Die Normen- und Sozialtheorie des Rechts bei und nach Georges Gurvitch [1 ed.] 9783428510566, 9783428110568

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Die Normen- und Sozialtheorie des Rechts bei und nach Georges Gurvitch [1 ed.]
 9783428510566, 9783428110568

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GERT RIECHERS

Die Normen- und Sozialtheorie des Rechts bei und nach Georges Gurvitch

Schriften zur Rechtstheorie Heft 213

Die Normen- und Sozialtheorie des Rechts bei und nach Georges Gurvitch Von Gert Riechers

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

D6 Alle Rechte vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-11056-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Meinen Eltern

Vorwort Der in Rußland gebürtige französische Rechtstheoretiker und Soziologe Georges Gurvitch (1894-1965) ist deutschen Lesern - wenn überhaupt - gewöhnlich nur aus der zuerst 1960 erschienenen, von ihm selbst autorisierten Übersetzung seiner „Grundzüge der Soziologie des Rechts" bekannt, obwohl sein gesamtes Werk international breite Anerkennung genoß und bis heute erfährt. Dieser Autor, der u. a. in Cambridge, Mass. und seit 1948 an der Sorbonne lehrte, findet gerade heute unser Interesse, da er - zunächst unter dem Einfluß des deutschen Idealismus (Fichte) und Neukantianismus stehend - über die Auseinandersetzung mit der Phänomenologie zur Rechtsphilosophie und von dort zur Rechtssoziologie gelangte. Wir sind gewöhnlich geneigt, das Recht, das es nun einmal mit Rechtstexten und ihrer Bedeutung zu tun hat, als einen Gegenstand zu betrachten, der sich am ehesten einer rein geisteswissenschaftlichen Hermeneutik erschließt. Daß jede derartige Betrachtungsweise darüber hinaus einer Ergänzung durch eine sozialwissenschaftliche, insbesondere durch eine soziologische Betrachtungsweise bedarf, darf dabei aber nicht ignoriert werden. Mit dieser Untersuchung wird der Versuch unternommen, gestützt auf das Rechtsdenken von Gurvitch eine eigenständige Normentheorie zu entwikkeln, die auch die sozial etablierten Normen des Rechts in ihrer Struktur und Funktionsweise zu erfassen, zu beschreiben und zu deuten vermag. Der Schwerpunkt der Überlegungen liegt dabei auf dem Erfordernis, von vornherein Normen- und Sozialtheorie zu integrieren, anstatt sie getrennt voneinander zu konzipieren. Es ist infolgedessen nicht mit einem analytisch-begrifflichen, mehr oder weniger begriffsjuristischen Vorgehen getan, wenn man die in der Theoriebildung bestehenden Defizite beheben will. Ein reiner Begriffskonstruktivismus führt hier nicht weiter. Vielmehr ist von Anfang an eine normativ-realistische Betrachtungsweise gefordert, wie sie im deutschen Recht seit dem Übergang zur Interessen- und Wertungsjurisprudenz üblich war und ist, aber in der Rechts- und Staatstheorie bestenfalls ansatzweise fortgeführt wurde. Im Hinblick auf das, was wir gewöhnlich als das Verhältnis von Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit bezeichnen, geht Gurvitch von einem „ideal-realistischen" Rechtsbegriff aus, der die normativ und faktischen Implikationen des Rechts nicht separiert, sondern als in sozialen Zusammenhängen erarbeitete und eingebettete Strukturmerkmale der Gesellschaft betrachtet. Er trifft sich mit den Bestrebungen des deutschen Rechtsrealismus seit Ihering und Max Weber bis hin zu Schelsky und Niklas Luhmann, die Rechtsbetrachtung auf eine geschichtlich-gesellschaftliche Basis zu stellen, d. h. auf Erfahrung und Beobachtung zu stützen. Infolgedessen können und müssen auch die Normen- und Sozialtheorien des Rechts als empirische bzw. empirisch fundierte Disziplinen begriffen werden.

8

Vorwort

Ausgehend von der Annahme, daß alles Recht ein fundamentales Strukturphänomen von Gesellschaft ist, widmet sich die Untersuchung im ersten Abschnitt zunächst den evolutionstheoretischen Grundlagen der Theorie und Soziologie des Rechts von Gurvitch, um von hier zu einer Unterscheidung zwischen den evolutionär bedingten Typen der segmentär, der stratifikatorisch sowie der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft und ihres jeweiligen Rechts vorzudringen. Mit Blick auf die konstatierte Ausdifferenzierung des Rechts innerhalb eines eigenständigen Funktionssystems der modernen Gesellschaft wird sodann festgestellt, daß die wissenschaftliche Reflexion auf das Recht ihrerseits in einem ausdifferenzierten, auf Erkenntnis spezialisierten Wissenschaftssystem stattfindet. Dabei konnte nachgewiesen werden, daß Gurvitch mit Grund einen subjektphilosophisch und transzendentaltheorisch fundierten Reflexionsbegriff zugunsten einer sozialen Genese von Wissen und Erkenntnis verabschiedet. In der hieran anschließenden Rekonstruktion des Gesellschaftsbegriffs von Gurvitch wird dessen Verständnis von grundsätzlich subjektunabhängig und autonom verlaufenden Sozialprozessen sowohl von den klassischen Handlungstheorien wie auch von der Sozialtheorie Dürkheims abgegrenzt und in den Kontext einer Theorie autopoietischer Systeme gestellt. Der zweite Abschnitt setzt sich mit den wesentlichen Implikationen des Rechtsbegriffs in der Theorie von Gurvitch auseinander. Er liefert zunächst eine nähere Explikation des Begriffs der Rechtsregel bei Gurvitch, wobei dessen realistischer Ansatz mit den einer philosophischen Hermeneutik verpflichteten Theorien sowie der sprachanalytisch-logizistischen Theorie Ota Weinbergers kontrastiert wird. Indem in Auseinandersetzung mit Gurvitch rechtliche Regeln als der Erfahrung zugängliche Regeln des Handelns bzw. Kommunizierens in ihrer Funktion einer spezifischen sozialen Kontrolle definiert werden, ist der Weg geebnet für eine Rekonstruktion der Institutionentheorie von Gurvitch, welche die klassische, das Rechtsdenken bis heute beherrschende Dichotomie von Sein und Sollen überwindet. So begreift Gurvitch die Institutionen des Rechts weder als rein faktische noch als ausschließlich normative Phänomene, sondern eben als „normative Fakten" des sozialen Lebens, in denen sich die normativen und faktischen Elemente des Rechts auf der Ebene des sozialen Handelns durchweg komplementär zueinander verhalten. Im Einklang mit den realistischen Theorien des Rechts von Max Weber, Geiger, Schelsky und Luhmann geht auch Gurvitch davon aus, daß es sich bei den Normen des Rechts um sachlich, zeitlich und sozial generalisierte Erwartungen handelt. Derartige rechtsnormative Erwartungen bilden für ihn soziale, die Kommunikation koordinierende Strukturen der Gesellschaft, die in den kommunikativen Prozessen fortlaufend generiert und respezifiziert werden und infolgedessen nicht apriorisiert werden können. Im dritten Abschnitt wird der angesichts eines auch in zeitgenössischen Theorieangeboten noch immer gepflegten Etatismus4 durchaus prekären Frage nachgegangen, welcher Stellenwert dem Staat bei der Erzeugung rechtlicher Normen verbleibt, wenn mit Gurvitch davon ausgegangen wird, daß alles Recht zwar gesell-

Vorwort

schaftliches, aber nicht notwendigerweise staatliches Recht ist. Dies erfordert nicht nur eine genauere Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, sondern zudem eine Analyse der tatsächlichen Prozesse, die bei der Produktion und Reproduktion rechtsnormativer Erwartungen im Rechtssystem unter Einschluß staatlicher Entscheidungen beteiligt sind. Gurvitch plädiert - wesentliche Einsichten der modernen Organisationstheorie vorwegnehmend - dafür, den Staat als eine binnengesellschaftlich ausdifferenzierte Organisation bzw. als ein Subsystem des Rechtssystems zu betrachten, das sich auf der Grundlage von Entscheidungen gegenüber einer sozialen Umwelt abschließt und auf die Betreuung rechtsnormativer Erwartungen spezialisiert ist. Seine Funktion ist in der Formalisierung und nachgeschalteten Betreuung normativer Erwartungen im Einzelfall zu erblicken, mit der bereits existierende Erwartungslagen, wie dies auch Geiger annimmt, fortlaufend spezifiziert und generalisiert werden. Mit Gurvitch besteht daher kein Anlaß, von einem Stufenbau der Rechtsordnung und einer Hierarchie des Rechts auszugehen. Diese Feststellungen münden bei Gurvitch in der Annahme einer „Souveränität" des Rechtssystems, die sich einer laufenden (Selbst-)Produktion und Reproduktion des Rechts im Rechtssystem verdankt und die als solche auf keine übergeordnete Legitimationsinstanz, vor allem nicht auf eine Universalmoral, angewiesen ist. Die Untersuchung wurde im Sommersemester 2002 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Dr. Dr. h. c. mult. Werner Krawietz, der mir nicht nur die thematische und inhaltliche Anregung zu dieser Arbeit gegeben, sondern deren Entstehung durch vielfältige Hinweise und Hilfestellungen intensiv begleitet und gefördert hat. Herrn Professor Krawietz danke ich insbesondere dafür, daß er mir die Gelegenheit bot, diverse Fragestellungen in dem von ihm geleiteten Doktorandenseminar zur Diskussion stellen zu können. Zu großem Dank bin ich auch Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Wilfried Schlüter für die Erstattung des Zweitgutachtens verpflichtet. Ferner möchte ich Dr. Rainer Schröder und Dr. Klaus Veddeler für ihre freundschaftliche und stets sehr wertvolle Begleitung dieses Projekts ganz herzlich danken. Die Arbeit wurde durch ein Stipendium der Graduiertenförderung der KonradAdenauer-Stiftung e. V. unterstützt. Dort danke ich insbesondere dem allzu früh verstorbenen Dr. Michael Müller für sein Engagement für die Erörterung multidisziplinärer Fragen sowie dem Mitglied des Vorstandes der Konrad-Adenauer-Stiftung, Herrn Peter Hintze MdB, der mir nicht nur die für die Endphase der Anfertigung erforderlichen Freiräume gewährte, sondern mir stets auch als interessierter Diskussionspartner zur Verfügung stand. Dem Geschäftsführenden Gesellschafter des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Professor Dr. jur. h. c. Norbert Simon, danke ich für seine freundliche Bereitschaft, die Untersuchung im Rahmen der Schriften zur Rechtstheorie zu veröffentlichen.

10

Vorwort

Danken möchte ich schließlich meinen Eltern, die mir das Studium der Rechtswissenschaften ermöglicht und mir über viele Jahre hinweg großherzig und geduldig zur Seite gestanden haben. Ihnen widme ich dieses Buch. Berlin, im September 2002

Gert Riechers

Inhaltsverzeichnis

Erster Abschnitt Normativ-realistische Theorie des Recht

§ 1 Co-Evolution der Gesellschaft und ihres Rechts

15

15

1. Iherings nachpositivistische Theorie im Spiegel der Theorie von Gurvitch

15

2. Theorie sozialer Evolution

20

3. Evolution und Ausdifferenzierung des Rechts

27

a) Segmentäre Differenzierung und archaisches Recht

28

b) Stratifikatorische Differenzierung und Rationalisierung des Rechts

33

c) Funktionale Differenzierung und Ausdifferenzierung des Rechtssystems

37

§ 2 Reflexionstheorie des Rechtssystems 1. Ausdifferenzierung der Wissenschaft

43 43

a) Soziale Konstitution von Wissen

43

b) Wissenschaftliche Beobachtung und gemäßigter Konstruktivismus

49

2. Theorie des Rechts als empirische Theorie

54

a) Positivität und binnengesellschaftliche Verortung des Rechts

54

b) Erklären und Verstehen

58

3. Auf dem Weg zu einem erfahrungsgeleiteten Rechtsdenken § 3 Moderne Gesellschaft und gesellschaftstheoretische Grundlagen des Rechts 1. Kontextabhängigkeit und Emergenz von Kommunikation

66 71 71

a) Menschen als Träger der Kommunikation?

71

b) Emergenz sozialer Systeme

75

aa) Soziale Systeme als Realitäten sui generis

75

bb) Dürkheims Begriff des Kollektivbewußtseins

77

cc) Soziales Totalphänomen als Grundbegriff der Soziologie von Gurvitch ..

81

12

Inhaltsverzeichnis c) Soziale Konstruktion objektiven Sinns

85

aa) Soziale Interaktion

85

bb) Interaktion versus transzendentale Intersubjektivität

87

2. Prozessualität der Gesellschaft und soziale Konstitution von Zeit

92

a) Temporalisierung der Kommunikation und beobachterrelative Zeithorizonte . b) Basale Selbstreferenz und operative Kopplungen 3. Autopoiese und Interpénétration von sozialen und psychischen Systemen

92 102 109

a) Selbstdetermination sozialer Systeme und Polykontexturalität der Gesellschaft 109 b) Multiselektive Kommunikation und strukturelle Kopplungen

119

aa) Kommunikation als emergente Selektionstriade

119

bb) Strukturelle Kopplungen bei der Konstitution sozialer Systeme

123

Zweiter Abschnitt Recht als normative Struktur der Gesellschaft § 4 Rechtsregel und Normbefolgung 1. Kontextabhängigkeit der schriftsprachlichen Symbolisierung von Rechtsnormen a) Rechtsregei und monologische Textexegese

130 130 130 130

b) Logisierte Festschreibung oder soziale Konstitution rechtssprachlichen Sinns? 137 2. Soziale Wirklichkeit des Rechts und rechtliche Handlungsregeln

145

a) Normativität des Rechts als regelgeleitete Befolgung rechtlicher Normen .... 145 b) Doppelsinnigkeit der Norm und Spielregeln des Rechts 3. Soziale Kontrolle durch Recht

149 153

a) Recht als sozialer Kontrollmechanismus

153

b) Rechtsnormative Inklusion

159

§ 5 Institutionelle Grundlagen der Geltung und Wirksamkeit des Rechts

164

1. Recht als institutionelles normatives Faktum jenseits von Idealismus und Naturalismus 164 a) Idealistisch-naturrechtliche Theorie der Institution

165

b) Dichotomisierungen im Institutionalistischen Rechtspositivismus

170

c) Komplementarität von Normativität und Faktizität

174

Inhaltsverzeichnis 2. Rechtsnormen als kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen

184

a) Kognitives und normatives Erwarten

184

b) Institutionelle Stabilisierung und Generalisierung des Erwartens

190

3. Plurale Geltungs- und Wirksamkeitsbedingungen des Rechts

195

a) Pluralismus der Rechtsquellen

195

b) Geltung, Wirksamkeit und Zwang

196

§ 6 Sozialer Prozeß und normative Erwartungsstrukturen

202

1. Funktionale Analyse und Sozialstruktur

202

a) Differenzierung und Komplexität

203

b) Gesellschaftsstruktur und funktionale Methode

207

2. Strukturtheorie der Gesellschaft und des Rechts versus Strukturalismus

210

a) Struktur als Modell oder als soziale Realität?

210

b) Strukturfunktionalismus und Konsensfiktion

214

3. Konstitution und Reproduktion rechtsnormativer Strukturen im sozialen Prozeß 217 a) Komplementarität von sozialem Prozeß und normativer Struktur

217

b) Selbststrukturierung und Selektionsverstärkung sozialer Prozesse

222

Dritter Abschnitt Positivierungsprozesse und Autopoiese des Rechtssystems

§ 7 Staatliche Organisation des Rechtssystems 1. Normative versus realistische Theorie des Staates

228

228 228

a) Einheit von Recht, Staat und Gesellschaft in der Staatslehre Kelsens

228

b) Ausdifferenzierung staatlicher Organisationen

235

2. Staatliches Handeln als soziales Handeln nach Max Weber

240

3. Ausdifferenzierung von staatlichen und politischen Prozessen

244

4. Formale Organisation und Machtkreisläufe

253

a) Autopoiese des Staates und staatliche Entscheidungen

253

aa) Eigendynamik der Organisation

253

bb) Entscheidungen als Elemente der Staatsorganisation

259

b) Machtkreisläufe

263

14

Inhaltsverzeichnis

§ 8 Selektionskreisläufe im staatlich organisierten Rechtssystem 1. Stammbaumtheorien des Rechts a) Hierarchie versus Heterarchie des Rechtssystems

266 267 267

b) Hierarchiekritik

270

c) Kritik des Grundnormkonzepts

274

2. Formalisierung und Programmierung rechtlicher Kommunikation

277

a) Legislative Normselektionen

277

b) Konditionalprogramme

281

3. Spezifikation und Restabilisierung durch Einzelfallentscheidungen

284

a) Operative Differenz von Entscheidungsprogramm und Konkretisierung

284

b) Programmiertes Entscheiden und Rückkopplungsschleifen

288

§ 9 Einheit und Autopoiese des Rechtssystems 1. Gerechtigkeit im ausdifferenzierten Rechtssystem

293 293

a) Unrechtsargument und moralische Fundierung des positiven Rechts

295

b) Gerechtigkeit als Programm positiv-rechtlichen Entscheidens

301

2. Juridische Rationalität versus hypertrophe Moral

309

a) Moralische Supercodierung und Anerkennung als Geltungsgrund des Rechts? 309 b) Strukturelle Schranken einer Universalmoral und Akzeptanz rechtlicher Normen 320 3. Selbstreproduktion der Einheit des Rechtssystems

330

a) Einheit und Souveränität des Rechtssystems

330

b) Codierung und Konditionierungen des Rechtssystems

336

Schrifttumsverzeichnis

343

Sachregister

402

Erster Abschnitt

Normativ-realistische Theorie des Rechts § 1 Co-Evolution der Gesellschaft und ihres Rechts Die Theorie und Soziologie des Rechts von Gurvitch ist von der Einsicht getragen, daß rechtliche Phänome hinreichend nur im Zusammenhang mit der Historizität sozialer Prozesse und als von ihnen abhängig gedacht werden können. So begreift Gurvitch eine Theorie des Rechts von vornherein im Sinne einer „genetischen Rechtssoziologie", die mit der evolutionären Veränderung sozialer Systembildungen und ihrer Strukturen sowie anderen Faktoren des Wandels befaßt ist. 1 Das Recht bildet für ihn ein fundamentales Strukturphänomen jeder Gesellschaftsform und erfordert deshalb eine Theorie mit historischer Langzeitperspektive,2 derzufolge das Recht notwendigerweise ein primäres Verhältnis zur Zeit und zu sozialen Prozessen hat. 1. Iherings nachpositivistische Theorie im Spiegel der Theorie von Gurvitch Mit Recht erblickt Gurvitch in der Theorie Rudolph von Iherings eine bereits richtungsweisende Problemsicht auf den genetischen Zusammenhang von sozialstruktureller Evolution und die Entstehung und den Wandel rechtsnormativer Phänomene. Diese weise den Iheringschen Ansatz als eine schon vor den explizit rechtssoziologischen Theorieentwürfen Ehrlichs und Max Webers auf „konkreten Beobachtungen" basierende und mithin „soziologische Rechtstheorie" aus.3 Danach komme Ihering das Verdienst zu, in Verabschiedung einer reduktiv rechtssatzbezogenen Reflexion die realen Bedingungen der Erzeugung und Funktion des Rechts „mit breitem soziologischen Verständnis" in den Fokus einer realistischen Rechtstheorie gerückt zu haben.4 Dem rechtstheoretischen Werk von Ihering liegt 1

Georges Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts, vom Verfasser autorisierte deutsche Ausgabe, übersetzt von Hans Naumann und Sigrid von Massenbach, 2. Aufl., Darmstadt/Neuwied 1974, S. 21. 2 Hier durchaus im Sinne von Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1976, S. 336 ff. 3

Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 1), S. 72. Ders., Rechtssoziologie, in: Gottfried Eisermann (Hrsg.), Die Lehre von der Gesellschaft, Stuttgart 1958, S. 182-234,197. 4

16

1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

in der Tat die Auffassung zu Grunde, daß das Recht aufgrund seiner sozial-strukturellen Dependenz weder in den Konstruktionen einer rechtswissenschaftlichen Dogmatisierung und Systematisierung von Rechtsbegriffen noch in einem geschichtlich bloß gegebenen und nur noch anzuwendenden normativen Sein zu veranschlagen ist. Sie markiert damit den entscheidenden Paradigmenwechsel vom formalen Systembegriff der Pandektistik und Begriffsjurisprudenz zu einem schon nachpositivistischen und realistischen Verständnis vom Recht, welches die Genese und Geltung rechtsnormativen Sinns als eine Angelegenheit der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnungsbildung begreift. 5 Ausgehend von der Einsicht, daß im Wege einer bloß rechtstechnischen Methode, die sich in der axiomatisierenden Aufbereitung und Anwendung des historischen Textmaterials erschöpft, kein Aufschluß über die Bedeutung der tradierten und angewandten Rechtssätze zu gewinnen sei, gelangt Ihering zu der Auffassung, daß von einer Identifikation des Rechts mit seiner rechtssprachlichen Vertextung grundsätzlich abzusehen sei. Er wählt demgegenüber einen dezidiert „funktionalen" Zugang zum Recht, demzufolge nach der jeweiligen Einbettung des Rechts in die sozialen Realitäten zu fragen sei: „Was sich nicht realisiert, ist kein Recht [ . . . ] Die Wirklichkeit beglaubigt erst den Text, [ . . . ] sie ist mithin das einzige sichere Erkenntnismittel desselben."6 Die Überwindung einer rein dogmatisch-exegetischen, vom Primat der logischen Relationierung juristischer Prinzipien und Rechtssätze geleiteten Methode führen Ihering zu der Einsicht, daß auch die Jurisprudenz nicht ohne kausalwissenschaftliche, auf die Beobachtung sozialer Tatsachen abzielende Methoden auszukommen vermag.7 Durch sie soll nicht nur der genetischen Abhängigkeit des Rechts von den wechselnden „wirtschaftlichen, sozialen, politischen Umstände[n]" Rechnung getragen werden. Auch ist sie von der Einsicht getragen, daß die der insoweit diachronisch zu betrachtenden Strukturentwicklung des Rechts zu Grunde liegenden sozialen Voraussetzungen keine Abfolge isolierter Ereignisse darstellen, sondern sich statt dessen wechselseitig bedingen und daher in ihrer Relation zu untersuchen sind.8 Hierbei ist von Interesse, daß Ihering schon deshalb eine das 5

Hierzu Okko Behrends, Rudolf von Jhering, der Rechtsdenker der offenen Gesellschaft. Ein Wort zur Bedeutung seiner Rechtstheorie und zu den geschichtlichen Gründen ihrer Mißdeutung, in: ders. (Hrsg.), Rudolf von Jhering. Beiträge und Zeugnisse aus Anlaß der einhundertsten Wiederkehr seines Todestages am 19. 9. 1992, 2., erweiterte Aufl., Göttingen 1993, S. 8 - 1 0 , 9; Jan Schröder, Rudolph von Ihering, in: Gerd Kleinheyer/ders. (Hrsg.), Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten, 2. Aufl., Heidelberg 1983, S. 132-137, 135. 6 Rudolph von Ihering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Erster Teil, 6. Aufl., Leipzig 1907, S. 20 f., 35,49. 7 Dies stößt freilich dort auf Kritik, wo von einer Differenz zwischen kausal- und normwissenschaftlicher Methode ausgegangen wird. Vgl. etwa bei Franz Wieacker, Jhering und der „Darwinismus", in: Gotthard Paulus/Uwe Diederichsen/Claus-Wilhelm Canaris (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz zum 70. Geburtstag, München 1973, S. 63-92, 69 ff. 8 Hierzu und zum folgenden Rudolf von Jhering, Der Begriff des Rechts, in: ders., Der Kampf ums Recht, ausgewählte Schriften mit einer Einleitung von Gustav Radbruch, hrsg. von Christian Rusche, Nürnberg 1965, S. 351-382, 352, 355 f., 357 ff.; ders., Über Aufgabe

§ 1 Co-Evolution der Gesellschaft und ihres Rechts

17

Recht ontologisierende Betrachtungsweise vermeidet, weil er die eingenommene historische Perspektive wiederum in die jeweilige Beobachtung einzuführen und sich somit ihres eigenen, relativen Problemzugriffs zu vergewissern vermag.9 Infolgedessen handelt es sich bei der diagnostizierten Kausalbeziehung gerade nicht um eine bestimmte, vor jeder Beobachtung existierende Ursache-Folgen-Verkettung, sondern stets nur um ein entsprechend attribuiertes Bewirkungsverhältnis, das die Möglichkeit einer alternativen Elementekonstellation nicht von vornherein ausschließt. Die historische Beobachtung bezieht sich demnach also auf sich selbst, indem sie sich ihres immer nur beobachterrelativen Standortes kritisch vergewissert. Ganz in diesem Sinne legt auch Gurvitch im Rahmen einer Reflexion auf die Grundlagen geschichtswissenschaftlicher Theoriebildungen dar, daß deren Bezugsgegenstand stets eine bereits vergangene soziale Realität bildet, die als „passé rendu présent" gleichsam in die Gegenwart der Beobachtung eingezogen wird. 10 Historische Beschreibungen haben ihre operative Basis somit in einer laufenden Gegenwart, aus der heraus die - ζ. B. über Schrift - beobachtete Realität eine bereits vergangene und vom je gegenwärtigen Beobachtungsjetzt abhängige, gegenwärtige Vergangenheit darstellt. Die Beobachtung der Vergangenheit nimmt an der Vergangenheit selbst nicht mehr teil. 11 In Übereinstimmung mit der modernen Geschichtstheorie geht er mithin davon aus, daß vergangene Ereignisse ihrer Beobachtung nicht ontisch vorgegeben sind. Letztere werden statt dessen im Wege ihrer Beschreibung als ein mit gegenwärtigem Sinn ausgestattetes und von der Selektivität der Beschreibung abhängiges Geschehen erst in der laufenden Gegenwart konstruiert. 12

und Methode der Rechtsgeschichtsschreibung, in: ders., Der Kampf ums Recht, S. 401 -444, 406, 408 ff., 429 ff. Zu den Umständen der endgültigen Hinwendung Iherings zu einer auch kausalwissenschaftlich fundierten Methode des Rechts vgl. auch Herbert Hofmeister, Jhering in Wien, in: Gerhard Luf/Werner Ogris (Hrsg.), Der Kampf ums Recht. Forschungsband aus Anlaß des 100. Todestages von Rudolf von Jhering, Berlin 1995, S. 9-30. 9 So geht es Ihering stets nur um den Nachweis eines „historisch ausreichenden Grundes" (causa sufficiens) für die Deutung und Erklärung rechtlichen Phänomene; dazu ders., Über Aufgabe und Methode der Rechtsgeschichtsschreibung (Fn. 8), S. 432 ff. 10 Georges Gurvitch, Continuité et Discontinuité en Histoire et en Sociologie, in: Annales Economies, Sociétés, Civilisations 1957, S. 73 -84, 73 f., 78, 80; vgl. ders., Objet et Méthode de la Sociologie, in: ders. (Hrsg.), Traité de Sociologie, tome premier, seconde édition corrigé, Paris 1962, S. 1 -27, 22 f.; ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, tome premier: Vers la Sociologie Différentielle, quatrième édition, Paris 1968, S. 33 ff. 11 Vgl. ders., The Social Frameworks of Knowledge, translated from the French of Margaret A. Thompson and Kenneth A. Thompson, Oxford 1971, S. 120. 12 Mit Grund hebt Jörn Rüsen, Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens, Göttingen 1989, S. 19, 23 f., 39, gegenüber einer an die empiristisch-naturwissenschaftlichen Methoden angelehnten Geschichtswissenschaft hervor, daß die „Prozedur der Interpretation" einen mit der kommunikativen Praxis der Geschichtsschreibung selbst vollzogenen „Vorgang der Sinnbildung" darstellt. 2 Riechers

18

1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

Sicherlich hat Ihering, gemessen an modernen, insbesondere systemtheoretisch explizierten Ansätzen, keine vollständig ausgearbeitete Evolutionstheorie der Gesellschaft und des Rechts hinterlassen. Die von ihm angemahnte Ablösung einer aprioristischen Logik sowie der spekulativ geschichtswissenschaftlichen Annahme von einer ursprünglichen Emanation des Rechts leisten jedoch einen richtungsweisenden Beitrag für eine evolutionäre und rudimentär selektionstheoretisch fundierte Deutung und Erklärung des Rechts.13 So wird bei ihm das seitens der historischen Schule noch vertretene nativistische Evolutionsverständnis eines sich aus einem ursprünglichen Zustand heraus entfaltenden Geschehens durch den Gedanken revidiert, daß sich die Genese und der fortlaufende Wandel des Rechts soziohistorisch verifizierbarer Handlungszusammenhänge verdankt, deren Bedingungen allerdings nicht in einem letztinstanzlichen Kausalfaktor zu verorten sind. An die Stelle der aus einem unvordenklichen Zustand heraus beginnenden Genese tritt nunmehr die in Abhängigkeit nachweisbarer sozialer Prozesse in Gang gesetzte Entwicklung des Rechtsgeschehens.14 Rechtliche Phänomene entspringen weder einem reifizierten historischen Zustand, noch kann deren Evolution in einem ursprünglichen Ereignis kurzgeschlossen werden. Die operativen Grundlagen der evolutionären Rechtsentwicklung sind vielmehr in einer ständigen, von den jeweiligen sozialen Interessenskonstellationen abhängigen Neusetzung und einer dadurch herbeigeführten Abänderung gesellschaftlich konstituierter Handlungsnormen zu erblicken. 15 So liegen dem Recht nach Ihering - auch unabhängig von Formalisierungsund Anwendungsaktivitäten eines organisatorischen Entscheidungsstabs - basal langfristige Prozesse zu Grunde. Durch „fortgesetztes gleichmäßiges Handeln" konstituieren sich nicht notwendigerweise reflektierte Handlungsnormen. 16 In Antezipation eines bereits soziologischen Explikationsniveaus beschreibt Ihering die Erzeugung und Generalisierung rechtlicher Ordnungen im Sinne eines zirkulär angelegten Mechanismus, innerhalb dessen ein allmählich ausgebildeter Handlungsmodus dem einzelnen im Wege seiner Enkulturation angetragen und von ihm unbewußt in sein Verhaltensrepertoire übernommen wird. Dieser rekursiv sich selbst verstärkende, eine Beteiligung des Akteurs stets voraussetzende, jenen aber übergreifende Prozeß führt so zum Aufbau einer zeitstabilen, unabhängig von subjektiven Wertmaßstäben verobjektivierten Ordnung. 17 Vor dem Hinter13

So mit Grund Helmut Schelsky, Das Jhering-Modell des sozialen Wandels durch Recht, in: ders., Die Soziologen und das Recht. Abhandlungen und Vorträge zur Soziologie von Recht, Institution und Planung, Opladen 1980, S. 147-186, 149, 158 ff., 174 ff., 185 f. 14 „Esse equitur operali," Rudolph von Ihering, Vorgeschichte der Indoeuropäer, aus dem Nachlaß hrsg. von Viktor Ehrenberg, Leipzig 1894, S. 96. 15 Vgl. dazu Okko Behrends, Rudolf von Jhering und die Evolutionstheorie des Rechts, in: ders. (Hrsg.), Privatrecht heute und Jherings evolutionäres Rechtsdenken, Köln 1993, S. 7 36, 18 f., 24 f. 16 Ihering, Über Aufgabe und Methode der Rechtsgeschichtsschreibung (Fn. 8), S. 415. 17 Ebd., S. 417 f.; vgl. ders., Der Zweck im Recht, Zweiter Band, Leipzig 1883, S. X.

