Die Plastik des Rechts: Sammlung und System bei Rudolf v. Jhering [1 ed.] 9783428545834, 9783428145836

In den letzten Tagen des Jahres 1858 verfasste Rudolf von Jhering im Auftrag der Gießener Spruchfakultät ein Rechtsgutac

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Die Plastik des Rechts: Sammlung und System bei Rudolf v. Jhering [1 ed.]
 9783428545834, 9783428145836

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Die Plastik des Rechts Sammlung und System bei Rudolf v. Jhering

Von

Inge Kroppenberg

Duncker & Humblot · Berlin

INGE KROPPENBERG Die Plastik des Rechts

Lectiones Inaugurales Band 11

Die Plastik des Rechts Sammlung und System bei Rudolf v. Jhering

Von

Inge Kroppenberg

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2015 Duncker &Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Fotosatz Voigt, Berlin Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 2194-3257 ISBN 978-3-428-14583-6 (Print) ISBN 978-3-428-54583-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-84583-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Antrittsvorlesung wurde am 22. Januar 2014 in der Aula am Göttinger Wilhelmsplatz gehalten. Sie war Teil der öffentlichen Vortragsreihe „Wissen: Schaffen – Erforschen – Vermitteln“, die im Wintersemester 2013/2014 von der Zentralen Kustodie der Georg-August-Universität Göttingen veranstaltet wurde. Die Vortragsform wurde in Teilen beibehalten. Ein Videopodcast kann unter http://www. uni-goettingen.de/de/antrittsvorlesung-am-2212014/ 484006.html abgerufen werden (besucht am 30. April 2015). Herzlich danken möchte ich dem Dekanat der Juristischen Fakultät für die Unterstützung bei der Vorbereitung der Veranstaltung, der Direktorin der Zentralen Kustodie, Frau Dr. Marie Luisa Allemeyer, für die Aufnahme in die Vortragsreihe, dem Verlag Duncker & Humblot für die Publikation in der Reihe Lectiones Inaugurales sowie meinem Wissenschaftlichen Mitarbeiter, Herrn Dr. Nikolaus Linder, für die Unterstützung in der Entstehungsphase der vorliegenden Schrift. Es ist mir eine besondere Ehre, die Vorlesung an der Universität gehalten zu haben, der ihr Protagonist bis zu seinem Tod zwanzig Jahre lang treu geblieben ist. Göttingen, im April 2015

Inge Kroppenberg

Inhalt I. II. III.

IV.

V.

VI.

Eine Debatte auf dem Deutschen Juristentag und ihre publizistische Folge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jherings „naturhistorische Methode“ in der Theorie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . und in der Praxis des berühmten Schiffspartenfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fall- und Prozessgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Folgerungen und Einsichten . . . . . . . . . . . . . . . . Jherings naturhistorische Methode in der rechtswissenschaftlichen Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Passion des Sammlers juristischer Artefakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. . . . und ihre Kritik in der Rechtswissenschaft . . Die „Reisen der Wissenschaften“ – Jherings naturhistorische Methode im weiteren wissenschaftshistorischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Sammlung ins Labor: Zur anhaltenden Aktualität Jherings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9 15 22 22 25 30 35 35 36

39 44

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

Anhang: Rudolf Jherings Gutachten zum Schiffspartenfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur Autorin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Eine Debatte auf dem Deutschen Juristentag und ihre publizistische Folge Auf dem Vierten Deutschen Juristentag, der im August 1863 in Mainz stattfand, stand ein bis heute immer wieder diskutiertes Thema auf der Tagesordnung: die Reform des juristischen Studiums. Das Mitglied der Ständigen Deputation, der Justizrat und Rechtsanwalt am Königlichen Obertribunal in Berlin Leopold Volkmar1, hatte einen Antrag eingebracht, der nicht nur die Studiendauer und das Prüfungswesen in den Staaten des Deutschen Bundes zum Gegenstand hatte, sondern unter Punkt 3 mit Hinweis auf die „Bedürfnisse [. . .] der Praxis“ 2 auch die Einrichtung juristischer Kliniken an den Universitäten forderte.

1 Friedrich Wilhelm Johannes Leopold Volkmar, *31.7. 1817 in Berlin, †10.9.1864 ebd., jüdisch, 1837 evangelisch konvertiert, Justizrat und Rechtsanwalt am Königlichen Obertribunal in Berlin, Mitbegründer und Mitglied des ersten Vorstands, später auch der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentags, Gründungsmitglied des Preußischen Anwaltsvereins, juristischer Schriftsteller, „ein konsequenter Verfechter freisinniger Grundsätze auf allen Gebieten des staatlichen Lebens“, zit. nach dem Nachruf von Makower, in: Deutsche Gerichts-Zeitung 6 (1864) 42, S. 167 f. Näheres bei Fijal, S. 47 f. 2 DJT, S. 159.

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I. Eine Debatte auf dem Juristentag

Anlass für diesen Vorstoß war, dass an zahlreichen Fakultäten, namentlich in Preußen, statt des dort geltenden Allgemeinen Landrechts ein Recht gelehrt wurde, das „eigentlich und in Wahrheit beinahe nirgends mehr oder nur sehr beschränkt gilt“ 3, so der Referent des Antrags, der Leipziger Romanist CarlGeorg v. Wächter4, auch er Mitglied der Ständigen Deputation. Gemeint war natürlich das Gemeine Römische Recht. Mit Philosophie und Geschichte allein aber könne man „gewiß einen juristischen Kopf nicht bilden“.5 Noch nicht einmal zwei Jahre nach dem Tode des Doyens der deutschen Rechtswissenschaft und Begründers der historischen Rechtsschule, Friedrich Carl von Savigny, war dies ein kühnes Ansinnen. Der Antrag galt als zu kontrovers und wurde am Ende der Sitzung diskussionslos zur weiteren Behandlung an die ständige Deputation zurückgeschickt. Dagegen erhob ein weiteres Mitglied Protest: „Alle unbequemen Fragen werden der Deputation zugewiesen. Im Namen der Deputation bin ich dagegen. Daß diese Punkte auf die nächste Tagesordnung gesetzt werden, dagegen habe ich nichts einzuwenden.“ 6 Das war nie3

DJT, S. 159 f. Karl Joseph Georg Sigismund Wächter, auch Carl Georg Waechter, ab 1835 von Wächter, *24.12.1797 in Marbach am Neckar, †15.1.1880 in Leipzig, evangelisch, o. Prof. für Rechtswissenschaft in Tübingen, ab 1852 o. Prof. für Straf- und Pandektenrecht an der Juristenfakultät der Universität Leipzig, 1858–1860 Rektor ebd., Eisenhart, in: ADB, Bd. 40, S. 435–440; Vierhaus (Hrsg.), DBE, Bd. 10, S. 332. 5 DJT, S. 159 f. 6 Ebd., S. 186. 4

I. Eine Debatte auf dem Juristentag

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mand anderes als der Geheime Justizrat Professor Dr. Jhering.7 Die Sache war damit nicht abgetan. Eine Woche später erschien im Organ des Juristentags, der Deutschen Gerichts-Zeitung, ein „Vertraulicher Brief über die heutige Deutsche Jurisprudenz“ aus der Feder eines „Unbekannten“.8 Ironisch überspitzt brach der Verfasser darin eine Lanze für den Methodenimport aus den naturwissenschaftlichen und medizinischen Nachbarfakultäten. „In jeder Wissenschaft giebt es Perioden, wo es ihr zu eng wird in ihren eigenen Räumen, wo sie hinaus muß in’s Freie, um sich zu erfrischen und zu erholen, [. . .]. Ich nenne dies die Reisen der Wissenschaften. [. . .] So lebte z. B. zur Zeit der Naturphilosophie die Naturwissenschaft bei der Philosophie, so im Mittelalter die Philosophie bei der Theologie, [. . .]. In derselben Weise hat nun auch unsere Jurisprudenz von Zeit zu Zeit das Bedürfniß gefühlt, bei ihren Schwestern einen Besuch abzustatten, früher vorzugsweise bei der Geschichte, Philologie, Philosophie, im letzten Dezennium aber bei den Naturwissenschaften und der Medizin, und man könnte die gegenwärtige Phase in der Entwickelungsgeschichte unserer Wissenschaft als die naturwissenschaftliche – giebt es doch bereits eine eigne ,naturwissenschaftliche Methode‘ in der Jurisprudenz – oder besser noch als die medizinische Periode bezeichnen.“9 7 Jhering war ebenso wie Volkmar (Fn. 1) und Wächter (Fn. 4) einer der Mitbegründer des Deutschen Juristentags und Mitglied der Ständigen Deputation: Hartwich, S. 245; Klippel, in: Behrends, Fn. 21 (S. 68). 8 Jhering, Vertrauliche Briefe, S. 141–142; 145–147, später von Jhering leicht redigiert und als „Fünfter Brief“ aufgenommen in Scherz und Ernst, S. 71–97. 9 Ebd., S. 142. Hervorh. nicht i. Orig.

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I. Eine Debatte auf dem Juristentag

Wie die medizinische Ausbildung müsse auch die juristische auf die Praxis ausgerichtet sein. Ebenso wie jene benötige auch diese das Fundament eines theoretischen „Anschauungsunterricht[s] verschiedener Demonstrationsobjekte“, und dazu seien „Sammlungen aller Art erforderlich“.10 Aus diesem Grund müsse an jeder deutschen Universität künftig ein „juristisches Demonstrationskabinet oder Museum“ 11 eingerichtet werden. Dessen „[l]eitende Idee“ und oberster Grundsatz sei, „daß für jeden Begriff, für jedes Rechtsverhältniß ein passendes Objekt gewählt und ihm ausschließlich zugewiesen“12 werde. Begriff und Objekt, Wissenschaft und Anschauung, müssten sich so „im Geist des Zuhörers zur Einheit der Vorstellung verbinden“.13 Zwei Abteilungen sollte die Sammlung haben, eine für Rechtsobjekte, die andere für Rechtssubjekte. Für die Objektssammlung waren vorgesehen: alle Arten von beweglichen Sachen, die „einfachen und zusammengesetzten Sachen, die Haupt- und Nebensachen, die Pertinenzen, Früchte, die fungibeln und verbrauchbaren Sachen“.14 Bei unbeweglichen Sachen sollte der Anschauungsunterricht „mittelst Exkursionen in die Nachbarschaft bewerkstelligt“ 15 werden. Gesammelt und ausgestellt werden sollten des Weiteren Verträge, für „jeden Kontrakt oder jeden beson10 11 12 13 14 15

Ebd. Ebd., S. 145. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

I. Eine Debatte auf dem Juristentag

13

deren juristisch interessanten Anwendungsfall je ein Objekt“.16 Ins Kabinett gehörte auch eine Reihe von Tieren, deren Anschaffungskosten, so der Verfasser, sich jedoch in Grenzen hielten, weil kaum gesunde, sondern in der Regel nur mängelbehaftete, kranke angeschafft werden müssten – zur Illustrierung der ädilizischen Haftung etwa ein „Pferd mit einem Koller“.17 „Alle diese Objekte würden [. . .] mit fester Etikette versehen und nach Maßgabe des Systems geordnet.“ 18 Das Gleiche galt für das „Subjektenkabinett“, dessen Verwirklichung sich jedoch ungleich schwieriger und kostspieliger gestalte. Hier sollten reale Personen auftreten und Institute und Verhältnisse des Zivil- und Strafrechts nachspielen. Ihnen waren typische Rollen des Römischen Rechts zugedacht wie die des „diligens paterfamilias“, dessen Gegenstück, „um die culpa lata zu veranschaulichen, eine ungewöhnlich sorglose und nachlässige Person“ 19 übernehmen müsse, die, so der Verfasser, regelmäßig mit einem „armen Dichter“ 20 besetzt werden könne. „Frauenzimmer“ würden ebenfalls benötigt. Sie sollten auftreten, um u. a. die Institute der Verlobung, der Ehe und der Mitgift zu verkörpern, „jedes Mal natürlich mit veränderter Toilette“ 21 und Wohnrecht im Institut. Von der Dauerbeschäftigung Wahnsinniger, Prostituierter und 16 17 18 19 20 21

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 146. Ebd. Ebd.

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I. Eine Debatte auf dem Juristentag

Gewohnheitsverbrecher riet der Autor hingegen ab. Stattdessen empfahl er, aus praktischen wie moralischen Gründen, ihre fallweise Verpflichtung. Probleme bereitete schließlich auch die szenische Repräsentation der juristischen Person. Der unbekannte Verfasser dieses Briefs war kein anderer als Rudolf Jhering selbst, im Jahre 1863 noch nicht Göttinger, wohl aber Gießener Professor für Römisches Recht. Er holte hier die am Juristentag ausgebliebene Diskussion in hoch ironischem Ton nach.22 Die Komik seiner Ausführungen beruhte für die Zeitgenossen nicht, wie man denken könnte, auf der Abwegigkeit juristischer Kliniken. Solche waren vom Referenten auf dem Juristentag immerhin als „Desiderium“ 23 bezeichnet und die Debatte darüber wegen Zeitmangels vertagt, aber keineswegs ausgeschlossen worden.24 Zum Lachen reizte vielmehr der Kontrast zwischen der hochmodernen Institution Klinik und den teils anachronistischen Instituten des römisch-gemeinen Rechts. Plastisch wurde dieser Widerspruch etwa, wenn in der Sammlung der Rechtssubjekte das Institut der Geschäftsfähigkeit mit den komplizierten Rollentypen des klassischen Römischen Rechts besetzt und deshalb die Einstellung eines „infantia major, 22

Zum Leben Jherings vgl. Kunze, in: Behrends, S. 11–

28. 23

DJT, S. 160. Die verbreitete Meinung, bei der Idee der Klinik habe es sich um „eine wahrlich nicht ernst gemeinte Forderung“ gehandelt, trifft nicht zu, wie ein Blick auf den historischen Kontext zeigt. So jedoch Fuhrmann, in: Behrends, S. 30. 24

II. Jherings „naturhistorische Methode‘‘ . . .

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ein[es] infantiæ und pubertati proximus, ein[es] pubes, ein[es] minor und major“ 25 empfohlen wurde. Dass Jhering die Idee der juristischen Klinik selbst durchaus ernst nahm, ergibt sich vor allem aus der Methode, die er hier „naturwissenschaftlich“ und andernorts „naturhistorisch“ nannte. Im Folgenden möchte ich Sie zunächst mit der Bedeutung dieser Methode und ihrer Stellung in Jherings Werk bekannt machen (sub II.) und sie Ihnen dann in Aktion vorführen, nämlich an dem berühmten Schiffspartenfall, den Jhering begutachtet hat und der ihn an den Rand dessen führte, was er mit dieser Methode leisten konnte (sub III.). In einem vierten Teil werde ich auf das zwiespältige Jhering-Bild namentlich in der historischen Rechtswissenschaft eingehen (sub IV.) und hernach die gewonnenen methodischen Erkenntnisse wissenschaftshistorisch einordnen (sub V.). Den Schluss bilden einige Gedanken zur Bedeutung Jherings für unsere Gegenwart (sub VI.).

II. Jherings „naturhistorische Methode“ in der Theorie des Rechts . . . Die „naturhistorische“ Methode hat Rudolf von Jhering eine gute Dekade lang beschäftigt. Die Anfänge finden sich bereits im ersten Band seines opus magnum „Der Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung“ von 1852.26 25 Jhering, Vertrauliche Briefe, S. 145. Ebenso bei den Testamentsformen, wo ein „miles, ein rusticus und ein Blinder“ nicht fehlen durften, ebd. 26 Jhering, Geist I.

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II. Jherings „naturhistorische Methode‘‘ . . .

