung, dass Menschen im Traum „nächtliche Visionen“ haben. Der Glaube an die Realität des Hexenfluges – der später von vielen gelehrten Anhängern des Hexenglaubens vertreten wurde – wird im „canon episcopi“ schlicht als Dummheit abgetan: Wer aber ist so töricht und geistesschwach, dass er meint, all das, was nur im Geist geschieht, trage sich körperlich zu? Als „ungläubig“ gilt auch, dem canon episcopi zufolge, wer glaubt, dass irgendein Geschöpf – durch eine andere Macht als durch Gott allein – in eine andere Gestalt verwandelt werden kann. In dieser Bestimmung zeigt sich eine Auslegung des christlichen Monotheismus, die dem Teufel nur eine stark beschränkte Macht zuweist – die Funktion des Versuchers. Damit wird z. B. der volkstümliche Glaube an „Werwölfe“, der später in der Zeit der Hexenprozesse von manchen Anhängern des Hexenglaubens vertreten wurde, kategorisch ausgeschlossen. Der „canon episcopi“ hat zunächst eine große Nachwirkung gehabt und ist in das mittelalterliche Kirchenrecht eingegangen, bis hin zu der berühmten Kirchenrechtssammlung Gratians im 12. Jahrhundert Im 11. Jahrhundert hatte Burchard, Bischof von Worms, die wichtigsten Elemente des Hexenglaubens als Wahnvorstellungen erklärt und dementsprechend Bestimmungen zur Buße für derartige Abweichungen vom christlichen Glauben festgesetzt: Hexenflug, Tierverwandlung, Verkehr zwischen Dämonen und Menschen, Schadenzauber wie z. B. Wettermachen.25 Burchard hat, zum Beispiel, für den irrigen Glauben an die Möglichkeit der Verwandlung von Menschen in Wölfe – „quod teutonice Werewulf vocatur“ – eine 25 Siehe Hansen, Quellen und Untersuchungen II, 2 (S. 39–42).

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Buße von 10 Tagen bei Brot und Wasser festgesetzt. Eine längere Zeit der Buße wird festgesetzt für die Leute, die an die Realität des Hexenfluges glauben:26 Glaubtest du, es gäbe Frauen, die es bewirken können, …, … daß sie mit einer Schar von Dämonen in Weibergestalt, welche die Torheit des Volkes hier die „striga Holda“ nennt, in gewissen Nächten auf gewissen Tieren ausreiten, und sich deren Gemeinschaft zuschreiben lassen? Wenn du an diesem Aberglauben teilhattest, büßest du es 1 Jahr lang. In den Kirchenrechtssammlungen des früheren Mittelalters wird also der Glaube an die Wirklichkeit der Hexerei als häretisch betrachtet. Im Hinblick auf jene Theologen, die sich an die Auffassung des „canon episcopi“ gehalten haben, hat Joseph Hansen von einer „aufgeklärten Gesinnung“ gesprochen und von einer „erfreulichen Aufklärung“, die sich in der Folgezeit allerdings nicht durchgesetzt habe.27 Es liegt auf der Hand, dass die Anhänger des Hexenglaubens in der späteren Zeit viel Mühe darauf verwenden mussten, sich von diesem Erbe zu befreien. Sie mussten Argumente finden, den canon episcopi umzudeuten oder seine Geltung überhaupt zu bestreiten. Denn sie vertraten die entgegengesetzte Auffassung: Als Häretiker sollte nun gelten und entsprechend hart bestraft werden, wer an der Wirklichkeit der Hexerei zweifelt. Ansatzpunkte zu dieser Entwicklung lieferte die scholastische Theologie des 13. Jahrhunderts, vor allem Thomas von Aquin. Dieser hat sich, im Anschluss an Augustin, ausführlich mit der Frage nach der Wirksamkeit der Dämonen beschäftigt, wie z. B. ihre Fähigkeit, Körper zu verwandeln oder durch den Raum zu bewegen.28 In der „Summa theologica“ erörtert Thomas ausführlich die Frage, ob die Dämonen Wunder vollbringen und damit Menschen verführen können.29 Für beide möglichen Antworten bringt Thomas zunächst Zitate von Augustin, um schließlich zu der Antwort zu kommen, dass die Dämonen zwar keine Wunder im engeren Sinne – also in Abweichung von den Naturgesetzen – vollbringen können, aber doch Wunder im weiteren Sinne, „welche die Menschen anstaunen, weil sie ihre Fähigkeit und Erkenntnis übersteigen“. Und er fügt noch hinzu, wiederum im Anschluss an Augustin, dass diese scheinbaren Wunder manchmal „wirkliche Dinge“ sind – die Magier des Pharaos hätten mit der Kraft der Dämonen wirkliche Schlangen und Frösche hervorbringen können, und auch der Wirbelwind, der das Haus zum Einsturz brachte und Hiobs Söhne tötete, sei kein Trugbild gewesen. So gab es durchaus Ansatzpunkte im Werk des Heiligen Thomas von Aquin, auf die der Verfasser des „Hexenhammers“ zurückgreifen konnte. 26 Burchard von Worms, Corrector sive medicus, 70. Übersetzung: Behringer, Hexen und Hexenprozesse, Nr. 37a (S. 62). 27 Hansen, Zauberwahn, 94. 28 Thomas von Aquin, De malo, art. 9; 10. 29 Thomas von Aquin, Summa theologica I, quaestio 114, 4.

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Der „Hexenhammer“ ist, wie der bzw. die Verfasser in einer Apologie selbst feststellen, kein originales Werk, insofern als es bereits Vorläufer hat, wie z. B. den „Formicarius“ des Johannes Nider, der öfter zitiert wird. Neu ist nur die Systematik: theoretische Erörterungen über den Hexenglauben und praktische Anleitungen für die Hexenprozesse, in einem Handbuch vereint. Gleich zu Beginn des ersten Teils wird die Frage erörtert, ob es überhaupt Zauberei gibt: Ob die Behauptung, daß es Zauberer gibt, so sehr rechtgläubig ist, daß die hartnäckige Verteidigung des Gegenteils vollständig ketzerisch wäre? In scholastischer Manier zählt Heinrich Institoris Argumente für beide mög­lichen Antworten auf, um dann als erstes die Ansicht derer zurückzuweisen, die zu behaupten versuchen, „es gebe auf Erden keine Zauberei; sie lebe nur in der Vorstellung der Menschen, die natürliche Erscheinungen, deren Ursachen verborgen sind, den Hexen zuschrieben“.30 Offensichtlich gab es in seiner Zeit diese modern klingende Ansicht, was insofern nicht erstaunlich ist, als sie ja aus dem „canon epsicopi“ des frühen Mittelalters abgeleitet werden konnte. Institoris setzt einfach seine Auffassung dagegen und behauptet, Thomas von Aquin sage an jener Stelle:31 solche Ansicht sei durchaus wider die gewichtigen Lehren der Heiligen und wurzele im Unglauben, weil die Autorität der Heiligen Schrift sagt, daß die Dämonen Macht haben über die Körperwelt und über die Einbildung der Menschen, wenn es von Gott zugelassen wird, … Sodann setzt Institoris sich mit der Ansicht derer auseinander, die sich auf den Canon episcopi berufen und behaupten, dass der Flug der Hexen und ihre Verwandlungen nur in der Phantasie stattfinden. Seine These ist, dass damit der „gesunde Sinn“ des canons verfehlt wird: der Irrtum bestehe darin, die Aussagen jenes canons zu verallgemeinern und auf alle Arten magischer Handlungen zu beziehen. So kommt er, nach Aufzählung vieler Autoritäten, darunter auch wieder Thomas und Augustin,32 zu dem Schluss daß die Behauptung gut katholisch und sehr wahr ist, daß es Hexen gibt, welche mit Hilfe der Dämonen, kraft ihres mit diesen geschlossenen Paktes, mit Zulassung Gottes wirkliche Hexenkünste vollbringen können, ohne auszuschließen, daß sie auch Gaukeleien und Phantasiestückchen durch Gaukelkünste zu vollbringen imstande sind.

30 Hexenhammer I,1 (S. 3). Hier und im Folgenden zitiert nach der Übersetzung von Schmidt. 31 Institoris, Hexenhammer, I, 1 (S. 3/4f). 32 Institoris, Hexenhammer, I, 1 (S. 10).

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Den Widerspruch zum Kirchenrecht, das gerade den Glauben an die Realität des Hexenfluges als häretisch erklärt hatte, glaubt er also durch seine (Um)Deutung des canon epsicopi auflösen zu können, wie er es im zweiten Teil seines Werkes ausführt: Unter Berufung auf Geständnisse von überführten Hexen – „nicht nur derer, die eingeäschert worden, sondern auch anderer, die bußfertig zum Glauben zurückgekehrt sind“ – glaubt er feststellen zu können, dass diese „auf beide Arten“ ausfahren, „nämlich sowohl körperlich als auch nur in der Phantasie“.33 Der „Hexenhammer“ erlebte in den nächsten hundert Jahren viele Auflagen, stieß aber auch auf Widerstand, trotz der päpstlichen Approbation, die dem bzw. den Verfassern mit der „Hexenbulle“ gegeben war. Der Widerstand hatte sich eigentlich schon vorher bemerkbar gemacht, als Heinrich Institoris 1485 in Innsbruck als Inquisitor tätig war und eine Anzahl von Frauen als Hexen hatte verhaften lassen. Der zuständige Bischof, Georg Golser, hatte nicht nur die Kooperation verweigert, sondern auch ein vernichtendes Urteil über die Persönlichkeit dieses Inquisitors gefällt, den er offensichtlich für verrückt hielt:34 Mich verdreust des Münchs, ich find in des Babstes Bullen, daß er bei vielen Päpsten ist vor Inquisitor gewesen, er bedunkt mich aber propter senium ganz kindisch sein worden, als ich ihn hier zu Brixen gehört habe … Der Bischof konnte den Inquisitor zwar aus seinem Bistum ausweisen und für die Freilassung der Angeklagten sorgen, er konnte aber nicht verhindern, dass Heinrich Institoris nach dieser Niederlage mit der Abfassung des „Hexenhammers“ begann. Wenige Jahre später erschien bereits eine Erörterung der im „Hexenhammer“ vertretenen Positionen, und der Verfasser dieses Textes, der Jurist Ulrich Molitor, bestritt zumindest die Realität des Hexenfluges.35 Er kam allerdings zu dem Schluss, dass die Menschen, die sich in der Kunst der „Hexerei“ versuchen, wegen des Abfalls (apostasia) vom christlichen Glauben auf jeden Fall die Todesstrafe verdient hätten.36 8.3 Der Hexendiskurs im frühneuzeitlichen Europa Eine erste Kontroverse über ein Element des Hexenglaubens gab es bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts, also noch vor der Reformationszeit. Der Franziskaner Samuel de Cassinis verfasste 1505 einen Traktat, in dem er die Auffassung zurückwies, Gott würde es zulassen, dass die Hexen mit Hilfe des Teufels zum Hexensabbat fliegen.37 33 Institoris, Hexenhammer, II, 1,3 (II, S. 52). 34 Zitiert bei Behringer, Hexen und Hexenprozesse, Nr. 68. 35 Ulrich Molitoris, Von den unholden oder hexen, d6 (Mauz, 172). Siehe auch Hansen, Quellen und Untersuchungen II, Nr. 47 (S. 243–246). 36 Ulrich Molitor, Dialogus de lamiis, 27/28; Molitoris, Von den unholden e4 (Mauz, 177/178).. 37 Siehe Hansen, Quellen und Untersuchungen II, Nr. 54.

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Diese Vorstellung, dass der Hexenflug nicht nur in der Phantasie, sondern auch in der Wirklichkeit stattfinden kann, war, im Widerspruch gegen den canon episcopi, im „Hexenhammer“ festgeschrieben worden, und diese Vorstellung spielte bei den Hexenprozessen eine große Rolle: die durch Folter erzwungenen Denunziationen weiterer Hexen, die angeblich beim Sabbat gesehen worden waren, zogen ja weitere Anklagen und Prozesse nach sich. Samuel de Cassinis begründete seine Kritik theologisch: Gott würde niemals ein Wunder tun – und der Hexenflug wäre zweifellos ein Wunder –, wenn dieses nur dazu dienen würde, Menschen in eine Situation zu bringen, in der sie etwas Böses tun werden, wie dies beim Hexensabbat zweifellos der Fall wäre. Offensichtlich war es mit seinem Gottesbild unvereinbar, anzunehmen, dass Gott absichtlich Menschen dazu bewegt, etwas Böses zu tun, um sie dann zu bestrafen. Im nächsten Jahr antwortete der Dominikaner Vincenz Dodo mit einer Gegenschrift, in der er den Glauben an die Realität des Hexenfluges verteidigte, ebenfalls mit einer theologischen Begründung.38 Aus seiner Sicht war es keineswegs ein Widerspruch im Wesen Gottes, wenn dieser ein solches Wunder geschehen lassen würde, das zwangsläufig dazu führen würde, Menschen dem Bösen verfallen zu lassen. Diese unterschiedlichen Stellungnahmen zum Hexenglauben, vertreten von zwei katholischen Theologen, ergaben sich offensichtlich aus der Verschiedenheit ihrer Gottesvorstellungen. War der Praxisbezug in dieser Kontroverse nur indirekt gegeben, so war dies anders in einer Debatte, über die Agrippa von Nettesheim (1486–1535) berichtet, ein in seiner Zeit bekannter Universalgelehrter. Agrippa war 1519 als Jurist an einem Hexenprozess in der Stadt Metz beteiligt. In seiner Schrift „Über die Fragwürdigkeit und Nichtigkeit der Wissenschaften“ findet sich eine kritische Darstellung der Kunst der Inquisitoren, die er als „blutgierige Geier“ beschreibt. Er berichtet in diesem Kapitel auch über seinen Konflikt mit dem Inquisitor Salini, einem Anhänger der Ideologie des „Hexenhammers“:39 Als ich ihre Verteidigung übernommen und gezeigt hatte, daß es auch nicht die Spur eines Beweises gegen sie gebe, sagte er mir ins Gesicht: „Es genügt doch völlig, daß ihre Mutter als Hexe verbrannt worden ist.“ Zur Begründung seiner Meinung habe jener Inquisitor dann „einige Geheimnisse des Hexenhammers und dessen theologische Grundauffassungen“ angeführt: dass Hexenkinder „zumeist dem Umgang mit einem Inkubus entstammen, wodurch das Böse wie eine Erbkrankheit eingewurzelt“ sei. Er, Agrippa, habe dem heftig widersprochen:40

38 Siehe Hansen, Quellen und Untersuchungen II, Nr. 55. 39 Agrippa von Nettesheim, Über die Fragwürdigkeit, Kap. 96. 40 Agrippa von Nettesheim, Über die Fragwürdigkeit, Kap. 96.

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Da rief ich: „Ist das deine Theologie, schändlicher Mönch? Schleppst du mit solchen Phantastereien unschuldige Frauen zur Folterbank und erklärst du mit solchen Winkelzügen Menschen zu Ketzern?…“ Agrippa hat seinen Widerspruch dann theologisch begründet: der Inquisitor habe die Wirkung der Taufe nicht bedacht und sei deshalb selbst ein Ketzer. Auf diese Weise sei es gelungen, berichtet er, den Inquisitor als grausam bloßzustellen und die Angeklagte zu retten. Dieser Erfolg war allerdings ein Einzelfall, und Agrippa hatte sich durch seinen Einsatz für eine „Hexe“ unbeliebt und sogar verdächtig gemacht, so dass er diese Wirkungstätte verlassen musste. Der Gegensatz zwischen den Positionen Heinrich Kramers (Institoris) und Agrippas von Nettesheim zeigt sich auch in einem anderen thematischen Bereich, der allerdings mit dem Hexenglauben zusammenhängt: Heinrich Kramer lässt im „Hexenhammer“ immer wieder seine frauenfeindliche Einstellung erkennen;41 demgegenüber hat Agrippa von Nettesheim ein ganzes Buch geschrieben über den „Vorzug“ und die „Fürtrefflichkeit des weiblichen Geschlechts vor dem männlichen“. Ein anderer Verteidiger der Hexen, der Arzt Johannes Weier (1515–1588), war in seiner Jugnd ein Schüler Agrippas gewesen. Er führte später (1565) eine Debatte mit Johannes Brenz (1499–1570), einem lutherischen Theologen, der sich schon 1539 in einer Predigt kritisch zum Hexenglauben seiner Zeit geäußert hatte. Die Reformation hatte in dieser Hinsicht, was Hexenglauben und -prozesse betrifft, keinen Umschwung gebracht. In einer Aufzählung all der Experten, an die sich ein Christ nicht wenden darf, beschrieb Martin Luther auch die „Hexen“:42 Item die hexen, das sind die boßen teuffelshuren, die da milch stelen, wetter machen, auff boeck und beßen reytten, auff mentel faren, die leutt schiessen, lemen, vordurren, … unnd desgleychen. In einer Tischrede, im Jahre 1538, soll Luther gesagt haben, Mitleid mit den Hexen sei unangebracht (Cum illis nulla habenda est misericordia): „Ich wolte sie selber verprennen“.43 In einer Predigt über Exodus 22,18 hat Luther sich eindeutig zu der Auffassung bekannt, es sei „ein überaus gerechtes Gesetz, daß die Zauberinnen getötet werden, denn sie richten viel Schaden an, …“.44 Als Beispiel für den Schaden, den sie anrichten, nennt Luther an dieser Stelle u. a. „Unwetter, alle Verwüstung im Haus,

41 Vgl. dazu Segl, Die Hexe, 129; 144–149. 42 Luther, Kirchen-Postille, Predigt über Matth. 2,1–12 am Fest der heiligen drei Könige 1522 (Weimarer Ausgabe 10, I.1, 591). Etwas abgewandelt, aus dem Buch von Nikolaus Paulus übernommen, erscheint das Zitat bei Behringer, Hexen und Hexenprozesse, Nr. 60). 43 Luther, Tischreden 4. Band, Nr. 3979 (25. August 1538). 44 Luther, Weimarer Ausgabe 16. Band, 551, Z. 30f: „Iustissima lex est, ut magae occidantur, quia multa damna faciunt, …“ (Übersetzung: Haustein, Luthers Stellung, 123).

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auf dem Acker“.45 Die Todesstrafe für Hexen hält Luther aber nicht nur deshalb für notwendig, weil sie Schaden anrichten, sondern auch deshalb, „weil sie Umgang mit dem Satan haben“.46 Im Hinblick auf den Schadenzauber, speziell das „Wettermachen“, vertrat Johannes Brenz eine abweichende Auffassung.47 Anlässlich eines verheerenden Unwetters hatte Brenz sich in einer Predigt gegen die Meinung des Volkes gewandt, Hexen seien dafür verantwortlich und diese müssten gesucht und verbrannt werden.48 Er versuchte, seiner Gemeinde klar zu machen, „das Gott / unnd nicht der Teuffel / ein Ursacher und Verwalter des Hagels sey“, dass Gott durch den Hagel „die fromen in irem Glauben probiere / die Gottlosen aber straffe / auff das sie ire Sünde erkennen und Buß thuen“.49 Die Gesetze gegen die Hexen (Gen 22: „Du solt kein Zauberin leben lassen“) bezögen sich nur auf die Intention der „Hexen“, den Menschen mit Hilfe des Teufels zu schaden;50 diese Gesetze seien also in aller Härte anzuwenden, auch wenn es keinen wirklichen Schadenzauber gebe. Als diese Predigt veröffentlicht wurde, schrieb Johann Weier einen Brief an Brenz, in dem er zum Einen die Übereinstimmung betonte – in der Auffassung, dass die Hexen keinen Schaden tun können –, zum Andern aber den Unterschied in den Auffassungen, wie mit diesen „Hexen“ zu verfahren sei:51 Wenn denn nu ein altes betagtes Weib in jrem betrübten gemuet und sinn sich schon dem Teuffel ergeben hette/solt man sie nicht also bald zum fewr verdammen/sondern viel mehr die gelegenheit ihres bestuertzten/bekuemmerten und beschwerten gemuets ansehen … Als Arzt plädierte Weier also dafür, Mitleid mit den vom Teufel verführten „Hexen“ zu haben und sie nicht zu bestrafen – sie können ja ohnehin keinen Schaden 45 Luther, Weimarer Ausgabe 16. Band, 552, Z. 3: „tempestates, vastationes omnium in domo, agro, …“(Übersetzung: Haustein, Luthers Stellung, 124). In seiner Auslegung des Dekalogs hatte Luther die Bereiche des Schadenzaubers besonders ausführlich aufgezählt, hier u. a. auch den Wetterzauber: „Possunt tempestates, tonitrua concitare, perdere fruges, …“ (Luther, Weimarer Ausgabe 1. Band, 406, Z. 7f). Er widerspricht hier ausdrücklich den Skeptikern, die nicht an die Möglichkeit solchen Schadenzaubers glauben (ebda, 408, Z.1f). Zu einigen anderen Elementen des Hexenglaubens – Hexenritt und Tierverwandlung – äußert er sich aber ablehnend, wohl in Anknüpfung an die Tradition des canon episcopi (ebda, 406, Z. 20–24). Vgl. dazu Haustein, Luthers Stellung, 50–67. 46 Luther, Weimarer Ausgabe 16. Band, 552, Z. 23: „sed etiam quia commercia habent cum Satana“. (Übersetzung; Haustein, Luthers Stellung, 124). 47 Haustein würde keinen großen Unterschied sehen, da er Luther in die skeptische „Episcopi-Tradition“ einordnen möchte (Luther als Gegner des Hexenwahns, 50f). Anders Jerouschek, der Luther in die „realistische Magietradition“ stellt (Luthers Hexenglaube, 117). Nikolaus Paulus hatte Luther sogar als „Beförderer der Hexenprozesse“ gesehen (Hexenwahn, 48–66). 48 Auf diesen sozialgeschichtlichen Kontext der Hexenprozesse, die Folgen von Unwettern und Mißernten, hat Behringer immer wieder hingewiesen, siehe z. B. Hexen und Hexenprozesse, Nr. 86; 93f. 49 Brenz, vom Hagel, Donner, 9/10; 13. 50 Brenz, vom Hagel, Donner, 11f. 51 Weier, De praestigiis daemonum, 494.

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anrichten –, sondern therapeutisch auf sie einzuwirken, so dass sie „Christo sich ergeben / und also widerumb zu recht gebracht werden“. Brenz antwortete sehr höflich, ermunterte Weier auch, in seiner sozialen Arbeit fortzufahren, blieb aber bei seinem Standpunkt, dass schon der (untaugliche) Versuch, mit Hilfe des Teufels zu schaden, ein Verbrechen sei und nach Gen 22 ohne alles Erbarmen mit dem Tode zu bestrafen sei.52 Weier hat darauf noch einmal geantwortet, seinen Standpunkt verteidigt und darüber hinaus Brenz den Vorwurf gemacht, für die unmenschliche Praxis der staatlichen Hexenprozesse die religiöse Legitimation zu liefern, so dass die Obrigkeit in ihrem „unrechtmessigen fuernemmen/dadurch gestercket wird.“53 Weiers Verteidigung der „Hexen“ wurde im ausgehenden 16. Jahrhundert auch in England, also im Bereich der anglikanischen Kirche, zur Kenntnis genommen und kontrovers diskutiert. Der „country-gentleman“ Reginald Scot (1538–1599) rezipierte Weiers Gedanken positiv und veröffentlichte 1584 eine Kritik des Hexenglaubens und der Hexenprozesse.54 Seine Argumentation verläuft auf zwei Ebenen. Zum einen argumentiert er theologisch. Er will das (protestantische) Christentum befreien von den letzten Resten des (katholischen) Aberglaubens, wie er ihn z. B. im „Hexenhammer“ vorfindet. Das ist aus seiner Sicht die falsche, übertriebene Auffassung von der Macht des Teufels, und die damit verbundene Vorstellung des Teufelspaktes, also eine falsche Auslegung des Monotheismus; zum Andern argumentiert er empirisch: Er will nachweisen, dass die angenommen Hexerei-Delikte schlichtweg unmöglich sind. Dazu kommt ein Gesichtspunkt, der schon von Weier gegenüber Brenz ins Spiel gebracht wurde – das Mitleid mit den Angeklagten, insbesondere mit den Frauen:55 (…) if neither the estimation of Gods omnipotencie, (…), nor the doubtfulness or rather the impossibilitie of the case, (…), nor the pitie that should be in a christian heart, (…) may suffice to suppresse the rage or rigor wherewith they are oppressed; yet the consideration of their sex or kind ought to moove some mitigation of their punishment. Die Rationalität der Argumentation zeigt sich auf den beiden Ebenen, der theologischen und der empirischen: In seiner Auslegung des christlichen Gottesglaubens orientiert Scot sich am Buch Hiob, in welchem ja nicht von Hexen die Rede ist, und er stellt spöttisch fest: heutzutage würde man die alten Frauen suchen, die für das Unglück Hiobs verantwortlich sind;56 außerdem untersucht er kritisch die 52 53 54 55

Brenz, ebda, 498. Weier, ebda, 500. Vgl. dazu Berner, Religiosität und Rationalität, 146–167. Scot, Discoverie of Witchcraft, S. XXII. Auf der ersten Seite beruft Scot sich auf Brenz, zitiert ihn allerdings nur im Blick auf die Leugnung des Wetterzaubers. Er geht nicht auf Brenz’ Sicht der Strafwürdigkeit ein. 56 Scot, Discoverie, V, 8 (S. 84f).

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Bedeutung der hebräischen Begriffe im Alten Testament, die im Hexendiskurs ungeprüft als biblische Belege verwendet werden.57 Im Hinblick auf die Praxis der Hexen­prozesse bemerkt er kritisch, dass die Anwendung der Folter alle Geständnisse wertlos macht: „… for upon the racke, when they have once begunne to lie, they will saie what the tormentor list.“58 Scot fand in England einige Anhänger und Nachfolger, doch stieß seine kritische Haltung, wie zu erwarten, auch auf Widerspruch. Kein Geringerer als der König von England, James I. bzw. VI., der in seiner Zeit als König von Schottland sich selbst an Hexenprozessen beteiligt hatte, verfasste einen dämonologischen Traktat, der, wie er in der Vorrede an den Leser ausdrücklich feststellte, gegen Weier und Scot gerichtet war:59 against the damnable opinions of two principally in our age, wherof the one called SCOT an Englishman, is not ashamed in publike print to deny, that ther can be such a thing as Witch-craft: … The other called WIERUS, a German Phisition, sets out a publick apologie for al these craftes-folkes, … Der Traktat war in Dialog-Form abgefasst, erhob also den Anspruch auf Rationalität – die kritischen Fragen des Skeptikers werden nicht unterdrückt, sondern explizit aufgeworfen, um dann beantwortet zu werden. James’ Vorwurf gegen Scot war, dass die Kritik des Hexenglaubens zum Atheismus der Sadduzäer führe, und dem Verteidiger der Hexen, Weier, unterstellte er, selbst ein Hexer gewesen zu sein – „to have been one of that profession“. Kritiker des Hexenglaubens mussten also darauf gefasst sein, des Atheismus oder der Hexerei verdächtigt zu werden. So ist es verständlich, dass der schärfste Kritiker der Hexenprozesse, Friedrich von Spee, noch im 17. Jahrhundert seine Schrift nur anonym zu veröffentlichen wagte. Einer seiner Vorläufer unter den katholischen Theologen, Cornelius Loos (1546–1595), sah sich 1593 zum Widerruf genötigt, um einer strengeren Bestrafung zu entgehen. Schon 1585 – und 1597 in erweiterter Fassung – hatte der Heidelberger Mathematikprofessor Hermann Witekind (1522–1603) unter dem Pseudonym Augustin Lercheimer ein Buch gegen die Hexenprozesse veröffentlicht, in dem er gleich zu Beginn den canon episcopi zitiert und damit seine skeptische Position markiert.60 Leibliche Strafen für die „Hexen“ dürfe die Obrigkeit nur dann verhängen, wenn diese auf natürliche Weise, z. B. durch Gift, nachweisbar Schaden angerichtet haben. Sonst seien die „Hexen“ nicht zu bestrafen, denn:61 57 58 59 60

Scot, Discoverie, VI, 1 (S. 89). Scot, Discoverie, II, 8 (S. 24). James I., Daemonologie, S. 149. Schmidt zufolge hatte Witekind in seinem Umfeld, der Kurpfalz, keine Sanktionen zu fürchten (Glaube und Skepsis, 207f). 61 Witekind, Christlich bedencken, 8; 150.

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Mit bösen gedancken, mit bösem willen, worten oder geberden können sie niemand schaden, weil die solche krafft nicht haben, der teufel sie jnen auch nicht zu geben vermag, wie oben im Bedencken erwisen. Den Anstoß, sein „bedencken und erinnerung vom zauber und Hexenhandel zu schreiben“, habe ihm der Bericht über die Verbrennung einiger „Zauberinnen“ gegeben – „deren mich erbarmte da ichs hörete von denen die dabey gewesen und das jämerliche spectacul angesehen hatten“, wie er am Schluss bemerkt.62 Wie der Engländer Scot, dessen Werk gleichzeitig erschien, nennt Witekind „Mitleid“ als sein Motiv, in die Debatte einzugreifen, und gegenüber seinen Kritikern stellt er fest, Lieber will ich und besser ists, zu barmherzig dann zu rauch seyn, … Doch bestettigen und vergewissern mich in dieser meiner meynung viel hochverstendige, gelehrte und ungelehrte männer, die ob dieser strenge und teufels brandopffern ein unwillen, mißfallen und abschewen haben … Das Motiv des Mitleids war ja von Luther als unangebracht ausgeschlossen worden. Ebenso spielt es keine Rolle im Traktat des Katholiken Peter Binsfeld (1546–1598), Weihbischof in Trier, wo es zu dieser Zeit gerade eine große Verfolgungswelle mit etwa 300 Exekutionen gab.63 Binsfelds Traktat, der 1591 auch in deutscher Übersetzung erschien, lieferte „das theoretische Fundament für härteste Verfolgung“.64 Wie sein Vorgänger 100 Jahre zuvor, der Verfasser des „Hexenhammers“, wendet Binsfeld sich gleich zu Beginn, im Vorwort an den Leser, gegen die Auffassung der Skeptiker, die sich am canon episcopi orientieren: was mutliche Zeugnuß von den zauberischen Wercken erzehlen / woellen etliche fuer alter Weiber Traeum und Fantasey halten / unnd derowegen das solcher Laster schuldige keins wegs gestrafft sollen werden. Im ersten „Praeludium oder Vorspil“ begründet Binsfeld die Auffassung von der Realität der „Zauberei“ durch den Hinweis auf Autoritäten aus der Bibel – z. B. Ex 22 – und aus der Tradition, hier vor allem Augustin und Thomas von Aquin. Ganz in der Tradition des Hexenhammers wird es zur Ketzerei erklärt, die Realität der Zauberei in Zweifel zu ziehen. Die traditionellen Elemente der Hexerei-Vorstellung werden bestätigt und jeweils kurz begründet – Teufelspakt, Unzucht mit dem Teufel, Krankheiten- und Wettermachen, Translokation. Eine Ausnahme ist die Vorstellung der Tierverwandlung, also z. B. die Verwandlung in Wölfe – dies 62 Witekind, Christlich bedencken, 139. Ulbricht betont die sozialkritische Komponente im Werk Witekinds, der immer wieder auf die Armut der Betroffenen hinweist (Sozialkritik und „Verchristlichung“, 136–140). 63 Siehe Schormann, Krieg gegen die Hexen, 110. 64 Behringer, Hexen und Hexenprozesse, 181.

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lehnt Binsfeld ab, als „warhaffter Philosophey“ und der „Warheit unsers heiligen Glaubens“ widersprechend, wiederum mit Berufung auf Augustin – „durch Verblendunge und Verstellung“ könne solches allerdings geschehen.65 Ebenso wie Scot, den er nicht kennt, zitiert auch Binsfeld das Buch Hiob, allerdings mit anderer Intention: Er sieht darin einen biblischen Beleg für den Glauben an den Teufel als eine selbständige, wenn auch von Gottes Zustimmung abhängige, Macht.66 Die Tatsache, dass im Buch Hiob nicht von Hexen die Rede ist, nimmt er nicht zur Kenntnis; er würde darin aber auch kein Argument gegen den Hexenglauben sehen, da er ja die Annahme voraussetzt, dass Menschen einen Pakt mit dem Teufel schließen können. So kann ein und dasselbe biblische Buch zur Kritik wie zur Begründung des Hexenglaubens herangezogen werden. Wie sein Vorgänger Heinrich Institoris, erörtert Binsfeld auch praktische Fragen der Hexenprozesse, z. B. ob den verurteilten Hexen am Tage der Exekution das Abendmahl zu reichen sei und ob sie dann lebendig verbrannt oder vorher erdrosselt werden sollen.67 Die Fage nach der Grausamkeit der Strafe, wie der ganzen Prozessführung überhaupt, spielt in seiner Argumentation keine Rolle; sie wird einige Jahrzehnte später von dem Jesuiten Friedrich Spee aufgeworfen, ebenso von dem Lutheraner Johan Meyfart, aber auch schon früher von dem reformierten Pfarrer Anton Praetorius (1560–1613). Praetorius veröffentlichte 1598, nicht unter eigenem Namen, in deutscher Sprache ein Buch gegen die Hexenprozesse: „Von Zauberey und Zauberern Gruendlicher Bericht“, in zweiter und dritter Auflage (1602 und 1613) dann auch unter eigenem Namen. Den Anstoß zur Beschäftigung mit diesem Thema – und zu einer Veränderung seiner Einstellung – gab ihm seine erste Konfrontation, im Jahre 1597, mit der Praxis eines solchen Prozesses. Zu dieser Praxis gehörte es, dass bloße Denunziationen als ausreichendes Indiz galten, um die Folter anzuwenden. Über diese Episode berichtet Praetorius selbst in der Vorrede seines Buches: Auf die Nachricht hin, dass die letzte überlebende von vier angeklagten Frauen „mit grossem jammergeschrey auff der Folter were“, sei er gleich „auß dem Pfarrhauß ins Schloß“ geeilt und habe mit dem Kanzler und Hofrat „so viel“ geredet, „daß sie mit der Folter nachlassen muesten“.68 Dieser autobiographische Bericht wird bestätigt durch eine Eintragung im Protokoll der Kanzlei seines Dienstherrn:69 weil der Pfarrer allhie heftig dawieder gewesen, als man die Weiber peinigte, also ist es diesmal deßhalben unterlassen worden, da er … heftig contra Torturam geredet. 65 66 67 68 69

Binsfeld, Tractat, S. 24. Binsfeld, Tractat, S. 27/29. Binsfeld, Tractat, S. 65f. Prätorius, Gründlicher Bericht, Vorrede S. 20. Zitiert nach Hegeler, Der evangelische Pfarrer Anton Prätorius, 159.