§ 1 Co-Evolution der Gesellschaft und ihres Rechts

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grund dieser nicht individualistisch begriffenen Genese rechtlicher Verhaltensnormen dürfte die von Ihering in dessen Spätwerk postulierte bewußte Zweckhaftigkeit des Rechts denn auch nicht im Sinne einer mental verankerten Intentionalität bzw. subjektiven Finalität rechtsnormativen Handelns zu begreifen sein.18 Mit Blick auf die nachpositivistische wie erfahrungswissenschaftliche Architektur seiner Theorie müßte der Begriff der bewußten Zweckhaftigkeit, so wie er auch in der soziologischen Institutionentheorie von Helmut Schelsky vertreten wird, 19 vielmehr als metaphorische Umschreibung für die ihm seinerzeit noch nicht zur Verfügung stehende Vorstellung einer gesellschaftsautonom verlaufenden selektiven Konstitution, d. h. einer fortlaufenden Veränderung und Positivierung rechtlicher Normen verstanden werden. Nach allem kann mit Gurvitch und entgegen der von Rehbinder vertretenen Einschätzung20 davon ausgegangen werden, daß der theoriehistorische Beginn einer erfahrungswissenschaftlichen Reflexion auf das Recht nicht erst bei Eugen Ehrlich, sondern bereits bei der realistischen Theorie von Ihering anzusetzen ist. 21 Die Fehleinschätzung Rehbinders rührt ganz offensichtlich daher, daß dieser das Erkenntnisinteresse einer Soziologie des Rechts lediglich in einer Rechtstatsachenforschung erblickt, die der Rechtspraxis mit Blick auf Fragen der Ingeltung- und Durchsetzung des Rechts bloß als „Hilfswissenschaft" zu dienen bestimmt sei. 22 Die Defizienz einer solchen, in ihrer theoretischen Verengung auch bei Ehrlich keineswegs zu diagnostizierenden Rechtstatsachenforschung liegt darin begründet, daß sie ihren Gegenstand gerade nicht in der Reflexion auf eine zugleich normative wie faktische Wirklichkeit des Rechts erblickt. In dem Maße, in dem es ihr um eine letztlich nur in Diensten der Dogmatik stehende Untersuchung der Auswirkungen rechtlicher Normen auf die Handlungspraxis zu tun ist, geht sie unzutreffend von einer die Normativität des Rechts immer schon vorausgesetzten Rechtswirklichkeit aus.23 Sie gelangt somit, ungeachtet der von ihr beanspruchten empiri18 Vgl. ders., Der Zweck im Recht, Erster Band, Leipzig 1887, S. V-XVI, 238 ff. 19 Helmut Schelsky; Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, in: ders., Die Soziologen und das Recht. Abhandlungen und Vorträge zur Soziologie von Recht, Institution und Planung, Opladen 1980, S. 95 -146,122 ff. 20 Vgl. Manfred Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, Berlin 1967, S. 9, 23 ff. 2 1 So auch Athanasios Gromitsaris, Theorie der Rechtsnormen bei Rudolph von Ihering, Berlin 1989, S. 62 ff., 76 ff.; Werner Krawietz, Der soziologische Begriff des Rechts, in: Rechtshistorisches Journal 7 (1988), S. 157-177, 176. Zum Einfluß der Theorie Rudolf von Iherings auf den amerikanischen Rechtsrealismus vgl. Robert S. Summers, Rudolf von Jhering's influence on american legal theory-Α selective account, in: Okko Behrends (Hrsg.), Iherings Rechtsdenken. Theorie und Pragmatik im Dienste evolutionärer Rechtsethik, Göttingen 1996, S. 61-76. 22 Hierzu Manfred Rehbinder, Rechtssoziologie, 3. Aufl. Berlin/New York 1993, S. 5 ff., 9 f.; vgl. ders., Die Rechtstatsachenforschung im Schnittpunkt von Rechtssoziologie und soziologischer Jurisprudenz, in: Rüdiger Lautmann/Werner Maihofer/Helmut Schelsky (Hrsg.), Die Funktionen des Rechts in der modernen Gesellschaft, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 1, Bielefeld 1970, S. 334-359, 343, 345. 2*

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sehen Absicherung ihres Bezugsgegenstands, wiederum zu einer höchst problematischen Dualisierung von normativen und faktischen Implikationen des Rechts. Demgegenüber steht, wie noch zu zeigen sein wird, für Gurvitch fest, daß eine zureichende Beschreibung des Rechtssystems nicht mit einer Leitunterscheidung zwischen normativen und faktischen Strukturelementen des Rechts arbeiten kann. Gegenstand einer Theorie und Soziologie des Rechts müsse ihm zufolge statt dessen die „gesellschaftliche Wirklichkeit des Rechts" sein, wie es sich in den tatsächlichen Handlungszusammenhängen, in denen der rechtsnormative Sinn festgelegt wird, als Teil der sozialen Ordnungsbildung manifestiert. 24

2. Theorie sozialer Evolution Soweit Gurvitch Vorbehalte gegenüber einem evolutionistischen Denken einwendet, darf hieraus keineswegs geschlossen werden, daß er sich einer Theorie der Evolution der Gesellschaft und des Rechts verschließt. Im Gegenteil wendet sich seine Theorie der Evolution lediglich gegen nativistische und kausalistische Präsuppositionen, die bemerkenswerterweise erst im Kontext moderner Gesellschaftsund Rechtstheorien überwunden werden konnten. Es geht ihm zum einen darum, daß eine Evolutionstheorie nicht mehr von einem unilinearen Entwicklungsgeschehen ausgehen kann, welches sich einem ursprünglichen Zustand verdankt. Die Bildung und Veränderung sozialer Ordnung haben für ihn keinen kreativen Ursprung, welcher dem weiteren Geschehen eine bestimmte Form verleiht: „Eine genetische Rechtssoziologie muß das evolutionistische Vorurteil vermeiden, das glaubt, man könne den Keim einer ununterbrochenen einlinigen Entwicklung juridischer Institutionen [ . . . ] finden." 25 Zum anderen habe sich eine Evolutionstheorie von der Vorstellung zu verabschieden, daß sich Veränderungsprozesse auf der Grundlage eines dem sozialen und rechtlichen Wandel immanenten Gesetzes vollziehen. 26 Evolutionäre Prozesse sind also keine Kausalprozesse, die sich einer maßgebenden Ursache oder gar einer naturgesetzlichen Notwendigkeit verdanken. 27 Völlig zurecht geht Gurvitch davon aus, daß traditionelle Evolutionstheorien, die einem Entwicklungsgesetz das Wort reden, Irreversibilität und Veränderung 23 Werner Krawietz, Recht als Regelsystem, Wiesbaden 1984, S. 41 f.; vgl. zur Kritik am Forschungsprogramm der Rechtstatsachenforschung auch Klaus F. Röhl, Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, Tübingen 1974. 24 Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 1), S. 15, 25, 40; ders., Problèmes de Sociologie du Droit, in: ders., (Hrsg.) Traité de Sociologie, tome second, Paris 1960, S. 173-206, 174 f.; so auch René König, Das Recht im Zusammenhang der sozialen Normensysteme, in: Ernst E. Hirsch/Manfred Rehbinder (Hrsg.), Studien und Materialien zur Rechtssoziologie, 2. Aufl., Opladen 1971, S. 36-53, 51 f. 2 5 Gurvitch, Rechtssoziologie (Fn. 4), S. 228. 26

Ders., Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 1), S. 204. Niklas Luhmann, Evolution des Rechts, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt am Main 1981, S. 11-34,15. 27

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mit der Annahme von einer Kontinuität und eines Gerichtetsein des Prozesses verbinden. 28 Die Annahme eines „Evolutionsgesetzes" sei „sehr paradox", da sie das evoluierende Geschehen zugleich mit einem steuernden, unhinterfragt vorausgesetzten Strukturgesetz verbindet. Demgegenüber hat seiner Ansicht nach eine zureichende Theorie ihre Begriffe grundsätzlich so zu kombinieren, daß sie Unbestimmtheit, Kontingenz und Diskontinuität mitzubeschreiben vermag, ohne die Existenz invarianter Entwicklungsprinzipien in Anspruch zu nehmen. Innerhalb der strukturellen Entwicklung von Gesellschaften verlaufen Kausalprozesse keineswegs unilinear und losgelöst von spezifischen Eigendynamiken des jeweiligen Gesellschaftssystems. Letztere verhindern vielmehr, daß bestimmte Ereignisse unabhängig von dem Kontext, in dem sie sich ereignen, stets eine ganz bestimmte Folge herbeiführen. 29 Demnach wäre es ebenso verfehlt, von universellen Strukturmerkmalen der Gesellschaft auszugehen, die für eine soziale Höherentwicklung des Gesellschaftssystems unabdingbar vorliegen müssen, da sie dem System, in dem sie sich entwickeln, entscheidende Anpassungsvorteile verschaffen. 30 Da sich Gurvitch zufolge soziale Entwicklungen gerade keinem Ursprungsereignis verdanken, das die Voraussetzungen für die Auslösung des weiteren Prozesses bereits in sich trägt, wird in seiner Theorie die dem Evolutionsbegriff bis in das 18. Jahrhundert hinein beigelegte Schöpfungs- und Entfaltungsmetaphorik verabschiedet. 31 Letztere begreift das Verhältnis zweier Ereignisse als einen Zusammenhang, dessen eine Seite die jeweils andere hervorbringt, selbst aber als schon seiend festgeschrieben wird. Sie bleibt damit einer essentialistischen Tradition verpflichtet, die zwischen veränderlichen und unveränderlichen Dingen unterscheidet und Kausalzusammenhänge einem übergeordneten Prinzip überantwortet. 32 Vor diesem Hintergrund wendet sich Gurvitch sowohl gegen den alteuropäischen Finalismus33 als auch gegen den kausalwissenschaftlichen Naturalismus des 19. Jahrhunderts, 28 Georges Gurvitch, Déterminismes Sociaux et Liberté Humaine. Vers Γ Étude Sociologique des Cheminements de la Liberté, Paris 1955, S. 45 ff. 29 Dies betont mit Blick auf Gurvitch zurecht René König, Talcott Parsons, Georges Gurvitch. Gegenstand und Methoden der Soziologie, in: Kurt Fassmann (Hrsg.), Kindler Enzyclopädie. Die Großen der Weltgeschichte, Bd. 11: Einstein - King, Zürich 1978, S. 619-627, 621. Vgl. auch Shmuel N. Eisenstadt, Sozialer Wandel, Differenzierung und Evolution, in: Wolfgang Zapf (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, 3. Aufl., Köln/Bonn 1971, S. 75-91, 75. 30

So aber Talcott Parsons, Evolutionäre Uni versahen der Gesellschaft, in: Wolfgang Zapf (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, 3. Aufl., Köln/Bonn 1971, S. 55-74, 56,58 ff., 71 f. 31 Hierzu Wolf gang Wieland, Entwicklung, Evolution, in: Otto Brunner/Werner Conze/ Reinhard Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, 2. Aufl., Stuttgart 1979, S. 199-228, 204 ff. 32 Vgl. zu den Prämissen ontologischer Weltbeschreibungen und deren Kritik Niklas Luhmann, Identität, was oder wie?, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 5: Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 1990, S. 14-30. 33 Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 1), S. 48; ders., Brève Esquisse de Γ Histoire de la Sociologie, in: ders. (Hrsg.), Traité de Sociologie, tome premier, seconde édition corrigé, Paris 1962, S. 28-64, 29.

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vor allem in seiner teleologischen Ausprägung des marxistischen Geschichtsdeterminismus'. Gerade letzterer gelange aufgrund einer Hypostasierung vorgeblich „prädominanter Faktoren" in den soziohistorischen Prozessen zu einem unhaltbar intentionalen, gleichsam „eschatologischen" Geschichts- und Gesellschaftsverständnis.34 Erstaunlicherweise fand eine derartige, sich von einem Fortschrittsglauben und einem Gerichtetsein sozialer Prozesse auf einen Endzustand hin leitendes Vorstellungssyndrom auch in neuere philosophische Deutungs- und Erklärungsmuster Eingang.35 Die diesen Ansätzen letztlich zu Grunde liegenden, von Kulturkritik und Ideologie getragenen Annahmen werden jedoch weder dem komplexen Mechanismus der Evolution noch der Tatsache gerecht, daß „Rückschritte" jedenfalls nicht von vornherein auszuschließen sind. 36 Gurvitch zufolge handelt es sich bei evolutionären Veränderungen daher nicht um eine lineare oder gar auf einen Endzustand gerichtete Progression. Der Evolution liegen „weder statische Gesetze" noch „dynamische Entwicklungsgesetze" zu Grunde. „ [ . . . ] angesichts der hochgradigen Unbestimmtheit, die für die soziale Wirklichkeit und insbesondere für die Rechtswirklichkeit [ . . . ] charakteristisch ist", reduzierten sich Regelmäßigkeiten immer nur „auf Chancen", „Wahrscheinlichkeiten" und „Tendenzen", deren „Verwirklichung durch einen breiten Spielraum von Unvorhersehbarem begrenzt wird". 3 7 Damit präferiert er ganz eindeutig ein Evolutionskonzept, in dem die Evolution deshalb als ein selbstreferentieller, sich selbst tragender Mechanismus angelegt ist, weil die an ihm beteiligten Funktionen nicht mehr im Rekurs auf Bedingungen beschreiben werden, die jenseits des evolutionären Mechanismus' zu verorten sind. Ganz in diesem Sinne hat auch Luhmann zufolge eine Evolutionstheorie die Bedingungen für die Ausbildung evolutionärer Mechanismen ebenfalls durch Evolution zu erklären und damit in ihren Annahmen über den Anfang sowie in ihrem begrifflichen Bezugsrahmen „eine Theorie der Evolution von Evolution" zu sein.38 Es geht, wie Luhmann betont, im Rahmen einer Evolutionstheorie nicht um den 34 Vgl. hierzu die Kritik an den seiner Auffassung nach „eschatologischen" und idealistischen Geschichtsphilosophien von Marx und Hegel bei Georges Gurvitch, Dialektik und Soziologie, übersetzt von Lutz Geldsetzer, Neuwied/Berlin 1965, S. 92-102, 116, 182; ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, tome second: Antécédents et perspectives, troisième édition, S. 225, 240-247, 318-324. 35 Vgl. nur Arnold Gehlen, Über kulturelle Kristallisationen, in: ders., Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied 1963, S. 311-328, 323; Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992. 36 Vgl. zur Kritik an solchermaßen „monolithen Theorien" oder „Theorien prädominanter Faktoren" auch René König, Artikel Geschichts- und Sozialphilosophie, in: ders. (Hrsg.), Lexikon Soziologie, Frankfurt a. M. 1958, S. 88-96, 93, der diesbezüglich auf Gurvitch Bezug nimmt. 37 Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 1), S. 204. 38 Niklas Luhmann, Systemtheorie, Evolutionstheorie und Kommunikationstheorie, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, S. 193-203,194 f.

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Verzicht auf Kausalannahmen schlechthin, sondern nur um den Verzicht auf ein Kausalgesetz.39 Da Evolution durch die Verarbeitung vorübergehender Bedingungen zustande komme, müsse ihre Theorie von Unwiederholbarkeits- und Unwahrscheinlichkeitsannahmen ausgehen. Zurecht lehnt daher Gurvitch primär auf Kausfl/annahmen beruhende Beschreibungen gerade deshalb ab, weil sie unausgesprochen von einer eindeutigen Ursache-Wirkung-Korrelation ausgingen, die der Beobachtung unabhängig vom jeweiligen Kontext zugrunde gelegt werden könnten. Dieselben, in der Beobachtung als Ursache markierten Ereignisse erzeugen unter entsprechenden Bedingungen in unterschiedlichen Kontexten jedoch keineswegs identische Folgen. „Le passage de la cause à l'effet comport toujours un ,saut4 [ . . . ] Cette cohérence n'est d'ailleurs jamais univoque." 40 Ursachen und Wirkungen unterliegen keinem Universalgesetz, das ihren Zusammenhang zur Notwendigkeit werden läßt. Davon könne schon deshalb nicht ausgegangen werden, weil es sich bei der Formulierung von Kausalzusammenhängen stets um eine beobachterabhängige Attributionsleistung handele. Sie sei eine wissenschaftliche Konstruktion und lasse daher keinen Schluß auf vorgeblich unabhängig von der Beobachtung bestehende Gesetzmäßigkeiten zu. 41 Kausalannahmen würden vielmehr durch eine Relationierung von wiederum kontextabhängigen Strukturbedingungen ermöglicht und nicht durch einen abstrakt-notwendigen Ursache-Wirkung-Zusammenhang vorausgesetzt. Selbst wenn ein Geschehen unter Zugrundelegung von Kausalität beschrieben werde, müsse stets davon ausgegangen werden, daß der als ursächlich markierte Faktor, etwa bestimmte wirtschaftliche oder religiöse Strukturbedingungen eines Gesellschaftstyps, seinerseits im hohem Maße abhängig sei von den Gesamt-Strukturbedingungen des jeweiligen sozialen Phänomens, auf das sich die Beschreibung beziehe, und sich daher nicht ohne weiteres auf eine alternative Konstellation übertragen lasse.42 Die Evolutionstheorie von Gurvitch erhält damit insgesamt Anschluß an den insbesondere von der Systemtheorie Luhmanns erreichten Theoriestand. Wie Gurvitch begreift auch Luhmann die Evolution von Gesellschaft und Recht nicht als einen notwendigen, sondern bloß möglichen, d. h. unwahrscheinlichen Prozeß, der sich durch die eigenen Strukturen seine eigenen Voraussetzungen schafft. Luhmann zufolge handelt es sich bei sozialer Evolution um einen Mechanismus, in dem Variation, Selektion und Restabilisierung von sozialen Systemen dezidiert aufeinander bezogene Funktionen der Evolution bilden. 43 Genauer beruhe die Evo39 Ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, S. 416. 40

Gurvitch, Déterminismes Sociaux et Liberté Humaine (Fn. 28), S. 16 f., 28 f.; vgl. hierzu näher unter § 2. 41 Gurvitch, Déterminismes Sociaux et Liberté Humaine (Fn. 28), S. 16 f., 41 ff. Vgl. auch Niklas Luhmann, Funktion und Kausalität, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 1: Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Köln/Opladen 1969, S. 9 - 3 0 , 13, 26. 42 Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 1), S. 209. Vgl. zur Kritik an Beschreibungen, die von prädominanten Faktoren ausgehen, ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 10), S. 50 ff.

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lution von Gesellschaften und ihres jeweiligen Rechts auf einem komplexen Zusammenspiel der Differenzen Variation / Selektion, Selektion / Stabilisierung und Stabilisierung/Variation. 44 Der Evolutionsmechanismus verfügt demnach weder über einen Antrieb durch seine soziale oder gar psychisch-organische Umwelt, noch findet er unter Ausschluß sämtlicher Umweltbedingungen des jeweils evoluierenden Sozialsystems statt. Variation bedeutet in diesem Zusammenhang nicht schon den veränderten Zustand eines Sozialsystems selbst, sondern das Zurverfügungstellen eines Möglichkeitsüberschusses für eventuell daran anschließende Selektionen.45 Da Selektion immer die Anschlußnahme an Vorangegangenes voraussetzt, bezeichnet sie auch nur die Auswahl einer Möglichkeit aus Anlaß einer Variation. Der Begriff der Restabilisierung schließlich steht für die vorläufige Bewahrung eines Systemzustandes und bezeichnet zugleich die Ausgangsbedingung für weitere Strukturänderungen. Da Stabilisierung somit das Ende und den Anfang der Evolution darstellt, läßt sie sich im Zusammenhang einer Evolutionstheorie auch nur als dynamische Stabilität denken. Nun kann es entgegen einer verbreiteten Auffassung, derzufolge die Variation sozialer Prozesse und Normen mit der Veränderung individuellen Handelns zu erklären sei, mit Gurvitch nicht darum gehen, einen insoweit strategisch handelnden und sich an eigenen Nützlichkeitserwägungen orientierenden Akteur zum alleinigen Träger sozialer wie rechtlicher Variation zu hypostasieren.46 Die Bedingungen sozialer Evolution sind bereits ihrerseits derart abhängig von gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen und damit zu komplex, als daß sie monokausal auf die psychischen oder gar organischen Prozesse der an ihnen beteiligten Akteure zurückgeführt werden könnten 4 7 Infolgedessen verzichtet Gurvitch prinzipiell darauf, den Menschen und seine psychischen Motivationen zum Grundbegriff rechtstheoretischer und soziologischer Erklärungen zu machen.48 Da soziale Prozesse - wie noch zu zeigen sein wird - seiner Auffassung nach überindividuell erzeugt werden, « Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 3. Aufl., Opladen 1987, S. 138 f. 44 Ders., Evolution des Rechts, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt a. M. 1981, S. 11-34, 14 ff.; ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1994, S. 557 ff.; vgl. Stefan Smid, Soziale Evolution und Rationalität. Bemerkungen zu N. Luhmanns Grundlegung einer allgemeinen Theorie, in: RECHTSTHEORIE; 16 (1985), S. 429-457. 45 Hierzu und zum folgenden Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 39), S. 426 f., 451. 46 So aber Michael Schmid, Soziale Normen und soziale Ordnung II. Grundriß einer Theorie sozialer Evolution, in: Berliner Journal für Soziologie 5 (1995), S. 41-65, 41, 49 ff.; ders., Soziologische Evolutionstheorie, in: Protosoziologie 7 (1995), S. 200-210, 201. 4 7 Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 39), S. 457. 48 Hierzu und zum folgenden Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 1), S. 128 f.; ders., L'Idée du Droit Social. Notion et Système du Droit Social. Histoire doctrinale depuis le XVIIe siede jusqu' à la fin du XIXe siecle, réimpression de Γ édition Paris 1932, Aalen 1972, S. 5, 17; ders., Mikrosoziologie, in: Wilhelm Bernsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl., Stuttgart 1969, S. 692-695, 693.

§ 1 Co-Evolution der Gesellschaft und ihres Rechts

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lassen sich ihm zufolge auch evolutionäre Veränderungen der Gesellschaft und ihres Rechts nicht mehr auf einzelne volitive Akte zurückführen. Ungeachtet dessen stellt es für ihn eine gesicherte Einsicht dar, daß im sozialen Leben fortlaufend neue Formen des Handelns oder Kommunizierens generiert werden. Die Gesellschaft und ihre rechtsnormativen Strukturen bilden für ihn weder einen statischen Zustand noch eine schlechterdings vorfindbare Größe; sie lassen sich vielmehr nur durch Begriffe wie demjenigen einer „société en acte" umschreiben. 49 Soziale Prozesse verlaufen basal diskontinuierlich, unvorhersehbar und kontingent. Da Handlungen nicht ausschließlich sozial etablierte Muster reaktivieren, sondern die Regeln, die sie vollziehen, erst situationsbedingt konstituieren können, werden laufend abweichende Elemente in den Gesellschaftsvollzug eingefühlt und für daran anschließende Handlungen zur Verfügung gestellt.50 Orientiert sich das Handeln nicht an sozial „erwarteten" Mustern, widerspricht es insofern einer sozial generalisierten Erwartung an das Handeln.51 Dem Variationsmechanismus liegt somit, wie auch Luhmann betont, die Möglichkeit zugrunde, kommunikative Prozesse und deren normative Erwartungsstrukturen im Hinblick auf vergangene Aktivitäten zu negieren. 52 Abweichungen kommen dadurch zustande, daß vorangegangene Kommunikationsinhalte abgelehnt werden, ohne daß die Negation ihrerseits notwendigerweise in der Kommunikation mitreflektiert oder gar thematisiert zu werden braucht. Der Negationsgebrauch dürfte vor allem die evolutionäre Ausbildung von Kommunikationsmedien wie die Sprache voraussetzen, die typischerweise für jede kommunikative Bezeichnung zugleich ein entsprechendes Gegenteil bereitstellt und die Kommunikation dadurch in die Lage versetzt, durch die Wahl von Sinnalternativen überhaupt eine Veränderung von Informationen herbeizuführen. 53 Indem die Sprache für jede Bezeichnung zugleich eine Negativfassung zur Verfügung stellt, sprachlich also immer auch ein Nein vorangegangener Bezeichnungen ermöglicht, überzieht sich die sprachliche Kommunikation mit einem Überschuß nicht gewählten sozialen Sinns, der zu einem späteren Zeitpunkt selegiert werden kann. Sowie innerhalb der verbalen und schriftlichen Kommunikation etwa Neuartiges und Unerwartetes auftritt, werden Operationen mit einem gegenüber vorangegangenen Kommunikationen veränderten Sinn produziert. Derart unvermittelt ein49 Ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 10), S. 16; vgl. zu den terminologischen Anleihen bei der Sozialphilosophie von August Saints-Simon ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 2 (Fn. 34), S. 235. 50 Ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 10), S. 199 ff.; ders., The Spectrum of Social Time, translated and edited by Myrtle Korenbaum, assisted by Phillip Bosserman, Dordrecht 1964, S. 47.

51 Ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 10), S. 101. 52 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 39), S. 459 ff. 53 Hierzu ders., Einführende Bemerkung zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, S. 170-192, 172 f.; vgl. ders., „Distinctions directrices", Über Codierung von Semantiken und Systemen, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 4: Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Opladen 1987, S. 13-31, 14 f.

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

geführte Änderungen in der Kommunikation führen nicht nur zu einer Veränderung des je aktuellen Zustandes eines kommunikativen Systems, sondern dienen zugleich auch als Vorschlag, eine Änderung von Beiträgen und Themen pro futuro aufzugreifen. Sie schaffen Optionen für die nachhaltige Abänderung und Anpassung von Strukturen an neue Situationen. Soweit Gurvitch verschiedentlich zwischen „spontanen" bzw. „creativen" Handlungsprozessen einerseits und „organisierten" Handlungsmustern andererseits unterscheidet, darf dies nun allerdings nicht zu der Schlußfolgerung verleiten, daß er damit eine voraussetzungslose Konstitution abweichender Kommunikation und ihrer normativen Struktur propagiert. Da die Beobachtungskategorien der „spontanen" und „organisierten" Handlungszusammenhänge bei ihm nur als heuristische Abstraktionen eingeführt werden, handelt es sich bei ihnen lediglich um Grenzfälle unterschiedlich normierten Handelns, die auf der Ebene wissenschaftlicher Beschreibungen idealtypisch rekonstruiert werden. 54 Insbesondere geht es Gurvitch nicht darum, Handlungsfreiheiten im Anschluß an die philosophische Differenz von Geist und Materie zur Angelegenheit eines indeterminierten Bewußtseins und somit voluntaristisch zu erklären. Strukturmerkmal sozialer Handlungsfreiheiten ist, wie er gegenüber der subjektphilosophischen Traditition vollkommen zurecht betont, weder eine „reine Möglichkeit noch eine creatio ex nihilo". 55 Die Möglichkeit devianten sozialen Handelns stellt sich ihm zufolge stets als eine in der „realen Welt situierte", „bedingte" und „relative Freiheit" dar. Als „soziale" und infolgedessen nicht mehr mit dem Bewußtsein des einzelnen Akteurs kurzgeschlossene Freiheit wird sie auf der Ebene von aktorunabhängigen sozialen Prozessen hergestellt und - soweit sie in der Kommunikation als individuelle Freiheit spezifiziert wird - den an ihnen beteiligten Personen nachträglich sozial zugewiesen. Sie verwirklicht sich nach Gurvitch daher gerade nicht in der Selektion individueller, im Bewußtsein des einzelnen als kontingent wahrgenommener und das Handeln präformierender Handlungs- und Entscheidungsalternativen, wie dies innerhalb der analytischen Philosophie allerdings noch allzu aktorbezogen vertreten wird. 56 Statt dessen werde soziale Freiheit gleichsam nur „erprobt", indem sie sich innerhalb der sozialen Praxis in Form sozial „zugelassener" Aktivitäten manifestiert und erst a posteriori als Freiheit deklariert zu werden vermag. In diesem Sinne dient der Terminus der sozialen Spontanität bei Gurvitch lediglich dem Aufweis, daß in sozialen Kontexten situativ und informal neue Formen der Handlungsorientierung entstehen und für hieran anschließende Aktivitäten zur Verfügung stehen.

54 Gurvitch, La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 10), S. 76 ff., 132. 55 Hierzu und zum folgenden ders., Déterminismes Sociaux et Liberté Humaine (Fn. 28), S. 68 f., 74, 81. 56 So verortet die analytische Philosophie das Problem der Handlungsfreiheit noch immer als ein solches individueller Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten; vgl. an prominenter Stelle Georg Henrik von Wright, Die menschliche Freiheit, in: ders., Normen, Werte und Handlungen, Frankfurt a. M. 1994, S. 209-255.

§ 1 Co-Evolution der Gesellschaft und ihres Rechts

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Schließlich ist die Theorie von Gurvitch der schon den klassischen Evolutionstheorien Max Webers und Dürkheims zu Grunde liegenden57 und von Luhmann aufgegriffenen Einsicht verpflichtet, daß ein Wandel gesellschaftlicher Strukturen stets das Ingangsetzen adaptiver, weil selektiver Mechanismen voraussetzt, welche die aufgetretenen Variationen in neue Gegenwarten überführen. 58 Variationen in der Kommunikation führen nur dann zu Strukturveränderungen der Gesellschaft, wenn sie nicht ohne entsprechende Anschlußnahmen durch den nachfolgenden Prozeß gleichsam folgenlos in der Vergangenheit verschwinden. So bedarf die Erhaltung wie Veränderung von Strukturen in der Zeit nach Gurvitch immer erneuter sozialer Aktivitäten. 59 Es geht darum, daß die Genese und Variation von Strukturen untrennbar verbunden ist mit den Selektionen einzelner Kommunikationen. Änderungen der Strukturen können nur herbeigeführt und institutionell auf Dauer gestellt werden, wenn die einer Variation nachfolgenden Kommunikationen bei der selektiven Unterscheidung zwischen der Beibehaltung des ursprünglichen und der Anschlußnahme am neuen Zustand eine Option zugunsten der Variation treffen und das Ergebnis dann stabil gehalten wird. Vor diesem Hintergrund hält Gurvitch die Theorien linearer Kausalgesetzlichkeit in ihrer Beschreibungsleistung völlig zurecht für unzureichend. Im Hinblick auf das entscheidende Strukturelement der Selektion kann gerade nicht davon ausgegangen werden, daß geeignete Ursachen bei Hinzutreten der erforderlichen Bedingungen zwangsläufig bestimmte Effekte produzieren. 60 Abweichungen von einem Ausgangszustand, die in der Kommunikation ständig en passant erzeugt werden, werden nur dann institutionalisiert, wenn sie retrospektiv identifiziert und sodann fortlaufend gegenüber anderen Möglichkeiten abgegrenzt werden.

3. Evolution und Ausdifferenzierung des Rechts Die vorgängig dargelegten Theorieprämissen bilden bei Gurvitch das Fundament einer Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft und des Rechts, die sich durch zunehmende Rationalisierung und Entkopplung des Rechts von anderen Handlungsnormen auszeichnet. Auf der Grundlage einer typologischen Unterscheidung verschiedener Gesellschaftsformen stellt er diesen Prozeß als einen allmählichen Umbau gesellschaftlicher Strukturen dar, der seinen Ausgang nimmt bei der Struktur- und Verhaltensnormativität innerhalb archaisch-vorstaatlicher Gesellschaften 57 Vgl. Michael Schmid , Struktur und Selektion: Emile Dürkheim und Max Weber als Theoretiker struktureller Selektion, in: Zeitschrift für Soziologie 10 (1981), S. 17-37, 31 ff. 58 Vgl. Bernhard Giesen/Michael Schmid, Symbolische, institutionelle und sozialstrukturelle Differenzierung. Eine selektionstheoretische Betrachtung, in: Hans Haferkamp (Hrsg.), Sozialstruktur und Kultur, Frankfurt a. M. 1990, S. 95 -123,106 ff. 59 Georges Gurvitch, Problèmes de Sociologie Générale, in: ders. (Hrsg.), Traité de Sociologie, tome premier, seconde édition corrigé, Paris 1962, S. 153-251, 214. 60 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 39), S. 476 f.

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

und mit der Beschreibung der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft endet.61 Der Unterscheidung diverser Strukturtypen von Gesellschaften und ihres spezifischen Rechts liegt bei Gurvitch die Annahme einer zunehmenden Differenzierung der Gesellschaft zu Grunde. Zwar weist er seine Theorie nicht explizit als eine solche der sozialen Differenzierung aus; die Konturen einer derartigen Theorie sind bei ihm jedoch deutlich ausgeprägt. Wie die klassischen Theorien der gesellschaftlichen Differenzierung 62 begreift auch er im Ergebnis soziale Differenzierung als einen co-evolutionären und aus bereits existierenden sozialen Bezügen heraus sich vollziehenden Prozeß einer zunehmenden Arbeitsteilung, Rollen- und Funktionsdifferenzierung. Dabei wird Differenzierung nicht allein auf einen Wandel abstrakt verstandener Gesellschaftsstrukturen, Symbole und normativer Phänomene, sondern vielmehr als ein dynamischer Prozeß verstanden, der durch vielfältige und wechselseitig sich bedingende Faktoren sowohl innerhalb als auch von der Umwelt gesellschaftlicher Teileinheiten her ausgelöst wird. 63 a) Segmentare Differenzierung

und archaisches Recht

Bereits Ihering zufolge zeichnen sich archaische Gesellschaften durch eine summarische Kontextur verwandtschaftlich geprägter Beziehungen aus, die ihre Grenzen primär in den binnenfamiliär möglichen Sozialkontakten haben.64 In diesem Sinne erblickt auch Gurvitch das entscheidende Strukturmerkmal archaischer Gesellschaften darin, daß es sich bei ihnen um polysegmentäre Gesellschaften handelt, die sich in „identische Segmente", nämlich Clans bzw. Gentilen, differenzie65

ren. Wachstum und strukturelle Komplexität erreichen derartige Gesellschaften nur, indem der Prozeß der segmentären Differenzierung rekursiv wiederholt, mithin auf sich selbst angewandt wird. Auf diese Weise können sich über die Einheiten der Familie und des Clans komplexere Stammesgemeinschaften bilden, die zugleich die summarisch konstituierte Einheit der Gesellschaft darstellen. 66 Da die Kon61 Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts, S. 181 ff.; ders., Sociology of Law, Neudruck London/Boston 1974, S. 205 ff. 62 Emile Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt a. M. 1977, S. 317; Georg Simmel, Über soziale Differenzierung, in: Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 2, hrsg. von Heinz-Jürgen Dahme, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1989, S. 109-295; vgl. zu Simmeis Theorie der Differenzierung Hans-Peter Müller, Soziale Differenzierung und Individualität. Georg Simmeis Gesellschafts- und Zeitdiagnose, in: Berliner Journal für Soziologie 3 (1993), S. 127-139. Einen Überblick über den Theoriestand vor allem im Hinblick auf die Unterschiede zwischen aktorzentrierten und von der Theorie autopoietischer Systeme ausgehenden Ansätzen bietet Uwe Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen 1996. 63 Vgl. Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 1), S. 208 ff. 64 Hierzu und zum folgenden Rudolph von Ihering, Der Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entstehung, Erster Teil, 6. Aufl., Leipzig 1907, S. 183 ff.

65 Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 1), S. 181.

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29

takte zwischen den Gentilenverbindungen nur rudimentär ausgebildet sind und sich auf wenige Handelsverbindungen und intraverbandliche Konflikte mit dem jeweiligen sozietären Umfeld beschränken, findet alles Handeln und Erleben in den Gentilenverbindungen mehr oder weniger in den Horizonten der jeweiligen innerverbandlichen Aktivitäten statt. Insofern kennen segmentär differenzierte Gesellschaften keine kontingente und durch individuelle Leistung bedingte Partiziption. Segmentäre Differenzierung setzt vielmehr voraus, daß die individuelle Position in den Segmenten fest zugeschrieben wird. 67 Aufgrund der relativen Alternativenlosigkeit erfährt das Handeln seine Prägung ausschließlich durch die typischen Verhaltenskodizes und normativen Projektionen einer Gens. Die soziale Disposition über die Innehabung oder Nichtinnehabung von Rechten verläuft daher parallel zu deren individueller Anerkennung und die Zugehörigkeit des einzelnen zum Verband. 68 In dem Maße, in dem das Strukturprinzip archaischer Gesellschaften einer arbeitsteiligen Differenzierung in funtionsspezifische Handlungszusammenhänge noch entbehrt, kommt es zu einer kontextunspezifisch vollzogenen, stets die gesamte Person umfassenden und daher vollständigen Inklusion der Beteiligten in die Gesellschaft. Die fehlende Chance, die angestammte Sphäre seiner sozialen Einbindung zu verlassen und seine Teilnahme an divergierenden, durch ganz unterschiedliche Verhaltenserwartungen normativ strukturierten Sozialeinheiten statt dessen frei zu wählen, verhindert noch die Ausbildung verschiedener Rollen. 69 Ferner kennzeichnen archaische Gesellschaften Gurvitch zufolge ihre spezifisch magisch-religiöse Basis. In ihnen haben nicht nur sämtliche Verhaltensregeln, sondern auch alle Machtverteilung einen Bezug zur Magie, Sakralität und einem aus dem Bereich des Übernatürlichen abgeleiteten Prestige und Charisma. Die Aktivitäten, in denen streitschlichtende Normen gesetzt, angewandt und Übertretungen sanktioniert werden, haben grundsätzlich einen mystischen Charakter, da sie durch Orakelspruch, Prophezeihung, Gruppenritus und Offenbarung im Namen einer Gottheit oder des Mana vollzogen werden. 70 Gurvitch erblickt in der Magie, der Religion sowie der Reziprozität die entscheidenden und sich teilweise wechselseitig durchdringenden Strukturprinzipien des archaischen Rechts. Während die Magie und in ihr das Phänomen des Mana als einer übernatürlichen, die belebte wie unbelebte Natur sowie einzelne Personen und Gemeinschaften durchziehenden Kraft 66 „Eine archaische Gesamtgesellschaft ist der Stamm, der durch die Wiederholung einer Reihe identische Segmente, »clans« [ . . . ] genannt, gebildet wird," ders., Rechtssoziologie (Fn. 4), S. 224; vgl. ders., Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 1), S. 181. Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 39), S. 637. 67 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 39), S. 636. 68 Ders., Rechtssoziologie, 3. Aufl., Opladen 1987, S. 148 f.; vgl. auch Ihering, Geist des römischen Rechts (Fn. 6), S. 109, 225 ff. 69 Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 68), S. 148 f. Darauf weist bemerkenswerterweise bereits Ihering, Geist des römischen Rechts (Fn. 6), S. 184, hin. 70 Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 1), S. 183; ders., Rechtssoziologie (Fn. 4), S. 225.

