Der Kampf ums Recht: Forschungsband aus Anlaß des 100. Todestages von Rudolf von Jhering [1 ed.] 9783428484355, 9783428084357

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Der Kampf ums Recht: Forschungsband aus Anlaß des 100. Todestages von Rudolf von Jhering [1 ed.]
 9783428484355, 9783428084357

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Der Kampf ums Recht Forschungsband aus Anlaß des 100. Todestages von Rudolf von Jhering

Der Kampf ums Recht Forschungsband aus Anlaß des 100. Todestages von Rudolf von Jhering

herausgegeben von Gerhard Luf und Werner Ogris

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Der Kampf ums Recht : Forschungsband aus Anlass des 100. Todestages von Rudolf von Jhering / hrsg. von Gerhard Luf ; Werner Ogris. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 ISBN 3-428-08435-7 NE: Luf, Gerhard [Hrsg.]

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-08435-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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Herbert Hofmeister f Jhering in Wien

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Wolfgang Schild Der rechtliche Kampf gegen das Unrecht. Reflexionen zu Rudolf von Jherings Vortrag "Der Kampf ums Recht"

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Alexander Somek Die Kaserne des Egoismus. Jherings Genealogie der Moralitât

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Wolfgang Fikentscher und Ulrich Himmelmann Rudolph von Iherings Einfluß auf Dogmatik und Methode des Privatrechts

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Felix Ermacora 1 Rudolf von Jherings Brücke zum öffentlichen Recht

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Michael Kunze Rudolf von Jhering. Ein Forschungsbericht

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Vorwort A m 11. und 12. Dezember 1992 fand aus Anlaß der 100. Wiederkehr des Todestages Rudolfs von Ihering an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien ein Symposion statt, das von der Wiener Rechtshistorischen Gesellschaft, der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, Österreichische Sektion, und der Wiener Juristischen Gesellschaft gemeinsam veranstaltet wurde. Das Generalthema dieser Veranstaltung „Der Kampf ums Recht" wurde in bewußter Anknüpfung an den vor der Wiener Juristischen Gesellschaft im Jahre 1872 gehaltenen und berühmt gewordenen Vortrag formuliert. Ziel der Tagung sollte es im Sinne dieses Generalthemas sein, sich vornehmlich mit der Tätigkeit Iherings in seinen Wiener Jahren (1868 - 1872) auseinanderzusetzen. Z u diesem Zwecke wurden von renommierten Wissenschaftlern aus Deutschland und Österreich Vorträge gehalten, die sich mit dieser Thematik unter verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven, solchen der Rechtsphilosophie, der Methodenlehre der Rechtswissenschaften, der Rechtsgeschichte, des Privatrechts, des Zivilgerichtlichen Verfahrensrechts und des öffentlichen Rechts, zu nähern suchten. Die Publikation der Tagungsreferate verzögerte sich indes aus einem sehr traurigen Anlaß: dem Tod von Prof. Herbert Hofmeister, der im Sommer 1994 völlig unerwartet und unter tragischen Umständen verstarb. Prof. Hofmeister war es, der nicht nur als einer der Initiatoren und Referenten der Tagung fungierte, sondern auch die Herausgeberschaft übernommen und diese mit Engagement und wissenschaftlicher Kompetenz vorangetrieben hatte. M i t Prof. Hofmeister verlieren wir einen hervorragenden Wissenschaftler und einen liebenswerten Menschen, der an unserer Fakultät eine unausfüllbare Lücke hinterläßt. Wir haben es übernommen, im Sinne Prof. Hofmeisters die Fertigstellung der Publikation zu besorgen. Da der Text des Referats von Prof. Hofmeister nicht publikationsreif vorlag, haben wir uns um den Wiederabdruck seines Beitrages „Ihering in Wien" bemüht, der in dem von Prof. Okko Behrends herausgegebenen Sammelband „Rudolf von Ihering. Beiträge und Zeugnisse: aus Anlaß der einhundertsten Wiederkehr seines Todestages am 17.9.1992" im Wallstein Verlag erschienen ist. Wir danken Prof. Behrends und dem Wallstein Verlag herzlich für ihr Entgegen-

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Vorwort

kommen. Zusätzlich zu den Tagungsreferaten wurde in den vorliegenden Band ein Forschungsbericht von Michael Kunze aufgenommen. Besonderer Dank gilt der Wiener Juristischen Gesellschaft, die durch eine großzügige Spende die Tagung bzw. die vorliegende Publikation unterstützt hat. Die Erstellung der Druckvorlage besorgte Frau Brigitte Leopold-Slezak. Ihr sei für die gewissenhafte Arbeit herzlich gedankt.

Werner Ogris

Gerhard Luf

Jhering in Wien*} Von Herbert Hofmeister"'", Wien

I. Einleitung Der klassischen Darstellung Franz Wieackers 1 zufolge waren es die vier Wiener Jahre, die Rudolf von Jhering nach den Anfängen im „Geist des römischen Rechts ..." endgültig vom Saulus der pandektistischen Begriffsjurisprudenz zum Paulus der Interessenjurisprudenz wandelten. Der am 11. März 1872 in der Wiener Juristischen Gesellschaft gehaltene Abschiedsvortrag Jherings „Der Kampf um das Recht" (später unter der Bezeichnung „Der Kampf um's Recht" veröffentlicht) 2 soll das eigentliche „Damaskus" Jherings dargestellt haben, demzufolge ihm das subjektive Recht nun nicht mehr als „zur Befriedigung schutzwürdiger Interessen eingeräumte Willensmacht", sondern als ein „Mittel der Macht- und Interessendurchsetzung" erschienen sei. Der Verfasser dieser Zeilen gesteht offen, daß es dem Selbstgefühl eines österreichischen Rechtshistorikers stets Wohltat, in Vorlesung und Übung stolz darauf verweisen zu können, daß einer der brillantesten Köpfe der deutschen Juristenwelt gerade in Wien seinen für die juristische Nachwelt so folgenschweren Wandel vollzogen hat. Auch noch bei Übernahme des vorliegenden Artikels hoffte er insgeheim, trotz der von Okko Behrends 3

' Ursprünglich erschienen in: Okko Behrends (Hrsg.), Rudolf von Jhering, Beiträge und Zeugnisse. Aus Anlaß der einhundertsten Wiederkehr seines Todestages am 17.9.1992, 2., erweiterte Aufl. mit Zeugnissen aus Italien, Göttingen 1992, S. 38 - 48. Der Wiederabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers und des Wallenstein Verlages. 1 Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., 1967,451, sowie Wieacker, Jhering und der „Darwinismus" in: FS Larenz zum 70. Geburtstag, 1973, S. 63 ff., insbes. S. 74 ff. 2 1. Aufl. 1872; 3. (von mir benützte) Aufl. 1873; 20. Aufl. 1921. 3 R. v. Jhering, Über die Entstehung des Rechtsgefühles mit einer Vorbemerkung und einem anschließenden Interpretations- und Einordnungsversuch von O. Behrends, 1986, insbes. S. 55 ff.

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Herbert Hofmeister

erhobenen schwerwiegenden Einwände gegen die „Darwinismusthese" Wieackers doch noch ein wenig vom „Damaskuseffekt" Wiens retten zu können. In Wahrheit lagen dem Vortrag aber, wie zu zeigen sein wird, ganz andere Motive zugrunde, die zum Teil erst im Lichte der damals in Wien herrschenden Verhältnisse bzw. aus dem konkreten Anlaß heraus vollends deutlich und verständlich werden; mit einem Gesinnungswandel Jherings hat „der Kampf ums Recht" jedenfalls nichts zu tun. So wie beim zentralen Thema des „Kampfes ums Recht" läßt sich auch bei vielen anderen Ereignissen der „vier Wiener Jahre" zeigen, daß diese ohne genauere Kenntnis der lokalen historischen Rahmenbedingungen oft unverständlich bleiben müssen: Diese Feststellung trifft m. E. in besonderem Maße schon auf Jherings Berufung nach Wien zu, die ganz spezifischen politischen Verhältnissen und wissenschaftspolitischen Zielsetzungen zu verdanken ist. Auch der Weggang Jherings aus Wien ist von solchen Rahmenbedingungen maßgeblich mitgeprägt, wenngleich persönliche und familiäre Gründe hier im Vordergrund stehen. Diesen Zusammenhängen nachzugehen, ist eine der wichtigsten Aufgaben des folgenden Beitrages; darüber hinaus aber soll im Schlußteil auf die kaum zu überschätzende Bedeutung Jherings für die spätere Entwicklung der österreichischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung hingewiesen werden, die ohne „Jherings Wiener Jahre" wohl kaum diese Intensität angenommen hätte.

II. Jherings akademische Lehrtätigkeit in Wien 1. Die Berufung Zwei Gießener Briefe Jherings an Gerber (5. November 1867)4 bzw. an Windscheid (6. November 1867)5 enthalten erste Hinweise auf Bestrebungen des Unterrichtsministeriums in Wien, Jhering für die vakante Lehrkanzel des römischen Rechtes zu gewinnen. Der jetzige Justiz- und Unterrichtsminister in Wien, von Hye, habe ihm durch Siegel, so Jhering in dem Schreiben an Gerber, mitteilen lassen, daß er ihm gegenüber dem von der Fakultät ebenfalls vorgeschlagenen Brinz den Vorzug geben werde. Während sich Jhering in seinem Schreiben an Gerber zu dem Wiener Ansinnen noch recht zurückhaltend äußert und sogar erklärt, er würde sich

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Losano I, S. 632 ff. Ehrenbergbriefe, S. 219 ff.

Jhering in Wien

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„beruhigt fühlen, wenn man in Wien seine (absichtlich hochgeschraubten) Bedingungen ablehnte", enthält schon das knapp einen Monat später an Gerber gerichtete Schreiben (4. Dezember 1867)6 die kurzgefaßte Mitteilung über den Abschluß der Berufungsverhandlungen. Abgesehen von dem sowohl im Vergleich zu Gießen wie auch später zu Göttingen recht ansehnlichen Gehalt dürfte nicht zuletzt der zusätzlich zum Professorentitel in Aussicht gestellte Titel eines „wirklichen Hofrates" Jherings Annahmebereitschaft wesentlich gesteigert haben! Während sich Jhering in beiden Briefen an Gerber, offenbar, um jeden Zweifel an seinem Festhalten an seiner preußenfreundlichen Gesinnung zu zerstreuen, nüchtern und zurückhaltend äußert, bricht die Begeisterung über die mit Wien verbundenen Erwartungen in seinem Schreiben vom 28. Dezember 7 an Windscheid ungehemmt hervor: „Ihr werdet es nicht mißdeuten", so Jhering, „wenn ich Euch gestehe, daß ich in den jüngsten Geschikken meines Lebens den Finger der Vorsehung erblicke, und daß ich mit Wien erst den Punkt erreicht zu haben glaube, für den die Vorsehung mich bestimmt hat". Erste Rückschläge erlitt die Hochstimmung Jherings freilich anläßlich der Wohnungssuche Mitte Mai 18688, da die schließlich in der Josefstadt (Florianigasse 1) angemietete Wohnung an Größe und Geräumigkeit mit dem Gießener Hause nicht Schritt halten konnte. Ende August 1868 übersiedelte Jhering aber doch endgültig nach Wien. In einem Brief vom 10. Oktober 9 erwähnt er die Umstellungsschwierigkeiten, die die große und lärmende Stadt ihm, dem „geborenen und verhärteten Kleinstädter", anfänglich bereitete. Schon Anfang Oktober aber berichtet er an Gerber: „Ich befinde mich hier ganz behaglich und sehne mich im Mindesten nicht nach Gießen zurück". 2. Akademisches Wirken,

insbes. die Vorlesungstätigkeit

Jherings erste Tätigkeit auf dem Wiener akademischen Boden war seine Mitwirkung an den zu Semesterbeginn anberaumten kommissionellen Prüfungen. Erst am Freitag, dem 16. Oktober 186810 konnte er sich jener Aufgabe zuwenden, die er von Anfang an und auch später im Rückblick auf die Wiener Jahre als die „Glanzseite" seines Wiener akademischen Lebens be6 7 8 9 10

Losano I, S. 269. Ehrenbergbriefe, S. 221 ff. Vgl. Losano I, S. 642 ff. Vgl. Losano I, S. 644 ff. Vgl. Ehrenbergbriefe, S. 225 ff.

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zeichnet hat: den Vorlesungen. In seinem ersten Semester, dem Wintersemester 1868/69, las Jhering über „Institutionen und Geschichte des römischen Rechtes", achtstündig, vor zirka 200 Hörern, ferner ein PandektenPrakticum vor zirka 150 Hörern sowie eine in ähnlicher Form nur im Wintersemester 1870/71 wiederholte Vorlesung über die „allgemeine Theorie der Rechte im subjektiven Sinn" 11 . Die letztgenannte Vorlesung, über deren Inhalt wir leider nicht unterrichtet sind, war als sog. Publicum für Praktiker vorgesehen und daher auf Freitag nachmittag angesetzt. Die Beteiligung der Praktiker war jedoch, wie Jhering Oskar Bülow Ende Oktober mitteilte 12 , geringer, als er erwartet hatte. Das „Pandecten-Practicum" hingegen war eine Lehrveranstaltung mit Übungscharakter für Studenten. Obgleich Jhering schon von den ersten Stunden des Praktikums stolz berichtete, daß es ihm gelungen sei, die Teilnehmer „so ins Feuer zu brigen, daß sich sofort eine Diskussion entspann", und er das Praktikum als „vollkommen gesichert" ansah, hat er doch diese - seinen didaktischen Fähigkeiten am meisten entgegenkommende Lehrveranstaltung - nur dreimal (WS 68/69, SS 70 und WS 71/72) angeboten, zuletzt übrigens zum „doppelten Honorar". Die romanistischen Professorenkollegen Jherings in Wien verzichteten demgegenüber gänzlich auf die Durchführung von Praktika, Publika wurden hingegen beispielsweise auch von Arndts gelegentlich abgehalten. Das Glanzstück der Vorlesungstätigkeit Jherings in Wien, zumindest nach der Hörerzahl gemessen, bildete zweifellos die Vorlesung über die „Institutionen des römischen Rechts". Jhering hat diese Vorlesung entweder unter dem Titel „Institutionen" oder als „Institutionen und Geschichte (des römischen Rechtes)" in allen vier Wintersemestern seiner Wiener Lehrtätigkeit mit ständig zunehmendem Erfolg gelesen. Waren es anfangs zirka 200, so berichtet Jhering für das Wintersemester 1869/70 von zirka 340, später von über 400 Hörern 13 . Dies war übrigens das mehr als Zehnfache der Gießener Zahlen, die Jhering in seinen Briefen an Kollegen und Freunde stets sehr präzise mitgeteilt hatte. Betrachtet man das gesamte Vorlesungsangebot auf dem Gebiete des römischen Rechtes, so wird deutlich, daß Jherings Vorlesungen des Wintersemesters sowohl in zeitlicher wie thematischer Hinsicht in erster Linie mit jenen von Arndts kollidierten. Darin ist wohl auch die Ursache zu erblicken, daß der Letztere recht bald gegenüber der pädagogischen Übermacht Jherings kapitulierte und seit dem Wintersemester 1870/71 anstatt der Institu11 Vgl. die Vorlesungsverzeichnisse der Universität Wien, Rechts- und staatswissenschaftliche Facultät, WS 1868/69 bis SS 1872. 12 WieAnm. 10. 13 In: Ehrenbergbriefe, S. 279 (Brief vom 31. März 1872) nennt Jhering die Zahl von „415 Zuhörern in den Institutionen".

Jhering in Wien

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tionen „Römisches Erbrecht" nach seinem Lehrbuche der Pandekten zu lesen begann. Ein Anfang 1872 in den „Juristischen Blättern" veröffentlichter Bericht 14 schildert in sehr anschaulicher Weise Vortragsstil, Methode und Stoffauswahl der Jheringschen Institutionenvorlesung: „ I n richtiger Erkenntniß der Nothwendigkeit, daß dem Hörer schon beim Eintritte in das weite Gebiet juristischer Wissenschaft die Wärme und Sympathie für den Gegenstand seines Studiums gewonnen werden müsse", belaste Jhering den Anfänger „nur insoweit, als es unumgänglich notwendig ist, mit dem, den jugendlichen Geist oft abstoßenden Quellenstudium". Er gewinne ihn vielmehr mit einem „interessanten Geschichtsbilde, überwiegend culturhistorischer und mehr rechtsphilosophischer als rechtshistorischer Natur". In seinem (jeweils im Sommersemester abgehaltenen) „Pandecten-Collegium" habe Jhering „jene Maxime zugrundegelegt, von der er in seinem 'Geist des römischen Rechts' erklärt, daß sie die Bedeutung des römischen Rechts für die moderne Welt ausmache: „Durch das römische Recht, aber über dasselbe hinaus!" In Rücksicht auf diese Maxime habe Jhering auch seine Stoffauswahl vorgenommen, indem er die vom „specifisch römischen Formalismus" geprägten Materien wie z. B. das Familienrecht, das Erbrecht vernachlässigt und etwa das Obligationenrecht bevorzugt habe, „das zum kleinsten Theile mit eigenthümlich römischen Auffassungen und Culturverhältnissen zusammenhängt, der modernen Rechtsanschauung und dem heutigen Rechtsverkehr am meisten entspricht". Charakteristisch für Jherings Pandektenvorlesung sei ferner „die besondere Betonung des casuistischen Elementes 15, die reiche und treffende Exemplification der theoretischen Darstellung". Den Zweck des Pandektenpraktikums habe Jhering selbst mit folgenden Worten umschrieben: „Das Abstracte in seiner Verkörperung am Rechtsfalle vorzuführen und den für sein (des juristischen Anfängers) Auge noch kaum sichtbaren oder verschwimmenden Umrissen einen concreten, leicht zu fassenden und fest sich einprägenden Inhalt zu geben". 3. Motive und (wissenschafts politische Bedingungen ßr Jherings Berufung Welche Motive Jhering dazu bewogen haben könnten, sein beschauliches Dasein in Gießen aufzugeben und dem Ruf in die große und lärmende Kaiserstadt Wien Folge zu leisten, läßt sich aus seinem Briefverkehr mit Gerber, Bülow, Windscheid, Glaser u.a. ziemlich genau beantworten.

14 15

Juristische Blätter (im folgenden: JB1) 1872, S. 4 f. Hervorhebung im Original.

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Die Gießener Lehrtätigkeit hatte Jhering in den letzten Jahren vor seinem Weggang nach Wien immer weniger befriedigt, zumal die Hörerzahlen in seinen Vorlesungen stagnierten und zeitweise sogar zurückgingen 16 . Als bedrückend empfand Jhering in Gießen auch den nahezu vollständigen Mangel anregender wissenschaftlicher Kontakte mit Kollegen 17 , insbesondere seit sein engster Gießener Vertrauter, Heinrich Siegel, 1857 nach Wien berufen worden war. Sieht man von Gerber, Windscheid und Bülow ab, so befanden sich im Entscheidungsjahr 1867 die meisten Personen, zu denen Jhering ständig wissenschaftlichen Kontakt gepflogen hatte, in Wien. Neben Heinrich Siegel18 handelt es sich hierbei vor allem um die ihm von den deutschen Juristentagen her bekannten Professoren des Zivilrechts, Joseph Unger 19 , bzw. des Strafrechts und Strafprozeßrechts, Julius Glaser 20 . Darüber hinaus wirkte ein Bekannter aus der Kieler Zeit, Lorenz von Stein 21 , als Professor der politischen Ökonomie in Wien; dieselbe Funktion bekleidete übrigens Albert Schäffle 22, der vor seinem Übertritt ins Ministerium Hohenwart mit Jhering in engere freundschaftliche Kontakte trat, wiewohl er mit Jherings Freund Gerber seit deren gemeinsamer Tübinger Zeit auf schlechtem Fuße stand. Das enge freundschaftliche Verhältnis Jherings zu Siegel, Glaser und Unger hat diesem zweifellos auf Fakultätsebene die Wege nach Wien geebnet; als eigentlich ausschlaggebend muß aber der Entschluß des damaligen Unterrichts- und Justizministers Anton Freiherr von Hye-Gluneck 23 angesehen werden, Jhering mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln für Wien zu gewinnen. Darüber hinaus aber lassen auch Persönlichkeit und spätere Bemerkungen Hye-Glunecks im Zusammenhang mit dem Weggang Jherings im Jahre 1872 Rückschlüsse auf die eigentlichen Beweggründe zu, die den Minister zur Berufung Jherings bewogen hatten. Wie Hans Lentze 24 in seiner grundlegenden Schrift über die Thun'sche Studienreform von 1855 ausführt, zählte Hye zu den wenigen deklarierten 16

Hierzu etwa Losano I, S. 106 f. Vgl. insbes. Ehrenbergbriefe, S. 108 ff. (aus 1859). 18 Über ihn vgl. A. Luschin v. Ebengreuth, ZRG GA 20 (1900) VII sowie H. Lentze, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, 1962, S. 261 f., 266 f. mit weiterführender Lit. in Fn. 33. 17

19

G. JQeinheyer - J. Schröder, Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten, 3. Aufl., 1989, S. 308 ff.; W. Brauneder, in: Juristen in Österreich, 1987, S. 177 ff. 20 W. Schild, in: Juristen in Österreich, S. 184 ff. 21 Kleinheyer - Schröder, S. 279 ff.; E. Volkmar Heyen, in : Juristen in Österreich, S. 160 ff. 22 Vgl. Losano II, S. 399. 23 G. Oberkofler, in: Juristen in Österreich, S. 152 ff. 24 Universitätsreform (wie Anm. 18), S. 134 ff.

Jhering in Wien

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Gegnern Thuns an der Wiener juridischen Fakultät. Hye, der neben seiner Strafrechtsprofessur auch als Hofrat im Justizministerium tätig war, kritisierte die Thun'sche Reform wegen ihrer einseitigen rechtshistorischen Ausrichtung im Sinne der historischen Schule Savignys und der gänzlichen Zurückdrängung der Rechtsphilosophie, die im vormärzlichen Studiensystem das zentrale Grundlagenfach des Rechtsstudiums gebildet hatte. Seine Abneigung gegen die Rechtsphilosophie im Sinne des vormärzlichen Naturrechts wie auch der hegelianischen Strömungen resultierte bei Thun aus der Überzeugung, daß dem rechtsphilosophischen Unterricht eine erhebliche Mitschuld an der revolutionären Gesinnung der Studenten und vieler Professoren des Jahres 1848 zuzuschreiben war. Mit der Förderung der Rechtsgeschichte im Sinne der historischen Schule Savignys verband Thun die - freilich trügerische - Hoffnung, sie werde die Studenten zu einer konservativen Geisteshaltung hinführen 25 . Hye hielt, in offener Opposition zu Thun, diese „Verketzerung" der Rechtsphilosophie für ungerechtfertigt und wandte sich gleichzeitig gegen die einseitige Betonung der reichsdeutschen rechtshistorischen Schule im Sinne Savignys. Er vertrat demgegenüber ein Konzept der Vereinigung von Rechtsphilosophie und Rechtsgeschichte: „Nur wo Historie und Philosophie sich die Hand reichen und eng verbündet nach der Wahrheit suchen, geht die Erkenntniß in vollem Glänze auf" 26 . Für Hyes Opposition gegen sein Reformprogramm des juristischen Studiums rächte sich Minister Thun auf eine Weise, die selbst unter den politischen Rahmenbedingungen des sog. Neoabsolutismus äußerst ungewöhnlich war und großes Aufsehen hervorrief: Unter dem Vorwand der Unvereinbarkeit von Hyes Position im Justizministerium mit der Professur an der Wiener Fakultät enthob Thun Hye, der der Wiener Fakultät dreizehn Jahre angehört hatte, im Jahre 1854 seines Amtes. Ähnlich radikal wie bei der Ausschaltung Hyes ging Thun auch bei seiner Berufungspolitik vor. Während die Wiener Fakultät in ihren Berufungsvorschlägen zum Teil Vertreter der vormärzlichen exegetischen Richtung bzw. Hegelianer in Vorschlag brachte, ernannte Thun praktisch ausschließlich Anhänger der in Österreich neuen rechtshistorischen Richtung: Georg Phillips (1851), Ludwig Arndts (1855), Joseph Unger (1856), Heinrich Siegel (1857). Mit Ausnahme des noch aus der vormärzlichen Periode stammenden Theodor Pachmann, der 1870 emeritierte, rekrutierte sich die Schar der Rechtshistoriker, auf die Jhering im Jahre 1868 in Wien traf, nahezu ausschließlich aus Thun-Günstlingen der Fünfzigerjahre. 25

Hierzu und zum folgenden vgl. auch W. Ogris, Die historische Schule der österr. Zivilistik,26in: FS Lentze, 1969, S. 449 ff. v. Hye-Gluneck, Das österr. Strafgesetz ... 1,1855, XX.

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U m Hyes Absichten im Zusammenhang mit der Berufung Jherings vollends deutlich zu machen, muß das Augenmerk vor allem auf einen aus dem Kreis der eben Genannten gerichtet werden, nämlich auf Ludwig Arndts (von Arnesberg) 27 . Abgesehen von seiner Zugehörigkeit zur Frankfurter Nationalversammlung wies Arndts alle Vorzüge eines „Paraderomanisten" im Sinne der Thun'schen Reformideen auf: Arndts war katholisch, konservativ und überdies Vertreter einer streng begriffsjuristischen Darstellungsmethode der Pandekten im Sinne Puchtas. Vergleicht man Arndts mit Jhering, so läßt sich sowohl im persönlichen Auftreten wie in der wissenschaftlichen Methode kaum ein größerer Gegensatz denken. Arndts galt zu jener Zeit, als Jhering nach Wien berufen wurde, in der Fachwelt geradezu als Hauptrepräsentant einer streng dem Begrifflichen verhafteten Pandektenlehre, Jhering hingegen als der Vorkämpfer einer freien, von den Fesseln der Schuldoktrin entbundenen Methode. Auch das Verhältnis der beiden zur juristischen Praxis war ein gänzlich verschiedenes, worüber unter Punkt III. noch näher zu sprechen sein wird. Nach der oben geschilderten Vorgeschichte ist es kaum verwunderlich, daß der gemäßigt-liberale Hye, als er im Jahr der Dezemberverfassung zum Amte des Justiz- und Unterrichtsministers gelangte, den dringenden Wunsch verspürte, die Ergebnisse der Thun'schen Berufungspolitik in dem für ihn schmerzlichsten Punkt zu korrigieren. Gerade dem sowohl in politischer wie auch methodischer Hinsicht getreuesten Gefolgsmann Thuns, eben Arndts, war die in pädagogischer Hinsicht vielleicht wichtigste Vorlesung des ganzen Studiums, die Institutionenvorlesung des Wintersemesters, anvertraut! Gegenüber der steifen, sich in begriffsjuristischer Manier in dogmatische Details verlierenden Methode Arndts' mußte Hye die im „Geist des römischen Rechts" praktizierte Arbeitsmethode Jherings als optimale Verwirklichung der von ihm schon in den Fünfzigerjahren geforderten Verbindung von Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie erscheinen. Demgemäß hob Hye auch in seiner Dankesrede an Jhering von 187228 hervor, daß dieser in seiner Hauptschrift und in seinen Vorlesungen weniger das römische Recht in seinen geschichtlichen Ausprägungen als den „Geist des Rechtes überhaupt" zur Darstellung gebracht habe. Aus dem Blickwinkel der vorangegangenen knapp zwei Jahrzehnte österreichischer juristischer Wissenschaftsgeschichte war Jherings Berufung von 1868 also eine späte Revanche der Gegner der einseitigen Begünstigung der rechtshistorischen Methode durch Thun, ein später Versuch, das in den 27

Lentze, Universitätsreform, S. 145 ff.; Losano I, S. 334; H. Demelius, Drei Pandektisten über das österr. ABGB, in: Festheft Schönbauer, 1965, S. 8 ff., insbes. S. 18 ff. 28 JB11872, S. 29.

Jhering in Wien

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Fünfzigerjahren eingetretene krasse Mißverhältnis zu Lasten der Rechtsphilosophie wieder ins Lot zu bringen. Im Mittelpunkt dieser Bestrebungen stand Hye, der in Jhering den idealen Verkünder der zwischen Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie vermittelnden Methode erblickte und damit zweifellos auch recht behalten hat. Die Lehrerfolge Jherings in Wien übertrafen selbst die kühnsten Erwartungen; für „Jherings vier Wiener Jahre" triumphierte die „historisch-philosophische" Methode über die begriffsjuristische. Auch in politischer Hinsicht ist Jherings Auftreten in Wien als Signal für den Sieg der gemäßigt Liberalen gegenüber den Konservativen anzusehen. Während diese politische Neuorientierung noch mehrere Jahrzehnte nachwirkte, blieb der Durchbruch der „historisch-philosophischen" Richtung Episode. Sowohl der für die Jhering-Nachfolge erstgereihte Alois Brinz wie auch Adolf Exner, dem schließlich die Jhering-Nachfolge zufiel 29 , sind eindeutig der begriffsjuristischen, nicht der „historisch-philosophischen" Richtung Jherings zuzuordnen! Hier zeigte sich eben, daß eine elementare Erscheinung wie Rudolf von Jhering innerhalb derselben Wissenschaftlergeneration nicht adäquat ersetzt werden konnte! Ungeachtet dessen aber muß dem Nachfolger Jherings, Adolf Exner 30 , konzediert werden, daß er zu den brillantesten Köpfen der Begriffsjurisprudenz zählte und auch in pädagogischer Hinsicht an seinen genialen Vorgänger fast heranreichte.

I I I . Jherings Weggang aus Wien; der „Kampf ums Recht" als Abschiedsgeschenk an die Wiener Praktiker 1. Das „Klima"

und andere Gründe für den Weggang Jherings aus Wien

Schon seit 1869 häuften sich in den Briefen 31 Hinweise auf das „abscheuliche Wiener Klima", das sich seiner Meinung nach sehr negativ auf die Arbeitskraft auswirke. Das „Klima" im metereologischen Sinne hat Jhering dann schließlich auch bei mehreren Gelegenheiten als eigentliche Ursache für seinen Weggang aus Wien bezeichnet. Da Jherings Briefe nähere Andeutungen vermissen lassen, bleibt bei der metereologischen Komponente des „Klimas" unklar, welche Unbillen (ständiger Westwind, gelegentliche Föhn-Wetterlagen?) er im einzelnen meinte. Deutlicher wird Jhering schon bei einer zweiten Komponente des „Wiener Klimas", nämlich beim gesellschaftlichen Leben. Anfänglich hatte ihn die große Zahl von Einladungen, Konzert- und Opernbesuchen, Festessen etc. begeistert, da das turbulente Wiener Gesellschaftsleben einen willkommenen Kontrast zur kleinstädti29

30 31

Näheres bei Ogris, FS Lentze, S. 460, insbes. Fn. 48. H. Hoyer, in: Juristen in Osterreich, S. 205 ff. Vgl. etwa Losano I, S. 650 ff., 661 f., 672 ff.

2 Jhering-Symposium

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sehen Enge Gießens bedeutete und ihm über die durch den Tod der zweiten Gattin verursachte depressive Stimmungslage hinweghalf. Schon im Frühjahr 1869 aber beginnt sich die Attraktivität des Wiener Gesellschaftslebens deutlich abzuschwächen, und es tritt nun die Sorge Jherings hervor, er und seine Kinder könnten an der wienerischen Lebensweise Schaden nehmen. Nicht zuletzt um dieser Gefahr zu entgehen, entschloß sich Jhering im August 1868 zur Verlobung mit der Erzieherin seiner Kinder 32 , noch im selben Jahr erfolgte Jherings (dritte) Verehelichung und der Umzug in eine neue Wohnung in Wien-Landstraße. Obwohl die eben geschilderten persönlichen und familiären Beweggründe allein schon ausgereicht hätten, Jherings Wunsch nach einer Rückkehr zu den ruhigeren Lebens- und Arbeitsbedingungen einer deutschen Universitätsstadt zu besiegeln, haben aber gewiß auch die im folgenden zu besprechenden Veränderungen des politischen Klimas sowie auch des Fakultätsklimas Jhering in seinem Entschluß zum Weggang aus Wien noch bestärkt. Jherings Berufung nach Wien war in einer Zeit erfolgt, in der sich der österreichisch-preußische Gegensatz33 vorübergehend etwas entspannt hatte. Österreich hatte zwar in Königgrätz eine vernichtende Niederlage gegen Preußen und dessen Verbündete erlitten, es besserte sich das Verhältnis zwischen Preußen und Österreich jedoch infolge der auf Initiative Bismarcks maßvoll abgefaßten Friedensbedingungen von Prag. Unter diesen politischen Rahmenbedingungen war es Hye 1867 möglich, den als Preußenfreund bekannten Jhering nach Wien zu berufen, umgekehrt konnte dieser einen Ruf nach Wien annehmen, ohne deshalb des Verrats an seiner preußenfreundlichen Gesinnung geziehen zu werden. Das politische Verhältnis Österreichs zu Preußen verschlechterte sich jedoch wieder zusehends, als das letztere 1869/70 in seiner Eigenschaft als Führungsmacht des Norddeutschen Bundes sichtlich einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Frankreich zustrebte und sich im Hintergrund bereits die Absicht der Reichsgründung unter Einbeziehung der süddeutschen Staaten abzeichnete. Im Hinblick auf die sich bietende Gelegenheit, die Niederlage von Königgrätz zu revidieren, traten viele gewichtige Stimmen sogar für einen Kriegseintritt Österreichs auf der Seite Frankreichs ein. Zwar entschied sich Österreich im Juli 1870 zur Neutralität, das Gros der geistigen und kulturellen Führungsschicht sympathisierte jedoch mit Frankreich. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn Jhering in seinem Brief an Bülow vom 23. August 187034 mitteilt, daß „die wenigen meiner Bekannten, die in der Stadt anwesend sind, ... zu den Österreichern 32 33 34

Vgl. Losano I, S. 654 ff. Vgl. hierzu etwa D. Willoweit, Ehrenbergbriefe, S. 251 ff.

Deutsche Verfassungsgeschichte, 1990, S. 234 ff.

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alten Schlages gehören, denen die Preußen ein Dorn im Auge sind". Auch unter den Wiener Fakultätskollegen Jherings überwogen die Gegner Preußens bei weitem; eine Ausnahme machte lediglich Heinrich Siegel, der denn auch der einzige war, mit dem Jhering seine Begeisterung über die preußisch-deutschen Siege in Frankreich teilen konnte. Jhering, der zwar schon immer preußenfreundlich gesinnt war, aber Bismarck vor Königgrätz kritisch gegenüberstand, hatte sich seit Königgrätz und nun vor allem unter dem Eindruck der preußischen Siege in Frankreich zu einem geradezu emphatischen Bismarck-Verehrer gewandelt 35 . Da Jhering befürchten mußte, mit seiner Kriegsbegeisterung und Bismarck-Verehrung selbst bei seinen engsten Freunden (mit Ausnahme Siegels) Anstoß zu erregen, mied er im Sommer 1870 und noch einige Zeit danach alle Gespräche über die akuteilen Ereignisse, wodurch er geradezu in eine Isolation geriet; dies umso mehr, als ein erheblicher Teil der Studenten im Gegensatz zum Großteil der Professoren deutschnational gesinnt war und sich daher zwischen den studentischen Gruppen einerseits und diesen und dem Lehrkörper andererseits schwere Konflikte abzuzeichnen begannen. Auch die noch unten näher zu besprechende Abschiedsadresse der Wiener Studenten an Jhering entbehrte demnach nicht ganz der politischen Brisanz! I m übrigen war auch ein Mitglied von Jherings Familie, dessen ältester Sohn Hermann, in die neu aufgeflammten preußisch-österreichischen Spannungen verwickelt: Hermann studierte zwar damals in Gießen, war aber bei einem Ferienbesuch in Wien (als österreichischer Staatsbürger) in die Liste der Militärpflichtigen eingetragen worden und hatte auch den Fahneneid geleistet. M i t Zustimmung seines Vaters trat Hermann jedoch als Freiwilliger auf Kriegsdauer in ein hessisches Infanterieregiment ein, ein Vorgehen, das bei einem Kriegseintritt Österreichs auf Seiten Frankreichs zweifellos für Sohn und Vater größte Probleme mit sich gebracht hätte. So aber konnte sich Hermann von Jhering in seinen 1912 niedergeschriebenen Erinnerungen 36 an seinen Vater rühmen, „der einzige Soldat", gewesen zu sein, „den Österreich damals den späteren Allierten ins Feld gestellt hatte". Kaum waren die preußisch-österreichischen Spannungen infolge der Niederlage Frankreichs und der Reichsgründung wieder etwas abgeklungen, führten neue innenpolitische Entwicklungen zu großer Unruhe an der Wiener Universität, zumal ein engerer Fakultätskollege Jherings, Albert Schäffle 37, dem Ministerium Hohenwart als Handelsminister angehörte. Mi35

Vgl. die Briefe an Glaser vom 1.5.1866 (vor Königgrätz) und vom 19.8.1866 (nach Königgrätz), in: Ehrenbergbriefe, S. 196 ff. bzw. S. 202 ff. 36 37

2*

Ehrenbergbriefe, S. 450 f. Vgl. oben bereits Anm. 22.

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nisterpräsident Carl Graf Hohenwart und sein Handelsminister Schäffle waren die Hauptakteure des konservativ-föderalistischen Zwischenspiels38 von 1871: Hohenwart versuchte, die Benachteiligung des slawischen Elements in der Donaumonarchie durch Autonomieentwürfe für Galizien und Böhmen zu überwinden, scheiterte aber am Widerstand der Deutschliberalen und der Ungarn. Wie bei vielen anderen kritischen Beobachtern mußte auch bei Jhering die Niederlage des Ministeriums Hohenwart-Schäffle die Überzeugung hervorrufen, daß die Nationalitätenfrage der Donaumonarchie mit friedlichen Mitteln nicht gelöst werden konnte 39 und in absehbarer Zeit den Zerfall des multinationalen Großreiches zur Folge haben würde 40 . Diese negative Einschätzung der österreichischen politischen Verhältnisse einerseits und die preußisch-deutschen Siege über Frankreich andererseits, die in Jhering das Gefühl hervorriefen, in der „großen Zeit der Reichsgründung" dem Zentrum der maßgebenden Ereignisse entrückt zu sein, verstärkten zweifellos den Wunsch, an eine deutsche Universität zurückzukehren. 2. Der „Kampf ums Recht" als Abschiedsgeschenk an die Wiener Praktiker Schon in der „Einleitung" dieses Beitrags wurde angedeutet, daß das eigentliche Anliegen Jherings und sohin auch der Inhalt des Vortrages erst verständlich werden, wenn man sich näher mit dem äußeren Anlaß und den Rahmenbedingungen befaßt > unter denen Jhering den „Kampf ums Recht" vortrug. Zum Zwecke eines besseren Verständnisses dieser Bedingungen müssen wir wieder auf die Thun'sche Studienreform von 1855 zurückgreifen. Ein Hauptziel dieser Reform war ja nicht zuletzt die „Verwissenschaftlichung" 41 des Rechtsunterrichts nach reichsdeutschem Vorbild. Z u den Schattenseiten dieser Verwissenschaftlichung zählte die Entfremdung zwischen Universität und Praxis: Die meisten Professoren der „neuen Richtung" wurden anfänglich aus Deutschland berufen, die „zweite Generation" (wie etwa Adolf Exner) gelangte meist in sehr jungen Jahren zum Lehramt, ohne mit der Praxis in nähere Berührung gekommen zu sein. Die „Emanzipation" der wissenschaftlichen Lehre gegenüber der Praxis war jedoch keineswegs ein bloß auf Einzelpersonen bzw. die rechtswissenschaftlichen Studien beschränktes Phänomen. Die schon der Thun'schen Studienreform zugrundegelegte Tendenz, die vom aufgeklärten Absolutismus in den Dienst der „Nationalerziehung" gestellte Universität durch eine im Sinne des Hum38

F. Walter/A. Wandruszka, Osterr. Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte von 1500 bis 1955,1972, S. 242 ff. 39 Vgl. hierzu Losano I, S. 688 („eine Stimmung,..., wie sie anderwärts nur Revolutionen vorauszugehen pflegt"). 40 Vgl. hierzu Ehrenbergbriefe, S. 251 ff. 41 Ogris, FS Lentze, S. 496.

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boldt'schen Universitätsideals auch funktionell autonome Universität zu ersetzen42, verstärkte sich insbesondere seit der Erlassung der Dezemberverfassung von 1867 immer mehr. Augenfälligstes Ergebnis dieses Paradigmenwechsels war die durch Gesetz vom 27.4.1873 (RGBl Nr. 63) angeordnete Aufhebung der sog. „Doktorenkollegien", deren geborene Mitglieder die aus den Fakultäten hervorgegangenen Doktoren waren, denen aber im Bereich der Juristischen Fakultät auch alle auswärtigen Doktoren angehören mußten, die in Wien als Advokaten praktizieren wollten. Während Jherings Wiener Tätigkeit bestanden die Doktoren-Kollegien zwar noch und demgemäß ist in der von der Universität Wien alljährlich herausgegebenen „Übersicht der akademischen Behörden" neben dem Dekan des Professoren-Kollegiums auch stets ein Dekan des Doktoren-Kollegiums angegeben; die Diskussionen über die Aufhebung der Doktoren-Kollegien waren aber zu jener Zeit schon in vollem Gange, und es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, daß es sich hierbei um die wichtigste akademische Tagesfrage in Jherings Wiener Jahren handelte. Parallel zu dem eben geschilderten Trennungsprozeß, der von vielen Praktikern der alten Schule als überaus schmerzlich empfunden wurde, versuchten die juristischen Praktiker schon seit Beginn der Sechzigerjahre einen eigenständigen Weg praxisbezogener Wissenschaftlichkeit zu beschreiten. Eine wichtige Rolle kommt hierbei dem 1860 ins Leben gerufenen Deutschen Juristentag zu, an dem von Anfang an auch österreichische Wissenschaftler und Praktiker teilnahmen und aktiv mitwirkten. I m selben Jahre kam es in Wien zur Gründung des „Vereines zur Übung gerichtlicher Beredsamkeit", an dessen Stelle 1867 die „Wiener Juristische Gesellschaft" trat 43 . Hauptinitiator dieser Gesellschaft, deren Ziel die wissenschaftliche Berufsfortbildung der juristischen Praktiker darstellte, war die jüngere Advokatengeneration Wiens, die auf diese Weise der freien Advokatur ein wissenschaftliches Sprachrohr verschaffen wollte; wichtigster Förderer der Gesellschaft war Justizminister Hye-Gluneck. Über Unger und Siegel hatte Jhering schon seit Mitte der Fünfzigerjahre Kontakte zu Wien; zweifellos aber hatten die Deutschen Juristentage, insbesondere der Juristentag von Wien (1862) 44 , maßgeblichen Anteil daran, daß Jhering schon lange vor seiner Berufung nach Wien auch zu führenden Persönlichkeiten der österreichischen Rechtspraxis, und hier wieder insbesondere zu Hye, enge Beziehungen pflegte. Die Hochschätzung, deren sich Jhering schon vor 1868 in Wiener Praktikerkreisen erfreute, kommt nicht 42

Klare Herausarbeitung der gegensätzlichen Zielrichtungen bei H. Baiti , Die Österreichische Rechtsgeschichte, in: FS Lentze, S. 35 ff. 43 Vgl. hierzu Ogris, 100 Jahre Wiener Juristische Gesellschaft, JB11969, S. 246 ff. 44 Vgl. Ogris, JB11967, S. 246.

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zuletzt zum Ausdruck in der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft des Wiener Juristischen Doktorenkollegiums im Jahre 1865 (500-Jahr-Feier der Universität Wien). Abgesehen von der von den Praktikern als wohltuend empfundenen prinzipiellen Gegnerschaft Jherings zur begriffsjuristischen Methode hatte diesem vor allem die Herausgabe seiner „Civilrechtsfälle ohne Entscheidungen" 4 5 sowie auch die Abhaltung von Praktika während seiner Wiener Vorlesungstätigkeit zusätzliche Sympathien eingetragen. M i t seinem am 11. März 1872 in der „Wiener Juristischen Gesellschaft" gehaltenen Vortrag „Der Kampf um das Recht" 4 6 aber avancierte Jhering endgültig zum Heros einer ganzen österreichischen Praktikergeneration; dies wird nur verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, in welchem Ausmaß die in diesem Vortrag enthaltenen Aussagen Jherings den Wünschen und Erwartungen seiner Zuhörer entgegenkamen. Jhering leitet seinen Vortrag mit einer Bestimmung des eigenen methodischen Standortes ein: Nicht jener auf Savigny zurückgehenden und in der romanistischen Wissenschaft derzeit herrschenden Auffassung fühle er sich verpflichtet, „welche den Begriff des Rechts an den der Ruhe und der Ordnung knüpft" und die Entwicklung des Rechts „aus der Macht der rechtlichen Überzeugung" ableite, sondern derjenigen, die das Recht als Ergebnis eines Kampfes von Interessengegensätzen begreife und als solche auch den Praktikern eigen sei. In seinem Wissen um diese „Kehrseite" des Rechts erblickt Jhering die eigentliche geistige Gemeinsamkeit mit den Praktikern: „Sie, meine Herren, als praktische Juristen, wissen es, daß das Recht zugleich Kampf ist, und daß Sie vor allem dazu berufen sind, in diesen Kampf einzutreten, ihn auf der einen Seite zu fördern, auf der anderen ihn zu schlichten". In seinen weiteren Ausführungen erklärt Jhering, wie bekannt, den „Kampf ums Recht" geradezu zur sittlichen Pflicht jedes Einzelnen. Es fehlt auch nicht an dem Vergleich zwischen der Form, „ i n der (die) gewaltigen Kämpfe im Völkerleben stattfinden", mit den Formen des individuellen Rechtskampfes. Solange das Recht nicht durchgesetzt worden sei, bestehe nur eine abstrakte Möglichkeit des Rechts, die Wirklichkeit des Privatrechts hingegen hänge von der Tätigkeit der berechtigten Personen ab. Die hauptsächliche Ursache für die mehr oder weniger große Bereitschaft zum „Kampf ums Recht" erblickte Jhering in der in den verschie-

45 1. Aufl. 1847, 2. Aufl. 1870. Vgl. hierzu die Besprechung durch Κ Lemayer in der Allg. österr. Gerichts-Zeitung 1871, 331 mit dem bezeichnenden Satz: „Allmälig vergeht auch in unserer österr. Jurisprudenz jener Antagonismus zwischen Theoretikern und Praktikern ...". 46 Wiedergabe in der JB1 1872, S. 30 ff. sowie auch in der „Gerichtshalle" 1872, S. 96 ff. Über die Veröffentlichungen in Buchform s. bereits oben Anm. 2.

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denen Perioden der Rechtsgeschichte unterschiedlichen „Bewerthung des Eigenthums". So habe das klassische römische Recht die Gläubigerrechte hochgehalten, während das spätrömische Recht mit dem „Schuldner ungleich mehr sympathisirt habe" und „das Recht des Gläubigers ..." in vielen Fällen preisgegeben habe. Ein ähnlicher Verfall des „Rechtsgefühls" sei auch in der Gegenwart zu beobachten: Das „durch das Filtrum der Gelehrsamkeit" hindurchgegangene römische Recht der Neuzeit habe die dem Richter bei frivolem Leugnen des Schuldners gestellten Strafmittel ganz vernachlässigt. Daher sei auch in der modernen Rechtspflege der Schadensprozeß ein Hauptübel, da er hauptsächlich darauf angelegt sei, „den Gläubiger um sein gutes Recht zu bringen". Der Vortrag schließt mit dem berühmten Satz: „Der Kampf für das Recht ist ein Act der ethischen Selbsterhaltung, ist eine Pflicht gegen sich und gegen die Gemeinschaft". Daraufhin erhebt Jhering gar die Forderung, „daß unsere Rechtsphilosophie den Kampf und den Streit für das Recht in sein wahres Recht wieder einsetzen sollte". Fragt man nach den Intentionen, die Jherings Themenwahl und die inhaltlichen Aussagen des „Kampfes ums Recht" bestimmten, so ist zunächst die Absicht unverkennbar, seine Verbundenheit mit der Praxis überhaupt und mit den österreichischen Praktikern im besonderen zu betonen. Daß diese Verbundenheit gerade zum vorliegenden Zeitpunkt und vor diesem Publikum von Jhering mit besonderer Intensität betont wurde, hat zahlreiche Gründe: Hier ist einmal Jherings Sonderstellung innerhalb der Romanistik seiner Zeit zu nennen, die ihn immer wieder veranlaßt, seine kritische Haltung zur Schuldoktrin und die Verwandtschaft seines Denkens zu jenem der Praktiker hervorzuheben; nicht zuletzt aus dieser Grundhaltung resultierte wohl auch das besondere Näheverhältnis zu Hye und Glaser, die übrigens beide dem Vortrag beiwohnten. Ebenso gewichtige Gründe aber hatten die in der „Wiener Juristischen Gesellschaft" vereinigten österreichischen Praktiker, die geistige Verbundenheit mit Jhering zu betonen: Die an der Wiener Juristenfakultät dominierende historische Richtung wurde für die schon oben geschilderte „Entfremdung" zwischen Wissenschaft und Praxis verantwortlich gemacht; die Aufhebung der „Doktorenkollegien"stand unmittelbar bevor. A u f der anderen Seite hatten die vor allem von der jungen Advokatur getragenen Bestrebungen durch die Krise, in die die „Wiener Juristische Gesellschaft" 1870 geriet, schwere Rückschläge erlitten 47 . Die wissenschaftliche Geringschätzung der Rechtsdurchsetzung stand aber nun in auffälligem Gegensatz zu dem hohen rechtlichen und vor allem auch politischen Stellenwert, den die Advokatur seit der Dezemberverfassung von 1867 einnahm.

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V g l . Ogris, JB11967, S. 24.

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Jhering trägt dieser Entwicklung Rechnung, indem er den Gesichtspunkt der Rechtsdurchsetzung nicht nur in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt, sondern das Tätigwerden im Rahmen der Rechtsdurchsetzung sogar ethisch höher bewertet als die (bloß wissenschaftliche) Beschäftigung mit den Normen als solchen! Den juristischen Praktikern mußten diese Ausführungen Jherings in Anbetracht der Geringschätzung, die ihrer Tätigkeit von Seiten der herrschenden Pandektendoktrin entgegengebracht wurde, gleichsam als Rehabilitierung erscheinen! Die Betonung des Gesichtspunkts der Rechtsdurchsetzung gegenüber der materiellrechtlichen Betrachtungsweise hat aber auch noch andere aktuelle rechtspolitische, ja politische Hintergründe: Während die von Unger, Arndts und anderen Vertretern der historischen Schule anläßlich der Kritik am „sächsischen E n t w u r f geforderte Reform des A B G B 4 8 nach dem Untergang des deutschen Bundes ad acta gelegt worden war, war die Reform des Zivil- ebenso wie des Strafprozeßrechts 1872 hochaktuell 49 : Der nach dem Ende der Ära Hohenwart-Schäffle wieder zur vollen Geltung gelangte politische Liberalismus, dessen profilierteste Rechtspolitiker sich unter den Zuhörern Jherings befanden, forderte stürmisch die Angleichung des Zivilverfahrensrechtes an die neuen verfassungsrechlichen Gegebenheiten. Noch stand die allgemeine Gerichtsordnung Josephs II. aus dem Jahr 1781 in Geltung, die im ordentlichen Verfahren weder Öffentlichkeit noch Mündlichkeit noch freie Beweiswürdigung kannte. Vor allem im Schadenersatzprozeß machte sich die in der A G O im Sinne der gemeinrechtlichen Prozeßdoktrin normierte gebundene Beweiswürdigung äußerst nachteilig bemerkbar, da es dem Kläger nur in den seltensten Fällen gelang, die gesetzlichen Beweiserfordernisse zu erfüllen 50 . Mit seiner Kritik am „modernen Schadensprozeß" sprach Jhering somit ein hochaktuelles Thema an, zumal Justizminister Glaser eben zu der Zeit, als der Vortrag Jherings stattfand, den Entwurf eines Gesetzes über das „Bagatellverfahren" 51 vorbereitete, in dem erstmals der Grundsatz der „freien Beweiswürdigung" verankert wurde. Lassen sich sohin Themenwahl und viele Einzelaussagen im „Kampf ums Recht" schon allein aus dem Umstand erklären, daß die Prozeßrechts-

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Vgl. hierzu etwa H. Hofmeister, Die Grundsätze des Liegenschaftserwerbes in der österr. Privatrechtsentwicklung seit dem 18. Jh., 1977, S. 190 ff. 49 Vgl. Ogris, Die Rechtsentwicklung in Österreich 1848 -1918,1975, S. 23 ff., 40 ff. 50 Vgl. E. Strohal, in: Drei Gutachten, 1880, S. 139 ff. 51 RG vom 27.4.1873, RGBl Nr. 66.