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Wie im Falle Agrippas von Nettesheim, war es eine erfolgreiche Einzelaktion, die zur Befreiung einer der Angeklagten führte – die allerdings an den Folgen der Folter verstarb.70 Und ebenso wie Agrippa machte sich auch Praetorius durch diese Aktion unbeliebt und musste sich eine neue Anstellung suchen. Mit seinem Buch will Praetorius nicht nur die Prozessführung kritisieren – die unmenschlichen Haftbedingungen und die Folter –, sondern auch den Hexenglauben als solchen. Wie er in der Vorrede erklärt, will er die „Superstition (das ist/ubersatz des glaubens)“ und den „Aberglauben (das ist/abirrenden glauben)“ bekämpfen, die verfehlte Zuschreibung der Werke Gottes, wie z. B. des Wettermachens, an den Teufel und seine „Narren und Naerrinnen“, die Zauberer und die „ohnmechtigen Hexen“ – der Teufel werde ja mehr gefürchtet als Gott.71 Es werde ihm vorgeworfen, bemerkt Prätorius, er „sey der Hexen Advocat, und wolle das boese ungestrafft haben“. Er weist dies als eine Verleumdung zurück:72 Keine ubelthat heisse ich gut: … Ja / ich klage die rechten Zauberer/Schwartzkuenstler/Gaeuckler/Wahrsager / … hefftig an. Aber für die armen/albern/elenden/stummen/einfaltigen/verfuehreten/bußfertigen rede ich / mit Gottes Schwert=traegern / und warn fuer blindem eiffer / und ungerechtem blutvergiessen/und Menschenopffer. Diese Warnung vor ungerechtem Blutvergießen steht in der Tradition des Arztes Johannes Weier, auf den Prätorius sich auch ausdrücklich beruft. Die Metapher des (Menschen)opfers konnte Praetorius bei Witekind finden, den er ebenfalls lobend erwähnt. Als Beschreibung der Hexenverbrennung ist die Opfermetaphorik besonders gut dazu geeignet, die Kritik noch weiter zu verschärfen, insofern als sie den christlichen Glauben der Hexenverfolger in die Nähe des Heidentums rückt – aus der Sicht des Pfarrers Praetorius ist es eben der vom Wesen des Christentums „abirrende Glaube“, der zu den Hexenprozessen führt. Der Gegensatz zwischen den Traktaten von Binsfeld und Praetorius ist nicht etwa auf die verschiedenen konfessionellen Identitäten – katholische und reformierte – zurückzuführen. Denn der gleiche Gegensatz zeigt sich auch innerhalb der katholischen Kirche, gegen Ende des 16. Jahrhunderts z. B. in den Traktaten von Cornelius Loos und Peter Binsfeld; dann zu Beginn des 17. Jahrhunderts z. B. in den Aktivitäten des Hexenverfolgers Pierre de Lancre (1553–1631) und des Hexenverteidigers Alsonso Salazar Frias (1564–1636). Pierre de Lancre hat im französischen Baskenland eine große Zahl von Hexenprozessen geführt, in denen etwa 80 Todesurteile gefällt wurden;73 außerdem hat er 70 Der rückblickende Bericht Prätorius’ scheint in diesem Punkt nicht mit dem Protokoll des Schreibers übereinzustimmen. Vgl. dazu Hegeler, Anton Prätorius, 107. 71 Prätorius, Gründlicher Bericht, Vorrede S. 11; 8f. 72 Prätorius, Gründlicher Bericht, Vorrede, S. 23. 73 Siehe Henningsen, The Salazar Documents, 49.

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die theoretische Grundlage, den Hexenglauben, in zwei Werken ausführlich verteidigt – auch den Glauben an die Realität des Fluges zum Hexensabbat. Salazar Frias hat demgegenüber im spanischen Baskenland dafür gesorgt, dass die Hexenprozesse eingestellt wurden; er hat zwar keine dämonologischen Traktate verfasst, aber ausführliche Berichte an die Zentrale der spanischen Inquisition geschickt. Seine Berichte beruhen auf eigenen Untersuchungen, die er zwar in seiner Funktion als Inquisitor, aber mit der kritischen Einstellung eines Forschers durchgeführt hat, z. B. durch Experimente mit den „Hexensalben“.74 In seinem zweiten Bericht (1612) an die Zentrale in Madrid schreibt er zusammenfassend:75 … after having investigated all these matters both in the court room and outside, I have not found a single proof, not even the slightest indication, from which to infer that an act of witchcraft has actually taken place, whether it comes to sabbat journeys, participation in the aquelarre, damages or any other of the referred effects. Mit dieser Auffassung stellte Salazar sich gegen seine beiden Kollegen in der lokalen Inquisitions-Behörde, die unbeirrt daran festhielten, dass die „Hexensekte“ wirklich existiert und dass die „Bekenntnisse“ der Angeklagten ernst zu nehmen und diese entsprechend zu bestrafen seien – eine Bestrafung, die sie 1610 in Logrono exemplarisch, mit vier Todesurteilen, durchgeführt hatten.76 Demgegenüber bestand Salazar darauf, dass niemand verurteilt werden dürfe, wenn es keine „objektive Evidenz“ für die Realität der Hexereidelikte gebe, wie er in seinem vierten Bericht (1613) feststellt:77 However, who can accept the following: that a person can frequently fly through the air …; that a woman can get out through a space not big enough for a fly; that a person can make himself invisible; …, or that he can be in bed and at the sabbat at the same time; …; and that a witch can turn herself into any shape she fancies, be it housefly or raven? Indeed, these claims go beyond all human reason and many of them even pass the limits permitted the Devil. Salazar konnte sich mit seiner Meinung durchsetzen, so dass die Hexenprozesse in Spanien, also im Machtbereich der spanischen Inquisition, im Jahre 1613 eingestellt wurden – lange vor dem Ende der Hexenprozesse im mittleren und nördlichen Europa. Zuvor hatte der Großinquisitor in Madrid eine Reihe von Gutachten eingeholt, darunter auch auch das von Pedro de Valencia, einem Kenner des antiken Skeptizismus, der sich dafür ausgesprochen hat, niemanden zum Tode zu verurtei-

74 75 76 77

Siehe z. B. Salazar Documents, Nr. 12, § 48–50. Salazar Documents, Nr. 12, § 69. Siehe Henningsen, Salazar Documents, 101. Salazar Documents, Nr. 14, § 29.

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len, wenn die Sache zweifelhaft sei.78 So war die Gefahr gebannt, dass die Hexenprozesse vom französischen auf das spanische Baskenland übergriffen. Diesen Zusammenhang mit der Hexenpanik jenseits der Grenze hatte schon der Bischof von Pamplona, Don Antonio Venegas y Figueroa, erkannt, der 1611 in einem Brief an den Großinquisitor bemerkt hatte, das Wort „aqelarre“ (als Bezeichnung für den Hexensabbat) sei im spanischen Baskenland unbekannt gewesen und habe sich erst nach den Berichten über eine Hexenverfolgung jenseits der Grenze verbreitet.79 Offensichtlich auf den Hexenjäger und -theoretiker Pierre de Lancre anspielend, schrieb der Bischof von Pamplona:80 … he acted so precipitately and without substantiating the cases as he should have done, that he was relieved from his commission and forbidden to proceed. This, however, did not take place before he had burnt many who, as has come to light, died innocent. Außerdem machte der Bischof jene Pfarrer, die dämonologische Predigten halten, für die Verbreitung des Hexenglaubens verantwortlich: Sie verbreiten Informationen über die Hexenvorstellungen der Inquisitoren, auf die die Angeklagten später in ihren „Geständnissen“ zurückgreifen, was die Inquisitoren wiederum in ihrem Glauben bestätigt. Es ist durchaus zutreffend, wenn Henningsen im Blick auf die Erklärung, die der Bischof von Pamplona für die Ausbreitung des Hexenglaubens gibt, feststellt: „It most of all recalls modern explanations based on communication theory.“81 Eine vergleichbare rationale Erklärung für die Ausbreitung von Hexenglaube und -prozessen findet sich in einem Werk, das zwei Jahrzehnte später anonym in Deutschland erschien, unter dem Titel „cautio criminalis“. Dieses Werk ist sicherlich das bekannteste – wenn nicht einzige bekannte – Beispiel aus der frühneuzeitlichen Kritik der Hexenprozesse. Der Übersetzer würdigt den „unentbehrlichen Beitrag“ des Werkes „zu der großen Auseinandersetzung mit uraltem Aberglauben und mittelalterlicher Autoritätshörigkeit, die das Zeitalter der Aufklärung einleitete“.82 Dieses Urteil erscheint berechtigt, insofern als der Jurist Christian Thomasius, der bekannte Vertreter der Aufklärungsepoche, zu Beginn des 18. Jahrhunderts den (unbekannten) Verfasser der „cautio criminalis“ ausdrücklich gewürdigt und „recommendiert“ hat.83 Als Verfasser wurde später der Jesuit Friedrich von Spee (1591–1635) identifiziert, der, nach eigener Aussage, in der Funktion des Beichtvaters an Hexenprozes78 79 80 81 82 83

Siehe Henningsen, Salazar Documents, 6f. Zur Etymologie des Wortes siehe Henningsen, Salazar Documents, 106, Anm. 2. Salazar Documents, Nr. 5. Henningsen, Salazar Documents, 86. Spee, Cautio Criminalis, S. XXXIII. Thomasius, Vom Laster der Zauberei, § 4.

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sen beteiligt war und deshalb – ebenso wie Salazar – aus eigener Erfahrung über Fehler und Missbräuche berichten konnte:84 Was soll ich es denn verheimlichen, die Wißbegierde hat mich getrieben und fast übers Ziel hinausschießen lassen, daß ich in so zweifelhafter Sache doch irgend etwas Sicheres fände. Aber ich habe nichts finden können als Schuld­ losigkeit allenthalben. Spee war sicherlich nicht über die Tätigkeit Salazars informiert, doch wusste er offensichtlich, dass die Hexenverfolgung in Spanien wie auch in Italien stark eingeschränkt worden war. Denn er bemerkt ausdrücklich, dass Deutschland in dieser Hinsicht eine Sonderstellung einnimmt. Gleich zu Beginn erörtert er die „Frage“, (dubium), „Ob es in Deutschland mehr Hexen und Unholde als anderorts gibt“, und er stellt fest: „Man weiß ja, daß es besonders in Deutschland allerorts von Scheiterhaufen raucht, …“.85 Unmißverständlich äußert er seine Meinung, dass aufgrund der Prozessführung – und dazu gehört in erster Linie die Folter – viele Unschuldige als Hexen hingerichtet worden sind:86 Jedenfalls sehen die Italiener und Spanier, die anscheinend von Natur aus mehr dazu veranlagt sind, diese Dinge zu bedenken und zu überlegen, deutlich, welch unzählbare Menge Unschuldiger sie hinrichten müßten, wenn sie die Deutschen nachahmen wollten. Mit dieser Behauptung wendet er sich gegen andere katholische Theologen, gegen den Jesuiten Delrio und vor allem gegen den Trierer Weihbischof Binsfeld, der die Auffassung vertreten hatte, Gott würde es nicht zulassen, dass Unschuldige als Hexen verurteilt werden.87 Bei der Erörterung dieser Frage zeigt sich, dass der Hexendiskurs grundlegende Fragen des Gottesbildes betrifft und quer zu den konfessionellen Streitigkeiten verläuft: Spee schließt sich an Adam Tanner (1575–1632) an, einen anderen katholischen Theologen und Jesuiten, der wenige Jahre zuvor ebenfalls Binsfeld und Delrio widersprochen und zur Vorsicht und Milde bei der Prozessführung gemahnt hatte. Wie Tanner ist Spee der Meinung, dass Gott, aus welchen Gründen auch immer, „noch viel schlimmere Dinge geschehen“ lässt, wie z. B. auch die Kreuzigung seines Sohnes und später die Tötung der christlichen Märtyrer.88 So werden die unschuldigen Opfer der Hexenprozesse mit den frühchristlichen Märtyrern verglichen, wenn nicht sogar mit Christus selbst;89 und die Hexen­richter werden 84 85 86 87 88 89

Spee, Cautio Criminalis, 11. Frage (S. 31); vgl. 19. Frage (S. 77). Spee, ebda, 2. Frage (S. 2) Spee, ebda, 15. Frage (S. 50). Siehe Spee, ebda, 10. Frage (S. 27f). Spee, Cautio Criminalis, 10. Frage (S. 29); vgl. 48. Frage (S. 251). So Battafarano, Absentia dei?, 395: Spee identifiziere die „unschuldige, als Hexe verachtete Frau mit Christus“.

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mit dem Kaiser Nero verglichen, der den Christen Geständnisse abgepresst hatte, um sie dann grausam hinrichten zu lassen.90 Der Gott, wie Spee ihn sich vorstellt, kennt keinen Zorn über verletzte Ehre, im Gegensatz zu dem Gott der Hexenverfolger, wie z. B. des Bamberger Fürstbischofs, der 1631 an den Kaiser schrieb, um sich zu rechtfertigen:91 Solche Prozesse habe ich allein zur Ausbreitung und Beförderung der Ehre Gottes und zum Heile vieler verführten Seelen, … rechtmäßig geführt, so daß ich deshalb vor Gott, … Rechenschaft und Antwort zu geben mir getraue. Der Bamberger Weihbischof Friedrich Förner, der eigentliche spiritus rector der dortigen Hexenverfolgung, hat diese Art des Gottesglaubens in einer seiner „Hexenpredigten“ besonders klar formuliert: Die „Ausübung derartigen Aberglaubens“ sei „wenigstens implizite Abkehr von Gott … Daher droht Gott im Eifer für seine göttliche Ehre, er werde derartigen Götzendienst, in dem der Teufel als Gott anerkannt oder mindestens insgeheim verehrt wird, rächen bis ins dritte und vierte Geschlecht“.92 Spees Gott kennt demgegenüber nur den Zorn über ungerechtes und grausames Handeln, wie es sich gerade in der Prozessführung der Hexenrichter zeigt, so dass diese im Jüngsten Gericht zur Rechenschaft gezogen werden. In dieser Auffassung hätte Spee mit dem reformierten Theologen Anton Prätorius übereingestimmt, wie auch mit dem lutherischen Theologen Johann Meyfart, dessen Werk zu seiner Zeit noch nicht erschienen war. Spees Argumentation verläuft auf zwei Ebenen: Er appelliert an die Vernunft und an die christliche Nächstenliebe, und er ist davon überzeugt, dass beides sich harmonisch zusammenfügt und ergänzt. So argumentiert er, wieder im Anschluss an Tanner, gegen die verbreitete Auffassung, den Angeklagten sei eine Verteidigung zu verweigern, weil es sich bei der Hexerei um ein Ausnahmeverbrechen (crimen exceptum) handele: Es sei ja „(wie kein vernünftiger Mensch bestreiten wird) ganz einfach ein Satz des Naturrechts, daß du dich verteidigen darfst, solange dir noch keine Schuld nachgewiesen ist“, und abgesehen davon verlange „die christliche Nächstenliebe ganz das Gleiche“.93 Wie im Werk Reginald Scots verbinden und ergänzen sich im Werk Spees Rationalität und Religiosität: erstere z. B. im Hinweis auf Zirkelschlüsse, also logische Schwächen in der Argumentation der Hexenverfolger;94 letztere z. B. im Hinweis auf Schrift-Stellen, wie z. B. das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen. Spee sah in diesem Gleichnis, das auch in der Toleranz-Debatte eine zentrale Rolle gespielt hat, eine biblische Begründung für seine Mahnung zur Vorsicht in den Hexenprozessen:95 90 91 92 93 94 95

Siehe Spee, Cautio Criminalis, Anhang, S. 290–294. Zitiert nach Behringer, Hexen und Hexenprozesse, Nr. 235. Förner, Gottes vollständige Waffenrüstung. 5. Predigt, D 91 (S. 182). Spee, Cautio Criminalis, 17. Frage (S. 60/62). Spee, ebda, 45. Frage (S. 233); 48. Frage (S. 252f). Spee, ebda, 15. Frage (S. 49); vgl auch 12. und 13. Frage.

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So lautet das Gesetz Christi, Matth. cap. 13: Wenn Gefahr droht, daß zugleich der Weizen mit ausgerauft werde, dann darf auch das Unkraut nicht vertilgt werden. Auch wenn eindeutig festgestellt werden kann, dass Spee ein radikaler Kritiker der Hexenprozesse war, bleibt doch immer noch die Frage, ob er auch den Hexenglauben, also die zugrundeliegende dämonologische Theorie, ebenso radikal kritisiert hat. Gleich zu Beginn, in der ersten „Frage“ – „Ob es wirklich Hexen, Zauberinnen oder Unholde gibt?“ –, hat er mit einem „Ja“ geantwortet und behauptet, „nur Leichtfertigkeit und Torheit“ könnten dies leugnen, um dann allerdings zu erklären, er glaube nicht, dass die Zahl der Hexen so groß sei, wie gemeinhin angenommen. So könnte der Eindruck entstehen, dass Spee „nie die Existenz der Hexerei in Zweifel“ gezogen hat, wie Stuart Clark glaubt konstatieren zu können, um dann auch noch zu bemerken, dass Spee ja nur „auf einer Reform, nicht aber auf der Einstellung der Hexenprozesse“ bestanden habe. Auch im Werk Tanners, Spees Gewährsmann, vermisst Clark eine klare Absage an den Hexenglauben als solchen – im Hinblick auf die dämonologischen Grundlagen sei Tanner „ein echter Traditionalist“ gewesen.96 Abgesehen davon, dass Spee den verantwortlichen Fürsten eindeutig empfiehlt, die Hexenprozesse abzubrechen oder die Hände davon zu lassen,97 ist gegen Clarks Interpretation einzuwenden, dass sie den Kontext der Schriften nicht berücksichtigt: zum Einen war es gefährlich, den Hexenglauben schlichtweg zu leugnen, wie das Beispiel von Cornelius Loos zeigt, der zum Widerruf gezwungen wurde; zum Andern war es keine theoretische Streitfrage, sondern eine Frage der Praxis – welche Strategie am besten geeignet war, so auf die Prozessführung einzuwirken, dass weniger Unschuldige geopfert würden. Der Historiker Wolfgang Behringer hat diesen Kontext wahrgenommen und am Beispiel der Argumentation Tanners gezeigt, dass „ihre Entwicklung bestimmten äußeren Zwängen unterlegen hat, ohne deren Berücksichtigung eine angemessene Interpretation gar nicht möglich ist“.98 In dem Kampf gegen die Befürworter der Hexenverfolgung habe Tanner die Argumente geliefert, die im Rahmen der katholischen Theologie noch geäußert werden konnten, ohne ihre Vertreter direkt dem Verdacht der Häresie auszusetzen. Damit konnte er katholischen Kritikern, wie z. B. Spee, die sich ja nicht auf protestantische Kritiker, wie z. B. Weier, berufen durften, „den Rücken stärken“.99 Der Literaturwissenschaftler Michele Battafarano hat den Anfang der „cautio criminalis“ aus einer „rhetorischen Perspektive“ analysiert: „Mit seiner Eingangsaffirmation“ habe Spee, der rhetorisch geschulte Jesuit, „die damals geläufigste glaubensfrohe Position über die Existenz von Hexen auf sich zurückprojiziert, um sie leichter zu demontieren und zumindest Skepsis an ihre Stelle zu setzen“.100 96 Clark, Glaube und Skepsis, 18f. 97 Siehe Spee, Cautio Criminalis, 16. Frage (S. 57). 98 Behringer, Zur Haltung Adam Tanners, 162. 99 Behringer, ebda, 179. 100 Battafarano, Spees „Cautio Criminalis“, 224. Zur Rhetorik Spees vgl. auch Oorschot, Ihrer Zeit voraus, 10.

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In der cautio criminalis finden sich aber auch noch einige Andeutungen, die darauf hinweisen, dass der Verfasser doch den Hexenglauben als solchen in Zweifel ziehen und letztlich widerlegen wollte.101 So macht er mehrfach die Bemerkung, dass die Zeit noch nicht reif sei, alle Argumente zu benennen,102 oder dass er „nicht alles in der Öffentlichkeit aussprechen“ dürfe.103 Und in der vorletzten „Frage“ deutet er schließlich doch eine grundlegende Kritik des Hexenglaubens an: früher habe er auch nicht daran gezweifelt, dass es viele Hexen gebe, nun aber, da ich die Tätigkeit der Gerichte näher betrachte, sehe ich mich nach und nach dahin gebracht, zu zweifeln, ob es überhaupt welche gibt.104 So hat auch Thomasius, der Aufklärungsphilosoph, den ihm unbekannten Autor der cautio criminalis eingeschätzt, also als einen Vorläufer der Aufklärung.105 In diese Richtung, auf den radikalen Zweifel hin, deutet auch die Erklärung der Hexenpanik, die Spee gleich zu Beginn in der zweiten „Frage“ entfaltet. Es gebe zwei „Quellen des Glaubens an die unzähligen Hexen“: „Unwissenheit und Aberglauben des Volkes“, im Widerspruch zu einer wissenschaftlichen Betrachtung der Natur, sowie „Neid und Mißgunst des Volkes“ – eine Erklärung, die geradezu an eine moderne, kritische Religionswissenschaft oder Anthropologie erinnert. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn Spee in seiner Erklärung auch den ökonomischen Aspekt der Prozesse in den Blick bringt – die Bezahlung der Richter und Inquisitoren „nach der Kopfzahl der Verurteilten“:106 Es ist ja nicht nur den Laien, sondern an manchen Orten auch den Beichtvätern ein Preis für jeden Angeklagten ausgesetzt. Sie essen und trinken sich gemeinsam mit den Inquisitoren satt am Blute der Armen, … Die Verlockung, gemeinsame Sache zu machen, ist gar zu groß. Diesen ökonomischen Aspekt hatte schon ein Jahrhundert zuvor Agrippa von Nettesheim angesprochen, wenn er sich spöttisch über die Aktivitäten der Inquisitoren äußerte:107 Ein Inquisitor ruht und rastet nicht und sieht seine Aufgabe erst dann als erfüllt an, wenn das arme Weiblein verbrannt ist oder – ihm die Hand mit Geld füllt,

101 Vgl. dazu auch Oorschot, ebda, 3. 102 Siehe Spee, Cautio Criminalis, 20 Frage (S. 95); 27. Frage (S. 124f); 29. Frage (S. 135); 45. Frage (S. 233). 103 Spee, ebda, 11. Frage (S. 34). 104 Spee, ebda, 48. Frage (S. 255). 105 Siehe Thomasius, Vom Laster der Zauberei, § 5. 106 Spee, ebda, 8. Frage (S. 13); 9. Frage (S. 23). 107 Agrippa von Nettesheim, Über die Fragwürdigkeit, Kapitel 96.

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damit er gnädig ist und sie laufen läßt, weil sie durch die Folter schon „hinreichend geläutert“ sei. Berichte über die Geldgier der Hexenrichter finden sich auch in der „Wehmütigen Klage der frommen Unschuldigen“, die der ehemalige Schöffe Hermann Löher 1676 veröffentlichte, Jahrzehnte nachdem er aus Furcht vor einer drohenden Anklage nach Amsterdam geflohen war. Er kennt und zitiert die kritischen Thesen Spees,108 und er belegt sie durch Beispiele aus seiner eigenen Erfahrung als Schöffe in Rheinbach, wo im Jahre 1631 der bekannte Hexenrichter Franz Buirmann tätig gewesen war. Rückblickend auf dessen Tätigkeit stellt er fest, den Hexenrichtern sei „jede falsche Anklage recht, mit der sie die reichen Leute zu Tode bringen und ihr Geld konfiszieren können“.109 Gleichzeitig mit Spee hatte der lutherische Theologe Johann Mattheus Meyfart (1590–1642) an einer Kritik der Hexenprozesse gearbeitet. Wie der reformierte Theologe Praetorius, dessen Werk er nicht kannte, schrieb Meyfart sein Buch in deutscher Sprache. Er konnte es 1635 unter eigenem Namen veröffentlichen, da es in Erfurt, wohin er berufen wurde, unter schwedischer Besatzung keine Zensur gab.110 Ebenso wie sein katholischer Kollege Spee, dessen Werk er kennt und schätzt,111 behauptet er, dass viele Unschuldige verurteilt werden. Er warnt deshalb vor der großen „Suendenlast“, „welche ungerechte Eyferer auff sich laden“ – unter den Regenten wie unter den Predigern.112 Mit Praetorius und Spee teilt er auch den Hintergrund der persönlichen Erfahrung, da er in seiner Zeit in Coburg mit Hexenprozessen konfrontiert und in einem Fall sogar am Rande involviert war.113 Die Kritik der Folter wird im Werk Meyfarts weitergeführt und rhetorisch vielleicht noch wirkungsvoller präsentiert:114 Ich habe gesehen / welcher massen sie den festen Leib des Menschen zertrümmern / die Glieder von einander treiben / … Anhand vieler Beispiele wird ausgeführt, „Wie offtmals in der Tortur der Gepeinigten die Sinne verruecket und bethoeret werden/Daher falsche Außsag folgen muessen“.115 Im Anhang seines Werkes bringt er noch zur Illustration einen Auszug aus dem Protokoll einer Folterung.116 Da es nicht möglich sei, zwischen Schuldigen und 108 Siehe Löher, Wehmütige Klage, Kap. 32. 109 Löher, ebda, Kapitel 10, § 74. 110 Vgl. dazu Trunz, Johann Matthäus Meyfart, 242f. 111 Siehe Meyfart, Christliche Erinnerung, Kapitel 14 (S. 110). 112 Meyfart, ebda, Kapitel 6 (S. 44). 113 Zum Wandel seiner Einstellung siehe Kap. 14, S. 108; zur (evtl. unrühmlichen) Rolle Meyfarts in einem Coburger Hexenprozess siehe Hambrecht, Johann Matthäus Meyfart, 166; 171–177. 114 Meyfart, Christliche Erinnerung, Kapitel 17 (S. 137); vgl. Kapitel 8 (S. 65f). 115 Meyfart, ebda, Kapitel 20 (S. 159) 116 Siehe Meyfart, ebda, S. 169–171.

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Unschuldigen zu unterscheiden, kommt Meyfart zu dem Schluss, dass die Prozesse einzustellen sind – nach dem Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, das auch schon Spee in diesem Sinne angeführt hatte.117 Neu ist im Werk Meyfarts die Betonung der eschatologischen Perspektive: die „Höllenfahrt der Hexenrichter am Ende des Buches ist als Vision und als sprachliche Leistung etwas, was es in der ganzen Hexen-Literatur des 17. Jahrhunderts sonst nirgendwo gibt“.118 Was die Frage nach der grundsätzlichen Kritik des Hexenglaubens betrifft, so ist vielleicht die Beobachtung von Interesse, dass Meyfart in seiner Aufzählung der Sünder, die im Jüngsten Gericht verurteilt werden, die Hexen nicht erwähnt: „Meyfarth hat an sie nicht gedacht. Vermutlich, weil er keine kannte.“119 All diese Beispiele aus dem Hexendiskurs der Frühen Neuzeit waren in einem Kontext entstanden, der geprägt war durch die Realität der Hexenprozesse. Eben deshalb richtete die Kritik sich primär – im Interesse der Opfer – gegen die Prozessführung, auch wenn eine grundsätzliche Ablehnung des Hexenglaubens im Hintergrund stand. In den Niederlanden waren Hexenprozesse im 17. Jahrhundert zum Erliegen gekommen, und deshalb konnte hier eine Debatte entstehen, die auf die theoretische Grundlage des Hexenglaubens fokussiert war. Der reformierte Theologe Balthasar Bekker (1634–1698) stieß diese Debatte an, durch sein vierbändiges Werk „Die bezauberte Welt“, in dem er den (Aber)Glauben an die Macht des Teufels kritisierte und damit zugleich die Grundlage des Hexenglaubens in Frage stellte:120 Die gemeine Meynung / die man von dem Teuffel / seiner grossen Erkaentniß / Krafft und Wirckung hat / und von Menschen / die man dafuer haelt / daß sie mit ihm in Gemeinschaft stehen / kam mir bey dem Licht / daß ich mit andern Menschen von der Natur habe / und durch die Schrifft gestaercket und mehr geneiget ward / sehr zweiffelhafftig fuer; … Im ersten der vier Bücher erweist Bekker sich fast als ein Vorläufer der vergleichenden Religionswissenschaft, wenn er einen Überblick gibt über die ihm bekannten Religionen der Welt, um dann auf den Dämonenglauben der Kirchenväter einzugehen: „Das erste Christenthum hat mit der Zeit einige der Heydnischen Meynungen in diesem Stück wieder angenommen und fortgesetzet“.121 Die Kritik des Teufelsglaubens, die er im zweiten Buch entfaltet, wird oft mit seiner Anlehnung an die Philosophie Descartes’ in Verbindung gebracht,122 doch darf nicht über117 Siehe Meyfart, ebda, Kapitel 16 (S. 128). 118 Trunz, Meyfart, 242. 119 Trunz, ebda, 241. 120 Bekker, Die bezauberte Welt I, S. 4. 121 Bekker, ebda, I, 15,1. 122 Siehe Attfield, Balthasar Bekker, 390.

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sehen werden, dass Bekker in erster Linie Theologe ist, der als Seelsorger spricht und schreibt:123 Wie manche fromme Seele habe ich nicht durch Gottes Gnade in den schweresten Streit solcher Gedanken erleichtert oder davon erloeset: indem ich ihr vorgehalten / daß es nicht der Teufel/sondern ihre eigene Schwachheit waere / es sey der Suenden oder natuerliche Beschaffenheit ihres Gebluets / die sie so aengstete? Bekker kennt und zitiert Reginald Scot, dessen Werk in Holland zugänglich war, ebenso wie die Dämonologie des Königs James.124 Mit Zustimmung stellt er fest, er finde „niemand / der in allen vorher erwehnten Stuecken den Teuffel am Verstand und Krafft jemals kleiner gemacht als vor diesem Reinhold Schott / …“.125 In seiner Hiob-Interpretation geht er noch einen Schritt über Scot hinaus, indem er die Rolle des Teufels noch weiter reduziert: die Worte müsse man verstehen „als wenn da stuende: Der Satan fuhr aus von dem Angesicht des Herrn / und der Herr schlug Hiob mit boesen Schweren“.126 Hatte schon Prätorius kritisch festgestellt, die Menschen hätten anscheinend mehr Furcht vor dem Teufel als vor Gott, so verschärft Bekker diese Kritik: Er will den Menschen dazu bringen, nur Gott zu fürchten, den Teufel aber überhaupt nicht – weil dieser in der Welt gar nicht tätig werden kann. Wie er am Schluss des zweiten Buches erklärt, will er „keine Teuffels=fuerchtende / sondern Gott=fuerchtende Menschen machen“, und wenn er „des Teuffels List und Macht“ verkleinere, so mache er damit „die Weißheit und Krafft des Heylandes groß“.127 Bekker stieß in seiner Kirche auf Widerstand und verlor seine Predigterlaubnis, doch geriet er nicht in existentielle Schwierigkeiten, da die Stadt Amsterdam sein Gehalt weiterhin zahlte. Auch wenn die praktischen Konsequenzen für Hexenprozesse nicht mehr zur Debatte standen, zumindest nicht in Holland gegen Ende des 17. Jahrhunderts, so erschien Bekkers Kritik des Teufelsglaubens, also seine Version des Monotheismus, vielen Theologen doch als unannehmbar, gerdezu als der Weg zum Atheismus. Den Atheismus-Vorwurf erhob z. B. ein evangelischer Pfarrer in Deutschland: Peter Goldschmidt, der in seinem „Höllischen Morpheus“ (1698) gegen die „Atheisten/Naturalisten/und Nahmentlich D. Bekkern“ schrieb, gleich zu Beginn in seiner Vorrede an den Leser: Zwar leugnen sie nicht schlechterdinges GOTT / und dessen Wesen / doch 123 Bekker, die bezauberte Welt, II, 36, 14 (S. 266). Vgl. dazu Fix 1999, 11f: Religious issues were always Bekker’s primary concern, in particular the struggle against the spread of Calvinist confessionalism within the Dutch Reformed church. 124 Siehe Bekker, die bezauberte Welt, I, 22, 7f. 125 Bekker, ebda, I, 22, 16. 126 Bekker, ebda, II, 25, 17. 127 Bekker, ebda, II, 36, 2

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dennoch aber thun sie Thür und Thor zu allem Gotteslästerlichen Wesen auff / indem sie die Gewalt und Macht des Teufels verkleinern / … In dieser Debatte zeigen sich die Gegensätze in der Auslegung des (christlichen) Monotheismus. Bekker hatte es genau umgekehrt gesehen – aus seiner Sicht führt der Glaube an die Macht des Teufels zum Atheismus:128 Ein Atheist bedarff keine andere Waffen / denn diese Meynung / davon ich in diesem Buche rede / das gantze Christenthumb biß auff den Grund nieder zu reissen / … / wenn wir von dem Teufel reden / wie man davon redet / … Bekker betrachtet einen Gottesglauben, der den Glauben an die Macht des Teufels einschließt, als inkonsistent und unannehmbar – natürlich auch als dem Christentum widersprechend, weil er ja in dieser Tradition steht und sie auslegt. Ein solches Christentum, das auch den Hexenglauben einschließen würde, zu predigen, muss, nach Bekkers Meinung, letztlich zum Atheismus führen – weil kein vernünftiger Mensch damit einverstanden sein könnte. Der Pfarrer Goldschmidt dagegen, würde seinen Glauben an Gott verlieren, wenn ihm der Glaube an Geister, Gespenster, Teufel und Hexen genommen würde. Deshalb bemüht er sich, die „Geister und deren Erscheinungen“ zu beweisen, „beydes aus GOttes Wort / der natürlichen Weißheit / und täglichen Erfahrung“, wie er in seiner Vorrede an den Leser schreibt. Eine „Entzauberung der Welt“ – was Bekker mit dem Titel „Die bezauberte Welt“ ja intendierte –, kann also ganz verschiedene Konsequenzen haben, kann als Verlust oder Gewinn erfahren werden, entsprechend den verschiedenen Vorstellungen von Gott: Für Goldschmidt ist die Entzauberung die Widerlegung des Gottesglaubens, für Bekker dagegen gerade die Rettung. Bekkers „Bezauberte Welt“ wurde schnell in mehrere Sprachen übersetzt und rief auch in Deutschland eine kontroverse Debatte hervor. Der bekannteste Vertreter der frühen Aufklärung, der Jurist und Philosoph Christian Thomasius (1655–1728), griff in seiner Kritik der Hexenprozesse auf das Werk Bekkers zurück. Allerdings mochte er nicht so weit gehen wie Bekker und die Wirksamkeit des Teufels ganz bestreiten. Er stimmte ihm in dem aus seiner Sicht entscheidenden Punkt zu: dass es keinen Teufelspakt geben kann – weil der Teufel keinen Körper annehmen kann – und dass damit den Hexenprozessen der Boden entzogen ist.129 Thomasius galt schon zu Lebzeiten als der Philosoph, der im Geiste der Aufklärung den Hexen(aber)glauben überwunden hat.130 Tatsächlich hat er gleich zu Beginn seiner „Lehr-Sätze von dem Laster Der Zauberey“ (1704) festgestellt, „in vielen Schrifften, die von der Magie handeln“ habe er „fast nichts, als ein unnüt128 Bekker, ebda, II, 35,1. 129 Thomasius, Vom Laster der Zauberei, § 6. 130 Vgl. dazu Pott, Aufklärung und Hexenaberglaube, 186/187.