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

das Prinzip der Immanenz darstellten, sei die Religion mit ihren Praktiken der Unterordnung unter höhere, göttliche Seinssphären dasjenige der Transzendenz.71 Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Prinzipien habe es ermöglicht, daß sich tribale Gesellschaften durchaus in kleinere Teileinheiten wie magische Bruderschaften, Alters- und Geschlechtsgruppen mit eigenen normativen Orientierungen differenzieren konnten; und sie sei zugleich die Bedingung dafür gewesen, eine Unterscheidung zwischen Individualität und Gemeinschaftlichkeit konstruieren zu können. Der individuell und in den diversen magischen Verbänden kollektiv praktizierte Kontakt mit dem Mana habe den einzelnen und die rituell agierenden Assoziationen gleichsam in die aktive Position eines wirkmächtigen, mit eigenen kreativen Fähigkeiten ausgestatteten Manipulators überführt. Diese Praxis bildete zugleich den strukturellen Hintergrund dafür, daß magisch handelnden Individuen und Gruppen eine eigene Willenskraft sowie eine von den Handlungsanweisungen göttlicher Phänomene, etwa dem Totem, unabhängige Autonomie zugeschrieben werden konnte.72 Während die Religion, d. h. der Glaube an eine überlegene, vollständige Demut fordernde Kraft, die Welt asymmetrisch ordnet und die Glaubensgemeinschaft als Einheit erleben läßt, wirft die Magie den einzelnen und die Gesellschaft rekursiv auf sich selbst zurück, gliedert die Welt also symmetrisch. Darüber hinaus begünstigt der Umstand, daß Magie faktisch in unterschiedlichen Verbindungen auf vielfältige Weise vollzogen wird, die Freisetzung einer auf Kollektivakteure und Menschen bezogenen Einzigartigkeit und Individualität. Die interne Partikularisierung stellt bei allen strukturellen Beschränkungen, denen tribale Gesellschaften unterworfen sind, also zumindest ansatzweise entwickelte Kombinierungsmöglicheiten zur Verfügung. Die Differenzierung des Segments in heterogene normative Muster und unterschiedliche, wechselseitig in Kontakt tretende Einheiten erlaubt es nämlich, Gleiches ungleich zuzuordnen, indem Konflikte oder wirtschaftliche Austauschprozesse zwischen den Gruppen ein und desselben Stammes auf insoweit Unterschiedenes zurückgerechnet werden. Hierzu trägt auch das auf Gleichrangigkeit der Beteiligten beruhende Reziprozitätsprinzip bei, das auf der Grundlage von Kontrakt und Obligation nicht nur wirtschaftliche Austauschprozesse zwischen Unterschiedenen ermöglicht, sondern damit zugleich auch die Konstruktion von individuellem Eigentum und Prestige begünstigt.73 Das Prinzip des im Medium des Mana praktizierten „do ut des" ist dasjenige einer Symmetrie von Geben und Nehmen, einer Austauschbarkeit beider Seiten, die sämtliche Beziehungen segmentärer Gesellschaften durchzieht. 74 Diese 71 Ders., Essais de Sociologie, Paris 1938, S. 201 f.; ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 2 (Fn. 34), S. 98 ff. 72 Ders., Magic and Law, in: Social Research 9 (1942), S. 102-122, 106 ff., 119. 73

Ders., Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 1), S. 184 f.; ders., Magic and Law (Fn. 72), S. 113. 74 Ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 2 (Fn. 34), S. 143 ff.; vgl. Marcel Mauss, Die Gabe, in: ders., Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, übersetzt von Eva Moldenhauer, Henning Ritter und Axel Schmalfuß, München/Wien 1975, S. 11-114.

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Symmetrie wirkt sich wiederum stabilisierend auf die segmentare Struktur aus, da sie die Genese einer grundlegenden Ungleichheit zwischen verschiedenen Handlungskomplexen und mit ihr einen nachhaltigen Umbau der Gesellschaftsstruktur verhindert. 75 Wie Gurvitch darlegt, korreliert sie zudem mit dem rekursiv geschlossenen Weltbild und zirkulären Zeitverständnis archaischer Gesellschaften, in dem zwischen Anfang und Ende, Vergangenheit und Zukunft nicht genau unterschieden wird. 76 Ungeachtet dieser rudimentär entwickelten Individualisierung verfügen archaische Gesellschaften Gurvitch zufolge aber noch keineswegs über das spezifisch neuzeitliche Individualitätsverständnis, da in ihnen das Individuum noch als eine von seiner Umwelt in vielfältiger Weise mystisch durchdrungene Entität begriffen, die Unterscheidung zwischen Individuum und Welt also symmetrisch konzipiert wird. Infolgedessen müsse davon ausgegangen werden, daß die Semantik von Individuum und Gesellschaft selbst einem grundlegenden Wandel in Abhängigkeit evolutionärer Änderungen sozialer Strukturen unterliege. 77 Unterentwickelte Differenzierung und vollständige Einbeziehung des einzelnen in die sozialen Segmente haben nun mit Bick auf das Recht zur Folge, daß dessen Entstehung noch auf der unmittelbaren, mehr oder weniger spontanen und von persönlicher Emotion und Gewalt begleiteten Reaktion auf ein Verhalten Dritter beruht, welches die mit dem eigenen Handeln verbundenen normativen Projektionen enttäuscht.78 Normative Erwartungen fungieren hier als reflexionslos eingelebte Ordnungsmomente. Sie manifestieren sich noch primär in der individuell und informal vollzogenen Abwicklung von Enttäuschungen. So findet die Durchsetzung sozialer Normen auf der Grundlage von Selbsthilfe, Vergeltung und Rache unter Anwendung von Gewalt statt. Die institutionalisierte Verpflichtung zur Blutrache verhält sich insofern komplementär zum Strukturprinzip verwandtschaftlicher Solidarität. 79 Unter den Bedingungen imaginierter Kräfte und einer nicht auf erworbenem Spezialwissen, sondern übernatürlichen Gaben beruhenden, charismatischen Herrschaftsausübung haben das Recht und seine Durchsetzung einen besonderen Bezug zum Affekt und zur Emotion. 80 Da die situative Beachtung oder Nichtbeachtung von Verhaltensnormen nicht unbedingt von einer abstrakten Rechtsfähigkeit unterschieden werden, die Abweichung also oftmals mit dem vollständigen Verlust individueller Rechte identifiziert wird, richten sich die Reaktio75

Hierzu und zum folgenden Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 39), S. 649 ff. 76 Gurvitch, The Spectrum of Social Time (Fn. 50), S. 106. 77

Ders La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 10), S. 41. 78 Vgl. Uwe Wesel, Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1985, S. 255 ff. 79 Vgl. ders., Juristische Weltkunde. Eine Einführung in das Recht, Frankfurt a. M. 1984, S. 29. 80 Gurvitch, Magic and Law (Fn. 72), S. 105. Zur charismatischen Herrschaft vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5., revidierte Aufl., besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen 1980, S. 654 ff.

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

nen zudem sanktionierend gegen die ganze Person, um die verletzte Ordnung wiederherzustellen. 81 Soweit die Streitentscheidung einem bestimmten Procedere unterworfen ist, obliegt sie der fallweisen Offenbarung und Rechtsfindung durch einen Propheten oder ein Orakel. Alle Handlungen, in denen Recht formuliert, angewandt und sanktioniert wird, haben einen mystischen Charakter. Es existiert daher weder eine verfahrensmäßig formalisierte, weil von der Person des Entscheidungsträgers unabhängige noch eine an abstrakten, vorab in Geltung gesetzten Rechtssätzen orientierte Rechtsprechung. Die Rechtmäßigkeit des Verhaltens wird vielmehr stets unter Bezugnahme auf eine außergesellschaftliche Ebene ad hoc festgestellt, wobei die Geltung einer gefundenen Entscheidung auf besonderen übernatürlichen Gaben des Entscheiders beruht. 82 Von Bedeutung ist, daß die mangelnde funktionale Rollendifferenzierung die Vorstellung von einer abstrakten Rechtsgeltung und einer rollenneutralen Durchsetzung des Rechts nicht zuläßt.83 Normative Erwartungen werden in nur geringem Maße kontrafaktisch stabilisiert; sie unterliegen primär einer fortlaufenden informalen Disposition, indem die Ausübung von Strafe und Vergeltung jenseits einer institutionell auf Dauer gestellten Entscheidungsinstanz auf Dritte übertragen werden kann. Dies wie auch die Verortung des Rechts in einer göttlichen oder der Natur innewohnenden Ordnung haben zur Folge, daß archaische Gesellschaften eine funktionale Ausdifferenzierung des Rechts verhindern. Die Genese einer jederzeitigen Abänderbarkeit des Rechts, wie sie erst für den Typ der funktional differenzierten Gesellschaft charakteristisch ist, wird genaugenommen durch das indifferente Verhältnis von Sozialität einerseits und Transzendenz bzw. Natur andererseits sowie dadurch blockiert, daß die Verhaltensnormen letztinstanzlich außerhalb der Gemeinschaft, in der sie tatsächlich zum Ausdruck kommen, verortet werden. So zeichnen sich tribale Gesellschaften nicht zuletzt dadurch aus, daß sie Phänomene der Natur sowie die Projektionen religiösen und magischen Handelns und Erlebens als Bestandteile der Gesellschaft, mit denen kommuniziert werden kann, beobachtet werden. Sie konstruieren eine Kosmologie, in der alles an allem teilnimmt und erleben sich infolgedessen als eine Ordnung, deren Prozesse keine Grenzen zur belebten und unbelebten Natur aufweisen. 84 In dem Maße, in dem das Recht aber zugleich ein im Wege der Kognition aus der Natur abgeleitetes oder religiös erfahrenes Phänomen darstellt, steht es selbst nicht mehr zur Disposition der Gesellschaft.

81 Hierzu instruktiv bereits Ihering, Geist des römischen Rechts (Fn. 6), S. 124 ff., 176 f., 190 ff. 82 Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 1), S. 183; ders., Rechtssoziologie (Fn. 4), S. 225. 83 Rüdiger Schott, Die Funktion des Rechts in primitiven Gesellschaften, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970), S. 107-174, 133. Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 68), S. 149. 84 Gurvitch, La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 2 (Fn. 34), S. 99; Peter Fuchs, Die archaische Second-order Society. Paralipomena zur Konstruktion der Grenze der Gesellschaft, in: Soziale Systeme 2 (1996), S. 113-130, 122 ff.

§ 1 Co-Evolution der Gesellschaft und ihres Rechts

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Das archaische Recht ist daher invariant und asymmetrisch konzipiert. Es wird in ihnen nicht als eine im Wege sozialer Prozesse gesatzte, mithin gesellschaftsintern produzierte und reproduzierte, sondern vielmehr als eine letztinstanzlich extrasozial verankerte Normenordnung gedacht.

Differenzierung b) Stratifikatorische Rationalisierung des Rechts

und

Von segmentär differenzierten Gesellschaften können Gurvitch zufolge solche unterschieden werden, die sich durch den Primat eines Stadt-Staates bzw. eines territorialen Reiches oder vorwiegend durch eine Hierarchie sozialer Schichten auszeichnen. Als historische Beispiele nennt er in bezug auf die strukturelle Vorherrschaft eines Stadt-Staates oder Reiches die griechische Polis des 7. bis 5. Jahrhundert v. Chr. und die Civitas romana des 5. bis 1. vorchristlichen Jahrhunderts. 85 Deren Struktur ist durch eine Art Binnenhierarchisierung der Gesellschaft, welche sich in einem stratifizierten Verhältnis zwischen einem lokalen Zentrum, bei dem es sich um eine Stadt oder ein sich selbst als ein Zentrum begreifendes Großreich handeln kann, und eine Vielzahl von strukturell zumeist gleichgeordneten funktionalen Verbindungen bestimmt.86 Die Evolution derartiger sozialer Zentren beruht auf einer allmählichen Auflösung traditioneller verwandtschaftlicher Beziehungen innerhalb eines bestimmten Territoriums, wobei letztere ihre strukturbestimmende Funktion im Bereich außerhalb des Zentrums aber regelmäßig beibehalten.87 Das Zentrum selbst kennt zwar eine in Ansätzen ausgebildete Arbeitsteilung zwischen politischen, rechtlichen, ökonomischen und militärischen Handlungsbereichen, weist hierbei jedoch noch keine funktionale, gleichgeordnete Differenzierung im engeren Sinne, sondern vielmehr eine stratifikatorische Sozialstruktur auf. 88 Die bei Gurvitch ausgemachte und innerhalb der Strukturtheorien der Gesellschaft als Zentrum/Peripherie-Differenzierung beschriebene Sozialstruktur 89 resultiert aus der Ausdifferenzierung lokaler, politisch, ökonomisch und rechtlich hochentwickelterer Zentren gegenüber einer weiterhin vorzugsweise segmentär differenzierten sozialen Umwelt. 90 Dabei rührt die Aufrechterhaltung der Differenz 85 Gurvitch, La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 10), S. 476 ff.; ders., Problèmes de Sociologie Générale (Fn. 59), S. 223 ff. 86

Ders., Déterminismes Sociaux et Liberté Humaine (Fn. 28), S. 250, 253 f. Ders., Problèmes de Sociologie Générale (Fn. 59), S. 223; ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 10), S. 476 f., 480 ff. 88 Ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 10), S. 480 f., 483. 89 Vgl. Shmuel Ν. Eisenstadt, Social Differentiation and Stratification, Glenview III. 1971; Jean Gottmann (Hrsg.), Centre and Periphery, London 1980; Edward Shils, Center and Periphery. Essays in Macrosociology, Chicago 1975. 90 Vgl. Shmuel Noah Eisenstadt, Social Division of Labor, Construction of Centers and Institutional Dynamics. A Reassessment of the Structural-Evolutionary Perspective, in: Ger87

3 Riechers

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

aus den strukturellen Besonderheiten des Zentrums, die in einer komplexeren politisch-rechtlichen Organisation oder Kapitalakkumulation bestehen können. Sie verdankt sich insbesondere einer Ausdehnung grenzüberschreitender Kommunikationsmöglichkeiten, welche die Bildung und Organisation größerer Territorialreiche erlaubt und innerhalb des Zentrums ein entsprechend hohes Maß an Informationsverarbeitungskapazität nach sich zieht und auch erfordert. 91 Die Entwicklung vormoderner Hochkulturen hatte Gurvitch zufolge eine zunehmende Entkopplung des Rechts von seinen ehemals magischen und religiösen Grundlagen zur Konsequenz.92 Interessanterweise erklärt Gurvitch den allmählichen Prozeß der „Verweltlichung und Rationalisierung des Rechtssystems der Stadt" aus den strukturellen Bedingungen heraus, die sich aus der Komplexität und dem zunehmenden Alternativenreichtum innerhalb des städtischen Zentrums ergeben. 93 Ganz offensichtlich begünstigte nach Gurvitch die Ausbildung größerer Herrschaftsorganisationen die Evolution einer gegenüber dem archaischen Recht abstrakteren Fassung und vor allem situationsunabhängigen Durchsetzung des Rechts. Durch die Einführung von Schrift als Verbreitungsmedium erhielt die Kommunikation die zur organisatorischen Beherrschung des Großreiches erforderliche größere räumliche und zeitliche Reichweite und zwang auch nicht mehr zur gleichzeitigen Anwesenheit der Beteiligten.94 Sie ermöglichte darüber hinaus eine im Wege der arbeitsteiligen Unterscheidung verschiedener Tätigkeitsbereiche vollzogene Einrichtung von ausschließlich mit der Kodifikation und Entscheidung befaßten Apparaten zur Betreuung des regional geltenden Rechts. Spezifisch rechtliche Verfahren, an denen hierfür besonders ausgebildete Personen beteiligt waren und die vormals „priesterliche Rechtsprechung [ersetzten]", traten an die Stelle des „an Magie gebundenen Formalismus". 95 Die von der Zentralisierung politischer Macht abhängige Institutionalisierung besonderer Interaktionssysteme wie das Gerichtsverfahren haben hierbei die Funktion, die Enttäuschungsabwicklung von der Anwendung physischer Gewalt und somit von bestimmten Nebenfolgen der Rechtsbehauptung zu trennen und einem rein rechtlichen Weg zu überantworten. 96 Im Wege rechtlicher Verfahren werden nunmehr prinzipiell offene Situationen zur Entscheidung gebracht, die in der bloß inhard Preyer (Hrsg.), Strukturelle Evolution und das Weltsystem. Theorien, Sozialstruktur und evolutionäre Entwicklungen, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1998, S. 29-46, 32 ff. 91 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 39), S. 664 ff. 92 Gurvitch, Sociology of Law (Fn. 61), S. 218. 93 Ders., Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 1), S. 195; vgl. ders., Rechtssoziologie (Fn. 4), S. 224. 94 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 39), S. 464 f. 95 Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 1), S. 196; ders., Sociology of Law (Fn. 61), S. 219. Vgl. zur Funktion rechtlicher Verfahren für die Evolution des Rechts auch Barna Horvath, Rechtssoziologie. Probleme der Gesellschaftslehre und der Geschichtslehre des Rechts, Berlin 1934, S. 269 ff. 96 Hierzu und zum folgenden Luhmann, Rechtssoziologie (Fn. 68), S. 171 ff.

§ 1 Co-Evolution der Gesellschaft und ihres Rechts

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formalen rechtlichen Auseinandersetzung bestehenden Ungewißheiten über den Ausgang eines Rechtsstreits gleichsam prozessual abfedern und das Recht aufgrund der Alternativität des Entscheidens insgesamt komplexer werden läßt. Das Recht manifestiert sich demnach nicht mehr allein in den diffusen Erwartungen an das Verhalten anderer, da die gehegten Erwartungen immer auch die Erwartungen der Entscheidungsinstanz als das maßgebliche Moment des Rechts zu berücksichtigen haben. Es kommt vielmehr zu einer Disjunktion individueller bzw. situativer Normprojektionen einerseits und der Selektivität des rechtlichen Entscheidens andererseits, welche sich ihrerseits in einem gegenüber tribalen Gesellschaften größeren Alternativenreichtum sozialen Handelns niederschlägt und folglich einen höheren Differenzierungsgrad der Gesellschaft erlaubt. Die Umstellung von naturrechtlich-kognitiver Rechtsoffenbarung auf eine verfahrensmäßige Orientierung an geschriebenen Regeln führt zu neuen Formen der Generalisierung und Abstraktion des Rechts und seiner Semantik.97 Indem sich das Recht von sakralen Prämissen emanzipiert und zumindest teilweise von einer transzendentalen Verankerung ablöst, ist es möglich und im Hinblick auf alternative Entscheidungen auch geboten, auf der Grundlage analytischer und rechtskonstruktiver Unterscheidungen Komplexität in das geschriebene Recht selbst einzuführen. Die damit gewonnene Flexibilität des Rechts, wie sie Gurvitch vor allem in dem weltlichen, auf „zunehmend elastischeren Formeln" und einer autonomen Rechtslogik gegründeten römischen Recht erblickt, ermöglichen es wiederum, verschiedenste Sachverhalte symbolisch zu generalisieren und somit den Ansprüchen einer komplexeren wie dynamischeren Sozialordnung Rechnung zu tragen. 98 Das verfahrensmäßig behauptete und praktizierte Recht zeitigt darüber hinaus, wie Gurvitch in bezug auf die römisch-rechtliche Figur der „persona" darlegt, eine zunehmende Entsubjektivierung des Rechts und, vor allem unter der Bedingung partizipatorisch-demokratischer Verfahren, die Genese von Gleichheit trotz Verschiedenheit der am Rechtsleben Beteiligten.99 Der Umstand, daß im lokalen Geltungsbereich des Rechts abstrakte Gleichheit im Recht institutionalisiert wird, ergibt sich augenscheinlich aus einem generalisierten Begriff vom Menschen, welcher aus dem sozialen Zentrum heraus und auf der Grundlage einer Unterscheidung zwischen der Zugehörigkeit zum eigenen Ordnungsbereich und derjenigen zur Peripherie entworfen wird. 1 0 0

97 Mit Blick auf das antike römische Rechtsdenken grundlegend Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 80), S. 462 ff. 98 Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 1), S. 196; ders., Sociology of Law (Fn. 61), S. 219. 99

Ders., Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 1), S. 196 f.; ders., Sociology of Law (Fn. 61), S. 218. 100 Vgl. dazu Rudolf Stichweh, Fremde, Barbaren und Menschen. Vorüberlegungen zu einer Soziologie der „Menschheit", in: Peter Fuchs/Andreas Göbel (Hrsg.), Der Mensch - das Medium der Gesellschaft?, Frankfurt a. M. 1994, S. 72-91. 3=

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

Die spezifisch stratifikatorische Differenzierungsform kann indes, wie Gurvitch im Hinblick auf die kontinentaleuropäische Feudalgesellschaft hervorhebt, auch ohne die strukturelle Differenz von Zentrum und Peripherie auskommen. Ihr maßgebendes Strukturmerkmal bleibt jedoch die Über- und Unterordnung von nach außen abgeschlossenen, d. h. kommunikativ mehr oder weniger intransigenten sozialen „Sphären", die sich durch den Primat einer patrimonialen Adelsherrschaft oder der Kirche auszeichnet.101 Die Differenzierungsform stratifikatorischer Gesellschaften beruht auf einer gesellschaftsinternen Differenzierung, bei der sich die Teilsysteme der Gesellschaft nach Maßgabe von Rangunterschieden im Verhältnis zu anderen Systemen in ihrer gesellschaftsinternen Umwelt ausdifferenzieren. Dies geschieht durch die kommunikative wie symbolische Schließung einer wie immer gearteten Oberschicht und setzt voraus, daß Rangdifferenzierungen in Form von spezifischen wie homogenen Lebensformen und Ethiken, wie sie insbesondere durch den Adel entwickelt und formuliert werden, auf Dauer durchgehalten und nach außen repräsentiert werden. 102 Derart vertikal differenzierte Gesellschaftssysteme kennzeichnet im besonderen Maße, daß sie ihre eigenen Unterscheidungen auf die Qualität von Personen beziehen und die soziale Differenzierung daher mit einer eindeutigen Zuordnung der Personen entsprechend ihrer Herkunft und sozialen Stellung einhergeht. 103 Dies begünstigt nicht nur Selbstbeschreibungen der Gesellschaft, die noch vorzugsweise vom ganzen Menschen im Sinne einer unteilbaren Entität ausgehen,104 sondern restringiert vor allem die soziale Durchlässigkeit zwischen den Teileinheiten der Gesellschaft. In dem Maße, in dem soziale Schichten eine Beteiligung an ihrer Kommunikation von der Zugehörigkeit zu ihr abhängig machen, wird eine von sozialer Herkunft grundsätzlich unabhängige und lediglich nach funktionalen Gesichtspunkten koordinierte Teilnahme an der Kommunikation weitestgehend verhindert. Diese Art gesellschaftsstruktureller Asymmetrie wird, wie Gurvitch aufzeigt, von der Ausbildung ganz unterschiedlicher, aber bloß sektoral wirksamer Rechtssysteme in der Gesellschaft begleitet. So erzeugen die herrschenden Adelshäuser, die Kirche, die Städte, Gilden und Zünfte in der mittelalterlichen Gesellschaft ihre je spezifischen Normenordnungen und eigenen Entscheidungsverfahren. 105 Zweifellos wurde im westlichen Europa infolge von Revolutionen bereits seit dem 11. Jahrhundert eine Entwicklung in Gang gesetzt, die auf eine zunehmende Abkopplung des Rechts vom feudalistisch geprägten politischen System einerseits sowie ιοί Gurvitch, La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 10), S. 463 ff.; vgl. ders., Problèmes de Sociologie Générale (Fn. 59), S. 221 ff. 102 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 39), S. 685 ff. i° 3 Ders., Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1991, S. 264. 104 Vgl. dazu ders., Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 6: Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, S. 155168, 161 f. 105 Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 1), S. 190, 192.

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von religiösen Normprojektionen andererseits hinauslief, da dasselbe Recht sowohl bei der Formulierung kanonischen Rechts als auch bei der Konstitution territorialstaatlicher Herrschaftsorganisationen Anwendung fand und deshalb prinzipiell als kontingent gedacht werden mußte. 106 Mit Grund verweist Gurvitch auf die zentrale Funktion, welche die römisch-rechtliche Tradition für die dogmatische Entwicklung des kanonischen wie auch des weltlichen Rechts hatte. 107 Der von ihm mit Blick auf die ständische Gesellschaftsordnung inaugurierte „außerordentliche Partikularismus" des Rechts hatte jedoch zur Konsequenz, daß sich innerhalb dieses Gesellschaftstyps noch kein eigenständiges, auf die Kodifikation allen Rechts und die Betreuung sämtlicher rechtsnormativer Prozesse in der Gesellschaft spezifiziertes System ausdifferenzieren konnte.

c) Funktionale Differenzierung und Ausdifferenzierung des Rechtssystems Eine solche Verselbständigung spezifisch rechtlicher Handlungen bzw. Kommunikationen von allen übrigen Aktivitäten trat Gurvitch zufolge erst im Zusammenhang mit der Entwicklung der modernen Gesellschaft ein. Ausgehend von und im Kontext mit der Herausbildung territorialstaatlicher Reiche, wie sie für die soziale und politische Entwicklung insbesondere ab dem 16. Jahrhundert in Europa kennzeichnend war, sowie einer zunehmenden, diesen Prozeß begleitenden und sozialstrukturell mit bestimmenden Technisierung, Industrialisierung und arbeitsteiligen Lebensführung wurde nach Gurvitch eine Entwicklung in Gang gesetzt, die in Richtung einer zunehmenden Entzerrung vormals nicht getrennter Handlungsbereiche verlief. 108 Dieser immer weitergehende, in politischer und rechtlicher Hinsicht maßgeblich durch die amerikanische und französische Revolution beschleunigte Prozeß der Modernisierung ist unabweisbar verknüpft mit der Säkularisierung und Rationalisierung nahezu aller Lebensbereiche, insbesondere demjenigen des Rechts. 109 Er mündete Gurvitch zufolge in den Gesellschaftstyp der modernen Gesellschaft, der maßgeblich durch seine dezentrale Struktur und die Pluralität unterschiedlicher Funktionssysteme gekennzeichnet ist. So bilden in der modernen Gesellschaft etwas das Recht, das Wissen, die Erziehung, die Moral und die Kunst jeweils eigenständige soziale Funktionssysteme.110 Entscheidend an dieser Diagnose ist, daß nach Gurvitch diese Teileinheiten nunmehr auf dem Prinzip der Selbstorganisation („self-government") beruhen. 111 Dies bedeutet zum einen, daß 106 Vgl. Harold J. Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, deutsch von Hermann Vetter, Frankfurt a. M. 1991. 107 Gurvitch, Sociology of Law (Fn. 61), S. 215. los Ders., Problèmes de Sociologie Générale (Fn. 59), S. 225 ff. 109 Ders., Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 1), S. 198 f. no Ders., The Social Frameworks of Knowledge (Fn. 11), S. 220. m Ebd.

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

sich sämtliche Funktionssysteme und damit auch das Recht aus sich selbst heraus erzeugen wie fortentwickeln und jeweils ausschließlich Recht, Wissen oder wirtschaftliche Transaktionen bilden. Zum anderen bedeutet dies, daß die Grenzen zwischen den einzelnen sozialen Systemen wie auch deren spezifische Eigenheiten durch die jeweiligen systeminternen Aktivitäten aufrechterhalten und produziert werden. Ohne daß auf die einem anderen Zusammenhang vorbehaltenen Codierung einzelner Funktionssysteme eingegangen werden soll, gilt es zunächst festzuhalten, daß eine funktionsspezifische Differenzierung der sozialen Ordnung zu einer bestimmten Gesellschaftsstruktur führt, die sich von anderen Differenzierungsformen unterscheidet. Sie zeichnet sich nämlich durch die Erzeugung von binnengesellschaftlichen Teilsystemen aus, die im Verhältnis zueinander jeweils besondere Leistungen erbringen und ihre Grenzen mit Blick auf ihre Funktionserfüllung konstant halten. Die evolutionäre Ablösung solcher Strukturtypen, welche die Gesellschaft in gleichartige oder hierarchisch geordnete Subsysteme aufteilt, verdankt sich dem höheren Maß an Rationalisierung, das im Wege einer Distribution von bestimmten Aufgaben auf gesonderte, ausschließlich mit der Befassung dieser Aufgaben betraute Teilsysteme erreicht wird. 1 1 2 Soziale Funktionen, d. h. solche Probleme, die im Hinblick auf die gesamte Gesellschaft entstehen, können effizienter erfüllt werden, wenn sie unter dem Gesichtspunkt der Problemlösung thematisiert und zu diesem Zweck gesonderten, speziell hierfür in Gang gesetzten Handlungen bzw. Kommunikationen übertragen werden. Je nach dem, welchen Umfang die soziale Problemlösung aufweist, entstehen komplexere soziale Systeme mit einer entsprechenden Informationsverarbeitungskapazität, in denen spezifische Problemlösungstechniken erarbeitet und als Leistung an ihrer Umwelt erbracht werden. 113 Die Leistung ist nicht nur die Voraussetzung dafür, daß sich innerhalb des Funktionssystems weitere funktionale Spezifizierungen anschließen sowie besondere Formen des Erwartens und Seiegierens im Hinblick auf die Leistungserbringung herausbilden. Sie ist darüber hinaus die Bedingung für die Erzeugung einer System/Umwelt-Differenz im Sinne einer Systemgrenze, welche die systeminternen von den nicht an der Funktionserfüllung beteiligten Kommunikationen abschneidet und zugleich das Kriterium, unter dem Systeme in der Umwelt das entsprechende Funktionssystem beobachten und es ihrerseits mit eigenen Leistungen versor_

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gen. Die Evolution spezifizierter Teilsysteme läßt sich damit erklären, daß soziale Systeme entweder dazu übergehen, ihre Funktionen intern arbeitsteilig zu organisieren, als vormals multifunktionale Systeme ursprünglich eigene Funktionen auf 112 Ders ., Problèmes de Sociologie Générale (Fn. 59), S. 225 ff. 113 Vgl. Talcott Parsons, An Outline of the Social System, in: ders./Edward Shils/Kaspar D. Naegele/Jesse R. Pitts, Theories of Society, Bd. 1, New York 1961, S. 30-79,44 ff. 114 So mit Blick auf die Ausdifferenzierung der politisch-rechtlich operierenden Staatsorganisation: Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, 2. Aufl., Berlin 1974, S. 18 f.

§ 1 Co-Evolution der Gesellschaft und ihres Rechts

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andere Systeme mit einer neuen, gesonderten Zuständigkeit verlagern oder mehrere, auf unterschiedliche Einheiten distribuierte Funktionen nunmehr in einem System aggregiert werden. 115 Hierbei ist der Mechanismus der Differenzierung zureichend nur als interne Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme mit je eigenen Umwelten zu verstehen. 116 Der Begriff der Ausdifferenzierung eines Systems bezeichnet den Umstand, daß sich ein soziales System im Wege seiner eigenen operativen Prozesse gegenüber einer je systemspezifischen Umwelt abgrenzt, wobei die Umwelt den Bereich jenseits des für das System sinnhaft Erreichbaren markiert. Demnach kann von der Ausdifferenzierung einer Gesellschaft gesprochen werden, wenn sich das Gesellschaftssystem als Ganzes von seiner physischen oder psychischen Umwelt oder aber von anderen Gesellschaftssystemen abgrenzt. Demgegenüber kommt Systemdifferenzierung dadurch zu Stande, daß sich innerhalb eines System einzelne Teilsysteme bilden, für die sowohl andere Teilsysteme als auch das Gesamtsystem jeweils Umwelt sind. Mit Blick auf die grundlegende Unterscheidung zwischen einem System und seiner Umwelt wird im Fall der Systemdifferenzierung der Mechanismus der Ausdifferenzierung eines Bereichs sinnhafter sozialer Möglichkeiten auf sich selbst angewandt. Es sind genaugenommen die intern ausdifferenzierten Subsysteme, welche mit ihren je eigenen Umwelten das umfassende Gesamtsystem rekonstruieren. Entscheidend ist, daß im Wege des Differenzierungsvorgangs jedes Subsystem aufgrund der eigenen Unterscheidung von System und teilsystemspezifischer Umwelt das Gesamtsystem reproduziert und letzteres immer auch interne Umwelten erzeugt. Dies hat zur Folge, daß sich mit jeder Veränderung eines Teilsystems nicht nur die Umwelt anderer Teilsysteme, sondern auch diejenige des umfassenden Systems ändert, deren Bestandteil das variante Teilsystem jeweils ist. An dieser Stelle sei nachdrücklich betont, daß die Beschreibung sozialer Differenzierung auf der Grundlage einer System/Umwelt-Differenz das an der alteuropäischen Unterscheidung eines Ganzen von seinen Teilen orientierte Dekompositionsparadigma innerhalb der Differenzierungstheorie verabschiedet. Letztere basiert noch auf der Vorstellung von gesellschaftlicher Differenzierung im Sinne einer Zerlegung und Aufteilung eines übergeordneten Systems in verschiedene Teileinheiten mit unterschiedlicher Struktur und Funktion für die Gesamteinheit.117 Die Annahme, daß sich die innere Organisation sozialer Systeme im Wege ihrer realen Parzellierung vollzieht, bleibt dabei allzu sehr dem klassischen, aus der Na115 Renate Mayntz, Funktionelle Teilsysteme in der Theorie sozialer Differenzierung, in: dies./Bernd Rosewitz/Uwe Schimank/Rudolf Stichweh (Hrsg.), Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt/New York 1988, S. 11-44,12, 28 f. 116 Hierzu und zum folgenden Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 39), S. 597 ff. 117 So noch Talcott Parsons, Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven, Frankfurt a. M. 1975, S. 39. Vgl. auch Neil J. Smelser, Social Change in the Industrial Revolution. An Application of Theory to the Lancashire Cotton Industrie, London 1960, S. 2.

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tur abgeleiteten, zumeist ethisch-moralisch konnotierten wie hierarchisch untermauerten Gedanken einer Repräsentation der Vielheit in der Einheit sowie einer Summation morphogenetischer Teile verpflichtet. 118 Eine paradigmatische Verbindung der Ganzes/Teile-Schematisierung mit ethisch-moralischen Unterscheidungen erblickt Gurvitch zurecht in der aristotelischen Darstellung einer auf Freundschaft gegründeten sozialen Gemeinschaftsbildung innerhalb der griechischen Polis. Letztere gehe von einer apriorischen „Hierarchie der Gruppierungen" aus, innerhalb derer sämtliche Gemeinschaftsbildungen lediglich „untergeordnete Teile" der stadtstaatlichen Gesellschaft bildeten, eine Hierarchie, die ihrerseits mit der Konstruktion eines metaphysisch teleologisierten SteigerungsVerhältnisses des Guten korrespondiere. 119 Dieses Konzept setzt bei der Beschreibung der städtischen Gemeinschaft (koinonia politike) als der vollkommensten Sozietät, als „Aktualität der menschlichen Natur und Vernunft" an, in welcher der Mensch sein Ziel erreicht. 120 Als eine von vielen Gemeinschaften ist diese zugleich die hervorragendste und umfaßt nicht nur alle übrigen koinoniai, sondern sämtliche, aus dem Begriff der Freundschaft und wiederum finalistisch entwickelten Handlungsverbindungen (philiai). 121 Parallel zur Progression der Gemeinschaften innerhalb der Politik ist es innerhalb der aristotelischen Ethik, die die Freundschaft um des Nutzens und der Lust willen sowie die vollkommene Freundschaft unterscheidet, die ebenfalls vollkommene Handlungsform, welche die Typologie des Handelns am perfektesten verwirklicht. Mit Blick auf die normative Etikettierung von koinonia und philia ist dieses Modell primär auf die ethische Begründung und Vergleichbarkeit des Ganzen mit seinen Teilen hin angelegt. Da es das Ganze nicht nur als perfekte Ausführung identifiziert und somit notwendigerweise von seinen Teilen trennt, sondern davon ausgeht, daß das Verhältnis zwischen Gesamt- und Teilsystem durch ein immanentes, sich im Ganzen entfaltendes Prinzip beherrscht wird, ist dieses Modell nicht in der Lage, auf die genetischen Bedingungen einer differenzierten sozialen Ordnung zu reflektieren. 122

118 Vgl. zur Genese und den Konsequenzen des Ganzes/Teile-Schemas in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft nur Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 39), S. 912 ff. 119 Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 1), S. 48, 50 f.