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reform Anfang der Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts weit mehr im Zentrum des Interesses stand als jene des materiellen Rechts, so bleibt doch noch die Frage offen, welcher „Rechtsphilosophie" Jhering die Aufgabe übertragen wollte, „den Kampf und den Streit für das Recht" wieder „ i n sein wahres Recht... einzusetzen"? Meines Erachtens ist Behrends 52 dahingehend zu folgen, daß der im „Kampf ums Recht" apostrophierte Gedanke der moralischen Selbsterhaltung im Rechtskampf „frei ist von jedem Naturalismus". Auf der Suche nach anderen geistigen Vorbildern wage ich im Anschluß an Ausführungen des Wiener Prozessualisten Peter Böhm 53 die Behauptung, daß der hohe Stellenwert der Rechtsdurchsetzung für den Rechtsbegriff am ehesten auf Hegel hinweist, der in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechtes" 54 ausführt: „ V o r den Gerichten erhält das Recht die Bestimmung, ein erweisbares sein zu müssen ..." u.s.w.; im Anschluß daran ist dann der Neuhegelianer Julius Binder zu einer ähnlich radikalen These gelangt wie Jhering im „Kampf ums Recht", wonach das materielle Recht überhaupt erst, wenn der Prozeß es evident macht, zu seiner Existenz kommt. Gedankliche Nähe zu Hegel und Hegelianern wie beispielsweise Gans 55 verrät im übrigen auch schon die einleitende Kritik am Rechtsbegriff Savignys: Diese Passagen des Vortrages erwecken viel eher den Eindruck einer Wiederaufnahme der bekannten Kritik der Hegelianer am „Quietismus" der historischen Schule als den der Verkündung neuer, die Denkweisen des späten 19. Jahrhunderts vorwegnehmender Ideen. Dies gilt nicht zuletzt auch für das Prozeßverständnis Jherings im „Kampf ums Recht", das von einem „sozialen Prozeßrechtsverständnis" im Sinne Franz Kleins 56 denkbar weit entfernt ist und gerade dadurch, daß es den Rechtsstreit als Privatsache, als moralisches Erziehungsmittel hinstellt, dem Prozeßrechtsverständnis der zur Zeit des Vortrags in ihrer Schlußphase befindlichen liberalen Ära vollkommen entspricht. 3. Die Dankadresse der Wiener Studenten an Jhering I m Göttinger Nachlaß Jherings befindet sich ein insgesamt siebzehn Blatt starkes, großformatiges Konvolut mit einem kalligraphierten bzw. ge52

Rechtsgefühl (wie Anm. 3), S. 155. Zu den rechtstheoretischen Grundlagen der Rechtspolitik Franz Kleins, in: Forschungsband Franz Klein, hrsg. v. H. Hofmeister, 1988, S. 191 ff., insbes. S. 193 (bezeichnendes Klein-Zitat zu Jherings „Kampf um's Recht") sowie S. 194 f. 53

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G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, 1821, Theorie - Werkausgabe Suhrkamp, Band VII (1970), § 222. 55 E. Gans, System des römischen Civilrechts, 1827, insbes. S. 155 f.; hierzu auch F. Wieacker, Gründer und Bewahrer, 1959, S. 109 f. 56 Vgl. bereits oben Anm. 53.

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malten Zierblatt, das Jhering anläßlich seines Abschiedes aus Wien von der „Studentenschaft der Wiener Universität" überreicht wurde 57 . Die Zahl der Unterschriften (vierhundertelf) stimmt in etwa mit jener Rekordzahl an Hörern der „Institutionenvorlesung" überein, über die Jhering in seinen Briefen aus 1871 bzw. 1872 berichtete. Die Unterschriften stammen jedoch keineswegs nur von Hörern der „Institutionenvorlesung" des Wintersemesters 1871/72; vielmehr finden sich zahlreiche „ältere Semester" (wie beispielsweise Franz von Liszt) und auch Absolventen (beispielsweise Emil Steinbach) bzw. Hörer anderer Studienrichtungen (insbesondere Medizin, Philosophie) unter den Unterzeichneten. Eine eigene Gruppe bilden jene Hörer, die als Mitglieder des „Ausschusses des Lesevereins der deutschen Studenten" unterzeichnet haben, allen voran dessen Präses Franz von Liszt 58 . Liszt studierte von 1869 bis 1873 an der Universität Wien, habilitierte sich 1875 in Graz, von wo er nach Gießen, Marburg, Halle und schließlich nach Berlin berufen wurde. Die Bedeutung, die Jherings „Zweck im Recht" (erster Band 1877) für das Marburger Programm 59 Liszts von 1882 zukommt, ist so ausreichend dokumentiert, daß hier nur darauf verwiesen werden muß; in Anbetracht der meines Erachtens gebotenen „Neudeutung" des „Kampfes ums Recht" erscheint es aber nunmehr fraglich, wie weit die Ursprünge des teleologischen Strafrechtsdenkens Liszts schon auf seine Wiener Studentenzeit zurückgeführt werden können. Aus der großen Zahl der Unterzeichneten, die später zu einiger Berühmtheit gelangten, seien noch angeführt: Paul Gautsch von Frankenthurn 60 , dreimaliger österreichischer Ministerpräsident, u. a. 1905/06 entscheidend an den Vorarbeiten zur Einführung des allgemeinen Wahlrechtes in Österreich (1907) beteiligt; Hugo Hoegel 61 , Strafrechtspraktiker, der bis in die Spitzenpositionen der Staatsanwaltschaft (Generalprokurator 1912, Generalstaatsanwalt 1915) gelangte und auch maßgeblich an den Strafrechtsentwürfen des frühen 20. Jahrhunderts mitwirkte; Richard Kralik (von Meyrswalden) 62 , der sich nach seinem Studium (1869-74) ganz der Dichtkunst und Philosophie zuwandte und später zum Vorkämpfer einer auf Religion und Volkstum gegründeten kulturellen Erneuerungsbewegung wurde; schließlich Emil Steinbach63, der in der Ära des Ministerpräsidenten Taaffe (1879 - 1893) maßgeblich an der österreichischen

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Vgl. Ehrenbergbriefe, S. 271 ff.; s. Exponat Nr. 36.1. Kleinheyer - Schröder, S. 169 ff.

A. Baratta, Uber Jherings Bedeutung für die Strafrechtswissenschaft, Jherings Erbe, S. 17 ff., insbes. S. 21 f. 60 Österr. Biographisches Lexikon 1815 -1950 (ÖBL), 1957 ff., I, S. 413 f. 61 ÖBL II, S. 355. 62 ÖBL III, S. 199. 63 Neue österr. Biographie (NÖB), 1. Abt., II. Bd., 1925, S. 48 ff.; Hofmeister, in: Ein Jahrhundert Sozialversicherung, hrsg. v. P. A. Köhler u. H. F. Zacher, 1981, S. 518 ff.

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Sozialgesetzgebung nach dem Vorbild der Bismarck'schen Arbeiterversicherungsgesetze mitwirkte, 1891 zum Finanzminister und 1904 zum Präsidenten des Obersten Gerichtshofes avancierte. Was den Text der Dankadresse betrifft, so fällt es aus verständlichen Gründen schwer, dem schier unerschöpflichen Schwall überschwenglichen Lobes inhaltliche Aussagen zu entlocken. Hervorhebenswert erscheint aber jedenfalls der Hinweis auf Jherings „Praktikum", in dem er - in einer den Studenten sonst offenbar ungewohnten Weise - „den kühnen Griff ins volle Menschenleben gewagt" habe. Auch das abschließende Gelöbnis, unter dem Eindruck der Jhering'schen Lehrtätigkeit in Hinkunft „zum ferneren Gedeihen deutscher Rechtswissenschaft nach Kräften mitwirken" zu wollen, verdient Beachtung, da das Bekenntnis zur „deutschen Rechtswissenschaft" doch recht deutlich auf die in der Studentenschaft vorherrschenden Denkweisen hindeutet und damit auf das Spannungsverhältnis zur offiziellen österreichischen Politik jener Tage 64 . 4. Berufung nach Göttingen; Ordens- und Adelstitelverleihung Über die Gründe, die Jhering dazu bewogen haben mögen, Wien zugunsten eines Rufes an eine deutsche Universität zu verlassen, wurden bereits oben einige Überlegungen angestellt. Nach anfänglichen Verhandlungen über eine allfällige Berufung an die neugegründete Universität in Straßburg entschied sich Jhering schließlich zu einem Wechsel nach Göttingen. Von den laufenden Berufungsverhandlungen berichtet Jhering in seinen Schreiben an Bülow vom 28. Oktober 187165 und an Windscheid vom 18. Dezember 187166, von dem unmittelbar bevorstehenden Abschluß im Schreiben an Bülow vom 24. Jänner 187267. Mit 30. September 1872 schied Rudolf von Jhering offiziell aus dem österreichischen Staatsdienst aus. Aus diesem Anlasse beantragte Minister Stremayr mit a.[ller] untertänigstem] Vortrag vom 25. März 187268, Jhering das Ritterkreuz des Leopolds-Ordens zu verleihen. In der Begründung des Antrages wird einerseits auf die schriftstellerische Leistung Jherings, insbesondere auf den „Geist des römischen Rechts", und die in Wien verfaßte „Schrift über den Besitz" 69

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Vgl. bereits oben den Text unter III. Ehrenbergbriefe, S. 265 ff. Jherings Briefe an Windscheid 1870 -1891, hrsg. v. K. Kroeschell, Nr. 6. Ehrenbergbriefe, S. 271 ff.

Allg. Verwaltungsarchiv Wien, Ministerium für Cultus und Unterricht, 4 Jus, Personalakte 69 Jhering. Uber den Grund des Besitzschutzes, 2. Aufl., 1869.

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hingewiesen, ferner auf die Qualitäten Jherings als akademischer Lehrer, der „seine zahlreichen Zuhörer in seltener Weise zu fesseln und anzuregen vermag". U m seinem Antrag zusätzliches Gewicht zu verleihen, zieht Stremayr den Vergleich zu den Professoren Brücke und Billroth, denen vor kurzem derselbe Orden verliehen worden sei; der Vergleich hinkte allerdings etwas, da Brücke und Billroth den an sie ergangenen Ruf an die Universität in Straßburg abgelehnt und gerade dafür mit dem Orden belohnt worden waren; ungeachtet der evidenten Schwäche seines Analogieschlusses findet der Minister auch „in dem Abschlüsse" der Lehrtätigkeit Jherings in Wien einen hinreichenden Grund für die Ordensverleihung, da es der Wiener Universität „immer zur Ehre gereichen wird, ihn zu ihren Lehrern gezält zu haben". Die beantragte Ordensverleihung erfolgte kurz darauf mit a.[ller] h.[öchster] Entschließung vom 30. März 1872 durch Kaiser Franz Joseph. Gemäß § 23 der Statuten des Leopolds-Ordens stand den Inhabern des Ritterkreuzes das Recht zu, die Erhebung in den erbländischen Ritterstand zu beantragen. Im Gegensatz zu seinem Wiener Kollegen und Freund Joseph Unger, der aus seiner bürgerlichen Sphäre nicht hinaustreten wollte und daher eine Adelsverleihung ablehnte 70 , beantragte Jhering bereits am 5. April 187271 unter Berufung auf die Ordensstatuten seine Erhebung in den Ritterstand. Neben dem Entwurf des prächtigen Wappens, das einen sechsendigen Hirsch im blauen Schilde zeigt, der in ähnlicher Form in der linksseitigen Helmkrone wiederkehrt und auf gekreuzte Liktorenbündel mit Beilen blickt, enthält der Adelsakt auch einen handgeschriebenen Lebenslauf mit Hinweisen auf die Jhering bereits verliehenen Orden, wie er auch, offenbar um den für Ordensverleihungen zuständigen Minister des Inneren zu beeindrucken, auf „zwei durch die Familientradition bezeugte kaiserliche Gnadenakte" hinweist, die der Familie Jherings in der Vergangenheit erwiesen worden seien und deren Gedächtnis in dieser fortlebe: „Der eine bestand in der Verleihung des Privilegiums eines kaiserlichen Pfalzgrafen von Kaiser Friedrich III. an einen der Ascendenten des Unterzeichneten, an Conrad Jhering (geboren 1414, gestorben 1478), der demselben nach der Familientradition als Archimagicus diente, der andere in der Verleihung des Adels an einen der Descendenten des Genannten, aber nicht zu den Ascendenten des Unterzeichnenden gehörigen Sebastian Jhering in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts". Wieweit diese Mitteilungen aus der Jhering'schen Familientradition auf den (liberalen) Minister Lasser von Zollheim wirklich Eindruck gemacht haben, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen; die Jhering ja schon aufgrund

70 71

Vgl. H. Lentze, Josef Unger - Leben und Werk, in: FS F. Arnold, 1963, S. 219 ff. Allg. Verwaltungsarchiv Wien, Ministerium des Innern, Adelsakte Jhering.

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der Ordensverleihung zustehende Erhebung in den erbländischen Ritterstand erfolgte jedenfalls bereits am 15. April 1872.

IV. Schluß Der Weggang Jherings nach Göttingen änderte nichts an dem Fortbestehen der freundschaftlichen und wissenschaftlichen Kontakte zu Österreich; engere Verbindungen bestanden auch weiterhin zu Unger, dem Mitherausgeber von „Jherings Jahrbüchern", und vor allem zu Glaser bis zu dessen frühem Tod (1888). Auch dessen Gattin Minna und Auguste von Littrow-Bischoff, die Gattin des Wiener Astronomen und Rektors der Universität Wien im Studienjahr 1869/70, der Jhering den „Kampf ums Recht" gewidmet hatte, zählten weiterhin zum engsten Freundeskreis Jherings. In ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen sind jedoch auch die wissenschaftlichen Kontakte zwischen Jhering und der österreichischen Rechtswissenschaft in der Folgezeit. Hiermit ist nicht nur der 1884 in Wien wieder vor der „Wiener Juristischen Gesellschaft" gehaltene Vortrag „Über die Entstehung des Rechtsgefühles" gemeint, ja überhaupt keine konkrete dogmatische Leistung oder rechtspolitische Forderung Jherings, sondern ganz allgemein die befreiende Wirkung, die Umbruchstimmung, die Jhering vor allem mit seinem „Zweck im Recht" ausgelöst hat. Meines Erachtens ist es nicht zuletzt Jhering zu verdanken, wenn Unger 72 , der Begründer der österreichischen Pandektistik, 1888 die „Befreiung von den Fesseln der romanistischen Schuldoktrin, unabhängigere Auffassung und freiere Darstellung" fordert und damit, nicht zuletzt, einer neuen Betrachtungsweise des A B G B die Wege ebnet, die auch den hierin enthaltenen Beiträgen des vorkritischen Naturrechts gerecht zu werden versuchte. Einen ersten Höhepunkt erreicht dann die Lösung von der Pandektendoktrin in der Bearbeitung des KrainzPfaffschen Systems durch Armin Ehrenzweig 73 , der sich offen zur „soziologischen Methode" in der Privatrechtswissenschaft bekennt. In inhaltlicher Hinsicht sind diese späteren Strömungen der österreichischen Rechtswissenschaft, die hier nur ganz kursorisch angedeutet werden konnten, aber doch viel mehr vom späteren Werk Jherings, insbesondere vom „Zweck im Recht", beeinflußt worden als vom „Kampf ums Recht" und den in der „Wiener Zeit" entstandenen Schriften.

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Grünhuts ZS 15, 676, Fn. 8; J. V. Schey, Uber den redlichen und unredlichen Besitzer, FS Unger, 1898, S. 415 ff., insbes. S. 417. 73 Nunmehr System des österr. allgemeinen Privatrechts, 1/1, 2. (insges. 7.) Aufl., 1951, S. 8 f.

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Nichtsdestoweniger aber gebührt Jherings „vier Wiener Jahren" ein Ehrenplatz in der österreichischen Wissenschaftsgeschichte, und nicht zuletzt in Rücksicht auf die Kürze von Jherings Wiener Aufenthalt hat der Abschiedsredner der „Wiener Juristischen Gesellschaft", Dr. Jaques, die Gefühle der österreichischen Juristenwelt beim Weggang Jherings wohl treffend mit dem Dichterwort umschrieben: „Deines Geistes hab* ich einen Hauch verspürt" 74 .

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JBI1872, S. 280.

D e r rechtliche K a m p f gegen das Unrecht Reflexionen zu Rudolf von Jherings Vortrag „Der Kampf ums Recht" Von Wolfgang Schild, Bielefeld

Rudolf von Jhering gilt es zu feiern; Anlaß dieses Kolloquiums ist sein 100. Todestag. Doch geht es im Folgenden nicht wirklich um eine Würdigung seines Werkes in all seiner Vielschichtigkeit und Differenziertheit, auch Widersprüchlichkeit. Das Thema ist viel kleiner und begrenzter; und deshalb hoffentlich geeignet(er) für einen Vortrag! Es sollen nur einige philosophische Reflexionen vorgelegt werden zu dem Wiener Vortrag von 1872 über „Der Kampf ums Recht", den Hermann Klenner in seiner Neuausgabe als „berühmteste und sogar auch tatsächlich immer wieder gelesene Streitschrift eines Juristen, sein Meisterpamphlet" nennt 1 . Dabei möchte ich einleitend diese Begrenzung meines Themas rechtfertigen; und dies am besten durch Jhering selbst tun. Denn er begann seinen am 11. März 1872 vor der Wiener Juristischen Gesellschaft frei gehaltenen (und dann in einer Ausarbeitung noch im selben Jahre veröffentlichten) Vortrag - wenn man den stenografischen Aufzeichnungen trauen kann! 2 - mit dem Hinweis auf die Sonderstellung dieses Themas im Rahmen seines (bisherigen) Werkes: „Ich habe mich ... bei der Wahl des Themas von einem anderen Gesichtspunkte leiten lassen [als dem, über ein bereits behandeltes Thema zu sprechen], ich habe geglaubt, aus Rücksicht gegen Sie schuldig zu sein, ein Thema zu wählen, das meines Wissens bisher weder von anderen behandelt wurde, noch habe ich es selber bisher behandelt, und zugleich ein Thema, das, ich möchte sagen, 1

Rudolf von Jhering, Der Kampf ums Recht. Herausgegeben und mit einem Anhang versehen von Hermann Klenner, Freiburg - Berlin 1992, S. 134. - Bezüglich Sekundärliteratur kann auf diesen Anhang verwiesen werden (zu ergänzen wäre nur Otto Irminger y Die Gerechtigkeit und ihr Verhältnis zum Recht bei Jhering, Diss. Bern 1920). Im Folgenden wird (soferne nicht etwas anderes angegeben ist) stets dieses Facsimile der 1. Auflage von 1872 zitiert. 2 Veröffentlicht in der „Gerichtshalle" vom 14.3.1872; ebenfalls abgedruckt in der Ausgabe von Klenner (Fn. 1), S. 107 -131.

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aus den Grenzen der Jurisprudenz hinausfällt, über das einem Laien ebenso ein Urteil zusteht als dem Juristen" 3 ; und das deshalb auch philosophisch hinterfragt werden kann und darf, wie ich hinzufügen möchte. Jhering fuhr fort: „Ich habe das Thema bezeichnet als ,Der Kampf um das Recht' und bin vielleicht in der überglücklichen Lage, ein Thema hinzustellen, über dessen Inhalt Sie sich gar keine Vorstellungen machen können" 4 und das trotzdem (oder vielleicht deshalb) beim Publikum unvergeßlichen Eindruck hinterließ. Ich darf diesen Traum eines jeden Redners doch zitierend vorstellen: „Einem Schwanengesange vergleichbar erfaßte der Vortrag ... die lauschenden Hörer mit mächtigem Zauber. Die Flut großer, schöner, ureigener Gedanken ... brauste durch den Saal wie ein reinigendes Gewitter. Als wäre die Majestät des Rechtes selbst, seine unveräußerlichen Attribute laut proklamierend, vor die Hörer getreten, bemächtigte sich derselben eine gehobene, feierliche, fast möchten wir sagen beklommende Stimmung. Der lebhafte Beifall ... steigerte sich zur lauten Demonstration". Jhering - so der Bericht weiter - Schloß seine Rede „unter jubelnden Zurufen der Anwesenden" 5 , nachdem sein Vortrag oft durch laute stürmische Bravorufe begleitet worden war 6 ; am Ende stand „stürmischer, minutenlang anhaltender Beifall und Händeklatschen" 7 . Hinweisen darf ich noch auf die Dankesrede des Präsidenten der Wiener Juristischen Gesellschaft - von Hye -, der dem Redner „vor wehmütiger Erregung bleich, mit zitternder Stimme, ja in der Folge tränenden Auges" höchstes Lob zollte und ihn am „Themis-Himmel der Wiener Universität" lokalisierte 8 . Was waren das für Zeiten - meint auch nostalgisch Hermann Klenner 9 -, als nicht Tennisprofessionals, sondern Juristen-Professoren mit standing ovations geehrt wurden! und dies sogar nicht einmal deshalb, weil Jhering gerade dabei war, Wien zu verlassen und nach Göttingen zu gehen. So ist hoffentlich die Beschränkung meines Themas begründet. Es geht nur um dieses kleine Werk Jherings: ohne es auf Vorgedachtes in der früheren Periode oder auf Nachklänge beim späteren Jhering hin zu untersuchen 10 . Dieser Vortrag verdient es, als solcher nach- und weitergedacht zu 3

Abgedruckt in der Ausgabe Klenner (Fn. 1), S. 113. Ebd., S. 113. 5 Ebd., S. 108. 6 Ebd., S. 127. 7 g Ebd., S. 131. Ebd., S. 198 f. - Dazu vgl. allgemein auch Herbert Hofmeister, Jhering in Wien, in: Okko Behrends (Hrsg.), Rudolf von Jhering, Beiträge und Zeugnisse, Ausstellungskatalog Göttingen 1992, S. 38 - 48. 9 So Klenner in seiner Ausgabe (Fn. 1), S. 140. 10 Anzumerken ist allerdings, daß durch neuere Arbeiten - vor allem von Okko Behrends (Fn. 11) und Bernd Kiemann, Rudolf von Jhering und die Historische Rechtsschule, Frankfurt/ 4

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werden. Freilich: keine Bestimmung ohne Ausnahme! Jhering selbst hat am 12. März 1884 - also fast genau 12 Jahre später! - in derselben Wiener Juristischen Gesellschaft einen zweiten Vortrag 11 gehalten, den er „ i n gewissem Sinne [als] ein [GegenJStück zu dem Vortrag [„Der Kampf um das Recht"]" bezeichnete, da beide Vorträge das Rechtsgefühl zum Gegenstand hätten 12 . Deshalb wird im Folgenden auch dieser zweite Vortrag mit dem Titel „Über die Entstehung des Rechtsgefühles" einbezogen, freilich nur in dem Zusammenhang mit dem Thema des Kampfes um das Recht. Noch mehr der Ausnahme: Es ist ein dritter Wiener Vortrag mit zu berücksichtigen, den Jhering früher, nämlich am 16. Oktober 1868, als Antrittsvorlesung über das Thema „Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?" gehalten hat 13 . Denn auch bei dieser Gelegenheit fand Jhering Worte, die für das Thema der folgenden Ausführungen relevant sind. Damit aber genug der einführenden Bemerkungen; ans Werk einer philosophischen Reflexion!

I. Doch muß zugleich am Beginn die Selbsteinschätzung des Vortragenden zurückgewiesen werden: Er spreche über ein Thema, das bisher von anderen nicht behandelt worden sei 14 . Dies stimmt nämlich einfach nicht! Jhering selbst hat in späteren Ausgaben seiner Schrift ausdrücklich auf einige Stellen bei Immanuel Kant in dessen „Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre" (1797) - also dem zweiten Teil der „Metaphysik der Sitten" - hingewiesen, zugleich aber bekannt, daß er diese Passagen erst nach seinem Vortrag kennengelernt habe; weshalb er nun meinte: „Das einzige Verdienst, welches ich beanspruchen kann, besteht darin, diesen [auch bei Kant gefundenen] Gedanken systematisch begründet und genauer ausgeführt

Main 1989; ders., Jherings Wandlung, in: Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten (1988 -1990), Frankfurt/Main 1991, S. 130 -150 - die Einheit des gesamten Werkes Jherings trotz aller bzw. gerade wegen aller Veränderungen herausgestellt werden konnte. Ich bin kein Jhering-Spezialist; doch gefällt mir diese Interpretation gut, denn sie ergibt für mich ein vernünftiges Jhering-Bild und hat manches Vor-Urteil über Jhering gründlich beseitigt. Was mir nicht gefällt, ist die Abwertung der Philosophie Kants und vor allem Hegels, die mit dieser neuen Hochwertung von Jhering (insbesondere bei Behrends) Hand in Hand geht; aber darauf wird noch einzugehen sein! 11 Veröffentlicht unter dem Titel „Über die Entstehung des Rechtsgefühls" von Okko Behrends (Napoli 1986), mit einer Vorbemerkung und einem anschließenden Interpretationsund Einordnungsversuch des Herausgebers. 12 Rechtsgefühl (Fn. 11), S. 9. 13

Verwendet und zitiert werden kann ein Manuskript, das mir freundlicherweise Herr Behrends zur Verfügung gestellt hat, wofür ich ihm ausdrücklich danken möchte. 14 So in der Ausgabe von Klenner (Fn. 1), S. 113. 3 Jhering-Symposium

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zu haben" 15 . Dies bedeutet selbstverständlich: Jhering erklärt sich damit als philosophierender Jurist! Deshalb lasse man sich von der bekannten Stelle in der Vorrede zu „Der Zweck im Recht" nicht täuschen, in der Jhering den Mangel seiner philosophischen Ausbildung beklagte 16 . Denn Philosophieren heißt ja immer noch vorrangig: selbst denken; und dies hat Jhering in ausreichendem Maße getan, zumal auch eine Vorbildung anhand der Hegeischen Philosophie ihm offensichtlich nicht geschadet hat. Deshalb sollte man diese Selbstklage Jherings zu „Scherz und Ernst" rechnen und anerkennen, daß Jhering ein denkender und den Grundfragen von Recht und Rechtswissenschaft aufgeschlossener Mensch war, dessen Werke daher durchaus philosophisch ernstgenommen werden müssen. Aber dies gilt es ja im Folgenden zu zeigen! Jedenfalls ist es erstaunlich, daß Jhering ohne offensichtlich „studierte" philosophische Bildung ein Thema entfaltet und dargestellt hat, das bei Kant vorgedacht war. Es tut freilich weh, wenn ein Wissenschaftler - der Jhering so viel Gerechtigkeit widerfahren ließ wie Okko Behrends! - die Rechtslehre Kants als Denken behauptet, das in einer methodisch unergiebigen Begriffsjurisprudenz ende 17 ; offensichtlich ist auch die Charakterisierung als „spekulativer Apriorismus" 18 auf Kant gemünzt. Ich möchte eine kleine Ehrenrettung für Kant versuchen, der immerhin eine „Metaphysik der Sitten" und damit eine inhaltlich-konkrete Rechtsphilosophie geschrieben hat. Noch mehr Gerechtigkeit muß aber einem zweiten Philosophen gewährt werden, den Jhering mit Sicherheit gekannt hat: nämlich Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Anerkannt ist, wie sehr die Geschichtsphilosophie Hegels den Rechtshistoriker Jhering geprägt hat; ob er sie wirklich verstanden hat, wäre ein eigenes Thema. Wolfgang Pleister hat in seiner 1982 erschienenen Münchener Dissertation auf die offensichtlichen Einflüsse der Philosophie Kants und - vor allem - Hegels auf diese Zentralbegriffe Jherings aufmerksam gemacht 19 . Michael Kunze hat dies für die neu entdeckte Handschrift einer Vorlesung „Universalrechtsgeschichte" (vermutlich aus 1843/44) gezeigt 20 . Jhering kannte die veröffentlichte Nachschrift von Hegels „Philosophie der Geschichte" 21 ; und ebenfalls kannte er die „Grundlinien der Philosophie des 15 16 17 18

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Ebd., S. 104. Vgl. dazu Franz Wieacker, Rudolf von Jhering, Stuttgart 1968, S. 60 Fn. 34. Vgl. Behrends in: Rechtsgefühl (Fn. 11), S. 167. Ebd., S. 81.

Vgl. Wolfgang Pleister, Persönlichkeit, Wille und Freiheit im Werke Jherings, Ebelsbach2 1982, S. 148 ff., S. 260 ff., S. 295 ff. 0 Vgl. Michael Kunze, Jherings Universalrechtsgeschichte, in: Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten (1988 - 1990), Frankfurt/Main 1991, S. 151 186 (S. 167 ff.). 21 So Kunze (Fn. 20), S. 177.

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Rechts" aus 1820. Denn er verweist an zentraler Stelle seines Vortrages über den „Kampf ums Recht" auf Hegels Begriff des „unbefangenen Unrechts" 22 . Darüber hinaus wird sich zeigen (durch meine Interpretation im Folgenden), daß Jhering von einem Rechtssystem ausging bzw. ein Rechtssystem zugrunde legte, wie es in Ansätzen Kant, dann aber ausgeführt Hegel in seiner Rechtsphilosophie entfaltet hatte. Selbstverständlich soll nicht behauptet werden, daß Jhering nun Hegelianer gewesen wäre (schon deshalb nicht, weil ich nicht weiß, was so etwas sein könnte 23 ); sondern es soll nur klar werden, daß Jhering in seinem Nachdenken über Recht und Rechtswissenschaft zu Inhalten (durchaus in systematischer Absicht) kam, die fünfzig Jahre zuvor von einem Philosophen dargestellt wurden, der im übrigen ja auch nichts Neues erfinden, sondern nur seine Zeit in Gedanken fassen wollte. Dieser Vergleich der Jheringschen und der Hegeischen Rechtsphilosophie wird hoffentlich interessante Zusammenhänge und wechselseitige Ergänzungen ergeben. Manche Thesen Jherings können unmittelbar Ausführungen Hegels vervollständigen, wie umgekehrt Hegels Thesen die Vermittlungslücken bei Jhering ausfüllen können. Hegel war doch noch mehr Systematiker als Jhering! - Freilich darf man Hegel nicht durch die Brille des Neuhegelianismus oder gar des Josef Kohler 24 lesen! Jedenfalls kann ich die Behauptung von Okko Behrends nicht verstehen: „Jherings Systementwurf [ist] offener und zugleich weit konkreter als die auf abstrakter Ebene durchdogmatisierte und zu erstaunlich selbstgewissen Aussagen gelangene Rechtsphilosophie Hegels" 25 . Aber dies sind bis jetzt nur Behauptungen, daher gilt endgültig: „ H i c Rhodus, hic saltus!" 26 , womit nun endlich auch mit der Interpretation Jherings begonnen werden soll.

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23 24

Kampf (Fn. 1), S. 33. Vgl. dazu Georg Lasson, Was heißt Hegelianismus?, Berlin 1916.

Dazu vgl. Wolfgang Schild, Die Ambivalenz einer Neo-Philosophie. Zu Josef Kohlers Neuhegelianismus, in: Gerhard Sprenger (Hrsg.), Die Rechtsphilosophie der Jahrhundertwende. ARSP-Beiheft 43, Stuttgart 1991, S. 46 - 65. - Bezüglich meiner Hegel-Interpretation darf ich verweisen auf: Wolfgang Schild, Sittlichkeit als politische Gesinnung des Staatszutrauens, in: Hegel-Jahrbuch 1988 (1990), S. 158 - 169; ders., Rechtswissenschaft oder Jurisprudenz. Bemerkungen zu den Schwierigkeiten der Juristen mit Hegels Rechtsphilosophie, in: Robert Alexy u. a. (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Gegenwart. ARSP-Beiheft 44, Stuttgart 1991, S. 328 - 336; ders., Spekulationen zum systematischen Aufbau von Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts" (1820), in: Wiener Jahrbuch für Philosophie 24 (1992), S. 127 144;2ders., Die Aktualität der Hegeischen Rechtsphilosophie (in Vorbereitung). 5 So Behrends, in: Rechtsgefühl (Fn. 11), S. 175. 26 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt/Main 1970, S. 26. 3*

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II.

Jhering charakterisiert seinen Vortrag als „ethisch-praktischen", „weniger darauf gerichtet, die wissenschaftliche [theoretische] Erkenntnis des Rechts als diejenige Gesinnung zu fördern, aus der dasselbe seine letzte Kraft schöpfen muß: die der mutigen und standhaften Behauptung des Rechtsgefühls" 27 .1884 betonte Jhering diese zentrale Bedeutung des Rechtsgefühls: es gehe - in seinem 1872 gehaltenen Vortrag über den Kampf ums Recht! - um „die praktische Betätigung des Rechtsgefühles, die moralische und praktische Reaktion gegen eine schnöde Mißachtung des Rechtsgefühls" 28 . Doch sollte man sich nicht täuschen lassen: Eigentlich geht es Jhering - vor allem wenn man ihn philosophisch interpretieren will! - um eine andere „Grundidee" 29 , nämlich um die Reaktion gegen „eine Mißachtung der Person". Ausdrücklich macht er in der 4. Auflage (aus 1874) diesen Zusammenhang deutlich: Er verlange doch nicht den Kampf ums Recht bei jedem Zank und Streit, sondern „nur da, wo der Angriff auf das Recht zugleich eine Mißachtung der Personen enthält" 30 . Auf derselben Seite weist Jhering auf die „Idee der Persönlichkeit" hin, die zu beachten sei. I m Vortrag selbst verwendet Jhering die Begriffe „Persönlichkeit" und „Rechtsgefühl" offensichtlich gleichbedeutend31, wobei auch „Persönlichkeit" und „Person" synonym gebraucht werden 32 , ebenso der Begriff „Charakter" 33 . Auch der Titel des Vortrages ist nicht unmißverständlich, sondern eher verwirrend: „Der Kampf um das Recht" (so der Originaltitel)! so als ginge es darum, daß irgendjemand um das Recht (vielleicht gar: um seine eigene Rechtsstellung) kämpfen würde. Doch macht Jhering schon zu Beginn klar: Der Kampf, den er eigentlich meine, sei der „Kampf als das Mittel des Rechts" 34 , nämlich genauer der „Kampf des Rechts gegen das Unrecht" 3 5 . Noch mehr: Jhering sieht in diesem Kampf ein notwendiges Moment des Rechtsbegriffes selbst36, vermittelt mit dem anderen Moment des Rechts-

27 So Rudolf von Jhering, Der Kampf ums Recht, 4. Aufl., Wien 1874 (Neuausgabe Darmstadt), 2 8 S. VII. Rechtsgefühl (Fn. 11), S. 9. 29 Kampf, 4. Aufl. (Fn. 27), S. VIII. 30 Ebd., S. IX. 31 Vgl. Kampf (Fn. 1), S. 26, S. 29. 32 Vgl. ebd., S. 25 f. 33 Vgl. ebd., S. 26, S. 29. 34 Ebd., S. 7. 35 Ebd., S. 7 u. 8. Ebd., S. .

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friedens 37 : „Beide [sind] durch den Begriff [des Rechts] gleichwertig gesetzt und von ihm unzertrennlich" 38 . Der Begriff des Rechts enthält damit nicht nur den Kampf gegen das Unrecht als das eine Moment in sich, sondern auch den Sieg dieses Rechts über das Unrecht, dessen Vernichtung und Beseitigung im Frieden, als das zweite Moment. Jhering verwendet die Begriffe Negation und Wiederherstellung 39 und damit eigentlich eine argumentative Dreierkette: Das Recht (1) wird durch Unrecht negiert (2) und durch Kampf wiederhergestellt (3). Sowohl Negieren als auch schöpferisches Wiederherstellen sind praktische Begriffe, bezeichnen ein Handeln. Der Rechtsbegriff ist damit „ein praktischer", wie Jhering die schriftliche Ausarbeitung seines Vortrages denn auch beginnt 40 : Er enthält Kampf und Sieg, Bekämpfung des Unrechts und dessen Vernichtung; was Jhering mit Arbeit vergleicht, ja gleichsetzt: „Der Kampf [ist] die Arbeit des Rechts" 41 . Der Rechtsbegriff sei deshalb „kein logischer, sondern... ein Kraftbegriff" 42 . In diesem praktischen Rechtsbegriff folgt Jhering im übrigen Kant und Hegel. In der „Metaphysik der Sitten. Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre" (1797) formulierte Kant das „allgemeine Prinzip des Rechts" ausdrücklich in Bezug auf die Handlung („eine jede Handlung ist recht, die ...") 43 und bestimmte den Rechtsbegriff als „praktisches Verhältnis", d. h. als aufeinander bezogene Handlungen 44 . Deshalb lautet das „allgemeine Rechtsgesetz": „handle äußerlich ..." 45 . Und Hegel ging in den „Grundlinien der Philosophie des Rechts" von der Rechtsbestimmung aus: „Dies, daß ein Dasein überhaupt Dasein des freien Willens ist, ist das Recht. - Es ist somit überhaupt die Freiheit, als Idee" (§ 29). Das bedeutet somit: Jhering spricht gar nicht über den Kampf um das Recht, sondern um den Kampf des Rechts gegen das Unrecht; und offensichtlich als Inhalt des Rechtsbegriffes selbst. Deutlich wird damit, daß es sich deshalb nicht - wie der Hinweis auf das „Rechtsgefühl" meinen könnte! - um eine psychologische Arbeit handelt, sondern es liegt eindeutig eine

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Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. 39 Vgl. ebd., S. 58. 40 Ebd., S. 7. 41 Ebd., S. 11. 42 Ebd., S. 9. 43 Vgl. Immanuel Kant, Theorie-Werkausgabe Bd. VIII: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie 2. Wiesbaden 1956, S. 337. 44 Ebd., S. 337. 45 Ebd., S. 338. 38

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philosophische Arbeit vor! Konzentrieren wir uns deshalb nun auf die Jheringschen Ausführungen und betrachten genauer, wie denn dieser Kampf des Rechts gegen das Unrecht zu denken ist.

III. Jhering macht also deutlich, daß es in diesem Vortrag um ein Stück (praktischer) Philosophie geht. Deshalb nimmt er sogar Abschied von seinem eigenen juristischen Rechtsbegriff, nämlich: „Recht als rechtlich geschütztes Interesse", wie er es in seinem Buch „Geist des römischen Rechts" entwickelt hatte 46 . Ausdrücklich stellt er klar: Ihm gehe es in diesem Zusammenhange nicht um Interessen, nicht um den materiellen Wert einer Sache usw. 47 ; die „materialistische Betrachtung" der Interessen (d. h. auf Interessen hin) „verliert ihre Berechtigung" 48 . Dies bedeutet selbstverständlich nicht, daß die Interessenjurisprudenz falsch wäre oder aufzugeben wäre: Recht hat es - als praktischer Begriff! - immer mit Interessen und ihrer Sicherung/ Durchsetzung/Gewährung zu tun. Doch ist der Begriff eines solchen „Interesses" zu abstrakt, meint höchst unterschiedliche Dimensionen. In der 1868 gehaltenen Wiener Antrittsvorlesung stellte Jhering ausdrücklich klar, daß das Recht als die „praktischen Verhältnisse des Lebens" immer über die materiellen Interessen hinausgeht: es sei „die ethische Lebensanschauung des Volkes, die sich in Rechtsinstituten verkörpert" 49 . Von daher wird auch der Begriff des „Rechtsgefühls" verständlich, der nämlich nichts anderes meint als diese ethische Lebensanschauung, wie sie unmittelbar gelebt wird. Jhering sagte bereits 1868: „Die erste und ursprüngliche Quelle des Rechts liegt in jedes Menschen Brust, die zweite, die erst dazu gekommen ist, ist das Bedürfnis, die Not des Lebens und der praktische Verstand, der für die notwendigen Zwecke die rechten Mittel gesucht hat" 5 0 ; es gehe um die Lebensanschauung der Menschen, „die mitten in der Welt stehen, die das Leben kennen, die das wissen und fühlen, was Not tut; die mit Gut und Blut und Leib und Leben bei der Wahrheit interessiert sind" 51 . Im Vortrag 1884 setzt Jhering (deshalb) das Rechtsgefühl gleich mit dem „sittlichen Gefühl" und bestimmt es als „Inhalt der rechtlichen und sittlichen Wahrheiten", wie sie sich im historischen Prozeß herausgebildet haben 52 . Ein Hinweis auf 46 47 48 49 50 51

52

Ebd., S. 44. Ebd., S. 45, S. 27, u. ö. Ebd., S. 44. Manuskript (Fn. 13), S. 17. Ebd., S. 17. Ebd., S. 16.

Rechtsgefühl (Fn. 11), S. 19. - Deshalb kann dieses Rechtsgefühl auch der Ausgang der Jurisprudenz als Rechtswissenschaft sein. Es ist in sich wahr und sittlich, aber eben noch in

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„Interessen" reicht deshalb nicht tief genug; denn - wie Jhering es 1868 formulierte! -: „die treibenden Kräfte des Rechts liegen nicht ausschließlich auf der eigentlich praktischen Seite, sondern es gesellt sich ihr die ethische Seite hinzu" 53 . Jedenfalls umfaßt der Begriff des „Interesses" immer mehr als nur Materielles: nämlich auch die „idealen" Interessen (oder Zwecke). Dadurch verliert dieser Begriff freilich seine eigentliche Bestimmtheit: denn die letzteren Interessen - also die „idealen"! - hängen mit der Idee des Rechts (als Gerechtigkeit) zusammen, weshalb Jhering auch von „idealem Wert" spricht 54 und eine „ideale Auffassung des Rechts" kennt 55 , die nur in sehr abstrakter Weise als „Interessenjurisprudenz" bezeichnet werden kann. Es geht um die „Idee des Rechts" 56 , die auch dem rechtlichen Interesse (bzw. der Rechtlichkeit der einzelnen Interessen) zugrunde liegen muß. Diesbezüglich faßt Jhering sich in seinem Vortrag 1872 kurz: Die Idee des Rechts könne nur vom Menschen und seiner moralischen Existenz hergedacht werden. Im Unterschied zum Tier betreffe - so Jhering weiter! 57 der natürliche und naturgegebene Trieb zur Selbsterhaltung nicht das psychische Leben, sondern diese moralische Existenz als Person oder Persönlichkeit (welche Begriffe - wie erwähnt! - synonym verwendet werden). Die Bedingung dieser moralischen Existenz sei das Recht. „ I n dem Recht besitzt und verteidigt der Mensch seine moralische Existentialbedingung - ohne das Recht sinkt er auf die Stufe des Tieres herab" 58 . Die Idee des Rechts bezieht sich immer auf die Idee der Person, die sich als moralisches Subjekt bestimmt und dafür als Rechtsperson zu denken ist, als Person (oder Persönlichkeit) im Recht! Nur wenn der Mensch als Person rechtlich anerkannt und geachtet wird, kann er sein eigentliches Wesen, seinen Begriff als moralisches Subjekt, verwirklichen. Weil er begrifflich dieses Wesen der moralischen Selbstbestimmung ist, ist er als diese Rechtsperson zugrunde zu legen. Klar wird dabei, daß dieser Rechts- und Personenbegriff ein philosophischer Begriff, nicht ein dogmatischer Begriff der Rechtsgesetze (des positiven Rechts) ist, womit ein Recht gedacht wird, das den vom Menschen gesetzten unmittelbar gelebter und deshalb konkreter Gestalt. Der Rechtswissenschaftler „soll (es) zur Allgemeinheit des Begriffes erheben", „zur Form des Bewußtseins" (so Manuskript Fn. 13, S. 30, 31), oder in den Worten des Vortrages 1872: der Wissenschaftler soll die Regeln des Rechts aus dem vorhandenen rechtlichen Leben „mittels der Dialektik des Begriffes (erschließen) und zum Bewußtsein (bringen)" (Fn. 1, S. 13) (wobei anzumerken ist, daß Jhering in späteren Ausgaben statt „Dialektik des Begriffs" die Formulierung „auf analytischem Wege" wählte, vgl. Klenner in Ausgabe Fn. 1, S. 153, Anm. 15). 53 Manuskript (Fn. 13), S. 22. 54 Kampf (Fn. 1), S. 45. 55 Ebd., S. 45. 56 Ebd., S. 28. 57 Ebd., S. 27. Ebd., S. 2 .

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Normen, aber überhaupt allen menschlichen Verhältnissen zugrunde liegt und so den Grund darstellt, weshalb diese Normen und Verhältnisse positives Recht bzw. wirkliche Rechtsverhältnisse sind. Dieser Rechtsbegriff ist somit vor-staatlich, vor-gesetzlich, bezogen und begründet in dem Begriff des Menschen als moralische Freiheit, d. h. als handelndes Wesen. „Recht" wird - wie erwähnt! - in Nachfolge auch von Kant und Hegel als praktisches Phänomen, als Rechts-„Verhältnis" (d. h.: als rechtliches Handeln) gedacht; und deshalb zunächst nicht als z. B. staatliches Gesetz. Aber doch wird es - wie noch zu zeigen sein wird! - auf das staatliche Gesetz bezogen, freilich ebenfalls als Handeln: nämlich als Gesetzgebung, damit als positivierendes Handeln der Staatsorgane, die damit das im Leben der Menschen sich (vom Rechtsgefühl getragen) entwickelnde Recht präzise fassen, klären, fortentwickeln usw.; worin der Grund liegt, daß das Produkt dieses Handelns nicht nur „Gesetz", sondern „positives Recht" nicht nur genannt wird, sondern es auch ist. Kant hat diesen Rechtsbegriff den „moralischen" genannt 59 , weil er den Menschen in seiner freiheitlichen Selbstbestimmung trotz aller bloßen Legalität der Gesetzesbefolgung innerlich verpflichten kann (diesbezüglich also wie man heute zu sagen pflegt! - „Gerechtigkeit" einschließt). Für Hegel war ein solcher moralischer Rechtsbegriff „abstrakt", weil er von der eigentlichen Grundlegung in der gelebten Sittlichkeit - die er „substantieller Staat" (verstanden als gelebte Polis, als praktische Verfaßtheit des Zusammenlebens) nannte! 60 - absieht. Nur dort - so meinte Hegel! - sei wirklich Recht gesetzt und von Gerichten angewendet, wo die so handelnden Menschen (Parlamentarier, Richter) aus sich heraus, aus sittlichem Charakter, gerecht leben würden, was auch geschichtlich die Herausarbeitung der Sitten voraussetze, in die - als objektiven Geist - die einzelnen hineingeboren und -wachsen könnten. Die Ähnlichkeit dieses „sittlichen Rechtsbegriffs" Hegels - wonach also wirkliche Rechtsverhältnisse nur (als „Dasein des freien Willens" im Sinne des § 29) in den unmittelbar gelebten guten Sitten eines Volkes bzw. der einzelnen Menschen, die deshalb „citoyen" 61 sind, begründet sein können! - zur Auffassung Jhering ist augenfällig. Das „Rechtsgefühl" im Sinne Jherings meint ebenfalls diese unmittelbare Sittlichkeit der Einzelnen: deutlich etwa in dem Hinweis, daß dieses Gefühl „seinen Grund in der Macht der sittlichen Idee [habe]" und deshalb „ein sittliches Phänomen [sei]" 62 ; selbst das Abstellen auf den sittlichen „Charakter" findet sich bei 59

Kant (Fn. 43), S. 337. Dazu vgl. die Angaben in Fn. 24. 61 Dieser Begriff wird von Hegel m. W. nur im mündlichen Vortrag verwendet; sachlich findet er sich an zahlreichen Stellen, z. B. in § 264 der „Grundlinien", wo Hegel zwischen „Privatperson" und „substantieller Person" unterscheidet. 62 Kampf (Fn. 1), S. 59 f. 60

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beiden 63 . In dem Vortrag 1884 wird der Zusammenhang mit Hegel noch deutlicher herausgestellt. Jhering betont hier den qualitativen Unterschied von Mensch und Tier: der Mensch sei das geistige Wesen, das in der Welt der Sittlichkeit lebe und deshalb als sittlicher Charakter zu bestimmen sei 64 . Diese Welt des Sittlichen wird dabei als Ordnung des gesellschaftlichen Wesens bestimmt 65 , die durch die öffentliche Meinung - als Sitte oder als Moral, die ausdrücklich gleichgesetzt werden! 66 - oder durch die Staatsmacht - dann als Rechtsgesetz67 - aufrechterhalten werden. Offensichtlich will Jhering selbst den letzten und tiefsten Grund für das sittlich-moralische Wesen der Menschen in der Kindschaft Gottes sehen68. Insgesamt wirft freilich diese Konzeption der Sittlichkeit bei Jhering im Vergleich zum System Hegels einige zu differenzierende Dimensionen durcheinander: so die Dimension der Sittlichkeit und der Moral, die Hegel selbst ausdrücklich unterscheidet und letztere nur ids Moment der ersteren anerkennt, die Sphäre des objektiven Geistes (in seiner höchsten Gestalt als Weltgeist, also als der objektive Geist der Weltgeschichte 69 ) und die Sphäre des absoluten Geistes. Da fehlen bei Jhering wesentliche Differenzierungen und Vermittlungen; aber was soil's: Im Rechtsbegriff ist die Ähnlichkeit zu Hegel augenfällig. Dabei läßt sich diese Ähnlichkeit zum rechtsphilosophischen System von Kant und Hegel bis in die einzelnen Rechtsbestimmungen finden, was hier nur in Bezug auf Hegels „Grundlinien" aufgezeigt werden soll (in welchem Buch freilich - was hier nicht näher dargestellt werden kann! - nur die Inhalte des natürlichen Privatrechts in der „Metaphysik der Sitten" Kants systematisiert sind). Grundbegriff bei Jhering wie bei Hegel ist die Person: bei Jhering als Ausdruck der moralischen Subjektivität (gleichgesetzt mit „Persönlichkeit"), bei Hegel ausdrücklich in § 35 bestimmt. Diese Person gibt sich Dasein in der Welt als rechtliches Verhältnis des Eigentums: zu dem eigenen Körper und seinen Organen, auch zu seiner Kraft, wie zu den (übrigen) Sachen selbst. Dabei verwendet Jhering Formulierungen, die manchen Passagen der §§ 41 ff. der Hegeischen „Grundlinien" 7 0 fast wörtlich ent63 64 65 66 67 68

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Vgl. ebd., S. 26, S. 45. Rechtsgefühl (Fn. 11), S. 18, S. 21. Ebd., S. 22. Ebd., S. 22. Ebd., S. 22. Vgl. dazu Behrends in: Rechtsgefühl (Fn. 11), S. 113.

Dazu vgl. Wolfgang Schild, Menschenrechtsethos und Weltgeist. Eine Hegel-Interpretation, in: Würde und Recht des Menschen. FS f. Johannes Schwartländer, Würzburg 1992, S. 199 70 - 222. Dazu vgl. Wolfgang Schild, Begründungen des Eigentums in der politischen Philosophie des Bürgertums: Locke - Kant - Hegel, in: Johannes Schwartländer - Dietmar Willoweit (Hrsg.), Das Recht des Menschen auf Eigentum, Kehl am Rhein 1983, S. 33 - 60.

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sprechen. So wenn gesagt wird, daß „mein Wille das Band zwischen [der Sache] und mir (knüpft) ... Es ist ein Stück eigener oder fremder Kraft und Vergangenheit, das ich in ihr besitze und behaupte. Indem ich sie zu der meinigen gemacht habe, habe ich ihr den Stempel meiner Person aufgedrückt; wer sie antastet, tastet letztere an, der Schlag, den man auf sie führt, trifft mich selber, der ich in ihr anwesend bin - das Eigentum ist nur die sachlich erweiterte Peripherie meiner Person" 71 . Auch der von Jhering betonte Zusammenhang von Eigentum und Arbeit 7 2 findet sich bei Hegel in § 56 (Formierung und Bearbeitung). Für beide ist also das Eigentum ein Rechtsverhältnis (nämlich: der Rechtsperson zur rechtlosen Sache), das zuletzt von der „sittlichen Idee des Eigentums" 73 - als freiheitliches Dasein der Person! - getragen ist; weshalb es nicht (nur) um materielles Interesse des Eigentümers am Wert oder am Nutzen der Sache geht, sondern (auch und wesentlich) darum, daß die Sache „sein Eigen ist" 7 4 und er darin die äußere Seite seiner persönlichen Freiheit lebt. Deshalb geht das Rechtsverhältnis des Eigen(tum)s an Sachen fließend über in das Rechtsverhältnis zu einer anderen Person in Bezug auf diese Sache, nämlich zum Vertrag. Hegel behandelt dieses Rechtsverhältnis zwischen Personen in §§ 72 ff. ausführlich und mit zahlreichen Differenzierungen; Jhering setzt den Vertrag als „moralische Existentialbedingung" - und damit bezogen auf die Personalität! - einfach voraus 75 ; wie auch „Ehe" 7 6 und Erbrecht 77 , die im System Hegels an anderen Stellen (erst) abgehandelt werden, welcher Unterschied hier aber nicht weiter interessieren soll. Schließlich findet sich die Ähnlichkeit zwischen Hegel und Jhering auch im Begriff des Unrechts, wobei Jhering ausdrücklich auf das „unbefangene Unrecht" bei Hegel verweist 78 . Bei Hegel wird im Unrecht das Rechtsverhältnis zu einer anderen Person - also das durch Vertrag begründete Eigentumsrecht an einer Sache - negiert, in der schärfsten Form (als „verbrecherisches Unrecht") in der Gestalt von Zwang und Gewalt (§§ 90 ff.). Auch für Jhering bedeutet „Unrecht" vor allem diese letzte und gesteigerte Form. Er nennt es „Willkür" und versteht darunter nicht ein unverschuldetes, bloß objektiv vorliegendes (und insoferne: „unbefangenes") Unrecht, sondern „eine Auflehnung gegen die Idee des Rechts" 79 , eine Negation letztlich der Person selbst80. Jhering nennt als Bei-

71 72 73 74 75 76 77 78 79

Kampf (Fn. 1), S. 44. Ebd., S. 10 f., S. 40. Ebd., S. 40. Kampf, 4. Aufl. (Fn. 27), S. 34. Kampf (Fn. 1),S. 28. Ebd., S. 28, S. 48. Kampf, 4. Aufl. (Fn. 27), S. 35. Kampf (Fn. 1),S. 33. Ebd., S. 28.

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spiel den Dieb und den Räuber: Sie „stellen sich außerhalb des Rechtsbereichs des Eigentums, sie negieren in meinem Eigentum zugleich die Idee desselben und damit eine wesentliche Existentialbedingung meiner Person. Man denke sich ihre Handlungsweise als allgemeine, als Maxime des Rechts, und das Eigentum ist praktisch und prinzipiell negiert. Darum enthält ihre Tat nicht bloß einen Angriff gegen meine Sache, sondern gegen meine Person" 81 . Wieder macht Jhering deutlich, daß es nicht (nur) um die Verletzung von Interessen oder gar bloß um Beschädigung irgendeiner Sache geht. Die Idee des Rechts als dieser Existentialbedingung von Personalität überhaupt wird betroffen: nicht im eigentlichen Sinne „verletzt" - denn wie sollte man eine Idee verletzen können?! -, sondern in ihrem Wahrheits- und Geltungsanspruch mißachtet. Der Begriff des Menschen als Rechtsperson bedeutet: Jeder Mensch ist als Rechtsperson zu achten; und das Unrecht ist die Mißachtung dieser Personalität und ihres immer schon notwendigen ImRecht-Seins. Deshalb degradiert das Unrecht die Person zur „Rechtlosigkeit", da es die „Mißachtung des Rechts in meiner Person" darstellt 82 . Jhering greift auch auf den Begriff der „Ehre" zurück: Diese Mißachtung der Personalität sei zugleich die Verletzung der Ehre des Betroffenen 83 ; wir können auch sagen (mit Kant und Art. 1 GG, im übrigen auch mit Jhering selbst 84 ): der Würde des Menschen.