Die programmatische Arbeit dazu leistete er in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre, namentlich im zweiten Band des „Geists“ 27 und im einleitenden Aufsatz zu der von ihm und seinem Freund Carl Friedrich Wilhelm von Gerber begründeten „Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts“.28 In den Jahren nach 1860 entwickelte er sich methodisch weiter. Er habe „in den letzten 2–3 Jahren eine merkwürdige Umwandlung seiner ganzen Anschauung durchlebt“, schrieb er 1865 an seinen Freund, den großen Romanisten und geistigen Vater des Bürgerlichen Gesetzbuchs Bernhard Windscheid, „sie besteht in einem Übergang zu dem Standpunkt, den er“ – Windscheid – „seit Jahren [einnehme] und den [er selbst] so stark bekämpft“ 29 habe. Diese Schaffensperiode wird nicht selten auch als „konstruktionsmethodische Phase“ 30 bezeichnet. Jhering sprach selbst nicht von konstruktiver, sondern von „productiver Jurisprudenz“ 31 im Gegensatz zur herrschenden „receptiven“ der Historischen Rechtsschule. Jhering unterschied drei „Fundamental-Operationen der juristischen Technik“ 32, von der nur die letzte im engeren Sinne konstruktiv war. Ihr vorgeschaltet waren die „Analyse“ und die „Konzentration“

27

Jhering, Geist II/2, insb. die §§ 39 bis 41. Jhering, Jahrbücher 1 (1857), S. 1–52. 29 Jhering, in: Ehrenberg, S. 176. Später wird Jhering von diesem Ereignis als „Umschwung“ sprechen, Jhering, Scherz und Ernst, S. 338. 30 Stilbildend Fikentscher, S. 204 et passim. 31 Jhering, Jahrbücher 1 (1857), S. 4 et passim. 32 Jhering, Geist II/2, S. 359. 28

II. Jherings „naturhistorische Methode‘‘ . . .

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des „Rechtsmaterials“ 33, die die Grundlagen schufen für die „juristische Production im strengsten Sinn“, Jherings so genannte „höhere Jurisprudenz“, die zugleich Kunst war. Stofflicher Ausgangspunkt dieses Dreischritts waren die Pandekten, jene Kompilation römischer Juristenschriften des Kaisers Justinian aus dem sechsten nachchristlichen Jahrhundert, deren fortlaufender Rezeption sich die Rechtswissenschaft in Europa und das kontinentale Gemeine Recht verdankten. Seine immense Bedeutung zu Jherings Lebzeiten ging maßgeblich auf die bereits erwähnte Historische Rechtsschule zurück, deren Vertreter jeden Rechtsstoff „bis zu seiner Wurzel“ 34 verfolgten und so historisches Quellenstudium und gegenwärtige Rechtsgewinnung methodisch als Einheit behandelten. Rechtliche Veränderung war für sie organische Entwicklung auf der Grundlage eines historischen Textarchivs, dessen Inhalt von einem professionellen Juristenstand ermittelt werden sollte. Jhering, so die These, machte aus diesem Archiv eine naturhistorische Sammlung von Rechtsartefakten, um sie mit den erwähnten Techniken zu explorieren. Zunächst mit der Analyse, die er die „zersetzende Methode“ 35 nannte. Sie diente dazu, „jenes poetische ,Verwachsensein‘“ 36 der römischen Rechtssätze aufzubrechen, die historischen Artefakte „in einzelne Atome auf[zu]lösen“ und so ihr „,Sich-organisch-Durch33 34 35 36

Jhering, Jahrbücher 1 (1857), S. 16. Savigny, Beruf, S. 117. Jhering, Geist II/2, S. 378. Ebd.

18

II. Jherings „naturhistorische Methode‘‘ . . .

dringen‘“ 37 zu überwinden. Hatte Savigny auf dem naturwüchsigen Leben der juristischen Begriffe als „wirkliche[n] Wesen“ mit eigener „Genealogie“ 38 bestanden, so wollte Jhering diesen genetischen Organizismus mittels „Rechtsatomistik“ 39 vollständig aus der Rechtswissenschaft tilgen: „Die positive Jurisprudenz soll keine Organismen kennen, so wenig wie die organische Chemie.“ 40 Auf die Analyse folgte die Konzentration, das „Zusammendrängen des Volumens einer Masse Rechtsstoffs“ 41 mit dem Ziel einer „genaue[n] Sonderung dessen, was der ganzen Gattung gemein und der einzelnen Art eigenthümlich ist“.42 Diese Selektion schuf die Grundlage für die Produktion neuer „RechtsKörper“.43 Im Gegensatz zu Savignys „wirklichen Wesen“ 44 waren sie jedoch nicht mehr die Abkömmlinge langer juristischer Ahnenreihen, sondern verdankten ihr Leben naturwissenschaftlicher Synthese. Jherings Analyse und Konzentration hatten große Ähnlichkeit mit den alten texthermeneutischen Techniken der Interpretation und der Abstraktion, waren jedoch viel stärker auf das methodische Ziel einer vollständigen Enthistorisierung des römischen Rechts

37 38 39 40 41 42 43 44

Ebd. Savigny, Beruf, S. 29. Jhering, Geist II/2, S. 379. Jhering, Geist II/2, S. 377. Jhering, Geist II/2, S. 380. Jhering, Jahrbücher 1 (1857), S. 16. Jhering, Geist II/2, S. 361. Savigny, Beruf, S. 29.

II. Jherings „naturhistorische Methode‘‘ . . .

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gerichtet.45 Die Geschichte musste sich demgegenüber „mit der bescheidenen Funktion begnügen, dem logisch allgegenwärtigen Recht die Gelegenheiten zum Hervortreten zu bieten“.46 Mit der Herstellung einer aus den historischen Quellen extrapolierten Sammlung synthetischer Rechtskörper mit je eigener Identität sollte gelingen, was der überkommenen entwicklungsgeschichtlichen Methode verwehrt war: die vollständige Umwandlung der Rechtsmaterie in die „durchsichtigste Form“ des Systems und die Schaffung völlig neuartiger Plastiken des Rechts.47 Mit diesem Virtualisierungsprojekt verfolgte Jhering das Ziel einer selbstreferentiellen Schließung des Rechtssystems. Dessen Programm bildeten die geistigen Ressourcen des Römischen Rechts, dessen Lückenlosigkeit durch zweitausendjährige Empirie verbürgt war: „Hierin hat es seinen Grund, daß eine ausgebildete Jurisprudenz nie ein absolutes Deficit an Rechtssätzen zu befürchten hat. Denn in wie ungewöhnlichen, abweichenden Bildungen sich auch der fortschreitende Verkehr ergehen möge, die Besorgniß, daß er uns etwas absolut Neues bringen könnte [. . .] ist eben so unbegründet, als wenn man glauben wollte, es könnten heutzutage noch Thiere entdeckt werden, die im zoologischen System der heutigen Wissenschaft absolut kein

45 In diesem Sinn handelt es sich bei der naturhistorischen Methode durchaus um eine „Überbietung“ Savignys, wie Behrends, in: Loos, S. 252 schreibt. Ähnlich Klemann, S. 194: „Jherings zeitweiliges Überschätzen des logischen Elements im Recht“; wortgleich ders., in: Mohnhaupt, S. 143. 46 Wilhelm, S. 116. 47 „Hervorbringung eines absolut neuen Stoffs“, Jhering, Geist II/2, S. 412.

20

II. Jherings „naturhistorische Methode‘‘ . . . Unterkommen fänden. Eine Jurisprudenz, die seit Jahrtausenden arbeitet, hat die Grundformen oder Grundtypen der Rechtswelt entdeckt, und in ihnen hält sich auch alle fernere Bewegung, so sehr sie im Uebrigen von der bisherigen divergiren möge; eine solche Jurisprudenz läßt sich nicht mehr durch die Geschichte in Verlegenheit setzen.“ 48

Als „unversiegbare Quelle neuen Stoffs“ sollte Jherings System alle rechtlichen Operationen aus sich selbst erzeugen49, subjektivistische Einflüsse neutralisieren und damit „der Herrschaft des Rechtsgefühls ein Ende machen“.50 Jherings Sprache hat Sie vielleicht aufhorchen lassen. Die Juristen, Zeitgenossen wie spätere Leser, hat insbesondere der extensive Gebrauch naturwissenschaftlicher Metaphern und Vergleiche irritiert und heftige, zum Teil idiosynkratische Reaktionen provoziert.51 Um „bloße Veranschaulichungshilfen“ 52 handle es sich hier bestenfalls, „bloße Ausdruckshilfen für die Beschreibung rechtswissenschaftlicher Erkenntnisprozesse“.53 „[B]unte Bilder“ 54, „störende“ 55, „enthu-

48 Jhering, Jahrbücher 1 (1857), S. 16. Dazu Wilhelm, in: Wieacker/Wollschläger, S. 237. 49 So auch Schmidt, in: Behrends, S. 207. 50 Jhering, Geist II/2, S. 377. 51 Ekelöf, in: Wieacker/Wollschläger, S. 27: „phantastische Beschreibung der Möglichkeit der Rechtswissenschaft, produktiv zu sein.“ 52 Fikentscher, S. 233. 53 Wieacker, in: ZRG RA 86 (1969), S. 22; ähnlich ders., in: Blühdorn/Ritter, S. 173. 54 Diederichsen, in: Behrends, S. 52 Fn. 58. 55 Coing, in: Blühdorn/Ritter, S. 165.

II. Jherings „naturhistorische Methode‘‘ . . .

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siastische“ und „manifeste Übertreibungen“ 56 prägten Jherings Sprachstil, gar von „pseudo-naturwissenschaftliche[n] Verirrungen“ 57 war die Rede.58 Welche Rolle spielten Naturgeschichte, die Sammlung von Rechtskörpern und deren systematische Anordnung zu einer „Plastik des Rechts“ 59 in Jherings praktischer Arbeit? Wie war es um die Brauchbarkeit dieser Methode bestellt, und bis zu welchem Punkt vermochte Jhering sein Programm von Analyse, Konzentration und Konstruktion durchzuhalten? Auskunft darüber gibt ein Blick in seine konsiliarische Werkstatt, genauer: auf einen berühmten Restitutionsfall60, 56

Behrends, in: ders., S. 115 f. Larenz, S. 27. 58 Eine der wenigen zurückhaltenden Stimmen ist Klemann, in: Mohnhaupt, S. 146 f.: „Von den Rezipienten werden diese [i. e. die Ausdrücke aus der naturwissenschaftlichen Terminologie; Einfügung nicht i. Orig.] in der Regel mehr belächelt als hinterfragt. Nach meinem Dafürhalten wird man Jhering nicht gerecht, wenn man solche Äußerungen, die in der Regel Vergleiche darstellen, generell als unwesentlich abtut.“ 59 Jhering, Jahrbücher 1 (1857), S. 12. 60 Der Fall wird in der Literatur oft als „Kohlefall“ bezeichnet, etwa bei Falk, S. 52 („Kohlefall Jherings [. . .] 1859“); Haferkamp, Puchta und die Begriffsjurisprudenz, S. 24 et passim („Kohlefall des Jahres 1859“); ders., Quaderni fiorentini 40 (2011), S. 206; Kunze, FAZ vom 12.2. 2010, S. N3. Die Bezeichnung ist nicht korrekt. Im wirklichen „Kohlefall“, mit dem Jhering den zweiten Beitrag zur Lehre von der Gefahr beim Kaufkontrakt (Jahrbücher 4 [1861], S. 366–438) eröffnete, ging es um ein anderes Thema, die Konkretisierung der Gattungsschuld und den davon zu unterscheidenden Zeitpunkt des Gefahrübergangs beim Gattungskauf. Seinen Klassikerstatus verdankte er der Umarbeitung zum akademischen Übungsfall durch Jhering im Jahr 1870 (Civilrechtsfälle ohne Ent57

22

III. . . . in der Praxis des Schiffspartenfalls

den er Ende 1858 in seiner Eigenschaft als Angehöriger der Gießener Spruchfakultät zu begutachten hatte.61 Darin ging es um den Doppelverkauf von Schiffsparten, Gesellschaftsanteilen an einer Partenreederei zum Betrieb eines Hochseeschiffs.62

III. . . . und in der Praxis des berühmten Schiffspartenfalls 1. Fall- und Prozessgeschichte Im August 1853 hatten die Kläger, das nordenglische Industrie- und Handelsunternehmen Pow & Fawcus63, dem beklagten Rostocker Kaufmann Ernst scheidungen, S. 118 f., Fall LIII) und v. a. der späteren gesetzlichen Ausformung in § 243 Abs. 2 BGB. Dazu Schmidt, in: Behrends, S. 178. 61 Zur sog. Aktenversendung an juristische Fakultäten im Zeitalter der Pandektistik zuletzt Haferkamp, Quaderni fiorentini 40 (2011), S. 189–191. 62 Als Gesellschaftsform handelt es sich bei der Partenreederei um ein auslaufendes Rechtsinstitut. Seit dem 25. April 2013 können keine neuen Partenreedereien mehr begründet werden, Gesetz zur Reform des Seehandelsrechts vom 20. April 2013, BGBl. I 2013, S. 831. Siehe auch BT-Drs. 17/10309 vom 12. Juli 2012, S. 2, 43. 63 Pow & Fawcus mit Sitz in North Shields (Northumberland) wurden um 1810 gegründet. Im aufstrebenden Schiffsmetallbau wurde das Unternehmen bald führend, v. a. bei der Herstellung von Ankern und Ankerketten, vgl. McCord, Economic and Social History, S. 35 et passim. Die Erfindung der Patent-Ankerwinde im Jahre 1823 brachte Pow & Fawcus erheblichen wirtschaftlichen Erfolg, vgl. Sombart, S. 165, der ihnen auch überregionale Bedeutung verschaffte, vgl. McCord, Transactions of the Royal Historical Society 5th series vol. 20 (1970), S. 28 Anm. 1. 1878 ging das Unternehmen in die Insolvenz.

III. . . . in der Praxis des Schiffspartenfalls

23

Brockelmann eine Anzahl Schiffsparten verkauft. Noch vor Übersendung der Papiere an diesen verkauften die Kläger die Schiffsparten ein zweites Mal, diesmal an das Handelshaus Harrison Carr & Co. mit Sitz in Newcastle, denen sie stattdessen die Papiere zusandten. „[Z]um Zweck der Notification und Anerkennung des erfolgten Eigenthumsübergangs“ 64 übersandten die zweiten Käufer Harrison Carr diese Papiere daraufhin an Brockelmann als ihrem Korrespondenzreeder. In dessen Besitz befanden sich die Papiere noch, als das Schiff, die „Graf von Paris“, in der Nacht zum 2. Oktober 1853 in einem Sturm unterging. Harrison Carr weigerten sich daraufhin, den Klägern den Kaufpreis zu erstatten mit dem Bemerken, die nach Rostocker Recht für den Erwerb der Schiffsparten konstitutive Umschreibung durch Brockelmann habe erst nach dem Untergang des Schiffes stattgefunden. Dies veranlasste Pow & Fawcus, sich für die Zahlung des Kaufpreises nun nicht etwa an ihre englischen Landsleute zu halten, sondern an den Beklagten Brockelmann. Das Obergericht der Stadt Rostock verurteilte diesen in erster Instanz zur Zahlung des Kaufpreises; das Großherzoglich-Mecklenburgische Oberappellationsgericht zu Rostock wies die Klage in zweiter Instanz ab.65 Im Wege der Restitution landete der Fall wiederum bei diesem und auch auf Jherings Schreib-

64 65

138.