ι20 Joachim Ritter, Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks, in: ders., Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1988, S. 57-105, 77 ff. 121 Aristoteles, Nikomachische Ethik, Aristoteles Werke, Bd. 6, begründet von Emst Grumach, übersetzt von Franz Dirlmeier, 4. Aufl., Berlin 1967, 1129a ff., 1155a ff.; ders., Politik, Teil 1, Aristoteles Werke, Bd. 9, begründet von Ernst Grumach, hrsg. von Hellmuth Flashar, übersetzt von Eckart Schütrumpf, Darmstadt 1991, 1252a-1253a. ι 2 2 Vgl. Niklas Luhmann, Wie ist soziale Ordnung möglich?, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 2, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1981, S. 195-285, 214 ff.

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Das Problem eines solchen Dekompositionsschemas liegt grundsätzlich darin begründet, daß es gegenüber einer System/Umwelt-Unterscheidung fälschlicherweise die Ab-extra-Koordinierung sämtlicher Teilprozesse durch das Gesamtsystem insinuiert. Es gelangt ferner zu der höchst problematischen Vorstellung einer Distribution aller gesellschaftlichen Prozesse auf seine Teileinheiten mit der Folge, daß das Gesamtsystem ausschließlich in seinen Teilsystemen vollzogen wird. Gerade hochdifferenzierte Gesellschaften können jedoch eine interne Unterscheidung zwischen dem Gesellschaftssystem einerseits und einzelnen Interaktionen, d. h. einer Kommunikation unter Anwesenden, andererseits produzieren, indem sie kurzfristige Interaktionen freisetzen, die zwar stets innerhalb und synchron zum gesamtgesellschaftlichen Geschehen stattfinden, sich aber keinem spezifischen Funktionssystem zuordnen oder die Kommunikationen zwischen diesen „Hauptsystemen" der Gesellschaft markieren. 123 So unterscheidet auch Gurvitch zwischen eher ephemeren Sozialkontakten, umfassenderen, auf Dauer gestellten Gruppierungen und dem gesamten Gesellschaftssystem. In jeder Gesamtgesellschaft entstehen ihm zufolge auf relativ spontane Weise elementare und unterschiedlich stark normierte Sozialbeziehungen, die mit dem Systemtypus der mikrosoziologischen Gesellung bezeichnet und von sozialen Makrophänomenen wie den weitergehenden funktionsspezifischen Gruppierungen sowie der Gesellschaft, in der sie prozedieren, differenziert werden können. 124 Interaktionäre Gesellungen, die sozial komplexeren Gruppierungen wie auch Gesamtgesellschaften stellen soziale Einheiten dar, die sich wechselseitig nicht aufeinander reduzieren lassen, da sie über ein jeweils ganz spezifisches und eigendynamisch gebildetes Potential an normativen Orientierungen, Handlungspräferenzen und Organisation verfügen. Aufgrund ihrer jeweiligen Eigenkomplexität und der von ihnen entwickelten Eigendynamik vollziehen sie Gurvitch zufolge eine „unité irréductible et indécomposable", so daß ihre Relationierung keineswegs summarisch oder dahingehend begriffen werden kann, daß sich das umfassende Sozialsystem und die in ihnen prozessierten Einheiten wechselseitig repräsentieren. 125 Mit Blick auf diese strukturellen Konsequenzen steht für Gurvitch im Einklang mit nahezu allen klassischen wie zeitgenössischen Differenzierungstheorien fest, daß soziale Differenzierung grundsätzlich erst die Bedingung der Möglichkeit für die Genese von Individualität darstellt. 126 Er hält es daher mit Grund für verfehlt, 123 Ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft (Fn. 39), S. 598, 812 ff.; ders., Soziale Systeme (Fn. 103), S. 551 ff. 124 Georges Gurvitch, Mikrosoziologie, in: Wilhelm Bernsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl., Stuttgart 1969, S. 692-695, 693; ders., Mikrosoziologie und Soziometrie, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 111 (1955), S. 322-353, 338 ff.; ders., Microsociology and Sociometry, in: ders. (Hrsg.), Sociometry in France and the United States. A Symposium, Beacon House 1950, S. 1-31,17 ff. 125 Ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 10), S. 70. 126 „Ainsi se trouve amorcée une atmosphère plus favorable au développement de Γ individualisme, Γ individu profitant, comme toujours, pour s'affirmer, de Γ opposition entre plusieurs groupements au sein de la société où il vit," Gurvitch, La Vocation de la Sociologie,

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

von einer apriorischen, weil evolutionstheoretisch gerade nicht reflektierten Kontrastierung von Individuum und Gesellschaft sowie eines wie immer gearteten Konflikts zwischen beiden auszugehen,127 was stets auf die problematische Annahme eines Summenkonstanzverhältnisses von Individualität und Ordnung hinausläuft. Zwischen Individualität und Gesellschaft besteht eben keine Summenkonstanz in dem Sinne, daß höhere individuelle Freiheitsgrade sowie die Möglichkeit des Einforderns von subjektiven Rechten zu Lasten gesellschaftlicher Ordnungsbildung und soziale Ordnung umgekehrt zur Beschränkung von Individualität führt. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ist vielmehr ein solches wechselseitiger und evolutionär bedingter Steigerung mit der Folge, daß ein höheres, durch gesellschaftsinterne Differenzierung ausgelöstes Maß an sozialer Ordnung mit einem Zuwachs an individuellen Freiheiten und Selektionschancen korrespondieren kann. 128 In dem Maße, in dem Gesellschaften durch den Prozeß zunehmender Differenzierung zugleich immer mehr Teilnahmechancen zur Verfügung stellen, steigern sie selbst die Individualität der Akteure und sichern diese im Wege einer institutionalisierten Konstruktion und fortlaufenden Zurechnung von Individualität gesellschaftsintern ab. Dies ermöglichte in der Folge auch erst die Positivierung der Menschenrechte. Die Evolution von subjektiven und Menschenrechten korrespondiert daher mit der endgültigen Freisetzung von Individualität, wie sie sich im Übergang zu funktional differenzierten Gesellschaft spätestens seit dem 18. Jahrhundert in Zentraleuropa vollzog. Vor diesem Hintergrund wäre es verfehlt, die durch die Verfassung anerkannten und abgesicherten Menschenrechte im Sinne einer den Menschen schon aufgrund seiner Existenz bestehenden und aus der Natur nur noch abgeleiteten Rechtsposition zu begreifen. 129 Im folgenden wird es darum gehen, die funktionsspezifischen Eigenheiten, die das ausdifferenzierte Recht nach Gurvitch aufweist, einer näheren Untersuchung zu unterziehen.

Bd. 2 (Fn. 34), S. 102; vgl. ders., Magic and Law (Fn. 72), S. 107. Zum Steigerungsverhältnis von sozialer Differenzierung und Individualität: Emile Durkheim, Leçons de Sociologie. Physique de mœurs et du droit, 2. Aufl., Paris 1960, S. 100 ff.; Georg Simmel, Das Individuum und die Freiheit, in: ders., Das Individuum und die Freiheit, Frankfurt a. M. 1993, S. 212219; Niklas Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1993, S. 149-258,150 f. 127 Gurvitch, La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 10), S. 38 ff. 128 Niklas Luhmann, Die gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 6, Opladen 1995, S. 125-141,130. 129 Werner Krawietz, Evolution des Rechts und der Menschenrechte, in: Friedrich Kaulbach/ders. (Hrsg.), Recht und Gesellschaft. Festschrift für Helmut Schelsky zum 65. Geburtstag, Berlin 1978, S. 319-341.

§ 2 Reflexionstheorie des Rechtssystems

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§ 2 Reflexionstheorie des Rechtssystems 1. Ausdifferenzierung der Wissenschaft a) Soziale Konstitution von Wissen Im Hinblick auf die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft stellt sich zunächst die Frage, auf welche Weise und unter welchen Voraussetzungen die Produktion von Wissen über soziale und rechtliche Prozesse in der Gesellschaft strukturell gewährleistet wird. Ausgangspunkt der hier aufgeworfenen Problematik bildet bei Gurvitch die Einsicht, daß das Wissen von Sachverhalten und insbesondere die wissenschaftliche Erkenntnis nicht auf der Basis des subjektphilosophischen Rationalismus rekonstruiert werden können. Die Begriffe des Wissens und der Erkenntnis haben für Gurvitch keinen Primärbezug mehr zum Bewußtsein. Vielmehr können Wissen und Erkenntnis ihm zufolge nur im Rahmen einer Soziologie des Wissens, die zugleich auch über die theoretischen Voraussetzungen für eine adäquate Rekonstruktion psychischen Wissens verfügt, im Rückgriff auf soziale Phänomene adäquat verortet werden.1 In Auseinandersetzung mit den klassischen Soziologien des Wissens von Durkheim, Scheler, Mannheim und Sorokin gelangt Gurvitch zu der Annahme, daß Wissensphänomene nur in ihrer jeweiligen funktionellen Korrelation zu bestimmten Gesellschaftsstrukturen und den diversen, innerhalb einer Gesellschaft sich bildenden sozialen Systemen erklärt und gedeutet werden können.2 Seine Position stimmt weitgehend mit dem Mannheimschen Paradigma vom Relationismus und der Perspektivität überein. Danach können Wahrheit und Wissen nicht subjektiv und absolut, sondern lediglich auf der Basis einer historischen Strukturanalyse objektiv-dynamisch konzipiert und auch der Gegenstand des Wissens stets in Abhängigkeit standortbedingter und sich wandelnder Beobachtungen begriffen werden.3 Wissen und im Rahmen der Erkenntnis gebildete Urteile müssen um ihrer Gültigkeit willen weder universell noch „notwendigerweise an ein individuelles Bewußtsein geknüpft sein". Sie beziehen sich vielmehr 1 Georges Gurvitch, Wissenssoziologie, in: Gottfried Eisermann (Hrsg.), Die Lehre von der Gesellschaft, 1. Aufl., Stuttgart 1958, S. 408-451,408,431,445. 2 Ders., Problèmes de la Sociologie de la Connaissance, in: ders. (Hrsg.), Traité de Sociologie, tome second, Paris 1960, S. 103-136, 120 ff. Vgl. zur Entwicklung der Soziologie des Wissens Nico Stehr/Volker Meja, Wissen und Gesellschaft, in: dies. (Hrsg.), Wissensoziologie, Opladen 1981, S. 7 - 1 9 ; dies., Zur gegenwärtigen Lage wissenssoziologischer Konzeptionen, in: Volker Meja /Nico Stehr (Hrsg.), Der Streit um die Wissenssoziologie. Zweiter Band: Rezeption und Kritik der Wissenssoziologie, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1982, S. 893946. 3 Karl Mannhein, Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiet des Geistigen (1929), in: Volker Meja /Nico Stehr, Der Streit um die Wissenssoziologie. Erster Band: Die Entwicklung der deutschen Wissenssoziologie, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1982, S. 325-370, 330 f.; ders., Ideologie und Utopie, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1969, S. 72; ders., Das Problem einer Soziologie des Wissens, in: ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, eingeleitet und hrsg. von Kurt H. Wolff, 2. Aufl., Neuwied/Berlin 1970, S. 308-387, 372 ff.

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stets auf einen konkreten sozialen Bezugsrahmen und können daher prinzipiell in allen sozialen Handlungszusammenhängen erarbeitet werden. Andernfalls „gäbe es weder Unterschiede zwischen den einzelnen Wissenschaften noch zwischen verschiedenen Wissensarten. Das Wissen ließe sich dann auf axiomatische Aussagen im Sinne der formalen Logik reduzieren, deren Wert sehr zweifelhaft wäre". 4 Die soziale wie auch plurale Fundierung der Wissensgenese hat für ihn zur Konsequenz, daß im Hinblick auf Kognitionen und deren Validität weder eine Prärogative des Individuums oder Subjekts mehr besteht noch von einem Primat bestimmter Wissenschaften, insbesondere der Philosophie, ausgegangen werden kann.5 Damit wird bei Gurvitch auch die vormalige Zentrierung des Reflexionsbegriffs auf das Subjekt verabschiedet und dahingehend revidiert, daß Reflexion nunmehr „ebensowohl kollektiv wie individuell sein [kann]". 6 Der subjektphilosophischen und transzendentaltheoretischen Tradition, insbesondere derjenigen Kants und Husserls, hält er mit Grund entgegen, daß sie mit dem Konstrukt eines sich selbstfundierenden, transzendentalen Subjekts sämtliche Erfahrung apriorisch kondensiere und deren Bedingungen verabsolutiere. In dem Maße, in dem bei Kant die empirische Erfahrung mit ihren apriorisch und universell veranschlagten Konstitutionsbedingungen transzendental kurzgeschlossen werde, unterwerfe dessen Theorie sämtliche Kognitionsprozesse einem „monistischen" Determinismus.7 Obgleich sich das phänomenologische Programm Husserls, wie Gurvitch eingehend darlegt, ontologischen Präsuppositionen und - im Gegensatz zu Kant - einer Externalisierung der Transzendenz aus den je aktuellen, intentionalen Akten des Bewußtseins zu entziehen anschickt, bleibt es einem Subjektivismus verpflichtet, demzufolge die Welt ein zwar erfahrungsrelatives, aber stets subjektiv konstituiertes Korrelat des Bewußtseins bildet.8 Das unhintergehbare Zentrum jedes intuiti4

Gurvitch, Wissenssoziologie (Fn. 1), S. 431. Ders ., The Social Frameworks of Knowledge, translated from the French by Margaret A. Thompson und Kenneth A. Thompson, Oxford 1971, S. 3, 13. 6 Ders ., Problèmes de la Sociologie de la Connaissance (Fn. 2), S. 133; ders., Wissenssoziologie (Fn. 1), S. 447. 7 Ders., Déterminismes Sociaux et Liberté Humaine. Vers L ' Etude Sociologique des Cheminements de la Liberté, Paris 1955, S. 23 ff.; vgl. zur Kritik der Philosophie Kants auch ders., Morale Théorique et Science des Mœurs. Les Possibilités - leurs Conditions, deuxième édition revue et corrigé, Paris 1948, S. 67 ff. Vgl. zur basalen Unterscheidung zwischen erfahrungsgeleiteter Anschauung des empirischen Subjekts und den jene synthetisierenden Verstandesbegriffen des transzendentalen Subjekts Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Akademieausgabe, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 3, Darmstadt 1983, Β XV, XVIII ff., Β 24 ff., Β 89, Β 304. 5

8 Vgl. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana, Bd. VI, hrsg. von Walter Biemel, 2. Aufl., Den Haag 1962, S. 182 f. Zur Kritik Husserls an der Transzendentalphilosophie Kants ebd., S. 116 ff. Zu den nachontologischen Theorieprämissen im Zusammenhang mit dem Begriff der phänomenologischen Reduktion ebd., S. 173 ff.; ders., Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Husserliana, Bd. III, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1950, S. 100 ff., 173 ff.

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ven, d. h. vortheoretischen Zugriffs auf die Welt sei daher die Voraussetzung eines letztlich mit „ontologischem Primat" versehenen „reinen Ichs" der transzendentalen Subjektivität, dem die Funktion eines dem Bewußtsein zu Grunde liegenden und sich selbst fundierenden 9 Movens zukomme.10 So dürften sich transzendentale Theorien in der Tat gerade dadurch auszeichnen, daß sie „den autologischen Rückschluß auf sich selber [blockieren]", es also nicht mehr zulassen, „daß die Bedingungen der Erkenntnis durch die Ergebnisse der Erkenntnis in Frage gestellt werden" 11 . Ihr theoriearchitektonisches Defizit kann darin erblickt werden, daß sie in ihrem eigenen Gegenstandsbereich selbst nicht mehr auftauchen und damit im Bereich des Wissens für sich selbst einen Ausnahmezustand beanspruchen. Vor diesem Hintergrund ist der bisweilen vertretenen Auffassung entgegenzutreten, daß sich Gurvitch im besonderen Maße der Phänomenologie verpflichtet sah und seine Theorie sich vorgeblich erst in seinem Spätwerk von einer primär philosophischen bzw. sozialphilosophischen Basis löste und einen realistischen Zugang zur Gesellschaft und ihres Rechts präferierte. 12 Insbesondere mit Blick auf die eigene Einschätzung seiner Theorie gilt es vielmehr festzuhalten, daß er von vonherein weder einer transzendentalen Theorie des Subjekts noch einer allein auf das individuelle Bewußtsein bezogenen Reflexion das Wort redet. 13 Im Gegenteil ist es ihm darum zu tun, neben dem individuellen, auf seine eigenen Wahrnehmungen und Gedanken rekursiv sich beziehenden Bewußtsein auch sozialen Prozessen die Fähigkeit zur Thematisierung eigener, und dies bedeutet wiederum: gesellschaftlicher Ereignisse zuzubilligen.14 Der sozialen Reflexion liegt daher ein tautologischer, weil selbstbezüglicher Mechanismus zu Grunde, der die Wiedereinführung 9

„Alles Seiende ist [ . . . ] letztlich relativ und ist mit allem in irgendeinem gewöhnlichen Sinne Relativen relativ auf die transzendentale Subjektivität. Sie ist aber allein an und für sich," ders., Formale und Transzendentale Logik mit ergänzenden Texten, hrsg. von Paul Janssen, Husserliana, Bd. XVII, Den Haag 1974, S. 241, 208, 238 ff. 10 Georges Gurvitch, Les Tendances Actuelles de la Philosophie Allemande, réimpression textuelle de Γ édition de 1930, Paris 1948, S. 16 ff., 21 f., 55 f., 61 ff. 11 Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1994, S. 13. 12 Vgl. Alan Hunt, The Sociology of Law of Gurvitch and Timasheff: A Critique of Theories of Normative Integration, in: Research in Law and Sociology, Vol. 2 (1979), S. 169204, 171; Max M. Laserson, Russian Sociology, in: Georges Gurvitch/Wilbert E. Moore (Hrsg.), Twentieth Century Sociology, New York 1945, S. 671-702, 676. Vgl. auch Renato Treves, La Sociologie du Droit de Georges Gurvitch, in: Cahiers Internationaux de Sociologie 44/45 (1968), S. 51-66, 51. 13 „ I have never been a partisan of the phenomenology of Husserl, and in fact have always attacked it very violently," Georges Gurvitch, Auszug aus einem Brief an Myrtle Korenbaum vom Oktober 1963, abgedruckt in: Myrtle Korenbaum, Translator' s Preface, in: Georges Gurvitch, The Spectrum of Social Time, translated and edited by Myrtle Korenbaum, Dordrecht 1964, S. IX-XXVI, IX. 14 Ders., The Social Frameworks of Knowledge (Fn. 5), S. 14; ders., Wissenssoziologie (Fn. 1), S. 447; ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, tome premier: Vers la Sociologie Différentielle, Paris 1968, S. 110 ff.

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von Kommunikation in eine Kommunikation zur Folge hat. In diesem Sinne geht es auch Schelsky in seiner Institutionentheorie der Gesellschaft und des Rechts um die Überwindung eines Rationalitäts- und Reflexionsverständnisses, welches noch von einem im Denken sich selbst entwerfenden Subjekt her entfaltet wird. 15 Ihm zufolge erschöpft sich Reflexion weder in der Form psychischer Selbstreferenz, noch lassen sich selbst individuelle Reflexionsprozesse ausschließlich im Rekurs auf die bewußtseinsimmanenten Aktivitäten eines monologisierenden Subjekts erschließen. Vielmehr stellen Rationalität, Selbstbezüglichkeit und auf Problemorientierung hin ausgerichtete Reflexion auch und vor allem soziale Phänomene dar, die im Wege rekurrenter Handlungen in den diversen Institutionen der Gesellschaft, insbesondere in denjenigen der Wissenschaft und des Rechts, vollzogen und arbeitsteilig organisiert werden können. Ausgehend von der Einsicht, daß die Selbstthematisierung ein institutionell verselbständigter, die individuellen Intentionen und Zwecksetzungen übergreifender Handlungsvorgang ist, gelangt er zu der Feststellung, daß auch die individuelle Reflexion eine vorgängig auf Dauer gestellte Kommunikation erfordert. Diese könne sowohl eine psychische Reflexion zum Inhalt haben und dem einzelnen zuweisen, als auch auf den in den Institutionen selbst prozessierten sozialen Sinn referieren. 16 Demnach muß soziale Reflexion mit Gurvitch grundsätzlich als eine Form der Selbstbezüglichkeit gesellschaftlicher Prozesse begriffen werden. Das derart konstituierte Wissen über die Gesellschaft ist ein ausschließlich durch binnengesellschaftliche Aktivitäten produziertes Wissen, da es sich gerade nicht in den Psychen oder gar einer Idealsphäre verorten läßt. „Das Wissen als soziales Faktum ist nur ein Aspekt, ein Sektor des sozialen Gesamtphänomens, an dem es teilhat [ . . . ] Wir haben es einzig und allein mit der Auffindung funktioneller Korrelationen zwischen Wissen und sozialen Ganzheiten zu tun." 17 Innerhalb der funktional differenzierten Gesellschaft erfolgt die reflexiv operierende Wissensgenese nach Gurvitch im Rahmen eines eigenständigen „kognitiven", von politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und erzieherischen Prozessen der Gesellschaft sich unterscheidenden „Systems".18 Bei diesem handelt es sich um ein „auf der Grundlage von Selbstorganisation" und folglich eigendynamisch prozessierendes Kognitionssystem der Gesellschaft. Die systematische und sich methodisch selbst kontrollierende Produktion von Wissen ist demnach eine institutionell auf Dauer gestellte gesellschaftliche Veranstaltung, „d. h. diejenige gesellschaftliche Form, in der sich Wissen15

Hierzu und zum folgenden Helmut Schelsky; Die juridische Rationalität, in: ders., Die Soziologen und das Recht. Abhandlungen und Vorträge zur Soziologie von Recht, Institution und Planung, Opladen 1980, S. 34-76, 35 f. 16

Ders., Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum Thema einer modernen Religionssoziologie, in: ders., Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/Köln 1965, S. 250-275, 262 ff., 266 ff.; ders., Zur soziologischen Theorie der Institution, in: ders. (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, Düsseldorf 1970, S. 9 - 2 6 , 26. 17 Gurvitch, Wissenssoziologie (Fn. 1), S. 432. is Ders., The Social Frameworks of Knowledge (Fn. 5), S. 220, 224.

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schaft als besondere Form der Wissensbildung verwirklicht". 19 Das Wissenschaftssystem generiert je nach dem, nach welchen Kriterien und Erkenntnisinteressen es Wissen produziert, diverse, nach spezifisch philosophischem, empirisch verifiziertem und technischem Wissen sowie einer auf die Relation von beobachtungsinterner und beobachteter externer Welt spezifizierten Epistemologie unterschiedene Wissensarten. Von Bedeutung ist, daß Gurvitch einer apriorischen Hierarchie der Wissensarten bzw. Einzelwissenschaften mit Grund eine Absage erteilt. 20 Innerhalb der empirischen, auf die Beschreibung sozialer Phänomene bezogenen Wissenschaften werden ihm zufolge auch rechtliche Realitäten der Gesellschaft einer besonderen reflexiven Beobachtung unterworfen. 21 Gurvitch geht es darum, daß die verschiedenen, funktional spezifizierten Gesellschaftssysteme innerhalb des Wissenschaftssystems einer eigenständigen und dort ihrerseits ausdifferenzierten Reflexion unterworfen sind. Er zielt damit auf ein Verständnis von sozialer Reflexion, wie es auch Luhmann im Hinblick auf die Rekursivität sozialer Systeme vertritt. Luhmann begreift Reflexion als eine bestimmte Form der Selbstbezüglichkeit kommunikativer Systeme. Von Reflexion könne gesprochen werden, wenn ein soziales System im Verlauf seiner Kommunikation weder bloß auf einzelne kommunikative Ereignisse noch auf einen mehrere Ereignisse umfassenden Prozeß, sondern auf sich als ganzes System im Unterschied zur eigenen Umwelt beziehe.22 Bei der Reflexion handelt es sich demnach um die Selbstthematisierung von sozialen Systemen im Hinblick auf die Einheit der Differenz von System und Umwelt. Sie wird durch die Wiedereinführung der durch die eigenen Kommunikationen gezogenen Grenze zwischen dem System und seiner Umwelt in die Kommunikation des sich thematisierenden Systems ermöglicht. Ungeachtet der Parallelen, die der Begriff der Reflexion, so wie ihn Luhmann vertritt, im Hinblick auf die mit ihm bezeichnete Wiedereinführung des beobachtenden oder erkennenden Systems in sich selbst mit der Reflexionssemantik der Bewußtseinsphilosophie aufweist, 23 dürfen die entscheidenden Unterschiede zu der her19 Jürgen Mittelstraß, Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie, Frankfurt a. M. 1989, S. 15. 20 Gurvitch, The Social Frameworks of Knowledge (Fn. 5), S. 224 ff.; ders., Wissenssoziologie (Fn. 1), S. 432 ff.; ders., Problèmes de la Sociologie de la Connaissance (Fn. 2), S. 122 ff. 21 Ders., Grundzüge der Soziologie des Rechts, vom Autor autorisierte deutsche Ausgabe, übersetzt von Hans Naumann und Sigrid von Massenbach, 2. Aufl., Darmstadt/Neuwied 1974, S. 40; ders., Rechtssoziologie, in: Gottfried Eisermann (Hrsg.), Die Lehre von der Gesellschaft, Stuttgart 1968, S. 182; ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 14), S. 25. 22 Niklas Luhmann, Soziale System. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1991, S. 600 ff., 617. Vgl. dazu auch Georg Kneer, Bestandserhaltung und Reflexion. Zur kritischen Reformulierung gesellschaftlicher Identität, in: Werner Krawietz/Michael Welker (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinandersetzungen mit Luhmanns Hauptwerk, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1992, S. 86-112, 95 ff. 23 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft (Fn. 7), Β 68.

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

kömmlichen, auf ein Subjekt/Objekt-Verhältnis abstellenden Epistemologie nicht übersehen werden. Im Gegensatz zum Reflexionsverständnis der Subjektphilosophie bezieht Luhmann, wie dies auch bei Gurvitch der Fall ist, den Begriff der Reflexion nämlich gerade nicht nur auf Bewußtseinssysteme, sondern auch auf kommunikative Systeme. Er unterläuft damit die für die Subjektphilosophie typische Asymmetrie zwischen dem erkennenden Subjekt einerseits und dem Objekt andererseits, welches als Bezugsgegenstand der Erkenntnis dem Subjekt unterworfen ist. Darüber hinaus wird bei ihm die Reflexion insofern differenztheoretisch konzipiert, als sich diese eben nicht bloß auf das sich selbst beobachtende System an sich unter Nichtberücksichtigung seiner Umwelt, sondern genaugenommen auf die Unterscheidung zwischen dem System und seiner Umwelt bezieht. Die Bezugnahme auf das System setzt ihm zufolge, wie jede andere Beobachtung auch, eine Unterscheidung zwischen dem aktuell Bezeichneten und dem mit der Bezeichnung simultan Ausgeschlossenen, also dem gerade nicht Bezeichneten, voraus. 24 Mit Hilfe der intern reduplizierten Unterscheidung zwischen sich als dem System einerseits und seiner Umwelt andererseits kann das System eine eigene Identität konstruieren und zur selbständigen Steuerung eigener Prozesse verwenden. 25 Die Reflexion des Systems auf sich als System erfordert nicht nur die Angabe einer bestimmten Systemreferenz, nämlich einen Bezug auf die eigene Einheit im Unterschied zu anderen Systemen in der Umwelt. Sie kann darüber hinaus nicht als vollständige Erfassung des gesamten Systems mit allen Elementen und Relationen und insbesondere nicht im Sinne einer Selbsttotalisierung begriffen werden, da sie gerade voraussetzt, daß das durch die Reflexion identifizierte Ganze zugleich immer nur ein Teil eines Ganzen ist, von dessen anderen Teilen es sich unterscheidet. Die Selbstidentifikation verfährt daher stets selektiv und selbstsimplifizierend. Reflexionsprozesse setzen eine gewisse Konzentration der Informationsverarbeitungsprozesse im System „auf bestimmte Zentralprobleme hin" voraus, „durch deren Lösung das System sich identifiziert". 26 Durch sie wird die gesamte Komplexität des Systems also nicht im Verhältnis von Eins zu Eins abgebildet. Vielmehr fertigt das System in der Reflexion eine stark verkürzte Fassung seiner eigenen Mannigfaltigkeit an, indem es in bezug auf sich selbst vereinfachende, weil die Eigenkomplexität abblendende Semantiken einführt. 27 In diesem Sinne dienen etwa die Begriffe 24 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme (Fn. 22), S. 242 ff. 25 Ders., Identitätsgebrauch in selbstsubstitutiven Ordnungen, besonders Gesellschaften, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hrsg.), Identität, München 1979, S. 315-345, 335 ff.; ders., Selbst-Thematisierung des Gesellschaftssystems. Über die Kategorie der Reflexion aus der Sicht der Systemtheorie, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, S. 72-102. 26 Ders., Selbstreflexion des Rechtssystems. Rechtstheorie in gesellschaftstheoretischer Perspektive, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1981, S. 419-450,424. 27 Hierzu instruktiv Niklas Luhmann/Karl-Eberhard Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Frankfurt a. M. 1988, S. 349 ff.

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des Rechtsstaates bzw. des Staates für die Selbstbeschreibung des rechtlichen und des politischen Funktionssystems der Gesellschaft einer Identifikation dieser beiden Funktionssysteme.28 Beziehen sich die vorangegangenen Ausführungen auf die Selbstthematisierung von Systemen, so wird im Fall der speziell wissenschaftlichen Reflexion eine weitere Reflexionsebene eingeführt. So handelt es sich bei der Wissenschaft um eine in einem bestimmten Funktionssystem - dem Wissenschaftssystem - geleistete Fremdbeschreibung anderer Funktionssysteme und deren Reflexion. Als eigenständiges Funtionssystem erfaßt es sämtliche Kommunikationen, die sich an dem Code von wahr/unwahr orientieren und Wahrheit als Symbol für die systeminterne Anschlußfähigkeit wissenschaftlicher Kommunikationen verwendet. 29 Entscheidend ist hierbei, wie Krawietz und Luhmann in bezug auf eine Theorie des Rechts betonen, daß die wissenschaftliche, auf eine juristische Erkenntnis abzielende Reflexion des Rechts sich als eine Form der sozialen Praxis darstellt, deren Vollzug immer auch das Gesellschaftssystem insgesamt veränden. 30

b) Wissenschaftliche Beobachtung und gemäßigter Konstruktivismus Die Genese der von Gurvitch inaugurierten Autonomie eines speziellen Wissenschaftssystems in der Gesellschaft ist freilich kein voraussetzungsloser Prozeß, sondern vollzieht sich im Rahmen einer Ausdifferenzierung von auf Erkenntnisgewinn abzielender Kommunikation.31 Sie erfordert zunächst die Evolution einer in der Kommunikation vollzogenen wechselseitigen Externalisierung. 32 So erlauben es aymmetrische Schemata wie Subjekt-Objekt- oder Alter-Ego-Strukturen, Beobachtungen und Beobachtungsgegenstände derart auseinanderzuziehen und dann wechselseitig aufeinander zu beziehen, daß Personen bzw. Sachverhalte nicht der Beobachtung selbst, sondern als mit ihnen nicht identische Informationen der jeweiligen Umwelt zugerechnet werden können. Die Unterscheidung zwischen dem Erleben als einer der Umwelt zugerechneten und dem Handeln als einer dem eige28

Niklas Luhmann, Staat und Politik. Zur Semantik der Selbstbeschreibung politischer Systeme, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 4: Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Opladen 1987, S. 74-103, 78; ders., Das Recht der Gesellschaft, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1993, S. 422 ff., 437. 29 Ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft (Fn. 11), S. 194 ff., insbes. S. 199 ff. 30

Werner Krawietz, Recht als Regelsystem, Wiesbaden 1984, S. 110 ff.; Luhmann, Selbstreflexion des Rechtssystems. Rechtstheorie in gesellschaftstheoretischer Perspektive (Fn. 26), S. 422. 31 Vgl. Gernot Böhme, Die Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Diskurse, in: Nico Stehr/René König (Hrsg.), Wissenschaftssoziologie. Studien und Materialien, Sonderheft 18 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1975, S. 231 -253. 32 Hierzu und zum folgenden Niklas Luhmann, Die Ausdifferenzierung von Erkenntnisgewinn: Zur Genese von Wissenschaft, in: Nico Stehr/Volker Meja (Hrsg.), Wissenssoziologie, Opladen 1981, S. 102-139, 108 ff. 4 Riechers

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

nen System zugerechneten Selektion33 wird in der wissenschaftlichen Kommunikation mit dem binären Schematismus von wahr/unwahr kombiniert. Dies erlaubt es, jeden Sachverhalt dem positiven oder dem negativen Wert zuzuordnen, also als wahr oder unwahr zu deklarieren. Hieran können sich dann Konditionierungen der wissenschaftlichen Kommunikation anschließen, die entweder an die Externalisierung oder aber an den Code von wahr/unwahr ansetzen, der die Selbstreferenz des Wissenschaftssystems garantiert. So haben Theorien die Funktion, wissenschaftliche Aussagen und deren Kombination innerhalb umfassenderer theoretischer Erklärungen auf Sachverhalte der Außenwelt, also gerade nicht auf sich selbst, zu beziehen, um diese zum Zweck ihres Vergleichs festzuhalten. Demgegenüber sind Methoden wissenschaftsinterne Kommunikationsprogramme, die operative Schritte für eine Entscheidung zwischen den Werten wahr und unwahr ermöglichen und somit eine Beobachtung empirischer Beobachtungen34 des Wissenschaftssystems steuern. Dabei wird die Notwendigkeit, daß jede Operation des Wissenschaftssystems immer beide Programmtypen berücksichtigt, aber nicht durch ein übergeordnetes Metaprinzip gewährleistet, sondern durch das mitlaufende Postulat der Verifizierbarkeit jeder Aussage. Andernfalls würde die tatsächlich vorhandene und für den Fortlauf wissenschaftlicher Kommunikation auch notwendige Kontingenz von wahr und unwahr ausgeschaltet.35 Da die Selbstorganisation des Wissenschaftssystems nach Gurvitch weder auf introspektiven Beobachtungen noch auf ein Handeln einzelner Akteure basiert, wie dies in der zeitgenössischen Wissenschaftstheorie bisweilen noch immer angenommen wird, 36 stellt sich die Frage, auf welche Weise sich das Zusammenspiel von Außenkontakt und Autonomie im Wissenschaftssystem darstellt. Ausgangspunkt bildet bei Gurvitch ein Paradox. So steht für ihn einerseits mit Grund fest, daß sich das wissenschaftlich ausgearbeitete wie jedes andere Wissen eines unmittelbaren Kontakts zu den jeweils beobachteten Realitäten verdankt. Es existiert also eine dem wissenschaftlichen Beobachten zugängliche und dem beobachtenden System somit exteriorisierte Außenwelt. Weder könne im Hinblick auf das individuelle Bewußtsein von einer „conscience close" ausgegangen werden, noch handele es sich bei den kognitiven Systemen der Gesellschaft um radikal nach außen abgedichtete Prozesse.37 Eine solche auch kognitiv-informationelle Abgeschlossenheit erken33

Ders., Erleben und Handeln, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, S. 67-80. 34 Zur wissenschaftsinternen Beobachtung empirischer Beobachtungen vgl. Yehuda Elkana, Das Experiment als Begriff zweiter Ordnung, in: Rechtshistorisches Journal 7 (1988), S. 245-271. 3 5 Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft (Fn. 11), S. 403 ff., 413 ff., 429. 36 Vgl. Wolf gang Krohn/Günter Frankfurt a. M. 1989, S.31.

Küppers, Die Selbstorganisation der Wissenschaft,

37 Georges Gurvitch, Note sur le Concept de Phénomènes Psychiques Totaux, in: ders. (Hrsg.), Traité de Sociologie, tome seconde, Paris 1960, S. 333 - 338, 333 f.