IV. Jhering geht mit seinem Vortrag über den „Kampf" über diese bisher dargestellte Thematik der Rechtsverhältnisse der Person in Eigentum und Vertrag hinaus; und folgt auch darin Kant und Hegel! Das Kantische Vorbild nennt Jhering selbst in späteren Auflagen; und dies zu recht. Für Kant folgt diese Pflicht, den Menschen als Rechtsperson zu achten und seine Würde anzuerkennen, aus seinem Wesen (Begriff) als freiheitliche Selbstbestimmung (Autonomie): „Der Begriff der Freiheit ist ein reiner Vernunftbegriff, der eben darum für die theoretische Philosophie transzendent, d. i. ein solcher ist, dem kein angemessenes Beispiel in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann, welcher also keinen Gegenstand einer uns möglichen theoretischen Erkenntnis ausmacht, und schlechterdings nicht für ein konstitutives, sondern lediglich als regulatives und zwar nur bloß negatives Prinzip der spekulativen Vernunft gelten kann, 80 81 82 83 84

Ebd., S. 29. Ebd., S. 29. Ebd., S. 29. Ebd., S. 35. Ebd., S. 68.

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im praktischen Gebrauch derselben aber seine Realität durch praktische Grundsätze beweiset, die, als Gesetze, eine Kausalität der reinen Vernunft, unabhängig von allen empirischen Bedingungen (dem Sinnlichen überhaupt), die Willkür beweisen, in welchem die sittlichen Begriffe und Gesetze ihren Ursprung haben" 85 . „Wir kennen unsere Freiheit (von der alle moralischen Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen) nur durch den moralischen Imperativ" 86 . Der Mensch erfährt sich in seinem Gewissen aufgerufen, gesetzmäßig zu handeln, also so zu handeln, daß die Maxime dieses Handelns allgemeines Gesetz für alle Menschen werden könnte; und darin erweist er sich als offen für die praktische Vernunft. Es ist nur konsequent, wenn daraus eine Pflicht eines jeden Individuums gegen sich selbst folgt, nämlich: „Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive) [nach Ulpian]. Die rechtliche Ehrbarkeit (honestas iuridica) bestehet darin: im Verhältnis zu anderen seinen Wert als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: ,mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck'. Diese Pflicht [folgt] aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person" 87 . D. h.: weil der Mensch begrifflich Person ist (und dies ihn wesentlich bestimmt im Unterschied zum Tier), ist er verpflichtet, diesen seinen Begriff auch zu verwirklichen, also wirklich das zu werden, was er begrifflich ist: nämlich Person. Dabei wird bei Kant nicht ganz klar, wie diese Pflicht näher zu qualifizieren ist. Auf der einen Seite steht die genannte Stelle in dem Ersten Teil der „Metaphysik der Sitten", also der Rechtslehre; und wird deshalb in der Überschrift ausdrücklich als „Rechtspflicht" bezeichnet88. Konsequent nennt Kant Verletzungen dieser Pflicht auch „Verbrechen": so die widernatürliche Unzucht 89 , den Selbstmord 90 und die Lüge 91 . Andererseits legt Kant einen Rechtsbegriff zugrunde, der ausdrücklich nur das äußere Verhältnis zu anderen Personen betrifft 92 , was konsequent dazu führt, daß Selbstmord und Lüge im zweiten Teil der „Metaphysik der Sitten", also der Tugendlehre, abgehandelt werden. Ebenso in der Tugendlehre stehen die Stellen, auf die Jhering in den späteren Ausgaben seiner Schrift über den „Kampf ums Recht" Bezug nimmt: „Laßt euer Recht nicht ungeahndet von anderen mit Füßen tre-

85 86 87 88 89 90 91 92

Kant (Fn. 43), S. 326 f. Ebd., S. 347. Ebd., S. 344. Ebd., S. 344. Ebd., S. 390, S. 488. Ebd., S. 554 f. Ebd., S. 562 f. Ebd., S. 337.

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ten." 9 3 ; „Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, daß er mit Füßen getreten wird." 9 4 ; „Denn das [nämlich: die Hinnahme von Ehrverletzungen] wäre Wegwerfung seiner Rechte unter die Füße anderer und Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst." 95 Die Lösung dieses Problems kann m.E. in dem Gedanken gefunden werden, den Kant im Zusammenhang mit dem Verbrechen der Lüge formuliert: „Obgleich ich durch eine gewisse Lüge ... niemandem Unrecht tue, [verletze] ich doch das Prinzip des Rechts in Ansehung aller unumgänglich notwendigen Aussagen überhaupt [und tue] formaliter, obgleich nicht materialiter, Unrecht" 9 6 . D. h.: Unrecht liegt stets vor, wenn das Prinzip des Rechts überhaupt verletzt ist; und Kant gibt in seiner Rechtslehre zunächst (d. h. noch vor dem Hinweis auf das notwendige Zwangsmoment im Rechtsbegriff) den positiven Begriff des Rechtes an, freilich - wie erwähnt! - als praktischen Begriff, nämlich bezogen auf Handeln: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann etc." 97 . Darauf folgt: Unrechtliches Handeln liegt vor, wenn so gehandelt wird, daß ein freies Zusammenleben von Personen - wenn man die Maxime verallgemeinert! - nicht gedacht werden kann. Dann handelt der Betreffene nicht rechtlich und damit im Sinne des oben zitierten Vernunftbegriffes der Freiheit nicht wirklich frei; unabhängig von der Frage nach Rechts- oder Tugendpflicht, welcher Unterschied nicht den Inhalt, sondern nur die Bestimmungsgründe des Handelnden - ob aus Legalität oder aus Moralitât! - betrifft 98 . Und nach dem oben Gesagten ist selbstverständlich, daß dieses Unrecht (unrechtliche Handeln) den vor-staatlichen Zustand betrifft und deshalb nicht bedeutet, daß der Staat mit Strafen gesetzlich dagegen vorgehen muß: diesbezüglich kann das staatliche Strafgesetz sich auf äußere Verletzungen der Freiheitssphäre eines anderen beschränken. Unter Bezugnahme auf Kants „moralischen Rechtsbegriff" 9 9 könnte man somit in dieser Verletzung der rechtlichen Ehrbarkeit der Person die Verletzung der eigentlichen moralischen Rechtspflicht sehen. Bei Hegel ist dieser Charakter als „abstrakter", d. h. hier: von der staatlichen Gesetzgebung absehender, Rechtspflicht ausdrücklich klargestellt, nämlich in § 36 (und damit im Rahmen des Ersten Teils der „Grundlinien", eben dem „Abstrakten Recht"): „Das Rechtsgebot ist daher:

93 94 95 96 97 98 99

Ebd., S. 571. Ebd., S. 572. Ebd., S. 599. Ebd., S. 642. Ebd., S. 337. Vgl. ebd., S. 318, S. 347, S. 508 ff. Vgl. ebd., S. 337.

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sei eine Person und respektiere die anderen als Personen". Daraus (vor allem aus dem ersten Teil des Gebotes) leitet Hegel die Rechtspflicht zum Eigentum) - auch und vor allem bezüglich des eigenen Körpers (um überhaupt handeln zu können) - und zum Vertrag ab (vergleiche allgemein §§ 66, 155; konkret §§ 41 100 , 45 Anm., 49 und §§ 71 Anm. 1 0 1 , 73). Aber noch mehr: auch eine Rechtspflicht zur Bekämpfung des Unrechts wird von Hegel in den §§ 86, 89, 93 102 , 97, 104 zugrunde gelegt: in Bezug auf die schärfste Gestalt das verbrecherische Unrecht als Gewalt und Zwang! - als Pflicht zur rächenden Vergeltung, die dieses Unrecht negiert (vgl. §§ 101, 102) und so das Rechtsverhältnis des Eigentums oder Vertrages wiederherstellt (vgl. § 99). Auch Jhering leitet aus dem Ansatz bei der Rechtsperson die Pflicht eines jeden ab, eine solche Person zu sein. Vor allem begründet er von daher die Pflicht, die Mißachtung des Rechts in der eigenen Person - also das Unrecht! - mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu bekämpfen 103 . „Der Kampf ums Recht ist eine Pflicht des Berechtigten gegen sich selbst" 104 : nicht (nur), weil er Individuum mit Interessen ist, die verletzt werden, sondern (vor allem) weil er Person ist, die in ihrem Achtungsanspruch getroffen und so rechtlos gemacht wird. Der Kampf geht wirklich um das Recht: nämlich um das eigene Recht als Bedingung der moralischen Existenz. Es kämpft der Mensch um sein rechtliches Überleben; und er kämpft als Mensch im Recht. Deshalb kann Jhering - wie erwähnt! - auch sagen: es geht um den Kampf des Rechts gegen das Unrecht: nämlich um die Idee des Rechts, die mißachtet wurde in der die Person herabwürdigenden Tat. Jhering nennt diese Pflicht „ein Gebot der moralischen Selbsterhaltung" 1 0 5 ; und spricht von dem „moralischen Schmerz", den erlittenes Unrecht zufüge 106 . Doch umfängt die moralische Existenz immer schon ihre Existentialbedingung, diese Rechtspersonalität, ohne die der Mensch nicht moralisches Wesen sein könnte. Die Pflicht betrifft deshalb immer schon die Selbsterhaltung als Rechtsperson; und ist in diesem Sinne - d. h. im Sinne eines moralischen/sittlichen Rechtsbegriffes, wie er bereits im Zusammenhang mit Kant und Hegel genannt wurde! - eine Rechtspflicht gegen sich selbst!

„Die Person muß sich eine äußere Sphäre ihrer Freiheit geben". „Es ist durch die Vernunft ebenso notwendig, daß die Menschen in Vertragsverhältnisse eingehen - schenken, tauschen, handeln usf. -, als daß sie Eigentum besitzen". 101

102

„Der Zwang hat davon, daß er sich in seinem Begriffe zerstört, die reelle Darstellung darin, daß Zwang durch Zwang aufgehoben wird; er ist daher nicht nur bedingt rechtlich, sondern notwendig - nämlich als zweiter Zwang, der ein Aufhaben eines ersten Zwanges ist". 103 Kampf (Fn. 1), S. 29. 104 Ebd., S. 27. 105 Ebd., S. 28. 10 Ebd., S. .

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In diese Richtung ist die Formulierung von Jhering zu verstehen: „Die Ethik ist der Boden des Rechts" 107 , vor allem aber auch: „Die Ethik hat uns Aufschluß darüber zu geben, was dem Wesen des Rechts entspricht oder widerspricht" 108 . Deshalb spricht Jhering gleichbedeutend mit dem oben genannten moralischem Schmerz von dem Schmerz, den der Unrechtserleidende in seinem Rechtsgefühl empfindet: „Der Schmerz, den der Mensch bei der Verletzung seines Rechts empfindet, enthält das gewaltsam erpreßte, instinktive Selbstgeständnis über das, was das Recht ihm ist, zunächst was es ihm, dem Einzelnen, sodann aber auch, was es an sich ist. In diesem einen Moment kommt in Form des Affekts, des unmittelbaren Gefühls von der wahren Bedeutung und dem wahren Wesen des Rechts mehr zum Vorschein als während hundert Jahre ungestörten Genusses" 109 . Ich denke, daß Jhering mit Kant und Hegel deshalb von einer Rechtspflicht gegenüber sich selbst sprechen kann und muß; und nur so ist doch seine These begründbar, daß es dabei um den Kampf des Rechts selbst gegen das Unrecht geht, wie es im Rechtsbegriff als solchen - freilich in einem philosophischen, vom Begriff des Menschen als des moralischen Wesens ausgehenden Begriff! - vermittelt sei. Konsequent schreibt Jhering deshalb: „Die erste Regel des Rechts ist: dulde kein Unrecht" 1 1 0 .

V. Von daher ist es selbstverständlich, daß diese rechtliche Pflicht zur „Selbsterhaltung der Person" 111 nicht nur die Sphäre des Individuums betrifft. Es geht von vornherein nicht um das Individuum als solches und um seine Interessen, die zu schützen wären! sondern thematisiert wird das Individuum nur als Person, die es immer schon ist als moralisches Wesen (weshalb es ja auch überhaupt Subjekt einer Pflicht sein kann). Das Individuum muß begrifflich als Person gedacht und geachtet/anerkannt werden. Doch gilt diese Idee der Person für jedes Individuum in gleicher Weise. Trotz aller Unterschiede in der jeweiligen Individualität und der besonderen Interessenslage ist jeder Mensch in gleicher Weise als Person zu denken. Und nur weil diese Einheit zugrunde gelegt ist (d. h.: weil jeder in gleicher Weise Person ist), kann überhaupt auf die Unterschiedlichkeit, ja Gegensätzlichkeit der individuellen Interessen abgestellt werden. Diese Idee der Personalität verbindet die Individuen zu einem rechtlichen Verhältnis als einem Verhältnis von Personen. Deshalb kann Jhering sagen, daß die Miß107 108 109 110

Ebd., S. 100. Kampf, 4. Aufl. (Fn. 27), S. 95. Kampf (Fn. 1),S. 46. Ebd., S. 56. -Jhering fahrt fort: „Die zweite: tue keines" (d. h.: kein Unrecht).

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achtung des Rechts einer Person stets die Mißachtung des Rechtes überhaupt sei, nämlich: „die Mißachtung des Rechtes in meiner Person" 112 ; und selbstverständlich damit in jeder (anderen) Person. Verletzt wird zwar nur das individuelle Opfer; aber das ihm angetane Unrecht mißachtet seine Personalität und damit die Personalität überhaupt - eben: als Idee! - und somit die Personalität aller! „ I n meinem Rechte ist das Recht gekränkt, negiert" 1 1 3 ; und deshalb ist das Recht - nämlich: die Idee des Rechtes, wie sie gedacht wird! - negiert genauso in dem Recht des Anderen, eines jeden Anderen. Die Pflicht, um das Recht zu kämpfen, bezieht sich somit auch auf das Recht des Anderen bzw. auf das dem Anderen angetane Unrecht; geht es doch um den Kampf um das Recht als Idee und gegen das Unrecht überhaupt. Jeder ist zur „Mitwirkung an der Verwirklichung der Rechtsidee" 114 verpflichtet. „Der Dienst für das Recht um des Rechts halber ohne eigenes Interesse ist sittliche Pflicht" 115 . Es ist ja - wie bereits erwähnt! - der Kampf des Rechts gegen das Unrecht selbst; und es geht nur um den Rechtsbegriff und seine Verwirklichung, d. h.: um die Idee des Rechts oder - wie Jhering sagt! 116 - um die „Idee der Gerechtigkeit". Jhering meint, daß diese Pflicht des Einzelnen, für jedes Recht gegen jedes Unrecht zu kämpfen, eine Pflicht gegen das Gemeinwesen sei 117 . Denn „ i n seinem Rechte [verteidigt jeder] zugleich das Gesetz und im Gesetz zugleich die unerläßliche Ordnung des Gemeinwesens" 118 . Gemessen an Kant und Hegel fehlen hier einige Vermittlungsschritte, jedenfalls der Übergang vom bisher dargestellten „natürlichen Privatrecht" zum „bürgerlichen (durch öffentliche Gesetze das Mein und Dein sichernden) [öffentlichen] Recht", um es mit Kant auszudrücken 119. Kant macht deutlich, daß Person, Eigentum und Vertrag als solche noch kein wirkliches rechtliches Zusammenleben ermöglichen, sondern daß es dazu einer staatlichen Verfaßtheit (im Rechtsstaat) bedarf. In der Rechtslehre, dem ersten Teil der „Metaphysik der Sitten", entwickelt Kant „aus dem Privatrecht im natürlichen Zustande" - „analytisch aus dem Begriffe des Rechts, im äußeren Verhältnis, im Gegensatz der Gewalt" - „das Postulat des öffentlichen Rechts: du sollst, im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinander111 112 113 114 115 116 117 118 119

Ebd., S. 51. Ebd., S. 29. Ebd., S. 58. Ebd., S. 58. Ebd., S. 61. Ebd., S. 71. Ebd., S. 51 ff. Ebd., S. 56. Kant (Fn. 43), S. 350.

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seins, mit allen anderen, aus jenem heraus, in einen rechtlichen Zustand, d. i. den einer austeilenden Gerechtigkeit, übergehen" 120 . In der 1793 erschienenen Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" gibt Kant eine nähere Begründung: im rechtlichen Naturzustand „gibt ein jeder sich selbst das Gesetz, und es ist kein äußeres, dem er sich, samt allen andern, unterworfen erkennte. In [ihm] ist ein jeder sein eigner Richter, und es ist keine öffentliche machthabende Autorität da, die, nach Gesetzen, was in vorkommenen Fällen eines jeden Pflicht sei, rechtskräftig bestimme, und jene in allgemeine Ausübung bringe" 121 . „So [ist] der juridische Naturzustand ein Zustand des Krieges von jedermann gegen jedermann,... der Zustand einer gesetzlosen äußeren (totalen) Freiheit und Unabhängigkeit von Zwangsgesetzen", damit ein Zustand, „aus welchem der Mensch herausgehen soll, um in einen politisch-bürgerlichen zu treten" 122 . Dann komme ein juridisches Gemeinwesen - der Staat - zustande, in dem die sich zu diesem Ganzen vereinigende Menge der Gesetzgeber sein müsse, wobei „die Gesetzgebung von dem Prinzip ausgeht: die Freiheit eines jeden auf die Bedingungen einzuschränken, unter denen sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, und wo also der allgemeine Wille einen gesetzlichen äußeren Zwang errichtet", der „nur auf die Legalität der Handlungen" abstellt 123 . Freilich - so meint Kant in der „Metaphysik der Sitten"! 124 - würden die staatlichen Gesetze „nicht mehr oder andere Pflichten der Menschen unter sich [enthalten], als in jenem [d. h.: dem natürlichen Privatrecht] gedacht werden können; die Materie des Privatrechts ist eben dieselbe in beiden. Die Gesetze des letzteren betreffen also nur die rechtliche Form ihres Beisammenseins (Verfassung), in Ansehung deren diese Gesetze notwendig als öffentliche gedacht werden müssen". Auch bei Hegel kann das rechtliche Zusammenleben der Menschen nicht mit Person, Eigentum, Vertrag und rächender Vergeltung verwirklicht werden. Denn zwar ist die Vergeltungshandlung trotz ihres Gewaltcharakters rechtlich, da sie nur den ersten Zwang (des Unrechts) aufhebt (§ 93); sie begründet also gegenüber dem Täter der ersten Zwangshandlung ein Rechtsverhältnis und anerkennt ihn darin als Person, freilich nur, sofern sie das Maß des Vergeltungszwanges dem von diesem gesetzen Unrecht als solchem 120 121 122

Ebd., S. 424. Ebd., S. 753 f. Ebd., S. 755 f.

123

Ebd., S. 757 f. - Zur näheren (apriorischen) Bestimmung dieser rechtsstaatlichen Verfaßtheit bei Kant vgl. Wolfgang Schild, Freiheit - Gleichheit - „Selbständigkeit" (Kant): Strukturmomente der Freiheit, in: Johannes Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1Kehl am Rhein 1981, S. 135 -176. 24 Ebd., S. 424. 4 Jhering-Symposium

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entnimmt (vgl. § 101). Als Rache aber kann sie dieses Maß nicht einhalten: sie „wird hierdurch, daß sie als positive Handlung eines besonderen Willens ist, eine neue Verletzung: sie verfällt als dieser Widerspruch in den Progreß ins Unendliche und erbt sich von Geschlechtern zu Geschlechtern in Unbegrenzte fort" (§ 102). So ist die rächende Vergeltung rechtlich und unrechtlich zugleich, also ein Widerspruch (vgl. § 103), der als solcher nicht aufgelöst werden kann: außer durch Einrichtung einer Rechtspflege - also des im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft (§§ 209 ff.) sich herausbildenden äußeren Rechtsstaates mit Gesetzgebung und Rechtsprechung! -, die von innen her (vgl. §§ 260 ff.) von sittlich handelnden Individuen getragen und so als substantieller, wirklich rechtlicher, politischer Staat gelebt wird. So erweisen sich Person, Eigentum, Vertrag und rächende Vergeltung als solche nur als „das abstrakte Recht" - wie Hegel diesen ersten Teil seiner „Grundlinien" nennt (ab §§ 34 ff.) -, weil absehend vom eigentlichen Grund des rechtlichen Zusammenlebens in dem sittlichen (substantiellen, politischen) Staatsleben. Wegen dieser Abstraktheit ist das für die rächende Vergeltung oben dargestellte Umschlagen der Rechtlichkeit in Unrechtlichkeit immer möglich. Diese Abstraktheit zeigt sich auch bei Jhering, nämlich dort, wo der Kampf um das Recht im vor-staatlichen Bereich stattfindet und stattfinden muß: nämlich als Notwehr. Jhering hat für die Auffassung, die die heutige Strafrechtswissenschaft unter dem Stichwort „Rechtsmißbrauch" oder „sozialethische Grenzen der Notwehr" oder „Gebotenheit" darstellt 125 , keinerlei Verständnis. Der rechtswidrig 126 angreifende Täter müsse zurückgeschlagen werden dürfen, da es um die Durchsetzung des Rechts gegen das Unrecht gehe! Hier Rücksicht auf den Angreifer etwa dahingehend nehmen zu sollen, daß dieser bei nur in geringem Maße drohendem Eigentumsverlust nicht getötet werden dürfe, erscheint Jhering als „Attentat gegen die Idee des Rechts und als die grauenhafteste Versündigung gegen das Rechtsgefühl" 127 . Hier erweist sich das Jheringsche „Rechtsgefühl" als nicht ungefährlich, eben als nur unmittelbar und daher in der Nähe zu Emotionen und Affekt. Ein solches, zudem auf Männlichkeit bedachtes 128 Gefühl kann nicht Grundlage eines wirklich freien Zusammenlebens sein!

125

Vgl. nur Hans-Heinrich Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 4. Aufl., Berlin 1988, S. 309 ff. 126 Darunter müßte Jhering eigentlich vom Gesamtzusammenhang seiner Argumentation her nur das auch schuldhaft verwirklichte Unrecht verstehen, vgl. z. B. „Die Idee der Gerechtigkeit aber ist unzertrennlich von der Durchführung des Gesichtspunktes der Verschuldung" (Kampf, 4. Aufl., Fn. 27, S. 88). 127 Kampf (Fn.l),S. 95. 128 Vgl. ebd., S. 95.

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Deshalb ist der Vortrag Jherings von 1884 über das Rechtsgefühl sehr wichtig, gerade auch für das Thema des Kampfes um das Recht. Denn Jhering stellt hier klar (oder verbessert sich dahingehend), daß es bei dem Rechtsgefühl nicht um ein natürliches („instinktives") Gefühl gehe, sondern um das sittliche, sich in der Geschichte herausbildende (und zwar im Sinne eines Fortschrittes) Bewußtsein, wie es in dem Hineinwachsen eines Menschen in die sittliche Ordnung des Zusammenlebens seiner Zeit und seines Volkes entspricht. Jhering spricht von der „sittlichen Luft", die das Kind einatme im Prozeß seines Erwachsenwerdens 129, und wodurch es zur „allmählichen Bildung des Sittlichen" 130 in ihm komme. Jhering stellt sogar auf den „Geist" ab, der auch in der Ausbildung des sittlichen Bewußtseins das er auch als „Gewissen" bezeichnet! 131 - an der Arbeit ist 1 3 2 , zuletzt auf den göttlichen Geist, wie er in der Geschichte in stetigem Fortschreiten lebt 1 3 3 . Hier ist die Nähe zu Hegel, vor allem zu dessen Geschichtsphilosophie, augenfällig; auch wenn das Verhältnis von objektivem Geist (in höchster Gestalt als dem in der Geschichte lebenden Weltgeist) und absolutem Geist bei Jhering nicht zureichend differenziert gedacht ist. Das Entscheidende bleibt von Hegel her (vgl. §§ 142 ff.) für Jhering (zumindest den Jhering von 1884) festzuhalten: Das „Rechtsgefühl" ist der sittliche Charakter, der zwar auch unmittelbar lebendig sich in der Handlungsweise zeigt, aber auch durch die Reflexion des Gewissens gegangen ist (wie bei Hegel der dritte Teil der „Grundlinien" - die Sittlichkeit - die Darstellung des ebenfalls abstrakten und daher „aufzuhebenden" zweiten Teils - die Moralität - vorausgesetzt ist; was in der näheren Umschreibung der subjektiven Seite der Sittlichkeit in §§ 150,151 zum Ausdruck kommt 1 3 4 ).

129 130 131 132 133

134

Rechtsgefühl (Fn. 11), S. 43. Ebd., S. 44. Ebd., S. 42. Ebd., S. 47 f. Ebd., S. 54.

Vgl. § 150: „Das Sittliche, insofern es sich an dem individuellen durch die Natur bestimmten Charakter als solchem reflektiert, ist die Tugend, die, insofern sie nichts zeigt als die einfache Angemessenheit des Individuums an die Pflichten der Verhältnisse, denen es angehört, Rechtschaffenheit ist"; vgl. § 151: „Aber in der einfachen Identität mit der Wirklichkeit der Individuen erscheint das Sittliche, als die allgemeine Handlungsweise derselben, als Sitte, die Gewohnheit desselben als eine zweite Natur, die an die Stelle des ersten bloß natürlichen Willens gesetzt und die durchdringende Seele, Bedeutung und Wirklichkeit ihres Daseins ist, der als eine Welt lebendige und vorhandene Geist, dessen Substanz so erst als Geist ist". - Erst wenn es solche sittliche Individuen gibt, kann das Programm des § 4 erreicht werden: „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur ist". Λ*

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Okko Behrends spricht deshalb korrekt vom „Rechtsgefühl" im Sinne Jherings als von dem „von der Erfahrung mit Recht genährtem Rechtsgewissen" 135 . Denn das sittliche Rechtsgefühl bildet sich an einem gelebten Recht, wie es dem praktischen Rechtsbegriff bei Jhering in Nachfolge von Kant und Hegel - wie oben gezeigt! - entspricht. Dies bedeutet, daß dem Einzelnen das Recht zunächst im Rechtsstaat mit seinen Gesetzen und Gerichten entgegentritt und er das Recht als positivierten Willen des Staates (als Stufenbau der Rechtssetzung von Gesetz über richterliches Urteil zur Sanktion 136 ) kennenlernt. Doch bleibt das „von der Erfahrung [mit diesem] Recht genährte Rechtsgewissen" nicht bei dieser Positivität (d. h.: bei diesem bloßen Gesetztsein als „Erzeugung") stehen: es erkennt auch Unzulänglichkeiten, verbesserungsbedürftige Regelungen, vielleicht sogar unrechtliche Bestimmungen in den Gesetzen; dabei angeleitet von dem Recht, wie es vor und neben den staatlichen Gesetzen von gerechten („rechtschaffenen" 137 ) Menschen vorbildlich gelebt und im Handeln bewährt wird. Denn es ist auch dieses gelebte Recht, das vom staatlichen Gesetzgeber in Gesetzesform gegossen und dann von den Gerichten konkretisierend weiter entwickelt wird, im Sinne des Stufenbaus des - im wahren Wortsinne - positiven Rechts. So wird das obige Zitat Jherings verständlich: der Kampf um das Recht sei stets eine Pflicht auch gegenüber dem Gemeinwesen 138 , nämlich dahingehend, daß jede Person verpflichtet ist, für eine wirklich rechtliche Ordnung des Zusammenlebens zu kämpfen. Die Person erweist sich dadurch - konsequent von ihrer Existentialbedingung her! - als sittliches Individuum, das sich selbst im Sinne einer sittlichen Verpflichtung einbringen muß in das Ganze des Zusammenlebens, in den politischen Bereich des staatlich verfaßten Lebens. Jeder ist somit citoyen und Mitglied eines lebendigen Gemeinwesens, das nicht (mechanischer) Staatsapparat ist und sein darf, sondern - in den Worten von Hegel - „Organismus des Staats, der eigentlich politische Staat und seine Verfassung" (§ 267). Dies bedeutet nach dem Gesagten selbstverständlich die Pflicht 139 , gegen Gesetze vorzugehen, die Unrecht darstellen 140 , bzw. für Gesetze, die mehr 135

136

Behrends in: Rechtsgefühl (Fn. 11), S. 97.

Dieser Gedanke des Stufenbaus der Rechtsordnung ist von der Reinen Rechtslehre (genauer: von Adolf J. Merkl) entwickelt, freilich dann formal auf den bloß logischen Geltungszusammenhange reduziert worden. Vgl. dazu Wolfgang Schild, Die Reinen Rechtslehren,1 Wien 1975, S. 21 f. 37 Vgl. den Hinweis auf § 150 der Hegeischen „Grundlinien" in Fn. 134. 138 Kampf (Fn. 1),S. 56. 139 Zum Kampf um das eigene nationale Recht eines Staates gegen andere Staaten vgl. ebd., S. 72 ff. - Zum historischen Hintergrund gerade dieser Anspielungen in einem Vortrag in Wien vgl. Klenner, in: ebd., S. 150, Anm. 2. 140 Ebd., S. 69.

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und besseres Recht positivieren, sich zu engagieren 141. Jhering tritt diesbezüglich für das „ewige Urrecht der Menschheit auf das Werden" 1 4 2 ein, da jedes positive Gesetz zwar Recht verwirkliche, aber niemals für alle Zeiten und unverbesserbar; insofern sei jedes positive Recht immer auch Unrecht. Jhering spricht von dem „Konfliktsfall der Rechtsidee mit sich selber" 143 und zitiert sich selbst (nämlich seinen „Geist des römischen Rechts"): „'Das Recht ist der Saturn, der seine eigenen Kinder verspeist'; das Recht kann sich nur dadurch verjüngen, daß es mit seiner eigenen Vergangenheit aufräumt. Ein konkretes Recht, das, weil es einmal entstanden, unbegrenzte, also ewige Fortdauer beansprucht, ist das Kind, das seinen A r m gegen die eigene Mutter erhebt; es verhöhnt die Idee des Rechts, indem es sich auf sie beruft, denn die Idee des Rechts ist ewiges Werden, das Gewordene aber muß dem neuen Werden weichen denn: - Alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht. - So vergegenwärtig uns also das Recht in seiner historischen Bewegung das Bild des Suchens, Ringens, Kämpfens, kurz der gewaltsamen Anstrengung" 144 . Der Kampf um das Recht ist so der Kampf um geschichtliche Verbesserung des positiven Rechts, also der Kampf um (rechtlichere) Gesetze 145 . Daneben betrifft der Kampf um das Recht die Anwendung dieser Gesetze, also ihrer Durchsetzung vor Gericht. Es ist die Pflicht eines jeden, gegen das gesetzesverletzende Unrecht Widerstand zu leisten. Jhering verweist auf das Strafrechtswesen eines Staates, das die Verfolgung der Verbrechen zur Pflicht der zuständigen Staatsorgane mache, die selbstverständlich nur erfüllt werden könne, wenn jeder einzelne (als Anzeiger, Zeuge usw.) die staatlichen Organe darin unterstütze, wozu jeder aus seinem Rechtsgefühl verpflichtet sei 146 . Aber ebenso grundlegend müsse der Einzelne sein Recht in Privatangelegenheiten suchen und geltend machen: freilich nur dann als Pflicht, wenn ihm oder einem anderen wirklich Unrecht angetan wurde und wird. Unter diesem „Unrecht" versteht Jhering offensichtlich (nur) ein Verhalten, das nicht bloß objektiv gesetzeswidrig, sondern auch von einem unrechtlichen Willen des Betreffenden getragen (also auch subjektiv schuld-

141

Ebd., S. 14 ff. Ebd., S. 15. 143 Ebd., S. 15. 144 Ebd., S. 15 f. 145 Jhering lehnt deshalb sehr scharf die - von ihm früher selbst vertretene - organische Entwicklungslehre der Historischen Rechtsschule ab (ebd., S. 12 ff.) und tritt nun für diesen kämpferischen Rechtsbegriff ein, der sich auf diese Weise als „dialektischer" Begriff des „positiven Rechts" in der Spannung von Vorgegebenheit (qua geschichtlich gewordenem sittlichem Rechtsleben) und Aufgegebenheit (qua Notwendigkeit einer Positivierung in Gesetz und Gerichtsurteil) erweist. 142

146

Ebd., S. 42, S. 52.

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haft) ist. Denn: „Die Idee der Gerechtigkeit ist unzertrennlich von der Durchführung des Gesichtspunktes der Verschuldung" 147 . Nur durch schuldhaftes Unrecht wird das Rechtsgefühl verletzt 148 . Ein solches Unrecht muß nicht notwendig strafbares Verbrechen (also Gewalt und Zwang) sein. Als darüber hinausgehendes Beispiel nennt Jhering den „Schuldner, der schamloserweise das gegebene Darlehen in Abrede stellt oder gar grundlos die Rückgabe verweigert"; dieser stehe auf einer Linie mit dem Dieb, denn auch „der versucht, mich wissentlich um das Meinige zu bringen, es ist die Willkür, die sich gegen das Recht auflehnt, nur daß sie vor dem Richter in anderem Gewand erscheint" 149 . Einem solchen „Schuldner gegenüber soll und muß ich mein Recht verfolgen, es koste was es wolle; tue ich es nicht, so gebe ich nicht bloß dieses Recht, sondern das Recht preis" 150 . Oder es liegt für Jhering das schuldhafte Unrecht in dem Mißbrauch des Vertrauens durch den Mandatar 151 oder durch einen Vormund 1 5 2 ; oder in der Schamlosigkeit, mit der ein Depositar das Depositum ableugnet oder vorenthält 153 . A l l diesen Fällen von schuldhaftem Unrecht ist gemeinsam, daß sie nicht Gewalt oder Zwang (und in diesem Sinne „verbrecherisches Unrecht" bei Hegel) sind, sondern daß es sich dabei um „grauenhaften Unfug (handelt), der hier unter dem Schein des Rechts mit dem Recht selber getrieben wird" 1 5 4 , daß sie damit dem entsprechen, was Hegel „betrügerisches Unrecht" genannt hat und dahingehend gekennzeichnet hat, daß der Handelnde in seiner Tat das Recht des anderen (z. B. als Vertrag) nur zum Schein anerkennt (§§ 87 ff.). Selbst wenn ein solches Verhalten nicht den strafgesetzlichen Tatbestand des Betruges (oder der Untreue oder eines allgemeinen Fälschungsdelikts) erfüllt, muß es nach Jhering als „frivole Rechtskränkung" 155 rechtlich geahndet werden und so das Recht wiederhergestellt werden. Jhering denkt nach dem Vorbild des römischen Rechts (auch) an die Strafe der Infamie oder an Prozeßstrafen für betrügerische Klagserhebung 156 ; zumindest müsse das zivilgerichtliche Verfahren so gestaltet werden, daß der im Recht befindliche Kläger auch wirklich zu seinem Recht kommen könne, wobei er an eine Gläubiger freundliche Ausgestaltung des

147 148 149 150 151 152 153 154 155 156

Kampf, 4. Aufl. (Fn. 27), S. 88. Kampf (Fn. 1),S. 81. Ebd., S. 33 f., S. 81. Ebd., S. 34. Ebd., S. 81. Ebd., S. 83. Ebd., S. 83. Ebd., S. 94. Ebd., S. 93. Ebd., S. 84.

Der rechtliche Kampf gegen das Unrecht

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Beweisrechts denkt 157 . Selbstverständlich sind dafür auch Richterpersönlichkeiten erforderlich, die ihre sittliche Pflicht im Rahmen der Gesetze, aber grundlegender in ihrem Rechtsgefühl (als Rechtsgewissen) erfüllen; wie Jhering es in seiner Antrittsvorlesung 1868 bereits ausdrücklich gefordert hatte: die Richter dürften nicht „ein willenloses und gefühlloses Stück der Rechtsmaschinerie" 158 , „ein gefühlloses, totes Rad in der Justizmaschinerei" sein, sondern lebendiges Rechtsgefühl und damit Persönlichkeiten bleiben, denn „die Welt (wird) nicht durch abstrakte Regeln, sondern durch Persönlichkeiten regiert" 159 .

VI. So schließt sich der Bogen über alle drei Wiener Vorträge. Der Kampf um das Recht ist in letztem und tiefstem Sinne nur Ausdruck eines dynamischen, lebendigen, Widersprüche auflösenden, eben: sittlichen Rechts- und Staatsverständnisses, für das das Gemeinwesen nicht Apparat oder Maschine, sondern Organismus der rechtlichen Freiheit ist. Die Antrittsvorlesung von 1868 thematisiert diese Notwendigkeit für die Juristen: Sie dürfen nicht - wie gerade gehört! - keine bloßen Subsumtionsautomaten in einem Staatsapparat 160 sein und werden, sondern müssen als Persönlichkeiten tätig werden, in denen die Stimme des Rechtsgefühls lebendig ist und bleibt; also sittliche Individuen, die politisch im Sinne des citoyen tätig werden. Der Vortrag von 1872 dehnt diese sittliche Pflicht für alle Menschen aus, nämlich für die Verwirklichung des Rechts zu kämpfen und so das Gemeinwesen rechtlich lebendig zu halten. Schließlich stellt der Vortrag 1884 klar, daß dieses Rechtsgefühl nur ein anderer Ausdruck für den sittlich-politischen Charakter und damit für den citoyen ist. Insgesamt entsteht so ein durchaus eindrucksvolles System einer Rechts- und Staatsphilosophie, die deutlich an die Auffassung von Kant und noch mehr an die von Hegel anschließt und ein Rechtssystem denkt, das als „System der Freiheit" 1 6 1 bezeichnet werden kann und muß. Jhering erweist sich in seinem Konzept eines Kampfes um das Recht als Idealist, d. h. als Denker, der das Zusammenleben der Menschen in dem staatlich verfaßten 157

Ebd., S. 91 ff. Manuskript (Fn. 13), S. 8. 159 Ebd., S. 28. 160 In späteren Auflagen schreibt Jhering: „Mit dem äußeren Mechanismus des Rechts allein ist es nicht getan" (nach Klenner, in: ebd., S. 176, Anm. 131). 161 So Okko Behrends, Rudolf von Jhering. Der Durchbruch zum Zweck des Rechts, in: Fritz Loos (Hrsg.), Rechtswissenschaft in Göttingen, Göttingen 1987, S. 229 - 269 (S. 263 Fn. 116). 158

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Gemeinwesen von der Idee des Rechts (als des rechtlichen Handelns) her begreift. Erneut ist die Parallele zu Hegel (§ 30) deutlich, wenn Jhering festhält: „Recht ist Idealismus, so paradox es klingen mag. Nicht Idealismus des Dichters, aber Idealismus des Charakters, des Mannes, der sich selber als Selbstzweck fühlt und alles Andere gering achtet, wenn er in diesem innersten Heiligtum angegriffen wird" 1 6 2 . Ich denke, daß Jhering uns eine sehr interessante und bedenkenswerte Rechts- und Staatslehre hinterlassen hat.

162

Kampf (Fn. 1),S. 74.

Die Kaserne des Egoismus Jherings Genealogie der Moralität Von Alexander Somek, Wien

Der Reiz der Erkenntnis wäre gering, wenn nicht auf dem Weg zu ihr so viel Scham zu überwinden wäre.

I. Über die geistesgeschichtliche Einordnung von Jherings zweiter Rechtstheorie 2 besteht heute Uneinigkeit. Die beinahe schon als kanonisch 1

Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886), Kritische Studienausgabe, hrsg. v. G. Colli - M. Montinari, 2. Aufl. Berlin 1988, Bd. 5, Nr. 65, S. 85. 2 Zu den Phasen von Jherings Schaffen siehe etwa Erik Wolf\ Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl. Tübingen 1963, S. 643 - 645; Franz Wieacker, Rudolph von Jhering, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte - Romanistische Abteilung 86 (1968), S. 1 - 36; ders., Gründer und Bewahrer. Rechtslehrer der neueren deutschen Privatrechtsgeschichte, Göttingen 1959, S. 197 - 212, hier S. 204 - 205; ders., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 561 - 569; ders., Jhering und der ,Darwinismus', in: G. Paulus - U. Diederichsen - C.-W. Canaris (Hrsg.), Festschrift für Karl Larenz zum 70. Geburtstag, München 1973, S. 63 - 92, hier: S. 68 - 69; Hans Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, 6. Aufl. Heidelberg 1988, S. 141. Die These, wonach Jhering (als Theoretiker) „[...] sich [...] eigentlich immer gleich geblieben sei [...]" (so Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. 3: Mitteleuropäischer Rechtskreis, Tübingen 1976, S. 250; siehe auch S. 200 - 202) scheint mir - andere Kontinuitäten zugestanden - bislang nicht mit dem Problem fertig geworden zu sein, daß sich Jhering in seiner frühen Rechtsquellenlehre wohl eindeutig an Savigny und Puchta orientiert hat. Siehe etwa Rudolph von Jhering, Der Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. 1, 6. Aufl. Leipzig 1907, S. 27; in diesem Sinne auch Okko Behrends, Das , Rechtsgefühl' in der historisch-kritischen Rechtstheorie des späten Jhering. Ein Versuch zur Interpretation und Einordnung von Jherings zweitem Wiener Vortrag, in: Rudolf von Jhering, Über die Entstehung des Rechtsgefühles (1884), hrsg. v. O. Behrends, Napoli 1986, S. 75 - 184, hier: S. 75 - 78, S. 81 - 82. Zur Kontinuitätsthese siehe hingegen nunmehr auch Michael Kunze, Jherings Universalrechtsgeschichte. Zu einer unveröffentlichten Handschrift des Privatdozenten Dr. Rudolf Jhering, in: H. Mohnhaupt (Hrsg.), Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten (1988 - 1990), Frankfurt/Main 1991 (= lus Commune, Sonderheft 53), S. 151 - 186, hier: S. 151 - 152 und, an der These von einer „Wandlung" Jherings festhaltend, Bernd Kiemann, Jherings Wandlung, in: ebd., S. 130 - 150, hier S. 143 - 146. Zur Ablehnung der These, wonach sich bereits für den „Kampf um's Recht" eine Änderung von Jherings rechtstheoreti-

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Alexander Somek

gegolten habenden Interpretationen 3 Wieackers, 4 i n denen v o n Jherings thematischer A n n ä h e r u n g an naturalistische Deszendenztheorien darwinistischer Prägung die Rede ist, sind durch die neueren A r b e i t e n v o n F i k e n t scher, 5 Behrends 6 u n d H o f m e i s t e r 7 nicht unerheblich relativiert worden. I m Gegensatz zu Wieackers Betonung des durchgängig naturalistischen Charakters der Jheringschen Gesellschaftslehre, 8 meint insbesondere Behrends eine T h e o r i e der kulturellen E v o l u t i o n zu entdecken, der allerdings, b e i aller A f f i n i t ä t zu D a r w i n i n Fragen der historischen A n t h r o p o l o g i e , 9 k e i n materialistisches, sondern ein theistisches Credo zugrunde liege. 1 0 Jherings T h e o r i e werde demnach von einem aufklärerischen Fortschrittsoptimismus getragen, 1 1 gemessen an dem sich der Rekurs auf Fakten wie „ K a m p f " u n d „ E g o i s m u s " b l o ß wie unschöne Nebenklänge 1 2 einer i m G r u n d e harmlosen

scher Position feststellen lasse, siehe nunmehr Herbert Hofmeister, Jhering in Wien, in: O. Behrends (Hrsg.), Rudolf von Jhering. Beiträge und Zeugnisse aus Anlaß der einhundertsten Wiederkehr seines Todestages am 17.9.1992, Göttingen 1992, S. 38 - 48, hier: S. 44 - 45. Siehe zum Verhältnis des frühen Jhering zu Savigny nunmehr auch Okko Behrends, Rudolph von Jhering (1818 - 1892). Der Durchbruch zum Zweck des Rechts, in: F. Loos (Hrsg.), Rechtswissenschaft in Göttingen. Göttinger Juristen aus 250 Jahren, Göttingen 1987, S. 229 - 269, hier: S. 234 - 235, S. 248 - 252 (dort auch [S. 232 Fn. 6, S. 255] Zutreffendes zur Kontinuität hinsichtlich der juristischen Methode). 3 Siehe etwa die Rezeption im einschlägigen Lehrbuch von Schlosser, Grundzüge (Fn. 2), S. 141. 4 Siehe Wieacker, Jhering und der ,Darwinismus' (Fn. 2), S. 75 - 77, S. 84 - 90, wo, da eine unmittelbare Rezeption der Lehre Darwins nicht nachgewiesen werden kann, Analogien zwischen dem Zuchtwahl- und Abstammungsgedanken Darwins und Themen in Jherings Evolutionstheorie des Rechts gezogen werden. 5 Siehe Fikentscher, Methoden (Fn. 2), S. 233 - 235, S. 240 - 241. 6 Siehe Behrends, Rechtsgefühl (Fn. 2), S. 144 - 156; ders., Jhering (Fn. 2), S. 258 - 260; ders., Rudolf von Jhering, der Rechtsdenker der offenen Gesellschaft. Ein Wort zur Bedeutung seiner Rechtstheorie und zu den geschichtlichen Gründen ihrer Mißdeutung, in: Rudolf von Jhering. Beiträge und Zeugnisse (Fn. 2), S. 8 -10. 7 Siehe Hofmeister, Jhering in Wien (Fn. 2), S. 45. g Siehe insbesondere Wieacker, Jhering und der ,Darwinismus' (Fn. 2), S. 87 und ders., Gründer und Bewahrer (Fn. 2), S. 206 - 207, wo darauf hingewiesen wird, daß der wesentliche Gehalt von Jherings Spätwerk in der Erklärung menschlichen Handelns - und damit auch der Rechtsetzung - „[...] durch determinierte (nicht freie) Zwecksetzung, das heißt durch naturgesetzlich zwingende Motivation [...]" besteht. Wieacker fährt in diesem Sinne fort (ebd., S. 207): „Diese Genealogie des Rechts gibt also eine streng kausale Herleitung des Rechts aus (biologischen) Naturgesetzen; sie vollendet damit den Übergang vom metaphysischen Rechtsverständnis zur naturalistischen Rechtserklärung." 9 Diese Affinität zeige sich aber bloß auf der Ebene der vorgeschichtlichen Anthropologie. Ansonsten kenne Jhering nur eine spezifisch kulturelle Evolution. Siehe Behrends, Jhering (Fn. 2), S. 259; ders.,,Rechtsgefühl' (Fn. 2), S. 125 - 126. 10 Siehe Behrends, Jhering (Fn. 2), S. 236 Fn. 15, S. 260, wonach Jhering annehme, es gebe einen von Gott gesetzten Endzweck der Geschichte. Siehe auch ders., ,Rechtsgefühl' (Fn. 2), S. 80 - 81. 11 Siehe den Vergleich mit Lessing bei Behrends, Jhering (Fn. 2), S. 267 Fn. 267.

Die Kaserne des Egoismus

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„aufklärerisch-theistischen Daseinsbejahung"13 ausnehmen sollen. Demgemäß enthalte Jherings teleologische Geschichtsdeutung, in der ein den historischen Akteuren undurchsichtiger göttlicher Plan 14 post factum entschlüsselt werde, 15 keineswegs eine (in sich brüchige) Rekonstruktion der zunächst gewaltsamen Subordination des Einzelnen unter die zu erhaltende Art, 1 6 sondern eine optimistische Sicht der gelingenden Versöhnung von Individuum und Gemeinschaft. 17 Da Jhering, entgegen anders lautender Deutungen, 18 keinen moralischen Relativismus vertrete, werde für ihn die Substanz dieser Versöhnung an evolutionär mit normativer Geltung ausgestatteten Zwecken offenbar. 19 Diese geschichtlich stabilisierten Zwecke beruhten auf der verständigen Verarbeitung menschlicher Erfahrung 20 und bewegten sich in der Sukzession ihres Auftretens auf die Realisation der (sozialen) Gerechtigkeit 2 1 zu. Bedenkenswert ist freilich, daß zur Stützung beider Deutungen von Jherings zweiter Rechtstheorie unter anderem ein Dokument herangezogen wird, von dem man herkömmlicher Weise (und wohl nicht ganz zu Unrecht) annimmt, 22 es markiere den Eingang zu Jherings Spätwerk. 23 Es handelt sich um die Ausarbeitung des Vortrags „Der Kampf um's Recht". 24 Wieacker will

12

Behrends, Jhering (Fn. 2), S. 262 - 263, vermeidet daher Worte mit unschönem Klang wie „Egoismus" und „Selbstbehauptung" und schreibt Jhering einen „unidealistischen Freiheitsbegriff" zu. Kann damit sachlich etwas gewonnen sein? 13 Siehe Behrends, ,Rechtsgefühl4 (Fn. 2), S. 149. Ähnlich schon Wolf, Rechtsdenker (Fn. 2), S. 663. 14 Siehe Behrends, Jhering (Fn. 2), S. 236 Fn. 15. 15 Siehe Behrends, Jhering (Fn. 2), S. 260. 16 Siehe Wieacker, Jhering und der ,Darwinismus' (Fn. 2), S. 84 - 86; ders., Gründer und Bewahrer (Fn. 2), S. 207. 17 Siehe Behrends, Jhering (Fn. 2), S. 258. Fikentscher, Methoden III (Fn. 2), S. 241, meint, in diesem Zusammenhang eine Analogie zu Adam Smith entdecken zu können. 18

Siehe Wieacker, Jhering und der ,Darwinismus' (Fn. 2), S. 86 - 88; ders., Gründer und Bewahrer (Fn. 2), S. 210. 19 Siehe Behrends, Jhering (Fn. 2), S. 261, S. 264, S. 266. 20 Siehe Behrends, Jhering (Fn. 2), S. 263 - 264. Siehe auch Fikentscher, Methoden III (Fn. 2), S. 234. 21 Siehe Behrends,,Rechtsgefühl' (Fn. 2), S. 97, S. 148 -149, S. 182. 22

Siehe dagegen nunmehr Hofmeister, Jhering in Wien (Fn. 2), S. 38, S. 43 - 44, der meint, Jhering habe mit dieser Schrift in einer bestimmten bildungspolitischen Situation seiner Sympathie für die Rechtspraktiker Ausdruck verleihen wollen. Würde man es bei dieser Deutung, für die Hofmeister durchaus überzeugende Belege bringt, bewenden lassen, wäre uns der Weg zu einer systematischen Deutung von „Der Kampf um's Recht" abgeschnitten. Als Rechtstheoretiker darf ich mich wohl damit nicht abfinden. 23 Siehe dazu nur Wieacker, Gründer und Bewahrer (Fn. 2), S. 206; Wolf \ Rechtsdenker (Fn.242), S. 646. Rudolph von Jhering, Der Kampf um's Recht, Wien 1872.

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in dieser Schrift bereits „[...] in glitzernder Kleinmünze ausgeprägt f...]" 25 sehen, was später in „Der Zweck im Recht" methodisch entfaltet werden sollte: „[...] ein rein naturalistisches Wertsystem, in dem Kampf, Diktat oder Kompromiß gesellschaftlicher Mächte die Entstehung des Rechtes kausal erklären, und in dem Sicherheit und Interesse der Gesellschaft als Motive [...] der Rechtsschöpfung erscheinen. [...] Der biologische Zuchtwahlgedanke stand Pate." 26 Demgegenüber meinen Fikentscher und Behrends gerade in „Der Kampf um's Recht" ein gewichtiges Indiz für die Einschränkung bzw. Revision der naturalistischen Jhering-Deutung entdecken zu können. Denn schließlich handle diese Schrift nicht vom natürlichen Recht des Stärkeren oder von der Erhaltung der Art, 2 7 sondern von der moralischen Selbstbehauptung des in seinen Rechten verletzten Individuums, das im Kampf um sein Recht sich als Repräsentant eines allgemeinen Rechtsgedankens bewähre. 28 Überdies weise das von Jhering zur Begründung seiner Auffassung unter anderem herangezogene „Rechtsgefühl" als „normative Instanz" 29 über eine bloß naturalistische Ableitung 30 hinaus,31 entstamme es doch, laut Jhering, einer institutionellen Evolution, derer sich Gott listenreich bediene, um dem Menschen seine Sozialnatur begreiflich werden zu lassen.32 Diese hier nur äußerst knapp wiedergegebenen Interpretationen verstehen sich allesamt aus dem Versuch, Jherings rechtstheoretisches Spätwerk in einen breiteren geistesgeschichtlichen Kontext zu stellen. Das ist im großen und ganzen auch erhellend. Allerdings können Versuche dieser A r t bisweilen zu einer gewissen Voreiligkeit verleiten, wenn es gilt, sensible Punkte der Jheringschen Theorie zu erfassen. Einen solchen sensiblen Punkt betrifft die seit der Abfassung von „Der Kampf um's Recht" für Jhering virulent gewordene Frage nach dem Verhältnis von egoistischer und moralischer Selbstbehauptung. Wieacker läßt sich in diesem Zusammenhang von den Analogien, die er zwischen Jherings zweiter Rechtstheorie und „dem" Darwinismus herausstellt, dazu verführen, dort, wo die eingehendere Erörterung einsetzen sollte, mit Hinweisen auf ein Gesamtkonzept aufzuwarten: In der uneigen25

Siehe Wieacker, Jhering und der,Darwinismus' (Fn. 2), S. 76. Wieacker, Gründer und Bewahrer (Fn. 2), S. 206. 27 Siehe Behrends,,Rechtsgefühl' (Fn. 2), S. 152. 28 Siehe Fikentscher, Methoden III (Fn. 2), S. 234 - 235, S. 241 - 242. Daran werde, nach Behrends, ,Rechtsgefühl' (Fn. 2), S. 155, erkennbar, daß Jhering an seiner „individualistischen" Position festgehalten habe. 29 Siehe Behrends, ,Rechtsgefühl' (Fn. 2), S. 97. 26

30

Anders freilich Wieacker, Jhering und der ,Darwinismus' (Fn. 2), S. 90, wo darauf hingewiesen wird, daß Jhering sowohl eine Genealogie des Rechts als auch eine Genealogie der Moral kenne. 31 Siehe Behrends,, Rechtsgefühl' (Fn. 2), S. 145 -146. 32 Siehe Behrends,,Rechtsgefühl' (Fn. 2), S. 148; ders., Jhering (Fn. 2), S. 264.