Jhering, Jahrbücher 3 (1859), S. 452. Entscheidung abgedruckt in Buchka/Budde, S. 126–

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tisch.66 Der schloss sich im ersten Teil seines Gutachtens dem Oberappellationsgericht vollumfänglich an. Dem arglistigen Verkäufer, der dem Zweitkäufer Harrison Carr bereits tradiert hatte, konnte der Beklagte die allgemeine Rechtsmissbrauchseinrede entgegensetzen.67 So weit, so gut. 66 Nach § 37 Abs. 3 der mecklenburgisch-schwerinischen Verordnung, betreffend die Rechtsmittel in Civilsachen und nichtcriminellen Strafsachen vom 20. Juli 1840, in: Des Allerdurchlauchtigsten Großherzogs [. . .] Verordnung, S. 163: „Nach geschlossener Verhandlung hat das Oberappellationsgericht, wenn von dem Imploranten – spätestens in der Rechtfertigungsschrift – solches beantragt worden, vor seinem Erkenntnisse die Acten an eine Juristenfacultät zur Abgabe eines Rechtsgutachtens zu versenden, insofern die Eile der Sache solches nicht verhindert, als worüber die Cognition dem Oberappellationsgerichte verbleibt. Die Auswahl der Facultät geschieht durch Collegialbeschluß; jeder Partei steht frei, beziehungsweise in der Rechtfertigungs- und Exceptionsschrift, gegen zwei Facultäten zu excipieren. Erst nach erfolgtem Spruche des Oberappellationsgerichts ist den Parteien, wenn sie darauf antragen, das eingeholte Facultäts-Gutachten mitzutheilen. Die Kosten desselben sind in Bezug auf ihre Wahrnehmung und Erstattung den übrigen Proceßkosten gleich zu behandeln.“ 67 Die Lösung des konkreten Falls lag für das Gericht, dessen Mehrheitsmeinung sich Jhering als Gutachter anschloss, in der Billigkeit. Durch die Übersendung der „Eigenthumsacte“ an die zweiten Käufer Harrison Carr, nicht erst durch die Umschreibung, sei die Parte gültig „verkauft und überliefert“ (Jhering, Gutachten, S. 66) worden. Damit hatten sich die Kläger, wie Jhering schreibt, ihres grundsätzlich bestehenden Wahlrechts, den Erstoder den Zweitkäufer in Anspruch zu nehmen, begeben. „Die Wahl könnte und dürfte nur auf die zweiten Käufer“ – Harrison Carr – „fallen“, denn „[s]ie hätten durch Überlieferung der Eigenthumsacte das Object erhalten, für welches der Kaufpreis das Äquivalent bildete.“ Und weiter: „Die Wahl des gegenwärtigen Beklagten, in dessen Person

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2. Lösungen Im zweiten Teil seines Gutachtens, dessen Ergebnisse Jhering später auch zum Gegenstand eines berühmten Aufsatzes68 machte, gab er dem Fall eine grundsätzlichere Wendung: „Wir hoffen nämlich nachzuweisen, daß nach der Intention des römischen Rechts der Verkäufer bei doppeltem Verkauf und erfolgtem Untergang der Sache nur einmal den Kaufpreis fordern kann, einerlei ob er den zweiten Kontrakt bona oder mala fide abgeschlossen und einem der Käufer bereits die Sache tradirt hätte oder nicht.“ 69 Dem stand freilich, wie Jhering sehr bewusst war, der

der Verkauf nie eigentliche Realität erlangt hatte, [. . .] charakterisirt sich demnach als eine Handlungsweise, der nach römischem Recht die exceptio doli entgegengesetzt werden kann“ – und das, obwohl die gemeinrechtliche Interessenforderung des Käufers durch den Casus untergegangen war. Alle Zitate aus Jhering, Gutachten, S. 87. 68 Jhering, Jahrbücher 3 (1859), S. 449–488. 69 Jhering, Gutachten, S. 76 f. In den Entscheidungsgründen des Oberappellationsgerichts, in: Buchka/Budde, S. 136–137, war die Frage – weil nicht entscheidungserheblich – noch ausdrücklich offengelassen worden: „Zweifelhafter kann die Entscheidung werden, wenn die Sache, bevor sie einem der Käufer tradirt, oder der Verkäufer in moram versetzt war, durch casus untergeht. In dem Erachten der Juristen-Facultät zu Gießen wird anerkannt, daß der Verkäufer in diesem Falle beiden Käufern gegenüber von seiner Verpflichtung liberirt wird, dagegen die actio venditi gegen beide behält; jedoch angenommen daß, sobald er den Preis von dem einen derselben erlangt hat, der andere Käufer [. . .] von seiner Verpflichtung befreiet wird. – Eines näheren Eingehens auf diese Frage und die in dem Erachten dafür angeführten Gründe bedarf es jedoch nicht, da dieser Fall hier nicht zur Entscheidung steht.“ Hervorh. nicht i. Orig.

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römisch-gemeinrechtliche Satz periculum est emptoris entgegen. Er besagt bekanntlich, dass der Käufer bereits mit Zustandekommen des Kaufvertrags die Gefahr für den zufälligen Untergang der Sache tragen muss, d. h. den Kaufpreis zu bezahlen hat, ohne die Sache selbst zu erhalten. In einer ersten Annäherung untersuchte Jhering den historischen „Grund“ 70 dieses Satzes, den Ausgleich für den Verzicht des Verkäufers darauf, über die Sache anderweitig zu disponieren.71 Der perfekte Kauf binde „dem Verkäufer sozusagen die Hände, indem er ihn verpflicht[e], und ihn damit also der Möglichkeit beraub[e], durch andere Dispositionen über die Sache“, namentlich durch Weiterverkauf, „den Zufall von sich abzuwehren“.72 Der Kaufpreis diente im römisch-gemeinen Recht mithin nicht der Begünstigung oder, wie Jhering an anderer Stelle schrieb, nicht dazu, den Verkäufer zu „bereichern“.73 Er diente der Entschädigung.74 „In und mit ihr stellt sich das Gleichgewicht in der Belastung beider Theile in der Zeit vor Erfüllung des Contracts wieder her.“ 75 70

Jhering, Jahrbücher 3 (1859), S. 466. Die Kehrseite davon war, dass sich der Kaufpreis bereits im Vermögen – in bonis – des Verkäufers befand, ein Grund dafür, weshalb die römischen Juristen den Doppelverkauf als Frage des bonitarischen Eigentums behandelt haben. Dazu Ernst, in: Jakab/Ernst, S. 86 f. 72 Jhering, Jahrbücher 3 (1859), S. 465. Zum gemeinrechtlichen Diskussionsstand Ernst, ZRG RA 99 (1982), S. 245–247; Pennitz, S. 10–36. 73 Jhering, Jahrbücher 3 (1859), S. 475. 74 Schulz, S. 533: „For all this he [the seller] deserved a recompense, and this he received in the form of the price.“ 71

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Aus diesem Gedanken entwickelte Jhering seine Lösung für den Doppelverkaufsfall.76 Die Idee der Kaufpreis- als Ersatzforderung brachte ihn dazu, dem Satz periculum est emptoris nun nicht mehr „absolute“, sondern nur „relative“ Wirkung zuzuschreiben. Er gelte nur dann, wenn der Verkäufer durch den Untergang einen Schaden erlitten habe, was im Fall des Doppelverkaufs gerade nicht der Fall sei. Dem vom historischen Grund unterschiedenen funktionalen „Sinn“ 77 des Kaufpreises entspreche mithin eine „dem Verkäufer zugebilligte Versicherungssumme“ 78 als resolutiv bedingte Leistung.79 Die Abhängigkeit der Kaufpreisklage des Verkäufers von dem Bestehen einer Ersatzforderung gegen einen Dritten, nämlich den Zweitkäufer, war zugleich das relative Element, das die „doppelte Lucrirung des Kaufpreises“ 80 verhinderte und das Wahlrecht des Verkäufers beseitigte81 – quod erat demonstrandum.

75 Jhering, Jahrbücher 3 (1859), S. 466. Ähnlich Ernst, Einrede des nichterfüllten Vertrages, S. 52: Er behob den „verblüffenden Mangel an Parität“ zwischen den Parteien. 76 Für eine andere Lesart der rechtlichen Lösung Jherings s. Seinecke, in: Rückert/ders., S. 143–149. 77 Jhering, Jahrbücher 3 (1859), S. 466. 78 Jhering, Jahrbücher 3 (1859), S. 473, vgl. auch Gutachten, S. 81. 79 Jhering, Gutachten, S. 83 f. 80 Jhering, Gutachten, S. 77. 81 Die Wahlfreiheit des Verkäufers ist „gleichsam logische Folge“ des römischen Traditionserfordernisses: Ernst, in: Jakab/Ernst, S. 89. Ders., Doppelverkauf, S. 124, spricht für das geltende Recht denn auch von einer „Streitentscheidung durch Eigentumserwerb“.

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Jahre später finden wir in den Motiven zum BGB einen fernen Gruß Bernhard Windscheids an seinen Freund Jhering, der dessen Meisterstück konstruktiver Jurisprudenz zum Anlass für eine wichtige Korrektur nahm. „Richtiger“ sei es nämlich, wenn nicht danach gefragt werde, welcher von mehreren Käufern den Schaden zu tragen habe, sondern „welchen Einfluss der Untergang auf jedes der beiden Schuldverhältnisse“ 82 habe. „Diese Frage“, fuhr Windscheid fort, „wird sich von dem Grundsatz des Entwurfs [zum Bürgerlichen Gesetzbuch] aus, dass die Unmöglichkeit der Erfüllung von der Gegenleistung befreit, leichter beantworten lassen als von dem entgegengesetzten Grundsatze des Gemeinen Rechts, in welchem der doppelte Verkauf derselben Sache die gleiche Frage zur Beantwortung stellt.“ 83 Die gesetzliche Regelung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, wonach die Gefahr beim zufälligen Untergang der Kaufsache erst mit der Übergabe übergeht84, mithin die Umkehrung des römischen Satzes, geht also zurück auf Jherings „eigenthümlichen Anwendungsfall“ 85 von Ende 1858. Dazwischen liegen dogmatische Weichenstellungen, die für uns heute selbstverständlich sind. Mit der Vorstellung vom funktionellen 82

Mugdan, S. 179. Ebd. 84 Das BGB hat das Problem des Doppelverkaufs weitgehend gelöst, wenn auch nicht vollständig beseitigt. Dazu Ernst, Rechtsmängelhaftung, S. 226 ff.; ders., in: Jakab/Ernst, S. 101 Fn. 54; ders., in: Schmoeckel et al., §§ 446, 447 Rdnr. 5 m. w. Nw.; ders., Doppelverkauf, S. 119. Des weiteren Braun, AcP (1993), S. 556–566. 85 Jhering, Jahrbücher 3 (1859), S. 449. 83

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Synallagma lässt sich ohne weiteres begründen, dass der Untergang der Sache im Ergebnis beide, Verkäufer wie Käufer, von ihren jeweiligen Leistungspflichten frei werden lässt.86 Dass das Gemeine Recht anders entschied und den Käufer trotz Freiwerdens des Verkäufers weiter zur Zahlung des Kaufpreises obligierte, verdankt sich hingegen aktionenrechtlichem Denken.87 Das war der Grund, warum Jhering nicht zwischen den Primärund Sekundärleistungspflichten aus einem Schuldverhältnis unterscheiden konnte. Friedrich Mommsens Vorschlag, dem übergangenen Erstkäufer zu erlauben, das Erlangte beim Verkäufer abzuschöpfen88 – das später so genannte stellvertretende commodum – hatte Jhering zuvor noch mit Hinweis auf die „Grundsätze [. . .] des römischen Rechts“ 89 verworfen. Das commodum müsse ex re erlangt sein, das aus dem Untergang Erlangte, die Ersatzforderung, sei aber ein lucrum propter negotiationem perceptum und genüge dieser Anforderung daher nicht.90 Jherings Lösung lässt sich demgegenüber als der Versuch beschreiben, ein funk-

86 Bauer, S. 78: „Das Synallagma war im klassischen Recht noch keine feste dogmatische Kategorie.“ 87 Zur aktionenrechtlichen Begründung von periculum est emptoris: Ernst, Einrede des nichterfüllten Vertrages, S. 46–62; Pennitz, S. 48–98 et passim. 88 Mommsen, S. 297 (§ 25 N. 16). 89 Jhering, Jahrbücher 3 (1859), S. 473. 90 Jhering, Jahrbücher 3 (1859), S. 473. Zur verwickelten Dogmengeschichte dieser Unterscheidung; Ullrich, S. 94–104; Jakobs, S. 101 ff. zum heutigen Recht; SellaGeusen, S. 22; Ernst, in: Jakab/Ernst, S. 101–103; ders., Doppelverkauf, S. 118 f.

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tionelles Synallagma auf aktionenrechtlicher Basis zu konstruieren. Ob diese Lösung inhaltlich „überzeugt“ 91 oder nicht, ist zwar dogmatisch, aber kaum rechtshistorisch eine sinnvolle Fragestellung. Die gemeinrechtliche Rechtslandschaft ist weder reines Durchgangsstadium noch, um Michael Stolleis zu zitieren, bloße „,Vorgeschichte‘ des geltenden Rechts“.92 Nur in dieser Art von Entwicklungsdenken gibt es „,Fortschritte‘ und ,Rückschritte‘ oder ,Stillstand‘“.93 Löst man sich davon, entfällt auch das Bedürfnis, große juristische Denker der Vergangenheit anmaßend zu belehren. Stattdessen gewinnt man wissenschaftshistorische Einsichten. Wir sollten uns daher stets vergegenwärtigen, dass Jhering die Schienen, auf denen er fuhr (und wir fahren), erst selbst legen musste. 3. Folgerungen und Einsichten Zurück zum Schiffspartenfall: Hier hatte Jhering den, wie er sagt, „exorbitanten Satz“ 94 periculum est emptoris nach der produktiven Methode bearbeitet und ihn in seiner Geltung relativiert. Die Konstruktion, die ihm, wie so viele andere, „vom Konzept her beträchtlichen methodischen Ruhm eintragen sollte“ 95, befriedigte ihn selbst jedoch in keiner Weise, sondern wurde zum Ausgangspunkt seiner Abwendung von der bisherigen Methode. Was waren die 91 92 93 94 95

Behrends, in: Loos, S. 254. Stolleis, S. 22. Stolleis, S. 23. Jhering, Gutachten, S. 71. Falk, S. 69.

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Gründe für diesen berühmten „Umschwung“ 96, wie er es später selbst nannte? Dass er die nämliche Rechtsfrage in Auseinandersetzung mit dem Paulustext D. 18.4.21 rund 15 Jahre zuvor gegenteilig beantwortet hatte97, bereitete ihm offenbar keine Mühe.98 Hier wie anderswo war er ein Aristokrat des Arguments. Wenn es ihn nicht mehr überzeugte, so ließ er es fallen: „[E]ntweder muß das bisherige Dogma sich dem Neuen oder das Neue sich dem Dogma fügen.“ 99 Diese Haltung ist zugleich ein erstes Indiz für Jherings im Wortsinn un-dogmatische Arbeitsweise. Wie bereits erwähnt, war die Übertragung naturhistorischer Erkenntnistechniken auf das Recht ein zentraler Bestandteil von Jherings produktiver Methode. In ihr bildete das römische Recht den „in der“, so Wolfgang Fikentschers geglückte Formulierung, „gewerteten Empirie historisch gewordenen Rechtsstoff“ 100 und damit die Grundlage für eine lückenlose Sammlung von Rechtskörpern. Der Praxis des Sam-

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Jhering, Scherz und Ernst, S. 338. Jhering, Abhandlungen, S. 71. 98 Jhering, Jahrbücher 3 (1859), S. 453: „Indem ich mich jetzt der Beantwortung der oben aufgeworfenen Frage zuwende, will ich zunächst einen Irrthum berichtigen, der, so lange er anhielt, den Weg zum Richtigen völlig versperrte. Ich habe nämlich früher angenommen, [. . .] dass Paulus in der berühmten l. 21 de hered. vend. (18.4) unsere Frage, ob der Verkäufer von jedem der mehren Käufer den Kaufpreis fordern könne, bejahe, während dies in der That keinesfalls der Fall ist – ein Irrthum, auf den ich erst durch die Entscheidungsgründe des Urtheils zweiter Instanz aufmerksam geworden bin.“ 99 Jhering, Geist II/2, S. 403. 100 Fikentscher, S. 231. 97

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melns und Systematisierens entsprach zunächst die analytische Dekontextualisierung des einzelnen Gegenstands. Sie löste diesen aus seinem angestammten textuellen und historischen Bezugsrahmen heraus. Das Ergebnis dieses ersten Arbeitsschritts war, so Jhering, ein „Aggregat von abgerissenen Bruchstücken verschiedener juristischer Körper, von denen sich jedes [. . .] deplaziert fühlte und sich nach seinem natürlichen Zusammenhang zurücksehnte“.101 Im Schiffspartenfall sind damit die periculum-Regel und ihre Geschichte gemeint. Deren Verkäuferfreundlichkeit leuchtet im Kontext des römischen ius civile sachlich unmittelbar ein. In der republikanischen Bürgergesellschaft souveräner Hausvorstände verstand es sich ohne weiteres, dass die Kaufsache, die beide Parteien jederzeit im Blick hatten, bereits mit der Perfektion des Rechtsakts in das Vermögen (in bonis) des Käufers gelangte und der Verkäufer beim zufälligen Untergang vor der Tradition Entschädigung benötigte. Diesen genuin römischen Sinn wollte Jhering dem Satz austreiben und ihn mit einem neuen, gegenwärtigen Sinn füllen. Dazu diente der zweite Schritt, die Konzentration, mit der Herstellung von Bezügen der periculum-Regel zu anderen Rechtsregeln. Konkret waren das zwei neue Kontexte, einerseits der doppelte Mietkontrakt, der dem Mieter, dem die Sache vorenthalten wurde, ein Kürzungsrecht am Mietzins zugestand102, an-

101

Jhering, Geist II/2, S. 362. Jhering, Jahrbücher 3 (1859), S. 479; ders., Gutachten, S. 79 f. 102

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dererseits der Versicherungsvertrag, aus dem Jhering das Motiv der Ausgleichsfunktion des Kaufpreises entlehnte.103 Mit dieser relationalen Strategie sollte die „Lage des Körpers“ 104 zu anderen neu bestimmt werden. Sie ging jedoch nicht auf. Der Grund dafür war die nicht zu beseitigende Historizität des periculum-Artefakts. Das globale Distanzgeschäft des hochindustriellen Zeitalters war darin offensichtlich weder präformiert noch ließ es sich überzeugend aus ihm entwickeln.105 Für die Falllösung „gebr[eche]“ es „an direkten Quellenäußerungen völlig“.106 „Denn Stellen gibt es hier nicht“, beklagte sich Jhering schmerzlich, „sonst wäre die hier aufgestellte Theorie wohl schon längst vorgetragen worden“.107 Ohne einen direkten Quellenbeweis kam er zum ernüchterten Befund, „daß uns die Quellen wenigstens nicht entgegenstehen“.108 Unversehens war eingetreten, was er kurz zuvor noch ausgeschlossen hatte: Die Geschichte hatte seine Jurisprudenz in Verlegenheit gesetzt.109 Das römische Kaufrecht ließ ihn im Stich.110 103 Jhering, Jahrbücher 3 (1859), S. 472–474; ders., Gutachten, S. 81 f. 104 Jhering, Geist II/2, S. 400. 105 Zur „juristische[n] Konstruktion [als] Produkt der gewaltig-gewaltsamen Anpassung des gemein-römischen Rechts an die Bedürfnisse der industriellen Gesellschaft“ siehe Giaro, RJ 10 (1991), S. 209–232. 106 Jhering, Gutachten, S. 76. 107 Jhering, Jahrbücher 3 (1859), S. 480. 108 Ebd. 109 Jhering, Jahrbücher 1 (1857), S. 16. Treffend spricht Rückert, Rg 5 (2004), S. 136, von einer Modifikation „von der Begriffs-Statik zur Geschichtsdynamik“.