§ 2 Reflexionstheorie des Rechtssystems

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nender Systeme wird im erklärten Anschluß an Kant erstaunlicherweise jedoch im Zusammenhang mit einem radikalen, die Subjektphilosophie biologistisch beerbenden Konstruktivismus reformuliert. Dieser will den Ausschluß kognitiver Fremdreferenzen mit der Rekursivität neuronaler, also physiologischer Prozesse begründen und vermag deshalb noch nicht einmal der gegenüber dem Nervensystem emergenten Qualität psychischer Beobachtungen Rechnung zu tragen. 38 Demgegenüber wendet sich Gurvitch dezidiert gegen die dem subjektphilosophisch-rationalistischen Skeptizismus cartesianischer Provenienz 39 verpflichtete Figur eines nur mittelbaren, weil lediglich unter der Prämisse einer vorgängigen Selbstsetzung des erkennenden Systems eröffneten Kontakts zur Außenwelt. Vielmehr seien kognitive Systeme in der Lage, Realitäten jedenfalls ohne Projektion der jeweiligen kognitiven Prozesse auf eben jene Realitäten zu beobachten. Die Beschreibung sozialer Realitäten vollziehe sich gerade nicht im Rahmen einer letztinstanzlich der Beobachtung zugeschriebenen Konstruktion. 40 Da die beobachtete Welt, insbesondere die sozialen Realitäten, ihm zufolge somit keiner Obstruktion durch die Beobachtung unterworfen sind, kann in bezug auf die Theorie von Gurvitch von einer dezidiert nicht-cartesianischen Epistemologie gesprochen werden. 41 Ungeachtet der hiermit erteilten Absage an einen radikalen erkenntnistheoretischen Skeptizismus darf sich nach Gurvitch eine Theorie der Beobachtung andererseits jedoch nicht der Vorstellung hingeben, daß sie es mit Sachverhalten zu tun habe, die der Beobachtung immer schon vorgegeben seien. Ein wissenschaftstheoretisch derartig verkürzter Empirismus gelange unweigerlich zu einer problematischen Apriorisierung und Ontologisierung seiner Bezugsgegenstände. Einem die Bezugsgrundlagen jeder Beobachtung nicht mehr reflektierenden, empiristisch-positivistisch verstandenenen Theorieprogramm hält er zu Recht entgegen, daß er Tatsachen so behandele, „als ob es sich um Kieselsteine handle, die auf einem Weg ausgestreut sind und nur aufgelesen zu werden brauchen". 42 Vielmehr müsse kon38 Vgl. nur Ernst von Glasersfeld, Die Kontrolle der Wahrnehmung und die Konstruktion von Realität. Erkenntnistheoretische Aspekte des Rückkoppelungs-Kontroll-Systems, in: DELFIN III, Frankfurt a. M. 1984, S. 4-25. Vgl. zu den Theorieströmungen innerhalb des „Radikalen Konstruktivismus" grundlegend Siegfried J. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1991. 39 René Descartes , Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, 2. Meditation, übersetzt von Artur Buchenau, Hamburg 1965, S. 17 ff.; ders., Regulae ad directionem ingenii XII, nach der Originalausgabe von 1701, hrsg. von Artur Buchenau, Leipzig 1917, S. 38. 40 Georges Gurvitch, Hyper-Empirisme Dialectique. Ses Applications en Sociologie, in: Cahiers Internationaux de Sociologie 15 (1953), S. 3 - 3 2 ; vgl. ders ., Objet et Méthode de la Sociologie, in: ders. (Hrsg.), Traité de Sociologie, tome premier, seconde édition corrigé, Paris 1962, S. 3-27,19 ff.; ders ., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 14), S. 7 ff. 41 Jean Duvignaud, Georges Gurvitch. Symbolisme Social et Sociologie Dynamique, Paris 1969, S. 5, 8 f.; vgl. Maria Henze, Gurvitch und die soziale Realität. Neue Richtlinien der Wirtschaftssoziologie, Berlin 1976, S. 78, 82. 42 Georges Gurvitch, Dialektik und Soziologie, übersetzt und mit einem Nachwort von Lutz Geldsetzer, Neuwied/Berlin 1965, S. 224. 4*

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

statiert werden, „daß es keinen strengen Parallelismus zwischen den Bereichen des Realen und den dieses erforschenden Wissenschaften" gebe. Für jede Form wissenschaftlicher Erkenntnis gelte, daß sie auch im Hinblick auf die hierbei in Anspruch genommenen Theorien und Methoden ihren jeweiligen „Gegenstand aus ihren eigenen operativen Grundlagen heraus [konstruiere]". 43 Während es sich bei den Alltagserfahrungen um „intuitive", mithin solche Erfahrungen handelt, in denen sich die Erfahrung in bezug auf sich selbst als eine die physische und soziale Welt unmittelbar erfassende Beobachtung begreift, 44 ist die wissenschaftliche Beobachtung stets eine ihre eigenen Beobachtungen reflektierende Erfahrung. Im Gegensatz zu einem ontologisch-essentialistisch verstandenen Realismus und Positivmus sei die beobachtete Realität gerade keine „réalité brute", sondern eine im Rekurs auf systeminterne Prozesse artifiziell erzeugte „réalité construite". 45 Die Wirklichkeit läßt sich in ihrer psychischen oder aber sozialen Beobachtung nicht im Eins-zu-Eins-Verhältnis abbilden. Sie geht also nicht, wie dies im Rahmen eines korrespondenztheoretischen Positivismus und Realismus vertreten wird, der Beobachtung im Sinne eines immer schon vorstrukturierten Seins voraus, sondern wird unter Bezugnahme auf Äußeres im Netzwerk wissenschaftlicher Beobachtungen erzeugt. Wissenschaftliche Erkenntnis prozessiert demnach, wie auch Luhmann annimmt, immer zugleich Selbst- und Fremdbezüglichkeit. Mit der von ihm verfochtenen Simultanität von Fremd- und Selbstbeobachtung wird die nicht eben selten vertretene Auffassung verabschiedet, daß sich die Offenheit und Geschlossenheit beobachtender Systeme wechselseitig ausschließen.46 So handelt es sich Luhmann zufolge bei der Wissenschaft um ein eigenes, zwar rekursiv geschlossenes, aber kognitiv offenes Funktionssystem der Gesellschaft, deren Prozesse als kognitive soziale Ereignisse stets ein Resultat eigener Operationen bilden. 47 Der von Luhmann grundsätzlich und somit auch im Bereich wissenschaftlicher Erkenntnis favorisierte Konstruktivismus 48 unterläuft dabei die Differenz zwischen einem sub43 E b d . , S. 222. 44 Gurvitch, La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 14), S. 136 ff.; ders., V Expérience Juridique et la Philosophie Pluraliste du Droit, Paris 1935, S. 130 ff.; ders., Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 21), S. 136. Kenneth A. Thompson, Introductory Essay, in: Georges Gurvitch, The Social Frameworks of Knowledge, translated from the French by Margaret A. Thompson and Kenneth A. Thompson, Oxford 1971, S. IX-XXXVI, XV, weist zu Recht darauf hin, daß Gurvitch den Begriff der Intuition nicht in einem metaphysischen Sinne, sondern im Sinne einer unmittelbaren Erfahrung begreift.

45 Gurvitch, L'Expérience Juridique et la Philosophie Pluraliste du Droit (Fn. 44), S. 19 ff. 46

Vgl. Krohn/Küppers, Die Selbstorganisation der Wissenschaft (Fn. 36), S. 23 f.; Siegfried J. Schmidt, Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1989, S. 54. 47 Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft (Fn. 11), S. 271 ff. 48 Vgl. zu den diversen, im einzelnen ganz unterschiedlich ausgestalteten Theorieprogrammen des Konstruktivismus nur Heinz Gumin/Armin Möhler (Hrsg.), Einführung in den Konstruktivismus, München 1985; Humberto R. Maturana, Erkennen. Die Organisation und

§ 2 Reflexionstheorie des Rechtssystems

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jektivistisch-introspektiven Programm, demzufolge die Welt nur im Wege der Selbstreferenz des Bewußtseins zugänglich sei, und einem essentialistischen Objektivismus, welcher das erkennende System als ein mit seiner eigenen Umwelt nicht relationiertes, d. h. für sich seiendes und daher abschließend zu beschreibendes Objekt begreift. Während die Transzendentalphilosophie die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis mit der Unterscheidung von transzendental / empirisch beantwortete und damit jede selbstreferentiell-zirkuläre Fundierung der Erkenntnis durch die Asymmetrie von Beobachtung und ihren transzendentalen Bedingungen vermied, ersetzt Luhmann die Subjekt/Objekt-Differenz durch die Differenz zwischen beobachtendem System und seiner Umwelt. Dabei kann es sich bei dem erkennenden System um ein psychisches oder kommunikatives System handeln.49 Entscheidend ist, daß sich die Fremdbezüglichkeit des Wissenschaftssystems allein seinen eigenen und ausschließlich im selbstreferentiellen Kontakt zu anderen Kommunikationen des Systems autopoietisch erzeugten Kommunikationen verdankt. Wissenschaftliche Erkenntnis wird daher durch Operationen eines von seiner Umwelt abgekoppelten Systems ermöglicht, deren Elemente ihrerseits im Kontext eines komplexen Netzwerks der Operationen des Wissenschaftssystems produziert werden, auf die sie im Wege mitlaufender Selbstreferenz vor- und zurückgreifen. 50 Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens verweist demnach nicht mehr auf eine im Rücken der Beobachtung lozierte Metaebene, sondern zurück auf die kommunikativen Beobachtungen des Systems, welche eine rekursiv verlaufende Anschlußnahme an vorangegangene oder zukünftige Kommunikationen desselben Systems erfordert. 51 Genaugenommen setzt die kognitive Offenheit des Systems dessen operative Geschlossenheit voraus. 52 Dies hat zur Konsequenz, daß die „erkannte" Realität zwar stets auf Daten der Umwelt des Systems beruht, letztere aber gerade nicht bloß im System widergespiegelt, sondern Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1982; Humberto R. Maturana/Francisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln der menschlichen Erkenntnis, 4. Aufl., Bern/München 1992; Gerhard Roth, Die Entwicklung kognitiver Selbstreferentialität im menschlichen Gehirn, in: Dirk Baecker/Jürgen Markowitz/Rudolf Stichweh / Hartmut Tyrell/Manfred Willke (Hrsg.), Theorie als Passion, Frankfurt a. M. 1987, S. 394-422; Paul Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit, München 1981. 49 Niklas Luhmann, Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus und die unbekannt bleibende Realität, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 5: Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 1990, S. 31-58, 34 f., 38 ff. 50 Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft (Fn. 11), S. 289 ff.; vgl. dazu auch Armin Nassehi, Wie wirklich sind Systeme? Zum ontologischen und epistemologischen Status von Luhmanns Theorie selbstreferentieller Systeme, in: Werner Krawietz / Michael Welker (Hrsg.), Kritik der Theorie sozialer Systeme. Auseinandersetzungen mit Luhmanns Hauptwerk, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1992, S. 43-70,48 ff. 51

Vgl. Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 2., erweiterte Aufl., Opladen 1996, S. 16 ff. 52 Vgl. ders., Soziale Systeme (Fn. 22), S. 63 ff., 275 ff. Hierzu Gunther Teubner, ,,L' ouvert s4 appuyé sur le fermé". Offene Fragen zur Offenheit geschlossener Systeme, in: Journal für Sozialforschung 31 (1991), S. 287-291.

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

vielmehr in den informationsverarbeitenden Kommunikationen des beobachtenden Systems erstellt werden und somit ein Korrelat der Systemoperationen bilden. Sowohl Beobachtungen als auch die Unterscheidung von Selbst- und Fremdreferenz erfordern freilich eine kommunikative Verwendung von Sinn. In seiner hier verstandenen Bedeutung beruht der Sinnbegriff allerdings nicht auf der herkömmlichen Unterscheidung zwischen Sinnhaftigkeit und Sinnlosigkeit, da auch als sinnlos Bezeichnetes eine insofern sinnhafte Attributionsleistung voraussetzt.53 Er meint vielmehr die Auswahl einer bestimmten Möglichkeit aus einem durch die Wahl aufgespannten Möglichkeitshorizont und leistet, gerade weil das aktuell nicht Bezeichnete als Potential zukünftiger sinnhafter Selektionen mitgeführt wird, zugleich die Reduktion und die Erhaltung von Komplexität. 54

2. Theorie des Rechts als empirische Theorie a) Positivität und binnengesellschaftliche

Verortung des Rechts

Mit welchem Bezugsgegenstand hat es nun die rechtstheoretische Reflexion zu tun? Seit sich - ausgehend vom und in kritischer Auseinandersetzung mit dem Natur- und Vernunftsrechtsdenken - mit der Wende zum 19. Jahrhundert eine eigenständige, methodisch kontrollierte Wissenschaft vom Recht auszubilden begann,55 reagierte man auf die Ausdifferenzierung rechtsnormativer Strukturen mit der Formulierung der Positivität des Rechts.56 Auch Gurvitch zufolge läßt sich alles Recht hinreichend nur als positives Recht beschreiben. Allerdings nimmt Gurvitch weder eine lediglich rechtsdogmatische noch eine im engeren Sinne rechtspositivistische Position ein. Eine sich als Dogmatik des Rechts deklarierende Rechtswissenschaft habe es mit einer bloßen Systematisierung schriftsprachlich abgefaßter Rechtssätze zu tun, deren soziale Geltungsgrundlagen der rechtswissenschaftlichen Beobachtung entzogen würden. Da sie den nor53

Dies verkennt Alois Hahn, Sinn und Sinnlosigkeit, in: Michael Schmid/Hans Haferkamp (Hrsg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung, Frankfurt a. M. 1987, S. 155-164,157 ff. 54 Niklas Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Jürgen Habermas/ders., Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, 10. Aufl., Frankfurt a. M. 1990, S. 25-100, 32 ff. 55 Vgl. Rudolf Stichweh, Motive und Begründungsstrategien für Wissenschaftlichkeit in der deutschen Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts, in: Rechtshistorisches Journal 11 (1992), S. 330-351. 56 Jürgen Blühdorn, Kantianer und Kant. Die Wende von der Rechtsmetaphysik zur Wissenschaft vom positiven Recht, in: Kant-Studien 64 (1973), S. 363-394; ders., Zum Zusammenhang von „Positivität" und „Empirie" im Verständnis der deutschen Rechtswissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: ders./Joachim Ritter (Hrsg.), Positivismus im 19. Jahrhundert. Beiträge zu seiner geschichtlichen und systematischen Bedeutung, Frankfurt a.M. 1971, S. 123-159.

§ 2 Reflexionstheorie des Rechtssystems

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mativen Sinn des Rechts („les sens normatifs") von den realen Handlungszusammenhängen abstrahiere, existiere das Recht für sie nur in statischen Begriffskonstruktionen, die keinerlei Kontakt zu den sozialen Realitäten unterhielten. 57 Das Verdikt einer die sozialen Grundlagen des Rechts abblendenden Wissenschaft vom Recht ereilt aus der Sicht von Gurvitch auch die rechtspositivistischen Doktrinen, wie sie im zeitgenössischen Rechtsdenken vor allem im Rahmen analytischer Theorien vertreten werden. 58 So bestehe der „juristische Positivismus", der vom „soziologischen Positivismus" zu unterscheiden sei, denn auch weniger „in der Behauptung, daß jedes Recht ein positives, das heißt in einem sozial gegebenen Milieu festgesetztes Recht" sei. Er bestehe vielmehr „in der These, daß diese Positivität aus dem Befehl eines überlegenen und beherrschenden Willens, besonders des Staates" herrühre. 59 In diesem Sinne projiziere der Positivismus das Recht „in eine von der komplexen sozialen Wirklichkeit getrennte Sphäre, über welche der Staat, eher eine metaphysische Entität als eine reale Tatsache," herrsche. 60 Gurvitch diagnostiziert den ihm zu Grunde liegenden binnenfachlichen Solipsismus sehr treffend als eine Abwehrstrategie gegenüber jeden erfahrungsgeleiteten Zugang zum Recht. Er ziele nämlich bloß darauf, die Rechtswissenschaft als eine rein normative Wissenschaft zu bewahren. Damit verurteile er die Rechtswissenschaft jedoch ohne Not „zur vollkommenen Sterilität". 61 Der spezifisch „positive Charakter des Rechts" beruht nach Gurvitch vielmehr auf dem Umstand, daß die Erzeugung und Geltung sämtlicher rechtsnormativer Phänomene aus bestimmten sozialen Zusammenhängen herrühren. 62 Positivität des Rechts bedeutet für ihn, daß die Normen des Rechts ausschließlich durch soziale, nicht notwendig staatliche Aktivitäten in Geltung gesetzt und in einem Rechtshandeln ihren Ausdruck finden. 63 In dem Maße, in dem so alles Recht innerhalb der Gesellschaft verortet werden muß, bleibt für Gurvitch eine naturrechtliche Betrachtungsweise des modernen Recht zwangsläufig versperrt. In der Tat läßt sich das moderne Recht ihm zufolge nicht mehr auf den Grundlagen der traditionellen naturrechtlichen Konzeptionen rekonstruieren. Letztere zeichnen sich dadurch aus, daß sie der Annahme von einem dem Menschen oder dem sozialen Leben innewohnenden Universalprinzip verpflichtet sind, dem ein von den Prozessen des 57

Gurvitch, L'Expérience Juridique et la Philosophie Pluraliste du Droit (Fn. 44), S. 84. Vgl. Norbert Hoerster, Zur Verteidigung des Rechtspositivismus, in: Neue Juristische Wochenschrift 39 (1986), S. 2480-2482; ders. Zur logischen Möglichkeit des Positivismus, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie LVI (1970), S. 43-59. Vgl. im einzelnen auch Walter Ott, Der Rechtspositivismus. Kritische Würdigung auf der Grundlage eines juristischen Pragmatismus, 2., überarbeitete und erweiterte Aufl., Berlin 1992. 58

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Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 21), S. 25. 60 Ebd.

61 Ebd., S. 26. 62 Gurvitch, Rechtssoziologie (Fn. 21), S. 183. 63 Ders., Théorie Pluraliste des Sources du Droit Positif, in: Annuaire de Γ Institut International de Philosophie du Droit et de Sociologie Juridique 1 (1934), S. 114-131,116 f.

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

rechtlichen Aushandelns, der organisatorischen Gesetzgebung und institutionalisierten Handlungsmustern vorgeblich unabhängiges Dasein zukommt. 64 In den naturrechtlichen Konzeptionen erfolge die Beobachtung des Rechts in der Form einer metakulturellen Ethik des Rechts, welche das Recht in einem universellen, dem tatsächlichen Geschehen apriorisch vorangehenden idealen Prinzip verortet, oder aber auf der Grundlage einer Differenz zwischen invarianten, autonomen Normen und einem Varianten, durch Setzungsakte geschaffenen und abänderbaren positiven Recht.65 Während die Vorstellung eines das soziale Geschehen durchziehenden teleologischen Prinzips, wie Gurvitch darlegt, 66 Strukturmerkmal des naturrechtlichen Finalismus alteuropäischer Provenienz war, lagen die Unterscheidungen zwischen positivem, überpositivem und göttlichem Recht bekanntlich der legeshierarchischen Rechtsphilosophie Thomas von Aquins zu Grunde. 67 Die im einzelnen ganz unterschiedlichen Naturrechtskonzeptionen beschreiben nach Gurvitch das Recht mithin auf der Grundlage von Dualismen, in denen zwischen idealem und realem, apriorischem und empirischem Recht, d. h. einem als Naturphänomen begriffenen sowie einem gesatztem Recht differenziert wird. 68 Ihre Leitdifferenz ist diejenige von veränderlichem und unveränderlichem Recht. Nach diesem Schema beruht jede positive Rechtsordnung auf einem der Rechtsetzung vorgängigen ordo rerum, das als ein denknotwendiges Apriori veranschlagt bzw. als eine in innerhalb einer ontologisch bestimmten Rechtswirklichkeit materialisierten Idee begriffen wird, die dann im Wege einer Ideenschau nur noch erkannt zu werden braucht. 69 Dem durch Setzungsakte erzeugten und in Geltung gesetzten Recht liege ein Kanon erkennbarer und relativ invarianter Fundamentalprinzipien zu Grunde, die das Recht zugleich mit einer universalen, aus dem Sein der Rechtsnormen abgeleiteten Wahrheitsfähigkeit ausstatteten.70 Entscheidende

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Ders., Natural Law, in: Edwin R. A. Seligman (Hrsg.), Encyclopeadia of the Social Sciences, Vol. 9, New York 1953, S. 284-290, 284. 65 Ders., L ' Expérience Juridique et la Philosophie Pluraliste du Droit (Fn. 44), S. 103. 66 Ders., Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 21), S. 48; vgl. ders., Brève Esquisse de Γ Histoire de la Sociologie, in: ders., (Hrsg.), Traité de Sociologie, tome premier, seconde édition corrigé, Paris 1962, S. 28-64, 29. 67 Thomas von Aquin, Summa theologica, I I 1 qu. 90, 4. 68 Gurvitch, Natural Law (Fn. 64), S. 285. Einen Abriß über die heterogene naturrechtliche Tradition bietet Helmut Kohlenberger, Das Naturrecht in kulturparadigmatischer Perspektive, in: Dorothea Mayer-Maly/ Peter M. Simons (Hrsg.), Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Gedächtnisschrift für René Marcie, Berlin 1983, S. 67-75. 69 Vgl. die Kombination von ontologischen und phänomenologischen Annahmen in der neueren Naturrechtslehre von René Marcie, Rechtsphilosophie. Eine Einführung, Freiburg 1969, S. 114, 118, 129, 136. 70 So Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts. Ein Versuch zur Neubegründung des Naturrechts, Heidelberg 1947, S. 54 f., 132 f., der diesen Ansatz in einer anerkennungstheoretisch abgeschwächten Form noch in seinem Spätwerk durchgehalten hat, vgl. ders., Grundzüge der Rechtsphilosophie 4. Aufl., Berlin/New York 1985, S. 298 f. Vgl. auch Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2. Aufl., München 1947, S. 157 f.

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Voraussetzung für die Entwicklung einer derartigen Theoriearchitektur, die auf einer Kombination von legeshierarchischem Denken und Kognitivismus beruht, ist die Vorstellung, daß der Mensch als spiegelbildlicher Teil einer sich selbst entfaltenden Natur im Wege der Reflexion auf sich, gleichsam pars pro natura tota, zur Erkenntnis einer mehr oder weniger perfekten Naturordnung vorstoßen könne. 71 Das Naturgesetz hält eine gleichsam geoffenbarte Interpretationsfolie für die Erkenntnis der Natur und des menschlichen Zusammenlebens bereit, deren Einsichtnahme die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, nicht nur den Bedarf einer eigenen Rechtsetzung, sondern zugleich die Richtigkeit des selbstgeschaffenen, positiven Rechts zu ermitteln. 72 „Jede naturrechtliche Auffassung des Rechts geht [daher letztlich] von einer vorausgesetzten Sinn-Einheit der Inhalte des Rechts aus - als christliche oder säkularisierte Auffassung von der Natur des Menschen," von Inhalten nämlich, die vorgeblich aus sich heraus erkannt werden können.73 Signifikantes Strukturmerkmal der Naturrechtslehren ist demnach, daß sie mit der Konstruktion einer auf sich selbst Bezug nehmenden Natur die Kontingenz des gesetzten Rechts in die Abhängigkeit einer ihrerseits nicht mehr relationierten, weil sozial nicht disponiblen Legitimationsinstanz stellt und die Einheit allen Rechts sodann in einer Hierarchie von Rechtsquellen zu erkennen glaubt, innerhalb derer das positive Recht auf einen archimedischen Punkt im Sinne einer normativen Letztbegründung zurückgeführt wird. 74 Die Theoriestrategie des Naturrechts erweist sich vor dem Hintergrund der apriorischen Hierarchisierung des Rechts als eine solche der Paradoxievermeidung, da sie die diversen Legesebenen mit einem die Einheit des Rechts exteriorisierten Metaprinzip kurzschließt. Mit Blick auf diese theoriearchitektonischen wie epistemologischen Defizite geht Gurvitch zutreffend davon aus, daß die Naturrechtslehren unterschiedlicher Provenienz die tatsächlichen Varianzen und „Komplexitäten der sozialen Dynamik" im Zusammenhang mit den gesellschaftsinternen Prozessen der Rechtsetzung, Anwendung und normativen Befolgung, aber auch der wissenschaftlichen Beobachtung des Rechts nicht zu erfassen vermögen, sondern sie im Wege spekulativ-metaphysischer Abschlußformeln vielmehr absorbieren. 75 Die mit der naturrechtlichen Rangskalie71 Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft (Fn. 28), S. 39, 508 ff. 72

Vgl. Thomas von Aquin, Summa theologica, II a I I ae qu. 57 a.2; I a I I ae qu. 95 a.2. So - im Anschluß an die alteuropäische und neuzeitliche Naturrechtstradition - auch Johannes Messner, Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 7., unveränderte Aufl., Berlin 1984, S. 33 ff., 41 f., 55, 58, 255 ff., 268, 397. Vgl. auch Ewald Zacher, Der Begriff der Natur und das Naturrecht, Berlin 1973, S. 84 ff. 73 Schelsky, Die juridische Rationalität (Fn. 15), S. 34. 74 Vgl. zur erkenntnistheoretischen Kritik des Naturrechts Hans Albert, Erkenntnis und Recht. Die Jurisprudenz im Lichte des Kritizismus, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), S. 80-96, 81, 85; Werner Krawietz, Juristische Methode und ihre rechtstheoretischen Implikationen, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), S. 12-42, 27 ff. 75 Gurvitch, Natural Law (Fn. 64), S. 285. Zur Kritik solchermaßen spekulativ-metaphysischer Theoriearchitekturen grundlegend Ernst Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Metaphysik. Eine Studie zur Weltanschauungskritik, Wien 1958.

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

rung in das Recht eingeführte Dichotomisierung von positivem Recht einerseits und seiner von den tatsächlichen Rechtsetzungsprozessen abgelösten Letztfundierung andererseits eröffnet ihm zufolge eine artifizielle Unterscheidung zwischen faktischer Setzung und idealer Legitimation des Rechts. Diese führe dazu, daß sich die Normativität des Rechts in einem autonomen, da von seinen konstitutiven Voraussetzungen unabhängigen und daher bloß moralischen Postulat erschöpfe, dem weder soziale noch individuelle Referenzen zu Grunde lägen. 76 Ungeachtet dieser höchst prekären Theorieprämissen wird in der zeitgenössischen Reflexion auf das Recht erstaunlicherweise noch immer davon ausgegangen, daß sich das positive Recht hinsichtlich seiner normativen Voraussetzungen einer objektiv gültigen, „in den Axiomen absoluten" und „unabhängig von Zeit und Raum" gegebenen Realität verdankt, die vorgeblich jenseits einer erst innerhalb von sozialen Zusammenhängen erzeugten und durch formalisierte Entscheidungen in Geltung gesetzten juridischen Normativität besteht.77

b) Erklären und Verstehen Da die rechtsnormativen Phänomene der Gesellschaft nur in ihrem Zusammenhang mit beobachtbaren sozialen Prozessen rekonstruiert werden können, hat nach Gurvitch eine zureichende Theorie des Rechts eine Soziologie des Rechts zu sein. Im Zentrum seines erfahrungswissenschaftlichen Denkens steht dabei die Auffassung, daß sich eine Theorie der Gesellschaft und ihres Rechts nicht nur von diversen dogmatischen und spekulativen Prämissen, sondern auch von jedweden ideologischen Verengungen zu verabschieden habe. Diese hätten die Soziologie mit Blick auf ihre lange vorherrschende geisteswissenschaftlich-philosophische Selbstfundierung, aber auch hinsichtlich ihrer bisweilen in Diensten gesellschaftsideologischer Erkenntnisinteressen stehenden Forschung bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein nicht selten geprägt. 78 Mit Grund betont Gurvitch daher, daß 76

Gurvitch, L ' Expérience Juridique et la Philosophie Pluraliste du Droit (Fn. 44), S. 116,

129. 77 Vgl. nur Albert Auer, Der Mensch und das Recht, in: Werner Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, Darmstadt 1962, S. 463-479, 467 ff.; Alfred Verdross, Was ist Recht?, Die Krise des Rechtspositivismus und das Naturrecht, in: Werner Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus, Darmstadt 1962, S. 309-321. Eine Rückbindung des positiv-rechtlichen Verfassungsrechts an außerhalb des gesetzten Rechts verortete Grundsätze und Prinzipien nimmt auch Günter Düng, Art. 1, in: Theodor Maunz/ders., Kommentar zum Grundgesetz, München 1996, Rn. 17, an. Zur Kritik einer derart naturrechtlichen Fundierung verfassungsrechtlich formalisierter Entscheidungen: Werner Krawietz, Gewährt Art. 1 Abs. 1 GG dem Menschen ein Grundrecht auf Achtung und Schutz seiner Würde?, in: Dieter Wilke/Harald Weber (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Friedrich Klein, München 1977, S. 245-287, 260 ff. 78 Georges Gurvitch, Die gegenwärtige Lage der Soziologie und ihre Aufgaben, in: Karl Gustav Specht (Hrsg.), Soziologische Forschung in unserer Zeit. Leopold von Wiese zum 75. Geburtstag, Köln/Opladen 1951, S. 10-14, 11, 13.

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die Soziologie - deren Beginn er im anarchistisch-revolutionären Denken SaintsSimons verortet, welche durch Comte, Marx und Proudhon positivistisch, sozialistisch bzw. syndikalistisch weiterverfolgt worden sei 79 - mit Blick auf ihren historischen Ursprung in der Wende zum 19. Jahrhundert hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und Ansprüche seit jeher im besonderen Maße von den „konkreten Konjunkturen und sozialen Strukturen" abhängig war. 80 Für ihn steht dagegen fest, daß eine Soziologie der modernen Gesellschaft ihre Grundlage ausschließlich in einer in ihren Beschreibungen und Begriffen durch Beobachtung gesicherten Empirie haben müsse. Eine derartige Soziologie habe ohne die Erfahrung prädeterminierende, weil axiomatisch in die Beobachtung eingeführte Konstruktionen auszukommen.81 Dabei habe sie sich von der Annahme leiten zu lassen, daß ihr Bezugsgegenstand eine beobachtbare „soziale Realität" sei, welche auf dem sozialen Handeln und die durch das Handeln bzw. Kommunizieren erzeugten und kulturell vermittelten Symbole sowie normativen Handlungsregeln beruhe: „Le domaine de sociologie est la réalité, sociale [ . . . ] irréductible à toute autre réalité." 82 Diese Einschränkung der Bezugsgrundlagen einer Theorie der Gesellschaft und ihrer normativen Strukturen, derzufolge die sozialen Prozesse im Sinne einer nicht weiter reduzierbaren Realität begriffen werden, hat weitreichende Konsequenzen für das gesellschafts- und auch rechtstheoretisch seit jeher prekäre Verhältnis zwischen den sozialen und rechtlichen Phänomenen einerseits und den physiologischen und psychologischen Realitäten andererseits. Da die sozialen und rechtsnormativen Realitäten nicht mehr auf andere Realitäten zurückgeführt und aus ihnen abgeleitet werden können, kann bereits an dieser Stelle festgestellt werden, daß soziale Phänomene ihm zufolge eine gegenüber der unbelebten Natur, aber auch den biophysichen und auch psychischen Aktivitäten emergente Eigenschaft zukommt. 83

79 Ders., Brève Esquisse de Γ Histoire de la Sociologie (Fn. 66), S. 32 ff. Vgl. auch ders., La Sociologie de Jeune Marx, in: Cahiers Internationaux de Sociologie 4 (1948), S. 3 - 4 7 ; ders., Karl Marx et la Sociologie de XXe Siècle, Paris 1948; ders., Les Fondateurs Françaises de la Sociologie Contemporaine. Pour le Centenaire de la Mort d' August Comte (18571957). Trois Chapitres d'Histoire de la Sociologie. August Comte, Karl Marx et Herbert Spencer, Paris 1957; ders., Pour le Centenaire de la Mort de Pierre-Joseph Proudhon. Proudhon et Marx: Une Confrontation, Cours Public 1963-64, Paris 1964; ders. (Hrsg.), Cl.-H. de Saint-Simon. La Physiologie Sociale. Œuvres Choisies, Paris 1965; ders., Proudhon. Sa vie, son œuvre, avec un exposition de sa philosophie, Paris 1965; ders., Proudhon et Marx, in: Cahiers Internationaux de Sociologie 60 (1966), S. 7 - 1 6 . 80 Ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 14), S. 3. si Ders., Dialektik und Soziologie (Fn. 42), S. 225 f. 82

Ders., Objet et Méthode de la Sociologie, in: ders. (Hrsg.), Traité de Sociologie, tome premier, seconde édition corrigé, Paris 1962, S. 3 - 2 7 , 20. 83 Der Begriff der Emergenz, der in diesem Sinne auf John Stuart Mill zurückgeht, bezeichnet die spezifischen Eigenschaften eines komplexen, systemischen Zusammenhangs von Einzelwirkungen, deren Zusammenwirken nicht als Resultat einer Addition der Einzelwirkungen begriffen werden kann. Vgl. dazu Paul Hoyningen-Huene, Zu Emergenz, Mikro-

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

Von grundlegender Bedeutung für die Relationierung von faktischen und rechtsnormativen Strukturelementen der Gesellschaft ist nunmehr, daß Gurvitch die traditionelle Unterscheidung zwischen einem die sozialen und kulturellen Phänomene deutenden Verstehen einerseits und dem kausal-explikativen Beschreiben andererseits in methodischer Hinsicht unterläuft. Er vertritt die Auffassung, daß diese dem kantianischen Denken verpflichtete, innerhalb der Historik des 19. Jahrhunderts erarbeitete 84 und insbesondere von Dilthey für die Fundierung einer speziell geisteswissenschaftlichen Methode fruchtbar gemachte Unterscheidung zwischen idiographischer und nomothetischer Methode schon mit Blick auf ihre Prämissen einer Beschreibung der Gesellschaft und ihres Rechts nicht gerecht werden kann. 85 So markierte diese methodologische Divergenz, die philosophiehistorisch auf der kantischen und apriorisch verankerten Unterscheidung zwischen indeterminiertem Bewußtsein und einer den Gesetzen der Kausalität und Mechanik unterworfenen „äußeren Tatsachenwelt" beruht, im Rahmen der neukantinanischen Methodologie die Grenze zwischen den durch den Menschen hervorgebrachten kulturellen wie historischen sowie den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten unterliegenden natürlichen Phänomenen. Während erstere vorgeblich nur im Wege eines deutenden Verstehens nachvollzogen werden können, da sie letztinstanzlich auf volitiven, dem Bewußtsein zugeschriebenen und daher keinerlei Kausalbeziehung im Verhältnis zu ihrer Umwelt ausgesetzten Akten beruhen, welche die sozialhistorischen Ereignisse einen einmaligen, aus ihrem kulturellen Zusammenhang heraus zu verstehenden Stellenwert verleihen, vermag die den Naturwissenschaften unterliegende Realität unter der Annahme allgemeingültiger Kausalgesetze lediglich explikativ rekonstruiert zu werden. 86 Dieser methodisch verankerten und insofern immer auch auf den wissenschaftlichen Bezugsgegenstand durchschlagenden Dichotomie hält Gurvitch entgegen, daß die Einbeziehung explikativer Methoden bei der Beschreibung sozialhistorischer Prozesse nicht notwendigerweise zur Folge hat, diese im Sinne eines bloß mechanisch ablaufenden und insoweit naturgesetzlich zu veranschlagenden Geschehens zu begreifen. Ebenso sei es verfehlt anzunehmen, daß jede Art der Erklärung sozialer, kultureller und historischer Phänomene unweigerlich zur Destruktion des spezifischen Sinnzusammenhangs zwischen dem zu erklärenden Ereignis und seinem sozialen Kontext führe. 87 Es müsse vielmehr davon ausgegangen werund Makrodetermination, in: Weyma Lübbe (Hrsg.), Kausalität und Zurechnung. Über Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen, Berlin/New York 1994, S. 165-195, 172 ff., 179 ff. 84 Vgl. die Materialsammlung bei Johann Gustav Droysen, Historik, hrsg. von R. Hübner, Oldenburg / München 1937. 85 Georges Gurvitch , La Vocation Actuelle de la Sociologie, tome seconde: Antécédents et Perspectives, troisième édition, Paris 1969, S. 468. 86 Zum epistemologischen Fundament der kulturwissenschaftlichen Methodologie von Wilhelm Dilthey vgl. ders., Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht (1890), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. V, Leipzig/Berlin 1924, S. 90-135.