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zes Geschwätze und Fabeln, nirgends aber was gründliches, dann und wann nur einen Schatten der Wahrheit angetroffen“.131 Wie er selbst später ehrlich zugab, hatte er sich zu dieser kritischen Einstellung mühsam durchringen müssen. Und dabei habe ihm der unbekannte Verfasser der cautio criminalis, also Friedrich Spee, den Weg gewiesen. In der Nachfolge Spees und der anderen Kritiker, wie z. B. Johannes Weier, hat Thomasius schließlich ein vernichtendes Urteil über die Hexenprozesse gefällt: „wegen dieser nichts würdigen Ursachen“ seien so viel tausend Menschen, die entweder unschuldig, oder doch wenigstens nicht eben mit diesem Laster beflecket gewesen, bloß unter dem Schein einer sonderbahren Frömmigkeit, einer löblichen Gerechtigkeit, und eines Göttlichen Eyfers grausamer Weise hingerichtet worden.132 Als Philosoph hat Thomasius den Hexenglauben allerdings nur reduziert, nicht einfach aufgehoben: Er ist bereit, weiterhin an die Möglichkeit des Schadenzaubers zu glauben, und er hält solche magischen Aktivitäten sogar für strafwürdig.133 In dieser Hinsicht ist er also wieder hinter die Position des Theologen Bekker – und wohl auch Spees – zurückgefallen.134 Und als Jurist, der den konventionellen Hexenprozess diskreditierte, konnte er im 18. Jahrhundert noch keinen vollständigen Durchbruch erreichen. Denn es gab noch vereinzelte Prozesse, wie z. B. den Düsseldorfer Hexenprozess 1737/38, der sogar den Eindruck erweckt, dass er „die Theorien des Thomasius und anderer Hexenverfolgungsgegner obsolet machen sollte“.135 Eine der letzten Kontroversen aus dem 18. Jahrhundert, die Erwähnung verdient, ist der „Bayerische Hexenkrieg“ von 1767, eine Aufklärungsdebatte, die, Behringer zufolge, „mit großer Wahrscheinlichkeit bewußt inszeniert worden ist“.136 Ausgelöst wurde die Debatte durch die Rede eines katholischen Theologen, Don Ferdinand Sterzinger (1721–1786), Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. In seiner Rede geht er von der Voraussetzung aus, dass „unsere aufgeklärte Zeit“ keine Vorurteile dulden kann, und er nimmt sich vor, zu beweisen,137 daß es ein Vorurtheil seicht denkender Seelen seye, die da glauben, daß es eine wirkende und tätige Hexerei gebe. Der Ton ist provozierend, wenn Sterzinger nicht nur die „Falschheit“ des Hexenglaubens darlegen will, sondern auch den „Betrug“ und die „Eitelkeit“.138 Wie sein 131 Thomasius, Vom Laster der Zauberei, § 1. 132 Thomasius, Vom Laster der Zauberei, § 30. 133 Siehe Thomasius, Winter-Lectionen 1702 (Vom Laster der Zauberei, S. 221). 134 Vgl. dazu Pott, Aufklärung und Hexenaberglaube, 197. 135 Münster-Schröer, Tödliche Gelehrsamkeit, 52. 136 Behringer, Der „Bayerische Hexenkrieg“, 310. 137 Sterzinger, Akademische Rede, S. 3; S. 5. 138 Sterzinger, ebda, S. 6.

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calvinistischer Vorgänger Bekker vertritt der Katholik Sterzinger die Auffassung, dass der Teufel „durch die Ankunft des Weltheilands“ völlig entmachtet ist, in die Hölle gebannt, so dass es keinen Teufelspakt geben kann.139 Dankbar schließt er sich an eine alte Tradition der katholischen Kirche des Mittelalters an, indem er sich auf den canon episcopi beruft, der ihm geholfen habe, „an dem Hexensystem zu zweifeln“ und alle Vorurteile abzulegen.140 Wie viele seiner Vorgänger, katholische wie protestantische, argumentiert Sterzinger als Philosoph und als Theologe, wenn er den Hexenglauben verwirft als „der gesunden Vernunft zuwieder, und der Allmacht Gottes entgegen“.141 In einem Punkt stimmt er allerdings nicht mit einigen seiner Vorgänger überein: Im Rückblick auf die Hexenprozesse kann er sich nicht dazu entschließen, die Opfer alle für schlechthin „unschuldig“ zu erklären und alle Urteile für schlechthin falsch. Er deutet an, dass schon der Versuch der Hexerei ein todeswürdiges Verbrechen sei, eine Auffassung, die er z. B. mit dem lutherischen Theologen Brenz teilen würde.142 Von den vielen Gegenschriften verdient Erwähnung das „Urtheil ohne Vorur­ theil“ von Agnellus Merz, ebenfalls katholischer Theologe und Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Auch er bekennt sich zu den Prinzipien der aufgeklärten Zeiten, und deshalb will er die Argumente Sterzingers Punkt für Punkt prüfen und „ohne Vorurtheil betrachten“.143 Grundlage seiner Argumentation ist zunächst die „göttliche Schrift“, in der er eindeutige Aussagen über die Realität der Hexerei findet, dann die Tradition der Kirche mit ihren Lehren und Verordnungen, wie z. B. die „Hexenbulle“ Innozenz’ VIII.144 Es ist für ihn unvorstellbar, dass die Kirche, „diese weiseste Lehrerin“, so viele Urteile über ein Phänomen gefällt haben sollte, das nur in der Einbildung existiert.145 Im Hinblick auf den canon espicopi, den Sterzinger angeführt hatte, macht Merz einige Zugeständnisse, hält aber an dem Kern des Hexenglaubens fest, der Vorstellung vom Teufelspakt und der daraus folgenden Möglichkeit, dass Hexen in der Realität Schaden anrichten können – eine Auffassung, die er z. B. mit Martin Luther teilen würde. Der Widerspruch zwischen Merz und Sterzinger liegt letztlich im Gottesbild begründet, wie es in der Debatte über die „Zulassung Gottes“ erkennbar wird: Die Vorstellung, dass Gott dem Teufel und den Hexen Macht verleiht, um Menschen zu prüfen oder zu bestrafen, erscheint ersterem ganz selbstverständlich, letzterem dagegen völlig abwegig, weil unvereinbar mit der Güte Gottes.146 Aus den Gegenschriften ist noch der Protest eines anderen katholischen Theologen, Angelus März, von Interesse, insofern als hier der ökonomische Aspekt 139 Sterzinger, ebda, S. 10. 140 Sterzinger, ebda, S. 13. 141 Sterzinger, ebda, S. 21. 142 Sterzinger, ebda, S. 20. 143 Merz, Urtheil ohne Vorurtheil, S. 4. 144 Merz, ebda, S. 5–30. 145 Merz, ebda, S. 31f. 146 Siehe Sterzinger, AkademischeRede, S. 9f; Merz, Urtheil ohne Vorurtheil, S. 39f.

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wieder sichtbar werden könnte, wenn auch nicht direkt mit den Hexenprozessen, sondern nur mit dem Hexenglauben verbunden. Als Abt von Scheyern denkt er vielleicht auch an den materiellen Verlust für das Kloster, wenn die berühmten Scheyernkreuze, die zur Abwehr von „Hex- und Zauberey“ dienen, keinen Absatz mehr finden würden:147 Ist die Hex- und Zauberey ein Fabelwerk, eine Blödsinnigkeit, ein Vorurtheil schlechtdenkender Seelen, so sind wir Scheyerische Väter schändliche Betrüger, … War der Ton in der Rede Sterzingers schon provokativ, so kann die Kritik des Hexenglaubens in der Debatte auch die Form der Satire annehmen: Ein Anonymus, der jüngere Bruder des Paters Sterzinger, berichtet von einer Versammlung der Hexen, die über die bayerische Debatte diskutieren, wobei u. a. der Vorschlag geäußert wird, dem Pater Sterzinger ein Denkmal auf dem Blocksberg zu errichten.148 Diese Satire ist insofern von Interesse, als sie den Übergang darstellt zu den literarischen Behandlungen des Hexenthemas im 19. Jahrhundert, wie z. B. in Theodor Storms Novelle „Renate“: Der Dichter lässt den Pastor Goldschmidt auftreten und einen jungen Theologen ermahnen, sich „nicht zu denen Atheisten und Schwarmgeistern“ – wie Bekker und Thomasius – zu gesellen, eine Ermahnung, die beherzigt wird, um erst später als Irrtum erkannt zu werden.149 Wie seine Dichter-Kollegen Ludwig Tieck und Ludwig Bechstein, hatte auch Theodor Storm sich eingehend mit der Geschichte der Hexenprozesse beschäftigt und eigene Archivstudien betrieben.150 So vollzog sich im 19. Jahrhundert ein weiterer Übergang, von der literarischen Verarbeitung zur wissenschaftlichen Bearbeitung des Phänomens „Hexenglaube und -prozesse“ in der Geschichte Europas. Exkurs: Hexenglaube und -diskurs im modernen Afrika Im Anschluss an seine Forschungen zur Geschichte der europäischen Hexenprozesse hat der Historiker Wolfgang Behringer auch eine „Global History of Witchcraft and Witch-Hunts“ vorgelegt. Zu Beginn stellt er gleich ein Beispiel aus Afrika vor: die „Green valley witch panic“ in einem südafrikanischen Dorf im Jahre 1990.151 Es ist kein Zufall, dass ein afrikanisches Beispiel am Anfang steht, obwohl es sich doch um ein „universales Phänomen“ handelt, wie Behringer gleich darauf feststellt. Der afrikanische Kontinent ist schon in der westlichen Literatur des späten 19. Jahrhunderts in besonderer Weise mit Hexerei und Magie in Verbindung gebracht worden, wie der Ethnologe Peter Pels feststellt: „It depicts Africa as the heartland of witch147 Zitiert nach Behringer, Hexen und Hexenprozesse, Nr. 281. 148 Joseph Sterzinger, Der Hexenprozess, S. 9. 149 Storm, Renate, S. 25f. Vgl. dazu Kippel, Die Stimme der Vernunft, 134–140. 150 Vgl. dazu Kippel, ebda, 40f; 77f; 122f. 151 Behringer, Witches and Witch-Hunts, 1.

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craft and magic.“ Den Ursprung dieses Afrika-Bildes sieht Pels im Werk des populären Schriftstellers H. Rider-Haggard, der Kontakt zu Theophile Shepstone hatte, dem Secretary of Native Affairs of Natal, und der damit Gelegenheit gehabt habe, Hexenjagden bei den Zulu zu beobachten.152 Es ist bekannt, dass die Missionare, die nach der europäischen Aufklärung nach Afrika kamen, den Hexenglauben, den sie vorfanden, auszurotten versuchten. Unterstützung konnten sie dabei von den Kolonialregierungen erwarten, die durch ihre Gesetzgebung Hexerei-Anklagen und -prozesse zu verhindern versuchten. Im Blick auf diese Situation spricht Behringer sogar von einem „clash of civilizations“.153 Allerdings stimmten die Ziele der Missionare und der Kolonialbeamten nicht immer überein, wie dieses Beispiel aus Südafrika im 19. Jahrhundert zeigt: Drei Zulus hatten sich in eine Station der Wesleyan Missionary Society geflüchtet, da sie angeklagt waren, die Krankheit des Häuptlings durch witchcraft verursacht zu haben. Der Häuptling verlangte die Auslieferung oder zumindest die Entfernung der Angeklagten aus seinem Gebiet, was der zuständige Missionar verweigerte. Die lokale Kolonialverwaltung wollte dem Verlangen des Häuptlings nachkommen, und so ergab sich eine Debatte zwischen dem Missionar, der aus theologischen Gründen dem Hexenglauben gegenüber kein Zugeständnis machen wollte, und dem Secretary of Native Affairs, der die Interessen der Politik vertrat und deshalb, im Interesse des Friedens in der Kolonie, einen weltanschaulichen Konflikt entschärfen wollte:154 die Anordnung, die Angeklagten aus der Missionsstation zu entfernen was dictated by no desire on the part of the Government to afford the least sanction to the belief in Witchcraft, but it was made with the certain knowledge that although our higher enlightenment and civilisation may contemn the notion, it is nevertheless fully accepted and believed in, with very few exceptions, by all the colored population of the district. Auch wenn es Unterschiede gibt, was die einzelnen Elemente des Hexenglaubens betrifft, so ist in jenem Fall doch die Vorstellung des Schadenzaubers unverkennbar, wie sie aus dem frühneuzeitlichen Europa bekannt ist. Diese Vorstellung wird auch in einer der neuesten Darstellungen afrikanischer Religionen angeprochen, wenn Jacob Olupona, ein Experte für die Religion der Yoruba in Westafrika, schreibt:155 In Africa, witchcraft is almost universally defined as the manipulation of occult forces to do harm and achieve selfish ends. … Witches can cause all manner of maladies, illnesses, bad luck, misfortune, financial ruin, childlessness, failure of crops, and death. 152 Pels, The Magic of Africa, 195f. Vgl. auch Ellis, Witching-Times, 33f. 153 Behringer, Witches and Witch-Hunts, 198. 154 Zitat: siehe McClendon, White Chief, 56. Vgl. dazu Berner, Religiosität und Rationalität, 142f. 155 Olupona, African Religions, 50.

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Der Theologe und Religionshistoriker Geoffrey Parrinder, der viele Jahre in Westafrika gelehrt und geforscht hat, war einer der ersten, der „witchcraft“ im frühneuzeitlichen Europa und im modernen Afrika verglichen und immer wieder auf Ähnlichkeiten hingewiesen hat:156 Very old people are liable to accusations of witchcraft. If they are women, living alone, they are feared as were the old wise women of Europe. Die Frage nach der Vergleichbarkeit der Phänomene wurde mehrfach erörtert, erschien es doch zunächst vielversprechend, anzunehmen, dass die historische Hexen-Forschung Anregungen aus der Ethnologie aufnehmen könnte – und umgekehrt. Der Historiker Ronald Hutton scheint in seinem Überblick eine optimistische Auffassung zu vertreten, während der Afrika-Historiker Steven Ellis eher zu einer kritischen Einschätzung zu neigen scheint, wenn er auf die hermeneutischen Probleme der interkulturellen Vergleiche hinweist.157 Parrinder verglich aber nicht nur einzelne Vorstellungen, sondern auch die Epochen als ganze, in denen es jeweils zu Hexenverfolgungen kam, unter der Formel „Zeiten des Übergangs“ (transition):158 As witches and heretics were burnt or hanged in Europe during those hectic centuries, so are they persecuted by modern witch-hunting movements in Africa. In den 50er/60er Jahren des 20. Jahrhunderts, also in der Zeit des Umbruchs zur postkolonialen Phase in Afrika, gab Parrinder der Hoffnung Ausdruck, die weitere Entwicklung würde den Hexenglauben – „this pathetic fallacy“ – zum Verschwinden bringen:159 An enlightened religion, education, medicine, and better social and racial conditions, will help to reduce ‘man’s inhumanity to man’. Die naheliegende Erwartung, dass die Hexerei-Anklagen zurückgehen würden, in gleichem Maße wie der Prozess der Modernisierung in den neuen urbanen Zentren Afrikas voranschreitet, erfüllte sich allerdings nicht. Ganz im Gegenteil: Neuere Forschungen, vor allem von Peter Geschiere und den Comaroffs, konnten belegen, dass das Hexerei-Idiom dazu diente, die undurchschaubaren Prozesse der Modernität zu erklären. Demnach würde die Modernität eher zu einer Verstärkung des Hexenglaubens führen. Aus dieser Beobachtung könnten sich wiederum neue Gesichtspunkte für den interkulturellen und transhistorischen Vergleich ergeben,

156 Parrinder, Witchcraft, 196; vgl. ebda, 138; 143. 157 Siehe Hutton, Anthropological and Historical Approaches; Ellis, Witching-Times. 158 Parrinder, Witchcraft, 200. 159 Parrinder, ebda, 207.

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im Hinblick auf die viel diskutierte Frage nach einer Erklärung für das Ende der Hexenprozesse im Europa des 18. Jahrhunderts. Ein Beispiel für die „Modernität“ des Hexenglaubens in Afrika bietet die Verwendung der modernen Medien, wie z. B. des Films. So werden in Nigeria VideoFilme hergestellt, wie z. B. „married to a Witch“ (2001), die eine Auflage von mehreren Hunderttausend haben und für den Verkauf an private Haushalte bestimmt sind. Für diese Filme gilt:160 Witches are the antagonists … Their meeting places are visualized as the other of the urban civilization; they are places of darkness where the evil forces strike to shatter the fragile peace of the protagonists’ lives. The witches meet at night … The movies show their ability to fly and to change into an animal form. Most of the witches are women, but in The End of the Wicked, a male character called Lord Beelzebub the Great heads the witches’ coven. Einige der Elemente erinnern an die Geständnisse von „Hexen“ aus dem frühneuzeitlichen Europa, und es wäre in jedem Einzelfall zu prüfen, ob ein historischer Zusammenhang besteht, etwa durch die Lektüre von europäischer Hexenliteratur. Von besonderem Interesse ist auf jeden Fall die Feststellung, dass es gerade afrikanische christliche Kirchen sind, die den Hexenglauben auf diese Weise in die Medien bringen und zugleich eine Lösung zur Überwindung der Hexerei anbieten:161 The movies show only one effective measure against witchcraft: Pentecostal Christianity. This measure is personified in the Pentecostal pastor, who is the only character qualified to wage successful spiritual war against the witches. Im Fall der beiden erwähnten Filme ist es Helen Ukpabio, die diese Rolle des Pastors spielt – sie ist selbst eine „born-again witch“, Gründerin einer Kirche (Liberty Foundation Gospel Ministries) und zugleich Produzentin dieser Filme (Liberty Film and Music Plaza). Es erscheint also unbestreitbar, dass die Moderne mit ihren technischen Errungenschaften den Hexenglauben verstärken kann. Neueste Forschungen zeigen aber auch, dass es eine Kehrseite gibt: Unter den Bedingungen der Modernität ergeben sich neue Möglichkeiten für die Angeklagten, sich gegen den Vorwurf der Hexerei zu wehren. Die bisherige Forschung hatte sich auf die Anklagen und die Ankläger konzentriert, und so ergab sich der Eindruck, wie er in der Formel „the modernity of witchcraft“ zusammengefasst ist. Leo Igwe hat die Perspektive gewechselt und an einigen Fallbeispielen aus Ghana gezeigt, dass die Angeklagten von den neuen Möglichkeiten, wie z. B. den modernen Medien oder den Menschenrechtsorgani-

160 Echtler/Ukah, Born-Again Witches, 80/81. 161 Echtler/Ukah, ebda, 81.

Zusammenfassung und Ausblick

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sationen, Gebrauch machen, um sich von dem Verdacht zu reinigen.162 Es bleibt abzuwarten, ob damit langfristig eine Schwächung des Hexenglaubens eintritt, wie Parrinder es erhofft und erwartet hatte. Auch aus dieser Perspektive, im Blick auf die Möglichkeiten der Angeklagten, den Prozess zu beeinflussen, könnten sich wieder neue Vergleichspunkte ergeben: Obwohl der Einsatz der Folter, wie sie z. B. von Friedrich Spee beschrieben und angeprangert wurde, den Angeklagten von vornherein jeden Ausweg unmöglich machte, gab es doch auch in Europa einzelne Fälle eines erfolgreichen Widerstandes, der zu einem Freispruch führte.163 Außerdem können die modernen Medien den Blick freigeben auf einen kritischen Hexerei-Diskurs, in dem alternative Auffassungen artikuliert werden, wie sie auch aus dem frühneuzeitlichen Europa bekannt sind. Idris Riahi hat online-Quellen aus Ghana unter dieser Fragestellung durchgesehen, und er ist dabei auf kritische Äußerungen gestoßen, die den Hexenglauben als überholt verwerfen:164 Witchcraft, juju, and all these bullshit. When is black Africa going to wake up, discard these beliefs and embark on a journey of scientific and technological research to usher in the much needed development? Die Kritik des Hexenglaubens kann auch von der Bibel her, also theologisch, begründet werden. So hat z. B. der unter dem Namen Africabi schreibende Autor die Frage erörtert, ob in der Bibel überhaupt von Hexen die Rede ist, und, wie Riahi fest­gestellt hat, argumentiert er dabei wie Reginald Scot und kommt auch zu dem gleichen Ergebnis:165 „He closes the section on the Bibical texts by asking, like Scot, whether Jesus Christ ever spoke of witches. His answer sounds clearly:“ No! Jesus never said anything about witches or witchcraft in the entire Bible. However, not a day goes by today without some pastors in Ghana hammering on the issue of witches and witchcraft, spreading fear, sowing discord, destroying friendships and tearing families apart. 8.4 Zusammenfassung und Ausblick Im Blick auf die Beispiele aus dem Hexereidiskurs in der europäischen Geschichte kann zunächst festgestellt werden, dass es erstaunlich starke regionale Unterschiede gibt, was schon der Blick auf die Europa-Karte zeigt, auf der die Zahlen der Hinrichtungen eingetragen sind.166 So war die Situation in Spanien südlich der Pyre162 Siehe Igwe, The Witch is not a Witch, 203. 163 Siehe Rowlands, Eine Reichstadt ohne Hexenwahn, 78–97. 164 Riahi, Modernity of Witchcraft, 177. 165 Riahi, Modernity of Witchcraft, 217. 166 Siehe Decker, Die Päpste und die Hexen, 156.

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näen und in Italien südlich der Alpen ganz anders als im mittleren und nördlichen Europa: Im spanischen Baskenland konnte sich der Gegner der Hexenverfolgung, Alonso Salazar Frias, schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts mit seiner kritischen Auffassung durchsetzen; seinem Zeit- und Gesinnungsgenossen Friedrich Spee war ein solcher Erfolg nicht beschieden – in Deutschland sollte es noch ein Jahrhundert dauern, bis seine Auffassung zum Durchbruch kam. Im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts kam es in einigen Gebieten des südlichen Deutschland zu größeren Verfolgungswellen. So wurden z. B. im Fürstbistum Bamberg innerhalb von zwei Jahrzehnten etwa 600 „Hexen“ hingerichtet; in dem zu Bamberg gehörenden Städtchen Zeil am Main wurden 1626/27 über 30 Personen verhaftet „und binnen sieben Monaten wurden über 20 davon hingerichtet“.167 In der südlichen Toskana stellt sich die Situation in der gleichen Zeit ganz anders dar: Eine Studie zum Dorf Montefollonico zeigt, dass es dort zwar viele Anklagen und Prozesse gab, aber keine einzige Anklage wegen Hexerei.168 Bei diesen großflächigen Vergleichen wäre zunächst, um den Kontrast zu erklären, an die spanische bzw. die römische Inquisition zu denken, die eine kritische Position vertrat und diese in ihrem Machtbereich, in Spanien bzw. Italien, auch durchsetzen konnte. Wie Rainer Decker ausgeführt hat, war in Rom bereits im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts eine Hexenprozess-Instruktion ausgearbeitet worden, in der die Praxis der Prozessführung scharf kritisiert und zu größter Vorsicht gemahnt wurde – geradezu vergleichbar mit der „cautio criminalis“ Spees, dem offensichtlich keine „Informationen zu den Maximen der Inquisition“ zur Verfügung standen.169 Bei der Erklärung der Unterschiede sind aber noch andere Faktoren zu berücksichtigen, wie z. B. die Auswirkung von wirtschaftlichen Notlagen und Hunger­ krisen. Letztere sind in der neueren Forschung oft als Folge einer Klima-Änderung beschrieben worden, als Folge der „Kleinen Eiszeit“, die im mittleren und nördlichen Europa ungefähr gleichzeitig mit den großen Hexenverfolgungen einsetzte und auch wieder endete.170 So wurden z. B. im Jahre 1540, also zur Zeit Luthers, in Wittenberg vier Personen hingerichtet, denen vorgeworfen wurde, durch Wetter­ machen und Weidevergiftung Schaden angerichtet zu haben – das Wettermachen war ja eine der Fähigkeiten, die den Hexen, die mit dem Teufel einen Bund geschlossen haben, zugeschrieben wurden.171 Nach einem solchen Wetterereignis hatte auch der lutherische Theologe Johannes Brenz es für nötig gehalten, in der Predigt auf das Thema „Wettermachen“ einzugehen. Auch dem Hexenprozess in Zeil am Main war ein unzeitiger Nachtfrost im Mai 1626 vorausgegangen.172 167 Dippold, Die „Hexenpolitik“ der Bamberger Fürstbischöfe, 53. 168 Siehe Hanlon, Human Nature in Rural Tuscany. 169 Siehe Decker, Die Päpste und die Hexen, 97–100. 170 Siehe z. B. Knefelkamp, Von der Ketzerei zur Hexerei, 21 (mit Hinweis auf Arbeiten von Behringer). 171 Siehe den Holzschnitt von Lucas Cranach d. J. zur Hexenverbrennung in Wittenberg 1540, abgebildet bei Haustein, Luthers Stellung zum Hexenwesen, 187. Zu diesem Hexenprozess vgl. Haustein, ebda, 141–144. 172 Siehe Dippold, Die „Hexenpolitik“, 52.

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Auf jeden Fall sind derartige Notsituationen, die durch Klimaschwankungen verursacht sein können, bei der Erklärung zu berücksichtigen – bzw. das Fehlen solcher Situationen. Im Hinblick auf das frühzeitige Ende der Hexenprozesse in Holland hat Hans de Waardt bemerkt, dass es dort keine Hungerkrisen gegeben habe, im Gegensatz zu dem weiter südlich gelegenen Antwerpen, wo zur gleichen Zeit eine Zunahme der Prozesse zu beobachten ist.173 Aber auch auf engstem Raum, unter gleichen natürlichen Bedingungen, kann es Unterschiede geben, wie z. B. im Gebiet des heutigen Südthüringen, das im 17. Jahrhundert von zwei verschiedenen Obrigkeiten – beide protestantisch – gemeinsam regiert wurde. Die sächsische Verwaltung plädierte für eine scharfe Verfolgung und Bestrafung der Hexen, während der Vertreter der hessischen Verwaltung eine andere Politik verfolgte – er konnte das Vorgehen der anderen Seite nicht mit seinem Gewissen vereinbaren.174 Diese Beobachtung führt dazu, die Haltung der Obrigkeit als Faktor einzurechnen: ob und wie weit sie dem Verlangen der vom „Schadenzauber“ Betroffenen nachgab oder widerstand. Für die freie Reichsstadt Rothenburg ob der Tauber konnte Alison Rowlands nachweisen, dass die dortige Obrigkeit den Hexerei-­Anklagen skeptisch gegenüberstand, so dass es dort in der Zeit von 1500 bis 1700 nur zu drei Hinrichtungen kam – ein erstaunlicher Kontrast im Vergleich zu den umliegenden Territorien.175 Die Obrigkeit scheint aber auch in größeren Territorien manchmal in der Lage gewesen zu sein, eine verfolgungshemmende Position einzunehmen und durchzusetzen. Jürgen Michael Schmidt hat dies für die Kurpfalz nachweisen können – dort galt dies jedenfalls für die Obrigkeit, nicht unbedingt für die führenden Theologen der Universität und des Kirchenrats.176 In der Frage der Hexenprozesse kam es zwischen der calvinistischen Kurpfalz und dem benachbarten, katholischen Kurmainz zu einer scharfen Auseinandersetzung, bis hin zum Einsatz militärischer Mittel.177 Die gegensätzlichen Standpunkte, die jeweils von der Obrigkeit vertreten wurden, sind aber nicht – wie es der Fall Kurpfalz/Kurmainz nahezulegen scheint – als Folge der konfessionellen Unterschiede einzuordnen. Denn auch in protestantischen Gebieten, calvinistischer oder lutherischer Ausrichtung, gab es Hexenprozesse, wie z. B. in Genf und Wittenberg, und im katholischen Bayern gab es eine verfolgungsablehnende Partei, die sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts schließlich gegen die Verfolgungspartei durchsetzen konnte.178 Die Betrachtung des Hexendiskurses im 16. und 17. Jahrhundert hat ja ebenfalls gezeigt, dass es in allen Konfessionen sowohl Befürworter als auch Gegner der Hexenverfolgung 173 Siehe Waardt, Rechtssicherheit, 150; ders., Verlöschen und Entfachen der Scheiterhaufen, 329. 174 Siehe Lehmann, Hexenverfolgungen in den protestantischen Gebieten, 163–168. 175 Siehe Rowlands, Eine Reichstadt ohne Hexenwahn, 12; dies., Eine lutherische Reichstadt, 176f. 176 Siehe Schmidt, Glaube und Skepsis, 196; 362. 177 Siehe Schmidt, ebda, 321–349. 178 Vgl. dazu Behringer, Hexenverfolgung in Bayern, 306–308.

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gab, wie z. B. Binsfeld und Spee in der katholischen oder James I. und Scot in der anglikanischen Kirche. Und sogar innerhalb eines einzigen Ordens, dem der Jesuiten, gab es sowohl Befürworter, wie z. B. Delrio, als auch Kritiker der Hexenverfolgung, wie z. B. Adam Tanner.179

Die Unterschiede müssten also tiefer liegen, jenseits konfessioneller Standpunkte, und so stellt sich die Frage, mit Wolfgang Behringer, „ob wir es bei Verfolgungsbefürwortern und Verfolgungsgegnern nicht überhaupt mit unterschiedlichen Weltanschauungen zu tun haben“.180 Auch Hartmut Lehmann und Otto Ulbricht hatten schon Überlegungen in dieser Richtung angestellt: Die Polemiken zwischen den Parteien „deuten möglicherweise nicht nur auf unterschiedliche Auffassungen vom wahren Christentum hin, sondern auch auf unterschiedliche psychische Verfassungen: Stand der Angst vor dem Vordringen des Teufels mit der Reaktion aggressiver Verfolgungs- und Vernichtungsbereitschaft vielleicht ein ruhiges Gottvertrauen gegenüber, das mit einer tiefen Achtung vor dem Menschenleben gepaart war?“181 Die letztere Position würde sich nicht nur bei Spee finden, den die Autoren an dieser Stelle erwähnen, sondern z. B. auch bei Scot, Prätorius und Meyfart, also in allen großen Konfessionen der Zeit. Für die genauere Beschreibung der Unterschiede könnte noch eine begriffliche Differenzierung vorgenommen werden, indem zwischen Weltbild und Gottesbild unterschieden wird: „Weltbild“ bezieht sich auf die Frage, ob vorausgesetzt wird, dass die Verbrechen, die den Hexen unterstellt werden, wie z. B. der Schadenzauber, wirklich stattfinden – mit Hilfe des Teufels, dessen Wirkungsmacht in der Welt eben vorausgesetzt wird (A), oder ob dieses bestritten wird (B). „Gottesbild“ bezieht sich auf die Frage, ob vorausgesetzt wird, dass Gott eifersüchtig darüber wacht, ob seine Ehre verletzt wird, wie es z. B. durch den Versuch der Hexerei geschehen würde, so dass die Hexenverfolgung notwendig ist, um den göttlichen Zorn abzuwenden, der sonst die ganze Christenheit treffen würde (C), oder ob dieses bestritten wird (D). Diese verschiedenen Versionen eines Welt- und Gottesbildes können verschiedene Kombinationen eingehen so dass sich theoretisch vier mögliche Konstellationen ergeben: A + C; A + D; B + C; B + D. In Bezug auf das Weltbild wären noch weitere Differenzierungen vorzunehmen, die aber an der grundsätzlichen Konstellation nichts ändern, wie sie mit dem Glauben an die Realität des Teufelspaktes gegeben ist. Aus der kumulativen Hexerei-­ Vorstellung werden ja nicht immer alle Elemente zugleich als real behauptet – so kann die Realität des Schadenzaubers, wie z. B. des Wettermachens, behauptet werden, die Möglichkeit des Hexenfluges oder der Tierverwandlung aber bestritten

179 Einen Überblick gibt Duhr, Die Stellung der Jesuiten. 180 Behringer, Zur Haltung Adam Tanners, 185. 181 Lehmann/Ulbricht, Motive und Argumente, 12/13.