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nützigen rechtlichen Selbstbehauptung werde der evolutionär entstandene Primat der Arterhaltung vor dem Interesse des Einzelnen manifest. 33 Ähnliches gilt für den Deutungsvorschlag, in dem uns einen aufklärerisch-theistischer Jhering ans Herz gelegt wird. Demnach deute das den Kampf ums subjektive Recht bestimmende sittliche Motiv auf das Hineinscheinen von Gottes geheimen Plan in die geschichtliche Handlungswirklichkeit hin. 34 Bei allem Gewicht, das solchen geistesgeschichtlichen Einordnungsversuchen zukommt, möchte ich hier davon ausgehen, daß es sich lohnt, angesichts der gravierenden Divergenzen zwischen umfassenden Deutungen ein wenig bescheidener zu beginnen und systematisch35 bei einem Kernstück von Jherings Spätwerk anzusetzen: bei der Auseinandersetzung mit dem Problem der Sittlichkeit, und in diesem Zusammenhang insbesondere mit der Genese der Moralität. Im Kontext von Jherings Theorie besteht die Moralität für Recht und Moral darin, als Mensch von der Richtigkeit rechtlicher oder moralischer Forderungen überzeugt zu sein und unabhängig vom unmittelbaren Eigeninteresse das Richtige zu wollen und zu tun. 36 Ich will den geistesgeschichtlichen Kontext einmal beiseite lassen und stattdessen auf die Methode achten, mit der Jhering der moralisch motivierten Vermittlung von Einzel- und Allgemeininteresse auf die Spur zu kommen versucht. In „Der Kampf um's Recht" tritt uns das Problem der Vermittlung von Einzel- und Allgemeininteresse in der Form der Frage entgegen, ob es einen gerechtfertigten Kampf ums Recht geben könne, denn in einem gerechtfertigten Kampf ums individuelle Interesse läge ein Anhaltspunkt für die gesuchte Vermittlung mit dem Allgemeinen (II). Diese Frage verweist uns auf die Theorie des Sittlichen, und zwar insbesondere auf das Verhältnis von Recht und Moral. Ich werde die These entwickeln, daß Jhering, um das angeführte Vermittlungsproblem lösen zu können, die „Moralisierung" des Rechts mit einer funktionalen Erklärung des moralischen Bewußtseins kombiniert (III). Weiters werde ich zu zeigen versuchen, daß diese beiden theoretischen Schachzüge eine bestimmte Methode implizieren, die Entstehung der Moralität abzuhandeln, nämlich die „Genealogie der Moral" 3 7 (IV). Es wird sich herausstellen, daß die Nüchternheit, mit der Jherings Genealogie arbeitet (V), beinahe zwangsläufig ein metaphysisches

33

Siehe Wieacker, Jhering und der Darwinismus' (Fn. 2), S. 84 - 88. So im Ergebnis Behrends, Jhering (Fn. 2), S. 262 - 264. Das schließt ein, daß man Jhering als systematischen Denker ernst nimmt. Siehe dagegen die Bedenken bei Wieacker, Jhering und der Darwinismus (Fn. 2), S. 76; ders., Gründer und Bewahrer (Fn. 2), S. 206. 36 Siehe dazu etwa Rudolph von Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. 2, 2. Aufl. Leipzig 1886, S. 115 - 116. 34

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Tröstungsbedürfnis hervorrufen muß. Jhering sucht dieses Bedürfnis mit lebensphilosophischen Mitteln zu befriedigen (VI). Ich werde meine Überlegungen in der Zuversicht beschließen, daß auf ihrer Grundlage, trotz (oder vielleicht sogar wegen) des bescheidenen Eintritts in die Thematik, gewisse Rückschlüsse auf die erwähnten geistesgeschichtlichen Deutungen gezogen werden können. Denn solche Deutungen knüpfen vorzugsweise an theoretische Versatzstücke an, die Jherings metaphysischen Tröstungsversuchen entspringen. Möglicherweise haben sie sich gerade deshalb den Weg versperrt, ein zentrales Problem von Jherings zweiter Rechtstheorie angemessen zu erfassen. II. Jhering legt sich in den einleitenden Bemerkungen seiner Abhandlung „Der Kampf um's Recht" die Aufgabe vor, mit folgender Paradoxie fertig zu werden. Beim Recht, so beginnt Jherings „Kampf", handelt es sich um einen Zweckbegriff, 38 der, was das Zusammenspiel von Zweck und Mittel betrifft, von einem Gegensatz beherrscht wird. Der Friede ist das Ziel des Rechts, das Mittel, dieses Ziel zu erreichen, ist der Kampf. Der Unfriede steht somit im Dienste des Friedens. 39 Wollte man bei dieser Feststellung stehenbleiben, dann bestünde die gesicherte Rechtsverfassung aus der temporären, durch das Vorhandensein von Machtgleichgewichten 40 bedingte Unterbrechung von Kämpfen. 41 „Rechtszustände" wären damit, um mit Nietzsche zu sprechen, „[...] zeitwei-

37 Siehe dazu, daß es sich bei Jherings Herleitung des Rechts und der Moral um eine „Genealogie" handelt, bereits Wieacker, Jhering und der ,Darwinismus* (Fn. 2), S. 90.

38

Das bedeutet, daß das Recht aus dem Kontext menschlicher Zweckverwirklichung zu verstehen und als Mittel zu einem anderen Zweck zu betrachten ist. Siehe Rudolph von Jhering,, Der Zweck im Recht, Bd. 1, 2. Aufl. Leipzig 1884, S. 258. Der Hinweis auf das Recht als „Zweckbegriff" fehlt in späteren Auflagen von „Der Kampf um's Recht". Jhering hat ihn nach der Publikation des ersten Bandes von „Der Zweck im Recht" herausgenommen, zumal er meinte, daß die wenigen Sätze in der vorliegenden Kürze „nicht recht verständlich" seien. Siehe etwa ders., Der Kampf ums Recht, 21. Aufl. Wien 1925, VII. 39 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 7 - 8. 40

Siehe zu einem „Prinzip des Gleichgewichts" der Macht, auf dem alle Rechtsverhältnisse aufbauen, Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, Zweiter Band (1886), Kritische Studienausgabe (Fn. 1), Bd. 2, Der Wanderer und sein Schatten Nr. 22, S. 555, Nr. 190, S. 636. Siehe dazu Volker Gerhardt, Das ,Princip des Gleichgewichts4. Zum Verhältnis von Recht und Macht bei Nietzsche, in: ders., Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, S. 98 - 132; Henry Kerger, Autorität und 41 Recht im Denken Nietzsches, Berlin 1988, S. 30 - 31. „Man könnte dagegen einwenden: der Kampf, der Unfriede sei ja gerade das, was das Recht verhindern wolle, er enthalte eine Störung, eine Negation der Ordnung des Rechts, kein Moment des Rechtsbegriffs, und so wenig das Laster als Negation der Tugend in die Definition der letzteren gehöre, so wenig der Kampf und der Unfriede in die des Rechts." So Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 8.

Die Kaserne des Egoismus lige Mittel\

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welche die Klugheit anräth, keine Z i e l e . " 4 2 Jhering stellt daher so-

gleich - u n d zwar i m selben Zuge, da er sie einführt - die A u f l ö s u n g der Paradoxie i n Aussicht. E r greift zu einer Unterscheidung, 4 3 die dazu angetan sein soll, sowohl den K a m p f als auch den Frieden i n sich zu differenzieren u n d die derart gewonnenen A l t e r n a t i v e n zu bewerten. 4 4 D a r a u f aufbauend wäre der gute Kampf Mittel)

45

d e m wahren Rechtszustand

zu integrieren.

(als E i n h e i t von Z w e c k u n d

46

Das ist also Jherings Problem: T r o t z der Agonistik, die seines Erachtens sowohl für die Entstehung 4 7 als auch für die Durchsetzung 4 8 des Rechts charakteristisch ist, sollte ein von K ä m p f e n geprägter Rechtszustand etwas qualitativ anderes darstellen als ein irritierbares Gleichgewicht v o n K r ä f t e n oder eine Vergeistigung von Machtstrategien. 4 9 Es müsse daher m ö g l i c h sein, einerseits den der Rechtsidee gemäßen K a m p f 5 0 gegenüber der Revolte (bzw. der Rechtsanmaßung) u n d andererseits den mühsam erworbenen

42

Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II (Fn. 40), Der Wanderer und sein Schatten, 43 Nr. 26, S. 560. Siehe zur „Entparadoxierung" mittels einer Unterscheidung näher bei Niklas Luhmann, The Third Question: The Creative Use of Paradoxes in Law and Legal History, in: Journal 44 of Law and Society 15 (1988), S. 153 - 165. Der vom bloßen Frieden unterschiedene Rechtszustand hätte demnach auch den höheren Wert als jener. Analoges müßte für den Kampf gelten. 45 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 8. 46

Auf das Ergebnis seiner Erwägungen vorausblickend behauptet Jhering bereits in den einleitenden Bemerkungen, daß das Recht aus dem Kampf des Rechts gegen das Unrecht sein Leben gewinnt, und schließt daraus: „Der Kampf ist mithin nicht etwas dem Recht Fremdes, sondern er ist mit dem Wesen desselben unzertrennlich verbunden, ein Moment seines Begriffs." Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 8. 47 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 8 - 9, S. 12, S. 14 -15, S. 17; ders., Zweck I (Fn. 38), S. 257. 48

Um Mißverständnissen vorzubeugen sei hier vermerkt, daß Jhering zwar die Durchsetzung von subjektiven Rechten, nicht aber die wissenschaftlich kontrollierte Rechtsfindung dem Kampf zuordnet. Auch die Rechtsfortbildung hat sich seines Erachtens auf Gründe zu stützen, die man dem vorliegenden Recht entnehmen kann. Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 12 - 13; ders., Zweck I (Fn. 38), S. 387 - 388, S. 391. Daß Jhering freilich nicht gerade konsequent verfährt, wenn er die Fehde, den Krieg ebenso wie den Prozeß unter den Oberbegriff „Kampf" subsumiert, sei als Fehlleistung zur Kenntnis genommen. Siehe ders., Kampf (Fn. 24), S. 20 -21.49

Siehe hingegen Friedrich Nietzsche, Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile (2. Aufl. 1887), Kritische Studienausgabe (Fn. 1), Bd. 3, Nr. 23, S. 34 - 35, Nr. 30, S. 40; 50 ders., Jenseits von Gut und Böse (Fn. 1), Nr. 229, S. 166. Es ist nicht klar ersichtlich, ob der von Jhering ins Auge gefaßte „Kampf ums Recht" der bloßen Durchsetzung des positiven Rechts (so wohl beim Prozeß) oder der Verwirklichung der Gerechtigkeit (so wohl bei der „Erhebung" des „nationalen Rechtsgefühls" gegen das „ungerechte Gesetz") gilt. Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 13, S. 59 - 60, S. 70 - 71, S. 75 - 76. Diese Ambivalenz ist in der Sache, nämlich in Jherings gesellschaftlich-evolutionärem Funktionalismus, angelegt. Ich werde darauf zurückkommen.

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Alexander Somek

Rechtszustand51 von der bloßen Erschlaffung des Rechtsgefühls, 52 dem faulen Frieden also, abzugrenzen. I n „Der Kampf um's Recht" geht Jhering daran, die geforderten Differenzierungen und Bewertungen aus einem Wesen des Rechts herzuleiten, das in der Agonistik die ihm entsprechende Erscheinungsform findet. Die Rechtswirklichkeit erhält demgemäß eine gewisse Doppelbödigkeit. A u f agonaler Ebene ist das Recht ein „Machtbegriff". 53 In der Form objektiver Regeln entstammt es dem geschichtlichen Ringen der Interessen. 54 Es geht aus gesellschaftlichen Konflikten hervor, 55 für deren Beendigung bessere Argumente oder vernünftige Gründe irrelevant bleiben, 56 denn bei einem Kampf gibt, so Jhering, „[...] nicht das Gewicht der Gründe, sondern das Machtverhältniss der sich gegenüberstehenden Kräfte den Ausschlag f...]"· 57 Das Recht ist auf dieser Ebene wesentlich Tat 5 8 - die Überzeugung bildet sich erst, indem sie handelt. 59 A u f Jherings spätere Ausführungen in „Der Zweck im Recht" vorausblickend können wir sagen, daß diese Tat sowohl bei der Rechtsentstehung als auch bei der Verfolgung subjektiver Rechtsansprüche durch eine tiefgründigere Logik determiniert ist. Bei der Rechtsentstehung folgen die letztlich siegreichen Kämpfe dem kategorischen Evolutionsimperativ der Herausbildung immer zweckmäßigeren Rechts in Hinblick auf das, was als kollektiv nützlich dünkt. 60 Doch dem will ich an dieser Stelle nicht nachgehen, wenngleich ich darauf zurückkommen werde, auf welche A r t die Funktion des objektiven Rechts (nämlich die Lebensbedingungen der Gesellschaft zu sichern) 61 mit der Durchsetzung subjektiver Rechte zusammenhängt.62 Vorläufig soll uns nur interessieren, wie Jhering den Kampf um das subjek51

Je zäher das Recht errungen wird, um so größer ist die Anhänglichkeit an dieses. So Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 20. Jhering zieht in diesem Zusammenhang (ebd., S. 10 -11, S. 31, S. 44, S. 100) auch den Vergleich zwischen dem Kampf und der Arbeit heran: „[...] [D]er Kampf ist die Arbeit des Rechts, die stets den Genuß sichern und verdienen muß [...]" (ebd., S. 100). Was beim Eigentum der Genuß, ist beim Recht der Friede. 52

Siehe die Ausführungen bei Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 39-41. Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 17. 54 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 8, S. 15 -16. 55 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 14, und besonders eindrücklich S. 15: „[...] [N]icht selten bezeichnen Ströme Bluts, überall aber zertretene Rechte den Weg, den das Recht zurückgelegt hat." 56 Siehe zum Ganzen auch Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 257. 57 Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 14. 58 Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 78. 59 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 17. 60 Siehe insbesondere Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 448 - 450; ders., Zweck II (Fn. 36), S. 112 - 113, S. 204 - 207, S. 211 - 212. 61 Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 443. 62 Siehe unten S. 18-20. 53

Die Kaserne des Egoismus

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tive Recht in psychologischer Absicht 63 untersucht. Der Kampf um den verletzten Rechtsanspruch soll nämlich für den Betroffen gleichsam eine „Entdeckungsfahrt" zu einem Wesen des Rechts darstellen, wobei dieses Wesen, wie erwähnt, sowohl den Kampf als auch die durch ihn erlangte Rechtsposition vergütet. Der Schmerz über die erlittene Verletzung enthält für den Berechtigten, laut Jhering, „[...] das gewaltsam erpresste, instinctive Selbstgeständnis über das, was das Recht ihm ist, [...] was es an sich ist." 64 Durch die Agonistik wird also eine tieferliegende Ebene der Rechtswirklichkeit betreten. Der Kampf ums Recht läßt - so Jhering noch in seinem ersten Wiener Vortrag - den „Urquell des Rechts" hervortreten, in welchem die Kraft 6 5 und das Wesen des Rechts „ruhen": 6 6 das Rechtsgefühl. 67 Vermöge dieses Gefühls erahnen nämlich die Rechtssubjekte, unter welchen Umständen ihre durch das objektive Recht vorgezeichneten „moralischen Existenzialbedingungen" verletzt worden sind. 68 Und dem Schutz dieser „moralischen Existenzialbedingungen" dienen in der Perspektive der Berechtigten sowohl der wahre Rechtszustand69 als auch der ihm zugehörige gute Kampf. 70 (Ein defizienter Rechtszustand wäre demgemäß durch einen despotisch verordneten Frieden und durch eigennützige Kämpfe geprägt.) 71 Die subjektiven Rechte erhalten somit bei Jhering die über die Bewehrung von Interessen hinausgehende Funktion, die moralische Integrität der Person zu wahren. 72 Wir dürfen daraus schließen, daß das objektive Recht aus der Perspektive der Rechtspositionen, die es eröffnet, als der Inbegriff der Bedingungen zu betrachten ist, unter denen Menschen einander

63

Siehe dazu Jhering, Kampf (Fn. 24), V, S. 19, S. 60. Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 46. 65 Dennoch ist das Recht ein „Kraftbegriff". Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 9 {in späteren Auflagen heißt es: „Das Recht ist nicht bloßer Gedanke, sondern lebendige Kraft" [ders., Kampf (Fn. 38), S. 1]}. 66 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 46. 67 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 46. Zur Zeit, da Jhering den „Kampf um's Recht" verfaßte, glaubte er seinen eigenen Angaben nach noch an ein angeborenes Rechtsgefühl und an angeborene (überzeitliche) Rechtsinhalte. Siehe ders., Entstehung (Fn. 2), S. 10 - 11, hier: S. 41: „Ich fühlte in mir eine Stimme, die mir sagte, das ist Recht, das ist Unrecht." Siehe zur Einbettung des Rechtsgefühls in andere Vermögen der Perzeption sozialer Distinktionen (wie das Schicklichkeits- oder Schönheitsgefühl) ders., Zweck II (Fn. 36), S. 41 - 47. 64

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69

Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 34 - 35.

In einer Rechtsordnung, in welcher der „nackte Materialismus" dominiert, herrscht ein „krankes, stumpfes, lahmes, Rechtsgefühl." Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 31, S. 39. 70 Der echte, durch das gekränkte Rechtsgefühl initiierte Kampf ums Recht verhält sich gegenüber den möglicherweise schädlichen Konsequenzen der Rechtsverfolgung gleichgültig. Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 23 - 24. 71 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 39 - 40, S. 76. 72 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 27 - 28, S. 36. 5 Jhering-Symposium

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wechselseitig als Personen achten.73 Das auf diese Weise vorläufig bestimmte Wesen des Rechts läßt sich allerdings nicht - und darin liegt die Originalität von Jherings Entdeckung - gegenüber der ihm entsprechenden Erscheinungsform verselbständigen. Werden die Bedingungen moralischer Achtung verletzt, dann sind sie eben kämpferisch zu bewehren: 74 „Das Recht ist die moralische Existenzialbedingung der Person, die Behauptung derselben ihre moralische Selbsterhaltung." 75 Und da der Kampf ums Recht, sobald er sich gegen die bewußte Negation der Person wendet, 76 nach Jherings psychologischer Beobachtung über die kalkulierende Interessenverfolgung hinausgeht, 77 veranlaßt er die Menschen dazu, das ihnen angeborene 78 egoistische Streben 79 nach dem maximalen individuellen Nutzen zu transzendieren. 80 „So erhebt also das Recht, das scheinbar den Menschen ausschliesslich in die niedere Region des Egoismus und der Berechnung versetzt, ihn andererseits wieder auf eine ideale Höhe, wo er alles Klügeln und Berechnen, das er dort gelernt hat, und seinen Maßstab des Nutzens, nach dem er sonst Alles zu bemessen pflegt, vergisst, um sich rein und ganz für eine Idee einzusetzen [...]." 81 Das Beschreiten des Rechtswegs wird damit zur sittlichen Tat, 8 2 welche auszuführen von Jhering - wohl in typisch deutscher Tradition - sogar als Pflicht 83 des Be73

Siehe zur Moral als einer Art von Kommunikation, die menschliche Achtung und Mißachtung zum Ausdruck bringt, hier nur Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt/Main 1989, S. 361. Siehe zur Wiederkehr des Jheringschen Gedankens bei Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/Main 1992, S. 180 -181. 74 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 27 - 28. 75 Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 47. 76 Hierin zeigen sich ja Anklänge an Hegel, denen aber nicht näher nachgegangen werden kann. Siehe dazu den Beitrag von Wolfgang Schild in diesem Sammelband. Von Interesse ist allerdings, daß Jhering nur die gezielte Rechtsverletzung als Anlaß für die (gegen sich selbst verbindliche) moralische Selbstbehauptung gelten lassen will, während er den gutgläubigen Rechtsbruch zu einer Sache deklariert, die man je nach Interesse aushandeln könne. Allerdings hat er zuzugestehen, daß sich in der Perspektive des Verletzen jedwede Rechtsverletzung als beabsichtigt ausnehmen wird. Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 29 - 30, S. 58. 77 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 26 - 26, S. 31, S. 39. 78

Die Richtung auf das eigene Selbst ist nach Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 70, die durch die Natur selbst vorgezeichnete normale Funktion des Willens. Der Wille vollzieht damit das „Grundgesetz der Schöpfung", die „Selbstbehauptung" (ebd., S. 71). 79 Siehe zur „egoistischen Selbstbehauptung", die ihren Grund darin findet, daß das Subjekt seinen Daseinszweck in sich selbst trägt, Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 62. Zum Egoismus als „Einheit von Selbstbehauptung und Selbstbewußtsein" siehe ders., Zweck II (Fn. 36), S. 72 73. 80 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 44 - 45. 81 Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 45. 82

Siehe hingegen Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 62, S. 74, wo die rechtliche Selbstbehauptung, also die „Behauptung seiner Selbst als Rechtssubjekt", der „egoistischen Selbstbehauptung" zugeschlagen wird. 83 Siehe zur Ablehnung kategorischen Sollens später Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 51.

Die Kaserne des Egoismus

67

rechtigten gegen sich selbst betrachtet wird. 84 Die moralische Kränkung, welcher der Kampf ums Recht entspringt, erweist sich, so betrachtet, als emotionale Vorraussetzung dafür, das moralische Richtige zu erfassen und zu tun. 85 Jhering betrachtet das Rechtsgefühl somit als Medium, in dem die Einsicht in die moralische Pflicht und das Motiv, pflichtgemäß zu handeln, zusammenfallen. Durch die Erschütterung der eigenen moralischen Integrität werden die für alle Rechtspersonen geltenden Bedingungen wechselseitiger Anerkennung freigelegt und in das Wollen des Verletzten aufgenommen. III. Wenn Jhering sagt, daß das Recht der „[...] Idealismus [...] des Mannes [ist], der sich selber als Selbstzweck achtet [...]", 86 und es solcherart zur Bedingung moralischer Achtung erklärt, 87 dann ist darin gewiß eine funktionelle Moralisierung" des Rechts zu erblicken. Und da es um Moral geht, ist auch nicht weiter verwunderlich, wenn die Moralisierung der Rechtsfunktion auf den Pflichtentypus und die Motivation durchschlägt: die Rechtsdurchsetzung ist die Erfüllung einer moralischen „Pflicht gegen sich selbst" und weist über die Verfolgung des Eigeninteresses hinaus. Eine interessante Komplikation ergibt sich nun allerdings daraus, daß Jhering die Rechtsdurchsetzung zudem als Pflicht betrachtet, die man gegenüber dem Gemeinwesen zu erfüllen hat. 88 Das moralisch hitzige Insistieren auf dem Rechtsanspruch 89 erhält damit nämlich die Züge eines von der Gesellschaft 84

Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 27. Zur Unmöglichkeit kategorischer Pflichten gegen sich 8selbst siehe jüngst Hans Krämer, Integrative Ethik, Frankfurt/Main 1992, S. 14. 5 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 34 - 35. 86 Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 74. 87 Siehe Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik III (Fn. 73), S. 362, S. 366. 88

Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 51, S. 56. Jhering ist darin gewiß noch organizistischen Vorstellungen verbunden, die man unter dem Namen „Vermittlungskunst" zusammenfassen kann. Siehe zur „Kunst der Vermittlungen" zwischen Rechtsidee und subjektivem Recht in der idealistischen Tradition näherhin Alexander Somek, Rechtssystem und Republik. Über die politische Funktion des systematischen Rechtsdenkens, Wien - New York 1992, S. 20 - 148, insbes. S. 61 - 81, S. 86 - 93, S. 110 -114. Der Unterschied zum klassischen Programm der historischen Rechtsschule besteht darin, daß dort die Vermittlung auf die Substanz des Privatrechts bezogen war, während Jhering sie nun auf die Rechtsdurchsetzung überträgt und auf diese reduziert. Siehe zum Interesse, dem Rechtsgefühl und dem Bewußtsein vom Wert der Rechtsidee als den drei „Realisatoren des Rechts" bei Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 53, S. 57 - 58, S. 71. - Es ist auch herauszustellen, daß die Vermittlungskunst in einem idealistischen Kontext einen anderen Sinn macht als in einer moralisch mobilisierten Rechtsordnung. Die kämpferische Konkretisierung der subjektiven Privatrechte ist für Jhering eine Stabilitätsbedingung des Rechtszustands. Dies ist für das Funktionieren der idealistischen Vermittlungskunst nicht von zentraler Bedeutung, da in ihr auf die listenreich vermittelte Manifestation einer Idee abgestellt wird. 89

Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 42. Es sei darauf hingewiesen, daß sich Jhering letztlich zu Forderungen versteigt, die auf eine Kriminalisierung des Privatrechts hinauslaufen. Siehe ebd., S. 85, S. 88, S. 91 - 99. 5*

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Alexander Somek

geforderten Mittels zur Stabilisierung des gemeinsamen Rechtszustandes.90 Der Kampf ums Recht könnte sich, so betrachtet, auch in der Erfüllung einer äußerlich auferlegten Pflicht erschöpfen, welcher man, wie Jhering betont, nachzukommen hat, um zu einer „nationalen Aufgabe" 91 beizutragen. Diese prekäre Parallelität des Selbst- und Fremdbezugs der moralischen Verpflichtung wäre in einem ethischen Kontext der Auflösung bedürftig. Einem der beiden Bezüge hätte letztlich der Vorrang zuzukommen. Nun ergeben sich allerdings auch bei Versuchen, die Parallelität in ein Vorrangverhältnis zu überführen, gewisse Folgeprobleme. Jhering hat versucht, diesen Problemen aus dem Weg zu gehen, und, wie mir scheint, eine dritte Variante gewählt, das Phänomen der moralischen Verpflichtung zu deuten. Ein Blick auf diese Folgeprobleme vermag zu verdeutlichen, weshalb Jhering sich durch die Wahl einer dritten Variante dazu veranlaßt gesehen hat, eine Genealogie der Moralität zu entwerfen. Folgt man einem autonomen Moralverständnis, dann sind alle moralischen Verpflichtungen, und zwar auch die von Jhering eingeführte Pflicht gegenüber dem Gemeinwesen, letztlich in Pflichten gegen sich selbst verankert. Demnach kann ich mich nicht, um an Kant zu erinnern, gegenüber anderen für verbunden erachten, ohne zunächst einmal mir selbst gegenüber verpflichtet zu sein. Die fundierende Funktion der Selbstverpflichtung 92 folgt daraus, daß - laut Kant - alle praktische Gesetzgebung auf meiner eigenen praktischen Vernunft beruht. 93 Genügen meine Überlegungen den Forderungen der reinen praktischen Vernunft, dann schreibt mir (als verantwortungsfähiger Persönlichkeit) die „Menschheit in meiner Person" 94 die Gesetze meines Handelns vor. 95 Auf die in diesem elementaren Selbstverhältnis gewonnenen Regeln müssen alle konkreten Verpflichtungen zurückzuführen sein. 96 Ein vertragliches Versprechen zu halten, bin ich demnach primär der 90

Siehe die Analogie zum Blutkreislauf für das Verhältnis von objektivem und subjektivem Recht bei Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 52. 91 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 54. 92

Siehe dazu die treffende Beobachtung bei Krämer, Integrative Ethik (Fn. 84), S. 14. Siehe Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797), Werke in zwölf Bänden, hrsg. v. W.94Weischedel, 4. Aufl. Frankfurt/Main 1982, Bd. 8, S. 550 (A 64). Siehe dazu, daß Kants unbedingte Sollensethik eine radikalisierte „theologische Ethik ohne Theologie" darstellt, Krämer, Integrative Ethik (Fn. 84), S. 20 („unbedingtes Sollen ohne Gott"). 95 Siehe Kant, Metaphysik der Sitten (Fn. 93), S. 550 (A 65). 96 Um meiner „Menschheit", die ich freilich mit allen anderen Menschen teile, gerecht werden zu können, nötige ich mich daher selbst dazu, nur solchen Gesetzen zu folgen, die als Ausdruck dieser Freiheitsgesetzgebung gelten können. „Da aber der Mensch doch ein freies (moralisches) Wesen ist, so kann der Pflichtbegriff keinen anderen als den Selbstzwang (durch die Vorstellung des Gesetzes allein) enthalten, wenn es auf die innere Willensbestimmung (die Triebfeder) angesehen ist, denn dadurch allein wird es möglich, jene Nötigung (selbst wenn sie 93

Die Kaserne des Egoismus

69

Menschheit in mir schuldig, unabhängig davon, ob ich im Rechtszustand für den Fall der Nicht-Einhaltung physischen Zwang gegen mich wirken lasse, aber auch dazu bin ich ja letztlich mir selbst gegenüber verpflichtet. In der Perspektive der autonomen Moral ist die Autonomie des Menschen auch die Quelle seiner Achtungswürdigkeit. Allerdings liegt darin auch die Quelle einer Schwierigkeit. Denn was ist zu tun, wenn zwei Menschen angesichts einer schwierigen moralischen Konfliktsituation in gewissenhafter Selbstgesetzgebung zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen? Wenn beide aus Achtung vor dem anderen sich darauf zurückziehen, den autonomen Ratschluß des anderen eben zu respektieren, ist für die Lösung des Konfliktes nichts gewonnen.97 In unserem Problemkontext bedeutete dies, daß der durch keinen Rechtszwang zu sichernde Kampf ums Recht der individuellen Gewissensentscheidung jedes Einzelnen überlassen bliebe. 98 Eine solche Entscheidung wäre allerdings, sobald unterschiedliche Einschätzungen der Voraussetzungen für den Rechtskampf vorliegen, mit einer Ambivalenz behaftet. Die Motivation des einen könnte in der Perspektive des anderen - und zwar wegen der unterschiedlichen Einschätzung - auch dessen bloßem Interesse entspringen. Im günstigeren Fall wird diese Ambivalenz einfach hingenommen. 99 Im ungünstigeren Fall könnten beide Personen in der Tat folgern, daß der andere bei der Urteilsbildung eben nicht wirklich der Menschheit in seiner Person gefolgt ist. Diese Schlußfolgerung könnte dazu ermuntern, den anderen als einen eigennützigen, mit Vorurteilen behafteten oder gar heuchlerischen Menschen zu verachten. 100 Das autonome Moralverständnis provoziert diesfalls erbitterten Streit.

eine äußere wäre) mit der Freiheit der Willkür zu vereinigen [...]." So Kant, Metaphysik der Sitten (Fn. 93), S. 509 (A 3). Freiheit denkt Kant daher nach dem Muster eines Selbstzwangs: „Je weniger der Mensch physisch, je mehr er dagegen moralisch (durch die bloße Vorstellung der Pflicht) kann gezwungen werden, desto freier ist er." Ebd., S. 511 Anm (A 7). 97

Siehe schon George Herbert Mead , Movements of Thought in the Nineteenth Century, ed. M. 98 H. Moore, Chicago - London 1936, S. 29 - 30. Alle Rechtspersonen sollten daher im idealen Fall über die Bedingungen, unter denen das Recht in ihrer Person negiert worden ist (siehe Jhering, Kampf [Fn. 24], S. 20 - 21), Übereinstimmung erzielen. 99 Siehe Georg W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), hrsg. v. H.-F. Wessels H. Clairmont, Hamburg 1988, S. 414 - 415. 100 Siehe Hegel, Phänomenologie (Fn. 99), S. 434. Der Verdacht, hinter sogenannten Verpflichtungen gegenüber der Menschheit in meiner Person verberge sich letztlich doch nur gesellschaftliche Heteronomie (Krämer, Integrative Ethik [Fn. 84], S. 17), läßt sich im Kontext einer autonomen Moral so lange abwehren, als man paradigmatische moralische Phänomene wie die Zwecksetzung und die Gewissenserforschung - mit der Vermutung bedenkt, sie seien der unabweisbare Ausdruck von Autonomie {Kant, Metaphysik der Sitten [Fn. 93], S. 511 [A 7], S. 576 - 577 [A 104 - 105]). Diese Vermutung läßt sich allerdings nur durch das Absehen von den Konsequenzen des moralischen Urteils durchhalten. Sobald man in Betracht zieht, daß aus der moralischen Gesetzgebung sich substantiell auch allgemeine Kooperationsbe-

70

Alexander Somek G e h t m a n dagegen v o n einem heteronomen

Moralverständnis

aus, 1 0 1

d a n n stellt sich das Gefühl, eine Pflicht gegen sich selbst zu haben, als Reflex einer gesellschaftlich sanktionierten Verhaltensanforderung dar. I m R a h m e n einer konsequent durchgeführten heteronomen M o r a l w i r d n u n freilich auf die A n n a h m e eines M e d i u m s verzichtet, das zwischen dieser gesellschaftlichen A n f o r d e r u n g u n d d e m natürlichen Eigenstreben des M e n s c h e n verm i t t e l n könnte. Es gibt - zumindest a p r i o r i - keine „ M e n s c h h e i t i n m i r " . Das Gefühl, sich selbst i n moralischer Hinsicht etwas schuldig zu sein, beruhte dann bestenfalls auf einer Verinnerlichung sozialer Imperative. A b e r der Gedanke, das G e f ü h l der moralischen Verpflichtung beruhe auf einer „ V e r i n n e r l i c h u n g " gesellschaftlicher Imperative, ist eine zweischneidige A n g e l e genheit. M i t i h m soll uns zwar nahegelegt werden, daß w i r auf die M o r a l i t ä t der anderen kraft der W i r k u n g der Verinnerlichung vertrauen dürfen. A l l e r dings vermag diese das Eigenstreben der Menschen nicht an der W u r z e l zu beseitigen. I n der Perspektive einer heteronomen M o r a l w i r d m a n daher immer

wieder

zu

gewärtigen

haben,

daß

die

Menschen

moralische

Verhaltenserwartungen - etwa durch Verstellung u n d Täuschung - zur E r r e i -

dingungen ergeben sollten, nötigt die Erfahrung des moralisch induzierten Streite - will man am ethischen Kognitivismus festhalten - systemimmanent zur einer „Vertiefung" der moralischen Gewissenhaftigkeit. Diese Vertiefung der Gewissenhaftigkeit hat nicht zuletzt die permanente Substitution der Paradigmata einer von äußerer Nötigung befreiten moralischen Überlegung (qua innerer Nötigung) zur Folge. Denn wenn nach erfolgter Gewissenserforschung die Gewissenhaften nicht übereinstimmen, dann kann, will man den Anspruch praktischer Vernunft nicht verwirkt sehen, die Überlegung foro interno nicht mehr als das unwiderlegliche Indiz gelingender Selbstverpflichtung gelten. Der Umgang mit der Erfahrung des Paradigmenverlusts und der Paradigmensubstitution (etwa vom Gewissen zum „Diskurs") verleiht der autonomen Moral bekanntlich die ihr eigentümliche paranoide Struktur. An den Fronten, über welche Heteronomie sich in die moralische Überlegung einzuschleichen vermag (Natur und Gesellschaft), wird ihrem Rahmen nämlich unablässig der Verdacht aufkeimen können, jemand unterliege entweder seinen natürlichen Neigungen oder gesellschaftlich bedingten Vorurteilen. In der Perspektive moralischer Gewissenhaftigkeit gerinnt daher die soziale Handlungswirklichkeit nur allzu leicht zu einem Verblendungszusammenhang, der zunächst einmal mit psychologischen und soziologischen Mitteln durchdrungen werden muß, damit zur wahren Autonomie vorgestoßen werden kann (siehe zu solcher „Tiefenhermeneutik" Karl-Otto Apel, Die Erklären:Verstehen-Kontroverse aus transzendentalpragmatischer Sicht, Frankfurt/Main 1979, S. 294 - 331; ders., Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen, in: ders., [Hrsg.], Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt/Main 1976, S. 10 - 176, insbes. S. 136 - 144). Die ideologiekritisch getönten Anwürfe, mit denen sich moralisierende Wesen daher wechselseitig werden bedenken können, sind freilich eher dazu angetan, Situationen des Streits zu verschärfen als zur friedlichen Handlungskoordination beizutragen. - Der Leserin sei in dieser Stelle freilich nicht verhalten, daß sich der amerikanische Pragmatismus durchaus erfolgreich um die Auflösung dieser Probleme bemüht hat. Siehe etwa George Herbert Mead, Mind, Self, and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist, Chicago - London 1934, S. 379 - 389. 101

Siehe jüngst Krämer, Integrative Ethik (Fn. 84), S. 42 - 43.

Die Kaserne des Egoismus

71

chung eigener Zwecke mißbrauchen. 102 Das Vertrauen in die Moralität der anderen wird daher stets mit wachsamem Mißtrauen zu durchsetzen sein. Ich meine nun, daß sich Jherings Theorie der Moralität systematisch aus dessen Ablehnung des autonomen und heteronomen des Moralverständnisses begreiflich machen läßt. Vor allem ist Jhering bemüht, die soeben erwähnten Folgeprobleme autonomer und heteronomer Moralitätskonzepte aus dem Bereich der moralischen Phänomene weitestgehend zu eliminieren. Für die Rekonstruktion von Jherings diesbezüglicher Vorgangsweise ist es meines Erachtens ratsam, eine altbekannte hermeneutische Maxime zu beherzigen und sich zwischen den Ausführungen in „Der Kampf um's Recht" und in „Der Zweck im Recht" hin- und her zu bewegen. A u f diese A r t läßt sich nicht nur zeigen, wie Jhering die Moralität als soziales Phänomen lokalisiert sehen will (1), sondern auch seine Strategie entschlüsseln, das historische Auftreten von Moralität zu erklären (2). Daraus wird sich ergeben, daß es nur zu konsequent war, wenn er sich einer Methode angenähert hat, die als „Genealogie der Moral" bekannt geworden ist (3). (1) I n Jherings Theorie der Sittlichkeit, die er vorzugsweise im zweiten Band von der „Der Zweck im Recht" entwickelt, tritt deutlich zu Tage, weshalb sowohl dem autonomen als auch dem heteronomen Moralverständnis die Gefolgschaft versagt wird. Beide Moralkonzepte sind nach Jhering nicht in der Lage, den Beitrag der Moralität zur Integration funktional differenzierter Gesellschaften angemessen zu erfassen. So hält er, wenn auch zu Unrecht, dem autonomen Moralverständnis entgegen, daß sich der Grundsatz individueller Selbstbestimmung nur an den Menschen als isoliertes Einzelwesen richtet, nicht aber, wie es bei Moralnormen der Fall sein sollte, an den Menschen als Glied der Gesellschaft. 103 Unter der Annahme moralischer Autonomie, die er mit der Ambivalenz behaftet sieht, nicht sowohl sittlich als egozentrisch zu sein, 104 kann seines Erachtens nicht erklärlich werden, weshalb Sozialintegration möglich ist. Daß sich Konflikte durch Moralität lösen

102

Jede postkonventionelle Moral will die Konditionierung von Achtung und Mißbilligung von Maßstäben abhängig machen, zu denen Individuen ihre freie Zustimmung geben können. Sie gerät dabei in zwei Schwierigkeiten. Erstens wird die moralische Billigung des Verhaltens faktisch nach sozial geltenden Kriterien ausgesprochen. Folglich steht die postkonventionelle Moral permanent vor dem Problem, das allgemein Geltende dem freien individuellen Streben zu integrieren. Dies soll der Vernunftbegriff leisten. Er steht für die intellektuelle Anstrengung, die Erfüllung gesellschaftlicher Anforderungen mit der wahren Selbstverwirklichung zu versöhnen. Aber selbst wenn man annimmt, daß dies gelingen könne (siehe die Einwände bei Krämer, Integrative Ethik [Fn. 84], S. 108 -126), dann handelt zweitens dennoch derjenige, der solche Maßstäbe um der Billigung willen befolgt, nicht moralisch, da das moralisch Richtige nicht wegen der bloßen Zuteilung von Achtung durch andere getan werden soll. 103 Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 146 -148.

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lassen, werde unerklärlich: „Für die Ethik ist Gegenstand der Darstellung der Typus des vollendet sittlichen Menschen, sein Idealbild. Ihm entnimmt sie den Inhalt des Sittlichen aber nicht als eine Norm, die von aussen an ihn herantritt, sondern als begrifflich nothwendigen Ausfluss seines Inneren [...]. Ist das Individuum Zwecksubjekt des Sittlichen, so müssen die sittlichen Normen, da sie dem abstrakten Begriffe des Individuums, dem sittlichen Idealtypus des Menschen, wie er seiner Natur nach sein soll, entnommen werden, für Alle völlig gleich lauten, der Einfluß des gesellschaftlichen Moments auf das Sittengesetz ist damit ausgeschlossen, sowohl bei der Gliederung der Gesellschaft, welche die Pflicht für dieses Glied anders gestaltet, wie für jenes, - als der der verschiedenen Lagen der Gesellschaft (beispielsweise Krieg und Frieden)." 105 Aber auch dem heteronomen Moralverständnis vermag Jhering nicht zu folgen. Zwar geht er davon aus, daß Moral- und Rechtsnormen einen gesellschaftlichen Ursprung haben, 106 allerdings verwirft er die Idee, bei der Moralität handle es sich um eine bloße, dem menschlichen Wollen äußerlich bleibende Internalisierung gesellschaftlicher Imperative. 107 Wäre dem tatsächlich so, dann würde zu viel Unsicherheit herrschen. Demgegenüber hält Jhering fest: „[...] [I]ch gelange schließlich zu dem Resultate, dass das Individuum das Sittliche als Gesetz seiner selber in sich tragen soll, und dass es, indem es sittlich handelt, nur sich selbst behauptet (ethische Selbstbehauptung [·..]), aber ich gelange dazu, ich gehe nicht davon aus. Das Sittliche ist historisch nicht vom Individuum, sondern von der Gesellschaft aus gewonnen worden, und auch praktisch besteht das wahre Verhältnis derselben darin, dass die Gesellschaft dasselbe von ihm fordert. Die Überwindung dieses Gegensatzes des Aeussern zum Innern, das völlige Einswerden des Individuums mit dem Sittengesetz, kurz die Autonomie desselben ist die letzte, höchste Form, in der dasselbe in ihm seine Wirksamkeit entfaltet [...]. Das Individuum ist Theil des Ganzen, der Theil aber nimmt sein Gesetz entgegen vom Ganzen, und mag das Individuum als Glied der Gesellschaft sich auch noch so einig mit ihr fühlen, immer ist es die Gesellschaft, welche ihm die Normen des sittlichen Handelns vorzeichnet." 108 Daran wird aber auch deutlich, welche Funktion nach Jhering die Moralität in ihrem Bezug auf Rechts- und Moralnormen erfüllt. 109 Die Moralität ist auf 104

Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 168, wo ausgeführt wird, daß sich der kategorische Imperativ nur auf den Teil, nicht aber auf das Ganze richtet. 105 Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 99 - 100, S. 147. 106 Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 194, S. 213. 107 Es kommt nicht von ungefähr, wenn Jhering bis zum Schluß mit dem Problem kämpft, ob dem sittlichen Verhalten eine echte Selbstverleugnung oder eine „höhere Art" der egoistischen Selbstbehauptung zugrunde liegt (siehe Jhering, Zweck I [Fn. 38], S. 48 - 57; ders., Zweck II [Fn. 36], S. 13, S. 74 - 75, S. 77). 108 Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 103. 109

Siehe näher zu Jherings Moralbegriff unten Fn. 130.

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Normensysteme bezogen. Durch sie werden geschichtlich mehr oder weniger feststehende Verhaltensregeln mit einer sie tragenden normativen Überzeugung verbunden 110 (und zusätzlich durch gesellschaftliche Kontrolle abgesichert). 111 (2) A u f welche Art laut Jhering die Moralität entsteht, läßt sich im Rückblick auf die Problemstellung in „Der Kampf um's Recht" erschließen. Jhering steht dort vor folgender Schwierigkeit: Wenn die Menschen bloß um ihr Recht kämpfen, um nur ja nicht in den Augen der anderen ihr Gesicht zu verlieren, dann erfüllen sie eine äußerlich an sie herangetragene Verhaltenserwartung. Die Erfüllung dieser Erwartungen sichert ihnen die weitere Teilnahme am gesellschaftlichen Verkehr. Vor diesem Hintergrund können die „moralischen Existenzialbedingungen" eine funktionale Spezifikation erfahren und beispielsweise für Bauern andere sein als für Kaufleute. 112 Diese Sichtweise würde mit dem heteronomen Moralverständnis übereinkommen, in dessen Rahmen allerdings das Problem aufbricht, daß die Menschen die Erfüllung moralischer Verhaltenserwartungen notorisch gegen ihr Eigeninteresse abwägen.113 Der Kampf ums Recht wäre diesfalls nicht von Moralität getragen. U m das subjektive Privatrecht würde nur dann gekämpft werden, wenn der Betroffene langfristig an der Innehabung einer bestimmten Position in der Gesellschaft interessiert wäre. Und das darf nach Jhering nicht der Fall sein. Für den Verletzten hat die Integrität seiner Person als solcher auf dem Spiel zu stehen, damit der erwünschte Effekt, die moralische Erhitzung, sich einstellen kann. 114 Nun kann Jhering allerdings auch nicht einem 110 Es ist freilich auffällig, daß sich Jherings Überlegungen auf einem intellektuellen Terrain bewegen, auf dem die mit ihren eigenen Konsequenzen konfrontierte (und diese bewertende) Moral bereits zu einem Problem geworden ist (dazu vor allem Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse [Fn. 1], Nr. 186, S. 106; siehe auch die vortrefflichen Kommentare bei Bernhard H. F. Taureck, Nietzsches Alternativen zum Nihilismus, Hamburg 1991, S. 279). Die „Moralisierung" des Rechts soll der Schwierigkeit abhelfen, daß die Moral, obwohl sie Konsens erzeugen und befestigen sollte, dazu angetan erscheint, den heftigsten Streit hervorzurufen (siehe Luhmann, Gesellschaftsstruktur III [Fn. 73], S. 370; ders., Paradigm Lost: Über die ethische Reflexion der Moral, Frankfurt/Main 1990, S. 26). Angesichts dessen vermag Jhering mit dem die moralische Achtung sichernden Kampf ums Recht aus dem Bereich des moralischen Gezänkes so etwas wie den typischerweise moralisch guteii Streit herauszulösen. Diese moralische Auszeichnung des Rechtsstreits kann freilich nur plausibel sein, wenn man moralische Konsensgarantien, in denen die moralische Zuweisung von Achtung und Mißachtung geregelt wird, strikten oder zumindest ableitbaren Regeln unterwirft. Die Geltung solcher Regeln hat demgemäß von der individuellen Einsicht des beurteilten oder handelnden Individuums unabhängig zu sein. 111 Siehe zum „psychologischen", von der öffentlichen Meinung ausgehenden Zwang, der bei Moralnormen obwaltet, Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 10 - 11, S. 181. 112 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 36 - 39.

113

Der Ehr- und Respektverlust implizierte somit den Verlust der Bedingungen für die erfolgreiche gesellschaftliche Selbstbehauptung. Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 50. 114 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 35, S. 45.

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autonomen Moralverständnis folgen. Das von ihm gesuchte Phänomen verlöre sich nämlich ansonsten in Idiosynkrasie. Die Verfolgung verletzter Ansprüche der Entscheidung der Einzelnen zu überlassen, wäre seines Erachtens „[...] dem inneren Wesen des Rechts widerstreitend." 115 Würden die Rechtspersonen selbst darüber bestimmen, durch welchen Akt ihre moralische Integrität erschüttert wird, könnte die Erfüllung der „nationalen Aufgabe" als nicht gesichert gelten (vorausgesetzt man unterstellt, daß die Menschen in der Frage divergieren, was jeweils die „Menschheit in meiner Person" ausmacht). (3) Welche Lösung Jhering nun vorschwebt, wird einsichtig, wenn man an das Problem mittels der Unterscheidung von Manifestation und Latenz herangeht: dann wird es nämlich denkbar, die Selbstverleugnung, mit welcher der Kampf ums Recht betrieben wird, als oberflächliche Manifestation einer „tieferliegenden" gesellschaftlichen Funktion zu betrachten. Eben dies deutet Jhering bereits in der „Der Kampf um's Recht" an, wo er festhält: „Denn das ist Grosse und Erhabene in unserer sittlichen Weltordnung, dass sie nicht verstanden zu werden braucht, um der Dienste des Menschen sicher zu sein, dass sie der Hebel und Motive genug besitzt, um auch denjenigen, dem das Verständnis für ihre Gebote abgeht, zur Arbeit heranzuziehen." 116 A n dieser Stelle vermag nun wiederum ein Blick auf die spätere Theoriebildung in „Der Zweck im Recht" uns darüber zu belehren, auf welche A r t die Latenz gesellschaftlicher Funktionen in Jherings Theorie der Moralität aufgenommen wird. Dies geschieht nämlich im Rahmen einer funktionalen Erklärung des Verhältnisses von Moralität und Rechtssystem. Generell soll mit funktionalen Erklärungen dargetan werden, auf welche A r t ein hypothetisch angenommener Sollzustand eines sozialen Systems durch unintendierte Handlungskonsequenzen hervorgebracht wird. 1 1 7 Das Handeln erfüllt demgemäß eine dem Handelnden selbst nicht notwendig aufscheinende (eben latente) Funktion. Übertragen wir diese Charakteristika funktionaler Erklärungen auf Jherings Ausführungen, dann ergibt sich folgendes. Beim Kampf ums subjektive Recht besteht die unintendierte Handlungskonsequenz in der Reproduktion der Rechtsordnung, die selbst bei Aufopferung des ökonomischen Selbstinteresses stattfindet (denn intendiert ist ja vielmehr

115 116

Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 27. Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 57.

117

Siehe hierzu nur die Diskussion bei Anthony Giddens , Central Problems in Social Theory. Action, Structure and Contradiction in Social Analysis, Berkeley - Los Angeles 1979, S. 211 - 213 und Jon Elster , Nuts and Bolts for the Social Sciences, Cambridge/Engl. - New York - Port Chester - Melbourne - Sydney 1989, S. 99 - 100.

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die Abwehr eines Ehrverlustes). 118 Diese Handlungskonsequenz erfüllt also die latente Funktion, das bestehende Rechtssystem zu stabilisieren und fortzuentwickeln: „Das concrete Recht empfängt nicht bloß Leben und Kraft vom abstrakten, sondern gibt dasselbe zurück." 119 Und da das Rechtssystem nach Jhering dazu dient, die Lebensbedingungen der Gesellschaft zu sichern, 120 liegt der angestrebte Sollzustand in der Erhaltung (oder Steigerung) der kollektiven Wohlfahrt. 121 Im selben Zuge wie also das objektive Recht in der Perspektive der Rechtspositionen, die es gewährt, die Bedingungen moralischer Achtung sichert, erfüllt umgekehrt der auf dem gekränkten Rechtsgefühl basierende Kampf ums Recht die Funktion, das zweckmäßige Recht zu stabilisieren und - in rechtspolitischer Hinsicht - fortzuentwickeln. Es mag in der Tat zunächst so aussehen, als verhielten sich diese Funktionen völlig symmetrisch zueinander. Schelsky meinte daher, der Jheringsche Ansatz sei sowohl „systemfunktional" als auch „personfunktional", denn das Recht habe seinen Zweck sowohl in der Beförderung der Wohlfahrt der Gesellschaft als auch in der Sicherung der moralischen Integrität der Personen. 122 Zieht man aber zur systematischen Deutung von Jherings „Der Kampf ums Recht" auch dessen Ausführungen in der „Zweck im Recht" heran, ergibt sich ein anderes Bild. Dann zeigt sich, daß der Witz von Jherings funktionaler Erklärung darin besteht, die Moralität, die beim Kampf ums Recht die geforderte unintendierte Handlungskonsequenz hervorbringt, als Produkt der Gesellschaft zu betrachten. Als soziales System erzeugt sich die Gesellschaft demnach in der Moralität ein Mittel, ein evolutionär entstandenes Ordnungs- und Wohlfahrtsniveau zu stabilisieren und fortzuentwickeln. Folglich hat er die Konsequenz zu ziehen, daß sich hinter den Pflichten gegen sich selbst letztlich doch gesellschaftliche Funktionsimperative verbergen: „Wenn das Sittengesetz uns gebietet, uns selbst zu erhalten, so ist es nicht unsertwegen, sondern der Gesellschaft wegen, und ganz dasselbe gilt von allen Pflichten gegen sich selbst, sie haben ihren Grund nicht im Individuum, sondern in der Gesellschaft, mit dem Scheine des Gegentheils hat es dieselbe Bewandtniss wie mit dem Mondlicht: es ist nur der Reflex des Sonnenlichts." 123

118 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 25 - 26, S. 31, S. 39, S. 43 - 45. Allenfalls eintretende ökonomische Nachteile werden in Kauf genommen, sie sind aber nicht intendiert. 119 Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 52. 120 Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 443. 121 Siehe zum „Wohl" und „Gedeihen" der Gesellschaft als den Zwecken aller sittlicher Normen Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 103. 122 Siehe Helmut Schelsky, Das Jhering-Modell des sozialen Wandels durch Recht. Ein wissenschaftsgeschichtlicher Beitrag, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 3 (1972), S. 47 - 86, hier S. 73. 123 Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 228.

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Nun hat jede funktionale Erklärung aufzuklären, auf welche A r t die behaupteten funktionalen Zusammenhänge durch einen kausalen Mechanismus tatsächlich bewirkt werden. Jhering hat daher zu untersuchen, wie Überzeugungen entstehen, kraft derer Menschen in ihrem sozialen Handeln ihr rationales Selbstinteresse transzendieren. Und in diesem Zusammenhang wird die Genealogie der Moral relevant. IV. Lassen sie mich, bevor ich an diesem Punkt fortsetze, unsere bisherigen Überlegungen kurz zusammenfassen. Jhering will den Kampf dem Rechtszustand integrieren, ohne auf die Unterscheidung von Recht und Unrecht verzichten zu müssen. Er erklärt deshalb den Schutz der „moralischen Existenzialbedingungen" der Person zum Kennzeichen sowohl des wahren Rechts als auch des guten Kampfs. 124 Dies schließt, wie wir gesehen haben, eine „Moralisierung" des Rechts ein. Die Rechtsverfolgung ist moralische Pflicht und dient einem moralischen Zweck. Im Kampf ums Recht überschreiten die Menschen daher auch ihr Eigeninteresse und erahnen das moralisch Richtige. Der Grund dafür liegt in einer Kränkung des Rechtsgefühls. Eben dieses Rechtsgefühl soll aber letztlich nicht nur ein Mittel darstellen, ein gesellschaftliches Wohlfahrtsniveau zu sichern; es soll, zumal die Menschen von Natur aus egoistisch sind, sogar ein Produkt der Gesellschaft sein. Und einer Rekonstruktion der geschichtlichen Genese der Moralität dient die Genealogie der Moral. I m folgenden möchte ich mich auf Jherings Ableitung der Moralität im engeren Sinne beschränken. Der Übertragung der Ergebnisse auf das Rechtsgefühl wird damit kein Abbruch getan. Ist einmal beim Menschen die Fähigkeit zur Moralität entstanden, dann ist es im Kontext von Jherings Theorie eine sekundäre Frage, auf welchen Normtypus die moralische Motivation bezogen wird. Ich werde zunächst herausstellen, worin Jherings Moralbegriff besteht (1). Daran anschließend möchte ich zeigen, auf welche Art sich Jhering zum Projekt der Moralgenealogie (die eine Genealogie der Moralität einschließt) Zugang verschafft. U m möglichen Mißverständnissen zu begegnen, werde ich in diesem Zusammenhang auf die Unterschiede zwischen den Moralgenealogien Nietzsches und Jherings hinweisen (2). (1) In „Der Zweck im Recht" hat Jhering seine Theorie der Moral nicht zuletzt deshalb entwickelt, weil er, um die ihm vorschwebende Systematik der menschlichen Zwecke 125 vervollständigen zu können, 126 auch den Zweck

Dieses wahre Recht erhält damit einen über die „Sicherheit des Genusses" hinausverweisenden Zweck. Bescheidener noch Rudolph von Jhering, Der Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. 3, 5. Aufl. Leipzig 1906, S. 339. 125 Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 57.