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Da sich aus der periculum-Regel keine modernen Rechtskörper herstellen ließen, sah sich Jhering gezwungen, das System in diesem Bereich durch Analogien zum römischen Mietkontrakt und zum modernen Versicherungsvertrag zu ergänzen, um es als lückenlos zu erweisen. Das gewünschte konstruktive Ergebnis ließ sich so nur auf Umwegen erzielen und, was besonders schwer wog, nur um den Preis teilweiser Verleugnung des römischen Rechts.111 Das widersprach seinen eigenen methodischen Anforderungen, insbesondere an logische Sparsamkeit und juristische Ökonomie, diametral. Die Konstruktion erschien ihm als „gezwungen, unnatürlich, ohne daß [er] sie darum für verkehrt erklären“ 112 konnte. Sie war nicht schön.113

110 Jhering, Gutachten, S. 80 „Rücksichtlich des Kaufcontracts hat das römische Recht die Frage nicht entschieden.“ Ähnlich Ernst, in: Jakab/Ernst, S. 87: „Viel weniger dicht ist die Quellenlage für den Fall, dass der wirkliche Eigentümer zwei Käufern dieselbe Sache verkauft hat.“ 111 Jhering, Gutachten, S. 81 f.: „Der Anspruch auf den Kaufpreis im Fall des Untergangs der Sache erscheint sowohl als eine dem Verkäufer vom Gesetz gewährte Versicherung gegen die Gefahren des Aufschubs der Tradition, und vermöge dieser Auffassung und nur mittelst ihrer wird auch die in manchen neuen Gesetzen ausdrücklich ausgesprochene Verpflichtung des Verkäufers zur Cession seiner Assecuranzansprüche an den Käufer, die abgesehen davon aus dem römischen Recht nicht zu deduciren ist, sich [. . .] begründen lassen.“ 112 Jhering, Geist II/2, S. 406. 113 Zur ästhetischen Dimension des Rechts grundlegend Goodrich, in: ders., S. 95–111 sowie Fögen, S. 117 ff.; zuletzt Vismann.

IV. Rechtswissenschaftliche Rezeption

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IV. Jherings naturhistorische Methode in der rechtswissenschaftlichen Rezeption 1. Die Passion des Sammlers juristischer Artefakte . . . Wie kam der Jurist Jhering auf die Schönheit? „Ohne Liebe“, so schrieb er 1857, „gedeiht kein Ding, die Liebe des Juristen aber zu seinem Fach [. . .] wurzelt eben in dem Kunstelement des Rechts; in der Erhebung und Vergeistigung des Stoffes [. . .] zu idealen Formen; in den Wundern dieser höheren Welt, [. . .] in der Ordnung und Harmonie, der Einfachheit und Schönheit, die hier herrscht [. . .].“ 114 Die Passion, von der Jhering hier spricht, ist die Leidenschaft des Sammlers.115 Er selbst wies auf den etymologischen Zusammenhang von lateinisch lex zu legere – „Sammeln, Zusammenlesen der Buchstaben“116 – hin. Die Leidenschaft kam ins Spiel, wo die Gesamtheit der Rechtssätze, Begriffe und Institute dem Juristen kraft seiner Beziehung zu den einzelnen Gegenständen plastisch wurde. Indem er eine Welt aus rein geistigem Stoff schöpfte117, schaffte sich der Sammler Jhering eine „Nachbildung der Natur im Elemente des Gedankens“ 118, eine „Natur-Imitation“.119 Kon114

Jhering, Jahrbücher 1 (1857), S. 13. Zur Leidenschaft des Sammlers Baudrillard, in: Elsner/Cardinal, S. 7–24, v. a. 9 f. 116 Jhering, Geist I, S. 202. 117 Somek, S. 135, spricht insoweit von einer „Transsubstantiation“. 118 Jhering, Jahrbücher 1 (1857), S. 12. 119 Jhering, Geist II/2, S. 407. 115

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IV. Rechtswissenschaftliche Rezeption

zeptionelle Reinheit, Geschlossenheit, mittelbar Ganzheitlichkeit und Universalität bildeten die Quelle dieser Schönheit. Sammler ordnen Artefakte nach subjektiven Kriterien. Besondere Bedeutung gewinnen diese erst durch persönliche Ordnungsleistung, die sie ihrem ursprünglichen Kontext entzieht, neu verortet und bisher nicht da gewesene Korrespondenzen schafft. Der Sammler ist dabei in ungewöhnlichem Maße selbst involviert. Er liebt die von ihm geschaffene künstliche Ordnung, die er zu vervollständigen sucht120, und es trifft ihn deshalb unmittelbar, wenn ihm Teile dieser Welt vorenthalten werden, etwa, weil sich ein Artefakt seiner ordnenden Bearbeitung, der Klassifikation, widersetzt. 2. . . . und ihre Kritik in der Rechtswissenschaft Betrachten wir Jhering so, werden nicht nur seine Naturgeschichte, sondern auch manche heftige ablehnende Reaktionen auf ihn und sein Werk besser verständlich. Diethelm Klippel hat sie mit „unterschiedlichen Weltanschauungen und rechtswissenschaftlichen Grundauffassungen“ 121 erklärt. In den Augen seiner Kritiker verstieß Jhering gleich gegen mehrere zentrale Regeln auf dem Spielfeld der Rechtswissen120 Zu Liebe des Sammlers Assmann/Gomille/Rippl, in: dies., S. 7–20, v. a. 11 f. 121 Klippel, in: ders./Becker/Zimmermann, S. 135. Ähnlich Rückert, Rg 6 (2005), S. 128: „Man sollte inzwischen den Pulverdampf dieser teilweise recht eitlen und weltanschaulichen Polemiken [. . .] sich lichten lassen können.“

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schaft. Er war ein Wissenschaftspositivist unter Dogmatikern, ein Naturwissenschaftler unter Archivaren und ein Künstler unter Wissenschaftlern, dessen Denken in ästhetischen Kategorien mit dem Wahrheitsanspruch der Wissenschaft kollidierte.122 Wie kam er dazu, Begriffe und Institute als „plastische Körper“ aufzufassen und ihnen produktive Fähigkeiten zuzuschreiben?123 Bestenfalls erntete er dafür ratloses Kopfschütteln, man nahm ihn nicht ernst. Jherings offensichtliche Begeisterung für die Sache tat ein Übriges dazu, die Werkkritik zur persönlichen umzumünzen. Die Gründe für diese negativen Beurteilungen liegen letztlich in Jherings Fundamentalkritik des historistischen Entwicklungsdenkens der Pandektistik, deren „rezeptiver Thätigkeit“ 124 er seine produktivkünstlerische Methode entgegenstellte. Er setzte sich damit in Widerspruch zum Gedanken organischer Rechtsbildung und unterlief damit erkenntnistheoretische Gewissheiten der zeitgenössischen Rechtswissenschaft mit ihrer kategorialen Hierarchie von Beobachter und Beobachtetem.125 Wo diese kühl und objektiv wesenhafte Begriffe aus den Quellen heraus 122 Ein Fall von Codeverwechslung: „Denn die aus der Welt der Kunst entlehnte Redefigur ästhetisiert leider das Werk der Wissenschaft und schwächt seinen Wahrheitsanspruch“, Latour, Die Hoffnung der Pandora, S. 164. 123 Hommes, in: Wieacker/Wollschläger, S. 108 f. Aus jüngster Zeit Seinecke, in: Rückert/ders., S. 138 et passim: „Sprachspielpluralismus“. 124 Jhering, Jahrbücher 1 (1857), S. 21. 125 Zu den philosophiegeschichtlichen Grundlagen der beiden Auffassungen Madison, Case Western Reserve Law Review 56 (2005), S. 82–478.

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IV. Rechtswissenschaftliche Rezeption

exegieren wollte, schöpfte Jhering Rechtskörper aus dem Spannungsfeld von (historischem) Grund und (zweckgerichtetem) Sinn. Dabei verlagerte sich seine leidenschaftliche Sammlerpersönlichkeit in die Gegenstände, die für ihn ein Eigenleben anzunehmen schienen: „[D]ie Begriffe sind productiv, sie paaren sich und zeugen neue.“ 126 Andernorts sprach er von der „Macht der Dinge“ 127, die sich, wie das periculum-Artefakt, nicht vollständig bändigen ließen.128 Die Plastik des Rechts verwischte die Grenze zwischen Subjekt und Objekt. Neben der künstlerischen Dynamisierung und Virtualisierung des historischen Stoffs war es vor allem diese bedrohliche Hybridität, die bei juristischen Beobachtern Unbehagen erzeugte. Sie drohte, Kategorien zu vermengen, die die juristische Dogmatik als grundlegend betrachtet und nicht zuletzt für das professionelle Selbstverständnis von Juristen bestimmend sind. Die Praxis des Sammelns und Vergleichens trug Jhering deshalb oft den Vorwurf ein, aus der Rechtseine Naturwissenschaft machen zu wollen. Diese Verletzung von Fachgrenzen rügte die konservative Kritik bereits zu Jherings Lebzeiten. So geißelte etwa Jherings Lehrer Rudorff den „unächten Fortschritt“ und die inhaltliche Beliebigkeit der Methode, die in der „Vertauschung der durch ihre Festigkeit und Eigenthümlichkeit unschätzbaren Rechtssprache mit ei126

Jhering, Geist I, S. 29. Jhering, Geist II/2, S. 363. 128 Für die modernen Naturwissenschaften weist auf diesen Umstand hin Roth, Social Studies of Science 35 (2005), S. 611. 127

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ner unsichern, der niedern Naturwissenschaft entlehnten Terminologie“ 129 ihren Ausdruck finde.

V. Die „Reisen der Wissenschaften“ – Jherings naturhistorische Methode im weiteren wissenschaftshistorischen Kontext Gegen den Vorwurf der semantischen Maskerade protestierte Jhering. Die naturhistorische Methode sei „keine müßige Spielerei“.130 Es gehe ihm nicht darum, für bereits Bekanntes neue, modische Bezeichnungen zu finden. Im Gegenteil diene die Übertragung naturwissenschaftlicher Konzepte und Begriffe auf die Jurisprudenz dazu, „neue Begriffe und Anschauungen“ 131 in die Rechtswissenschaft einzuführen. „Wo fänden sich“, schrieb er 1858, „diese Anknüpfungspunkte an das sinnliche Denken in dem Maße, als in der Natur, und mithin die zu recipirenden Ausdrücke in dem Maße, als in der Naturwissenschaft?“ 132 Die „Reisen der Wissenschaften“ waren für Jhering Hauptquellen der Innovation, wie er an historischen Beispielen ausführte. Sein Befund entspricht dem der modernen Wissenschaftsgeschichte, die das Phänomen der travelling concepts ebenfalls kennt.133 In engem Bezug zu diesem steht das Konzept der Sammlung; in und mit ihr wird die Macht der Dinge zur Natur der Sache, matter of fact. 129 130 131 132 133

Rudorff, S. VII. Jhering, Geist II/2, S. 389. Jhering, Geist II/2, S. 17. Jhering, Geist II/2, S. 17. Stengers, in: dies., S. 9–26; Bal, S. 22–55.

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Es ist eine große Ironie, wie wenig Jherings alte und neue Kritiker sich eingedenk sind, dass der moderne Begriff der wissenschaftlichen Tatsache als Synonym für ein empirisch erhärtetes und widerspruchsfreies Aggregat übereinstimmender Einzelbeobachtungen ursprünglich auf einem Import aus der Rechtswissenschaft beruht.134 Lorraine Daston und Barbara J. Shapiro haben gezeigt, wie die verfahrensrechtliche Unterscheidung von factum und ius zuerst von dem englischen Kronjuristen, Empiriker und Naturphilosophen Francis Bacon zur Erforschung der Natur und ihrer Geschichte fruchtbar gemacht wurde.135 „Die Bereitschaft, zweifelhafte Dinge für wahr zu halten“, schrieb dieser 1605, „gründet, je nachdem, worum es geht, auf zwei Anschauungen: Entweder auf dem Glauben an die Geschichte, wie die Juristen sagen: auf der Natur der Sache (oder Tatsache); oder aber auf der kunstfertigen Darlegung einer persönlichen Meinung“.136 Bacons „Glauben an die Geschichte“ lag die Idee der historia naturalis zugrunde im Sinne einer Sammlung einzelner und besonderer Sachverhalte, wie sie seit Plinius bekannt war. Mit der Einführung der epis-

134 Zur Begriffsgeschichte siehe Halbfass, in: Ritter/ Gründer, S. 910–913. 135 Daston, S. 36–54. Sie stützt sich auf Shapiro, insb. S. 34–62. 136 Bacon, in: ders., S. 125 (IV, 9): „This facility of credit and accepting or admitting things weakly authorised or warranted is of two kinds according to the subject: for it is either a belief of history, or, as the lawyers speak, matter of fact; or else of matter of art and opinion.“ Übers. d. Verf.

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temologischen Kategorie der Tatsache (fact) wollte Bacon diese Sachverhalte von den unterschiedlichen Meinungen lösen, die über sie kursierten. Das Ergebnis war der Begriff der Tatsache als „reine, nicht durch Schlussfolgerung oder Interpretation verfälschte Erfahrung“. In der Sammlung kreuzten sich mithin factum und ius, Anschauung und Interpretation. Die Naturgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts hat diese Unterscheidung mit ihren groß angelegten Wunderkammern und Kabinetten vollends von der Jurisprudenz auf die Naturwissenschaften übertragen.137 In diesem Sinn war Jhering wohl ein naturalist, ein Naturhistoriker oder empirischer Naturforscher des Rechts138, jedoch kein deterministischer Naturalist, wie man ihm fälschlicherweise vorgeworfen hat.139

137 Knapper und konziser Überblick bei Strasser, Osiris 27 (2012), S. 303–340 sowie Heesen/Spary, in: dies., S. 7–21; dies., in: Ogilvie/Heesen/Gierl, S. 29–56, jeweils m. w. Nachw. 138 Mecke spricht diesbezüglich von der „zwingend notwendigen Bewährung einer Idee oder Methode durch die konkrete ,Probe‘, ob als ,Probe in der Geschichte‘, als ,Probe‘ in der Philosophie oder aber als ,Probe in der Dogmatik des Rechts‘“, auf die Jhering in all seinen Arbeiten bestanden habe. „Jhering drückt damit sein im Doppelverkaufs-Fall auch eindrucksvoll praktiziertes, jedoch keineswegs auf die Rechtswissenschaft beschränktes Credo aus, daß jede theoretische Annahme entweder ,im einzelnen Fall die Probe bestehn‘ oder mutig verworfen werden müsse.“ Ders., S. 27 f. m. Nachw. Hervorh. i. Orig. 139 Fikentscher, S. 230 f. mit dem Kurzschluss, „Naturalist“ bedeute automatisch auch „Darwinist“. Zur Revision dieses überkommenen Bildes haben wesentlich die Arbeiten meines Lehrstuhlvorgängers Behrends beigetragen, die in diesem Beitrag zitiert sind.