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den, daß eine hinreichende Beschreibung einzelner gesellschaftlicher Prozesse erfordere, den konkreten Bezugsgegenstand mit dem „realen Zusammenhang, in dem die soziale Tatsache integriert ist", zu relationieren. Eine derartige Beschreibung werde allerdings nur gewährleistet, wenn auch dieser umfassendere soziale Tatsachenzusammenhang verstanden werde, wobei dessen Verständnis wiederum eine genaue, ebenfalls erklärende Beschreibung erfordere. 88 Dieses reziproke Verhältnis zwischen der Interpretation sozialen Sinns und der erklärenden Beschreibung seiner faktischen wie normativen Grundlagen hat zur Konsequenz, daß bei Gurvitch der vormalig im Sinne einer Dichotomie begriffene Kanon geisteswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Methoden aufgebrochen und in Richtung einer paradoxal-dialektischen Verknüpfung unterlaufen wird, bei der die Erklärung sozialer Tatsachen immer ein Verstehen voraussetzt, deren Vollzug seinerseits eine Erklärung des übergeordneten Kontextes der zu beschreibenden sozialen Realität impliziert: „Um etwas zu »erklären', muß man die einzelnen Tatsachen in ein mehr oder weniger kohärentes Ganzes einfügen, von dem sie dann Manifestationen wären. Um das aber zu tun, muß man dieses Ganze und die Kennzeichen seiner Kohärenz »verstehen'. Man kann also weder erklären, noch verstehen ohne zu einer Erklärung zu gelangen, da diese beiden Begriffe sich als Momente eines und desselben Vorganges erweisen." 89 Entscheidend ist, daß mit der Ablösung der Dichotomie von verstehender und erklärender Methode nach Gurvitch zugleich der dieser zu Grunde liegenden kantianischen wie neo-kantianischen Dichotomisierung von Normativität und Faktizität sowie von indeterminiertem Bewußtsein und determinierter Tatsachenwelt die Basis entzogen wird. So steht für Gurvitch fest, daß „die Kantianer in dieser Weise neuerlich die Beziehungen zwischen Norm und Realität wie zwischen Freiheit und Determinismus" ebenso „falsch interpretiert" haben wie innerhalb des Neo-Kantianismus, aber auch der Phänomenologie und einiger Spielarten des Existenzialismus „das Problem der Beziehungen zwischen ,Erklären' und ,Verstehen' auf die falsche Weise" gelöst wurde. 90 Gurvitch verweist hier zurecht auf die subjektphilosophische Differenz von Sein und Sollen 91 als dem theoretischen Fundament der Unterscheidung von Erklären und Verstehen. In der Tat überführte letztere die Seins / Sollens-Differenz auf die Ebene der wissenschaftlichen Methode, um von dort aus zwangsläufig in ein die jeweiligen wissenschaftlichen Bezugsgegenstände dichotomisierendes und ontologisierendes Verhältnis umzuschlagen. Wie an anderer Stelle noch näher auszuführen sein wird, ist dieser Methodendualismus Gurvitch zufolge deshalb abzulehnen, weil er den jeweiligen wissenschaftlichen Be87 Gurvitch, La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 2 (Fn. 85), S. 468. 88 Ders., Dialektik und Soziologie (Fn. 42), S. 235; vgl. ders., Déterminismes Sociaux et Liberté Humaine (Fn. 7), S. 40 f. 89 Ders., Dialektik und Soziologie (Fn. 42), S. 234. 90 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Fn. 7), Β 569 ff.; ders., Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Bd. X, hrsg von Wilhelm Weischedel, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1974, Β X I ff. 91 Gurvitch, L' Expérience Juridique et la Philosophie Pluraliste du Droit (Fn. 44), S. 81.

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

zugsgegenstand als nur faktisch bzw. nur normativ präformiert. 92 Die sich „anscheinend in getrennten Sphären bewegenden Alternativen" des Erklärens und Verstehens wie auch diejenigen von Norm und Faktum verhielten sich vielmehr komplementär zueinander, da sie im Verhältnis einer „gegenseitigen", funktional aufeinander bezogenen „Implikation" stünden.93 Mit Grund erblickt Gurvitch eine Gewährsposition in der soziologischen Methode von Max Weber, die er hinsichtlich des Verhältnisses von hermeneutischer und explikativer Methode zurecht als einen Ansatz beurteilt, welcher aus den problematischen Verengungen des Neukantianismus Diltheyscher Prägung herausführt. 94 Ungeachtet seiner sicherlich etwas zu vorschnell vorgetragenen Kritik an Webers Verständnis vom subjektiv gemeinten Sinn des sozialen Handelns,95 die sich jedoch aus seiner eigenen, dezidiert nicht-individualistischen Methode rechtfertigt, stellt er treffend fest, daß Weber jedenfalls nicht in die vorgenannte Tradition der neukantianischen Geschichtsphilosophie eingeordnet werden kann. In der Tat markieren die Begriffe des „aktuellen" und „erklärenden Verstehens" als Parameter einer verstehenden und zugleich kausalen Deutung sinnhafter Handlungsabläufe in der Soziologie Webers den entscheidenden Bruch mit den geistes- und wertphilosophischen Grundlagen des kantianischen Idealismus.96 Ausgangspunkt der dezidiert empirisch verstandenen Theorie der Gesellschaft bildet bei Weber dessen Definition der Soziologie als einer Wissenschaft, „welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will". 9 7 Der Soziologie kommt demnach die Aufgabe zu, Verhaltensprozesse zu erklären, insoweit sich diese als soziale Handlungsabläufe darstellen. Dabei bemißt sich die Frage, unter welchen Bedingungen ein beobachtetes Verhalten eine soziale und mithin nicht mehr individuelle Handlung ist, danach, ob es seinem Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und gerade daran in seinem Ablauf orientiert ist. 98 Das spezifisch Soziale einer Handlung ist gekennzeichnet durch dessen Sinnorientierung und zugleich dadurch, daß es in kausaler Hinsicht durch ein Verhalten anderer mitbestimmt ist. Ein Handeln wird also zu einem genuin sozialen 92 Ders., Dialektik und Soziologie (Fn. 42), S. 231, 234 f. 93

Ders., La Crise de Γ Explication en Sociologie, in: Cahiers Internationaux de Sociologie 21 (1956), S. 3 - 1 8 , 9. 94 Ders., Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 21), S. 36 ff. Dies gilt unabhängig von den nachhaltigen Wirkungen, die der Neukantianismus unzweifelhaft auf seine epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Reflexionen ausübten; vgl. hierzu statt vieler nur Friedrich H. Tenbruck, Die Genesis der Methodologie Max Webers, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 11 (1959), S. 573-630. 95

Gurvitch, La Vocation Actuelle de la Saciologie, Bd. 2 (Fn. 85). Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5., revidierte Aufl., besorgt von Johannes Winckelmann, Studienausgabe, Tübingen 1980, S. 1. 97 Ebd. 96

98 Vgl. ders., Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3., erweiterte und verbesserte Auflage, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1968, S. 427-474,429.

§ 2 Reflexionstheorie des Rechtssystems

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und demzufolge nicht mehr auf eine bloß psychische oder gar physische Aktivität reduzierbaren Geschehen, wenn es an ein vergangenes, gegenwärtiges oder zukünftiges Verhalten Dritter anschließt. Von einem lediglich kinetischen bzw. bewußtseinsinternen Prozeß kann in diesen Fällen offensichtlich deshalb nicht mehr ausgegangen werden, weil es unter der besonderen Bedingung einer Co-Präsenz mehrerer Beteiligter in Gang gesetzt und aufrechterhalten wird, die sich auf den Aktionsbereich potentiellen Handelns einschränkend auswirkt und dadurch die einzelnen selektiven Handlungen strukturiert. Genaugenommen hat nach Weber eine Analyse des sozialen Handelns in Rechnung zu stellen, daß sich der soziale Sinn des Handelns seiner spezifisch zirkulären Struktur verdankt. Diese resultiert daraus, daß die Handlung, wenn man sie analytisch dekomponiert, die folgenden Faktoren aufweist: Das dem einzelnen zugerechnete individuelle Verhalten, das Verhalten Dritter, die Bezugnahme hierauf sowie der Mitbestimmung des beobachteten Verhaltens durch das Fremdverhalten. Diese Faktoren sind im realen Handlungsvollzug derart aufeinander bezogen, daß sich die einzelne Handlung nicht mehr auf die einzelnen Faktoren zurückführen läßt." Bei der Analyse des Handelns geht es Weber zufolge darum, den emergenten Handlungssinn im Rekurs auf die tatsächliche Einbettung einer Handlung in den übergeordneten Handlungsprozeß verstehend zu erklären. Während sich hierbei der methodologische Begriff des „aktuellen Verstehens" eines Handlungssinns auf die soziale Semantik bzw. die soziale Symbolik eines faktischen Handelns bezieht, meint der Begriff des „erklärenden Verstehens" eben jene kausale Einordnung einzelner Handlungen in ihren jeweiligen sozialen Kontext. Beide Termini lassen sich im Rahmen einer deskriptiven Analyse sozialer Handlungsprozesse nicht voneinander trennen, da sich Genese, Funktion und Sinn einer Handlung nur zirkulär bestimmen, d. h. im Wege gleichzeitiger Einbeziehung fremden Verhaltens oder Handelns und seines kausalen Beitrags für die jeweilige Handlung rekonstruieren lassen. 100 Daher setzt die deutende Erfassung eines Handlungssinns immer das Verstehen des Sinnzusammenhangs voraus, aus dem heraus die einzelne Handlung kausalanalytisch erklärt werden muß. Insofern sind „verständliche Sinnzusammenhänge" auch nur solche, deren Verstehen als ein „Erklären des tatsächlichen Ablaufs des Handelns" anzusehen ist mit der Folge, daß der bei Weber gegenüber dem Verstehen letztlich wohl prominent angesiedelte Begriff des Erklärens das Erfassen der Relation von sich verhaltendem Dritten und den hierauf Bezug nehmendem Akteur bedeutet, welche den Handlungssinn ausmacht.101 Ein bloß interpretativer Nachvollzug der mit dem Handlungsvollzug verbundenen Semantik genügt hierbei ebensowenig wie eine artifizielle Dekonstruktion des sozialen Geschehens in lediglich isoliert zu betrachtende einzelne Akte. Vielmehr bedarf es sowohl ei-

99

Vgl. hierzu auch Johannes Weiss, Max Webers Grundlegung der Soziologie, 2., überarbeitete und erweiterte Aufl., München/London/New York/Paris 1992, S. 48 ff. 100 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 96), S. 4. ιοί Ders., Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie (Fn. 98), S. 428.

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

nes „Verstehens" des gesamten Handlungskontextes wie auch einer im Wege der Beobachtung erfolgenden „kausalen Zurechnung", damit der beobachtete Handlungsablauf hinreichend evident gedeutet werden kann. Diese kausalanalytische Einordnung kann nach Weber vom Standpunkt des Handelnden selbst oder eines externen Beobachters erfolgen. Dabei rekonstruiert der jeweilige Beobachter das Geschehen dahingehend, daß er den Handlungskontext einerseits und die einzelne Handlung andererseits zum Zweck ihrer kausalen Zuordnung gleichsam künstlich entzerrt und den Sinnzusammenhang sodann als Bestimmungsgrund oder Motiv individuellen Handelns ausweist.102 Die irreduzible, gegenüber den Handlungsteilnehmern objektivierte Handlungseinheit wird hier in ihre einzelnen Parameter zerlegt, zu denen das bezugnehmende wie das in Bezug genommene Verhalten und dessen Bestimmung für das erstere gehören. Im Fall der solchermaßen auf sein eigenes Handeln reflektierenden Teilnehmers handelt es sich - modern gesprochen um einen Wiedereintritt der Differenz zwischen seinem Bewußtseinssystem und dessen Umwelt in das reflektierende Bewußtsein. Nur durch Beobachtung dieser Differenz gelingt es dem Handelnden, zwischen Handeln und Erleben 103 sowie zwischen den sich und anderen attribuierten Handlungen zu unterscheiden und entspechende Zuordnungen zu treffen. Im Zusammenhang einer externen Beobachtung unterscheidet der Beobachter dagegen nicht zwischen sich und anderen, sondern zwischen den Aktivitäten mehrerer anderer Teilnehmer, wobei er diesen die Handlungsbeiträge der jeweils anderen Beteiligten als Motiv zuschreibt. In jedem Fall bedarf es immer dann, wenn eine zureichende, da über die Aktivitäten und Wahrnehmungen einzelner notwendig hinausgehende Aussage über den Handlungssinn getroffen werden soll, einer Auflösung der emergenten Handlungseinheit, wobei die Handlung künstlich in unterschiedlich zugerechnete Faktoren asymmetriert wird. Es darf nicht außer Betracht bleiben, daß die von Weber betonte Bezugnahme auf den faktischen Handlungssinn im engen Zusammenhang mit der Verabschiedung der neukantianischen Erkenntnistheorie, insbesondere derjenigen Rickertscher Provienz, steht. 104 Die Erkenntnistheorie und Wertphilosophie von Heinrich Rickert wird auch bei Gurvitch einer eingehenden, freilich eher moral- und wertphilosophischen Auseinandersetzung unterzogen, ohne daß Gurvitch hierbei jedoch eine unkritisch-apologetische Position bezieht. 105 Für Rickert stellt sich die Erkenntnis als ein Prozeß des individuellen Urteilens dar, durch den jede Vorstellung von etwas einen positiven oder negativen Wert annimmt und dadurch wahr 102

Hierzu und zum folgenden ders., Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 96), S. 5. Hierzu Luhmann, Erleben und Handeln (Fn. 33). 104 Vgl. hierzu auch Rosemarie Pohlmann, Zurechnung und Kausalität, in: Werner Krawietz/Helmut Schelsky (Hrsg.), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, Berlin 1984 (RECHTSTHEORIE Beiheft 5), S. 83 -112, 106 ff. 103

105

Georges Gurvitch, La Théorie des Valeurs de Heinrich Rickert, in: Revue Philosophique 124 (1937), S. 80-88; vgl. ders., Morale Théorique et Science des Mœurs, deuxième édition revues et corrigée, Paris 1948, S. 108 (Fn. 1).

§ 2 Reflexionstheorie des Rechtssystems

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oder falsch wird. Rickert zufolge werden die Erkenntnisakte aber weder durch ihre Bezugnahme auf Sachverhalte einer bewußtseinsexternen Außenwelt noch durch die rekursive Bezugnahme auf psychische Aktivitäten, sondern vielmehr durch ihre Orientierung an jenseits des Bewußtseins verorteten Werten konstituiert. Der Erkenntnis liegt demnach in erster Linie nicht eine Relation von erkennendem Bewußtsein einerseits und einer von diesem unabhängigen Wirklichkeit andererseits, sondern das Verhältnis zwischen vorstellenden Bewußtseinsakten und einer dem psychischen System exteriorisierten Wertsphäre zu Grunde. Der Bezugsgegenstand der Erkenntnis verdankt sich daher primär einer Anerkennung subjektunabhängig geltender Werte, die dem Bewußtsein ab extra gegenübertreten und deren Vorstellungen als wahr bzw. falsch codieren. 106 Bei diesen handele es sich vorgeblich deshalb zwingend um ein „transzendentales", den Vorstellungen gerade nicht immanentes „Sollen", weil deren Befolgung andernfalls keine Notwendigkeit beanspruchen könne und der Kontingenz des Bewußtseins ausgesetzt sei. Die die Objektivität der Beobachtung verbürgenden Werte seien danach absolut und unhintergehbar. Die Beschreibung auch sozial-kultureller Tatsachen beruht also letztinstanzlich nicht auf beobachtbaren, empirischen Referenzen; sie ist statt dessen mit einer normativen Idealsphäre kurzgeschlossen, welche ihrerseits keiner Relativierung mehr unterliegt. 107 Diese transzendentaltheoretisch konzipierte Epistemologie hat zur Folge, daß dank der von ihr beanspruchten Axiologisierung wissenschaftlicher Erkenntnis Tatsachenfragen in Wertprobleme umgemünzt werden und die Logik der Erkenntnis zugleich aus der Wirklichkeit herausabstrahiert und in ein erkenntnistheoretisches überindividuelles Subjekt transferiert wird. Eben dieser Regreß auf eine überempirische Geltung beanspruchende Werte sowie die damit verbundene Infragestellung der Wirklichkeit werden bei Weber dahingehend revidiert, daß er umgekehrt Fragen wissenschaftlicher Begriffsbildung in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Erfahrungswirklichkeit stellt. So geht es Weber in erfahrungswissenschaftlicher Hinsicht nicht mehr um eine Gnoseologie von erkenntnisleitenden Werten, sondern um eine adäquate Beschreibung der sozialen Wirklichkeit sowie um die Erarbeitung einer wiederum empirisch kontrollierten wissenschaftlichen Begriffsbildung. 108 Da das Erkenntnisziel einer sozialwissenschaftlichen Arbeit für ihn „über eine rein formale Betrachtung der Normen [ . . . ] hinausgehen" muß, vermag sich die soziale Wirklichkeit unter Einschluß ihrer normativen Implikationen auch nicht mehr im Rekurs auf transzendental-apriorische Werte zu erschließen. Sie muß sich statt dessen als „Wirklichkeitswissenschaft" deklarieren, welche die „Wirklichkeit des Lebens [ . . . ] in ihrer 106

Heinrich Rickert, 68. ιόν Ebd., S. 69 ff.

Der Gegenstand der Erkenntniss, 1. Aufl., Freiburg 1892, S. 55 ff.,

los Hierzu grundlegend Horst Baier, Von der Erkenntnistheorie zur Wirklichkeitswissenschaft. Eine Studie über die Begründung der Soziologie bei Max Weber, Habil.-Schrift Münster 1969, S. 123 ff.; vgl. auch Fritz Loos, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers, Tübingen 1970. 5 Riechers

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

Eigenart", d. h. unter Berücksichtigung ihrer historischen Genese und in ihrem jeweiligen sozial-kulturellen Kontext erklärt und versteht. 109

3. Auf dem Weg zu einem erfahrungsgeleiteten Rechtsdenken Vor dem hier nachgezeichneten Hintergrund wäre es verfehlt, die aus dem privaten, sein wissenschaftliches Schaffen von Beginn an begleitenden politischen Engagement von Gurvitch hervorgegangenen Schriften zur Gewährsposition eines in erster Linie sozialemanzipatorischen oder gar idealistisch-utopistischen Denkens zu stilisieren. Ganz im Gegenteil sind diese Publikationen, in deren Zentrum die seinerzeit durchaus prekäre Frage nach einer sozialen wie rechtlichen Absicherung und Mitbestimmung der abhängig Beschäftigten, aber auch der politisch-rechtlichen Neugestaltung der Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg stehen, auch und vor allem im Kontext seiner persönlichen, von Brüchen und Schicksalsschlägen gekennzeichneten Biographie zu sehen.110 Denn diese stand, beginnend mit den im revolutionären Rußland gewonnenen Eindrücken, über die durch den Nationalsozialismus erzwungene Emigration aus Frankreich bis hin zu dem gegen ihn verübten rechtsextremistischen Attentat, immer wieder im Zeichen ganz persönlicher Erfahrung mit dem Totalitarismus und Extremismus des 20. Jahrhunderts. Hierbei darf aber nicht übersehen werden, daß sich Gurvitch bei diesen stets rechtspraktischen Entwürfen zweifelsohne durch seine realistische, von der Werturteilsfreiheit wissenschaftlicher Aussagen gekennzeichnete Position leiten ließ, derzufolge alle sozialen wie rechtlichen Prozesse auf dem Prinzip einer plural sich entwickelnden Selbstorganisation beruhen und als der Erfahrung zugängliche Tatsachen beschrieben werden müssen.111 Georges Gurvitch, der als Georgii Davidovich Gurvic am 2. November 1894 in Noworossijsk als Sohn des Direktors der russoasiatischen Bank in Sibirien geboren wurde, 112 wurde bereits früh mit den politischen und sozialen Verwerfungen im Zuge der russischen Oktoberrevolution konfrontiert. An dieser beteiligte er sich 109

Max Weber, Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3., erweiterte und verbesserte Aufl., hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1968, S. 146-214, 170 f., 172 f. no Vgl. insbesondere Georges Gurvitch, La Déclaration des Droits Sociaux, zuerst erschienen New York 1944, Paris 1946; ders., Vers Γ Unité Ouvrière, in: L' Esprit 14 (1946), S. 270-279. in Hierauf weist auch Georges Balandier, Gurvitch, Sa Vie, son Œuvre, Paris 1972, S. 46 f., hin. 112 Vgl. Gottfried Eisermann, Bedeutende Soziologen, Stuttgart 1968, S. 93; Hans-Leo Krämer/Heinz Maus, Stichwort Gurvitch, Georges, in: Wilhelm Bernsdorf/Horst Knospe (Hrsg.), Internationales Soziologenlexikon, Bd. 1, 2. Aufl., Stuttgart 1980, S. 161 f., 161. Phillip Bossermann, Dialectical Sociology. An Analysis of the Sociology of Georges Gurvitch, Boston, Mass. 1968, S. 9, gibt als Geburtsdatum allerdings den 20. Oktober 1894 an.

§ 2 Reflexionstheorie des Rechtssystems

67

zunächst aktiv, ohne sich jedoch damals und auch zu anderer Zeit ideologisch festlegen zu können. 113 Hierbei wurde er indes nicht nur Zeuge umfassender sozialer und rechtlicher Transformationsprozesse, die ihm die genuin sozialen Grundlagen der Erzeugung und Veränderung des Rechts vor Augen führten. Am Beispiel der sich seinerzeit formierenden Industrieräte erblickte er konkret, wie sich auch unabhängig von einer zentralen staatlichen Organisation institutionelle Handlungszusammenhänge bilden und faktisch ihre eigenen rechtsnormativen Grundlagen etablieren konnten. 114 In diese Zeit fielen neben persönlichen Kontakten zu Lenin 1 1 5 auch ein intensives und seine gesamte wissenschaftliche Laufbahn begleitendes Studium der marxistischen Literatur, der gegenüber Gurvitch aber stets ein kritisch-distanziertes Verhältnis einnahm. 116 Nachdem er sein akademisches Studium, in dem die Rechtswissenschaft einen deutlichen Schwerpunkt bildete und das er durch einen Studienaufenthalt in Deutschland ergänzte, im Jahr 1917 abgeschlossen hatte und bis 1920 Dozent an der Universität Petersburg gewesen war, emigrierte er aus Enttäuschung über die in eine totalitäre Gesellschaftsordnung mündende Entwicklung in Rußland nach Prag, an deren Universität er bis 1924 lehrte. 117 In dieser Zeit führte er seine Studien zeitweilig in Berlin und Heidelberg fort, wo er mit einer dem Spätwerk Johann Gottlob Fichtes gewidmeten Studie promoviert wurde. 118 Von Bedeutung für sein realistisches Denken ist, daß die bei ihm auch später geleistete Auseinandersetzung mit der Dialektik Fichtes zu keinem Zeitpunkt in eine Apologie des deutschen Idealismus mündet. Während Gurvitch beim frühen Fichte mit Blick auf dessen Vernunft- und moraltheoretisch verankerte Dichotomie vom Standpunkt des von ihm vertretenen Rechtsrealismus eine erhebliche Realitätsverschätzung ausmacht,119 vermag er in dessen Spätwerk bereits einen philosophiehistorisch richtungsweisenden Beitrag zur Überwindung rein subjektphilosophischer Theoriearchitekturen zu erblicken. So habe Fichte, indem er die Begriffe des Ich und des Nicht-Ich einer Dialektisierung unterzog, nicht nur die strenge subjektphilosophische Disjunktion von Subjekt und Objekt aufgebrochen. Darüber hinaus habe er das Verhältnis von Ich und Nicht-Ich gerade nicht auf „Individuen und individuelle Bewußtseine", sondern statt dessen auf die handelnde 113 Henze, Gurvitch und die soziale Realität (Fn. 41) S. 22. Vgl. auch Georges Gurvitch, L' Effondrement d ' u n Mythe Politique: Joseph Staline, in: Cahiers Internationaux de Sociologie 31 (1962), S. 5-18. 114 Hunt, The Sociology of Law of Gurvitch an Timasheff: A Critique of Theories of Normative Integration (Fn. 12), 171 f. 115 Gottfried Eisermann, In memoriam Georges Gurvitch 2. 11. 1894-12. 12. 1965, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 18 (1966), S. 223-226, 24. 116 Vgl. Georges Gurvitch, Mon Itinéraire Intellectuel ou Γ Exclu de la Horde, in: Jean Duvignau, Georges Gurvitch. Symbolisme social et sociologie dynamique, Paris 1969, S. 79-98, 79 f. 117 Vgl. ebd., S. 172; Eisermann, Bedeutende Soziologen (Fn. 112), S. 93.

us Georg Gurwitsch, Fichtes System der konkreten Ethik, Tübingen 1924. 119 Vgl. bereits ders., Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten, in: Kant-Studien, Bd. 27 (1922), S. 138-164, 155. 5*

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

Person einerseits und die Gesellschaft andererseits bezogen. 120 Dabei bezeichne der Begriff der „transpersonalen Tathandlung" bei Fichte die überindividuelle und dynamische Wechselbeziehung, in welche die handelnde Person zu ihrer Umwelt trete und über die der einzelne sozialkulturell geprägt und konstituiert werde. 121 Von daher erscheine die Sittenlehre Fichtes zwar als eine noch im idealistischen Begriffskontext formulierte, gleichwohl die soziale Wirklichkeit in den Blick nehmende Diagnose, die in ihren diversen politischen und philosophischen Bezügen insbesondere durch die historisch-gesellschaftlichen Prozesse der französischen Revolution beeinflußt 122 worden sei. Die hierbei verhandelte Relation von Person und Gesellschaft werde jedenfalls so konzipiert, daß die einzelne Person stets an den sozialen Prozessen beteiligt sei und die Gesellschaft zugleich durch jede Handlung als ein fortlaufender Prozeß vollzogen werde. 123 Gurvitch siedelte im Jahr 1925 schließlich nach Frankreich über, um einen Lehrauftrag an der Sorbonne anzunehmen. In diesem Zusammenhang widmete er sich nicht nur der neueren deutschen Philosophie, in deren Zentrum ein kritisches Räsonnement der Transzendentaltheorien, Phänomenologien und Ontologien von Husserl, Scheler, Heidegger, Lask und Hartmann standen.124 Sein Interesse galt insbesondere dem realistischen Denken in der Jurisprudenz und den diversen, den modernen Rechtsrealismus vorbereitenden Strömungen in der Philosophie und Jurisprudenz, das in seiner tiefschürfenden, rechtshistorisch wie theoretisch reflektierten und seinen eigenen rechtsrealistischen und pluralistischen Ansatz entfaltenden „L'Idée du Droit Social" 125 dokumentiert wird, mit der er sich 1932 an der Sorbonne habilitierte. Dieser folgten in kurzen Abständen seine Werke „Le Temps Présent et Γ Idée du Droit Social" 126 sowie „L'Expérience Juridique et la Philosophie Pluraliste du Droit" 1 2 7 . Mit diesen Werken legte er das Fundament für seine, das bis dato vorherrschende begriffsjurisprudentielle und vor allem rechtsanalytische Denken verabschiedende Position, die er in methodologischer wie epistemologischer Hinsicht insbesondere entlang einer Auseinandersetzung mit den Theorien von Eugen Ehrlich, Leon Petrazycki und François Gény einer-

120 Vgl. ders., Dialektik und Soziologie (Fn. 42), S. 78 f. 121 Ebd., S. 80 f. Vgl. dazu auch Pierre Ansart, Dialectique et Sociologie selon Georges Gurvitch, in: Revue de Métaphysique et de Morale 1 (1964), S. 101 -115, 105. 122 Gurvitch verweist auf den Brief Fichtes an Baggesen(?) vom April/Mai 1975, nunmehr abgedruckt in: Johann Gottlob Fic/ite-Gesamtausgabe, hrsg. von Reinhard Lauth und Hans Jakob, Bd. III, 2, Stuttgart-Bad Cannstadt 1970, S. 298.

123 Gurwitsch, Fichtes System der konkreten Ethik (Fn. 118), S. 310 f., 315 ff., 373 ff. 124 Eine Zusammenfassung seiner Forschungen findet sich in Gurvitch, Les Tendances Actuelles de la Philosophie Allemande (Fn. 10). 125 Ders., L'Idée du Droit Social. Notion et Système du Droit Social. Histoire Doctrinale depuis le XVile siede jusqu' à la Fin du XIXe Siede, réimpression de Γ édition Paris 1932, Aalen 1972. 126 Ders., Le Temps Présent et Γ Idée du Droit Social, Paris 1931. 127 Ders., L ' Expérience Juridique et la Philosphie Pluraliste du Droit (Fn. 44).

§ 2 Reflexionstheorie des Rechtssystems

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seits und dem Wiener Rechtspositivismus andererseits entwickelte, 128 mit dessen neukantianischen Grundlagen er bereits im Rahmen seiner vorangegangenen Aufenthalte in Deutschland konfrontiert wurde. Diese dienten ihm auch in seinen späteren rechtswissenschaftlichen Studien immer wieder als Kontrastfolie zu seinem eigenen wissenschaftstheoretischen und rechtstheoretischen wie -soziologischen Verständnis. Es kann nicht verwundern, daß seine wissenschaftliche Laufbahn von nun an verstärkt der empirischen Soziologie sowie der Erarbeitung einer realistischen Theorie der Gesellschaft und ihres Rechts galt. Nachdem er in den Jahren 1934 und 1935 für kurze Zeit eine außerordentliche Professur in Bordeaux, der ehemaligen Wirkungsstätte Emile Dürkheims, innehatte, wurde er 1935 als Nachfolger von Maurice Halbwachs auf den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Straßburg berufen. 129 Sein Interesse galt hier verstärkt der Durkheim-Schule um Halbwachs, Mauss und Lévy-Bruhl und ihrer gesellschaftstheoretischen, ethnologischen und methodologischen Grundlagen, das in den 1938 erschienenen „Essais de Sociologie" dokumentiert ist. Letztere sind im Hinblick auf seine später vollständig entwickelte gesellschaftstheoretische Konzeption insofern von Bedeutung, als sie bereits eine deutliche Absage an dem mit Grund fragwürdigen Begriff des Kollektivbewußtseins bei Dürkheim, der ausschließlich auf sozialen Interaktionen beruhenden Beziehungslehre von Wieses sowie der künstlichen Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft bei Tönnies enthalten. 130 Gerade mit Blick auf seine höchst differenzierte Rezeption des Durkheimschen Werkes gilt es daher festzuhalten, daß Gurvitch in seinem erfahrungswissenschaftlichen Denken durch die Durkheim-Schule zwar nachhaltig beeinflußt wurde. Seine Theorie läßt sich hinsichtlich ihrer methodologischen Grundlagen gleichwohl nicht auf eine genuine Dürkheim-Nachfolge reduzieren oder gar als typische Vertreterin der französischen Soziologie und Wissenschaftstheorie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einordnen, 131 wie sich nicht zuletzt seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem französischen Strukturalismus entnehmen läßt. 132 Wie viele seiner Fachkollegen wurde auch Gurvitch in die Wirren des Zweiten Weltkrieges hineingezogen und kämpfte auf französischer Seite an der Maginot128

Vgl. insbesondere ders ., Le Temps Présent et Γ Idée du Droit Social (Fn. 126), S. 152 ff., 165 ff., 217 ff., 246 ff., 279 ff. 129 Bossermann, Dialectical Sociology (Fn. 112), S. 48; Henze, Gurvitch und die soziale Realität (Fn. 41), S. 23; Krämer/Maus, Stichwort Gurvitch, Georges (Fn. 112), S. 161. 130 Georges Gurvitch, Essais de Sociologie, Paris 1938, S. 54 f., 90 ff., 113-169. Vgl. auch ders., The Sociological Legacy of Lucien Levy-Bruhl, in: Journal of Social Philosophy 5(1939), S. 61-70. 131 Vgl. Phillip Bosserman, Georges Gurvitch et les Durkheimiens en France, avant et après la Seconde Guerre Mondiale, in: Cahiers Internationaux de Sociologie 70 (1981), S. 111 126, 112 f., 116 ff., 119 f.; Terry Ν. Clark , Prophets and Patrons. The French University and the Emergence of the Social Science, Cambridge, Mass. 1973, S. 230. 132 Vgl. § 6 2.

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

Linie. 1 3 3 Nach der französischen Kapitulation wurde er durch das mit der deutschen Besatzungsmacht kollaborierende Vichy-Regime von seinem Lehrstuhl abberufen und sah sich daraufhin gezwungen, in die Vereinigten Staaten zu emigrieren. Dort wurde er unter anderem Gastprofessor an der renommierten New School for Social Research in New York, hielt Vorlesungen in Wissenssoziologie in Harvard und gab neben dem »Journal of Legal and Political Sociology" zusammen mit Wilbert E. Moore die groß angelegte „Twentieth Century Sociology" 134 heraus. 135 Im Jahre 1942 erschien die bereits 1940 herausgegebenen „Eléments de Sociologie Juridique" 136 in einer speziell für das amerikanische Fachpublikum überarbeiteten und um wichtige Ausführungen zur nordamerikanischen Sociological Jurisprudence sowie der us-amerikanischen Soziologie ergänzten Ausgabe als „Sociology of Law", die bemerkenswerterweise mit einem Vorwort von Roscoe Pound, dem eigentlichen Begründer der Sociological Jurisprudence, versehen ist. 1 3 7 Gurvitch kehrte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahre 1945 nach Frankreich zurück, wo er ab 1948 den Durkheim-Lehrstuhl an der Sorbonne innehatte und nach der durchaus berechtigten Einschätzung von Timasheff zum einflußreichsten Soziologen in Frankreich avancierte. 138 Er begründete im Jahre 1946 die „Cahiers Internationaux de Sociologie" und setzte in den darauffolgenden Jahren seine „differenzierte", von einem Relativismus und gemäßigten Skeptizismus geprägte „Soziologie" ins Werk. Ungeachtet des von ihm verfochtenen „Hyper-Empirismus" mußten ihn die nachdrücklichen, sein persönliches Leben, aber auch seine wissenschaftliche Laufbahn berührenden Erfahrungen mit dem Krieg und dem Totalitarismus ganz unterschiedlicher Provenienz dazu führen, daß ihn - wie übrigens auch Schelsky - das Verhältnis von sozialen Determinismen einerseits und individuellen Handlungsfreiheiten andererseits zeitlebens nachhaltig beschäftigte. Dies verleitete ihn aber ebensowenig wie Schelsky dazu, einem subjektphilophisch fundierten Liberalismus das Wort zu reden. 139 Gurvitch starb am 12. Dezember 1965 an den Folgen eines rechtsextremistischen Attentats, das gegen ihn im Jahr 1962 wegen seines Engagements zugunsten der tunesischen Unabhängigkeitsbewegung verübt worden war. 140 133

Henze, Gurvitch und die soziale Realität (Fn. 41), S. 48. Georges Gurvitch/Wilbert E. Moore (Hrsg.), Twentieth Century Sociology, 2 Bde, New York 1945. 135 Hierzu und zum folgenden Bosserman, Dialectical Sociology (Fn. 112), S. 50 ff.; Eisermann, Bedeutende Soziologen (Fn. 112), S. 94; Henze, Gurvitch und die soziale Realität (Fn. 41), S. 23. 134

136

Georges Gurvitch, Eléments de Sociologie Juridique, Paris 1940. Ders., Sociology of Law, London/Boston 1974. 138 Vgl. Nicholas S. Timasheff, Sociological Theory. Its Nature and Growth, New York 1967, S. 289. 137

139 Gurvitch, Déterminismes Sociaux et Liberté Humaine (Fn. 7). Vgl. Helmut Schelsky, Soziologie - wie ich sie verstand und verstehe, in: ders., Die Soziologen und das Recht. Abhandlungen und Vorträge zur Soziologie des Rechts, Institution und Planung, Opladen 1980, S. 7 - 3 3 .