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der M o r a l zu bestimmen hatte. 1 2 7 I n diesem Zusammenhang fällt auf, daß Jhering die M o r a l aus einer reichlich juristischen Perspektive betrachtet. E r entdeckt unter d e m T i t e l „ M o r a l " ein supplementäres Normensystem, das dort eingreift, w o der Rechtszwang notwendig versagen muß. Das gilt etwa für den Bereich der Sozialisation: „ D e r Rechtszwang kann aus d e m W e i b e nicht die M u t t e r machen, wie sie sein soll, die Liebe z u m K i n d e lässt sich nicht durch das Staatsgesetz erzwingen, die A r t , wie sie sich zu äussern hat, nicht i n Paragraphen bringen, u n d selbst w e n n es möglich wäre, die Befolgung derselben nicht c o n t r o l i r e n . " 1 2 8 Andererseits ist die M o r a l nachgerade rechtlich unabdingbar, da auch die Verhängung von Z w a n g letztlich auf M o r a l i t ä t aufzubauen hat, denn: „ O h n e H i n z u k o m m e n der sittlichen Gesinn u n g ist die ganze Rechtsordnung eine höchst unvollkommene, unsichere." 1 2 9 Angesichts dieser Feststellungen über die funktionelle N o t w e n d i g k e i t der M o r a l erfahren n u n die bereits i n „ D e r K a m p f um's R e c h t " eingeschlagenen Strategien eine Generalisierung. A l s eine der wichtigsten Säulen der sittlichen O r d n u n g 1 3 0 soll die M o r a l i n der F o r m objektiver Regeln vorliegen, die durch einen von der Gesellschaft ausgehenden psychologischen Z w a n g gesichert w e r d e n . 1 3 1 M o r a l n o r m e n sollen aber zudem i n einer sie tra126 Jhering stößt auf dieses Problem freilich erst, nachdem er einige Umwege genommen hat. Die soziale Mechanik des Lohns verweist seines Erachtens auf die zwangsvermittelte Durchsetzung von Obligationen, die Zwangsdurchsetzung, um überhaupt funktionieren zu können, auf Moralität, denn der Egoismus lasse sich durch keine noch so gut organisierte Staatsgewalt dauerhaft bändigen. Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 234, S. 379 (Rechtsgefühl als Garantie der Rechtsstaatlichkeit); ders., Zweck II (Fn. 36), XVI, S. 8 - 9; S. 11 -13.

127

Siehe nur Jhering, Entstehung (Fn. 2), S. 53, wo er davon spricht, daß der Zweck der letzte Erklärungsgrund für die Genese des Sittlichen ist (der Zweck hat das Sittliche wie das Rechtliche hervorgebracht). Dagegen bekanntlich Nietzsche, Genealogie (Fn. 135), Nr. 11/12, S. 313 - 314; ders., Götzen-Dämmerung (Fn. 138), Nr. VI/8, S. 96. 128 Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 182 - 183. 129 Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 8. 130

Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 97, S. 135 - 137, unterscheidet im weiteren zwischen dem „objektiv Sittlichen" und dem „subjektiv Sittlichen". Das „objektiv Sittliche" steht für sozial geltende Normen, das „subjektiv Sittliche" für das „praktische Verhalten des Subjekts" zu diesen Normen, also die „sittliche Gesinnung". Über das „objektiv Sittliche" erschließt sich der Zweck der sittlichen Normen, über das „subjektiv Sittliche" das Motiv, mit dem diese befolgt werden. Innerhalb der Normen des „objektiv Sittlichen" unterscheidet Jhering (ebd., X, S. 57) vier „sociale Imperative", nämlich Mode, Sitte, Moral und Recht, wobei er die Sitte von der Moral („Sittlichkeit") sowohl „objektiv" wie „subjektiv" abgrenzt. „Objektiv" bindet die Sitte nur lokal, während die Moral universelle Geltung hat, „subjektiv" erfordert das moralische Verhalten die Gesinnung und den Charakter, während bei der bloßen Sittsamkeit die äußere Konformität mit dem Schicklichen genügt (siehe ebd., S. 28 - 30, S. 56, S. 59, S. 60 - 62). 131 Das Recht wird demgegenüber durch die „äußere Macht des Staates" gesichert. Siehe Jhering, Entstehung (Fn. 2), S. 22. Zu den Schätzen, die sich in Jherings Spätwerk finden lassen, gehört auch dessen kritische Auseinandersetzung mit Kants Unterscheidung von Moralität und Legalität. Sie ist für Jhering zunächst deshalb inakzeptabel, da seines Erachtens der Zwang auch in der Moral unerläßlich ist und das Recht sehr wohl auch die innere Gesinnung kennt.

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genden uneigennützigen normativen Überzeugung verankert sein, 132 dem „Sittlichkeitsgefühl" (bei Rechtsnormen entspräche dies dem „Rechtsgefühl"). 1 3 3 Und die im Sittlichkeitsgefühl angesprochene Fähigkeit zur Moralität will Jhering ableiten, ohne dabei auf ein autonomes oder ein schlicht heteronomes Moralverständnis zurückgreifen zu müssen. (2) U m die Entstehung der Moralität nachzeichnen zu können, bedient sich Jhering nun einer Disjunktion, die man ebenfalls bereits in „Der Kampf ums Recht" angewendet findet. Dort wird nämlich der moralischselbstverleugnenden Haltung, mit der ein System subjektiver Rechte aktiviert wird, die revolutionär Rechtsregeln schaffende Rechtspolitik gegenübergestellt. Die schöpferische Kraft dieser Rechtspolitik beruht auf der kämpferischen kollektiven Selbstbehauptung.134 Eben diese Schöpferkraft des kollektiven Handelns wird nunmehr ansatzweise auf die Erklärung des geschichtlichen Ursprungs der Moralität übertragen. Folglich sieht Jhering die Moralität ursprünglich aus etwas Nicht-Moralischem hervorgehen. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, wenn er sich in seinen geschichtlichen Ableitungen einer Vorgangsweise annähert, mit der versucht wird, die Moralität - und zwar gerade angesichts der Konsens und Vertrauen gefährdenden Folgen von Moralität - ursprünglich aus Verhältnissen des Streits und der Gewalt hervorgehen zu sehen. Seit Nietzsche bezeichnet man diese Vorgangsweise als „Genealogie der Moral". Bekanntlich ist Jhering von Nietzsche selbst, wenngleich er dessen Lehre ablehnte, zu den „Moralgenealogen" gezählt worden. 135 Doch bevor ich auf die Unterschiede zwischen den Ableitungen Daher gibt es in beiden Bereichen den Zwang: beim Recht den „mechanischen", bei der Moral den „psychologischen". Wenn man nun nachsieht, was sich Jhering vom „psychologischen" Zwang erwartet, dann wird deutlich, daß die Moral gleichsam als Superrecht herhalten muß. Zwar hat, so Jhering, der mechanische Zwang des Staats den Vorteil der Sicherheit der Wirkung für sich, die dem psychologisch-moralischen Zwang versagt sein könnte, dafür aber wirkt die moralische Mißbilligung geradezu wie ein Quecksilber des Sozialen: sie dringt überall ein, also auch dort, wo das Recht nichts zu suchen hat (etwa im Intimbereich). Siehe zu all dem Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 10 -11, S. 181 -183. 132

Hierzu lassen sich Schätze bergen: der mechanische Zwang wirkt durch die überlegene physische Gewalt, der psychologische überwindet dagegen den fremden Willen von innen heraus. Der Widerstand wird also schon im Willen selbst überwunden. So Jhering, Zweck I (Fn.1 338), S. 235. 3 Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 44. 114 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 16 - 20. 135 Die folgende Hervorhebung der Charakteristika der „Genealogie der Moral" ist an Nietzsche orientiert. Damit wird freilich nicht die These vertreten, Jhering hätte sich von Nietzsche beeinflussen lassen. Wenn es Einflüsse gegeben hat, dann sind sie gewiß in umgekehrter Richtung verlaufen. Siehe zu Nietzsche als Leser des ersten Bands von „Der Zweck im Recht" Wolf, Rechtsdenker (Fn. 2), S. 652 - 653; Wieacker, Gründer und Bewahrer (Fn. 2), S. 211 - 212; ders., Jhering und der »Darwinismus* (Fn. 2), S. 91 - 92; ders., Privatrechtsgeschichte (Fn. 2), S. 565 - 566; Kerger, Autorität (Fn. 40), S. 12 - 20, S. 49, S. 52. Mögen auch einige (von Kerger, ebd., jüngst minutiös herausgearbeitete) thematische Analogien zwischen

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Nietzsches und Jherings zu sprechen komme, möchte ich nicht versäumen, die drei hervorstechendsten Charakteristika von Nietzsches Genealogie der „moralisch ausgedeuteten Phänomene" 136 in Erinnerung zu rufen. Erstens und vorrangig ist es in der Genealogie darum zu tun, die Moral aus einer vor- oder außermoralischen Perspektive zu bewerten. 131 Die Untersuchung der moralische Codes wie gut/böse und gut/schlecht tritt aus der überkommenen Moral heraus. 138 Insofern sie dabei weiterhin an die Konditionierung von Achtung und Mißachtung gebunden bleibt, bewegt sie sich noch auf klassisch ethischem Gebiet. 139 Gleichwohl wird dieses auch verlassen. Denn weder wird die Moral auf etwas zurückgeführt, das in sich selbst gut wäre oder dem Menschen sein Heil zusagte (Gott, Schöpfungsordnung, Vernunft), noch wird eine Begründung universeller Standards des Guten und Richtigen angestrebt. Die genealogische Bewertung aller Moral greift auf etwas zurück, von dem man annimmt, daß es aller Bewertung entzogen ist, da es die selbst wertfreie Grundlage 140 jeder nur denkbaren Wert-Schätzung darstellt. 141 Zweitens knüpfen genealogische Untersuchungen der Moral an deren Folgen, nicht aber an deren Begründung an. 142 Der Wert der Moral wird als Jhering und Nietzsche bestehen, so steht doch fest, daß Jhering von Nietzsche selbst zu den „bisherigen Moralgenealogen" gezählt worden ist. Nietzsche hat Jherings Ableitungen mit ein paar flotten Strichen verworfen. Siehe v.a. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887), Studienausgabe (Fn. 1), Bd. 5, Nr. 1/2, S. 258 - 259, Nr. H/12-13, S. 313 314, S. 316; weiters ders., Morgenröthe (Fn. 49), Nr. 37; S. 44; ders., Die Fröhliche Wissenschaft (1882), Studienausgabe (Fn. 1), Bd. 3, Nr. 345, S. 578, Nr. 360, S. 607; ders., Jenseits von Gut und Böse (Fn. 1), Nr. 253, S. 196; ders., Nachgelassene Fragmente 1875 - 1879, Studienausgabe (Fn. 1), Bd. 8, S. 437 - 438. Nietzsches Einwände meint Behrends, Jhering (Fn. 2), S. 286 Fn. 15, als „Detailkritik" abtun zu können. 136

Siehe hierzu Gerhard Schweppenhäuser, Nietzsches Uberwindung der Moral. Zur Dialektik der Moralkritik in Jenseits von Gut und Böse' und in der ,Genealogie der Moral', Würzburg 1988, S. 34 - 35. 1T7 Siehe vor allem Nietzsche, Genealogie (Fn. 135), Vorrede S. 2 - 6, S. 248 - 252. 138 Siehe zu den (schlechten) Moralen der „Zähmung" und den (guten) Moralen der „Züchtung" dementsprechend Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt (1889), Studienausgabe (Fn. 1), Bd. 6, Nr. VII/2, S. 99, Nr. VII/4, S. 101. 139 Insofern ist die Genealogie „Ethik", auch wenn die Wertschätzungen sich ändern. Siehe zur Ethik als Reflexion der Moral, die etwas „Gutes" will, Luhmann, Paradigm Lost (Fn.140110), S. 37 - 38. Siehe zu Nietzsches Ablehnung der „Höherwertigkeit" der Wahrheit bei Schweppenhäuser, Nietzsches Überwindung (Fn. 136), S. 16 -18. 141 Siehe zum „Leben" (als „Wille zur Macht") in diesem Sinne Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (Fn. 1), Nr. 259, S. 207; ders., Götzen-Dämmerung (Fn. 138), Nr. V/4 - V/6, S. 85 - 86; V/5, S. 86: „[...] [D]as Leben selbst werthet durch uns, wenn wir Werthe ansetzen." Siehe zum „Willen zur Macht" als metaphysischem Prinzip aller Moral Schweppenhäuser, Nietzsches Überwindung (Fn. 136), S. 75. 142 Siehe Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (Fn. 1), Nr. 186, S. 106.

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eigenständiges P r o b l e m betrachtet, auch wenn sich herausstellen sollte, 1 4 3 daß das moralische Bewußtsein auf einem I r r t u m b e r u h t . 1 4 4 A l s G e n r e der Analyse k a n n die Genealogie daher erst entstehen, nachdem die Moral zum Problem geworden ist, 145 u n d sich Z w e i f e l zu regen beginnen, ob nicht alle M o r a l - gemessen an i h r e m eigenen A n s p r u c h - i m G r u n d e g e n o m m e n unmoralisch i s t . 1 4 6 I n diesem Sinne ordnet die Genealogie sich der geschichtlichen „Selbstüberwindung" der moralischen Gewissenhaftigkeit z u . 1 4 7 D r i t t e n s untersucht die Genealogie die „Herkunft"

der Moral.

148

Sie ver-

sagt es sich hierbei, an den A n f a n g der Moralgeschichte ein transhistorisches Prinzip (etwa das Unegoistische u m Gegensatz z u m Egoistischen) 1 4 9 gestellt zu sehen, aus d e m sich das Wesen der M o r a l gleichsam zwingend ergeben m u ß t e . 1 5 0 Sie zielt vielmehr darauf ab, „[...] die Heterogenität dessen [zu zeigen], was m a n für kohärent h i e l t . " 1 5 1 Angesichts der Selbstauflösung der M o r a l sucht sie eine Moralgeschichte zu konstruieren, 1 5 2 i n der diese aus i h r e m Gegenteil hervorgeht - d e m Kampf, der Selbsterweiterung, der Lust an der

143

144

Siehe Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft (Fn. 135), Nr. 345, S. 579.

Siehe dazu, daß alle sittlichen Urteile auf Irrtümern beruhen, Nietzsche, Morgenröthe (Fn.14549), Nr. 103, S. 91. Siehe Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (Fn. 1), Nr. 186, S. 106; dazu Taureck, Nietzsches Alternativen (Fn. 110), S. 278. 146 Siehe Nietzsche, Genealogie (Fn. 135), Nr. III/14, S. 370 - 371. ders., Götzen-Dämmerung (Fn. 138), Nr. VII/5, S. 102, spricht davon, daß alle Mittel, mit denen die Menschheit moralisch gemacht werden sollte, von Grund auf unmoralisch waren. 147

Siehe Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (Fn. 1), Nr. 32, S. 51: „Die Uberwindung der Moral, in einem gewissen Verstände sogar die Selbstüberwindung der Moral: mag das der Name für jene lange geheime Arbeit sein, welche den feinsten und redlichsten, auch den boshaftesten Gewissen von heute, als lebendigen Probirsteinen der Seele, vorbehalten blieb." Siehe auch ders., Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, Bd. 1 (2. Aufl. 1886), Studienausgabe (Fn. 1), Nr. 107, S. 105 - 106; ders., Morgenröthe (Fn. 49), S. 16; ders., Fröhliche Wissenschaft (Fn. 135), Nr. 357, S. 600; ders., Genealogie (Fn. 135), Nr. I I I / l l , S. 363, Nr. III/27, S. 410. Der dem Christentum immanente „Wille zur Wahrheit" führt zur immanenten Destruktion der Moral. Siehe dazu Schweppenhäuser, Nietzsches Überwindung (Fn. 136), S. 23 - 25, S. 82 - 83. 148 Siehe Nietzsche, Genealogie (Fn. 135), Vorrede S. 3, S. 7, S. 249 - 50, S. 254. 149

Siehe insbesondere Nietzsche, Nachgelassene Fragmente (Fn. 135), 1875 -1879, S. 437 438;150 ders., Genealogie (Fn. 135), Nr. 1/2, S. 258 - 259, Nr. 1/3, S. 261. Siehe dazu Alexander Nehamas, Nietzsche. Life as Literature, Cambridge/Mass. - London151 1985,112 -114; Schweppenhäuser, Nietzsches Überwindung (Fn. 136), S. 51. Michel Foucault , Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders., Von der Subversion des Wissens, dt. Frankfurt/Main - Berlin - Wien 1978, S. 83 -109, hier: S. 90. 152 Siehe zur Emphase auf die kontingente Genese dessen, was später als notwendig ausgegeben wird, Foucault, Nietzsche (Fn. 151), S. 86 - 88. Ähnlich Wilhelm Schmidt-Biggemann, Geschichte als absoluter Begriff. Der Lauf der neueren deutschen Philosophie, Frankfurt/Main 1991, S. 42-43.

Die Kaserne des Egoismus

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Grausamkeit etc. 153 Moral wird damit zum „langen Zwang", zur verfeinerten Strategie der Machtsteigerung. 154 Indem die Genealogie es sich solcherart zur Aufgabe macht, das Nicht-Moralische auf dem Grunde der Moral zu entdecken, kann ihr das moralische Bewußtsein bestenfalls als quasi-poetisches Instrument erscheinen, mit dessen Hilfe sich die Menschen die Einsicht in eine „furchtbare Wahrheit" vorenthalten haben. 155 Jhering bleibt in allen drei relevanten Punkten - und der nun folgende Abriß seiner Genealogie wird dies belegen - hinter Nietzsches radikaler Destruktion der Moral zurück. Daher lassen sich an den genannten Charakteristika auch die Unterschiede aufweisen. Die schöpferische Funktion, die in Nietzsches Metaphysik dem ziellosen „Willen zur Macht" beikommt, wird bei Jhering durch das das teleologische Prinzip des „Lebens" wahrgenommen. Ihm ist, zumindest auf gesellschaftlicher Ebene, die perpetuierliche Steigerung kollektiver Wohlfahrt immanent. Außerdem will Jhering nicht alle Moral überwunden sehen, sondern vielmehr bloß deren sozialintegrativen Zweck angemessen bestimmen, mag er sich auch rühmen - und darin besteht eine gewisse Ähnlichkeit zu Nietzsche -, das autonome Moralverständnis als gesellschaftlich induzierten Schein durchschaut zu haben. Letztlich geht es Jhering aber nicht darum, dem moralischen Bewußtsein seine heterogene und kontingente Genese vorzuführen, sondern vielmehr um eine funktionale Erklärung der Entstehung von Moralität. Diese Erklärung wird in eine Theorie der sozialen Evolution eingebettet, an deren Anfang das Prinzip des kreatürlichen Egoismus steht. Diese Einschränkungen tun dem moralgenealogischen Charakter von Jherings Ableitungen keinen Abbruch; schließlich geht es in ihnen um nichts weniger als um die Ergründung des historischen Ursprungs der Moralität der Gesinnung, von der gesellschaftliche Imperative getragen werden. V. Es ist hier nicht der Ort, Jherings systematische Entfaltung des Moralbegriffs im einzelnen nachzuzeichnen. Ich werde mich darauf beschränken, diejenigen Elemente seiner Theorie hervorzuheben, die ihr den Charakter einer Moralgenealogie verleihen.

153 Siehe etwa Nietzsche, Genealogie (Fn. 135), Nr. I I / l - 3, S. 291 - 297, Nr. II/6, S. 301. Dazu etwa Foucault , Nietzsche (Fn. 151), S. 92.

154

Siehe Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (Fn. 1), Nr. 188, S. 108. Siehe dazu vor allem1Schweppenhäuser, Nietzsches Überwindung (Fn. 136), S. 52 - 53, S. 55. 55 Siehe in diesem Sinne Peter Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus, Frankfurt/Main 1986, S. 164 -167. 6 Jhering-Symposium

82

Alexander Somek F ü r Jhering hat die M o r a l A n t e i l an der Sicherung der Lebensbedingun-

gen der

Gesellschaft 1 5 6 u n d indirekt

Einfluß

auf die „ W o h l f a h r t "

des

K o l l e k t i v s . 1 5 7 Moralische N o r m e n sind seines Erachtens unabdingbar, w e i l sich auf d e m individuellen Egoismus allein eine funktionierende Sozialordn u n g nicht aufbauen l ä ß t 1 5 8 ( o b w o h l der Egoismus i m R a h m e n des sittlich E r l a u b t e n eine unentbehrliche F u n k t i o n e r f ü l l t ) . 1 5 9 D a h e r w i r d d u r c h die M o r a l auch nicht der individuelle Egoismus gefördert ( „ Z w e c k s u b j e k t des S i t t l i c h e n " ) . 1 6 0 Das Sittengesetz wendet sich an die Menschen i n ihrer Eigenschaft als G l i e d e r des Gesellschaftsorganismus. 1 6 1 G l e i c h kasernierten Soldaten w i r d ihnen durch die M o r a l jene Disziplin beigebracht, 1 6 2 die der

156 Dem Schutz der Lebensbedingungen der Gesellschaft dient ja auch das mit mechanischem Zwang wirkende Recht. Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 443. 157 Siehe Jhering, Entstehung (Fn. 2), S. 22; ders., Zweck II (Fn. 36), XVII. 158 Siehe etwa Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 1 - 5. 159 Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 85 - 88. 160 Die Frage nach dem Zwecksubjekt fällt nach Jhering mit der Frage nach dem Zweck („Prinzip": wem es nützt) zusammen. Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 88, S. 139. In Jherings Stellungnahmen zum Zwecksubjekt des Sittlichen findet sich freilich ein bezeichnender Bruch (siehe bereits ebd., S. 89 - 93, wo die Rede unversehens von realen Personen als Mitgliedern der Gesellschaft auf die Gesellschaft als Subjekt überwechselt). Er geht zwar davon aus, daß nur der Mensch das Zwecksubjekt des Sittlichen sein kann, allerdings nicht als Einzelwesen, sondern als „Glied" der Gesellschaft (siehe ebd., S. 145 - 148). Die Gesellschaft wird aber nun von Jhering selbst zu einem Subjekt, ja zu einem Lebewesen erklärt (siehe ebd., S. 103). Ihr nützt das Sittliche, nicht den Einzelnen. Daher gibt es laut Jhering keine Übereinstimmung zwischen dem gesellschaftlich und dem individuell Nützlichen (siehe ebd., S. 163). Der Grund dafür ist darin zu suchen, daß Jhering davon ausgeht, daß sich der Antagonismus zwischen Einzel- und Kollektivinteresse nicht im Ausgang von der Rationalität der Individuen auflösen läßt (deutlich ebd., 146 - 148). Er kann nur durch die gewaltsame Unterordnung des Einzelnen überwunden werden. Im Ergebnis verschlingt daher, wie wir sehen werden, das Kollektivsubjekt diese Einzelnen. Für Jhering ist die Gesellschaft kein Reich der Zwecke. In einem solchen würde die normative Integration ausgehend von der vernünftigen Selbstbestimmung der Teile realisiert werden (siehe dazu die Nachweise bei Somek, Rechtssystem [Fn. 88], S. 37 - 40). Jhering hält dagegen, daß der kategorische Imperativ Kants eben bloß auf den Teil und nicht auf das Ganze abzielt (siehe ebd., S. 168). Im Teil steckt aber seines Erachtens nicht das Ganze (ebd., S. 146). Das wahre Sittengesetz erhebt, nach Jherings Deutung, die individuelle Wohlfahrt zum Teil der Gesamtwohlfahrt und weist den Einzelnen die Erfüllung funktionsspezifischer Aufgaben zu (ebd., S. 146). Jhering vertritt damit eine Organismuskonzeption, in der sich der Wert des Einzelnen aus dem Beitrag ergibt, dem er zum Ganzen leistet (so in der Tat ebd., S. 157). Siehe zur Kritik an dieser Organismuskonzeption generell bei John Dewey, The Ethics of Democracy (1888), Early Works 1882 - 1898, ed. J. A. Boydston, vol. 1, Carbondale - Edwardsville - London - Amsterdam 1969, S. 227 - 249, hier: S. 237, und die Diskussion bei Somek, Rechtssystem (Fn. 88), S. 515 - 520. 161 Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 77 - 79, S. 84, S. 87 - 88, und die Erläuterungen bei Somek, Rechtssystem (Fn. 88), S. 164 -165. 162 Die Aufmerksamkeit des Sittengesetzes wird mit der eines militärischen Instruktors verglichen, „[...] der nicht den Einzelnen als solchen, sondern als Glied des höheren taktischen Ganzen, dem er eingereiht werden soll, im Auge hat." So Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 145.

Die Kaserne des Egoismus

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Gesellschaft nützlich dünkt. 163 Darin besteht also der Wert der Moral: In der Kaserne des Egoismus werden die Individuen auf die Erfüllung von Normen abgerichtet, die eine Gesellschaft für ihr Bestehen und Wohlergehen als notwendig erachtet. 164 „Alle sittlichen Grundsätze haben zum Zwecke das Bestehen und Gedeihen der Gesellschaft, alle sind um der Gesellschaft willen aufgestellt, sie stellen uns dar den Inbegriff dessen, was die Gesellschaft zu ihrem wahren Gedeihen für nöthig oder wünschenswerth hält." 1 6 5 Jhering verbindet seine Feststellung über den Wert der Moral mit Andeutungen über die Überwindung aller Moralverständnisse, in denen die Moralität in die Perfektion ursprünglicher Humanität einbezogen wird. Dies wird deutlich, wenn er an das zentrale Problem der Moral anknüpft, die selbstverleugnenden Folgen der Moral in die Selbstliebe des Menschen aufzunehmen, 166 und in diesem Kontext der Moralbegründung den Totenschein ausstellt: 167 Hinter der Moral steht die gesellschaftliche Zielerreichung, oder, in Jherings Worten, die Selbsterhaltung der Gesellschaft. 168 Auch das Gefühl moralischer Autonomie will er als Schein erkannt wissen: „Gegenüber dem Sirenengesang einer ungesunden Theorie, welche das Individuum mit seiner sittlichen Autonomie zu betören sucht, halte ich es für geboten, ihm einmal die nüchterne Wahrheit ins Ohr zu rufen: du bist nur Glied eines Ganzen

163 Es ist durchaus beachtenswert, daß in Jherings gesellschaftlichem Utilitarismus (siehe ders., Zweck II [Fn. 36], XXI) das „Nützliche" durchaus von den geschichtlichen Wertschätzungen „der" Gesellschaft abhängig gemacht wird. Nützlich ist, was der Gesellschaft nützlich dünkt, entsprechendes gilt für abgeleitete Phänomene wie Recht und Moral. Siehe Jhering, Geist III (Fn. 124), S. 343 - 344; ders., Zweck I (Fn. 38), S. 437 - 440, S. 443 - 444; ders., Zweck II (Fn. 36), S. 121, S. 129, S. 222 - 223, S. 226; instruktiv dazu Karl Larenz, Rudolph von Jhering und die heutige Lage der deutschen Rechtswissenschaft, in: F. Wieacker - Ch. Wollschläger (Hrsg.), Jherings Erbe (= Abh. d. Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Kl., Folge 3, Nr. 75), Göttingen 1970, S. 135 - 141, hier: S. 137; ders., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Berlin - Heidelberg - New York, 4. Aufl. 1979, S. 51 - 52. 164

Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 156. Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 194. 166 In diesem Zusammenhang ist auch seine Ablehnung der Annahme angeborener sittlicher Gefühle und Grundsätze von Interesse. Siehe Jhering, Entstehung (Fn. 2), S. 13, S. 24 - 25, S. 32 - 33; ders., Zweck II (Fn. 36), S. 107 - 111, S. 116, S. 138. 167 Dieses Ende des moralischen Selbstverständnisses wird in Jherings Texten insofern zum Ausdruck gebracht, als seines Erachtens die Begründung der Moral aus dem menschlichen Selbstinteresse nicht zu gelingen vermag. Siehe dazu, daß die Befolgung des Sittengesetzes keinen „Lustgewinn" bereiten und das Streben nach Vollkommenkeit keinen festumrissenen Zweck darstellen kann, bei Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 151, S. 153, S. 171 (zur Kritik an Bentham). 165

168

In der Tat versteigt sich Jhering zu der Behauptung, daß die Gesellschaft ein „lebendiges Wesen" ist, das sich gleichsam gegenüber ihren Gliedern durch den Einsatz der Sittlichkeit behauptet. Er sagt daher, daß sich die egoistische Selbstbehauptung bei der Gesellschaft in „höherer Form" wiederholt. Siehe ders., Entstehung (Fn. 2), S. 21 - 22; ders., Zweck II (Fn. 36), S. 192 - 195. 6'

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Alexander Somek

und erhälts von ihm deine Gesetze [...]". 169 Als nützliche Internalisierung sozialer Funktionsimperative wird das Gefühl, sich selbst moralisch zu binden, gesellschaftlichen Lebensbedingungen zugeschlagen, deren Reproduktion nicht abreißen darf. 170 Nun zerbricht allerdings ein nicht unwesentliches Element des Reproduktionsmodus, nämlich die ethisch „begründete" Integration der sozialen Imperative ins „wahre Selbstinteresse", in dem Moment, da Jhering die teleologischen Zusammenhänge des Sozialen aufzudecken vermeint. 171 Die Genealogie trifft gegen diese Konsequenz eine Vorkehrung: Moralverständnisse, in denen auf die Perfektion des Menschseins oder auf die Selbstgesetzgebung abgestellt wird, sind entweder durch ein Prinzip der neuen Wertsetzung 172 oder durch ein funktionales Äquivalent zu ersetzen. Jhering entscheidet sich für letzteres und entwirft eine elitär-technokratische „neue Ethik". 1 7 3 Sie hat im Dienste an der Beschleunigung des Kreislaufs vermehrter wirtschaftlicher Produktion und Konsumtion stehen. 174 Des sittlichen Scheins bedient sie sich zur Manipulation der Massen 175 und erachtet das „Wohl der Gesellschaft" 176 als letztlich durch einen totalen Staat (im Sinne Carl Schmitts) garantiert. 177

169

So Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 103. Auch hält er die Idee, man könne sich durch sittliches Handeln selbst vervollkommnen, für eine gesellschaftlich nützliche Täuschung. Siehe ebd., S. 154. 170 Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 103. 171 Jhering reflektiert ja durchaus die geschichtliche Bedingtheit das Auftretens seiner Theorie. Siehe ders., Zweck II (Fn. 36), S. 172 - 174. 172

So bekanntlich Nietzsche, dessen Prinzip ja konsequent aus dem Niedergang der abendländisch-christlichen Moral folgt, siehe nur dèr$., Genealogie (Fn. 135), Nr. 1/17, S. 288. Siehe dazu Schweppenhäuser, Nietzsches Überwindung (Fn. 136), S. 47. 173 In ihr tritt an die Stelle des sittlichen Gefühls die auf der Kalkulation von gesellschaftlichen Nützlichkeiten aufbauende Deduktion von Normen. Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 130. Die „ökonomische Analyse des Rechts" hat diese Vision am Ende des 20. Jahrhunderts verwirklicht. 174

Die (vermehrte) „Nützlichkeit für die Gesellschaft" wird damit zu einem bewußt angewandten Maßstab. Er wurde bislang vom sittlichen Urteil nur „intuitiv" herangezogen. Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 200 - 202, S. 213. 175 Siehe zur Ergründung der „Bildungsgesetzlichkeiten des sittlichen Willens" und zur Verwendung der dabei erzielten Ergebnisse zu einer „künstlichen Zucht" der Moralität Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 132 - 133. Über Jherings Machiavellismus wäre eine eigene Abhandlung zu schreiben. 176 Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 130. 177 Als Zwecksubjekt findet die Gesellschaft im Staat diejenige Organisationsform, die ihre Zweckverwirklichung garantiert. Da nach Jhering alle gesellschaftlichen Zwecke irgendwann zu Zwecken des Staats werden, wird bei ihm der Staat zur Instanz einer alles umfassenden Selbstorganisation der Gesellschaft. Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 105 -107, S. 307, S. 309 - 310 und im Vergleich Carl Schmitt, Die Wendung zum totalen Staat (1931), in: ders.,

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Nachdem für Jhering als ausgemacht gilt, daß das Sittliche weder der Natur (bzw. Gott) 1 7 8 noch der Vernunft 179 entspringt, 180 schickt er sich an, dessen geschichtlich-gesellschaftlichem Ursprung 181 auf den Grund gehen und behauptet: „ M i t der Gesellschaft beginnt das Sittliche." 182 Dies soll insbesondere auch für die sittliche Überzeugung und das sittliche Wollen gelten: „Wissen und Wollen des Sittlichen, das sittliche Gefühl und die sittliche Gesinnung sind das Werk der Gesellschaft." 183 Jhering untersucht daher, auf welche Weise (und wann) 184 die Moral in der Form von Imperativen, die von

Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar - Genf - Versailles, Hamburg-Wandsbek 1940, S. 146 -157, hier: S. 155. 178

Siehe zur Ablehnung der „materialistisch-naiven" und der „materialistisch-evolutionistischen" Lehre von einem dem Menschen angeborenen Rechtsgefühl bei Jhering, Entstehung 179(Fn. 2), S. 15, S. 24 - 25, S. 32 - 33; ders., Zweck II (Fn. 36), S. 108, S. 138. Siehe zur Ablehnung des (wohl mit Blick auf Kant und Fichte) als „formalistisch" apostrophierten „Nativismus" bei Jhering, Entstehung (Fn. 2), S. 16 - 17, S. 21; ders., Zweck II (Fn.180 36), S. 108, S. 116. Als theistisch (i.S. Behrends') wäre Jherings Lehre dann zu qualifizieren, wenn in ihrem Rahmen der Egoismus als von Gott eingesetztes Prinzip betrachtet würde. Der Egoismus wäre dann von Gott gewollt und an sich gut. Für eine solche Deutung lassen sich gewiß so manche Anhaltspunkte finden, etwa Jherings erbauliche Worte, wonach sich im „Fortschritt des Sittlichen" nichts weniger als „Gott in der Geschichte" manifestiert, oder sein Hinweis darauf, daß sich sowohl in der Natur als auch in der Geschichte Gott „offenbart" und eben dieser der „letzte Urgrund alles Sittlichen" ist (siehe Jhering, Entstehung [Fn. 2], S. 54, S. 12). An anderer Stelle (und bezeichnender Weise nicht - wie bei den angeführten Zitaten - anläßlich eines Vortrags dem Majestäten und sonstige hohe sowie würdige Herren beiwohnten) ist Jhering darauf bedacht, seine eigene Position von der Lehre des Christentums abzugrenzen; denn nach christlicher Lehre beruhe das Sittliche auf der „positiv-göttlichen Offenbarung", wohingegen er das Sittliche aus dem geschichtlichen Leben der Gesellschaft hervorgehen lasse (siehe Jhering, Zweck II [Fn. 36], S. 138). Außerdem betont er, daß die christliche Lehre mit dem von ihm vertretenen Relativismus des Sittlichen unvereinbar ist (ebd., S. 123). Eindeutig gegen die Annahme, daß Jhering die Selbstliebe auf einen göttlichen Willen bezieht, spricht schließlich seine Aussage, wonach die Selbsterhaltung von Natur aus nicht als sittliche Pflicht anzusehen ist (siehe Jhering, Entstehung [Fn. 2], S. 18). - Die Sache läßt sich freilich nicht durch das Anführen von Belegen, sondern nur systematisch aufklären. Jhering selbst hat mit seinem Insistieren auf dem gesellschaftlichen Charakter des Sittlichen einen wertvollen Hinweis gegeben. Daran zeigt sich nämlich, daß in Jherings System die Selbstliebe bereits „sozialisiert" auftritt. Sie wirft nicht das Problem auf, inwieweit sie zu begrenzen ist, um Gottes Naturplan zu entsprechen oder dessen Wohlgefallen auf sich zu ziehen. Das Problem Jherings besteht darin zu ergründen, ob ausgehend von der Selbstliebe die soziale Ordnung möglich sein kann, ohne an eine transzendente Autorität zu appellieren. Zur „Sozialisation" der Selbstliebe im 17. Jahrhundert siehe Lühmann, Paradigm Lost (Fn. 110), S. 12; ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik III (Fn. 73), S. 397 - 399, S. 403 - 404, S. 406 - 407. 181

Siehe zu der von ihm vertretenen „geschichtlich-gesellschaftlichen" Theorie des Sittlichen nur Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 108, S. 120, S. 125. 182 Jhering, Entstehung (Fn. 2), S. 23. 183 Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 119. 184

Jhering meint, dies sei mit dem Untergang der antiken Götterwelt in Griechenland geschehen. Siehe Jhering, Entstehung (Fn. 2), S. 34 - 36. Die Gewalt habe man in früherer Zeit

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Alexander Somek

unegoistischen M o t i v e n 1 8 5 getragen w e r d e n , 1 8 6 entstanden 1 8 7 ist. 1 8 8 U n d i n diesem Z u s a m m e n h a n g treten - sieht m a n von D u n k l e m a b , 1 8 9 das an Puchta g e m a h n t 1 9 0 - agonale Elemente hervor, ohne daß m a n behaupten könnte, Jhering habe seine Genealogie der M o r a l i n der T a t noch vollständig ausgeführt. 1 9 1 V i e l m e h r hat er sich auf A n d e u t u n g e n beschränkt, aus denen sich meines Erachtens wenigstens dies erschließen läßt: Jhering vermutet, daß ein „qualitativer Sprung" i n der menschlichen Psyche stattgefunden haben m u ß , d a m i t die M o r a l i t ä t überhaupt entstehen konnte. Dieser Qualitätssprung w u r d e durch die wechselseitige, wiederholte und schließlich organisierte Selbstnegation des unmittelbaren Egoismus in Machtverhältnissen ausgelöst. 1 9 2 A u f 193 einen Egoismus m i t langem A t e m , der u m des künftigen V o r t e i l s w i l l e n 1 9 4 dementsprechend nicht mißbilligt, sondern bewundert. Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 254 255. 185 Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 98, S. 115 - 116, S. 118 -119. 186

Gegen eine Anknüpfung der Moralgenealogie beim „unegoistischen Motiv" bekanntlich Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft (Fn. 135), Nr. 349, S. 585; ders., Genealogie (Fn.187135), Nr. 1/2, S. 258 - 259; ders., Nachgelassene Fragmente 1875 -1879 (Fn. 135), S. 437. Das zwingt natürlich zur Annahme einer Periode der Menschheitsgeschichte, in der es das Sittliche noch nicht gegeben haben kann. Siehe dementsprechend zum homerischen Griechenland bei Jhering, Entstehung (Fn. 2), S. 36 - 38. 188 Bei den gegebenen Prämissen muß die Entstehung der Moralität zunächst wie ein Wunder erscheinen: ,,Αη dem creatürlichen Willen gleitet das Sittliche ab, wie das Wasser am harten Stein, der Intellekt wie der Wille des Menschen bringen für das Sittliche nicht die mindeste Empfänglichkeit mit [...]." Soweit Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 116. Dennoch erfolgt eine „riesige That" in der Geschichte: „[...] Es hat weit mehr dazu gehört, den Sinn der Gesetzlichkeit und die sittliche Gesinnung in die Welt zu setzen, als die Dampfmaschine, die Eisenbahn und189 den elektrischen Telegraphen." (ebd:, S. 117). Jherings Ableitungen sind zuweilen recht verworren und in sich widersprüchlich. Um die Lehre von der Angeborenheit des Rechtsgefühls als Täuschung zu entlarven, verweist er darauf, daß der Mensch durch Erfahrungen geprägt ist. Die „sittliche Nahrung" wird daher von außen bezogen, allerdings in „unscheinbarer" und geheimnisvoller Form, die sich jeglicher Beobachtung entzieht(!). Siehe Jhering, Entstehung (Fn. 2), S. 42 - 44; ders., Zweck II (Fn. 36), S. 113. An anderer Stelle führt er aus, daß der Mensch die Grundsätze des Sittlichen im Laufe der Zeit durch die Erfahrung gebildet hat, ohne dies näher zu erläutern. Siehe Jhering, Entstehung 190(Fn. 2), S. 17 - 18; ders., Zweck II (Fn. 36), S. 113. Gemeint ist mit der Anspielung natürlich Puchtas Rede von der „dunklen Werkstätte" des Volksgeistes. Siehe Georg Friedrich Puchta, Cursus der Institutionen, hrsg. v. A. Rudorff, Bd.191 1, 5. Aufl. Leipzig 1856, S. 30. Der Grund dafür ist nicht zuletzt darin gelegen, daß die „Theorie der ethischen Selbstbehauptung", in der auch der Kampf ums Recht seinen systematisch angemessenen Platz gehabt hätte, dem (nicht mehr verfaßten) dritten Band von „Der Zweck im Recht" vorbehalten worden war. Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), IX, XVII, XXI, und schon ders., Zweck I (Fn.1 938), S. 248. 2 Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 118. 193

Daß Jhering bei seiner Genealogie der Moral wohl daran gedacht hat, läßt sich abduktiv erschließen. Er verknüpft nämlich die aus dem Selbstinteresse erfließende Selbstbeherrschung der Gewalt mit der Entstehung moralischer Vorstellungen. Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 242. Am Beispiel der Entstehung der Sklaverei führt er aus: „Erkenntnis des ökonomi-

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auf die sofortige A u s ü b u n g der Gewalt verzichtet, 1 9 5 ist seines Erachtens zunächst einmal die Entstehung von Rechtsverhältnissen zurückzuführen. 1 9 6 I n diesen herrschte kein Machtgleichgewicht, denn der Stärkere setzte d e m Schwächeren die N o r m . 1 9 7 Allerdings wurde durch das Eingehen v o n Rechtsverhältnissen - u n d zwar einerseits durch die U n t e r d r ü c k u n g v o n Tötungsgelüsten seitens des Stärkeren, 1 9 8 andererseits durch das Nachgeben gegenüber der Gewalt seitens des Schwächeren 1 9 9 - der unmittelbare Egoismus beider Parteien negiert u n d einem langfristigen K a l k ü l unterstellt. 2 0 0 A u f diese A r t gelangte die Gewalt zur Norm ,201 auch w e n n aus solchen V e r h ä l t nissen die Gewalt, die sich i m Recht ein M a ß verleiht, nicht verschwand, da diese, so Jhering, „[...] das Recht nur als ein accessorisches M o m e n t ihrer selbst sich b e i f ü g t e ] . " 2 0 2 Das Recht entsprang demnach der „[...] wohlvers t a n d e n e ^ ] Politik der G e w a l t " . 2 0 3 A l s M a ß der Gewalt bedurfte das Recht des Schutzes, 2 0 4 daher hatte umgekehrt die einmal errichtete Norm zur Geschen Werthes des Menschenlebens ist der erste Ansatz zur Menschlichkeit in der Geschichte gewesen" (ebd., S. 243). Gegen die Idee, „den Egoismus" an den Anfang der Genealogie der Moral zu stellen, konterte bekanntlich Nietzsche. Siehe ders., Genealogie (Fn. 135), Nr. II/2, S. 293 - 294. 194

Jhering ist sich durchaus der Tatsache bewußt, daß es der „Selbstüberwindung" bedarf, um auf die Ausübung von Gewalt zu verzichten und verständigen Überlegungen zu folgen, will man den Feind nicht vernichten, sondern für sich arbeiten lassen. Er führt aber keinen Grund an, weshalb sich diese „Selbstüberwindung" hat einstellen können. Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 244. Nietzsche hat die Annahme eines ursprünglich klugen Egoismus wiederholt kritisiert. Siehe ders., Morgenröthe (Fn. 49), Nr. 105, S. 92; ders., Genealogie (Fn. 135), Nr. 195 III/7, S. 350; ders., Götzen-Dämmerung (Fn. 138), Nr. IX/33, S. 131 - 132. Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 247 - 248, wendet sich in diesem Zusammenhang gegen die in der Rechtsphilosophie verbreitete Auffassung, wonach die Rechtsidee - vermittels des Rechtsgefühls - von Beginn an die Rechtsgeschichte bestimmt habe. Das Recht verdankt nach Jhering keineswegs ethischen Ideen seinen Platz in der Entwicklung der Menschheit: „Der Beginn ist der nackte Egoismus, der erst im Laufe der Zeit der sittlichen Idee und der sittlichen Gesinnung Platz macht" (ebd., S. 148). 196 Paradigma dafür ist der Friedensschluß angesichts des Risikos weiterzukämpfen. Die Gewalt setzt sich hierbei ein Maß, sie erkennt eine Norm an, der sie sich unterordnet. Damit gibt sie sich - Emergenz der Moral - „einen Maßstab zur Beurteilung ihrer Selbst". Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 245. 197 Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 246. 198

Siehe dementsprechend zur Entstehung des Rechts aus der „[...] Macht des Stärkeren, die im eigenen Interesse sich selber durch die Norm beschränkt [...]", Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 249. 199 Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 240. 200 Daher vermochte auch der Schwache neben dem Starken in der Gesellschaft zu bestehen. Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 240 - 241. 201 Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 248 - 249. 202 Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 250. 203 Jhering, Zweck I (Fn. 36), S. 378, siehe auch ebd., S. 249. 204

Auch der stärkere Gläubiger konnte nicht sicher gehen, daß er künftig der Überlegene sein wird. Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 292.

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wait zu gelangen. 205 Und dies geschah sukzessive durch die Organisation der Gewalt 206 in Allianzen, Schutz- und Trutzbündnissen, 207 Sozietäten, 208 Vereinen 209 und schließlich im Staat 210 als der organisierten gesellschaftlichen Zwangsgewalt schlechthin. 211 Sozietäten und Vereine, deren umfassendster der Staat ist, 212 haben aber eines gemeinsam: eine mit Zwang bewehrte interne Organisation der Rechte und Pflichten der Mitglieder, die auf die Verfolgung gemeinschaftlicher Ziele zugeschnitten ist. 213 In dieser internen Organisation dürfte Jhering nun den „springenden Punkt" für die Genese der Moralität erblicken. 214 Moralisch motivierte Überzeugungen (ein „Sittlichkeitsgefühl" bei Moralnormen und ein „Rechtsgefühl" bei Rechtsnormen) entwickeln sich demnach dann, sobald organisatorische Funktionsanforderungen beim Menschen einen moralischen Sinn entstehen lassen.215 Jhering deutet dies an, wenn er ausführt: „Sich selber dienend, arbeitet [der Egoismus], ohne es zu wissen und zu wollen, an der Herstellung der sittlichen Ordnung [...], in d[ie] demnächst, wenn er sein Werk verrichtet, der sittliche Geist einzieht, um darin sein Reich aufzuschlagen." 216 Die Moralität der Menschen wäre somit - um es in der Sprache der soziologischen Systemtheorie auszudrücken - ein „Emergenzphänomen" 217 von sich selbst mittels des Rechts organisierenden Gewaltverhältnissen. Versteht man unter 205

Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 248. Durch die Organisation wurde die Macht aller derjenigen des Einzelnen überlegen. Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 294. Siehe dementsprechend zur Staatsgewalt als „organisierter Volkskraft" ebd., S. 316. 207 Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 292 - 293. 206

208

Mit der Sozietät ließ sich ein doppelter Effekt erzielen: einerseits die Behauptung der Mitglieder nach außen, andererseits die Behauptung des gemeinsamen Zwecks gegenüber den partikularen Interessen der Mitglieder. In letzterem erblickt Jhering den Keim für die „[...] Selbstregulierung der Gewalt nach Maßgabe des Rechts [...]". Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 248, 209 S. 297 - 298. Der Verein unterscheidet sich von der Sozietät dadurch, daß er allen offen steht. Expansion ist daher das Prinzip des Vereins. Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 298 - 299, S. 302. 210 Erst im Staat findet das Recht, was es immer schon suchte, nämlich „[...] die Oberherrschaft über die Gewalt". Der Staat ist mithin die Gesellschaft als Inhaberin der geregelten und211 disziplinären Gewalt. Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 308. Der Begriff des Rechts schließt daher ein System der Zwecke (die Gesellschaft) und ein System der Verwirklichung dieser Zwecke (den Staat) in sich. Siehe Jhering, Zweck I (Fn.2 138), S. 74. 2 Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 304 - 305. 213 Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 297 - 298. 214 Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 294. 21 < Siehe den Hinweis bei Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 249. 216 Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 249. 217

Siehe hier nur Gunther Teubner, Recht als autopoietisches System, Frankfurt/Main 1989, S. 42, S. 107.

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„Emergenz", daß sich die Komponenten und die Organisation eines Systems - hier: die Mitglieder und die Regeln einer Sozietät - durch die in der Selbstorganisation kollektiven Verhaltens stattfindende Wechselwirkung verändern, dann stellt die Moralität eine neue Eigenschaft der Komponenten von ursprünglich auf die zwangsvermittelte Durchsetzung von Interessen zugeschnittenen Systemen dar. 218 Ich darf an dieser Stelle Jhering selbst zu Wort kommen lassen: „Die Macht des objektiv Sittlichen, d. h. der in Form der drei gesellschaftlichen Imperative: Recht, Moral, Sitte verwirklichten Ordnung der Gesellschaft beruht auf einer praktischen Unentbehrlichkeit, das subjective sittliche Gefühl ist nicht das historische Prius, sondern das Posterius der realen, durch den praktischen Zweck geschaffenen Welt [...]." 219 Die Veränderung der Komponenten des Systems wirkt freilich auf die Organisation des Systems zurück. Vermittels ihrer Moralität - und damit auch vermittels ihres „Rechtsgefühls" 220 - können die Menschen die Funktion erfüllen, als Glieder des Gesellschaftsorganismus ihren funktionalen Beitrag zur Stabilisierung und Fortentwicklung des Rechts und der Moral zu leisten. Die Sicherung der Bedingungen gesellschaftlicher Wohlfahrt kann hinfort auch von moralisierenden Rechtspersonen ihren Ausgang nehmen. Ihre Würde und ihre moralische Integrität finden diese freilich darin, Teile des Gesellschaftsorganismus zu sein. Und darin erschöpfen sie sich auch. I n diesem Zusammenhang ist das genealogische Proprium dieser fragmentarischen Ableitung im Auge zu behalten. Die „rechte Gewalt" ist zunächst der „Urkeim" von Rechtsverhältnissen. 221 Sie bringt, da in ihrem Gefolge die interne Organisation der Zwangsvollstreckung entsteht, schließlich nach dem Recht auch noch die Moralität hervor. 222 Als Genealoge sieht Jhering am Ursprung der Moralität daher nichts anderes als eine verfeinerte, internalisierte Gewalt wirken. Sie darf ihre Eigentümlichkeit auch in verfeinerter Form nicht gänzlich einbüßen. Die historische Mission der Gewalt soll es nämlich gewesen sein, den Willen daran zu gewöhnen, sich unterzuordnen und einen höheren Willen anzuerkennen. 223 Auf Gewaltverhältnissen konnte die moralische Kaserne des Egoismus erbaut und der in

218

Siehe hierzu vor allem Peter M. Hejl, Selbstorganisation und Emergenz in sozialen Systemen, in: W. Krohn - G. Küppers (Hrsg.), Emergenz: Die Entstehung von Organisation und Bedeutung, Frankfurt/Main 1992, S. 269 - 292, hier: S. 279, S. 284 - 285, S. 289. 219 Jhering, Zweck II (Fn. 36), X. 220 Zur Moralität in Bezug auf Rechtsnormen siehe oben S. 76. 221 Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 250, S. 291. 222

In diesem Sinne wird Jherings Einschub über das „[...] Recht, das die Welt des Sittlichen aufgerichtet hat [...]", verständlich. So Jhering, Entstehung (Fn. 2), S. 18. Siehe aber auch Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 236, wo angedeutet wird, daß der „soziale Zwang" der Sittlichkeit dem2 2Rechtszwang vorangegangen ist. 3 Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 254.