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V. Die „Reisen der Wissenschaften‘‘

Als juristischem Empiriker lagen Jhering die Arbeitsmethoden der Naturwissenschaft daher näher als die seiner textwissenschaftlichen Kollegen. Besonders galt das für die Vorläufigkeit der Erkenntnisse der Wissenschaft und die jederzeitige Verhandelbarkeit ihrer Faktengrundlagen, wo, wie Bruno Latour sagt, „alles getan wird, damit die Wirkung einer neuen Information auf einen anerkannten Wissensbestand so zerstörerisch wie irgend möglich ausfällt“.140 Typisch für Jhering war insofern seine offene Forderung zur Zerstörung altrömischer Formen im Gemeinen Recht. Die „Aufgabe der Gegenwart gegenüber dem römischen Recht“, schrieb er 1857 zum Entsetzen mancher Fachkollegen, bestehe „nicht bloß im Construiren, [. . .] sondern auch im Destruiren“.141 Den „starre[n] Wortinterpretationen“ und „verlorene[n] Ueberbleibsel[n] altrömischer Anschauungen“, ja dem gesamten „civilistischen Mumien-Cultus“ 142 der Historiker war damit der Kampf angesagt. Angesichts der Vormachtstellung, die diese im akademischen Betrieb zu Jherings Zeiten innehatten, war das ein rechtes Wagnis. Keine Wissenschaft tut sich damit leicht, kanonisierte Wissensbestände aufzugeben; auch in der Geschichte der Naturwissenschaften gibt es dazu etliche Beispiele. Der Jurisprudenz als dogmatischer Wissenschaft fällt es deshalb besonders schwer, weil ihren 140 Latour, in: Pottage/Mondy, S. 105: „[. . .] everything is done to ensure that the impact of new information upon a body of established knowledge is as devastating as possible“. 141 Jhering, Jahrbücher 1 (1857), S. 30. 142 Ebd.

V. Die „Reisen der Wissenschaften‘‘

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Repräsentanten, die in der Rolle professioneller Entscheider erzogen werden, die Aufgabe zukommt, normative Erwartungen der Gesellschaft in Verfahren zu stabilisieren.143 In Rechtsverfahren jedoch ist der Umgang mit Tatsachen restriktiv geregelt, der Wiedereintritt und das Einbringen neuer Tatsachen stark eingeschränkt. Rechtstatsachen sind Grundlagen, die belastbar festgestellt werden müssen und nicht mehr verändert werden dürfen, weil sonst die juristische Bewertung ins Wanken gerät, was wiederum das Entscheiden verzögert oder gar verunmöglicht.144 In Bezug auf die Tatsachen, nicht aber deren Beurteilung, ist Recht daher „homöostatisch“ 145 und sträubt sich gegen Veränderungen.146 Jhering ist für seinen fehlenden Respekt vor den historischen „Tatsachen“ der Rechtswissenschaft oft gerügt worden. Seine Aussagen seien fragmentarisch und widersprüchlich147, sein Werk deshalb gekennzeichnet durch „Brüche, Sprünge und oft wahllose Assoziationen“ 148, weshalb ihm in seinem Leben kein 143

Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S. 35, 260 f.,

332 f. 144 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 70: „Systemautonomie wäre unmöglich, wenn auf jede Umweltursache sogleich eine Wirkung des Systems in der Umwelt folgen müßte“. 145 Latour, in: Pottage/Mondy, S. 113; ders., The Making of Law, S. 243. 146 Latour, in: Pottage/Mondy, S. 105: „In law things are arranged in such a way as to ensure that the particular facts are just the external occasion for a change which alters only the law itself and not the particular facts.“ 147 Wieacker, in: ZRG RA 86 (1969), S. 29 ff. 148 Wieacker, in: ders., S. 202.

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VI. Zur anhaltenden Aktualität Jherings

großes Buch gelungen sei.149 Besonders übel nahm man ihm seinen Witz, seine köstlichen Satiren, Persiflagen und den Spott, den er über manche seiner minder begabten Fachkollegen ausgoss.150 Das Lachen des juristischen Naturforschers verunsicherte, weil es rechtswissenschaftliche Erkenntnis nicht unbedingt in den Dienst des historischen Dogmas stellte, sondern dieses hinterfragte und mitunter auch untergrub. Das erfüllte den Tatbestand der Häresie. Bereits wenige Jahre nach Jherings Tod bescheinigte ihm Ernst Landsberg dafür einen „absoluten, durch keine Andeutung eines Ersatzes gemäßigten Nihilismus“ 151 und gab damit den Ton der Rezeption für lange Zeit vor.

VI. Von der Sammlung ins Labor: Zur anhaltenden Aktualität Jherings Was blieb? Zurück ins Papiergehäuse der historischen Schule oder gar Abschied nehmen von der Jurisprudenz? Für den leidenschaftlichen Romanisten 149 Wieacker, in: ZRG RA 86 (1969), S. 11: „Die beiden Hauptwerke „Geist“ und „Zweck“ sind nicht umsonst unvollendet geblieben. [. . .] diese Torsi [. . .].“ 150 Das gilt etwa für die „Briefe eines Unbekannten“ – nicht „Ungenannten“, wie bei Wieacker, in: ders., S. 206 zu lesen ist: „[I]m Grunde anspruchslose Eulenspiegelei, die vielen Juristengenerationen harmlose Freude gemacht hat.“ Oder auch über „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz“ (wie Fn. 8), über das Wolf schrieb, es sei „in der Form kaum erträglich durch die Unzahl platter Witze und schiefer Vergleiche, grober Entstellungen und irriger Werturteile“, ders, S. 656. Weitere Nachw. bei Klippel, in: ders./Becker/Zimmermann, S. 120. 151 Landsberg, III/2 Text, S. 810.

VI. Zur anhaltenden Aktualität Jherings

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Jhering waren weder Rückkehr noch Rückzug ernsthafte Optionen. In seiner Antrittsvorlesung 1868 in Wien präsentierte er, als vorläufiges Ergebnis des „Umschwungs“, ein juristisches Wissenschaftskonzept, das auch heute noch bemerkenswert aktuell ist. Unter dem provokanten Titel „Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?“ 152 vollzog er nun die endgültige Trennung des positiven Rechts von dessen Geschichte, nicht jedoch, ohne dieser sogleich eine neue Funktion zuzuweisen. Die „gewertete Empirie“ der historischen Rechtssätze begründete das geltende Recht nun nicht mehr, sondern beurteilte und erklärte es. Von einer rein dienenden Ancilla Juris wurde die Rechtsgeschichte so zu einer Kritikerin des positiven Rechts und einer notwendigen Garantin für die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz. Als Forscher des modernen Rechts hatte Jhering das Kabinett des Römischen Rechts damals bereits verlassen. Aus dem Sinn der Rechtssätze, der ihm im Schiffspartenfall so viel Kopfzerbrechen bereitet hatte, wurde mit der Zeit der „Zweck im Recht“. Methodisch war das eine Radikalisierung. Es bedeutete die Vertauschung der „gewerteten Empirie“ der Sammlung der römischen Rechtssätze mit dem Labor des sozialen Lebens, und damit den Übergang von der „relationalen Strategie“ des Naturhistorikers zur exemplarischen Methode der modernen Naturwissenschaft, dem Experiment.153 152

Jhering, in: Behrends, S. 47–92. Zum Verhältnis von Naturgeschichte und Experimentalwissenschaft Strasser, Osiris 27 (2012), S. 319– 323. 153

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VI. Zur anhaltenden Aktualität Jherings

Als Lehrer hat Rudolf v. Jhering mit den erwähnten Kabinetten Einrichtungen vorgedacht, die heute als law clinics und moot courts in gewandelter Form bestens etabliert sind. Ihre „Verkörperung“ des juristischen Stoffs „im Rechtsfall“ 154 wurde von ihm bereits vor 150 Jahren angeregt. Nicht nur in dieser Hinsicht bleibt Rudolf v. Jhering auch bald 125 Jahre nach seinem Tod damit gleichermaßen aktuell und unbequem.

154 Jhering, S. VIII.

Civilrechtsfälle

ohne

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Personen- und Sachverzeichnis Allgemeines Preußisches Landrecht 10 Artefakt 17, 36, 38

fact siehe Tatsache Factum siehe Tatsache Fikentscher, Wolfgang 31

Bacon, Francis 40 Briefe eines Unbekannten siehe Deutsche Gerichtszeitung Brockelmann, Ernst siehe Schiffspartenfall, Beklagter Bürgerliches Gesetzbuch 16, 28

Gefahrtragung bei Untergang der Kaufsache 25, 26, 28 Geist des römischen Rechts 15 Gerber, Carl Friedrich Wilhelm von 16 Geschichte als Kritikerin des Rechts 45 Gutachten 24

commodum ex re 29 commodum propter negotiationem perceptum 29 Daston, Lorraine 40 Deutsche Gerichtszeitung 11 Deutscher Juristentag 9 Doppelverkauf 22, 25, 27, 28 Empirie 19, 31, 40, 42, 45 Entwicklungsdenken im Recht 30 Experiment 45

Historische Rechtsschule 16, 17, 44 Interpretation 18, 40, 41 ius 32, 40, 41 Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 16 Justinian 17 Klinik, juristische 9 Klippel, Diethelm 36

58

Personen- und Sachverzeichnis

Konstruktive Jurisprudenz 28, 30 Kunst im Recht 17, 35, 37 Landsberg, Ernst 44 Latour, Bruno 42 lex 35 Matter of fact siehe Tatsache Mommsen, Friedrich 29 Museum siehe Sammlung Naturgeschichte 21, 36, 40, 41 Naturhistorische Methode 15, 32, 39 – Analyse 16, 17, 31 – Konstruktion 16, 34 – Konzentration 16, 18, 32 – Rechtskörper 31, 34, 38 Naturimitation siehe Schönheit im Recht Naturwissenschaft 11, 39, 42, 45 Pandekten 17 Pandektistik 37 Periculum est emptoris 26, 27, 30, 32, 34 Plastik des Rechts 19, 37, 38 Plinius 40

Pow & Fawcus siehe Schiffspartenfall, Kläger Produktive Jurisprudenz 16 Rechtsgefühl 20 Reisen der Wissenschaften 11, 39 Rezeption Jherings 21, 38, 44 Rudorff, Adolf August Friedrich 38 Sammeln als Praxis 32, 35, 38 Sammler 35, 36, 38 Sammlung 9, 12, 14, 17, 31, 39, 40, 44, 45 – Rechtskörper 19, 21 – Rechtsobjekte 12 – Rechtssubjekte 13, 14 Savigny, Friedrich Carl von 10, 18 Schiffspartenfall 15, 22, 30, 32 – Beklagter 23 – Entscheidung 23 – Graf von Paris 23 – Harrison Carr & Co. 23 – Kläger 22 Schönheit im Recht 34, 35, 36 Shapiro, Barbara J. 40

Personen- und Sachverzeichnis Stellvertretendes Commodum 29 Stolleis, Michael 30 Tatsache 40, 41, 43, 50 travelling concepts siehe Reisen der Wissenschaften Umschwung 16, 30, 45

59

Volkmar, Leopold 9 Wächter, Carl-Georg von 10 Windscheid, Bernhard 16, 28 Witz im Recht 44 Zweck im Recht 45

Anhang: Gutachten Rudolf Jherings, erstattet in der Rechtssache Pow & Fawcus gegen Brockelmann am 1. Januar 1859 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Nachlass Jhering 8:10) Jhering 8:10 Entwurf e Relation Zivilsache Übergabe e Schiffsladung Beteiligte: Pow et Fawcus Gf. V. Paris 26 Bl. 21.1.82 [sig.]

Editorische Notiz Die Edition des Originalmanuskripts von Jherings Gutachten bezweckt v. a. dessen gute Lesbarkeit. Dazu wurden Abkürzungen aufgelöst und offensichtliche Schreibfehler berichtigt. Die Interpunktion wurde heutigen Gebräuchlichkeiten behutsam angepasst, die Orthographie hingegen bei den bis 1901 geltenden Regeln belassen. Lateinische Fachausdrücke wurden der besseren Lesbarkeit halber kursiv gesetzt, Unterstreichungen des Originals wurden übernommen. Vom Verfasser verworfene Textstellen, die für die Rekonstruktion seiner juristischen Gedankengänge bedeutsam sind, wurden zurückhaltend übernom-

Anhang

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men, übrige Streichungen, Dopplungen usw. ohne weiteres weggelassen.

Geschichtserzählung Das klägerische Handlungshaus Pow et Fawcus zu North Shields besaß an zwei Rostocker Schiffen, deren Correspondenzrheder der beklagte Kaufmann Ernst Brockelmann zu Rostock war, Schiffsparten, an der Clara et Mathilde 3/64, an dem Grafen von Paris 1/16. Das letzte Schiffspart war von dem Reisenden des Hauses am 27. Aug. 1853 für 65 Pfund Sterling dem Verklagten verkauft und rücksichtlich des ersteren ihm das Vorkaufsrecht vorbehalten. Trotzdem verkauften und überlieferten Kläger am 24. Sept. beide Schiffsparten an Harrison Carr et Co. in Newcastle, mit denen sie bereits früher dieserhalb in Unterhandlung gestanden hatten, wovon sie dem Beklagten unter demselben Datum dann Nachricht gaben. Akten I Instr. 4 Anl. 1 Letzterer, der bereits vor Eintreffen dieses Berichtes von Harrison, Carr et Co. dieselbe Mittheilung erhalten hatte, drückte unter dem 28. Sept. den Klägern sein Befremden darüber aus und bat um Aufklärung und Übersendung der Eigenthumsacte des von ihm gekauften Parts. In ihrer Antwort vom 6. Oct. entschuldigten Kläger sich damit, daß sie „in Folge der Abwesenheit des Herrn Pow aus dem Geschäfte für einige Tage und auch in Folge noch anderer Ursachen“ von dem durch ihren Reisenden mit ihm, dem Beklagten, abgeschlossenen Verkauf nicht rechtzeitig Kenntniß erhalten hätten. „Kurz nachher“, heißt es weiter, „bot uns Herr Harrison an, alle unsere Parte in Rostocker Schiffen zu dem Preise zu übernehmen, den wir gefordert hatten, aber er wollte sie alle oder gar keine haben, und da wir schon gewünscht hatten, das Ganze zu verkaufen, so willigten wir ein und ließen ihn sie alle haben, voraussetzend Beklagte den Verlust trage“.

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Da letzterer sich deßen weigerte, so erhoben sie am 5. März 1854 beim Obergericht der Stadt Rostock Klage auf Zahlung des Kaufpreises, auf welche nach gepflogener Verhandlung Verurtheilung des Beklagten erfolgte (ib. 12.). Auf Appellation des letzteren ward dies Urtheil vom Oberappellationsgericht dahin aufgehoben, daß die Kläger mit ihrer Klage abgewiesen seien unter Verurtheilung in die Kosten beider Instanzen. Akten II. Inst. 11 Kläger ergriffen hiergegen das Rechtsmittel der Restitution. Nach der meckl. schwerinschen Verordnung über Rechtsmittel in Civilsachen u.s.w. vom 20. Juli 1840, § 37 wird die Restitution gegen Entscheidungen des Oberappellationsgerichts in zweiter oder dritter Instanz nicht bloß bei diesem Gerichtshof verhandelt, sondern auch alleweil durch den eignen Spruch desselben erledigt. Es steht jedoch dem Imploranten frei, eine Versendung der Akten an eine Juristenfakultät behufs Abgabe eines Rechtsgutachtens zu beantragen. Dies ist im gegenwärtigen Fall geschehen, und ist unsere – von den Partheien nicht excipirte – Fakultät zu Abgabe des Gutachtens aufgefordert worden.

Rechtliche Beurtheilung Die Deductionen der Partheien und die Entscheidungsgründe zu den in beiden Instanzen erfolgten Urtheilen drehen sich um zwei Fragen: A. Ist eine Tradition des verkauften Objects anzunehmen? B. Ist, auch wenn diese Frage zu verneinen, nicht desto weniger eine Verpflichtung des Beklagten zur Zahlung des Kaufpreises zu behaupten?