§ 3 Moderne Gesellschaft und gesellschaftstheoretische Grundlagen

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§ 3 Moderne Gesellschaft und gesellschaftstheoretische Grundlagen des Rechts 1. Kontextabhängigkeit und Emergenz von Kommunikation a) Menschen als Träger der Kommunikation? Gurvitch ist der Ansicht, daß eine zureichende Deutung und Erklärung sozialer Phänomene nicht von Individuen bzw. ganzen Menschen als Elemente der Gesellschaft auszugehen hat. Im Gegensatz zu einer hier nicht näher darzustellenden ontologischen wie subjektphilosophischen Theorietradition, der sich bestimmte Ansätze in der modernen Soziologie und Sozialphilosophie bemerkenswerterweise noch immer verpflichtet sehen, steht für Gurvitch fest, „daß die elementarsten, nicht weiter reduzierbaren Elemente der sozialen Gebilde nicht Individuen sind, sondern kleinste und fließende soziale Tatsachen".1 Demgegenüber erblicken nicht nur die Vertreter eines neuen Kontraktualismus und Vernunftrechtsdenkens die Grundeinheit sozialer Prozesse in einem teleologisch handelnden Subjekt.2 Auch Spielarten der soziologischen Systemtheorie begreifen soziale Systeme „als eine Menge von Individuen" und hypostasieren den Menschen so zur „letzten Ursache der Aktivitäten sozialer Prozesse".3 Einer derartigen Rückbesinnung auf „individualistische und naturrechtliche Auffassungen", die - wie Gurvitch plastisch formuliert - „die soziale Wirklichkeit auf die Öde gleichbleibender Individuen reduzieren", erteilt er mit Grund eine Absage.4 Seiner Auffassung nach werden ein solcher Individualismus und die ihm zu Grunde liegende Vorstellung, daß sich soziale Prozesse aus „sozialen Atomen" und deren „Kombinationen in »psychosozialen Netzwerken' " zusammensetzen, der spezifischen Autonomie und Komplexität der gesellschaftlichen Realität nicht gerecht. „Der eigentliche Gegenstand soziologi140 Vgl. Eisermann, Bedeutende Soziologen (Fn. 112), S. 95; Henze, Gurvitch und die soziale Realität (Fn. 41), S. 23. 1 Georges Gurvitch, Mikrosoziologie, in: Wilhelm Bernsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl., Stuttgart 1969, S. 692-695, 693. 2 Insbesondere Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1995, S. 150 f.; ders., Vorstudien und Ergänzungen zu einer Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1984, S. 177 ff.; ders., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 4., durchgesehene und um Nachwort und Literaturverzeichnis erweiterte Aufl., Frankfurt a. M. 1994, passim. 3

Vgl. nur Peter M. Hejl, Selbstorganisation und Emergenz in sozialen Systemen, in: Wolfgang Krohn/Günter Küppers (Hrsg.), Emergenz. Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt a. M. 1992, S. 269-292, 270, 271 [Fn. 6]; vgl. auch ders., Konstruktion der sozialen Konstruktion: Grundlinien einer konstruktivistischen Sozialtheorie, in: Siegfried S. Schmidt (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt a. M. 1987, S. 303-339. 4 Hierzu und zum folgenden Georges Gurvitch, Mikrosoziologie und Soziometrie, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 111 (1955), S. 322-353, 332.

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

scher Untersuchungen" sind, wie Geiger schon früh betont, „nicht Plurale von Mensch", sondern nur „die Sozialvorgänge", die im Wege sinnhaft aufeinander bezogenen Handelns erzeugt und strukturiert werden.5 In diesem Zusammenhang wendet sich Gurvitch gegen die klassischen Beziehungslehren und die auf diese rekurrierenden Interaktionstheorien US-amerikanischer Provenienz.6 Er verkennt zwar nicht, daß auch diese Soziologien nicht primär den Menschen im Sinne einer bio-physischen Entität, sondern die im Wege des aufeinander bezogenen Handelns überindividuell sich bildenden sozialen Muster zum Ausgangspunkt nehmen. Da ihr Erkenntnisinteresse gerade nicht mehr in einer wie immer gearteten Natur des Menschen liegt, referieren sie vielmehr auf die sozialen Relationen und Prozesse, in denen mehrere Akteure in eine Wechselwirkung zueinander treten und durch ihre Handlungen soziale Phänomene erzeugen.7 Gurvitch zufolge erweisen sie sich jedoch als reduktionistisch, da sie die gesellschaftliche Dynamik und Relativität stets nur im Sinne einer „einfachen wechselseitigen Interdependent begreifen, die sich wiederum eines bloßen „Zueinanders" und „Auseinanders" ihrer Teile verdankt.8 Das Dilemma der Beziehungslehren ist, daß bei ihnen die Einheit der gesamtgesellschaftlichen Realität eine Summation zwischenmenschlicher Dyaden darstellt und sie von daher gehalten sind, die genetischen Voraussetzungen dieser bipolaren Beziehungen in dem Wirken isolierter Individuen zu verorten. 9 Dies hat für Gurvitch zur Folge, daß sie gesellschaftstheoretisch dort Erklärungsnotstand offenbaren müssen, wo sich die Frage nach der Abhängigkeit der beobachteten Interaktionen von einem sozialen Kontext stellt. 10 Da ihr Bezugspunkt eine abstrakte Relation von Menschen und nicht ein Verhältnis von einem sozialen Phänomen und seiner Umwelt ist, können sie weder die Bedingungen der Möglichkeit sozialer Prozesse auf die diversen Sinnverweisungen der Gesellschaft selbst beziehen, noch dem Umstand Rechnung tragen, daß den an ihnen beteiligten Personen je nach Situation andere Funktionen 5

Theodor Geiger, Artikel Gesellschaft, in: Alfred Vierkandt (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie. Gekürzte Studienausgabe. Vorwort von René König. Einleitung von Paul Hochstim, Stuttgart 1982, S. 38-48,47. 6 Georges Gurvitch, La Vocation Actuelle de la Sociologie, tome premier: Vers la Sociologie Différentielle, quatrième édition, Paris 1968, S. 38, 138 f., 235-248; ders., Réponse à une Critique. Lettre ouvert à Professeur L. v. Wiese, in: Cahiers Internationaux de Sociologie 11 (1951), S. 94-104. 7 Vgl. Georg Simmel, Grundfragen der Soziologie, 3. Aufl., Berlin 1970, S. 13 f., 27; ders., Schriften zur Soziologie, hrsg. von Heinz-Jürgen Dahme und Otthein Rammstedt, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1986, S. 38 f.; ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 11, hrsg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1992, S. 17 ff.; Leopold von Wiese, Artikel Beziehungssoziologie, in: Alfred Vierkandt (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie, unveränderter Neudruck, Stuttgart 1959, S. 66-81. » Gurvitch, La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn.6), S. 236 f. Vgl. zur Kritik schon René König, Artikel Beziehung, in: ders. (Hrsg.), Lexikon Soziologie, Frankfurt a. M. 1958, S. 35-42, 36 f. w Gurvitch, La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 6), S. 236 f. 9

§ 3 Moderne Gesellschaft und gesellschaftstheoretische Grundlagen

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zugewiesen und sie daher mit Blick auf ihr Handeln ihrerseits sozial konstituiert werden. Eine Theorie sozialen Handelns, welche die Gesellschaft ausschließlich im Wege des Inbeziehungsetzens von Akteuren deutet und erklärt, ohne zugleich die konstituierende Funktion des Umfeldes derartiger Relationen in Ansatz zu bringen, bleibt vielmehr zwangsläufig darauf angewiesen, auf das „Individuum von Fleisch und Blut" zu regressieren, wie die Beziehungslehren bezeichnenderweise selbst konstatieren. 11 Eine derartige Rekonstruktion bleibt der Vorstellung verpflichtet, daß es sich bei den Grundelementen der Gesellschaft um nicht weiter auflösbare und daher a priori vorauszusetzende Einheiten handelt. Sie ist weder in der Lage, den sozialen Phänomenen realistischerweise einen Stellenwert sui generis zuzumessen, noch, die an der Konstitution sinnhafter Handlungszusammenhänge beteiligten Akteure funktional, d. h. als sozial erzeugte Adressaten des Handelns zu betrachten, die von Situation zu Situation einer Veränderung unterliegen. 12 Das „Ganze" des Sozialen „reüssiert" dann, wie Gurvitch kritisch feststellt, als eine intern relationierte „Welt der Substanzen", deren Einheit eine lediglich im Bewußtsein der Akteure synonym konstituierte „subjektive Imagination" ist. 13 Vor diesem Hintergrund entzieht Gurvitch von vornherein auch solchen Positionen innerhalb der Rechtslehre den Boden, die im expliziten Anschluß an das methodologische Gerüst der soziologischen Beziehungslehren Rechtssysteme vor allem als eine Ordnung von Rechtsverhältnissen rekonstruieren. 14 Die Rechtsverhältnislehre verkennt, daß es sich beim Rechtssystem gerade nicht um eine Summe normativ strukturierter zwischenmenschlicher Beziehungen, sondern um die insoweit emergente Einheit aller rechtlichen Kommunikationen handelt, die sich keineswegs in einzelne, am Rechtsleben beteiligte Personen gliedert. 15 Gurvitch ver11

Leopold von Wiese, Allgemeine Soziologie, Teil I: Beziehungslehre, Leipzig 1924, S. 21 ff. 12 Gurvitch, La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 6), S. 242 f.; so auch Theodor Geiger, Die Gruppe und die Kategorien Gemeinschaft und Gesellschaft, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 58 (1927), S. 338-374, 338 f., 340. 13 Gurvitch, La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 6), S. 243. 14 Norbert Achterberg, Rechtsverhältnisse als Strukturelemente der Rechtsordnung. Prolegomena zu einer Rechtsverhältnistheorie, in: RECHTSTHEORIE 9 (1978), S. 385-410, 389 ff., 392; vgl. ders., Die Rechtsordnung als Rechtsverhältnisordnung, Berlin 1982; ders., Die Bedeutung des Rechtsverhältnisses für die Grundrechtssubjektivität von Organisationen, in: Dieter Willke/Harald Weber (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Friedrich Klein, München 1977, S. 1 - 3 7 , 1. Vgl. hierzu Werner Hoppe, Das staats- und verwaltungsrechtliche Werk von Norbert Achterberg, in: ders./Werner Krawietz/Martin Schulte (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Zweites Internationales Symposium. Münster 1988, Köln/Berlin/Bonn/München 1992, S. 5 - 1 2 ; Werner Krawietz, Das rechtsphilosophische und rechtstheoretische Werk von Norbert Achterberg, in: Werner Hoppe/ders./Martin Schulte (Hrsg.), Rechtsprechungslehre. Zweites Internationales Symposium. Münster 1988, Köln / Berlin / Bonn / München 1992, S. 12-24, 20 f.; Thomas von Danwitz, Zu Funktion und Bedeutung der Rechtsverhältnislehre, in: Die Verwaltung 30 (1997), S. 339-363. 15 Vgl. Klaus Veddeler, Rechtsnorm und Rechtssystem in René Königs Normen- und Kulturtheorie, Berlin 1999, S. 53 f.

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

ziehtet deshalb auf einen handlungstheoretischen Ansatz, der vom einzelnen Akteur als Handlungsträger sozialer Prozesse ausgeht, ohne jedoch die Handlungsbeiträge einzelner Personen gänzlich aus seiner Theorie auszublenden, wie an anderer Stelle noch darzulegen sein wird. Ihm zufolge lassen sich weder soziale Determinismen noch der Möglichkeitsspielraum sozialen Handelns voluntaristisch begründen, 16 indem auf einen introspektiv zu bestimmenden Willen oder gar eine in mente vorausgesetzte Vernunft als Handlungsagenten Bezug genommen wird. 17 Soziale Aktivitäten werden demnach nicht im Wege eines die Handlungen oder Kommunikationen nach individuellen Zwecken und Zielen planmäßig steuerndes Bewußtsein in Gang gesetzt und normativ strukturiert. Ganz im Gegensatz zu den diversen finalistischen und voluntaristischen Handlungslehren des Rechts,18 wie sie insbesondere von Weinberger vertreten werden, demzufolge der „Zweck als ein von einem Individuum als Träger des teleologischen Systems gewollt gesetzt wird," 1 9 verzichtet Gurvitch im Einklang mit modernen Institutionen- und Systemtheorien auf eine Theorie und Soziologie des Rechts, die sich vom Primat des Bewußtseins leiten läßt. 20 Der Theoriegewinn eines solchen empirischen Ansatzes, der seinen Bezugsgegenstand nicht von vornherein mit dem „ganzen Menschen" oder individuellen psychischen Prozesse kurzschließt, liegt eben darin begründet, daß er hinsichtlich der Erzeugung und Strukturierung eines sozialen Geschehens immer auch andere Faktoren mit berücksichtigen kann. Die für eine allgemeine wie für eine Soziologie des Rechts relevanten Letztelemente der Gesellschaft bilden bei Gurvitch daher solche Aktivitäten, die innerhalb „mikrosoziologischer Elemente" erzeugt und die aus heuristischen Gründen nach unterschiedlichen „Formen der Soziabilität" typologisch differenziert werden können.21 16

Die Theoriegeschichte des Voluntarismus dürfte bis Augustinus zurückzuverfolgen zu sein; vgl. Aurelius Augustinus, Confessiones, 2. Aufl., München 1960, S. 400: „Imperat animus, ut moveatur manus, et tanta est facilitas, ut vix a servitio discernatur imperium." 17 Georges Gurvitch, Déterminismes Sociaux et Liberté Humaine. Vers Γ Étude Sociologique des Cheminements de la Liberté, Paris 1955, S. 40, 68 ff., 72: „Le déterminisme est Γ intégration des faits particuliers dans Γ un des multiples cadres réel ou univers concrets [ . . . ] La liberté [ . . . ] n' est pas [ . . . ] la volonté déterminée par la raison." 18 Vgl. nur Hans Welzel, Um die finale Handlungslehre. Eine Auseinandersetzung mit den Kritikern, Tübingen 1949; ders., Kausalität und Handlung, in: ders., Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie, Berlin/New York 1975, S. 7 - 2 2 , 21; vgl. auch Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, 8. Aufl., Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1983, S. 21. 19 Ota Weinberger, Zur Idee einer formal-finalistischen Handlungstheorie, in: ders., Recht, Institution und Rechtspolitik, Grundprobleme der Rechtstheorie und Sozialphilosophie, Stuttgart 1987, S. 43-84, 64. 20 Helmut Schelsky, Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen. Kulturanthropologische Gedanken zu einem rechtssoziologischen Thema, in: ders., Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf / Köln 1965, S. 33-55, 46; Niklas Luhmann, Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 6: Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, S. 155-168. 21 Gurvitch, La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 6), S. 131 ff.; ders., Grundzüge der Soziologie des Rechts, vom Verfasser autorisierte deutsche Ausgabe, ins Deutsche

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b) Emergenz sozialer Systeme aa) Soziale Systeme als Realitäten sui generis Diese nichtindividualistische Position gründet in der Einsicht, daß nach Gurvitch jeder soziale Kontakt einem dem einzelnen und seinen Wahrnehmungen vorrangigen Horizont entfaltet, innerhalb dessen sämtliche Interaktionen („rapports avec autrui") vollzogen werden. 22 Diesen Horizont bezeichnet Gurvitch in einem mehr metaphorischen Sinne als ein „Nous" (Wir). Einer mit Blick auf diesen Terminus naheliegenden psychologischen Deutung oder einer kollektivistischen Konnotation entzieht er jedoch sogleich den Boden: „The microsociological elements or the forms of sociability [ . . . ] do not in any way depend exclusively upon collective and intermental psychology or behavior." 23 Bei der Beobachterkategorie des „Nous" handelt es sich also nicht um ein Phänomen des Individualbewußtseins. Ebenso verfehlt wäre es, Gurvitch einen Rückfall in ein überkommenes sozial-metaphysisches Denken zu bescheinigen, das einer von sozialen Handlungen oder Kommunikationen abgelösten und die sozialen Abläufe ab extra regelnden Transzendenz das Wort redet. So steht für Gurvitch auch unabhängig von dem Typ der mikrosoziologischen Beobachterkategorien grundsätzlich fest, daß „sich die Organisationen, sozialen Strukturen [ . . . ] wie auch die Handlungspraktiken [und] das Recht [ . . . ] weder auf auf eine Individual- noch eine Kollektivpsyche reduzieren [lassen]".24 Der Begriff des „Nous" markiere daher lediglich „den im engsten Sinne des Wortes sozialen Rahmen", in dem einzelne Handlungsbeiträge erbracht werden. 25 Von grundlegender Bedeutung für die Verortung sozialer Sinnzusammenhänge ist, daß Gurvitch zufolge der Horizont, in dem alle sozialen Prozesse stattfinden, eine auf die Handelnden „irreduzible Einheit" darstellt, die im Wege aktuell vollzogenen Handelns oder Kommunizierens stets als „eine neue, unzerlegbare Einheit" konstituiert wird. 26 In dem Maße, in dem sämtliche Artefakte des Handelns nicht mehr unmittelbar auf die an ihnen beteiligten biophysischen wie auch psychischen Systeme der Akteure zurückgeführt werden können, bilden sie eine Realität sui generis. Noch präziser legt Gurvitch dies im Zusammenhang mit der Bestimmung des soziologischen Bezugsgegenstandes dar: „Le domaine de la sociologie est la réalité sociale [ . . . ] irréductible à toute autre réalité." 27 Es muß demnach grundsätzlich zwischen soübertragen von Hans Naumann und Sigrid von Massenbach, 2. Aufl., Darmstadt/Neuwied 1974, S. 133 ff. 22 Ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 6), S. 243, mit Blick auf die Beziehungslehren. 23 Ders., Microsociology and Sociometry, in: ders. (Hrsg.), Sociometry in France and the United States. A Symposium, Beacon House 1950, S. 1-31,17. 24 Ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 6), S. 48. 2 5 Ebd., S. 134. 26 Ebd.; ders.y Problèmes de Sociologie Générale, in: ders. (Hrsg.), Traité de Sociologie, tome premier, seconde édition corrigé, Paris 1962, S. 153-251, 173.

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1. Abschn.: Normativ-realistische Theorie des Rechts

zialen, psychischen und den Realitäten der belebten und unbelebten Natur unterschieden werden. 28 In eben diesem Sinne differenzieren auch Krawietz und Luhmann zwischen sozialen, psychischen und organischen Systemen, um von hier aus auf einer analytisch-begrifflichen Ebene zu einer genaueren Rekonstruktion empirischer Sozialsysteme und ihrer rechtsnormativen Strukturen zu gelangen, insbesondere unter dem Gesichtspunkt ihrer eigendynamisch, d. h. selbstreferenziell und autopoietisch verlaufenden Prozesse.29 Gurvitch geht es wie den modernen Institutionen- und Systemtheorien darum, daß soziale Prozesse und ihre Strukturen nur als emergente und damit als solche Phänomene begriffen werden können, die sich nicht im Verhältnis von eins zu eins auf die psychischen und organischen Faktoren zurückführen lassen, die an der Erzeugung von Kommunikationen und rechtsnormativen Erwartungsstrukturen jedoch fraglos auch beteiligt sind. 30 Da der soziale Horizont für Gurvitch nicht nur den Teilnehmern einer Kommunikation, sondern auch den Interdependenzen eines wechselseitig aufeinander bezogenen Handelns „vorausgeht", 31 sehen sich die Akteure einer immer schon sinnhaft vorstrukturierten sozialen Welt gegenüber. Sozialität wird also nicht gleichsam aus einem Nichts heraus erzeugt. „[Elle] n'émerge pas du néant, elle ne se crée pas ex nihilo." 32 Dies ist in zweifacher Hinsicht nicht der Fall. Da für Gurvitch eine Konzeption von Sozialität ausscheidet, wonach soziale Verständigungsprozesse allein auf psychische Ereignisse zurückgeführt werden, ist zum einen für eine Ableitung der sozialen Welt aus ursprünglichen Akten des Bewußtseins kein Raum mehr. Die soziale Welt entsteht nicht auf der Grundlage primordialer „Moi", „Toi", „Lui", „Iis". 3 3 Sie wird keineswegs dadurch erzeugt, daß monadische Subjekte im Wege intentionaler Akte des Bewußtseins, die auf eine als für alle gemeinsam unterstellte Lebenswelt gerichtet sind, wechselseitig die Realität eines jeweiligen anderen bewußtseinsintern als gegeben hinneh27

Ders., Objet et Méthode de la Sociologie, in: ders. (Hrsg.), Traité de Sociologie, tome premier, seconde édition corrigé, Paris 1962, S. 3 - 2 7 , 20. 28 Vgl. die Unterscheidung zwischen der „réalité sociale", „les réalités psychologique et biologique" bei demsLa Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 6), S. 71. 29 Werner Krawietz , Recht ohne Staat? Spielregeln des Rechts und Rechtssystem in normen· und systemtheoretischer Perspektive, in: Danilo Basta/ders./Dieter Müller (Hrsg.), Rechtsstaat - Ursprung und Zukunft einer Idee. Symposium zum 150jährigen Bestehen der Belgrader Juristischen Fakultät, Berlin 1993, S. 81 -133, 88 f., 98 ff.; Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1991, S. 16. 30 Vgl. zur Emergenz Paul Hoyningen-Huene, Zu Emergenz, Mikro- und Makrodetermination, in: Weyma Lübbe (Hrsg.), Kausalität und Zurechnung. Über Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen, Berlin/New York 1994, S. 165-195, 172 ff., 179 ff.; vgl. auch Manfred Stöckler, Emergenz. Bausteine für eine Begriffsexplikation, in: Conceptus 24 (1990), S. 7-24,19. 31

Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 21), S. 137. Phillip Bosserman, Georges Gurvitch et les Durkheimiens en France, avant et après la Seconde Guerre Mondiale, in: Cahiers Internationaux de Sociologie 20 (1981), S. 111-126, 123. 32

33

Georges Gurvitch, Essais de Sociologie, Paris 1938, S. 31 ff.

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men. 34 Insofern verweigert sich Gurvitch einer egologischen Konzeption der Gesellschaft, derzufolge Sozialität nur als „Intersubjektivität" ausgewiesen, mithin als eine Verschränkung subjektiver, die einzige sichere Realität bildender Wahrnehmungshorizonte gedacht werden kann. Zum anderen konstitutiert sich diese soziale Realität ungeachtet ihrer Emergenz nicht voraussetzungslos. Die von Gurvitch betonte Abhängigkeit jeder Handlungskoordination („sociabilité par simple interdépendance") von „bereits existierenden" sozialen Horizonten 35 basiert vielmehr auch auf der Einsicht, daß in jeder aktuellen Handlungssituation auf eine bereits sozial und nicht bloß psychisch konstituierte wie etablierte Bedeutungswelt zurückgegriffen wird.

bb) Dürkheims Begriff des Kollektivbewußtseins Näheren Aufschluß über die theoretische Konzeption emergenter sozialer Zusammenhänge bei Gurvitch gibt dessen Rezeption des Begriffs des Kollektivbewußtseins in der Theorie Dürkheims. Die funktionalen Mechanismen des Integrationsprozesses wurden erstmals wohl in Dürkheims empirischen Analysen der Bedingungen und Folgen sozialer Differenzierung in dessen „De la division travail social" gesellschaftstheoretisch umfassend expliziert. 36 Dieser Prozeß stellt sich ihm zufolge als ein dem einzelnen exteriorisiertes, weil vom Denken unabhängiges und hinsichtlich seiner Genese durch das Wirken einzelner Personen nicht unmittelbar zu beeinflussendes Geschehen dar. 37 Für Durkheim wurde die Einsicht, daß sich individuelles Handeln nicht nur vor dem Hintergrund einer dem einzelnen ge34

So bekanntlich die Konzeption von Intersubjektivität in der Phänomenologie Husserls. Vgl. Edmund Husserl , Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Husserliana, Bd. ΙΠ, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1950, S. 61 f.; ders., Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Erster Teil: 1905-1920, Husserliana,Bd. XII, hrsg. von Iso Kern, Den Haag 1973; ders., Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Zweiter Teil: 1921 -1928, Husserliana, Bd. XIV, hrsg. von Iso Kern, Den Haag 1973; ders., Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. Dritter Teil: 1929-1935, Husserliana, Bd. XV, hrsg. von Iso Kern, Den Haag 1973. Vgl. dazu die kritische Würdigung der Phänomenologie Husserls bei Georges Gurvitch, Les Tendances Actuelles de la Philosophie Allemande. E. Husserl - M. Scheler - E. Lask - M. Heidegger, réimpression textuelle de Γ édition de 1930, Paris 1948, S. 11-66. Vgl. zur Konzeption der Intersubjektivität bei Husserl auch Karl Held, Zum Problem der Intersubjektivität und die Idee einer phänomenologischen Transzendentalphilosophie, in: Ulrich Claesges/ders. (Hrsg.), Perspektiven transzendentalphänomenologischer Forschung. Für Ludwig Landgrebe zum 70. Geburtstag von seinen Kölner Schülern, Den Haag 1972, S. 3-60. 35 Gurvitch, Essais de Sociologie (Fn. 33), S. 33. 36 Emile Dürkheim, Über soziale Arbeitsteilung, übersetzt und durchgesehen von Ludwig Schmidts und Michael Schmid, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1988. 37 René König, Emile Durkheim. Der Soziologe als Moralist, in: Dirk Käsler (Hrsg.), Klassiker der soziologischen Denkens, Bd. 1: Von Comte bis Dürkheim, München 1976, S. 312364, Anmerkungen: S. 501 -508, 330.

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genüber omnipräsenten Gesellschaft vollzieht, sondern die Prämissen allen Handelns in bereits sozial etablierten und dem einzelnen vorgegebenen Normen zu verorten sind, überhaupt zur Voraussetzung einer eigenständigen soziologischen Disziplin. 38 In dem Maße, in dem soziale Kontakte nach Durkheim „psychische Gebilde ganz neuer Art" entstehen lassen, erzeugen sie eine weder auf die individuelle Psyche noch auf einzelne Handlungsakte zurückführbare, dem einzelnen gegenüber objektivierte „Realität sui generis". Diese vollziehe sich nach eigenlogischen, von „individuellen Äußerungen unabhängigen" Gesetzmäßigkeiten und lasse sich in bestimmten Handlungsregelmäßigkeiten beobachten.39 Zentrales Paradigma seiner Theorie ist der in seinem gesellschaftstheoretischen Leistungsvermögen kompakte, Gurvitch zufolge aber unpräzise verwendete Begriff des Kollektivbewußtseins („conscience collective"). 40 Dieser Begriff wird bei Durkheim kongruent für soziale Solidarität wie auch für Moral verwendet und verweist letztlich auf das Phänomen einer jeden Handlung vorgängigen und unhintergehbaren Gesellschaft. 41 Er wird zum einen als der Inbegriff der gemeinsamen, durch Symbole institutionell auf Dauer gestellten und präsent gehaltenen Glaubens- und Wertvorstellungen sowie kollektiven Verhaltensmuster eingeführt, die auf das individuelle Handeln normativ einwirken. 42 Zum anderen bildet er im Rahmen einer Theorie der Evolution der Gesellschaft und ihrer Normensysteme, die mit einer idealtypischen Rekonstruktion der segmentären sowie der modernen, arbeitsteiligen Gesellschaft arbeitet, den theoriebautechnischen Schnittpunkt im Verhältnis von Arbeitsteilung und Solidarität. Dabei wird der Begriff der „Solidarität" analytisch auf einen Zusammenhang zwischen Gesellschaftsstruktur und sozialen Funktionen sowie normativen Regelsystemen bezogen.43 Ausgehend von der „Frage nach den Beziehungen zwischen der individuellen Persönlichkeit und der sozialen Solidari38

Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, hrsg. und eingeleitet von René König, 3. Aufl., Neuwied 1970, S. 107. 39 Ders., Der Selbstmord, Frankfurt a. M. 1983, S. 361; ders., Die Regeln der soziologischen Methode (Fn. 38), S. 109, 114. 40 Gurvitch, Essais de Sociologie (Fn. 33), S. 115. 41

Vgl. Udo di Fabio, Offener Diskurs und geschlossene Systeme. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in argumentations- und systemtheoretischer Perspektive, Berlin 1991, S. 31 ff.; Niklas Luhmann, Arbeitsteilung und Moral. Dürkheims Theorie, in: Emile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, übersetzt und durchgesehen von Ludwig Schmidts und Michael Schmid, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1988, S. 17-35, 24. 42 Hierzu und zum folgenden Ute Bullasch, Rechtsnorm und Rechtssystem in der Normentheorie Emile Dürkheims, Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris 1988, S. 41 ff.; René König, Einleitung, in: Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, hrsg. und eingeleitet von René König, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1991, S. 21-82, 34. 43

Hans-Peter Müller/Michael Schmid, Arbeitsteilung, Solidarität und Moral. Eine werkgeschichtliche und systematische Einführung in die „Arbeitsteilung" von Emile Durkheim, in: Emile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, übersetzt und durchgesehen von Ludwig Schmidts und Michael Schmid, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1988, S. 481-532,488 ff. Vgl. auch Werner Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht. Das Recht im soziologischen Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1993, S. 366 ff., 371 f.

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tät", 44 dient er zunächst dem Nachweis, daß die Integration in der archaischen, segmentär differenzierten Gesellschaft im Wege einer sozial generalisierten Moral (Kollektivbewußtsein) erfolgt, welche den einzelnen über die typische Form des „repressiven Rechts" an die jeweiligen gesellschaftlichen Teilsegmente anbindet.45 Demgegenüber erfolge die Integration in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft, die nur als ein hochkomplexes und arbeitsteilig organisiertes „System" begriffen werden könne, in erster Linie über bestimmte funktionsspezifische Normen („restitutives Recht") und „Sonderrollen", die dem einzelnen zugewiesen würden. 46 In diesem Sinne wird die theoretische Variable des Kollektivbewußtseins als entscheidende Bedingung der Integration für die arbeitsteilige Gesellschaft durch die Variable der Arbeitsteilung bzw. der funktionalen Differenzierung ersetzt. 47 Gleichwohl wird der Begriff des Kollektivbewußtseins bei Durkheim auch auf die arbeitsteilige Gesellschaft bezogen, ohne seine indifferent juridischmoralische Konnotation jedoch zu verlieren. Er bildet nunmehr das Kernelement der Durkheimschen Kritik der kontraktualistischen und individualistisch-utilitaristischen Positionen,48 denen zufolge die soziale Ordnung lediglich ein Produkt vertraglicher Austauschbeziehungen ist. 49 Letzteren hält er entgegen, daß jede Form der Reziprozität einen bereits sozial etablierten Normen- und Wertekanon voraussetze. In die nichtkontraktuellen Grundlagen vertraglichen Handelns gehe stets ein schon vorgängig erzeugter normativer Sinn ein. 50 Die Bildung sozialer Ordnung vollziehe sich daher auch in der arbeitsteiligen Gesellschaft nicht lediglich über eine interessengeleitete Kooperation einzelner, sondern bedürfe immer einer die Funktionsbereiche durchziehenden Kollektivmoral, die dem einzelnen im Wege seiner Sozialisation angesonnen und von ihm internalisiert werde. 51 Die Frage nach dem „lien social", d. h. den Bedingungen der Möglichkeit sozialer Integration, 52 wird in bezug auf die moderne Gesellschaft also mit einer Kombination gesellschaftsstruktureller und normativer Faktoren beantwortet, nämlich der sozialen 44

Durkheim , Über soziale Arbeitsteilung (Fn. 36), S. 82. « Vgl. ebd., S. 181 f. 4 6 Ebd., S. 237. 47 48

Vgl. Gurvitch, Essais de Sociologie (Fn. 33), S. 130 f.

Insbesondere derjenigen Spencers. Vgl. Herbert Spencer, Die Prinzipien der Soziologie, Bd. 3, Stuttgart 1987, S. 297 ff. 49 So die klassische Rezeption seit Talcott Parsons, The Structure of Social Action. A study in social theory with special reference to a group of recent european writers, 3. Aufl., Glencoe 111. 1964, S. 344 ff. 50 Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung (Fn. 36), S. 267 f., 272; vgl. hierzu Richard Münch, Theorie des Handelns. Zur Rekonstruktion der Beiträge von Talcott Parsons, Emile Durkheim und Max Weber, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1982, S. 290 ff. 51 Bullasch, Rechtsnorm und Rechtssystem in der Normentheorie Emile Dürkheims (Fn. 42), S. 48 f. 52 Vgl. Hartmut Tyrell, Emile Durkheim. Das Dilemma der organischen Solidarität, in: Niklas Luhmann (Hrsg.), Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee, Opladen 1985, S. 181-250.