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Rechts- und Organisationsverhältnissen gebändigte Egoismus über etwas belehrt werden, was er sich selbst nicht beizubringen vermochte: daß die individuelle Selbsterhaltung durch das Bestehen der Gesellschaft bedingt ist. 224 Wir verstehen nun nicht nur besser, weshalb in Jherings zweiter Rechtstheorie das Rechtsgefühl, in dem sich gesellschaftliche Funktionsimperative im Modus der Moralität widerspiegeln, ein historisches Produkt sein soll; 225 es mutet auch nicht mehr gänzlich paradox an, daß das gesunde Rechtsgefühl - und zwar auch in rechtspolitischer Sicht - dessen bedarf, was es eigentlich garantiert, nämlich eines funktionierenden Rechtsstaats,226 der Rechtssicherheit für formal gleiche Rechtspersonen garantiert. 227 Das Wirken einer organisierten Zwangsanstalt, die das für alle gleich geltende Recht mit mechanischer Gleichmäßigkeit anwendet, läßt nämlich bei den Menschen die Einsicht aufkeimen, daß Rechtsnormen die Kooperationsbedingungen für Privatrechtssubjekte schlechthin repräsentieren. 228 Jeder steht dann mit seinem Rechtsgefühl für alle anderen Glieder ein. 229 VI. Doch diese Lehre von der individuellen Einsicht in die gesellschaftliche Bedingtheit der egoistischen Zweckverfolgung ist zweideutig. Moralität entspringt Verhältnissen, in denen ursprünglich gezwungen worden ist. Der Ruf des Gewissens wendet sich in Jherings Kontext an ein durch und durch „ver-gewaltigtes" Individuum. Dessen ursprünglicher Egoismus wird schließlich selbst noch unter die Wertschätzungen der sich selbst erhaltenden Ge-

224

Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 198. Jhering drückt dies aus, indem er behauptet, daß die Menschen eine durch praktische Zwecke geschaffene Welt erfahren mußten, um das Sittlichkeits- und Rechtsgefühl zu entwickeln. Siehe etwa Jhering, Zweck II (Fn. 36), X, S. 112; ders., Entstehung (Fn. 2), S. 21. Siehe Jhering, Entstehung (Fn. 2), S. 19; ders., Zweck II (Fn. 36), X. 226 Der Rechtsstaat bedarf, um zu funktionieren, zwar auch des Rechtsgefühls seitens der Organe; andererseits entspringt er einer „wohlverstandenen Politik der Gewalt", denn der Staat wird umso stabiler sein, je mehr Wohlstand und Zufriedenheit im Volk aufgrund der garantierten Rechtssicherheit herrscht. Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 357, S. 376 - 379. 227 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 75, S. 77; ders., Zweck I (Fn. 38), S. 384 - 385. 228

Siehe zum Kampf um das subjektive Privatrecht als „Schulung" des allgemeinen Rechtsgefühls Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 72 - 73, S. 77 - 78; S. 73: „Das Privatrecht, nicht das Staatsrecht ist die wahre Schule der politischen Entwicklung eines Volkes, und will man wissen, wie dasselbe erforderlichen Falls seine politischen Rechte und seine völkerrechtliche Stellung vertheidigen wird, so sehe man zu, wie der Einzelne im Privatleben sein eigenes Recht behauptet." 229 Der „gelehrige Egoist" soll also erkennen können, daß im Recht des anderen sein eigenes mißachtet wird. Die Furcht vor dem Gesetz kann folglich durch die Achtung des Gesetzes ersetzt werden. Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 380, S. 382.

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sellschaft 230 subsumiert. Mit der Entstehung der (Recht und Moral umspannenden) sittlichen Ordnung erhält die egoistische Selbstbehauptung, aus der Jhering zunächst die Notwendigkeit 231 der Entstehung von Recht und Moral abgeleitet wissen will, 2 3 2 seines Erachtens eine andere Qualität: Neben der ethischen wird auch die egoistische Selbstbehauptung zur Pflicht, welche die „[...] schwer keuchenden Lastträger des Nützlichen [,..]" 233 gegenüber dem sich aufblähenden Gesellschaftsorganismus zu erfüllen haben. 234 Jhering meint in diesem Zusammenhang sogar feststellen zu können, daß das individuelle Wohlsein in Wahrheit eine Investition der Gesellschaft zum Zwecke der Erhaltung und Steigerung ihrer eigenen Produktivität darstellt. 235 A n solchen Schlußfolgerungen wird aber auch die Grenze von Jherings Genealogie sichtbar. Anstatt es bei der Diagnose moralischen Scheins zu belassen, wendet sich Jhering gleichsam einer Grundlegung sittlicher Überzeugungen zu. Dies allerdings in Umkehr. Es ist nicht darum zu tun, Egoisten zu erklären, warum die Befolgung sittlicher Normen in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse liegt, sondern aufzuweisen, welche Institutionen und emotionalen Dispositionen eine Voraussetzung dafür darstellen, daß „ver-gewaltigte" Egoisten an einem als notwendig ausgegebenen Evolutionsprozeß zu partizipieren vermögen. In die moralische Zwangsjacke des Egoismus geschnürt fügen sich die gut gesinnten Menschen in die objektive

230

Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß Jhering in seinen Vereinsbegriff die Relativität der wertgeschätzten Lebensbedingungen aufgenommen hat, meint er doch, daß das „moralische Element" des Vereins auf dem „[...] Glauben der Mitglieder an die Nützlichkeit, Nothwendigkeit, kurz an die Daseinsberechtigung und Zukunft des Vereins [...]" beruht. Dies trifft seines Erachtens auch für den Staat als Organisation der Gesamtgesellschaft zu. Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 302 - 303. 231 Siehe zur Notwendigkeit der Entstehung des Rechts Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 237. Anzumerken ist, daß notwendige Institutionen bei Jhering sich dadurch auszeichnen, als Mittel für beliebige Zwecke herangezogen werden zu können. Das Notwendige ist das umfassend Zweckmäßige. Siehe Jhering, Entstehung (Fn. 2), S. 30 und (am Beispiel des Vereins) ders., Zweck I (Fn. 38), S. 305. Siehe dazu auch Somek, Rechtssystem (Fn. 88), S. 165. 232 Siehe Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 237, S. 258, S. 291. 233

Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 190. Für diese „Lastträger" werden übrigens Regeneration und Konsum zum Beitrag an der Steigerung der Produktion. Siehe demgemäß zum Lohn als Konsumverantwortung Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, dt. München 1982, S. 38. 234 Der Egoismus wird daher zu einem „Faktor" der gesellschaftlichen Ordnung, dessen Versagen (etwa bei Verneinung des Willens zum Leben) durch die Intervention einer sittlichen Pflicht 235 kompensiert wird. Siehe dazu Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 186 - 188, S. 191. Durch das Wohlsein der Menschen schafft sich die Gesellschaft ein Reservekapital an Lebenskraft. Das individuelle Wohlsein erhält, da es sich als aufgespeicherte Arbeitskraft begreifen läßt, eine sittliche Rechtfertigung. Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 200 - 202.

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Ordnung des gesellschaftlichen Lebens ein, 236 ,,[d]ie Selbstachtung der Menschen wächst proportional mit ihrer Fungibilität." 237 Solche Lehren klingen natürlich hart und wecken ein metaphysisches Tröstungsbedürfnis. Dem ist vielleicht deshalb so, weil sie, anders als die konsequente Genealogie Nietzsches, die Welt nicht unter dem Blickwinkel der ästhetischen Erträglichkeitsbedingungen des menschlichen Daseins betrachten. 238 Jhering ist jedenfalls um die Befriedigung metaphysischer Bedürfnisse nicht verlegen. Natur und Geschichte begreift er als eingebettet in den, zuweilen mit Blick auf einen (nominalistisch konzipierten) Welturheber beschönigten, 239 Lebensprozeß. Daraus folgt fürs Gesellschaftliche: „Die ganze Menschenwelt ist aus einem Gedanken zu begreifen: Behauptung, Förderung des Lebens." 240 Im Schöße des sich beständig steigernden „Lebens" (das auch hier als kompensatorisches Prinzip für die Enttäuschungen des abendländischen Rationalismus aufgeboten wird) 2 4 1 lösen sich alle Gegensätze auf. Einen Konflikt zwischen dem menschlichen Egoismus und der Sittlichkeit kann es daher nicht geben. 242 „Leben ist Zweckverwendung der Aussenwelt fiir das eigene DaseinZ' 243 Auf der Ebene der Gesellschaft wiederholt sich nach Jhering das natürliche Prinzip des Lebendigen, die egoistische Selbstbehauptung,244 auf einer höheren Stufe. Das Sittliche ist somit der Widerschein des Egoismus der Gesellschaft in der menschlichen Psyche.245 Jhering vertritt kein heteronomes Moralverständnis. In der Kaserne des 236

237

Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 191.

Max Horkheimer - Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente 238 (1944), Frankfurt/Main 1986, S. 115. Für Nietzsche ist ja die christliche Moral ein fiktives Gebilde, das es den „Schwachen" ermöglicht, in der Verneinung des Lebens gleichwohl das Leben zu bejahen. Siehe dazu Schweppenhäuser, Nietzsches Überwindung (Fn. 136), S. 70. 239 Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 191, S. 200 (zur „Selbstbehauptung" Gottes); siehe zum „Willen" als die wahrhaft „schöpferische, sich selbst gestaltende" Kraft bei Gott und beim Menschen ders., Zweck I (Fn. 38), S. 25. 240 Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 196. Joas hat unlängst sehr klar herausgestellt, daß lebensphilosophische Theoreme wie dieses auf einer Kreativitätsmetapher beruhen, in welcher ein sich stetig steigernder Wille gegenüber dem menschlichen Handeln verselbständigt und zum schöpferischen Prinzip schlechthin substantialisiert wird. Siehe Hans Joas, Die Kreativität des241 Handelns, Frankfurt/Main 1992, S. 176, S. 182 - 185. Siehe Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 - 1933, Frankfurt/Main 1983, S. 175 - 176. 242 Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 195. 243 Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 197. 244

Joas, Kreativität (Fn. 240), S. 174, hat zutreffend auf die dreifache Wurzel des lebensphilosophischen Pathos hingeweisen. Sie reicht von der Betonung des „Echten" und „Eigentlichen" (gegenüber dem Künstlichen, der Form) über den Ansatz bei der praktischen Lebensführung bis zur darwinistischen Biologie. 245 Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 199.

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Egoismus werden die Menschen tatsächlich in Wesen mit moralischem Sinn verwandelt. Nun kennt freilich „das Leben" keinen letzten Zweck der Entwicklung, sondern nur die unendliche Steigerung. 246 Folglich hat man im Rahmen von Jherings „gesellschaftlichen Eudämonismus" zur Kenntnis zu nehmen: „ V o n der vollendeten Gestalt des Wohlseins der Menschen haben wir gar keine Ahnung." 2 4 7 Die gesellschaftliche Entwicklung entläßt nach jeder gelungenen Zweckerreichung einen neuen Zweck aus sich. 248 Die Proliferation der wirtschaftlichen Lebensordnung und die Subordination der Individuen unter die gesellschaftliche Zielerreichung können daher weder eine Grenze noch ein Ende kennen. 249 Es scheint, als führte aus dem Disziplinarsystem der Kaserne des Egoismus kein Weg heraus. V I I . Aber vielleicht entspringt es doch keiner Entgleisung des Systems, wenn Jhering für die kapitalistische, vom individuellen Interesse beherrschte Privatrechtsordnung einen Schwund des Rechtsgefühls konstatiert. 250 Die Menschen, die am Rechtsverkehr einer kapitalistischen Gesellschaft teilnehmen, kalkulieren nur noch ihren eigenen Vorteil - ohne Rücksicht auf die moralische Mißbilligung. 251 Wie? Sollten sie sich alle zur Regression entschlossen haben? In der Beantwortung dieser Frage wollen wir keineswegs denjenigen vorgreifen, die in ihren rechtsphilosophischen Überlegungen heute wieder an Jhering anknüpfen.

246 247 248

249

Siehe dazu bei Joas, Kreativität (Fn. 240), S. 183 - 184. Jhering,, Zweck II (Fn. 36), S. 206. Siehe Jhering, Zweck II (Fn. 36), S. 112 -113, S. 205.

Siehe dazu, daß das „Lebensbedürfnis der Gesellschaft" beständig neue Zwecke hervorbringt, Jhering, Zweck I (Fn. 38), S. 306. 250 Siehe Jhering, Kampf (Fn. 24), S. 39 - 41, S. 55, S. 76. 251

Siehe dazu, daß die moralische Mißbilligung in der modernen Gesellschaft nicht mehr so recht „zieht", vor allem Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik III (Fn. 73), S. 438.

Rudolph von Iherings Einfluß auf Dogmatik und Methode des Privatrechts V o n W o l f g a n g Fikentscher u n d U l r i c h H i m m e l m a n n , M ü n c h e n ^

N e b e n F r i e d r i c h C a r l von Savigny gilt R u d o l p h von I h e r i n g zu Recht als einer der beiden größten deutschen Juristen des vergangenen Jahrhunderts. 1 Was den Begriff historischer G r ö ß e betrifft, sei auf Jacob Burckhardts W e l t geschichtliche Betrachtungen, V . Kapitel, Das I n d i v i d u u m u n d das A l l g e meine ( D i e historische Größe) verwiesen, jene bis heute unübertroffene A b handlung z u m T h e m a der Bedeutung von Menschen i n der Geschichte. 2 Savignys u n d Iherings G r ö ß e besteht dabei i n der V e r b i n d u n g der A r b e i t a m materiellen Recht m i t einem neuen methodischen Standpunkt, der von der Nachwelt bejaht u n d ü b e r n o m m e n wurde. I h e r i n g verstand es, unabhängig v o n allem, was bisher gedacht u n d geschrieben w o r d e n war, unvoreingenommen u n d i m direkten Z u g r i f f auf L e -

' Vortrag, gehalten am 11. Dezember 1992 anläßlich des Ihering-Symposions vom 11. bis 12. Dezember 1992 der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Der Wiener Fakultät gilt mein Dank für die ehrenvolle Einladung und den Teilnehmern der nachfolgenden Diskussion für Anregungen, die soweit wie möglich in der vorliegenden Fassung Berücksichtigung fanden. Der Stil des mündlichen Vortrags wurde beibehalten. Der Text des Vortrags greift in manchem auf die Ihering-Darstellung in Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. III, Mitteleuropäischer Rechtskreis, Tübingen 1976, S. 101 282, zurück (im folgenden: Methoden). Aus diesem Grunde wird in diesem Beitrag auf eine Wiederholung von Belegen verzichtet und insoweit auf die frühere Darstellung verwiesen. Die Abfassung des Textes wurde von Herrn Assessor Ulrich Himmelmann in selbständiger Weise und unter weiterführender Ausarbeitung einiger Gedanken vorgenommen. Daher erscheint die hier vorliegende, zum Druck bestimmte Fassung unter unser beider Namen. W.F. 1 Die Schreibweise Ihering wird verwendet, weil Wolfgang Fikentscher von Herrn Prof. Georg Albrecht von Ihering, dem Enkel Rudolph von Iherings, die Auskunft erhielt, dies sei stets die korrekte Schreibweise des Familiennamens Ihering gewesen. Siehe im übrigen Methoden, S. 104 Anm. 6; a. A. Wolfgang Pleister, Persönlichkeit, Wille und Freiheit im Werke Jherings, Ebelsbach 1982, S. 1 Anm. 2. 2 Ζ. B. in Jacob Burckhardt , Weltgeschichtliche Betrachtungen und Briefe, Nürnberg 1948, S. 123 - 160.

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Wolfgang Fikentscher und Ulrich Himmelmann

ben und Zeit Recht zu entwickeln.3 Allerdings steht bei Ihering, wie bekannt, der gedankliche Reichtum der Darstellung in einem auffällig häufigen Mißverhältnis zum Ungeschick der Gliederung. Ihering dachte meist nicht von einem Punkt zum anderen, sondern von einem Punkt aus öffneten sich für ihn immer weitere Probleme und Gedankenlinien. Das mußte notwendig zum Zusammenbruch eines Systems im einzelnen und zur Unvollendetheit seiner größeren Werke führen. Der nachfolgende Beitrag ist Iherings Einfluß auf Dogmatik und Methode des Privatrechts gewidmet. Es kann sich dabei nur um eine z. T. willkürlich erscheinende Auswahl von „Einflüssen" handeln. Es geht um das Beispielhafte, nicht um Vollständigkeit, um Charakterisierungen, nicht um eine - in einem Vortrag gar nicht mögliche - abschließende Würdigung.

I. Das privatrechtsdogmatische Werk Iherings Eine der großen Leistungen Iherings besteht in der Entdeckung und Durchführung der Trennbarkeit von Dogmatik und Geschichte des Privatrechts. Durch diese Trennung gewinnt der Begriff der Rechtsmethodik einen neuen Inhalt. Ihering grenzte mithin den Begriff der Dogmatik des Rechts in doppelter Weise ab: einmal von der juristischen Methode, zum anderen von der Entwicklung des Rechts in der Geschichte. Für Ihering ist Dogmatik des Rechts deshalb der Inhalt des Rechts schlechthin, wie er sich durch die Zeiten hindurch „abgelagert" hat. Aber nicht das bloß Überlieferte, sondern das mit Grund Überlieferte, von dem das grundlos Mitgeschleppte zu trennen und als vergangen abzulegen sei, bildet die Dogmatik des (heutigen) Rechts. Insoweit ist für ihn Dogmatik also ein Gegenstück zur Methode des Rechts. Nicht die Entwicklung des Rechts in der Zeit ist es nun was Ihering meint, wenn er von Dogmatik spricht, sondern der gegebene Inhalt eines Rechts auf einer bestimmten Zeitstufe. Dogmatik ist in diesem Sinne das Gegenstück zur Historik des Rechts. Ihering wandte durch seine entwicklungsgeschichtliche Betrachtung der Inhalte des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung eine für seine Zeit neuartige Methode an. Er setzt damit seine - entwicklungsgeschichtliche - Methode gegen die zwar historische, aber nicht in Entwicklungen, zumal nicht in die Zukunft denkende Methode Savignys, die dieser aus der römischen Jurisprudenz der Klassik zu gewinnen glaubte.

3

Gerber in einem frühen Brief an Ihering; siehe dazu Fikentscher, Iherings Antwort siehe Ehrenberg-Briefe, S. 32.

Methoden, S. 130. Zu

Rudolph von Iherings Einfluß auf Dogmatik und Methode des Privatrechts

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Die dogmatischen Arbeiten Iherings sind, vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, von ungleichem Gewicht. Drei Arbeiten haben sich als überragende Entdeckungen erwiesen, die das geltende deutsche Privatrecht bis heute unmittelbar beeinflußt haben, nämlich die Abhandlungen über die Zession der rei vindicatio, die über culpa in contrahendo und die über das Schuldmoment im römischen Recht. Eine weitere, größere Gruppe von dogmatischen Arbeiten hatte nicht den gleichen durchschlagenden Erfolg, sondern darf als Sammlung von Anregungen für die Weiterentwicklung des deutschen Rechts gewertet werden. Hierher zählen die Aufsätze über die Stellvertretung, über die Gesamtgläubigerschaft, über die Gefahrtragung beim Kauf, über den redlichen Eigenbesitzer im Eigentümer-Besitzer-Verhältnis, über soziale und nachbarrechtliche Bindungen des Eigentums und über Fragen im Bereich der Privatautonomie und des Persönlichkeitsrechts. Neben diesen beiden Blöcken von Abhandlungen stehen die beiden zusammengehörigen und namentlich auch in methodischer Sicht wichtigen Abhandlungen über den Besitz. 1. Die Zession des Vindikationsanspruches

und das Konnossement

In einem der ersten Aufsätze in den Jahrbüchern, im Jahr 1857, entwikkelt Ihering am Beispiel des Konnossements die Übereignungsform, die heute in § 931 BGB geregelt ist. Vorher war sie als Institution des bürgerlichen Rechts in dieser Form nicht bekannt. Nach § 931 BGB kann Eigentum an beweglichen Sachen durch Einigung und Abtretung des gegen einen Dritten gerichteten Anspruchs auf Herausgabe der Sache übertragen werden. Dabei bleibt Ihering, wo immer nötig und angängig, der Theorie des römischen Rechts treu, daß die Zession nicht das Recht als solches übergehen läßt, sondern daß der Zessionar das Klagrecht des Zedenten vermöge eigenen Rechts ausübt. Erst später setzte sich die für das BGB maßgeblich gewordene Auffassung durch, daß das Recht als solches übergeht. Eine der drei Formen des Eigentumsübergangs an beweglichen Sachen im heutigen Recht geht also auf jene Abhandlung Iherings zurück. 2. Culpa in contrahendo Ihering stand bei der heute häufig zitierten Abhandlung „Culpa in contrahendo oder Schadensersatz bei nichtigen oder nicht zur Perfection gelangten Verträgen", die 1860 im 4. Jahrgang der Jahrbücher erschien, vor der Aufgabe, den Leser mit einer völlig neuen Idee bekanntzumachen. I n der Abhandlung setzt Ihering auseinander, warum auch unter bestimmten Umständen bei nicht zustande gekommenem oder nichtigem Vertrag Schadensersatz zu leisten ist. Treffend spricht er von „diligentia in contrahendo". 7 Jhering-Symposium

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Aus den einleitenden Bemerkungen folgt, daß bei Verletzung der „diligentia in contrahendo" grundsätzlich das negative Interesse geschuldet ist. Der Inhalt des vorvertraglichen Schuldverhältnisses nach Abgabe der Offerte wird näher bestimmt. Die Anwendung der culpa in contrahendo auf Stellvertreter und Bote wird, im wesentlichen mit gleichen Ergebnissen wie noch heute, dargelegt. Ihering fühlt, daß er die Neuentdeckung im Grunde nicht der von ihm selbst vorgeschlagenen Methode der Analyse, Konzentration und Konstruktion verdankt. Es gab zu wenig im römischen Recht, um daraus im Wege der Verallgemeinerung die culpa in contrahendo abzuleiten. Für den Fall der Vertragsnichtigkeit wegen Irrtums räumt Ihering geradewegs ein, die Quellen wüßten hier nichts von einem Schadensersatzanspruch; es genüge jedoch, daß ein Schutzbedürfnis vorliege. Im Grunde zeigt diese vielleicht wichtigste Abhandlung Iherings zugleich die Grenzen seiner eigenen Methodik. Ein wenig gewaltsam wird diese dennoch zitiert: Ihering glaubt sich mit seiner Theorie im Recht, weil es ihr gelungen ist, „die sporadischen Bestimmungen ... auf ein höchstes Prinzip zurückzuführen und theoretisch zu rechtfertigen". Ihering war überzeugt, daß es Aufgabe der Jurisprudenz sei, das Recht über die Anwendung und Auslegung von Einzelregeln und Gesetzen hinaus fortzuentwickeln. 3. Die Begründung der zivilistischen

und strafrechtlichen

Tatbestandslehre

Als Begründer der sogenannten „dreigliedrigen strafrechtlichen Tatbestandslehre" (objektiver Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld) werden namentlich Karl Binding und Franz von Liszt, unter den späteren Ernst Beling angesehen. Es war aber ein Zivilrechtler, der den Unterschied zwischen objektivem und subjektivem Unrecht zum ersten Mal, dazu in einer kritischen Überprüfung der römischen Quellen, aus diesen Quellen herausgelesen und dogmatisch festgehalten hat: Es war dies Ihering in seiner Kritik an Adolf Merkels Einheitstheorie, die dieser wiederum gegen Hegels Trennung von „bürgerlichem" und „strafbarem" Unrecht entwickelt hatte. Objektives Unrecht bedeutet Regelverstoß, subjektives persönliche Vorwerfbarkeit dieses Regelverstoßes. Bindings Dreiteilung knüpft - durch die Trennung von Tatbestand und Rechtswidrigkeit - unmittelbar an Iherings Zweiteilung von objektiver und subjektiver culpa an. In dieser Entdeckung liegt die Hauptbedeutung der von Ihering als Dekan der Rechtsfakultät in Gießen verfaßten Festschrift zum 50. Jahrestag der akademischen Tätigkeit von Johann Michael Franz Birnbaum, „Kriminalist und Rechtsphilosoph in Gießen". Die Schrift von 1867 mit dem Titel „Das Schuldmoment im römischen Privatrecht" ist als Ergänzung zum 1. Band des „Geistes" gedacht. Ihering versteht seine Schrift im wesentlichen als historische Arbeit. Das Haupter-

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gebnis ist jedoch ein dogmatisch-methodisches, nämlich die Unterscheidung objektiven und subjektiven Unrechts, von Rechtswidrigkeit und Schuld. Damit wird zum ersten Mal deutlich, daß der Verstoß gegen eine Verhaltensnorm regelmäßig nur im Falle subjektiver Zurechenbarkeit zu einer Haftung führt, daß also objektives Fehlverhalten und persönliche Vorwerfbarkeit dieses Fehlverhaltens begrifflich zu trennen sind und zur Haftungsbegründung zusammenkommen müssen. Möglicherweise wäre, wenn man Ihering zu den Vorbereitungen zum BGB hinzugezogen oder wenigstens seine Abhandlung genau gelesen hätte, die „positive Vertragsverletzung" nicht übersehen worden, denn dieses „Übersehen" beruht ja gerade auf der Verquickung objektiven und subjektiven Vertragsunrechts in § 276 BGB. Nachdem man Unmöglichkeit und Verzug ausführlich geregelt hatte, war § 276 zu schmal dafür geworden, die alte römisch-rechtliche culpa-Haftung aufzunehmen: § 276 wurde, obwohl im Sinne der alten - Rechtswidrigkeit und Schuld nicht trennenden - culpa-Haftung formuliert, nun zum (subjektiven) „Haftungsmaßstab". Damit fiel die (objektive) culpa-Haftung aus dem bürgerlichen Recht hinaus, und Hermann Staub mußte sie als „positive Vertragsverletzung" neu entdecken. 4. Zur Theorie der Stellvertretung In zwei Abhandlungen in den Jahrbüchern von 1857 äußert sich Ihering zur „Mitwirkung für fremde Rechtsgeschäfte". Z u jener Zeit war die abstrakte Stellvertretung noch nicht entdeckt. Erst Labands berühmter Aufsatz brachte in Auseinandersetzung auch mit Ihering acht Jahre später - 1865 diese These. Eine der Grundideen von Iherings Abhandlung bestand in einer genaueren begrifflichen Bestimmung dreier Personentypen, die an fremden Rechtsgeschäften mitwirken können: der Teilnehmer, der Ersatzmann und der Stellvertreter. Für das heutige bürgerliche Recht interessieren vor allem Ersatzmann und Stellvertreter. Unter Ersatzmann versteht Ihering weitgehend, was man heute den mittelbaren Stellvertreter nennt, während sein Begriff des Stellvertreters dem heutigen entspricht. Das Verdienst der Unterscheidung liegt dabei in einer genauen Behandlung des Offenkundigkeitsprinzips. M i t einer sehr modern anmutenden Begründung, die darauf abstellt, daß man nur demjenigen Kredit geben könne, von dem man wisse, daß man es mit ihm zu tun habe, engt Ihering den Begriff des Stellvertreters ein, um ihn aus der Fülle der denkbaren „Helfer" herauszulösen. Ersatzmann ist dagegen, wer das Geschäft im eigenen Namen, aber für fremde Rechnung führt. Gelegentlich nimmt Iherings Ersatzmann auch Eigenschaften des heutigen Treuhänders an. Bei der Darstellung beider Rechtsfiguren betont Ihering zu Recht, daß es, falls Offenkundigkeit vorliege, nicht mehr darauf ankommen könne, ob der Stellvertreter mit seinem Willen dem Geschäft 7*

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eine andere Richtung gibt, etwa in der Weise, daß er sich selbst verpflichten wolle. Mit anderen Worten, für Ihering kommt es bei der echten Stellvertretung auf einen Vertretungswillen nicht an. Die Frage ist immer noch streitig und wird heute meist unter der Überschrift diskutiert, ob man § 164 Abs. 2 BGB „umkehren" könne. 5. Gefahrübergang und Konkretisierung Der dritte Jahrgang der Jahrbücher von 1859 bringt einen Aufsatz „Beiträge zur Lehre von der Gefahr beim Kaufkontrakt", der im vierten Band (1860) fortgesetzt wird. Die Doppelabhandlung hat ihre eigene Geschichte, die mit Iherings Entwicklung von der Konstruktions- zur Zweckjurisprudenz und mit seinem steigenden Interesse am Phänomen des Rechtsgefühls eng zusammenhängt. Michael Kunze berichtet: „ I m Dezember 1858 wurde ihm eine Spruchsache zur Begutachtung vorgelegt. Die Parteien stritten sich um den Kaufpreis einer versunkenen Schiffsladung. Diese Ladung war zweimal verkauft worden, wodurch der Verkäufer den Anspruch des Käufers verletzt hatte. Trotzdem forderte er nun, da die Sache untergegangen war, Bezahlung. Jhering hielt dieses Begehren auf den ersten Blick für ungerechtfertigt, doch der Autorität, auf die sich der Kläger zur Begründung seiner Forderung berief, war nicht leicht zu widersprechen. Denn diese Autorität war Jhering selbst. In seinen, Abhandlungen aus dem römischen Recht' hatte er in scharfsinniger Auslegung römischer Rechtsquellen den Standpunkt vertreten, der Verkäufer einer doppelt verkauften, zufällig untergegangenen Sache könne von beiden Käufern den Kaufpreis fordern. (Anm.: Basierend auf Paulus D. 18, 4, 21). Bei der hypothetischen Betrachtung damals war er angesichts dieser juristischen Consequenz' der Römer ins Schwärmen geraten. Konkret vor die Entscheidung des Falles gestellt, hielt er nun allerdings gerade diese Konsequenz für unmöglich. Unbeeindruckt von der formaljuristisch zwingenden Deduktion nannte sein Rechtsgefühl die Lösung falsch. Im Ringen um die Entscheidung erwies sich dieser kaum faßbare instinktive Widerstand als überlegen. Jhering verwarf seine frühere Meinung. Eine vertretbare juristische Begründung für seinen neuen Standpunkt zu finden, fiel ihm nicht schwer, doch ließ er keinen Zweifel daran, daß er die Entscheidung gefühlsmäßig gefunden hatte. (Anm.: Schon in dem Rechtsgutachten vom 1.1.1859 bekennt Jhering, daß ,das gesunde Rechtsgefühl ... uns zu unserer Ansicht den

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ersten Anstoß gegeben hat'). Sein Gewissen als Wissenschaftler konnte sich damit jedoch nicht beruhigen. Er nahm sich vor, dem Phänomen des Rechtsgefühls auf die Spur zu kommen. In einer Abhandlung für die Jahrbücher 4 schreibt er sich den Fall von der Seele. Die ,richtige 4 Lösung des konkreten Falles hat allerdings weniger Bedeutung für ihn als die daraus gezogene Erkenntnis, daß Juristenlogik nicht immer und unbedingt zu richtigen Ergebnissen führt. Von dem Überschwang seines Konstruktionseifers ist Jhering geheilt. Anonym verfaßt er für eine vielgelesene Fachzeitschrift ,Vertrauliche Briefe eines Juristen', in denen er die juristische Begriffsakrobatik verspottet. Sich selbst nimmt er nicht aus von der Kritik. (Anm.: Die Artikelserie erschien zunächst unter dem Titel,Vertrauliche Briefe über die heutige Jurisprudenz. Von einem Unbekannten', in der Preußischen, später Deutschen Gerichtszeitung (Berlin 1860 - 1866). Später nahm Jhering sie in eine Sammlung von essayistischen Arbeiten auf mit dem Titel: Scherz und Ernst in der Jurisprudenz. Eine Weihnachtsgabe für das juristische Publikum.- Nachdruck der 13. Auflage Leipzig 1924: Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1980)."4 Für die weitere Rechtsentwicklung brachten die beiden Abhandlungen zwei wichtige Gesichtspunkte. Ihering geht zwar von dem römisch-rechtlichen Satz „periculum est emptoris" aus, weist aber seine Unbilligkeit in einer Reihe von Fällen nach und begründet in ausführlicher Darlegung Ausnahmen von diesem Prinzip. Bekanntlich ist der BGB-Gesetzgeber zum gegenteiligen Verfahren übergegangen und hat, vor allem in den §§ 320 und 323 BGB, die Regel zugrunde gelegt: Periculum est venditoris. Nur für den Erbschaftskauf blieb in § 2380 BGB die römisch-rechtliche Regel in unaufgelöstem Widerspruch zu der des allgemeinen Schuldrechts erhalten. Der Schwerpunkt der zweiten Abhandlung liegt auf der Gattungsschuld. Ihering bekämpft die Ausscheidungstheorie und legt die Grundlage zu dem, was später in § 243 Abs. 2 BGB als geltendes Recht gesetzt wurde. Die Überschrift über der zweiten Abhandlung lautet: „ I I . Beim Verkauf generiseli bestimmter Gegenstände geht die Gefahr nicht mit der Ausscheidung, sondern mit dem Momente über, wo der Verkäufer seinerseits alles getan hat, was ihm contractlich oblag." Der Wortlaut von § 243 Abs. 2 BGB weicht von der Artikelüberschrift nicht sonderlich ab.

4 Michael Kunze, Rudolf von Jhering - ein Lebensbild, in: Okko Behrends (Hrsg.), Rudolf von Jhering. Beiträge und Zeugnisse aus Anlaß der einhundertsten Wiederkehr seines Todestages am 17.9.1992, 2. Aufl., Göttingen 1992,16 f.

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6. Ansprüche gegen den redlichen Besitzer im Eigentümer-Besitzer-Verhältnis Eine der Fußangeln des „ E B V " ist bekanntlich das Problem, ob der Besitzer, der durch Verkauf der Sache einen gewinnbringenden Erlös gemacht hat, diesen an den Eigentümer herausgeben muß. Das Reichsgericht hat, nach anfänglichem Schwanken, die Anwendung des § 281 BGB auf das „ E B V " verneint. Diese auch heute noch herrschende Ansicht geht auf Ihering zurück. Ihering gelangt in seiner Habilitationsschrift (1844) und genauer noch im 16. Band der Jahrbücher (1878) zu einem Ergebnis, das erstaunlich aktuell ist: Aus dem Eigentum hat der Eigentümer gegen den Besitzer keinen Anspruch auf Gewinnherausgabe. Ein solcher Anspruch kann nur gestützt werden auf Bereicherung. Hierin stimmt Ihering mit der heute herrschenden Auffassung überein, die in § 816 BGB die Gewinnherausgabe vorschreibt. Zur Begründung des kondiktionsrechtlichen Anspruchs verweist Ihering auch auf das Recht der Geschäftsführung ohne Auftrag. Auch heute kann im „ E B V " nach verbreiteter (und richtiger) Ansicht über den konkurrierenden Anspruch aus § 687 Abs. 2 BGB, d. h. aus unechter Geschäftsführung ohne Auftrag, Gewinnherausgabe verlangt werden. Ihering faßt zusammen: „Wer fremdes Geld oder fremde Sachen durch Rechtsgeschäft erhält, haftet dem Eigentümer nicht auf Herausgabe dessen, was er damit gewonnen hat." Einiges spricht dafür, daß hier zum ersten Mal die Privilegierung des redlichen Besitzers im Eigentümer-Besitzer-Verhältnis angesprochen worden ist. 7. Sozialbindung des Eigentums Landsberg hat darauf hingewiesen, daß der Gedanke der Sozialbindung des Eigentums auf Ihering zurückgeht. Ein Beleg zu dieser These ist Iherings nachbarrechtliche Abhandlung „Zur Lehre von den Beschränkungen des Grundeigentümers im Interesse des Nachbarn" im 6. Band der Jahrbücher 1862. Für Ihering bot sich die Gelegenheit, sein sich damals den Begriffen des Interesses und des Zwecks zuwendendes Denken auf einen praktischen und wirtschaftlich bedeutungsvollen Zusammenhang anzuwenden. Auch das Thema der notwendigen Erweiterung des Umweltschutzes wird berührt, wenngleich das Wort noch nicht vorkommt. A m Ende der Abhandlung formuliert Ihering den von ihm gefundenen Gedanken: „Niemand braucht mittelbare Eingriffe von Seiten seiner Nachbarn zu dulden, welche entweder der Person oder der Sache schaden oder die Person in einer das gewöhnliche Maß des erträglichen überschreitenden Weise belästigen." Dieser Gedanke ist später in das BGB als § 906 eingegangen, wobei man den Eindruck hat, daß das Immissionsrecht des BGB noch hinter dem zurückbleibt, was Ihering 1862 als geltendes Recht entwickelte. Das BGB widmete den indu-

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striellen Immissionen keine besondere Aufmerksamkeit. Für Ihering steht aber schon vierzig Jahre vorher „die Fabrik" im Mittelpunkt seiner immissionsrechtlichen Überlegungen: „Auch hier wiederum würde der Schluß ein völlig unberechtigter sein, daß, weil ich einen Seifensieder oder Schmied als Wandnachbar ertragen muß, ich in der selben Nähe auch eine Fabrik dulden müßte, welche durch Erzeugung unerträglicher Gerüche oder übermäßigen Lärms den Aufenthalt in unmittelbarer Nähe zur Unmöglichkeit macht. Die Fabriken mögen, wie der Schinder, sich in die Einsamkeit zurückziehen." Es wäre gut gewesen, hätte man bei Erlaß des BGB sich dieser vorausschauenden Betrachtungen erinnert. Aber Ihering denkt noch weiter. „Aber wie, wenn die Stadt ihnen (den Fabriken) nachzieht? Sollen sie abgebrochen werden? Dann mögen sie entweder die Vorrichtungen treffen, um die nachteiligen Einwirkungen zu beseitigen, oder sie mögen von den benachbarten Grundeigenthümern die erforderlichen Servituten acquiriren und dieselben für die Nachteile, die sie ihnen zufügen, entschädigen oder endlich in dem Umkreise ihres Einwirkungsgebiets das Land ankaufen." Hier ist u. a. § 14 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes im Ansatz konzipiert. Ν 8. Der Rechtsschutz der.Persönlichkeit Zwei Jahre nach Erscheinen des zweiten und letzten Bandes des „Zwecks im Recht", im Jahre 1885, legt Ihering eine fast 200 Druckseiten umfassende Abhandlung über den „Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen" vor. Obwohl er erklärtermaßen nur den Anwendungsbereich der actio injuriarum im neueren römischen Recht näher bestimmen will, gedeiht das große Werk unterderhand zu einer Grundlegung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Die heutige Diskussion um das Allgemeine Persönlichkeitsrecht hat Ihering vergessen. Der außerordentlich weitgehende Rahmen, den Ihering dem „injuriösen Rechtsschutz" geben möchte, macht ihn aber zu einem der Begründer der Lehre vom Allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Zwischen Iherings Thesen vom Individuum als Atom und dem von ihm fast übermäßig ausgebauten Persönlichkeitsschutz besteht nur bei oberflächlicher Betrachtung ein Widerspruch. Für Ihering wird der einzelne zum Rechtsobjekt durch Eingliederung in die menschliche Gesellschaft. Dann aber ist ihm diese menschliche Gesellschaft auch ein Höchstmaß an individuellem Schutz schuldig. Umgekehrt soll der einzelne sich nicht den sozialen Anforderungen der Gesellschaft, die ihm erst den Rechtsstatus verleiht, entziehen, sondern sich deren sozialen Gegebenheiten beugen und einfügen.

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9: Die Theorie vom Besitz Iherings erste Arbeit über den Besitz erschien im Jahre 1869 unter der Überschrift „Über den Grund des Besitzschutzes, eine Revision der Lehre vom Besitz". Es handelt sich dabei um einen Auszug aus mehreren Beiträgen zur Lehre vom Besitz, die 1868 in den Jahrbüchern erschienen waren. Ihering sieht den Grund des Besitzschutzes in dem Interesse der Person an einer notwendigen Ergänzung des Eigentumsschutzes. Der Besitz ist eine A r t „Vorwerk" für das Eigentum, eine Ergänzung des Eigentumsschutzes, und zwar eine notwendige, weil die Zuordnung („das Gehören") auch dann verwirklicht werden muß, wenn Eigentum nicht besteht oder nicht nachweisbar ist. Gerade das Recht des Besitzes als das Recht des Schutzes tatsächlicher Beziehungen und des Schutzes gegen Gewaltanwendung muß einem Rechtsgelehrten, der die sozialen Umstände als für das Recht bestimmend ansieht, Gelegenheit geben, seinen Standpunkt zu präzisieren. Streng genommen müßte bei direkter Übertragung sozialer Umstände in das Recht Besitzschutz versagt werden. Ihering geht diesen Weg nicht. Bloße „Kraft" ist für ihn kein Rechtskriterium. Vielmehr geht es ihm um Entwicklung von Rechtsinstituten, die der Wirklichkeit entgegengesetzt werden können, wobei die Rechtsordnung die Aufgabe hat, den menschlichen Willen im Zaum zu halten. In gewisser Weise ist Iherings erste Schrift über den Besitz eine Kritik der soziologischen Jurisprudenz und zugleich eine Kritik des juristischen Positivismus. Die Faktizitätstheorie Savignys und Iherings, nach der der Besitz kein Recht, sondern ein rechtlich geschütztes tatsächliches Verhältnis ist, hat sich durchgesetzt. Savigny mußte allerdings, da er in subjektiven Rechten dachte, seine Zuflucht zum „Schutz vor Gewalt" nehmen. Ihering begründete die Idee der rechtlich schützbaren objektiven Werte. Wenn heute der Besitz nach § 823 Abs. 1 BGB geschützt wird, obwohl er kein „sonstiges Recht" ist, so hat sich Iherings Gedanke in der Rechtspraxis verwirklicht. Nach Savignys Lehre stünde nur § 826 zur Verfügung. In der Frage des Besitzwillens ist das BGB in § 872 gleichfalls Iherings Vorschlägen gefolgt.

10. Person im Rechtssinn und subjektives Recht So klar Iherings Aussagen zum Schutz der Persönlichkeit waren, so sehr mühte er sich zeitlebens um die Begriffe Rechtsperson und subjektives Recht. Iherings Denken hierzu wurde von zwei gegenläufigen Tendenzen bestimmt. A u f der einen Seite brachte ihn sein Zweckdenken dazu, unabhängig von Personen subjektlose Rechte anzuerkennen. A u f der anderen Seite ist Iherings Tendenz zu beobachten, die weitgehenden Abstraktionen subjektloser Rechte zu bekämpfen und Rechte nach Möglichkeit Personen zuzuordnen. Es ist bezeichnend und läßt sich aus der Unsicherheit Iherings auf die-

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sem Gebiet erklären, daß seine Theorie über die juristische Person, die sogenannte Destinatärtheorie, in der deutschen Jurisprudenz keinen Fuß fassen konnte. Sinn dieser Theorie war es, die juristische Person aus den Interessen derer zu erklären, denen sie zugute kommen soll. Nach dieser auch als „Genießertheorie" bezeichneten Auffassung gehört das der juristischen Person zugeschriebene Vermögen den zu seinem Genuß berufenen einzelnen, beim Verein also den Mitgliedern, bei der Stiftung den Destinatären. Es steht also einer Vielheit zu, die nur aus praktischen Gründen durch einen Denkbehelf zu einer Einheit zusammengefaßt wird. Ihering hat sich durch eine Verkennung seiner eigenen Interessentheorie zu einer lebensfremden Auffassung verleiten lassen. Die heute herrschende Theorie zur Erklärung der juristischen Person, die Theorie der Zweckpersonifizierung, die von Enneccerus aufgestellt und von Nipperdey fortgeführt wurde, ist dagegen eine Anwendung des Iheringschen Zweckdenkens auf den Lebenssachverhalt des Personenzusammenschlusses.

II. Das methodische Werk Iherings und sein Einfluß auf das Privatrecht 1. Wesentlicher Inhalt und Ziele der Methodenlehre Iherings Wollte man Iherings methodische Absichten und Leistungen in einem einzigen Satz zusammenfassen, so müßte man sagen: Es ging Ihering um eine allgemeine Theorie des Rechts, bei der systematische Aussagen über das Recht mit einer fortlaufenden historischen Entwicklung des Rechts in Übereinstimmung gebracht werden sollen. Nicht zu verkennen ist freilich, daß Ihering diese allgemeine Theorie des Rechts am Privatrecht entwickelt. Es geht ihm nicht nur darum, zu sagen, warum das heutige Recht aus dem römischen Recht entstanden sei, sondern wie sich das Recht aus dem historisch gewachsenen System über das System hinfort in die Zukunft entwickelt. Erforschung der Entwicklungsgesetze des Rechts ist Iherings selbstgestellte Aufgabe, nicht antiquarische Erklärung des heutigen Rechts aus früherem. A n dieser Stelle zeigt sich der Gegensatz zu Savignys eklektischer Sicht des Rechts in voller Schärfe. Worauf es Ihering ankommt, das sind materielle allgemeine Rechtsgrundsätze, die römischer Eigenart entkleidet und deshalb auf heutige nationale Rechte, auch auf das deutsche, anwendbar sind. Ihering, der Rechtsvergleicher, kommt hier ins Blickfeld: Er gilt zu Recht als einer der Begründer der rechtsvergleichenden Methode. So heißt es an einer vielzitierten Stelle (Geist I, 8 f.), die man mit Fug als den Beginn moderner Rechtsvergleichung bezeichnen kann, die Frage der Rezeption fremder Rechtseinrichtungen sei keine Frage der Nationalität, sondern eine einfache Frage der Zweckmäßigkeit und des Bedürfnisses: „Niemand wird von der Ferne holen, was er daheim ebensogut oder besser hat, aber nur ein Narr

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wird die Chinarinde aus dem Grunde zurückweisen, weil sie nicht auf seinem Krautacker gewachsen ist." U m zum Ausdruck zu bringen, daß er die Arbeit an der „Natur" des Rechts in einer sich historisch entwickelnden Dimension sehen will, wählt Ihering als Untertitel des „Geistes" die Worte „auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung" und entsprechend für seine Methode den Ausdruck „naturhistorische Methode". Ihering hat niemals die Geschichtlichkeit des Rechts kritisiert, sondern sie vielmehr in eine neue, entwicklungsgeschichtliche Dimension erhoben. Seine Kernidee ist es, das System aus der Zeit in kritischer Würdigung des Rechts zu entwickeln und den Fortschritt des Rechts in der Zeit ebenso kritisch aus dem System zu gewinnen. Für Ihering verläuft die Entwicklung des Rechts in der Zeit gerade über das System und damit über die Verallgemeinerung positiver Rechtssätze hin. Daß er sich später den das Recht tragenden Kräften, insbesondere dem Zweckgedanken, zuwendet, ist, was meist verkannt wird, kein Widerruf der Aussage, das Recht bestehe aus Systemen in der Zeit, sondern eine ihm notwendig erscheinende Ergänzung. Denn Ihering sah später, daß die Beschäftigung mit dem System bloß den „Verstand" befriedigt, daß man aber diese „logische Seite des Rechts" nicht überschätzen dürfe. Hinter System und Zeit im Recht stehe die Idee der Gerechtigkeit und Sittlichkeit. Diese Idee wollte er durch Beschäftigung mit dem Zweckgedanken im Recht verfolgen. I n der Vorrede zur ersten Auflage des „Zwecks" versucht Ihering sein methodisches Postulat, das Recht sei als System in historischer Entwicklung zu begreifen, mit seinem ihn neu interessierenden philosophischen Postulat, der Frage nach Gerechtigkeit und damit nach dem Zweck im Recht, zu verbinden. Einerseits will Ihering hervortreten lassen, daß sich das Recht methodisch dadurch fortentwickelt, daß es über das System zu allgemeineren und allgemeinsten Aussagen gelangt, welche das Recht in neue, zukünftige Bereiche vorträgt. Neben dieser methodischen Fortentwicklung, oder vielmehr hinter ihr, steht nach Ihering aber ein substantielles Prinzip, das den Gerechtigkeitsgedanken innerhalb dieser Fortentwicklung verbürgt, nämlich der Zweckgedanke. In seiner konstruktionsmethodischen Phase hat Ihering das Schwergewicht auf die Naturordnung des Rechts gelegt, in seiner zweckmethodischen Phase auf die Lehre vom Zweck und von der Geschichte.

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2. Die konstruktionsmethodische

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Phase

Ihering kommt es zunächst auf die Theorie eines sich in der Zeit entwickelnden Rechtes an, wobei er glaubt, daß die Bewegung des Fortschreitens in der Zeit in einem Recht nicht bloß durch die sich ändernden Umstände, sondern - in teilweise umgekehrtem Sinne - auch durch „kritische" wissenschaftliche Arbeit am Recht erzielt wird. Diese wissenschaftliche Arbeit am Recht, den Kern seiner Methodenlehre, der die Technik des Rechts im allgemeinen betrifft, gliedert Ihering nach dem methodologischen Gedankengang des Juristen in drei Abschnitte, in drei FundamentalOperationen der juristischen Technik. Der erste Schritt, die Analyse, soll den behandelten Rechtsstoff zergliedern, bis nicht mehr rückführbare einzelne Bestandteile entstehen, ähnlich wie man in der Sprachwissenschaft sprachliche Ausdrücke zunächst auf die Buchstaben des Alphabets zurückführen kann („das Rechtsalphabet"). Die intellektuelle Operation, welche die Auffindung und Aufstellung von abstrakten Regeln zum Zweck hat, heißt nach Ihering Abstraktion und enthält eine Anwendung der analytischen Methode, denn sie besteht in nichts anderem als in der Ausscheidung des Allgemeinen aus dem Einzelnen, der Versetzung des Stoffes in seine allgemeinen und partikulären oder lokalen Bestandteile. Der Zweck der Abstraktion im Recht sei, so Ihering, jedoch nicht die möglichst weitgehende Beseitigung des Individuellen und Ersetzung desselben durch allgemeine Gesichtspunkte, sondern im Gegenteil Klarstellung dessen, was in Wirklichkeit individuell und in Wirklichkeit allgemein sei. Die Jurisprudenz könne dabei das Allgemeine nur abstrahieren, d. h. herausholen, nicht aber es schaffen. Die Rechtswissenschaft sei daher auf das angewiesen, was das Recht von vornherein in sich selbst trage. Von einem bestimmten Punkte an, den Ihering historischen Durchbruchspunkt nennt, verallgemeinert sich dann die an einem einzelnen Rechtsinstitut ausgebildete Regel zu einem allgemeinen Gedanken. Dies sei der Werdegang des Rechts, der keinesfalls zufällig sei, sondern der nur dem allbekannten Gesetz des Werdens unterliege. Der zweite Schritt der Methode, die logische Konzentration, ist, so Ihering, keine spezifisch juristische Operation, sondern die allgemein logische der Abstraktion eines Prinzips aus gegebenen Einzelheiten. Aus der noch ungefügten, „konzentrierten" Masse des gesammelten Rechtsstoffs bildet sich dann als wichtigste und letzte Stufe die juristische Konstruktion, die zur Aufgabe hat, den Rechtskörper aufzubauen. Hier entwickelt Ihering im einzelnen die „naturhistorische" Anschauungsweise des Rechts. Es gibt, so Ihering, juristische Körper, die man auch juristische Wesen nennen könnte.