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A. In den Entscheidungsgründen erster Instanz ist diese Frage bejaht, in denen der zweiten verneint, und es kann nicht zweifelhaft sein, daß die letztere Ansicht die richtige ist. Die entgegengesetzte Ansicht wird an der angegebenen Stelle darauf gestützt, daß die Tradition im vorliegenden Fall „durch die in dem Verkauf selbst bereits gelegene Erklärung der Verkäufer, daß sie das verkaufte Schiffspart zur alleinigen Disposition des Käufers stellten“ bewerkstelligt worden sei. Eine Tradition des Schiffes selbst sei unausführbar, die des Eigenthumsactes aber nicht erforderlich gewesen, da „die allerdings häufig vorkommenden Eigenthumsacte in vielen Fällen gar nicht vorhanden seien.“ Die Unhaltbarkeit dieser Behauptung ist in den Entscheidungsgründen II. Instanz vollkommen überzeugend dargethan, und die Ausführungen der Kläger in ihrer Restitutionsrechtfertigung Akten II Inst. 15 S. 3–12 welche im wesentlichen nur Früheres ibid. 9 S. 4–24 wiederholen, sind wenig geeignet, diese Überzeugung zu entkräften. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, dieser Deduction Schritt für Schritt zu folgen, es genügt vollauf, im Anschluß an das Urtheil der vorigen Instanz auf den entscheidenden Gesichtspunkt aufmerksam zu machen. Die Erwiderung der von den Partheien ventilirten Fragen über die rechtliche Stellung des Correspondenzrheders, die Bedeutung der Eigenthumsacte u.s.w. sind durch ihn völlig überflüßig. Der Kaufcontract als solcher begründete bekanntlich nur die Verpflichtung zur Übertragung des verkauften Ob-

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jects an letztere selbst. In allen Fällen, wo es zu letzterem Zwecke der Tradition bedarf, also überall wo Gegenstand des Kaufes eine noch nicht im Besitz des Käufers befindliche Sache ist, treten diese beiden Arten äußerlich sichtbar hervor, und eine Verwechslung beider ist gar nicht möglich. Anders hingegen, wo es einer Tradition zu jenem Zwecke nicht bedarf, letztere vielmehr durch eine bloße Erklärung des Verkäufers bewerkstelligt werden kann, z. B. beim Verkauf einer Forderung, Servitut, einer Sache, die sich bereits im Besitz des Käufers befindet, einem Verkauf von einem Miteigenthümer an den andern. Da hier durch einen und denselben Akt der Kaufcontract sowohl abgeschlossen als erfüllt werden kann, so entsteht der Schein, als ob jener Unterschied hier zusammen, oder was daßelbe, hinwegfalle. Allein mit Unrecht. Derselbe hat nämlich keineswegs seinen Grund in dem Requisit der Tradition, so daß er nicht weiter reichte, als letzterer, sondern er ist ein innerlich nothwendiger und auch für jene Fälle völlig unentbehrlich, wie sich beispielsweise daraus ergibt, daß widrigenfalls eine Servitut nicht ex die bestellt, ein Verkauf unter Miteigentümern nicht sub pacto reservati dominii geschlossen werden könnte. Die Möglichkeit durch einen Akt den Kaufcontract abzuschließen und zu vollziehen begründet nicht die Nothwendigkeit. Wenn also immerhin, wie in den Entscheidungsgründen erster Instanz angenommen, die Übertragung von Schiffsparten eine Übergabe der Eigenthumsacte nicht erfordert, sondern durch bloße Erklärung beziehungsweise Anzeige an den Correspondenzrheder vollzogen werden kann und mithin im vorliegenden Fall sofort durch Abschluß des Kaufcontracts mit Beklagten hatte bewerkstelligt werden können, so ist doch, daß solcher geschlossen, durchaus in Abrede zu nehmen. Nach der übereinstimmenden Auffaßung beider Partheien hatte jener Kaufcontract nur ein obligatorisches

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Verhältniß zwischen ihnen begründet; keine erblickte darin eine Übertragung des Schiffspartes selbst. Rücksichtlich der Kläger ergibt sich das nicht bloß aus ihren Äußerungen über den mit dem Beklagten, sondern auch über den mit Harrison, Carr et Comp. abgeschlossenen Contract. Denn während sie in ihrem Schreiben vom 6. Oct. Akt. I 4 Anl. 2 ihr Bedauern aussprechen, wenn Beklagter „sich unangenehm berührt fühlen sollte, daß er ihr 1/16 vom Grafen von Paris nicht erhielte“, während ihm gegenüber immer nur von einem Verkauf die Rede ist, lautet ihre Anzeige des mit den zweiten Käufern abgeschloßenen Geschäftes dahin, daß sie „heute Herrn Harrison . . . ihr Part . . . verkauft und überliefert hätten.“ Ebenso sah Beklagter die Sache an. In seinem Schreiben vom 28. Sept. ibid. 10 No. 4 bittet er um Übersendung der Eigenthumsacten, nach deren „Empfang er den Betrag remittieren werde, wie solches ausgemacht worden“ – zum Beweise, daß hier die Erfüllung von Seiten des Verkäufers nicht mit dem Kaufcontract selbst zusammenfiel – und den zweiten Käufern Harrison u.s.w. schreibt er unter dem 11. Oct. 5 Anl. 2 „jeder Correspondenzrheder sei verpflichtet, jedwede Cession eines Rheders anzuerkennen mit der alleinigen Ausnahme, daß auf dem betreffenden Part . . . Forderungen lasteten; eine solche Forderung laste auf dem Schiffspart im Grafen von Paris, und es verändere die Sache nicht im geringsten, ob er oder ein Anderer derjenige sei, welcher gegen die Cession Einwände erhebe.“ Hierdurch erkennt also Beklagter die zweiten Käufer als diejenigen an, denen mittelst Übertragung der Eigenthumsacte der Schiffspart hat cedirt werden sollen, während ihm selbst nur ein obligatorisches Recht zustehe – und das Gewicht dieser Anerkennung ist ein um so höheres, als sie einem Geg-

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ner gegenüber geschieht, dem der Beklagte im übrigen Schwierigkeiten in den Weg zu legen versucht. Aus dem Bisherigen ergibt sich, daß der zwischen Klägern und Beklagtem abgeschlossene Contract eine gleichzeitige Erfüllung nach beiderseitiger Absicht nicht hat erhalten sollen, so wie zugleich umgekehrt, daß der zweite Verkauf durch Übertragung der Eigenthumsacte wirklich erfüllt worden ist. Dem Beklagten haben Kläger „ihr Part“ nur „verkauft“, dem zweiten Käufer es „verkauft und überliefert.“ B. Die Beantwortung der zweiten Frage hängt davon ab, ob in vorliegendem Fall lediglich die bekannte Regel des römischen Rechts, der zur Folge der Käufer durch Untergang der verkauften Sache von der Verpflichtung zur Zahlung des Kaufpreises nicht liberirt wird, zur Anwendung zu bringen ist, oder ob die besonderen Umstände des vorliegenden Falls die Anwendbarkeit dieser Regel ausschließen. Als solche Umstände verdienen folgende in Erwägung gezogen zu werden. I. Die Mora der Kläger Nach bekannten Grundsätzen geht mit der Mora des Verkäufers die Gefahr vom Käufer auf den letzteren über, zur Begründung derselben aber bedarf es bei unbetagten Obligationen einer Mahnung. Daß dieselbe von Seiten des Beklagten erfolgt ist, kann nicht beanstandet werden, sie lag in der in seinem Briefe vom 28. Sept. ausgesprochenen Bitte um Behändigung der Eigenthumsacte. Ob dieselbe aber den Klägern rechtzeitig vor Untergang des Schiffes, also auch im Lauf des 1. Oct. zugekommen, erhellt aus den Akten nicht. Es würde nun dieser Punkt zum Bericht erstellt werden müssen, wenn nicht im vorliegenden Fall ein Gesichtspunkt Platz griffe, der die Entscheidung über das Dasein einer Mora völlig überflüßig macht.

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Nach der richtigen Ansicht, für welche es auf die neuste Bearbeitung der Lehre von der Mora von F. Mommsen1 Bezug zu nehmen genügt, fällt nämlich die obige Wirkung der Mora des Schuldners dann hinweg, wenn der Casus auch bei rechtzeitiger Lieferung eingetreten sein würde. Zwar steht dem Gläubiger dagegen der Einwand zu, daß er bei rechtzeitiger Leistung die Sache würde verkauft haben, oder, nach andern Äußerungen unserer Quellen, daß er sie habe verkaufen können, allein für welche von diesen beiden Faßungen man sich auch erklären mag, für den vorliegenden Fall relevirt dies nicht. Die unterlaßene Übersendung der Eigenthumsacte entzog dem Beklagten so wenig die Möglichkeit des Weiterverkaufs des Schiffsparts, daß er ja in seinem Schreiben vom 6. Oct. den angeblichen Weiterverkauf an einen Freund als Grund anführt, warum er die Kläger ihrer Verbindlichkeit nicht entlassen könne. Auf den Untergang des Schiffes aber war die Mora ohne allen Einfluß. II. Die angebliche Auflösung des Kaufcontracts durch mutuus dissensus Nachdem Beklagter die Aufforderung der Kläger zum Rücktritt vom Kaufcontract auch unter dem 11. Oct. ablehnend beantwortet hatte, erklärte er unter dem 13. Oct. seine Geneigtheit, welche Erklärung die Kläger unter dem 18. Oct. acceptirten. Abstrahiren wir zunächst von der Behauptung der Kläger, daß der Beklagte bei Absendung des zweiten Briefes um den Untergang des Schiffes gewusst habe, so könnte die Auflösung des Kaufcontracts aus zwei Gründen bestritten werden.

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Mommsen, Die Lehre von der Mora.

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Zunächst: weil Beklagter die Aufforderung der Kläger anfänglich abgelehnt hatte, dieselbe mithin in dem Moment, als er seinen Entschluss änderte, gar nicht mehr existirte. Dies Argument erledigt sich jedoch dadurch, daß Kläger sich mit der schließlichen Erklärung des Beklagten einverstanden erklärte, wodurch, wenn nicht die ursprüngliche Proposition der Kläger als von Seiten des Beklagten, so jedenfalls die in seinem zweiten Briefe enthaltene Proposition gleichen Inhalts als von Seiten der Kläger als angenommen gelten müßte. Zweitens: weil zur Zeit der Auflösung des Kaufcontractes der Gegenstand desselben gar nicht mehr existirt habe. In der That haben die Urtheilsverfasser erster Instanz auf diesen Grund hin die Einrede der Auflösung durch gegenseitige Einwilligung verworfen. Die Auffassung, von der sie dabei ausgehen, daß nämlich „der Unterschied des römischen Rechts zwischen Aufhebung einer Obligation mutuo dissensu oder durch Eingehung eines neuen Vertrages“ ein historischer sei, und daß heut zu tage „jede Übereinkunft über res und pretium daher als neuer Contract zu behandeln sei“, ist jedoch völlig unhaltbar. Damit fällt auch die darauf gebaute Folgerung, daß „die Auflösung durch mutuus dissensus über Rückkauf zu behandeln und mithin bei nicht mehr vorhandener Sache ungültig sei.“ Die Frage, ob der nachherige (den Partheien unbekannte) Untergang der Sache diese Art der Auflösung des Kaufcontracts ausschließe, ist in den Quellen nirgends ausdrücklich beantwortet. Von vornherein könnte es scheinen, als dürfe man das Requisit der Existenz der Sache, welches für die Eingehung des Kaufcontracts aufgestellt wird, auch auf die Auflösung übertragen. Allein das läßt sich in keiner Weise rechtfertigen. Ein Kaufcontract läßt sich auch abschließen ohne ein Object – das beruht auf logischer Nothwendigkeit. Allein warum er sich nach Untergang des Objects nicht mehr sollte aufheben laßen, ist gar nicht abzusehen. Der darauf gerichtete Vertrag betrifft

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ja nicht das Object des Kaufcontracts; die verkaufte Sache – wenn dies der Fall, so müßte sie allerdings existiren – sondern den Kaufcontract selbst, d. h. eine in der Vergangenheit liegende Thatsache oder, was daßelbe, die Wirkung dieser Thatsache in der Gegenwart: die Obligation. Dauert letztere nun trotz des Casus, wenn auch und einseitig, zum Nachtheil des Käufers fort, so steht nichts im Wege, daß sie nicht durch gegenseitige Übereinkunft sollte aufgehoben werden. Daß der Verkäufer bereits ohne sein Wissen durch den Casus liberirt war, – eine Befreiung, die in manchen Stellen ihrer Wirkung nach mit der Leistung verglichen wird – entzieht dem Vertrage nicht die liberatorische Kraft für den Käufer. Einen wichtigen Anhaltspunkt zur Beantwortung der vorliegenden Frage gewährt die Lehre von dem Casus bei bedingten Geschäften. Während bei der Suspensionsbedingung der während der Pendenz derselben eintretende Untergang der Sache das Zustandekommen des Geschäftes ausschließt, W. Sell über bedingte Traditionen S. 51 fl.,2 verhält sich dies für die Resolutionsbedingung entgegengesetzt. Derselbe S. 264 fl.3 Aus der Art, wie der Jurist in l. 2 lege commiss. (18.3)4 argumentiert: Si aliter acciperetur . . . eius periculo fuisset ergibt sich klar, daß ihm eine Ausübung der lex commissoria nach Untergang der Sache nicht als Unding erschien, und daß er dem Verkäufer, wenn er thöricht genug war es zu wollen, das Recht darauf nicht bestreiten wollte.

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Sell, S. 51 f. Sell, S. 264 f. D. 18.3.2.

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Stand demnach der Untergang des Grafen von Paris der Gültigkeit des Aufhebungsvertrages nicht im Wege, so frägt es sich, ob der von den Klägern behauptete Umstand, daß Beklagter bei Annahme ihrer Proposition um jene Thatsache wußte, daran etwas ändern würde. Dies ist allerdings zu behaupten. Das Verschweigen jener Thatsache würde sich als ein Dolus characterisiren. Beklagter müsste sich sagen, daß sein jetziger Rücktritt für die Kläger gar keinen Sinn und Werth mehr habe, und die Annahme desselben von ihrer Seite nur unter der Voraussetzung zu erwarten stand, daß sie jene Thatsache noch nicht in Erfahrung gebracht hätten. Würde sich daher nicht aus einem andern Grund eine unbedingte Abweisung der Kläger rechtfertigen, so würde sie auf den gegenwärtigen hin nur dann erfolgen können, wenn Kläger nicht den Beweis erbringen könnten, daß Beklagter bei Absendung seines Briefes vom 13. Oct. vom Untergang des Schiffes bereits erfahren habe. Jener Grund liegt in dem III. abermaligen Verkauf des Schiffsparts von Seiten der Kläger an Harrison Carr et Co. Es ist mit Nothwendigkeit in der ganzen Consequenz des römischen Obligationenrechts begründet, daß ein mehrmaliger Verkauf von Seiten desselben Verkäufers an verschiedene Käufer auf sein Verhältniß zu letzteren ohne allen Einfluß bleibt; jeder der letzteren hat die actio emti, und gegen jeden derselben steht dem Verkäufer die actio venditi zu, so gut, als ob die Sache bloß einem allein verkauft worden wäre. So lange der verkaufte Gegenstand existirt, führt diese Behandlungsweise zu keinem irgendwie anstößigen Resultat. Dafür, daß der Verkäufer mehrmals den Kaufpreis erhält, hat er seinerseits mehrmals die Sache oder da er dies nur einmal in natura kann, die andern Theile das Interesse zu leisten. Ganz anders aber, wenn die Sache durch Casus untergeht. Insoweit der Verkäufer nicht in mora oder culpa ist – und der doppelte

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Verkauf allein begründet dieselbe nicht – aber insofern nicht die Tradition an den einen Käufer den Untergang herbeiführte oder ermöglichte, letzterer mithin mittelbar durch den Verkäufer selbst verschuldet ward – insofern wird der Verkäufer von seiner Verbindlichkeit frei, während er seine actio emti auf Zahlung des Kaufpreises gegen jeden der Käufer beibehält. Das Gleichgewicht, welches zwischen Leistung und Gegenleistung besteht, so lange sie Sache existirte, artet jetzt in eine Ungleichheit und Unbilligkeit aus, die, wie ein neuerer Schriftsteller F. Mommsen, Beiträge zum Oblig. Recht I § 25 Note 165 Derselbe, Erörterungen aus dem Obl. R. I S. 1106 mit Recht bemerkte, mit den Anforderungen der Gerechtigkeit im entschiedensten Widerspruch steht. Während das römische Recht den zweiten Verkauf, wenn er in betrügerischer Absicht geschehen, sogar criminell bestraft l. 21 de fals. (48.10)7 poena falsi coercetur wird das Civilrecht denselben hier zu einer Quelle des Gewinns für ihn!, und daßelbe Recht, das den Verletzten gegenüber unsrem Damnifikanten nur aufgrund und einen einmaligen Schadensersatz gewährt, gesteht hier dem unredlichen Verletzer eine mehrmalige Klage gegenüber dem Verletzten zu! Hat das römische Recht in der That diesen exorbitanten Satz anerkannt? Die wenigen Schriftsteller, welche sich über diese Frage gewundert haben Jhering, Abh. Aus dem römischen Recht S. 59, 71.8

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Mommsen, Die Unmöglichkeit der Leistung, S. 297 f. Mommsen, Erörterungen I, S. 110. D. 48.10.21. Jhering, Abhandlungen, S. 59, 71.