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Differenzierung einerseits und einem als Moral ausgewiesenen normativen Letzthorizont andererseits. Soweit der Begriff des Kollektivbewußtseins nominell in die Theorie von Gurvitch Eingang fand, ist dies zunächst der Tradition einer spezifisch französischen Soziologie und ihrer Terminologie geschuldet, in deren Kontext Gurvitch unzweifelhaft einzuordnen ist. Dies gilt ungeachtet der verschiedenen russischen, mit Blick auf die dezidiert empirische Ausrichtung seiner Soziologie aber auch USamerikanischen Wurzeln seines Denkens.53 Darüber hinaus gilt es festzuhalten, daß bereits bei Durkheim der Begriff des „Bewußtseins" nicht im engeren Sinne psychisch konnotiert und dies angesichts seiner dezidiert antipsychologistischen Position auch bei Gurvitch nicht der Fall ist. Sowohl bei Durkheim als auch bei Gurvitch markiert der Begriff vielmehr das Phänomen einer emergenten, genuin sozialen und institutionell auf Dauer gestellten wie generalisierten Bedeutungswelt. Das theoriebautechnische Problem Dürkheims bestand allerdings darin, daß ihm keine Mittel zur Verfügung standen, diesen bei ihm kongruent mit Gesellschaft und Moral verwendeten Begriff um eine Dimension elementarer sozialer Prozesse anzureichern. Da sein Interesse in erster Linie einem evolutions- und strukturtheoretisch fundierten Nachweis unterschiedlicher Integrationsmechanismen galt, fehlt es in seiner Theorie an einer Relationierung der emergenten Normenordnung mit den aktuellen Interaktionsprozessen. Demgegenüber handelt es sich Gurvitch zufolge bei „kollektiven mentalen Akten" um eine zwar analytisch und aus bestimmten heuristischen Gründen von anderen normativ-faktischen Elementen der sozialen Realität unterscheidbare, aber gleichwohl um eine Sinnebene, die in konkret ablaufenden sozialen Prozessen eingelagert ist: „ [ . . . ] elle fait partie intégrante de cette réalité dont elle est imprégnée." 54 Im Rahmen einer detaillierten Rekonstruktion des Durkheimschen Begriffsverständnisses gelangt er mit Grund zu dem Ergebnis, daß dieser die emergenten Bedingungen sozialen Handelns dem Handlungsgeschehen selbst entziehe und insoweit „transzendental" veranschlage.55 Ähnlich konstatiert auch König, daß Durkheim zwar von einem Rückgang des Kollektivbewußtseins in der modernen Gesellschaft ausgehe, es aber „als transzendentale Bedingung allen sozialen Seins überhaupt" ansehe. Als solche bilde es in Dürkheims „Arbeitsteilung" den Oberbegriff für die Typen der archaischen wie auch der arbeitsteiligen Gesellschaft. 56 Eine derartig transzendentale Konzeption birgt für Gurvitch stets die Gefahr, soziale Emergenzphänomene im Sinne eines „metaphysischen, überzeitlichen Logos" mißzuverstehen und sie empirisch nicht 53

Vgl. Bosserman, Georges Gurvitch et les Durkheimiens en France (Fn. 32), S. 112; Terry N. Clark, Prophets and Patrons. The French University and the Emergence of the Social Science, Cambridge, Massachusetts 1973, S. 230. 54 Gurvitch, La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 6), S. 108. 55 Ders., Essais de Sociologie (Fn. 33), S. 168 f. 56 König, Emile Dürkheim. Der Soziologe als Moralist (Fn. 37), S. 323 f.; vgl. ders., Kritik der historisch-existenzialistischen Soziologie. Ein Beitrag zur Begründung einer objektiven Soziologie, München 1975, S. 237 ff.

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mehr ausweisen zu können.57 Durkheim sei es insbesondere nicht gelungen, der Relativität und Dynamik objektivierter Sinnhorizonte hinreichend Rechnung zu tragen, weil er sie in genetischer Hinsicht nicht auf konkrete und sich wandelnde soziale Situationen beziehe.58 Da bei ihm die kollektiven Handlungsmuster und Wertvorstellungen als eine prästabile Entität gleichsam über den sozialen Prozessen schwebten, bedürften sie, um überhaupt in das Handlungsgeschehen einzugehen, einer symbolgeleiteten Vermittlung bzw. Transformation in die Kommunikation. Damit werde dem sozialen Medium des Symbols seinerseits ein apriorischer Stellenwert zugemessen, da dessen soziale Konstitution nicht plausibilisiert werde. 59 Demgegenüber sind Gurvitch zufolge die „kollektiven mentalen Akte" und Symbole immanente Bestandteile situativer Handlungszusammenhänge.60 Dadurch vermeidet er es, soziale Emergenz mit einer Transzendenz sozialer Phänomene zu verwechseln. Die damit verfolgte Einbettung sozial generalisierter Bedeutungen in raum-zeitliche soziale Prozesse löst Gurvitch dadurch ein, daß er zwischen einzelnen sozialen Handlungen oder Kommunikationen und ihren emergenten Horizonten gerade nicht unterscheidet. Beide „Ebenen" fallen in der sozialen Realität zusammen und bilden in der jeweiligen Handlungssituation ihrerseits ein emergentes dynamisches Geschehen.

cc) Soziales Totalphänomen als Grundbegriff der Soziologie von Gurvitch In Anlehnung an eine von Marcel Mauss geprägte Terminologie 61 bezeichnet er diese konkreten emergenten Kommunikationsprozesse als soziale Totalphänomene („phénomènes sociaux totaux"). Dieser Begriff bildet die zentrale Beobachterkategorie in der Soziologie von Gurvitch. Er wird bei ihm je nach Systemreferenz auf elementare Interaktionen („manifestations de sociabilité"), umfassenderen, institutionell auf Dauer gestellten sozialen Einheiten („groupements") und die gesamtgesellschaftlichen Systeme („sociétés globales") bezogen.62 Bei jedem dieser systemischen Handlungs- oder Kommunikationszusammenhänge handelt es sich um in der sozialen Realität existierende und beobachtbare Prozesse („unités collectives

57 Georges Gurvitch, La Vocation Actuelle de la Sociologie, tome seconde: Antécédents et Perspectives, troisième édition, Paris 1969, S. 2. Vgl. auch Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht (Fn. 43), S. 377. 58 Georges Gurvitch, Tiefensoziologie, in: Wilhelm Bernsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl., Stuttgart 1969, S. 1162-1167, 1163. 59 Ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 2 (Fn. 57), S. 9. 60 Ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 6), S. 16 ff., 73 ff., 92 ff. 108 ff., 61 Marcel Mauss, Die Gabe, in: ders., Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, übersetzt von Eva Moldenhauer, Henning Ritter und Axel Schmalfuß, München/Wien 1975, S. 11 -144. 62

Gurvitch, La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 6), S. 70.

6 Riechers

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réelles"). 63 Da Gurvitch in Übereinstimmung mit der allgemeinen Theorie sozialer Systeme von Luhmann 64 den Anspruch erhebt, daß sich die im Rahmen seiner Soziologie eingeführten Grundbegriffe auf eine soziale Realität beziehen, enthält er sich - wie an anderer Stelle bereits ausgeführt 65 - nicht nur jeder erkenntnistheoretischer Spekulation über die Realität soziologischer Bezugsgrundlagen. Ihm geht es im Gegensatz zur Struktur-funktionalen Systemtheorie Parsons sowie zum ethnologischen Strukturalismus von Lévi-Strauss auch nicht um die Erarbeitung eines bloß analytischen Begriffssystems, dessen Elemente lediglich auf modellartige Abstraktionen der sozialen Wirklichkeit verweisen. 66 Der empirische Bezug seiner allgemeinen Soziologie, aber auch seiner Theorie und Soziologie des Rechts, hindert Gurvitch schließlich daran, die Systemrationalität sozialen Handelns und ihrer normativen Strukturen, insbesondere denjenigen des Rechts, mit Habermas als eine solche zu rekonstruieren, die unter der bloß hypothetischen Voraussetzung intersubjektiver Konsense erzeugt wird. 67 Die vorgängig dargelegte Identität von sozialer Emergenz und kommunikativem Prozeß expliziert Gurvitch dagegen wie folgt: „Les phénomènes sociaux totaux sont des totalités réelles en marche, en mouvement sans arrêt. [Ils] représentent toujours plus que leur ensemble, et à plus forte raison que leur somme [ . . . ] Les phénomènes sociaux totaux, qu'ils soint partiels ou globaux, sont liés au vitalisme social, dont les actes qu'ils perpétuent ne sont qu'une manifestation." 68 Demnach haben wir es nicht mit einer im Wege ihrer wissenschaftlichen Beobachtung entstehenden oder gar platonisierten Realitäten, sondern mit tatsächlich stattfindenden sozialen Aktivitäten zu tun. Und diese „Realität sui generis" 69 verdankt sich ihrerseits nur einer Perpetuierung sozialer Aktivitäten. In Anbetracht ihrer Emergenz und der Tatsache, daß die Realität sozialer Totalphänomene in Form von Handlungsketten besteht, kann eine soziologische Deutung und Erklärung dieser internen Bedingungen Gurvitch zufolge nur in einer ab63 Ders., Objet et Méthode de la Sociologie (Fn. 27), S. 19 ff.; ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 6), S. 7; vgl. ders., Dialektik und Soziologie, mit einem Nachwort von Lutz Geldsetzer, aus dem Französischen übersetzt von Lutz Geldsetzer, Neuwied/Berlin 1965, S. 218 ff. 64 Luhmann, Soziale Systeme (Fn. 29), S. 30 ff. 65 V g l . § 2 1. b). 66 Vgl. zur methodologischen Unterscheidung zwischen empirischem und theoretischem Sozialsystem im Strukturfunktionalismus von Parsons Charles Ackermann /Talcott Parsons, Der Begriff „Sozialsystem" als theoretisches Instrument, in: Talcott Parsons, Zur Theorie sozialer Systeme, hrsg. und eingeleitet von Stefan Jensen, Opladen 1976, S. 69-84. Vgl. zur strukturalistischen Methodologie Claude Lévi-Strauss, Der Strukturbegriff in der Ethnologie, in: ders., Strukturale Anthropologie, aus dem Französischen von Hans Naumann, Frankfurt a. M. 1967, S. 299-364. 67 Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1 (Fn. 2), S. 25 ff., 35 ff.; ders., Faktizität und Geltung (Fn. 2), S. 138. 68 Gurvitch, La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1, S. 17, 20. 69 Ders., On some Deviations in the Interpretation of the Concept of Social Structure, in: Sociometry 18 (1955), S. 501-518, 506.

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strahierenden Weise erfolgen. Auf der Grundlage einer heuristischen Typologie, mit der schematisch zwischen morphologischen Aspekten, organisiertem Handeln bzw. Entscheiden, standardisierten sozialen Mustern, Normen des alltäglichen Lebens wie diejenigen der Mode, sozialen Rollen, Handlungsregelmäßigkeiten mit Bezug zu Affekten, sozialen Symbolen (Medien), situativ neu entstehenden Normen, sozialen Weiten und Ideen sowie hochgradig generalisierten Sinnhorizonten („Mentalitäten und psychische Kollektivakte") unterschieden wird, lassen sich soziale Systeme nach strukturellen Kriterien rekonstruieren. 70 Bei diesem horizontal gegliederten Schema handelt es sich aber lediglich um ein „operatives" Mittel der wissenschaftlichen Beobachtung und nicht um eine enumerative Aufzählung tatsächlicher Strukturbedingungen. 71 Daher wäre es falsch, Gurvitch ein camoufliertes Bekenntnis zugunsten eines überkommenen Stufenbau- oder Schichtdenkens, insbesondere Marxscher Provenienz, anzusinnen. Im Gegenteil werden bei ihm Strukturtheorien, die einer apriorischen Strukturdifferenzierung der Gesellschaft nach Basis und Überbau das Wort reden, grundsätzlich abgelehnt.72 Gurvitch geht es allein darum, der soziologischen Beobachtung spezifische Referenzen auf unterschiedliche Normierungen und Strukturbedingungen sozialer Systeme überhaupt erst zu ermöglichen. Um Einsichten darüber zu gewinnen, ob in einer Kommunikation etwa organisatorische Entscheidungen getroffen, bloß informale rechtliche Erwartungsstrukturen oder aber nichtrechtliche Handlungsformen erzeugt werden, bedarf es einer Respezifikation der beobachteten kommunikativen Sequenzen auf der Ebene ihrer Beobachtung. Die dabei gewonnen empirischen Ergebnisse können durch eine weitergehende Systematisierung nach Maßgabe bestimmter Erkenntnisinteressen dann aufeinander bezogen und unter dem Gesichtspunkt ihrer tatsächlichen Interdependenz analysiert werden. 73 In jedem Fall weisen soziale Systeme eine „pluridimensionale Realität" auf. 74 Sie vollziehen sich in Abhängigkeit von hochkomplexen sozialen, natürlichen und technischen Umwelten und verweisen 70 Ders., Tiefensoziologie (Fn. 58), S. 1162-1167; ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 6), S. 73 ff.; ders., Problèmes de Sociologie Générale (Fn. 26), S. 158 ff. Vgl. dazu auch Phillip Bosserman, Dialectical Sociology. An Analysis of the Sociology of Georges Gurvitch, Boston, Massachusetts 1968, S. 110 ff.; Maria Henze, Gurvitch und die soziale Realität. Neue Richtlinien der Wirtschaftssoziologie, Berlin 1976, S. 26 ff. 71 „ [ . . . ] nous [ . . . ] recherchons [ . . . ] des cadres conceptuels opératoires d'une sciences particulière, dénommée sociologie [ . . . ] La sociologie en profondeur construit et délimite la réalité sociale en paliers plus ou moins artificiels pour aboutir à des cadres opératoires efficaces comme points de repère en vue de la recherche empirique," Gurvitch, La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 6), S. 72. 72 Vgl. hierzu die Marx-Kritik bei dems., Tiefensoziologie (Fn. 58), S. 1163; ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 6), S. 55 ff.; ders., Dialektik und Soziologie (Fn. 63), S. 145 ff. 73 Ders., Hyper-Empirisme Dialectique. Ses Applications en Sociologie, in: Cahiers Internationaux de Sociologie 15 (1953), S. 3 - 32,16 ff.; ders., Dialektik und Gesellschaft (Fn. 63), S. 223 ff. 74 Ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 6), S. 66; ders., Problèmes de Sociologie Générale (Fn. 26), S. 157. 6*

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dabei auf verschiedene institutionalisierte Werte und Normen, die somit in das Geschehen eingehen und es kontextabhängig strukturieren. 75 Dies hat zur Folge, daß im Verlauf einer Kommunikation unter den jeweils gegebenen natürlichen und technischen Umweltbedingungen ein Aktionsbereich erzeugt wird, in dem sich bestimmte normative wie faktische Strukturelemente niederschlagen. Deren Konstitututionsbedingungen können mit Blick auf ihre Funktionen zwar unterschieden werden. 76 Hierbei müsse jedoch unterstellt werden, daß sie in der jeweiligen sozialen Realität des Systems eine unauflösliche Einheit bilden: „Tous les paliers ou niveaux de la réalité sociale sont toujours essentiellement et indissolublement interpénétré. Isolé l'un de l'autre, ils cesseraient d'être des éléments de la réalité sociale. Ils sont toujours des moments du phénomène social total dans son unité irréductible et indécomposable."77 In jedem Fall gilt, daß die Beobachtung auf eine soziale Realität referiert, die in der Beobachtung in Ansatz gebrachten materiellen Ressourcen somit eine gesellschaftsexterne Umwelt des sozialen Systems darstellen. Als solche gehen sie in das System selbst nicht ein, führen also nicht zu einer Naturalisierung oder Technisierung der Gesellschaft in dem Sinne, daß Natur und Gesellschaft sich wechelseitig involvieren und eine gemeinsame Einheit bilden. 78 Dies ist ungeachtet der Relevanz, die Natur und Technik gerade auch im Hinblick auf die gesellschaftsinterne Konstruktion von Risiken und ihres sozialen Managements entfalten, 79 deshalb nicht der Fall, weil soziale und natürliche Systeme keinen unmittelbaren Kontakt unterhalten. 80 Natürliche bzw. technische Prozesse können der Kommunikation allenfalls als Medium dienen, indem kommunikative Prozesse selbst auf technische Apparaturen Bezug nehmen oder ihrerseits durch physikalische Gegebenheiten irritiert werden. Dies geschieht im Wege einer strukturellen Kopplung von sozialen und natürlichen Systemen, indem soziale Systeme Technik bzw. Natur voraussetzen und sich fortlaufend auf sie einlassen und ihnen vertrauen. 81 Jede Abhängigkeit sozialer Realitäten von ihrer materiellen Umwelt ist nach Gurvitch daher stets eine durch das soziale Handeln vermittelte. 82

75 Ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 6), S. 17 ff. 76 Ders., Déterminismes Sociaux et Liberté Humaine (Fn. 17), S. 103 ff. 77 Ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 6), S. 70. 78 Dies legen auch neuere Publikationen noch immer nahe; vgl. Kurt Klagenfurt, Technologische Zivilisation und transklassische Logik. Eine Einführung in die Technikphilosophie Gotthard Günthers, Frankfurt a. M. 1995, S. 19. 79 Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1996; Klaus Peter Japp, Soziologische Risikotheorie. Funktionale Differenzierung, Politisierung und Reflexion, Weinheim 1996. 80 Hierzu grundlegend Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einlassen?, 3. Aufl., Opladen 1990. 81 Ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1997, S. 532 ff. 82 Gurvitch, Problèmes de Sociologie Générale (Fn. 26), S. 158.

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c) Soziale Konstitution objektiven Sinns aa) Soziale Interaktion Nach allem kann konstatiert werden, daß die noch mit einer Terminologie des Bewußtseins bzw. der Kollektivpsyche umschriebenen sozialen Phänomene bei Gurvitch dasjenige bezeichnen, was im Anschluß an Max Weber in die modernen Theorien der Gesellschaft und des Rechts als „sozialer Sinn" Eingang gefunden hat. Der Begriff des sozialen Sinns bezieht sich auf die im Wege sozialer Aktivitäten fortlaufende Selektion von Handlungsmöglichkeiten, die in der Kommunikation und ihren normativen Strukturen stattfindet. 83 Damit wird deutlich, daß es sich bei der vorgängig erwähnten Unterscheidung zwischen Interaktionen („rapports avec autrui") einerseits und den sozialen Horizonten des Handelns oder Kommunizierens („Nous") andererseits nach Gurvitch nur um eine analytische handelt, die aus heuristischen Gründen gezogen wird. Mit dieser Differenz werden zwei Aspekte sozialer Systeme von der sozialen Realität typologisch abstrahiert, die im Bereich ihres Bezugsgegenstands, d. h. in der dynamischen Kommunikation „sozialer Totalphänomene", freilich zusammenfallen. 84 Es ist wichtig, dies für die folgende Darstellung festzuhalten, da andernfalls der unzutreffende Eindruck entstehen könnte, daß Gurvitch mit der Kategorie des sozialen Totalphänomens letztlich einer artifiziellen Unterscheidung zwischen dynamischer Interaktion und emergentem sozialen Sinn das Wort redet. Elementare Interaktionen werden nun dadurch erzeugt, daß Aktivitäten in bezug auf „die Realität des anderen" in Gang gesetzt werden. Diese Bezugnahme erschöpft sich aber nicht in einer psychischen Kognition; vielmehr wird das soziale Handeln von individuellen Bewußtseinsprozessen allenfalls „intuitiv" begleitet.85 In Übereinstimmung mit der in anderem Zusammenhang dargestellten Konzeption Webers entsteht der soziale Sinn eines Handlungs- oder Kommunikationszusammenhangs Gurvitch zufolge aus der wechselseitigen Bezugnahme bzw. Orientierung auf einen bestimmten sozialen Kontext, ohne daß die Sinnbeziehungen mit psychischen Phänomenen kurzgeschlossen werden können.86 Sofern Intuitionen 83 Vgl. Werner Krawietz, Recht als Regelsystem, Wiesbaden 1984, S. 58 ff., 110, 134; Niklas Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Jürgen Habermas/ders., Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?, 10. Aufl., Frankfurt a. M. 1990, S. 25-100; Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975, S. 40 f.; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5., re vidierte Aufl., besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen 1980, S. 1 f., 14 et passim. 84 Vgl. Gurvitch, La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 6), S. 119 ff. 85 Ders., Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 21), S. 134. 86 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Fn. 83), S. 1 ff.; vgl. hierzu § 2 2. b). Vgl. auch den Systembegriff Luhmann vor dessen autopoietischer Wende: „Handlungssysteme [sind solche], die aus konkreten Handlungen eines oder mehrerer Menschen gebildet sind und sich durch Sinnbeziehungen zwischen diesen Handlungen von einer Umwelt abgrenzen," Niklas Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1973, S. 8.

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der an der Kommunikation beteiligten Personen nach Gurvitch gleichwohl konstitutive Merkmale einer Interaktion sind, geht er wie Luhmann davon aus, daß der Systemtyp der Interaktion gegenüber anderen Sozialsystemen in besonderem Maße durch die Anwesenheit und wechselseitige Wahrnehmbarkeit der hieran beteiligten Personen strukturiert wird. So bestimmen sich die Grenzen eines Interaktionssystems typischerweise danach, was im System als anwesend behandelt werden kann. 87 Das Erleben anderer ist zwar ein selektiver psychischer Prozeß der Informationserzeugung. In dem Maße, in dem dies auch bei anderen der Fall ist, sich Personen also wechselseitig wahrnehmen und fremdes Erleben miterleben, wird sie jedoch zu einem sozialen Phänomen mit doppelter Kontingenz, bei dem das selektive Wahrnehmen seine Beliebigkeit verliert. Die systeminternen Prozesse werden dann in spezifischer Weise dadurch eingeschränkt bzw. strukuriert, daß Handeln und Erleben unter den Bedingungen der Anwesenheit innerhalb der Kommunikation nach Maßgabe einer Unterscheidung zwischen Anwesenden und Abwesenden zurückgerechnet wird. 88 Darüber hinaus erzeugen Interaktionssysteme im Verhältnis zu anderen Sozialsystemen ein relativ geringes Maß an Komplexität, da einzelne Kommunikationsbeiträge nur auf das jeweils aktuell kommunizierte Thema beschränkt und mehrere Themen nur nacheinander behandelt werden können.89 Da nach Gurvitch soziale Zusammenhänge keine Akkumulation co-präsenter Subjekte sind, kann ihm zufolge „jede Kommunikation [ . . . ] einzig und allein durch Vermittlung von Zeichen entstehen".90 Kommunikation kommt nur dann zustande, wenn bei den jeweiligen Selektionen der Beteiligten ein gleichzeitig präsenter und insoweit sachlich, zeitlich und sozial generalisierter Sinn vorausgesetzt wird. „Die vermittelnden Zeichen, die Symbole dienen also [ . . . ] als Ausgangspunkt" der Interaktion. 91 Sie fungieren als ein soziales Medium, welche für die Beteiligten die Bedingung der Möglichkeit darstellt, ihre Handlungen aufeinander zu beziehen. Ego und Alter ego müssen ein Mitteilungsverhalten wählen bzw. Zeichen gebrauchen, die auf beiden Seiten als gleichbedeutend behandelt werden, wenn Interaktionen begonnen und erfolgreich fortgesetzt werden sollen. 92 Erst 87

Hierzu und zum folgenden Luhmann, Soziale Systeme (Fn. 29), S. 560. „In sozialen Situationen kann Ego sehen, daß Alter sieht; und kann in etwa auch sehen, was Alter sieht. Die explizite Kommunikation kann an diese reflexive Wahrnehmung anknüpfen, kann sie ergänzen, sie klären und abgrenzen; und sie baut sich, da sie selbst natürlich auch auf Wahrnehmung und Wahrnehmung der Wahrnehmung angewiesen ist, zugleich in diesen reflexiven Wahrnehmungsprozeß ein," ebd.; vgl. ders., Einfache Sozialsysteme, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, 1. Aufl., Opladen 1975, S. 21-38, 22 f. 88

89 Ders., Interaktion, Organisation und Gesellschaft. Anwendungen der Systemtheorie, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, 1. Aufl., Opladen 1975, S. 9 - 2 0 , 10 f. 90 Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 21), S. 134.

Ebd. Vgl. ders., The Spectrum of Social Time, translated and edited by Myrtle Korenbaum, Dordrecht 1964, S. 49. 92

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durch die beiderseitige Verwendung schriftsprachlich kodifizierter Zeichen, durch den Vollzug bestimmter phonetischer Lautbildungen oder eines anderen physischen Verhaltens, denen jeweils eine spezifische und den Akteuren bekannte Bedeutung beigemessen wird, können die Akteure ihr Handeln aneinander orientieren. 93 Während einer Interaktionen projizieren beide Seiten einen objektivierten Sinn, der schon deshalb nicht im Bewußtsein der Akteure verankert sein kann, weil andernfalls ein Handeln des Alter ego für Ego über keinen Informationsgehalt verfügen und ein Anschlußhandeln dann blockiert wäre. Würde sich kommunikativer Sinn dem Bewußtsein verdanken, d. h. auf ein individuelles Meinen zurückführen lassen, käme eine Kommunikation gar nicht erst zustande. Allein die Tatsache, daß psychisches Erleben in der Kommunikation jedoch problemlos thematisiert werden kann, zeigt umgekehrt gerade, daß die Bedeutung eines individuell Erlebten und Intendierten hinsichtlich seiner Genese nicht mental verankert ist. 94

bb) Interaktion versus transzendentale Intersubjektivität Soweit die Objektivität von Interaktionen nach Gurvitch einen fortlaufenden Rekurs auf einen symbolisch objektivierten, sozialen Sinn voraussetzt, weist seine Konzeption zweifellos Bezüge zur phänomenologischen Soziologie von Alfred Schütz und den hieran anschließenden Theorien auf. Gewisse Übereinstimmungen mag darüber hinaus die parallele Semantik von „Nous" (bei Gurvitch) und „Wir" (bei Schütz) 9 5 nahelegen. So haben die phänomenologisch orientierten Soziologien ihren Ausgangspunkt bekanntlich in dem Versuch der Überwindung eines rein subjektiven Sinnbegriffs sowie einer Abkehr von der transzendentaltheoretischen Konstitution von Intersubjektivität. 96 Ihnen zufolge kann die Beschreibung sozialer Realitäten nicht bei einer Intersubjektivität im Sinne wechselseitig sich beobachtender Bewußtseine ansetzen; sie bedarf vielmehr einer Einbeziehung objektivierter Zeichensysteme und Sinnverweisungen. Derartige Objektivationen bilden bei Schütz neben den Zeichen der natürlichen Sprache die standardisierten und idealtypisierten Sinngehalte, welche die Akteure als abstrakte, auf konkret-individuelle Beobachtungen nicht zurechenbare Bedeutungen und Muster erfahren, an denen 93 Ders., La Vocation Actuelle de la Sociologie, Bd. 1 (Fn. 6), S. 139. 94 So mit Blick auf die funktionierende Kommunikation über individuelle Schmerzen: Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, hrsg. von G. E. M. Anscombe/Georg Henrik von Wright/Rush Rhees, Werkausgabe Bd. 1, 9. Aufl., Frankfurt a. M. 1993, §§ 243 ff., 256, 269, 271, 275, 293, 311; ders., Zettel, hrsg. von G. E. M. Anscombe und Georg Henrik von Wright, Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt a. M. 1984, §§ 547 f. Vgl. dazu Wilhelm Vossenkuhl, Wittgenstein, Frankfurt a. M. 1995, S. 239. 95 Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 1993, S. 230, 233 ff. 9 6 Vgl. ebd., S. 34 ff., 198 ff., 227 ff., 245 ff.; ders., Das Problem der transzendentalen Intersubjektivität bei Husserl, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 3, Den Haag 1971, S. 8 6 118.

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sich das Handeln orientiert und die ein Fremdverstehen überhaupt erst ermöglichen.97 Die Alltagswelt ist danach eine idealtypisch erlebte und insbesondere sprachlich verfaßte Sinnkonfiguration, d. h. eine generalisierte Umwelt und Mitwelt psychischer Sinnkonstitutionen also, die als vorstrukturierte, prägende Instanz ihrerseits die Bedingung sinnhafter Bewußtseinsprozesse darstellt. 98 Entscheidend ist, daß das „Zwischen" der Subjektivität dabei zwar als seinerseits sinnkonstituiertes Phänomen hinsichtlich seiner Funktion für subjektive Konstitutionsleistungen beschrieben wird, so daß Subjektivität und alles Wissen über das Alter ego nur im Rückgriff auf die ihr vorgeordneten intersubjektiven Strukturen einer Lebenswelt begründbar sind. 99 Den Versuch einer darüber hinausgehenden Erklärung der Genese und Dynamik überindividueller Sinnstrukturen bleibt aber bereits Schütz mehr oder weniger schuldig. 100 Geht er - in Frontstellung zum bewußtseinszentrierten Begriff der Intersubjektivität bei Husserl - einerseits davon aus, daß die Lebenswelt nicht in den Aktivitäten des transzendentalen Subjekts gründen, wird bei ihm die Lebenswelt nun umgekehrt ein „transzendentales Wir", 1 0 1 eine sowohl vom alltäglichen Handeln her als auch theoretisch immer schon vorauszusetzende Größe. Das Apriori des transzendentalen Subjekts von Husserl wird bei Schütz also lediglich durch ein ursprüngliches Gegebensein der Lebenswelt substituiert. 102 In diesem Sinne ist die Lebenswelt für Schütz „die ontologische Grundkategorie des menschlichen Seins in der Welt und somit aller philosophischen Anthropologie. Solange Menschen von Müttern geboren werden, fundiert Intersubjektivität und Wirbeziehung alle anderen Kategorien des Menschseins". 103 Und nicht anders steht auch für Luckmann im Anschluß an das Lebensweltkonzept von Schütz fest, daß eine phänomenologisch verfahrende Soziologie mit der Analyse „invariante[r] Strukturen des Alltagslebens" befaßt sei. 1 0 4

97 Ders., Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt (Fn. 95), S. 165 ff., 227 ff., 252 ff. 98 Vgl. Richard Grathoff, Milieu und Lebenswelt. Einführung in die phänomenologische Soziologie und die sozialphänomenologische Forschung, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1995, S. 168, 181. 99 „Die Grundrelation des Wir ist mir durch mein Hineingeborensein in die soziale Umwelt vorgegeben und aus ihr schöpfen erst alle meine Erfahrungen von dem im Wir beschlossenen Du und von meiner Umwelt als Teil unserer Mitwelt ihr ursprüngliches Recht," Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt (Fn. 95), S. 230. 100 Vgl. Hans Dieter Erlinger, Zeit - Zeitlichkeit - Zeiterleben bei Alfred Schütz, in: Rudolf Feig/ ders. (Hrsg.), Zeit - Zeitlichkeit - Zeiterleben, Essen 1986, S. 42-55, 47. 101

Schütz, Das Problem der transzendentalen Intersubjektivität bei Husserl (Fn. 96),

S. 111. 102 Vgl. Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1979, S. 25 ff. 103

Schütz, Das Problem der transzendentalen Intersubjektivität bei Husserl (Fn. 96),

S. 116. 104 Thomas Luckmann, Phänomenologie und Soziologie, in: Walter M. Sprondel / Richard Grathoff (Hrsg.), Alfred Schütz und die Idee des Alltags in den Sozialwissenschaften, Stuttgart 1979, S. 196-206, 205.

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Sosehr Schütz und seine Nachfolger mit Recht um den Aufweis bemüht sind, daß der jeweilige Sinn psychischen Erlebens und individuellen Handelns stets auf objektivierte Sinnstrukturen rekurriert, sosehr fehlt es an einer genaueren Analyse der Voraussetzungen, unter denen sich diese Strukturen konstituieren und im Wege des Handelns dynamisch fortschreiben. Dies liegt daran, daß sie die sozialen Phänomene der Lebenswelten zwar funktional unter dem Gesichtspunkt der Beschränkung situativen Handelns und Erlebens begreifen, aber in genetischer Hinsicht zu einer Angelegenheit subjektiver Sinnkonstitution erklären. Die Konstitution von Sinn erfolgt danach durch die ihrerseits psychische Einordnung einzelner intentionaler Bewußtseinsakte in die Einheit des verzeitlichten Bewußtseinssystems.105 Sinn entsteht, wenn man so will, auf der Grundlage einer selbstreferentiellen Verarbeitung einzelner fremdreferentiell gewonnener Erlebnisse eines von Akt zu Akt prozessierenden Bewußtseins. Dadurch daß das Bewußtsein solitäre Erlebnisse aufeinander bezieht und als ähnliche identifiziert, entwickelt es auf Dauer bestimmte Erfahrungsinhalte in bezug auf seine Umwelt. Von hier aus wird bei Schütz die Objektivität des Sozialen dann als in den Bewußtseinen der Akteure erarbeitete Schemata von anderen Akteuren, ihres Handelns und Erlebens des je eigenen Handelns und Erlebens ausgewiesen. Der elementare Mechanismus, auf dem Intersubjektivität beruht, sei nämlich die in den individuellen Bewußtseinssystemen konstituierte Synchronisierung eines wechselseitigen Sich-Erlebens: 106 Ego erlebt und versteht das Handeln des Alter ego durch die intentionale Beobachtung seines Verhaltens und Erlebens, wie auch Alter ego das Verhalten und Erleben des Ego nur durch eigene intentionale Beobachtungen erlebt. Im Verlauf seiner Geschichte kombiniert das Bewußtsein vielfältige Erfahrungen, da es Wiederholungen wahrnimmt und den Erlebnissen einen bestimmten, von anderen Ereignissen unterschiedenen Sinn verleiht. In einem zweiten Schritt abstrahiert es Sinn zu Idealtypen der erlebten Umwelt, zu Standards des Erlebens und Handelns also, die in gleicher Weise auch in den Bewußtseinen anderer Akteure konstituiert werden. 107 In dem Maße, in dem diese Sinnmuster zwar in den jeweiligen Psychen, also nicht erlebnisunabhängig, konstituiert, aber als Interpretationsfolie kongruent von vielen Akteuren gebraucht werden, sind sie ihrer Bedeutung nach nicht mehr einzelnen Bewußtseinen zurechenbar. In gleicher Weise werden die Zeichen der Sprache, die „kraft besonderer vorangegangener erfahrender Erlebnisse in [ . . . ] Deutungsschemata eingeordnet werden", 108 ausschließlich durch insoweit sinnhafte Bewußtseinsakte konstituiert. Deren Objektivität resultiere lediglich daraus, daß sie „unabhängig von den Zeichensetzenden und den Zeichendeutenden dem, was es bedeutet, einsinnig zuordnenbar" sind und das Schema deshalb eine Generalisierung erfährt. 109 Das geneti105 106 107 los 109

Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt (Fn. 95), S. 100 ff. Ebd., S. 137 ff. Ebd., S. 261 ff. Ebd., S. 168.

Ebd., S. 172. Vgl. zur Sprache als primäre Sinnobjektivation auch Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1984, S. 66.

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sehe Zentrum aller objektiven Sinnstrukturen bildet demnach das individuelle Bewußtsein. Objektivität hat ein sozial relevanter Sinn nur in dem Maße, in dem er bei einer Vielzahl von Akteuren und damit auf eine sachlich, zeitlich und sozial generalisierte Art und Weise als Deutungs- und Interpretationsmuster eine Orientierung sinnhaften Handelns ermöglicht. Da die phänomenologisch verfahrende Soziologie von Schütz letztlich nur nach den Bedingungen subjektiven Fremdverstehens fragt und alle Sinngebung auf ein Bewußtsein zurückführt, bleibt sie ungeachtet der von ihr angemahnten Überwindung des transzendentalen Subjektivismus Husserlscher Provenienz letztlich einem subjektzentrierten Verständnis von Intersubjektivität verpflichtet. 110 Das Handeln kann daher auch nicht von seinem objektiven, erst in den aufeinander bezogenen Aktivitäten konstituierten Sinn her konzepiert werden. Ganz im Gegenteil meint Schütz, Handlungen selbstverständlich auf intentionale Akte einer Person zurückführen zu müssen.111 Noch in den Nachfolgeprojekten der Theorie von Schütz bleibt das Problem einer subjektunabhängigen Genese objektiven Handlungssinns merkwürdig unerschlossen. Ähnlich Schütz verweisen Berger und Luckmann auf die sozial generalisierte Geltung von Sprache und Wissen in der Alltagswelt. Deren Objektivität begreifen sie nur im Sinne einer „Ablösbarkeit" von den Intentionen „des Subjektes ,hier und jetzt 4 ", um sie als subjektiv entworfene, aber kollektiv geteilte Sinntypen aus der Perspektive des Handlungsträgers dann, wie dies schon bei Schütz der Fall war, sogleich zu ontologisieren: „Die Wirklichkeit der Alltagswelt [ . . . ] ist einfach da - als selbstverständliche, zwingende Faktizität." 112 Ihre Konstitution bleibt jedoch den Intentionen wechselseitig sich beobachtender Bewußtseine vorbehalten mit der Folge, daß der sprachlich vermittelte Handlungssinn mit dem jeweils psychisch Gemeinten kurzgeschlossen werden könne: „Die ständige Hervorbringung vokaler Zeichen im Gespräch vollzieht sich synchron zu den jeweiligen subjektiven Intentionen der Sprechenden. Ich spreche und denke in