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Die letzte Konsequenz der naturhistorischen Methode und die Spitze der ganzen methodischen Aufgabe ist die systematische Klassifikation der Rechtskörper, genannt System. Die Konstruktion unterliegt drei Gesetzen, einem positiven, das der Erfassung des gesamten positiven Stoffes dient, einem logischen, das für die logische Konsistenz zu sorgen hat, und einem ästhetischen, das Ihering bezeichnenderweise als das Gesetz der juristischen Schönheit bezeichnet. Das Ergebnis der ganzen Bemühung, das System, ist schließlich die praktisch vorteilhafteste Form des positiv gegebenen Stoffes, eine unversiegbare Quelle neuen Stoffes und damit der Schlüssel zur Fortentwicklung des Rechts. Ist das Recht als Ergebnis der Konstruktion in allgemeinen Rechtssätzen systematisch aufgebaut, kann es wissenschaftlich gehandhabt werden. Nun aber erst folgt ein Schritt, der für das Iheringsche Denken entscheidend ist: Dadurch, daß das System allgemeine und allgemeinste Sätze über den Inhalt des Rechts bereitstellt, entwickelt sich das Recht fort. Aus der durchkonstruierten Summe der konzentrierten, durch Analyse gewonnenen Einzelbestandteile „ergibt sich durch bewußte oder unbewußte Abstraktion das Allgemeine: die Rechtsideen, die Rechtsanschauung, das Rechtsgefühl". Die dahinterstehenden treibenden Kräfte sind die praktischen Zwecke. Die Entwicklung des Rechts bedient sich also nach Ihering der Verallgemeinerung vorgefundener Bestandteile des positiven Rechts zum System. Dies ist die Kernidee Iherings, durch die er System und Zeit verbindet. Das Überraschende an seiner Hauptthese ist, daß Verallgemeinerung im System Fortschritt bringen soll oder Fortschritt ist. Die Kritik hieran lautet, daß nicht die Verallgemeinerung den Fortschritt des Rechts zustande bringen kann, sondern allenfalls ein geschichtsphilosophisch-demokratiepolitisches Freiheitsverständnis. System, Zeit, Rechtsfortbildung und Demokratie bedingen einander: Daß das Neue „gut" ist, läßt sich nicht methodisch begründen, nur wertend ermitteln. Ob es „gut", ist entscheidet die Politik. Rechtsfortschritt fordert eine bestimmte politische Form, nämlich Demokratie. Das verkannte Ihering, und darum machte er zunächst eine reine Methodik zu seiner Philosophie und wich in seiner zweiten Phase in einen allgemeinen Zweckbegriff aus. Okko Behrends These, Ihering sei ein Rechtsdenker der offenen Gesellschaft gewesen, geht, was die Begründung des Fortschritts betrifft, in diesem Punkt zu weit. Für den heutigen Leser kommt aber nicht nur die Ausmündung des Systems in die Fortentwicklung des Rechts überraschend, sondern noch vielmehr die Identifizierung dieses Gedankengangs mit dem Begriff der Natur der Sache. Für Ihering jedoch ist der Zusammenhang von Generalisierung und Fortschritt das entscheidende methodische Argument, und die mit dem hierfür als anwendbar erklärten Begriff der Natur der Sache benutzte

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Vorstellung aus der Rechtsquellenlehre trifft genau, was Ihering meint. Man könnte Iherings Anliegen die Theorie eines übergreifenden Rechtssystems hinter den jeweiligen positiven Rechten nennen. Für Ihering löst sich aufgrund eines modernen, über Savigny hinausgehenden Geschichtsverständnisses das Recht von der Geschichte. Dies ist, was Ihering „das Recht selbst" nennt. Es besteht, laut Ihering, aus dem positiven Recht als Material und der Konstruktion dieses Rechts zum System auf einer höheren Stufe. Wenn also gesagt wird, Ihering habe die Dogmatik begründet, so wie sie heute als Dogmatik verstanden wird, so trifft das zu. Die Theorie der Rechtsgrundsätze ist nicht älter als Iherings „Geist". Man kann sogar sagen, Ihering habe die allgemeinen Rechtsgrundsätze als theoretisches Substrat einer sowohl historischen wie auch dogmatischen und sich entwickelnden Rechtswissenschaft, also die „principles" entdeckt. Das maßgebliche methodische Vehikel bei dem Fortschreiten des Rechts ist die Konstruktion, sprich Verallgemeinerung, positiv vorgefundener Rechtssätze zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Durch die Funktionalisierung der allgemeinen Rechtsprinzipien als Promotoren der Rechtsentwicklung legt Ihering geradezu den Grund zu einer Kritik an eben jener von ihm erfundenen Dogmatik. Man darf Ihering daher nicht bloß als Begründer der modernen Dogmatik ansprechen, sondern zugleich als Erfinder der modernen Dogmatik-Kritik. Es sei dabei noch einmal darauf hingewiesen, daß Ihering das Fortschreiten des Rechts in jener Phase zwar überwiegend rein methodisch aus dem Gedanken der Konstruktion des Rechtsstoffs zum System herleitet, daß aber je länger je mehr der schon anfänglich (1842) anklingende Gesichtspunkt des dahinterstehenden Zwecks des Rechts in den Vordergrund tritt. Auch das gesellschaftskritische Moment innerhalb der modernen Dogmatik-Kritik, die Kontrolle des Rechts von den sozialen Zwecken her, geht demnach auf Ihering zurück. Man könnte allgemein diese Haltung Iherings gegenüber dem Recht als „empirisch" bezeichnen. Seine Rechtsempirie drückt den Wunsch aus, nicht bei antiquarisch-historischer Forschung stehenzubleiben, sondern das Recht „aus sich selbst heraus" zu studieren. Die Geschichte soll nicht abgestreift, aber ihres alleinigen Herrschaftsanspruchs über die juristische Arbeitsweise enthoben werden. So führt bei Ihering die Empirie nicht bloß zur Anhäufung beobachteter Einzelheiten, angeschauter Phänomene, sondern zu einem begründeten (und nicht bloß behaupteten) System. In der gewerteten Empirie historisch gewordenen Rechtsstoffs besteht vom Beginn der Iheringschen Veröffentlichungen an die grundlegende Unterscheidung von Recht und geschichtlicher Rechtswissenschaft. Sie ist das Hauptmerkmal Iheringscher Methodik. Hier liegt der von Ihering so oft betonte Gegensatz zu Savigny, der Recht als Produkt der Geschichte verstand. Die durch kritischen Menschengeist gesammelte gesellschaftliche Erfahrung als rechtliche Kontrolle der natürlichen Triebe des

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einzelnen, auf diese kurze Formel könnte Iherings Anschauung von der Quelle der Werte im Recht gebracht werden. Das oberste Wertprinzip, Gott, offenbart sich nach Ihering in der Geschichte. 3. Die zweckmethodische Phase In seiner „Zweiten Phase" stellte Ihering eine Zwecklehre des Rechts in den Mittelpunkt seiner Bemühungen. Ihering wollte neben das logische Element ein zweites Element stellen, den „Zweck" als tragendes Moment, als „Schöpfer" des „ganzen Rechts". Die Versuche, die das Recht entwickelnden Kräfte, die forces créatrices du droit (Ripert), auf ein Minimum von Momenten zurückzuführen, nehmen ihren Anfang bei Ihering. Zuerst war es die Schrift über den „Kampf ums Recht", die das neue Denken Iherings in eigentümlicher Radikalität darstellte. In ihr stecken zwei Thesen: Recht bedarf der Verwirklichung um Recht zu bleiben, und der einzelne soll Rechte, die er hat, wahrnehmen, um ein Funktionieren des Ganzen zu ermöglichen. Was Ihering in seinem „Kampf ums Recht" zeigen wollte, war dies: Daß die Gesellschaft dann am besten fährt, wenn jeder auf seine Rechte achtet; daß das Recht an den Rechten hängt. Ihering vertritt hier für den Bereich des Rechts, selbständig offenbar, das juristische Seitenstück zu Adam Smith's knapp hundert Jahre früher in „Wealth of Nations" entwickelter ökonomischer These vom Gesamtwohl, das am ehesten durch Verfolgung individuellen Wohls erreicht wird. Auf der Grundlage beider Thesen hat sich die westliche Gesellschaft zur freiesten und erfolgreichsten aller Gesellschaften in der Geschichte der Menschheit entwickelt, wobei beide Begründer der Thesen nicht die volle Tragweite ihrer wirtschafts- und rechtswissenschaftlichen Generalisierungen überblickten. Eine Kritik an Freiheit und Erfolgsträchtigkeit dieser Gesellschaft wird deshalb an den Prämissen der Thesen Adam Smith's und Iherings ansetzen müssen. Nicht einem Machtrecht will Ihering das Wort reden, einem Recht also, das sich nur deshalb Recht nennt, weil die Macht siegreich blieb. Sondern es geht ihm um die Bewährung der menschlichen Gesellschaft darin, daß sie den, der - aus anderen Gründen - im Recht ist (dem Rechtsinhaber aus „philosophischen" Gründen also), ermutigt, für sein Recht einzutreten. Ihering setzte niemals Gewalt, auch nicht die Gewalt des Staates, und Recht gleich. Ihn als juristischen Darwinisten zu qualifizieren, verkennt sein Anliegen grundlegend. Die Kernfrage des „Zwecks" ist jene philosophische, die nach der Herkunft des richtigen Rechts. Für die Methodenlehre ist wichtig, daß Ihering sein Zweckdenken auch, vielleicht sogar vorwiegend, methodisch verstand. Es geht Ihering bei seinem Zweckdenken, um ein allgemeines Lebensprin-

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zip, um ein geordnetes Zusammenleben von Volk, Staat und Staatengemeinschaft unter den Anforderungen des Rechts. Ihm kommt es ebenso wie Windscheid bei der Bestimmung der Rechtsstellung der Individuen vorwiegend auf das Ethische im Recht an. Das Befreiende und Neue an der an Zwecken ausgerichteten Rechtsmethodik Iherings war die Erkenntnis, das Recht nur solange Recht ist, als es gesellschaftliche Zwecke erfüllt. Damit war ein neuer und fruchtbarer Kontrollgedanke für die Richtigkeitsbeurteilung des Rechts eingeführt, und es war die Brücke geschlagen zu einer Entwicklungstheorie des Rechts, das im Verhältnis zur Gesellschaft eine dienende Funktion zugemessen bekam. Aber das Recht war nicht Sklavin sozialer Verhältnisse, sondern der kritische menschliche Geist hatte die Aufgabe um der menschlichen Kultur willen, das Recht aus einer Überprüfung menschlicher Erfahrungen zu ermitteln, zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen vorzudringen und so das Recht parallel zur Gesellschaft fortzuentwickeln. 4. Das Recht als System in der Zeit, Iherings Thema U m Ihering verstehen zu können, muß man seinen neuen Geschichtsbegriff erfassen. Es macht einen Gutteil der gegenwärtigen Beschränktheit der deutschen Rechtstheorie aus, neben dem Kodex des BGB nur mit einem Savignyschen Geschichtsverständnis ausgerüstet zu sein. Eine Zeit wie die heutige, die sich den Sinn eines Kodex wieder überlegt, kann gar nicht anders, als sich einer Prüfung des Iheringschen Geschichtsbegriffs wieder zuzuwenden. Damit wird auch zugleich ein neues Systemverständnis möglich, das die Lösung vom Kodex befördern könnte, um ihm methodisch den richtigen Platz zuzuweisen. Mit der Schichtung des Entwicklungsgedankens im Recht in den methodischen über das System und den philosophischen über den Zweckgedanken läßt Ihering endgültig den Savignyschen Geschichtsbegriff im Recht hinter sich. Im mitteleuropäischen Rechtskreis ist vor Ihering kein Rechtstheoretiker bekannt, der sich wie er die Theorie eines sich ständig entwickelnden Rechts zur Aufgabe gemacht hätte. Ihering ist wohl auch der erste gewesen, der, wenn auch nicht terminologisch, so doch der Sache nach klar genug, in seiner Entwicklungstheorie des Rechts die methodische und philosophische Seite geschieden hat. Ihering ist damit zugleich der erste, der den Begriff der Geschichtlichkeit des Rechts, wie er im 16. Jahrhundert und von Savigny entwickelt worden war, zu einer klaren Unterscheidung von Recht und Rechtsgeschichte fortentwickelt hat. So sehr Savignys Begriff von der Geschichtlichkeit des Rechts ein Fortschritt gegenüber der Scholastik war, stellte er doch nur eine Vorstufe zu Ihering dar, weil Savigny versuchte, das Recht historisch zu bestimmen, wäh-

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Wolfgang Fikentscher und Ulrich Himmelmann

rend Ihering das Recht als einen Kulturträger auch für die Zukunft verstand. Savigny sah das Recht als „Recht aus der Zeit", Ihering als „Recht in der Zeit". Ihering versucht, neben die „äußere Seite" der rechtshistorischen Betrachtung bei Savigny eine „innere Geschichte" des Rechts zu setzen. Dies meint Ihering mit der „Positivierung der Geschichte", und so ist seine klar gesehene, aber erst spät formulierte Trennung von Recht und Rechtsgeschichte zu verstehen. Für Ihering ist die Geschichte juristisch nur interessant, als sie die Gegenwart in ihrem Wahrheits-, Gerechtigkeits- und Geltungsbestand mitbestimmt. Für ihn gab die Geschichte den perspektivischen Hintergrund des gesamten Bildes des Heute, nicht nur des Vordergrunds, wenn man mit diesem Gleichnis die Position Savignys bezeichnen darf. Durch diese Hintergrundbetrachtung löste sich für Ihering die das Recht in seiner Geltung mitbestimmende Geschichte von der Geschichte als Objekt historisierender Bemühung in der „reinen Rechtsgeschichte". A u f diese Weise gelang es Ihering, das Recht in einer seine Gültigkeit mitbestimmenden Entwicklung von der die Gültigkeit des Rechts nicht berührenden Rechtsgeschichte zu trennen. Ihering ist dabei ein Anhänger eines konditionalen Geschichtsverständnisses, das Wahrheit zum Teil aus Geschichte definiert. Geschichte ist für ihn eine Bedingung des Seienden und des Kommenden, als bewußter Teil der Gegenwart und der Zukunft zu verstehen, als Teil der Zeit schlechthin. So gelingt Ihering der sinnhafte Einbau der Zeit in Kriterien wie Wahrheit und Gerechtigkeit. Ihering führt den Zeitbegriff wieder an das Recht heran und macht ihn dadurch zum Bestandteil des Rechts und des Systemgedankens. Das ist weit mehr als die Erklärung des Heutigen durch Vergangenes, wie die historische Schule es lehrte. Nicht zuletzt geht es Ihering dabei um die Zukunft. Hierbei ist indes vor einem Mißverständnis zu warnen. Ihering steht in der Tradition des tragisch-eleutherischen Geschichtsverständnisses, betrachtet also den Ablauf der Geschichte als ein Fließendes, von einem außenliegenden, perspektivischen Standpunkt. Dagegen ist sein Denken nicht gnostisch in dem Sinne, daß das Vergangene und die Gegenwart abgewertet, das Kommende aufgewertet wird. In Iherings Geschichtsverständnis steckt keine Höherentwicklung, keine Reinigung, auch kein „Vorwärtsgehen". Vielmehr ist es ein Geschichtsverständnis, das bei Herodot und dem Deutero-Jesaja zum erstenmal zu beobachten und das in der christlichen Tradition zunächst in England und nach der Reformation auch auf dem Kontinent zu finden ist, eine „Zeit aus Gottes Hand", aus einer außenliegenden Quelle, also eine Bestätigung des gleichen Wertes von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unter dem Gesichtswinkel der Extraposition. Dies meint Ihering, wenn er den „Gott in der Geschichte" als

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den Wert hinter dem Sittlichen anspricht. Damit ist Ihering der erste Vertreter des Historismus in der deutschen Jurisprudenz. Durch die Trennung von Recht und Rechtsgeschichte öffnete Ihering zum erstenmal wieder seit Ramus, Bodin und Hooker die reine historische Dimension neben dem, was „jetzt gilt". Dabei steht Ihering in der Linie einer von heutiger Verbindlichkeit emanzipierten Geschichtsbetrachtung (wie sie auf außerjuristischem Gebiet durch Jacob Burckhardt, Niebuhr, Droysen, Gibbon und andere für das 19. Jahrhundert kennzeichnend wurde). Hierin liegt wahrscheinlich Iherings größtes Verdienst. Die Emanzipation des Rechts von der Geschichte setzt dabei notwendig die von Kant verpönte Zweckfrage im Recht wieder frei, zugleich aber auch - und das sah Ihering nicht deutlich genug - die Demokratiefrage. Bei Ihering wird die Zweckfrage mit Intensität aufgegriffen, während die Demokratiefrage allgemein nur in seinen frühesten Äußerungen, nämlich in den anonymen Aufsätzen anklingt, später aber nur noch gelegentlich und dann immer auf ein Spezialthema bezogen, wie etwa im Gespräch mit seinem Sohn Hermann im November 1887. Aber dort ist Iherings Demokratieverständnis jeweils terminologisch („Monarchie") und inhaltlich doch nur zu sehr im Vorübergehen ausgebreitet, um für eine Theorie auswertbar zu sein. Was bei Ihering also zu kurz kommt und nur in den ganz frühen Abhandlungen angedeutet wird, ist die philosophische Frage nach einer Wertung der Zwecke, vor allem nach einer Kontrolle über die Entstehung von Rechtswerten. Ihering bietet hierfür den kritischen, wissenschaftlichen Geist oder das durch Erfahrung geläuterte Rechtsgefühl als Kontrollinstanz auf. Anders ausgedrückt, Ihering hört auf, bevor die politische Frage beginnt. Dies Versagen vor der politischen Dimension der Zweckfrage zwang Ihering, die Wertherkunft im wesentlichen auf die Grundlage einer rechtsautonomen Ethik zu bauen. Immerhin lieferte die Verbindung einer emanzipierten Geschichtsbetrachtung mit dem auf einer rechtsautonomen Ethik aufgebauten Zweckdenken ein philosophisch-methodisches Denkgebäude des Rechts von imponierender Geschlossenheit. Daß sich die ewigen Ideen im Recht wandeln, daß die das Rechtsgefühl bestimmenden Wertungen zeitbedingt sind, hat Ihering hellsichtig im Vortrag über die Entstehung des Rechtsgefühls 1884 ausgeführt. Da Iherings Zeit das Thema einer Grundrechtsdemokratie mit offener Entwicklung der Rechtsfrage zumindest in Deutschland fehlte, mußte seine Zweckjurisprudenz zu einer zweckorientierten Auslegungshilfe eines sich prinzipiell nicht weiterentwickelnden Kodex schrumpfen. Genau dies geschah dann auch in der Interessenjurisprudenz. Ebenso notwendig mußte auf die lnteressenjurisprudenz eine Wertungsjurisprudenz folgen, weil Interessen sich nicht selbst zu bewerten in der Lage sind. Auch dies war bei Ihering schon angelegt, aber zu allgemein „zweckhaft", um für die folgende

8 Jhering-Symposium

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Entwicklung eine Hilfe bieten zu können. Ihering gelang es zwar, das radikal individualisierende System der Kantschen Willenstheorie und das „angeschaute" System bei Herder und Savigny an die Geschichte zurückzuführen. Aber es gelang ihm dabei nicht, den Durchbruch zum politischen Verständnis, zur praktizierten Demokratie zu finden. Hier liegen Iherings rechtstheoretische Grenzen. I I I . Iherings Einfluß 1. Iherings Einfluß in rechtstheoretischer

Beziehung

Nach Inkraftsetzen des BGB mußte, wie ausgeführt, aus Iherings Zweckjurisprudenz, die gesetzesunabhängig angelegt war, eine teleologische Auslegungslehre werden, was sie, namentlich in Gestalt der Interessen- und Wertungsjurisprudenz, denn auch wurde. Da die wertungsjuristische Methode heute zur herrschenden geworden ist, wurde Ihering auf diese Weise zum direkten Vorläufer der heutigen methodischen Praxis. 2. Iherings Einfluß auf den juristischen

Unterricht und das Prüfungswesen

Ihering dürfte durch seinen in „Scherz und Ernst der Jurisprudenz" (1884) unterbreiteten Vorschlag zur Einführung juristischer Übungen, der die Unterrichtspraxis bis heute entscheidend beeinflußt hat, ihr Erfinder sein, ähnlich wie Wilhelm von Humboldt der Erfinder des Seminars in der modernen Universität ist. Auf Ihering geht auch die Idee zurück, in der Prüfung praktische Fälle lösen zu lassen, statt die Bearbeitungen theoretischer Themen zu verlangen. 3. Der „Geist" des Bürgerlichen Gesetzbuchs Wenn auch die Rechtswissenschaft lange zögerte, Iherings Ideen anzuerkennen, so war sein Einfluß auf die Praxis unmittelbar und nachhaltig. Vermittelt vor allem durch die Interessen- und die Wertungsjurisprudenz sind Iherings Gedanken in die Praxis eingedrungen, und es wird auch heute noch von den Juristen verlangt, in seinem Sinne, mit der Frage nach dem sozialen Zweck, am BGB zu arbeiten. Der Stoff des BGB ist durch die Hände Windscheids gegangen, der Geist aber, in dem das BGB heute angewandt wird, stammt von Ihering. Die deutschen Ziviljuristen arbeiten heute, auf eine ganz kurze Formel gebracht, mit Windscheids Stoff und Iherings Methode, zumindest sollten sie es. Das Bleibendere ist dabei sicherlich Iherings

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Methode. Ihering hat ein Rechtssystem errichtet, das dem Recht als solchem dient und damit für itile Zeiten und alle Rechtsordnungen nutzbar ist. Es liegt auf der Hand, daß je kritischer der Stoff behandelt wird, angesichts der inzwischen verstrichenen Zeit seit der Konzeption des BGB, die Methodik Iherings mehr und mehr in den Vordergrund tritt. 4. Zusammenfassende Würdigung Iherings methodischer Bedeutung heute In gesicherter Weise ist moderne Methodik Ihering für immer verpflichtet. Denn moderne Methodik des Rechts gab es vor Ihering in den drei großen Rechtskreisen des abendländischen Rechts nicht, weder im romanischen noch im anglo-amerikanischen noch im mitteleuropäischen. Wenn also heute von der Methodik in bezug auf ein Recht gesprochen wird, das von geschichtlicher Entwicklung begrifflich abstrahiert werden kann, so ist dies nur durch Ihering möglich. Insofern ist der Einfluß Iherings auch auf die heutige Zeit nicht nur vorhanden, sondern im Ansatz geradezu bestimmend. Abgesehen von diesem methodischen Einfluß bestehen zumindest zwei Einwirkungen auf moderne methodische Überlegungen. Zum einen handelt es sich dabei um die sogenannte teleologische Auslegung, die heute zur wichtigsten Auslegungsmethode überhaupt geworden ist. Noch weiter reichend dürfte aber, und das ist das zweite, Iherings Bedeutung für das Verständnis des Kodex überhaupt sein, für die Frage also, ob neben dem Kodex ein Fallrecht anzuerkennen ist oder ob gar über dem Gesetz, dem Gewohnheitsrecht, dem Richterrecht und anderen Emanationen des positiven Rechts ein Recht im Sinne Iherings als übergreifende Größe besteht.

*

Rudolf von Jherings Brücke zum öffentlichen Recht Von Felix Ermacora^, Wien

I. Das Thema, das für mein Referat gestellt ist, soll sich mit der Brücke befassen, die Jhering zum öffentlichen Recht schlägt bzw. geschlagen hat. Jherings „Zweck im Recht" 1 schlägt diese Brücke, die zu seinem System führt. Es ist eine Brücke, deren Tragpfeiler Methode, Rechtsinhalte und Rechtsbewußtsein sind. Wenn man heute in der deutschen Szene die Besorgnis liest, die wegen des Ausländerhasses und des mangelnden Rechtsbewußtseins herrscht und dabei feststellt, daß diese Fakten ihren Grund in der Vernachlässigung von Recht und Rechtsbewußtsein haben, so trifft man ein besonderes Anliegen Jherings. Lassen Sie mich so beginnen: „ D i e Rose blüht ohne warum" sagt ein bedeutender deutscher Mystiker. Der nach rationellen Schlüssen suchende Wissenschaftler wird aber das „ohne warum" verschmähen müssen, er wird im Blühen der Rose die Kausalität als Ausdruck eines Naturgesetzes erkennen. Recht und Staat gründen in der Grundnorm, sagt die Schule Hans Kelsens,2 und sie hebt als ihre Methode die der Zurechnung 3 hervor. Recht und Staat gründen im Zweck, Frieden zu stiften - das ist die These Jherings. Sie setzt an die Stelle von Kausalität und Zurechnung den Willen zum Handeln. 4

1 2 3

Rudolf von Jhering, Der Zweck im Recht, 2 Bde, 2. Aufl. 1904. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, S. 67 ff. Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 2. Aufl. 1923 (Nachdruck 1960),

S. 57 ff. 4

Ebd., 1. Bd., S. 1 ff.

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Felix Ermacora

Damit sind drei Positionen gekennzeichnet, die je nach der Lehre von den Wurzeln des zureichenden Grundes unterschieden werden können. Die Methode ist das Instrument der Wissenschaft, um durch sie den richtigen Weg zur Wahrheitsfindung gehen zu können. A n der hiesigen Fakultät beschäftigt man sich seit Kelsens Zeiten mehr denn je mit der Frage der Methode der Rechtswissenschaft. 5 Zuletzt ist das Werk F. Bydlinskis zu nennen, das der juristischen Methodenlehre zugedacht ist. 6 Es ist dabei auffällig, daß in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Problemen der Methode zwei methodische Ansätze vernachlässigt werden, die für die Erkenntnis von Staat, Recht und Gesellschaft weiterführend sind. Das eine ist die Dialektik in der Staatswissenschaft, die für die Abgrenzung zum Methodenmonismus der marxistisch/leninistischen Staatstheorie so bedeutungsvoll gewesen ist. Das andere ist die Suche nach und die Nutzung der Methode des hier gewürdigten, nämlich Jherings. Dieser Frage möchte ich mich von der Warte meines Wissenschaftszweiges zuwenden. II. Jhering hat den großen Sprung über das hervorgebrachte Rechtsdenken hinaus in seiner Wiener Abschiedsveranstaltung vor der damals neu gegründeten Wiener Juristischen Gesellschaft gesetzt, die dem Kampf um das Recht gewidmet war. 7 Aus diesem berühmt gewordenen Vortrag ist die im Manz Verlag erstmals veröffentlichte Schrift „Der Kampf ums Recht" hervorgegangen. 8 Sie ist für Jhering der Ansatzpunkt gewesen, sein Werk „Der Zweck im Recht" zu schreiben. 9 Wenn man die beiden Schriften liest, so fällt ihr deskriptiver Charakter mit intentionaler Zielsetzung auf. Es werden rechtlich und gesellschaftlich relevante Sachverhalte geschildert, aus denen bedeutende Schlußfolgerungen gezogen werden. Nämlich, daß es keinen Rechtssatz gibt, dem nicht ein bestimmter Zweck zugrunde läge, und daß es notwendig ist, das Recht gar bis zum rechtlichen Widerstand hin gegen die Rechtsverweigerung um seines Zweckes Willen zu verfolgen.

5

R Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung, 2. Aufl. 1974. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 288 ff. 7 g Siehe neuerdings die Ausgabe Felix Ermacora im Propyläen Verlag 1992. Siehe die Bibliographie in der Ausgabe Ermacora (Fn. 7), S. 159. 9 Ermacora (Fn. 7), S. 50 ff. 6

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Die allgemeine Lehre hat Jherings Wissenschaft als Interessenjurisprudenz gekennzeichnet.10 Das müßte die Klärung der Frage voraussetzen, ob Zweck und Interesse dasselbe sind. Forsthoff nahm für sich in Anspruch, Jhering in die Gruppe der Decisionisten einzuordnen. 11 Die Frage, die hier beschäftigt, ist, ob diese „Interessenjurisprudenz" als eine Rechtsmethode oder/und als eine Interpretationslehre zu verstehen und für Belange des öffentlichen Rechts weiterführend ist.

III. Sie als eine Methode zu verstehen, müßte bedeuten, daß durch die Suche nach dem „Zweck im Recht" ein der Natur der Sache entsprechender Zugang zum Recht eröffnet wird und damit das Gebot der Sachgerechtigkeit oberstes Gebot der Beschäftigung mit dem Recht und der Anwendung positiven Rechtes ist. Jhering öffnet in seiner Lehre diesen Weg, indem er die Hauptprobleme des Rechtes behandelt. Das ist zugleich eine finale Handlungslehre hinsichtlich des Rechtes im Bereiche der Gesetzgebung, der Gerichtsbarkeit und der Verwaltung. Sie umschließt die staatliche Autorität und den Rechtsunterworfenen eben durch die Rechtsidee. Damit setzt Jhering von allem Anfang an den Gegensatz zu jener Theorie der Normen, wie sie einige Zeit nach Jhering von H. Kelsen in scharfer Reduktion der Rechtswirklichkeit entwickelt worden ist. 12 Bedeutet bei ihm die Methode die Betrachtung des Rechtes nur unter Berücksichtigung der geschriebenen Norm und der durch es geschaffenen normativ zu beurteilenden Strukturen und Handlungen, die Lösung von Normenkonflikten nach Kritieren, wie dies der formale Aufbau des Rechtes gebietet, ist also diese Normentheorie ein geschlossenes Wissenschaftssystem, so geht der Jheringsche Ansatz über die Normenstruktur hinaus und sucht in der Frage, ob eine bestimmte Norm den Gestaltungszweck, zu dem sie geschaffen worden ist, erreichen kann. Das setzt im Gegensatz zur Reinen Rechtslehre die Kenntnis des Normenzweckes voraus, sie verlangt das Wissen und die Sachkenntnis, Systemkenntnis und die Kenntnis der Effektivität von Rechtssätzen anhand gegebener Erfahrungswerte, vor allem des Problemkreises des Prozes-

10 F. Wolf\ Jhering, in: Große Rechtslehrer der deutschen Geistesgeschichte, 4. erg. Aufl. 1963, S. 622 ff. 11 E. Forsthoff\ Zur Rechtsfindungslehre im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 96 (1936), S. 53 ff.

12 13

Hauptprobleme (Fn. 3). Ermacora (Fn. 7), S. 54.

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Wenn man Jherings Zugang zu den Problemen von Recht, Staat und Gesellschaft beachtet, so werden diese Fragen anhand kontinentaler Beispiele seiner Zeit erörtert, bei denen es um die individuelle und soziale Selbstbehauptung, um die Rechtsverhältnisse an Sachen, um das Verhältnis von Staatsgewalt und Recht geht, was einer rechtlichen Güterlehre gleichkommt. Er bezeichnet sie alle als eine Systematik der menschlichen Zwecke, denen das Recht dient. 14 Jhering kommt zu dem Schluß, daß es beim Recht und dem Staat nicht um die Gerechtigkeit, sondern um die Zweckgerechtigkeit geht, die in der Erfüllung des Zweckes seine Richtigkeit hat. 15 Also eine Relativitätstheorie. Sie kann ohne tätige Mitwirkung der Organe und der Rechtsunterworfenen nicht verwirklicht werden. Damit bezieht Jhering, anders als Kelsen und seine Schule, die Handlungen lediglich unter dem Gesichtswinkel logischer Zurechnungsfragen sehen, den Menschen in seiner anthropologischen Dimension in seine Betrachtungsweise mit ein. Das aber ist, gemessen am Zweck, den das Recht erreichen soll, eine Wertbeurteilungslehre, die mit in die Rechtslehre eingebracht wird. Während bei Kelsen die Staatsgewalt vom Recht absorbiert ist, und damit Gewalt und Recht identisch sind, wird bei Jhering die Gewalt zur Norm. 1 6 Die „rechte Gewalt" hat als Zweck das Bestehen der Gesellschaft zu garantieren. 17 Das Übergewicht der Gewalt ist auf die Seite des Rechtes zu bringen. 18 Die Sicherung, die Garantie erfolgt durch den Staat.19 Rechtszweck ist die Gestaltung und Sicherung des Rechtes.20 Das ist die vitale Lebensfunktion des Staates, das ist die Funktion des staatlichen Gewaltmonopols. Der Staat ist die Organisation des sozialen Zwanges - der Effektivität, die sich gegen das Anarchische wendet. Es geht ihm also um den Begriff der Staatsgewalt und des Gewaltmonopols. 21 Staat ist Organisation der Macht und der moralischen Macht - heißt es. Das setzt die Einsicht in die Notwendigkeit der staatlichen Ordnung, den Sinn für Recht und Gesetz, aber auch die Furcht vor dem Recht voraus. Das Ergebnis ist dann der Friede, in dem das Recht die Gewalt ablöst. 22

14 15 16 17 18 19 20 21 22

Jhering Jhering Jhering Jhering Jhering Jhering Jhering Jhering Jhering

(Fn. 1), S. 43. (Fn. 1), S. 340. (Fn. 1), S. 192. (Fn. 1), S. 194. (Fn. 1), S. 229. (Fn. 1), S. 239. (Fn. 1), S. 241. (Fn. 1), S. 245, S. 247. (Fn. 1), S. 189.

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Jherings Zwecklehre begründet die Ethik des Staats nicht, wie bei Hegel durch die im Herrscher ruhende sittliche Idee, 23 sondern durch die Bezugnahme auf den Zweck des Staates, den er durch Gewalt und Recht zu erreichen sucht. Natürlich ist dies eine Relativitätstheorie. Doch ist Recht bei Jhering nicht eine normative Haut, die sich grenzenlos dehnen läßt. Das Recht gründet in Zwecken, die mit dem friedlichen Leben des Menschen in der Gemeinschaft verbunden sind: Leben, Freiheit, Eigentum als gemeinschaftsorientierte Werte: die Gleichmäßigkeit, die Sicherheit, die Berechenbarkeit eines Gesetzes als seine Grundbedingungen, über welche Geschichte keine Macht hat, 24 das ewig Bleibende mit dem Kampf für Loyalität 25 gegen die Willkür. 2 6 Die Empfindlichkeit gegen Willkür ist der Gradmesser der Entwicklung der moralischen Kraft des Rechtsgefühls. 27 So schließt sich ein Bogen, der Jherings Lehre zur Rechtsinhaltslehre des Staates macht, die im Kampf mit jener Gewalt steht, die noch nicht auf die Seite des Rechtes gezogen ist. IV. Jherings Zwecktheorie ist aber zugleich auch eine Interpretationslehre. Ich behaupte natürlich nicht, daß die hergebrachten Normeninterpretationsregeln damit ausgeschlossen werden, aber ich behaupte, daß die Zwecktheorie für ein Rechtsgebiet eine vordringliche Interpretationslehre ist: nämlich für den Bereich der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Der Zweck im Recht liegt bei den Menschenrechten in der Gleichheit 23 = äußere, absolute, arithmetische Gleichheit und die innere, relative und geometrische Gleichheit, 29 die letztere dem Rechtsgefühl die Stärke gibt und die im Kampf gegen die Willkür einzusetzen ist. 30 Die Empfindlichkeit gegen die Willkür sei ein Gradmesser der moralischen Kraft des Rechtsgefühls. 31

23 24 25 26 27 28 29 30 31

G. W. F. Jhering Jhering Jhering Jhering Jhering Jhering Jhering Jhering

Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 257. (Fn. 1), S. 343. (Fn. 1), S. 350. (Fn. 1), S. 280. (Fn. 1), S. 281. (Fn. 1), S. 274. (Fn. 1), S. 289. (Fn. 1), S. 280. (Fn. 1), S. 281.

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U n d das Bewußtsein für die Menschenrechte begründet diese Empfindlichkeit. Wer nun gemeint hätte, daß Jhering in der Zeit des Entstehens der Theorie der subjektiven öffentlichen Rechte 32 und des Hochliberalismus der bedingungslosen Freiheit das Wort redet, sieht sich getäuscht. Die Zwecklehre Jherings bietet für die Grundrechte eine wichtige Interpretationshilfe. Die Grundrechte sind nicht bedingungslos entsprechend ihrem Ausdruck und ihrem Wortverständnis zu interpretieren, sondern unter Bedachtnahme darauf, daß sie im Licht des Zweckes des Rechtes in der Gemeinschaft zu sehen sind. Das wird vor allem in einer sehr modern anmutenden Beurteilung der Freiheit des Eigentums gezeigt. Aber mehr noch, er stellt den Rechten auch die Pflichten gegenüber der Gemeinschaft gegenüber. Der Zweck der Grundrechte ist es hier, Ausgleich zwischen Rechten und Pflichten zu schaffen. Damit eröffnet er ein fundamentales Interpretationsgesetz, das in der modernen Menschenrechtsauffassung gegeben ist. 33 Das aber Schloß Jhering nicht aus der Richtigkeit der Norm, die es zu seiner Zeit noch nicht gegeben hat, sondern aus der Richtigkeit des Rechtes. Er tritt der Unersättlichkeit und der Gefräßigkeit des Egoismus entgegen, wenn er von den Freiheiten in der Gemeinschaft spricht. In einer imponierenden Weise verknüpft Jhering mit seiner Zwecktheorie das Recht aus dem Recht mit den Pflichten aus dem Recht. Eigentum ist entgegen den Vorstellungen des liberalen Zeitgeistes verpflichtend, ebenso die Freiheit, ebenso das Leben - auch das Ungeborene! Er erkennt, daß Freiheit, Leben ohne Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft und Staat nicht existieren können. Damit wird der Interpretation der Menschenrechte der Weg gewiesen. Auch Jhering ist ein Kind seiner Zeit. Er hat noch nicht jenes Spielmaterial, das wir vor uns haben. Daher gelingt es ihm, sich dem Wesentlichen zuzuwenden. Beachtenswert ist es, wie er der Freiheitsvorstellung eines J. St. M i l l 3 4 Grenzen setzt. Was gibt mir das Recht, wie muß ich dem Recht aus Interesse an der Gesellschaft verpflichtet sein, ist seine damals unzeitgemäße Frage.

32

Siehe G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1920 (Nachdruck der Ausgabe v. 1914), S.

408 ff. 33 Art. 29 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948, UN GV Res. 217. 34 /. S. Mill , Über die Freiheit, Reclam Nr. 3491-93,1974.

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V. So darf ich zum Schluß kommen: Jhering hat mit seiner Zwecktheorie und der Frage, warum Recht und Institution ist, den Blick auf gründende Grundsätze staatstheoretischer Betrachtung gelenkt, die zeigen, daß die Zwecklehre in einem offenen Wissenschaftssystem in Methode und Inhalt Begründung verleiht. Aber nicht nur das, er zeigt weiter, daß aus der Zwecktheorie die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu einem Ausgleich von Rechten und Pflichten geführt werden können. Es lohnt sich also, sich auf Jhering zu besinnen und ihn nicht mit einem reduzierten Begriff der Interessenjurisprudenz ins Eck zu stellen.

Rudolf von Jhering. Ein Forschungsbericht 1 Von Michael Kunze, München

I. Als Rudolf von Jhering am 17. September 1892 vierundsiebzigjährig starb, hinterließ er außer Immobilien und Bankguthaben, Eisenbahnaktien und Rentenpapieren eine Menge beschriebenes Papier: tausende von Zetteln jeder Form und Größe, Manuskripte im Quart- und Oktavformat, Notizbücher, Briefe, kommentierte Druckfahnen, Zeitungsausschnitte, Eisenbahnfahrpläne, Vorlesungsskripte und nochmals Zettel, Zettel, Zettel. Der berühmte Rechtsgelehrte hatte nämlich die Angewohnheit gehabt, jeden flüchtigen Gedanken auf ein gerade greifbares Stück Papier - eine Serviette, ein Einladungsbillett, eine Visitenkarte - hinzukritzeln; den wachsenden Zettelstapel in seinem Schreibtisch verteilte er gelegentlich auf rosarote und dunkelblaue Papiermappen, die er mit kennzeichnenden Aufschriften versah. In seinen letzten Lebensjahren diente diese Arbeit nicht nur der Vorbereitung eigenen literarischen Schaffens, sondern auch dem Nachruhm. Nicht ohne Grund hatte sich der Verstorbene für bedeutend gehalten. Er ging davon aus, daß sich in nicht zu ferner Zukunft ein Biograph fände, der sich seines Wollens und Wirkens, seiner Werke und Manuskripte, seiner Briefe und Notizen annähme. Dem schrieb er den einen oder anderen Hinweis auf kleine Zettel. Die Hinterbliebenen wußten mit dem papiernen Teil des Nachlasses wenig anzufangen. Auch Schwiegersohn Victor Ehrenberg, selbst eine juristische Zelebrität, tat sich schwer, Wichtiges von Unwichtigem zu scheiden. 1 Der hier erstmals publizierte Überblick über die wichtigsten Quellen für meine im Entstehen begriffene Biographie Jherings basiert auf einem Vortrag, den ich auf Einladung von Hans Hattenhauer im Jahre 1987 in Kiel vor einem Kreis europäischer Rechtshistoriker hielt. Die Abfassung der Biographie hat sich inzwischen als Lebensaufgabe erwiesen, so daß mir die seit jenem ersten Referat und heute verstrichene Zeit unwesentlich erscheint. Auf weiterführende Literaturangaben verzichtet dieser Bericht, der ausschließlich die Quellenlage schildern will.

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Das lag, wie er im Vorwort zu Jherings posthum veröffentlichter „Vorgeschichte der Indoeuropäer" 2 andeutet, an der „teilweise kaum lesbare(n) Handschrift" des Verewigten, die nur dessen Witwe in mühsamer Wort-fürWort-Arbeit dechiffrieren konnte. Von Jhering ermächtigt, mit dem Nachlaß nach Gutdünken zu verfahren, 3 sortierte Ehrenberg aus, was ihm privater Natur zu sein schien - Briefe, Notizbücher, Verträge, Abrechnungen - und übergab den Rest dem Universitätsarchiv Göttingen. Dort verstaute man das angelieferte Material unbesehen in 18 großen Kästen. Vermutlich schob man wegen seiner Unleserlichkeit die Sichtung des Materials auf. Überraschenderweise zeigte auch die juristische Forschung jahrzehntelang kein Interesse daran, weshalb die Papiere in den Archivregalen verstaubten. Nach Jherings Tod erschienen zwar zahlreiche Monographien, Aufsätze und Werkanalysen, doch von einer Benutzung des handschriftlichen Nachlasses wurde abgesehen. Erst in den 60er Jahren unseres Jahrhunderts durchforschte Christian Helfer als einer der ersten Benutzer überhaupt die inzwischen in Pappkartons umgepackten Aufzeichnungen Jherings nach ungehobenen Schätzen; er barg Aphorismen, Ergänzungen zum „Zweck im Recht" und eine launige Abhandlung über die Bowle, nach deren Veröffentlichung der Forscherfleiß offenbar lohnendere Ziele fand. Die übrigen Benutzer - seit Jherings Tod kaum mehr als ein Dutzend - ließen das Material nach kurzer Durchsicht wieder zurückgehen. Für gezielte Einzelforschungen war es nämlich, ungeordnet wie es war, kaum zu gebrauchen. Von all dem erfuhr ich, als ich im Frühjahr 1981, eine kleine biographische Skizze über Jhering vorbereitend, in Göttingen um Einblick in den Nachlaß bat. Man wies mich zunächst ab; das Material sei nicht benutzbar, da es archivalisch noch nicht erfaßt sei. Dies, fast neunzig Jahre nach Jherings Tod zu hören, machte mich neugierig, und ich erbot mich, den Nachlaß durchzusehen und vorläufig zu beschreiben. Damit begann ein Forschungsabenteuer, dessen Ende ich erst jetzt, dreizehn Jahre später, abzusehen meine. Ich bin dankbar für diese Gelegenheit, meine Arbeit kursorisch zu sichten. Das Göttinger Material erwies sich - nachdem ich gelernt hatte, Jherings Handschrift zu lesen - reichhaltiger als erwartet. Ehrenberg hatte zum Glück manches nicht ausgeschieden, was als „privat" einzustufen und gerade deshalb von besonderem biographischen Interesse ist: frühe Tagebücher, Notizhefte und Exzerpte aus der Studentenzeit, auch belletristische Versuche und einzelne Briefe. Ein Teil des Zurückbehaltenen ist später in die derzeit in Westberlin archivierte „Sammlung Darmstädter" gelangt, vor allem Briefe

2 3

Rusold von Jhering, Vorgeschichte der Indoeuropäer, Leipzig 1894, S. VII. Ebd.

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von und an Jhering und ein kleines braunes Tagebuch aus der Studentenzeit. Anderes von dem im Familienbesitz Verbliebenen ist verlorengegangen oder unauffindbar - doch dafür entdeckt der Biograph an anderen Orten manches Dokument, von dessen Existenz die Familie von Jhering nie etwas gewußt hat. Das Vorhandene reicht jedenfalls aus, ein recht zuverlässiges Bild von Jherings Person und Leben nachzuzeichnen. II. Die Familie Jhering gehörte zum Patriziat Ostfrieslands. Zahlreiche hochangesehene und einflußreiche Persönlichkeiten sind aus ihr hervorgegangen, weshalb die „Geschichte der Jherings im Wandel der Zeiten" 4 mehrfach erforscht wurde. Bis heute ist der Urgroßvater Rudolph von Jherings, Sebastian Eberhard Jhering, in Aurich unvergessen, und das von ihm angelegte Jheringsfehn existiert nach wie vor als Ortschaft unter diesem Namen. Der in Familienbesitz befindliche Stammbaum reicht bis ins Jahr 1371 zurück. Jherings Herkommen ist wegen der prominenten Stellung seiner Familie sehr genau belegbar, die Verhältnisse in seinem Geburtsort Aurich zur Zeit seiner Kindheit und Jugend dank heimatkundlichen Forscherfleißes anschaulich rekonstruierbar. 5 Der Vater war Jurist 6 wie die meisten seiner Vorfahren, die Mutter die Tochter eines Beamten aus Leer. Kindheitserinnerungen, die Jherings Entwicklung zwischen Geburt (1818) und Abitur (1836) aufzeigen könnten, gibt es nicht. Der berühmte Jurist behauptete, für seine „eigene Vergangenheit fast gar kein Gedächtnis" 7 zu haben. Nur beiläufig hat er sich Hebbel und Bülow gegenüber gelegentlich über seine Erziehung und das Verhältnis zur Mutter geäußert. Sein Volksschullehrer war der Auricher Kantor Wiechmann, aus dessen Lehrplänen wir erfahren, welche Lesebücher der Sechsjährige in die Hand bekam. 8 Als er sieben war, starb der Vater. Allein tat sich die Mutter mit der Erziehung des selbstbewußten Knaben schwer. Im Auricher Ulrichs-Gymnasium, in das er im Alter von neun Jahren eintrat, 9 hatten die Lehrer ihre Not mit 4

H. Tebbenhoff\ Stets dem Vaterland treu gedient. Die Geschichte der Jherings im Wandel der Zeiten. Heimatkunde und Heimatgeschichte. Beilage zu: Ostfriesische Nachrichten Nr. 2.11, Jg. 1971. Dr. Anklam. Das Geschlecht der Jherings in Ostfriesland. Heimatkunde und Heimatgeschichte. Beilage zu Ostfriesische Nachrichten Nr. 229 vom 30.9.1926 (Aurich). 5 T. D. Wiarda, Auricher Alte und Neue Zeit (1822), Heimatkunde und Heimatgeschichte. Beilage zu: Ostfriesische Nachrichten Nr. 173 vom 27.7.1938 (Aurich). F. W. Schaer, Die Stadt Aurich und ihre Beamtenschaft im 19. Jahrhundert, Göttingen 1963. 6 J. Ch. H. Gittermann, Biographie des Herrn Georg Albrecht Jhering, Aurich 1865. 7 Brief Jherings an Emil Kuh vom 21.7.1873. 8 StA Aurich, Ulrichs-Schule, Rep. 21 b, Nr. 1922. 9

Album der Ulrichs-Schule Aurich, Schularchiv.

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ihm und seinen Brüdern. Das belegen Schulakten aus dieser Zeit, Lehrpläne, Konferenzprotokolle, auch ein Klassenbuch.10 Geist und Praxis des Gymnasialunterrichts, den Jhering genoß, lassen sich mit diesem Material sehr präzise darstellen. Der wichtigste Lehrer des späteren Rechtsgelehrten hieß Wilhelm Reuter; dessen Bedeutung für seine persönliche Entwicklung hob Jhering noch kurz vor seinem Tod in einem Brief an seine ehemalige Schule hervor. 11 Über Reuter, der als „Hegelianer verschrien" war, geben Briefe an Carl Ottfried Müller 1 2 und diverse Personalakten Aufschluß. Ein anderer Lehrer, der eine Rolle für den Schüler Jhering spielte, hieß Carl Siedhoff. Ihm wurde der vaterlose Halbwüchsige ein Jahr lang zur Erziehung anvertraut, als seine Mutter gar nicht mehr fertig wurde mit ihm. Von dieser Episode lesen wir bereits im ältesten Notizbuch, das zu dem in Göttingen aufbewahrten Nachlaß gehört. Es beginnt im Jahr 1835, also noch zur Schulzeit, und enthält Notizen und seine ersten schriftstellerische Versuche des 17-Jährigen. 13 Ostern 1836, noch vor seinem 18. Geburtstag, legte er die Reifeprüfung ab. Die gesamten Prüfungsunterlagen einschließlich aller Arbeiten und Protokolle der mündlichen Prüfung sind erhalten. 14 Gewiß gebührt Kindheit und Jugend in einer wissenschaftlichen Biographie nur ein bescheidener Raum. Nur allzu leicht erliegt man der Gefahr einer anachronistischen Rückwärtsinterpretation früher Einflüsse. Andererseits scheint es gerade bei Jhering verfehlt, erst dem „fertigen Menschen" Aufmerksamkeit zu widmen. „Wenn ich mich selbst beobachte," meint er gelegentlich, „so kann ich bei manchen Ereignissen meines Lebens nachweisen, daß sie einen ganz bestimmten Eindruck auf mich ausgeübt haben. Aus meinen Kinderjahren kann ich mich einiger Vorfälle erinnern ... Wenn das Kind 6 - 7 Jahre zählt, so ist der sittliche Mensch bereits in seinem Wesen gegeben". 15 Auch wenn man es sich versagt, voreilige Folgerungen zu ziehen, ist es höchst aufschlußreich, das geistige Klima kennen zu lernen, in dem Jhering aufwuchs. Dazu gehört die Kenntnis der örtlichen Hierarchien, des lokalen Klatsches, der sogenannten „litterarischen Resource" (so hieß der Leseclub im Auricher Gasthof „Schwarzer Bär", in dem holländische, französische

10

StA Aurich, Ulrichs-Schule, Rep. 140; Protokollbuch 1834 der Ulrichs-Schule Aurich, Schularchiv. 11 In den Akten des Jahres 1925 der Ulrichs-Schule Aurich aufgefunden durch Direktor Goldbach (Brief Jherings vom 26.8.1892). 12 UB Göttingen Cod.Ms. C. O. Müller, 2V, Nr. 1036/1037. 13 UB Göttingen, NJ, Kasten 9. 14 StA Aurich, Ulrichs-Schule, Rep. 140/I/Nr. 69 Vol.II. 15 R. v. Jhering, Über die Entstehung des Rechtsgefühls, Allg. Juristen-Zeitung, VII. Jg., S. 159.

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und deutsche Journale auslagen), auch das Wissen um das Amalgam aus Idealismus und Aufklärung, welches den Geist des Gymnasiums ausmachte aber auch die Landschaft selbst, die Frömmigkeit und der Handelsgeist der Heimatstadt, dazu das Wetterleuchten der großen Politik am Horizont.

III. Aus Jherings Studienzeit sind Autographen in erstaunlichem Umfang erhalten. Notizbücher, die streckenweise zum Tagebuch werden, 16 „Collectanea" und Anekdotensammlungen, auch erste schriftstellerische Versuche, 17 Exzerpte juristischer Art, rechtsphilosophische Notizen, Bücherverzeichnisse und Studienunterlagen. 18 Schon aus diesen Aufzeichnungen ist eine deutliche Zäsur im Herbst 1839 ablesbar. Bis zu diesem Zeitpunkgt scheint der künftige Gelehrte mit der Jurisprudenz nicht viel im Sinn gehabt zu haben; launige Beobachtungen, Aphorismen, Anekdoten, Witze, Selbstgespräche bilden den Inhalt der meisten Notizen. Ab 1839 jedoch häufen sich juristische und philosophische Niederschriften, meist Exzerpte und Kommentare zu detailliert aufgeführter Lektüre. Nicht, daß das Belletristische nun nicht mehr vorkäme; doch wird es zurückgedrängt von studienbezogenen Aufzeichnungen. A m 2. Mai 1836 immatrikulierte sich Jhering in Heidelberg. 19 Er hörte Thibauts Pandektenvorlesung und kurze Zeit juristische Encyklopädie bei August Guyet, war aber offenbar mehr an Schriftstellerei als an Rechtswissenschaft interessiert. Mehrere essayistische Arbeiten entstehen - unter anderem über „Dummheit und Verstand" und eine „Reise in die Unterwelt". In der Encyklopädievorlesung lernt er Friedrich Hebbel kennen, dessen „reichlich(er) Spott und scheidige Kritik" am Dozenten seinem eigenen Urteil entsprechen. 20 Ansonsten ist er Burschenschafter und geselliger Kneipant. Z u Beginn des dritten Semesters wechselte er auf die Universität München über. Durch Zufall traf er hier wieder mit Hebbel zusammen, erfuhr erst jetzt, daß es sich bei ihm um einen „Literaten" handelte, und hatte ein neues Lebensziel. „Ich gab den Besuch der Vorlesungen auf, was mir bei der

16

UB Göttingen, NJ, Kasten 8, 9 - Stiftung Preußischer Kulturbesitz Berlin, NJ, 2h 1870,

Nr. 7. 17 18 19

UB Göttingen, NJ, Kasten 9,14. UB Göttingen, NJ, Kasten 2, 5, 9,17. G. Toepke, Die Matrikel der Universität Heidelberg, 5. Teil, Heidelberg 1904,

S. 561. 20

E. Kuh, Biographie Friedrich Hebbel's, 1. Bd., Wien 1877, S. 355.

9 Jhering-Symposium

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Beschaffenheit derselben nicht allzu schwer fiel, entwarf allerlei Pläne für belletristische Arbeiten". Hebbel bestätigte seinem ostfriesischen Bewunderer „humoristisches Talent", als ihm dieser einen seiner Essays vorlas, und forderte ihn auf, „ i n dieser Richtung weiterzuarbeiten". Statt in die Pandekten vertiefte sich der derart Ermutigte nun in Flögeis „Litteratur des Komischen", in Huartes „Prüfung der Köpfe" und in Cervantes' „ D o n Quijote". Überzeugt, daß aus ihm ein großer humoristischer Schriftsteller werden würde, schickte er stolz eines seiner Erstlingsprodukte nachhause. Als Antwort erhielt er statt der erwarteten Zustimmung eine strenge Rüge. Er vernachlässige sein Studium, warf ihm die Mutter ahnungsvoll vor und beorderte ihn augenblicklich nach Aurich zurück, wo beschlossen wurde, den Möchte-gern-Dichter im nächsten Semester nach Göttingen zu schicken. Dort sollte er endlich ernsthaft mit dem Studium anfangen. „Damit war für mich der Gedanke einer Literatenexistenz für immer abgethan, denn in Göttingen war dafür gesorgt, daß derselbe keine weitere Nahrung fand ...". Als anderthalb Jahre später Hebbel nach Göttingen kam, schreckte sein zerlumptes, elendes Aussehen Jhering endgültig davon ab, Literat zu werden. Er machte sich klar, daß seine „Individualität für eine solche Unsicherheit der Existenz nicht geschaffen" sei. Denn inzwischen war sein Interesse an der Jurisprudenz geweckt. Der ihn bekehrt hatte war Heinrich Thöl, und zwar mit seinem Pandekten-Praktikum. Nun las der Student neben Flögel und Weber auch schon mal Puchtas „Cursus der Institutionen" und das „System des römischen Civilrechts" von Gans, doch war die Liste der nicht-juristischen Lektüre immer noch länger. Im Dezember 1837 erlebt er die Aufregung um die Vertreibung der „Göttinger Sieben" hautnah mit. Sein Lehrer und väterlicher Freund Thöl verteidigt die gemaßregelten Kollegen und wird dafür mit Gehaltsentzug bestraft. Ein anderer Mentor Jherings jedoch, Friedrich Mühlenbruch, bei dessen Hauskonzerten der Auricher Student gelegentlich als Pianist brilliert, verteidigt die Haltung der Regierung. Partei ergreift der Jung-Jurist nicht. Als Ostfriese ist er der hannoveranischen Regierung gegenüber von Haus aus feindselig eingestellt, doch zu den vormärzlichen „Wühlern" hält er Distanz. Die Verfassungsfrage scheint ihn relativ kalt zu lassen. Nach Zeugnis seiner Notizbücher beschäftigt ihn Privates weit mehr als Politisches. Der Bruch einer Freundschaft (wahrscheinlich mit dem jüngeren Bruder seines Gymnasiallehrers Hermann Reuter) erschüttert ihn tief. Sein Tagebuch gibt Zeugnis davon, doch enthält es neben Gefühlsausbrüchen dieser A r t weiterhin Witze und Episoden, wohl zur Verwendung in geselligen Kreisen. Auch über die „ A u f g a b e j e s Juristen" und über bearbeitungswürdige juristische Themen macht sich Jhering nun Notizen. Die Beamtenprüfung rückt näher. Wie die meisten Jura-Studenten bereitet er sich bei einem Repetitor darauf

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vor. Dem fällt der Student als besonders talentvoll auf, und er rät ihm ernsthaft zur Hochschullaufbahn. Doch Jhering will Advokat oder Verwaltungsbeamter werden. Sein Antrag auf Zulassung zum ersten juristischen Staatsexamen wird freilich zurückgewiesen, und zwar mit der Begründung, er könne in den hannoveranischen Staatsdienst nicht aufgenommen werden, weil sein älterer Bruder bereits Beamter sei. Hintergrund dieses Bescheides war die Absicht der hannoveranischen Regierung, Ostfrieslands Selbständigkeit zu brechen und den Einfluß seines Patriziats zurückzudrängen. Die Abfuhr kränkt das Selbstwertgefühl des Patriziersohns. Hinzu kommt eine schwere persönliche Krisis. In diesem Herbst 1839 sieht sich der 21-Jährige gezwungen, die „Hoffnung einen Freund zu finden völlig aufzugeben". Trotzig gelobt er sich selbst „daß Theorien von jetzt die einzige Poesie meines Daseins bilden" und weiht sich feierlich dem Ehrgeiz. Ihm will er hinfort alle anderen Regungen unterord21

nen. Sein ehemaliger Lehrer und Freund Wilhelm Reuter rät, wie schon der Göttinger Pauker, zur Hochschullaufbahn. Zufällig kennt er Friedrich Rudorff in Berlin, den Vertrauten Savignys. Zu ihm schickt er seinen Schüler mit einem Empfehlungsschreiben. Ostern 1840 reist Jhering nach Berlin, sucht sich eine Unterkunft, spricht bei Rudorff vor. Freundlich wird er aufgenommen. Der einflußreiche Professor lädt den ostfriesischen Studenten zum Mittagstisch, öffnet ihm Türen, gibt ihm Ratschläge. Ein herzliches Verhältnis entsteht nicht, doch Rudorff kann zufrieden sein mit seinem Protégé. Seine Exzerptenbücher und Notizen aus dieser Zeit dokumentieren enormen Eifer. Getreulich erfüllt er seinen Vorsatz, dem beruflichen Ehrgeiz alle anderen Interessen unterzuordnen. So kann Rudorff schon im Januar 1842 seine „hochverehrten Herren Collegen" bitten, über die Zulassung Jherings zum Doktorexamen zu votieren. 22 Der Kandidat promovierte mit einer lateinischen Abhandlung aus dem Erbrecht. 23 Rudorff, Stahl und Homeyer unterziehen ihn am 26. Juli der mündlichen Prüfung, die er glänzend besteht. I m darauffolgenden Frühjahr reicht der ehrgeizige junge Mann eine Habilitationsschrift ein mit dem Titel „Inwieweit muß der, welcher eine Sache zu leisten hat, den mit ihr gemachten Gewinn herausgeben?". 24 Gutach-

21 22

UB Göttingen, NJ, Kasten 9, Großes Notizbuch, Eintrag vom 8. Juli 1839. Universität Berlin, Akte 209 der Jur. Fakultät („Promotionen 1835 - 43") Bl. 134.