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werden. So hat z. B. Martin Luther keinen Zweifel gehabt in Bezug auf den Schadenzauber, wohl aber in Bezug auf den Hexenflug. Relevant im Hinblick auf die Praxis der Hexenprozesse ist nicht nur das Weltbild, sondern auch das Gottesbild: Auch wenn die Position B vorliegt, die Realität des Hexereideliktes also bestritten wird, kann von der Position C aus dieselbe Strafe gefordert werden – zu bestrafen ist dann eben nicht die Realität, sondern die Intentionalität des Hexereideliktes, da letztere schon eine Verletzung der Ehre Gottes darstellt. So hatten z. B. Weier und Brenz im Weltbild in der Position B übereingestimmt, im Gottesbild aber verschiedene Positionen (C und D) vertreten und waren deshalb zu verschiedenen Konsequenzen gekommen, die über Tod oder Leben der Angeklagten entscheiden: Hinrichtung oder Betreuung der „Hexen“. Auf der Grundlage dieser Differenzierungen ist es auch möglich, das Verhältnis zwischen dem religiösen oder theologischen Hexerei-Diskurs und der Aufklärung genauer zu bestimmen. Wenn „Aufklärung“ in erster Linie mit einem (natur)wissenschaftlichen Weltbild in Verbindung gebracht wird, das keine übernatürlichen Akteure zulässt, dann kann festgestellt werden, dass es diese Art von Aufklärung – den Sieg der Vernunft über den Aberglauben – schon vor der Epoche der Aufklärung gegeben hat: vertreten von Kritikern des Hexenglaubens, die im Rahmen ihrer Auslegung des christlichen Monotheismus argumentiert haben.

So hat z. B. Fray Lope de Barrientos (1382–1459), der Bischof von Cuenca, nicht nur an den canon episcopi erinnert, sondern auch an die Vernunft appelliert:182 Furthermore, apart from these theological considerations, any man who has intelligence and common sense must consider what becomes of the bodies of these women, who are said to be in many places at the same time,… So we can believe and assert that such things are the products of the imagination, and those who believe they do such things have something wrong with their minds, … To believe the contrary is to be lacking in common sense, failing to see the force of these arguments. Der vielleicht bekannteste Vertreter der Aufklärung, der Jurist Christian Thomasius, dem das Verdienst zugeschrieben wird, die Überwindung des Hexenglaubens und das Ende der Hexenprozesse herbeigeführt zu haben, hat selbst auf seine Vorläufer unter den Theologen hingewiesen, vor allem auf Friedrich Spee, dem er eigentlich die wichtigste Rolle zuschreibt: die Lektüre der „cautio criminalis“ – der Verfasser war ihm noch nicht bekannt –, so berichtet Thomasius ehrlich, habe ihm die Augen 182 Übersetzung: Baroja, The World of the Witches, 277.

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geöffnet und den Weg zu einer kritischen, aufgeklärten Einstellung gewiesen, wie er in einer späteren Arbeit schreibt.183 Thomasius geht in der Verfolgung der Ahnenreihe kritischer Geister sogar bis ins frühe Mittelalter zurück und verweist auf Agobard, den Bischof von Lyon, der das Hexereidelikt des Wettermachens als Volksaberglauben kritisiert und als Dummheit (stultitia) verspottet hatte.184 Wenn „Aufklärung“ in erster Linie mit Toleranz in Verbindung gebracht wird, also mit der Absage an jede Form von Gewalt gegenüber abweichenden – und für falsch gehaltenen – religiösen Auffassungen, dann kann wieder festgestellt werden, dass es auch diese Art der Aufklärung schon vor der Epoche der Aufklärung gegeben hat: vertreten von Kritikern der Hexenprozesse, die auf der Grundlage ihres Gottesbildes nicht nur eine menschliche und faire Behandlung der Angeklagten gefordert haben, sondern auch den Verzicht auf die Todesstrafe für die Apostasie.

Diesem Gottesbild, das keine Rache für verletzte Ehre kennt, entspricht auf der menschlichen Seite der Affekt des Mitleids, von dem z. B. Reginald Scot meinte, es müsse in einem „christlichen Herzen“ vorhanden sein. Doch war eben dieser Affekt durchaus umstritten und konnte von Verfolgungsbefürwortern – auf der Grundlage eines anderen Gottesbildes – als gänzlich unangebracht zurückgewiesen werden, wie z. B. von Thomas Erast, der als Professor für Medizin in Heidelberg tätig war, gegenüber dem Arzt Johannes Weier.185 Aus der Sicht Erasts war das Bemühen Weiers zwar gut gemeint, aber eben doch verfehlt, weil dem alttestamentlichen Gesetz widersprechend, das in diesem Fall immer noch gültig sei. In dieser Hinsicht wäre also auch der Katholik Sterzinger, der den Glauben an die Realität der Hexerei verspottete und damit den „bayerischen Hexenkrieg“ auslöste, kein Vertreter der Aufklärung, da er ebenso wie der Reformierte Erast die Abwendung von Gott für ein todeswürdiges Verbrechen hielt und deshalb die Intention der Hexerei als strafwürdig betrachtete. Anders als Thomasius war Sterzinger ja auch nicht bereit, die Hexenprozesse als völlig verfehlt und unsinnig zu verurteilen. Es bleibt noch die Frage, ob und wie es zu erklären ist, dass es überhaupt, wenn auch nur in begrenzten Gebieten und Zeiträumen, zu ausufernden Hexenverfolgungen kommen konnte – der Blick auf den Hexendiskurs hat ja gezeigt, dass es zu allen Zeiten Kritiker und Skeptiker gegeben hat, so dass also nicht einfach auf „den Zeitgeist“ als Erklärung – und eventuell als Entschuldigung einzelner Theologen, die den Hexenglauben geteilt haben – verwiesen werden kann. Einen Ansatz zur 183 Siehe Lieberwirth, Einleitung S. 16; vgl. auch Thomasius, Vom Laster der Zauberei, § 4. 184 Siehe Thomasius, Über die Hexenprozesse, § 16, Anm. f. 185 Siehe das Zitat bei Schmidt, Glaube und Skepsis, 164f: Inventus enim est vir doctus, qui miseratione infelicium muliercularum permotus, pio magis, ut arbitror, quam recto studio earum defensionem suscepit.

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Erklärung bietet der Begriff des Sündenbocks, den der Religionshistoriker Geoffrey Parrinder schon in den 50er Jahren ins Gespräch gebracht hatte, unter der Überschrift „The desire for a Scapegoat“: „Society suffers from neuroses as do individuals. To clear itself from guilt society looks about for scapegoats on which to lay its faults.“ Parrinder hatte dann die Hexenverfolgung mit der Judenverfolgung verglichen, zunächst im Rückblick auf das Mittelalter: „During the late Middle Ages the Jews, and later the witches, were the scapegoats at whose doors society laid the blame for the terror of the recurrent plagues and the continuing high child mortality.“; dann aber auch im Blick auf das 20. Jahrhundert und Nazi-Deutschland: „The modern massacres of Jews are strictly comparable to witch-hunting“. Da Parrinder als Religionshistoriker an Vergleichen interessiert war, nannte er auch noch andere „moderne“ Beispiele aus seiner Zeit, in den 50er Jahren: „The American Ku Klux Klan is a witch-hunt, … And in Russia and the Communist states the tyranny of secret police, frequent purges, and artificial confessions follow closely upon the pattern of witchcraft.“186 Parrinders vergleichende Studie hat in der europäischen Hexenforschung zunächst keine Nachwirkung gehabt. Ohne ihn zu nennen – und sicherlich ohne ihn zu kennen – hat der Historiker Gerhard Schormann einen Vergleich von Hexenverfolgung und Judenverfolgung durchgeführt, bezogen auf das späte Mittelalter einerseits und Nazi-Deutschland andererseits. Neben dem Sündenbock-Motiv hat er noch weitere „Berührungspunkte“ aufzuweisen versucht, zum einen den „Verschwörungsmythos“ und zum andern die Metaphorik, d. i. „die Sprache der Seuchen- und Ungezieferbekämpfung“.187 Als einen Anknüpfungspunkt für diese Vergleiche nennt Schormann den Begriff der Ausrottung (exstirpatio), den der Erzbischof von Köln zu Beginn des 17. Jahrhunderts einführte, um das Ziel seiner Hexenverfolgung zu beschreiben – Schormann sieht hier eine Nähe zu Hitlers Begriff der Endlösung.188 In einer neueren Studie weist der Historiker Ulrich Knefelkamp darauf hin, dass „nicht wenige Forscher“ die Auffassung vertreten haben, die Hexen hätten die Juden als Sündenböcke abgelöst – eine These, die zugleich erklären würde, warum die Zusammenkünfte der Hexen als „Hexensabbat“ oder auch als „Hexensynagoge“ bezeichnet wurden. Eine „bestechende Erklärung“ ergibt sich, Knefelkamp zufolge, aus der Sündenbock-Theorie, wie sie in den 70er und 80er Jahren von René Girard ausgearbeitet wurde. Im Hinblick auf die verschiedenen Kirchen wie auch für „die Aktivitäten aus der Bevölkerung“ erscheint es ihm plausibel, mit Girard „von einer fundamentalen Erfahrung der Menschen im Verlauf der Entwicklung der Kulturen“ auszugehen: „Sie besagt, dass man eine Bedrohung, eine Gewaltspirale durch Opferung eines Sündenbocks unterbrechen kann.“189

186 Parrinder, Witchcraft, 202. 187 Siehe Schormann, Krieg gegen die Hexen, 11–21; 179f. 188 Siehe Schormann, ebda, 20. 189 Knefelkamp, Von der Ketzerei zur Hexerei, 24.

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In seinem Buch „Der Sündenbock“ hatte Girard tatsächlich Judenpogrome und Hexenverfolgung mehrfach nebeneinandergestellt.190 Girards Theorie des „Sündenbock-Mechanismus“ würde besonders gut erklären, warum in den Hexenprozessen immer darauf bestanden wurde, ein Bekenntnis der Angeklagten zu bekommen: Der „Mechanismus“ des Sündenbocks funktioniert, Girard zufolge, eben nur dann, wenn die Verfolger-Gemeinde von der Schuld der Angeklagten überzeugt ist – so kann die drohende Gefahr der Gewalt Aller gegen Alle gebannt werden, und die Gewalt wird kanalisiert in der Richtung auf das Opfer, das sich selbst als schuldig bekennt. Dieser Opfer-Mechanismus steht, Girard, zufolge, im Zentrum aller „mythischen“ Religionen und ist allein – so sieht es jedenfalls Girard – durch die biblische Offenbarung aufgedeckt und damit überwunden worden, wie z. B. im Buch Hiob und natürlich in erster Linie durch die Passionsgeschichte in den Evangelien.191 Die Kritiker der Hexenprozesse unter den Theologen der Frühen Neuzeit, wie z. B. Anton Prätorius, den Girard wahrscheinlich nicht gekannt hat, haben diesen theoretischen Ansatz eigentlich schon vorweggenommen, wenn sie die öffentlichen Verbrennungen polemisch als „Brandopfer“ oder „Menschenopfer“ bezeichnet und damit als ein Ritual und zugleich als Rückfall in das Heidentum gedeutet haben. Ein anderer theoretischer Ansatz aus der neueren Religionswissenschaft, bekannt als „cognitive theory of religion“, könnte ebenfalls dazu beitragen, Hexenglauben und -prozesse zu erklären. Eine der ersten „kognitiven“ Religionstheorien wurde in den 80er und 90er Jahren von Stewart E. Guthrie entwickelt. In dieser Theorie hat der Begriff des Anthropomorphismus zentrale Bedeutung: „ … religion may best be understood as systematic anthropomorphism: the attribution of human characteristics to nonhuman things or events“.192 Der Begriff des Anthropomorphismus ist ja schon aus älteren Religionsdebatten bekannt, z. B. aus der Beschreibung der homerischen Götterwelt. Neu ist aber die Erklärung, die Guthrie für diese Tendenz des „anthropomorphisierens“ gibt. Analog zur berühmten „Pascalschen Wette“ – wer auf die Existenz Gottes setzt, kann viel gewinnen, aber nur wenig verlieren – deutet er die Religion als eine Strategie, die für das Überleben der Menschheit durchaus nützlich und sinnvoll gewesen ist und die somit im Rahmen eines darwinistischen Weltbildes gut erklärt werden kann: „We animate and anthropomorphize because, when we see something as alive or humanlike, we can take precautions. … If it turns out not to be alive or humanlike, we usually lose little by having thought it was.“ Das Prinzip kann in der kurzen Formel angegeben werden: „better safe than sorry“.193 Demnach wäre die „anthropomorphe“ Deutung von Ereignissen eine sinnvolle Strategie in der Evolution der Menschheit gewesen. Allerdings wäre sie eine Illusion, die im Lauf der Geschichte durch andere Deutungen ersetzt wird, wie z. B. 190 Siehe Girard, Der Sündenbock, 23; 57; 61. 191 Siehe Girard, Hiob, 97f; 191f; vgl. ders., Der Sündenbock, 237. 192 Guthrie, Faces in the Clouds, 3; vgl. ebda 178f. 193 Guthrie, Faces in the Clouds, 5. Vgl. ders., Intelligent Design as Illusion, 43.

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in Bezug auf Wetter-Phänomene oder Krankheiten: „In meteorology, people once saw thunderstorms as threats from humanlike gods but now see them as effects of differing air masses. In medicine, people once saw epidemic diseases as punishments but now see them as results of germs.“194 Guthrie hätte hier auch auf Themen des frühneuzeitlichen Hexendiskurs hinweisen können: Das „Wettermachen“ der Hexen mit Hilfe des Teufels, ebenso wie das „Krankmachen“, wären ja nur kulturell besondere Beispiele der allgemeinen „anthropomorphisierenden“ Tendenz des Menschen, hinter auffallenden Naturphänomen menschliche Intentionalität zu vermuten – und dann mit Abwehr- und/oder Strafmaßnahmen darauf zu reagieren. In Auseinandersetzung mit Guthrie hat Pascal Boyer den kognitiven Ansatz weiterentwickelt und eine Hierarchie der (anthropomorphen) Projektionen behauptet: „The problem is to explain, not general projections of the human onto the non-human, but projections of intuitive belief-desire psychology onto non-intentional objects.“ Diese Korrektur ist eigentlich nur eine Explikation und Präzisierung des Begriffs „anthropomorphism“, wie ihn Guthrie verwendet hatte. Neu sind Boyers Begriffe „counter-intuitive assumptions“ und „attention-grabbing potential“, die darauf hinweisen sollen, dass nicht alle religiösen Vorstellungen die gleichen Chancen zur Überlieferung und Verbreitung haben: Das „kognitive optimum“ wäre erreicht, wenn eine Vorstellung einerseits intuitive ontologische Annahmen verletzt, um Aufmerksamkeit zu erwecken, andererseits aber nicht so viele, dass sie unglaubhaft wirken könnte. Als Beispiel nennt er u. a. die Vorstellung der Besessenheit: „a person is represented as acting and talking without self-awareness, but under the control of some external agency“.195 So wird die Erwartung an die Intentionalität der Person einerseits verletzt, andererseits aber wieder hergestellt durch die Projektion von Intentionalität auf ein übernatürliches Wesen (supernatural agent). Zu diesen übernatürlichen Wesen gehören, Boyer zufolge, auch Hexen (witches), neben Göttern (gods) und Geistern (spirits) oder auch Ahnen (ancestors).196 Boyer scheint bei dem Thema „witchcraft“ nur Beispiele aus Afrika im Blick zu haben. Doch müsste seine Theorie ja auch auf die komplizierte Hexen-Vorstellung des frühneuzeitlichen Europa anwendbar sein. Hier könnten sich allerdings die Grenzen des kognitiven Ansatzes zeigen: Einige Elemente der Hexerei-Vorstellung, wie z. B. der Hexenflug oder der Hexensabbat, stießen ja schon bei Zeitgenossen auf Unglauben. Wenn der Dichter Ludwig Tieck, der nach der Aufklärung schreibt, in seiner Darstellung des Hexenprozesses von Arras immer wieder von „Dummheit“, „Unsinn“ oder „Aberwitz“ spricht,197 so hat das durchaus eine Grundlage in zeitgenössischen Quellen aus dem 15. Jahrhundert. Wie ein Zeitgenosse berichtet, hat der Bischof von Amiens im Gegensatz zu dem Bischof von Arras, der die Hexenverfolgung eingeleitet hatte, alle Angeklagten sofort 194 Guthrie, Intelligent Design as Illusion, 44. 195 Boyer, What makes anthropomorphism natural, 92f; 95. 196 Siehe Boyer, Religion explained, 229f. 197 Siehe Tieck, Der Hexensabbat, 108; 118; 135; u. ö..

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freigelassen, weil er die Anklagen – es ging um den Hexensabbat – für unglaubhaft hielt;198 und nach kurzer Zeit wurden alle Opfer des Prozesses rehabilitiert, weil das Gerücht, ökonomische Interessen der Ankläger hätten eine Rolle gespielt, nicht zu unterdrücken war. Um die Beharrungskraft dieses Hexenglaubens, der sich ja im 16. Jahrhundert weiter ausbreitete, zu erklären, sind also neben dem kognitiven Ansatz noch weitere theoretische Ansätze heranzuziehen. Das am weitesten verbreitete Element, die Vorstellung des Schadenzaubers, scheint dem „kognitiven optimum“, wie es von Boyer definiert wird, nahezukommen, und so stellt sich die Frage, wieso es schon immer Skeptiker und Kritiker in Bezug auf Hexenglauben und -prozesse gegeben hatte, vor der Epoche der Aufklärung. Die Skepsis kann zum einen im Gottesbild begründet sein, wenn dieses so streng monotheistisch angelegt ist, dass es keine intentional agierenden Mächte zwischen Mensch und Gott zulässt, wie z. B. im Fall des Theologen Balthasar Bekker. Und die Gottesbilder, so hat sich im Blick auf den Hexendiskurs gezeigt, können auch innerhalb einer Konfession völlig verschieden sein. Zum andern kann die Skepsis durch eine Bekehrung hervorgerufen werden, wenn durch die Begegnung mit der Realität der Prozesse, insbesondere der Folter, Mitleid mit den Opfern ausgelöst wird, wie dies bei dem Theologen Anton Prätorius der Fall gewesen zu sein scheint. So verliert die Gegenüberstellung von Weltanschauungen – Religion als Gottesglaube gegen Atheismus – ihre Relevanz: Vernunft und Toleranz, wie sie sich gerade im Widerstand gegen Hexenglauben und -prozesse dargestellt haben, sind offensichtlich unabhängig von dem weltanschaulichen Rahmen, sind von Theisten wie von Atheisten vertreten worden. Und umgekehrt gilt, dass Hexenjagden nicht nur im Rahmen der Religion vorkommen, wie der Vergleich mit einigen Phänomenen aus dem 20. Jahrhundert gezeigt hat.

Kurz nach dem zweiten Weltkrieg hat Arthur Miller den Hexenprozess in Salem, Massachusetts (1692), zum Gegenstand eines Schauspiels gemacht, weil er, wie er später erklärte, erstaunliche Parallelen entdeckt hatte zu Vorgängen im Amerika seiner Zeit: „I refer, of course, to the anti-communist rage, that threatened to reach hysterical proportions and sometimes did.“199 Auch die zu Beginn des 21. Jahrhunderts einsetzende Debatte über die Einführung der Folter zur Bekämpfung des Terrorismus könnte in diesem Zusammenhang genannt werden, wenn in jener Debatte die Frage erörtert wird, ob bewährte Rechtsgrundsätze, wie z. B. das Recht auf Verteidigung, bei einem „crimen exceptum“ außer Kraft gesetzt werden können.

198 Siehe Jacques du Clercq, Memoiren Buch IV, Kap. VI. 199 Miller, The Crucible in History, 3.

Literatur

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9 Religion und Naturwissenschaft

9.1 Der Galilei-Prozess – Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Religion? Der Soziologe Rodney Stark hat in seinem Buch „For the Glory of God“ versucht, die Auffassung zu widerlegen, dass es einen Konflikt zwischen Religion und Naturwissenschaft gebe. Er geht dabei von der Beobachtung aus, dass die (Natur)Wissenschaft in Europa entstanden ist, also im „christlichen Abendland“, und er versucht deshalb, einen Zusammenhang zwischen dem christlichen Monotheismus und der modernen Naturwissenschaft aufzuweisen.1 Mit dieser Apologetik wendet er sich gegen die Religions- und Christentumskritik, wie sie im 20. Jahrhundert z. B. von dem Philosophen Bertrand Russell vertreten wurde. Russell hatte sich in den 30er Jahren zu dem Thema „Religion and Science“ geäußert und den – aus seiner Sicht unvermeidlichen – Konflikt anhand mehrerer historischer Beispiele dargestellt, beginnend mit der „Kopernikanischen Revolution“ und, wie zu erwarten, dem Galilei-Prozess. Russell hat einleitend die Begriffe „science“ und „religion“ definiert, und dabei hat er einige Anmerkungen zum Religionsbegriff gemacht, die für die Debatte mit dem „Neuen Atheismus“ im 21. Jahrhundert durchaus von Interesse sein könnten. Zum einen hat er darauf hingewiesen, dass es eine Art der Religion gibt – die er als „personal religion“ bezeichnet –, die von den Entdeckungen der Naturwissenschaft gar nicht berührt wird: „In so far as religion consists in a way of feeling, rather than in a set of beliefs, science cannot touch it.“2 In der neueren Debatte hat der Biologe Dean Hamer den Begriff „spirituality“ eingeführt, der jene Art der Religion bezeichnet, die Russell hier im Blick hat. Und in der Debatte über die (Un)Vereinbarkeit von Religion und Naturwissenschaft müsste, Hamer zufolge, eben als Erstes unterschieden werden zwischen „religion“ und „spirituality“.3 Russell hatte den Religionsbegriff noch in einer anderen Richtung ausgeweitet, um auch den Marxismus und den Nationalsozialismus zu umfassen, wie es in den 30er Jahren durchaus aktuell war: „new religions in Russia and Germany, equipped with new means of missionary activity provided by science“.4 Aus der Sicht Russells verlief die Konfliktlinie also nicht zwischen Religion als Gottesglaube und Atheismus – darin liegt ein Unterschied zum „Neuen Atheismus“ von Richard Dawkins –, sondern zwischen intellektueller Freiheit und Dogmatismus: „The threat to intellectual freedom is greater in our day than at any time since 1 2 3 4

Siehe Stark, For the Glory of God, 197. Russell, Religion and Science, 17. Siehe Hamer, The God Gene, 207–215. Russell, Religion and Science, 7.

Debatten über das heliozentrische Weltbild und die „Kopernikanische Wende“

407

1660; but it does not now come from the Christian Churches.“5 Der Konflikt mit der Wissenschaft, so ist es aus dieser Formulierung zu erschließen, betrifft also nicht nur die „traditionellen“ Religionen, soweit diese institutionell verfasst sind, wie z. B. die christlichen Kirchen, sondern jede Institution, die ein dogmatisches System für sakrosankt erklärt und keine Abweichung von der Orthodoxie duldet – dies galt, Russell zufolge, eben für den russischen und den deutschen Staat in den 30er Jahren. Russells Darstellung der „kopernikanischen Revolution“ und des Galilei-Prozesses – die Verurteilung Galileis durch die Inquisition im Jahre 1633 – ist nicht unkorrekt, aber zumindest in einer Hinsicht unvollständig. Russell vermittelt den – bekannten und weit verbreiteten – Eindruck, dass es eine klare Frontstellung gab: die Vertreter der Wissenschaft auf der einen Seite und die der Kirche –, „the theologians“ – auf der anderen Seite. In dieser Weise beschreibt er die Situation nach der Veröffentlichung jener Schrift Galilieis, die den Anlass gab zur Anklage und schließlich zur Verurteilung: „But while the scientific world applauded, the ecclesiastics were furious.“6 Was Russell dem Leser nicht mitteilt – was ihm wahrscheinlich nicht bekannt war –, ist die Tatsache, dass Galilei unter den Theologen seiner Zeit, auch solchen in kirchlichen Ämtern, etliche Anhänger und Freunde hatte, die seine Überzeugung von der Wahrheit des neuen Weltbildes teilten. Die Schriften einiger Theologen, die wie Galilei das kopernikanische Weltsystem akzeptiert hatten, wurden im Jahre 1616 auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt, zusammen mit dem Hauptwerk des Kopernikus. Dieses Werk, das Kopernikus dem Papst Paul III. gewidmet hatte, wurde also erst jetzt, sieben Jahrzehnte nach seiner Veröffent­lichung, verboten, genauer gesagt zu einer Revision verurteilt. Es scheint also innerhalb der Kirche verschiedene Auslegungen des christlichen Bekenntnisses gegeben zu haben, darunter auch solche, die mit dem kopernikanischen Weltsystem – und der Naturwissenschaft überhaupt – durchaus vereinbar waren. So erscheint es doch nötig und sinnvoll, die theologischen Reaktionen auf den Kopernikanismus im16. und 17. Jahrhundert genauer zu betrachten und den Blick gerade auf jene Theologen zu richten, die das neue Weltbild ohne Probleme übernehmen konnten – die sich zu ihrer Zeit allerdings (noch) nicht durchsetzen konnten. 9.2 Debatten über das heliozentrische Weltbild und die „Kopernikanische Wende“ Nikolaus Kopernikus (1473–1543) war zwar nicht als Priester ordiniert, hatte aber als Mitglied des Domkapitels von Frauenburg eine Funktion in der katholischen Kirche. Einer seiner engsten Freunde und Förderer, ein ehemaliger Kollege im Domkapitel, war Tiedemann Giese (1480–1550), Bischof von Kulm und später von Ermland; ein Schüler und Anhänger von Kopernikus war Georg Joachim Rheticus 5 6

Russell, ebda, 251. Russell, ebda, 39.

408

Religion und Naturwissenschaft

(1514–1574), gefördert von Melanchthon und zeitweise Professor für Mathematik in Wittenberg.7 Dieser Schüler, also ein Lutheraner, war es auch, der Kopernikus dazu bewegt hatte, nach langem Zögern sein Hauptwerk zu veröffentlichen (1543). Vorher hatte Rheticus schon einen „ersten Bericht“ über die neue Lehre von den Bewegungen der Himmelskörper veröffentlicht (1541). Rheticus war zwar kein Theologe im engeren Sinne, hat aber in einer eigenen Schrift explizit die Auffassung vertreten, das neue Weltbild widerspreche nicht den Aussagen der Heiligen Schrift. Er beruft sich dabei auf den heiligen Augustin, der „weise erkannt“ habe,8 dass „die Heilige Schrift absichtlich auf eine genaue Beschreibung der Natur verzichtet hat“, da, wie er anderswo bezeugt, „der Geist Gottes die Menschen nicht Dinge lehren möchte, die niemandem für sein Heil einen Nutzen bringen. Wer wollte nämlich behaupten, die Kenntnis der Physik sei heilsnotwendig?“ Biblische Aussagen über die Natur, wie z. B. über die Bewegung der Sonne, entsprächen der gewöhnlichen, nichtwissenschaftlichen Redeweise und seien deshalb nicht wörtlich zu nehmen, was z. B. auch für die bekannte Aussage (Jos 10,12) gelten würde, dass Josua die Sonne stillstehen ließ:9 Folglich werden die Zeugnisse über die Bewegung der Sonne, die uns scheinbar widersprechen, sich der jüngst erneuerten Astronomie nicht widersetzen, wenn man sie bloß genügend sorgfältig überprüft. In dieser Hinsicht befand Rheticus sich allerdings im Widerspruch zu seinem Förderer Melanchthon, der sich in einem Brief ablehnend über Kopernikus und das neue Weltbild geäußert hat: Es gibt da Leute, die glauben, es sei ein hervorragender Fortschritt, eine so absurde Behauptung zu verfechten, wie dieser sarmatische Astronom, der die Erde bewegt und die Sonne anheftet. Wahrlich, kluge Herrscher sollten die Frechheit der Geister zügeln.10 Oft zitiert wird ein Ausspruch Luthers, der in einer seiner „Tischreden“ im Jahre 1539 gesagt haben soll:11 7 Zur Biographie vgl. Burmeister, Rheticus ein überzeugter Protestant; Danielson, The First Copernican, 13–41. 8 Rheticus, De terrae motu 8 (Übersetzung: Bieri, Der Streit um das kopernikanische Weltsystem, 445). Siehe dazu Augustin, Über den Wortlaut der Genesis II, 9 (20): „Aber es muß gesagt werden, daß der Geist Gottes, …, mit nichten gewollt hat, die Menschen über Dinge zu belehren, die für das Heil nutzlos sind.“ Vgl. dazu auch Fantoli, Galileo, 14. 9 Rheticus, De terrae motu 59 (Übersetzung: Bieri, Der Streit, 487). 10 Melanchthon, Brief vom 16. Oktober 1541. Übersetzung: Zekl, Einleitung, LXIII. (Epistolarum Lib. VIII 1541, Nr. 2391: … rem tam absurdam ornare, sicut ille Sarmaticus Astronomus, qui movet terram et figit Solem. Profecto sapientes gubernatores deberent ingeniorum petulantiam cohercere.) Zu Melanchthons Haltung gegenüber Rheticus vgl. Westman, The Copernican Question, 148. 11 Siehe z. B. Kuhn, The Copernican Revolution, 191; Schöbi-Fink: Rheticus – der erste Kopernikaner.

Debatten über das heliozentrische Weltbild und die „Kopernikanische Wende“

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Der Narr will mir die ganze Kunst der Astronomia umkehren. Aber die Heilige Schrift lehrt uns, dass Josua die Sonne stillstehen ließ und nicht die Erde. Die Authentizität dieses Zitates ist aber bezweifelt worden, mit dem Hinweis auf eine andere Überlieferung der Äußerung Luthers, in der die polemische Bezeichnung „Narr“ nicht vorkommt.12 Auch nach dieser Überlieferung, die eher zuverlässig ist, hätte Luther aber an einer wörtlichen Auslegung der Josua-Stelle (Jos 10,12) festgehalten und die kopernikanische These damit für unglaubhaft erklärt: „… ego credo sacrae scripturae, nam Iosua iussit solem stare, non terram“.13 Wenn Luther sich in den folgenden Jahren nicht mehr zu diesem Thema geäußert hat, so ist dies wohl „am ehesten als Desinteresse“ zu interpretieren,14 nicht als ein „Kampf “ gegen den Kopernikanismus, aber auch nicht als eine Zustimmung. Melanchthon dagegen war an der Astronomie durchaus interessiert, hat sogar eine Einführung in die „Physik“ verfasst. In der ersten Auflage (1549) finden sich scharfe, kritische Bemerkungen über Kopernikus, der zwar nicht mit Namen genannt wird, dem aber Neuerungs- und Geltungssucht unterstellt wird:15 Doch hier erklärten einige aus Liebe zur Neuheit, oder, um ihren Geist zur Schau zu stellen, daß die Erde bewegt werde, und sie behaupten, daß weder die achte Sphäre noch die Sonne bewegt werde, … Melanchthon stellt „diese Spielereien“, das heliozentrische Weltbild, kurz vor und führt es, historisch korrekt, auf den Ursprung in der Antike zurück: auf Aristarch von Samos. Er entscheidet sich dann ganz klar für die Ablehnung des kopernikanischen Weltbildes: Es sei „nicht gut, öffentlich absurde Sätze zu vertreten und es schadet durch das Beispiel“. Melanchthon sieht außer der (philosophischen) Absurdität des neuen Weltbildes auch einen Widerspruch zu den Aussagen der Bibel (z. B. Ps 18 (19), 5–7): Obgleich aber einige einen Physiker verlachen, der göttliche Zeugnisse anführt, halten wir es dennoch für gut, die Wissenschaft mit den himmlischen Worten zusammenzubringen … Ein Psalm bestätigt völlig klar, daß die Sonne sich bewegt: …

12 Vgl. dazu Barker, Lutheran Response to Copernicus, 63f; Kleinert, „Eine handgreifliche Geschichtslüge“, 102f. 13 Luther, Tischreden 4. Band, Nr. 4638. 14 Kleinert, Geschichtslüge, 104. 15 Melanchthon, Die Anfänge der physikalischen Lehre, S. 49. (Initia doctrinae physicae (1549), Sp. 216: Sed hic aliqui vel amore novitatis, vel ut ostentarent ingenia, disputarunt moveri terram, et contendunt nec octavam sphaeram, nec Solem moveri, …).