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Stoffregen in den Dorpater jurist. Studien herausgegeb. von Osenbrüggen. Dorpat 1849 S. 84–123.9 F. Mommsen an den beiden angegebenen Stellen10 Windscheid, Heidelb. krit. Zeitsch. II S. 134.11 nehmen dies an, allein in den Entscheidungsgründen der zweiten Instanz ist mit Recht bemerkt, daß die l. 21 de her. vend. (18.4)12, in der man diesen Satz finden kann, lediglich von der actio emti, nicht von der actio venditi spricht. Der erste Käufer, sagt sie, hat, wenn die Sache untergegangen, keinen Anspruch auf den Kaufpreis, den der Verkäufer durch einen abermaligen Verkauf gelöst hat (. . . eo alii quoque vendidero pretiumque accepero); die Frage, was derselbe seinerseits zu leisten, lag ganz außerhalb der Aufgabe des Juristen, und es nöthigt nichts zu der Annahme, daß derselbe sie stillschweigend in dem obigen Sinn beantwortet habe. Die angeführten Entscheidungsgründe schlagen nun, um den Anspruch der Kläger zu beseitigen, folgenden Weg ein. Sie erblicken den Grund, warum der Verkäufer durch Untergang der Sache seines Anspruchs auf den Kaufpreis nicht verlustig gehe, darin, daß er sich durch den Contract die Hände gebunden, oder wenn wir dem Gedanken einen anderen Ausdruck geben dürfen, darin, daß er auf sein dispositives Recht zu Gunsten des Käufers verzichtet habe. Gebe er nun danach das Eigenthum auf, so sage er sich tatsächlich vom Contract los und entbinde von nun an den Käufer der Gefahr, gegen deren Übernahme seitens des letzteren der Verkäufer sich verpflichtet habe, ihm die Sache aufzubewahren. Durch seine eigne 9

Stoffregen, in: Osenbrüggen, S. 84–123. Mommsen, Die Unmöglichkeit der Leistung, S. 297 f.; ders., Erörterungen I, S. 110. 11 Mommsen, Die Unmöglichkeit der Leistung, in: Windscheid, S. 134. 12 D. 18.4.21. 10

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Handlung habe er sich die Erfüllung seines Contracts, so lange er das Object nicht wieder erworben, unmöglich gemacht, und der Käufer würde der actio venditi die exceptio doli entgegensetzen können. An diesem Zustande ändere der casuelle Untergang der Sache nichts, derselbe befreie nur von einer Leistung, die lediglich durch ihn unmöglich geworden, und mache ebenso wenig frühere nachtheilige Handlungen ungeschehen, als er die durch dieselben einmal begründeten Einreden aufhebe. Zur Unterstützung wird auf die l. 21 pr. de evict (21.2)13 Bezug genommen, der zufolge der Untergang der verkauften und dem Käufer tradirten Form der Sache zwar die Möglichkeit der Eviction und damit die Evictionsklage beseitigt, die Ansprüche aus dem etwaigen Dolus des Verkäufers aber bestehen läßt. Es sind gegen diese Deduction in der Restitutionsrechtfertigungsschrift zum Theil nicht unerhebliche Bedenken erhoben worden, 15 S. 14–42 deren Prüfung wir uns jedoch ersparen, da sie an der Deduction, die unsererseits im Folgenden versucht werden soll, nichts ändern würden. Im Resultat vollkommen damit einverstanden, daß Kläger durch den abermaligen Verkauf ihr Recht, vom Beklagten im Fall des Casus den Preis zu fordern, verwirkt haben, glauben wir doch, daß die versuchte Begründung gar zu sehr durch die concreten Verhältnisse des gegenwärtigen Falls beeinflusst worden und dieser zu eng ausgefallen ist. Die oben herangehobene Unerträglichkeit, daß bei Untergang der mehrmals verkauften Sache der Verkäufer von jedem Käufer, also doppelt, den Kaufpreis erhält, ist völlig unabhängig davon, ob derselbe einem der Käufer bereits tradirt hat oder nicht, ob er den zweiten Verkauf mala oder (wie es z. B. in dem Fall, wenn dies 13

D. 21.2.21.

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eine Mal der Erblasser oder Stellvertreter verkauft hätte, möglich ist) bona fide geschlossen hatte. Nicht in dem zweiten Verkauf oder in dem der Tradition an den zweiten Käufer liegenden Dolus gegen den ersten Käufer finden wir den Grund, der den Käufer von der Verpflichtung zur Zahlung des Kaufpreises liberirt, sondern dies Begehren doppelter Zahlung nach Untergang der Sache 15 S. 14–42 Bedenken erhoben worden, die jedoch den wesentlichen Kern derselben in unsern Augen nicht zu erschüttern vermocht haben. Es kommt nämlich dabei nicht sowohl auf den Punkt an, den die Imploranten als den vermeintlich entscheidenden zum hauptsächlichen Gegenstand ihrer Erörterungen gemacht haben: den Einfluß, den der Casus auf die actio emti, als den er auf die exceptio doli ausübt. Die wissentliche (wenn auch nicht in betrügerischer Absicht vorgenommene) Übertretung einer Verbindlichkeit fällt nach römischem Recht bekanntlich unter den Gesichtspunkt des Dolus, l. 68 § 2 de empt. (18.1)14 Daß im vorliegenden Fall eine solche wissentliche Übertretung anzunehmen, kann keinem Zweifel unterliegen. Der mit den Beklagten am 27. August abgeschlossene Contract müsste den Klägern bei Abschluss des zweiten – am 24. September, – also beinahe einen Monat später, längst bekannt geworden sein, und wenn sie ihre Handlungsweise damit zu entschuldigen gedenken, daß sie „in Folge der Abwesenheit des Herrn Pow aus dem Geschäft für einige Tage und in Folge auch anderer Umstände nicht rechtzeitig Nachricht erhalten hätten“, so verdient dies offenbar keine Berücksichtigung. Eine Abwesenheit von „einigen Tagen“ war bei einem Zeitraum 14

D. 18.1.68.2.

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von vier Wochen völlig einflusslos, und die Nachricht war ihnen immerhin noch „rechtzeitig“ zugekommen, so wie sie nur bis zu dem 24. Sept. eingetroffen war. Daß letzteres der Fall gewesen, haben die Kläger selbst stillschweigend eingeräumt. Aus jener wissentlichen Übertretung entsprang für den Beklagten ein doppeltes: die actio emti auf das Interesse l. 6 Cod. de her. vend (4.39)15: . . . quoniam contractus fidem fregit, ex empto actione conventus quod tua interest praestare cogitur. und die exceptio doli. In der Verschiedenheit des Zweckes dieser beiden Rechtsmittel liegt es, daß der casuelle Untergang des verkauften Gegenstandes auf beide nicht denselben Einfluß ausübt. Die actio emti geht unter, die exceptio doli dauert fort. Ersteres ist in der von den Imploranten in Bezug genommenen l. 45 de O. et A. (44.7)16 ausdrücklich anerkannt und ergibt sich schon aus allgemeinen Principien. Da nämlich mit der Möglichkeit der Leistung auch die Verpflichtung zu derselben, d. h. die actio emti hinweggefallen, so ist damit auch die durch die wissentliche Obligationsverletzung etwa bewirkte Modalität der ursprünglichen Leistung oder m. a. W. der oben erwähnte Anspruch auf das Interesse beseitigt. Daraus folgte aber keineswegs, daß daßelbe auch für die exceptio doli der Fall sein müße. Denn letztere hat nicht die Leistung des Interesses von der andern Seite, sondern die eigene Nichtleistung von Seiten des Käufers zum Zweck, und dieser Zweck wird durch den Untergang des verkauften Objects nicht unmöglich, so wenig, wie dadurch die in der Vergangenheit liegende Thatsache des verübten Dolus ungeschehen gemacht wird.

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C. 4.39.6. D. 44.7.45.

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Nicht die Nichtleistung von Seiten des Verkäufers ist der Grund dieser exceptio doli – wäre dies der Fall, so enthielte sie nur einen Anwendungsfall der exceptio non adimpleti contractus, und würde wie diese durch den Casus, welcher den Verkäufer von der Leistung befreit, aus dem Wege geräumt. Sie stützt sich vielmehr darauf, daß der Verkäufer vor Eintritt des Casus sich selbst die Erfüllung seiner Verbindlichkeit unmöglich gemacht hat und die bloße abstrakte Möglichkeit des Wiedererwerbs kann hier, wo es sich um die concrete Leistungsfähigkeit handelt dagegen nicht und diesen Vorwurf hebt ja der casuelle Untergang der Sache nicht auf. Ob der Verkäufer denkbarerweise die Sache vorher hätte wieder erwerben können, kann nicht in Betracht kommen – diese Möglichkeit besteht immer, so lange die Sache existirt. In der Lage, in die er sich versetzt hatte, konnte er nicht leisten, und diese Lage bestand auch im Moment des Untergangs der Sache. Wie wenig die in einigen Stellen ausgesprochene Verpflichtung des liberirenden Erfolges des Casus mit der Erfüllung l. 5 § 2 de ref. vend. (18.5)17 l. 15 de jus. dot. (23.3)18 ein stringentes juristisches Princip Neben der im vorstehenden entwickelten und gebilligten Deduction scheint es uns jedoch zur Erreichung desselben Resultats auch einen andern Weg [zu] geben, und wir wollen um so weniger unterlassen, auf denselben aufmerksam zu machen, als gerade bei einer Frage, für die es an direkten Quellenäußerungen völlig gebricht, die Möglichkeit einer mehrfachen Gewinnung und Rechtfertigung ihrer Entscheidung einen aus allgemeinen Gründen einen besonderen Werth haben muß. Wir hoffen nämlich nachzuweisen, daß nach der Intention des römischen Rechts 17 18

D. 18.5.5.2. D. 23.3.15.

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der Verkäufer bei doppeltem Verkauf und erfolgtem Untergang der Sache nur einmal den Kaufpreis fordern kann, einerlei, ob er den zweiten Kontrakt bona oder mala fide abgeschlossen und einem der Käufer bereits die Sache tradirt hätte oder nicht. Nachdem dies erwiesen, soll sodann gezeigt werden, daß im vorliegenden Fall der Kaufpreis nur von den zweiten Käufern gefordert werden dürfte. Die oben hervorgehobene Unerträglichkeit des Resultates Während die Entscheidungsgründe der vorigen Instanz der Dolus des Verkäufers Grund, der den Verkäufer Wir brauchen es nicht Hehl zu haben, daß der Widerspruch, den das gesunde Rechtsgefühl gegen die doppelte Lucrirung des Kaufpreises erhebt, uns zu unsrer Ansicht den ersten Anstoß gegeben hat. Dieser Widerspruch beschränkt sich aber keineswegs auf den Fall, daß der Verkäufer in betrügerischer Absicht oder wissentlich zweimal verkauft, und daß er einem der Käufer bereits tradirt hat. Auch wenn er den zweiten Verkauf bona fide abgeschloßen hatte, wie es z. B. möglich ist, wenn er von dem in seinem Namen abgeschlossenen Vertrag seines Stellvertreters auch keine Nachricht erhalten und wenn er auf keinen der Käufer die Sache tradirt hatte, auch dann erscheint das Begehren des doppelten Kaufpreises in keinem von dem einfachen Rechtsgefühl als kaum in einem erträglicheren Licht: res habet in se dolum, wie ein römischer Jurist sich in einem solchen Fall ausdrücken würde. Ist dies Gefühl ein richtiges, so ist damit dem Versuch, den Inhalt desselben juristisch zu rechtfertigen, als Ziel die Unzuläßigkeit der zweimaligen Betreibung des Kaufpreises und als Mittel zur Erreichung desselben eine Untersuchung über den Sinn und Grund des Rechtssatzes vorgezeichnet, der dem Verkäufer nach casuellem Untergang der Sache einen Anspruch auf den Kaufpreis gewährte. Wir knüpfen zunächst an einen allgemeinen Gesichtspunkt an.

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Während das römische Recht für dies Zusammentreffen mehrer Obligationen unter denselben oder verschiedenen Personen im allgemeinen den Grundsatz der Selbständigkeit jeder einzelnen Obligation aufstellt, hat es denselben doch in einer höchst wichtigen Richtung hin verlassen, der nämlich, wo die mehren Obligationen einen und denselben praktischen Zweck verfolgen. Die Leistung auf Grund der einen Obligation, möge sie von dem Beklagten selbst oder von einem Andern erfolgt sein, gewährt ihm Befreiung von der concurrirenden Obligation, ohne daß die im übrigen obwaltende juristische Verschiedenheit beider Obligationen dabei in Betracht käme. Der Gedanke, der dem zu Grunde liegt, wird in der l. 57 de R. J. (50.17)19 dahin ausgedrückt: bona fides non patitur, ut bis idem exigatur oder in l. 51 § 1 de re iur. (42.1)20: improbum esse eum, qui velit iterum consequi, quod accepit. Indem nun dieser Gesichtspunkt nicht bloß für mehre unter denselben Personen bestehende Obligationen (so genannte Klagenconcurrenz) Platz greift, sondern auch auf Obligationen unter verschiedenen Personen (so genannte solidarische Obligation im engen Sinn) Anwendung findet, ist damit dargethan, wie wenig sich die Römer bei diesem Verhältniß durch die von Imploranten in Bezug genommene Regel: inter tertios acta tertiis nec nocent nec prosunt haben leiten lassen. Sind also im übrigen die Voraussetzungen vorhanden, damit der eine Käufer sich auf die von dem andern geschehene Zahlung des Kaufpreises berufen kann, so steht dieser Grund nicht entgegen. Zu diesen Voraussetzungen gehört nicht schlechthin, daß die gegen die mehren Personen gerichteten Klagen auf Leistung des Schadensersatzes oder Interesses gerichtet sein, und man hat im Hinblick darauf die durch Leistung von dem einen Schuldner für den anderen eintreten19 20

D. 50.17.57. D. 42.1.51.1.

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den Befreiung so zu begründen gesucht, daß ein Schaden nicht mehr vorhanden, wenn er ersetzt, ein Interesse nicht doppelt geltend gemacht werden kann. Allein dies ist zu eng. Der Gläubiger, welcher auf den Creditauftrag dem A und dem B ein Darlehn gegeben, behält an sich, wenn jener Zahlung geleistet, seine actio mutui, so wie sie ist, und soll sie den Mandanten cediren l. 28 Mand. (17.1)21 allein obgleich dieselbe nicht auf das Interesse gerichtet ist, ihr Gegenstand also nicht hinweggefallen ist, würde doch, wenn er selbst sie anstellte, dem Schuldner eine exceptio doli nicht versagt werden können. Dagegen könnte es scheinen, als fände das obige Princip in Anwendung auf Klagen gegen verschiedene Personen nur dann statt, wenn diese Klagen nicht wie bei der actio venditi auf eine bestimmte Geldsumme, sondern auf Leistung des Interesses gerichtet seien. Allein mit Unrecht. Der Miether, der durch einen ihn betreffenden Casus an der Benutzung der vermittelten Sache oder Dienste verhindert worden ist, kann dem Vermiether an dem Miethzins kürzen, was letzterer aus anderweitiger Vermiethung gelöst hat, l. 19 § 9 loc. (19.2)22 obgleich doch die actio locati hier nicht auf das Interesse, sondern auf eine bestimmte Geldsumme geht. Dagegen stellen die Quellen als Voraussetzung hin, daß die zweite Klage auf daßelbe gehe: ne bis in idem exigatur. Nun ist allerdings unzweifelhaft, daß ein doppelter Verkauf eine solche Identität von vornherein nicht begründete 21 22

D. 17.1.28. D. 19.2.19.9.

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weder für die Waren, noch für den Preis – so wenig wie ein doppelt abgeschlossener Miethcontract. Beide Contracte werden von beiden Seiten vollzogen, wenn auch von Seiten des Verkäufers und Vermiethers nur ein theil in natura, und keine der Partheien kann aus dem Umstand, daß über denselben Gegenstand noch ein zweiter Vertrag abgeschlossen, ein Recht ableiten. Tritt aber ein Casus ein, der den Verkäufer oder Vermiether von seiner Leistung befreit, ohne ihm seinen Anspruch auf den Kaufpreis oder Miethzins zu entziehen, so ändert sich diese Sachlage. Für das Miethverhältniß ist dies in der oben citirten Stelle des römischen Rechts ausdrücklich anerkannt. Der Vermiether soll für die einmalige Leistung von seiner Seite nicht den doppelten Miethzins bekommen. Rücksichtlich des Kaufcontracts hat das römische Recht die Frage nicht entschieden, allein es kann wohl nicht zweifelhaft sein, daß es sie in demselben Sinn entschieden haben würde. Jene Bestimmung beim Miethcontract hat ihren Grund nicht in der specifischen Natur dieses Contracts, sondern in der bona fides, der es widersprechen würde, daß der Vermiether für einmalige Leistung zwei Mal die Gegenleistung erhält. Wie sehr aber die römischen Juristen auch beim Kaufcontract sich von ähnlichen Anschauungen haben leiten lassen, wie sehr ihnen gerade das, um was es sich bei dieser Frage handelte: die Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung gegenüber der einseitigen, isolirten Behauptung der beiden einzelnen Ansprüche als das Wesen der bona fides erscheint, geht aus manchen Entscheidungen klar hervor. Beispielsweise genüge es auf l. 50 de act. emt. (19.1)23 und l. 29 pr. de evict. (21.2)24 Bezug zu nehmen, wo bei einer streng einseitigen Beurtheilung der bei23 24