23

De hereditate possidente. Berlin 1842. Die Abhandlung ist neben zwei weiteren Arbeiten aus dem Besitz- und Erbrecht später unter dem Titel „Abhandlungen aus dem Römischen Recht" (Leipzig 1844, 1 - 86) im Druck erschienen, gewidmet „Meinem theuern Lehrer und Freunde, Herrn W. Reuter, Conrector am Lyceum zu Aurich in Ostfriesland, in tiefster Dankbarkeit". 24

9•

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ter ist abermals Rudorff - diesmal neben Puchta - und wieder ist das Zeugnis glänzend. 25 I m Schoß der historischen Schule wuchs Jhering zum Rechtslehrer heran, im Adlernest Savignys gewissermaßen, dessen letzte Vorlesung im Wintersemester 1841/42 er miterlebte. Schon damals mag er sich als Kukkucksei vorgekommen sein, doch hütete er sich, vor dem Flüggewerden durch offene Kritik bei seinen Förderern in Ungnade zu fallen. IV. A m 6. Mai 1843 hielt Jhering seine erste Vorlesung. Ihr Thema schlug bereits den Grundakkord seines Lebens an, die Beschäftigung mit dem „Geist des römischen Rechts". 26 Sie hieß „Principien des römischen Rechts" und erfreute sich des Zuspruchs von einem zahlenden und sechs gelegentlichen Zuhörern. 27 Solche Angaben macht der Göttinger Nachlaß möglich, denn Jhering führte bis zum Jahre 186728 Hörerlisten, bzw. Hörgeld-Verzeichnisse, die lückenlos erhalten sind. 29 Über die wissenschaftliche Position des Privatdozenten Jhering gibt ein fragmentarisches Manuskript aus dieser Zeit Auskunft, das der „Universalrechtsgeschichte" gewidmet ist. 30 Vermutlich handelt es sich dabei um den zweiten Teil einer im Winter 1844/45 vor drei Zuhörern gehaltenen „Enzyklopädie"-Vorlesung. Aus dem Dokument lassen sich Grundanschauungen des jungen Jhering in bezug auf die Begriffe Geschichte, Recht und Rechtswissenschaft recht deutlich ablesen. Einflüsse von Gans- und Hegellektüre

25

Universität Berlin, Akte 140 der Jur. Fakultät („Habilitationen und Nostrificationen der Privatdozenten") Bl. 73/74. - Vgl. auch den Habilitationsbericht der Fakultät an Kultusminister Eichhorn mit Angabe des Habilitations-Themas und der Habil.-Vorlesung: Zentrales StA 2Merseburg, Rep. 76 V a Sekt. 2 Tit. IV Nr. 8 Bd. 12, Bl. 36 r, 103,177, 204. 6 Vgl. Jherings Brief vom 27.4.1851 an den Verleger Härtel, wo es über die Entstehung des „Geist" heißt: „Seit 1841 trage ich die Idee dazu in mir herum, 1842 arbeitete ich die ersten Ideen für mich aus, 1843 las ich ein Publikum darüber" (Ehrenberg-Briefe, S. 8). 27

Puchta hatte abgeraten, „sich mit einem so allgemeinen Thema beim Publikum einzuführen" 28 (Geist, 1. Aufl., Vorrede, S. V). D. h. bis zu seiner Ubersiedlung nach Wien, wo die Zuhörerzahlen dreistellig waren. 29 UB Göttingen, NJ, Kasten 9/Nr. 2; Kasten 7/Nr. 3. 30 UB Göttingen, NJ, Kasten 10/Nr. 2; Materialien: Kasten 8/Nr. 1. Vgl. hierzu M Kunze, Jherings Universalrechtsgeschichte. Zu einer unveröffentlichten Handschrift des Privatdozenten Dr. Rudolf Jhering. In: H. Mohnhaupt (Hg.), Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten (1988 - 1990). Beispiele, Parallelen, Positionen, Frankfurt/M. 1991, S. 151 - 186.

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sind unübersehbar, spätere Thesen klingen bereits an. 31 Ein Absatz über die Rechtswissenschaft schließt mit der Bemerkung, daß die ,Ansicht von der s(o)g(enannten) histor(ischen) Schule: von dem nationalen Charakter des R(echts) einer bedeutenden Modifik(ation) bedarf. Allein in dem Unterfangen, über „Universalrechtsgeschichte" zu lesen, lag eine Provokation gegenüber den Savigny-Getreuen in Berlin. Ob Jhering sie wirklich wagte, wenn auch nur vor drei Zuhörern, verraten die bisher aufgefundenen Quellen nicht. Zivilcourage war im allgemeinen nicht seine Sache, jedenfalls nicht damals. Eine sechsteilige Artikelserie in der Berliner „Litterarische(n) Zeitung" über die Stellung der Jurisprudenz zur Gegenwart 32 und „die historische Schule der Juristen" 33 veröffentlichte er vorsichtshalber anonym. 34 Da dies nicht der Ort sein kann für eine Analyse dieser frühen programmatischen Äußerungen Jherings, kann ich hier nur versuchen, sie zusammenfassend zu charakterisieren. Etwa so: Wissenschaft ist dem jungen Jhering die Suche nach dem Allgemeinen - „aber nicht a priori sondern a posteriori", 35 also die Suche nach dem bleibenden Prinzip in den Veränderungen des Besonderen. Werden die „allgemeinen Gesichtspunkte" richtig aus dem positiven Recht gezogen, so dienen sie ihrerseits wieder „als Schlüssel zum Verständnis des Einzelnen". 36 Die Vergangenheit trägt in Gestalt der „Principien" bereits „den Keim der Zukunft" 3 7 in sich, und eine richtig verstandene Rechtswissenschaft dient mit der Erforschung des Vorhandenen und Vergangenen der Zukunft. Der „Beruf der Wissenschaft" besteht, so Jhering damals, darin, dem Leben zu dienen, „es zu verjüngen und fortzubilden, es vorzubereiten auf die Umwandlungen, die sie gefordert und prophezeit hat, und dadurch mittelbar letztere herbeizuführen". 38 Seine Kritik an der historischen Schule ist zurückhaltend aber deutlich. Er findet sie einsei-

So etwa das „durch das römische Recht über das römische Recht hinaus" in dem Satz: „Die Wissenschaft, die uns das römische Recht aufgedrungen, wird uns auch davon befreien" (L.c. 54 a). 32 LZ vom 24.1.1844 (No. 7), Sp. 101 -105. 33 LZ vom 14.2.1844 (No. 13), Sp. 197 - 201; 30.3.1844 (No. 26), Sp. 405 - 410; 3.4.1844 (No. 27), Sp. 421 - 425; 27.4.1844 (No. 34), Sp. 533 - 536; 4.5.1844 (No. 36), Sp. 565 - 569. 34

Die Autorschaft beweist erstmals der Göttinger Nachlaß. In einem Notizbuch sind die 6 Artikel mit Honorarvermerk namentlich aufgeführt. UB Göttingen, NJ, Kasten 9 (kleines, braunes Notizbuch). 35 Universalrechtsgeschichte: UB Göttingen, NJ, Kasten 10/Nr. 2, 53 b. 36 So formuliert Jhering seine Auffassung in der Vorrede zum 2. Bd. des „Geistes" (1. Aufl., S. VIII). Vgl. auch Zweck I, Vorrede (S. X): Er unternehme als „philosophische(r) Naturalist" den Versuch, „auf seinem Gebiete Philosophie zu treiben, d. h. die allgemeinen Ideen aufzusuchen". Und: „Ich habe jede Gelegenheit benutzt, welche sich mir darbot, das Einzelne in den Dienst der allgemeinen Idee heranzuziehen". 37 LZ v. 4.5.1844 (No. 36), Sp. 567. 38 LZ I.e., Sp. 569.

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tig, insofern sie das „Leben" vernachlässige, und mokiert sich darüber, „daß eine Richtung, die sich die Reform der Wissenschaft zur Aufgabe gestellt hatte, der Beihülfe der Philosophie entrathen zu können glaubte". 39 Neben den genannten Manuskripten enthält der Nachlaß noch zahlreiche kleinere Niederschriften aus den Berliner Jahren, welche die Ausformung der Grundansichten des jungen Jhering widerspiegeln. So etwa ein Heft mit rechtsphilosophischen Notizen, die sich mit der „Entfaltung des Rechts in der Geschichte" und Gedanken zum „Verhältnis der Theorie zur Praxis" beschäftigen. Da findet sich auf einem Zettel auch diese Bemerkung: „Wie Hegel sagt, alles was geschieht ist vernünftig, so kann man sagen: das factum bildet unser Urtheil über die Rechtmäßigkeit desselben. Was zu geschehen pflegt, wird für Recht gehalten, gerade weil es immer geschieht". 40 Ostern 1845 wird Jhering Professor in Basel 41 nachdem er sich mit Helene Hoffmann aus Oldenburg verlobt hat. Schon im Herbst desselben Jahres erhält er einen Ruf nach Rostock, wohl auf Betreiben seines inzwischen dort lehrenden Göttinger Mentors Heinrich Thöl. Mit Rücksicht auf seine Verlobte, der Basel zu weit weg ist, nimmt er sofort an. Antritt der Rostokker Professur und Heirat fallen zusammen. Er liest Pandekten, Institutionen und Rechtsgeschichte mit wachsendem Erfolg. Den größten Zulauf hat mit 41 Teilnehmern sein zweites Pandektenpraktikum im Sommer 1847. Z u dieser Zeit erscheinen auch die für derartige Übungen bestimmten „Civilrechtsfälle ohne Entscheidungen", und etwas später eine Rezension in den „Kritische(n) Jahrbücher(n)". 42 Über sein privates Leben in dieser Zeit berichten „Erinnerungen einer alten Rostockerin". 43 Eigenem Zeugnis nach verlebte er „unendlich schöne Jahre" in Rostock, doch seine junge Frau zog es zurück nach Norddeutschland. Jhering scheint sich deshalb um einen Ruf nach Kiel bemüht zu haben, der ihm mit Falcks Vermittlung auch zugesagt,

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LZ v. 30.3.1844 (No. 26), Sp. 407. Erwähnt werden mag an dieser Stelle auch der Umstand, daß Jhering von Savigny weniger hielt, als er damals zugab. In einer von Rudorff vermittelten ,,Audienz" erlebte der ehrgeizige Privatdozent den großen Savigny „als Muster der Ungezogenheit". Die Arroganz des berühmten Mannes forderte Jherings Opposition geradezu heraus (vgl. R v. Jhering, Erinnerungen an Bismarck und Savigny, in: Deutsche Dichtung, Berlin 1892/93, S. 47 - 49). 40 UB Göttingen, NJ, Kasten 2/Nr. 1. - In erstaunlicher Kontinuität klingt dieser Gedanke noch im „Zweck" nach (I, Vorrede, S. XIV): „Nicht das Rechtsgefühl hat das Recht erzeugt, sondern das Recht das Rechtsgefühl". 41 StA Basel, Ζ 11 (Erziehungsakten). In Basel lernte er u.a. C. J. Burckhardt kennen. Vgl. den in Christian Rusches Edition „Der Kampf ums Recht" (Nürnberg 1965) abgedruckten Lebenslauf Jherings aus inzwischen verschollenem Familienbesitz, S. 445. - Briefe Burckhardts an Jhering im StPrKB Berlin, Sammlung Darmstädter 2h 1844 (9). 42 Die Rezension betraf W. Seils „Über bedingte Traditionen" (Kritische Jahrbücher für deutsche Rechtswissenschaft, XI, 1847, Nr. 10, S. 865 - 909).

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durch die Volkserhebung gegen die Dänen jedoch verzögert wurde. A m 3. April 1848 starb Jherings erste Frau nach der Geburt eines Sohnes, der sie nur zwei Monate überlebte. Der junge Witwer wollte nun erst recht fort von Rostock. Und wirklich konnte ihm Falck alsbald mitteilen, „daß die provisorische Regierung Ihre Herkunft nach Kiel zu Michaelis (1848) wünsche, damit Sie Ihre Vorlesungen im nächsten Wintersemester anfangen können -", 4 4 A n der Märzbewegung und ihren Nachbeben nahm Jhering, soweit die Quellenlage eine solche Feststellung zuläßt, keinen inneren Anteil. Das könnte daran liegen, daß seine private Krisis ihn ganz gefangen nahm, aber der eigentliche Grund war wohl patrizisches Standesbewußtsein. Volksbewegungen gegenüber hielt er Skepsis für angebracht. „Ich habe auch viele Volksversammlungen besucht", äußerte er sich Jenaer Studenten gegenüber, die den Kieler Professor damals mit patriotischer Begeisterung empfingen, „doch nie ohne einen Flacon Eau de Cologne in der Tasche zu haben; allen Respekt vor dem souveränen Volk, aber es riecht schlecht! Und da ich mein Flacon Männern aller Parteien zur Nervenstärkung darbot, behielt ich mit allen, selbst mit der äußersten Demokratie, Frieden". 45 In Kiel, wo er doch erst im Sommer 1849 zu lesen beginnt, bleibt Jhering drei Jahre. Falck, Tönsen und Joachim Christiansen sind seine Kollegen. M i t Christiansen wechselt er sich von Semester zu Semester in den Institutionen- und Pandektenvorlesungen 46 ab. Während das Verhältnis zwischen den beiden zu den ungeklärten Fragen gehört, gibt es für Jherings Beziehung zu Nikolaus Falck eine klare Aussage: Er mochte ihn, 47 und die Sympathie war nach Zeugnis der erhaltenen Briefe gegenseitig.48 Bekanntlich besorgte Jhering nach Falcks Tod im Mai 1850 die 5. Auflage von dessen „Juristische^) Encyklopädie". Sich nach Häuslichkeit sehnend, ging er bald eine zweite Ehe ein. Seine neue Frau, Ida Frölich, war die Tochter eines Advokaten aus Schleswig, den er vor Jahren zufällig auf einer Reise durch die Schweiz kennengelernt und

43

Erinnerungen einer alten Rostockerin an Rudolf von Jhering. Mitgeteilt von Κ. A. Hall.4 4 Göttinger Jahrbücher 1955/56, S. 85 - 92. Brief Falcks vom 18.5.1848, Stiftg. PrKB Berlin, 2h 1821 (6). 45

Erinnerung eines mit „T" zeichnenden Studenten im „Unterhaltungsblatt" der Berliner „Neuesten Nachrichten" vom 2.7.1882 (Nr. 328). Etwas verändert nachgedruckt in der „1. Beilage 46 des Berliner Courier Nr. 86" vom 18.7.1882, S. 2. Vorlesungsverzeichnisse Kiel Sommer 1849 bis Wintersemester 1851/52. 47 Jherings Urteil über Falck ist wörtlich in der „akad. Gedächtnisrede" von F. Brockhaus, Kiel 1884, S. 16 widergegeben. 48 StPrKB Berlin, 2h 1821 (6).

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mit dem er anläßlich seiner Übersiedlung nach Kiel wieder Kontakt aufgenommen hatte. 49 V. Die ganzen vierziger Jahre hindurch beschäftigte Jhering, eigener Aussage nach, das Projekt eines Werkes über „den Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung". A m 27. April 1851 schickte er den gegengezeichneten Verlagsvertrag über das erst in Ansätzen vorhandene Manuskript an den Verleger Dr. Härtel zurück. „Niemals habe ich mein Buch", schreibt er im Rückblick auf das vergangene Jahrzehnt, „aus den Augen verloren, stets etwas ausgearbeitet - - jetzt, wo ich drucken lassen soll, zittre ich, möchte noch aufschieben und immer aufschieben. Der Grund liegt in der Beschaffenheit des Gegenstandes, denn er gehört zu denen, mit denen man nie fertig ist ..,". 50 Prophetische Worte, wenn man bedenkt, daß Jhering zeitlebens um die Vollendung dieses Werkes gerungen hat und es doch als Torso hinterließ. Auch in einer biographischen Arbeit gebührt dem „Geist" ein zentraler Platz, denn es handelt sich dabei um ein Lebenswerk in des Wortes wahrster Bedeutung. Bekanntlich bricht der „Geist" mitten im 3. Band bei der Entwicklung einer „Allgemeine(n) Theorie der Rechte I. Begrif des Rechts" ab. Landsberg hat dafür Jherings Wendung von der Begriffs- zur praktischen Jurisprudenz verantwortlich gemacht,51 welcher Erklärung die meisten Rechtshistoriker bis heute folgen. 52 Manche lesen auch den „Zweck im Recht" gewissermaßen als Fortsetzung des „Geist", 5 3 und richtig an dieser Ansicht ist, daß die Beschäftigung mit dem „Begriff des Rechts" den „Zweck" geboren hat. 54 Falsch ist jedoch die Annahme, Jhering habe mit dem Beginn der Arbeit am „Zweck" - das Buch blieb bekanntlich ebenfalls ein Torso - die Vollendung des „Geist" aufgegeben. Das Gegenteil ist der Fall: Nach eigenem Bekenntnis mußte Jhering den „Zweck" gerade deshalb schreiben, um am „Geist" weiterarbeiten zu können. 55 Auch aus Jherings Briefen aus der Zeit nach 1865 wird deutlich, daß er jedenfalls bis in die 80er Jahre hinein gehofft 49

Vgl. den Brief Jherings „an den Advokaten Frölich in Schleswig" vom 7.5.1849. Ehrenberg-Briefe, S. 3 - 6. 50 Ehrenberg-Briefe, S. 8. 51 Geschichte der Rechtswissenschaft, III, 2, S. 811. 52 Statt aller: Wolf, Große Rechtsdenker, S. 643. 53 Kleinheyer - Schröder, S. 136. 54

Ich werde das in meinem Buch an Hand der Geist-Manuskripte im einzelnen zeigen können. Vgl. vorläufig Jherings Vorrede zum Zweck I, (S. VII). 55 Vorrede zum „Zweck", S. VIII.

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hat, den „Geist" doch noch zum Abschluß bringen zu können. 56 Trotzdem wird es auch intime Jheringkenner überraschen, daß sich im Göttinger Nachlaß tatsächlich umfangreiches Manuskriptmaterial für eine Fortsetzung des „Geistes" findet. A u f Einzelheiten einzugehen würde den Rahmen eines solchen Forschungsberichtes sprengen. Nur ein paar Fragen, die ich mit Hilfe des biographischen Materials beantworten zu können hoffe, seien genannt: Woher stammt Jherings „Programm" für sein Werk? Welches Geschichtsbild liegt seiner Vorstellung historischer „Entwicklungsstufen" zugrunde? Wie ist seine Suche nach einer „Naturlehre" des Rechts zu verstehen? Warum brach er das Werk tatsächlich ab? Wann nahm er es wieder auf? In welchem Verhältnis stehen der „Zweck" und andere Abhandlungen über die Natur des Rechts zum „Geist"? - Daneben wird im einzelnen zu untersuchen sein, welche Veränderungen Jhering bei den Überarbeitungen des Werkes zum Zwecke der Neuauflage jeweils vornahm; auch, welche „Memoranda" er sich für etwaige Umarbeitungen notierte. Das Material zur Beantwortung der meisten dieser Fragen umfaßt mehrere tausend Seiten und unzählige ungeordnete Zettel. 57 Jeder Torso provoziert die Frage, wie das vollendete Werk ausgesehen hätte. Sicher werde ich keine definitive Antwort darauf geben können. So umfangreich das unveröffentlichte Material auch ist, es dokumentiert mehr das Ringen als das Gelingen. Womöglich läßt sich der geplante Inhalt des nie erschienenen 5. Bandes des „Geistes" aus den verschiedenen Fragmenten, Gliederungsentwürfen und Zettelsammlungen in etwa konstruieren; Anfang und Schluß liegen in ausgearbeiteter Form vor. 58 Für den 6. Band aber - er sollte nach dem Gesamtplan das sogenannte „3. System" (nach dem „familiären" und dem „moralischen" das „intellektuelle") behandeln - gibt es mehrere Dispositionen, aber keine definitive Gliederung. Der tiefere Grund dafür ist wohl weniger die Abkehr von der Begriffsjurisprudenz als ein Wandel in Jherings Einschätzung der historischen Entwicklung. Als er in den 40er Jahren den Plan für sein Werk entwarf, schien ihm die Überwindung der nationalen Begrenztheit, der Aufstieg des römischen Rechts zur kosmopolitischen Bedeutung noch die höchste Entwicklungsstufe zu sein. 59 Nach den Ereignissen von 1870/71 vermag er die Abkehr von nationaler Selbstbehauptung nur noch als Zeichen des Niedergangs 56

Ehrenberg-Briefe, S. 235, 248, 251, 268, 285, 286, 290, 293, 300, 301, 303, 310 f., 379,

57

UB Göttingen, NJ, Kasten 3. UB Göttingen, NJ, Kasten 4; Kasten 2/Nr. 3. Geist,!, 1. Aufl., S. 77-82.

388. 58 59

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zu beurteilen. Sein Modell der römischen Rechtsentwicklung von drei weiterführenden Entwicklungsstufen wurde ihm selbst fragwürdig.

VI. Schon 1847 hatte sich die Universität Gießen um Jhering bemüht. Vier Jahre später nahm er den Ruf an, nicht zuletzt, weil er davon ausging, auf diese Weise Kollege Gerbers zu werden, der den germanistischen Lehrstuhl in Gießen übernehmen sollte. Als sich Gerber dann doch für Tübingen entschied, hatte sich Jhering bereits festgelegt und mußte wohl oder übel den Posten in Gießen allein antreten. Die Kleinstadt an der Lahn hatte damals kaum 9000 Einwohner. Ihrer Provinzialität galt mancher Spott Jherings, doch verstand er es, sich behaglich einzurichten. Alsbald residierte er in einer Villa mit Garten, war in den Kreis der kleinstädtischen Honoratioren respektvoll aufgenommen, organisierte Konzerte, Festessen und ähnliche Veranstaltungen. Sein bürgerliches Leben, seine Stimmungen und Pläne, seine Interessen, seine Lektüre und der Fortgang seiner wissenschaftlichen Arbeit in dieser Zeit dokumentiert die in großem Umfang erhalten gebliebene Korrespondenz. Ein Großteil von Jherings Briefen hat Helene Ehrenberg, seine Tochter, gesammelt und im Jahre 1913 unter dem Titel „Rudolph von Jhering in Briefen an seine Freunde" veröffentlicht. Leider gehören die Originale dieser Briefe zum überwiegenden Teil zu dem nicht aufgefundenen Material, so daß die Druckausgabe vorerst eine wichtige Quelle bleibt. Ein großer Teil der Gegenbriefe findet sich in der bereits erwähnten „Sammlung Darmstädter" in Berlin. Nach Umfang und Bedeutung herausragend sind die Korrespondenzen mit Bernhard Windscheid, 60 Karl Friedrich von Gerber 61 und Oskar von Bülow. 62 Doch die Liste der deutschen Juristen, mit denen Jhering in Briefverkehr stand, ist weit länger; Namen wie Bruns, Thöl, Roth, Regelsberger, Kierulff, Wächter, Kuntze, Bähr, Glaser und viele andere gehören dazu. Jherings schriftstellerische Arbeit in Gießen steht ganz im Zeichen der Dogmatik. I m Zusammenhang mit der Ausarbeitung des „Technik"-Kapitels des „Geistes" drängt er Gerber zur Gründung einer gemeinsamen Zeitschrift, der „Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts", deren Programm 1856 konzipiert wird. Meine Arbeit 60

Stftg. PrKB, S.D., 2h 1847 (10). Ebd., 2h 1857. Vgl. jetzt außerdem M. G. Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber, Teil 1, Ebelsbach 1984. 62 Ebd., 2h 1880 (21). 61

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wird versuchen, Jherings „Konstruktionsjurisprudenz" mit Hilfe seiner Notizen, Briefe und Exzerpte zu erläutern; auch verspreche ich mir viel davon, die praktische Umsetzung der Theorie bei der Erledigung von Spruchsachen und konkret-dogmatischen Arbeiten aufzuzeigen. Auch in der Gießener Zeit verläuft Jherings Entwicklung nicht sprunghaft. Bezeichnenderweise gab er dem Programmaufsatz, der die „Jahrbücher" eröffnen sollte, ursprünglich die Überschrift „Die Aufgabe der Jurisprudenz der Gegenwart"; 63 das klingt an die erste programmatische Äußerung des Privatdozenten aus dem Jahre 1844 an („Die Stellung der Jurisprudenz zur Gegenwart"). Ein Vergleich der beiden Schriften wird die Kontinuität in der wissenschaftlichen Arbeit Jherings deutlich machen. Auch die hier zu stellende Frage nach dem Platz, den Jherings Konstruktionsjurisprudenz in der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhundert einnimmt, führt auf biographisches Gebiet. Puchta und Kierulff, die Jhering ausdrücklich als Vorläufer seiner produktiven Methode anerkennt, hat er nachweisbar schon in seinen Berliner Jahren studiert. Auch der Gedanke, daß die Wissenschaft dem Leben zu dienen habe, läßt sich bis in die frühe Studentenzeit zurückverfolgen. Nur in der Verknüpfung der beiden Ansätze liegt das Neue dieser dogmatischen Phase. A m Maßstab der Praxis ausgerichtet, weist Jhering nun der Jurisprudenz der Gegenwart nicht nur die Aufgabe der Konstruktion, sondern auch die der Destruktion zu. Indem er Puchtas wissenschaftliches Recht der höheren Instanz des „Lebens" unterwirft, stellt er die Begriffsjurisprudenz gewissermaßen vom Kopf auf die Füße.

VII. Freilich ist er dieser Perspektive vorübergehend selbst untreu geworden, aus Freude am Theoretisieren. A n sich eine läßliche Sünde, denn der kühne Begriffskonstrukteur ging ja von der Prämisse aus, die „produktive" und „naturhistorische" Methode tue nichts weiter, als die Substrate des praktischen Rechts im Labor der Logik weiterzuzüchten. Es kam ihm nicht in den Sinn, daß auf diese Weise juristische Monster entstehen könnten. Später wird er freimütig eingestehen, er habe in dieser Phase allzusehr dem „logischen Element" vertraut. Daß dies ein Fehler ist, wurde ihm über Nacht an einem Einzelfall klar. Der Göttinger Nachlaß ermöglicht eine sehr genaue Darstellung dieser Selbstbesinnung, denn Jhering hat die Zeugnisse seiner Läuterung aufgeho-

63

Dann: Unsere Aufgabe, Jahrbücher, Bd. 1, Jena 1857, S. 1 - 52.

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ben. Vor allem geht es um einen Urteilsentwurf aus dem Dezember 1858.64 Damals hatte der Gießener Romanist eine Spruchsache 65 zu bearbeiten. Bei dem Fall ging es um eine doppelt verkaufte, durch Zufall untergegangene Schiffsladung. Der Kläger forderte vom ersten Käufer, dessen Anspruch er doch durch den zweiten Verkauf verletzt hatte, den Kaufpreis. Der Berichterstatter hielt dieses Begehren auf den ersten Blick für ungerechtfertigt, doch penlicherweise berief sich der Kläger auf - Jhering. Tatsächlich hatte dieser selbst in seinem Jugendwerk, den „Abhandlungen aus dem römischen Recht", dem Verkäufer einer doppelt verkauften, zufällig untergegangenen Sache das Recht zugesprochen, von beiden Käufern den Kaufpreis zu fordern, 66 und dabei auch noch von der Juristischen Consequenz" der Römer geschwärmt. Jetzt aber mit dem praktischen Fall konfrontiert, hielt er diese Konsequenz für unmöglich. Er widersprach sich selbst. Allerdings erst nach einem inneren Kampf, der sich in einem denkwürdigen Brief an Gerber widerspiegelt. 67 Der Zwiespalt, in welchen ihn die Entscheidung stürzte, hatte Folgen. Zunächst schrieb sich Jhering den Fall in einer Abhandlung für die Jahrbücher von der Seele.68 Dann distanzierte er sich innerlich von dem Überschwang seines Konstruktionseifers. In Briefen nennt er die Zeit vor 1859 nun gelegentlich seine „frühere Periode". 69 Zwischen 1860 und 1866 veröffentlicht er „ i m strengsten Inkognito" in der preußischen, später deutschen Gerichtszeitung „vertrauliche Briefe über die heutige Jurisprydenz", 70 in der er sich unter anderem über seine eigenen Übertreibungen lustig macht. Auch in dieser Krise zeigt sich die für Jhering typische Einheit von wissenschaftlicher Arbeit und Privatleben. Er ist müde, leidend, unzufrieden. Vergeblich auf einen ehrenvollen Ruf wartend, wünscht er die ganze Jurisprudenz zum Teufel und schwelgt in Goethe. 71 Notizbücher aus dieser Zeit enthalten zahlreiche Xenienverse, von denen nicht wenige auf Jherings innere Haltung schließen lassen.72

64

Vgl. schon Κ Kantorowicz, DRZ 1914, Sp. 84 - 87. Das Spruchsachen-Gutachten „Pour et Fancus" in UB Göttingen, Nachlaß Jhering, teilweise in Kasten 10 und Kasten 8. Bezeichnenderweise liegen die Entscheidungsgründe nicht bei den Spruchsachen, sondern in dem mehr Persönliches (Tage-, Notizbücher) enthaltenden Kasten. 65 Im Rahmen der damals noch üblichen Aktenversendung an die Fakultät. 66 Basierend auf Paulus D. 18,4,21. Vgl. Abhandlungen aus d. röm. Recht, Neudruck d. Ausg. Leipzig 1844, S. 59, 71. 67 Ehrenberg-Briefe, S. 108 -113. Losano, S. 306 ff. 68

„Beiträge zur Lehre von der Gefahr beim Kaufcontract", Jahrbücher, 3. Bd. (1859), S. 291 6- 9326. Vgl. Losano I, 312 („Häutung"), Ehrenberg-Briefe, S. 176. 70

Abgedruckt in: „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz", Nachdruck, Darmstadt 1980, S. 37-169. Ehrenberg-Briefe, S. 105. 72 UB Göttingen, NJ, Kasten 8/7.

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Was sich an Jherings Methode in der Zeit nach 1859 tatsächlich verändert hat, hoffe ich durch eine Analyse seiner publizierten und handschriftlichen Aufzeichnungen vor und nach diesem Zeitpunkt aufzeigen zu können. Hier nur so viel: Ich neige nicht dazu, Jherings sogenannte „Wende" zu dramatisieren. Unerschüttert von seinem angeblichen „Damaskus" bleiben nämlich die Grundsäulen seiner Methode: Nach wie vor will er die Rechtswissenschaft durch das Auffinden der dem Recht innewohnenden Prinzipien vom römischen Recht emanzipieren und der Praxis dienstbar machen. Was sich verschiebt, ist die Gewichtung. Von nun an warnt er eindringlich vor einer Überschätzung des logischen Elements und betont die Bedürfnisse der Praxis. Von der „Konstruktions-Jurisprudenz" insbesondere von seinen Ausführungen über die „Technik" im „Geist des römischen Rechts", rückt er in keinem Moment ab. 73 Weniger in einer Umkehr besteht die Revolution seines Denkens als in der Entdeckung von etwas Zusätzlichem. Dieses Zusätzliche nennt er selbst, unklar genug, das Rechtsgefühl. M i t diesem Begriff bezeichnet er das intuitive Zusammenwirken unbewußter Erkenntnisdaten, das ihn in der erwähnten Spruchsache zur Abkehr von der theoretisch richtigen Lösung gezwungen hat. 74 Aufgrund dieser Erfahrung räumt Jhering dem „Rechtsgefühl" die Schlüsselfunktion eines methodischen Korrektivs ein. 75 Das Adjektiv „gesund", das er ihm gelegentlich gibt, verrät: Es handelt sich nur um die Stellvertretung des „Lebens", das er immer schon zum Prüfstein der Dogmatik erklärt hat. Mit der Entdeckung des Rechtsgefühls sieht sich Jhering allerdings vor die Aufgabe gestellt, eine wissenschaftliche Erklärung für das beobachtete Phänomen zu finden. Dieser Aufgabe weiht er nun seine ganze Arbeitskraft, und alle seine anderen Pläne vermischen sich damit. Er glaubt, einer großen Erkenntnis auf der Spur zu sein. Durch die Anerkennung des „Rechtsgefühls" hat sich das Untersuchungsobjekt Recht für ihn gewissermaßen in etwas Lebendiges verwandelt. Wenn eine lückenlose Deduktion aus dem logischen Rechtssystem durch das „Rechtsgefühl" falsifiziert werden kann, bildet das logische Rechtssystem offenbar nicht die ganze Wahrheit ab. Dies ist im Kern die aufregende Entdeckung, die er macht. Bei der Abstraktion des logischen Rechtssystems im Sinne Puchtas geht eine Dimension der Wirklichkeit, vermutet er, verloren. Da er den Ehrgeiz hat, der ganzen Wirklichkeit auf die Spur zu kommen, 76 will er von nun an das Recht selbst, nicht sein abstraktes Abbild erforschen. Insofern gleicht er ei73

74

Brief an Windscheid vom 15.8.1860 (Ehrenberg-Briefe, S. 123).

Schon in seinem Rechtsgutachten vom 1.1.1859 bekennt Jhering offen, daß „das gesunde Rechtsgefühl... uns zu unserer Ansicht den ersten Anstoß gegeben hat" (UB Göttingen, NJ, Kasten 8, Gutachten, S. 26). Zum „Rechtsgefühl" vgl. O. Behrends, Das „Rechtsgefühl" in der historisch-kritischen Rechtstheorie des späten Jhering, Napoli 1986. 75 Vgl. insbesondere seinen Aufsatz in den Jahrbüchern 3, S. 291 ff. 76 Folgerichtig nennt er seine Methode später die „realistische". Vgl. etwa „Der Besitzwille", Vorrede IX.

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nem Mediziner, der bislang eine stilisierte Puppe untersucht hat, und dem es wie Schuppen von den Augen fällt, daß er dem Geheimnis des Lebens auf diese Weise nie näherkommen wird. Schon in seiner ersten „Periode" unterscheidet Jhering in merkwürdiger Vorwegnahme seines Erkenntniswegs die „anatomische" Betrachtungsweise des Rechts von der „physiologischen". 77 1859 besinnt er sich auf diesen Ansatz und gibt den Versuch auf, dem „Leben" durch bloßes Sezieren auf die Spur zu kommen. Sein Interesse verlagert sich von der Konstruktion des Rechts auf seine Funktion.

VIII. Jhering hatte begründete Hoffnung, Vangerows Lehrstuhl in Heidelberg zu erhalten. 78 A u f die Erfüllung dieser Hoffnung wartete er mit wachsender Ungeduld. Als im September 1867 seine zweite Frau gestorben war, wollte er fort von Gießen, auch wenn Heidelberg immer noch nicht rief. Im Dezember 1867 entschied er sich, nach Wien zu gehen. Die Berufungsakten sind erhalten. 79 A m 25. Oktober 1868 führt er sich mit einer prominent besuchten Antrittsvorlesung ein. Ihr Thema lautete: „Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?". Das Manuskript ist erhalten 80 und bereichert unsere Kenntnis von Jherings grundsätzlichen Positionen um ein Zeugnis aus den Anfängen seiner zweiten „Periode". Es verdient eine gründliche Analyse, die hier nicht gegeben werden kann. Nur soviel: Auch dieser Vortrag ist eine Variation der Lebensthemen Jherings, des historischen Entwicklungsgedankens, der Emanzipation vom Römischen Recht, der Entdeckung des Allgemeinen im Besonderen und des Verhältnisses der Theorie zur Praxis. Auch die Vorliebe, mit hegelianischen Formulierungen zu kokettieren, hat Jhering als 50Jähriger noch nicht aufgegeben; er beschließt die Antrittsvorlesung mit den Worten: „ U n d wenn ich jetzt die Summe ziehe, von dem, was ich gesagt habe, so nenne ich die Rechtswissenschaft das wissenschaftliche Bewußtsein in Dingen des Rechts, das Bewußtsein, das nach Seiten der Rechtsphilosophie hin die letzten Gründe zu erforschen hat, denen das Recht auf Erden seinen Ursprung und seine Geltung verdankt, nach Seiten der Rechtsge-

77 Geist I, § 3/2. Darin schon der Satz: „Nichts ist mithin verkehrter, als ein Recht gleich einem philosophischen System bloß von Seiten seines geistigen Gehaltes, seiner logischen Gliederung und Einheit zu beurtheilen".

78

Stftg. PrKB, Slg. Darmstädter, 2h 1841. Vangerow selbst versprach Jhering, ihn als seinen 7Nachfolger vorzuschlagen. 9 Österr. StA, AVA Wien. Unterrichtspräsidium ZI 300/1867, ZI 307/1867, ZI 8/1868, ZI 9/1868. 80 UB Göttingen, NJ, Kasten 17/Nr. 4 (Braune Mappe).

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schichte ihm folgt auf allen seinen Wegen, die es genommen hat, um von Stufe zu Stufe zur höheren Vollkommenheit sich zu erheben, nach Seiten der Dogmatik die zum praktischen Gebrauch geordnete wissenschaftliche Darstellung aller Erfahrungen und Tatsachen, welche den augenblicklichen Höhen- und Endpunkt in der Erfassung der Rechtsidee in sich schließen." Jherings Briefe aus Wien 8 1 sind voll von Informationen über sein berufliches und privates Leben. Ein Jahr lang ist er voll Euphorie, sonnt sich im Erfolg seiner Vorlesungen, genießt das Großstadtleben. Seine Familienverhältnisse bekommen wieder eine solide Grundlage, als er im Sommer 1869 die Erzieherin seiner Kinder Luise Wilders heiratet. Anfang 1870 jedoch schlägt die Stimmung um. Er klagt über das Wiener Klima, und das ist nicht nur metereologisch gemeint. Zum guten Teil hat seine Unzufriedenheit mit der Krisis zu tun, in die seine Arbeit am „Geist" geraten ist. Unfähig zu produktiver Schriftstellerei, schiebt er seine Lähmung auf die Ablenkungen der Stadt und die „Wiener Luft". In Wahrheit hat er sich in die „Allgemeine Theorie der Rechte" verbissen und weiß nicht mehr weiter. Nun sehnt er die Gießener Leichtigkeit zurück, als ob ihm die Geborgenheit kleinbürgerlichen Honoratiorendaseins die frühere Unbefangenheit zurückgeben könnte. Was ihn vollends niederschmettert ist die Nachricht, bei der Neubesetzung des Vangerow-Lehrstuhls in Heidelberg übergangen worden zu sein. Statt seiner hat Freund Windscheid den Ruf erhalten. Jhering wittert Verrat und Intrige, und obwohl er Windscheid ausdrücklich keinen Vorwurf macht, erhält die Freundschaft zwischen den beiden einen Riß. Seine Wiener Freunde Glaser und Unger versuchen vergebens, den Gekränkten zu trösten. Erst die Begeisterung über den Krieg zwischen Deutschland und Frankreich läßt ihn sein privates Mißgeschick vergessen. Mit fieberhafter Erregung verfolgt er die Ereignisse, wird zum glühenden Nationalisten und zum ergebenen Bewunderer Bismarcks. Für die damalige Wiener Politik hat er dagegen nur Worte der Abscheu. In dieser Gemütslage erging an Jhering die Anfrage, am 11. März 1872 einen Vortrag zu halten vor der Wiener Juristischen Gesellschaft. Schon das Thema, das er wählte, läßt erkennen, was ihn damals beschäftigte: die nationale Selbstbehauptung des wiedererwachten deutschen Reichs und die Frage nach der Funktion des Rechts im Leben. Der Vortrag hieß nämlich, in Anspielung auf den gerade aktuellen Darwinismus, „Kampf ums Recht". Zum Essay überarbeitet, sollte diese Gelegenheitsvorlesung wenig später zur er-

81

Vor allem die an Bülow (Stfg. PrKB Berlin, Sammlung Darmstädter, 2h 1880) und Windscheid (ebd. 2h 1847). Weitere aufschlußreiche Quellen bei H. Hofmeister, Jhering in Wien, in: O. Behrends (Hg.), Rudolf von Jhering, Beiträge und Zeugnisse, Göttingen 1992, S. 38 - 48.

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folgreichsten Schrift Jherings avancieren und ihn berühmt machen. Kein Zweifel, der „Kampf ums Recht" traf den Geist der Zeit. Trotz dieses Erfolges zog es Jhering fort von Wien. Einen Ruf nach Straßburg lehnte er allerdings ab. Doch dann erreichte ihn eine Anfrage seines alten Mentors Thöl aus Göttingen. Ein Lebenskreis schien sich zu schließen. Jhering sagte sofort zu, und kaum hatte er es getan, erreichten ihn zahlreiche andere Rufe, auch eine Anfrage aus Berlin. Doch es blieb bei Göttingen. Wien entließ seinen berühmten Professor mit einer noblen Geste: Der Kultusminister veranlaßte Kaiser Franz Joseph, Jhering in den Ritterstand zu erheben. 82 Es war dies, wie die Unterlagen beweisen, nicht etwa ein letzter Versuch, den geschätzten Rechtslehrer doch noch in Wien zu halten, sondern der Dank für erwiesene Dienste. Dem Geehrten fiel der Abschied trotzdem leicht. „Ich passe nicht nach Wien", konstatierte er rückblickend. 83 „Ich hatte das Gefühl, daß ich, um dauernd dort zu existieren, entweder ein Stück von meinem innersten Menschen aufgeben müsse, oder daß ich immer mehr in die Opposition zu der Welt, die mich umgab, gerathen und schließlich ein Einsiedler und Sonderling werden würde. Es war mir zumuthe, wie einem Manne, der ins Theater hinein will, wenn die Vorstellung geschlossen ist, und der ganze Strom ihm entgegen kommt...".

IX. Anfang Juli 1872 bezog Jhering eine Villa in Göttingen, die er in Vorbereitung seiner Übersiedlung von dem Oberamtsrichter Georg Friedrich Schader gekauft hatte. 84 Das Haus, damals „frei vor dem Tor gelegen, mitten in einem schönen Garten, mit der relativ besten Aussicht, die man in Göttingen haben kann", 85 steht noch. Es ist zwar arg verwahrlost, gibt dem heutigen Besucher aber immer noch eine Ahnung vom Repräsentationsbedürfnis und Lebensstil eines berühmten Universitätsprofessors des 19. Jahrhunderts. I m klassizistischen Stil erbaut, mit 11 Zimmern „ein behagliches Unterkommen" gewährend, verteilen sich seine Räume und Salons, Gesinde- und Wirtschaftskammern auf zwei großzügig konzipierte Stockwerke. Briefe Jherings und Aufzeichnungen von Zeitgenossen weisen diesen Mittelpunkt der 82

1872.83

Österr. StA - AVA - Best. Unterrichtsministerium: 4 Jus Jhering; Adelsakte Jhering

In einem Brief an Emil Kuh vom 6.2.1874. Schlesw.-Holst. Landesbibliothek, HebbelSammlung, Sign. C b 24.1. 84 A. Arndt, Bergmanns Haus und Garten, Göttinger Monatsblätter 5/1984, S. 9 f. (10). 85 Brief v. 31.3.1872 an Windscheid. Ehrenberg-Briefe, S. 277.

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letzten zwei Lebensjahrzehnte des gefeierten Rechtslehrers als Ort heiterer Geselligkeit, abendlicher Hauskonzerte und beim Kartenspiel verbrachter Nächte aus. In Göttingen bringt er die Ernte seiner wissenschaftlichen Arbeit ein. Schon zu Lebzeiten ehrt ihn die Universität durch die Aufstellung einer Marmorbüste, eine Auszeichnung, die seither keinem anderen Göttinger Gelehrten mehr zuteil geworden ist. In Universitätskreisen genießt er bedingte Anerkennung, 86 in der Bevölkerung uneingeschränkten Respekt. Sein schriftstellerisches Wirken steht ganz im Zeichen des „Zweck im Recht". Die Notizen, Manuskriptfragmente, Stoffsammlungen und Zeitungsausschnitte, welche die beiden gedruckten Bände des „Zweck im Recht" ergänzen, sind schier unübersehbar. Bei der Durchsicht des Materials hatte ich das Gefühl, in der Fülle der Details zu versinken wie der unendlich fleißige Sammler dieser Massen von Information. Besonderes Interesse verdienen die insgesamt etwa 600 Seiten umfassenden Vorarbeiten zum nicht erschienenen dritten Band des „Zwecks". 87 Ähnlich wie beim „Geist" plane ich auch für den „Zweck" eine Erläuterung aus den Materialien des Nachlasses, die ich mit einer behutsamen Ergänzung des vorliegenden Torsos abschließen will. A u f Inhaltliches will ich hier nicht eingehen. Nur von einem merkwürdigen Fund möchte ich berichten. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre befaßte sich Jhering im Rahmen der Vorarbeiten für den dritten Band des „Zwecks" mit den „Umgangsformen", insbesondere der Gastfreundschaft und dem Takt. Seine diesbezüglichen Materialien ergänzt das Manuskript einer „Erörterung des Begriffs der Höflichkeit". 88 Es stammt freilich nicht von seiner Hand, sondern - ein Vermerk am Beginn der Schrift läßt keinen Zweifel zu - von der seines Vaters Georg Albrecht Jhering. Mehr als sechzig Jahre früher geschrieben, läßt die Erörterung dasselbe Interesse erkennen, das den Sohn in den letzten Jahren seines Lebens beherrscht. Neben zahlreichen Gelegenheitsschriften kleinerer A r t und Vortragsmanuskripten verdienen einige dogmatische Abhandlungen dieser späten Jahre Aufmerksamkeit. Gewissermaßen zwischen dem „Zweck" und den letzten Aufsätzen für die „Jahrbücher" steht das Werk „Der Besitzwille". 86

Bedingt insofern, als die meisten seiner Kollegen ihm Oberflächlichkeit unterstellten und seine gesellschaftlich-kulinarische Gewandtheit als Beweis mangelnder Wissenschaftlichkeit ansahen. Gewisse Jhering-Anekdoten, die in diese Richtung gehen, wurden bis in die Mitte unseres Jahrhunderts in Göttinger Professorenrunden zum besten gegeben. Meine Kenntnis davon verdanke ich Franz Wieacker, der mir am 19.1.1982 davon erzählte. 87 Victor Ehrenberg versprach am 22.2.1893: „Soweit fertiges Manuscript für den dritten Band (sc. des „Zwecks") sich im Nachlasse vorfindet, werde ich es demnächst veröffentlichen." (Der8 8Zweck im Recht, Erster Band, 3. Aufl., Leipzig 1893, XVI.) Dies ist jedoch nie geschehen. UB Göttingen, NJ, Kasten 17/1 a. 10 Jhering-Symposium

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Die Vorrede zu dem voluminösen Buch, mit dem sich Jhering selbst zu seinem siebzigsten Geburtstag beschenkt, nimmt ein letztes Mal den roten Faden auf, der sich durch alle programmatischen Schriften des Rechtstheoretikers zieht. Rückblickend betrachtet er die Bekämpfung der formalistischen Richtung als seine „Lebensaufgabe". Von der Jhering-Literatur wird der „Besitzwille" etwas stiefmütterlich behandelt, was an dogmatischen Mängeln dieses Alterswerkes liegen mag. Vom Standpunkt des Biographen ist es allerdings bemerkenswert, daß Jhering kurz vor seinem Tod seine kulturhistorischen Ausflüge unterbricht, um sich noch einmal mit dem zentralen Thema der juristischen Literatur des 19. Jahrhunderts zuzuwenden. In einer Kraftanstrengung ohnegleichen rang er sich ein achthundert Seiten umfassendes Manuskript dazu ab. Vielleicht wollte er sich ein letztes Mal mit seinem unsichtbaren Gegner Savigny messen; kein anderes Thema war geeigneter dafür. Vielleicht hat es ihn gereizt, das Jahrhundert mit einem Werk über den Besitz ausklingen zu lassen, nachdem es mit einem Werk über den Besitz begonnen hatte. Vielleicht wollte er aber auch nur einen weiteren Lebenskreis schließen. Denn wie für die Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts war auch für Jhering der „Besitz" immer ein wichtiges Thema gewesen. Schon 1842 machte er sich Notizen über das „Verhältnis des Besitzes zum Eigenthum" 8 9 und ähnliche Aufzeichnungen finden sich für fast jeden Lebensabschnitt.

X. Wenn in diesem Überblick Jherings Dogmatik etwas kurz gekommen ist, liegt das an der Weitwinkeloptik. Bei einer solchen Gesamtschau des Materials sind Perlen von Kieselsteinen nicht zu unterscheiden. Dogmatische Abhandlungen verlangen ein anderes Objektiv. Mikroskopie erfordert freilich seinerseits eine Beschränkung auf wenige Gegenstände. Selbst in der ausgearbeiteten Biographie wird es ganz unmöglich sein, auf alle dogmatischen Arbeiten Jherings einzugehen. Ich werde mich daher auf seine Untersuchungen zum Schadenersatzrecht aus verschiedenen Lebensabschnitten konzentrieren, um so Änderung und Kontinuität seines methodischen Standpunkts zu exemplifizieren. Für das Schadensersatzrecht habe ich mich nicht zuletzt wegen der Quellenlage entschieden: Zwischen 1845 und 1861 hat Jhering nämlich Material für ein Werk über das Schadensersatzrecht gesammelt, das mehr als fünfhundert Seiten umfaßt. 90 Auch mehrere seiner

89

UB Göttingen, NJ, Kasten 14/13 (Notizbuch mit eingelegten Notizzetteln).

90

UB Göttingen, NJ, Kasten 11. Vgl. hierzu „Scherz und Ernst", S. 338: „Es gab eine Zeit, wo mir Puchta als Meister und Vorbild derrichtigenjuristischen Methode galt ... Ich habe noch eine Reihe von angefangenen, zum Teil weit ausgeführten Arbeiten liegen, die im Geist dieser Methode entworfen waren, z. B.... eine Lehre vom Schadensersatz ..."

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Spruchsachen-Gutachten betreffen das Schadensersatzrecht. 91 Ergänzt werden diese bisher unbekannten Manuskripte durch Veröffentlichungen Jherings in den „Jahrbüchern". Z u anderen Aspekten, die sich der Darstellung in einem solchen Bericht entziehen, gehören Jherings häufige Reisen, sein Engagement für den Juristentag, seine wachsenden Kontakte mit den Zelebritäten seines Jahrhunderts, zu denen auch ein Besuch bei Bismarck zählt 9 2 Sein 50. Doktorjubiläum feiert Jhering auf der Kasseler Wilhelmshöhe, im selben Hotel, in dem die Angehörigen des Kaiserhauses ihren Urlaub zu verbringen pflegen. Hier wird der 73-Jährige mit Ehrenbriefen, Diplomen, Festgaben, Lorbeerkränzen und Urkunden förmlich überschüttet. Gezeichnet von unheilbarer Krankheit, nimmt er die meisten dieser Gaben im Bett entgegen. Nachmittags schieben ihn seine inzwischen erwachsenen Söhne im Rollstuhl über die steilen Sandwege des Parks, den Zorn des zu cholerischen Ausbrüchen neigenden alten Herrn fürchtend. Aus Familienbesitz gelangte ich zu einer Kopie des Berichtes über diese Zeit auf der Wilhelmshöhe und die darin anschließenden letzten Wochen des kranken Vaters, verfaßt von Jherings jüngstem Sohn Rudolf. 93 In diesem sehr privaten Dokument finden sich auch genaue Angaben über die Umstände des Todes. A m Mittwoch dem 21. September 1892 meldete die Göttinger Zeitung: „Gestern Morgen 10 Uhr fand das Begräbnis des Herrn Geheimen Justizraths Professor von Jhering statt. Von namhaften auswärtigen Personen, welche beim Begräbnis anwesend waren, nannte man uns unter anderen seine Exzellenz, den Herrn Kultusminister Dr. Bosse und den berühmten Kollegen des Verstorbenen, Herrn Professor Windscheid aus Leipzig." Nach den Trauerfeierlichkeiten in der Villa des Verstorbenen „wurde die Leiche unter den Klängen eines von der städtischen Kapelle ausgeführten Trauermarsches nach dem Zentralfriedhofe überführt... Daß von nah und fern eine Fülle der kostbarsten Kränze und Palmen zur Schmückung des Sarges (unter anderem ... von der Stadt Göttingen, von dem Studentengesangverein, von dem Offizierkorps des 82. Regiments) < gekommen waren > erwähnen wir hier nur der Vollständigkeit wegen. Bei der großen Bedeutung des Verstorbenen war dieser Reichtum an Liebesbeweisen nicht anders zu erwarten." 94

91

92

UB Göttingen, NJ, Kasten 10.

Η. v. Poschinger, Bismarck und Jhering, Berlin 1908. 93 Zur Erinnerung an unseren Vater und Großvater. Bericht über die Tage vom 1. August bis 20. September 1892. 94 Göttinger Zeitung, Mittwoch 21. September 1892. Ergänzungen in spitzen Klammern. 10*

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Windscheid also war erschienen, trotz der weiten Anreise von Leipzig. Der Abschied am offenen Grab war sein letzter öffentlicher Auftritt; er überlebte den Freund nur um sechs Wochen.