410

Religion und Naturwissenschaft

In der zweiten Auflage (1550) hat Melanchthon zwar die persönliche Polemik getilgt, die Ablehnung des kopernikanischen Weltbildes aber aufrecht erhalten, mit den gleichen Argumenten.16 Ebenso wie Luther wurde auch Calvin oft als ein Gegner des kopernikanischen Weltbildes zitiert.17 Und ebenso wie im Falle Luthers ist auch hier die Authentizität des entscheidenden Zitates bezweifelt worden. Edward Rosen kam in seiner kritischen Prüfung der Quellen sogar zu dem Ergebnis, Calvin habe sich gar nicht zu Kopernikus geäußert: „Never having heard of him, Calvin had no attitude toward Copernicus.“18 So kann der Eindruck vermittelt werden, Calvins Theologie habe den Fortschritt der Naturwissenschaft nicht behindert, sondern eher gefördert. In einer Predigt über 1. Kor 10,19–24 zeigt sich allerdings, dass Calvin über die neue Theorie informiert war und dass er sie abgelehnt hat, ebenso wie Melanchthon:19 Wir sehen einige Leute, die so verrückt sind, …, dass sie überall ihr wider­ natürliches Wesen zeigen müssen und sagen, dass die Sonne unbeweglich ist, und dass es die Erde ist, die sich bewegt und dreht. Wenn wir solche Geister sehen, muss man wirklich sagen, dass sie vom Teufel besessen sind … Außerdem bleibt festzuhalten, dass Calvin in seinen Äußerungen zu jenen bib­ lischen Texten, die immer wieder gegen das kopernikanische Weltbild zitiert worden sind, dieselbe Auffassung wie Melanchthon und Luther vertreten hat. Er hat die biblischen Aussagen zwar nicht direkt als Argument gegen die kopernikanische Theorie angeführt,20 doch hat er nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die umstrittenen Stellen im Sinne der Akkomodationstheorie auszulegen. Gerade in seiner Auslegung der umstrittenen Stelle Jos 10,12f hat Calvin sich eindeutig zu dem ptolemäischen, geozentrischen Weltbild bekannt:21

16 Siehe Melanchthon, Initia doctrinae physicae (1550), S. 39/40. Vgl. dazu Westman, The Copernican Question, 161; Barker (Lutheran Response, 64f) erwähnt nur Melanchthons Verzicht auf persönliche Polemik, nicht aber, dass er auch in den späteren Auflagen an dem ptolemäischen Weltbild festgehalten hat. Vgl. auch Wolters, Rheticus’ Präventiv-Verteidigung, 13. 17 So z. B. in der klassischen Darstellung von Kuhn, The Copernican Revolution, 191f. 18 Rosen, Calvin’s Attitude Toward Copernicus, 441. Vgl. auch Hooykaas, Religion and the Rise of Modern Science, 121f; Bieri, Der Streit, 495. 19 Übersetzung: Bieri, Der Streit, 497 (Calvin, opera exegetica et homiletica Vol. XXVII, Sp. 677). 20 Dies hat Hooykaas (Religion, 120) als einen Vorzug der Exegese Calvins hervorgehoben. 21 Calvin, Commentaries on the Book of Joshua, S. 153. (Commentarius in librum Iosue, Sp. 500: … sicuti in gratiam humani generis quotidiano solis cursu diem a nocte dividit, …: ita ad breve tempus consistere voluit, donec deleti essent Israelis hostes). So hält Calvin gerade hier an einer wörtlichen Auslegung fest, die das Wunder (miraculum) ernst nimmt (siehe Comm. zu Josua 10,13/14, mit Bezugnahme auf Jes 38,8). Vgl. auch seine Auslegung zu Psalm 104,5: aufgrund dieser Aussage des Psalms steht es für ihn fest, dass die Erde das Zentrum des Universums ist. Hooykaas (Religion, 117–121) geht ausführlich auf Calvins exegetische Methode und die Akkomodationstheorie ein, zitiert aber nicht Calvins Josua-Kommentar und die Ablehnung des neuen Weltbildes.

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As in kindness to the human race he divides the day from the night by the daily course of the sun, …, so he was pleased that it should halt for a short time till the enemies of Israel were destroyed. Als das Hauptwerk des Kopernikus in Nürnberg gedruckt wurde, übernahm der evangelische Theologe Andreas Osiander (1498–1552) die Verantwortung, in Vertretung für Rheticus, der abwesend war. Ohne seinen Namen zu nennen, verfasste Osiander ein Vorwort, das bei den Anhängern des Kopernikus allerdings größtes Missfallen erregen sollte.22 Osiander betonte in diesem Vorwort an den Leser, dass es sich um eine hypothetische Konstruktion handele, die praktischen Nutzen habe und gar nicht den Anspruch auf Wahrheit erhebe.23 So konnte das Werk des Kopernikus von Astronomen an protestantischen Universitäten zu praktischen Zwecken benutzt werden, ohne dass damit das heliozentrische Weltbild übernommen wurde. Rheticus mit seinem Bekenntnis zu dem neuen Weltbild blieb also zunächst noch eine Ausnahme.24 Ebenso wie Rheticus hatte der katholische Freund und Förderer des Kopernikus, der Bischof Tiedemann Giese, das neue Weltbild in einer eigenen Schrift verteidigt, die allerdings verloren ist. Wie im Protestantismus gab es auch auf der katholischen Seite im 16. Jahrhundert zunächst vereinzelte scharfe Kritik sowie den Wunsch, die neuen Ideen zu verbieten, so von dem Dominikaner Giovanni Maria Tolosani (1470–1549).25 Es ergab sich dann aber die gleiche Entwicklung zu einem pragmatischen Umgang mit dem kopernikanischen Werk, ermöglicht durch die Vorrede Osianders: Der führende katholische Astronom Christoph Clavius (1537–1612), ein Jesuit, machte von den Berechnungen des Kopernikus Gebrauch, bekannte sich aber immer, wie Melanchthon, zu dem ptolemäischen, geozentrischen Weltbild.26 Erst im 17. Jahrhundert setzte mit der Anzeige des Dominikaners Tommaso ­Caccini (1574–1648) aus Florenz jene Debatte ein, die schließlich zu dem berühmten Galilei-­ Prozess führte (1633).27 Doch kann auf jeden Fall festgehalten werden, dass es in den beiden großen Konfessionen schon im 16. Jahrhundert einzelne „Kopernikaner“ gab – in erster Linie Rheticus und Giese –, die das heliozentrische Weltbild sofort in ihr christliches Selbstverständnis einordnen konnten und die sich sogar dafür einsetzten, es weiter zu verbreiten. Ebenso wie Kopernikus hatte auch Galileo Galilei (1564–1642) unter Theologen etliche Freunde und Förderer, die das neue heliozentrische Weltbild sofort übernah22 Vgl. dazu Hamel, Nicolaus Copernicus, 227–231; Danielson, The First Copernican, 106–114. 23 Vgl. dazu Krafft, Physikalische Realität oder mathematische Hypothese?, 245–248; Hübner, Die Theologie Johannes Keplers, 211–213. 24 Vgl. dazu Barker, Lutheran Response, 67/68; Westman, The Copernican Question, 160–170. 25 Vgl. dazu Westman, The Copernicans and the Church, 87–89; Blackwell, Galileo, Bellarmine and the Bible, 24; Bieri, Der Streit um das kopernikanische Weltsystem 15–18. 26 Vgl. dazu Zinner, Ausbreitung der kopernikanischen Lehre, 277; Blackwell, Galileo, Bellarmine and the Bible, 25. 27 Vgl. dazu Blackwell, ebda, 112–116; Fantoli, Galileo, 167f.

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men und bereit waren, es zu verteidigen. Enge Freunde Galileis waren der katho­ lische Priester Giovanni Ciampoli (1589–1643), zeitweise Inhaber einer hohen Stellung im Vatikan, sowie der Benediktiner-Mönch Benedetto Castelli (1578–1643). Der Augustiner-Eremit Diego de Zuniga (1536–1597) hatte in seinem Hiob-­Kommentar bereits das neue Weltbild vorausgesetzt, und der Karmeliter-Pater Paolo Antonio Foscarini (1580–1616) setzte sich in einer eigenen Abhandlung öffentlich für das neue Weltbild ein – es waren diese beiden theologischen Werke, die 1616 von der Inquisition verboten wurden, zusammen mit dem Hauptwerk des Kopernikus, das als revisionbedürftig auf den Index gesetzt wurde. Eine eigene „Verteidigung Galileis“ verfasste der Dominikaner Tommaso Campanella (1568–1639), der allerdings mehrfach von der Inquisition der Häresie verdächtigt und lange Zeit in Haft gehalten wurde, insofern also ein Außenseiter unter den katholischen Theologen. Campanella war weniger daran interessiert, dem neuen Weltbild zum Durchbruch zu verhelfen, als vielmehr daran, die Freiheit der Forschung (libertas philo­ sophandi) einzufordern – eine Einschränkung der Forschungsfreiheit würde aus seiner Sicht dem Wesen des Christentums widersprechen.28 Ein anderer Außenseiter unter den katholischen Theologen, der das kopernikanische Weltbild verteidigte und dieselbe Auffasung wie Rheticus vertrat, war Giordano Bruno, der im Jahre 1600 in Rom als Ketzer verbrannt wurde.29 Da die Prozessakten aus Rom nicht erhalten sind, ist es allerdings nicht festzustellen, ob und in welchem Ausmaß der „Kopernikanismus“ bei seiner Verurteilung eine Rolle gespielt hat.30 Der Katholik Foscarini vertrat dieselbe Position wie der Protestant Rheticus, dessen Werk ihm nicht bekannt war. Wie dieser ging er davon aus, dass die Weisheit Gottes, die in der Heiligen Schrift offenbart ist, nur die Erlösung des Menschen zum Ziel hat und deshalb keine naturwissenschaftlichen Aussagen enthält, die für die Erlösung ja nicht relevant seien:31 Thus when St. Paul went to Corinth to preach, he focused attention only on Christ Crucified, … (1 Corinthians 2:3). Although he was otherwise most learned, he did not pretend to teach anything other than the way to heaven. Und ebenso wie Rheticus war Foscarini der Meinung, die Heilige Schrift bediene sich in ihren Aussagen über die Natur der normalen, nichtwissenschaftlichen Redeweise und sei in diesen Fällen nicht wörtlich zu nehmen:32 Hence Scripture serves us by speaking in the vulgar and common manner; for from our point of view it does seem that the earth stands firmly in the center and that the sun revolves around it, rather than the contrary. 28 29 30 31 32

Tommaso Campanella, Apologia pro Galileo, 25; 27. Siehe Giordano Bruno, Aschermittwochsmahl, 4. Dialog, S. 171–173. Vgl. dazu Blumenberg, Einleitung, 55–60. Foscarini, Letter on the Motion oft he Earth, S. 233. Foscarini, Letter on the Motion oft he Earth, S. 232.

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Auf diese Weise glaubte Foscarini, alle Widersprüche zwischen dem neuen Weltbild und den biblischen Aussagen auflösen zu können, auch die bekannte Stelle Josua 10,12: Die naturwissenschaftlich korrekte Beschreibung des Wunders wäre, Foscarini zufolge, dass die Erde, nicht die Sonne, in ihrem Lauf zum Stillstand gebracht wurde.33 Foscarini bot damit von theologischer Seite eine kongeniale Verteidigung Galileis, der dieselbe Auffassung von der Intention biblischer Aussagen vertreten hat, kurz zusammengefasst in seinem Brief an die Großherzogin Christina:34 I cannot do better here than quote what I have heard said by a very eminent churchman, that the intention of the Holy Spirit is to teach us how one goes to heaven, not how the heaven goes. Foscarinis Hoffnung, der neuen Lehre in Rom zum Durchbruch zu verhelfen, wurde allerdings schnell enttäuscht. Sein Buch wurde verboten,35 und Galilei selbst musste zwar nicht abschwören und Buße leisten, doch wurde ihm, wie der Kardinal Bellarmin am 26. Mai 1616 bestätigte, die Verordnung mitgeteilt, „daß die dem Kopernikus zugeschriebene Lehrmeinung, daß sich die Erde um die Sonne bewege …, der Heiligen Schrift widerspricht und deshalb weder verfochten noch aufrechtgehalten werden darf “.36 Als Galilei später, im Jahre 1632, seine „Dialoge“ über die beiden Weltsysteme veröffentlichte, wurde ihm der Vorwurf gemacht, das Gebot des Kardinals Bellarmin missachtet und, obwohl scheinbar neutral in Dialogform, doch die kopernikanische Lehre vertreten zu haben. Am Ende des Prozesses, in dem Galilei „zu förmlichem Kerker“ verurteilt wurde – was schließlich in Hausarrest umgewandelt wurde – und widerrufen musste, wurde nochmals die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes festgeschrieben. Diesem Urteil der katholischen Inquisition hätten Luther und die anderen großen Reformatoren in den wesentlichen Punkten – betreffend die Absurdität der Annahmen und ihr Widerspruch zu biblischen Aussagen – sicherlich zugestimmt:37 Daß die Sonne der Mittelpunkt der Welt und ohne Bewegung im Raum sei, ist eine philosophisch widersinnige und falsche und formell ketzerische Behauptung, da sie ausdrücklich der Heiligen Schrift widerspricht; … Daß die Erde weder der Mittelpunkt der Welt sei noch still stehe und gar noch eine tägliche Bewegung durchmache, ist gleichfalls eine philosophisch widersinnige und falsche Behauptung, und theologisch betrachtet, ad minus erronea in Fide. 33 Letter on the Motion of the Earth, S. 236. 34 Galilei, Selected Writings, 70. Vgl. auch ebda, 57 (Brief an Benedetto Castelli). 35 Foscarini konnte den Plan, seine Stellungnahme für Galilei weiter auszuarbeiten, nicht mehr verwirklichen, da er nach seiner Rückkehr ins Kloster überraschend verstarb. 36 Galilei, Dokumente, S. 194. 37 Galilei, Dokumente, S. 206. Übersetzung des Urteils und der „Abschwörung“ Galileis auch bei Finocchiaro, The Trial of Galileo, 134–139.

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Kardinal Bellarmin (1542–1621), der an diesem Prozess und Urteil nicht mehr beteiligt war, hatte eigentlich eine vermittelnde Position vertreten, ebenso wie der evangelische Theologe Osiander in seinem Vorwort zum Hauptwerk des Kopernikus. Dies geht aus dem Brief Bellarmins an Foscarini hervor, datiert vom 12. April 1615, in dem zwischen hypothetischer Verwendung (für astronomische Berechnungen) und Lehre (als Theorie über die Wirklichkeit) des heliozentrischen Weltbildes unterschieden wird: ersteres könne nützlich sein und sei akzeptabel; letzteres sei gefährlich für die Lehre der Kirche und sei außerdem noch gar nicht hinlänglich bewiesen – „and where there is doubt we should not abandon the Holy Scriptures as they have been expounded by the Fathers.“38 Er hat dabei nicht die Möglichkeit wahrgenommen, an jene „Einsicht“ Augustins anzuknüpfen, auf die sich Rheticus bereits berufen hatte. Auch wenn es schließlich zu einer Verurteilung Galileis und des kopernikanischen Weltbildes kam, so ist doch festzuhalten, dass es innerhalb der katholischen Kirche des 17. Jahrhunderts nicht nur Gegner, sondern auch Anhänger Galileis, also „Kopernikaner“, gegeben hat. Letztere waren ebenfalls davon überzeugt, im Interesse der Kirche zu handeln, nur dass sie sich zu ihrer Zeit (noch) nicht durchsetzen konnten. Es wäre also irreführend, den Galilei-Prozess als Paradigma für den unvermeidlichen Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Religion bzw. Kirche darzustellen – und dies nicht nur deshalb, weil die verbreitete Version, Galilei sei gefoltert und ins Gefängnis geworfen worden, als ein „Mythos“ erwiesen werden kann;39 sondern vor allem deshalb, weil eine solche Darstellung den Blick verstellt auf die Vielfalt der Auslegungen des Christentums, die es in jeder der großen christlichen Konfessionen und Kirchen gegeben hat.

Diese Vielfalt besteht nicht nur darin, dass es Anhänger des einen und des anderen Weltbildes gab, sondern vor allem darin, dass verschiedene Arten der Gläubigkeit oder Religiosität zu erkennen sind: eine, die invariant ist gegenüber dem Wandel des Weltbildes, und eine, die an ein bestimmtes Weltbild gebunden ist und deswegen den Wandel zu verhindern sucht, wenn nötig mit Gewalt. Die invariante Religiosität scheint wiederum mit konfessioneller Indifferenz verbunden zu sein, wie es sich in der Kooperation über die Grenzen der Konfessionen hinweg gezeigt hat. So haben ja der katholische Bischof Tiedemann Giese und der Wittenberger Protestant Rheticus kooperiert, und später auch die Hauptakteure selbst: der Katholik Galilei und der Lutheraner Johannes Kepler. Jedenfalls sind die verschiedenen Positionen in der Weltbild-Debatte unabhängig von der konfessionellen Identität – so haben z. B. der Protestant Rheticus und der Katholik Foscarini dieselbe, positive Haltung eingenommen, ebenso wie auf der anderen Seite Vertreter der Reformation und Mitglieder der römischen Inquisition dieselbe negative Haltung, während der Pro38 Galileo Galilei, Selected Writings, 95. 39 Siehe Finocchiaro, That Galilei was imprisonded and tortured, …

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testant Osiander und der Katholik Bellarmin dieselbe hypothetische oder instru­ mentalistische Haltung vertreten haben. Die Vielfalt der Stimmen auf Seiten der Religion ist den spezialisierten Historikern, wie z. B. Robert Westman, natürlich nicht verborgen geblieben.40 In den populären Darstellungen des Konfliktes wird sie aber weitgehend ausgeblendet, und zwar auf beiden Seiten, von den Kritikern der Religion, die Galilei als Held und Märtyrer würdigen, ebenso wie von den Kritikern der Wissenschaft, die das Verhalten der Gegner Galileis als angemessen und verantwortungsvoll betrachten. Der Philosoph Bertand Russell würdigt die Leistung des Kopernikus, wenn auch etwas widerstrebend – weil das System ja noch nicht vollkommen gewesen sei –, als einen notwendigen Schritt in der Entwicklung der Wissenschaft;41 im Hinblick auf Kepler bemerkt er nur, dass es sich um ein extremes Beispiel in der Geschichte der Wissenschaft handelt: dass hier Rationalität und irrationale Motive – mystische Glaubensüberzeugungen – zusammengekommen seien, eine Beobachtung, die später in der Wissenschaftstheorie Paul Feyerabends eine Rolle spielen wird: „Consequently, any methodical plan by which new hypotheses are suggested, is apt to be useful; …“.42 Die wichtigste Gestalt der Wissenschaft jener Zeit ist aus der Sicht Russells zweifellos Galilei, nicht nur wegen seiner Entdeckungen, sondern auch und gerade wegen seines Konfliktes mit der Inquisition.43 Albert Einstein, sicherlich der bekannteste Physiker des 20. Jahrhunderts, hat im Jahre 1953 Galilei als einen „Vertreter des vernünftigen Denkens“ gewürdigt, der den Mut gehabt habe, sich „der Schar derjenigen entgegenzustellen, die auf die Unwissenheit des Volkes und die Indolenz der Lehrenden in Priester- und Professoren Gewande sich stützend, ihre Machtpositionen einnehmen und verteidigen“.44 Das „Leitmotiv“ von Galileis Schaffen sah Einstein „in dem leidenschaftlichen Kampf gegen jeglichen auf Autorität sich stützenden Glauben“ – „Erfahrung und sorgfältige Überlegung allein“ habe Galilei „als Kriterien der Wahrheit“ gelten lassen.45 Auch diese kurze Würdigung Galileis, geschrieben als ein Vorwort zu einer Übersetzung der „Dialoge über die beiden Weltsysteme“ – jenes Werkes, das den Anlass zum Galilei-Prozess 1633 gab – vermittelt den Eindruck, dass es nur zwei Positionen gab: (Natur)Wissenschaft auf der einen und Religion als Autoritätsglaube auf der anderen Seite. Diesen Eindruck vermittelt auch die Darstellung, die der bekannte und umstrittene Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend in den 70er Jahren gegeben hat, nur dass er die Religion verteidigt und zu der entgegengesetzten Bewertung kommt. Im Blick auf den ersten Galilei-Prozess im Jahre 1616 kommt er zu dem Schluss, „das Urteil der kirchlichen Fachleute“ sei „sachlich einwandfrei“ gewesen, denn die 40 41 42 43 44 45

Siehe z. B. Westman, The Copernicans and the Churches, 103. Russell, Religion and Science, 21; 43. Russell, ebda, 27. Russell, ebda, 31. Einstein, Galileo Galilei, VII. Einstein, ebda, XI.

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kopernikanische Lehre sei „damals in der Tat unwissenschaftlich und unbegründet“ gewesen; außerdem habe das Urteil der Kirche „die rechte soziale Intention“ gehabt: „die Öffentlichkeit vor den Machenschaften der Wissenschaftler zu schützen“.46 Im Gegensatz zu Einstein kritisiert Feyerabend die Arroganz Galileis, der für den „ungebildeten Pöbel“ nur Verachtung gekannt habe, und würdigt umso mehr die Vertreter der Kirche, vor allem den Kardinal Bellarmin, dem „das Geschick dieses „ungebildeten Pöbels“ mehr am Herzen“ lag.47 Später wendet Feyerabend sich noch schärfer gegen die verbreitete Auffassung, „daß Galilei auf dem rechten Weg war, die Kirche im Unrecht, aber leider mächtig genug, ihren Willen durchzusetzen“: Es scheint ihm jetzt erwiesen, „daß das Vorgehen der Kirche unter den bestehenden Umständen die bestmögliche, rationalste und humanste Lösung war“. So empfiehlt er den Kirchen, die „ausgeglichene und liebenswürdige Weisheit“ eines Bellarmin wiederaufleben zu lassen – ohne zu erwähnen, dass jener Bellarmin dem Kollegium angehört hatte, das im Jahre 1600 Giordano Bruno zur Folter und zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt hatte.48 Andere Vertreter der Kirche, die Galilei verteidigten und das neue Weltbild keineswegs als einen „Schock“ für den Glauben betrachteten, kommen in Feyerabends Darstellung gar nicht in den Blick. Foscarini erscheint nur als Addressat des berühmten Briefes von Bellarmin, und er wird in ganz irreführender Weise eingeführt als ein Karmelitermönch, „der Fragen gestellt hatte zur Wirklichkeit des Kopernikanischen Systems“.49 Die Seite der Religion wird damit reduziert auf die Position jener „kirch­ lichen Fachleute“, die das Urteil sprachen, und auf diese Weise wird die Vorstellung des Konfliktes zwischen Naturwissenschaft und Religion doch wieder reproduziert, nur mit umgekehrter Bewertung. In seinem bekannten Schauspiel „Das Leben des Galilei“ hatte Bertolt Brecht eine kritische Perspektive entwickelt, die mit der Position Feyerabends vergleichbar ist: In der achten Szene lässt er auf der Bühne die Auffassung zu Wort kommen, dass „ein allzu hemmungsloses Forschen“ Gefahren für die Menschheit mit sich bringe und dass „aus dem Dekret der Heiligen Kongregation ein edles mütterliches Mitleid, eine große Seelengüte“ herauszulesen sei; und in der Vorrede zur amerikanischen Fassung spricht er von der „Erbsünde“ der modernen Naturwissenschaften, die er Galilei anlastet: die Atombombe sei „sowohl als technisches als auch soziales Phänomen das klassische Endprodukt seiner wissenschaftlichen Leistung und seines sozialen Versagens“.50 Im Gegensatz zu Feyerabend hat der Soziologe Rodney Stark den Karmelitermönch Foscarini korrekt eingeführt: als einen Anhänger Galileis, der die Bibel so 46 Feyerabend, Wider den Methodenzwang, 219. 47 Feyerabend, ebda, 214. Vgl. dazu die Verteidigung Bellarmins durch Pera, der keinen der Anhänger Galileis in der katholischen Kirche erwähnt, Foscarini nur als Adressaten des Briefes von Bellarmin (The God of theologians and the God of astronomers, 372). 48 Feyerabend, Irrwege der Vernunft, 377. 49 Feyerabend, ebda, 360. 50 Brecht, Leben des Galilei, 91; 93; Materialien, 12.

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auslegt, dass sie mit dem neuen, wissenschaftlichen Weltbild vereinbar ist. Stark stellt ihn neben Calvin, der die gleiche Methode der Schriftauslegung vertreten habe, verschweigt dabei allerdings, dass Calvin, wie auch die anderen führenden Reformatoren, an dem geozentrischen Weltbild festgehalten hatte.51 Den Kardinal Bellarmin und die Vorbehalte gegenüber dem neuen Weltbild erwähnt Stark überhaupt nicht, so dass sich der Eindruck ergibt, dass es eigentlich keinen Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Kirche gegeben hat – die Verantwortung für den Streit, der zum Prozess und zur Verurteilung geführt hat, sieht er letztlich bei Galilei, der sich durch seine Arroganz selbst in diese Lage gebracht habe: „Galileo’s troubles stemmed as much from his arrogance as from his scientific views“.52 Diese Darstellung des Prozesses steht im Zusammenhang einer groß angelegten Apologie des Christentums: Stark geht davon aus, dass die (Natur)Wissenschaft nur in Europa entstanden ist, und er schließt daraus, dass sie ein Erbe des Christentums sei – „the legitimate offspring of Christian theology“: nur der christliche Monotheismus habe die Voraussetzung geschaffen für die Entstehung der Naturwissenschaft, und einen Konflikt könne es deshalb eigentlich nicht geben, auch wenn dies von seiten der atheistischen Religionskritik immer wieder behauptet werde.53 Er wendet sich deshalb auch gegen die Auffassung, dass Kopernikus die „wissenschaftliche Revolution“ in Gang gesetzt habe, und er wirft ihm vor, seine Vorläufer – unter den christlichen Denkern des Mittelalters – nicht genannt zu haben.54 Tatsächlich hat Kopernikus aber in der Widmung, die er seinem Hauptwerk vorangestellt hat, korrekt Rechenschaft abgelegt über die Quellen seiner Inspiration – diese hat er allerdings in der antiken Philosophie gefunden, nicht in der mittel­ alterlichen christlichen Theologie. Schon im Blick auf die Antike erweist es sich also als unmöglich, die Entstehung der Naturwissenschaft exklusiv aus dem christlichen Monotheismus abzuleiten, wie Stark es aufzuzeigen versucht.55 Stark hat mit Recht betont, dass die großen Naturwissenschaftler jener Zeit, wie z. B. Galilei und Kepler, an einen Schöpfergott geglaubt haben – „whose work incorporated rational rules awaiting discovery“ –, und dass gerade Galilei sich immer für einen guten Katholiken gehalten hat.56 Und er wendet sich auch mit Recht gegen die Tendenz einer Aufklärungs-Ideologie, alle religiösen Aspekte der wissenschaftlichen Revolution zu ignorieren und die Unvereinbarkeit von Religion und Naturwissenschaft zu behaupten.57 Jene Tendenz wird z. B. durch den Biologen Jerry Coyne repräsentiert, der Kopernikus, Galileo und Kepler nur als die Autoren von Werken nennt, die von der katho51 52 53 54 55

Stark, For the Glory of God, 175f. Stark, ebda, 163/164. Stark, ebda, 165f; 147. Stark, ebda, 139f. Zur Kritik an Stark vgl. Efron, That Christianity Gave Birth to Modern Science; Coyne, Faith vs. Fact, 211–217. 56 Stark, ebda, 157; 165. 57 Siehe Stark, ebda, 166f, im Blick auf die Debatte über Newton.

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lischen Kirche verboten wurden, ohne ihre individuelle Religiosität zu erwähnen. Und im Hinblick auf Newton bemerkt Coyne nur, dieser sei ein Arianer gewesen, also kein rechtgläubiger Christ,58 was Stark aber kaum als ein Argument gegen die Ableitung der Naturwissenschaft aus dem Christentum anerkennen würde, zumindest nicht als ein Argument gegen die Kompatibilitätsthese. Starks These, (christliche) Religion und Naturwissenschaft seien kompatibel, bedarf der Differenzierung: Wie sich im Blick auf die Debatte über das kopernikanische Weltbild gezeigt hat, gab es im 16./17. Jahrhundert ganz verschiedene Reaktionen von Seiten der Theologie, und so können die modernen Vertreter der Konflikt-These ebenso wie die Vertreter der Kompatibilitäts-These jeweils ihre Auffassung bestätigt sehen: Es gibt eben beides, je nachdem wie die Religion, in diesem Fall die christliche Tradition, verstanden und ausgelegt wird. Jede These zur (In)Kompatibilität von Religion und Naturwissenschaft ist bereits eine Stellungnahme zu den verschiedenen Auslegungen der betreffenden religiösen Tradition.

Bei der Erklärung der Konflikte, wie z. B. des Galilei-prozesses, ist diese Vielfalt der Auslegungen der betr. Religion zu berücksichtigen: Wenn Galilei eine „tiefe Gläubigkeit“ oder ein katholisches Selbstverständnis bescheinigt wird,59 so ist zu bedenken, dass viele seiner Zeitgenossen ihm genau dies abgesprochen haben, weil sie eine ganz andere Auffassung von Gläubigkeit und katholischer Identität hatten. Der Konflikt zwischen Religion und Naturwissenschaft kann also auch als ein Konflikt innerhalb der Religion selbst beschrieben werden, im Falle des Galilei-Prozesses innerhalb der römisch-katholischen Kirche – oder in der Darstellung des Wissenschaftshistorikers Richard Westfall als „confrontation between two antithetical worldviews, embodied of course in Galileo and Bellarmino“, aber ein „clash of two worlds“ innerhalb der Kirche, von der Galilei sich nie hätte trennen wollen.60 Die Konflikt-Partei konnte sich zunächst durchsetzen und bewirken, dass die Verurteilung des kopernikanischen Weltbildes noch für zwei Jahrhunderte in Geltung blieb. Aus der Sicht Westfalls hat die Konflikt-Partei, bzw. Bellarmin als „the determinative voice on this issue at that time“, der Kirche damit einen schlechten Dienst erwiesen: „Locked within his worldview, he met the challenge of the rise of modern science with a response that served only, in the end, greatly to injure the institution he wanted above all to defend.“61 Im Jahre 1820 änderte sich die Lage, als einem Lehrbuch des katholischen Astronomen Guiseppe Settele, der den kopernikanischen Standpunkt voraussetzte, das „imprimatur“ erteilt wurde – was aber 58 59 60 61

Coyne, Faith vs. Fact, 215f. Siehe Drake, Galilei, 21; Stark, For the Glory of God, 165. Westfall, The Trial of Galileo, 1; 19. Westfall, ebda, 19.

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erst nach heftigem Widerstand des Dominikaners Filippo Anfossi geschah.62 Die Machtverhältnisse in der Kirche hatten sich geändert, so dass jene Strafe, die 1616 den Kopernikanern angedroht wurde, im Jahre 1820 nun denen angedroht wurde, die sich der Veröffentlichung kopernikanischer Bücher entgegenstellen würden – eine „Ironie der Geschichte“, wie Annibale Fantoli meint.63 Ein weiterer Schritt, zur expliziten Revision des Urteils von 1616, erfolgte gegen Ende des 20. Jahrhunderts durch den Papst Johannes Paul II, der sogar eine Kommission einsetzte, die den Fall Galilei historisch aufarbeiten und neu bewerten sollte.64 Der Papst selbst würdigte Galilei mehrfach als großen Wissenschaftler und gläubigen Menschen, und in einer Rede vor Journalisten vertrat er im Jahre 1983 jenen Standpunkt, den schon im 16. Jahrhundert der Lutheraner Rheticus wie der Katholik Foscarini in die Debatte gebracht hatten:65 Thus is it understood more clearly that divine Revelation, of which the Church is guarantor and witness, does not involve as such any scientific theory of the universe, … In einer späteren Rede, vor der Vollversammlung der päpstlichen Akademie der Wissenschaften, am 31.10. 1992, sprach der Papst wieder über den Fall Galilei: die neue Wissenschaft habe die Theologen gezwungen, „sich nach ihren Kriterien für die Deutung der Bibel zu fragen“ – „dem Großteil“ sei dies nicht gelungen.66 Daraus könnte zwar geschlossen werden, dass es einer Minderheit vielleicht doch gelungen sei, doch werden die bekanntesten Verteidiger Galileis unter den katholischen Theologen seiner Zeit, Castelli und Foscarini, wieder nur als Addressaten von Briefen Galileis bzw. Bellarmins erwähnt, nicht aber als Anhänger der „neuen Wissenschaft“ eingeführt. Dagegen wird der Kardinal Bellarmin gewürdigt, als der Theologe, „der die wirkliche Tragweite der Auseinandersetzung erkannt hatte“.67 Die Vielfalt der Stimmen, die es schon damals in der Kirche gab, kommt also auch in dieser Darstellung nicht zur Sprache, so dass sich der Eindruck ergibt, das Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Religion könne eindeutig bestimmt werden – und wenn es damals aufgrund eines Missverständnisses zum Konflikt kam, so könne das jetzt korrigiert und der „Fall Galilei“ damit endgültig abgeschlossen werden. Maurice Finocchiaro hat einzelne Diskrepanzen zwischen der Rede des Papstes und dem Bericht der Kommission aufgewiesen, und er kommt zu dem Schluss: „… the whole process was mixed because, …, there were other ecclesiastic officials who acted and spoke in a more conservative and apologetic manner, thus tending 62 63 64 65 66 67

Vgl. dazu Brandmüller, Galilei und die Kirche, 221–233. Fantoli, The Case of Galileo, 224. Siehe Fantoli, Galileo, 366–373; 484f. Zitat: Fantoli, The Case of Galileo, 235. Johannes Paul II., Ansprache vom 31.10. 1992, § 5. Vgl. dazu Fantoli, Galileo, 486f. Johannes Paul II., ebda, § 9. Vgl. dagegen das Urteil Westfalls: „To the misfortune of the Catholic Church Bellarmino failed to recognize what was happening.“ (The Trial of Galileo, 19)

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to oppose the pope’s innovative inclinations“.68 Annibale Fantoli bezweifelt, dass der Fall Galilei abgeschlossen sei, und er bemerkt kritisch, dass die modernen Experten, die den Papst in dieser Angelegenheit beraten haben, die gleiche Intention verfolgt haben wie ihre Vorgänger damals: „that of closing, indeed, the Galileo Affair, but at the same time and above all, of saving the decorum of the Church“.69 Und diese apologetische Intention bringt es eben mit sich, dass die Vielfalt der Stimmen innerhalb der Kirche, die ganz verschiedene Auffassungen vom Wesen des Glaubens zum Ausdruck bringen, wieder nicht zur Darstellung kommt. Aus der religionsgeschichtlichen Perspektive geht es aber gerade darum, diese Vielfalt wahrzunehmen, also z. B. den Karmelitermönch Foscarini, dessen Buch verboten wurde, oder den Dominikaner Campanella, der als Häretiker verfolgt wurde, ebenso ausführlich zu Wort kommen zu lassen wie den Kardinal Bellarmin: als gleichberechtigte – wenn auch nicht gleichmächtige – Gesprächspartner in der Debatte über das neue Weltbild zu Beginn des 17. Jahrhunderts.70 Wenn die Seite der Religion in dem Konflikt nicht auf eine Stimme reduziert wird, dann kann die Frage nach dem Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Religion allerdings nicht mehr eindeutig und undifferenziert beantwortet werden, sei es mit apologetischer oder mit religionskritischer Intention. Der Blick auf die Debatten über Kopernikus und Galilei hat gezeigt, dass es innerhalb derselben religiösen Tradition, und sogar innerhalb der einzelnen konfessionellen Traditionen, verschiedene Reaktionen gab, die auf unterschiedliche Auffassungen vom Wesen der (christlichen) Religion schließen lassen, von denen eine offen war für die Integration neuer naturwissenschaftlicher Theorien. Wenn gerade diese Auffassung von Religion bzw. vom Christentum vorausgesetzt wird, dann gibt es tatsächlich keinen Konflikt – so haben es nicht nur Kopernikus und Galilei selbst gesehen, sondern auch einige ihrer Zeitgenossen, wie z. B. der Karmeliter Foscarini, der sich damit allerdings nicht gegen die Konflikt-Partei durchsetzen konnte.

Galilei hatte damit eigentlich schon die NOMA-Theorie des Biologen Steven Jay Gould vorweggenommen, die besagt, dass Naturwissenschaft und Religion zwei 68 Finocchiaro, Defending Copernicus and Galileo, 298. 69 Fantoli, The Case of Galileo, 247. 70 Vgl. dazu Feldhay, Recent Narratives, 236f, der zwar Campanella und Giordano Bruno neben Galilei als alternative „Stimmen“ erwähnt, aber nicht auf deren Aussagen eingeht – Foscarini wird auch bei ihm wieder nur als Adressat des Bellarmin-Briefes erwähnt. Ebenso schon Kuhn in seiner klassischen Darstellung der Kopernikanischen Revolution (198), wie auch Schüssler (Rules of Conscience, 15–17). Anders der Theologe Alister McGrath, der nicht nur Bellarmin, sondern auch Foscarini selbst zitiert und zu Wort kommen lässt (Naturwissenschaft und Religion, 26f). Finocchiaro hat sowohl Foscarinis als auch Campanellas Positionen dargestellt (Defending Copernicus and Galileo, 76–79; 89–93). Blackwell hat schon 1991 festgestellt, dass Foscarinis Brief zu wenig beachtet wird (Foscarini’s defense, 200).

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verschiedene „Magisterien“ sind oder haben, so dass sich kein Konflikt ergibt, wenn die Akteure in den beiden Bereichen es vermeiden, die Grenze ihres Bereiches zu überschreiten. Der Biologe Gould hat sich nur am Rande mit Galilei beschäftigt und aus der Forschung die These übernommen, dass Galilei durch sein provokantes Verhalten gegenüber dem Papst für den Konflikt selbst verantwortlich war.71 So hat er nicht gesehen, dass die kirchliche Verurteilung des kopernikanischen Weltbildes bzw. Galileis genau dies war: eine Grenzüberschreitung vom Bereich der Religion in den der Naturwissenschaft, also ein Verstoß gegen das NOMA-Prinzip, wie Gould es formuliert und postuliert hat. 9.3 Debatten über die Evolutionstheorie und den Darwinismus Bertrand Russell zufolge war der Darwinismus „as severe a blow to theology as Copernicanism“.72 Aus der Sicht Russells zeigt sich also wieder der gleiche Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Religion, und wieder zitiert er „die Theologen“, die im 19. Jahrhundert gegen den Darwinismus protestiert haben, repräsentiert durch den anglikanischen Bischof Wilberforce, der 1860 gesagt habe, die Theorie Darwins – von der Entstehung der Arten durch natürliche Selektion – sei „absolutely incompatible with the word of God“.73 Es spricht für die Sorgfalt Russels im Umgang mit historischen Quellen, dass er diese Gelegenheit nicht dazu benutzt, die bekannte und immer wieder abgedruckte Geschichte von der Debatte zwischen Wilberforce, „dem Bischof “, und Thomas Henry Huxley, „dem Wissenschaftler“, einzuflechten. Andrew Dickson White, der das Bild von dem Konflikt zwischen Wissenschaft und Theologie geprägt hat, erzählt folgende Version dieser Geschichte, allerdings ohne Quellenangaben:74 Referring to the ideas of Darwin, …, he congratulated himself in a public speech that he was not descended from a monkey. The reply came from Huxley, who said in substance: „If I had to choose, I would prefer to be a descendent of a humble monkey rather than of a man who employs his knowledge and eloquence in misrepresenting those who are wearing out their lives in the search for truth.“ Eine nähere Betrachtung der Quellen zeigt, dass alle Berichte über diese Debatte, die am 30. Juni 1860 in Oxford stattgefunden haben soll, aus späterer Zeit stammen und von verschiedenen Autoren in abweichenden Versionen überliefert worden sind. Also handelt es sich wohl um ein Beispiel jener „Mythen“, die den unvermeidlichen

71 72 73 74

Siehe Gould, Rocks of Ages, 72f. Russell, Religion and Science, 75. Russell, ebda, 78. White, History of the Warfare, I, 70/71.

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Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Religion narrativ darstellen.75 Michael Ruse bemerkt vorsichtig: „In fact, the encounter was probably very different from that of popular lore.“76 Rodney Stark hält den Bericht für eine reine Fiktion, die im „Kreuzzug“ der Darwinisten gegen die Religion geschaffen wurde.77 Tatsächlich war die Reaktion von Seiten der Theologen nicht so einheitlich ablehnend, wie es jener „Mythos“ erwarten lässt, auch wenn White im Anschluss daran eine lange Reihe theologischer Darwin-Kritiker aufzählen kann. Russell wusste zumindest, dass die Evolutionstheorie im 20. Jahrhundert von vielen Theologen akzeptiert und als eine moderne Interpretation des biblischen Schöpfungsgedankens aufgefasst wurde. Aus seiner Sicht ist ein solcher Versuch der Integration aber ein Irrweg, weil Gottesglaube, wie Russell ihn versteht, und Evolutionstheorie eben unvereinbar sind.78 Dieselbe Auffassung wird in der Gegenwart von Richard Dawkins vertreten, dem bekannten Religionskritiker und Biologen, der schon durch das Buch „Der Gotteswahn“ Aufsehen erregt hatte. In einem seiner neuesten Bücher hat er es unternommen, religiöse und wissenschaftliche Erklärungen ausgewählter Naturphänomene gegenüberzustellen, um durch den Vergleich noch einmal die Überlegenheit der Naturwissenschaft darzustellen. Eines seiner Beispiele ist das Phänomen des Regenbogens: Er referiert zunächst mythische Erklärungen aus verschiedenen Religionen, darunter natürlich auch die Geschichte von Noah im Buch Genesis, um dann die Frage zu stellen: „what is a rainbow really?“79 Wie zu erwarten, kommt er dann auf Newton zu sprechen, der als Naturwissenschaftler die (einzig) richtige Erklärung gegeben habe. Der Exkurs in die Physik des Lichts führt zu der Reflexion über die Macht der Wissenschaft, die menschliche Vorstellungskraft anzuregen: „a lovely example of the magic of the real“.80 Auf diese Weise versucht Dawkins, dem Leser den Eindruck zu vermitteln, dass der Konflikt zwischen Religion und Naturwissenschaft unausweichlich ist und dass die Naturwissenschaft einen wirklichen und besseren Ersatz für die Religion bietet – ohne dass die Welt auf diese Weise entzaubert würde. Denn er betont ja immer wieder, was er im Titel des Buches „The Magic of Reality“ angedeutet hat, dass die Naturwissenschaft den „Zauber“ (magic) der Wirklichkeit nicht beseitigt, sondern erst richtig erkennbar werden lässt. Dawkins hätte hier auf die Debatte über die „Wiederverzauberung der Welt“ Bezug nehmen können, wie sie in den Kulturwissenschaften geführt wird, in kritischer Auseinandersetzung mit Max Weber, der von der „Entzauberung“ der Welt durch die Naturwissenschaft (elimination of magic) gesprochen hatte. 75 Siehe Livingstone, That Huxley defeated Wilberforce. Eine ausführliche, kritische Analyse der Quellen gibt Gould, Brontosaurus, 445–464 76 Ruse, The Evolution-Creation Struggle, 95. 77 Stark, For the Glory of God, 187–189. 78 Siehe Russell, Religion and Science, 80f. 79 Dawkins, The Magic of Reality, 149. 80 Dawkins, ebda, 158.

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Dawkins hat selbst bemerkt, dass ein Kapitel seines Buches aus dem Rahmen fällt, insofern als es nicht mit einem Referat mythischer Erklärungen beginnt: Es ist das Kapitel „what are things made of?“, und es gibt, Dawkins zufolge, eben keine Mythen über die kleinsten materiellen Bausteine, aus denen die Welt besteht. Er wertet diese Tatsache als ein weiteres Argument gegen den Offenbarungsanspruch der sogenannten Heiligen Schriften – wenn diese wirklich göttlich inspiriert wären, dann wäre es doch merkwürdig, dass sie nichts über diese wichtige naturwissenschaftliche Frage zu sagen haben.81 An dieser Stelle hätte er sich daran erinnern können, dass schon in der Debatte über das kopernikanische Weltbild die Auffassung vertreten wurde, die Bibel enthalte überhaupt keine Lehren über die Natur. Er hätte sich also die Frage stellen müssen, ob Religion und Naturwissenschaft vielleicht ganz verschiedene Funktionen haben. Die letztere Frage hätte sich deshalb nahegelegt, weil sein Kollege Stephen Jay Gould genau diese Frage immer wieder erörtert und mit einer Dawkins zuwiderlaufenden Tendenz beantwortet hatte. Gould war ebenso wie Dawkins von der Wahrheit der Evolutionstheorie überzeugt, war aber der Meinung, es gebe keinen Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Religion, weil es zwei voneinander unabhängige und gleichwertige Bereiche seien – „non-overlapping magisteria“ = NOMA. Das „magisterium“ der Naturwissenschaft (science) wird von Gould definiert als „a teaching authority dedicated to using the mental methods and observational techniques validated by success and experience as particularly well suited for describing, and attempting to explain, the factual construction of nature“. Das „magisterium“ der Religion ist zuständig für Fragen, die nicht von der Naturwissenschaft beantwortet werden können: „These questions address moral issues about the value and meaning of life, both in human form and more widely construed.“ Die Einsichten beider Magisterien, so verschieden sie in der Art ihrer Fragestellungen sind, können und sollen im Leben integriert werden, von jedem einzelnen Menschen: „to build the rich and full view of life traditionally designated as wisdom“.82 Im Rückblick auf die Konflikt-Geschichte der Neuzeit, wie sie mit dem Galilei-­ Prozess beginnt, scheint es nur auf den ersten Blick schwierig zu sein, die Möglichkeit einer Harmonie, im Sinne der NOMA-Theorie, durch Beispiele zu belegen. Ein gutes Beispiel findet sich in den Schriften von Thomas Henry Huxley, bekannt als „Darwin’s bulldog“. Huxley hat den Begriff des Agnostizismus eingeführt, um seine eigene Position zu beschreiben, in bewusstem Gegensatz zu den Vertretern der verschiedenen „ismen“, wie z. B. Theismus oder Atheismus.83 Huxley hielt den Konflikt zwischen Religion und (Natur)wissenschaft für künstlich (factitious; fabricated),84 und er sah auch keinen Gegensatz zwischen Agnostizismus und (wissenschaftli81 82 83 84

Siehe Dawkins, ebda, 95–97. Gould, Rocks of Ages, 54f; 59. Siehe Huxley, Agnosticism, 239f. Huxley, Genesis versus Nature, 160f. Vgl. dazu McGrath, Darwinism and the Divine, 33, der allerdings nicht auf Huxleys Begriff des „Agnostizismus“ eingeht.

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cher) Theologie. Unvereinbar und wirklich unversöhnlich sind, aus der Sicht Huxleys, nur Agnostizismus und „Ecclesiasticism“ oder „Clericalism“ – weil der Kleriker behaupte, es sei moralisch falsch, bestimmte Lehren nicht zu glauben.85 Die Unvereinbarkeit betrifft nicht die Ethik, die Huxley, Gould vorwegnehmend, für das Wesen der Religion hält: Er zitiert das bekannte Wort des Propheten Micha (6,8) und erklärt es zum „perfect ideal of religion“, dem nichts hinzuzufügen sei.86 Diese Konzeption der Religion, die von den Propheten des Alten Israel formuliert wurde, kann, Huxley zufolge, nicht durch die moderne Wissenschaft erschüttert werden:87 Will the progress of research prove that justice is worthless and mercy hateful; …? … and surely the prophet’s staff would have made swift acquaintance with the head of the scholar who had asked Micah whether, peradventure, the Lord further required of him an implicit belief in the accuracy of the cosmogony of Genesis! Auch als Agnostiker bekannte Huxley sich zu der alttestamentlichen Ethik, die durch Jesus bestätigt worden sei: „There is no code of legislation, ancient or modern, at once so just and so merciful, so tender to the weak and poor, as the Jewish law; …“. Und er war der Meinung, dass diese Ethik weiterhin als Grundlage der Zivilisation wirksam sein könne, „even if the creeds, from the so-called „Apostles’“ to the so-called „Athanasian“, were swept into oblivion“.88 Huxleys Kritik richtete sich also nicht gegen das Christentum – als Ethik aufgefasst –, sondern gegen die verderbliche Lehre (the pestilent doctrine), auf der, wie er annimmt, alle Kirchen insistiert haben: „that honest disbelief in their more or less astonishing creeds is a moral offence, indeed a sin of the deepest dye, deserving and involving the same future retribution as murder and robbery.“89 Im Unterschied zu Huxley hat Gould versucht, die Kirchenkritik abzuschwächen und insbesondere die katholische Kirche von dem Vorwurf freizusprechen, immer einen dogmatischen Traditionalismus vertreten zu haben und per definitionem wissenschaftsfeindlich zu sein. Diese apologetische Tendenz prägte schon seine Darstellung des Galilei-Prozesses, in der er Verständnis für die Reaktion des Papstes Urban VIII zu wecken versucht.90 Einen Ansatz und schließlich den Durchbruch zu einem Ausgleich zwischen Religion und Naturwissenschaft, im Sinne seiner NOMA-Theorie, glaubt er in den Reden zweier Päpste aus dem 20. Jahrhundert zu erkennen. Pius XII habe im Jahre 1950 noch einige Vorbehalte gegen die Evolutionstheorie geäußert, die er als eine Hypothese betrachtet habe, in der Hoffnung, dass sie sich als falsch erweisen würde. Johannes Paul II sei dann aber dar85 86 87 88 89 90

Siehe Huxley, Agnosticism and Christianity, 312f. Huxley, Genesis versus Nature, 161f; vgl. ders., Agnosticism and Christianity, 315. Huxley, Genesis versus Nature, 162. Huxley, Agnosticism and Christianity, 315f. Huxley, Agnosticism, 240f. Siehe Gould, Rocks of Ages, 70–74.

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über hinausgegangen und habe, etwa 50 Jahre später, festgestellt, dass die Evolutionstheorie jetzt als bewiesen gelten könne. Gould begrüßt diese Entwicklung in der katholischen Kirche als „good news“: „I represent the magisterium of science, but I welcome the support of a primary leader from the other major magisterium of our complex lives.“91 Tatsächlich hatte Johannes Paul II schon 1979, in einer Rede zur Würdigung Einsteins und Galileis, über die Zusammenarbeit von Religion und moderner Naturwissenschaft gesprochen, die für beide Seiten vorteilhaft sei, ohne die jeweilige Autonomie zu verletzen: „Just as religion demands religious freedom, so science rightly claims freedom of research.“92 Wenn er einerseits von der Autonomie der beiden Bereiche spricht, und andererseits von der Harmonie zwischen wissenschaftlicher und offenbarter Wahrheit, so kommt er damit der NOMA-Theorie recht nahe. Gould hätte sogar darauf verweisen können, dass in der englischen Version dieser Papstrede ebenfalls der Begriff „magisterium“ verwendet wird, in Bezug auf die Autorität der Kirche in der Auslegung der Heiligen Schrift.93 Goulds Versuch, die Vereinbarkeit von Religion und Naturwissenschaft – als existentiell zu verwirklichen – darzulegen, ist von verschiedenen Seiten kritisiert worden. Wie zu erwarten, hat Richard Dawkins die NOMA-Theorie zurückgewiesen, mit der Begründung, die Gottes-Hypothese – und das ist eben Religion aus der Sicht Dawkins’ – sei nun einmal eine Theorie über die Natur und könne deshalb nicht gegen die Kritik von seiten der Naturwissenschaft geschützt werden. Außerdem unterstellt er Gould, kein unparteiischer Agnostiker zu sein, sondern zu einem „de facto Atheismus“ zu neigen.94 Auch wenn diese Unterstellung zu Recht bestehen würde, wäre das kein Verstoß gegen das NOMA-Prinzip. Denn innerhalb des „magisteriums“ der Religion wäre ja beides als eine persönliche Entscheidung möglich, und so könnte Gould zum Atheismus neigen, ohne dass er das als eine zwingende Folge seines naturwissenschaftlichen Weltbildes betrachten müsste. Auch der Philosoph Michael Ruse hat Unverständnis und Ablehnung geäußert: es sei nur „lip service“ gegenüber dem „magisterium“ der Religion, denn Gould würde alle christlichen Glaubenssätze und implizit auch ihre Vertreter als albern und dumm verwerfen.95 Allerdings vertritt Ruse ebenso wie Gould die Tendenz, die Möglichkeit einer Harmonie aufzuzeigen. Zunächst weist er darauf hin, als eine empirische Feststellung, dass die Annahme der Evolutionstheorie nicht unbedingt zum Atheismus führt: „It is simply not the case that people take up evolution in the morning, and become atheists as an encore in the afternoon.“ Und im Hinblick auf die Begrenzt91 Gould, ebda, 79f; 82. Vgl. dagegen die kritische Betrachtung der Position des Papstes Johannes Paul II durch Wolters, Ambivalenz und Konflikt, 25–27. 92 John Paul II., Commemoration of Albert Einstein, 78. 93 John Paul II., ebda, 80. 94 Dawkins, The God Delusion, 81f. 95 Siehe Ruse, The Evolution-Creation Struggle, 274.

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heit des menschlichen Erkenntnisapparates, wie er durch die Evolution vorgegeben ist, bemerkt er, abweichend von der Folgerung, die Dawkins ziehen würde: „Perhaps therefore a little modesty or scepticism about our own nihilistic position is in order, along with a little more tolerance for those who might wish to make some­ thing more of the mystery of life.“96 Der wirkliche Konflikt besteht, Ruse zufolge, nicht zwischen Religion und Naturwissenschaft, sondern zwischen zwei Religionen, vertreten duch Evolutionisten auf der einen und Kreationisten auf der anderen Seite.97 Als Anhänger der Evolutionstheorie weist er den Anspruch der Kreationisten zurück, dass es sich bei ihrer Intelligent-Design-Theorie um eine konkurrierende, echte wissenschaftliche Theorie handelt. Darin stimmt er mit Dawkins überein. Er sieht aber einen Unterschied zwischen der Evolutionsbiologie als echter Naturwissenschaft und Evolutionismus als einer Religion – „secular or otherwise“.98 Dawkins hat auch diesen Versuch abgelehnt, Harmonie zu stiften. Er lehnt es ab, den Konflikt auf die Auseinandersetzung mit einer speziellen Art des (fundamentalistischen) Christentums zu beschränken, also auf einen Konflikt mit dem Kreationismus und der Intelligent Design-Theorie. Er deutet an, dass es sich dabei um ein taktisches Manöver handelt, das im politischen Kontext der USA verständlich sei: Da es einen starken und gut organisierten Widerstand gegen die Evolutionstheorie gibt, erscheint es sinnvoll, eine Allianz mit dem nicht-fundamentalistischen Christentum einzugehen. Dawkins ist aber nicht bereit, sich dieser Taktik anzuschließen.99 Auch der Philosoph John Dupre hat beide Harmonisierungsversuche, von Gould wie von Ruse, zurückgewiesen, und er hat ebenfalls auf den politischen Kontext hingewiesen – dass es in den USA „höchst angebracht erscheint, die Gefahr potentieller Konflikte zwischen Wissenschaft und Religion zu minimieren“.100 Ebenso wie Dawkins sieht Dupre das Wesen der Religion und des Christentums im Glauben an die Existenz Gottes, und durch den „Aufstieg der Evolutionstheorie, den Darwin in Gang gesetzt hat“, gebe es „nun keinen guten Grund mehr, an Gott zu glauben“.101 Deshalb würden die Christen, und nicht nur die Fundamentalisten unter ihnen, „zu Recht versuchen, den Darwinismus zu schwächen“.102 Dupre deutet an, dass es „extrem liberale Spielarten des Christentums“ gibt und erwähnt auch, dass Gould beeindruckende „Autoritäten“ als Beipiele für die NOMA-Position anführt, doch geht er nicht näher auf solche, aus seiner Sicht randständige, Versionen des Christentums ein. Dasselbe gilt für das neueste Buch des Biologen Jerry Coyne, der Gould vorwirft, Religion in eine humanistische Philo-

96 Ruse, ebda, 283f. 97 Siehe Ruse, ebda, 287. 98 Ruse, ebda, 278. 99 Siehe Dawkins, The God Delusion, 91f. 100 Dupre, Darwins Vermächtnis, 63. 101 Dupre, ebda, 50; 55. 102 Dupre, ebda, 64.

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sophie aufzulösen und eine Auffassung vom Christentum zu vertreten, in der die Mehrheit der Christen sich nicht wiederfinden würde.103 Eine Darstellung des Konfliktes zwischen Naturwissenschaft und Religion ist aber unvollständig und eventuell ganz irreführend, wenn nicht die ganze Breite und Vielfalt der religiösen Positionen in den Blick kommt, in diesem Fall also die verschiedenen theologischen Reaktionen auf den Aufstieg des Darwinismus im 19. Jahrhundert. Michael Ruse hat sich dieser Aufgabe gestellt und einige Stimmen aus der theologischen Debatte dargestellt, zumindest im englischen Sprachbereich.

Unter den Theologen, die Darwins Theorie spontan abgelehnt und bekämpft haben, nennt Ruse unter anderem Charles Hodge (1797–1878) vom Princeton Theological Seminary.104 Hodge sah in Darwins Evolutionstheorie einen klaren Widerspruch zum christlichen Gottes- und Schöpfungsglauben. Im Blick auf die komplizierten Organe der Tiere und Pflanzen, wie sie von Darwin beschrieben werden, stellt er die kritische Frage: „Why don’t he say they are the product of the divine intelligence? If God made them, it makes no difference, so far as the question of design is concerned, how He made them: wether at once or by a process of evolution. But instead of referring them to the purpose of God, he laboriously endeavors to prove that they may be accounted for without any design or purpose whatever.“105 Die im Titel seiner Schrift gestellte Frage „What is Darwinism?“ wird dann am Schluss klar beantwortet:106 It is Atheism. This does not mean, …, that Mr. Darwin himself and all who adopt his views are atheists; but it means that his theory is atheistic; that the exclusion of design from nature is, …, tantamount to atheism.“ Die Ablehnung bezieht sich hier also darauf, dass Darwin, so versteht der Theologe Hodge ihn jedenfalls, seine Evolutionstheorie als eine Alternative zum christlichen Schöpfungsglauben konzipiert und damit einen religionskritischen Standpunkt vertreten hat. Implizit hatte Hodge aber angedeutet, dass die Idee der Evolution als eines Prozesses mit der Idee eines göttlichen Plans hätte verbunden werden können. Diese Möglichkeit einer Integration haben andere Theologen jener Zeit wahrgenommen, wie z. B. James McCosh (1811–1894), Philosoph und Theologe, ebenfalls in Princeton. Ruse hat ihn ebenso ausführlich vorgestellt wie Hodge, so dass die Vielfalt der theologischen Reaktionen deutlich wird. 103 Coyne, Faith vs. Fact, 106–110. 104 Siehe Ruse, The Evolution-Creation Struggle, 155f. 105 Hodge, What is Darwinism?, 58. 106 Hodge, ebda, 177.

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In dem Buch über den „religiösen Aspekt der Evolution“ stellt McCosh im Vorwort fest, Darwin sei ein guter Beobachter: „… that there was great truth in the theory, and that there was nothing atheistic in it if properly understood …“.107 Er wendet sich nur gegen eine falsche Auslegung der Evolutionstheorie, die sich aus Darwins irreführender Unterscheidung zwischen „natural selection“ und „supernatural design“ ergeben kann. Diese Unterscheidung könne Verwirrung stiften und zu der verfehlten Vorstellung führen, dass Evolutionstheorie und Christentum einander ausschließen. McCosh sieht keine Schwierigkeit darin, die „natürliche Selektion“ in den christlichen Schöpfungsglauben einzuordnen:108 The supernatural power is to be recognized in the natural law. The Creator’s power is executed by creature action. The design is seen in the mechanism. … Supernatural design produces natural selection. Alister McGrath nennt noch zwei andere Beispiele eines „evolutionären Theismus“ vom Ende des 19. Jahrhunderts: Henry Ward Beecher und Benjamin B. Warfield.109 Jan Rohls weist darauf hin, dass es „nicht nur Vertreter der liberalen Broad Church“ waren, die sich zu Darwin bekannten, sondern erstaunlicher Weise „auch Repräsentanten des konservativen anglokatholischen Flügels der Staatskirche“.110 Ein Beipiel, das weder von Ruse noch von McGrath oder Rohls erwähnt wird, ist aus der Sicht der Religionswissenschaft von besonderem Interesse: John William Colenso (1814–1883), der erste anglikanische Bischof von Natal, Südafrika. Ursprünglich als Mathematiker ausgebildet, bewahrte Colenso sich sein Interesse an den Naturwissenschaften und schrieb in seiner Missionsstation ein Buch, das die Schüler mit den neuesten Forschungsergebnissen vertraut machen sollte. So referierte er die neuesten geologischen Theorien über die Entstehung der Erde, was ja impliziert, dass die Schöpfungsgeschichte der Bibel nicht wörtlich zu nehmen ist.111 Außerdem gab er einen Überblick über die Entwicklung der Astronomie, von Kopernikus über den Galilei-Prozess und die Keplerschen Planeten-Gesetze zu Newton und dem Begriff der Gravitation.112 Wie Kepler sah er in der gesetzmäßigen Ordnung der Natur das Wirken Gottes, des Schöpfers,113 und wie Galilei unterschied er zwischen dem Wort Gottes in der Bibel und dem Werk Gottes in der Natur:114

107 McCosh, Religious Aspect, VII. 108 McCosh, ebda, 7. Vgl dazu auch Rohls, Darwin und die Theologie, 114. 109 McGrath, Naturwissenschaft und Religion, 229f. 110 Rohls, Darwin und die Theologie, 111. 111 Colenso, First Lessons in Science, Part I. 112 Colenso, ebda, Part II. 113 Siehe Colenso, ebda, 194. 114 Colenso, ebda, 27/28. Vgl. ebda, 101.

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The Bible is given to teach us about Goodness and Truth, about things which concern the heart and the conscience, about God’s Love to us, and our duty to Him and to each other. It is not meant to teach us about matters of science at all. Die Ergebnisse der Naturwissenschaft betrachtete er als Offenbarungen Gottes, die auf derselben Stufe stehen wie die der Bibel.115 Hatte er in seiner Einführung in die Naturwissenschaft noch die Sonderstellung des Menschen betont, da Darwins Hauptwerk ihm noch nicht bekannt war,116 so hat er wenige Jahre später auch das aktuelle Thema der Evolution des Menschen aufgegriffen. In einer Rede über die Mission bei den Zulu, vor englischem Publikum gehalten und dann in der Social Science Review veröffentlicht, zeigte er sich keineswegs schockiert bei der Vorstellung, Darwins Theorie würde sich bestätigen:117 I repeat, then, it need not at all distress us if the further researches of science should tend to show that, in some distant age, …, man first emerged as a reasonable being – … – by some process of development, from a lower phase of animal life. Die Evolutionstheorie passte offensichtlich gut zu dem theologischen Ansatz, den Colenso in seiner Position als Missionsbischof entwickelt hatte. So ist es nicht verwunderlich, dass Darwin und sein Freund Huxley die Bibelkritik Colensos und den Häresieprozess mit Interesse verfolgt haben, wie aus Briefen von Darwin und Huxley sowie von Erasmus Darwin hevorgeht.118 Es gab sogar einen „subscription fund“ zur materiellen Unterstützung des exkommunizierten Bischofs, für den Fall, dass dieser in materielle Not geraten würde – auch Darwin soll eine Summe dazu beigetragen haben; außerdem gab es eine Petition zur Verteidigung der Rechte des Bischofs Colenso, die Darwin wohl auch unterzeichnet hat.119 Es wäre ebenfalls nicht verwunderlich, wenn Bischof Wilberforce, dem Mythos zufolge der Gegenspieler Huxleys, auch einer der schärfsten Gegner und Verfolger Colensos gewesen wäre, wie White in seiner Geschichte des „Krieges“ zwischen Naturwissenschaft und Theologie berichtet. Doch hatte Colenso, ebenso wie Darwin, nicht nur Gegner, sondern auch einzelne Anhänger unter den Theologen, die ihn verteidigten, wie White hinzufügt.120 Damit hat White korrekt die Vielfalt theologischer Positionen in der anglikanischen Kirche angedeutet, und er hat abschließend auch mit Recht festgestellt, dass Colensos Bibelkritik nicht gegen das Chris-

115 Colenso, On Missions to the Zulus, 208/209. 116 Siehe Colenso, First Lessons in Science, 191f. 117 Colenso, On Missions to the Zulus, 211. 118 Darwin an Asa Gray, 6.11.1862; Huxley an Darwin, 2.7.1863; Erasmus Darwin an Charles Darwin, 1.2.1864. 119 Siehe Browne, Charles Darwin, 251. 120 Siehe White, History of the Warfare II, 355.

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tentum gerichtet war: „Reverently and in the deepest love for Christianity he had made the unhistorical character of the Pentateuch clear as noonday.“121 Auch in der deutschen Theologie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gab es verschiedene Reaktionen auf Darwins Evolutionstheorie. Aus der Vielzahl der Positionen, die Jan Rohls dargestellt hat, ist eine von besonderem Interesse: das Buch „Naturalistische und religiöse Weltansicht“ von Rudolf Otto, der durch sein späteres Werk „Das Heilige“ (1917) die Geschichte der Religionswissenschaft im 20. Jahrhundert geprägt hat, wenn er auch seit den 70er Jahren zunehmend der Kritik verfallen ist. Auf der ersten Seite kommt Otto dem NOMA-Modell nahe, wenn er hypothetisch die Überlegung anstellt, ob es sich nicht um zwei voneinander unabhängige Bereiche handelt:122 Wir können der Naturwissenschaft geben, was der Naturwissenschaft, und dem frommen Gefühl, was ihm gebührt, und sind damit des ermüdenden apologetischen Streitens ledig. Otto verwirft diese Überlegung aber, mit der Begründung, dass es keine Frömmigkeit gebe, „ohne ein ganz schmales Credo, ohne einen Glauben, der ein Fürwahrhalten einer Reihe von Begriffen und Sätzen – … – in sich schlösse“.123 Apologetik ist aus seiner Sicht also doch sinnvoll und nötig, allerdings nicht eigentlich gegenüber der reinen Naturwissenschaft, sondern gegenüber dem Naturalismus, der sich auf ihrem Boden als eine konkurrierende Weltansicht entwickelt. Dieser „naturalistischen Weltsicht“ gegenüber müsse „Raum und Freiheit“ oder „Recht und Freiheit frommer Weltansicht“ aufgezeigt werden.124 Zur frommen Weltansicht gehört in erster Linie die teleologische Betrachtung, die in der Natur, und eben auch in der Evolution, zielgerichtete Prozesse und Werte erkennt. Zum Konflikt kommt es, Otto zufolge, erst dann, wenn der Darwinismus die teleologische Betrachtungsweise ausdrücklich ausschließt, als von der Wissenschaft widerlegt. Deshalb führt Otto eine apologetische Argumentation gegen verschiedene Versionen der „naturalistischen Weltansicht“. Er sieht aber durchaus die Möglichkeit, die naturwissenschaftlichen Theorien in die fromme Weltansicht einzuordnen: Naturwissenschaft versucht in zäher Arbeit die uns gegebenen und vorkommenden Tatsächlichkeiten unsrer Welt bis zum Dasein des Menschen einschließlich aufzufassen als Endzustände und Egebnisse eines enormen Entwicklungsprozesses, … Offenbaren sich nun unserer inneren wertenden Einsicht jene Ergebnisse dieser streng ursächlich erklärten Entwicklung als sinn- und wertvolle, …, so wird damit an der nach Ursachen erklärenden Betrachtung 121 White, ebda, 357. 122 Otto, Naturalistische und religiöse Weltansicht, 1. 123 Otto, ebda, 2. 124 Otto, ebda, 7; 32; 64.

Exkurs: Rezeption des Darwinismus im Hinduismus

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nichts geändert, aber ihre Ergebnisse rücken mit einem Schlage in ein ganz neues Licht …125 Die „streng kausale Betrachtungsweise der Naturwissenschaften“ ist, Otto zufolge, für die Frömmigkeit und ihre teleologische Betrachtung der Welt „nicht feindlich sondern sogar nötig“, weil sie die Gesetze der Schöpfung erkennen lässt. Die religiöse, teleologische Betrachtungsweise sei allerdings nicht aus der naturwissenschaftlichen ableitbar. Es liege nicht im Bereich der Naturwissenschaft, sondern im Bereich der Weltansicht – entweder der naturalistischen oder der frommen – das Ergebnis der Evolution entweder als „bloße Folge blinden Geschehens oder als beabsichtigten Zweck“ aufzufassen.126 Beide Auffassungen seien möglich, keine von beiden könne als wahr bewiesen werden. So wäre aus der Sicht Ottos „Raum und Freiheit“ für die „fromme Weltansicht“ gesichert und der Konflikt zwischen Religion und Naturwissenschaft aufgehoben. Nicht aufgehoben wäre allerdings der Konflikt zwischen Religion und Naturalismus als einer konkurrierenden Weltanschauung. Eine solche naturalistische Weltanschauung habe es schon in der Antike gegeben, z. B. im Epikureismus, und in der Moderne habe sie durch den Darwinismus neue Impulse erhalten.127 Exkurs: Rezeption des Darwinismus im Hinduismus Die Annahme erscheint naheliegend, dass die Bedingungen für eine Rezeption der Evolutionstheorie, insbesondere der Abstammungslehre, im Hinduismus günstiger waren als im Christentum oder auch im Islam: „Hindus were used to a vast time-scale, and to a view of cosmogony as a long process rather than a single creative event; they were used to treating humankind as part of the same continuum of living beings as animals and plants.“128 Tatsächlich gab es im 19. und 20. Jahrhundert etliche Ansätze, die Evolutionstheorie in hinduistische Systeme zu integrieren und den Darwinismus nur soweit zu kritisieren, als er zu einer naturalistischen Weltansicht ausgebaut worden ist. Zunächst gab es allerdings auch einzelne ablehnende Reaktionen, wie z. B. durch Dayanand Saraswati (1824–1883), den Begründer des Arya-Samaj, einer der hinduistischen Reformbewegungen im 19. Jahrhundert. Sein Biograph, Bawa C. Singh, berichtet über eine Rede, die Dayanand 1878 in Roorkee gehalten hat:129 He refused the Darwinian theory that man was descended from a monkey. He said that the thing was impossible, and brought forward unanswerable arguments in support of his contention. 125 Otto, ebda, 63. 126 Otto, ebda, 115. 127 Siehe Otto, ebda, 13. 128 Killingley, Hinduism, Darwinism and evolution, 196. 129 Singh, Life & Teachings, II, 4. Vgl. dazu Brown, Origins, 406.

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Diese kritische Stellungnahme aus Indien erinnert etwas an die Position, wie sie, der (mythischen) Geschichte zufolge, Bischof Wilberforce gegenüber Huxley vertreten hat, auch insofern als Dayanand die anderen Theorien der modernen Naturwissenschaft, wie z. B. Newtons Gravitationstheorie, akzeptiert – deren Entdeckung er allerdings den Denkern des alten Indien zuschreibt.130 Allerdings ist Dayanands Stellungnahme gegen Darwin nur in sekundären Berichten über eine seiner Reden überliefert, nicht explizit in seinen eigenen Werken. Auf jeden Fall ist, Brown zufolge, im Hinblick auf diese Rede Dayanands festzustellen: „… we see the seeds of an anti-Darwinian evolutionism based on a „Vedic“ world view that may be conveniently referred to as Modern Vedic Creationism“.131 Ganz andere Reaktionen, die mit der positiven Darwin-Rezeption in der christlichen Theologie vergleichbar sind, gab es im Brahma-Samaj, einer anderen hinduistischen Reformbewegung, die u. a. von der Theosophie beeinflusst war. Keshub Chunder Sen (1838–1884) kam 1877 auf die Evolution zu sprechen – „the great idea of the day“. Ohne auf Einzelheiten der Theorie eingehen zu wollen – dies überlasse er Leuten wie Huxley und Darwin – stellte er fest: „It cannot be denied that man is developed out of the animal, …“. Er ging dann aber gleich dazu über, die Evolutionstheorie Darwins in einen größeren Zusammenhang einzuordnen, in sein hinduistisches Weltbild:132 But while scientific men stop at the evolution of humanity, we go further and recognize a yet higher stage of development. Out of humanity is evolved divin­ ity, and till that is done our destined evolution is not completed. Aus seiner Sicht ist die Evolutionstheorie nicht nur nicht gefährlich, sondern geradezu nützlich für den Gottesglauben, wie er 1879 feststellte: I honour Huxley and Darwin, … Unconscious of what they are doing, they are only adding to the Theist’s faith knowledge, only adding to our joy wisdom.133 Den Prozess der Evolution deutete er, wie etliche christliche Theologen seiner Zeit, als kontinuierliche Schöpfung: „Creation means not a single act, but a continued process. … a ceaseless emanation of power and wisdom from the Divine Mind“. Und er glaubte, hier eine Gemeinsamkeit zwischen Hinduismus und Christentum feststellen zu können: „The Hindu, too, like the Christian, believes in the continued evolution of the Logos, …“. Außerdem hatte er in der Mythologie des Vishnuismus, wie sie in der Literatur der Puranas vorliegt, einen Ansatzpunkt gefunden,134 die 130 Singh, ebda, II, 5f. 131 Brown, Hindu Perspectives on Evolution, 125. 132 Basu, Life and Works of Brahmananda Keshav, 340/341. 133 Basu, ebda, 355/356. Vgl. dazu auch Brown, Hindu Perspectives on Evolution, 108. 134 Eventuell ist hier der Einfluss der westlichen Theosophie zu berücksichtigen: vgl. dazu Nanda, Madame Blavatsky’s Children, 308f; Brown, Origins, 407.

Exkurs: Rezeption des Darwinismus im Hinduismus

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moderne Evolutionstheorie nicht nur als kompatibel mit seiner Religion darzustellen, sondern geradezu als eine Bestätigung für die Wahrheit – und damit zugleich die Überlegenheit – des Hinduismus. In den Puranas sei von den verschiedenen Inkarnationen (Avatara) Vishnus die Rede, die in einer aufsteigenden Reihenfolge angeordnet seien – angefangen bei den niederen Lebensformen, wie dem Fisch, bis hin zum Menschen:135 Indian Avatarism is, indeed, a crude representation of the ascending scale of Divine creation. Such precisely is the modern theory of evolution. Mit dem Hinweis auf die aufsteigende Reihenfolge ist zugleich angedeutet, dass die darwinistische Evolutionstheorie im Sinne einer teleologischen Betrachtungsweise (um)gedeutet wird. Er stellt die rhetorische Frage, ob Gott „ohne Zweck“ (without a purpose) schaffen würde, und er gibt eine klare Antwort: „Surely universal redemption is the purpose of creation.“ In diesem göttlichen Plan hat er auch Christus eine Funktion zugeordnet, allerdings in einer Deutung, der wohl nur wenige christliche Theologen zustimmen würden:136 The problem of creation was not how to produce one Christ, but how to make every man Christ. Christ was only the means, not the end. He was the ‚way‘. Von der Darwin-Rezeption im Hinduismus wäre aus der Sicht der Religionswissenschaft die Position Radhakrishnans (1888–1975) von besonderem Interesse, auf die Brown nur am Rande eingeht. Radhakrishnan, Professor für östliche Religionen und Ethik in Oxford und später Staatspräsident von Indien, hat sich mit der „naturalistischen Weltansicht“ auseinandergesetzt und dieser eine „idealistische“ (an idealist view of life) entgegengesetzt, vergleichbar der „religiösen Weltansicht“ Rudolf Ottos. Wie Otto sah er kein Problem darin, Darwins Theorie im begrenzten Bereich der Biologie gelten zu lassen: „He broke down only the lines between species, between the lower and the higher forms of life.“137 Und ebenso wie Otto betrachtete er die naturalistische Weltansicht als unbefriedigend: „Even if the world is a mechanism, the questions remain, what guides the mechanism? Who set it up?“138 Eine „religiöse“ oder „idealistische“ Weltansicht erschien ihm als gut begründbar, insofern als die Gesetzmäßigkeit des kosmischen Prozesses, wie sie durch die Naturwissenschaft gezeigt wird, als Ausdruck einer Vernunft gedeutet werden kann und als ein Hinweis auf Gott: „The cosmic order and progress are explained by the hypothesis 135 Keshub Chunder Sen, That Marvellous Mystery – the Trinity, 225/226. Vgl. dazu auch Killingley, Hinduism, Darwinism and evolution, 190; Raman, Der Hinduismus und die moderne Wissenschaft, 262. 136 Keshub Chunder Sen, That Marvellous Mystery – the Trinity, 227. 137 Radhakrishnan, An Idealist View of Life, 203. 138 Radhakrishnan, ebda, 251.

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of a living God in action.“139 In seiner Auseinandersetzung mit der naturalistischen Weltansicht hatte Radhakrishnan der Religionskritik Russells besondere Aufmerksamkeit gewidmet.140 Als Religionskritiker hat Russell in Indien aber auch eine ganz andere Nachwirkung gehabt: eine positive Rezeption in verschiedenen antireligiösen Bewegungen, deren Wurzeln bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. So gilt z. B. für eine religionskritische Bewegung in Südindien („Self-Respect Movement“), dass trotz „starker Wurzeln in der eigenen tamilischen Tradition“ auch „Argumente westlicher Rationalisten und Materialisten von Voltaire bis Bertrand Russell“ übernommen wurden.141 Die Kritik des Gründers dieser Bewegung, Ramaswami Naicker „Periyar“ (1879–1973), richtete sich gegen den Hinduismus und die brahmanische Oligarchie, aber auch gegen die Gottesidee überhaupt.142 Zitate von Russell begegnen auch noch in der neueren Zeit auf dem Titelblatt der Zeitschrift „Thought and Action“, einem Organ der „Maharashtra Andhasraddha Nirmulam Samiti“ (Organisation for the Eradication of Superstition), einer der rationalistischen Organisationen im modernen Indien.143 Auf der Grundlage ethnologischer Feldforschung hat Johannes Quack die Aktivitäten dieser Organisation dargestellt. Zu diesen Aktivitäten, die der „Ausrottung des Aberglaubens“ dienen, gehören auch Überland-Fahrten mit dem „Science Van“, einem Fahrzeug, das mit einem Projektor und Generator ausgestattet ist. So kann der Science Van zur Vorführung von Filmen genutzt werden, wie z. B. des Films „The Roots of All Evil?“ von Richard Dawkins.144 Dawkins’ Religionskritik spielt in dieser Organisation auch sonst eine große Rolle: auf dem Titelblatt von „Thought and Action“ (January-March 2007) findet sich ein Zitat aus einem seiner Bücher, und auch Dawkins’ berühmte Metapher von der Religion als „virus of the mind“ wurde von einem der indischen Aktivisten zitiert.145 Das lässt darauf schließen, dass die Religionskritik dieser „rationalistischen“ Organisation vom Neo-Darwinismus geprägt ist. Tatsächlich zeigt der „Science Van“ in seinem Bildprogramm u. a. das berühmte Darwinsche Schema der Abstammungslehre: „a small monkey growing step by step into an upright walking man“.146 Im modernen Indien gibt es aber auch die entgegengesetzte Position, die den Darwinismus ablehnt und ihm eine religiöse Konzeption entgegenstellt, die dem Kreationismus und der „Intelligent Design Theorie“ im Westen entspricht: „… there are signs that Modern Vedic Evolutionism may be entering the ongoing debates over

139 Radhakrishnan, Recovery of Faith, 86/87. 140 Siehe Radhakrishnan, An Idealist View of Life, 40–47. 141 Klimkeit, Antireligiöse Bewegungen in Südindien, 69. 142 Vgl. dazu Klimkeit, ebda, 104–110; Quack, Disenchanting India, 80–83. 143 Siehe Quack, ebda, 161. 144 Siehe Quack, ebda, 109f. 145 Siehe Quack, ebda, 160; 210f. 146 Quack, ebda, 111/112.

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Darwinian evolution on the side of Intelligent Design Creationism.“147 Das gilt für die Anhänger und Schüler von Swami Bhaktivedanta Prabhupada (1896–1977), des Gründers der International Society for Krishna Consciousness – „well known for his opinion on Darwin as a rascal and that Darwin and other evolutionists were monkeys in their former lives“.148 9.4 Zusammenfassung und Ausblick Der Blick auf die beiden bekanntesten Konflikte zwischen Naturwissenschaft und Religion – die Debatten über das Kopernikanische Weltbild und über Darwins Evolutionstheorie – hat gezeigt, dass die Frage, ob Religion und Naturwissenschaft vereinbar sind, nicht mit einem Ja oder Nein beantwortet werden kann. Die Vertreter beider Auffassungen – wie z. B. Gould auf der einen und z. B. Dawkins auf der anderen Seite – könnten jeweils auf historische Beipiele verweisen, die ihre Auffassung bestätigen. In beiden Fällen, im 16./17. wie im 19./20. Jahrhundert, gab es unter den Theologen, welcher Konfession auch immer, ganz verschiedene Reaktionen: Im 16./17. Jahrhundert gab es auf der einen Seite die Ablehnung der neuen naturwissenschaftlichen Theorie, des Kopernikanischen Weltbildes durch die Reformatoren und später die Verurteilung Galileis durch die katholische Kirche; auf der anderen Seite gab es aber auch eine spontane Zustimmung, wie z. B. durch den Lutheraner Rheticus und später durch den Karmeliter-Pater Foscarini, die das Kopernikanische Weltbild offensichtlich ohne Probleme in ihr Verständnis des Christentums einordnen konnten; und es gab sogar die Auffassung, dass jede Beschränkung der Forschungsfreiheit unvereinbar sei mit dem Wesen des Christentums – so die Verteidigung Galileis durch den Dominikaner T. Campanella. Ebenso hat die Evolutionstheorie Darwins im 19. Jahrhundert zunächst zwar auch Widerspruch hervorgerufen, wie z. B. in der Konfrontation zwischen Wilberforce, dem anglikanischen Bischof, und Huxley, dem Anhänger Darwins – ein Beispiel des Konfliktes, das allerdings historisch schlecht bezeugt ist. Zugleich hat aber ein anderer Bischof derselben Kirche, der „Häretiker“ J.W. Colenso, kein Problem darin gesehen, die neue naturwissenschaftliche Theorie in sein Verständnis des Christentums einzuordnen. Auch unter den Vertretern des Neo-Hinduismus in Indien hat es vergleichbare positive Reaktionen gegeben, neben vereinzelten Beispielen der Ablehnung. Ein Konflikt mit der Naturwissenschaft kann sich überhaupt nur dann ergeben, wenn vorausgesetzt wird, dass Religion ein System von Hypothesen ist oder zumindest Hypothesen enthält, die ihrerseits (wissenschaftliche) Aussagen über die Natur machen. Letzteres ist aber nicht immer der Fall, wie sich in der Debatte über das Kopernikanische Weltbild gezeigt hat, wenn Rheticus und später Galilei selbst dar147 Nanda, Madame Blavatsky’s Children, 341. 148 Brown, Origins, 409.

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auf bestanden haben, dass die Bibel keine naturwissenschaftlichen Aussagen enthält, so dass sich ein Konflikt eigentlich nicht ergeben kann. Darüber hinaus kann sogar bestritten werden, dass es sich bei religiösen Aussagen überhaupt um Hypothesen handelt, eine Auffassung, die in der analytischen Religionsphilosophie diskutiert worden ist. Richard Braithwaite hatte in den 50er Jahren die „Ansicht eines Empiristen“ dargestellt und den christlichen Glauben aus dieser Sicht als Entscheidung für eine „agapeistische“ Lebensform gedeutet, deren spezifisch christlicher Charakter (nur) darin liege, dass sie mit spezifisch christlichen Geschichten (stories) verbunden sei.149 In der gleichen Richtung, wenn auch etwas anders akzentuiert, ging die Argumentation von Dewi Z. Phillips, der sich an dem Philosophen Ludwig Wittgenstein orientierte. Dieser hatte in Vorlesungen, die allerdings nur durch Mitschriften überliefert sind, darüber reflektiert, dass Debatten über religiöse Aussagen ganz anderer Art zu sein scheinen als „normale“ Debatten über empirisch entscheidbare Fragen. Wenn er gefragt würde, ob er „an das Jüngste Gericht glaube oder nicht, in dem Sinne, in dem religiöse Menschen daran glauben“, dann würde er nicht sagen „Nein, ich glaube nicht, daß es so etwas geben wird“; es würde ihm „ganz verrückt vorkommen, das zu sagen“.150 Im „religiösen Gespräch“ würden zwar Ausdrücke gebraucht wie „Ich glaube, daß das und das geschehen wird“, doch würden sie „dabei auf eine andere Weise als in der Wissenschaft“ gebraucht.151 Mit Berufung auf die Briefe des Apostels Paulus wendet Wittgenstein sich gegen die Versuche, den Glauben zu einer Frage der Wissenschaft zu machen, und deutet ihn schließlich als eine Lebensform:152 Warum sollte nicht eine Lebensform in einer Äußerung des Glaubens an das Jüngste Gericht kulminieren? Aber ich könnte auf die Behauptung, daß es so etwas geben wird, weder mit „Ja“ noch mit „Nein“ antworten. Auch nicht mit „Vielleicht“ oder „Ich bin nicht so sicher“. Im Anschluss an diese Überlegungen Wittgensteins hat Phillips die Frage erörtert, ob Glaubensansichten immer Hypothesen sein müssen, und er hat diese Frage entschieden verneint:153

149 Siehe oben S. 126f. Ebenfalls in den 50er Jahren hatte Ian T. Ramsey eine Theorie entwickelt, die den besonderen, eigenartigen Charakter der religiösen Sprache betont („logically odd“) und sie damit von der Sprache der Wissenschaft unterscheidet (Religious Language, 37f). In den 60er Jahren hat er dann zu zeigen versucht, dass trotz der Unterschiede in der Logik theologischer und wissenschaftlicher Diskurse eine Synthese von Religion und Naturwissenschaft möglich ist (Religion and Science, XIIf). 150 Wittgenstein, Vorlesungen über den religiösen Glauben, 90. 151 Wittgenstein, ebda, 92. 152 Wittgenstein, ebda, 94. 153 Phillips, Religiöse Glaubensansichten und Sprachspiele, 268.

Zusammenfassung und Ausblick

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Glaubensansichten wie etwa der Glaube an das Jüngste Gericht sind keine überprüfbaren Hypothesen, sondern stellen für Gläubige, …, absolute Werte dar. … Diese Glaubensansichten als Hypothesen aufzufassen, die wahr sein können oder nicht, heißt ihren Charakter zu verfälschen. Demgegenüber beruht die These des Evolutionsbiologen Jerry Coyne, Wissenschaft und Religion seien „incompatible“, gerade auf der Voraussetzung, dass Religionen explizite Aussagen über die Wirklichkeit machen, die wahr oder falsch sein können – „explicit claims about reality – about what exists and happens in the universe. … These are empirical claims, …“; „It does not seem misguided to me, or an insult to believers, to regard God and much religious dogma as hypotheses.“154 Auch wenn die Auffassung, religiöse Glaubensansichten seien keine Hypothesen, als eine Extrem-Position abgelehnt würde, wäre immer noch zu überlegen, dass es sich um eine andere Art von Hypothesen handeln könnte, welche die Erkenntnisse der Naturwissenschaft – der Bischof Colenso sprach sogar von ihren „Offenbarungen“ – in ein anderes Bezugssystem einordnen, so dass sie plötzlich „in einem anderen Licht“ erscheinen, wie Rudolf Otto es formulierte. Rudolf Otto hatte ja schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Auffassung vertreten, die religiöse Weltansicht sei nicht gegen die Naturwissenschaft zu verteidigen, sondern nur gegen eine naturalistische Weltansicht, die ihrerseits über die Grenzen der Naturwissenschaft hinausgeht. Ohne an Rudolf Otto anzuknüpfen, hat der Philosoph Alvin Plantinga zu Beginn des 21. Jahrhunderts denselben Standpunkt in einer öffentlichen Debatte gegenüber dem Philosophen Daniel Dennett vertreten, einem bekannten Religionskritiker, der den „Neuen Atheisten“, wie z. B. Richard Dawkins, nahesteht. Plantinga geht davon aus, dass die darwinistische Evolutionstheorie als solche mit dem Gottesglauben vereinbar ist, dass der Widerspruch zu dem christlichen Glauben erst dann entsteht, wenn behauptet wird, „that no personal agent, not even God, has guided, planned, intended, directed, orchestrated, or shaped this whole process“ –, eine Behauptung, die, wie er meint, von der Evolutionstheorie nicht notwendig impliziert wird.155 Wie Otto unterscheidet er also zwischen der naturwissenschaftlichen Theorie und der „naturalistischen“ Deutung, die darüber hinausgeht. Anders als Otto versucht er aber nachzuweisen, dass die Evolution eigentlich nur im Rahmen des Theismus erklärt werden kann, während der Naturalismus in dieser Hinsicht gerade versagt.156 Dennett gibt zu, dass Theismus und Evolutionstheorie vereinbar sind, versucht aber, diese religiöse Weltansicht lächerlich zu machen, indem er darauf hinweist, dass die Evolutionstheorie ebenso gut mit science-fiction Phantasien vereinbar sei, wie z. B. mit dem Glauben an „Superman“ als Schöpfer der Welt.157 Plantinga muss den Vergleich von Gott und Superman natürlich ablehnen und als albern zurück154 Coyne, Faith vs. Fact, 23; 25. 155 Dennett/Pantinga, Science and Religion, 4. 156 Siehe Dennett/Plantinga, ebda, 6f; 16–21. 157 Siehe Dennett/Plantinga, ebda, 27–29.

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weisen, während Dennett in seiner Erwiderung auf der Vergleichbarkeit besteht.158 Vielleicht hätte die Debatte nicht diese polemische Schärfe angenommen, wenn Plantinga sich wie Rudolf Otto damit begnügt hätte, die religiöse Weltansicht nur als möglich und vertretbar zu behaupten, also zwischen Wissen und Glauben zu unterscheiden; doch geht er im letzten Redegang so weit, den Naturalismus als „intellectually bancrupt“ zu bezeichnen, so dass er Dennett zum Widerspruch herausfordert, der, ohne selbst polemisch zu werden, feststellt: „… we cannot yet prove that there are not miracles along the way, but the burden of proof lies on the other side“.159 Jede Debatte über die (Un)Vereinbarkeit von Religion und Naturwissenschaft müsste zunächst einmal den historischen Befund zur Kenntnis nehmen, dass jene Rationalität, wie Coyne sie nur der Wissenschaft zuerkennen will, durchaus eine Verbindung mit Religiosität eingehen kann, und zwar nicht nur mit einer nicht-theistischen, wie z. B. in Einsteins „kosmischer Religiosität“,160 sondern auch mit einer theistischen Religiosität, wie sie im 17. Jahrhundert von Johannes Kepler vertreten wurde, der seine astronomische Arbeit als Gottesdienst verstand,161 im 20. Jahrhundert vielleicht von Max Planck.162

Es ist bezeichnend, dass Coyne und Dawkins den Namen Keplers zwar erwähnen – Dawkins würdigt ihn mehrfach ausdrücklich als großen Naturwissenschaftler –, aber kein Wort über seine Frömmigkeit verlieren.163 Coyne ist ja auch der Meinung, dass es einen direkten Zusammenhang gibt zwischen Naturwissenschaft und Verlust der Religion – „the better the scientist, the greater the likelyhood of atheism“ –,164 eine Meinung, der Rodney Stark widersprechen würde: Dieser kam auf Grund empirischer Untersuchungen zu dem Urteil, „that a very substantial share of faculty engaged in doing science – intelligent and highly educated people, well socialized into that sphere of modern rationality that has been expected to sweep religion away – are quite comfortable with religious faiths.“165 Coyne könnte Kepler nur als jene „Ausnahme“ gelten lassen, die „die Regel bestätigt“, während Stark ihn – und daneben 158 Siehe Dennett/Plantinga, ebda, 41; 46; 58. 159 Dennett/Plantinga, ebda, 71; 75. 160 Die Frage nach der Religiosität Einsteins wird mit den notwendigen begrifflichen Differenzierungen erörtert von Löhr, Albert Einstein. 161 Siehe Keplers Brief vom 26. März 1598 (Werke XIII, Nr. 91, Z. 182f: “… cum Astronomj, sacerdotes dej altissimj ex parte librj naturae simus: decere non ingenij laudem, sed Creatoris praecipue gloriam spectare.“); vgl. dazu Hübner, Kepler als theologischer Denker, 41–44. 162 Zur Religiosität Plancks vgl. Löhr, Max Planck – ein Gegner des Christentums?; Fischer, Verzauberung, 273–275. 163 Siehe Coyne, Faith vs. Fact, 215; Dawkins, The Magic of Reality, 113; 134. 164 Coyne, Faith vs. Fact, 12. 165 Stark/Finke, Acts of Faith, 55. McGrath (Naturwissenschaft und Religion, 245–267) nennt Beispiele aus dem 20. Jahrhundert, darunter auch den Jesuiten Pierre Teilhard de Chardin; letzteren würdigt auch der Biologe Theodosius Dobzhansky, der im Titel seines Buches (The Biology of Ultima-

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auch Newton – natürlich als Paradebeispiel eines „gläubigen“ Naturwissenschaftlers anführen kann und damit als Beleg für seine These, dass Naturwissenschaft und Religion sehr wohl miteinander vereinbar seien.166 Wieder ein anderes Modell der Vereinbarkeit zeigt sich im Werk Galileis, der sich im Unterschied zu Kepler und Newton nur soweit mit theologischen Fragen beschäftigt hat, als es ihm notwendig erschien für den Nachweis, dass die Bibel keine naturwissenschaftlichen Aussagen enthält, so dass es – unter dieser Voraussetzung – keinen Konflikt geben kann. Die Unvereinbarkeit, die z. B. von Coyne und Dawkins immer wieder betont wird, beschränkt sich dann auf den Fall, dass diese Voraussetzung bestritten wird, wie z. B. durch die Anhänger des „Kreationismus“, die an einer wörtlichen Auslegung der biblischen Schöpfungsgeschichte festhalten. Im 20. Jahrhundert hat diese Gruppierung in Amerika immer wieder Versuche unternommen, die Evolutionstheorie aus dem Schulunterricht zu verdrängen und durch die christliche Schöpfungslehre zu ersetzen, oder zumindest eine gleich­ gewichtige Behandlung zweier verschiedener Theorien – Evolution und „Creation science“ – durchzusetzen. Auf juristischer Ebene sind diese Versuche gescheitert, und doch meinte Gould, der als Gutachter im letzten Prozess 1987 beteiligt war, feststellen zu müssen, dass die Kreationisten nicht aufgeben werden: „… creationists can no longer hope to realize their aims by official legislation. But these well-­ funded and committed zealots will not therefore surrender.“167 Gould war allerdings der Meinung, es handele sich um ein rein amerikanisches Phänomen, eine Annahme, die sich anscheinend nicht bestätigt hat – sie wird unter den modernen „Mythen“ zum Thema „Science and Religion“ aufgeführt.168 So zeigt sich z. B. in der modernen Türkei die Entwickung eines „islamischen Kreationismus“, der in den 80er Jahren auch Eingang in die Schulbücher fand.169 Und auch in anderen Teilen der Welt, wie z. B. in Australien, hat es in den letzten Jahrzehnten Debatten um die Evolutionstheorie und verstärkte Aktivitäten der Kreationisten gegeben; in den 80er Jahren gab es in Queensland auf politischer Ebene auch die Forderung, im Unterricht „equal time“ für beide Theorien anzusetzen, Evolution und Kreation.170 Wie und wo auch immer der Konflikt zwischen Evolutionisten und Kreationisten weiterlebt oder auflebt, es bleibt noch die Frage, ob deshalb von einem Konflikt zwischen „Science“ und „Religion“ zu sprechen ist. Gould glaubte, diese Frage verneinen zu können, mit der Begründung, die Kreationisten repräsentierten nur eine te Concern) unverkennbar auf den evangelischen Theologen Paul Tillich Bezug nimmt (113–137). Weitere Beispiele finden sich in den Sammelbänden von Ted Peters, hier u. a. der Beitrag von V.V. Raman, sowie von Michael Welker, hier u. a. der Beitrag von M.A. Nowak. 166 Siehe Stark, For the Glory of God, 157. 167 Gould, Rocks of Ages, 147. 168 Siehe Gould, ebda,132f; dagegen Numbers, The Creationists, 399–431: „Creationism Goes Global“. 169 Siehe Riexinger, Islamic Opposition, 494–496; ders., Turkey. 170 Siehe Numbers, Creationists and Their Critics in Australia, 119.

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marginale Randgruppe und könnten deshalb nicht beanspruchen, das „magisterium“ der Religion zu vertreten. Der „Feind“, den es zu bekämpfen gilt, ist aus der Sicht Goulds nicht die Religion, sondern „dogmatism and intolerance, a tradition as old as humankind“.171 Wie immer seine Bewertung der Konfliktparteien beurteilt wird, aus der Sicht der Religionsgeschichte ist Goulds These der Vereinbarkeit von Religion und Wissenschaft – seine NOMA-Theorie – zu relativieren: Er verwendet ja einen normativen Religionsbegriff, wenn er den Kreationismus nicht als Religion anerkennt, weil es sich um eine nichtrepräsentative Mindermeinung handele. Das gilt umgekehrt auch für die religionskritischen Gegner der NOMA-Theorie, wie Dawkins und Coyne, die gerade den Fundamentalismus oder Aberglauben in den Mittelpunkt rücken und deshalb die Unvereinbarkeit von Religion und Wissenschaft behaupten.172 Gegenüber diesen konträren Thesen zur (Un)Vereinbarkeit ist wieder festzuhalten, dass religiöse Traditionen in vielfältiger und widersprüchlicher Weise ausgelegt werden. Das gilt auch und gerade für die Gottesvorstellungen: Auf der einen Seite kann der Gottesglaube durch die Erkenntnis der Naturgesetze als bedroht erscheinen, wie es bei einigen Gegnern Galileis und Darwins wohl der Fall war; auf der anderen Seite kann der Gottesglaube aber gerade durch die Erkenntnis der Naturgesetze als bestärkt erscheinen, wie z. B. im Falle Keplers. Ein eindeutiges Urteil über die (Un)Vereinbarkeit ist dshalb nicht möglich, eben weil es unterschiedliche Gottesvorstellungen gibt. Der Religionskritiker Coyne hat sich schließlich noch dem „auch-du“ Argument gestellt: dem kritischen Einwand, dass die Naturwissenschaft doch ebenso wie die Religion unheilvolle Auswirkungen gehabt habe. Er glaubt, dieses Argument in Bezug auf die Wissenschaft zurückweisen zu können: „The compelling force that produced nuclear weapons, gunpowder, and eugenics was not science but people: the scientists who decide …“.173 Es ist zweifellos korrekt, diese Unterscheidung zu machen: Akteure in der Geschichte sind ja nicht abstrakte Entitäten wie „die“ Wissenschaft, sondern Menschen, die, in diversen Institutionen und Funktionen tätig, eine Entscheidung treffen zur Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse ihrer Disziplin. Die Frage ist nur, ob dies nicht genauso für die Religion gilt. Coyne glaubt, diese Frage verneinen zu können: „… unlike science, faith itself can corrupt decent people, leading directly to bad behaviour.“174 Dabei übersieht er aber den entscheidenden Vergleichspunkt, der das „auch-du“ Argument berechtigt erscheinen lässt. Denn es gilt auch für die Religion: Akteure in der Geschichte sind nicht abstrakte Entitäten wie „die“ Religion oder „der“ Glaube, sondern Menschen, die, in diversen Institutionen und Funktionen tätig, eine Entscheidung treffen zur Auslegung der religiösen Glaubenssätze ihrer Tradition. Dass die Auslegungen der betreffenden Religion in ganz verschiedene Richtungen gehen 171 Gould, Rocks of Ages, 129; 148f. 172 Siehe z. B. Dawkins, The God Delusion, 92; Coyne, Faith vs. Fact, 75f. 173 Coyne, ebda, 218. 174 Coyne, ebda, 219.

Literatur

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und zu ganz verschiedenen Anwendungen führen können, hat sich gerade im Blick auf das Thema „Religion und Naturwissenschaft“ gezeigt, ebenso aber auch im Blick auf alle anderen ausgewählten Themen des aktuellen Religionsdiskurses. Literatur Quellen Aurelius Augustinus: Über den Wortlaut der Genesis. De Genesi ad Litteram Libri Duodecim. Der große Genesiskommentar in zwölf Büchern. Zum erstenmal in deutscher Sprache von Carl Johann Perl. I. Band Buch I bis VI, Paderborn 1961. Bertolt Brecht: Leben des Galilei, Berlin 1955 (1938/39). Bertolt Brecht: Materialien zu Brechts ‚Leben des Galilei‘. Zusammengestellt von Werner Hecht, Frankfurt a. M. 1963. Dayanand Saraswati: Singh, Bawa C.: Life & Teachings of Swami Dayanand Saraswati, 2. Ed. New Delhi 1971. Diego de Zuniga of Salamanca (Didacus a Stunica Salamanticensis), Commentary on Job (Toledo 1584, pages 205 ff). On Job 9:6, in: Richard J. Blackwell: Galileo, Bellarmine, and the Bible, University of Notre Dame Press 1991, 185–186. Galileo Galilei: Selected Writings. Translated by William R. Shea and Mark Davie. With an Introduction by William R. Shea, Oxford 2012. Galileo Galilei: Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme. Das ptolemä­ische und das kopernikanische. Aus dem Italienischen übersetzt und erläutert von Emil Strauss. Mit einem Beitrag von Albert Einstein … Herausgegeben von Roman Sexl und Karl von Meyenn, Darmstadt 1982. Galileo Galilei: Schriften. Briefe. Dokumente. Herausgegeben von Anna Mudry. Band 1: Schriften. Band 2: Briefe. Dokumente, München 1987. Galileo Galilei: Le Opere Di Galileo Galilei Volume XIX. Firenze. G. Barbera – Editore 1968. Georg Joachim Rheticus: Deutsche Übersetzung von De terrae motu, in: Receptio Copernicana. Texte zur Aufnahme der copernicanischen Theorie. Kommentare und deutsche Übersetzungen, bearbeitet von Stefan Kirschner et al., Berlin u. a. 2015 (Nicolaus Copernicus Gesamtausgabe Band VIII/2), 75–90. G. J. Rheticus: Hooykaas, R.: G.J. Rheticus’ Treatise on Holy Scripture and the Motion of the Earth with translation, annotations, commentary and additional chapters on Ramus-­ Rheticus and the development of the problem before 1650, Amsterdam u. a. 1984, 43–101. Giordano Bruno: Das Aschermittwochsmahl. Übersetzt von Ferdinand Fellmann. Mit einer Einleitung von Hans Blumenberg, Frankfurt a. M. 1981. Johannes Calvin: Commentaries on the Book of Joshua by John Calvin. Translated from the Original Latin, and Collated with the French Edition, by Henry Beveridge, Grand Rapids 1949. Johannes Calvin: Ioannis Calvini Commentarius in librum Iosue, in: Ioannis Calvini opera exegetica et homiletica. Ediderunt Eduardus Cunitz et al., Vol. III (Corpus Reformatorum. Vol. 53/54. 1882/83. Reprint 1990). Ioannis Calvini opera quae supersunt omnia. Volumen XXV), Brunsvigae 1882, Sp.429–570.

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Religion und Naturwissenschaft

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10 Zusammenfassung und Ausblick

Aus den historischen Betrachtungen zu den ausgewählten Themen ergibt sich der Eindruck einer extremen Diversität und Widersprüchlichkeit: Auch in einer einzigen religiösen Tradition, wie z. B. der christlichen, gibt es einander konträr widersprechende Antworten auf jene Fragen, die von allgemeinem Interesse sind, wie z. B. die Frage nach der Legitimität von Gewalt gegen Dissidenten oder Andersgläubige. Und diese Diversität und Widersprüchlichkeit, so hat sich gezeigt, erklärt sich nicht aus der Spaltung in verschiedene Konfessionen, sondern aus der Divergenz individueller Auslegungen ein und derselben Tradition oder auch Konfession. So wurde z. B. die Frage, ob Ketzer zu töten seien, in der reformierten Kirche der Frühen Neuzeit ebenso verschieden beantwortet wie in der katholischen Kirche des Mittelalters. Diese religiösen Diskurse sind aber nicht in ihrer ganzen Vielfalt und Widersprüchlichkeit in Erinnerung geblieben, da sich immer wieder Dominanzverhältnisse herausgebildet haben, die als Ergebnis von Kanonisierungsprozessen beschrieben werden können. So ist z. B. Thomas von Aquin, der die Tötung von Häretikern befürwortete, als Heiliger und Kirchenlehrer allgemein bekannt;1 weitgehend unbekannt ist dagegen Marsilius von Padua, der den Amtsträgern der Kirche jedes Recht auf Zwangsmaßnahmen bestritt und der dem weltlichen Herrscher die Freiheit zugestand, Häresien in seinem Machtbereich zu tolerieren.2 Und ebenso ist z. B. Johannes Calvin, der in diesem Punkt die gleiche Auffassung wie Thomas von Aquin vertreten hat, als ein großer Reformator allgemein bekannt; weitgehend unbekannt ist dagegen Sebastian Castellio, der Calvin widersprochen und dieselbe Auffassung wie Marsilius von Padua vertreten hat – dass die Kirche das Urteil über die Häresien dem Jüngsten Gericht, also Christus, überlassen müsse und deshalb keinesfalls Gewalt gegenüber Häretikern ausüben dürfe.3 Im Hinblick auf diese Asymmetrie der Bekanntheitsgrade, bedingt durch Prozesse und Strategien der Kanonisierung bzw. Marginalisierung, erscheint es nicht verwunderlich, dass Religionskritiker, wie z. B. Richard Dawkins, davon überzeugt sind, die Religion, insbesondere der monotheistische Gottesglaube, sei die Ursache für Intoleranz und andere „Übel“.4 Wer die alternativen Positionen nicht kennt, die innerhalb des abendländischen Christentums vertreten worden sind, muss fast zwangsläufig zu der Auffassung kommen, der Toleranzgedanke sei eine Errungenschaft der Aufklärung und des Atheismus. Wie die historischen Betrachtungen 1 2 3

4

Siehe oben S. 265–267. Siehe oben S. 270–272. Siehe oben S. 276–281. So hat z. B. der Biologe D.S. Wilson die Kontroverse Calvin-Castellio nicht erwähnt, obwohl er auf den Fall Servet eingeht (Darwin’s Cathedral, 111–115). Diese Kontroverse wäre ein Ansatzpunkt für die kritische Auseinandersetzung mit Wilsons Beschreibung religiöser Gruppen als „Organismen“. Siehe oben S. 24f. Vgl. dazu Berner, Der Neue Atheismus, 380–382.

Zusammenfassung und Ausblick

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gezeigt haben, kann die Disposition zur Toleranz aber im Rahmen des Theismus wie des Atheismus auftreten, ist also unabhängig von dem weltanschaulichen Rahmen. Und dasselbe gilt, so hat sich gezeigt, für die Disposition zur Intoleranz und sogar für die härteste Version der Intoleranz, die Inquisition – auch diese kann im Rahmen des Atheismus wie des Theismus auftreten.5 Wie groß die Unterschiede in der individuellen Auslegung einer religiösen Tradition sein können, auch innerhalb derselben konfessionellen Ausprägung, zeigt sich besonders deutlich im Blick auf den Hexen-Diskurs in der Frühen Neuzeit. So haben z. B. der Gott des „Hexenhammers“, also des Dominikaners Heinrich Institoris, ebenso wie der Gott des Jesuiten Delrio, nichts als den Namen gemeinsam mit dem Gott der „Cautio criminalis“, also des Jesuiten Friedrich von Spee: Der Gott der beiden erstgenannten ist rachsüchtig und verlangt von seinen Anhängern mitleidlose Verfolgung und Bestrafung der „Hexen“;6 der Gott des letzteren ist barmherzig und erwartet von seinen Anhängern mitleidvolle Belehrung statt Bestrafung der „Hexen“.7 Und dasselbe gilt für eine Debatte auf der protestantischen Seite, zwischen Johann Weyer und Johannes Brenz. Ihre Positionen unterscheiden sich – anders als im Falle von Institoris und Spee – nicht einmal im Weltbild, sondern nur in der Vorstellung von Gott: Der Gott Weyers will heilen, der Gott Brenzens will strafen.8 Wenn Kritiker des Hexenglaubens wie Hermann Witekind und Anton Praetorius die Verbrennung der Hexen als „Teufels Brandopffer“ oder „Menschenopffer“ bezeichneten,9 so haben sie damit ihren Widerspruch gegen den Gottesglauben der christlichen Hexenverfolger sehr anschaulich zum Ausdruck gebracht: Sie distanzierten sich mit dieser polemischen Metapher von dem Gottesglauben jener Theologen, die überzeugt waren, auf diese Weise die Ehre Gottes zu „befördern“ – genau mit diesem Argument hatte z. B. der „Hexenbischof “ von Bamberg sein mitleidloses Vorgehen gegen die Hexen begründet.10 Ebenso anschaulich hat Castellio den Unterschied zwischen den Gottes­ vorstellungen beschrieben, wenn er, im Widerspruch zu Calvin, den Gott der christlichen Ketzerverfolger als einen „Moloch“ bezeichnete, also als einen Gott, der Menschenopfer verlangt. Er wollte damit seine Auffassung zum Ausdruck bringen, dass der Gottesglaube der Ketzerverfolger nicht christlich ist, sondern ein Rückfall ins Heidentum. Calvin hat sich von dieser Kritik natürlich nicht getroffen gefühlt; er konnte in der Auffassung Castellios nur einen Mangel an Glaubenseifer sehen, aus seiner Sicht also einen Verrat am Wesen des Christentums, eben das, was Castellio ihm vorgeworfen hatte.11 5 6 7 8 9 10 11

Siehe oben S. 304f. Siehe oben S. 363f; 375. Siehe oben S. 375–377. Siehe oben S. 367f. Siehe oben S. 370; 372. Siehe oben S. 376f. Siehe oben S. 280.

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Zusammenfassung und Ausblick

Aus dem Blick auf diese historischen Beispiele ergibt sich für die Religionswissenschaft die Konsequenz, ganz auf die Vorstellung und die Rede von dem Wesen oder der Identität einer Religion zu verzichten. Überspitzt formuliert, könnte diese Konsequenz auch formuliert werden als die Behauptung der Möglichkeit, dass die Anhänger ein und derselben Religion nicht an denselben Gott glauben. Denn ein Gott, der von seinen Anhängern erwartet, dass sie jede Beleidigung seiner Ehre bestrafen, ist nicht derselbe Gott wie jener, der nicht auf seine Ehre, sondern auf das Heil aller Menschen bedacht ist. So stellt es sich jedenfalls aus der Sicht der Religionswissenschaft dar, die davon ausgeht, dass religiöse Traditionen – Glaubens- oder Symbolsysteme – ihre Bedeutung erst in der individuellen Aneignung und Auslegung erhalten. Und in diesem Prozess können sich völlig verschiedene Bedeutungen ergeben, was immer der ursprüngliche Sinn jener Texte gewesen sein mag, auf die sich alle Anhänger der betreffenden Tradition berufen. Eine Definition des Christentums als „Glaube an Jesus Christus als die Offenbarung Gottes“, genauer bestimmt als „ein Glaube, der durch eine mit dem Geist der Evangelien übereinstimmende Lebensweise zum Ausdruck kommt“,12 erweist sich in historischer Betrachtung als eine nur formale Bestimmung. Denn in der Geschichte des Christentums war es ja immer umstritten, wie der „Geist“ der Evangelien inhaltlich zu bestimmen ist. Auch die Gestalt Jesu selbst konnte ganz verschiedene Deutungen erfahren, die, um den Soziologen Pierre Bourdieu wieder zu zitieren, „nur den Namen gemeinsam haben“.13 So konnten z. B. die Vertreter des Kreuzzugsgedankens auf den strengen Jesus verweisen, der bei der Tempelreinigung zur Peitsche greift und damit Gewalt anwendet; die Kritiker des Kreuzzugsgedankens konnten demgegenüber auf den milden Jesus verweisen, der in der Gethsemane-Szene zum Verzicht auf Gewalt aufruft.14 So würde sich die Frage nicht mehr stellen, ob „der“ christliche Glaube durch die Kreuzzüge „diskreditiert“ sei.15 Es gab eben, wie sich bei näherer Betrachtung gezeigt hat, nebeneinander völlig verschiedene Auslegungen des christlichen Glaubens – sogar innerhalb einzelner Konfessions- oder Ordensgemeinschaften. Und so liegt die Verantwortung nicht bei „dem“ Christentum oder gar bei „dem“ Monotheismus, sondern bei den Menschen, die sich für die eine oder andere Auslegung ihrer Religion entschieden haben und die z. B. den Kreuzzugsgedanken als ein Element dieses Glaubens betrachtet und propagiert haben.16 Es gibt eben, um den Religionshistoriker Christoph Kleine wieder zu zitieren,17 „keine friedliche Religion, und es gibt keine kriegerische Religion“, sondern „lediglich Menschen, die 12 13 14 15 16

Ching, Konfuzianismus und Christentum, 24. Bourdieu, Struktur des religiösen Feldes, 59f. Siehe oben S. 259f. Diese Frage erörtert Padberg, In Gottes Namen?, 115. Die Rede von der „Verantwortung des Christentums“ findet sich z. B. bei Buc (Heiliger Krieg, 300) wie bei Padberg (In Gottes Namen?, 166), allerdings mit entgegengesetzten Tendenzen: kritisch bzw. apologetisch. 17 Siehe oben S. 32.

Zusammenfassung und Ausblick

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ihr friedfertiges oder kriegerisches Handeln religiös interpretieren“.18 Der Blick in die Geschichte hat gezeigt, dass die kanonischen Texte ein und derselben Religion offen sind für die Interpretation in der einen oder anderen Richtung; und das gilt auch für den Buddhismus, der doch als friedfertig bekannt ist – so konnte auch die Kriegspolitik des japanischen Kaiserreiches von Buddhisten religiös interpretiert und legitimiert werden.19 Ebenso würde sich auch die Frage nicht mehr stellen, ob alle Religionen – oder zumindest die monotheistischen – „an denselben Gott“ glauben.20 Es wäre vielmehr zu fragen, wo die verschiedenen religiösen Positionen, die es in der Geschichte ein und derselben Religion gegeben hat – z. B. die verschiedenen, einander widersprechenden Gottesvorstellungen –, jeweils ihre Entsprechungen in anderen Religionen haben. Jede dieser Positionen, z. B. die fundamentalistische Position der Ketzerverfolger, könnte in eine andere Religion gespiegelt und in die Sprache der anderen Religion übersetzt werden. So könnten die religiösen Positionen als invariante Bezugsgrößen betrachtet werden, die Religionen demgegenüber nur als variable Bezugssysteme, wie es im Begriff der religiösen Tradition bereits impliziert ist.21 Auf die Möglichkeit, dass Angehörige verschiedener Religionen mehr miteinander gemeinsam haben als Angehörige derselben Religion, hat der Soziologe Ulrich Beck hingewiesen;22 und der Philosoph Richard Braithwaite hatte schon festgestellt, dass eine bestimmte religiöse Lebensform, wie z. B. die „agapeistische“, nicht nur im Christentum, sondern z. B. auch im Buddhismus auftreten könnte, je nachdem mit welchen „Geschichten“ (stories) sie verbunden wird.23 Ein Beispiel der Übereinstimmung in einer religiösen Position, über die Grenzen der Religionen hinweg, bietet der Briefwechsel zwischen Gandhi und dem russischen Schriftsteller Leo Tolstoi. Letzterer hatte nach einer Phase des Nihilismus das Christentum für sich entdeckt, allerding sehr eigenwillig ausgelegt: als Religion der Gewaltlosigkeit, wie er sie in der Bergpredigt zu finden glaubte (Mt 5,39).24 Er hatte sich damit von der offiziellen Lehre seiner Kirche weit entfernt, hatte ihr explizit vorgeworfen, das Christentum verfälscht zu haben und war deshalb exkommuniziert worden.25 Gandhis Version des Hinduismus stand ihm offensichtlich näher als das Christentum der russischen orthodoxen Kirche, und ebenso hat Gandhi gerade Tolstois Auslegung des Christentums als verwandt empfunden. Er hat es als eine Lebensform betrachtet, die er ebenso gut im Rahmen seiner religiösen Tradi18 19 20 21 22 23 24 25

Kleine, Üble Mönche oder wohltätige Bodhisattvas?, 236. Siehe oben S. 205. Diese Frage erörtern z. B. Tworuschka, Weinrich, Schmidt-Leukel und Hailer. Zur Anknüpfung an W.C. Smith und zur Abwandlung seines Begriffes der (kumulativen) Tradition vgl. Berner, Das Christentum in der Antike, 149–151. Siehe Beck, Der eigene Gott, 69. Siehe Braithwaite, Die Ansicht eines Empiristen, 181f. Siehe Tolstoi, Mein Glaube, 76–99. Vgl. dazu Tamcke, Tolstojs Religion, 42–45. Tolstois Ringen um das Verständnis der Bergpredigt wird in Schmids Darstellung nicht erwähnt (Tolstoi, 70–83). Vgl. dazu Schmid, Tolstoi, 71/72; Orechanov, Russische Orthodoxe Kirche, 586–588.

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tion, des Hinduismus, verwirklichen konnte: zunächst durch die Gründung einer „Tolstoi-Farm“ in Südafrika, später durch seine Politik des gewaltlosen Widerstandes in Indien.26 Wenn die Kommunikation zwischen Tolstoi und Gandhi als ein interreligiöser Dialog betrachtet wird, dann könnte daraus die Folgerung abgeleitet werden, nicht die Religionen zum Gegenstand des Dialoges zu machen, sondern die verschiedenen Arten der Religiosität oder die religiösen Lebensformen. Denn die individuellen Dispositionen zu der einen oder anderen Art der Religiosität, z. B. zu einer skeptischen oder einer fundamentalistischen,27 oder auch zu einer Lebensform, wie z. B. zu einer militanten oder einer pazifistischen, können in jeder Religion verwirklicht werden. Es ist ja ein Zufall, wo die religiöse Sozialisierung des Individuums erfolgt. Auf diese Zufälligkeit der Zugehörigkeit hatte schon der Philosoph Abälard hingewiesen, wenn er den „Philosophen“ gegenüber dem Juden und dem Christen feststellen ließ, die Erwachsenen würden doch nur das verteidigen, was sie als Kinder gelernt haben;28 und der Müller Menocchio hatte offensichtlich dieselbe Überlegung angestellt, wenn er vor dem Inquisitionsgericht erklärte, dass er, wäre er als Türke geboren, natürlich ein Türke, d. h. ein Muslim, würde bleiben wollen.29 Eine andere Konsequenz dieser historischen Betrachtungen zeigt sich beim Blick auf individuelle religionskritische Stellungnahmen, wenn z. B. die Abkehr vom Christentum erklärt wird. Ein Buchtitel wie „Warum ich kein Christ bin“,30 könnte sich als irreführend erweisen, insofern als der Autor mit diesem negativen Bekenntnis ein Wesen oder eine Identität jener Religion voraussetzt, von der er sich distanzieren will. Eine nähere Betrachtung der Argumentation könnte eventuell deutlich werden lassen, dass die Kritik sich eigentlich nur gegen eine von mehreren Versionen der betreffenden Religion, in diesem Fall des Christentums, richtet. Gegenstand der Auseinandersetzung, die in diesem Fall zu der Abkehr vom Christentum geführt hat, sind nur die „Selbstdarstellungen“ der Kirchen, ausdrücklich nicht die „Selbstcharakteristik einzelner Christen“, die sich von der offiziellen Kirchenlehre entfernen;31 der Blick des Kritikers richtet sich auf „hochamtliche Formeln, nicht einzelne Aussprüche privater Theologen“.32 Aus einem solchen methodischen Ansatz ergeben sich aber zwangsläufig generalisierende Aussagen über „das“ Christentum, und dies in zweifacher Abstufung: Zum Einen wird die Vielfalt der Auffassungen innerhalb der Kirche(n) ausgeblendet; zum Andern werden alle Positionen, die durch institutionellen Zwang als „häretisch“ ausgegrenzt oder durch Gewalt eliminiert worden sind, aus der Betrachtung ausgeschlossen. 26 Der Komponist Philip Glass hat den ersten Akt seiner Gandhi-Oper („Satyagraha“) Tolstoi gewidmet. 27 Vgl. dazu Berner, Skeptizismus und Religionskritik, 50–54. 28 Siehe oben S. 175. 29 Siehe oben S. 297f. 30 So der Titel eines Buches von Kurt Flasch, in Anknüpfung an Bertrand Russell gewählt. 31 Flasch, Warum ich kein Christ bin, 26. 32 Flasch, ebda, 73; vgl. auch ebda, 81.

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Wenn z. B. festgestellt wird, „Der christliche Glaube“ habe „Menschen in lebenswichtigen Dingen irregeführt, indem er z. B. versicherte, es gebe Hexen“,33 dann werden damit alle kritischen individuellen Stellungnahmen ausgeblendet, die innerhalb der Kirche(n) gegen den Hexenglauben vorgebracht worden sind. Diese gehören aber auch zur Geschichte des Christentums oder des christlichen Glaubens, insofern als die Kritiker, wie z. B. der spanische Inquisitor Alonso Salazar Frias oder der lutherische Theologe Johan Meyfart, ja jeweils in ihrer Kirche tätig waren, nur dass letzterer sich dort zu seiner Zeit (noch) nicht durchsetzen konnte.34 Und wenn z. B. die Trinitätslehre als eine „inkongruente Konstruktion des 4. und 5. Jahrhunderts“ verworfen wird, als ein Beispiel für das „Christentum der Unvernunft“,35 dann werden damit alle kohärenten Auslegungen der Trinität, die als „häretisch“ verurteilt worden sind, aus der Betrachtung ausgeschlossen: z. B. die Theologie Peter Abälards,36 ebenso wie Servets Kritik der Trinitätslehre – letztere war ja ebenfalls eine Auslegung des christlichen Gottesglaubens und beruhte jedenfalls auf einem gründlichen Studium des Neuen Testaments, wie immer das Ergebnis theologisch beurteilt wird.37 Aus der Sicht der Religionswissenschaft gibt es keinen Grund, alternative Positionen innerhalb der Kirchen sowie „häretische“ Positionen außerhalb der Kirchen als nichtchristlich zu betrachten und den Blick auf die „Selbstdarstellungen der Kirchen“ zu beschränken. Wer, wie der Philosoph Kurt Flasch, die augustinische Lehre von der Erbsünde als einen „Ungedanken“ verwirft,38 müsste deshalb nicht „das“ Christentum verwerfen. Denn diese Lehre stieß bereits zur Zeit Augustins auf heftigen Widerstand und wurde von einem anderen Bischof, Julian von Aeclanum (ca. 380–441/450), scharf angegriffen und abgelehnt.39 Letzterer erstellte ein „Gegenmodell“ zur Lehre Augustins,40 konnte sich damit allerdings nicht durchsetzen und wurde auf Betreiben Augustins schließlich aus der Kirche ausgeschlossen. Im Blick auf diese Kontroverse kann jedenfalls festgestellt werden, dass schon um 420 „eine andere Konzeption des Christentums als diejenige Augustins möglich“ war: Im Streit zwischen Augustin und Julian zeigen sich „entgegengesetzte Auffassungen des Christlichen“ und eine „Divergenz im Gottesbegriff “.41 Für den Religionshistoriker stellt sich nicht die Frage, welche Konzeption die „richtige“ oder 33 34 35 36 37 38

Flasch, ebda, 257. Siehe oben S. 373f; 379f. Flasch, ebda, 259. Vgl. dazu oben S. 337f. Vgl. dazu oben S. 277. Siehe Flasch, Warum ich kein Christ bin, 259. Zur Entwicklung der Erbsündenlehre Augustins vgl. Flasch, Logik des Schreckens, 25–30. 39 Siehe dazu Lamberigts, Julian von Aeclanum, 95–99. Dupont, Gratia in Augustine’s Sermones ad Populum, 51–59, bietet eine Zusammenfassung der Theorien Augustins und Julians. 40 Flasch, Kampfplätze der Philosophie, 35. 41 Flasch, ebda, 14; 28.

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die „christliche“ ist,42 sondern nur die Frage, warum diejenige Augustins sich in der Kirche durchgesetzt hat. Kurt Flasch hat selbst bereits einen Ansatzpunkt gesehen, diese Frage zu beantworten: Augustins Theorie „erhöhte die Bedeutung der kirchlichen Sakramentenverwaltung“ und war damit „institutionenfreundlicher als die Theorien Julians“.43 Aus der religionsgeschichtlichen Perspektive stellt sich eine religiöse Tradition, wie z. B. die christliche, eben in einer viel größeren Breite dar, weil es aus dieser Perspektive kein Wesen der betreffenden Religion gibt und deshalb auch keine Häre­tiker; es gibt nur verschiedene Versionen, über die mit wechselndem Erfolg gestritten worden ist und die manchmal „nur den Namen gemeinsam“ haben. Es könnte also sein, dass nicht die Abkehr von einer Religion, wie z. B. vom Christentum, nötig wäre, sondern nur die Abwendung von einer ihrer Auslegungen. Wenn die betreffende Religion, in diesem Fall das Christentum, in der ganzen Breite ihrer Tradition wahrgenommen wird, dann würde sie Raum bieten für ganz unterschiedliche Positionen, darunter auch agnostische und sogar explizit religionskritische. Ein Wort aus dem Johannes-Evangelium (14,2) – „in meines Vaters Haus gibt es viele Wohnungen“ – könnte somit wieder eine neue Bedeutung annehmen. Literatur Quellen Augustinus Hipponensis: Contra Iulianum opus imperfectum I-III, hrsg. von E. Kalinka und M. Zelzer 1974 (CSEL 85/1). Augustinus von Hippo: De diversis quaestionibus ad Simplicianum I 2. Deutsche Erstübersetzung von Werner Schäfer. Herausgegeben und erklärt von Kurt Flasch, Mainz 1990 (Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo. Die Gnadenlehre von 397. Lateinisch – Deutsch) Johannes Calvin: Defensio orthodoxae fidei de sacra trinitate contra prodigiosos errores Michaelis Serueti Hispani (Ioannis Calvini opera omnia Series IV Scripta didactica et polemica Volumen V. Edidit Joy Kleinstuber, Geneve 2009). Leo N. Tolstoj: Korrespondenz mit Gandhi, in: Tolstoj. Rede gegen den Krieg. Politische Flugschriften. Herausgegeben von Peter Urban, Frankfurt a. M. 1983, 171–177. Leo N. Tolstoi: Mein Glaube, München 1990 (Aus dem Russischen von Raphael Löwenfeld, 1901). Michael Servetus: De Trinitate divina, quod in ea non sit inuisibilium trium rerum illusio, sed verae substantiae Dei manifestatio in verbo, et communicatio in spiritu. Libri septem, in: Christianismi Restitutio 1553 (Nachdruck Frankfurt a. M. 1966), 3–286. 42 Vgl. dazu die Aussage des katholischen Philosophen Remi Brague, der implizit Kurt Flasch widerspricht, wenn er feststellt, das Dogma von der Erbsünde sei nicht eine „Logik des Schreckens“, sondern das Gegenteil: „die Quelle der Hoffnung“ (Atheismus und die Zukunft des Glaubens, 10). 43 Flasch, Kampfplätze, 36. Diesen Aspekt hatte schon Bruckner (Julian von Aeclanum, 175) in die Debatte eingebracht.

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Peter Abaelard: Theologia Summi boni. Tractatus de unitate et trinitate divina. Abhandlung über die göttliche Einheit und Dreieinigkeit. Übersetzt, mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Ursula Niggli, Hamburg 1989.

Sekundärliteratur Beck, Ulrich: Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen, Berlin 2008. Berner, Ulrich: Skeptizismus und Religionskritik, in: Ulrich Berner/Ilinca Tanaseanu-­Döbler (Hg.), Religion und Kritik in der Antike, Berlin 2009, 39–59. Berner, Ulrich: Der Neue Atheismus als Gegenstand der Religionswissenschaft, in: Hans Gerhard Hödl et al. (Hg.), Religionen nach der Säkularisierung. Festschrift Johann Figl, Wien 2011, 378–390. Berner, Ulrich: Das Christentum in der Antike. Eine religionsgeschichtliche Perspektive, in: Klaus Fitschen et al. (Hg.), Kirchengeschichte und Religionswissenschaft. Methoden und Fallbeispiele, Leipzig 2018, 135–154. Bourdieu, Pierre: Genese und Struktur des religiösen Feldes, in: ders.: Religion. Schriften zur Kultursoziologie 5, hrsg. von Franz Schultheis und Stephan Egger, Berlin 2011, 30–90. Brague, Remi: Atheismus und die Zukunft des Glaubens, in: Zur Debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern 6/2012, 9–10. Braithwaite, Richard B.: Die Ansicht eines Empiristen über die Natur des religiösen Glaubens, in: Sprachlogik des Glaubens. Texte analytischer Religionsphilosophie und Theologie zur religiösen Sprache. Herausgegeben, aus dem Englischen übersetzt und mit einer Einführung versehen von Ingolf U. Dalferth, München 1974, 167–189. Bruckner, Albert: Julian von Eclanum. Sein Leben und seine Lehre. Ein Beitrag zur Geschichte des Pelagianismus, Leipzig 1897. Buc, Philippe: Heiliger Krieg. Gewalt im Namen des Christentums, Darmstadt 2015. Ching, Julia: Konfuzianismus und Christentum, Mainz 1989. Dupont, Anthony: Gratia in Augustine’s Sermones ad Populum during the Pelagian Controversy. Do Different Contexts Furnish Different Insights?, Leiden/Boston 2013. Flasch, Kurt: Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo De diversis quaestionibus ad Simplicianum I 2. Deutsche Erstübersetzung von Walter Schäfer. Herausgegeben und erklärt von Kurt Flasch, Mainz 1990. Flasch, Kurt: Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire, Frankfurt  a. M. 2008. Flasch, Kurt: Warum ich kein Christ bin. Bericht und Argumentation, München 2013. Hailer, Martin: Glauben Juden, Christen und Muslime an denselben Gott? Theologische Religionskritik in praxi, in: Marco Hofheinz et al. (Hg.), Religionskritik interdisziplinär, Leipzig 2015, 43–64. Kleine, Christoph: Üble Mönche oder wohltätige Bodhisattvas? Über Formen, Gründe und Begründungen organisierter Gewalt im japanischen Buddhismus, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 11 (2003), 235–258. Lamberigts, Mathijs: Julian von Aeclanum und seine Sicht der Gnade, in: Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 3/2007, 94–122.

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Orechanov, Georgij: Russische Orthodoxe Kirche, in: Martin George et al. (Hg.), Tolstoj als theologischer Denker und Kirchenkritiker, Göttingen 2014, 585–593. Padberg, Lutz E. von: In Gottes Namen? Von Kreuzzügen, Inquisition und gerechten Kriegen. Die 10 häufigsten Vorwürfe gegen das Christentum, Giessen/Basel 2010. Schmid, Ulrich: Lew Tolstoi, München 2010. Schmidt-Leukel, Perry: Ein Gott hinter allen Religionen? Ein Gespräch mit dem Theologen und Religionswissenschaftler Perry Schmidt-Leukel über Gottesbilder und Verstehensmodelle, in: Publik-Forum 13/2015 vom 10.07. 2015. Tamcke, Martin: Tolstojs Religion. Eine spirituelle Biographie, Berlin 2010. Tworuschka, Udo: Glauben alle an denselben Gott? Religionswissenschaftliche Anfragen, in: Reinhard Kirste/Paul Schwarzenau/Udo Tworuschka (Hg.), Hoffnungszeichen globaler Gemeinschaft, Balve 2000, 13–38. Victoria, Brian (Daizen) A.: Zen, Nationalismus und Krieg. Eine unheimliche Allianz, Berlin 1999. Weinrich, Michael: Glauben Juden, Christen und Muslime an denselben Gott? Systematisch-theologische Annäherungen an eine unzugängliche Frage, in: Evangelische Theologie 67 (2007), 246–253. Wilson, David Sloan: Darwin’s Cathedral. Evolution, Religion, and the Nature of Society, University of Chicago Press 2002.

Dieses Buch bietet einen in mehrfacher Hinsicht neuen Ansatz: Es ist thematisch aufgebaut und die Auswahl der Themen orientiert sich am aktuellen Religionsdiskurs – so werden z.B. Thesen zur (In)Toleranz der (monotheistischen) Religionen ebenso behandelt wie Thesen zur (Un)Vereinbarkeit von Religion und (Natur)Wissenschaft. Dabei führt Ulrich Berner die Auseinandersetzung mit diesen Diskursen im Rahmen einer historisch orientierten Religionswissenschaft, die keine Aussagen über das Wesen einer Religion macht, sondern das Nebeneinander widersprüchlicher Auslegungen zur Darstellung bringt. Das Material entstammt überwiegend der europäischen Religionsgeschichte, doch gibt es in jedem Kapitel auch einen Exkurs, der Vergleichsbeispiele aus nicht-europäischen Religionen bringt. Die historischen Betrachtungen enthalten ausgiebige Zitate aus den Quellen, um Ansatzpunkte für eine kritische Auseinandersetzung und Anregungen für die eigene Lektüre zu geben.

Religionswissenschaft

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Ulrich Berner

Religions­ wissenschaft

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Dies ist ein utb-Band aus dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen.

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