D. 19.1.50. D. 21.2.19 pr.

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den aus dem Kaufcontract entspringenden Klagen in dem einen Fall der Käufer die Sache ohne den Preis, in dem andern der Verkäufer den Preis ohne die Sache erhalten haben würde. Vergegenwärtigt man sich nun diese Behandlungsweise, so wird es schwer zu glauben, daß der Rechtssatz, vermöge dessen der Verkäufer trotz Untergang der Sache seinen Anspruch auf den Preis beibehält, aus einem streng einseitigen Festhalten an der Selbstständigkeit der actio venditi entsprungen sein sollte, vielmehr ist die Annahme gerechtfertigt, daß die Römer auch dabei das Gegenseitigkeitsverhältniß beider Partheien, das Gleichgewicht in ihrer beidseitigen Belastung im Auge behalten haben. Und in der That fehlt es an diesem Gleichgewicht nicht. Denn mit Abschluß des Kaufcontracts verzichtet der Verkäufer zu Gunsten des Käufers auf eine anderweitige Verfügung über die Sache, daher aber folgeweise auch auf die Möglichkeit, durch einen anderweitigen, sofort effectuirten Verkauf die Gefahr der Sache von sich abzuwenden; für diese Einbuße, von seiner Seite, entfällt die obige Verpflichtung des Käufers, zum Abwehren der Gefahr und das entsprechende Äquivalent. Bei sofortiger Erfüllung des Kaufcontracts würde der Verkäufer mit der Sache auch die Gefahr auf den Käufer übertragen haben. Indem der beiderseits beliebte Aufschub der Erfüllung des Contracts diese Art der Übertragung der Gefahr auf den Käufer ausschließt, entzieht sie dem Verkäufer, wie bemerkt, andererseits auch die Befugniß, durch Verkauf bona fides non patitur, ut bis idem exigatur und Tradition an andere die Gefahr auf letztere zu wälzen. Der Anspruch auf den Kaufpreis im Fall des Untergangs der Sache erscheint sowohl als eine dem Verkäufer vom Gesetz gewährte Versicherung gegen die Gefahren des Aufschubs der Tradition, und vermöge dieser Auffassung und nur mittelst ihrer wird auch die in manchen

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neuen Gesetzen ausdrücklich ausgesprochene Verpflichtung des Verkäufers zur Cession seiner Assecuranzansprüche an den Käufer, die abgesehen davon aus dem römischen Recht nicht zu deduciren ist, F. Mommsen, Erörter. I S. 118 und fl.25 sich als die im Wesen des Kaufcontracts selbst gelegene begründen laßen. Soweit der Verlust des Verkäufers durch die Assekuranzsumme gedeckt ist, erleidet er durch den Untergang der Sache keinen Schaden, er kann also nur den Überschuss des Kaufpreises über diese Summe begehren, oder was daßelbe: er erhält den Kaufpreis und cedirt seine Assekuranzansprüche. Aus demselben Grunde fällt consequenterweise jene Verpflichtung des Käufers mit der Mora des Verkäufers hinweg, da der durch sie bewirkte Aufschub der Erfüllung nicht in dem Contract selbst, sondern in der Verschuldung des Verkäufers ihren Grund hat. Eine andere Consequenz, welche höchst geeignet ist, die Richtigkeit der von uns verfochtenen Auffassung ins rechte Licht zu setzen, ist die, daß beim Verkauf und Untergang einer noch in fremdem Besitz und Eigenthum befindlichen Species der Käufer nicht zur Zahlung des Kaufpreises angehalten werden kann, indem der Verkäufer durch diesen Untergang nichts verloren, gar kein (rechtlich motivirtes) Interesse an der Zahlung des Kaufpreises hat. Wer den von uns aufgestellten Gesichtspunkt, vermöge dessen der Kaufpreis den Verkäufer für seinen Verlust nur schadlos halten, nicht aber ihn bereichern soll, wer diesen Gesichtspunkt der stillschweigenden Bedingtheit seines Anspruchs durch ein Interesse nicht theilt – der wird in jenem Fall den Käufer zur Zahlung des Kaufpreises verurtheilen müssen und damit eine Entscheidung treffen, die mit den gesunden einfachsten Rechtsprincipien in einem eben so scharfen Gegensatz steht, als die

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Mommsen, Erörterungen I, S. 118 f.

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Verurtheilung zweier Käufer zur doppelten Bezahlung des Kaufpreises. Legen wir nur den obigen Gesichtspunkt zu Grunde, zu dem noch die Terminologie der Quellen: res periculo emtoris est völlig paßt und der nur die Verpflichtung des Käufers zur Zahlung des Kaufpreises nach Untergang der Sache allein innerlich erklärt und rechtfertigt, so ist damit die oben behauptete Unstatthaftigkeit einer mehrmaligen Beitreibung des Kaufpreises dargethan. Mit der einmaligen Beitreibung des Kaufpreises ist dem Interesse des Verkäufers Genüge geschehen, der Schaden ihm ersetzt, die zweite Klage würde auf „idem“ gehen. Es möge erlaubt sein, auf eine Analogie zu verweisen. Es ist ein bekannter Grundsatz der Versicherungsverträge, ohne welchen das ganze Assecuranzwesen praktisch gar nicht bestehen könnte, daß eine volle Versicherung nur ein Mal statt finden soll, und bei einer Übertretung dieses Gebots kann der Versicherte, insofern die Gesetze oder Statuten ihn zur Strafe nicht aller Ansprüche für verlustig erklären, jedenfalls nur ein Mal die Versicherungssumme fordern, ungeachtet doch die Verträge, die er mit den verschiedenen Versicherern abgeschlossen hat, von vornherein in keinem Nexus stehen. Ob dieselben unbestimmt auf Leistung des Schadens oder auf eine bestimmte Summe gestellt sind, kann dafür nicht releviren. Es würde folglich auch unserer Auffassung nicht im Wege stehen, daß die Form, in der, so zu sagen, das Gesetz den Verkäufer gegen den Untergang der verkauften Sache versichert, nicht ein unbestimmter Anspruch mit Schadenersatz, sondern die bestimmte Summe des Kaufpreises ist. Wäre ersteres der Fall, so würde es nie haben bezweifelt werden können, daß der Verkäufer diesen Anspruch nur einmal geltend machen könne, da ja mit Leistung des Schadensersatzes der Schaden hinwegfällt. Allein auch die Fixirung des Versicherungsanspruches in Gestalt des Kaufpreises vermag an der Natur dieses Anspruches selbst nichts zu ändern. Die zweite Beitreibung des Kaufpreises enthält ein

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„idem“, sie verfolgt einen Zweck, der bereits durch die einmalige Beitreibung völlig erreicht ist, sie würde dem Verkäufer statt der bloßen Schulderfüllung, die das Gesetz ihm zugedacht, einen Gewinn zuwenden, der in keiner Weise zu rechtfertigen ist. Zu dem auf diesem Wege erhaltenen Resultat ließe sich in äußerem Anschluß an Quellenäußerungen auch mittelst eines Gesichtspunktes gelangen, der von den Imploranten gerade für den entgegengesetzten Zweck benutzt worden ist. Das römische Recht vergleicht in mehreren Stellen l. 5 § 2 de resc. vend. (18.5)26 l. 15 de jur. dot. (23.3)27 die Wirkung des Zufalls auf das Obligationsverhältniß zwischen Käufer und Verkäufer mit der Erfüllung. Wer nun der Ansicht ist, daß damit irgend ein mehres hat gesagt werden sollen, als daß der Verkäufer hier wie dort von seiner Verpflichtung frei wird, ohne seinerseits seinen Anspruch einzubüßen, wird diese vermeintliche Gleichstellung des Zufalls und der Tradition auch consequent durchführen müssen. So wenig aber es möglich ist, daß der Verkäufer die Sache beiden Käufern in solidum leistet, so wenig kann er beiden gegenüber sich auf die in dem Casus liegende fingirte Leistung berufen, viel mehr muß er sich für einen von beiden entscheiden, dem die Sache als tradirt gelten soll. Zu dieser zweiten Art der Begründung des obigen Satzes würde nur der seine Zuflucht nehmen können, der einer rein äußerlichen Anlehnung an Quellenaussprüche vor einer inneren Erfassung des Sinns und Zwecks der Rechtssätze den Vorzug gibt – eine wirkliche Erklärung und Rechtfertigung ist auf diesem Wege nicht zu gewinnen. 26 27

D. 18.5.5.2. D. 23.3.15.

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Es möge schließlich auch verstattet sein, mit wenigen darauf hin zu weisen, wie erst durch den gewonnenen Rechtssatz der Kaufcontract nach allen Seiten seinen richtigen Abschluß gewinnt. 1. Ohne diesen Rechtsatz würde das Recht auf eine wissentliche Übertretung des Contracts von Seiten des Verkäufers, auf eine Handlungsweise, die es sogar criminell bestraft, l. 21 de fol. (48.10)28 eine Prämie gesetzt haben, und überall, wo es sich um Sachen handelt, bei denen die Aussicht auf casuellen Untergang derselben mehr oder minder begründet ist, wie z. B. bei Waaren zur See, würde der Verkäufer nichts besseres thun können, als dieselben mehrmals verkaufen. Der Gewinn, den das Eintreten des Casus ihm brächte, stände in gar keinem Verhältniß zu dem Nachtheil, den das Ausbleiben desselben ihm bringen würde. 2. Ohne jenen Rechtssatz würde es von größtem Einfluß sein, welcher Art der casuelle Untergang der Sache wäre. Die Vernichtung derselben von Seiten einer dritten Person, für deren Handlungen der Verkäufer nicht die Verantwortung zu übernehmen hat, enthielt bekanntlich für ihn einen Casus, allein er hat die ihm daraus zugefallenen Klagen dem Kläger zu cediren. § 3 I. de emt. (3.24)29 l. 25 § 4 de cont. emt. (18.1)30 l. 14 pr. de furt. (47.2)31 Jhering Abhandl. aus dem röm. Recht S. 30 und fl.32 28 29 30 31 32

D. 48.10.21. Recte: I. 3.23.3. D. 18.1.25.4. D. 47.2.14. Jhering, Abhandlungen, S. 30.

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Bei einem doppelten Verkauf nun kann der Verkäufer dieser Pflicht der Cession nur einmal genügen, er erhält folglich auch nur einmal den Kaufpreis. arg. l. 35 § 4 de cont. emt.33 cit. . . . quia, si . . ., potuisset eas actiones ad emptorem transferre. Dagegen würde er denselben, abgesehen von dieser Art des Unterganges der Sache zwei Mal erhalten. Der obige Rechtssatz räumt den Einfluß dieses rein äußerlichen Unterschieds hinweg und in ähnlicher Weise ließen sich vielleicht noch andere Wirkungen wesenhaft machen. Soviel zur Begründung des obigen Rechtssatzes. Aus der obigen Deduction, welche den Schwerpunkt in die Unzulässigkeit einer doppelten Schadensersatzforderung des Verkäufers verlegt, ergibt sich, daß es für dieses Resultat gleichgültig ist, ob der zweite Verkauf bona oder mala fide geschlossen, ob einem der Käufer tradirt ist oder nicht. Dagegen wird wenigstens dem letzteren Umstand in anderer Beziehung ein Einfluss nicht versagt werden dürfen, und zwar für die Frage, von welchem der mehren Käufer der Verkäufer die Zahlung des Kaufpreises begehren darf. Eine erschöpfende Behandlung dieser Frage ist für den vorliegenden Fall nicht erforderlich, denn auch angenommen, daß der Verkäufer, wie bei Solidarobligationen, schlechthin zwischen den mehren Käufern wählen könnte, so sind doch die Umstände des vorliegenden Falls von der Art, daß der Beklagte jedenfalls die auf ihn gefallene Wahl mittelst einer exceptio doli zurückweisen darf. Ganz abgesehen davon, daß die Kläger den zweiten Contract wenn auch nicht betrügerischer Weise (da sie von der Voraussetzung ausgingen, daß Beklagter von sei-

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D. 18.1.35.4.

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nen Ansprüchen zurücktreten würde), so jedenfalls doch zu einer Zeit eingingen (24. Sept.), wo sie den mit den Beklagten abgeschlossenen Contract (27. Aug.) bereits kannten, und nichts in sich einer wissentlichen Übertretung ihrer Verbindlichkeit, also eines Dolus, l. 68 § 2 de cont. emt. (18.1)34 schuldig machten, so entfällt die Überlieferung der Eigenthumsacte an die zweiten Käufer die Erfüllung des zweiten Contracts, die Übertragung des Eigenthums. Die Wahl könnte und dürfte nur auf die zweiten Käufer fallen; Sie hätten durch Überlieferung der Eigenthumsacte das Object erhalten, für welches der Kaufpreis das Äquivalent bildete. Ob nach englischem Recht zur Übertragung eines Schiffsparts Eintragung in das Schiffsbuch erforderlich ist, kann, wie bereits in den Entscheidungsgründen der vorigen Instanz bemerkt ist, hier, wo es sich um ein rostocker Schiff handelt, nichts releviren. Waren also immerhin die zweiten Käufer nach englischem Recht durch den bloßen Kaufcontract noch nicht zur Tragung der Gefahr verpflichtet gewesen, so ging doch jedenfalls mit der Eigenthumsübertragung die Gefahr auf sie über. Die Wahl des gegenwärtigen Beklagten, in dessen Person der Verkauf nie eigentliche Realität erlangt hatte, und den die Imploranten bis zuletzt zum Rücktritt zu bestimmen versuchten, charakterisirt sich demnach als eine Handlungsweise, der nach römischem Recht die exceptio doli entgegengesetzt werden kann. So geht denn unser rechtliches Gutachten dahin, daß Imploranten auch in der gegenwärtigen Instanz abzuweisen und in die Kosten zu verurtheilen sind. Gießen, 1. Jan. 1859 [sig.] Jhering

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D. 18.1.68.2.

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Literaturverzeichnis Jhering, Rudolf: Abhandlungen aus dem Römischen Recht, Leipzig 1844. Mommsen, Friedrich: Die Unmöglichkeit der Leistung in ihrem Einfluß auf obligatorische Verhältnisse, Beiträge zum Obligationenrecht, Erste Abtheilung, Braunschweig 1853. Mommsen, Friedrich: Die Unmöglichkeit der Leistung in ihrem Einfluß auf obligatorische Verhältnisse, Beiträge zum Obligationenrecht, Erste Abtheilung, 1853, in: Windscheid, Bernhard (Hrsg.), Kritische Zeitschrift für die gesammte Rechtswissenschaft, Band 2, 1855, S. 106–144. Mommsen, Friedrich: Die Lehre von der Mora nebst Beiträgen zur Lehre von der Culpa, Beiträge zum Obligationenrecht, Dritte und letzte Abtheilung, Braunschweig 1855. Mommsen, Friedrich: Erörterungen über die Regel: Commodum ejus esse debet, cujus periculum est, Erörterungen aus dem Obligationenrecht, Erstes Heft, Braunschweig 1859. Sell, Georg Wilhelm August: Ueber bedingte Traditionen, zugleich als Revision der Lehre von den Wirkungen der Bedingungen bei Verträgen im Allgemeinen: eine civilistische Erörterung, Zürich 1839. Stoffregen, Reinhold Victor: Erörterungen eines Rechtsfalls, den zweimaligen Verkauf derselben Sache betreffend. (1848.), in: Osenbrüggen, Eduard (Hrsg.), Dorpater juristische Studien, Dorpat, 1849, S. 84–148.

Zur Autorin Prof. Dr. Inge Kroppenberg studierte Rechtswissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Nach der Ersten Juristischen Staatsprüfung im Jahre 1993 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Herrn Prof. Dr. Manfred Harder am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Römisches Recht und Privatrechtsgeschichte der Neuzeit des Fachbereichs Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Universität Mainz. Dem Assessorexamen schloss sich im Jahre 2000 die Promotion mit der rechtshistorischen Dissertation „Die Insolvenz im römischen Recht“ an. Im Dezember 2005 erfolgte die Habilitation mit einer dogmatischen Arbeit zur Testierfreiheit sowie die Erteilung der Lehrbefugnis für die Fächer Bürgerliches Recht, Römisches Recht, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit und Zivilprozessrecht. Nach Lehrstuhlvertretungen in Leipzig und Frankfurt am Main folgte Inge Kroppenberg zum Sommersemester 2007 einem Ruf an die Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Regensburg. Seit dem Sommersemester 2013 hat sie den Lehrstuhl für Römisches Recht, Bürgerliches Recht und Neuere Privatrechtsgeschichte an der Juristischen Fakultät der Georg-AugustUniversität Göttingen inne und leitet seither die Abteilung für Römisches und Gemeines Recht am dortigen Institut für Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung.