Die Altertums- und Kunstwissenschaften an der Freien Universität Berlin 9783737004275, 9783847104278, 9783847004271

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Die Altertums- und Kunstwissenschaften an der Freien Universität Berlin
 9783737004275, 9783847104278, 9783847004271

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Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte der Freien Universität Berlin Band 7 Herausgegeben von Karol Kubicki und Siegward Lönnendonker

Schriften des Universitätsarchivs der Freien Universität Berlin Herausgegeben von Karol Kubicki und Siegward Lönnendonker

Karol Kubicki / Siegward Lönnendonker (Hg.)

Die Altertums- und Kunstwissenschaften an der Freien Universität Berlin

V&R unipress

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0427-8 ISBN 978-3-8470-0427-1 (E-Book) © 2015, V&R unipress GmbH in Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt VORWORT DER HERAUSGEBER DER BEITRÄGE ................................................. 7 ADOLF H. BORBEIN: KLASSISCHE ARCHÄOLOGIE AN DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN ..................................................................................... 11 URSULA MOORTGAT-CORRENS †: DIE VORDERASIATISCHE ALTERTUMSKUNDE EIN NEUES AKADEMISCHES LEHRFACH ........................... 23 KLAUS BRUHN: DAS INSTITUT FÜR INDISCHE PHILOLOGIE UND KUNSTGESCHICHTE AN DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN ............................ 39 MATTHIAS FRITZ: INDOGERMANISTIK AN DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN ........................................................................................................... 51 ERIKA FISCHER-LICHTE: THEATERWISSENSCHAFT AN DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN ..................................................................................... 59 CHRISTIAN PISCHEL, DANNY GRONMAIER, CILLI POGODDA, DAVID GAERTNER, TOBIAS HAUPTS: ZUR GESCHICHTE DES STUDIENFACHS FILMWISSENSCHAFT AN DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN ......................... 101 NACHTRÄGE ................................................................................................. 123 HEINZ RIETER: DIE RECHTS- UND WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTLICHE BZW. WIRTSCHAFTS- UND SOZIALWISSENSCHAFTLICHE FAKULTÄT IM ERSTEN JAHRZEHNT DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN ...................................................................... 125 GISELA SIMMAT: FACHBEREICH WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFT AN DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN ............................................................... 183 PERSONENREGISTER ..................................................................................... 199

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Vorwort der Herausgeber der Beiträge

Anfang der 90er Jahre traf sich auf Initiative des damaligen Leiters des Aussenamtes der Freien Universität, Dr. Horst Hartwich (Ehrenbürger der Freien Universität, gest. 2000), eine Diskussionsrunde von »48ern« (Gründungsstudenten) und »68ern«, die mit wechselnden Teilnehmern wichtige Perioden und einzelne Ereignisse der Geschichte der Freien Universität diskutierte. Auch der damalige Präsident, Prof. Dr. Johann Gerlach, der die FU durch die Zeit der tiefgreifenden Strukturreformen und schmerzhaften Sparmaßnahmen führte, war Gast dieser Runde. Der Kreis tagte zunächst bei Dr. Hartwich und dann später im APOArchiv in der Malteserstraße in Lankwitz (daher der Name »Malteser Kreis«). Es entstand der Gedanke, zum 50jährigen Jubiläum unserer Universität eine Vortragsreihe über deren politische Geschichte mit beteiligten Zeitzeugen zu veranstalten. Die Vortragsreihe fand als Universitätsvorlesung unter der Schirmherrschaft des auf Gerlach folgenden Präsidenten, Prof. Dr. Peter Gaehtgens, im Wintersemester 1998/99 statt; die Vorträge und Diskussionen liegen in Buchform vor. 1 Hatte sich die FU-Geschichtsschreibung bisher allzu sehr auf die Geschichte einer aus politischen Erwägungen ins Leben gerufenen Universität beschränkt und eine Fülle von Darstellungen über die politischen Wirren und Unruhen in den 60er und 70er Jahren produziert, so lenkte der »Malteser Kreis« das Augenmerk auf die Tatsache, daß an dieser Universität seit 60 Jahren natürlich auch wissenschaftlich gearbeitet worden ist, daß ihre Leistungen national und international konkurrenzfähig sind: herausragende Spitzenforschung auf höchsten Niveau. Das Echo auf dieses Vorhaben war sehr ermutigend. Für die »Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte der Freien Universität Berlin« (zunächst war eine »Kleine Wissenschaftsgeschichte der Freien Universität« geplant) wurde ein Redaktionskollegium gebildet, in dem damalige hochschulpolitische Kontrahenten zusammen wirkten. Die Zusammensetzung war dabei wohl einzigartig: Prof. Dr. Siegfried Baske (ehemals Vizepräsident der FU, gest. 2008), Dr. Ursula Besser (CDU, ehemals Vorsitzende des Wissenschaftsausschusses des Berliner Abgeordnetenhauses, Stadtälteste von Berlin und seit Mai 2011 Mitglied des Ordens Pour le Mérite im Range eines Oberst), Willi Diedrich 1 Karol Kubicki / Siegward Lönnendonker (Hg.), 50 Jahre Freie Universität Berlin (1948–1998) aus der Sicht von Zeitzeugen, Berlin 2002.

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Karol Kubicki / Siegward Lönnendonker

(Gründungsstudent der FU, ehem. Kanzler der TU, ehem. Staatssekretär), Prof. Dr. Ursula Hennig (Germanistin, gest. 2006), Prof. Dr. Helmut Kewitz (Gründungsmitglied der FU, Vorstandsmitglied der Notgemeinschaft für eine freie Universität, Mitbegründer der Liberalen Aktion, gest. 2010), Prof. Dr. St. Karol Kubicki (Matrikelnummer 1, Mitglied des Gründungs-AStA, Vorstandsmitglied der Notgemeinschaft für eine Freie Universität), Dr. Siegward Lönnendonker (ehem. Mitglied der Deutsch-Israelischen Studiengruppe und des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, Begründer und Leiter des APO-Archivs der FU, seit 2004 ehrenamtlich), Ruth Recknagel (Gründungsstudentin der FU, ehem. Richterin am Kammergericht und Direktorin der Wiedergutmachungsämter von Berlin), Prof. Dr. Klaus Wähler (Jurist). Darüber hinaus äußerten viele der Angesprochenen den Wunsch, das Vorhaben durch persönliches Engagement zu unterstützen, so u. a. Prof. Dr. Meta Alexander (gest. 1999), Eva Furth-Heilmann (gest. 2002), Prof. Dr. Karl Eichner (gest. 2000), Dr. Wolfgang Kalischer, Prof. Dr. Henning Köhler, Prof. Dr. Georg Kotowski (ehem. Mitglied des Bundestages, gest. 1999), Prof. Dr. Günter Stüttgen (Vorstandsmitglied in zahlreichen internationalen Fachorganisationen, gest. 2003), Hanns-Peter Herz (ehem. Staatssekretär und ehem. Chef der Senatskanzlei, gest. 2012), Drs. Ulrich Littmann (ehem. Geschäftsführ. Direktor der deutschen Fulbright-Kommission) und Prof. Drs. Ernst Benda (Ehem. Präsident des Bundesverfassungsgerichts und ehem. Bundesinnenminister, gest. 2009), die in den folgenden Rundschreiben um Beiträge für die Vortragsreihe und für die geplante Dokumentation über die einzelnen Wissenschaftsgebiete der Freien Universität warben. Ziel der Herausgeber war, Autoren zu gewinnen, die an der Entwicklung der Forschung selbst Anteil hatten und aus ihrem häufig viele Jahre an der FU umfassenden Erfahrungsschatz berichten konnten. Wie die Einzelbeiträge auch strukturiert und einzelne Aspekte gewichtet und gewertet sein mögen, es ist der persönliche Standpunkt, der unbedingt zum Ausdruck kommen sollte. Die Autoren mußten die Darstellungen zusätzlich zu ihren sonstigen Verpflichtungen schreiben, deshalb war es oft auch sehr schwierig, manches Mal unmöglich, jemanden zur Mitarbeit zu gewinnen. Wegen der zeitlich sehr differierenden Fertigstellungen der Beiträge kam es dabei zu »Ungerechtigkeiten« gegenüber denen, die ihre Texte schon sehr früh zur Verfügung gestellt hatten. Diese Autoren müssen wir für die langen Wartezeiten um Verzeihung bitten. Wir haben einen Band immer dann erst zum Druck friegegeben, wenn so viele Beiträge vorlagen, daß ein Fachbereich, ein Zentralinstitut oder eine Fächergruppe durch sie aussagekräftig beschrieben wurde. Dies ist der siebte und letzte Band unserer »Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte der Freien Universität Berlin«. Damit ist ein Projekt abgeschlossen, das mit dem hochgesteckten Ziel »Wissenschaftsgeschichte der Freien Universität Berlin« begann, sich dann jedoch schnell auf »Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte der Freien Universität« herunter definierte, wobei uns dann

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Vorwort

klar war, daß die Dokumentation der Beiträge der Wissenschaftler über ihre Institute bzw. Fakultäten und Fachbereiche nur eine für die noch zu schreibende Wissenschaftsgeschichte hoffentlich wertvolle Vorarbeit darstellt. Es ging uns darum, wertvolle Quellen zu sichern und die Beschreibungen der beteiligten Wissenschaftler im Original festzuhalten. Ursula Moortgat-Correns hat kurz vor ihrem Tode den Beitrag »Die Vorderasiatische Altertumskunde« geschrieben. Obwohl er eher allgemein gehalten ist und nicht ausdrücklich die Entwicklung an der FU zum Thema hat, haben wir ihn mit aufgenommen. Neben den Beiträgen zu den Altertumsund Kunstwissenschaften enthält der Band auch zwei Nachträge zum vorigen Themenbereich Wirtschaftswissenschaften. Prof. Heinz Rieter hat über die Frühgeschichte dieses Fachbereichs geforscht und einen schon früher veröffentlichten Artikel überarbeitet. Den Beitrag für die Juristische Fakultät konnte Prof. Klaus Wähler wegen Krankheit nicht fertigstellen. Prof. Uwe Wesel und Prof. Jutta Limbach hatten wegen anderer Verpflichtungen absagen müssen. Prof. Rieter hat sich deshalb entschlossen, »zumindest die Rolle der Juristen bei der Gründung und dem Aufbau der kurzlebigen Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät etwas gründlicher zu schildern« dafür sind wir sehr dankbar. Gisela Simmat hat ihren – schon früh fertiggestellten – Beitrag über den Fachbereich Wirtschaftswissenschaft überarbeitet. Der Beitrag für die Turkologie von Prof. Barbara Kellner-Heinkele war vorgesehen, ist aber nicht geschrieben worden. Ebenso haben wir den zweiten Teil der Islamwissenschaft nicht mehr aufnehmen können, Prof. Gudrun Krämer konnte ihn wegen Überbelastung durch andere Verpflichtungen leider nicht mehr schreiben. Ihren Ratschlag, diesen »von einer anderen Person« schreiben zu lassen, geben wir an künftige Generationen weiter. Nach einer Zusage für den Herbst 2007 konnte auch Prof. Schmidt-Biggemann den Beitrag über die Philosophie leider nicht mehr liefern. Nach Absagen u.a. von Prof. Peter Furth und Prof. Wolfgang Fritz Haug ist es trotz Unterstützung durch den Präsidenten und den zuständigen Dekan nicht mehr gelungen, einen Autor für die Philosophie zu finden, eine schwere Enttäuschung bei der Bedeutung dieses Faches nicht nur für die Freie Universität. Prof. Reiner Haussherr hatte uns den Beitrag über Kunstgeschichte fest versprochen. Leider erlaubte ihm seine Gesundheit nicht mehr, sein Versprechen einzulösen. Wir verweisen statt dessen auf den Text über das Kunsthistorische Institut der Feien Universität im Internet. 2 Derselbe Verweis gilt für das Institut für Griechische und Lateinische Philologie 3, der vorgesehene Beitrag konnte nicht mehr in Angriff genommen werden. Eine nochmalige Suche nach Autoren für die noch fehlenden Beiträge und – bei (unwahrscheinlichem) Erfolg – das Verfassen dieser Texte würden noch 2 http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/khi 3 http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/we02/

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Karol Kubicki / Siegward Lönnendonker

einmal Jahre beanspruchen, eine Aufgabe, der wir uns auch wegen anderer Verpflichtungen nicht mehr stellen können. Wir hoffen, auch so unseren Beitrag zur Geschichte der Freien Universität geleistet zu haben. Wir konnten das nur mit der vorbildlichen Unterstützung der Mitglieder unseres Redaktionskollektivs, des von uns ins Leben gerufenen »Malteser Kreises« und des Verlags V&R unipress unter der Leitung von Susanne Franzkeit. Wie bei den vorigen Bänden halten wir uns auch in diesem letzten Band an die alte Rechtschreibung, soweit wörtliche Zitate nicht Ausnahmen vorschreiben. Auch ignorieren wir den Zwang zur »political correctness«, was die genaue Geschlechter-Bezeichnung anbelangt. Wir werden weder »8Ohm-Lautsprecherinnen« zulassen noch »StudentInnen« oder »StudentAußen«, noch eine »Feiglingin«, ganz zu schweigen von einer »Studierendenschaft«. Die Entscheidung der Leipziger Universität, nur noch die weibliche Form, z.B. »Professorinnen«, anzuwenden, haben wir als »Neues aus der Anstalt« zur Kenntnis genommen.

Berlin, im Frühjahr 2015 Karol Kubicki Siegward Lönnendonker

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Adolf H. Borbein Klassische Archäologie an der Freien Universität Berlin

Die Klassische Archäologie ist die älteste der archäologischen Disziplinen. Ihr Hauptgegenstand ist die materielle Hinterlassenschaft der griechischen, der italisch-etruskischen und der römischen Kultur des Altertums. An der Freien Universität bestand die Klassische Archäologie von Anfang an. Der erste Fachvertreter, Friedrich Wilhelm Goethert (1907-1978) wechselte im Herbst 1948 von der Humboldt-Universität an die Neugründung in Berlin-Dahlem; er war der erste Dekan der Philosophischen Fakultät der Freien Universität. Als ständige Einrichtung der klassisch-archäologischen Forschung und Lehre gibt es ebenfalls von Anfang an das »Archäologische Institut«, später umbenannt in »Fachrichtung Klassische Archäologie«, »Seminar für Klassische Archäologie«, seit 2000 »Institut für Klassische Archäologie«. Nach der Teilung der Philosophischen Fakultät gehörte das Fach zum Fachbereich Altertumswissenschaften, und seit dessen Auflösung ist es dem Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften zugeordnet. Das Institut war zunächst im 3. Stock des ersten Hauptgebäudes der FU, Boltzmannstr. 3 untergebracht; seit 1951 verfügt es – ebenfalls in Dahlem – über ein eigenes Haus, eine zunächst gemietete, 1966 von der Universität erworbene kleinere Villa, Kiebitzweg, heute Otto-von-Simson-Straße Nr. 11. Im Frühjahr 1952 erreichten auf dem Luftwege von Hannover 144 Holzkisten mit Büchern das Institut im Kiebitzweg. Sie enthielten den größten Teil der Bibliothek des Archäologischen Seminars (seit 1941 »WinckelmannInstitut« genannt) der früheren Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. Diese Bücher waren gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, im Jahre 1944 in das Salzbergwerk Grassleben in Niedersachsen ausgelagert worden und befanden sich seit Kriegsende im Kunstgutlager des Schlosses Celle. F. W. Goethert hatte sich seit Oktober 1948 bemüht, die Bücher für die FU zu gewinnen; nun verfügte sein Institut über eine der besten Fachbibliotheken in Deutschland. Der seit der Mitte des 19. Jhs. versammelte Bestand wurde in den Jahren nach 1952 an der FU kontinuierlich weitergeführt, ergänzt und ausgebaut. Ein bis etwa 1995 relativ hoher Buchetat erlaubte es, die breite, auch Spezialund Nachbardisziplinen wie Numismatik, Epigraphik und antike Geschichte berücksichtigende Anlage der Bibliothek beizubehalten. Dadurch wurde sie zu einem Anziehungspunkt auch für auswärtige Wissenschaftler. So wichtig der übernommene Altbestand für die Forschung bleibt – zahlenmäßig stellt er

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Adolf H. Borbein

inzwischen nur noch einen kleinen Bruchteil der Bibliothek dar. ›Alt‹ und ›Neu‹ bilden heute eine Einheit, die nicht mehr aufzulösen ist. Das Winckelmann-Institut der Humboldt-Universität hat daher nach der Wiedervereinigung Berlins darauf verzichtet, Ansprüche auf die einst ausgelagerten Bücher anzumelden. Durch die Berufung des ersten Fachvertreters sowie die Übernahme der Bibliothek hat die FU deutlich gemacht, daß sie die große Tradition der Klassischen Archäologie in Berlin weiterführen will. Denn auch an der FriedrichWilhelms-Universität war das Fach seit deren Gründung vertreten; 1810 wurde mit der Berufung von Aloys Hirt (1759-1837) als ordentlicher Professor »der Theorie und Geschichte der zeichnenden Künste« tatsächlich der erste Lehrstuhl für Klassische Archäologie an einer Universität eingerichtet. Mit ihm begann eine ununterbrochene Folge bedeutender Fachvertreter – zeitweise sogar drei ordentliche Professoren nebeneinander –, die Berlin zu einem international respektierten Schwerpunkt klassisch-archäologischer Forschung und Lehre machten. Hier gab es auch früher als anderenorts ein Universitätsseminar mit einem eigenen Etat, mit einer Bibliothek, einer Sammlung von Abbildungsmaterial und Studienobjekten im Original oder Abguß, den 1851 von Eduard Gerhard (1795-1867) gegründeten »Archäologischen Apparat«. Die besondere Förderung der Wissenschaft von der materiellen Kultur des Klassischen Altertums, namentlich der antiken Kunst gerade in Berlin steht in engem Zusammenhang mit der herausragenden Bedeutung, die die Antike für den Berliner Klassizismus und überhaupt das kulturelle Selbstverständnis Preußens hatte. Bis hin zu Wilhelm II. haben die preußischen Monarchen persönlich in die Verfahren zur Berufung der Berliner Archäologieprofessoren eingegriffen, und hierin folgten ihnen die Kultusminister zur Zeit der Weimarer Republik. Die Klassische Archäologie an der Berliner Universität war zudem von Anfang an und ist auch heute noch eng verbunden mit anderen Institutionen, die in Berlin auf demselben Forschungsfeld tätig sind: der Antikensammlung und der Zentrale des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI). Beide Institutionen haben schon im 19. Jh. – das DAI auch weiterhin – bedeutende Ausgrabungen an ›klassischen‹ Stätten, etwa in Pergamon, durchgeführt. Der Berliner Ordinarius Ernst Curtius (1814-1896) begann 1875 die Ausgrabung des Heiligtums von Olympia. Universität, Museum und DAI waren durch Doppelfunktionen der leitenden Wissenschaftler und durch die Habilitation von Archäologen aus der Antikensammlung oder dem DAI vielfach miteinander verknüpft – eine Praxis, die bis heute gepflegt wird. Und noch heute gibt es den Wechsel von der Universität auf Stellen am Museum und am DAI sowie auch umgekehrt. Zu nennen ist schließlich die »Archäologische Gesellschaft zu Berlin«, die seit 1842 Fachgelehrten und Freunden der Antike ein gemeinsames Forum bietet.

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Klassische Archäologie

Gerhart Rodenwaldt (1886-1945), der letzte Ordinarius für Klassische Archäologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität schied während der Einnahme Berlins durch die sowjetische Armee gemeinsam mit seiner Frau freiwillig aus dem Leben. Der Sohn Gerd, Student der Mineralogie und Geologie, das einzige Kind, war drei Jahre zuvor im Krieg gefallen. In seinem Testament setzte Rodenwaldt die Berliner Universität zum Erben ein und verfügte, daß sein hinterlassenes Vermögen dazu eingesetzt werden solle, dem Fach Klassische Archäologie den Erwerb von Fotos für wissenschaftliche Zwecke (auch für Arbeiten von Doktoranden) und überhaupt eine Verbesserung der fotografischen Dokumentation zu ermöglichen. Das Vermögen bestand im wesentlichen aus dem Wohnhaus in Berlin-Lichterfelde, und dafür erhielt die Freie Universität als Rechtsnachfolgerin der Friedrich-Wilhelms-Universität den gerichtlichen Erbschein und das Verfügungsrecht. Das Haus wurde verkauft. Mit einem Teil des Erlöses erwarb die FU im Jahre 1979 in Wohlde (Schleswig-Holstein) ein Schulhaus und richtete in ihm in Erinnerung an den Geologiestudenten Gerd Rodenwaldt eine Station für die Geowissenschaften ein. Das »GerdRodenwaldt-Haus« wurde im Sommer 1980 eingeweiht. Der übrige Teil wurde zum Grundkapital einer an der FU bestehenden »Gerd-Rodenwaldt-Gedächtnis-Stiftung«, deren Erträge den im Testament genannten Zwecken sowie der Pflege der Grabstätte Rodenwaldt auf dem Parkfriedhof Lichterfelde dienen. Seit 1996 werden die Erträge zwischen den klassisch-archäologischen Instituten der Freien Universität und der Humboldt-Universität aufgeteilt – in Würdigung der gemeinsamen Wurzel beider Institute. In den beiden ersten Jahrzehnten nach der Gründung der FU repräsentierten zwei Personen die Klassische Archäologie fast allein: F. W. Goethert, der Ordinarius, und Erika E. Schmidt /(1912 – 1974). Letztere fungierte seit 1949 als Lehrbeauftragte und Wissenschaftliche Assistentin, habilitierte sich 1957 und wurde 1962 zur Professorin und Wissenschaftlichen Rätin ernannt. Erst 1968 konnte wieder eine Assistentenstelle besetzt werden: mit Christoph Börker, der dann seit 1972 als Assistenzprofessor tätig war. Die Assistentenstelle übernahm von 1972 bis 1977 Walter Trillmich. Als Honorarprofessoren bereicherten die akademische Lehre in den beiden ersten Jahrzehnten die aufeinander folgenden Präsidenten des Deutschen Archäologischen Instituts Erich Boehringer (1897-1971, an der FU seit 1954) und Kurt Bittel (19071991, an der FU seit 1962). In dieser Zeit lehrten außerdem zwei Mitarbeiter des DAI als Privatdozenten an der FU: Hans Weber (1913-1981, an der FU seit 1959) und Hans-Günter Buchholz (1919-2011, habilitiert an der FU 1968). Im Wintersemester 1971/72 wurde F. W. Goethert in der Lehre vertreten durch einen berühmt gewordenen Absolventen der Friedrich-WilhelmsUniversität, den türkischen Archäologen Ekrem Akurgal (1911-2002). Unter der Leitung von F. W. Goethert hatte das Institut einen deutlichen Forschungsschwerpunkt: die römische Kunst, insbesondere die römische Skulptur verschiedener Gattungen einschließlich der Architekturdekoration.

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Goethert selbst und E. E. Schmidt, aber auch mehrere Dissertationen setzten hier fort, was G. Rodenwaldt an der Friedrich-Wilhelms-Universität begonnen hatte. Sie befaßten sich mit römischer Kunst, lange bevor dieses Forschungsgebiet in den Siebziger Jahren des 20. Jhs. geradezu in Mode kam. Eine Art Gemeinschaftswerk des Instituts war der von F. W. Goethert herausgegebene »Katalog der Antikensammlung des Prinzen Carl von Preußen im Schloß zu Klein-Glienicke bei Potsdam« (1972). Nach dem frühen Tod von E. E. Schmidt (1974) und der Emeritierung von F. W. Goethert (1975) blieben die beiden Professuren zunächst vakant. Der Fachbereich Altertumswissenschaften wollte sie gleichzeitig besetzen, um nach einer Zäsur einen neuen Anfang zu machen. Goethert, ein Gründungsmitglied der FU, hatte die Entwicklung der Universität nach 1968 nur negativ sehen können. In seinen Grundüberzeugungen getroffen, hatte er sich immer mehr aus dem Universitätsleben zurückgezogen und sich selbst wie sein Institut in die Isolation geführt. Die Vakanz wurde durch den Assistenzprofessor, den Assistenten und durch Volker-Michael Strocka, damals Erster Direktor der Berliner Zentrale des DAI, überbrückt. Am 1. April 1977 traten Adolf Heinrich Borbein und Wolf-Dieter Heilmeyer die Nachfolge von Goethert und Schmidt an. Gleichzeitig wurde die Assistentenstelle mit Harald Mielsch besetzt. Die Leitung der FU unterstützte den Neubeginn durch zusätzliche Etatmittel. Diese wurden vor allem für die Ergänzung und die Pflege des Buchbestandes der Bibliothek verwandt sowie für den Aufbau einer Fotothek. Aufnahmen vorwiegend von Werken der antiken Skulptur, darunter auch viele Detailansichten, wurden von verschiedenen Fotografen und Fotoarchiven erworben. Den weiteren Ausbau der inzwischen sehr ansehnlichen und als Arbeitsinstrument unentbehrlichen Fotothek gewährleisteten seit 1980 die Mittel der erwähnten »Gerd-Rodenwaldt-Gedächtnis-Stiftung«. Neu organisiert und kontinuierlich erweitert wurde die Diathek, zugleich ging man von den bis 1977 benutzten Großdiapositiven zu KleinbildDiapositiven über. Da die archäologische Lehre und Forschung auf die Herstellung von Diapositiven, Fotos und fotografischen Reproduktionen ständig angewiesen ist, wurde dem Institut im Jahre 1983 die Stelle einer Fotografin zugewiesen. Damit verbunden war die Einrichtung eines Fotolabors. Größere Institute für Klassische Archäologie verfügen seit jeher neben der Bibliothek und der Foto- und Diathek über eine Sammlung von Gipsabgüssen vor allem von antiken Skulpturen in originaler Größe. Der an zweidimensionale Abbildungen gewöhnte Studierende lernt an Abgüssen den analysierenden Umgang mit dreidimensionalen Objekten; er wird mit der Methode des Formvergleichs, überhaupt mit Grundlagen der archäologischen Interpretation vertraut gemacht und erwirbt Kenntnisse der antiken »Realien« (Götterattribute, Tracht etc.). Der Forscher kann mit Abgüssen experimentieren: Er vereint Fragmente, die einst zusammengehörten, heute aber an verschie-

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Klassische Archäologie

denen Orten aufbewahrt werden, er rekonstruiert verlorene Ensembles und versammelt zu besserem Studium z. B. die verschiedenen römischen Repliken einer einst berühmten griechischen Statue. In Berlin gab es seit 1696 in der Akademie der Künste Abgüsse »vorbildlicher« Antiken für die Ausbildung von Künstlern. Nach der Einrichtung des Museums, des heutigen Alten Museums, im Jahre 1830 übernahm dieses ab 1842 die Abguß-Sammlung zur Demonstration der Entwicklung der Kunst und zu wissenschaftlichen Experimenten. Das Neue Museum auf der Museumsinsel beherbergte ab 1855 die Sammlung, die zur weltweit größten ihrer Art anwuchs. Sie wurde schließlich an die Friedrich-Wilhelms-Universität abgegeben, die ihr im während des I. Weltkrieges erbauten Westflügel des Hauptgebäudes repräsentative Räume zuwies. Während des II. Weltkrieges wurde der ausgelagerte kleinere Teil der Abgüsse zerstört, der größere Teil erlitt in der Nachkriegszeit weitere Verluste, der noch immer beträchtliche Rest wurde im Pergamonmuseum unzugänglich magaziniert. Im Westen Berlins blieb die Gipsformerei der Staatlichen Museen mit ihren zahlreichen Negativformen von gerade auch griechisch-römischen Werken erhalten und funktionstüchtig. Der seit 1977 entwickelte Plan, in Zusammenarbeit mit der Gipsformerei und ihren Ressourcen eine Abguß-Sammlung antiker Plastik für Lehre und Forschung an der FU wieder aufzubauen und damit eine Berliner Tradition fortzusetzen, traf bei den Verantwortlichen in der Universität, bei den Museen und im Senat von Berlin auf ein positives Echo. Schon 1978 konnte die Stelle eines Assistenzprofessors am Institut für Klassische Archäologie in die Stelle eines Universitätsrates umgewandelt und 1979 mit Klaus Stemmer besetzt werden, der den Aufbau der Sammlung organisieren sollte und bis 2007 als ihr Kustos tätig war. Sein Nachfolger ist Lorenz Winkler-Horacek. Die ersten neuen Abgüsse wurden 1982 in einer Ausstellung im Bildungszentrum der der Siemens AG in Berlin gezeigt. Standort der Sammlung wurde dann die ehemalige Polizeigarage neben dem Ägyptischen Museum in Charlottenburg (Schloßstr. 69), die Hans Schüler und Ursulina Schüler Witte, die Architekten u. a. des Berliner Internationalen Congress Centrums, für den neuen Zweck um- und ausgestaltet sowie durch einen Anbau für Kolossalskulpturen erweitert hatten. Die heute auf ca. 2000 Objekte angewachsene Sammlung wurde am 26. Juli 1988 im Rahmen des XIII. Internationalen Kongresses für Klassische Archäologie erstmals der Fachwelt präsentiert. Offiziell eröffnet wurde sie am 9. Dezember 1988 mit der Ausstellung »Kaiser Marc Aurel und seine Zeit«. Ausstellungen wie diese zeigten die Vorteile einer Abguß-Sammlung: Stücke aus vielen Museen können einfacher als die kostbaren, schwer transportablen Originale zusammengestellt werden, um bestimmte kultur- und kunstgeschichtliche Fakten und Probleme anschaulich zu machen. Unter den in den folgenden Jahren erarbeiteten archäologischen Ausstellungen der Ab-

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guß-Sammlung seien als größere genannt: »Standorte. Kontext und Funktion antiker Skulptur« (1995), »Praxiteles oder die Überwindung der Klassik« (2002) und »Schau mir in die Augen. Das antike Portrait« (2006). An der Vorbereitung dieser Ausstellungen und der sie begleitenden wissenschaftlichen Kataloge – sie werden in der archäologischen Literatur zitiert – waren Studierende intensiv beteiligt. Weiten Kreisen bekannt wurde die AbgußSammlung durch ihre von Beginn an und kontinuierlich durchgeführten Präsentationen zeitgenössischer Künstler: Antike und Gegenwart in oft reizvoller, immer erhellender Konfrontation. Das Ausstellungsprogramm, aber auch viele Neuerwerbungen von Abgüssen wären nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung des 1988 gegründeten Vereins »Freunde und Förderer der Abguss-Sammlung Antiker Plastik«. Der Kontakt zur Antikensammlung der Berliner Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz intensivierte sich erheblich, als W.-D. Heilmeyer 1978 zum Direktor des Antikenmuseums in Berlin-West und 1991 zum Direktor der wieder vereinigten Berliner Antikensammlung berufen wurde. Seine Professur an der FU, die er beibehielt, wurde 1987 von der Gehaltsgruppe C 3 nach der Gruppe C 4 aufgewertet. Trotz reduzierter Lehrverpflichtung war Heilmeyer im Institut sehr präsent – nicht zuletzt als Betreuer von Dissertationen. Er beteiligte Studierende und Mitarbeiter an Forschungsprojekten, die von Objekten und Fragestellungen des Museums ausgingen, an der Museumsarbeit und an der Vorbereitung von Sonderausstellungen, unter ihnen die beiden großen Ausstellungen, die im Berliner Martin-Gropius-Bau gezeigt wurden: »Kaiser Augustus und die verlorene Republik« (1988) und »Die Griechische Klassik. Idee oder Wirklichkeit« (2002). Heinz Günther Martin, langjähriger Mitarbeiter des Instituts, war an der Vorbereitung und Durchführung der Augustus-Ausstellung maßgebend beteiligt. Während einer einjährigen Beurlaubung von Klaus Stemmer vertrat er 1966/67 die Stelle des Kustos der Abguß-Sammlung. Die Zahl der Studierenden im Haupt- und im Nebenfach vergrößerte sich im Laufe der Achtziger Jahre beträchtlich; unter den an der FU vertretenen archäologischen und altertumswissenschaftlichen Disziplinen hatte die Klassische Archäologie bald den meisten Zulauf. Die Mehrzahl der Hauptfachstudenten stammte nicht aus Berlin und war auch oft von anderen Universitäten an die FU gewechselt. In intensiver Diskussion im Institut wurde erstmals eine Studienordnung für das Fach Klassische Archäologie an der Freien Universität erarbeitet. Sie tat im Sommer 1981 in Kraft und mußte erst 1997 novelliert werden. Im Rahmen des sog. »Fiebiger-Programms« wurde der Klassischen Archäologie eine weitere C4–Professur zugewiesen – ausgestattet mit Stellen eines Wissenschaftlichen Mitarbeiters und einer Sekretariatskraft. Schwerpunkt der neuen Professur in Forschung und Lehre sollte die antike Architektur und Urbanistik sein. Denn dieser Schwerpunkt war an der Technischen

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Universität Berlin nicht mehr hauptamtlich vertreten, obwohl die Baugeschichte der Antike dort im 19. Jh. erstmals als akademische Disziplin etabliert worden war. Auch an anderen Technischen Hochschulen war die antike Baugeschichte zunehmend von der Streichung bedroht. Die Professur an der FU wurde 1988 mit Wolfram Hoepfner besetzt, der sich nach dem Studium der Architektur an der Technischen Universität Berlin dort auch für antike Baugeschichte habilitiert hatte. Er war am Deutschen Archäologischen Institut in verschiedenen Funktionen tätig gewesen, hatte zuletzt in dessen Berliner Zentrale das Architekturreferat aufgebaut und geleitet. Hoepfner verband das Fachwissen des Diplomingenieurs mit breiten historischaltertumswissenschaftlichen Interessen, und daher konnte das – viel beachtete – Experiment gelingen, einen Bauforscher in ein archäologisches Universitätsinstitut voll zu integrieren. Es kam zu einer Bereicherung der Lehre und Forschung, wie sie in Deutschland ohne Parallele war und von der auch Dissertationen zeugen, die Hoepfner betreute. Bereichert wurde die Lehre auch durch verschiedene Mitarbeiter der Berliner Antikensammlung und des Deutschen Archäologischen Instituts, die als Lehrbeauftragte Seminare und Übungen anboten. Als Honorarprofessoren enger mit dem Institut verbunden war seit 1990 Helmut Kyrieleis, Präsident des DAI, und ist seit 2005 Andreas Scholl, Direktor der Antikensammlung. Die traditionelle Verbindung mit DAI und Museum bewährt sich. – Während eines Forschungsaufenthalts am Getty Center for the History of Art and the Humanities in Santa Monica/Kalifornien wurde A. Borbein 1992/93 für zwei Semester vertreten durch Lambert Schneider, Universität Hamburg. Die Vermehrung der Studierenden und des Personals sowie das Anwachsen der Bibliothek machten eine räumliche Erweiterung des Instituts unabweisbar. Das Gebäude Otto-von-Simson-Str. 11 war bis in den letzten Kellerraum ausgenutzt. Da ein größeres Gebäude nicht verfügbar war, wurde dem Institut 1987 eine zweite, benachbarte Dahlemer Villa zugewiesen: das Haus Nr. 7 in derselben Straße. Dorthin wurden neben einigen Dienstzimmern die Fotothek und vor allem der Übungsraum verlegt - die Vorlesungen fanden bereits seit den frühen Achtziger Jahren im Hörsaal des Instituts für Prähistorische Archäologie (Altensteinstr. 15) statt. Gleichzeitig betrieb die Universitätsleitung das Projekt eines Neubaus für »Kleine Fächer« auf dem heute von dem Seminaris-Hotel besetzten Grundstück zwischen Takustraße, Lansstraße und Hechtgraben, also neben den Dahlemer Museen. Im ersten Bauabschnitt sollte das Institut für Klassische Archäologie errichtet werden. Die bis zur Baureife (einschließlich der Innenausstattung) gediehene Planung wurde nach der Vereinigung Deutschlands aufgegeben. Als Fortsetzung und Abschluß des Komplexes ›Rost-‹ und ›Silberlaube‹ ist soeben ein neues Gebäude für die ›Kleinen Fächer‹ entstanden, in einem interdisziplinären Verbund wird dort auch die Klassische Archäologie ihren Ort finden.

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Inoffizielle Beziehungen zum »Winckelmann-Institut« der Klassischen Archäologen der Humboldt-Universität gab er seit ca. 1980. Zu gegenseitigen offiziellen Besuchen der Dozenten und Studierenden kam es unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer. Das Institut an der FU unterstützte den Ausbau der Bibliothek des Winckelmann-Instituts durch die Abgabe von Dubletten. Detlef Rößler, ein Mitarbeiter des Winckelmann-Instituts und Kandidat für eine dortige Professur, habilitierte sich im Winter 1993/94 an der FU, da es damals an der Humboldt-Universität noch keine gültige Habilitationsordnung gab. In den Achtziger Jahren wurde das Institut an der Freien Universität zu einem der am besten ausgestatteten klassisch-archäologischen Universitätsinstitute in Deutschland. Der Vermehrung des wissenschaftlichen Personals entsprach die damals ebenfalls erreichte bessere Einstufung des Bibliothekars und der Sekretärin. Die seit 1977 am Institut betriebene Forschung war primär Individualforschung der einzelnen Professoren und Privatdozenten, der Wissenschaftlichen Mitarbeiter und der Doktoranden. Das breite Spektrum der wissenschaftlichen Interessen, Arbeitsgebiete und Herangehensweisen schuf ein anregendes Klima der Kommunikation. Die Themen reichten von der ›geometrischen‹ Epoche des frühen Griechenland über die etruskische und römische Kultur bis zur Spätantike, von der Kleinkunst zur Wandmalerei und Großplastik, von der Architektur zur Topographie und Urbanistik, von der Kunstgeschichte zur Technologie und zur religiösen Praxis. Die Vielfalt der Themen wie auch der Methoden wurde dadurch gefördert, daß die Wissenschaftlichen Mitarbeiter – wie es heute in der Klassischen Archäologie in Deutschland üblich ist – nie »aus dem Hause«, sondern immer von anderen Universitäten geholt wurden. 13 Habilitationen zwischen 1984 und 2004 – darunter eine Habilitation für Christliche Archäologie – sind eine sehr gute Bilanz; hinzu kommen zwei Umhabilitationen von Archäologen, die an die Berliner Antikensammlung berufen wurden. Auch die Zahl der Promotionen kann sich sehen lassen: 38 im Zeitraum von 1980 bis 2005. Eine konkrete Vorstellung vermitteln sollen die Namen der Habilitanden und die Titel der von ihnen vorgelegten Schriften: Harald Mielsch, »Die stadtrömische Wandmalerei des 2. und 3. Jhs. n. Chr.« (1984); Luca Giuliani, »Bildnis und Botschaft. Hermeneutische Untersuchungen zur Bildniskunst der römischen Republik« (1985/86, Umhabilitation von der Universität Heidelberg); Gerhard Zimmer, »Griechische Bronzegußwerkstätten. Zur Technologieentwicklung eines antiken Kunsthandwerkes« (1988/89); Hans-Georg Severin, Verschiedene Schriften (1989/90, Christliche Archäologie); Detlef Rößler, »Stilkritische Untersuchungen an kleinasiatischen und griechischen Porträts des 3. Jahrhunderts n. Chr. Zur Frage der gallienischen Renaissance« (1993/94); Uta Kron, Verschiedene Schriften (1994); Gunnar Brands, »Architektur und Bauornamentik von Resafa-Sergiupolis. Studien zur spätanti-

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Klassische Archäologie

ken Architektur und Bauausstattung in Syrien und Mesopotamien« (1995); Michaela Fuchs, »In hoc etiam genere Graeciae nihil cedamus. Studien zur Romanisierung der späthellenistischen Kunst im 1. Jh. v. Chr. am Beispiel der Idealplastik« (1996/97); Gloria Olcese Hiener, »Aspetti della produzione ceramica a Roma e in area romana tra il 2. secolo a.C. e il 1. d.C. alla luce della ricerca archeologica e archeometrica« (1998); Lilian Balensiefen, »Das Palatium des Augustus und der augusteische Geschichtsmythos« (1998/99); Andreas Scholl, »Untersuchungen zu Votiven aus geometrischer und archaischer Zeit von der Athener Akropolis« (2000/01, Umhabilitation von der Universität Bonn); Mathias René Hofter, »Ideal und Anschauung – Zur Genese von J. J. Winckelmanns archäologischer Methode« (2001); Agnes Schwarzmaier, »Die Masken von der Insel Lipari. Zu ihrer Funktion und Bedeutung im Grabkontext« (2002); Frank Rumscheid, »Die figürlichen Terrakotten von Priene. Fundkontexte, Ikonographie und Funktion in Wohnhäusern und Heiligtümern im Lichte antiker Parallelbefunde« (2002/03); Ortwin Dally, »Rückblick und Gegenwart. Vergleichende Untersuchungen zur Visualisierung von Vergangenheitsvorstellungen in der Antike« (2004). Diese an der Freien Universität habilitierten Klassischen Archäologen lehren oder lehrten an Universitäten in Berlin, Bonn, Heidelberg, Eichstätt, Halle, Jena, München und Rom. Mehrere Stipendiaten der Alexander von Humboldt-Stiftung (aus Griechenland, Italien, Spanien, der Ukraine und den USA) schätzten die am Institut gegebenen Möglichkeiten des Studiums und der Diskussion. Besonders eng war die Verbindung zu Gelehrten, denen der Fachbereich Altertumswissenschaften die Würde eines Ehrendoktors verlieh: dem Klassischen Archäologen George M. A. Hanfmann aus Harvard (Sommer 1982) und dem Bauforscher Manolis Korres aus Athen (Winter 1990/91). Hanfmann war Absolvent der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, ging in die USA ins Exil, wurde u. a. als Ausgräber von Sardis berühmt. Korres studierte in München, sein bekanntestes Projekt ist die Restaurierung der Akropolis in Athen. Im Rahmen des Erasmus/Sokrates-Programms der Europäischen Union wurde ein regelmäßiger Austausch von Studierenden vereinbart, mit den Universitäten Athen, Lyon (Université Lumière) und Rom (La Sapienza). Unter den ausländischen Studierenden haben einige Griechen und Italiener ihr Studium an der FU mit dem Magisterexamen und der Promotion abgeschlossen. Bei aller Vielfalt der Forschungen bildeten sich, gefördert durch das langjährige Wirken der am Institut tätigen Professoren, auch deutliche Schwerpunkte heraus. So die griechische und römische Skulptur: ihre Funktion im sozialen Kontext und ihre Entwicklung als Indikator von Mentalitätswandel. Der fotografischen Dokumentation und wissenschaftlichen Erschließung von größeren Skulpturenkomplexen und von Neufunden dient die Reihe »Antike Plastik«, die Adolf Borbein von 1985 bis 2008 im Auftrag des Deutschen Ar-

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chäologischen Instituts herausgab. Die Beiträge internationaler Autoren wurden im Institut der FU redigiert. Dank seiner Tätigkeit auch am Museum konnte Wolf-Dieter Heilmeyer seine Forschungen zu Materialien und Techniken antiker kunsthandwerklicher Produktion und zur Bestimmung der Charakteristika von Werkstätten intensivieren und in der Universität entsprechende Arbeiten anregen. Hier ergaben sich auch enge Verbindungen mit der Arbeitsgruppe »Archäometrie« des Fachbereichs Chemie der FU. Wolfram Hoepfner brachte bei seiner Berufung das Projekt »Wohnen in der klassischen Polis« mit und entwickelte es im Institut weiter. Probleme der Urbanistik und Architekturgeschichte bestimmten die archäologischen Untersuchungen vor Ort, die Hoepfner zusammen mit Studierenden in Alt-Thera, auf der Insel Tilos und in Messene durchführte. Verschiedenen Themen der Bauforschung galten mehrere vom Institut veranstaltete internationale Kongresse. Für die Publikation der erzielten Ergebnisse wurde eine Reihe von »Schriften des Seminars für Klassische Archäologie der Freien Universität« gegründet. Schließlich die Rezeption der Antike und die Geschichte der Archäologie. Sämtliche damals am Institut tätigen Wissenschaftler beteiligten sich an der Vorbereitung und Durchführung der großen Ausstellung »Berlin und die Antike«, die 1979 anläßlich des 150. Jubiläums des DAI im Schloß Charlottenburg veranstaltet wurde. Seit 1999 leitet A. Borbein die Edition der Schriften und des Nachlasses von Johann Joachim Winckelmann, des Begründers der Klassischen Archäologie in Deutschland, ein Projekt der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Wolfram Hoepfner wurde im Frühjahr 2002, Wolf-Dieter Heilmeyer im Frühjahr 2004 pensioniert. Ihre Stellen wurden gestrichen. Zum Ausgleich erhielt das Institut eine Professur der Besoldungsgruppe C 3, und diese Stelle trat im Herbst 2003 Friederike Fless an. Die neue Professorin brachte einen neuen Forschungsschwerpunkt mit: Akkulturationsprozesse im nördlichen Schwarzmeergebiet zunächst im Umkreis griechischer Siedlungen und dann unter Einfluß der römischen Kultur. Zusammen mit Kollegen aus benachbarten Fächern gründete F. Fless das Interdisziplinäre Zentrum »Alte Welt«, sie fungiert als dessen erste Sprecherin. Adolf Borbein wurde im Frühjahr 2005 emeritiert. Zum Winter 2006/2007 nahm Johanna Fabricius den Ruf auf eine Professur der Besoldungsgruppe W2 an. Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen im Bereich der griechischen und römischen Skulptur, der Archäologie der griechischen Nekropolen der Klassik und des Hellenismus, der Kultur- und Mentalitätsgeschichte hellenistischer Städte, der Körpergeschichte und der Gender Studies. Ein modularisierter Studiengang, der zu den Abschlüssen des Bacheler und des Master führt, trat mit einer neuen Studienordnung zum Winter 2005/2006 in Kraft. Eine grundlegende Veränderung technischer Art war die

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Klassische Archäologie

Verwendung der Powerpoint-Präsentation in der Lehre; sie ersetzte zunehmend die traditionelle Projektion von Diapositiven. Dreißig Jahre nach der Zäsur des Jahres 1977 hatte ein neuer Abschnitt in der Geschichte des Instituts begonnen. Er ist nicht mehr Gegenstand dieses Beitrages. Nur einige Fakten seien aufgelistet, die belegen, daß das Institut die Chance einer Neuorientierung von Forschung und Lehre nutzte: Das 2007 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bewilligte, 2012 verlängerte interdisziplinäre Exzellenzcluster TOPOI verdankt sehr viel der Initiative von Friederike Fless. Sie war auch hier die Sprecherin, bis sie 2011 die Wahl zur Präsidentin des Deutschen Archäologischen Instituts annahm. Sie blieb der FU als Professorin verbunden. Ihre Nachfolgerin am Institut wurde Monika Trümper, die zum Winter 2013/14 eine W 3-Professur übernahm. Johanna Fabricius und Andreas Scholl verstärkten erneut die traditionelle Zusammenarbeit des Instituts mit den Berliner Museen: Sie schufen 2009 mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung das »Berliner Skulpturennetzwerk« mit dem Ziel, sämtliche antiken Skulpturen im Besitz der Berliner Antikensammlung und die in Berlin vorhandenen Gipsabgüsse antiker Bildwerke in der Datenbank »Arachne« wissenschaftlich zu erfassen. Das viele Wissenschaftler auch außerhalb Berlins verbindende Projekt wurde 2013 erfolgreich abgeschlossen. Am »Berliner Antikekolleg«, einem 2011 gegründeten Verbund aller in Berlin ansässigen Institutionen, die Altertumswissenschaften betreiben, war das Institut von Anfang an beteiligt. Eine neu geschaffene Juniorprofessur mit dem Schwerpunkt Archäoinformatik wurde 2009 mit Silvia Polla besetzt. Zu Honorarprofessoren ernannt wurden 2008 Ortwin Dally, Generalsekretär des Deutschen Archäologischen Instituts, und 2009 die Architektin und Bauforscherin Ulrike Wulf-Rheidt, Leiterin des Architekturreferats des Deutschen Archäologischen Instituts. Als Vakanz-Vertreter bereicherten zeitweise Christof Berns und Norbert Eschbach das Lehrangebot. Martin Langner habilitierte sich im Winter 2012 mit der Arbeit »Meisterwerk und Massenware. Chronologie, Dekor und Funktionen spätrotfiguriger Vasen aus Athen«. Häufiger als zuvor waren Mitarbeiter und Studierende des Instituts an verschiedenen Orten des Mittelmeer- und Schwarzmeergebietes an Ausgrabungen oder Surveys beteiligt. Voraussetzung dafür, daß der notwendige Wandel beim Personal und in der Forschung sich organisch vollzieht und nachhaltig wirkt, ist die Fortdauer der Institution: das Institut mit seiner Bibliothek, seinen Sammlungen und mit einem die Infrastruktur gewährleistenden Personal- und Sachmittel-Etat. November 2013

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Literatur Adolf Heinrich Borbein, Klassische Archäologie in Berlin vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: Willmuth Arenhövel / Christa Schreiber (Hg.), Berlin und die Antike. Aufsätze, Berlin 1979, S. 99-150. Christoph Börker, Friedrich Wilhelm Goethert †, in: Gnomon 51, 1979, S. 509-511. Nele Schröder / Lorenz Winkler-Horacek (Hg.), …von gestern bis morgen. Zur Geschichte der Berliner Gipsabguß-Sammlung(en), Rahden/Westf. 2012

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Ursula Moortgat-Correns † Die Vorderasiatische Altertumskunde Ein neues akademisches Lehrfach

»Jeder von uns … in der Wissenschaft weiß, daß das, was er gearbeitet hat, in 10,20,50 Jahren veraltet ist. Das ist das Schicksal, ja: das ist der Sinn der Arbeit der Wissenschaft, dem sie ... unterworfen und hingegeben ist: jede wissenschaftliche ›Erfüllung‹ bedeutet neue 1 ›Fragen‹ und will ›überboten‹ werden und veralten.« (Max Weber)

I. a

Zur Person des Professors

Das Fach der Vorderasiatischen Altertumskunde in Deutschland ist als akademisches Lehrfach auf das Engste verbunden mit der Gründung der Freien Universität Berlin im Jahre 1948. Der Lehrstuhl wurde eigens geschaffen für Prof Dr. Anton Moortgat 2, seit 1940 Kustos und Professor an der Vorderasiatischen Abteilung der Staatlichen Museen Berlin, der damit einem Ruf von Prof Dr. Edwin Redslob, geschäftsführendem Rektor der neu zu gründenden Freien Universität Berlin, folgte. Die Verhandlungen zogen sich vom 14.9.20.10.1948 hin. Moortgat, von Haus aus Klassischer Archäologe, hatte 1923 an der Friedrich Wilhelms-Universität zu Berlin in den Fächern Klassische Archäologie (Hauptfach), Klassische Philologie, Alte Geschichte und Kunstgeschichte promoviert mit einer Arbeit über »Das antike Torgebäude in seiner baugeschichtlichen Entwicklung«. 3 1 2 3

Max Weber, Wissenschaft als Beruf, Berlin, 1984, S. 11 ff. geb. 21.9.1897 in Antwerpen, gest. 9.10.1977 in Damme bei Brügge Als Kuriosum sei vermerkt: Der Druck der Dissertation, nach dem 1. Weltkrieg aus wirtschaftlichen Gründen nicht möglich, wurde erst nach seinem Tode – zum 100. Geburtstag des Autors – am 21.9.1997 von seinem Schüler, Prof. Dr. Rainer M. Boehmer, Direktor der Abteilung Bagdad des Deutschen Archäologischen Instituts Berlin, in den Baghdader Mitteilungen Bd. 28 (1997) auszugsweise veröffentlicht! Der Beitrag ist laut Aussage des Architekten und Bauforschers Wolfram Hoepfners, FU, auch heute noch- nach 75 Jahren – »unübertroffen und brilliant«. Zum selben Tag erschien im Tagesspiegel vom 16. Sept. 1997, S. 27 eine Würdigung seines Lebenswerkes.

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Ursula Moortgat-Correns

Während seiner anschließenden funfjährigen Tätigkeit als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter am Orient-Forschungs-Institut 4 des Max. Freiherrn von Oppenheim, Berlin Charlottenburg, Savigny-Platz, seinerzeit weithin wohlbekannter Forschungs-Reisender und weltberühmter Ausgräber des Tell Halaf in Nordost- Syrien in den Jahren 1911-13 sowie 1927 und 1929, kam Moortgat zum ersten Mal mit dem ihm bis dahin völlig fremden Alten Orient in Berührung, und seine Aufgabe bestand hauptsächlich darin, die Ergebnisse der Grabung Tell Halaf für die Publikation vorzubereiten. Diese Tätigkeit befähigte ihn nur wenig später, sich 1929 um eine gerade freigewordene Stelle an der Vorderasiatischen Abteilung der Staatlichen Museen Berlin mit Erfolg zu bewerben. Es war eine glückliche Fügung, daß just zu diesem Zeitpunkt Walter Andrae, der Ausgräber von Assur zu Anfang dieses Jahrhunderts, kurz zuvor Direktor der Vorderasiatischen Abteilung geworden, einen Mitarbeiter suchte zum Aufbau dieser Abteilung, die 1930 endlich – nach jahrelanger unzulänglicher Unterbringung – jetzt in dem südlichen Flügel des gerade fertiggestellten Pergamon-Museums ein repräsentatives Domizil erhalten sollte. Fußend auf den umfangreichen Denkmäler-Kenntnissen, die Moortgat während seiner Tätigkeit bei Freiherrn von Oppenheim gewonnen hatte, in Verbindung mit vielfachen Fragestellungen, die sich bei der Auswertung des Materials zu den TELL-HALAF-PUBLIKATIONEN ergeben hatten, erschienen in den dreißiger und vierziger Jahren in kurzer Folge grundlegende Arbeiten in Form von Büchern, Aufsätzen und Rezensionen zu allen brennenden Fragen und Themen, die sozusagen nur darauf gewartet hatten, in Angriff genommen zu werden. Am 5. November 1929 hatte Moortgat seine Stelle als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter bei den Staatlichen Museen angetreten, und in den nun folgenden zwei Jahrzehnten seiner Museums-Arbeit als Kustos und Professor, verbunden mit der Lehrtätigkeit als Honorar-Professor seit 1941 an der Friedrich-Wilhelms-Universität, erwarb er sich die umfassenden Kenntnisse und Voraussetzungen, die ihn später befähigten, die Vorderasiatische Altertumskunde, wie er das Fach übergreifend nannte, als selbständige Disziplin an der neu zu gründenden Freien Universität zu etablieren.

I. b

Zur Person der Assistentin

Moortgat-Correns, Dr. phil., Schülerin und spätere Frau des oben vorgestellten Ordinarius, hatte in den Jahren 1940-45 Vorderasiatische und Klassische Archäologie, Griechisch, Ägyptologie, Alte Geschichte und Philosophie an der Friedrich Wilhelms-Universität Berlin studiert und am 16. April 1945 –

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zu dem auch noch das Tell-Halaf-Museum, Berlin-Charlottenburg, Franklinstr. 6, gehörte

Vorderasiatische Altertumskunde

die Russen standen schon vor den Toren Berlins – in den vier zuerst genannten Fächern promoviert. Was sich hier und jetzt so leicht hinschreiben läßt, war aber seinerzeit mit großen Schwierigkeiten verbunden: Es existierte ja noch kein akademisches Lehrfach »Vorderasiatische Archäologie«, weder in Berlin noch anderswo in Deutschland, es gab seit 1941 nur eine Honorar-Professur für dieses Fach, deren Inhaber aber kraft der Universitätsgesetze keine Prüfungs-Erlaubnis besaß. Der Wille versetzt Berge, so sagt man, und es gelang wider Erwarten und zum grenzenlosen Erstaunen aller Beteiligten, diese Klippe zu umschiffen und mit einer einmaligen Ausnahme-Genehmigung durch den Ordinarius für Klassische Archäologie, Prof Rodenwaldt sowie den Dekan der Philosophischen Fakultät, den Ägyptologen Prof. Grapow, eine Prüfung in Vorderasiatischer Archäologie als erstem Hauptfach (mündlich und schriftlich) abzulegen: Damit war die Autorin die erste anerkannte Vorderasiatische Archäologin in Deutschland, erhielt unmittelbar nach dem bestandenen Examen die Stelle eines wissenschaftlichen Hilfsarbeiters an der Vorderasiatischen Abteilung der Staatlichen Museen und wurde bei der Berufung von Prof. Moortgat (s.o.) zugleich als Instituts-Assistentin miteingestellt. Wenig später erhielt sie zusätzlich einen Lehrauftrag. Sie hat dann während der folgenden zwei Jahrzehnte das Institut – anfangs ohne jegliche Hilfskräfte – aufgebaut mit der heute besten Fachbibliothek in Deutschland, hat mitgewirkt an der Betreuung der Studenten (insgesamt 15 Hauptfachlern und einer größeren Anzahl von Nebenfächlern), hat die Grabungen teilweise in eigener Verantwortung bis 1985 durchgeführt und wurde für all das an der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz mit dem vom Stifterverband der Deutschen Wissenschaft für das Jahr 1966 vergebenen Preis ausgezeichnet.

II.

Vom Untergang des Alten Orients im 7./6. Jh. v. Chr. über seine Wiederentdeckung im 19. Jh. bis zu seiner Einsetzung als akademisches Lehrfach an der Freien Universität Berlin im Jahre ihrer Gründung 1948

Um einen jungen Menschen nun an dieses Fach heranzuführen, dazu gehört als erstes, ihm den Schauplatz des Geschehens vorzustellen: Vorderasien (oder auch »Der Vordere Orient«) umfaßt heutzutage die modernen Staaten Iraq, Iran, Syrien, Libanon, Israel und Jordanien, die Türkei im Norden und die Wüsten-Länder auf der arabischen Halbinsel im Süden. Nicht deckungsgleich mit diesen Staaten sind dagegen diejenigen Reiche, die sich im Altertum auf eben diesem Boden befanden. Die Vorderasiatische Altertumskunde behandelt als Kern Mesopotamien, das Land zwischen Euphrat und Tigris – das Zweistromland – und darüber

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hinaus die Randgebiete: im Norden Anatolien, im Westen Syrien, das Durchgangsland zwischen Euphrat und Nil mit Phönikien und Palästina; im Osten das Iranische Hochland und im Süden Teile der arabischen Halbinsel wie das Persische Golf-Gebiet. Die Vorderasiatische Altertumskunde beschäftigt sich ferner mit denjenigen Völkern und Kulturen, die etwa seit dem 5./4. Jh. v. Chr. – noch in prähistorischer Zeit – auf dem Boden Vorderasiens entstanden und um etwa 3000 v. Chr. mit der Erfindung der Schrift, der sogenannten Keilschrift, in das Licht der Geschichte eintraten. Diese »Keilschrift« ist denn auch für alle Zeiten das sichtbare Zeichen der Zusammengehörigkeit aller altvorderasiatischen Völker geworden. Die Geschichte des Alten Vorderasien ist – im Gegensatz z. B. zu Ägypten – nicht die Entwicklung eines einzelnen Volkes, sie ist das Ergebnis der Jahrtausende langen Auseinandersetzung eines Komplexes von Völkern, die seit Urzeiten aus den verschiedenen Teilen dieses Vorderasiatischen Raumes in Krieg und Frieden aufeinander stoßen, sich durchdringen und miteinander verschmelzen. Das Alte Vorderasien ist also ebensowenig eine ethnisch-soziologische und kulturelle Einheit wie der moderne Orient, wobei sich die Schwerpunkte des geschichtlichen Lebens, die politischen Zentren, im Laufe der Jahrhunderte mehrfach verlagert haben. Das führende, für alle Zukunft bestimmende Volk der Vorderasiatischen Welt sind die Sumerer, seit der zweiten Hälfte des 4. Jh. im südlichen Zweistromland, dem Ursprungsland und Kerngebiet aller Vorderasiatischen Kulturen, ansässig. Ihre Herkunft und ihre ethnische Zugehörigkeit ist bis heute unbekannt, ebenso wie ihre Sprache nirgends anzuschließen ist. Sie schufen um rund 3000 v. Chr. die erste Hochkultur und haben die Grundlagen in Religion und Wissenschaft für alle künftige Entwicklung gelegt, nicht zuletzt auch durch die Erfindung der Schrift, der bereits erwähnten Keilschrift. 5 Die zweite große ethnische und schöpferische Komponente, die in die Geschichte des südlichen Zweistromlandes eingreift, sind die im Laufe von zwei Jahrtausenden in mehreren Wanderungswellen aus der syrischen Wüste kommenden semitischen Nomaden. Sie haben – kraft ihrer Dynamik – die ersten Weltreiche geschaffen: das Akkadische (2. Hälfte 3. Jh.), das Babylonische (seit Beginn des 2. Jh.) und das Assyrische (im 1. Jh. v. Chr.) mit ihren Metropolen: Akkad (die Lage der Stadt ist bisher nicht bekannt), Babylon und Assur. Bleiben, mit peripherer Bedeutung, die schon oben aufgeführten Randgebiete rund um dieses Zentrum, in die zum Einen seit dem 2. Jh. eine Anzahl Völkerstämme, die sogenannten Bergvölker, von Nordosten her einwandern: 5 Von den Griechen als Ασσυρια yραμματα (»Assyrische Schrift«) gelegentlich erwähnt.

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die Hethiter in Anatolien, die Churri-Mitanni in das nördliche Zweistromland, die Kassiten nach Babylonien und zum Anderen – nicht zu vergessen – die im Westen an der Mittelmeerküste siedelnden, semitisch sprechenden Phöniker, die erstmals gegen Ende des 2. Jts. in Erscheinung treten und die uns über die Griechen unser Alphabet beschert haben. Zusammenfassend läßt sich über das Alte Vorderasien, eine der beiden Wurzeln unserer abendländischen Gesittung (die andere ist die klassische Antike) folgendes aussagen: Es ist das Land der Schrifterfindung (um 3000 v. Chr.) und das Ursprungsland unseres Alphabets; seine Leistungen auf dem Gebiet der Mathematik sind ebenso bedeutsam wie auf dem der Sternenkunde; mit der Kodifizierung des Rechts steht es an vorderster Stelle unter den alten Völkern, und auf dem Gebiet der Literatur (das älteste Epos der Welt), der Bildenden Kunst und der Architektur haben sie – diese Völker – Unvergleichliches geschaffen«. 6 Doch – ohne Frage – am weitreichendsten ist seine Ausstrahlung und Wirkung bis auf den heutigen Tag in religiösweltanschaulicher Hinsicht. Alle Weltreligionen sind auf Vorderasiatischem Boden entstanden: der altmesopotamische Marduk- und Assur-Kult im 3./2. Jh. v. Chr., gefolgt vom Zarathustra- und Jahwe-Glauben im 1. Jh. sowie dem Christentum und zuletzt dem Islam (seit 620 n. Chr.).

Der Untergang der alt-orientalischen Kulturen im 7./6. Jh. v. Chr. Als in den Jahren 614, 612 und 606 v. Chr. das weithin verhaßte Assyrische Weltreich infolge des gemeinsamen Ansturms der miteinander verbündeten Meder und Babylonier zugrunde ging und seine machtvollen Metropolen Assur, Ninive und Kalach-Nimrud am Tigris dem Erdboden gleichgemacht waren, dauerte es keine hundert Jahre, bis auch das weiter südlich, an den Ufern des Euphrat gelegene Babylon, das »Tor der Götter« und Hauptstadt Babyloniens seit dem 2. Jh. v. Chr., von dem Perserkönig Kyros im Jahre 539 erobert wurde und seiner Eigenstaatlichkeit für alle Zeiten verlustig ging. Die Vernichtung dieser beiden großen Rivalen, der Hauptakteure der politischen. Geschichte Alt- Vorderasiens, hatte zur Folge, daß die 3000 Jahre alte mesopotamische, stark religiös geprägte und führende Kultur des Euphrat- und Tigrisgebietes in mehr oder weniger kurzer Zeit der Vergessenheit anheimfiel.

Die Überlieferung Einzig durch antike Schriftsteller zwischen dem fünften vorchristlichen und dem ersten nachchristlichen Jahrhundert sowie durch die Bibel wurde die Er-

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Wozu auch – nicht zu vergessen – die älteste Bibliothek und das erste Museum seiner Art gehören.

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innerung an die glanzvolle Vergangenheit des »Alten Orients« 7, speziell der beiden oben genannten Weltreiche, wachgehalten: So gibt Herodot, der »Vater der Geschichte«, eine ausführliehe Beschreibung von seinem Besuch Babylons um 460 v. Chr., und der Historiker Xenophon berichtet von seinem etwa 60 Jahre später stattgefundenen mehrjährigen Kriegszug durch Vorderasien gegen den Perserkönig Artaxerxes, bei dem er u. a. mit seinen griechischen Truppen seiner Beschreibung nach an Assur und Ninive – den einstigen assyrischen Residenzen – (achtlos) vorbeimarschiert sein muß, ohne daß es ihm bewußt wurde, weil die ehemalige Existenz dieser Städte bereits aus dem Gedächtnis der jetzt dort Lebenden geschwunden und die Namen vergessen waren. Und ebenfalls enthält die Bibel zahlreiche Schilderungen von kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und den Großmächten Assyrien und Babylonien im 1. Jh. v. Chr. Am bekanntesten ist vielleicht die Erzählung von der babylonischen Gefangenschaft der Juden durch den babylonischen König Nebukadnezar II. im 6. Jh. v. Chr. sowie die phantastische Geschichte vom Turmbau zu Babel – dem Hauptheiligtum des Gottes Marduk –, dessen »vermessene« Höhe von 90 Metern (!) 8 die Ursache der von ihrem Gott Jahwe veranlaßten babylonischen Sprachverwirrung gewesen sein soll, während die Stadt Ninive als derjenige Ort im Gedächtnis der Nachwelt haften blieb, an dem der Prophet Jonas von einem Walfisch verschlungen und wie durch ein Wunder gerettet wurde. Beide Ereignisse haben die Gemüter durch die Jahrhunderte heftig bewegt und die Künstler immer wieder veranlaßt, das entsprechende Geschehen im Bild festzuhalten. Das bekannteste Beispiel ist die Darstellung des babylonischen Turms seit dem 11. Jh. auf Elfenbeinen, Kapitellen, Gemälden und Miniaturen, so auf einem der berühmten Tafelbilder Pieter Breughels, einem reinen Phantasie-Produkt des Künstlers, denn vom Turm zu Babel gab es zu jener Zeit kaum einen Ziegel mehr: er war bereits auf Befehl Alexanders des Großen zum Zwecke eines Neubaus fast gänzlich abgetragen, der aber infolge seines plötzlichen Todes in Babylon im Jahre 323 dann unterblieb. Nach einem längeren Intervall von rund 1000 Jahren, in denen keinerlei Kunde vom Alten Orient mehr nach Europa drang – die letzte Erwähnung Babylons aus der Feder eines antiken Schriftstellers stammt aus dem Beginn des 2. Jh. n. Chr. –, begannen zur Zeit der Kreuzzüge zum ersten Mal wieder, durch Berichte und Erzählungen von Pilgern, spärliche Nachrichten aus dem Heiligen Land nach Europa zu gelangen, und diese Kontakte führten auch 7 Die Bezeichnung wurde Ende des 19. Jh. von der Keilschrift-Forschung geprägt. 8 Man kann sich eines Lächelns kaum erwehren: Der sogenannte Turm zu Babel, die Zikkurat des Gottes Marduk, hat eine Höhe und Seitenlänge von 91 Metern und liegt damit zum Beispiel weit unter dem Maß der Cheops-Pyramide mit einer Höhe von ursprünglich 146 und einer Seitenlänge von 230 Metern oder der des Petersdoms mit einer Höhe von 132 und einer Länge von 194 Metern.

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bald darauf, seit dem 14. Jh., zu einer Neubesinnung und vagen WiederErinnerung an ein vergangenes, vorchristliches mehrtausendjähriges Zeitalter auf vorderasiatischem Boden. In den folgenden Jahrhunderten gab es dann auch bereits die ersten Reisenden, von Beruf Gelehrte, Ärzte, Kaufleute, Missionare und Ordenspriester, die sich weniger aus wissenschaftlichem Forscherdrang als vielmehr aus Abenteuerlust oder christlichem Interesse vor allem aus Deutschland, England, Frankreich und Italien auf den beschwerlichen und gefahrvollen Weg in den Nahen Osten aufmachten. Im 17. und 18. Jh. änderten sich Planung, Zielsetzung und Durchführung der Reisen: Wissensdrang und Forscherlust gewannen nun die Oberhand, historisches, naturwissenschaftliches und geographisches Interesse waren jetzt die treibende Kraft. Man fand z. B. die Stelle des alten Ninive am linken Tigris-Ufer, gegenüber von Mosul, wieder und konnte die Lage von Babylon, mit seiner 18 km langen Stadtmauer, eines der sieben Weltwunder, unschwer identifizieren. Man schrieb jetzt lange, ausgezeichnete Reiseberichte und brachte Proben babylonischer Altertümer, mit Vorliebe die sehr begehrten Keilschrift-Tafeln mit nach Hause, und all das zusammen erwies sich als der erste Schritt zur Wiederentdeckung der vor mehr als 2000 Jahren untergegangenen altorientalischen Kultur.

Erste Auseinandersetzung mit dem Alten Orient zu Beginn des 19. Jh. An der Erforschung des Alten Orients seit dem Beginn des 19. Jh. waren wiederum Deutsche, Engländer und Franzosen zu gleichen Teilen, aber zu unterschiedlichen Zeiten beteiligt. Im Jahre 1802 – zwanzig Jahre vor der Entzifferung der Hieroglyphen – gelang es dem deutschen Gelehrten Georg Friedrich Grotefend aus Göttingen, einem klassischen Philologen, der bis dahin keinerlei Berührung mit dem Orient gehabt hatte, den ersten Anstoß zur Entzifferung der Keilschrift zu geben: Anhand von Kopien altpersischer dreisprachiger Königsinschriften um 500 v. Chr., die einer der OrientReisenden des 18. Jh. aus Persepolis, der Residenz der persischachämenidischen Könige, nach Europa mitgebracht hatte, gelang ihm in wenigen Tagen des Rätsels Lösung: Er erkannte, daß es sich bei den drei Schriftsystemen um drei verschiedene Sprachen ein und desselben Textes handeln mußte, und zwar um altpersisch, babylonisch-assyrisch und elamisch. Damit war unaufhaltsam der erste Schritt zur Wiedererweckung der untergegangenen altorientalischen Kulturen getan. Das Interesse am Alten Orient nahm bei der europäischen Öffentlichkeit durch spannende Berichte aus dem Nahen Osten stetig zu, und auch hie und da unternommene kleinere Schürfungen konnten die Neugier der Europäer auf Dauer bald nicht mehr befriedigen.

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So fanden denn zu Beginn der vierziger Jahre die ersten Grabungen großen Stils statt, durchgeführt von Franzosen und Engländern, und die Objekte, die sie sich jetzt gezielt aussuchten, waren die alten assyrischen Königsresidenzen aus dem 1. Jh. v. Chr.: Ninive, Nimrud und Chorsabad. Das Ergebnis übertraf alle Erwartungen: Neben den großartigen spätassyrischen Schöpfungen auf dem Gebiet der Bau- und Bildkunst hat die Grabung in Ninive die erste Bibliothek von 30 000 (!) Bänden (sprich: Tontafeln) geliefert, eine unerschöpfliche Quelle zur Erforschung der babylonischassyrischen Sprache und Kultur auf Jahrzehnte hinaus. Deutschland war anfangs bei der Erschließung des Alten Orients durch Ausgrabungen, aber auch bei der Auswertung der Keilschrift-Texte ein wenig in Verzug und trat erst in der 2. Hälfte des 19. Jh. aus seiner Reserve heraus. 1874 fand die erste Habilitation für das Fach der Assyriologie statt, und ein Jahr später, 1875, wurde das erste Ordinariat in Berlin an der FriedrichWilhelms-Universität eingerichtet. Aber trotz bisher fehlender Grabungstätigkeit besaßen die königlichen Museen zu Berlin, die 1830 unter Mitwirkung Wilhelm von Humboldts gegründet worden waren, durch Ankauf u. a. eine umfangreiche TontafelSammlung sowie eine Reihe von Wandorthostaten aus den englischen Grabungen in Nimrod und Ninive. Gegen Ende des Jahrhunderts waren dann endlich alle Vorbedingungen für eine deutsche Grabungstätigkeit im Orient geschaffen, an deren Verwirklichung die 1898 gegründete Deutsche Orient-Gesellschaft (DOG), deren Protektor seit 1901 der deutsche Kaiser war, entscheidend Anteil hatte. Im Jahre 1899 entschied sich die DOG im Einvernehmen mit der Vorderasiatischen Abteilung der Königlichen Museen in Berlin für das Riesenobjekt Babylon. Achtzehn Jahre, von 1899-1917, arbeitete der bekannteste und erfolgreichste Bauforscher seiner Zeit, Robert Koldewey, ohne Unterbrechung an Ort und Stelle an der Freilegung und Rekonstruktion dieser größten und prächtigsten Metropole des Alten Orients aus dem 6. Jh. v. ehr. und legte schon bald seinen illustrierten Rechenschaftsbericht vor mit dem Titel »Das Wiedererstandene Babylon« (Leipzig 1925,4. Aufl.). Eine gewaltige Anzahl von Funden, darunter Tausende von blauglasierten Reliefziegeln und Fragmenten, die einstmals die Wände der repräsentativen Bauten dieser Weltstadt schmückten, u. a. die Thronsaalfront vom Palast Nebukadnezars II., das Tor der Göttin Ischtar sowie die damit in Verbindung stehende Prozessionsstraße, kamen nach Berlin und wurden im Verlauf dreier Jahrzehnte und unter großem Arbeitsaufwand in der Vorderasiatischen Abteilung wieder zusammengesetzt. Nur wenige Jahre später, von 1902 bis 1913, wurde als Gegenstück zu Babylon, die älteste Hauptstadt des Assyrerreiches, Assur, unter der Leitung von Walter Andrae, einem Schüler Koldeweys und späterem Direktor der Vorderasiatischen Abteilung, freigelegt, wiederum im Auftrag der Deutschen

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Orient-Gesellschaft. Hier stieß man in zahllosen aufeinanderfolgenden Schichten bis zum Beginn des 3. Jh. in die sumerischen Anfänge vor. Die Ergebnisse waren entsprechend reichhaltig und vielseitig; mit Hilfe tausender geborgener Tontafeln, die z. T. auch gesiegelt waren, ließ sich z. B. später, bei der Auswertung in Berlin, die gesamte assyrische Geschichte rekonstruieren. Hinzu kamen zahlreiche Denkmäler bisher unbekannter Form und Funktion sowie, um nur noch eine wesentliche Kunstgattung und typische Schöpfung des Alten Orients zu nennen, Hunderte von »Rollsiegeln« 9 und mit Rollsiegeln gesiegelte Urkunden. Ein großer Prozentsatz aller Assur-Funde befindet sich seitdem ebenfalls in Berlin und ist inzwischen – ebenso wie die Ergebnisse der BabylonExpedition – in eigens dafür geschaffenen Grabungspublikationen der Deutschen Orient- Gesellschaft veröffentlicht. Der Ausgräber legte später, ebenso wie Koldewey, der Öffentlichkeit den Beweis für seine geglückte Rekonstruktion und Wiedererweckung dieser Stadt mit dem so lebendig und anschaulich geschriebenen und noch dazu selbst illustrierten Bericht ,,Das Wiedererstandene Assur« (Leipzig 1938) vor. Eine dritte große Grabung noch kurz vor Beginn des 1. Weltkriegs, die diesmal eine Klärung der Sumerer-Frage des 3. Jh. bringen sollte, fand in Uruk, der geistigen Metropole Südmesopotamiens, statt. Sie sollte ihre größten Früchte aber erst nach Wiederaufnahme der Grabung im Jahr 1928 tragen und läuft seitdem- mit einigen Unterbrechungen - bis zum heutigen Tag. Doch damit nicht genug: Um zu ermessen, wieviel archäologischen und philologischen Stoff diese Vorweltkriegs-Aktivitäten für eine spätere jahrzehntelange Aufarbeitung lieferten, seien aus der Fülle der Unternehmungen noch drei weitere Forschungsprojekte, diesmal aus den nördlichen Randgebieten, genannt, die das Ansehen der deutschen Orientalistik in der Welt ungemein vermehrten: einmal die Ausgrabung von Bogazköy – der Hauptstadt der Hethiter – in Anatolien von 1906 bis 1912, wiederum ein Unternehmen der DOG, das später, 1931, wieder aufgenommen und bis zum heutigen Tag fortgeführt wird – es vermittelte die Kenntnis von Sprache, Geschichte und Kultur eines im 2. Jh. in Kleinasien eingewanderten Volkes; zum Anderen die beiden nordsyrischen Grabungen von Sendschirli von 1888 bis 1891 und Tell Halaf von 1911 bis 1913: erstere die älteste deutsche Grabung überhaupt und beispielhaft sowohl für die Methodik der Freilegung als auch in der Dokumentation der Grabungs-Ergebnisse, letztere die berühmte Privatgrabung des Max Freiherrn von Oppenheim, deren monumentale Funde an Architektur und Steinplastik später in einem eigens dafür eingerichteten Museum in Berlin, dem Tell-Halaf-Museum, Aufstellung fanden. Nordsyrien ist stets ein Durchgangsland zwischen Nord und Süd, ein Knotenpunkt der verschiedenen 9

Zylinderförmige Walzen, meist aus Stein mit negativ eingeschnittener Darstellung: eine Erfindung der Sumerer um 3000 v. Chr.

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ethnischen und kulturellen Einflüsse zwischen Ägypten und Vorderasien gewesen. Beide Grabungen lieferten eine Fülle von Zeugnissen einer Mischkultur mit überwiegend aramäischen Elementen aus der ersten Hälfte des 1. Jh.

Die schrittweise Wiedererweckung der altorientalischen Kulturen seit dem 1. Weltkrieg durch systematische Auswertung des bis dahin zusammengetragenen Materials Nach dem 1. Weltkrieg – er brachte eine deutliche Zäsur in der Vorderasiatischen Archäologie – ruhten die Grabungen allerorts erst einmal: es war die Zeit der Besinnung und Aufarbeitung des gewaltigen Materials, das sich in den Museen seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts durch Grabungen und Ankäufe aufgehäuft hatte. Es herrschte jetzt vorrangig das Bedürfnis nach Ordnung und das Verlangen einer Gesamtschau nach Lösung der verwickelten Einzelprobleme. Deutung und Datierung der künstlerischen Hinterlassenschaft sowie der Versuch, den Alten Orient in Teilbereichen oder auch vollständig künstlerisch und historisch zu gliedern, gingen Hand in Hand mit der Lesung und Interpretation Zehntausender von Keilschrift-Tafeln. Allein in Berlin, im Keilschrift-Archiv der Vorderasiatischen Abteilung, lagerten 20 000 Keilschrift-Urkunden aus Uruk, Fara und Babylon, aus Bogazköy und Assur, die ihrer Lesung, Bearbeitung und Auswertung harrten. Es handelte sich bei ihnen um religiöse Texte, um Epen und Hymnen, Beschwörungen und Rituale, um Urkunden juristischen, wirtschaftlichen und lexikalischen Inhalts sowie um Korrespondenzen – alles in allem um Texte aus nahezu allen Epochen von der Entstehung der Schrift um 3000 v. ehr. bis zu ihren letzten Vertretern um die Zeitenwende. Schon seit 1920 hatte es mehrere Ansätze gegeben, die Vorderasiatische Archäologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität als Lehrfach zu installieren, aber zumeist blieb es bei einer sporadischen Wahrnehmung des Auftrags, und im Grunde wurde sie, wenn überhaupt, mitbetreut vor allem von der Assyriologie, die bereits seit 1875 einen festen Platz in der Philosophischen Fakultät bekleidete; aber auch die Ordinarien von der Klassischen Archäologie und der Alten Geschichte nahmen sie unter ihre Fittiche, und ihre feste Heimstatt war allein das Museum, dessen Leiter aber bis 1928 ebenfalls ein Assyriologe, also ein Philologe war! Erst danach übernahm der Ausgräber von Assur, der Architekt und Bauforscher Walter Andrae – seit 1931 auch noch außerordentlicher Professor an der TH Berlin – die Vorderasiatische Abteilung, gerade zum rechten Zeitpunkt, als der gesamte Bestand 1930 vom Kaiser-Friedrich-Museum in den Südflügel des Pergamon-Baus umzog mit der Möglichkeit, nunmehr neben den ungezählten Fundgegenständen aus 12 Grabungen endlich auch die großartige Bauplastik aus den Grabungen Uruk, Babylon und Sendschirli – ein besonderer Schatz des Museums – adäquat,

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z.T. sogar in Original-Größe in den 14 bzw. 9 Meter hohen Ausstellungsräumen aufstellen zu können. Ende der zwanziger Jahre wurden auch in Deutschland die Grabungen wieder aufgenommen, nachdem sie im Ausland bereits seit Beginn dieses Jahrzehnts liefen. Inzwischen hatte sich auch auf dem Gebiet der Grabungstechnik manches grundlegend geändert: Die Entwicklung war vom Suchgraben über die Flächengrabung bis zur nun folgenden detaillierten SchichtenBeobachtung verlaufen, und nach dem Babel-Bibel-Streit galt es jetzt, nach dem 1. Weltkrieg, drei große Probleme zu lösen: die Hethiter-Frage, die Sumerer-Frage und die Vorgeschichte Vorderasiens von Kleinasien und Nordsyrien bis zum Iran, und dem entsprachen auch die Grabungsprojekte Bogazköy, Uruk-Warka sowie der Tell Halaf. Die dreißiger und die erste Hälfte der vierziger Jahre waren eine weitere Etappe für die Entwicklung der Vorderasiatischen Archäologie hin zu einer selbständigen akademischen Disziplin: gewaltige Standard-Werke von bleibendem Wert wurden in dieser Zeit geschaffen, die der Vorderasiatischen Archäologie ein festes Gerüst gaben: zum ersten Mal eine Kunst- und Kulturgeschichte (Walter Andrae 1939), eine Altertumskunde des Zweistromlandes (Viktor Christian 1940) und eine Geschichte Vorderasiens bis zum Hellenismus (Anton Moortgat 1950) sowie der Versuch einer Religionsgeschichte (M. Jastrow 1905-1912), aber auch Einzeluntersuchungen über Kompositionsgesetze anband assyrischer Palast-Reliefs und solche über Bildthemen und Motive bzw. über Formanalyse und Stilkunde einer bestimmten Epoche. Weiter war die Arbeit »Anatolien. Kunst und Handwerk einer dreitausend Jahre existierenden Kultur-Provinz« (H. Th. Bossert 1942) ein bedeutendes Werk, und nicht minder aufwendig und lehrreich waren Veröffentlichungen von Museumsbeständen, speziell die Bearbeitung und Einordnung bisher noch unbekannter Denkmäler-Gruppen wie z. B. der Rollsiegel (von denen die Vorderasiatische Abteilung allein an die 800 Stück besaß) unter dem Aspekt ihrer kulturellen und zeitlichen Zugehörigkeit (Anton Moortgat 1940).

Im Rückblick Der Zeitpunkt des aufkeimenden Interesses in Europa für den Alten Orient um die Wende vom 18. zum 19. Jh., die aktive Beschäftigung mit ihm seitdem und schließlich seine Erforschung mit Hilfe der Ausgrabungen ist nicht isoliert, für sich allein zu sehen, sondern im Zusammenhang mit gleichartigen Erscheinungen wie z. B. dem plötzlichen Entstehen und Aufblühen der Klassischen Archäologie in der zweiten Hälfte des 18. Jh., der Alten Geschichte und der Ägyptologie im 19. Jh. sowie etwas später der Islamischen Kunstwissenschaft mit dem Beginn des 20. Jh. und ist insgesamt zu werten als eine Folge der Aufklärung, beflügelt vom Zeitgeist des 19. Jh.

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Mit der Erforschung des Alten Orients seit dem 19. Jh. hat es für die Weltgeschichte eine nach rückwärts gewandte Horizont-Verlagerung gegeben. Begann die Historie bis dahin etwa mit dem Trojanischen Krieg – während über den Alten Orient höchstens antike Schriftsteller einige lückenhafte und verschwommene Kenntnisse verbreiteten – kann man seitdem die Jahrtausende lang verschollenen Original-Urkunden der Altorientalischen Völker wieder lesen und ist damit zu den Anfängen aller Geschichte auf unserem Erdball vorgestoßen.

III.

Streiflichter – Zur Inbetriebnahme und Entwicklung des Instituts für Vorderasiatische Altertumskunde im Jahre 1948

Als ich den Auftrag zu diesem Beitrag durch den Vorbereitenden Ausschuß für die 50-Jahrfeier der FU erhielt, griff ich als erstes zu dem Buch von James F. Tent 10, um mich mit seiner Hilfe nach nunmehr 50 Jahren (ohne Tagebuch geführt zu haben) wieder in die großartige Stimmung hineinzuversetzen, die uns in den Wochen vor und nach der Gründung der FU beim täglichen Aufbau der Institute – dem Heranschaffen von Möbeln und Büchern, von Büro-Material, von Geräten und Werkzeug etc. etc. – alle Schwierigkeiten überwinden ließ. Unser Institut z. B. hatte zu wenige und zu kleine Räume: Professor und Assistent, die Verwaltung und die angehende Bibliothek waren z. B. in einem einzigen größeren Raum untergebracht, der Arbeitsraum für die Studenten, zugleich Vorlesungs- und Übungsraum, bestand nur aus einem halben Zimmer. Dagegen waren alle Institute in gleicher Weise von Stromsperren und oftmals ausfallender Heizung betroffen – und daß wir an Überernährung litten, davon konnte noch lange keine Rede sein! Aber all diese Mängel konnten den allgemeinen Enthusiasmus für den Aufbau eines so großartigen Projektes nicht trüben. In der Erinnerung scheint es mir, ich hätte nie zuvor und danach wieder so viele hilfsbereite, freundliche und begeisterte junge Menschen gesehen: Die Boltzmannstraße 3-4, unser »Hauptquartier«, glich einem Ameisenhaufen, und das ungemein Sympathische an dieser ganzen Situation war die unbürokratische Handhabung aller Dinge – doch leider war es damit bald vorbei. 11 10 James F. Tent, Freie Universität Berlin (1948-1988), Eine deutsche Hochschule im Zeitgeschehen, Berlin 1988. 11 Wenn ich noch daran denke, daß ich eines Tages – es muß wohl in den sechziger Jahren gewesen sein – folgende Aufforderung von der Verwaltung erhielt: Um einer weiteren sinnlosen Verschwendung Einhalt zu gebieten, möchte ich doch bitte den wöchentlichen Verbrauch von Toilettenpapier kontrollieren und notieren! Ein sofortiger Anruf bei dem zuständigen Sachbearbeiter, daß ich mich weigern würde, diesen Irrsinn zu befolgen, brachte folgende Antwort: »Sie weigern sich also?« »Ja«, sagte ich. »Das haben andere auch schon getan. Ist damit erledigt.«, schloß er. Die Folge unseres Einspruchs: Die Rollen wurden in Zukunft am Rande

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Doch nun der Reihe nach einige Streiflichter zur Erhellung der Situation, wie sie damals an den meisten Instituten ähnlich anzutreffen war, in Einzelheiten aber bemerkenswerte Unterschiede aufwies: Unsere Vorlesungen und Übungen waren zu unserer Überraschung überfüllt und das bei einem Fach, das es bisher noch gar nicht gegeben hatte, das also weitgehend unbekannt sein mußte! Des-Rätsels Lösung: Die Philosophische Fakultät hatte anfangs nur eine beschränkte Anzahl von Professoren 12, und viele Studenten, die aus diesem Grund das Fach ihrer Wahl noch nicht hören konnten, wichen vorerst auf andere Fächer aus. Interessant war nur, daß ein großer Teil dieser Studenten blieb. Schon im 2. Semester (SS 1949) hatten wir bereits vier Hauptfächler! Das Fach erwies sich von Semester zu Semester als attraktiver. Am 15. November 1948, dem Beginn des Lehrbetriebs, fand die erste dreistündige Vorlesung mit dem Titel »Das Alte Vorderasien in seiner geschichtlichen Entwicklung« vor etwa 30 (!) Hörern statt und zwei Tage später die erste »Archäologische Übung im Anschluß an die Vorlesung« mit 18 eingetragenen Teilnehmern, von denen keiner absprang! Wir waren sprachlos. Den Höhepunkt dieses Semesters bildete dann die Gründungsfeier der FU am 4. Dezember 1948 im Titania-Palast – doch darüber ist andernorts mehrfach und ausführlich geschrieben worden. 13 Hier nur ganz kurz: Es war eine schöne, erhebende Feier, ein Fanal zu einem neuen Aufbruch. Rückblickend hat die FU ihre schönste, weil ungetrübteste Zeit mit dem unbeugsamen Willen, etwas Neues zu schaffen, in den Jahren von ihrer Gründung 1948 bis zur Mitte der sechziger Jahre gehabt, also knapp 20 Jahre. J. F. Tent spricht von ihr als von dem kleinen, tapferen Unternehmen, das 1949 mit 2000 Studenten ganz unkonventionell und produktiv begonnen hatte. 14 Bemerkenswert ist, daß die hohen Anforderungen, die von Seiten des Ordinarius an all diejenigen Studenten gestellt wurden, die sich als Hauptfächler eingeschrieben hatten, wortlos akzeptiert wurden. Voraussetzungen für das Studium der Vorderasiatischen Archäologie waren: 1. das (große) Latinum, 2. das Graecum. Als 2. Hauptfach war die Altorientalische Philologie (Keischriftforschung) Pflicht. Dazu folgten noch weitere Warnungen und Hinweise, u. a. Studiendauer mit Abschluß der Promotion etwa 12-14 Semester. All dies schreckte indes keinen der studentischen Aspiranten ab. Eine einzige Ausnahme bildete ein ansonsten ausgezeichneter, aber etwas bequemer Student, der über die Auflage, noch Griechisch lernen zu müssen, so verärmit der Aufschrift »Freie Universität Berlin« in grüner Farbe bedruckt, und damit war jeder Mißbrauch außer Haus weitgehend ausgeschlossen. 12 Im WS 1948/49 gab es an der Philosophischen Fakultät erst 43 Lehrkräfte, davon 13 Ordentliche Professoren, 29 Honorar-Professoren und Lehrbeauftragte und nur 1 Dozenten. 13 Vgl. James F. Tent S. 189 ff. 14 a.a.O. S.495

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gert war, daß er eines Tages hoch erhobenen Hauptes um eine Unterredung mit dem Professor bat, bei der er ihm das Attest seines Arztes vorlegte, in dem dieser ihm bescheinigte, eine psychische Sperre gegen Griechisch zu haben! Andernfalls, fügte der Student mit leicht drohendem Unterton hinzu, müsse er mit dem Studium sofort aufhören und sich auf dem Arbeitsamt als arbeitslos melden. Der Professor entschied ungerührt, er möge das tun. Nie wieder wurde über diese Angelegenheit gesprochen: Der Student blieb, absolvierte sein Graecum innerhalb einer angemessenen Zeit und bestand seine Prüfung auch noch ohne Zeitverlust. Gravierender noch als all die Auflagen, um in dem Fach zu promovieren, waren die Aussichten auf eine Anstellung danach: nämlich keine! Jeder der betreffenden Studenten wurde gewarnt, es sei denn, er würde nach dem beendeten Studium eine mehr oder weniger lange Durststrecke in Kauf nehmen! Diese brutale Abschreckung hing natürlich damit zusammen, daß das Fach mit Beginn dieses 1. Semesters (WS 1948/49) erst einmal im Entstehen begriffen war und Stellen sich nicht von heute auf morgen aus dem Boden stampfen ließen. Es gab bisher als einzige wissenschaftliche Institution in Deutschland die damals schon ob ihrer grandiosen Schätze weltberühmte Vorderasiatische Abteilung der Staatlichen Museen in Berlin, doch diese befand sich im russischen Ost-Sektor der Stadt und schied von vornherein für die spätere Unterbringung der Kandidaten aus. 1954, nach 12 Semestern, legten die ersten vier Studenten ihre Promotion mit ausgezeichneten Noten ab, und nach etwas weniger als einem Jahr – wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht – waren diese Spitzen-Reiter, wenn auch nicht gerade fürstlich, so doch erst einmal bescheiden versorgt mit Stipendien der DFG, mit Aufträgen von privaten Stiftungen, mit Werkverträgen von Auslands-Abteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts oder als Hilfskräfte am Vor- und Frühgeschichtlichen Museum Berlin. Einige hatten sogar das große Glück, ein einjähriges Reisestipendium des Deutschen Archäologischen Instituts zu erhalten. Ein weiterer Punkt, der heute zu Demonstrationen Anlaß gibt, an dem aber damals niemand Anstoß nahm, waren Studien-Gebühren! Wie überhaupt die Freude, endlich ohne Zwang studieren zu können, alles überwog. Rückblickend erscheint mir das ausgezeichnete Verhältnis zwischen der Studentenund der Professorenschaft unabhängig des Altersunterschieds auf Vernunft und der Einsicht zu beruhen, nur durch Einigkeit das gemeinsam angestrebte Ziel zu erreichen. Das Ergebnis der 20-jährigen Lehrtätigkeit des Ordinarius für »Vorderasiatische Archäologie« waren: 15 Dissertationen mit hervorragenden Ergebnissen, deren Autoren mit der Zeit alle ausgezeichnete Stellungen bekleideten und weitgehend neben ihrer eigenen Lehr- und Forschungstätigkeit auch

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noch sehr ergebnisreiche Ausgrabungen auf dem Boden Vorderasiens betrieben; weiter eine größere Anzahl von Magister-Arbeiten und 4 Habilitationen. Wie vielseitig und breit gestreut das Spektrum der Dissertations- Themen war, kann hier aus Platz-Mangel nicht mehr demonstriert werden. Sie sind aber vollständig aufgeführt, ebenso wie die Vorlesungen und Übungen von Professor Moortgat über einen Zeitraum von fast 25 Jahren, in den »Kleinen Schriften« 15, die einer seiner arabischen Schüler herausgegeben hat. Außer deutschen Studenten hatten wir auch noch eine kleine Anzahl Ausländer, vornehmlich Syrer, vereinzelt aber auch Italiener und Türken sowie von Zeit zu Zeit einige Gasthörer. Zur Verbreitung des Faches in Deutschland heute: 4 Ordinariate (C4) in: Berlin, München, Halle, Freiburg/Br. 6 Extra-Ordinariate (C3) in: Berlin, Frankfurt/M., Heidelberg, Mainz, Tübingen, München (bis vor kurzem auch noch in Köln und Saarbrücken). Eine ganze Anzahl unserer ehemaligen Schüler sind im Deutschen Archäologischen Institut in Berlin (DAI) untergebracht, andere in den AuslandsInstituten des DAI in: Istanbul, Bagdad, Damaskus, Teheran und Sana. Alle sind habilitiert. Direktorin des Vorderasiatischen Museums in Berlin ist gerade eine Vorderasiatische Archäologin geworden. Alles in allem: Es hat sich gelohnt.

Literatur Hilprecht, H., Die Ausgrabungen in Assyrien und Babylonien, 1904. Andrae, W., Die Vorderasiatische Abteilung in: Staatliche Museen zu Berlin, Gesamtführer, 1930. Moortgat, A., Geschichte Vorderasiens bis zum Hellenismus, München 1950. Ders., Einführung in die Vorderasiatische Archäologie, 1971. Renger, J., Die Geschichte der Altorientalistik und der Vorderasiatischen Archäologie in Berlin von 1875-1948, in: Berlin und die Antike, 1979. Klengel-Brandt, E., Der Turm von Babylon, 1982. Tent, James F., Freie Universität Berlin (1948-1988), Eine deutsche Hochschule im Zeitgeschehen, Berlin 1988. Vorlesungsverzeichnis Winter-Semester 1948/49 VERITAS – JUSTITIA - LIBERTAS, Gründungsfeier Freie Universität Berlin, Blaschkerdruck Berlin 1949.

15 Anton Moortgat, Kleine Schriften zur Vorderasiatischen Altertumskunde (19271974), Bd. 11 (1990), Damaskus-Tartous 1990, Amani Verlag (Rudolf Habelt Verlag, Bonn, in Kommission).

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Klaus Bruhn Das Institut für Indische Philologie und Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin

Einleitung Indologie wurde von 1821 bis 1945 an der Berliner Friedrich-WilhelmsUniversität gelehrt. Nach der Teilung Berlins durch die Mauer im Jahre 1961 blieb die Indologie unter wechselnden Bezeichnungen, zuletzt unter dem Namen Südasien-Wissenschaften, an der Humboldt-Universität zu Berlin im Ostteil der Stadt und machte 1963 eine Neu-Gründung dieser Forschungsrichtung an der Freien Universität Berlin im Westteil Berlins unvermeidlich. Hier entwickelten sich im Laufe der Zeit verschiedene Arbeitsrichtungen, so daß die FU-Indologie bald aufhorte, ein Einzelfach im üblichen Sinne zu sein. Indologie (Sanskrit) wurde seit 1949 von dem Iranisten Olaf Hansen im Rahmen des Faches Indogermanische Sprachwissenschaft gelehrt, seit 1954 im Rahmen des bereits früher gegründeten, aber nunmehr deutlich von der Indogermanischen Sprachwissenschaft getrennten Doppelfaches IndoIranische Philologie. Seit 1955 lehrte dort auch Heinz-Jürgen Pinnow (Professur im Jahre 1964) Indologie. 1964 war die Indologie dann als selbständiges Seminar eingerichtet (Gründung des Lehrstuhls 1963), und nunmehr gab es statt der Indo-Iranischen Philologie das Seminar für Iranistik (O. Hansen) und das Seminar für Indische Philologie (Frank-Richard Hamm, seit 1964). F.-R. Hamm ging bereits 1965 nach Bonn. Eine längere Tätigkeit blieb ihm dort versagt: Er verstarb im Jahre 1973. Sein Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl wurde 1966 Klaus Bruhn. Seit 1959 lehrte Herbert Hartel, seit 1963 Direktor des Museums für Indische Kunst, das Studienfach Indische Kunstgeschichte (Honorarprofessur 1965). Im Jahre 1967 kam Chandrabhal B. Tripathi an das Institut (zunächst als hauptberuflicher Lektor für neuindische Sprachen, seit 1971 als Professor für Indische Philologie). Mit der Berufung von Adalbert J. Gail im Jahre 1974 wurde die Indische Kunstgeschichte am Institut fest verankert. H.-J. Pinnow las seit dem Jahre 1972 auch Altamerikanistik (am Lateinamerika-Institut der FU). H.-J. Pinnow wurde 1985 pensioniert, C. B. Tripathi 1989. Als Nachfolger von C. B. Tripathi wurde 1990 Helmut Nespital berufen (vorher Universität Bamberg), womit die neuindische Philologie als gleichberechtigter Schwerpunkt neben der altindischen Philologie etabliert wurde. 1991 wurde K. Bruhn pensioniert. 1993 trat

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Harry Falk die Nachfolge an, nachdem er mehrere Semester die Vertretung wahrgenommen hatte. 1996 verstarb C. B. Tripathi. Es habilitierten sich H.-J. Pinnow (1957: Indologie), C. B. Tripathi (1971: Indische Philologie), A. J. Gail (1978: Indische Philologie und Kunstgeschichte), H. Nespital (1980: Indische Philologie), Martin Pfeiffer / Berlin (1990: Indische Philologie), Joachim K. Bautze / Heidelberg (1990: Indische Kunstgeschichte), K. Butzenberger / Tübingen (1993: Indische Philologie), und Gerhard Ehlers / Berlin (1998: Indische Philologie).

Hochschulpolitischer Rückblick Zur Geschichte des Faches gehört der hochschulpolitische Rückblick. Die Studentenbewegung führte zu Turbulenzen am Institut (vorübergehend Rote Zelle Indologie?), die Einrichtung von Fachbereichen (Universitätsgesetz von 1969) loste kontroverse Diskussionen über die Zuordnung der Indologie aus (FB 18 oder der mehrheitlich linke FB 11?). Schließlich erfolgte die Zuordnung zum FB 18/Kunstwissenschaften, dem das Institut bis zur Auflosung des FB 18 angehörte (WS 1970/71 bis zum SS 1976); seit dem WS 1976/77 ist es Teil des Fachbereichs Altertumswissenschaften (ehemals FB 14). Beginnend mit dem SS 1973 führt das Institut seine jetzige Bezeichnung (197173: Seminar für Indische Philologie und Kunstgeschichte). In den siebziger Jahren wurde das Thema der neuen Studienpläne innerhalb der Fachbereiche und Institute in sich lang hinziehenden Diskussionen behandelt. 1978 forderte der Senator für Wissenschaft und Kunst dann die Fachbereiche definitiv auf, Studienplane zu erstellen. Die Studienordnungen für die Indische Philologie und die Indische Kunstgeschichte wurden ausgearbeitet und genehmigt (1981 und 1983). Der Magister artium wurde 1978 zur Voraussetzung für die Promotion, was in der Praxis bedeutete, daß die Studierenden in der Regel jetzt nur noch bis zum Magister studierten. Die neuen Bestimmungen waren einschneidend, brachten aber die nötige Konsolidierung. Seit der Wende im Jahre 1989 können die Studierenden auf Südasien bezogene Fächer sowohl an der FU Berlin als auch an der HU Berlin studieren. Hierbei besteht seit 1993 folgende Fächerverteilung: Am »Institut für Indische Philologie und Kunstgeschichte« können Indische Philologie mit den Schwerpunkten altindische Sprachen und neuindische Sprachen und Indische Kunstgeschichte studiert werden, am (jetzt so bezeichneten) »Seminar für die Geschichte Südasiens« der HU Berlin hingegen Geschichte Südasiens, unterteilt in Altere und Neuere Geschichte. Die Institutszeitschrift Berliner Indologische Studien erscheint seit 1985 (1.1985 - 11/12.1998). Berlin hat verschiedene Vereine und Institutionen, die sich mit der Vermittlung indischer Kultur befassen. Bisher ergab sich in zwei Fallen Zusammenarbeit mit dem Institut: 1971 wurde die Deutsch-Indische

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Indische Philologie

Gesellschaft Berlin gegründet (Vorsitzende H. Hartel, K. Bruhn, C. B. Tripathi und seit 1996 Jürgen Lutt von der HU Berlin), 1993 die Gesellschaft für indo-asiatische Kunst Berlin (im Vorstand auch die Herren A. J. Gail und Gerd J. R. Mevissen vom Institut).

Die Stellung der Indologie Die Stellung der Indologie bedarf der Erläuterung. Sie unterlag (und unterliegt) seit den Diskussionen der siebziger Jahre der Gefahr der Einordnung bei den sogenannten Orchideenfächern, obschon Umfang und Aktualität des Gebietes für jedermann erkennbar waren. Hinweise auf die »Vielzahl »der indischen Sprachen und Religionen und auf das Alter der indischen Kultur erfolgten bei entsprechenden Gelegenheiten, blieben aber meist abstrakt und konnten der Öffentlichkeit kaum eine Vorstellung vom Umfang des Faches vermitteln. Die verschiedenen am Institut vertretenen indologischen Interessenrichtungen spiegeln sodann keine Zersplitterung der Anstrengungen (in einem vielfach auf »Konzentration« festgelegten akademischen Umfeld), sondern sind angesichts des weiten Bereichs, der ganz unterschiedliche Interessen erfordert und weckt, eine natürliche Entwicklung. In der Vergangenheit wurden verschiedene Projekte des Instituts durch Gewahrung von Drittmitteln unterstutzt. über die wissenschaftliche Arbeit am Institut informiert die nachstehende Übersicht, beginnend jeweils mit dem amtierenden Fachvertreter (berücksichtigt wurden im wesentlichen habilitierte Institutsmitglieder sowie am Institut Habilitierte).

Indische Philologie: Schwerpunkt altindische Sprachen und Literaturen H. Falk. Im Anschluß an seine Studien zur vedischen Kultur und zur Geschichte der Schrift in Indien konzentriert sich H. Falk in Lehre und Forschung am Institut auf zwei Schwerpunkte. Ausgehend von den Tausenden von indischen Handschriften im Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin, verstärkt durch die Filme des Nepal-German Manuscript Preservation Projects, am selben Ort ver- wahrt, werden in eigenen Arbeiten und in Hausarbeiten von Magisterkandidaten und Promovenden Texte zum altindischen Rechtswesen (dharmaõ±stra) kritisch, teils erstmals, herausgegeben. Besondere Aufmerksamkeit erhalten hierbei die Texte der spatklassischen Periode (etwa ab 700 n.Chr.), die bislang noch nicht einmal umfassend beschrieben sind. Die indische Epigraphik bildet den zweiten Schwerpunkt. Neben in schriftlichen Texten aus der Anfangsphase der Schriftkultur in Indien (etwa ab 250 v.Chr.) in der weitverbreiteten Br hm -Schrift gilt das besondere Augenmerk den zeitgleichen Quellen in der Kharoh-Schrift, die vorwiegend aus dem

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Norden des heutigen Pakistan stammen. Die Forschung auf diesem Gebiet war bislang auf eine Handvoll Spezialisten beschränkt, alle außerhalb Deutschlands tätig. Als Ergebnis der Forschungen auf beiden Gebieten hat H. Falk seit 1993 mehrere Aufsatze veröffentlicht. Auf dem Gebiet der Handschriftenbearbeitung steht eine Neuedition des V sihadharmastras vor dem Abschluß. Auf dem Gebiet der Epigraphik wird im Rahmen eines langjährigen DFG-Projekts ein Photo-Atlas der Edikte A okas erscheinen. J. Pinnow (Indische Philologie und Altamerikanistik). Der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Arbeiten von J. Pinnow lag bzw. liegt auf der historischen und vergleichenden Sprachwissenschaft in relativ weiter Fächerung: Neben indogermanischen, dravidischen und tibeto-birmanischen Sprachen sind in besonderer Weise die austro-asiatischen Sprachen (Munda, MonKhmer) und nordamerikanische Indianersprachen (vorwiegend Na-Dene, das sind Haida, Tlingit, Eyak, Athabaskisch) in die Tätigkeit einbezogen. Es liegen rund 140 Veröffentlichungen vor, dazu zahlreiche, z.T. umfangreiche Manuskripte. Dieser Ausrichtung entsprechend, aber nicht ausschließlich, waren die Vorlesungen und Übungen an der FU aufgebaut: Neben Vorlesungen über indische Mystik und religionswissenschaftlich ausgerichteten Übungen über Texte wie Rgveda, Upanisaden und Bhagavadgītā standen Vorlesungen über Sprachen und Volker Indiens, historische SanskritGrammatik und Verwandtes auf dem Programm. Dazu fanden Kurse für neun Sprachen statt: Altindisch (Vedisches und Klassisches Sanskrit), Mittelindisch (Pali, Prakrit), Klassisches und Umgangstamil, Klassisches Tibetisch, Mundari (Bihar), Khmer (Kambodscha); ferner, auf dem Gebiet der Altamerikanistik, die extrem schwer zu erlernenden Sprachen Navaho (Arizona und New Mexico), Tlingit (Südost-Alaska) und Haida (West-Kanada, SüdAlaska). – Feldarbeit in Indien 1958/59 (bei den Munda, Ho, Birhor, Kharia, Juang, Car-Nikobar, ferner Kurukh, Toda u. a.). Zusätzlicher Schwerpunkt nach der Pensionierung: die zum Aussterben verurteilten deutschen Dialekte der Danziger Gegend (Westniederpreußisch). K. Bruhn und C. B. Tripathi. K. Bruhn war auf die Literatur und Kunst der Jainas spezialisiert und konnte in Berlin zusammen mit C. B. Tripathi auf diesem Gebiet arbeiten. C .B. Tripathi, Waldschmidt-Schüler, hatte sich zuvor mit Turfan- Handschriften befaßt. Während heute in den angelsächsischen Ländern der mittelalterliche und neuere Jainismus im Vordergrund stehen, befaßt sich die kontinentale Jainismus-Forschung (z.Zt. Frankreich und Deutschland, einzelne Forscher auch in Schweden und anderen Ländern) nicht ausschließlich, aber vornehmlich mit dem alten bzw. ältesten Jainismus. Am Berliner Institut wurde zur Erhellung einer wichtigen Phase des alten Jainismus – Niryuktis und verwandte Texte – eine alphabetisch geordnete Kartei (ca. 50 000 Karten für ebenso viele Verse) erstellt. Die in einer sehr umfangreichen Kommentarliteratur entschlüsselten metrischen Niryuktis behandeln nahezu alle Gebiete der religiösen Überlieferung der Jainas. Die

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Konkordanz ist ein unentbehrliches Arbeitsinstrument für die Forschung über den alten Jainismus; ihre Benutzung setzt allerdings Vertrautheit mit der meist im Telegrammstil abgefaßten Niryukti-Literatur voraus. Der Initiator der Arbeit auf diesem Gebiet war der Straßburger Indologe Ernst Leumann (1859-1931). Leumanns bahnbrechende, aber au erst subtile Untersuchungen wurden freilich nicht als Anreiz zur Fortsetzung der Arbeit empfunden. Die sprachlich und inhaltlich ungewöhnliche Materie erfordert zudem abgesehen von erheblichem Zeitaufwand gewisse methodologische Vorklärungen. K. Bruhn und C. B. Tripathi haben in einer Reihe von Aufsätzen versucht, die Gesamtsituation im Bereich der Niryukti- Literatur deutlich zu machen und Anregungen für die künftige Forschung zu liefern (dabei Zusammenarbeit mit Jaina-Spezialisten an anderen Universitäten). Das magnum opus von C. B.Tripathi, der Straßburger Katalog (Katalogisierung der von Leumann angelegten Straßburger Handschriftensammlung), betrifft z.T. ebenfalls die zur Rede stehende Thematik. C. B. Tripathi hat abgesehen von einem in Angriff genommenen, aber nicht zu Ende geführten Katalogisierungsprojekt in London (späte Jaina-Handschriften) in Anknüpfung an seine Göttinger Dissertation Fragmente einer buddhistischen Handschrift aus Gilgit in monographischer Form publiziert. K. Bruhn hat sich außerhalb der Niryukti-Arbeit in verschiedenen Untersuchungen mit Problemen der Jaina-Ethik und mit der Systematik der Jaina-Ethik befaßt. M. Pfeiffer. Angeregt durch J. Pinnow promovierte M. Pfeiffer mit den Elements of Kuŗux Historical Phonology, einer Arbeit aus dem Gebiet der vergleichenden Dravidistik (Ermittlung proto-dravidischer Wortformen auf vergleichender Grundlage), in der zugleich Fragen nach Wechselwirkungen zwischen sudasiatischen Sprachen verschiedener Sprachstamme behandelt werden. Die Beschäftigung mit Sprachen der indischen Stammesbevölkerung (Kuŗux und andere) führte ihn zum Studium der Mythen dieser Gruppen und darüber hinaus zum Studium der anderen indischen Mythentraditionen (insbesondere auch der Sanskrit-Tradition); sie führte ferner zur Auseinandersetzung mit Fragen nach Strukturen mythischer Texte schlechthin sowie zur Beschäftigung mit Märchen und anderen Gattungen traditioneller Erzahlungen. Die genannten Forschungen konkretisierten sich in der Habilitationsschrift Indische Mythen vom Werden der Welt. Ihr Gegenstand sind aus dem indischen Raum stammende mythische Texte, die vom Werden bzw. von der Erschaffung der Welt handeln, wobei die Sanskrit-Tradition ebenso berücksichtigt ist wie in der Neuzeit teils in Originalsprache, teils in Übersetzung aufgezeichnete Zeugnisse mündlicher Überlieferung. Für ein Korpus von 300 Texten wird in Anknüpfung an Ansätze des russischen Folkloristen V. Propp ein Textmodell entwickelt, das es gestattet, eindeutige Kriterien zur Abgrenzung der Gattung und zur typologischen Ordnung des Korpus anzugeben. Von der deskriptiven Behandlung der einzelnen Typen schreitet die Analyse über die Untersuchung ihrer Verteilung auf die historisch-geographischen Zonen der

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Überlieferung. – sowie über die Erörterung der Frage nach der historischen Zusammengehörigkeit des typengleichen Materials – bis zur Behandlung von Wesensfragen der Textgattung fort. A. J. Gail. Nach Studien in Köln, Wien und München wurde A. J. Gail mit einer Arbeit über die Bhakti im Bhāgavatapurāņa in München promoviert. Purischer Forschung, zumeist in text- und mythengeschichtlicher Absicht, blieb er auch in den Folgejahren treu, mündend in Paraśurāma als Brahmane und Krieger als Habilitationsschrift. Seit seiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Museum für Indische Kunst Berlin (1972-73) und erst recht seit seiner Berufung als Hochschullehrer für Indische Kunstgeschichte steht die enge Verzahnung und wechselseitige Erhellung textlicher und bildlicher Quellen im Vordergrund seiner Studien. A. J. Gail halt auch regelmäßig Vorlesungen an der Karls-Universität Prag, wo er im März 1997 zum Professor hospes ernannt wurde. K. Butzenberger hat sich mit Problemen der indischen Philosophie (und Religion) sowie mit Problemen der einheimischen indischen und tibetischen Grammatik beschäftigt. Im ersten Fall ging es vornehmlich um Seelenvorstellungen und das Problem der personalen Identität. Hier wurde versucht, die Entwicklung mit philologischen und philosophischen Mitteln zu rekonstruieren. Gegenstand der Untersuchung waren die ideengeschichtlichen Hauptströmungen vom Veda (ca. 1000 v.u.Z.) bis zum frühen Vedānta (ca. 1000 n.u.Z.). Es zeigte sich, daß eine sehr differenzierte Entwicklung auf überschaubar wenige Grundideen zurückgeführt werden kann, die im Laufe der Zeit ständig erweitert und ausgebaut wurden. (Dazu umfangreiche publizierte und unpublizierte Studien.) Im zweiten Fall (Grammatik) behandelt K. Butzenberger Fragen zur logischen Struktur der einheimischen Grammatik (vyākaraņa) sowie verschiedene Teilgebiete, u.a. die kāraka-Theorie, Auffassungen über den logischen Status der paribhāşa-s, Techniken der grammatischen und philosophischen Syntaxanalyse u.a. Die konsequente Einbeziehung nicht-pāņineischer Traditionen führte zu vertieften Einsichten in die historische Entwicklung grammatischer Theorien. Die gewonnenen Erkenntnisse erbrachten zahlreiche neue Perspektiven für die einheimische tibetische Grammatik. Weitere Projekte: Die Theorie des Zweifels in der indischen Philosophie, der Seelenbegriff im Jinismus, das metrische System der Ratnamañjūsā Chandoviciti. Zahlreiche Lehrveranstaltungen (Sanskrit und Tibetisch) mit besonderer Berücksichtigung der indischen Philosophie. Die Arbeitsgebiete von G. Ehlers sind die vedische Literatur und die Palaographie indischer Handschriften. Nach einer Reihe vorangegangener Publikationen zum Jaiminīya-Brāhmaņa (Opferritual und Legenden) hat er den Dv daha-Abschnitt dieses Werkes als Habilitationsschrift vorgelegt. Im Rahmen des Projektes Katalogisierung Orientalischer Handschriften in Deutschland ist G. Ehlers für die Sanskrithandschriften innerhalb der Reihe Indische Handschriften (Band II 1-18. 1962-2015) zuständig: Band II 12

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(1995) ist bereits erschienen, II 13 erscheint demnächst, und II 15 ist in Vorbereitung.

Indische Philologie: Schwerpunkt neuindische Sprachen und Literaturen H. Nespital. Bis zu seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst hatte C. B. Tripathi neben der altindischen Philologie in Fortsetzung seiner Lektoratstätigkeit Hindi und Gujarati gelehrt (z.T. in Zusammenarbeit mit einer Lehrbeauftragten). Zu Beginn des Wintersemesters 1990/91 nahm H. Nespital seine Tätigkeit als Professor für »Indische Philologie / Moderne Sprachen und Literaturen Südasiens« auf. Von Anfang an bemuhte er sich, das Fach »Neuindische Philologie« als eigenständiges Teilfach innerhalb der Indischen Philologie, also neben der »Altindischen Philologie« als der klassischen Form der Indologie zu etablieren. Dies betraf in erster Linie die akademische Lehre und Forschung, erfordert aber noch Veränderungen in den Prüfungs- und Studienordnungen für die Indische Philologie. Der maximale Gegenstand des Schwerpunktes sind die neueren Sprachen Südasiens und ihre Literaturen sowie, in Verbindung damit, die Kulturgeschichte des indischen Subkontinents wahrend dieses Zeitraums, der von etwa 1100 u.Z. bis zur aktuellen Gegenwart reicht. Der Umfang des Gebietes erfordert eine Beschränkung auf die Hauptsprachen (Hindi an erster Stelle, gefolgt nach skalierender Gewichtung von Urdu, Bengali und Tamil) und auf die letzten zwei Jahrhunderte (insbesondere auf die Gegenwart). Indische Philologie, Schwerpunkt neuindische Sprachen, kann als Hauptund Nebenfach studiert werden. Es studieren im Durchschnitt 25-30 Studenten Indische Philologie mit diesem Schwerpunkt, vielfach in Verbindung mit den Fächern Ethnologie (FU Berlin) oder Geschichte Südasiens (HU Berlin). Trotz des Fehlens einer permanenten Infrastruktur (Wiss. Mitarbeiter, Lektor für Hindi) hat H. Nespital – in Verbindung mit Lehrbeauftragten – stets für ein repräsentatives Lehrangebot Sorge getragen. Abschlüsse haben stattgefunden oder sind demnächst zu erwarten (Magister, Promotion). Die Forschung von H. Nespital ist eng mit der Lehre verknupft. Die Forschungsschwerpunkte liegen auf der synchronen linguistischen Analyse mehrerer sudasiatischer Sprachen (u.a. im Bereich ihrer Verbsysteme, ihrer Syntax und Textstrukturen sowie ihrer Lexikologie), der Sprachgeschichte des Hindi und Urdu (einschließlich der regionalen Hindi-Dialekte) sowie auf der Untersuchung ausgewählter Perioden und Autoren der Hindi-, Urdu- und Bengali-Literatur. Von seinen über vierzig Publikationen im Bereich der Indischen Philologie hat H. Nespital vierzehn wahrend seiner Tätigkeit am Institut verfaßt, darunter als sehr umfangreiches Werk und als wissenschaftliche Pionierarbeit sein »Dictionary of Hindi Verbs«. Es enthalt sämtliche ein-

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fachen Verben und die mit ihnen gebildeten sogenannten compound verbs des Hindi, ihre lexikalischen Bedeutungen (auf Englisch) und Textbeispiele für ihre Verwendung. Ein gegenwärtiges, längerfristiges Projekt ist die Abfassung einer detaillierten »Hindi Grammar« die eine empfindliche Lücke in Lehre und Forschung schließen soll. Seit 1986 ist H. Nespital convener der Sektion »Linguistics of South Asia« im Rahmen der »European Conference on Modern South Asian Studies«.

Indische Kunstgeschichte A. J. Gail. Mit der Berufung von A. J. Gail wurde das Studienfach an der FU durch eine Hochschullehrerstelle fest verankert. Seitdem wurde der Lehrbetrieb stark erweitert. Gegenstand ist bei A. J. Gail weiterhin die vorislamische Kunst, wobei die Verbindung der Kunstgeschichte mit den SanskritZeugnissen (Inschriften, mythologische Literatur, ikonographische Literatur) eine erhebliche Rolle spielt. Es wurden zahlreiche Exkursionen mit Studierenden des Instituts durchgeführt (Indien, Sri Lanka, Nepal, Bangladesh). Bei der bisher publizierten Forschungsarbeit von A. J. Gail stand die Architektur und Ikonographie von Nepal im Vordergrund. Indische Kunstgeschichte kann in Berlin – in Deutschland sonst nur noch in Bonn – als Hauptfach mit Magister- und Promotionsabschluß studiert werden. Der Schwerpunkt liegt in Forschung und Lehre bei der hinduistischen und buddhistischen Kunst ganz Südasiens. Zusammenarbeit besteht mit Kollegen/Instituten in Indien (Tamilnadu), Bangladesh und Nepal. H. Hartel. Unter der Leitung von H. Hartel führte das Museum für Indische Kunst von 1966-74 am Hügel von Sonkh bei Mathura (Uttar Pradesh) acht Grabungskampagnen durch. Die Grabungen forderten Materialien aus fast drei Jahrtausenden (8. vorchristliches Jh. bis 19. Jh.) zutage. Vergleiche dazu die Sonkh-Publikation von 1993 und die dort auf S. 471-72 genannten Forschungsberichte. Studenten des Instituts nahmen regelmäßig an der Grabungsarbeit teil und beteiligten sich teilweise auch an der Auswertung der Ergebnisse. Sie erhielten auf diese Weise nicht nur Einblicke in die Grabungstechnik, sondern konnten sich an Hand des umfangreichen Materials (u.a. Münzen, Keramik, Skulpturen und Architekturfragmente) auch mit den Zeugnissen der vor-dynastischen und dynastischen Perioden (vor allem Maurya, Śunga, Mitra, Kşatrapa, Kuşāņa) vertraut machen. Die Kunst und Archäologie dieser Perioden war auch wesentlicher Bestandteil der Lehre. Im übrigen bietet das Museum selbst (Leitung: H. Hartel 1963-86, seit 1986 M. Yaldiz) mit seinen Sammlungen für die Studierenden in Berlin eine im Falle der indischen Kunstgeschichte in Deutschland sonst nirgends gegebene Gelegenheit zum Studium indischer Objekte.

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K. Bruhn arbeitete vornehmlich im Bereich der Jaina-Kunst. Auch bei fortgeschrittenem Forschungsstand bleiben meist Defizite in der Analyse der ikonographischen Typen und in der systematischen ikonographischen Beschreibung der Bildwerke. In einer Reihe von Aufsätzen ist K. Bruhn seit Veröffentlichung seiner Deogarh-Arbeit den entsprechenden Fragen nachgegangen. J. K. Bautze promovierte mit einer Arbeit über drei »Bundi«-Rāgamālās (ca. 1650-1725), und in der Folgezeit stand die Erforschung der Malschule von Bundi-Kota (südöstliches Rajasthan) im Mittelpunkt seiner Arbeit. Mit »Rāgamālā »bezeichnet man die nach entsprechenden ikonographischen Kanons aufgebauten seriellen Darstellungen von rāgas, in etwa »Stimmungen« (personifiziert als männliche Rāgas und weibliche Rāginīs). Es ging bei der Rāgamālā-Monographie im übrigen speziell um Wandmalereien (Paläste von Bundi und Indargarh). Diese Malereien sind weitgehend unbekannt und vom Verfall bedroht. Außerdem lassen sich Wandmalereien im Gegensatz zu den eng verwandten, aber meist undatierten Miniaturen auch geographisch und chronologisch besser einordnen: Da sie sich in situ befinden, kann ihre Entstehungszeit mit Hilfe der Baugeschichte eingeengt werden. Es ist auf diese Weise möglich, die Geschichte der Malschulen Rajasthans zu vervollständigen und bei der Datierung zu exakteren Resultaten zu kommen. Neben anderen Publikationen hat J. K. Bautze an zahlreichen auf Indien bezogenen Ausstellungen mitgewirkt: Konzeption und Redaktion im Falle von Stuttgart 1991, Stuttgart 1995 (partiell), Berlin 1996, San Franzisko 1998; Verfassung von Katalogteilen im Falle von Hamburg 1993, Brooklyn 1994,, München 1996, Harvard 1997. Die genannten Ausstellungen waren mit zwei Ausnahmen (San Franzisko: Interaction of Cultures: Indian and Western Painting und Berlin: Art Deco for the Maharajas. Stefan Norblin in India) ganz oder teil- weise der indischen Miniaturmalerei gewidmet. Zur Zeit befaßt sich J. K. Bautze parallel zu seiner Arbeit über die Rajasthani-Malerei mit frühen Skulpturen des östlichen Indien (100 v.Chr. bis zur Gupta-Zeit).

Bibliographie Die Berliner Indologie: L. Alsdorf, Die Indologie in Berlin von 1821-1945 in: Studium Berolinense. Berlin 1960, S. 567-580. A. J. Gail / M. Stoye, Indische Kunstgeschichte. Berlin 1997. Bibliographische Dokumentation des Instituts. F.-R. Hamm / H. Eimer (Hg.), Frank-Richard Hamm Memorial Volume. Bonn 1990. Mit Bibliographie. K. Bruhn / N. Balbir / J. K. Bautze (Hg.), Festschrift Klaus Bruhn. Reinbek 1994. Mit Bibliographie. J. Pinnow: (M. Durr et al.), Language and Culture in Native North7

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America. Studies in Honor of Heinz-Jürgen Pinnow. München, Newcastle. 1995. Mit Bibliographie. C. B. Tripathi / N. Balbir, »Chandrabh l B.Triph«, in: Bulletin d'Etudes Indiennes 13-14.1995-96, S. 23-32. Mit Bibliographie. K. Bruhn, »In memoriam Chandrabhal B. Tripathi«, in: ZDMG 147.1997, S.1-6. Die nachstehende Zusammenstellung von Publikationen von Institutsmitgliedern ist keine allgemeine Institutsbibliographie, sondern eine Erganzung zum obigen Text. Wegen der Arbeiten von F.-R. Hamm wird auf die Gedenkschrift verwiesen. J. K. Bautze, Drei »Bundi«-Rāgamālās. Ein Beitrag zur Geschichte der rajputischen Wandmalerei. Stuttgart 1987. Early Indian Terracottas, in: H. T. Bakker (et al.) Iconography of Religions. Leiden, New York, Köln 1995. K. Bruhn, Sīlānkas Cauppaṇṇamahāpurisacariya. Ein Beitrag zur Kenntnis der Jaina-Universalgeschichte. Hamburg 1954. The Jina-Images of Deogarh. Leiden 1969. K. Butzenberger, Beiträge zum Problem der personalen Identität in der indischen Philosophie. Die jinistischen Beweise für die Existenz eines jīva im Viśeşāvaśyakabhāsya. München 1989, Dissertationsdruck. Ancient Indian Conceptions on Man’s Destiny After Death. The Beginnings and the Early Development of the Doctrine of Transmigration. I-II in: Berliner Indologische Studien 9/10.1996 und 11/12.1998. G. Ehlers, Alttürkische Handschriften, Teil 2. Das Goldglanzsutra und der buddhistische Legendenzyklus Dasakarmapathāvadānamālā. Erschienen im Verzeichnis der Orientalischen Handschriften in Deutschland. Bd. XIII 10. Stuttgart 1987. Dvādasāha. Jaiminiya-Brāhmana 3.1-386. Text, Ubersetzung und Kommentar. In Vorbereitung. H. Falk, Bruderschaft und Würfelspiel. Untersuchungen zur Entwicklungsgeschichte des vedischen Opfers. Freiburg 1986. Schrift im alten Indien. Ein Forschungsbericht mit Anmerkungen. Tübingen 1993. A. J. Gail, Bhakti im Bhāgavatapurāņa. Religionsgeschichtliche Studien zur Idee der Gottesliebe in Kult und Mystik des Viinuismus. Wiesbaden 1969. Tempel in Nepal I. Ikonographie hinduistischer Pagoden in Patan Kathmandutal. Graz 1984. Tempel in Nepal II. Ikonographische Untersuchungen zur späten Pagode und zum Sikhara-Tempel. Graz 1988. H. Hartel, Karmavācanā. Formulare für den Gebrauch im buddhistischen Gemeindeleben aus ostturkestanischen Sanskrit-Handschriften. In: E. Waldschmidt (Hg.) Sanskrittexte aus den Turfanfunden III. Berlin 1956.

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Excavations at Sonkh. 2500 Years of a Town in Mathura Dis- trict. Berlin 1993. H. Nespital / G. Steiner et al. (Hg.), Lexikon fremdsprachlicher Schriftsteller. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd.I-II. Leipzig 1977, 1979. Für Band I-II ca. hundert Beitrage zu Autoren der Literaturen des Hindi, Urdu, Gujarati, Marathi, Nepali, Apabhramsa und Bengali. Das Futursystem im Hindi und Urdu (Ein Beitrag zur semantischen Analyse der Kategorien Tempus, Aspekt und Modus und ihrer Grammeme). Wiesbaden 1981. Dictionary of Hindi Verbs / Hindi Kriya Kosh. Containing all Simple and Compound Verbs, their Lexical Equivalents in English and Illustrations of their Usage. Allahabad 1997. M. Pfeiffer, Elements of KuÝux Historical Phonology. Leiden 1972. Indische Mythen vom Werden der Welt. Texte – Strukturen – Geschichte. Berlin 1994. J. Pinnow, Versuch einer historischen Lautlehre der Kharia-Sprache. Wiesbaden 1959. Das Haida als Na-Dene-Sprache – Materialien zu den Wortfeldern und zur Komparation des Verbs. I-IV. AVA Hefte 43-46. Nortorf 1985. Tausend Worte Danzigerisch – Kurze Einfhrung in das Danziger Missingsch. 2. Aufl., Lübeck 1998. C. B. Tripathi, Fünfundzwanzig Sutras des Nidānasamyukta. Berlin 1962. Catalogue of the Jaina Manuscripts at Strasbourg. Leiden 1975. -

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Matthias Fritz Indogermanistik an der Freien Universität Berlin

Bei Gründung der Freien Universität 1948 war von Beginn an die Einrichtung eines Indogermanischen Seminars vorgesehen. Der Berliner Traditionslinie, die bei dem Begründer der Indogermanistik, dem in Berlin hochgeehrten Franz Bopp, 1 ihren Anfang nimmt, war man sich bei diesem Unternehmen bewusst und man fühlte sich ihr verpflichtet. So schreibt Günter Reichenkron, der als Romanist und Balkanologe mit der Einrichtung des Indogermanischen Seminars betraut war, in seinem »Bericht über einen gegebenenfalls vorzunehmenden Aufbau des Indogermanischen Seminars« vom 03.03.1949: »An der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin nahm das Indogermanische Seminar eine besondere Stellung ein, da seine Arbeitsgebiete oft in andre Disziplinen hineinreichten.« Er nennt in seinem Bericht auch die Namen der Vorgänger als Direktoren des Indogermanischen Seminars an der Berliner Universität, in deren Sinne die Indogermanistik an der Freien Universität weitergeführt werden sollte, nämlich Wilhelm Schulze, Eduard Schwyzer und Wilhelm Wissmann. Schon knapp ein Jahr nach Gründung der Freien Universität konnte im Wintersemester 1949/50 der Vorlesungsbetrieb am Indogermanischen Seminar aufgenommen werden. Das Seminar bestand aus zwei Abteilungen, einer für Indogermanistik und einer für Indoiranische Philologie. Der Iranist Olaf Hansen, zuvor Privatdozent an der Friedrich-Wilhelms-Universität, wurde 1950 zum außerordentlichen Professor für indoiranische Philologie und indoiranische Sprachwissenschaft ernannt und mit der Wahrnehmung der Leitung des Indogermanischen Seminars betraut, bis ein geeigneter Gelehrter für die Indogermanistik und die Leitung des Indogermanischen Seminars gefunden werden konnte. 2 Denn bei der Berufung des Indogermanisten war man von Anfang an der Überzeugung, »… dass die grosse Bedeutung des Faches der Indogermanistik für alle philologischen Disziplinen und das internationale Ansehen, das der Berliner Lehrstuhl durch das Wirken hervorragender

1 Ehrengrab der Stadt Berlin (1867, MUA-26/27, Kirchhof Dreifaltigkeit II, Bergmannstraße 39-41, Berlin-Kreuzberg). Bildnisbüste der Friedrich-WilhelmsUniversität Berlin (1873, Marmor, Bildhauer: Eduard Lürssen). Boppstraße in Berlin-Kreuzberg (1857). 2 Olaf Hansen wurde 1965, als Indologie und Iranistik eigenständige Fächer wurden und separate Seminare erhielten, ordentlicher Professor für Iranische Philologie.

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Forscher wie Joh. Schmidt, Wilh. Schulze, Ed. Schwyzer erhalten hat, die Errichtung eines Ordinariats notwendig machen.« 3 Die Lehre in der Indogermanistik wurde also vorläufig von Professoren verschiedener Nachbarfächer durchgeführt, neben Olaf Hansen Helmut de Boor, Günter Reichenkron und Max Vasmer. Die Suche nach einem adäquaten Kandidaten für das Ordinariat gestaltete sich schwierig, da man neben der fachlichen Qualifikation auch die politische Belastung der in Frage kommenden Gelehrten gründlich berücksichtigen mußte. Der Schweizer Privatdozent Ernst Risch wäre zwar eine gute Wahl für eine außerordentliche Professur gewesen, hatte aber einen früher ergangenen Ruf auf eine ordentliche Professur an die Universität Mainz angenommen. Ähnlich geschah es mit dem ehemaligen Würzburger Indogermanisten Alfons Nehring, der nach seiner Emigration in die USA inzwischen erneut den Ruf nach Würzburg angenommen hatte. Von den vielen Personen, über die in der Kommission diskutiert wurden, unter denen sich viele schon seinerzeit namhafte und auch später bedeutende und berühmte Sprachwissenschaftler fanden, wie beispielsweise Ernst Sittig, Ernst Locker, Carl Karstien, Wilhelm Wissmann, Wilhelm Brandenstein, Kurt Stegmann von Pritzwald, Paul Thieme, Oswald Szemerényi, Erich Hofmann, Henry Hoenigswald, Meinrad Scheller, Helmut Humbach, kamen Richard von Kienle, Karl Hoffmann und Hansjakob Seiler in die engere Wahl, und die Wahl fiel schließlich auf Richard von Kienle. Richard von Kienle (1953-1974) Der erste Vertreter der Indogermanistik an der Freien Universität, Richard von Kienle, 4 war 1931 in Heidelberg bei Hermann Güntert promoviert worden und hatte dann eine Stelle als Hilfsarbeiter am Archiv des Deutschen Rechtswörterbuches der Preußischen Akademie der Wissenschaften, unter der Leitung des Rechtswissenschaftlers Eberhard Freiherr von Künßberg. Er habilitierte sich 1933 in Heidelberg, vertrat ab Sommersemester 1938 den Lehrstuhl seines erkrankten Lehrers Hermann Güntert, nach der vorübergehenden Schließung der Universität Heidelberg während der ersten beiden Kriegstrimester den Lehrstuhl an der Universität Jena, erhielt 1940 eine außerordentliche Professur in Heidelberg und 1941 eine ordentliche Professur in Hamburg. Von 1942 bis 1945 war er Soldat der Wehrmacht. Wegen seiner Parteigenossenschaft wurde ihm 1946 die Rückkehr auf die Hamburger Professur verwehrt, und so arbeitete er – auch nach erfolgter Entnazifizierung – als Lehrer für Latein, Griechisch und Deutsch am Englischen Institut in Heidelberg, einer staatlich anerkannten Privatschule. Die politische Belastung Richard von Kienles, dessen Name übrigens auf Empfehlung Hans Krahes

3 Kommissionsbericht zur Berufungsempfehlung. 4 *9. Februar 1908 Tiengen (Baden) – † 18. Mai 1985 Berlin.

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für die Berufung ins Gespräch kam, 5 wurde von der Kommission ausführlich erörtert, die sich auf das Urteil maßgeblicher Zeitzeugen verließ: »Anfragen über Kienles politische Betätigung in der Nazizeit bei dem Rektor der Universität Hamburg Professor Snell und dem Germanisten Kienast in Heidelberg, der das Philosophische Dekanat während der Hamburger Berufung Kienles inne hatte, haben gezeigt, dass er trotz seiner Parteizugehörigkeit in den Nazijahren politisch nicht als belastet anzusehen ist.« Richard von Kienles Forschungsgebiet war vor allem das Germanische, aber auch Italisch und Keltisch. Während seiner Berliner Zeit erschienen Nachdrucke seines Fremdwörterlexikons und des gemeinsam mit Hans Haas veröffentlichten Lateinisch-Deutschen Wörterbuches, ferner die Neubearbeitung einer Tacitus-Edition, an der er mitgearbeitet hatte. Neu publizierte er die bis heute unersetzte Historische Laut- und Formenlehre des Deutschen, die in zwei Auflagen erschien. 6 Auch war er erster Mitherausgeber der Festschrift für den Altorientalisten und Kollegen an der FU Johannes Friedrich. 7 Im übrigen engagierte er sich in der akademischen Selbstverwaltung bei dem Bauprojekt Obstbauwiese, das auch heute noch in dem Neubau für die »Kleinen Fächer« Früchte trägt. Zahlreiche Mitarbeiter qualifizierten sich in ihrer Zeit am Indogermanischen Seminar unter Leitung von Kienles. Heinz-Jürgen Pinnow, 8 HansJürgen Jordan, 9 Gernot Schmidt 10 und Norbert Januschas 11 wurden promoviert. Heinz-Jürgen Pinnow 12 habilitierte sich 1957 an der FU, Rolf Hiersche 13 1962. Die Mitbetreuung von indogermanischen Sprachen und deren Philologien, für die es keinen eigenen Lehrstuhl gibt, ist indogermanistische Tradition. So wurde am Indogermanischen Seminar der FU unter der Leitung Richard von

5 Richard von Kienle hatte für die Historische Laut- und Formenlehre des Gotischen von Hans Krahe (Heidelberg 1948) die Sammlung Gotische Texte (Heidelberg 1948) publiziert. 6 Richard von Kienle: Historische Laut- und Formenlehre des Deutschen. Tübingen 1960 (2. Auflage 1969). 7 Richard von Kienle et al. (ed.): Festschrift: Johannes Friedrich zum 65. Geburtstag am 27. August 1958 gewidmet. Heidelberg 1958. 8 Heinz-Jürgen Pinnow: Zu den altindischen Gewässernamen. Diss. Berlin 1951. 9 Hans-Jürgen Jordan: Zur Geschichte der russischen Denominativa. Erster Teil: Die Verba auf -it' und -at', Diss. Berlin 1961. 10 Gernot Schmidt: Studien zum germanischen Adverb. Diss. Berlin 1962. 11 Norbert Januschas: Das litauische Adverb. Diss. Berlin 1962. 12 Heinz-Jürgen Pinnow: Versuch einer historischen Lautlehre der Kharia-Sprache. Wiesbaden 1959. 13 Rolf Hiersche: Untersuchungen zur Frage der Tenues aspiratae im Indogermanischen. Wiesbaden 1964.

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Kienles 1955 ein Lehrauftrag für Armenologie eingerichtet. Diesen erhielt Bedros Froundjian, der später an der FU promoviert wurde. 14 Im Jahr 1961, im Jahr des Mauerbaus, kam die Phonetikerin Ursula Feyer (1901-1989), als Afrikanistin eine Schülerin von Diedrich Westermann und zusammen mit ihm Herausgeberin der Zeitschrift für Phonetik und Allgemeine Sprachwissenschaft, 15 von der Humboldt-Universität an das Indogermanische Seminar der FU. Vom ersten Standort in der Boltzmannstraße 3 zog das Indogermanische Seminar 1954 in die Garystraße 13, 1956 in den Faradayweg 15 und – nach einem kurzen Intermezzo im Henry-Ford-Bau 1973 – im Jahre 1974 in die Villa in der Fabeckstraße 7. Bernfried Schlerath (1974-1992) Bernfried Schlerath, 16 der 1951 in Frankfurt bei Herman Lommel promoviert worden war und sich 1958 ebenda habilitiert hatte, wurde 1974 von Marburg, wo er nach Lehrtätigkeit an Universitäten in Schweden und Mexiko 17 ab 1970 eine Professur innehatte, als Indogermanist an die FU berufen. Er ließ das Indogermanische Seminar 1976 in »Seminar für Vergleichende und Indogermanische Sprachwissenschaft« umbenennen. Schleraths Forschungsschwerpunkte lagen im Indoiranischen (z. B. Wörterbuch des Avestischen; DFG-Projekt) und Germanischen (z. B. Archiv für germanische Bibelübersetzung). Er organisierte 1983 die VII. Fachtagung der Indogermanischen Gesellschaft zum Thema »Grammatische Kategorien: Funktion und Geschichte«, 18 1985 einen Kongreß zum Gedenken Wilhelm von Humboldts 19 und 1990 die Tocharisch-Tagung der Indogermanischen Gesellschaft. 20 Im Jahr 1992 veranstaltete der Prähistoriker und Kollege an der FU Bernhard Hänsel zum Thema »Die Indogermanen und das Pferd« ein internationales interdisziplinäres Kolloquium, dessen 1994 veröffentlichte

14 Bedros Froundjian: Entstehung und Entwicklung der armenischen Presse und ihr Einfluß auf die neuarmenische Schriftsprache und die politische Meinungsbildung. Diss. Berlin 1961. 15 Vgl. Ursula Feyer, Würdigung: »Diedrich Westermann †«. In: Zeitschrift für Phonetik und Allgemeine Sprachwissenschaft 9, 1956, S. 199-201. 16 *15. Mai 1924 Leipzig – † 30. Mai 2003 Berlin. 17 Schleraths Sanskrit Vocabulary mit Übersetzungsangaben in Deutsch, Englisch und Spanisch (Leiden 1980) stammt aus dieser Zeit. 18 Bernfried Schlerath (ed.): Grammatische Kategorien: Funktion und Geschichte. Wiesbaden 1985. 19 Bernfried Schlerath (ed.): Wilhelm von Humboldt: Vortragszyklus zum 150. Todestag. Berlin / New York 1986. 20 Bernfried Schlerath (ed.): Tocharisch. Reikjavík 1994.

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Akten Schlerath zum 70. Geburtstag gewidmet wurden. 21 Schleraths Kleine Schriften 22 erschienen in einer zweibändigen Ausgabe im Jahr 2000 sowie seine Autobiographie Das geschenkte Leben. 23 Promoviert wurde bei Schlerath 1977 Jost Gippert, 24 sein Schüler aus Marburg. An Habilitationen unter Schleraths Ägide fanden an der FU die des Afrikanisten Klaus Piper (1987), die von Christoph Koch (1988), Ralf-Peter Ritter 25 (1989), Stefan Zimmer (1989) und Almut Hintze 26 (1997) statt. Den Lehrauftrag für Armenisch übernahm 1976 der später an der FU promovierte Geograph Gerayer Koutcharian. 27 Mehr als dreißig Jahre unterrichtete er armenische Sprache, Geschichte und Landeskunde. Der Kreis der besonders zu betreuenden indogermanischen Sprachen wurde unter der Leitung von Bernfried Schlerath um die baltischen Sprachen erweitert und im Wintersemester 1975 ein Lehrauftrag für Litauisch eingerichtet, den Norbert Januschas erhielt. Im Zuge der Wiedervereinigung wurde von Bernfried Schlerath ab 1990 die Umsetzung der von Rainer Eckert geleiteten Forschungsgruppe Baltistik der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der DDR an das FU-Seminar betrieben, welchem Bemühen im Rahmen des Wissenschaftler-Integrations-Programms (WIP) auch ein bescheidener Erfolg beschieden war. Bereits im Jahr 1982 hielt Bernfried Schlerath einen folgenschweren Vortrag mit dem Titel »Qualitätsgarantie Null: Die Ausbildung im Massenfach Germanistik«, in dem er sich kritisch über die Umstände im Germanistikstudium an der FU ausließ, und der sogar Zuspruch aus der Germanistik der FU selbst und auch von anderen Universitäten erhielt. Daß allerdings die Indogermanistik keine zwei Dekaden später schon von der FU zur Einsparung vorgeschlagen werden sollte, konnte er da noch nicht ahnen.

21 Bernhard Hänsel: Die Indogermanen und das Pferd: Bernfried Schlerath zum 70. Geburtstag gewidmet. Budapest 1994. 22 Bernfried Schlerath: Kleine Schriften. 2 Bde. Dettelbach 2000. 23 Bernfried Schlerath: Das geschenkte Leben: Erinnerungen und Briefe. Dettelbach 2000. 24 Jost Gippert: Zur Syntax der infinitivischen Bildungen in den indogermanischen Sprachen. Frankfurt a. M. et al. 1978. 25 Ralf-Peter Ritter: Studien zu den ältesten germanischen Entlehnungen im Ostseefinnischen. Frankfurt a. M. et al. 1993. 26 Almut Hintze: »Lohn« im Indoiranischen: Eine semantische Studie des Rigveda and Avesta, Wiesbaden 2000. 27 Gerayer Koutcharian: Der Siedlungsraum der Armenier unter dem Einfluß der historisch-politischen Ereignisse seit dem Berliner Kongreß 1878. Diss. Berlin 1987.

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Matthias Fritz

Michael Meier-Brügger (1996-2013) Der Schweizer Michael Meier 28 (»Meier-Brügger«) kam von der Universität Hamburg, wo er seit 1984 am Thesaurus Linguae Graecae als Redaktor des von Bruno Snell begründeten Lexikons des frühgriechischen Epos gearbeitet hatte. Nach einer Lehrstuhlvertretung 1995 an der FU wurde er 1996 zum Professor ernannt. Die Funktion als Redaktor des Lexikons des frühgriechischen Epos, das als Langzeitvorhaben unter der Aufsicht der Göttinger Akademie der Wissenschaften stand, behielt er bis zur Fertigstellung des Lexikons im Jahr 2010 bei. 29 Meier-Brügger war ein Schüler des Schweizers Ernst Risch, bei dem er 1973 in Zürich promoviert und sich 1980 habilitiert hatte. Seine Forschungsschwerpunkte waren das Griechische und das Indogermanische. Seine Einführung in die Indogermanistik – in der Tradition der Einführungen von Rudolf Meringer und Hans Krahe in der Sammlung Göschen – erschien in drei Auflagen und liegt auch in englischer Übersetzung vor. 30 Er organisierte 2001 in Berlin eine Konferenz zu den Dialekten des Griechischen, 31 zur Vollendung des Lexikons des frühgriechischen Epos 2010 ein Kolloquium in Hamburg 32 und zwischen 2004 und 2013 zehn Jahre lang jährlich eine Indo-European Summer School mit Dozierenden und Studierenden aus aller Welt. Er war Mitherausgeber der Zeitschriften Glotta und Indogermanische Forschungen. Bei Meier-Brügger promovierten Matthias Fritz 33 (1998), Gang Bai (2008), Marina Veksina (2013) und Inna Chats (2013); es habilitierten sich Elisabeth Rieken 34 (2002) und Matthias Fritz 35 (2003). Im Jahr 2004 wurde die Abschaffung der Indogermanistik an der FU endgültig beschlossen. Die Vergleichende und Indogermanische Sprachwissen28 *13. August 1948 Zürich. 29 Lexikon des frühgriechischen Epos. Herausgegeben vom Thesaurus Linguae Graecae in Hamburg. Begründet von Bruno Snell. 4 Bde. Göttingen 1979/ 1991/2004/2010. 30 Michael Meier-Brügger: Indogermanische Sprachwissenschaft. 7., völlig neubearbeitete Auflage unter Mitarbeit von Matthias Fritz und Manfred Mayrhofer. Berlin / New York 2000 (8. Auflage 2002, 9. Auflage 2010, Übersetzung ins Englische 2003). 31 Ivo Hajnal (ed.): Die altgriechischen Dialekte: Wesen und Werden. Innsbruck 2007. 32 Michael Meier-Brügger (ed.): Homer, gedeutet durch ein großes Lexikon: Akten des Hamburger Kolloquiums vom 6. - 8. Oktober 2010 zum Abschluss des Lexikons des Frühgriechischen Epos. Berlin / Boston 2012. 33 Matthias Fritz: Die trikasuellen Lokalpartikeln bei Homer: Syntax und Semantik. Göttingen 2005. 34 Elisabeth Rieken: Die Konditionalsätze, Irrelevanzkonditionalia und Konzessivsätze des Altirischen. Münster 2012. 35 Matthias Fritz: Der Dual im Indogermanischen: Genealogischer und typologischer Vergleich einer grammatischen Kategorie im Wandel. Heidelberg 2011.

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Indogermanistik

schaft wurde als Professur in das Institut für Griechische und Lateinische Philologie integriert. 2006 zog das Seminar von der Villa Fabeckstraße 7 in drei Räume in der Straße JK 30 der Rostlaube Habelschwerdter Allee 45. 2010 gab es die letzten Pflichtveranstaltungen für Magisterstudierende. 2013 wurde das Seminar geschlossen. Matthias Fritz ist weiter als Privatdozent für Vergleichende und Indogermanische Sprachwissenschaft am Institut für Griechische und Lateinische Philologie der FU tätig.

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Erika Fischer-Lichte Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin

Die Theaterwissenschaft gehört zu den Gründungsdisziplinen der Freien Universität. Am 15. November 1948 wurde das Theaterwissenschaftliche Institut mit einer Vorlesung seines Ordinarius und Direktors Professor Dr. Hans Knudsen (1886-1971) zur »Einführung in die Theaterwissenschaft« offiziell eröffnet. Von jetzt an konnte man hier Theaterwissenschaft als Hauptfach studieren – dafür hatten sich im Wintersemester 1948/9 27 Studierende eingeschrieben. Der noch jungen Disziplin schienen damit günstige Bedingungen für ihre weitere Entwicklung gegeben. Dieser Schein trog jedoch. Mit Knudsen war ein alter Nationalsozialist berufen, dessen wissenschaftlicher Ruf zweifelhaft war. Als Dank für langjährig geleistete treue Dienste war Knudsen 1944 der Professorentitel unmittelbar vom Führer verliehen worden. Zugleich erhielt er den 1943 an der Friedrich-Wilhelms-Universität neu eingerichteten Lehrstuhl für Theaterwissenschaft, mit dessen Vertretung er bereits seit seiner Einrichtung betraut war. Knudsens Name findet sich im Treuegelöbnis für den Führer, das 88 Schriftsteller im Oktober 1933 ablegten. Im November 1939 beantragte er die Aufnahme in die Nationalsozialistische Partei Deutschlands, deren Mitglied er mit Wirkung vom 1. Januar 1940 wurde. Knudsen war von Haus aus Studienrat; nebenberuflich beschäftigte er sich mit Theaterkritik und Theaterwissenschaft. In den 20er Jahren war er ehrenamtlich als Assistent Max Herrmanns am 1923 an der Friedrich-WilhelmsUniversität gegründeten theaterwissenschaftlichen Institut tätig; gleichzeitig schrieb er für verschiedene Zeitungen. Auf Fürsprache des Reichsdramaturgen Rainer Schlösser wurde er 1935 vom Schuldienst suspendiert und als Hauptschriftleiter des NS-Organs »Die Bühne. Zeitschrift für die Gestaltung des deutschen Theaters« eingesetzt, in dem auch die amtlichen Mitteilungen der Reichstheaterkammer erschienen. Für seine stets eifrig unter Beweis gestellte »einwandfreie« nationalsozialistische Gesinnung wurde er mit dem Professorentitel und dem Lehrstuhl für Theaterwissenschaft belohnt, obwohl die Universität dem Reichs-Erziehungs-Ministerium zu bedenken gab, daß »seine wissenschaftlichen Leistungen für die Wahrnehmung der Professur nicht ausreichen«. 1 Warum Knudsen, der zwar eine entlastende Bescheinigung des »Komitees für Personalfragen und Entnazifizierung der Alliierten Kommandantura Berlin« vorlegen konnte, trotz Kenntnis seiner »politischen 1 Joseph Wulf: Theater und Film im Dritten Reich, Reinbek 1966, S. 235.

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Belastung« 2 berufen wurde und nicht die Theaterwissenschaftler Siegfried Nestriepke oder Ruth Mövius, die ebenfalls im Gespräch waren, läßt sich heute kaum mehr ermitteln. 3 Die Berufung erwies sich jedenfalls als fatal. Zur »politischen Belastung« kam die mangelnde wissenschaftliche Qualifikation hinzu. Es ist keineswegs übertrieben zu behaupten, daß Hans Knudsen mit seinen zahlreichen Schriften keinen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Theaterwissenschaft geleistet hat. Zwar berief er sich unermüdlich auf Max Herrmann (1865-1942), hatte jedoch offensichtlich wenig von den Überlegungen begriffen, mit denen dieser seit der Jahrhundertwende die Einrichtung eines neuen Faches, dem er die Bezeichnung »Theaterwissenschaft« verlieh, an der Philosophischen Fakultät theoretisch zu begründen suchte. 4 Bis dahin war »Theater« von der Germanistik bzw. von den Literaturwissenschaften mitbehandelt worden. Dem Theater wurde der Status einer Kunstform – und nicht etwa einer Volksbelustigung – nur insofern zugesprochen, als es literarische Kunstwerke vermittelte. Dies stand ganz in Einklang mit der herrschenden Vorstellung von Kultur. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die moderne europäische Kultur überwiegend als eine »Text«Kultur begriffen, die ihr Selbstverständnis in Texten und Monumenten formulierte. Daneben gab es durchaus die Vorstellung einer »performativen« Kultur. Sie bezog sich jedoch auf sogenannte primitive Kulturen, die ihr Selbstverständnis in performativen Prozessen wie Ritualen, Zeremonien, Spielen, Festen, Wettkämpfen u.a. artikulieren: mittelalterliche, »exotische« oder auch Volkskulturen. Das Theater, das seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert beim deutschen Bildungsbürgertum in hohem Ansehen stand, gehörte in dieser Perspektive zur »Text«-Kultur. Denn es definierte und legitimierte sich durch die Übermittlung des literarischen Kanons. Dagegen behauptete Max Herrmann, daß »Theater und Drama ... ursprünglich Gegensätze« seien, »Gegensätze, die zu wesenhaft sind, als daß sich ihre Symptome nicht immer wieder zeigen sollten: das Drama ist die wortkünstlerische Schöpfung des Einzelnen, das Theater ist eine Leistung des 2 Siegward Lönnendonker / Tilman Fichter: Freie Universität Berlin 1948-1973. Hochschule im Umbruch, Teil I 1945-1949, Gegengründung wozu?, Berlin 1973, S. 52. 3 Vgl. zu Knudsens Tätigkeit im Dritten Reich: Wulf 1966, S. 228-236; Walter Wicclair: Das fatale Loch in der Berliner Theatergeschichte, in: Marta Mierendorff / Walter Wicclair: Im Rampenlicht der ›dunklen Jahre‹. Aufsätze zum Theater im ›Dritten Reich‹, Exil und Nachkrieg, hg. von Helmut G. Asper, Berlin 1989, S. 1742 sowie die hervorragend recherchierte Magisterarbeit von Mechthild Kirsch: Zur Geschichte des Instituts für Theaterwissenschaft, FU Berlin 1991. 4 Zwar erhob der Münchner Germanist und Theaterwissenschaftler Artur Kutscher (1878-1960) ebenfalls den Anspruch, die Bezeichnung Theaterwissenschaft erfunden zu haben. Die Mehrzahl der Zeitzeugen spricht dieses Verdienst jedoch Herrmann zu.

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Publikums und seiner Diener«. 5 Für ihn bestand daher »der Ur-Sinn des Theaters« darin,

»daß das Theater ein soziales Spiel war, – ein Spiel Aller für Alle. Ein Spiel, in dem Alle Teilnehmer sind, – Teilnehmer und Zuschauer. ... Das Publikum ist als mitspielender Faktor beteiligt. Das Publikum ist sozusagen Schöpfer der Theaterkunst. Es bleiben so viel Teilvertreter übrig, die das Theater-Fest bilden, so daß der soziale Grundcharakter nicht verloren geht. Es ist beim Theater immer eine soziale Gemeinde vorhanden. Dieser Punkt darf von der Theaterwissenschaft nicht vernachlässigt werden.« 6

Entsprechend vertrat Herrmann die Auffassung, daß »bei der Theaterkunst ... die Aufführung das Wichtigste« sei. 7 Insofern die Aufführung in besonderer Weise auf den Raum bezogen ist, definierte er »Theaterkunst« als »eine Raumkunst«. 8 Wenn Theater primär durch die Aufführung und nicht durch den dramatischen Text definiert ist, dann braucht es zu seiner Erforschung in der Tat eine neue Wissenschaft, deren Gegenstand eben die Aufführung bildet. Mit dieser Definition war für die neu gegründete Wissenschaft jedoch ein schwer lösbares Problem gegeben, mit dem die Theaterwissenschaft bis heute zu kämpfen hat. Denn die flüchtige und transitorische Aufführung ist methodisch nicht leicht zu handhaben und widersetzt sich hartnäckig wissenschaftlichen Ansprüchen auf systematische Analyse, auf Überprüfbarkeit oder auf Wiederholbarkeit und Konstanz. Insofern braucht es auch kaum Wunder zu nehmen, daß Herrmanns Forderung, Theaterwissenschaft als Wissenschaft von der Aufführung, d.h. als Wissenschaft vom Performativen zu begründen, auf schroffe Ablehnung und dezidierten Widerspruch stieß. Denn als Gegenstände der Geisteswissenschaften waren Texte und Monumente definiert, deren Klassifizierung das »System« der Geisteswissenschaften begründete. Aus heutiger Sicht dagegen sind es eben Herrmanns Überlegungen zum Theater als Spiel, als Fest, als Aufführung, die als revolutionär, innovativ und zukunftsweisend gelten können. 9 Wenn Theater als eine performative – und nicht als eine textuelle – Kunst begriffen wird, hat dies tiefgreifende Konsequenzen. Es macht nicht nur eine neue Wissenschaft notwendig, sondern be5 Max Herrmann: Bühne und Drama, in: Vossische Zeitung vom 30. Juli 1918. 6 Max Herrmann: Über die Aufgaben eines theaterwissenschaftlichen Institutes (1920), in: Helmar Klier (Hg.): Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum, Darmstadt 1981, S. 15-24, S. 19. 7 Max Herrmann: Forschungen zum deutschen Mittelalter und der Renaissance, Berlin 1914, Teil II, S. 118. 8 Ebenda, Teil I, S. 16. 9 Zu Max Herrmanns Vorstellungen von Theater vgl. Rudolf Münz: ›Theater – eine Leistung des Publikums und seiner Diener‹. Zu Max Herrmanns Vorstellungen von Theater, in: Erika Fischer-Lichte / Doris Kolesch / Christel Weiler (Hg.): Berliner Theater im 20. Jahrhundert, Berlin 1998, S. 43-52.

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deutet auch eine Neubewertung des Performativen, das nun nicht mehr länger als Kriterium für die Abgrenzung der modernen europäischen Kultur von den sogenannten primitiven Kulturen herhalten kann. Nichts von diesen Überlegungen und Erkenntnissen wird in Knudsens Schriften aufgegriffen, geschweige denn weiterentwickelt – was allerdings durchaus im Einklang mit dem Zeitgeist der fünfziger Jahre steht. Nach dem zweiten Weltkrieg trat die performative Wende, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der europäischen und speziell in der deutschen Kultur stattgefunden hatte, in den Hintergrund. So wurden vorübergehend wieder Vorstellungen von einer textuellen Kultur zu Leitkonzepten erhoben, in die sich der Versuch einer positivistisch ausgerichteten Geschichtsschreibung gut einpassen ließ. Indem Knudsen allerdings Daten, Namen, Fakten, Banalitäten und ideologisch begründete Werturteile – zum Teil auch noch recht zusammenhangslos – aufeinanderhäufte und sich dabei ständig auf Max Herrmann berief, verschüttete und verstellte er den Zugang zu den innovativen Anfängen des Faches. Zwar wurde seine »Deutsche Theatergeschichte« 10 für Studierende und Theaterleute zu einer Art Standardwerk – dies allerdings nur, weil es seit der letzten Ausgabe von Eduard Devrients »Geschichte der deutschen Schauspielkunst« (Erstausgabe 1848-74), die 1905 als Neuausgabe erschienen war, und Friedrich Michaels »Deutsches Theater« aus dem Jahre 1923 keinen entsprechenden Titel auf dem Buchmarkt gab. Die von Knudsen angeregten Dissertationen zur Berliner Theatergeschichte bewegen sich bis auf wenige Ausnahmen auf ähnlichem Niveau. Nach Knudsens Emeritierung (1956) wurde auf seinen Vorschlag hin 1958 Wolfgang Baumgart (1910-2000) als sein Nachfolger berufen, zunächst als außerordentlicher Professor und ab 1962 als Ordinarius. Der Germanist Baumgart (der auch der Nationalsozialistischen Partei Deutschlands angehört hatte) kam von der Erlanger Universität; dort hatte er 1949 zusammen mit Heinz Knorr die »Internationalen Theaterwochen der Studentenbühne« begründet und seit 1953 als Vorstand der »Theaterwissenschaftlichen Sammlung« des Deutschen Seminars gewirkt. Seine Veröffentlichungen galten vorwiegend der schlesischen Dichtung. Seine späteren Aufsätze zum Barocktheater (1962), zum Puppenspiel und zur »szenischen Lektüre« von »Romeo und Julia« enthalten durchaus einzelne interessante Gedanken, leisten jedoch keinen genuinen Beitrag zur Entwicklung der Theaterwissenschaft. Während der ersten zwanzig Jahre seines Bestehens sind also vom Theaterwissenschaftlichen Institut der Freien Universität keine wichtigen Impulse zur Weiterentwicklung des Faches ausgegangen. Ehrlicherweise muß man hinzufügen, daß dies ebenso für die anderen theaterwissenschaftlichen Institute im deutschsprachigen Raum für diese Zeit gilt. Zwar brachte der Wiener Ordinarius Heinz Kindermann (ebenfalls seinerzeit Parteigenosse und dazu 10 Hans Knudsen: Deutsche Theatergeschichte, Stuttgart 1959, 2. Aufl. 1970.

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noch ein fanatischer Nationalsozialist) zwischen 1957 und 1974 seine zehnbändige »Theatergeschichte Europas« heraus. Sie setzte jedoch für das Fach keine neuen Maßstäbe. Während die »Gründerväter« der Theaterwissenschaft, Max Herrmann in Berlin, Artur Kutscher in München und Carl Niessen (1890-1969) in Köln, die Einrichtung eines neuen Faches mit einem von den anderen geisteswissenschaftlichen Fächern ignorierten Gegenstand begründet hatten, nämlich der Aufführung, wurde in den theaterwissenschaftlichen Instituten in den fünfziger und sechziger Jahren von Germanisten eine überwiegend an Dramen ausgerichtete Theaterwissenschaft quasi als Ausweitung der Literaturwissenschaft auf das Theater betrieben. Das Fach stagnierte. Es geriet erst Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre wieder in Bewegung. Dies ist teils auf die 68er »Studentenrevolte« zurückzuführen, die eine gesellschaftliche Relevanz der Forschung einforderte. Teils ging es jedoch auf Entwicklungen zurück, die von jüngeren Forschern bereits in den sechziger Jahren eingeleitet wurden. Im Theaterwissenschaftlichen Institut der Freien Universität waren dies Dietrich Steinbeck (geb. 1937), Harald Zielske (geb. 1936) und Arno Paul (geb. 1939). Dietrich Steinbeck wurde 1963 mit einer Dissertation über »Inszenierungsformen des Tannhäuser 1845-1904. Untersuchungen zur Systematik der Opernregie« promoviert, die als eine der ersten substantiellen theaterwissenschaftlichen Beiträge zur Musiktheaterwissenschaft gelten kann, die bisher nur von Musikwissenschaftlern betrieben worden war. 1970 habilitierte er sich mit einer Schrift, die der Theaterwissenschaft grundlegend neue Perspektiven eröffnete: »Einleitung in die Theorie und Systematik der Theaterwissenschaft«. Sie bahnte einen Ausweg aus dem Dilemma, in das Herrmann – ebenso wie Kutscher und Niessen – geraten war, als er als Gegenstand der neuen Wissenschaft die Aufführung bestimmt hatte. Um die Jahrhundertwende waren die Geisteswissenschaften im wesentlichen historischhermeneutische Wissenschaften. Und so war es für Herrmann, den germanistischen Mediävisten, ganz selbstverständlich, daß auch die Theaterwissenschaft historisch vorgehen müsse. Im Unterschied zu anderen historischen Wissenschaften ist jedoch der Theaterwissenschaft ihr Gegenstand nicht verfügbar. Die Aufführungen der Vergangenheit sind für immer verloren. Was bleibt, sind lediglich einzelne Materialien und Dokumente. Ein unmittelbarer Zugang ist nur zu Aufführungen möglich, die hier und heute stattfinden. Herrmann versuchte dies Problem dadurch zu umgehen, daß er vorschlug, den Gegenstand, der nicht mehr verfügbar sei, zunächst zu »rekonstruieren«. Dazu sollte einerseits das gesammelte historische Material hinzugezogen werden sowie andererseits die am Gegenwartstheater gewonnene Kenntnis des »lebendigen Theaters«. Der unterschiedliche ontologische und epistemologische Status von Aufführungen der Vergangenheit und Aufführungen der Gegenwart wurde dabei weitgehend ignoriert. Damit begann jene fruchtlose

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Phase der Aufführungs-»Rekonstruktionen«, die von Herrmanns »Schülern« noch bis in die fünfziger und sechziger Jahre hinein betrieben wurden, während Herrmann dies bereits in den zwanziger Jahren als Sackgasse erkannt hatte und sich von nun an darauf beschränkte, die räumlichen Verhältnisse für vergangene Aufführungen rekonstruieren zu wollen. Auch Steinbeck betont, daß als der »eigentliche Gegenstand« der Theaterforschung »die individuelle, identisch nicht wiederholbare ›Aufführung‹, ... zu begreifen« sei, der »Theaterabend«. 11 Er unterscheidet jedoch grundsätzlich zwischen Aufführungen des Gegenwartstheaters, an denen der Wissenschaftler teilnimmt, und Aufführungen der Vergangenheit: »Mit Theaterkunstwerken der Geschichte läßt sich nicht ästhetisch, sondern nur theoretisch verkehren.« 12 Auf dieser Grundlage nahm er eine prinzipielle Unterscheidung zwischen den Aufgaben systematischer und historischer Theaterwissenschaft vor. Systematische Theaterwissenschaft soll Struktur und Aufbau des Theaterkunstwerks ermitteln. Da Steinbeck die Aufführung als eine »Ereignis«- oder »Wirkungsform« begreift, die nur über die unmittelbare Anschauung, die sinnliche Wahrnehmung zugänglich ist, rekurrierte er für seinen Entwurf einer derartigen Analyse auf die Phänomenologie, insbesondere auf Roman Ingardens Untersuchung »Das literarische Kunstwerk«. Dabei ging es Steinbeck nicht um die Analyse konkreter Aufführungen, sondern um die Ermittlung bestimmter Strukturen, die seiner Ansicht nach »das« Theaterkunstwerk konstituieren. Er berücksichtigte nicht nur Produzenten, Werk und Rezipienten, sondern auch die spezifischen Wechselwirkungen zwischen ihnen. Seine phänomenologische Vorgehensweise ließ ihn die Performativität der Aufführung nicht aus dem Blick verlieren – auch wenn die wichtigen und grundlegenden Begriffe des Ereignisses und der Wirkung nicht präzise genug gefaßt wurden. Steinbecks Entwurf läßt sich zusammenfassend als die erste theoretisch tragfähige Grundlage begreifen, auf der spätere Versuche zur Aufführungsanalyse aufbauen konnten. Es versteht sich von selbst, daß aus heutiger Sicht manche Gedankengänge Steinbecks kaum mehr nachvollziehbar erscheinen, daß manche Voraussetzungen und Schlußfolgerungen nicht zu halten sind. Ihm kommt jedoch das Verdienst zu, als erster eine klare Unterscheidung zwischen Aufführungen, die der Forscher selbst erlebt, und Aufführungen der Vergangenheit vorgenommen, damit eine Grundlage für eine Analyse der selbst erlebten Aufführung geschaffen und den »Rekonstruktions«-Versuchen eine entschiedene, argumentativ begründete Absage erteilt zu haben.

11 Dietrich Steinbeck: Einleitung in die Theorie und Systematik der Theaterwissenschaft, Berlin 1970, S. 1. 12 S. 162.

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Auf dieser Grundlage konnten neue Ansätze in der historischen und in der systematischen Theaterwissenschaft entwickelt werden. Harald Zielske hatte bereits mit seiner Dissertation »Handlungsort und Bühnenbild im 17. Jahrhundert. Untersuchungen zur Raumdarstellung im europäischen Barocktheater« (1965) neue Wege der Theatergeschichtsschreibung eingeschlagen. Zwar hatte Max Herrmann Theater als eine Raumkunst definiert und sich vor allem der Rekonstruktion räumlicher Verhältnisse, beispielsweise bei den Aufführungen von Hans Sachs’ Fastnachtspielen, gewidmet. Seine Nachfolger dagegen hatten Probleme des Bühnenraumes bereitwillig den Kunsthistorikern überlassen – es sei denn, sie wurden mit ihnen bei ihren Rekonstruktionsversuchen konfrontiert. Zielske, der auch Kunstgeschichte studiert hatte, versuchte bereits in seiner Dissertation, durch Einbeziehung kunsthistorischer Verfahren eine spezifisch theaterhistorische Methode bei der Untersuchung des Theaterraumes zu entwickeln. In seiner Dissertation analysiert er die Typendekoration des Barocktheaters nicht – wie kunsthistorische Arbeiten zum Bühnenbild des 17. Jahrhunderts – im Kontext der Stile der zeitgenössischen Malerei und Architektur, sondern er setzt sie zur Typik von Handlungsmustern in Beziehung, wie sie den Texten verschiedener theatraler Gattungen wie Oper, Trauerspiel, Komödie, Pastorale etc. zugrunde liegt. Damit wurde erstmals eine auf die Aufführung bezogene Funktionsanalyse des Bühnenbildes durchgeführt. Die Dekoration, die einen zugrundeliegenden Typus wie Königliche Dekoration, Militärische Dekoration oder Poetische Dekoration realisierte, konnte vom Zuschauer als Verweis auf ein bestimmtes Handlungsmuster begriffen und gedeutet werden, das sich in dieser Dekoration realisieren sollte. In seinem Buch »Deutsche Theaterbauten bis zum Zweiten Weltkrieg« (1971) hat Zielske die Methode der historischen Funktionsanalyse des Theaterraumes weiterentwickelt und auf die Untersuchung von Theatergebäuden ausgedehnt. Zwar ging es ihm hier um eine Dokumentation der Theaterbauten durch Daten zur Baugeschichte, Längs- und Grundrißskizzen, Photos u.ä. Für die Auswahl der zu dokumentierenden Theaterbauten und ihre Gliederung erwies es sich jedoch als notwendig, unterschiedliche Funktionen der Gebäude zu ermitteln und zu identifizieren, um auf dieser Basis eine typologische Gliederung entwerfen zu können. Zielske hat mit weiteren eigenen Arbeiten sowie seit 1981 als Herausgeber der Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte durch Anregung entsprechender Untersuchungen seinen Ansatz etabliert und ihm Anerkennung verschafft. Besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang der von ihm 1974 zusammen mit Rolf Badenhausen herausgegebene Sammelband »Bühnenformen, Bühnenräume, Bühnendekorationen. Beiträge zur Entwicklung des Spielorts«, der schon nach kurzer Zeit den Stellenwert eines Handbuchs zu Fragen des Theaterraums erlangte, sowie die von ihm zusammen mit Alexandra Glanz vorgenommene Untersuchung zu »Alessandro Galli-

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Bibiena (1686-1748) ›Inventore delle Scene‹ und ›Premier Architecteur‹ am kurpfälzischen Hof in Mannheim« (Berlin 1991), die auf der Grundlage eines reichen Materials noch einmal die Vorzüge einer Funktionsanalyse historischer Theaterräume im Hinblick auf die Aufführung eindrucksvoll unter Beweis stellt. Daneben hat Zielske mit seinen Aufsätzen zu den deutschen Wandertruppen im ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert einen wichtigen Beitrag zur Sozialgeschichte des deutschen Theaters in diesem Zeitraum geliefert. Zur Sozialgeschichte des deutschen Theaters hat auch Arno Paul Wesentliches beigetragen. Mit seiner Dissertation über »Aggressive Tendenzen des Theaterpublikums. Eine strukturell-funktionale Untersuchung über den sog. Theaterskandal anhand der Sozialverhältnisse der Goethezeit« (1969) griff er einen Gegenstand auf, der von der deutschen Theaterwissenschaft bisher eher vernachlässigt worden war, nämlich das Publikumsverhalten im Theater des 18. Jahrhunderts, das er am Beispiel des Theaterskandals einer funktionalen Analyse unterzog. Zwar steht die Arbeit durchaus in der Tradition englischer und französischer Arbeiten zum Theaterpublikum im elisabethanischen Zeitalter bzw. zum Londoner und Pariser Publikum des 17. und 18. Jahrhunderts, welche die soziale Zugehörigkeit des Publikums und sein Verhalten im Theater untersuchen. Sie geht jedoch in einem entscheidenden Punkt über sie hinaus. Während beispielsweise Harbage (Shakespeare's Audiences, New York 1941) oder Lough (Paris Theatre Audiences in the Seventeenth and Eighteenth Century, London 1957) sich überwiegend damit begnügen, auf der Grundlage des vorhandenen Materials die soziale Zugehörigkeit des Publikums zu bestimmen und sein Verhalten im Theater zu beschreiben, unternimmt Paul darüber hinaus den Versuch, für das beschriebene Verhalten beim Theaterskandal eine Erklärung zu finden, welche auf die jeweiligen Sozialverhältnisse bezogen ist und die Stellung berücksichtigt, die den untersuchten Zuschauergruppen (den Zuschauern im Parterre, in den Logen, auf der Galerie bzw. den Studenten, Offizieren, der städtischen Jugend, den Juden) in der Gesellschaft zukommt. Die Methoden einer funktionalen historischen Analyse erwiesen sich auch im diesem Fall als äußerst fruchtbar. Die Arbeit, die nur als Dissertationsdruck publiziert wurde, hat allerdings nicht die Beachtung und Rezeption im Fach gefunden, die sie m.E. verdient hätte. Wichtiger noch als Pauls Beitrag zur Sozialgeschichte des deutschen Theaters scheint mir für die Entwicklung des Fachs im deutschsprachigen Raum die Perspektive zu sein, die er für die systematische Theaterwissenschaft eröffnete – um zunächst bei Steinbecks Terminologie zu bleiben. 1971 erschien in der »Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie« Pauls Aufsatz »Theaterwissenschaft als Lehre vom theatralischen Handeln«. Er wurde in den siebziger Jahren in verschiedenen Sammelbänden nachgedruckt und entfachte in der deutschen Theaterwissenschaft eine heftige Diskussion.

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Paul ging hier von der Frage »nach dem konstitutiven Moment des Theaters« aus, »um von dort aus das zentrale Objekt einer Wissenschaft vom Theater zu fixieren« 13. D.h. es sollte noch einmal eine grundlegende Bestimmung des Gegenstandes des Fachs vorgenommen, noch einmal ein »grand récit« etabliert werden. Unter Rekurs auf die Chicagoer Schule bzw. auf G. H. Meads Theorie vom symbolischen Interaktionismus bestimmte Paul als dieses Moment eine besondere Form symbolischer Interaktion und definierte entsprechend: »Theater ist nur und nur das ist Theater, wenn in einer symbolischen Interaktion ein rollenausdrückendes Verhalten von einem rollenunterstützenden Verhalten beantwortet wird, das auf der gemeinsamen Verabredung des ›als-ob‹ beruht.« 14 Uns mag diese Definition heute viel zu eng erscheinen. Wichtig an ihr ist jedoch aus fachhistorischer Sicht, daß »damit die systematische Beobachtung theatralischer Prozesse« in den Mittelpunkt des Interesses trat und daher »an die erste Stelle der Forschungstechniken« rücken sollte. 15 Auch wenn Paul sich nicht ausdrücklich auf Herrmann berief, so knüpfte seine Bestimmung des Theaters als eine besondere Form der symbolischen Interaktion doch an dessen Definition der Aufführung als eines »sozialen Spiels« an, aus der ein entsprechendes Forschungsprogramm für die neue Disziplin abgeleitet werden sollte. Paul forderte jetzt ein solches Programm ein: Es sollte in der »systematischen Beobachtung theatralischer Prozesse« bestehen. Nachdem Steinbeck mit seiner phänomenologischen Untersuchung ein theoretisches Fundament für eine künftige Aufführungsanalyse gelegt hatte, ging Paul jetzt einen Schritt weiter: Die Forschung sollte an konkreten theatralen Prozessen ansetzen, die hier und heute ablaufen. Die Theaterwissenschaft sollte sich der gegenwärtig erleb- und erfahrbaren Aufführung zuwenden. Aus der systematischen sollte eine analytische Theaterwissenschaft hervorgehen. Eine solche Forderung galt damals nahezu als revolutionär. Sie löste im deutschsprachigen Raum eine heftige Kontroverse aus, die für die weitere Entwicklung der Theaterwissenschaft folgenreich war. Leider wurde das geforderte Programm nie ausgearbeitet, geschweige denn realisiert. Immerhin nahm das inzwischen in Institut für Theaterwissenschaft umbenannte Institut als erstes der theaterwissenschaftlichen Institute im deutschsprachigen Raum die Aufführungsanalyse als obligatorische Veranstaltung in seine Studienordnung auf. In Magisterarbeiten und vereinzelt auch in Dissertationen wurden Aufführungen analysiert; dies geschah jedoch ohne die notwendige theoretische und methodologische Fundierung, so daß sie für die Forschung außerhalb Berlins ohne Belang blieben. 13 Arno Paul: Theaterwissenschaft als Lehre vom theatralischen Handeln, in: Helmar Klier 1981, S. 208-237, S. 222. 14 S. 232. 15 S. 235.

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Um der Bedeutung gerecht zu werden, welche man dem Gegenwartstheater in Lehre und Forschung des Instituts für die Zukunft beimaß, wurde nach der Emeritierung Baumgarts (1975) beschlossen, die Professur mit einer Persönlichkeit zu besetzen, welche die notwendigen Kompetenzen und Qualifikationen für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gegenwartstheater mitbrachte. Ein entsprechend qualifizierter und habilitierter Theaterwissenschaftler stand nach Meinung der Kommission nicht zur Verfügung. Darum entschied man sich dafür, alle drei Listenplätze mit Theaterkritikern zu besetzen. 1977 wurde Henning Rischbieter (1927-2013) an das Institut berufen. Er war Herausgeber und Begründer von »Theater heute«, der damals maßgeblichen und einflußreichsten Theaterzeitschrift im deutschsprachigen Raum. Der Theaterwissenschaft stand er eher skeptisch gegenüber. Jedenfalls hielt er die Auseinandersetzung mit dem Gegenwartstheater für eine Aufgabe der Theaterkritik und nicht theaterwissenschaftlicher Forschung. Diese sollte seinem Verständnis nach vorrangig der Bereitstellung positiven Wissens dienen. Wer erwartet hatte, daß der Theaterkritiker sich als Professor für Theaterwissenschaft daran machen würde, systematisch Methoden der Aufführungsanalyse zu entwickeln und zu erproben, sah sich getäuscht. Auf diesem Gebiet nahm Rischbieter keinerlei Forschung vor. Bereits in den sechziger Jahren hatte er zwei Handbücher zum Theater herausgegeben, zu denen er einen Großteil der Beiträge selbst beigesteuert hatte: 1962 »Welttheater - Bühnen, Autoren, Inszenierungen« (zusammen mit Siegfried Melchinger, 2. Aufl. 1964) und 1969 »Friedrichs Theaterlexikon«. Beide wurden jetzt gründlich überarbeitet und erheblich erweitert. 1983 erschien die neue Fassung des »Theater-Lexikons«, 1985 das neue »Welttheater – Theatergeschichte, Autoren, Stücke, Inszenierungen«, an dem Jan Berg mitgearbeitet hatte. Als besonders gravierend und daher nicht länger hinnehmbar sah Rischbieter die enormen Lücken im Wissen um das Theater im Nationalsozialismus an, die trotz einer Reihe von hervorragenden Studien zur Theaterpolitik im faschistischen Deutschland Mitte der achtziger Jahre immer noch bestanden. Er entwarf daher ein großangelegtes Forschungsprojekt zur »Strukturgeschichte des Deutschen Schauspieltheaters 1933 bis 1944«, das von 1987 bis 1992 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wurde. Im Rahmen dieses Projektes entstanden zwischen 1986 und 1998 ungefähr dreißig Magisterarbeiten, fünf Dissertationen und eine Habilitationsschrift. Die Ergebnisse des Projektes sind in einer Art Handbuch zusammengefaßt, das 2000 unter dem Titel »Theater im Dritten Reich. Theaterpolitik – Spielplanstruktur – NS-Dramatik« erschienen ist, herausgegeben und verfaßt von Henning Rischbieter, Barbara Panse und Thomas Eicher (d.h. vom Projektleiter und den beiden Mitarbeitern des Projekts).

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Die Magisterarbeiten gelten überwiegend einem bestimmten lokalen Theater im fraglichen Zeitraum und werten die in Stadt- und Theaterarchiven überlieferten relevanten Dokumente aus. Bei den Dissertationen handelt es sich hauptsächlich um Ausweitungen entsprechender Magisterarbeiten. Von besonderer Bedeutung für das Projekt war die Habilitationsschrift von Barbara Panse über »Autoren, Themen und Zensurpraxis: Zeitgenössische deutschsprachige Dramatik im Theater des Dritten Reiches« (1993). Als wichtigste Grundlage für die Untersuchung wurde einerseits ein Korpus von über hundert zeitgenössischen deutschsprachigen Stücken herangezogen, andererseits der gesamte überlieferte Aktenbestand der im ehemaligen Zentralarchiv der DDR Potsdam (heute Bundesarchiv) archivierten Akten des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, insbesondere der Abteilung VI (Theaterabteilung, Reichsdramaturgie), der zeitlich fortlaufend von 1934 bis 1944 in 125 Aktenordnern erhalten geblieben ist. Auf der Grundlage dieses Materials wurde das Vorgehen der Zensur bezüglich der zeitgenössischen deutschsprachigen Dramatik sowohl in seinen allgemeinen Prinzipien als auch detailliert und präzise unter außen- und innenpolitischen Verhältnissen nachgezeichnet und dargestellt. Die Ergebnisse der Habilitationsschrift wie überhaupt des gesamten Projektes liefern einen wesentlichen Beitrag zu einem wichtigen, bisher jedoch nur lückenhaft rekonstruierten Kapitel der Theatergeschichte des »Dritten Reiches«. Die siebziger und achtziger Jahre waren andernorts – vor allem in Italien, Frankreich, den USA – eine Zeit heißer Theoriedebatten um Theatersemiotik, Theateranthropologie, Performance-Theorie. Im Mittelpunkt der Diskussionen stand die Frage, wie der spezifischen Performativität von Aufführungen systematisch und analytisch beizukommen sei. An dieser Diskussion hat sich das Institut nicht maßgeblich beteiligt. Zwar wurde sie in einigen Dissertationen und einer Habilitationsschrift aufgegriffen; deren Ergebnisse gingen jedoch über diejenigen der Arbeiten, auf die Bezug genommen wurde, nicht wesentlich hinaus. Von den Lehrenden des Instituts weder initiiert noch gefördert, jedoch durchaus freundlich geduldet, bildete sich in den achtziger Jahren ein neuer Forschungsschwerpunkt heraus, der auf das Theater Lateinamerikas bezogen war. Zu diesem Bereich gab es in Deutschland praktisch keine Forschung. Studierende, die zugleich am Lateinamerika-Institut eingeschrieben waren, wandten sich ihm zu und verfaßten ihre Magister- und Doktorarbeiten zu entsprechenden Themen. So entstand eine Reihe von Dissertationen, die vom Gegenstand her fast völliges Neuland betraten. 16 Auch die Habilitationsschrift von Henry Thorau über »Politisches Theater am Beispiel Brasiliens«

16 Vgl. z.B. B. Panse (1981), S. Möller-Zeidler (1986), M. Bartolomei-Guercovich (1982), K. Röttger (1992) oder C. Overhoff (1997).

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(1990) gehört in diesen Zusammenhang. Der Forschungsschwerpunkt wird auch heute noch weitergeführt (vgl. weiter unten). 17 Nach Rischbieters Emeritierung (1995) wurde die Vfn. im Frühjahr 1996 als seine Nachfolgerin an das Institut berufen. Die Forschungsschwerpunkte, die sich während ihrer Tätigkeit als Professorin am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main (1970-1986), als Inhaberin des Lehrstuhls für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Bayreuth (1986-1990) und als Direktorin des neu gegründeten Instituts für Theaterwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (1990-1996) herausgebildet hatten, betrafen Ästhetik und allgemeine Kunsttheorie, Ästhetik und Semiotik des Theaters, Aufführungsanalyse, Theatergeschichte und interkulturelles Theater. Die dreibändige »Semiotik des Theaters« (1983, 3. Aufl. 1994, englische Übersetzung 1992, vietnamesische Übersetzung 1997, spanische Übersetzung 1999) sollte die systematische, historische und analytische Theaterwissenschaft auf semiotischer Grundlage weiterentwickeln, sie als Kunstwissenschaft und zugleich als Kulturwissenschaft profilieren. Sie galt der Frage, auf welche Weise in performativen Prozessen wie Theateraufführungen Bedeutung erzeugt wird. Als Vorstudie diente eine Untersuchung, die in Auseinandersetzung mit verschiedenen Bedeutungstheorien und ästhetischen Theorien die Differenz zwischen ästhetischen und nicht-ästhetischen Bedeutungsprozessen genauer zu bestimmen und zu beschreiben suchte (»Bedeutung – Probleme einer semiotischen Hermeneutik und Ästhetik«, 1979). Der erste Band, »Das System der theatralischen Zeichen«, geht von der These aus, daß im Theater in gewissem Sinne eine »Verdoppelung« der Kultur stattfindet, in der Theater gespielt wird: Die vom Theater hervorgebrachten Zeichen beziehen sich – wenn auch jeweils auf unterschiedliche Weise – auf die von den entsprechenden kulturellen Systemen hergestellten Zeichen, also die Theatergeste auf eine Geste, das Kostüm auf eine Kleidung, das Objekt auf bestimm17 In den achtziger Jahren wurde am Institut vor allem vom Mittelbau eine heftige Diskussion um die Ausweitung der Theaterwissenschaft zu einer Theater-, Filmund Fernsehwissenschaft geführt. Sie hatte zur Folge, daß zwei dem Institut neu zugewiesene Professuren – eine C4 und eine C3 Professur – gegen den Willen der Mehrheit der Professoren, die eine Besetzung mit ausgewiesenen Theaterwissenschaftlern, vor allem mit einem Theatertheoretiker forderten, mit einem Film- und einem Fernsehwissenschaftler besetzt wurden: 1986 die C3 mit Karl Prümm und 1992 die C4 mit Karsten Witte. Da beide ausschließlich film- und fernsehwissenschaftliche Arbeiten publiziert und keinen Beitrag zur Entwicklung der Theaterwissenschaft geleistet haben, bleiben sie hier unberücksichtigt. Übrigens hat sich die damals geführte Debatte heute längst als obsolet erwiesen. Internationalen Standards entsprechend wird auch in der Lehre Film- und Fernsehwissenschaft heute nicht mehr als Teilgebiet der Theaterwissenschaft betrieben, sondern in einem eigenen Studiengang.

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te Objekte usw. Da die theatralen Zeichen in diesem Sinn stets Zeichen von Zeichen sind, muß eine Semiotik des Theaters in einer Kultursemiotik fundiert werden. Entsprechend unternimmt es der erste Band, die einzelnen Systeme theatraler Zeichen – wie Sprache, Stimme, Geste, Bewegung, Raumgestaltung etc. – unter Bezug auf die Zeichen der entsprechenden kulturellen Systeme zu untersuchen. Dabei stellte sich heraus, daß zwar für Theater ein Modus der Zeichenverwendung charakteristisch ist, in dem Mobilität und Polyfunktionalität der Zeichen vorherrschen, ein solcher Modus jedoch durchaus auch in performativen Prozessen außerhalb des Theaters anzutreffen ist. Für diesen Modus der Zeichenverwendung wurde der Begriff »Theatralität« eingeführt. Damit war die Debatte um den Theaterbegriff eröffnet. Denn »Theatralität« verweist gerade darauf, daß ein Verhalten, eine Situation u.a. wohl theatral, jedoch nicht unbedingt »Theater« ist. Der Begriff fokussiert so den engen Zusammenhang zwischen Theater und umgebender Kultur. Dieser Zusammenhang wird im zweiten Band »Vom künstlichen zum natürlichen Zeichen – Theater des Barock und der Aufklärung« an zwei historischen Beispielen nachgewiesen. Er untersucht die Konstruktion spezifischer theatraler Kodes im 17. und 18. Jahrhundert in Deutschland. Die Untersuchung führte zu dem Ergebnis, daß die Konstruktion theatraler Kodes hier jeweils in regem Austausch mit anderen kulturellen Kodes erfolgte, so daß zum Beispiel der gestische Kode des Theaters der Aufklärung geradezu als ein repräsentatives Sinnsystem der Aufklärung begriffen und erklärt werden kann. Der dritte Band, »Die Aufführung als Text«, unternimmt es, die Forderung einzulösen, eine Methode der Aufführungsanalyse zu entwickeln und an einem konkreten Beispiel zu erproben. Dabei wird von der Einsicht ausgegangen, daß in der Aufführung Bedeutung nur durch eine enge Wechselwirkung zwischen Performativität und Textualität entsteht (»Text« wird dabei im semiotischen Sinne als strukturierter Zusammenhang von – in diesem Fall theatralen – Zeichen begriffen). Eine Aufführungsanalyse hätte also an dieser Wechselwirkung anzusetzen. Da dies zum damaligen Zeitpunkt aus methodischen Gründen kaum möglich war, wurde in einem ersten Schritt eine Fokussierung auf die Textualität vorgenommen, ohne dabei jedoch die Performativität aus dem Blick zu verlieren. Die hier ausgearbeitete Methode der Aufführungsanalyse wurde in den folgenden Jahren an einer Reihe höchst unterschiedlicher Aufführungen erprobt und weiterentwickelt (vgl. die entsprechenden Aufsätze in »Die Entdeckung des Zuschauers«, 1997, und in »The Show and the Gaze of Theatre. A European Perspective«, 1997 sowie in »Ästhetische Erfahrung« 2001). Bei der Arbeit am dritten Band hatte sich gezeigt, daß das Verhältnis zwischen Theater und Drama höchst problematisch ist. Weder ist ihm mit der Behauptung einer »ursprünglichen Entgegensetzung« beizukommen, noch auch und erst recht nicht mit der Annahme einer »Vermittlung« des Dramas

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durch die Aufführung. Die dort getroffene Bestimmung, daß es sich bei der Inszenierung eines Dramas um den Prozeß einer Transformation, d.h. einer intersemiotischen Übersetzung handelt, erschien noch ergänzungsbedürftig. Zwar brachte der 1983 unter diesem Aspekt organisierte internationale Kongreß eine weitere Abklärung in theoretischer und analytischer Hinsicht (vgl. »Das Drama und seine Inszenierung«, 1985). Es wurde zugleich jedoch deutlich, daß dies Problem in eine historische Perspektive gerückt werden muß. Die zweibändige »Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart« (1990, 2. Aufl. 1999, ungarische Übersetzung 2001, englische Übersetzung 2002, slowakische Übersetzung 2003, kroatische Übersetzung 2011, griechische Übersetzung 2012) sollte dieses Desiderat einlösen. Hier wird von der These ausgegangen, daß das europäische Theater die Abhängigkeit des Menschen von sich selbst, seine exzentrische Position im Sinne Plessners symbolisiert. Die Schauspieler fungieren als ein Spiegel, der den Zuschauern ihr Bild als das eines anderen zurückwirft. Indem die Zuschauer ihrerseits dieses Bild reflektieren, treten sie zu sich selbst in ein Verhältnis. Die Geschichte des europäischen Theaters läßt sich in diesem Sinne als Identitätsgeschichte rekonstruieren. Die Funktion des Dramas wird entsprechend darin gesehen, für das Theater bestimmte Identitätsangebote zu formulieren, mit denen das Theater in unterschiedlichen Kulturen und zu verschiedenen Zeiten höchst vielfältig umgegangen ist. Der »Geschichte des Dramas« folgte eine »Kurze Geschichte des deutschen Theaters« (1993). Zwar war 1990 Daibers bis zur Gegenwart führende Erweiterung von Michaels »Deutsches Theater« (1923) unter dem Titel »Geschichte des deutschen Theaters« erschienen und damit endlich eine Alternative zu Knudsens »Deutscher Theatergeschichte« auf dem Markt. Diese Arbeit beschränkte sich im Wesentlichen auf Faktographisches. Nach ihrer Konzeption konnte sie weder die Diskussion um den Theaterbegriff noch die Debatte um verschiedene Entwürfe von Geschichtsschreibung berücksichtigen. In dieser Hinsicht blieb sie sowohl hinter dem Stand der Theaterwissenschaft als auch dem der Geschichtswissenschaft zurück. Um ihm gerecht zu werden, wurden in der »Kurzen Geschichte des deutschen Theaters« unterschiedliche Ansätze erprobt und auf ihre jeweilige Reichweite hin überprüft: kultur-, d.h. mentalitäts-, zivilisations-, sozial- und wissenschaftsgeschichtliche Ansätze, historische Anthropologie und Psychohistorie, ebenso wie geistes-, ideen- und kunstgeschichtliche Ansätze. Als besonders innovativ und ertragreich erwiesen sich unterschiedliche kulturhistorische Ansätze. Um ihre Bedeutung für die Theatergeschichtsschreibung angemessen diskutieren und sie für die Theatergeschichtsschreibung entsprechend fruchtbar machen zu können, wurde in der Werner Reimers-Stiftung, Bad Homburg, eine internationale Arbeitsgruppe zur europäischen Theatergeschichte eingerichtet. Sie hat ihre Arbeit auf kulturwissenschaftliche Aspekte des europäischen Theaters im 20. Jahrhundert kon-

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zentriert (vgl. »TheaterAvantgarde«, 1995, sowie »Theater seit den sechziger Jahren«, 1998). Durch aktuelle Entwicklungen auf dem Theater angeregt und bedingt, traten seit Mitte der achtziger Jahre zunehmend Formen eines interkulturellen Theaters in den Mittelpunkt des Interesses. Dabei handelt es sich um einen Forschungsschwerpunkt, der stärker noch als die Problematik von Theatergeschichtsschreibung des internationalen, interkulturellen und interdisziplinären Dialogs bedarf. Das erfordert zum einen entsprechend zusammengesetzte Kolloquien, wie sie 1988 in der Werner Reimers-Stiftung (vgl. »The Dramatic Touch of Difference. Theatre, Own und Foreign«, 1990) und 1991 am Mainzer Institut (vgl. »Welttheater, Nationaltheater, Lokaltheater? Europäisches Theater am Ende des 20. Jahrhunderts«, 1993) stattfanden, und zum anderen eine permanente interdisziplinäre und interkulturelle Projektarbeit. Sie wurde im Projekt der Vfn. »Inszenierung des Fremden. Produktive Rezeption des fernöstlichen Theaters durch das Theater der Avantgarde in Rußland, Deutschland, Frankreich und England« geleistet, das im Rahmen der von der Vfn. initiierten Forschergruppe »Weltbildwandel« von 1990 bis 1993 von der DFG gefördert wurde, im Projekt »Interkulturelle Tendenzen im Gegenwartstheater Chinas«, das vom China-Programm der VW-Stiftung von 1989 bis 1992 finanziert wurde, und im Projekt »Prozesse kultureller Transformation im anglophonen Theater Nigerias« des Bayreuther Sonderforschungsbereichs 214 »Identität in Afrika« (1989-1991). Aus diesen Projekten gingen mehrere Dissertationen, eine Habilitationsschrift und zahlreiche andere Publikationen hervor. Die Forschungen der Vfn. schufen das Fundament für eine Theorie der interkulturellen Inszenierung (»Inszenierung von Welt«, 1989, und »Das eigene und das fremde Theater«, 1999), die ihre Funktion jeweils im Zusammenhang mit tiefgreifenden kulturellen Wandlungsprozessen bestimmt und begreift. Diese Theorie weist mögliche Anschlußstellen für den am Institut entstandenen Forschungsschwerpunkt zum lateinamerikanischen Theater auf. Es wurde daher ein neues Projekt entworfen: »Struktur und Funktion interkultureller Austauschprozesse im zeitgenössischen Volkstheater Perus, Kolumbiens und Mexikos – Theater als ein Modell interkulturellen Verstehens«, das von 1997 bis 2001 von der VW-Stiftung im Rahmen ihres Schwerpunktes »Das Eigene und das Fremde« gefördert wurde. Es wurde von Barbara Panse geleitet und zusammen mit Janina Möbius durchgeführt. In ihm wurde die am Beispiel des europäischen, chinesischen und afrikanischen Theaters entwickelte Theorie zur interkulturellen Inszenierung auf ausgewählte Kulturen Lateinamerikas übertragen, dort auf ihre Tragfähigkeit hin überprüft und entsprechend modifiziert und weiterentwickelt. Aus dem Projekt gingen eine Vielzahl an Magisterarbeiten zu Theater in Brasilien, Kolumbien und Mexiko sowie die Dissertation der Projektmitarbeiterin Janina Möbius »Und unter der Maske ... das Volk. Lucha Libre – ein mexikanisches Volksspektakel zwischen Tradition und Moderne« (2002) hervor.

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Ferner flossen die Forschungsergebnisse in Barbara Panses Buchbeitrag »Interkulturelle Austauschprozesse im zeitgenössischen Volkstheater Perus, Kolumbiens und Mexikos« (2001) ein (zur Weiterentwicklung dieses Forschungsschwerpunktes s.u.). Seit 1997 besteht eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Theaterwissenschaft und der St. Petersburger Theaterakademie, zunächst finanziert von der Stiftung Volkswagenwerk. Gegenstand der Zusammenarbeit war zunächst die Entwicklung gemeinsamer curricularer Elemente in den Bereichen Aufführungsanalyse und Theaterhistoriographie. Die Theaterwissenschaft wurde an der 1779 gegründeten Theaterakademie in den zwanziger Jahren von Alexander Gvozdev eingeführt, einem Schüler Max Herrmanns. Als Teil der Kooperation wurde 1997 am Berliner Institut ein internationales Kolloquium über »Problems of Teaching Performance Analysis« durchgeführt, dessen Ergebnisse in der Zeitschrift »Assaph« (No. 13, 1997) veröffentlicht wurden, sowie 1999 im Aleksandrinskij Theater in St. Petersburg ein Festival des zeitgenössischen deutschen Dramas. Die Übersetzungen der in szenischen Lesungen präsentierten Stücke wurden anschließend publiziert. Jährlich wurden gemeinsame Workshops abgehalten. Dozenten-, Doktoranden- und Studentenaustausch rundeten das Programm ab. Die von der Stiftung Volkswagenwerk finanzierte Kooperation endete im Mai 2004 – d.h. im Jahre des 225-jährigen Jubiläums der Theaterakademie – mit der öffentlichen Präsentation des von der Vfn. und Alexander Chepurov (Dekan der theaterwissenschaftlichen Fakultät der Theaterakademie) gemeinsam herausgegebenen Bandes von Übersetzungen deutscher theaterwissenschaftlicher Beiträge der letzten dreißig Jahre ins Russische »Teatrovedenite Germanii« (Theaterwissenschaft in Deutschland, 2004) im St. Petersburger Aleksandrinskij Theater. Die für beide Seiten so überaus produktive und erfolgreiche Zusammenarbeit wird bis heute fortgesetzt. Im Herbst 1998 feierte das Institut für Theaterwissenschaft sein 50jähriges Jubiläum. Aus diesem Anlaß veranstaltete es vom 29. Oktober bis zum 1. November 1998 den Kongreß »Transformationen. Theater der neunziger Jahre«, auf dem neben Plenums- und Sektionsvorträgen neue Arbeitsformen in Arbeitsgruppen zur Aufführungsanalyse erprobt wurden 18. Außerdem erschien aus diesem Anlaß der Band »Berliner Theater im 20. Jahrhun19 dert« , dessen Beiträge ausschließlich von Berliner Theaterwissenschaftlerinnen und Theaterwissenschaftlern stammen. Mit diesem Band sollte zugleich das Andenken Max Herrmanns geehrt werden: Im November 1998 konnte auch das 75-jährige Jubiläum der Gründung des ersten Berliner theaterwissenschaftlichen Instituts durch Max Herrmann begangen werden. Er 18 Vgl. die von Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Christel Weiler herausgegebenen Ergebnisse. 19 Hg. von Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Christel Weiler.

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begründete Theaterwissenschaft als Wissenschaft von der Aufführung und in diesem Sinne als Wissenschaft vom Performativen. Am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität hatte sie sich inzwischen auf eine Weise weiterentwickelt, die es ihr ermöglichte, als Basis und Trägerdisziplin für großangelegte interdisziplinäre Forschungsvorhaben zu fungieren. Fischer-Lichtes Arbeiten zum Gegenwartstheater, zur Theatergeschichte, zum Theater außereuropäischer Kulturen haben immer wieder einen engen Zusammenhang zwischen Theater und anderen performativen Prozessen der betreffenden Kultur festgestellt und nachgewiesen. Es lag daher der Gedanke nahe, die für einen systematischen, historischen und analytischen Umgang mit Theateraufführungen entwickelten Verfahren und Methoden auf performative Prozesse außerhalb des Theaters zu übertragen und Rituale, Feste, Zeremonien, Spiele, Wettkämpfe u.ä. auf ähnliche Weise zu untersuchen. Selbstverständlich kann dies von der Theaterwissenschaft allein nicht geleistet werden. So entstand der Plan, einen umfassenden interdisziplinären Forschungsverbund zu gründen, in dem Formen, Funktionen, Bedeutung und Wirkung des Performativen in den europäischen und ausgewählten außereuropäischen Kulturen erforscht werden sollten. Als erster Schritt zu einem solchen Forschungsverbund wurde 1995 das DFG-Schwerpunktprogramm »Theatralität. Theater als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften« beantragt und bewilligt, das mit Wirkung vom Frühjahr 1996 eingerichtet wurde. An der Vorbereitung des Schwerpunktprogramms war als Mitglied des Programmausschusses wesentlich Helmar Schramm beteiligt, der seit dem 1. Oktober 1998 die zweite C4-Professur für Theaterwissenschaft am Institut innehat. In seinem wegweisenden Aufsatz »Theatralität und Öffentlichkeit. Vorstudien zur Begriffsgeschichte von ›Theater‹«, der 1988 in den »Weimarer Beiträgen« erschien und in den von Karlheinz Barck, Martin Fontius und Wolfgang Thierse herausgegebenen »Ästhetischen Grundbegriffen« (1990) in erweiterter Form wieder abgedruckt wurde, geht Schramm von der Beobachtung aus, daß seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert der Terminus »Theater« auf die unterschiedlichsten kulturellen Bereiche übertragen wird und entsprechend in unterschiedlichen Diskursen Verwendung findet. Auf der Basis eines umfangreichen begriffsgeschichtlichen Materials seit dem 17. Jahrhundert kommt er zu dem Schluß, daß »der Theaterbegriff als kulturwissenschaftliches Diskurselement behandelt wird« 20. Damit verlagert er den Schwerpunkt der allgemeinen Frage, unter welchen – inhaltlich oder funktional oder relational gefaßten – Bedingungen performative Prozesse als »Theater« oder als »theatral« begriffen werden, zu der ganz konkreten Frage, wie »Theater« und die mit ihm verbundene Begrifflichkeit in unterschiedlichen

20 Ästhetische Grundbegriffe, S. 205.

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Diskursen als markanter Schnittpunkt im interdisziplinären Dialog funktioniert. In seiner Habilitationsschrift »Theatralität und Denkstil. Studien zur Entfaltung theatralischer Perspektiven in philosophischen Texten des 16. und 17. Jahrhunderts«, mit der Schramm sich 1994 als »Externer« (weil im Geisteswissenschaftlichen Zentrum für Literaturforschung tätig) an der Freien Universität habilitierte (sie wurde 1996 unter dem Titel »Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts« publiziert), ehe er noch im selben Jahr auf eine C4-Professur für Theaterwissenschaft an die Universität Leipzig berufen wurde, zieht er aus diesem Befund weitreichende Folgerungen. Ausgehend von der Einsicht, daß Theater »seit jeher geradezu modellhaft als ambivalentes Zusammenspiel von Wahrnehmung, Bewegung und Sprache« funktioniert, sieht er »Theatralität« dadurch definiert, daß sie »drei entscheidende Faktoren kultureller Energie – Aisthesis, Kinesis, Semiosis – auf spezifische Art in sich bündelt« 21. Damit wird das Verhältnis von Theater und Kultur neu definiert. Mit der Fokussierung auf Wahrnehmung, Bewegung, Sprache wird der geometrische Ort fixiert, in dem Theater und Kultur zusammenfallen. Jegliche Untersuchung des ambivalenten Zusammenspiels von Wahrnehmung, Bewegung, Sprache wird insofern immer zugleich als theater- und als kulturwissenschaftliche Untersuchung vollzogen. Damit wird die Möglichkeit eröffnet, »Theatralität« als kulturwissenschaftliches Diskurselement einzusetzen, um plurale Konzepte »einer neu zu schaffenden kulturhistorischen Komparatistik« 22 zu entwickeln. Auf der Grundlage dieser theoretischen Fundierung war zu erwarten, daß das Schwerpunktprogramm »Theatralität« sowohl der Theaterwissenschaft als auch anderen Kulturwissenschaften neue Perspektiven eröffnen würde. Am Programm waren 30 Projekte an 18 verschiedenen Universitäten beteiligt. Das erste Jahreskolloquium fand unter dem Titel »Inszenierung von Authentizität« im Juni 1997 in Berlin statt, das zweite unter dem Titel »Verkörperung« im Juni 1998, das dritte zu »Wahrnehmung und Medialität« 1999, das vierte über »Performativität und Ereignis« 2000, das fünfte zum Thema »Ritualität und Grenze« 2001 und das Abschlußkolloquium 2002 unter dem Titel: »Theatralität. Theater als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften«. Die überarbeiteten Beiträge zu den Kolloquien sind in der von Erika Fischer-Lichte im Francke-Verlag herausgegebenen Serie »Theatralität« inzwischen alle erschienen. Das Projekt der Vfn. »Theatralität und die Krisen der Repräsentation« untersuchte das Verhältnis zwischen Theater und anderen Arten von »cultural performances« mit Bezug auf die Krisen der Repräsentation im 17. und im 20. Jahrhundert. Es ging dabei um die Frage, ob bzw. 21 Helmar Schramm: Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1996, S. 44. 22 S. XI.

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in welcher Hinsicht zum einen Transformationen verschiedener Gattungen von »cultural performances« (wie Fruchtbarkeits-, Exorzismus-, Sündenbockrituale, Charivari, Zirkusvorstellungen, Völkerausstellungen u.a.) in Theater und zum anderen Theatralisierungen unterschiedlicher Genres von »cultural performances« (wie höfische Feste, Hinrichtungen, politische Zeremonien, Sportwettkämpfe u.a.) als Versuche zu verstehen sind, die jeweilige Repräsentationskrise zu überwinden. Aus ihm sind, neben einer Vielzahl an Magister-Arbeiten, drei Dissertationen sowie zahlreiche Beiträge und Buchpublikationen hervorgegangen. Mit ihren Dissertationen »Der aufgeführte Staat. Zur Theatralität höfischer Repräsentation unter Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen«, »Die Manöverinszenierungen der Oktoberrevolution in Petrograd – Theatralität zwischen Fest und Ritual« sowie »Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung 1918-33« weisen Christian Horn, Marina Dalügge und Matthias Warstat nach, wie in Epochen kultureller Umbruch- und Krisensituationen politische Rituale und Feste einer weitgehenden Theatralisierung unterlagen. Dabei erfuhren Bündnisse und Gemeinschaften im Rahmen von Aufführungen ihre gezielte Inszenierung. Die Projektleiterin hat ihre Ergebnisse in zahlreichen Aufsätzen sowie in einer Monographie »Theatre, Sacrifice, Ritual. Exploring Forms of Political Theatre« (2005) veröffentlicht. Die Problematik des Schwerpunktprogramms war auch Gegenstand des zweiwöchigen Seminars, das von den japanischen Germanisten 1999 in Tateshina abgehalten und zu dem Erika Fischer-Lichte als Leiterin eingeladen wurde. Eine zweite Forschergruppe innerhalb des Schwerpunktprogramms wurde von Helmar Schramm geleitet. Sie war »Studien zur Entwicklung einer spezifisch urbanen Theatralität in deutschen Reichsstädten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit« gewidmet. In Zusammenarbeit mit Katrin Kröll wurden Analysen zur Bestimmung der frühen urbanen Theatralität vorgenommen, wobei von einem Ineinandergreifen klerikaler, höfischer und städtischer Theatralität ausgegangen wurde. »Urbane Theatralität« wird als eine sich prozeßhaft entwickelnde Kommunikationsweise begriffen, die nicht nur von innerstädtischer Dynamik geprägt war, sondern in hohem Maße auch von der Auseinandersetzung mit anderen gesellschaftlichen Bereichen. Falluntersuchungen wurden hierbei zur städtischen Theatralität im Straßburger Münster (1349-1536), zu Gesellenkönigreichen der ober- und mittelrheinischen Städte im 15. Jahrhundert sowie zu frühneuzeitlichen Fastnachtsfesten und spielen des Schreinerhandwerks (Mitte 16. bis Ende 17. Jahrhundert) durchgeführt. Den zweiten wichtigen Bestandteil des interdisziplinären Forschungsverbundes stellte das Graduiertenkolleg »Körper-Inszenierungen« dar, an dem zwischen Oktober 1997 und September 2006 vierzehn Hochschullehrer der Freien Universität aus dreizehn Disziplinen, drei Post-Doktoranden und sechzehn Kollegiaten tätig waren. Seinen Gegenstand bildeten Körper-

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Inszenierungen, die in unterschiedlichen Epochen der europäischen Kultur seit der Antike sowie in ausgewählten außereuropäischen Kulturen untersucht wurden. Das Programm des Kollegs ging von der von Hellmuth Plessner entwickelten Dialektik von Leib-Sein und Körper-Haben aus. Diese Dialektik wird als unabdingbare Voraussetzung für die fundamentale Bedeutung begriffen, die dem menschlichen Körper als Grund und Fundament jeglicher Kultur zukommt. Der Begriff »Körper-Inszenierungen« greift die Kontroversen um das Spannungsverhältnis zwischen der leiblichen Materialität des Körpers auf der einen Seite und der Konstruktion des Körpers auf der anderen bewußt auf und markiert auf diese Weise eine neue Stufe der Reflexion. Da das Phänomen der Körper-Inszenierung in allen kulturellen Bereichen anzutreffen ist – außer in den darstellenden Künsten auch im Sport, in der Politik, der Mode, der Werbung und im Alltagsverhalten – und folglich von den unterschiedlichsten Disziplinen bearbeitet wird, eignete sich die Thematik des Kollegs in besonderem Maße, um Nachwuchswissenschaftler/innen in Formen interdisziplinären Arbeitens einzuüben. Den dritten und wichtigsten Bestandteil des Forschungsverbundes bildete der Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen«, der mit Wirkung vom 1. Januar 1999 an der Freien Universität eingerichtet wurde und nach zwölfjähriger erfolgreicher Forschung zum 31. Dezember 2010 seine Arbeit beendete. An ihm waren neunzehn Projekte aus dreizehn geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern beteiligt. Der Sonderforschungsbereich ging von der Hypothese aus, daß die gängige Abhebung der modernen westlichen Kultur von allen anderen Kulturen nicht haltbar ist. Lange Zeit war es Konsens in der Forschung, daß es sich bei dieser Differenz zwischen der westlichen und nicht-westlichen Kulturen um einen grundlegenden Unterschied handelt, der sich unter Bezug auf zwei verschiedene Kulturmodelle angemessen fassen und beschreiben läßt. Die moderne westliche Kultur formuliert ihr Selbst- und Fremdverständnis dieser Meinung nach in Texten und Monumenten. Hier ist Kultur entsprechend als »Text« zu begreifen. Demgegenüber erscheint sie in nicht-westlichen Kulturen als »Performance«. Denn diese artikulierten ihr Selbstverständnis in performativen Prozessen wie Ritualen, Zeremonien, Festen, Spielen etc. Im Gegensatz zu dieser herrschenden Forschungsmeinung begriff der Sonderforschungsbereich die moderne westliche Kultur nicht nur als eine textuelle, sondern auch als eine performative Kultur. Im Mittelpunkt des Interesses stand daher das spannungsreiche Wechselverhältnis zwischen Textualität und Performativität. Es sollte unter Bezug auf die großen Kommunikationsumbrüche untersucht werden: im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit (Erfindung des Buchdrucks) und im 20. Jahrhundert (Erfindung neuer Medien). Während in den ersten beiden Bewilligungsphasen performative Prozesse vor allem im Hinblick auf Tätigkeiten des Produzierens, Herstellens und Erzeugens untersucht wurden, wobei der Fokus auf dem Verhältnis von Expressivität bzw. Repräsentation

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und Performativität lag, verschob sich in der dritten Antragsphase (ab 2005) das Interesse auf die Frage nach der Relation von Intention und Emergenz im Falle kultureller Hervorbringungen. Sieht die klassische, in aristotelischer Tradition stehende Theorie menschlichen Handelns eine Abfolge von intentionaler Planung und Realisierung (mit dem Endpunkt der Erfüllung der anfänglichen Intention) vor, so stellt die Fokussierung von Kultur als Performanz die Frage, ob es nicht auch ein Merkmal kultureller Aktivität sein könnte, daß sich im Zuge der Realisierung Aspekte ergeben, die nicht geplant waren, ja der Planung zuwiderlaufen, und ob die immense Vielfalt und Produktivität des Kulturellen nicht gerade aus diesem Moment des die Planung Überschießenden resultieren könnte. Als Modell diente hierbei die Aufführung. In der letzten Antragsphase (ab 2008) stand die Frage nach dem performativen Hervorbringen des Zukünftigen im Zentrum des Interesses. Aus dem Sonderforschungsbereich ist eine Vielzahl von Publikationen, Dissertationen und Habilitationsschriften hervorgegangen. Aus der Theaterwissenschaft waren fünf Forschungsprojekte am Sonderforschungsbereich angesiedelt. Das Projekt der Vfn. »Ästhetik des Performativen« gehörte dem Projektbereich »Performativität in der Moderne« an. Angeregt von den Performativierungsschüben, die seit den sechziger Jahren in allen Künsten zu beobachten sind, sollte es Grundzüge einer Ästhetik des Performativen am Beispiel des Theaters entwickeln. Als zentrale Kategorie galt dabei die des Ereignisses. Es wurde von der Hypothese ausgegangen, daß die überlieferte heuristische Unterscheidung in Produktions-, Werk- und Wirkungs- bzw. Rezeptionsästhetik in einer Ästhetik des Performativen ihren Sinn verliert. Die Untersuchung konzentrierte sich vorrangig auf das je besondere Verhältnis, das sich bei Dominanz des Performativen 1) zwischen Zuschauern und Darstellern, 2) zwischen Körperlichkeit und Zeichenhaftigkeit der präsentierten Elemente, ihrer Materialität und ihrer Referentialität und 3) zwischen Wirkung und Bedeutung herstellen läßt. Die Untersuchung wurde als eine Serie von Aufführungsanalysen durchgeführt. Sie sollte die in der »Semiotik des Theaters« entwickelten Methoden der Aufführungsanalyse, welche die Aufführung in erster Linie als Text (im semiotischen Sinne) voraussetzen und behandeln, durch die Ausarbeitung und Erprobung von Verfahren ergänzen, die das Performative der Aufführung adäquat zu fassen vermögen. Die Ergebnisse sind in zahlreichen Aufsätzen der Projektleiterin und ihrer Mitarbeiter sowie in einer Monographie der Projektleiterin »Ästhetik des Performativen« (2004, slowenische Übersetzung 2008, polnische 2008, englische 2008, ungarische 2009, japanische 2009, spanische 2011, arabische 2012, tschechische 2011, chinesische 2012) niedergelegt. Sie wurden nicht nur durch zahlreiche Übersetzungen des Buches, sondern auch durch ein- bis zweiwöchige Forschungsseminare international verbreitet, welche die Vfn. an verschiedenen Universitäten in Europa, US- und Lateinamerika, Japan, China und Indien abhielt. Außerdem gingen aus dem Projekt

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die Dissertationen von Barbara Gronau »Theaterinstallationen. Performative Räume bei Beuys, Boltanski und Kabakov« (2010), für die sie mit dem erstmals 2011 vergebenen Joseph Beuys Preis für Forschung der Stiftung Museum Schloss Moyland ausgezeichnet wurde (2011), von Adam Czirak »Partizipation der Blicke. Szenerien des Sehens und Gesehenwerdens in Theater und Performance« (2012) und Nina Tecklenburg »Erzählen in Theater und Performance« (2013), die Habilitationsschrift von Jens Roselt »Phänomenologie des Theaters« (2008) sowie eine Reihe von Sammelbänden hervor. Helmar Schramms Projekt »Spektakuläre Experimente – Historische Momentaufnahmen zur Performanz von Wissen« war theatralen Aspekten der Wissens- und Wissenschaftskultur des 17. Jahrhunderts gewidmet. Im Mittelpunkt der Untersuchungen stand nicht nur das konkrete Experimentieren in Laboratorien, Akademien oder vor einer gelehrten Öffentlichkeit, sondern auch die Darstellung, Organisation und Distribution von Wissen und Wissenschaft. Es wurde von der These ausgegangen, daß der experimentellen Wissens- und Erfahrungsproduktion ein grundsätzlich inszenatorischer Gestus eigen ist, der sich im Wechselspiel von Einübung, Demonstration und Verbergen je spezifisch artikuliert. Aus diesem Fokus auf die ästhetische Seite der Erkenntnisproduktion erwächst eine innovative Neu-Akzentuierung wissenschaftssoziologischer Theoriebildung, die seit den späten sechziger Jahren ihren Blick auf die sozialen (und seit kurzem auch: materialen) Gegebenheiten wissenschaftlicher Arbeit lenkt. Die Ergebnisse werden vor allem in der vom Projektleiter herausgegebenen Reihe »Theatrum Scientiarum« publiziert. Inzwischen sind die ersten fünf Bände erschienen (2003-2011). Mit diesem Projekt, aus dem nicht nur maßstabsetzende Publikationen hervorgingen, sondern das auch in der Lehre wichtige Impulse setze, wurde am Institut ein ganz neuer Forschungsschwerpunkt geschaffen, der weltweit fast einzigartig ist – Theatergeschichte als Wissenschaftsgeschichte. Als die Professur seinerzeit ausgeschrieben wurde, trug sie die Denomination: Theaterwissenschaft mit dem Schwerpunkt auf: Theater und die anderen Künste/Medien, da dieser Schwerpunkt nach der Trennung der theater- und filmwissenschaftlichen Studiengänge in den Hintergrund trat. (Heute – 2013 – wird er von allen am Institut Lehrenden ganz selbstverständlich mit vertreten.) Helmar Schramm verstand es, ihn auf eine Weise zu füllen, daß ein ganz neues Forschungsgebiet entstand. Damit eröffnete sich die Möglichkeit einer engen Zusammenarbeit mit dem Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte – von der beide Seiten bis heute profitieren. Nach Beendigung des Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen« entwickelt Helmar Schramm im neu gegründeten geisteswissenschaftlichen Sonderforschungsbereich »Episteme in Bewegung. Wissenstransfer von der Alten Welt bis in die Frühe Neuzeit«, der seine Arbeit zum 1. Oktober 2012 aufnahm, den dort entwickelten wissenschaftsgeschichtlichen Ansatz im Rahmen des Projekts »Spielteufel, Narrenschiff, Totentanz: Figurationen von Risiko in Mittelalter

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und Früher Neuzeit« weiter. In seinem Zentrum stehen Formen riskanten Wissens am Übergang von Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit. Der Begriff des riskanten Wissens markiert Prozesse der Antizipation von und Reflexion auf mögliche und tatsächliche Gefährdungen epistemischer Ordnungen, die sich an den Rändern des Diskursivierbaren ereignen; zugleich bezieht er sich auf Vollzugsformen von Wissen, die ihrerseits eine Destabilisierung oder Auflösung vermeintlich stabiler Wissensgefüge zeitigen. Exemplarisch werden diese Aspekte riskanten Wissens anhand der konkreten Figurationen ›Narrenschiff‹, ›Spielteufel‹ und ›Totentanz‹ in ihren historischen Ausprägungen untersucht, an denen die performative Dynamik von stabilisierenden und destabilisierenden Momenten der Wissenskonstitution – im Sinne der Eröffnung von Handlungs- und Denkspielräumen – sichtbar wird. Das Vorhaben geht einher mit einer Verhältnisbestimmung riskanten Wissens und theatraler Kulturen und verbindet sich mit einer selbstreflexiv verstandenen, kritischen Beleuchtung des Theatralitätsdiskurses der letzten zwei Jahre. Anfang 2013 nahm Helmar Schramm darüber hinaus ein Projekt am Exzellenzcluster »Bild Wissen Gestaltung« an der Humboldt-Universität zu Berlin auf. Unter dem Titel »Theaterlaboratorien und Bühnenmodelle: Strategien experimenteller Gestaltung, Beobachtung und Selbstreflexion« werden aus theaterwissenschaftlicher Sicht theoretische und historische Aspekte der Wissensgeschichte analysiert. Ausgehend von exemplarischen Fallstudien werden die Begriffe Experiment und Modell auf ihre jeweils impliziten Funktionen untersucht, spezifische Möglichkeitsräume des theoretischen Denkens und praktischen Gestaltens erschließen zu können. Durch Bezüge auf aktuelle Kunstprojekte und Forschungsprozesse ergibt sich eine Anschlussfähigkeit zu grundsätzlichen Diskursen um Fragen des Laboratoriums, des Experiments und des Modells. In der zweiten Bewilligungsphase kam als weiteres theaterwissenschaftliches Projekt des Sonderforschungsbereichs 447 »Kulturen des Performativen« dasjenige von Doris Kolesch »Stimmen als Paradigmen der Moderne« hinzu. Das Projekt sollte eine performative Ästhetik der Stimme entwickeln. Es begriff die Stimme nicht nur als Trägerin, als Medium der Sprache, sondern als ein Ereignis, das spezifische Wirkungen und Wirklichkeiten hervorbringt. Es konzentrierte sich auf Aufführungen von Sprechstimmen in verschiedenen Künsten und Medien seit den 1960er Jahren bis zur Gegenwart und bezog neben Beispielen aus Theater- und Performance Kunst, Videound Installationskunst, Hörspiel und Film, Internetkunst sowie Sound und Radio auch ausgewählte Stimmphänomene des außerkünstlerischen Alltags mit ein. Doris Kolesch war von 1996-2002 Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Theaterwissenschaft. 1998 wurde sie mit dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Bundesministerium für Wissenschaft und Bildung verliehenen Heinz Maier-Leibnitz-Preis für herausragende Nach-

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wuchswissenschaftler ausgezeichnet. Sie habilitierte sich im Jahre 2002 mit einer Schrift über »Bühnen des Begehrens. Studien zur Theatralität und Performativität von Emotionen«. Die Arbeit, die Theater, Theatralität (am Hofe Ludwig XIV) und Theatertheorie des 17. und 18. Jahrhunderts gewidmet ist, unternimmt es, mit dem Instrumentarium heutiger Theorien der Emotion die Theatergeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts neu zu schreiben. Nach ihrer Habilitation wurde Doris Kolesch auf eine befristete C3-Professur für Theatergeschichte am Institut für Theaterwissenschaft berufen, so daß sie ihr Projekt im Sonderforschungsbereich auch in seiner dritten Bewilligungsphase durchführen konnte. Aufgrund eines Rufes auf ein Ordinariat für Medienwissenschaften an der Universität Basel (2007) wurde ihre Stelle entfristet. Für die dritte Phase war es gelungen, noch ein weiteres theaterwissenschaftliches Projekt für den Sonderforschungsbereich zu akquirieren: das Projekt von Gabriele Brandstetter »Die Szene des Virtuosen. Grenzfiguren des Performativen«. Das Projekt untersuchte den Schauplatz des Virtuosen in doppelter Hinsicht: Vor dem Hintergrund der Herausbildung des Künstlertypus des Virtuosen und dessen spektakulärer Erscheinung sollte Virtuosität als verblüffende Steigerung einer Handlung durch exzessive Differenzierung (das Virtuose) und zugleich als Selbst-Inszenierung des Handelnden als Subjekt dieser gesteigerten Performanz (der Virtuose) betrachtet werden. Die kulturwissenschaftliche Erforschung solcher Figuren des Performativen sollte die Bedeutung virtuoser Steigerung bzw. Übersteigerung von Handlungen für eine Theorie des Performativen herausarbeiten. Es wurde von der Hypothese ausgegangen, daß Virtuosität eine Grenzfigur des Performativen darstellt, nämlich in dem Paradox, daß sie durch Differenzierung und Überbietung die Produktion von Singularität zu betreiben scheint und doch nur durch emergente Prozesse des Nicht-Kalkulierbaren Evidenz gewinnt. Sowohl das Projekt von Gabriele Brandstetter als auch das von Doris Kolesch gehörten dem Projektbereich »Performativität in der Moderne« an. Mit diesen Projekten wurde die Bedeutung des Aufführungsbegriffs für den gesamten Sonderforschungsbereich noch stärker hervorgehoben. Gabriele Brandstetter wurde zum 1. April 2003 auf eine C4-Professur für Theaterwissenschaft berufen. Sie war dem Institut bereits seit einigen Jahren verbunden – vor allem durch ihr Projekt im DFG-Schwerpunktprogramm »Theatralität. Theater als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften« »Theatralität und Maskerade«. In ihm wurde untersucht, in welcher Weise »Maskerade« als Modell von Theatralität verstanden werden kann – und zwar bezogen auf die Darstellung von Körper und Stimme: »Maskerade« als Inszenierung (und sexuelle Markierung) von Körper und Stimme; als Modus von Darstellung; und als Modus der Wahrnehmung von Darstellung und Verhüllung. Aus dem Projekt ist die Dissertation von Hans-Friedrich Bormann »Verschwiegene Stille. John Cages performative Ästhetik« (2003) hervorgegangen.

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Gabriele Brandstetter wurde an das Institut berufen, um hier einen Schwerpunkt für Tanzforschung zu entwickeln. Die Tanzwissenschaft stellt ganz allgemein ein Desiderat an deutschen Universitäten dar. Am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität wurde zur Einlösung dieses Desiderats eigens eine C4-Professur mit der Erwartung eingerichtet, an der FU ein Zentrum für Tanzwissenschaft in Forschung und Lehre zu etablieren. Gabriele Brandstetter war für diese Aufgabe bestens gerüstet. Ihr Ansatz besteht darin, die für die Theaterwissenschaft insgesamt grundlegende Interdisziplinarität für die Tanzwissenschaft fruchtbar zu machen. Bisher bestanden die Verdienste tanzwissenschaftlicher Forschung insbesondere im deutschsprachigen Raum u.a. in historiographisch-monographischen Studien. Ihr Konzept ist hingegen die Begründung einer systematischen Wissenschaft von Tanz als zeiträumlicher Körperkunst. Eine erste ausführliche Studie dazu war die Untersuchung zur Tanz- und Körperästhetik Loïe Fullers (»Loïe Fuller. Tanz * Licht-Spiel * Art Nouveau« 1989): als Beispiel einer bislang in der Theaterwissenschaft kaum gewürdigten Avantgarde-Künstlerin, die im Schnittfeld der Moderne des beginnenden 20. Jahrhunderts steht - die Verknüpfung von Innovation in den Bewegungskünsten (Film, Medien, Kulturtechniken, Körperkultur und Tanz). In einem theatral und methodisch erweiterten Versuchsfeld angesiedelt entstand die Habilitationsschrift »Lecture Corporelle. Tanz, Theater und Literatur zu Beginn des 20. Jahrhundert« am Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth (erschienen unter dem Titel »Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde« 1995; inzwischen vergriffen; eine erweiterte Neuauflage erschien 2013). Sie stellt den Versuch dar, Körper-Konzepte und Raumfiguren der Avantgarde im Tanz/Theater, in der bildenden Kunst und in der Literatur vom Tanz her zu lesen, als jener Kunst, in der der Körper durch neue ästhetische und diskursive Modelle reflektiert wird. Damit wurde der Tanz – als eine bislang in den Geisteswissenschaften und auch in der Theaterwissenschaft nicht hinreichend gewürdigte und erforschte Kunstform – als Körperdarstellungsmedium ins Zentrum einer Neuperspektivierung der Avantgarde und ihrer Bedeutung für Kunst und Kultur des 20. Jahrhunderts gerückt. Für die Erschließung der Körper-Konzepte und ihrer Bewegungsdynamik wurde Aby Warburgs Modell der Pathosformel und sein »Mnemosyne«-Projekt für die Tanzwissenschaft fruchtbar gemacht. Daran anschließende und weiterführende Forschungsprojekte öffneten diese tanzwissenschaftlichen Untersuchungsreihen historisch (Studien zum Ballett des 18. und 19. Jahrhunderts sowie zum zeitgenössischen Tanz). Dabei bleiben weiterhin drei Schwerpunkte maßgeblich, die die Tanzwissenschaft sowohl für ästhetische Fragen als auch für kulturwissenschaftliche Problemstellungen theoriebildend machten: 1) Untersuchungen zum Wandel vom Körperkonzepten, 2) »Reden über Bewegung«: Studien zur Codierung von Bewegung, 3) Forschungen zum Problemfeld »Gedächtnis«: mit Blick

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auf körperliche Memoria und Probleme der Notation, Aufzeichnung und »Übersetzung« von Bewegung als Choreographie. Zusammengeführt wurden diese Studien in einem Projekt zum Thema »Figur/(De)Figuration« (vgl. »de figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt« 2002). Zu diesem Themenbereich entstanden zwei Drittmittelprojekte: »Bild – Figur – Zahl. Bildforschung im transdisziplinären Kontext« im Rahmen des Makroschwerpunktes Kultur der Universität Basel (zusammen mit den Basler Kollegen Gottfried Boehm und Achatz von Müller). Das andere Forschungsprojekt zum Thema »Figur als Szene. Zu Strukturen und Prozessen ›figuraler‹ Darstellung in Literatur und Theater«, bearbeitet in Kooperation mit Sibylle Peters, wurde von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt lag auf den interkulturellen Aspekten des Tanzes: Fragen der Identität und Differenz wurden in der DFGForschergruppe »Weltbildwandel« der Universität Bayreuth mit dem Projekt »Tanz und Avantgarde. Zur Rezeption von Fremdbildern” behandelt und weitergeführt in Vorträgen in Tokyo (u.a. bei einer Gastprofessur im Rahmen eines Tateshina-Seminars und in der Kooperation mit der Keio-University, Tokyo, sowie Gastdozentur (Graduierten-Seminar) an der Germanistischen Abteilung der Universität Tokyo, Todai) in Aufsätzen (u.a. »Blumenhaft und schlächterhaft« 2003). Darauf baute ein Projekt zum Thema »Zeitgenössischer Tanz in Japan und Deutschland« in Zusammenarbeit mit dem Japanzentrum in Berlin auf, im Wissenschaftsaustausch mit Kolleg/inn/en der Gakushuin Universität in Tokyo zum Thema »Figurationen«. Für ihre herausragenden wissenschaftlichen Leistungen wurde Gabriele Brandstetter mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis 2004 der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Gabriele Brandstetter hat einen internationalen Masterstudiengang für Tanzwissenschaft eingerichtet, der seit dem WS 2007/08 sehr erfolgreich besteht. Zentraler Bestandteil dieses Studiengangs ist die künstlerische Valeska Gert Gastprofessur, die gemeinsam vom DAAD, der Akademie der Künste, Berlin und dem Institut für Theaterwissenschaft, FU getragen wird. Für diesen Studiengang sowie für tanzwissenschaftliche Forschungsvorhaben, die am Institut durchgeführt werden sollen, wurde aus Mitteln des LeibnizPreises ein Dance-Lab eingerichtet. Diese Aktivitäten haben die Attraktivität und internationale Ausstrahlung des Instituts noch weiter verstärkt. Im Rahmen des Sfb 626, »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« (s.u.) hat Gabriele Brandstetter ihre Forschungen zu Bewegung, Choreographie und Notation im Spannungsfeld von Flüchtigkeit und Schriftbildlichkeit fortgeführt mit einem Teilprojekt zu »Topographien des Flüchtigen« (2006-2014). Die Auseinandersetzung mit philosophischen und tanztheoretischen Konzepten des Kinästhetischen wurde im Kontext des Exzellenz-Clusters »Languages of Emotion« mit einem Teilprojekt zu »Berühren und Rühren: movere im Tanz« (2008-2012) geführt. 2011 fand dazu eine in-

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ternationale Tagung mit dem Titel »Touching and to be Touched – Kinesthesia and Empathy in Dance« statt, in der die interdisziplinären Kooperationen des Clusters, zwischen Neurowissenschaften, Philosophie, Tanz und anderen Künsten zusammengefasst wurden (Gabriele Brandstetter et al. 2013). In der vierten Bewilligungsphase kam ein weiteres theaterwissenschaftliches Projekt hinzu – »Musiktheater im Spannungsfeld von Notation und Performance. Prozesse der Dynamisierung und Verstetigung vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart«. Es wurde von Clemens Risi geleitet, der seit 2007 eine Juniorprofessur am Institut für Theaterwissenschaft innehat. Ausgehend von der Grundfragestellungen des Sonderforschungsbereichs nach dem Verhältnis von Textualität und Performativität beschäftigte sich das neue Teilprojekt mit ebendiesem Spannungsverhältnis im Musiktheater, wobei Musiktheater als Oberbegriff für alle Formen des Zusammenwirkens von Musik und Theater, von traditioneller Oper bis hin zu experimentellen szenischen Raumbespielungen, verstanden wird. Aus historischer wie systematischer Perspektive sollte dieses Spannungsverhältnis daraufhin befragt werden, inwiefern sich in diesem – insbesondere im Vergleich des 19. Jahrhunderts zur Gegenwart – Prozesse der Verstetigung und der Dynamisierung (sowie diesen Prozessen inhärente Paradoxien) analysieren lassen, die als Indikatoren und Spiegel kulturellen Wandels betrachtet werden können. Clemens Risi war von 2001 bis 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter in dem von Erika FischerLichte geleiteten Teilprojekt »Ästhetik des Performativen« und bearbeitete dort ein Unterprojekt zur Aufführungsanalyse im Musiktheater (2001-2004) und zum Affektbegriff im Musiktheater des 17. Jahrhunderts (2005-2007). Im Zuge der Fusionierung der Institute für Theaterwissenschaft und Musikwissenschaft wurde eine neue Stelle einer W1-Juniorprofessur für Musiktheater am Institut für Theaterwissenschaft eingerichtet, die die interdisziplinäre Schnittstelle von Theater- und Musikwissenschaft besetzen soll, die für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Musiktheater erforderlich ist. Zum 1.4.2007 wurde Clemens Risi auf diese Juniorprofessur berufen. Das neu bewilligte Teilprojekt im Sonderforschungsbereich bedeutete eine Ausweitung und Neu-Ausrichtung seiner Forschungsschwerpunkte zum Musiktheater und zugleich eine Fortsetzung und Zusammenführung von gemeinsamen Forschungsinteressen mit dem musikwissenschaftlichen Teilprojekt, die vormals nur in punktuellen Kooperationen bearbeitet werden konnten. Bereits in seiner 2001 vorgelegten und 2004 im Druck erschienenen Dissertation »Auf dem Weg zu einem italienischen Musikdrama« untersuchte Clemens Risi am Beispiel der melodrammi von Saverio Mercadante und Giovanni Pacini, die in den beiden Dezennien vor und nach 1840 entstanden, inwiefern sich Oper als Kunst- und Kommunikationsprozess nur ausgehend von der Aufführungsdimension (also der Einbeziehung der szenischen Komponente und der Anerkennung des Rezipienten als Konstituenten des Ereignisses Oper) adäquat beschreiben und analysieren lässt. Diese interdisziplinä-

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re Perspektive auf das Musiktheater, die ihr innovatives Potential insbesondere aus der Betonung der Aufführungsdimension bezog, konnte Clemens Risi in seinen Arbeiten im Rahmen des Sonderforschungsbereichs sowohl auf die Analyse der Operninszenierungspraxis der Gegenwart als auch auf die Untersuchung der Theorien und Diskurse zu Affektausdruck und Affektübertragung im Musiktheater des 17. Jahrhunderts weiter ausbauen und in zahlreichen Aufsätzen, mehreren mit-herausgegebenen Sammelbänden und Monographien dokumentieren (u.a. Shedding Light on the Audience; Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst; Aus dem Takt; Realistisches Musiktheater; Angst vor der Zerstörung; Koordinaten der Leidenschaft; Theater als Fest – Fest als Theater; Macht, Ohnmacht, Zufall; Opera in transition). 2005 wurde ihm der Parma Rotary Club International Prize Giuseppe Verdi verliehen für ein weiteres Buchprojekt (Verdi Onstage. Performance Practice and Theatrical Representation in Mid-Nineteenth Century Italian Opera). Die Internationalisierung des neuen Musiktheater-Profils wird durch die Anbindung an Netzwerke gewährleistet. Clemens Risi gründete und leitet Arbeitsgruppen zum Musiktheater sowohl in der Gesellschaft für Theaterwissenschaft als auch in der International Federation for Theatre Research. Zudem ist er mitverantwortlich für die Planung eines internationalen Netzwerks, das sich dem Thema »Singing Actor/Acting Singer. Performance, Representation and Presence on the Operatic Stage, 1600-2008« widmen wird und für das bereits Mittel von der European Science Foundation eingeworben werden konnten. Für den Spring term 2008 wurde er als Max Kade Visiting Professor for German Studies and Music an die Brown University (Providence, RI) und für das Spring quarter 2010 als Robert Bosch Visiting Professor of Music and Germanic Studies an die University of Chicago berufen und konnte dort die Zusammenarbeit mit der internationalen Opernforschung (mit Kolleginnen und Kollegen u.a. der Columbia, der Vanderbilt und der Yale University) weiter intensivieren. Aus der engen Kooperation der am Sonderforschungsbereich beteiligten Kunstwissenschaften ging der Wunsch hervor, für sie ein gemeinsames Forum einzurichten. Unter Federführung der Theaterwissenschaft gelang es, ein Interdisziplinäres Zentrum für Kunstwissenschaften und Ästhetik für die Laufzeit von sechs Jahren zu gründen. Nach zweijährigen Vorarbeiten wurde es im Februar 2003 offiziell eröffnet. Es wurde von Erika Fischer-Lichte, der Initiatorin und Sprecherin, geleitet. Das Zentrum hatte zum einen die Aufgabe, aktuelle Fragestellungen, die sich aus der Ästhetisierung und Theatralisierung der Lebenswelt ergeben, wie sie zum Teil bereits im DFGSchwerpunktprogramm »Theatralität« untersucht wurden, aufzuspüren und entsprechende Forschungsverbünde anzuregen. Aus den Aktivitäten des Zentrums ist u.a. ein weiterer Sonderforschungsbereich hervorgegangen. Er untersucht »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« in drei Projektbereichen. Der erste dieser Bereiche konzentriert sich auf jene

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Transformationen ästhetischer Erfahrung, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts beobachten lassen. Der zweite geht der Frage nach, inwieweit das Konzept des Ästhetischen ein generelles, für alle Künste zutreffendes Konzept darstellt oder ob es Spezifika der ästhetischen Wahrnehmung gibt, die an die jeweiligen Künste gebunden sind. Der dritte untersucht die Reichweite des im 18. Jahrhundert entstandenen Konzeptes unter Einschluß der Antike und nicht-europäischer Kulturen. Das von der Vfn. geleitete, im zweiten Projektbereich angesiedelte theaterwissenschaftliche Projekt in diesem Sonderforschungsbereich untersucht »Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung«. Es geht von der These aus, daß Theater eine transformative Performanz darstellt. Es wird daher angenommen, daß ästhetische Erfahrung im Theater einem Schwellenzustand gleichkommt, in dem derjenige, der in ihn versetzt wird, unter spezifischen Bedingungen unterschiedliche Transformationen durchläuft. Es geht also darum, eine neue Transformationsästhetik zu entwickeln, die früheren Wirkungsästhetiken eine neue Dimension hinzufügt. Aus diesem Projekt ist eine Reihe von Publikationen hervorgegangen, darunter die Dissertationen von Benjamin Wihstutz »Der andere Raum. Politiken sozialer Grenzverhandlung im Gegenwartstheater« (2012) und Sandra Umathum »Kunst als Aufführungserfahrung. Zum Diskurs intersubjektiver Situationen in der zeitgenössischen Ausstellungskunst – Felix Gonzalez-Torres, Erwin Wurm und Tino Sehgal« (2011). Außerdem entstand in seinem Kontext die Habilitationsschrift von Matthias Warstat »Krise und Heilung. Wirkungsästhetiken des Theaters« (2011), die Theaterdiskurse der Avantgarden im Hinblick auf dialektische Denkfiguren von Konstruktion und Zerstörung, Ende und Neubeginn untersucht. Die Idee der Krise wird als Dreh- und Angelpunkt von Wirkungsästhetiken des Theaters seit den Anfängen der Moderne herausgestellt, was eine neue Sicht auch auf Erfahrungsmöglichkeiten des Gegenwartstheaters ermöglicht. Der Sonderforschungsbereich nahm seine Arbeit zum 1. Januar 2003 auf und läuft bis zum 31. Dezember 2014. Eine weitere wichtige Aufgabe des Zentrums bestand darin, entsprechende Forschungsergebnisse sowohl an die studentische als auch an die breitere Öffentlichkeit zu vermitteln. Dazu trug zum einen eine jeweils im Sommersemester eingerichtete Gastprofessur bei; der/die jeweilige Inhaber/in hielt nicht nur reguläre Lehrveranstaltungen ab, sondern trat auch mit Vorträgen an die Öffentlichkeit. Gastprofessuren wurden von Gabriele Brandstetter (Tanzwissenschaft, Basel, 2001), Thomas Elsaesser (Filmwissenschaft, Amsterdam, 2002), George Didi-Huberman (Kunstgeschichte, Paris, 2003), Hans-Thies Lehmann (Theaterwissenschaft, Frankfurt/Main, 2004), Susan Leigh Foster (World Arts and Cultures, UCLA, 2005), David Levin (Germanic Studies, Theater and Performance Studies, University of Chicago, 2006) und Freddie Rokem (Theaterwissenschaft, Tel Aviv, 2008) wahrgenommen. Neben der Gastprofessur organisierte das Zentrum Vortragsreihen und Kol-

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loquien, die die Ergebnisse jüngster Forschungen vorstellen, sowie Workshops, die neue, perspektivenreiche Fragestellungen entwickeln sollten. Schließlich oblag es dem Zentrum, eine enge Verbindung zwischen Wissenschaft und künstlerischer Praxis herzustellen. Aufgrund der hervorragenden Kooperation zwischen dem Institut für Theaterwissenschaft und den Berliner Bühnen eröffneten sich hier viele Möglichkeiten. Bereits 1996 war ein Freundeskreis für das Institut für Theaterwissenschaft gegründet worden, dem die Intendanten der Berliner Theater und Opernhäuser angehören. In regelmäßigen Treffen werden gemeinsame Aktivitäten geplant, wie die über mehrere Semester laufenden Veranstaltungsreihen »Die Theater stellen sich vor« oder »Berufe im Theater« oder gemeinsame Konferenzen wie z.B. »Antike Tragödie heute« (2006 mit dem Deutschen Theater) oder »Medeamorphosen« (2007 zusammen mit der Tanzkompanie Sasha Waltz & Guests). Die Beiträge zu beiden Konferenzen erschienen als Publikationen gleichen Titels. Workshops zum Szenischen Schreiben oder Gespräche zu diesem Thema wurden u.a. von René Pollesch, Moritz Rinke, Tim Staffel und Gisela von Wysocki angeboten. Ehemalige Studierenden des Instituts arbeiten heute als Regisseure und Dramaturgen am Theater, darunter Gesine Danckwart, Veit Güssow, Kristo Sagor, Robert Sollich und Katharina Wagner. Die beiden o.g. Konferenzen wurden als Teil eines neuen thematischen Schwerpunktes abgehalten, der sich am Institut in Forschung und Lehre allmählich herausgebildet hatte – Aufführungen griechischer Tragödien in der Moderne. Seit Gründung des Archive of Performances of Greek and Roman Drama an der Universität Oxford im Jahr 1997 besteht eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Theaterwissenschaft und dem Archiv. Sie wurde durch die gemeinsame Beteiligung an der vom European Network of Research and Documentation of Performances of Ancient Greek Drama veranstalteten Sommerschule in Epidaurus, »Intensive Course on the Study and Performance of Ancient Greek Drama« (2004-2011), weiter vertieft. In diesem Zusammenhang wurde am Institut das von der DFG geförderte Projekt »Transformationen des griechischen Theaters als Konstruktion neuer kultureller Modelle« (Leitung: Erika Fischer-Lichte; 2005-2009) durchgeführt, in dessen Kontext einige Magisterarbeiten, die Dissertationen »Westlicher Geist im östlichen Körper? ›Medea‹ im interkulturellen Theater Chinas und Taiwans« von Kuan-wu Lin (2008, publiziert 2010) und »Zäsuren der Zeit. Aufführungen antiker Tragödien seit den 1960er Jahren« von Matthias Dreyer (2011) sowie zahlreiche Aufsätze, vor allem als Kapitel in englischsprachigen Bänden entstanden. Sowohl aus dem DFG-Schwerpunktprogramm »Theatralität« als auch aus den beiden Sonderforschungsbereichen gingen weitere Projekte des Instituts hervor. Der von 2006 bis 2009 bestehende BMBF-Forschungsverbund »Theater und Fest in Europa« (Sprecherin: Erika Fischer-Lichte) schloss an die Grundfragen des DFG-Schwerpunktprogramms Theatralität an, indem er die

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vielfältigen historischen Bezüge zwischen europäischen Theaterformen und Festen als kulturellen Aufführungen auslotete. Anhand von historisch und regional ausdifferenzierten Fallstudien wurden die entscheidenden Wendepunkte der europäischen Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart im Hinblick auf je spezifische Konfigurationen des Verhältnisses von Theater und Fest analysiert. Beteiligte Disziplinen waren neben der federführenden Theaterwissenschaft die Kunstgeschichte, Geschichtswissenschaft, Gräzistik, Mediävistik, Religionswissenschaft und Europäische Ethnologie. Die beiden theaterwissenschaftlichen Projekte »Theater und Fest im Mittelalter: Verkehrungsfeste und Theaterspiele junger Kleriker in der mittelalterlichen Westkirche (10. bis 16. Jh.)« (Leitung: Erika Fischer-Lichte und Katrin Kröll) und »Internationale Theaterfestivals in Europa« (Leitung: Matthias Warstat) betrafen im nachantiken Europa die frühesten und die jüngsten Ausprägungen von Festkulturen, in denen in der Tat von einer europäischen und nicht von einer nationalen Festkultur ausgegangen werden kann. Besondere Impulse gingen von dem Verbund für die sozial- und kulturwissenschaftliche Festivalforschung aus, die inzwischen zu einem zentralen Feld in der Beschäftigung mit der zeitgenössischen Eventkultur avanciert ist: Im Festival manifestiert sich ein neues Verhältnis zwischen Theater und Öffentlichkeit, aber auch ein neuer Weg der Finanzierung von Theater, dessen kulturelle Folgen für die Theaterlandschaft erst nach und nach absehbar werden. Seine Ergebnisse sind vor allem in den beiden Bänden »Staging Festivity« (2009) und »Theater und Fest in Europa« (2012) dokumentiert. Als Abkömmlinge des Sonderforschungsbereichs »Kulturen des Performativen« können das DFG-Projekt »Das Imaginäre in künstlerischen Performanzen« (2006-2009, Leitung: Erika Fischer-Lichte) sowie das von der GIF bewilligte deutsch-israelische Verbundprojekt »Poetics and Politics of the Future« (2007-2009; Leitung: Erika Fischer-Lichte, Christel Weiler und Freddie Rokem, Tel Aviv University) gelten. Während das erste das in der Arbeit des Sonderforschungsbereichs nicht ausreichend berücksichtigte Problem des Imaginären in Hinblick auf künstlerische Praktiken untersuchte, galt das zweite dem in der letzten Phase seiner Arbeit prominenten Aspekt der Hervorbringung von Zukünftigem. Seine Bedeutung bestand vor allem darin, deutsche und israelische Nachwuchswissenschaftler in regelmäßig abgehaltenen Treffen zur Diskussion von entsprechenden Themen und Problemen zusammenzuführen, die in gemeinsamen Publikationen resultierten (z.B. Theatre Research International 2009). Da Graduiertenkollegs nicht über eine Laufzeit von neun Jahren hinaus weitergeführt werden können, war abzusehen, daß das höchst erfolgreiche interdisziplinäre Kolleg »Körper-Inszenierungen«, in dem nicht nur eine Vielzahl von Dissertationen, sondern auch eine Reihe einschlägiger Sammelbände entstanden, zum 30. September 2006 enden würde. Wiederum unter Federführung der Theaterwissenschaft wurde geplant, in Anschluß ein inter-

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nationales Graduiertenkolleg (zusammen mit der Copenhagen Doctoral School of Cultural Studies, Literature, and the Arts) zum Thema »InterArt« bei der DFG zu beantragen, das in enger Zusammenarbeit mit dem Sonderforschungsbereich »Ästhetische Erfahrung« durchgeführt werden sollte. Das Kolleg nahm zum 1. Oktober 2006 seine Arbeit auf und wird nach der 2010 erfolgreich überstandenen Evaluierung bis zum 30. September 2015 laufen. Im Vergleich zu »Körper-Inszenierungen« ist »InterArt« im Hinblick auf die Herkunft der Doktorand/inn/en noch internationaler. Sie kommen von allen fünf Kontinenten. Es handelt sich in der Tat um ein internationales Graduiertenkolleg. Auch für dieses Kolleg gilt, daß es neben Dissertationen eine Reihen von Sammelbänden zu Themen hervorbringt, die gegenwärtig im Zentrum der Diskussion in den beteiligten Kunstwissenschaften stehen. Die Tanzwissenschaft an der FU hat mittlerweile eine hohe internationale Sichtbarkeit erreicht. Sie ist in Forschung und Lehre ein Anziehungspunkt für zahlreiche Doktorand/inn/en aus dem In- und Ausland, für Alexander-vonHumboldt-Fellowships und Kooperationsprogramme, u.a. mit Instituten in den USA (u.a. UCLA, Prof. Dr. Susan Foster; Temple University, Philadelphia, Prof. Dr. Mark Franko; New York University, Prof. Dr. André Lepecki), Japan (Saitama University, Tokio, Dr. Nanako Nakajima). Das Profil der Tanzwissenschaft an der FU konnte erweitert und bereichert werden, indem zwei befristete Juniorprofessuren aus Frauenfördermitteln eingerichtet wurden. Seit 2008 lehrt Dr. Isa Wortelkamp als Juniorprofessorin. Ihre Forschungsschwerpunkte zu Fragen der Aufführungsanalyse (in ihrer Dissertation »Sehen mit dem Stift in der Hand« 2006) im Tanz und weitere Arbeiten zu »Bewegung-Schreiben« bilden einen profilbildenden Fokus in der Lehre am Institut. Durch ihr DFG-Forschungsprojekt (seit 2012) zu Tanz und Fotografie, »Bilder von Bewegung – Tanzfotografie 1900-1920«, wird der am Institut etablierte Schwerpunkt zum Verhältnis von Bild und Bewegung um einen historischen und medientheoretischen Fokus ergänzt und bereichert. Seit 2010 lehrt Susanne Foellmer, ebenfalls auf einer befristeten Juniorprofessur, am Institut für Theaterwissenschaft. Die Stelle besitzt einen Schwerpunkt zu Fragen von gender in Tanz und Tanzwissenschaft. Susanne Foellmer ist durch ihre Forschungen zum Tanz der Moderne und Avantgarde und zum zeitgenössischen Tanz für diese Aufgaben bestens ausgewiesen. Ihr Buch über Valeska Gert (2006) vermittelt eine neue Perspektive auf die Formen der Entgrenzung im Tanz dieser Künstlerin der Avantgarde. Foellmers Dissertation »Am Rand der Körper. Inventuren des Unabgeschlossenen im zeitgenössischen Tanz« (2009) ist aus ihrer Arbeit im DFGGraduiertenkolleg »Körper-Inszenierungen« hervorgegangen. Sie behandelt ein Schlüsselthema des zeitgenössischen Tanzes: Körper-Transformationen, Körperpraktiken und ästhetischen Wirkungsweisen, in einer kritischen Lektüre, bezogen auf Theorien von Gilles Deleuze und Michail Bachtin. An die hier aufgeworfenen Fragen knüpft ihr Forschungsprojekt »ÜberReste. Eine

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Phänomenologie des Bleibens« an, das im Kontext des Sonderforschungsbereichs 626: »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« angesiedelt ist. Diese personelle und inhaltliche Verstärkung der Tanzwissenschaft trägt entscheidend zur Etablierung der Disziplin und zu intra- und interdisziplinären Differenzierungen bei. Als 2007 das BMBF als eine neue Programmlinie Internationale Forschungskollegs für die Geisteswissenschaften auflegte – die inzwischen den Namen Käte Hamburger-Kollegs tragen – stellte dies für das Institut eine willkommene Gelegenheit dar, nach so vielen interdisziplinären Forschungsverbünden ein der eigenen Disziplin gewidmetes Forschungskolleg an das Institut zu holen, das die Möglichkeit eröffnete, zusammen mit Kolleg/inn/en aus aller Welt zukunftsweisende Forschung zu betreiben. Im Rückgriff auf den Forschungsschwerpunkt zum interkulturellen Theater wurde die Einrichtung eines solchen Internationalen Forschungskollegs zum Thema »Verflechtungen von Theaterkulturen / Interweaving Performances Cultures« beantragt. Nach seiner Bewilligung konnte es am 1. August 2008 seine Arbeit aufnehmen. Die Universität stellte ihm eine geräumige, dem Institut für Theaterwissenschaft gegenüberliegende Villa zur Verfügung. Der Begriff »Verflechtungen von Theaterkulturen« anstelle des eingeführten Begriffs »interkulturelles Theater« wurde gewählt, weil sowohl die von letzterem implizierten hegemonialen Bestrebungen westlicher Theaterkünstler und -wissenschaftler als auch der ihm zugrunde liegende Kulturbegriff, der Kulturen als homogene und in sich abgeschlossene Einheiten voraussetzt, nicht mehr gerechtfertigt erschien. Der Begriff »Verflechtungen von Theaterkulturen / Interweaving Performance Cultures« schien sehr viel geeigneter zu sein, um Austausch-, Transfer-, Aneignungs- und Lokalisierungsprozesse zwischen verschiedenen Theaterkulturen seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und vor allem in der Gegenwart zu untersuchen. Denn mit diesem Begriff wird zugleich eine neue Perspektive auf eben diese Prozesse eröffnet. Sie privilegiert und fokussiert den Prozesscharakter des Untersuchungsgegenstandes. Ins Zentrum rücken die Transformationen, welche die verschiedenen beteiligten Personen und Elemente in der und durch die Verflechtung durchlaufen – und zwar sowohl im Prozeß der Inszenierung als auch in der Wahrnehmung durch verschiedene Zuschauer. Damit wurden zugleich die unterschiedlichen Funktionen sichtbar, die derartige Verflechtungen erfüllen können, sowie die Wirkungen, die sie in unterschiedlichen Kontexten zu entfalten vermögen. Das Kolleg kann jährlich bis zu zehn Fellows aus aller Welt einladen, deren Forschungsprojekte in diesem Feld angesiedelt sind. Sein Direktorium wird von Erika Fischer-Lichte, Gabriele Brandstetter und Christel Weiler gebildet. Ein hochkarätig besetzter internationaler Beirat entscheidet über die Auswahl der Fellows und begleitet den Forschungsprozess in vielfältigen

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Funktionen. Als Bände, die einen repräsentativen Einblick in die Forschungsarbeit des Kollegs geben, sind bisher erschienen: Erika FischerLichte, Christel Weiler, Barbara Gronau (Hg.), Global Ibsen. Performing Multiple Modernities (2010), Erika Fischer-Lichte, Saskya Jain, Torsten Jost (Hg.), Beyond Postcolonialism. The Politics of Interweaving Performance Cultures (2013) und Erika Fischer-Lichte, Dionysos Resurrected. Performances of Euripides’ »The Bacchae« in a Globalizing World (2013). Das Kolleg wurde zunächst für sechs Jahre bewilligt mit der Aussicht auf eine Verlängerung für weitere sechs Jahre nach einer positiven Evaluation. Die Evaluation fand im Mai 2013 statt. Die Kommission empfahl einstimmig und enthusiastisch die Verlängerung. Sie betonte, daß es sich um eine weltweit einzigartige Institution handelt, die nicht nur international in das Fach hineinwirkt, sondern weit darüber hinaus neue Impulse gibt und Entwicklungen anstößt. Zu Beginn des Jahres 2011 wurde Erika Fischer-Lichte mit dem Berliner Wissenschaftspreis des Regierenden Bürgermeisters von Berlin ausgezeichnet und noch im selben Jahr mit dem Deutschen Theaterpreis Der Faust. Mit Wirkung vom 30. September 2011 wurde sie in den Ruhestand versetzt. Zum 1. Oktober 2011 erhielt sie einen Ruf als Gastprofessorin am Institut für Theaterwissenschaft, um ihre bisherigen Funktionen als Sprecherin des Internationalen Graduiertenkollegs »InterArt« sowie als Direktorin des von ihr initiierten Internationalen Forschungskollegs »Verflechtungen von Theaterkulturen« bis zum Ende der Laufzeit dieser Projekte weiterhin wahrzunehmen. Als ihr Nachfolger wurde zum Wintersemester 2012/13 Matthias Warstat berufen. Noch während seiner Zeit als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Theaterwissenschaft wurde er in die Junge Akademie der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Nationalen Akademie Leopoldina aufgenommen. Nach seiner Habilitation an der Freien Universität (s.o.) erhielt er 2008 einen Ruf auf den Lehrstuhl für Theater- und Medienwissenschaft an die Universität Erlangen-Nürnberg, wo ein besonderer Schwerpunkt des Fachs auf pädagogischen Aspekten und Anwendungsfragen liegt. Aufbauend auf seiner Habilitationsschrift entwickelte er dort ein umfangreiches Forschungsprojekt zum Thema »The Aesthetics of Applied Theatre«, für das er im Jahr 2012 in einem hochkompetitiven, europaweiten Verfahren einen ERC-Advanced Grant und damit die zu seiner Realisierung notwendigen Mittel erhielt. Die Arbeit an diesem internationalen Vergleich von Theaterformen in den Bereichen Therapie, Pädagogik, Wirtschaft und Politik wurde zu Beginn des Jahres 2013 am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität aufgenommen. Mit den Relationen von Theater und Gesellschaft soll es zugleich einen neuen Schwerpunkt in Lehre und Forschung etablieren. Da es eine Reihe von Verbindungen und Überschneidungen mit den Forschungen am Kolleg »Verflechtungen von Theater-

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kulturen« aufweist, schien es sinnvoll, Matthias Warstat in das Direktorium des Kollegs aufzunehmen. Das Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität hat in den letzten dreißig Jahren einen erheblichen Beitrag zur Weiterentwicklung des Faches geleistet. Das gilt sowohl in nationaler als auch in internationaler Perspektive. Auf den Feldern der Theatertheorie, Aufführungsanalyse und Forschung zum interkulturellen Theater/ Verflechtungen von Theaterkulturen hat es entscheidende Impulse gesetzt, die international aufgegriffen wurden. Im nationalen Kontext wirkte es darüber hinaus durch seine Absolventen, die auf Professuren der Theaterwissenschaft an die Universitäten in Hamburg, Hildesheim, Mainz, Bochum und Erlangen sowie an die Universität der Künste Berlin und die Hochschule für Darstellende Künste in Leipzig und Ernst Busch in Berlin berufen wurden. Außerdem hat das Institut entscheidend zur Entwicklung der Geisteswissenschaften an der Freien Universität beigetragen. Bis Ende der 1990er Jahre gab es weder ein Graduiertenkolleg noch einen Sonderforschungsbereich in den Geisteswissenschaften der Freien Universität. Die beiden vom Institut für Theaterwissenschaft initiierten und maßgeblich getragenen Sonderforschungsbereiche und Graduiertenkollegs haben den Kolleginnen und Kollegen die großen Vorzüge und den Mehrwert vor Augen geführt, welche die Arbeit in derartigen Forschungsverbünden auch für ihre Fächer erbringen kann, und sie angeregt, ihrerseits entsprechende Ideen und Forschungsverbünde zu ihrer Realisierung zu entwickeln. Nur so war es möglich, daß die Geisteswissenschaften der Freien Universität im Ranking der DFG auf den ersten Platz aufrückten, den sie gegenwärtig (2013) einnehmen. Obwohl die Theaterwissenschaft zu den sogenannten Kleinen Fächern gehört, ist es ihr an der Freien Universität gelungen, mit der Weiterentwicklung des Faches selbst auch auf andere geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer sowohl national als auch international auszustrahlen.

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Theaterwissenschaft

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Zeitschriften Assaph, studies in the arts, Yolanda and David Katz Faculty of the Arts, Tel Aviv University. Theater heute, die deutsche Theaterzeitschrift, Friedrich-Berlin-VerlagsGesellschaft. Theatre Research International, Cambridge University Press.

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Christian Pischel, Danny Gronmaier, Cilli Pogodda, David Gaertner, Tobias Haupts Zur Geschichte des Studienfachs Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin

In nahezu allen Bereichen des alltäglichen gesellschaftlichen Lebens ist heute ein Verständnis für die Bedeutung und Wirkungsweise audiovisueller Bilder gefordert. Filmische Formen finden sich nicht nur in den Produkten der Unterhaltungsindustrie oder des Kunstkinos, sondern auf allen Ebenen gesellschaftlicher Kommunikation, sei es in der Politik, der Werbung oder in der Bildung. Das heißt auch, daß ein verständiger Umgang mit audiovisuellen Bildern für sämtliche Disziplinen in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften immer zentraler wird. Die Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin ist entsprechend an einer interdisziplinären Schnittstelle angesiedelt. Neben der Ästhetik, Theorie und Geschichte des Films befasst sich der Studiengang mit dessen Entstehungs- und Wirkungsbedingungen innerhalb kultureller Prozesse sowie seinen Zusammenhängen mit anderen ästhetischen Systemen wie der Literatur, dem Theater, der Fotografie oder Malerei. Die praktische und künstlerische Ausbildung ist hingegen nicht Gegenstand des Fachs Filmwissenschaft. Seit dem Wintersemester 1999 können sich Studierende an der Freien Universität Berlin für ein grundständiges Studium im Fach Filmwissenschaft einschreiben. Das Fach, auch Seminar für Filmwissenschaft genannt, ist am Institut für Theaterwissenschaft angesiedelt und wurde zunächst als Magisterstudiengang angeboten. Im Zuge der Europäischen Studienreform von Bologna ist es seit 2004 als 3-jähriger Bachelor-Studiengang sowie als 2jähriger Master-Studiengang angelegt. Außerdem kann Filmwissenschaft als Nebenfach in Kombination mit anderen Bachelorstudiengängen belegt werden. 1 Derzeit verfügt das Seminar für Filmwissenschaft über zwei Lehrstühle, die von den Professoren Gertrud Koch und Hermann Kappelhoff bekleidet werden, sowie eine Juniorprofessur, besetzt mit Thomas Morsch. Das Studium kann jedes Jahr zum Wintersemester begonnen werden und hat derzeit eine jährliche Neuzulassungszahl von etwa je 45 Studentinnen und Studenten im Bachelor-Hauptfach sowie im Nebenfach. 1 Im Hauptfach, dem sogenannten Kernfach, sind von den Studenten insgesamt 90 Leistungspunkte aus filmwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen zu erwerben, im Nebenfach, dem sog. 60-LP-Modul, sind es 60 Leistungspunkte.

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Der Bachelorstudiengang Filmwissenschaft qualifiziert für die unterschiedlichsten Berufe im Feld audiovisueller Medienkultur, wie sie sich in der Film-, Fernseh- und Werbewirtschaft und in den journalistischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Arbeitsgebieten herausgebildet haben bzw. herausbilden. Insbesondere befähigt er zur Bewertung, Analyse, Programmierung und konzeptuellen Entwicklung audiovisueller Darstellungsformen. Der Masterstudiengang baut darauf auf, ist jedoch stärker forschungsorientiert und qualifiziert für wissenschaftliche Tätigkeiten in Forschung und Lehre. Ziel des Masterstudiums ist insbesondere die Vorbereitung der Studenten auf eine anschließende Promotion. Als eigenständiger Studiengang ist das Fach Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin verhältnismäßig jung. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Film und audiovisuellen Medien hat hier jedoch eine weitaus längere Geschichte. Schon zu Beginn der 1970er Jahre wurden im Rahmen des Studiengangs Theaterwissenschaft film- und medienwissenschaftliche Lehrveranstaltungen und eine Vertiefung im Bereich Film- und Fernsehwissenschaft angeboten. Neben dem gleichbleibend großen Interesse der Studierenden – 1996 wählten etwa sechzig Prozent der Studierenden ihren Schwerpunkt im Bereich Film und Fernsehen – gab es eine Vielzahl von Entwicklungen, die dafür sprachen, der Filmwissenschaft in Forschung und Lehre mehr Raum zu geben. Die Entstehung des Studiengangs Filmwissenschaft ist demnach weniger eine Gründungs- denn eine dynamische Entwicklungsgeschichte, die nicht ohne einen Blick auf die Wurzeln des Faches in der Literatur- und Theaterwissenschaft, der Publizistik sowie auf die medienbegrifflichen Diskussionen der siebziger und achtziger Jahre erzählt werden kann. Erste Begegnungen: Film als Forschungsgegenstand seit 1950 Die ersten Bemühungen, den Film als eigenständigen Forschungs- und Studiengegenstand an der Freien Universität zu etablieren, sind beinahe so alt wie die Universität selbst, welche 1948 gegründet wurde. So gab es bereits in den Jahren 1954-56 konkrete Versuche, im Fahrwasser der vor allem in Frankreich stattfindenden Filmologie-Bewegung ein filmwissenschaftliches Institut in Berlin zu etablieren. 2 Hinter diesem Vorhaben stand die in Nürn2 Bereits wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde an der Pariser Sorbonne unter der Leitung von Gilbert Cohen-Séat das Institut de filmologie gegründet. Neben der Herausgabe der Zeitschrift Revue internationale de filmologie, in der u.a. die ersten Texte Roland Barthes zum Kino veröffentlicht wurden, organisierte das Institut auch einige internationale Tagungen. So fand etwa im März 1955 ein internationaler Kongress für Filmologie mit über 400 Gelehrten aus 27 Nationen statt. Zur Entwicklung der Filmologie-Bewegung und deren theoretischer Ausrichtung vgl. die Schwerpunktausgaben der Zeitschriften Montage AV (12/1/2003

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Filmwissenschaft

berg gegründete Deutsche Gesellschaft für Filmwissenschaft, unter deren Dach sich Hochschullehrer aus ganz Deutschland zusammen getan hatten, unter ihnen auch der Berliner Kulturfilm-Produzent und Lehrbeauftragte an der Freien Universität, Dr. Hans Cürlis. 3 Bereits ab 1950 hatte Cürlis zunächst im Studiengang Kunstgeschichte, dann in der Publizistik Seminare zum Thema Film angeboten. Die kunstgeschichtlichen Seminare befaßten sich vorrangig mit Film und Fotografie als Medien der Dokumentation und Darstellung von Kunstwerken und Architektur. Zwischen 1951 und 1962 lehrte er in der Publizistik den Film selbst als Kunstwerk und Kommunikationsmedium, in Seminaren mit Titeln wie »Einführung in die Filmkunde«, »Vergleichende Analysen zur verfilmten Literatur« oder »Einführung in die Grundbegriffe des Filmes im Hinblick auf die Publizistik«. 4 Die Deutsche Gesellschaft für Filmwissenschaft hatte es sich zum Ziel gesetzt, durch das Durchführen von Kongressen, das Herausgeben von Sammelbänden und das Stärken der Beziehungen zwischen Universitäten und Industrie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Massenmedium Film in Deutschland zu bündeln und zu forcieren. Die Ansätze dieser Auseinandersetzung waren dabei vor allem von soziologischen und wirkungsästhetischen Fragestellungen geprägt und nahmen damit, wie auch die FilmologieBewegung insgesamt, Strömungen der Beschäftigung mit Film aus den 1920er und 1930er Jahren wieder auf. 5 So wurden etwa auf der zweiten Jahrestagung der Gesellschaft im November 1954 in Düsseldorf Vorträge zu Themen wie zum Beispiel »Die Filmeinflüsse bei Kindern und Jugendlichen und die Problematik ihrer Feststellung« (Univ.-Prof. Dr. Martin Keilhacker, München) und »Aktualgenetische Probleme des Filmschaffens und Filmerlebens« (Univ.-Prof. Dr. Sander, Bonn) gehalten. Zu einer Institutionalisierung dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Film an der Freien Universität kam es damals nicht. Eine gewisse ideologiekritische Skepsis gegenüber den audiovisuellen Medien in den tradierten kunstwissenschaftlichen Disziplinen machte es schwer, die nötige hochschulpolitische Anerkennung zu gewinnen. Die Bemühungen der Deutund 19/2/2010) und Cinémas: revue d'études cinématographiques/Cinémas: Journal of Film Studies (Vol. 19, Nr. 2-3). 3 Zum Leben und Schaffen Cürlis’, der von 1919 bis 1972 in vier verschiedenen politischen Systemen mehrere hundert Kultur- und Lehrfilme realisierte, vgl. Ulrich Döge: Kulturfilm als Aufgabe. Hans Cürlis (1889-1982), Babelsberg 2005. 4 Aus den Vorlesungsverzeichnissen der Freien Universität Berlin. Zeitgleich, ab 1950, bot außerdem Emil Dovifat regelmäßig Lehrveranstaltungen zum Thema Film in der Publizistik an. 5 Die Rolle Siegfried Kracauers als ein mitunter äußerst widersprüchlicher Knotenpunkt dieser Verbindungslinie hat Leonardo Quaresima aufgezeigt. Vgl. Leonardo Quaresima: Falsche Freunde. Kracauer und die Filmologie, in: Montage AV, 19/2/2010, S. 103-124.

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schen Gesellschaft für Filmwissenschaft mündeten statt dessen in den filmpraktischen Bereich und hatten unter anderem Anteil an der Gründung der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin, der DFFB, wo Filmschaffende für die Film- und Fernsehproduktion ausgebildet werden. 6 Film und audiovisuelle Medien sind selbstredend bis heute wichtige Themen in der Lehre der Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin, dort werden sie jedoch als Teil eines ökonomischen Systems nichtfiktionaler Informationsmedien untersucht und gänzlich anderen Fragestellungen unterzogen. Die Wurzeln einer methodisch wie theoretisch konzeptualisierten Filmwissenschaft, wie sie heute praktiziert wird, liegen vor allem in den Entwicklungen der etablierten Geisteswissenschaften in den 1970er Jahren. Verstärkt wurde die Frage aufgegriffen, wie Gegenstände wie Literatur, Theater oder Malerei nicht nur als künstlerische Werke einzelner Autoren, sondern als Medien zu denken sind, als Medien kultureller Kommunikation und ästhetischer Erfahrung. Freilich hantierte man damals noch höchstens implizit mit dem Medienbegriff, dessen heutiges Verständnis und Gewicht als eigenständiges kulturtheoretisches und philosophisches Paradigma sich erst in den 1980er Jahren herauskristallisierte. Aus diesen Diskursen entwickelte sich im deutschsprachigen Raum eine heterogene, geisteswissenschaftlich geprägte Medienwissenschaft, in deren Tradition auch die Filmwissenschaft zu verorten ist. Gleichzeitig wurde für viele Disziplinen die Auseinandersetzung mit audiovisuellen Formen immer dringlicher, und man näherte sich jeweils mit eigenen Perspektiven und Methoden dem Gegenstand an. In der Publizistik und Kommunikationswissenschaft interessiert man sich vor allem für den Informationsgehalt von Medien und betrachtet diese in erster Linie als Kommunikationskanäle zur Übermittlung von Inhalten. Hier rückten deshalb bald das Fernsehen und die nicht-fiktionalen Formate in den Mittelpunkt des Interesses, während Film als ästhetisches, fiktionales Medium nur eine untergeordnete Rolle spielt. Filme als fiktionale Formen waren wiederum vor allem für die Literaturwissenschaft von Interesse. An der Universität Marburg etwa entwickelte sich die Auseinandersetzung mit audiovisuellen Medien weitgehend aus der Literaturwissenschaft heraus, was sich in der semiotisch und narratologisch ausgerichteten Lehre und Forschung widerspiegelte. Film wird in dieser Strömung in erster Linie als Erzählform verstanden, die weitgehend dem Textparadigma untersteht und als solche häufig ideologiekritisch ausgerichteten Interpretationen unterzogen wird.

6 Joachim Paech: Die Anfänge der Filmwissenschaft in Deutschland 1945, in: Hilmar Hoffmann, Walter Schobert (Hg.): Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946-1962, Frankfurt a.M. 1989.

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Für die Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin war insofern von prägender Bedeutung, daß die Annäherung an den Gegenstand audiovisueller Medien hier am intensivsten in der Theaterwissenschaft geschah. Audiovisuelle Bilder drängten sich hier als Untersuchungsgegenstand auf, zumal sie mit dem Theater als audiovisuelle Kommunikationsform ästhetische Eigenschaften, Verfahren und Paradigmen teilen. Für die Theaterwissenschaft waren ebenfalls fiktionale Formen von Interesse, jedoch weniger auf Ebene von Handlung und Interpretation. Einen Arbeitsschwerpunkt am Institut für Theaterwissenschaft bilden die performativen Aspekte des Theaters. 7 Das heißt, Theater wird hier gerade nicht als Text verstanden, also etwa als Drama auf textueller Ebene untersucht. Vielmehr ist es die Theateraufführung, der Theaterabend als Ereignis, das hier im Zentrum der theoretischen und analytischen Beschäftigung steht. Untersucht werden etwa Aspekte der Zeitlichkeit und Räumlichkeit, der Sensorik und Bewegung, der ästhetischen Interaktion mit anderen Kunstformen, der Zuschauererfahrung und der Einbettung in kulturelle Prozesse. Dieses Interesse an nicht textlich und narratologisch bestimmbaren Ausdrucksdimensionen wurde von jeher auch in die film- und medienwissenschaftliche Beschäftigung am Institut hineingetragen. Entsprechend ging es hier stets um Fragen der Inszenierung und Ästhetik audiovisueller Bilder, um Wirkungsweisen und kulturelle Bedeutung sowie die Methoden der theoretischen und analytischen Erschließung. Zum einen stehen dabei die einzelnen Filme zur Untersuchung. Neben filmhistorischen und ideologiekritischen Untersuchungsperspektiven galt das Interesse besonders der Analyse und Theoretisierung der filmischen Formen und Inszenierungen sowie den Interdependenzen mit kulturhistorischen und kulturtheoretischen Kontexten. Zum anderen war immer die Frage nach der Spezifik des Mediums, nach der spezifischen Medialität des Films und anderer audiovisueller Formen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Dies zielt insbesondere auf wirkungsästhetische Fragestellungen und durch den filmischen Apparat bestimmten Formen ästhetischer Wahrnehmung. Gerade in diesem Punkt ist Filmwissenschaft an der Freien Universität immer schon interdisziplinär zu denken, denn die Frage nach der Medialität des Films schließt immer auch die Frage nach den Zusammenhängen mit anderen Künsten und Medien mit ein. So gab es von Beginn an regelmäßig Lehrveranstaltungen zu den Zusammenhängen von Film und Theater, Film und Literatur, Film und Malerei sowie der Fotografie. Film wurde zunächst aus einer künstlerischen Perspektive erschlossen. Dennoch spielte auch seine Bedeutung und Funktion für die massenmediale Unterhaltungskultur von Anfang an eine wichtige Rolle, und gerade diese Position des Films an der 7 Dazu und zur Geschichte der Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin vgl. den Beitrag zur Theaterwissenschaft von Erika Fischer-Lichte in diesem Band.

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Schnittstelle von Kunst und Massenunterhaltung machte ihn zu einem fruchtbaren Gegenstand für medientheoretische Untersuchungen. Dieses Interesse wurde auch in die Beschäftigung mit dem Fernsehen hineingetragen, das gerade in der Anfangsphase einen festen Platz auf dem Lehrplan des Instituts hatte: auch hier wurde, meist im intermedialen Vergleich, nach spezifischen Ästhetiken gefragt, vor allem am Beispiel der Fernsehserie als mediale Form. Dieses Interesse an medientheoretischen Fragen und der Rolle des Films zwischen Kunst und Unterhaltungskultur wurde später zu einem der Gründe, Filmwissenschaft als eigenständiges Magister-Hauptfach zu etablieren. Hinzu kam, daß Theater- und Filmwissenschaft mit jeweils verschiedenen Medienbegriffen operierten: Die Filmwissenschaft entwickelte sich entlang einer Debatte, in welcher der Medienbegriff stark an das technische Medium als Wahrnehmungsdispositiv und dessen spezifische, reproduzierbare Bildlichkeit gebunden war, auch wenn es um ästhetische, soziologische oder psychoanalytische Perspektiven ging. 8 Theater hingegen wurde – in dieser Hinsicht – nicht als Medium verstanden, sondern als eine performative Anordnung bzw. Praxis. Um eine adäquate, tiefgehende Auseinandersetzung und fundierte Forschung in den sich ausdifferenzierenden Disziplinen zu ermöglichen, wurde beiden Fächern an der Freien Universität Berlin durch die Ausgründung der Filmwissenschaft schließlich der notwendige Raum gegeben. Seinen Anfang nahm diese lange Entwicklung in der Theaterwissenschaft vornehmlich aus persönlichem Interesse und noch unabhängig der jeweiligen Curricula vor allem im akademischen Mittelbau: hier kam es Anfang der 1970er Jahre zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit Fragen der Medialität und audiovisuellen Medien. Zunächst wuchs das Interesse an der Frage nach theoretischen Konzepten zur Medialität im Allgemeinen und deren Bedeutung für die Theaterwissenschaft. Arno Paul, der später noch viele Jahre als Professor am Institut lehrte, bot 1971 und 1972 erstmals Tutorien zu den Themen »Realismusdebatte« und »Medienpsychologie« an. Im Sommersemester 1973 tauchten Film und Fernsehen erstmals ausdrücklich im Vorlesungsverzeichnis des Studiengangs Theaterwissenschaft auf. Damit wurde im Grunde eine wissenschaftliche Debatte weitergeführt und erneuert, die in der Theaterwissenschaft Tradition hatte: ein Gegenstand der theaterwissenschaftlichen Arbeit war immer schon die Frage gewesen, wie genau Theater zu definieren ist, auch und vor allem in Bezug auf und in Abgrenzung zu anderen Künsten und Medien. Die aufkommenden medienwissenschaftlichen Diskurse stellten insofern sowohl einen Anlass als auch ein probates Mittel dar, diese Frage erneut und in Hinblick auf Konzepte der Medialität zu stellen.

8 Als Beispiele zu nennen sind hier vor allem Vertreter der Klassischen Filmtheorie wie Siegfried Kracauer oder André Bazin, der Philosoph und Kunsttheoretiker Walter Benjamin sowie in der psychoanalytischen Tradition Jean-Louis Baudry.

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Dieses wachsende Interesse an der Medialität audiovisueller Kommunikationsformen machte schließlich den Film selbst zum Untersuchungsgegenstand. Im Wintersemester 1973/74 wurde dem Film erstmals ein Tutorium mit dem Titel »Die Geschichte des Films« (Arno Paul) gewidmet. Ab 1974 wurden audiovisuelle Medien außerdem auf einer ganz anderen, praktischen Ebene zum regelmäßigen Bestandteil des Curriculums: In Übungen mit Titeln wie »Praktische Theaterarbeit mit Hilfe audio-visueller Medien« vermittelte Gerd Conradt, wie Film- und Videotechnik für die theaterwissenschaftliche Arbeit genutzt werden konnten, etwa für die Aufzeichnung und Analyse von Aufführungen. Auch auf kreativer Ebene boten Conradt sowie Siegfried Klier Praxisübungen an, zu Themen wie Fernsehspielproduktion oder der experimentellen Videoarbeit im Studio. Nachdem weiterhin vermehrt Tutorien und Übungen zu Film und Medientheorie angeboten worden waren, etwa zum politischen Film, wurde dem Interesse an diesen Themen bei der personellen Besetzung des Instituts Rechnung getragen. Der Germanist und Medienwissenschaftler Knut Hickethier unterrichtete als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Wintersemester 1975/76 erstmals ein Proseminar mit dem Titel »Analyse von Fernsehspielen«. Hickethier setzte seine Arbeit am Institut mit dem Schwerpunkt Fernsehen viele Jahre fort und war nach seiner Habilitation 1982 als Hochschulassistent am Institut tätig. 1976 wurde außerdem Lothar Schwab, heute Professor an der Universität der Künste Berlin, mit dem Schwerpunkt Filmwissenschaft eingestellt. Im Wintersemester 1978/79 wurden Film und Fernsehen erstmals als reguläre Teile der theaterwissenschaftlichen Lehre benannt, nämlich in dem Einführungsseminar »Einführung in die Theaterwissenschaft (Theater, Film, Fernsehen)«, durchgeführt von Hickethier, Schwab und dem von der Universität Köln kommenden Theaterwissenschaftler Jan Berg, der in der Folge regelmäßig zum Thema Film unterrichtete. Mit dem Proseminar »Einführung in die Filmanalyse« wurde im Wintersemester 1979/80 schließlich von Lothar Schwab erstmals ein rein filmwissenschaftliches Einführungsseminar angeboten. 1981 trat Claudia Lenssen, ebenfalls von der Universität Köln kommend, eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut an, ebenso wie Norbert Grob, heute Professor für Mediendramaturgie und Filmwissenschaft an der Universität Mainz. Beide wurden mit explizit filmwissenschaftlichem Auftrag eingestellt. Diese Mitarbeiter sowie weitere Lehrbeauftragte realisierten ab 1981 ein bereits recht breites Angebot an film- und fernsehwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen, etwa zu Themen wie der Ästhetisierung von faschistischer Gewalt im Film (Lenssen), Dokumentarfilm (Berg), Kriminalfilm (Schwab) oder zu den Filmen einzelner Regisseure wie etwa Jean-Luc Godard (Grob). Inhaltlich wie personell gab es einen regen Austausch mit dem theaterwissenschaftlichen Institut der Universität Köln, an welchem sich eine ganz ähnliche Entwicklung vollzog und der Studiengang Theaterwissenschaft bald auch

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nominell zur Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft erweitert wurde. Neben Themen wie einzelnen Genres und Epochen der Filmgeschichte oder Regisseuren wurden in Berlin nun verstärkt Seminare zur Theorie und Ästhetik angeboten, etwa zur Theorie der Filmmontage, Rezeptionsästhetik oder einzelnen Vertretern der klassischen Filmtheorie wie Béla Balázs oder Sergej Eisenstein. Der Studienplan des Instituts gliederte sich fortan in vier Hauptarbeitsgebiete: Analyse des Gegenwartstheaters, Film- und Fernsehen, Theatergeschichte sowie Theatertheorie. Alle angebotenen Lehrveranstaltungen waren nun einem oder mehrerer dieser vier Bereiche zugeordnet und im Vorlesungsverzeichnis entsprechend gekennzeichnet, um die Differenzierung verschiedener wählbarer Schwerpunkte im Studium zu unterstreichen. Zu Beginn der 1980er Jahre manifestierte sich diese inhaltliche Ausdifferenzierung bei der Vergabe neuer Professuren. Dem Institut wurden zwei neue Stellen zugewiesen, eine C4- und eine C3-Professur. Nach Abstimmung im Fachbereichsrat wurden beide Stellen dem Bereich Film- und Fernsehen gewidmet. Die C4-Stelle sollte dementsprechend als theaterwissenschaftliche Stelle »unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte und Ästhetik des Films im deutschsprachigen Raum«, die C3-Stelle »unter besonderer Berücksichtigung fiktionaler Formen des Fernsehens« 9 ausgeschrieben werden. Die darauf folgenden strukturellen Verschiebungen kamen in einer von Oktober 1984 an gültigen Studienordnung zum Ausdruck, die um »umfangreiche Anforderungen aus dem thematischen Bereich »Film und Fernsehen« 10 erweitert wurde. Damit wurde zum einen einer äußerst dynamischen Entwicklung der filmtheoretischen Diskussion Rechnung getragen, die in den 1970er und 1980er Jahren eine Fülle von Konzepten und theoretischen Zugängen hervorbrachte, zum anderen der rapide ansteigenden Anzahl von Studierenden mit einem film- bzw. fernsehwissenschaftlichen Interesse. Die Besetzung der beiden Professuren zog sich allerdings über mehrere Jahre hin. Zunächst wurde 1982 Knut Hickethier als Hochschulassistent angestellt, um ausreichend prüfungsberechtigte Fachvertreter zur Verfügung zu haben. Nach langen Verhandlungen kam es 1986 zur Berufung Karl Prümms auf die neu geschaffene C3-Professur (›Fernsehprofessur‹). Prümm war zuvor Professor für Literaturwissenschaft und Medienwissenschaft an der Universität-Gesamthochschule Siegen gewesen. In Berlin entwickelte er eine Fernsehwissenschaft weiter, wie sie in Siegen entstanden 9 Beschlußprotokoll der 9. Sitzung des Fachbereichsrates des Fachbereichs Kommunikationswissenschaften am 22.04.1981, Unterlage Nr. 27/028/81 (Universitätsarchiv). 10 Henning Rischbieter in seinem Begründungsschreiben für eine C4-Professur Film aus dem Jahr 1989, Unterlage Nr. 27/108/16b/89 (Universitätsarchiv). Demnach war bereits im Grundstudium ein Leistungsnachweis im entsprechenden Bereich zu erbringen, bevor dann im Hauptstudium eine Schwerpunktsetzung vorgesehen war.

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war, und beschäftigte sich vor allem mit fiktionalen Formen des Mediums, dessen Verhältnis zur Literatur und den Zusammenhängen von Film und Fernsehen. Selbst als Filmkritiker tätig, setzte er sich während seiner Zeit in Berlin außerdem intensiv mit dem Schreiben über Film auseinander. So gab er etwa gemeinsam mit Norbert Grob den Band Die Macht der Filmkritik heraus. 11 In seinen Lehrveranstaltungen behandelte er entsprechend Themen zur Analyse und Ästhetik des Fernsehens, jedoch auch filmhistorische und theoretische Bereiche, unter anderem zur Zeiterfahrung im Film oder die über vier Semester angelegte Seminarreihe »Vom Stummfilm zum Tonfilm«, in der er ausführlich die historischen und ästhetischen Wandlungen während des Übergangs zum Tonfilm zwischen 1926 und 1932 untersuchte. Mit der Einrichtung der Professuren konnten nun neben den Seminaren auch rein film- und fernsehwissenschaftlich ausgerichtete Vorlesungen angeboten werden. Im Sommersemester 1987 standen erstmals zwei Vorlesungen zur Wahl: »Schauspiel in den Medien« von Hickethier sowie eine Ringvorlesung zum Thema »Stilrichtungen der Filmgeschichte«. Dies wurde zu einer regelmäßigen Einrichtung, so daß für die folgenden Jahre jedes Semester Vorlesungen zum Film auf dem Lehrplan standen. Trotz Prümms Berufung stellte sich jedoch mehr und mehr ein Ungleichgewicht zwischen Studierendenzahl und entsprechend spezialisierten Dozenten ein, auch weil die Verhandlungen um Ausschreibung und Besetzung der zweiten Professur (›Filmprofessur‹) weiter andauerten. Auch die stetigen Bemühungen und Aufrufe zur Dringlichkeit vonseiten des wissenschaftlichen Personals und die ob der Studienbedingungen entstehenden studentischen Proteste im Dezember 1988 zeigten nur langsam Wirkung. 12 Schließlich wurde die Professur 1989 mit Karsten Witte besetzt. Die Lage stabilisierte sich, die Entwicklung der Theaterwissenschaft hin zu einer Art KombiStudiengang, der mit einer jeweiligen Schwerpunksetzung auf Theater, Film oder Fernsehen studiert werden konnte, war nun auch auf Professorenebene adäquat abgebildet. Karsten Witte war bereits vor seiner Berufung als Professor an das Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität eine der zentralen Stimmen der deutschen Filmpublizistik und Filmwissenschaft. Erwachsen aus der Kritischen Theorie und auch schon vor seiner Berufung durch diverse Lehraufträgen mit dem Institut verbunden, war Wittes Forschungsarbeit vor allem von der ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Kino des sogenannten 11 Norbert Grob, Karl Prümm (Hg.): Die Macht der Filmkritik. Positionen und Kontroversen, München 1990. 12 Die Frage der Besetzung der Filmprofessur nach über drei Jahren Vakanz war nur der prominenteste Punkt einer umfassenderen Debatte um notwendige Strukturreformen, die sich primär um Personal- und Etataufstockungen in allen Bereichen des Instituts drehte (studentische Mitarbeiter, Bibliothek, Videoabteilung).

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Dritten Reichs geprägt. 13 Er war Herausgeber und Übersetzer der im Suhrkamp-Verlag erschienen Gesamtausgabe der Werke Siegfried Kracauers. Durch diverse Herausgeberschaften und zahlreiche Zeitungsartikel, Interviews und Essays deckte er außerdem ein immens breites Spektrum ästhetischen und kulturhistorischen Denkens über den Film ab. 14 Auch forschte und lehrte er zu einer Vielzahl von Themen, hielt beispielsweise Seminare zu verschiedenen Bereichen des Weltkinos oder zur Musik im Film. Wie schon vor der Einrichtung der beiden Professuren üblich, akquirierten Prümm und Witte regelmäßig Lehrbeauftragte und Gastdozenten von anderen Institutionen, etwa die Filmwissenschaftlerin Oksana Bulgakowa oder den Publizisten und Medienwissenschaftler Thomas Koebner, der 1990 und 1991 insgesamt drei Vorlesungen hielt. Dabei nutzten Prümm und Witte auch ihre interdisziplinären Verbindungen zur Filmkritik sowie zum filmpraktischen Bereich. So konnte man etwa im Wintersemester 1990/91 eine Übung zur Filmarbeit bei Harun Farocki belegen. Dieser Austausch erfuhr nicht zuletzt durch das historische Ereignis des Mauerfalls eine Belebung, mit welchem neue Kooperationen mit Wissenschaftlern und Filmschaffenden der ehemaligen DDR möglich wurden. Vor allem der Austausch mit der HumboldtUniversität Berlin ist hier zu erwähnen, wo sich in den folgenden Jahren durch die Tätigkeit Friedrich Kittlers ein Zentrum der deutschen Medientheorie herausbildete. Diese Entwicklung gab auch der theoretischen Reflexion am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Anstöße, durch welche zunehmend medientheoretische Perspektivierungen in die Beschäftigung mit audiovisuellen Bildern eingezogen wurden. Damit stabilisierten sich die personellen Strukturen im Bereich Film und Fernsehen, hatten in dieser Form jedoch nur wenige Jahre Bestand. Mit dem viel zu frühen Tod Wittes 1995 und dem Ruf Prümms nach Marburg 1994 geriet die skizzierte Entwicklung eines film- und fernsehwissenschaftlichen Schwerpunkts ins Stocken. Durch die ebenfalls in diese Zeit fallende Emeritierung Henning Rischbieters stand das gesamte Institut vor einem Umbruch, und die Film- und Fernsehwissenschaft dort vor einer ungewissen Zukunft. Nach einer Übergangsphase mit verschiedenen Vakanzvertretungen – unter anderen lehrten in dieser Zeit Karl Sierek und Klaus Kanzog am Institut – wurde unter der Leitung Erika Fischer-Lichtes, der Nachfolgerin Henning Rischbieters und neuen Institutsleiterin, beschlossen, der dynamischen Entwicklung beider Fächer, der Theater- wie der Filmwissenschaft, Rechnung zu 13 Karsten Witte: Lachende Erben, toller Tag: Filmkomödie im Dritten Reich, Berlin 1995. 14 Karsten Witte (Hg.): Theorie des Kinos: Ideologiekritik der Traumfabrik, Frankfurt (a. M.),1972. Ders.: Im Kino: Texte vom Sehen & Hören, Frankfurt a. M 1985. Ders.: Schriften zum Kino. Westeuropa, Japan, Afrika nach 1945, hrsg. von Bernhard Groß und Connie Betz Berlin 2011.

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tragen und die Phase des Umbruchs für eine strukturelle Erweiterung und Neuausrichtung zu nutzen. Zunächst wurde die Erhaltung der filmwissenschaftlichen Professorenstelle entschieden und mit einer Betonung ästhetischkunstwissenschaftlicher Zugänge ausgeschrieben. 15 1999 wurde Gertrud Koch für diese Aufgabe berufen. Im Zuge der Berufungsverhandlungen, in denen sich Koch für eine Ausgründung der Filmwissenschaft zum Hauptfach stark machte, wurde schließlich die Etablierung des Fachs als eigenständiger Studiengang beschlossen. Damit wurde beiden Fächern der nötige Raum gegeben, ihr jeweiliges Forschungs- und Lehrprofil stärker zu akzentuieren. In den frühen 1990er Jahren dominierten tendenziell die Kritische Theorie sowie autorenzentrierte Ansätze die Forschung und Lehre der FU-Filmwissenschaft. Nach und nach erweiterte sich das theoretische Spektrum: Projekttutorien zur Feministischen Filmtheorie (Sabine Nessel, u.a.) wie auch Veranstaltungen zu den Kinobüchern Deleuzes’ (Hermann Kappelhoff) erschlossen die jüngere poststrukturalistische Theoriebildung. Die bisherige kunstwissenschaftliche Fokussierung erweiterte sich um Konzepte, die in der Zeitlichkeit des Bewegungsbildes ein filmisches Denken realisiert sahen, sowie um solche Ansätze, die verstärkt die Zuschauerschaft ins Zentrum rückten. Seit Mitte der 1990er Jahre wurde diese Perspektive durch Positionen der angloamerikanischen Debatte ausdifferenziert: einerseits mit Fragen nach dem filmischen Verstehen, wie sie der Neoformalismus und die kognitivistische Filmtheorie in den Blick nahmen, andererseits mit neophänomenologischen Ansätzen, die besonders auf die leiblichen Wahrnehmungs- und Empfindungsprozesse des Filmpublikums hinwiesen. Mit diesem Fokus auf die Komplexität der Zuschauererfahrung konnte die Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin sich mehr und mehr als Fach profilieren, das eine audiovisuelle Medienästhetik gegen kultursemiotische und werkzentrierte Verengungen in Stellung brachte und durch transdisziplinäre Verstrebungen stärkte. Filmwissenschaft als Hauptfach seit 1999 Mit großem Aufwand – einer Professur standen jährlich etwa fünfzig Magisterarbeiten gegenüber – etablierte Koch in den folgenden Jahren das Fach Filmwissenschaft, wie es heute an der Freien Universität existiert: Mit Fokus auf ästhetische, methodische und kunsttheoretische Fragestellungen, einer starken Bindung an die Philosophie und einer theoretischen Ausrichtung des Fachs, die in hohem Maße interdisziplinär anschlussfähig ist und an grundlegende kultur- und sozialwissenschaftliche Paradigmen andockt.

15 Interesse an der Integration eines Schwerpunktes Film in die jeweiligen Studiengänge hätte es damals auch seitens anderer Fächer gegeben, so zum Beispiel in der Publizistik oder der Soziologie.

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Koch war von 1991 bis 1999 Professorin für Film- und Fernsehwissenschaft am Institut für Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft der RuhrUniversität Bochum gewesen. In dieser Zeit war sie außerdem in verschiedenen Positionen am Kulturwissenschaftlichen Institut des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen aktiv: dort leitete sie unter anderem die Studiengruppe »Demokratie – Öffentlichkeit – Medien« und war später Vorstandsmitglied des Zentrums. Bevor sie dem Ruf nach Berlin folgte, hatte sie bereits Gastprofessuren am Institut für Theaterwissenschaft sowie am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin inne gehabt. Ihre wissenschaftlichen Wurzeln hatte sie in der philosophischen Ästhetik sowie in der frühen feministischen Filmtheorie. Diese prägte sie unter anderem als Mitherausgeberin der Zeitschrift Frauen und Film. 16 Daneben bestimmte eine sich über viele Jahre aufspannende Beschäftigung mit filmischen Repräsentations- und Rezeptionsformen von Geschichte und hier insbesondere des Holocausts ihre Forschung. 17 Mit ihren Ansätzen einer von der Kritischen Theorie informierten philosophischen Ästhetik prägte Koch das wissenschaftliche Profil des Seminars für Filmwissenschaft entscheidend. So wurde vor allem die Beschäftigung mit der Theorie und Ästhetik des Films im Hinblick auf dessen kulturtheoretische Gehalte vertieft. Im Zentrum standen dabei unter anderem die politischen und historischen Dimensionen filmischer Darstellungen, etwa die Frage nach deren »Welthaltigkeit« 18. Das Interesse bestand darin, diese nicht auf realistische Abbildungsfunktionen zurückzuführen, sondern auf das ästhetische Wirkungspotential des Films. In dieser Hinsicht wurden auch die gedächtnisund erinnerungsbildenden Funktionen filmischer Formen zum Gegenstand der Untersuchungen. 19 Das theoretische Fundament bildete dabei zunehmend die Auseinandersetzung mit Konzepten zur ästhetischen Erfahrung, die nicht 16 Vgl. Gertrud Koch: »Was ich erbeute, sind Bilder«. Zum Diskurs der Geschlechter im Film, Basel / Frankfurt a.M. 1988. 17 Gertrud Koch: Die Einstellung ist die Einstellung. Visuelle Konstruktionen des Judentums. Frankfurt a. M. 1992. 18 Gertrud Koch: Filmische Welten. Zur Welthaltigkeit filmischer Projektionen. In: Joachim Küpper / Christoph Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Frankfurt a.M. 2003, S.162-175. Im weiteren Forschungsumfeld ist unter anderem die Dissertation von Sulgi Lie entstanden: Sulgi Lie: Die Außenseite des Films. Zur politischen Filmästhetik, Berlin 2012. 19 In diesem Bereich vorgelegte Dissertationen: Judith Keilbach: Geschichtsbilder und Zeitzeugen. Zur Konstruktion des Nationalsozialismus in Geschichtsdokumentationen des bundesdeutschen Fernsehens, Münster 2008. Tobias Ebbrecht: Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust, Bielefeld 2011. Simon Rothöhler: Amateure der Weltgeschichte. Historiographische Praktiken im Kino der Gegenwart, Berlin 2011.

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zuletzt die Transformationsprozesse audiovisueller Formen nach der Jahrtausendwende sowie aktuelle Phänomene der massenmedialen Kommunikation neu perspektivieren konnten. Die ersten Jahre nach der Einführung des Studiengangs Filmwissenschaft wurden geprägt durch eine enge Kooperation mit dem Institut für Romanistik. Der französische Staat vergab Mittel für französische Gastprofessuren in Deutschland, und durch die starke französische Tradition der Filmwissenschaft bot sich eine Kooperation an. So konnte etwa 2001 der französische Filmtheoretiker Raymond Bellour für eine Gastprofessur gewonnen werden. Neben einer Vorlesungsreihe zum kinematographischen Körper veranstaltete dieser auch ein französischsprachiges Forschungskolloquium zur zu jener Zeit noch wenig erschlossenen Philosophie Gilles Deleuzes. Durch diese Kooperation sowie eine Gastprofessur des renommierten Filmwissenschaftlers Thomas Elsaesser (2002) entwickelte sich das Seminar zu einem international sichtbaren Zentrum filmwissenschaftlicher Forschung. Gleichzeitig konnte in diesen ersten Jahren so das Mißverhältnis zwischen Lehrkörper und Studentenanzahl aufgefangen und ein reichhaltiges, interdisziplinär geprägtes Studienangebot geschaffen werden. Ein stets wichtiger Baustein für den transdisziplinären Zuschnitt des Studiengangs war das besonders an der Freien Universität Berlin geförderte team teaching: Regelmäßig gab es enge Kooperationen und gemeinsam konzipierte Vorlesungsreihen mit Kollegen aus verwandten kunst- und kulturwissenschaftlichen Fächern (der verschiedenen Berliner Universitäten). Gleichzeitig förderte Gertrud Koch durch ihre eigene Lehr- und Forschungstätigkeit die internationale Vernetzung des Fachs. Sie absolvierte zahlreiche Gast- und Vertretungsprofessuren, u.a. an der University of California in Irvine, der University of Illinois in Chicago, der Universität Wien oder der Ben-Gurion Universität in Tel Aviv. Die theoretische Beschäftigung mit der ästhetischen Erfahrung wurde in den folgenden Jahren stärker mit Blick auf die sinnlichen Dimensionen der Filmrezeption und Zuschauerwahrnehmung hin ausgerichtet. Recht bald setzte eine rege Forschungstätigkeit am Seminar ein, die bis heute stetig wächst und sowohl inhaltlich wie personell einen wichtigen Grundpfeiler der Lehre bildet. 2002 nahm das Forschungsprojekt »Synästhesie-Effekte: Montage als Synchronisierung« 20 unter der Leitung Gertrud Kochs seine Arbeit auf, ein Teilprojekt des interdisziplinären Sonderforschungsbereichs 447 »Kulturen des Performativen – Performative Turns im Mittelalter, in der Frühen Neuzeit und in der Moderne«, der 1999 am Institut für Theaterwissenschaft angesiedelt worden war und bis 2010 lief. Die Untersuchungen im Projekt bewegten 20 Das Projekt startete unter dem Titel »Der Akt der Aufführung im kinematografischen Raum« und hieß in einer weiteren Förderphase von 2005-2007 »Synästhesie-Effekte: Kinetische und farbliche Dimensionen des Films«.

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sich auf philosophisch-theoretischer und begriffshistorischer Ebene: Die Begriffe wie Synästhesie, Aisthesis und Kinästhesie wurden in ihrem historischen Gebrauch rekonstruiert und neu konzeptualisiert. Mit diesen Ergebnissen, die immer mit auch aktuellen Entwürfen hinsichtlich einer Theorie ästhetischen Erlebens konfrontiert wurden, leistete das Projekt einen wichtigen Beitrag zur zeitgenössischen Empathieforschung 21. Das Projekt »Synästhesie-Effekte« untersuchte, inwiefern in der Wahrnehmung von Film und anderen multisensorischen Medien sich die sonst separiert betrachteten Sinne gegenseitig durchdringen. Über den Begriff der Kinästhesie wurden Aspekte der Bewegungs- und Raumwahrnehmung in die Betrachtung einbezogen. Auf diese Weise wurde es möglich, auch nach der Interaktion sinnlicher und kognitiver Prozesse zu fragen. So stand etwa der Zusammenhang von Farb- und Raumwahrnehmung zur Untersuchung. 22 Damit wurde eine Lücke in der bisherigen Forschung zur Farbe im Film gefüllt, welche bis dahin lediglich unter semiotisch-semantischen bzw. dramaturgischen Gesichtspunkten untersucht worden war, nicht aber als eigenständiges, sinnliches Ausdrucksmittel innerhalb eines multisensorischen, synästhetischen Wirkkomplexes. Aus dem Projekt sind mehrere Sammelbände hervorgegangen, unter anderem der Band Synästhesie-Effekte. Zur Intermodalität ästhetischer Wahrnehmung, herausgegeben von Gertrud Koch, Robin Curtis und Marc Glöde. 23 Im Jahr 2003 wurde dem anhaltenden Interesse seitens der Studierenden Rechnung getragen und eine weitere filmwissenschaftliche Professur eingerichtet, für welche Hermann Kappelhoff berufen wurde. Den Schwerpunkt der neuen Professur bildeten Film- und Mediengeschichte und Medientheorie. Vor seiner Berufung war Kappelhoff als Hochschulassistent für Medienwissenschaft am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig tätig gewesen. 1998-99 hatte er die Professur des verstorbenen Karsten Witte an der Freien Universität vertreten. Kappelhoffs Forschungsinteresse galt insbesondere dem Melodramatischen als Paradigma einer Geschichte künstlicher Emotionalität. In seiner Arbeit verfolgte er das sentimentale Genießen vom Theater der Empfindsam-

21 Vgl. hierzu den interdisziplinär angelegten Sammelband: Gertrud Koch, Robin Curtis (Hg.): Einfühlung. Zu Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München 2008. 22 Marc Glöde: Farbige Lichträume. Manifestationen einer Veränderung des BildRaumdenkens, München / Paderborn 2014. 23 Gertrud Koch, Robin Curtis / Marc Glöde (Hg.): Synästhesie-Effekte. Zur Intermodalität der ästhetischen Wahrnehmung, München 2011. Weitere Sammelbände: Gertrud Koch / Robin Curtis (Hg.): Synchronisierung der Künste, München 2013. Gertrud Koch (Hg.): Umwidmungen: Architektonische und kinematographische Räume, Berlin 2005.

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keit des 18. Jahrhunderts bis zum Hollywood-Melodrama. 24 Diese Auseinandersetzung mit »Empfindungsbildern« wurde zum Ausgangspunkt weitreichender affekttheoretischer Forschungen, die einerseits in der methodischtheoretischen Ausarbeitung des Begriffes der »Ausdrucksbewegung« mündeten, andererseits die Fragen nach affektiv-körperlichen Wirkungsdimensionen des Films in kulturellen Kommunikationsprozessen eröffnete. Im Jahr 2003 wurde der Sonderforschungsbereich 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« eingerichtet, in dem Projekte aus verschiedenen Fachbereichen der Freien Universität Berlin sowie der Humboldt-Universität Berlin vereint wurden. Das Engagement der Filmwissenschaft kam in insgesamt drei Forschungsprojekten zum Ausdruck sowie in Gertrud Kochs langjähriger Tätigkeit als Sprecherin des SFB. Auch in diesem Forschungszusammenhang nahm die theoretische Arbeit an Paradigmen und Positionen zur ästhetischen Erfahrung eine zentrale Stellung ein. Das Projekt »Zur Bedeutung von Illusion und Fiktion in der Filmästhetik« unter Kochs Leitung schlug eine interdisziplinäre Perspektive ein, die Ansätze der Philosophie sowie der Kunst- und Medienwissenschaft miteinander in Beziehung setzte. Dabei standen einerseits die immersiven und emotionalen Effekte der Filmerfahrung im Zentrum, andererseits wurden dabei zentrale Kategorien der Ästhetik reevaluiert. In diesem Zusammenhang wurden etwa neophänomenologische Impulse zum filmphilosophischen Konzept des »Leihkörpers« ausgearbeitet, als Ort, an dem sich die Filmerfahrung realisiert. 25 Anderer Forschungsakzente betrafen den Begriff der Illusion, der von der bloßen Sinnestäuschung zu einem produktiven Teil des ästhetischen Genießens gewendet wurde. Zurückgehend auf poetologische Konzepte des 18. und 19. Jahrhunderts wurde die Illusion als genuin wirkungsästhetische Kategorie fruchtbar gemacht und als spezifischer Erfahrungsmodus des »AlsOb« im Hinblick auf eine affektive Verstrickung des Zuschauers konzeptualisiert. So konnte die Rolle der Fiktionalität zu einer ästhetischen Welterschließung in Bezug gesetzt werden, jenseits von Modellen der Abbildlichkeit und in Erweiterung semiotischer und kognitiver Ansätze. Aus dem Umfeld dieser Projektarbeit sind mehrere Sammelbände hervorgegangen, etwa der Band »Es ist als ob« sowie »...kraft der Illusion«, beide herausgegeben von Gertrud Koch und Christiane Voss. 26 24 Hermann Kappelhoff: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin 2004. 25 Christiane Voss: Der Leihkörper. Erkenntnis und Ästhetik der Illusion. München 2013. 26 Gertrud Koch / Christiane Voss (Hg.): »Es ist als ob«, München 2009. Gertrud Koch / Christiane Voss (Hg.): «... kraft der Illusion«, München 2006. Weitere Sammelbände: Gertrud Koch / Christiane Voss / Georg Witte / Anke Hennig (Hg.): Jetzt und dann. Zeiterfahrung in Film, Literatur und Philosophie, München 2010. Gertrud Koch / Christiane Voss (Hg.): Zwischen Ding und Zeichen, Mün-

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Der Zusammenhang von Genrekino und Politik, oder genauer: das Verhältnis des Kinos – verstanden als ästhetische Praxis – zu Fragen der politischen Gemeinschaft, steht in der Arbeit des Forschungsprojekts »Die Politik des Ästhetischen im westeuropäischen Kino« im Mittelpunkt, das unter der Leitung Kappelhoffs am Sonderforschungsbereich 626 angesiedelt ist. Ausgehend von Jacques Rancières »Politik des Ästhetischen« 27 untersuchte dieses, wie sich das westeuropäisches Kino der Nachkriegszeit – italienischer Neorealismus, Nouvelle Vague oder Neuer Deutscher Film – auf historische Grenzverläufe des Wahrnehmens bezieht und darin Poetiken politischer Prozesse beschreibbar macht. Filme werden dabei nicht als Repräsentationen einer geschichtlichen Realität verstanden, sondern als Möglichkeiten, bestimmte Nachkriegsthemen überhaupt sichtbar und artikulierbar zu machen. In Abgrenzung zu gängigen Forschungsparadigmen der Erinnerung und des Gedächtnisses fragt etwa Bernhard Groß entlang des frühen deutschen Nachkriegskinos nach paradigmatischen Erfahrungsmodi. 28 In ihnen denken die Filme einen Zuschauer in seinem widersprüchlichen und unbegriffenen Verhältnis zwischen individuellem Erleben und historischem Horizont und realisieren eine originäre Erfahrung von Geschichtlichkeit. In der zweiten Förderperiode wendete sich das Projekt dem populären Genrekino zwischen 1950 und 1960 zu. Dieses wurde als ein spezifisches System der Unterhaltungskultur angesprochen, das ein Zusammenspiel unterschiedlicher Affektpoetiken organisiert. Zu klären war, ob sich dieses Kino als ein Erfahrungsraum beschreiben läßt, in dem ästhetische Rezeptionsweisen als politisch wirksame Erfahrungen zu fassen sind. 29 chen 2006. Gertrud Koch / Martin Vöhler / Christiane Voss (Hg.): Die Mimesis und ihre Künste, München 2008. Außerdem die Disserationen: Robin Curtis: Conscientious Viscerality. The Autobiographical Stance in German Film and Video, Berlin/Emsdetten 2006; Christian Tedjasukmana: Mechanische Verlebendigung. Leben, Zeit und ästhetische Erfahrung im Kino, München / Paderborn 2014; Lisa Akervall: Visionär Werden. Eine Pädagogik der Perzeption im Kino (unveröffentlichte Dissertation). 27 Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006. Ders.: Die Geschichtlichkeit des Films, in: Eva Hohenberger / Judith Keilbach (Hg.): Die Gegenwart der Vergangenheit, Berlin 2003. 28 Bernhard Groß: Die Filme sind unter uns. Zur Geschichtlichkeit des deutschen Nachkriegskinos 1945-1950, Berlin 2014. 29 Aus dem Projekt hervorgegangene Sammelbände: Hermann Kappelhoff, Bernhard Groß / Daniel Illger (Hg.): Demokratisierung der Wahrnehmung? Das westeuropäische Nachkriegskino, Berlin 2010; Hermann Kappelhoff / Anja Streiter (Hg.): Die Frage der Gemeinschaft. Das westeuropäische Kino nach 1945, Berlin 2012. Außerdem die Dissertation von Daniel Illger: Heim-Suchungen. Stadt und Geschichtlichkeit im italienischen Nachkriegskino, Berlin 2009.

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Hermann Kappelhoff bündelte Überlegungen aus dem Umfeld dieser Projektarbeit in seiner Monographie Realismus: das Kino und die Politik des Ästhetischen, mit der er eine wichtige Studie zum Zusammenhang von filmischer Ästhetik und Politik vorlegte. 30 Film wird hier als ein Erfahrungsraum konzipiert, der über seine inszenatorischen Strukturen lebensweltliche Zusammenhänge wahrnehmbar macht, die sinnliche und affektive Erfahrbarkeit der Welt ausmißt und immer neu bestimmt und auf diese Weise dem Individuum ermöglicht, sich selbst mit seinen Empfindungen und seinem Denken innerhalb einer politischen Gemeinschaft zu verorten. Die Frage nach der Affektivität und Verkörperung der Filmerfahrung und deren Zusammenhang mit dem Politischen zeigte die Notwendigkeit auf, die auf theoretischer Ebene ausgearbeiteten Konzepte für kulturhistorische und soziologische Untersuchungen operationalisierbar zu machen. Dies konnte in großem Umfang in einem weiteren Betätigungsfeld filmwissenschaftlicher Forschung realisiert werden, im Exzellenzcluster »Languages of Emotion«, der von 2007 bis 2014 im Rahmen der Exzellenzinitiative an der Freien Universität eingerichtet war. An diesem Cluster arbeiteten in 74 Forschungsprojekten etwa 260 Mitarbeiter aus den Geistes- und Naturwissenschaften zusammen. Ziel des Clusters war es, in Kooperation zwischen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, Sozialwissenschaften und Psychologie zu untersuchen, auf welche Weise Sprache sowie menschliche Kommunikation im Allgemeinen mit Emotionen zusammenhängen. Die Filmwissenschaft engagierte sich hier mit verschiedenen Forschungsprojekten sowie durch Gertrud Kochs Tätigkeit als principle investigator. Seit 2010 war Hermann Kappelhoff als Sprecher des Exzellenzclusters tätig. Insgesamt drei filmwissenschaftliche Forschungsprojekte waren unter der Leitung Hermann Kappelhoffs am Cluster vertreten. Das Projekt »Affektmobilisierung und Mediale Kriegsinszenierung« entwickelte eine informationstechnologisch gestützte Analysemethode, mit der die affektiv wirksamen Inszenierungsstrategien audiovisueller Medien, hier am Beispiel des Hollywood-Kriegsfilms, empirisch beschrieben und interdisziplinär anschlußfähig gemacht werden können. Im Projekt »Untersuchungen zur Dynamik der Affizierung des Zuschauers durch Film« wurden in Zusammenarbeit mit der Neuropsychologie experimentellen Anordnungen entworfen, welche die emotionale Wirkung von Filmen anhand ihrer expressiven Bewegungsmuster untersucht; und im Projekt »Multimodale Metaphorik und Ausdrucksbewegung«, das Kappelhoff zusammen mit Cornelia Müller von der Viadrina Universität Frankfurt an der Oder leitete, stand die Frage im Zentrum, auf welchen unterschiedlichen Ausdrucksebenen – Bildinszenierung, Ton, Ges30 Hermann Kappelhoff: Realismus. Das Kino und die Politik des Ästhetischen, Berlin 2008. Englische Übersetzung des Buches: Hermann Kappelhoff: The Politics and Poetics of Cinematic Realism, New York 2014 (im Druck).

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tik, Sprache – sich Metaphern manifestieren und wie dieser prozessuale Zusammenhang von sinnlicher Wahrnehmung, Emotionen und sprachlicher Sinnkonstruktion beschreibbar ist. Das theoretische Fundament dieser Projekte bildete ein Konzept filmischer Expressivität, in welchem die Theorie Gilles Deleuze’ zum Affektbild mit film-phänomenologischen Ansätzen verknüpft wurden. Affekt meint hier, in Abgrenzung zum psychologischen Begriff der Emotion, die expressive Dimension des filmischen Bewegungsbildes. Der filmische Affekt ist nicht auf Ebene der dargestellten Figur zuzuordnen, sondern realisiert in der zeitlichen Entfaltung der Inszenierung (Kamerabewegung, Farb- und Lichtgestaltung und Montage) und adressiert das Zuschauerempfinden unmittelbar auf einer sinnlichen Ebene. Dies wurde verknüpft mit dem phänomenologischen Konzept des embodiments, welches die Filmerfahrung nicht als kognitiven Vorgang, sondern als einen Akt sinnlicher, verkörperter Zuschauererfahrung begreift, in dem Wahrnehmen, Empfinden und Denken durch die filmische Inszenierung strukturiert und moduliert werden. 31 Die Arbeit des Projekts »Affektmobilisierung und Mediale Kriegsinszenierung« wird in einem unabhängigen Folgeprojekt unter der Leitung Hermann Kappelhoffs weitergeführt, das seit 2011 von der DFG gefördert wird: Das Projekt »Inszenierungen des Bildes vom Krieg als Medialität des Gemeinschaftserlebens« am Seminar für Filmwissenschaft. Hier wird die filmanalytische Methode genutzt, die im Vorgängerprojekt entwickelt wurde, um in konkreten historischen Untersuchungen zu erschließen, wie audiovisuelle Kriegsinszenierungen an der Modulation des Gemeinschaftsempfindens kultureller und politischer Gemeinschaften arbeiten. Aus dieser Forschung ist ein affektpoetisches Konzept des Kriegsfilmgenres hervorgegangen, nach welchem Genres als affektive Organisationssysteme kultureller Kommunikation beschrieben werden können. Dieses genretheoretische Interesse wurde unter anderem in einer in den Jahren 2013 und 2014 über drei Semester angelegte Vorlesungsserie zur Genretheorie vertieft. Die Ergebnisse des Kriegsfilmprojekts werden derzeit in drei Dissertationen ausgearbeitet und sind unter anderem in den Sammelband Mobilisierung der Sinne. Der HollywoodKriegsfilm zwischen Genrekino und Historie eingegangen, den Kappelhoff

31 Dissertationen, die im Rahmen des Exzellenzclusters entstanden sind: Christian Pischel: Die Orchestrierung der Empfindungen. Affektpoetiken des amerikanischen Großfilms der 90er Jahre, Bielefeld 2013. Jan-Hendrik Bakels: Audiovisuelle Rhythmen. Filmmusik, Bewegungskomposition und die dynamische Affizierung des Zuschauers (unveröffentlichte Dissertation); Hauke Lehmann: Die Aufspaltung des Zuschauers. Suspense, Paranoia und Melancholie im Kino des New Hollywood (unveröffentlichte Dissertation); Matthias Grotkopp: In der Anklage der Sinne. Filmische Expressivität und das Schuldgefühl als Modalität des Gemeinschaftsempfindens (unveröffentlichte Dissertation).

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2012 gemeinsam mit David Gaertner und Cilli Pogodda herausgegeben hat. 32 Im Jahr 2009 wurde am Seminar für Filmwissenschaft zusätzlich zu den zwei Lehrstühlen eine Juniorprofessur eingerichtet und mit Thomas Morsch besetzt. Morsch hatte vorher als Lehrbeauftragter, wissenschaftlicher Mitarbeiter und wissenschaftlicher Assistent am Seminar gearbeitet und sich mit dem Thema der verkörperten Wahrnehmung und ästhetischen Erfahrung im Kino promoviert. 33 Seine Forschung und Lehre konzentriert sich auf Theorie und Ästhetik aktueller Filme und Fernsehserien, etwa in Hinblick auf Körperund Wahrnehmungsästhetik sowie Aspekte des digitalen Medienwandels. Außerdem arbeitet er zum Experimental- und Avantgardefilm. Seine umfangreichen Arbeiten zum Thema Fernsehserien werden in einem Forschungsprojekt mit dem Titel »Die Fernsehserie als ästhetische Form« weitergeführt, das dritte filmwissenschaftliche Projekt am Sonderforschungsbereich 626. In dem Projekt unter Morschs Leitung wird am Beispiel der US-amerikanischen Fernsehserie seit 1990 die Serie als paradigmatische Form des Fernsehens in den Blick genommen. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei ihrer Position als Kristallisationspunkt im Spannungsfeld des Medienwandels und die Frage, was sich daraus an Erkenntnissen über einen allgemeinen Rezeptionswandel gewinnen läßt. 34 Die rege Forschungstätigkeit am Seminar für Filmwissenschaft hat nicht nur zu einem reichhaltigen wissenschaftlichen Profil des Fachs beigetragen, sie bildet auch einen wichtigen Grundpfeiler für die Lehre, inhaltlich wie personell. Über die Forschungsprojekte konnten viele zusätzliche wissenschaftliche Mitarbeiter für eine regelmäßige Lehrtätigkeit gewonnen werden, um die Forschungserkenntnisse direkt in die Lehre zu tragen und ein vielseitiges Lehrangebot zu ermöglichen. Dies gilt insbesondere für den Masterstudiengang, in welchem Studenten primär auf Tätigkeiten in Forschung und Lehre vorbereitet werden. Grundsätzlich gilt die Maßgabe, die Lehre in Engführung mit der Forschung zu gestalten, Themen, Erkenntnisse und Methoden direkt in die Lehre einfließen zu lassen und den Prozess der Generierung und Strukturierung von Wissen von vorne herein sichtbar und nachvollziehbar zu vermitteln. Filmwissenschaft im Feld der Medienwissenschaften Längst findet Film nicht mehr nur im Kino statt, sondern auf allen Ebenen gesellschaftlicher Kommunikation. Filmische Formen gewinnen auf ästheti32 Hermann Kappelhoff / David Gaertner / Cilli Pogodda (Hg.): Mobilisierung der Sinne. Der Hollywood-Kriegsfilm zwischen Genrekino und Historie, Berlin 2012. 33 Thomas Morsch: Medienästhetik des Films. Verkörperte Wahrnehmung und ästhetische Erfahrung im Kino. München 2011. 34 Im Umfeld dieser Forschung entstandener Sammelband: Morsch, Thomas (Hg.): Genre und Serie, München / Paderborn (angekündigt).

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scher Ebene in Zuge dessen an Durchschlagskraft. Ob in der Werbung, in den Fernsehnachrichten, auf YouTube und anderen social media Plattformen, in Videospielen oder einfach nur im explodierenden Angebot der Downloadplattformen für Spielfilme und Serien, audiovisuelle Bilder und filmische Formen werden mehr und mehr zu einem zentralen Mittel globaler Kommunikation und kultureller Praktiken. Untersucht man diese Phänomene nur auf Ebene der repräsentierten Inhalte und Texte, bleibt eine wesentliche Dimension verschlossen, nämlich wie audiovisuelle Bilder tagtäglich unsere Sinnes-, Wahrnehmungs- und Empfindungswelt, unser Fühlen und Denken gestalten. Gebrauch und Inhalt der Bilder läßt sich nur fassen, wenn man ihre ästhetischen Muster qualitativ analysieren kann. Dies gilt auch für die Frage, wie unsere perzeptiven, affektiven und kognitiven Operationen funktional mit der Entwicklung von Medientechnologien verbunden sind und welche Rolle audiovisuelle Bilder etwa bei der Verknüpfung von Informationen spielen. Die Filmwissenschaft stellt für die Analyse dieser Phänomene wichtige Instrumentarien bereit, die in den Sozial- und Kommunikationswissenschaften ansonsten nicht verfügbar sind. Die Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin versteht sich entsprechend als eine Medienwissenschaft mit Schwerpunkt Film, die auch und gerade in Zeiten des Medienwandels wertvolles und hochaktuelles Wissen zum gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskurs beisteuert. Zu diesen Instrumentarien gehört unter anderem die Fähigkeit zur Reflexion darüber, wie sich kulturelle Bildproduktion stetig verändert und was dies für die Wandlung von Wahrnehmungsformen und ästhetischen Figurationen im Allgemeinen bedeutet. Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin definiert sich entsprechend nicht über die klare Abgrenzung eines bestimmten Forschungsgegenstandes, also etwa den Film oder das Kino. Dazu waren die geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen bzw. deren Gegenstände schon immer viel zu dynamisch und instabil in ihren Abgrenzungen. Vielmehr geht es darum, jeweils bestimmte Perspektiven und Methoden zu entwickeln, um über audiovisuelle Bilder und damit kulturelle Dynamiken nachzudenken und diese für interdisziplinäre Forschung und gesellschaftliche Diskurse verfügbar zu machen.

Literaturverzeichnis Akervall, Lisa: Visionär Werden. Eine Pädagogik der Perzeption im Kino, unveröffentlichte Dissertation. Bakels, Jan-Hendrik: Audiovisuelle Rhythmen. Filmmusik, Bewegungskomposition und die dynamische Affizierung des Zuschauers, unveröffentlichte Dissertation. Bazin, André (Hg.): Qu'est-ce que le cinéma? I. Ontologie et Langage, Paris 1958.

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Filmwissenschaft

Curtis, Robin: Conscientious Viscerality. The Autobiographical Stance in German Film and Video, Berlin / Emsdetten 2006. Döge, Ulrich: Kulturfilm als Aufgabe. Hans Cürlis (1889-1982), Babelsberg 2005. Ebbrecht, Tobias: Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust, Bielefeld 2011. Glöde, Marc: Farbige Lichträume. Manifestationen einer Veränderung des Bild-Raumdenkens, München/Paderborn 2014. Grob / Norbert; Prümm, Karl (Hg.): Die Macht der Filmkritik. Positionen und Kontroversen, München 1990. Groß, Bernhard: Die Filme sind unter uns. Zur Geschichtlichkeit des deutschen Nachkriegskinos 1945-1950, Berlin 2014. Grotkopp, Matthias: In der Anklage der Sinne. Filmische Expressivität und das Schuldgefühl als Modalität des Gemeinschaftsempfindens, unveröffentlichte Dissertation. Illger, Daniel: Heim-Suchungen. Stadt und Geschichtlichkeit im italienischen Nachkriegskino, Berlin 2009. Kappelhoff, Hermann: Realismus. Das Kino und die Politik des Ästhetischen, Berlin 2008. Kappelhoff, Hermann / Groß, Bernhard / Illger, Daniel (Hg.): Demokratisierung der Wahrnehmung? Das westeuropäische Nachkriegskino, Berlin 2010. Kappelhoff, Hermann / Streiter, Anja (Hg.): Die Frage der Gemeinschaft. Das westeuropäische Kino nach 1945, Berlin 2012. Kappelhoff, Hermann / Gaertner, David / Pogodda, Cilli (Hg.): Mobilisierung der Sinne. Der Hollywood-Kriegsfilm zwischen Genrekino und Historie, Berlin 2013. Kappelhoff, Hermann: The Politics and Poetics of Cinematic Realism, New York 2014 (im Druck). Keilbach, Judith: Geschichtsbilder und Zeitzeugen. Zur Konstruktion des Nationalsozialismus in Geschichtsdokumentationen des bundesdeutschen Fernsehens, Münster 2008. Koch, Gertrud (Hg.): Umwidmungen: Architektonische und kinematographische Räume, Berlin 2005. Koch, Gertrud / Voss, Christiane (Hg.): «... kraft der Illusion«, München 2006. Koch, Gertrud / Voss, Christiane (Hg.): Zwischen Ding und Zeichen, München 2006. Koch, Gertrud / Curtis, Robin (Hg.): Einfühlung. Zu Geschichte und Gegenwart eines ästhetischen Konzepts, München 2008. Koch, Gertrud / Vöhler, Martin / Voss, Christiane (Hg.): Die Mimesis und ihre Künste, München 2008. Koch, Gertrud / Voss, Christiane (Hg.): »Es ist als ob«, München 2009.

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Koch, Gertrud / Voss, Christiane / Witte, Georg / Hennig, Anke (Hg.): Jetzt und dann. Zeiterfahrung in Film, Literatur und Philosophie, München 2010. Koch, Gertrud / Curtis, Robin / Glöde, Marc (Hg.): Synästheise-Effekte. Zur Intermodalität der ästhetischen Wahrnehmung, München 2011. Koch, Gertrud / Curtis, Robin (Hg.): Synchronisierung der Künste, München 2013. Lehmann, Hauke: Die Aufspaltung des Zuschauers. Suspense, Paranoia und Melancholie im Kino des New Hollywood, unveröffentlichte Dissertation. Lie, Sulgi: Die Außenseite des Films. Zur politischen Filmästhetik, Berlin 2012. Morsch, Thomas: Verkörperte Wahrnehmung. Körperliche Erfahrung als ästhetische Erfahrung im Kino, München / Paderborn 2011. Morsch, Thomas (Hg.): Genre und Serie, München / Paderborn (angekündigt). Joachim Paech: Die Anfänge der Filmwissenschaft in Deutschland 1945, in: Hilmar Hoffmann / Walter Schobert (Hg.): Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm 1946-1962, Frankfurt a.M. 1989. Pischel, Christian: Die Orchestrierung der Empfindungen. Affektpoetiken des amerikanischen Großfilms der 90er Jahre, Bielefeld 2013. Quaresima, Leonardo: Falsche Freunde. Kracauer und die Filmologie, in: Montage AV, 19/2/2010, S. 103-124 Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006. Rancière, Jacques: Die Geschichtlichkeit des Films, in: Eva Hohenberger, Judith Keilbach (Hg.): Die Gegenwart der Vergangenheit, Berlin 2003. Rothöhler, Simon: Amateure der Weltgeschichte. Historiographische Praktiken im Kino der Gegenwart, Berlin 2011. Tedjasukmana, Christian: Mechanische Verlebendigung. Leben, Zeit und ästhetische Erfahrung im Kino, München / Paderborn 2014. Voss, Christiane: Der Leihkörper. Erkenntnis und Ästhetik der Illusion. München 2013. Ders.: Lachende Erben, toller Tag: Filmkomödie im Dritten Reich, Berlin 1995 Ders. (Hg.): Theorie des Kinos: Ideologiekritik der Traumfabrik, Frankfurt (a. M.),1972. Ders.: Im Kino: Texte vom Sehen & Hören, Frankfurt a. M 1985. Ders.: Schriften zum Kino. Westeuropa, Japan, Afrika nach 1945, hrsg. von Bernhard Groß und Connie Betz Berlin 2011. und dadurch spezifische Erkenntnisse gewinnen.

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Nachträge

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Heinz Rieter Die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche bzw. Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät im ersten Jahrzehnt der Freien Universität Berlin 1

1. Fakultätsgründung und -aufbau Der »Vorbereitende Ausschuss zur Gründung einer freien Universität« in West-Berlin beauftragte im Juni 1948 sein Mitglied Karl Kleikamp, »einen Arbeitsausschuss für den Aufbau der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät dieser Universität« zu bilden. Obwohl der Jurist und Politiker Kleikamp damit in den kleinen Kreis jener Persönlichkeiten aufrückte, der den personellen Aufbau und die institutionelle Gestaltung der neuen Hochschule und ihrer Fakultäten entscheidend beeinflußte, ist über ihn selbst wenig bekannt. In den bisherigen Darstellungen zur Geschichte der FU Berlin wird kaum mehr als sein Name erwähnt, und in öffentlichen Dokumenten und Schriften zur Zeitgeschichte ist meistens nicht einmal das der Fall. So scheint mir dieser Beitrag der rechte Ort zu sein, eingangs das wiederzugeben, was ich mittlerweile über ihn herausgefunden habe. 2 1 Bei den Personen, die in dieser Chronik eine Rolle spielen und deren Lebens- und Berufswege ich in einem früheren Beitrag (Rieter 2010) bereits ausführlich geschildert und quellenmäßig belegt habe, beschränke ich mich hier in der Regel auf kurze, für den jeweiligen Kontext notwendige biographische Fakten. Des Weiteren verwende ich unter anderem Ergebnisse neuerlicher Recherchen im Universitätsarchiv der FU Berlin. Dabei haben mich wiederum in bewährter Weise die Archivare Frank Lehmann und Gert Walter unterstützt, wofür ich beiden sehr dankbar bin. 2 Besonders hilfreich waren die Hinweise von Bianca Welzing-Bräutigam, Landesarchiv Berlin, auf einschlägige Akten (A Pr.Br.Rep. 042-prak Nr. 20631, B Rep. 004 Nr. 1080, B Rep. 080 Nr. 677, E Rep. 300-90 Nr. 425; F Rep. 290-1881, Nr. 0009873), deren Auswertung sie mir dankenswerterweise ermöglichte. Ebenso danke ich Michaela Schiller, Abgeordnetenhaus von Berlin, Dokumentation, die mir ebenfalls Unterlagen zur Verfügung stellte, sowie Johannes Fricke, Stadtarchiv Mülheim an der Ruhr, für Angaben zur Familie Kleikamp. Siehe auch den biographischen Eintrag zu Karl Kleikamp im Handbuch des Abgeordnetenhauses von Berlin, 1. Wahlperiode (ab 11. Januar 1951), herausgegeben vom Büro des Abgeordnetenhauses, Berlin 1952: 184; des Weiteren Stenographische Berichte des Abgeordnetenhauses von Berlin, I. Wahlperiode, Band II, Berlin 1952: 311;

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1.1 Karl Ferdinand Kleikamp Geboren am 28. August 1894 im pommerschen Fiddichow an der Oder, jetzt Widuchowa (Polen), als Sohn des praktischen Arztes Dr. Karl Kleikamp und seiner Frau Anna, geb. Kletzin, legte er in Belgarde an der Persante, jetzt Białogard (Polen), dem letzten Wohnort seiner Eltern, 3 1912 das Abitur ab. Anschließend schlug er die Offizierslaufbahn in der preußischen Armee ein, nahm am Ersten Weltkrieg teil, wurde 1915 verwundet, war bis Kriegsende in russischer Gefangenschaft und schied 1920 nach längerem Lazarettaufenthalt im Rang eines Hauptmanns aus dem Militärdienst aus. Anders erging es seinem jüngeren Bruder Gustav (1896-1952), der Berufssoldat blieb und als Marineoffizier auch dem NS-Regime diente. Als Kommandant des Kriegsschiffes »Schleswig-Holstein« löste er am 1. September 1939 mit dem Beschuß polnischer Munitionslager auf der Westerplatte bei Danzig den Zweiten Weltkrieg aus. Später war er Kommandierender Admiral in den besetzten Niederlanden und in gleicher Funktion von Ende 1944 bis zur Kapitulation im Mai 1945 in der Deutschen Bucht. Karl Kleikamp studierte vom Sommersemester 1920 bis zum Sommersemester 1923 Rechts- und Staatswissenschaften in Berlin und Greifswald. An der Universität Greifswald war er vor und in der Referendarzeit wie auch nach dem 1929 abgelegten zweiten juristischen Examen bis Ende 1930 Wissenschaftlicher Assistent. Nach seiner Tätigkeit 1931 als Regierungsassessor im Polizeipräsidium von Altona bei Hamburg wechselte er im Jahr darauf als Regierungsrat in das Preußische Ministerium des Innern. Da er 1928 der SPD beigetreten war und sich 1931 dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, jenem überparteilichen Bund deutscher Kriegsteilnehmer und Republikaner angeschlossen hatte, der sich zum Weimarer Staat bekannte und ihn gegen seine Gegner von links und rechts politisch verteidigte, war er nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten gefährdet. Zunächst am 28. Mai 1934 nach § 6 (»Vereinfachung der Verwaltung«) des schändlichen NS»Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« in den Ruhestand geschickt, wurde er im November desselben Jahres an das Oberversicherungsamt in Dortmund zwangsversetzt, nachdem sich der Preußische Ministerpräsident und Chef der Geheimen Staatspolizei damit einverstanden erklärt hatte. Kleikamp entzog sich dieser Maßnahme, indem er sich zunächst krank meldete und im Sommer 1935 freiwillig aus dem öffentlichen Dienst ausschied. Um dies zu erreichen, verzichtete er auf alle Versorgungsansprüche.

ferner die Literaturhinweise in Rieter 2010, S. 34, Fußn. 25, sowie Breunig / Herbst 2011, S. 144. 3 Vgl. http://pommerndatenbank.de

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In einem am 22. September 1947 verfaßten »Lebenslauf« (Landesarchiv Berlin, B Rep 080 Nr. 677, Bl. 3 f.) schilderte Kleikamp die Folgen:

»Das besondere Misstrauen der nationalsozialistischen Behörden und insbesondere der Geheimen Staatspolizei, das ich durch dieses Verhalten auf mich gelenkt hatte, hat dazu geführt, dass mir dann die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft, auf die ich nach dem Gesetz Anspruch gehabt hätte, verweigert wurde. Auch weiterhin sind mir bis zum Sommer des Jahres 1939 alle Versuche, zu einer geregelten Berufstätigkeit, sei es in einem freien Beruf, sei es in einem Angestelltenverhältnis, zu gelangen, durch Eingriffe von seiten der Behörden oder der NSDAP zerschlagen worden.«

Zum 1. Juni 1939 fand Kleikamp eine Anstellung bei dem funktechnischen Unternehmen C. Lorenz AG in Berlin-Tempelhof, wo er mit wirtschaftsrechtlichen Aufgaben betraut wurde. Nachdem Anfang 1942 ein erster Versuch, in die im Zuge der kriegsbedingten Rohstoffbewirtschaftung eingerichtete Reichsstelle für Eisen und Stahl zu wechseln, am Einspruch des Reichswirtschaftsministeriums wegen »politischer Unzuverlässigkeit« (ebd.) gescheitert war, wurde er schließlich doch zum 1. Januar 1943 dort eingestellt. Kleikamp, der nach eigener Aussage »der NSDAP oder einer Gliederung dieser Partei nicht angehörte«, beschreibt sein Verhalten seit 1933 folgendermaßen (Landesarchiv Berlin, B Rep 080 Nr. 677, Bl. 3):

»In der ganzen Zeit habe ich mich vom ersten bis zum letzten Tage so intensiv, wie meine Verhältnisse es nur gestatteten, illegal betätigt. Insbesondere habe ich in der ganzen Zeit meine Beziehungen zu politischen Freunden und Gesinnungsgenossen planmässig aufrechterhalten. In Gemeinschaft mit meiner Frau habe ich den uns gesellschaftlich und beruflich zugänglichen Personenkreis nachhaltig im nazigegnerischen Sinne beeinflusst. Hierzu haben wir alle Möglichkeiten der Zusammenkunft ausgenutzt und zeitweise, insbesondere in unserer Wohnung, regelmässige politische Diskussionsabende veranstaltet. Die mündliche Beeinflussung des mir zugänglichen Personenkreises habe ich in geeigneten Fällen durch schriftliche Ausarbeitungen verstärkt, die ich in Schreibmaschinen-Abschriften verteilt habe. Ferner habe ich mehrfach verfolgten Personen mit Rat und Tat beigestanden und Flüchtlingen Unterschlupf gewährt.«

Am 14. Mai 1945, also unmittelbar nach Kriegsende, wurde Kleikamp Richter am neu geschaffenen Bezirksgericht (später Amtsgericht) BerlinTiergarten und sogleich wieder parteipolitisch aktiv. Zum »Vorsitzenden der SPD-Juristengruppe« gewählt, gehörte er u. a. neben Erich W. Gniffke, Otto Grotewohl und Gustav Dahrendorf zu den Verfassern des am 15. Juni 1945 veröffentlichten »Gründungsaufrufs« des »Zentralausschusses« der SPD im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands (so Gniffke 1966/90, S. 29 f.). Die ihm am 21. August 1945 übertragene Vizepräsidentschaft der Deutschen Justizverwaltung – eine der zehn Zentralverwaltungen, die die Sowjetische Militäradministration (SMAD) in ihrem Machtbereich eingerichtet hatte – gab Kleikamp im Herbst 1946 auf, als seine Entlassung bevorstand, weil er u. a.

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die Vereinigung von SPD und KPD zur SED entschieden ablehnte. 4 Seine berufliche und politische Karriere setzte er im Westteil der Stadt seit dem 1. Januar 1947 als stellvertretender Bürgermeister und Stadtrat für Finanzen des Bezirks Berlin-Tiergarten sowie seit 1950 als Mitglied der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus fort – ein Mandat, das er aus gesundheitlichen Rücksichten am 24. März 1952 niederlegte. Nebenher lehrte er seit Januar 1949 Staats- und Verwaltungsrecht an der Berliner Hochschule für Politik und äußerte sich regelmäßig in Vorträgen wie in Zeitungsartikeln zu aktuellen rechtspolitischen Fragen. Karl Kleikamp starb nach schwerer Krankheit am 11. Juni 1952 in Berlin. Die Trauerrede hielt Franz Neumann, der damalige Vorsitzende der Berliner SPD. Kleikamps Ehefrau Katharine, geb. Kirchner (1897-1988), 5 von Beruf Lehrerin und Journalistin, mit der er seit 1925 verheiratet war, betätigte sich ebenfalls kommunalpolitisch für die SPD, nämlich von 1949 bis 1951 als Stadträtin für Volksbildung im Bezirk BerlinSteglitz. Die Ehe blieb kinderlos.

1.2 Der Kleikamp-Ausschuß Trotz seiner stark angegriffenen Gesundheit packte Kleikamp tatkräftig und zielstrebig die ihm übertragene Aufgabe an, in kürzester Zeit und gleichsam aus dem Nichts eine rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät auf die Beine zu stellen. Unverzüglich informierte er u. a. den renommierten Staatswissenschaftler und FDP-Stadtverordneten Dr. Hans Reif am 5. Juli 1948 über seinen Auftrag und verband damit die Bitte, ihn zu unterstützen, was Reif auch tat. 6 »Um für diesen Ausschuss einerseits die berufensten und geeig4 Vgl. Rössler 2000, S. 41, 44, 49 f., 106; auch Germer 1974, S. 117 f. 5 Siehe die Akten im Landesarchiv Berlin, S. B Rep. 004 Nr. 1079; B Rep. 080 Nr. 677 und Nr. 2079. 6 Reif (1899-1984) studierte von 1919 bis 1922 Nationalökonomie, Öffentliches Recht und Philosophie an der Univ. Leipzig, dort 1922 zum Dr. rer. pol. promoviert. 1919 bis 1933 Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei. Seit 1923 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Gewerkschaftsbundes der Angestellten in Berlin, 1933 aus politischen Gründen entlassen, bis 1943 in der Wirtschaft tätig. Seit 1940 lockere Verbindung zum Widerstandskreis um Carl Goerdeler und Wilhelm Leuschner. 1945 Mitgründer der LDP in Leipzig. 1946 bis 1950 für die LDP bzw. FDP Berliner Stadtverordneter. 1948/49 Mitglied des Parlamentarischen Rates in Bonn. 1949 bis 1957 als Berliner Abgeordneter im Deutschen Bundestag. 1963 bis 1971 Vizepräsident des Abgeordnetenhauses von Berlin. 1948 bis 1959 Leiter der Abteilung Innenpolitik der Deutschen Hochschule für Politik (DHfP) in Berlin. 1952 bis 1958 Vorstandsmitglied des Instituts für politische Wissenschaft e. V. in Berlin. Seit Sommersemester 1959 Lehrbeauftragter für Wissenschaft von der Politik am Otto-Suhr-Institut (vormals DHfP) der FU (vgl. Rieter 2010, S. 35, Fußn. 26, und die dort angegebenen Quellen).

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netsten Mitarbeiter zu gewinnen und ihm andererseits die Unterstützung der gesamten Berliner Juristenschaft zu sichern«, führte Kleikamp »zunächst eine Besprechung der massgeblichen Vertreter des Berliner Rechtslebens herbei«. 7 Sie fand am 9. Juli 1948 im Dienstzimmer des Präsidenten des Bezirksverwaltungsgerichts im Britischen Sektor, Dr. Hans Schrader, statt. An »maßgeblichen« Berliner Juristen konnte Kleikamp des Weiteren für die Aufgabe gewinnen: Dr. Siegfried Loewenthal, Chefpräsident des Landgerichts und Stadtverordneter; 8 Landgerichtsrat Dr. Gerhard Nehlert, dessen in der damaligen Situation unschätzbar wertvollen Fähigkeiten Friedrich Scholz (1982, S. 142) in seiner Nachkriegsgeschichte des Berliner Kammergerichtsbezirks rühmt: Nehlert »war schon vom Landgericht Zehlendorf her im Dienstverkehr mit den militärischen Machthabern, insbesondere den Amerikanern, so geübt wie kaum ein anderer. Er beherrschte die gewünschten Umgangsformen ebenso wie das ganze besatzungsrechtliche Instrumentarium«; ferner Landgerichtsdirektor a. D. Johannes Eylau, Präsident des Patentamtes Berlin; 9 Ministerialdirektor a. D. Dr. Ernst Knoll, Leiter der im zerbombten Berlin wichtigen Hauptschiedsstelle für Wohn- und Geschäftsräume beim Magistrat von Groß-Berlin; 10 und nicht zuletzt Ernst Strassmann, einer der Vorstände der Berliner Kraft- und Licht(Bewag)-AG. 11 Zu diesem Kreis von 7 So Kleikamp in seinem Brief vom 5. 7. 1948 an Hans Reif (FU Berlin, Universitätsarchiv, Akte »Gründung der Fakultät«), S. 1. 8 Loewenthal, geboren 1874, war 1933 als Präsident des Landgerichtes in Oels bei Breslau wegen seiner jüdischen Abkunft in den Ruhestand versetzt worden. Schon im August 1945 von der amerikanischen Besatzungsmacht zum »Chief President« des Berufungsgerichtes in ihrem Sektor von Berlin ernannt, wurde er im September Vizepräsident des Kammergerichts und im Monat darauf Chefpräsident des zunächst für Groß-Berlin und nach der Teilung der Stadt für West-Berlin zuständigen Landgerichtes, was er hoch angesehen bis zu seinem Tod 1951 blieb (Scholz 1982, S. 28 ff., 149 f., 278). 9 Eylau (1880-1970), seit 1921 Landgerichtsdirektor in Berlin und seit 1928 Präsident des Reichspatentamtes, war 1934 in das Reichsarbeitsministerium versetzt worden, wo er bis 1945 als Referent arbeitete. 10 Knoll (1889-1965) war seit 1922 im Reichsversicherungsamt tätig gewesen, wechselte 1932 ins Reichsarbeitsministerium, wo er im Rang eines Ministerialdirektors die Hauptabteilung für Siedlungswesen, Wohnungswesen und Städtebau leitete, bis er 1939 »aus politischen Gründen« in den Wartestand versetzt wurde. 1940 bis 1944 arbeitete er als Hilfsrichter am Kammergericht Berlin. Seine richterliche Tätigkeit setzte er 1953/54 am Oberverwaltungsgericht Berlin und 1953/54 als Senatspräsident am Bundesverwaltungsgericht fort (Bundesarchiv: GND 1031583416 {Knoll, Ernst} und R 43-II/1138b; Stockhorst 1998, S. 239). 11 Strassmann (1897-1958), seit 1930 Landgerichtsrat in Berlin, war von 1919 bis zu ihrem Aufgehen 1930 in der Deutschen Staatspartei Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei und Mitgründer deren Jugendverbandes. Als leidenschaftlicher Liberaler und Demokrat war er der »führende Organisator« einer 1934 ge-

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Ratgebern gesellte sich der Privatgelehrte Dr. Wilhelm Heymann, 12 der schon 1946 dem Magistrat eine Denkschrift über die Neugestaltung des Berliner Hochschulsystems vorgelegt und an der FU-Gründungbesprechung am 19. Juni 1948 in Vertretung des CDU- und späteren SPD-Politikers Prof. Kurt Landsberg, einem der Einlader, teilgenommen hatte. Zudem bezog man »interessierte Jura-Studenten« in die Diskussionen ein. Einer der aktivsten war Gerhard Schwarz, der im 5. Semester Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität studierte und unbedingt zur FU wechseln wollte. Er arbeitete dem Ausschuß zu, indem er u. a. auf ihm geeignet erscheinende Lehrkräfte aufmerksam machte und am 31. August 1948 einen »Vorschlag zur vorläufigen Regelung der Gründung der juristischen Fakultät« unterbreitete. 13 Kleikamp bemühte sich jedoch nicht nur, seinen Unterausschuß ausreichend mit kompetenten Juristen und überdies parteipolitisch ausgewogen 14 zu besetzen, sondern er wollte die wirtschaftswissenschaftliche Sparte ebenso repräsentativ vertreten sehen. Dabei betonte er, »daß die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der zukünftigen Freien Universität möglichst unabhängig von den schon bestehenden Dozenturen der Technischen Hochschule aufgemeinsam mit seinem Jugendfreund, dem jüdischen Hamburger Kaufmann Dr. Hans Robinsohn (1897-1981), gegründeten, reichsweit bald gut vernetzten Widerstandsgruppe gegen das NS-Regime (s. vor allem Sassin 1993 und 1994). Robinsohn, der 1938 nach Dänemark emigriert war, stellte Verbindungen zu englischen Regierungsvertretern her, mit denen man sich 1939 in London traf. Unmittelbar vor Antritt einer Reise nach Schweden zu einem weiteren Treffen wurde Strassmann im August 1942 von der Gestapo festgenommen und blieb ohne Prozess bis Kriegsende in Haft. Nach 1945 trat er in die SPD ein. Siehe zu ihm auch Haase 1994. 12 Heymann (1893-1953) hatte nach seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg mit dem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Berlin begonnen, dies aber erst 1946 in Leipzig mit der juristischen Promotion abgeschlossen. Seit 1923 hatte er sich unter dem Einfluß des neukantianischen Rechtsphilosophen Rudolf Stammler »der Erforschung des Systems der reinen religiösen Denkformen« zugewandt und darüber auch publiziert. 1926 wurde er Geschäftsführer der Rechtsphilosophischen Gesellschaft. Stark kirchlich gebunden, stand Heymann in Opposition zum Nationalsozialismus. Er übernahm Ämter in der Evangelischen Kirche und später in der CDU, der er 1947 beigetreten war. Quellen: Landesarchiv Berlin, B Rep. 080 Nr.1766; FU Berlin, Universitätsarchiv, Bestand DHfP, Box 232. 13 Vgl. »Notiz für Herrn Carl-Hubert Schwennicke« (1906-1992, LDP- bzw. FDPStadtverordneter und einer der ›Gründungsväter‹ der FU; vgl. Rieter 2010, S. 28 f) vom 2. 7. 1948 (FU Berlin, Universitätsarchiv, Akte »Gründung der Fakultät«), sowie Rieter 2010, S. 45-47 und die dortigen Quellenangaben. 14 Es ging ihm – wie er Hans Reif am 18. 8. 1948 schrieb (FU Berlin, Universitätsarchiv, Akte »Gründung der Fakultät«) – unbedingt darum, »den Anschein zu vermeiden, als wolle ich auf eine Majorisierung der anderen durch die Angehörigen meiner Partei hinarbeiten«

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baut werden muß. Als Grundlage für die hierzu erforderlichen Vorarbeiten in sachlicher und personeller Hinsicht scheint es mir nötig zu sein, zunächst einen grösseren Kreis von Wirtschaftswissenschaftlern zur Mitarbeit heranzuziehen, um, gestützt auf diese, den eigentlichen Arbeitsausschuß für den Aufbau der Fakultät zu bilden und ihm seine Arbeitsrichtlinien zu setzen«. 15 Da er »selber mit Wirtschaftswissenschaftlern nur wenig Fühlung habe«, hatte er von Anbeginn seinen »Parteifreund Dr. Günter Milich, der als Mitarbeiter in der AEG tätig ist, gebeten«, ihn »bei der Zusammenberufung eines solchen grösseren Kreises von Wirtschaftswissenschaftlern zu unterstützen« 16 Wer tatsächlich durch Günter Milichs Vermittlung hinzustieß, kann ich nicht sagen, doch in die weiteren Verhandlungen schalteten sich jedenfalls mehrere namhafte Ökonomen ein, so der Volkswirt Dr. Franz Seume (SPD), seit 1945 wirtschaftspolitischer Mitarbeiter Kurt Schumachers und Leiter der Industrieabteilung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin; 17 der Volks- und Betriebswirt Dr. Joachim Tiburtius, Leiter der von ihm 1929 mitgegründeten Forschungsstelle für den Handel, Professor an der WirtschaftsHochschule Berlin und seit Oktober 1945 CDU-Stadtverordneter von GroßBerlin; sowie der Wirtschaftsprüfer und Steuerberater Dr. Wilhelm Eich (FDP), Honorarprofessor der Technischen Hochschule Berlin, der bereits an der entscheidenden Vorbesprechung über die FU-Gründung am 19. Juni 1948 in Berlin-Wannsee teilgenommen hatte und das zur Fortbildung von Erwachsenen in West-Berlin 1946/47 wieder erstandene Hochschul-Institut für Wirtschaftskunde leitete; ferner Dr. Albrecht Forstmann (SPD), seit Mai 1946 Professor für Volkswirtschaftslehre mit vollem Lehrauftrag an der FriedrichWilhelms(später Humboldt)-Universität in Ost-Berlin. Von den drei Letztge15 So im Brief vom 14. 7. 1948 an Hans Reif (FU Berlin, Universitätsarchiv, Akte »Gründung der Fakultät«), S. 1. 16 Ebd. – Diplom-Volkswirt Dr. Milich (1911-1996) hatte von 1930 bis 1934 Rechtsund Staatswissenschaften in Berlin und Marburg studiert und 1937 mit einer Dissertation über Die deutsche Binnenschiffahrt seit dem Jahre 1929 an der Universität Berlin promoviert. Danach ging er zur Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft (AEG), deren Berliner Generalbevollmächtigter er 1955 wurde. Seit Ende der 1950er Jahre bis 1974 war er zugleich Vorsitzender des Verbandes der Berliner Elektroindustrie e. V. Siehe zu weiteren Einzelheiten und meinen Informationsquellen Rieter 2010, S. 41, Fußn. 36. 17 Seume (1903-1982) war nach seinem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften im öffentlichen Dienst tätig. Seit 1926 SPD-Mitglied, wurde er 1933 »von den Nationalsozialisten entlassen, gemaßregelt und politisch überwacht«, arbeitete dann in verschiedenen Wirtschaftsunternehmen, bis er 1941 zum Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung kam. Von 1949 bis 1954 war er Vizepräsident der Berliner Zentralbank. Als Vertreter Berlins saß er von 1957 bis Herbst 1972 im Deutschen Bundestag, bis März 1972 für die SPD, aus der er im Protest gegen die sozialliberale Ostpolitik austrat. (Vierhaus / Herbst 2002, S. 818, Krengel 1986, S. 83 f., 103, 107).

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nannten wird noch zu reden sein. Als externer Berater fungierte auf Wunsch Kleikamps der Nationalökonom Dr. Georg Max Jahn (1885-1962), seit 1946 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Berlin. 18 Anläßlich des Ablebens von Karl Kleikamp würdigte Joachim Tiburtius, inzwischen Senator für Volksbildung, dessen Leistung als Ausschußvorsitzender in einem Kondolenzschreiben vom 14. Juni 1952 an das Vorstandsmitglied der Berliner SPD Edith Krappe mit diesen Worten (Landesarchiv Berlin, E Rep. 300-90 Nr. 425): »Ich werde nie vergessen, mit welcher Hingabe und Sachkunde der Verstorbene

sich im Sommer 1948 um die Vorbereitung zur Errichtung der Freien Universität bemüht hat. Ich habe in den Arbeiten des von ihm geleiteten ›KleikampAusschusses‹ oft erfahren dürfen, wie er insbesondere für den Aufbau einer Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät über Aufgaben und Personen gewissenhaft und sachkundig nachdachte und die sehr verschiedenen Geister, die sich damals in diesem Ausschuss gutwillig aber oft recht uneinig an den Tisch setzten, zu positivem Arbeiten zu verbinden wusste. Die Freie Universität dankt Karl Kleikamp aus diesen Tagen wesentliche klärende Beiträge zum guten Beginnen ihrer Arbeit.«

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Die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät (ReWi-Fakultät)

Im Ausschuß setzte sich – nicht zuletzt durch Tiburtius’ Intervention (vgl. Rieter 2010, S. 40) – die Auffassung durch, keine althergebrachte, deutscher Universitätstradition verpflichtete Rechts- und Staatswissenschaftliche, sondern eine Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät zu errichten. An der Namensgebung sollte bereits erkennbar sein, beiden Disziplinen gleiches Gewicht in Lehre und Forschung zu geben. Ferner waren sich die beteiligten Ökonomen darin einig, Volkswirtschaftslehre und Betriebswirtschaftslehre als gleichrangige, von jeweils vier Ordinariaten verantwortete Studiengänge einzuführen. Das war zuvor im deutschsprachigen Raum insofern kein Regelfall, als Diplom-Kaufleute üblicherweise nicht an Universitäten, sondern an Handels- bzw. Wirtschaftshochschulen ausgebildet worden sind. 19 Intensiv beteiligten sich alle Mitglieder und Berater des Unterausschusses an der Suche nach geeigneten Hochschullehrern, Lehrbeauftragten und wissenschaftlichen Mitarbeitern, um noch zum Wintersemester 1948/49 mit dem Vorlesungsbetrieb beginnen zu können. Schnell zeigte sich jedoch, daß diese Zeitplanung für die juristische Sparte nur bedingt realistisch war. Vor allem mangelte es an qualifizierten Kandidaten für die sofortige Besetzung der Lehrstühle, weshalb frühestens zum Sommersemester 1949 mit einem kom18 Siehe Rieter 2010, S. 35, Fußn. 28 und die dort angegebene Literatur. 19 Siehe D. Schneider 2010, S. 453 ff. und die dort (vor allem S. 456, Fußn. 23) nachgewiesene Literatur.

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pletten rechtswissenschaftlichen Studienangebot gerechnet werden konnte. Also konzentrierte man sich zunächst stärker auf den wirtschaftswissenschaftlichen Bereich, für den es leichter erschien, Personal zu gewinnen. Dabei wurde allerdings angestrebt, die Lehrstühle möglichst mit erfahrenen und bekannten Professoren zu besetzen, um der Fakultät von Anfang an ein gewisses Renommee zu sichern. Schon im September 1948 konnte ein »Vorläufiges Verzeichnis der Dozenten für die Wirtschaftswissenschaften (Volkswirtschaft und Betriebswirtschaft)« vorgelegt werden. Anfang Oktober wurde der für »Higher Education« zuständige Offizier der amerikanischen Militärregierung Howard W. Johnson davon in Kenntnis gesetzt, welche LehrstuhlAnwärter in Betracht kamen. Noch im gleichen Monat konnte der KleikampAusschuß im Beisein des Leiters der Abteilung für Volksbildung beim Magistrat von Groß-Berlin, Stadtrat Walter May (SPD), und des geschäftsführenden Vorsitzenden des Gründungsausschusses Prof. Dr. Edwin Redslob eine erste Berufungsliste beschließen. Nachdem diese noch einmal modifiziert worden war (vgl. Rieter 2010, S. 52), stellte der »vorbereitende Ausschuss für eine freie Universität« am 15. November 1948 bei dem zuständigen Stadtrat May den »Antrag, als erste Mitglieder des Lehrkörpers der Freien Universität« an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät folgende – darunter drei schon erwähnte – »Herren zu berufen«, und zwar zu ordentlichen Professoren – für Volkswirtschaftslehre Albrecht Forstmann (1891-1957); – für Handels- und Sozialpolitik Joachim Tiburtius (1889-1967); – für Volkswirtschaftspolitik (bzw. zum 1. April 1949 für Volkswirtschaftslehre) Friedrich Bülow (1890-1962), der »frei war«, weil ihn die LindenUniversität wegen seiner Zugehörigkeit zur NSDAP Ende 1945 als Professor für Volkswirtschaftslehre entlassen hatte; – für Betriebswirtschaftslehre Erich Kosiol (1899-1990), der sich vergeblich bemüht hatte, seine Professur für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Nürnberg zurückzubekommen, die ihm auf Anordnung der amerikanischen Militärregierung im Mai 1945 wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft entzogen worden war; – für Öffentliches Recht Martin Draht (1902-1976), der wegen drohender politischer Verfolgung die Sowjetische Besatzungszone, wo er seit 1946 außerordentlicher Professor für Staats-, Verwaltungs- und Arbeitsrecht an der Universität Jena war, verlassen mußte und im Rang eines Regierungsdirektors bei der Hessischen Landesregierung in Wiesbaden untergekommen war; – sowie zum außerordentlichen Professor für Betriebswirtschaftslehre den schon genannten Wirtschaftsprüfer und Steuerberater Wilhelm Eich (18891966). Seine Professur wurde dann zum 1. April 1949 in ein persönliches Ordinariat umgewandelt. Neben seiner akademischen Tätigkeit bekleidete

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er als FDP-Mitglied von 1951 bis 1955 das politische Amt des Berliner Senators für Wirtschaft und Ernährung. Die Professoren waren nicht nur »gehalten, ihr Lehramt in Vorlesungen und Übungen angemessen wahrzunehmen«, sondern auch »in jedem Semester eine private, alle zwei Jahre eine öffentliche Vorlesung zu halten« Außerdem beantragte der Ausschuß, Albrecht Forstmann das Amt des Dekans und Martin Draht das des Prodekans zu übertragen. Organisatorisch wurde für die drei Fakultätsabteilungen je ein Institut eingerichtet – ein Rechtswissenschaftliches, ein Volkswirtschaftliches und ein Betriebswirtschaftliches. Nachdem die genannten Personen ihre Anstellungsbescheide erhalten hatten, konnte der Lehrbetrieb am 22. November 1948 für die knapp 500 eingeschriebenen Jura- und Ökonomiestudenten beginnen. Dem Dekan gingen zur Hand als Fakultätsassistent Diplom-Volkswirt Harry Freygang, 20 der schon an der Vorbereitung der Fakultätsbildung beteiligt war, 1950 promovierte und hernach in der Volkswirtschaftlichen Abteilung der Berliner Zentralbank arbeitete, und im Dekanat Eva Förster-Steinbrück zunächst als Sachbearbeiterin und seit 1970 als Verwaltungsleiterin, eine Beschäftigung, der sie bis Ende 1981, also 33 Jahre, nachgehen sollte (M. Behrens 1998). Im Verlauf des Wintersemesters 1948/49 wurden des Weiteren zu ordentlichen Professoren berufen – für Öffentliches Recht und BGB Ulrich von Lübtow (1900-1995), der als ehemaliges NSDAP-Mitglied nicht mehr an die Universität Rostock zurückkehren konnte (so Handschuck 2003, S. 218), wo er seit 1940 als Professor gelehrt hatte; – für Volkswirtschaftslehre Andreas Paulsen (1899-1977), der seine dem gleichen Fach gewidmete Professur, die er seit 1947 an der Universität Jena besaß, im Dezember 1948 aufgegeben hatte und nach West-Berlin geflohen war, um weiterer politischer Drangsalierung durch die SED zu entgehen. Für Volkswirtschaftslehre wurden außerdem der Textilfabrikant und habilitierte Diplom-Volkswirt Dr. Oskar Klug (1902-1987 oder 1988) zum Honorarprofessor und Dr. Heinz Kolms (1914-2004), der sich im Mai 1948 an der Universität Leipzig habilitiert hatte, zum Dozenten ernannt. Hinzu kamen im Wintersemester 1948/49 insgesamt 32 Lehrbeauftragte, davon zwei für soziologische bzw. politologische Lehrveranstaltungen und jeweils 15 für den rechts- bzw. wirtschaftswissenschaftlichen Bereich. Unter ihnen waren etliche, die sich entweder in der Gründungsphase der Universität hervorgetan hatten – wie Dr. Marie-Elisabeth Lüders 21 und die bereits genannten Johannes 20 Siehe FU Berlin, Universitätsarchiv, Bestand »WisoFak, Alte Ablage Assistenten« 21 Lüders (1878-1966) war beteiligt an der Auswahl von Lehrkräften für die FU. Sie hatte 1912 in Berlin als eine der ersten Frauen den Doktortitel in Nationalökonomie erworben und betätigte sich aktiv in der Frauenbewegung. Von 1920 bis 1932

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Eylau, Wilhelm Heymann, Ernst Knoll und Günter Milich – oder die der FU neben- bzw. hauptberuflich viele Jahre – wie der Versicherungswissenschaftler und Kartellexperte Dr. Max Metzner (1888-1968) bis 1955 – oder sogar bis zum Ruhestand verbunden bleiben sollten; so der im darauffolgenden Semester zum Honorarprofessor ernannte Wirtschaftsprüfer und Steuerberater Dipl.-Handelslehrer Dr. Kurt Berger (1900-1971), der 1955 zum Honorarprofessor ernannte Steuerberater und vereidigte Buchprüfer Dr. Erich Gisbert (1889-1968), der ehemalige ordentliche Professor für Volkswirtschaftslehre an der Handelshochschule Königsberg Dr. Dr. Herbert Schack (18931982), der Staats- und Sozialwissenschaftler Dr. Otto Heinrich von der Gablentz (1898-1972), der Wirtschaftsredakteur Dr. Gert von Eynern (1902-1987) sowie der Diplom-Landwirt und Genossenschaftsspezialist Hugo Tillmann (1893-?). Ich komme auf einige der Genannten zurück. Zudem bot der auf einen Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie an der Philosophischen Fakultät der FU berufene Prof. Dr. Edwin Fels (1888-1983) Vorlesungen aus seinem Fachgebiet an (Fels 1949), was er bis zu seiner Emeritierung 1957 beibehielt. Zum bzw. im Sommersemester 1949 vergrößerte sich das Professorenkollegium. In der rechtswissenschaftlichen Sektion erfüllten nun – neben wiederum zahlreichen mit Lehraufträgen betrauten Richtern, Anwälten und Verwaltungsjuristen – 22 die beiden schon berufenen Ordinarien Draht und von Lübtow ihre Lehrverpflichtungen. Von Lübtow diente der FU in den Anfangsjahren zugleich als Disziplinar-Untersuchungsrichter. Sodann konnten zwei weitere Lehrstühle besetzt werden: Von der Universität Jena kam der Strafrechtler Prof. Dr. Richard Lange (1906-1995) und aus Ost-Berlin der Völkerrechtler Dr. Dr. Wilhelm Wengler (1907-1995), der sich zuvor an der Humboldt-Universität habilitiert und bereits an der FU-Gründungsbesprechung am 19. Juni 1948 teilgenommen hatte. Auch der Kreis der wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbeauftragten erweiterte sich um den eingangs mehrfach erwar sie DDP-Reichstagsabgeordnete. Während der NS-Zeit erhielt sie Rede- und Schreibverbot und wurde zeitweise inhaftiert. Nach 1945 setzte sie ihre politische Karriere fort: seit Dezember 1948 Stadtverordnete in West-Berlin und von 1949 bis 1951 Stadträtin für Sozialwesen, 1953 bis 1961 Mitglied der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag und dessen Alterspräsidentin (s. Rieter 2010, S. 50, Fußn. 57 und die dort genannten Quellen). 22 Wie unverzichtbar der Einsatz dieser Praktiker als Lehrende in den ersten beiden FU-Semestern war, verdeutlicht eine Notiz in den Mitteilungen für Dozenten und Studenten der Freien Universität, Heft 4 vom 30. 6. 1949: »Die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät dankt an dieser Stelle den Herren Oberverwaltungsgerichtsrat a. D. Walter Boyens, Rechtsanwalt Wolfram von Heynitz, … Landgerichtsdirektor A[lexander] Swarzenski, Rechtsanwalt Dr. Werner Vahldiek und Dr. [jur.] H[ans] Tornow, die mit dem Sommersemester 1949 aus dem Lehrkörper ausgeschieden sind, für die in der Gründungszeit geleistete Arbeit, und ist sich bewußt, welch hohes Maß an Idealismus diese Arbeit erforderte.«

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wähnten Dr. Hans Reif für Volkswirtschaftslehre, um Dr. Fritz Mertsch (1906-1971), zuvor seit 1945 an der Universität Jena tätig, für Statistik, und Dr. Stephanie Witt, später: Münke (1910-1983), bis dahin Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Sozialwesen und Versicherungswirtschaft der Universität in Ost-Berlin, für Sozialpolitik. Sie habilitierte sich 1952 für Sozialpolitik und Spezielle Soziologie, erhielt 1959 eine außerplanmässige Professur und ließ sich 1970 aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand versetzen.

2. Zerreißproben 23 2.1 Nationalsozialistische Erblasten Die Entscheidung, die Lehrstühle anfangs nicht mit Nachwuchskräften zu besetzen, sondern den institutionellen wie wissenschaftlichen Auf- und Ausbau der neuen Fakultät berufserfahrenen Hochschullehrern anzuvertrauen, erwies sich schnell als zweischneidig. Nahezu alle in den ersten Semestern eingestellten Professoren standen bereits in ihrem fünften Lebensjahrzehnt. Sie hatten ihre berufliche, meist akademische Karriere in der NS-Zeit gestartet bzw. vorangetrieben. Dabei dienten sie seit 1933 den neuen Machthabern entweder aus Überzeugung oder gingen dabei Kompromisse ein. Jedenfalls gehörte keiner von ihnen zu jenen, die wegen ihrer politischen Gesinnung oder ihrer jüdischen Religion bzw. Abstammung ins Ausland flüchten mußten und denen es nun nicht gerade leicht gemacht wurde, in ihre alte Heimat zurückzukehren, um dort jeweils den Berufsweg fortsetzen zu können, der ihnen durch das NS-Regime versperrt worden war. Dies galt für die neu gegründete FU im Prinzip ebenso wie für die alten Hochschulen, die nach 1945 ihre Pforten wieder geöffnet hatten. Harald Hagemann (2010, S. 404 f.) resümiert:

»Eine von den Deutschen und Österreichern gewünschte und systematisch organisierte Rückkehr der Emigranten hat es, gerade auch in der Wissenschaft, nie gegeben. Vielmehr erschienen die Rückkehrer, die vor allem im angelsächsischen Exil westliche Normen und Wertvorstellungen übernommen hatten, vielen ihrer ehemaligen Mitbürgerinnen und Mitbürger eher als unbequeme Mahner, deren moralische Positionen man nur ungern nachvollzog. (...) Obwohl die selbst aus türkischem bzw. amerikanischem Exil zurückgekehrten Regierenden Bürgermeister Berlins und Hamburgs, Ernst Reuter und Max Brauer, auf der ersten Ministerpräsidentenrunde im Juni 1947 in München einen allgemeinen Aufruf an die Emigranten zur Rückkehr nach Deutschland richteten, gab es nie ein systematisches Rückkehrangebot an die vertriebenen Wissenschaftler, insbesondere auf Wiedereinsetzung auf die einstmals eingenommenen Professuren.«

23 Zu den Einzelheiten und Quellenbelegen der nachfolgend geschilderten Ereignisse siehe Rieter 2010: insbes. S. 63-177.

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Wieviel Konfliktstoff die gewählte Personalpolitik barg und welch schwere Probleme sie der Fakultät bereiten sollte, das war kaum zu erahnen, zumal sich die Gründer angesichts des Zeitdrucks und unzugänglicher oder zerstörter Informationsquellen kein vollständiges Bild von jedem Bewerber über dessen Verhalten in der Vergangenheit machen konnten. Außerdem durften sie davon ausgehen, mit Martin Draht, Wilhelm Wengler, Joachim Tiburtius und Albrecht Forstmann Persönlichkeiten berufen zu haben, die nachweislich unter der NS-Herrschaft gelitten hatten. Draht, seit 1926 SPD-Mitglied, verlor 1933 seine Dozentur an der Akademie der Arbeit in Frankfurt am Main und schlug sich danach – bis er 1939 zur Wehrmacht eingezogen wurde – als Buchhalter und Revisor durch. Wengler arbeitete in der völkerrechtlichen Arbeitsgruppe im Oberkommando der Wehrmacht eng mit deren Leiter, dem wegen seiner Widerstandstätigkeit im »Kreisauer Kreis« später hingerichteten Helmuth James Graf von Moltke, zusammen und befand sich selbst eine Zeitlang in Gestapo-Haft. Tiburtius während der NS-Zeit auf Lehrstühle zu berufen scheiterte zweimal am Einspruch nationalsozialistischer Funktionäre: 1938 für die Besetzung eines Lehrstuhls für Wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Universität Köln vorgesehen, attestierte ihm der NSDDozentenbund, »dem Nationalsozialismus fern zu stehen« und »wohl kaum ein aktiver Nationalsozialist zu werden«, und nahm ihm damit jede Berufungschance. Als er 1943/44 einen Lehrstuhl für Handelswissenschaft an der Handels-Hochschule Leipzig erhalten sollte, schritt die Berliner Gauleitung der NSDAP, gestützt auf ein Gutachten des Sicherheitsdienstes der SS, dagegen ein, weil Tiburtius »bei seinen Fähigkeiten, weltanschaulich gesehen, für den Nationalsozialismus als Gefahr zu betrachten« sei, denn »von den Grundideen des Nationalsozialismus« sei er »noch nicht durchdrungen« und gelte »auch heute noch als judenfreundlich« und »als ein fanatischer Kirchenvertreter«. Letzteres bezog sich auf seine Aktivität im Bruderrat der Bekennenden (Evangelischen) Kirche. Und Forstmann schließlich erregte schon 1935 bei Oberen der NSDAP mit seiner fachlich auch heute noch lesenswerten Dissertation Der Kampf um den internationalen Handel Anstoß, weil er darin u. a. die offizielle Außenwirtschaftspolitik kritisierte und für freien Güteraustausch sowie eine Abwertung der Reichsmark eintrat. Drei Jahre später verhaftete ihn die Gestapo sogar, weil er den Führer und andere NS-Größen verunglimpft hätte. Er verlor den Status eines habilitierten Hochschullehrers an der Universität Greifswald, wurde aus der NSDAP ausgestoßen, bis Juni 1940 im KZ Sachsenhausen inhaftiert und fand danach bis Kriegsende keine feste Anstellung mehr. Wohl niemand konnte damit rechnen, daß ausgerechnet Forstmanns Vergangenheit der jungen Universität und ihrer Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät den ersten handfesten Eklat bescheren sollte. Gerade zum Professor berufen und zum Dekan bestellt, verlangte die französische Militärregierung, ihn wieder zu entlassen, weil sich Forstmann, der schon im

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Mai 1932 in die NSDAP eingetreten war, in seinen Schriften zu deren Ideologie bekannt und sie insbesondere in seinem 1933 publizierten Buch Wege zur nationalsozialistischen Geld-, Kredit- und Währungspolitik verbreitet habe. Die amerikanische Militärregierung wie das Rektorat forderten ihn auf, bis zur Klärung des Sachverhalts Urlaub zu nehmen, was er jedoch ablehnte. In Würdigung der Tatsache, daß sich Forstmann in späteren Jahren gegen den Nationalsozialismus gestellt hatte, hielt ihn ein vom Akademischen Senat der FU im Januar 1949 eingesetzter externer Untersuchungsausschuß zwar als Professor für tragbar, doch sei es »dem Ansehen der Freien Universität nicht zuträglich«, ihn weiterhin im Amt des Dekans zu belassen. Daß sich die Fakultät mit dieser Lösung einverstanden erklärte, führte zu unerquicklichen Differenzen zwischen Forstmann und seinen Kollegen. Bülow, der die Führung der Dekanatsgeschäfte übernahm, Paulsen und Tiburtius verwahrten sich in einer gemeinsamen Stellungnahme gegen Forstmanns Anwürfe und forderten ihn auf, sich kooperativ zu verhalten. Als er dies nicht tat, entließ ihn der Oberbürgermeister am 25. Juli 1949 aus dem Universitätsdienst. Dagegen klagte er – allerdings erfolglos. Wiederum vergeblich verlangte er viele Jahre später, 1956/57, von der FU, ihn zu rehabilitieren und dafür zu sorgen, seine Tätigkeit als Professor wieder aufnehmen zu können. Nach seinem Tod machte sich bis in das Jahr 1959 die Witwe zur Anwältin ihres Mannes, indem sie den Akademischen Senat aufforderte, gegen Universitätsangehörige, u. a. Bülow, disziplinarrechtliche Schritte einzuleiten, weil ihr Ehemann Opfer »übler Intrigen« bestimmter »akademischer Kreise der FUB« geworden sei. Den Beweis dafür blieb sie indes schuldig. Im Unterschied zu Forstmann hatte der Gründungsausschuß bei Friedrich Bülow und Erich Kosiol anfangs Bedenken, sie zu berufen, bevor ihre »politische Unbedenklichkeit festgestellt« war und die Fakultät sich konstituiert hatte. Dieser Vorbehalt wurde jedoch ignoriert. Im Falle Kosiols kam die Sache allerdings schnell erneut zur Sprache. Als er sich einkommensmäßig schlechter gestellt fühlte als nach ihm berufene Kollegen, forderte er seinen Dienstherrn auf, seine Bezüge entsprechend aufzubessern. Oberbürgermeister Ernst Reuter, zugleich Vorsitzender des Kuratoriums der FU, lehnte dies am 22. Dezember 1949 ab und erinnerte Kosiol daran, daß er bei seiner Einstellung schon »besonders bevorzugt behandelt« und der Vertrag mit ihm »lebenslänglich geschlossen« worden sei, womit – wie Reuter wörtlich schrieb – »im Hinblick auf Ihre politischen Schwierigkeiten, (...) ein großes Entgegenkommen gezeigt worden ist«. Reuter spielte damit offenbar auf Kosiols nationalsozialistische Vergangenheit an. Während der Weimarer Republik noch der Deutschen Demokratischen Partei verbunden, schloß sich Kosiol im April 1933 der NSDAP an und betätigte sich fortan aktiv in deren Gliederungen. Zu jener Zeit war er schon viele Jahre Wissenschaftlicher Assistent und seit 1931 Privatdozent an der Universität Köln und wollte gern seine Hochschulkarriere fortsetzen. Doch erst 1939 bekam er ein Ordinariat für Be-

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triebswirtschaftslehre und zwar an der Hindenburg-Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Nürnberg. Dort trat er nachdrücklich dafür ein, die »moderne Betriebswirtschaftslehre«, eine »junge Wissenschaft«, in Lehre und Schrifttum »in der nationalsozialistischen Gedankenwelt« zu verankern. Auf Bülows Verstrickung in den Nationalsozialismus war in der Presse schon hingewiesen worden, als bekannt wurde, daß er eine Professur an der FU bekommen sollte. Doch dies veranlaßte offenbar niemand, seinen Werdegang genauer unter die Lupe zu nehmen. Hätte man es getan, wäre er wohl kaum in die engere Wahl gekommen oder gar berufen worden. Denn er war kein bloßer Mitläufer der »nationalsozialistischen Bewegung«, sondern ein Mittäter. Bülow, dem es nach dem Studium und der Promotion 1920 in Leipzig mit einer Dissertation über die Hegelsche Sozialphilosophie nicht gelang, im akademischen Bereich Fuß zu fassen und der sich deshalb u. a. als Privatlehrer verdingen mußte, trat im März 1933 in die NSDAP ein, unterstützte aber bereits seit Frühjahr 1932 deren Gauwirtschaftsrat Düsseldorf dabei, eine Wirtschaftszeitung auf die Beine zu stellen. In der Folgezeit publizierte er regelmäßig in nationalsozialistischen Zeitschriften, was er nach 1945 tunlichst verschwieg – etwa in dem der FU bei seiner Anstellung vorzulegenden Schriftenverzeichnis. Bülow konnte sich 1935 an der Universität Leipzig mit einer Schrift über Gustav Ruhland habilitieren, die den bezeichnenden Untertitel Ein deutscher Bauerndenker im Kampf gegen Wirtschaftsliberalismus und Marxismus trug. Bald danach wurde er »wissenschaftlicher Hauptsachbearbeiter« der von dem Agrarwissenschaftler und SS-Führer Prof. Dr. Konrad Meyer geleiteten Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung in Berlin, die von Anfang an im Rahmen des sog. Vierjahresplanes in bestimmte Vorbereitungen eines Angriffskrieges eingeschaltet war und mit Kriegsbeginn im September 1939 u. a. »die Möglichkeiten der Stärkung und Befestigung des deutschen Volkstums und der Bildung neuen deutschen Volksbodens im deutschen Ostraum« zu eruieren hatte (Ritterbusch 1939, S. 502). Nicht zuletzt wegen dieser Aufgaben 1937 als Dozent an die Universität Berlin versetzt, bekam Bülow dort 1940 eine ordentliche Professur für Volkswirtschaftslehre, die er bis Kriegsende behielt. Zugleich arbeitete er Meyer weiterhin zu, auch als dieser 1941 Chefplaner in Himmlers Reichskommissariat für die Festigung des deutschen Volkstums geworden war, das von Hitler damit beauftragt wurde, vor allem in den im Osten eroberten Gebieten den »schädigenden Einfluß von solchen volksfremden Bevölkerungsteilen, die eine Gefahr für das Reich und die deutsche Volksgemeinschaft bedeuten«, auszuschalten und diese Territorien »durch Umsiedlung in neue deutsche Siedlungsgebiete« zu verwandeln. Die Planungen dazu unterstützte Bülow in Wort und Schrift 24 mit entsprechenden Überlegungen zur 24 Siehe im Einzelnen Rieter 2014, S. 300-309.

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völkisch-rassischen und räumlichen Ordnung des »Neuen Deutschen Ostens«, wobei er fest davon überzeugt war (Bülow 1938, S. 22), daß »vom nationalsozialistischen Standpunkt aus, (...) Gemeinschaft wesentlich durch ihre natürlichen Grundlagen (Blut und Boden) bestimmt ist«. Derart gesinnungstreue ›Forschungen‹ betrieben zu haben, dafür fühlte sich ihm sein Mentor und zeitweiliger Vorgesetzter, SS-Oberführer Meyer (1971, S. 107), sogar noch lange nach dem Untergang des ›Dritten Reiches‹ »zu tiefem Dank« verpflichtet! Beide konnten unter veränderten Vorzeichen ihre Zusammenarbeit in der 1946 als Nachfolgeinstitution der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung in Hannover gegründeten Akademie für Raumordnung und Landesplanung ungerührt fortsetzen. Im zeitgeschichtlichen Kontext geriet die junge Fakultät nochmals 1949 in die politischen Schlagzeilen. Schon in der Gründungsphase war man bemüht gewesen, den renommierten Basler Volkswirt Prof. Dr. Edgar Salin (18921974) als Lehrkraft zu gewinnen. Er hatte schließlich zugesagt, im Sommersemester 1949 als Gast zu lesen. Völlig überraschend zog er Anfang Juni seine Zusage zurück, weil – wie er erfahren hatte – der stellvertretende USamerikanische Hauptankläger in den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen Dr. Robert W. Kempner ebenfalls einen Lehrauftrag an der FU erhalten sollte. Salin erblickte darin ein Indiz dafür, »daß die Auswahl, der Gastreferenten nicht nur nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten stattfindet«, denn: Der Remigrant Kempner habe als Ankläger in dem Verfahren gegen den ehemaligen Staatssekretär im Reichsaußenministerium Ernst von Weizsäcker »der Renazifizierung der Deutschen ebenso wie der Diffamierung des Nürnberger Verfahrens dankbaren Stoff geboten«, weil das »Verfahren gegen einen auch nach Ansicht des Gerichtes hoechstens aus Schwaeche schuldigen Ehrenmannes« nicht hätte unter »das Verfahren gegen notorische Verbrecher subsumiert« werden dürfen. Kempner verbat sich – wie die Presse ebenfalls berichtete – Salins Versuch, »für Kriegsverbrecher zu intervenieren«. Salins Haltung erscheint insoweit merkwürdig, als er wie sein Kontrahent Jude und selbst nur deshalb nationalsozialistischer Verfolgung entgangen war, weil er schon 1927 Heidelberg verlassen hatte, um einen Ruf an die Universität Basel anzunehmen. Obwohl sich das Rektorat und die Fakultät sofort bemühten, die Kontroverse zu entschärfen, indem sie öffentlich erklärten, »dass niemals beabsichtigt gewesen ist, die Nürnberger Prozesse nur vom Standpunkt der Anklagevertretung behandeln zu lassen, sondern daß gleichzeitig ein namhafter Vertreter der Verteidigung zu Gastvorlesungen kommen sollte«, fand man keinen gemeinsamen Nenner mehr, so daß schließlich weder Salin noch Kempner Gastvorlesungen an der FU hielten. Gegen Ende der ersten FU-Dekade erschütterte die Fakultät nochmals ein vor den Augen der Öffentlichkeit ausgetragener Konflikt, in dem wiederum das nationalsozialistische Trauma eine große Rolle spielte. Der Honorarprofessor Oskar Klug schwärzte seinen Fachkollegen Andreas Paulsen, zu jener

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Zeit noch Rektor der Universität, am 29. Mai 1957 beim Berliner Innensenator aus mehreren Gründen an: Er habe u. a. in seiner Monographie Der volkswirtschaftlich gerechtfertigte Preis (1938) »die ›Neue Lehre‹ des Nationalsozialismus und seiner Rassentheorie vertreten«, sei Professor in Jena »in engstem Einvernehmen mit der SED« geworden und habe – auch als Rektor – »alle personellen Fragen unter dem Gesichtspunkt des eigenen persönlichen und materiellen Vorteils gesehen«. Mit dem letzten Vorwurf verband Klug die Behauptung, »dass sich ausgerechnet Herr Paulsen meiner Berufung auf einen Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre widersetzt« habe. Dies konnte allerdings schon deshalb nicht stimmen, weil Klug – wie die Protokolle der Fakultätssitzungen belegen – nie für ein Ordinariat im Gespräch war. Der Akademische Senat bekundete Paulsen einstimmig »sein volles uneingeschränktes Vertrauen«, bat ihn, im Amt zu bleiben, was er auch tat, und veranlaßte den Prorektor, Strafantrag gegen Klug »wegen Beleidigung, Verleumdung und übler Nachrede« zu stellen. Obwohl der Generalstaatsanwalt schon Anfang 1959 beantragt hatte, das Hauptverfahren zu eröffnen, fand dies erst im Frühjahr 1960 statt und endete mit Klugs Verurteilung zu einer Geldstrafe. Von Paulsen aufgebotene Zeugen, darunter seine von ihm geschiedene jüdische erste Ehefrau, bestätigten seine oppositionelle Haltung sowohl gegenüber dem Nationalsozialismus, insbesondere im Umfeld der Widerstandsgruppe des Leipziger Oberbürgermeisters Carl Goerdeler, als auch gegenüber dem SED-Regime. Die FU legte gegen das Urteil zwar Berufung ein, weil ihr die Strafe zu gering erschien, doch hinter den Kulissen bemühte man sich, den weiter schwelenden Konflikt durch einen Vergleich dauerhaft beizulegen, zumal auch Klug in die Berufung gegangen war und daneben Prozesse gegen die Universität bzw. einzelne Amtsträger anstrengte. Schließlich verglich man sich 1961 dahingehend, daß Klug eine Ehrenerklärung für Paulsen abgibt, weitere gerichtliche Attacken gegen die Universität unterläßt und sich aus dem Lehrbetrieb zurückzieht, aber seine Honorarprofessur nicht aberkannt bekommt und sein Name weiterhin im Personal- und Vorlesungsverzeichnis erscheint. Eine Lücke im Lehrangebot hinterließ sein Ausscheiden nicht, da er kaum Hörer hatte und seine Vorlesungen zuvor wegen fehlender Nachfrage sowieso oftmals ausgefallen waren. Nicht unerwartet setzte Klug in den folgenden Jahren auf die eine oder andere Weise seinen ›Feldzug‹ gegen Paulsen, weitere Fakultätsmitglieder und die FU überhaupt fort, doch dies vermochte den Fakultätsfrieden glücklicherweise kaum noch zu stören.

2.2 Die Spaltung der Fakultät Wie gesagt, erwies es sich als schwierig, die vorgesehenen juristischen Professuren gleich bzw. zügig zu besetzen, weshalb im Wintersemester 1948/49 mit externen Lehrpersonen improvisiert werden mußte. Entsprechend waren

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auf den ersten neun (!) Sitzungen der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät keine Juristen, sondern nur die erstberufenen Ökonomen zugegen. Um die Arbeitsfähigkeit der Fakultät zu sichern, mußten jedoch zwangsläufig von Anfang an Beschlüsse gefaßt und allerhand Dinge geregelt werden. Als zu Beginn des Sommersemesters erstmals mit Draht, Lange, von Lübtow und Wengler Inhaber rechtswissenschaftlicher Lehrstühle an den Fakultätssitzungen teilnahmen, stellte sich schnell heraus, daß sie nicht mit allem einverstanden waren, was ihre wirtschaftswissenschaftlichen Kollegen bereits beschlossen und getan hatten. Es kam sogar zu einem heftigen Eklat im Dekanat: Prodekan Draht warf Dekan Bülow vor, die Akten nicht ordentlich zu führen und rechtlich bedenkliche Personalentscheidungen getroffen zu haben. In der Folge drängte Bülow darauf, die Fakultät »in eine Juristische und eine Wirtschaftswissenschaftliche« zu trennen. Kosiol, Tiburtius, Eich, Lange, Wengler und die Studentenvertreter schlossen sich auf einer Fakultätssitzung Ende Juli 1949 diesem Vorschlag an, während nur Draht und Paulsen dagegen stimmten. Erst nachdem der Rektor die mehrheitliche Entscheidung unterstützte, zeigte sich der zuständige Stadtrat für Volksbildung als oberster Dienstherr bereit, sein Bedenken »einer wesentlichen Änderung des Gefüges der Freien Universität« zurückzustellen und die Trennung zum 1. November 1949 zu billigen, zumal verabredet worden war, »Verbindungsorgane« zwischen den neuen Fakultäten zu schaffen. Doch diese Kooperation scheiterte erst einmal wegen weiterer Querelen: Die Juristische Fakultät beschwerte sich nämlich nun offiziell bei der Universitätsleitung über fehlerhafte Entscheidungen des Dekans Bülow in der Vergangenheit. Der daraufhin vom Akademischen Senat eingesetzte Untersuchungsausschuß bestätigte schließlich die Berechtigung der erhobenen Vorwürfe und stellte fest, daß Bülow in einer Verwaltungsfunktion keine Gewähr mehr für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit der Fakultäten biete. Wohl gedrängt von seinen Kollegen, trat Bülow Ende Januar 1950 als Dekan zurück und überließ dem gewählten Prodekan Kosiol die Amtsgeschäfte. Die vollzogene Fakultätsspaltung manifestierte sich im Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Wintersemester 1949/50, das kommentarlos statt der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät nun eine Juristische und eine Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät auswies, letztere allerdings zunächst nur mit zwei wirtschaftswissenschaftlichen »Fachgruppen« – Volkswirtschaftslehre und Betriebswirtschaftslehre.

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ReWi- und WtSo-Fakultät

3. Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche (WiSo-Fakultät) 3.1 Der sozialwissenschaftliche Fakultätsbereich 3.1.1 Lehrkörper und Einrichtungen

Fakultät

Daß in der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der FU keine soziologischen und politologischen Lehrstühle angesiedelt waren, ist nicht weiter verwunderlich, doch ohne solche war die nun neu entstandene Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät natürlich ein Torso. Immerhin hatte der Ordinarius für Volkswirtschaftslehre Bülow wohl aus eigenem Antrieb schon im Wintersemester 1948/49 damit begonnen, Grundvorlesungen in Soziologie bzw. »Gesellschaftslehre« anzubieten, was er dann bis zu seinem Tod 1962 beibehielt, obwohl er dafür keine venia legendi besaß. Ab dem Sommersemester 1950 wurde er dennoch wie selbstverständlich als Professor für Volkswirtschaftslehre und Soziologie im Personal- und Vorlesungsverzeichnis geführt. Und als die Fakultät im November 1950 beschloß, neben den bestehenden Instituten für Volkswirtschaft bzw. Betriebswirtschaft einzelnen Lehrstühlen zugeordnete Institute bzw. Seminare zu schaffen, ließ sich Bülow ein solches für Soziologie einrichten, dem er bis zu seiner Emeritierung vorstand und dessen Abteilung für »reine (theoretische bzw. allgemeine) Soziologie« er für sich beanspruchte. Im September 1949 hatte Bülow seine volkswirtschaftlichen Kollegen darüber informiert, wie er sich die weitere personelle Besetzung der Sektion Soziologie vorstellte: Unter seinem Direktorat sollten einige sich habilitierende Nachwuchskräfte herangezogen werden – darunter zwei Lehrbeauftragte der ersten Stunde, der Diplom-Volkswirt Dr. Wolfgang Fleck und der bereits erwähnte Dr. Otto von der Gablentz, sowie der Sozial- und Politikwissenschaftler Dr. Otto Stammer (1900-1978), den die Fakultät schon im Monat darauf für das Fach Soziologie habilitierte. Im April 1951 erhielt er ein Extraordinariat, das vier Jahre später zum Ordinariat aufgewertet wurde und 1960 die erweiterte Bezeichnung »Soziologie und Politische Wissenschaft« erhielt. Zudem leitete er im Seminar bzw. (seit Sommersemester 1957) Institut für Soziologie die Abteilung für Politische Soziologie. Nicht allein an dieser Spezialisierung lag es, daß Stammer von der Fachwelt mehr als Politologe wahrgenommen wurde, obwohl er sich nach wie vor auch mit soziologischen Themen befaßte und von 1959 bis 1963 der Deutschen Gesellschaft für Soziologie sogar präsidierte. Von außen betrachtet, fiel im Laufe der Jahre offenbar stärker auf, wie eng sich Lehre und Forschung bei ihm mit politikwissenschaftlichen Institutionen verbanden: So gehörte er zum Kollegium der Deutschen Hochschule für Politik (DHfP) bzw. des Otto-SuhrInstituts (OSI) der FU und war seit 1951 Vorstandsmitglied sowie Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates und seit April 1954 Wissenschaftlicher Leiter des zunächst außeruniversitären, Forschungs-Instituts für Politische

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Wissenschaft e. V. in Berlin, das auf seine Initiative hin am 1. April 1958 in eine interfakultative Forschungseinrichtung der FU unter seinem Direktorat überführt wurde. Otto von der Gablentz, der Rechts- und Staatswissenschaften studiert und im ›Dritten Reich‹ dem Kreisauer Widerstandskreis angehört hatte, konnte seine Habilitation im Dezember 1949 erfolgreich abschließen. Die Fakultät erteilte ihm die Lehrbefugnis für Soziologie unter besonderer Berücksichtigung der Betriebs- und Berufssoziologie. Ebenso wie Stammer interessierte er sich indes stärker für Politologie, was keinesfalls allein mit seinem parteipolitischen Engagement zu tun hatte – von der Gablentz gehörte zu den Gründern der CDU in Berlin. Daneben war er 1948 daran beteiligt, die von den Nationalsozialisten aufgelöste DHfP in Berlin neu zu beleben. Er wurde einer ihrer Abteilungsleiter und stand von 1955 bis 1959 an der Spitze der Hochschule. 1950 gründete er mit anderen das schon genannte Institut für Politische Wissenschaft und war dessen Wissenschaftlicher Leiter, bis ihn Stammer in diesem Amt ablöste. In Anbetracht solcher Aktivitäten erschien es der Fakultät im April 1953 angebracht, von der Gablentz eine außerordentliche Professur für Politische Struktur- und Funktionslehre zu übertragen. Sie wurde zum 1. April 1959 in ein Ordinariat für Wissenschaft von der Politik mit besonderer Berücksichtigung der Theorie der Politik umgewandelt. Ihren sichtbaren Niederschlag fand der geschilderte Fakultätsausbau des sozialwissenschaftlichen Teilbereichs im Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1953, in dem erstmals als eigenständige Rubrik die Sektion »Politische Wissenschaften« ausgewiesen wurde. In ihr wirkten nun neben von der Gablentz der SPD-Politiker und erste Direktor der wiedererstandenen DHfP Dr. Otto Suhr (1894-1957) als Honorarprofessor und der ebenfalls dort als Abteilungsleiter und Professor tätige, schon genannte Volkswirt Dr. Gert von Eynern weiterhin als Lehrbeauftragter. Von Eynern habilitierte sich noch Anfang 1957 an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät und erhielt die venia legendi für Volkswirtschaftslehre mit besonderer Berücksichtigung der politischen Wirtschaftslehre. Im August 1958 wurde er zum außerplanmäßigen Professor und im April 1959 zum ordentlichen Professor für Wissenschaft von der Politik mit besonderer Berücksichtigung der Wirtschaftslehre ernannt – ein Amt, das er bis zu seiner Emeritierung 1970 versah. Da sich Stammer vermehrt und von der Gablentz schließlich ganz politologischen Feldern zuwandten, prägte in jener Zeit vor allem Bülow das Erscheinungsbild der soziologischen Fakultätssparte. Es verriet deutlich Züge seiner intellektuellen Entwicklung. Romantische Nationalökonomie, Historismus und deutsche idealistische Philosophie bestimmten sein Denken seit der Studienzeit. Insbesondere begeisterte er sich für die ständische Gesellschaftslehre Othmar Spanns, und erst als sich die Nationalsozialisten von solchen Konzepten distanzierten, schwenkte er vollends auf deren völkisch-

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rassistischen Kurs ein. Bülow ließ nie einen Zweifel daran, von der neueren, quantitative, gar mathematische Methoden verwendenden Wirtschaftstheorie und Soziologie wenig zu halten. Sein späterer Fachkollege Dieter Claessens (1998, S. 44) erinnerte sich, schon als Student der Soziologie an der FU den Eindruck gewonnen zu haben, daß »das Niveau der Altordinarien Bülow und Stammer nicht mehr den Ansprüchen der in Friedenszeiten nachgewachsenen Studiengeneration entsprach«. Wenn René König (1987, S. 153) in einem Rückblick auf die Geschichte der Berliner Soziologie »der ›Pionierperiode‹ der FU« Anerkennung zollt, dann bezieht sich das vor allem »auf eine erste Generation von vorzüglichen Nachwuchskräften«, die jedoch nicht von Bülow, sondern von Stammer »herangebildet wurde« (ebd., S. 151); namentlich der eben zitierte Dieter Claessens (1921-1997), der nach Promotion 1957 und Habilitation 1960 Professor für Soziologie in Münster und Kodirektor der Sozialforschungsstelle in Dortmund wurde, aber Ende 1966 an die FU als Ordinarius für Soziologie zurückkehrte; Jürgen Fijalkowski (geb. 1928), der an der FU 1958 promovierte, sich dort 1970 habilitierte, seit 1971 an der Pädagogischen Hochschule Berlin Politologie lehrte und von 1976 bis 1993 eine ordentliche Professur für Politikwissenschaft und Politische Soziologie an der FU innehatte; und nicht zuletzt Renate Mayntz (geb. 1929), die an der FU schon 1953 promovierte und sich 1957 ebenfalls für Soziologie habilitierte, dort als Privatdozentin und außerordentliche Professorin wirkte, bis sie 1965 ein Ordinariat erhielt. 1971 nahm sie einen Ruf an die Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer an, von wo aus sie 1973 auf eine ordentliche Professur für Soziologie an der Universität zu Köln wechselte. Seit 1985 leitete sie zudem das auf ihr Betreiben hin gegründete Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung.

3.1.2 Studiengänge Da man nicht nur an der WiSo-Fakultät, sondern auch an der Philosophischen Fakultät Soziologie studieren konnte, wurden schon bald Absprachen dringend notwendig. Im März 1951 wurde auf Empfehlung der beiden jeweils zuständigen Fachvertreter, Bülow und Privatdozent Dr. Hans-Joachim Lieber, verabredet, daß Soziologie als Hauptfach an beiden Fakultäten belegt werden kann, bei soziologischen Promotionen an der Philosophischen Fakultät wirtschaftswissenschaftliche Nebenfächer gewählt werden können, Bülow »als Prüfer und Betreuer für die Soziologie auch der Philosophischen Fakultät zur Verfügung steht« und im Vorlesungsverzeichnis wechselseitig auf die einschlägigen Lehrveranstaltungen hingewiesen wird. Diese Regelungen stärkten nochmals Bülows zentrale Position bei der Ausbildung von Soziologen an der FU zu jener Zeit. Die Kooperation zwischen beiden Fakultäten entwickelte sich weiter und fand ihren Niederschlag in der Diplom-

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Prüfungsordnung für Soziologen vom 1. Juli 1956: 25 Nach einem Studium der Soziologie konnte nach frühestens acht Semestern die Diplomprüfung an einer der beiden Fakultäten abgelegt und der akademische Grad eines Diplom-Soziologen erworben werden. Die Frist für die Diplomarbeit betrug höchstens neun Monate, es sei denn, sie wurde »bei einer empirischsoziologischen Forschungsaufgabe« verlängert, wobei 1½ Jahre in der Regel nicht überschritten werden sollten. Um zur Diplomprüfung zugelassen zu werden, mußte der Kandidat an einer mindestens zweisemestrigen empirischsoziologischen Arbeit sowie einer Lehrveranstaltung über die Grundlagen der statistischen Methode erfolgreich teilgenommen haben. In den Hauptfächern (Allgemeine Soziologie, ein Gebiet der speziellen Soziologie, Methoden und kombinierte Arbeitsverfahren der empirischen Soziologie) wurde er nur mündlich insgesamt eine Stunde geprüft, während in den Nebenfächern (philosophische oder wirtschaftswissenschaftliche Grundfächer) Klausurarbeiten »nach den Bedürfnissen der einzelnen Fächer« zu schreiben und eine mündliche Prüfung von ebenfalls insgesamt einer Stunde zu bestehen waren. In der Philosophischen Fakultät wurden die Nebenfächer »Grundzüge der Psychologie und Sozialpsychologie, der neueren Geschichte der Wissenschaft von der Politik oder Publizistik« und ein Wahlfach, wünschenswerterweise ein wirtschaftswissenschaftliches Grundfach, abgeprüft. Analog dazu mußten in der Diplomprüfung an der WiSo-Fakultät Kenntnisse in den Nebenfächern »Volkswirtschaftslehre« und »Allgemeine Betriebswirtschaftslehre« schwerpunktmäßig sowie nach Wahl möglichst in einem philosophischen Grundfach nachgewiesen werden. Die politologische Ausbildung vollzog sich anders (vgl. u. a. Gablentz um 1957): Sie erfolgte anfänglich primär an der Deutschen Hochschule für Politik. Die FU war jedoch insoweit involviert, als sie 1952 mit der DHfP vertraglich vereinbart hatte, sowohl an der Philosophischen als auch an der WiSo-Fakultät jeweils zwei eigene Lehrstühle für die Wissenschaft von der Politik einzurichten. Ihre Inhaber wirkten gleichzeitig als Abteilungsleiter an der DHfP. Die Studiendauer betrug wie im soziologischen Studiengang mindestens acht Semester. Das Diplomexamen erstreckte sich auf die drei Hauptgebiete »Theorie der Politik, Empirie der Politik oder überstaatliche Politik und Außenpolitik« und einem »Ergänzungsfach aus dem Bereich der Philosophischen, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen oder Juristischen Fakultät der Freien Universität, das in enger Beziehung zur Wissenschaft von der Politik stehen« mußte. Mit der an der DHfP bestandenen Prüfung wurde der akademische Grad des Diplom-Politologen verliehen, der zugleich die Voraussetzung schuf, um an der FU im Hauptfach »Wissenschaft von der Politik« promovieren zu können. Der Kanon der Examensfächer änderte sich etwas, nachdem die DHfP 1959 als interfakultatives Otto-Suhr-Institut in die 25 FU Studienführer um 1957, S. 159-161; siehe auch Bülow / Stammer um 1957.

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FU eingegliedert worden war. Gemäß der Ordnung vom 1. November 1962 erstreckte sich die Diplomprüfung nun auf die Bereiche »Theorie der Politik«, »Innenpolitik« (darunter das Gebiet »Politische Wirtschafts- und Soziallehre«), »Außenpolitik« und »Vergleichende Lehre der politischen Systeme«.

3.2 Der wirtschaftswissenschaftliche Fakultätsbereich 3.2.1 Einrichtungen und Lehrkörper Nach der Trennung von den Rechtswissenschaftlern mit Beginn des Wintersemesters 1949/50 mußte der wirtschaftswissenschaftliche Fakultätsbereich angesichts einer zunehmenden Zahl von Studierenden – bald über 1.000 – institutionell und personell kontinuierlich erweitert werden. Dies zu erreichen bemühten sich die bereits tätigen Ordinarien Bülow, Eich, Paulsen und Tiburtius innerhalb wie außerhalb der Universität intensiv und recht erfolgreich. So konnten in relativ kurzer Zeit die Stellen für Ordinarien, Extraordinarien, Dozenten, Lektoren, Lehrbeauftragte und Assistenten vermehrt und weitere Einrichtungen für Lehre und Forschung geschaffen werden.

3.2.1.1

Lehrstühle, Seminare, Institute, Bibliotheken und Archiv

Die Fakultät beschloß, neben den bestehenden Instituten für Volkswirtschaft bzw. Betriebswirtschaft den einzelnen Lehrstühlen spezielle Institute bzw. Seminare anzugliedern. So entstanden mit Billigung der Universitätsgremien im Laufe des ersten Jahrzehnts die Institute für Soziologie, für Markt- und Verbrauchsforschung und – von der Berliner Wirtschaft unterstützt – für Industrieforschung sowie die Seminare für Handelsforschung bzw. Theorie und Politik des Binnenhandels, Sozialpolitische Forschung, Weltwirtschaft, Wirtschafts- und Finanzpolitische Forschung, Bank- und Kreditwirtschaft, Wirtschaftstheorie, Betriebswirtschaftliches Prüfungs-, Beratungs- und Steuerwesen, Statistik (später: und Wirtschaftsmathematik) und Wirtschaftspädagogik. Getrennt von der bereits vorhandenen Bibliothek, die bald in eine Betriebswirtschaftliche und eine Volkswirtschaftliche geteilt wurde, entstand ein Wirtschaftsarchiv, in dem »rund 640 größtenteils seit 1950 laufend eingehende Zeitschriften, zumeist Fachzeitschriften, Korrespondenzen sowie Periodika von Branchen, Wirtschaftsverbänden, Kammern und Firmen« gesammelt und ausgewertet wurden. 26 Von den neuen Ordinariaten war eines für Prof. Dr. Karl Christian Thalheim (1900-1993) bestimmt, der im Wintersemester 1949/50 einen Lehrauf26 Freie Universität Berlin. Mitteilungen für Dozenten und Studenten, Nr. 11, 15. 1. 1952, S. 42. Zur Erweiterung des Archivs siehe ebd., Nr. 27, 1. 7. 1953, S. 107 f.

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trag für Weltwirtschaftslehre übernommen hatte. Er war Anfang 1947 nach West-Berlin gekommen, weil er wegen seiner relativ engen Zusammenarbeit mit dem NS-Regime sowohl als Professor der Handels-Hochschule Leipzig und Direktor des dortigen Weltwirtschafts-Instituts als auch als Obmann der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung und Verbindungsmann zum Sicherheitsdienst der SS keine Chance mehr hatte, auf einen Lehrstuhl an seiner langjährigen Wirkungsstätte zurückzukehren (s. Rieter 2010, S. 133151). Zum 1. Mai 1951 berief ihn die FU auf eine ordentliche Professur für Weltwirtschaftslehre unter besonderer Berücksichtigung der Ost- und Südosteuropa-Wirtschaft. Daneben wurde er Abteilungsleiter an dem im November des gleichen Jahres eröffneten interfakultativen Osteuropa-Institut der FU. Zum Sommersemester 1950 nahm Prof. Dr. Woldemar Koch (1902-1983) den Ruf auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Finanzwissenschaft an, nach dem ihm schon einmal, Ende 1948, vergeblich eine Professur angeboten worden war (s. ebd., S. 59-61): Er hatte damals eine Referentenstelle in der Volkswirtschaftlichen Abteilung der Bank Deutscher Länder vorgezogen. Doch eigentlich wollte er gern an die Universität zurück, denn nach Habilitation in Köln 1936 und Dozentur an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin von 1939 bis 1943 hatte er als außerordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Posen gelehrt, bis er 1944 zur Wehrmacht eingezogen wurde. Koch blieb jedoch nicht lange an der FU. Da es in der Fakultät Widerstände dagegen gab, dem von ihm geäußerten Wunsch zu entsprechen, seinen Lehrbereich über die Finanzwissenschaft hinaus auf andere volkswirtschaftliche Gebiete auszuweiten, folgte er Anfang 1954 einem Ruf der Universität Tübingen auf einen ordentliche Professur für Volkswirtschaftslehre. Nach Kochs Weggang vertrat der oben erwähnte, 1953 zum außerplanmäßigen Professor ernannte Dr. Heinz Kolms den finanzwissenschaftlichen Lehrstuhl, bis er als Ordinarius an die TU Berlin ging. Zum Wintersemester 1957/58 wurde Prof. Dr. Dr. Helmut Hoyer Arndt (1911-1997) berufen, der sich jedoch dann mehr der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre widmete, als 1961 Dr. Konrad Littmann (1923-2010) formell Bülow nachfolgte, aber schwerpunktmäßig Finanzwissenschaft lehrte. Gleichermaßen war man bemüht, die noch vakanten betriebswirtschaftlichen Lehrstühle zügig zu besetzen. Im Wintersemester 1950/51 kam Dr. Karl Christian Behrens (1907-1980), der sich 1947 an der Humboldt-Universität habilitiert hatte, zunächst als außerordentlicher und seit dem Sommersemester 1951 als ordentlicher Professor für Handels- und Marktwirtschaft hinzu. Obwohl Behrens im Mai 1933 der NSDAP beigetreten war, blieb ihm als Schüler des nach der Machtübernahme als entschiedener Anhänger der Weimarer Demokratie entlassenen Rektors der Handelshochschule Königsberg Bruno Rogowsky die angestrebte Hochschulkarriere verwehrt, zumal ihm vorgehalten wurde, Mitgründer eines die nationalsozialistische Studenten-

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schaft bekämpfenden Republikanischen Studentenbundes gewesen zu sein (Mantel 2009, S. 432 f., 656 f.). Ebenfalls Anfang 1951 nahm Dr. Hanns Linhardt (1901-1989), zuvor außerplanmäßiger Professor in Münster, den Ruf auf den Lehrstuhl für Bankund Kreditwirtschaft an, den er bereits im Wintersemester als Gastprofessor vertreten hatte. 1953 gründete er gemeinsam mit seinem Fachkollegen Prof. Dr. Konrad Mellerowicz (TU Berlin) ein universitätsübergreifendes Forschungsinstitut für Kreditwirtschaft und Finanzierungen. In der FU-Fakultät mißfiel das vor allem Erich Kosiol, was auf »persönlichen Animositäten der jeweiligen Leitwölfe Mellerowicz und Kosiol« beruhte. 27 Da dieser Zwist zu Spannungen in der Fakultät führte, dürfte es Linhardt leichter gefallen sein, zum Wintersemester 1956/57 einen Ruf an die Hochschule für Wirtschaftsund Sozialwissenschaften in Nürnberg anzunehmen. Sein Nachfolger an der FU wurde 1958 Prof. Dr. Erich Thieß (1903-1968), der seit 1956 Extraordinarius in Erlangen war und davor leitende Positionen bei der Firma Krupp bekleidet hatte (Mantel 2009, S. 847 f.). Während die Ecklehrstühle in den Bereichen Betriebs- und Volkswirtschaftslehre bis zum Sommersemester 1951 vergeben werden konnten und damit die Ausbildung in diesen Fächern gesichert schien, mußte man sich im Fach »Statistik« nach wie vor damit behelfen, Lehrbeauftragte einzusetzen, hauptsächlich den schon genannten Statistiker Dr. Fritz Mertsch sowie Dr. Marcel Nicolas (1901-1983). Beide habilitierten sich 1952 bzw. 1951 in diesem Fach und wurden 1958 bzw. 1956 zu außerplanmäßigen Professoren ernannt. Der längst beantragte Lehrstuhl für Statistik stand erst seit 1953 zur Verfügung. Erster Inhaber wurde der Privatdozent Dr. Hans Kellerer (19021976), zuvor Referent im Bayrischen Statistischen Landesamt, der jedoch schon 1956 einen Rückruf an seine Heimatuniversität München akzeptierte. In Berlin folgte ihm im Oktober 1956 Prof. Dr. Hans Münzner (1906-1997) nach, der seit 1939 Dozent und seit 1944 außerplanmäßiger Professor für mathematische Statistik und Wirtschaftsmathematik an der MathematischNaturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Göttingen gewesen war. Paulsen und Tiburtius setzten sich schon 1949 dafür ein, Prof. Dr. Bruno Schultz (1894-1987) an die FU zu holen, der seit Kriegsende arbeitslos in 27 Vgl. Mantel 2009, S. 459 f., Rieter 2010, S. 80-83. Daran, wie ausgeprägt die »Animositäten« waren, erinnert sich z. B. Prof. Dr. Claus Köhler, von 1969 bis 1974 Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und von 1974 bis 1990 Mitglied des Direktoriums der Deutschen Bundesbank, der 1950 bei Tiburtius promoviert hatte. Er schrieb mir am 2. 12. 2013: »Die Auseinandersetzungen dieser beiden Wissenschaftler waren für uns Studenten schon sehr unerfreulich. Als z. B. Kosiol an uns vorbeiging, bemerkte er laut zu seinem Assistenten: Ich will die Melle[rowicz]-Leute hier nicht mehr sehen. Für mich war das ein Grund, mich nicht an der FU, sondern an der TU Berlin für Volkswirtschaftslehre zu habilitieren.«

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Dresden lebte (s. Rieter 2010, S. 61 f.): Schultz, während seiner Schulzeit durch einen Unfall erblindet, war als NSDAP-Mitglied 1945 von der TH Dresden entlassen worden, an der er seit 1930 eine außerordentliche und seit 1940 eine ordentliche Professur insbesondere für Verkehrspolitik innehatte. Ab dem Sommersemester 1951 übertrug ihm die FU einen Lehrauftrag für Wirtschaftsgeschichte. Zum 1. April 1955 ernannte sie ihn zum Direktor des neu eingerichteten Instituts für Wirtschaftsgeschichte und zum ordentlichen Professor mit der Verpflichtung, auch das Fach »Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen« zu vertreten (vgl. Fischer 2008, S. 78 f.). Sein Nachfolger seit dem Sommersemester 1964 Prof. Dr. Dr. Wolfram Fischer (geb. 1928) bewerkstelligte es dann, »Lehrstuhl und Institut von Wirtschaftsauf Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu erweitern« (ebd., S. 79).

3.2.1.2 Externe Lehrbeauftragte Hinzu kamen weitere externe Lehrbeauftragte, die den jeweiligen Lehrstuhlinhabern und deren Fachgebieten zugeordnet waren und von denen einige der FU dauerhaft die Treue bewahrten und damit das Lehrangebot auf speziellen Feldern aufrechterhielten, namentlich seit dem Sommersemester 1949 Dr. Herbert Antoine (1902-1992) bis 1957 für Betriebsstatistik, Oberregierungsrat a. D. Dr. Georg Reddewig (1891-1958), 1957 zum Honorarprofessor ernannt, bis zu seinem Lebensende für Industrie- und Werkwirtschaft, der Beratende Betriebsorganisator Dr. Horst Lindelaub (1924-2009) bis 1970 für Buchhaltungs- und Abschlußtechnik; seit dem Wintersemester 1949/50 Margarete Hierle-Granger bis 1958 für Französisch, Dr. Wilhelm Kolbe bis 1967 für Spanisch, der Hauptreferent am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin Dr. Heinz Otto (1917-1993) bis 1966 für Verkehrspolitik, Dr.Ing. Hans Rögnitz (1896-?) bis 1962 für Technologie und Arbeitsvorbereitung, der Oberingenieur am Institut für Psychotechnik der TU Berlin Dr.-Ing. Günter Rühl (1914-2007) bis 1954 für Betriebs- und Arbeitspsychologie; 28 seit dem Sommersemester 1951 der Industriekaufmann Dr. Fritz-Adolf Schilling-Voß (1886-1969) bis 1966 für Industrieorganisation; seit dem Sommersemester 1955 Dr. Günther Wünsche (1909-1988), Direktor und Chefmathematiker des Beamtenversicherungsvereins des Deutschen Bank- und Bankiergewerbes a. G., 1961 zum Honorarprofessor ernannt, bis 1980 für Versicherungsmathematik und -wirtschaft.

28 Rühl habilitierte sich 1964 an der TU Berlin und übernahm 1966 eine ordentliche Professur für Betriebswirtschaftslehre an der TH Karlsruhe.

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3.2.1.3 Wissenschaftliche Assistenten und Privatdozenten Einen Großteil ergänzender Lehre bestritten im Auftrag der Lehrstuhlinhaber und Institutsdirektoren schließlich jene Absolventen, die nach ihrem Studium an der Fakultät promoviert hatten, eine Assistentenstelle bekamen und sich gegebenenfalls habilitierten. Die formalen Voraussetzungen, sich dergestalt qualifizieren zu können, schufen die Ordnungen für Promotionen und Habilitationen. Die erste Promotionsordnung wurde am 10. Mai 1950 erlassen 29 und in einer fast wortgleichen Fassung (FU Studienführer um 1957, S. 161166) am 4. September 1952 vom Senator für Volksbildung bestätigt. Um die Regularien für sozialwissenschaftliche Promotionen explizit einzubeziehen, wurde diese Ordnung sodann entsprechend angepaßt und noch in anderen Punkten überarbeitet. Die am 29. März 1960 verabschiedete Version (FU Studienführer 1962/63, S. 183-188) sah für die Zulassung zur Promotion nicht mehr nur eine bestandene Diplomprüfung als Betriebswirt, Volkswirt, Handelslehrer, Soziologe oder Politologe vor, sondern verlangte eine mindestens mit »gut« bewertete Diplomarbeit. Die mündliche Doktorprüfung, die zeitlich nicht exakt begrenzt war, sollte »dem Wesen der Promotion entsprechend den Charakter einer wissenschaftlichen Aussprache haben« und bezog sich auf zwei Haupt- und zwei Sonderfächer. Als Hauptfächer waren entweder Betriebs- und Volkswirtschaftslehre zulässig oder eines dieser beiden Fächer in Kombination mit Wirtschaftsgeschichte, Soziologie, Statistik oder Wissenschaft von der Politik. Die Sonderfächer, von denen eines zu den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gehören mußte, konnten ansonsten aus Fachgebieten stammen, die an der FU ausreichend in Vorlesungen und Übungen vertreten waren. Nach Annahme der Dissertation und Bestehen der mündlichen Prüfung verlieh die Fakultät den akademischen Grad eines Doktors der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Dr. rer. pol.). Die Habilitationsordnung, die am 19. Februar 1954 in Kraft trat, regelte das Verfahren in der damals üblichen Weise: 30 Nachweis wissenschaftlicher Tätigkeit nach der Promotion; Vorlage einer »von der Doktorarbeit verschiedenen Habilitationsschrift, deren Thema aus dem Gebiet entnommen ist, für das die venia legendi erstrebt wird«; Vortrag vor der Fakultät über ein von der Fakultät aus drei Vorschlägen ausgewähltes Thema mit anschließendem Kolloquium; bei positiver Bewertung der schriftlichen und mündlichen Leistung öffentliche Antrittsvorlesung mit Aushändigung der Urkunde über die Erteilung der Lehrbefugnis im Rahmen der erteilten venia legendi; Aufnahme der Lehrtätigkeit als »Privatdozent an der Freien Universität Berlin«. 29 Freie Universität Berlin. Mitteilungen für Dozenten und Studenten, Nr. 3, 16. 4. 1951, S. 10-12. 30 Freie Universität Berlin. Mitteilungen für Dozenten und Studenten, Nr. 36, 7. 5. 1954, S. 143 f.

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Einige der früh in den Lehrbetrieb einbezogenen Mitarbeiter setzten ihren gesamten weiteren Berufsweg an der FU fort. An erster Stelle ist Heinrich Kloidt (1905-1970) zu nennen, der seit dem Wintersemester 1949/50 über Jahrzehnte Wirtschaftsrechnen und Kalkulationstechnik unterrichtete – Vorprüfungsfächer, die zur Grundausbildung der Ökonomiestudenten zählten und in denen Klausurleistungen zu erbringen waren, um weiterstudieren zu können. Kloidt hatte sein Studium an der FU 1949 mit dem DiplomKaufmann abgeschlossen und 1952 bei Kosiol promoviert, dessen Assistent und bald darauf Oberassistent er am Institut für Industrieforschung wurde. Diese Funktion behielt der 1959 zum Wissenschaftlichen Rat Ernannte bei, nachdem er sich 1962 für Betriebswirtschaftslehre habilitiert hatte. 1967 bekam Kloidt schließlich eine außerordentliche Professur. Relativ lange stand in Diensten der FU der Diplom-Landwirt Dr. Hans Mosolff (1904-?), der von 1931 bis 1934 Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Landwirtschaftliche Marktforschung an der Universität Berlin gewesen war. Er vertrat seit dem Sommersemester 1951 ununterbrochen bis 1961 das Fach »Landwirtschaftliche Marktforschung und Absatzlehre«. Diplom-Kaufmann Dr. Wolfgang Förster (1912-1989) schließlich behandelte von 1952 bis 1986 in seinen Lehrveranstaltungen »Ostprobleme der Betriebswirtschaftslehre« und forschte auf diesem und verwandten Gebieten. Er leitete seit 1966 die Sektion für Betriebswirtschaftslehre am interfakultativen Osteuropa-Institut und wurde 1970 zum Wissenschaftlichen Rat und Professor ernannt. Aus der Doktoranden-, Assistenten- und Privatdozentengeneration der ersten zehn Fakultätsjahre sind relativ viele Wissenschaftler hervorgegangen, die anschließend an Hochschulen und Forschungsinstituten innerhalb und außerhalb Deutschlands ihren Weg machten, aber auch in dem einen oder anderen Fall an ihre alte Alma mater zurückfanden. Etliche waren, als sie ihr Studium an der FU aufnahmen oder fortsetzten, schon etwas älter, weil sie im Zweiten Weltkrieg Militärdienst geleistet hatten und manche von ihnen zudem erst nach geraumer Zeit aus der Gefangenschaft heimkehrten. Vor allem sind hier zu nennen: 31

31 Nachfolgend gelten folgende Abkürzungen: AP = außerordentlicher bzw. außerplanmäßiger Professor, BWL = Betriebswirtschaftslehre, D = Dissertation, DH = Diplom-Handelslehrer, DIW = Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, DK = Diplom-Kaufmann, DV = Diplom-Volkswirt, EG = Erstgutachter, EP = Ehrenpromotion(en), H = Habilitation, HaS = Habilitationsschrift, HS = Hochschule, L = Lehrgebiete als Wissenschaftlicher Assistent und / oder Privatdozent, MdB = Mitglied des Deutschen Bundestages, OP = ordentlicher Professor, P = Promotion, PD = Privatdozent, SVR = Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, TH = Technische Hochschule, TU = Technische Universität, U = Universität, VWL = Volkswirtschaftslehre, WH = Wirtschaftshochschule, WU = Wirtschaftsuniversität.

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Alfons Dörschel (1912-1998), Diplom-Psychologe; U Jena: P 1942; FU: H 1959, HaS: Arbeit und Beruf in wirtschaftspädagogischer Betrachtung (EG: Kosiol), PD 1959, L: Wirtschaftspädagogik; U München: OP für Wirtschaftspädagogik 1961; U Köln: OP und Direktor des Instituts für Berufs-, Wirtschafts- und Sozialpädagogik 1964-1978. Rudolf Schilcher (1919-1975); U Jena: DV 1949; FU: P 1952, D: Das Konzept der Dauerarbeitslosigkeit in der neueren Wirtschaftstheorie, insbesondere bei Alvin H. Hansen und J. M. Keynes (EG: Paulsen), H 1957, HaS: Geldfunktionen und Buchgeldschöpfung. Ein Beitrag zur Geldtheorie (EG: Paulsen), PD 1958, L: Volkswirtschaftstheorie, Geldtheorie und -politik, Wettbewerbstheorie und -politik, AP 1961, als Nachfolger von Tiburtius OP und Direktor des Instituts für Sozialpolitische Forschung 1962; U Bochum: OP für Theoretische VWL 1965-1975. Heinz Axel Langen (1920-1984), Wirtschaftsprüfer und Steuerberater; FU: DK 1950, P 1952, D: Die Kapazitätsausweitung durch Reinvestition liquider Mittel aus Abschreibungen (EG: Kosiol), H 1962, HaS: Untersuchungen über die Beziehung zwischen Liquidität und Gewinn (EG: Kosiol), L: Finanzmathematik, Unternehmensrechnung, Industriewirtschaft; WH Mannheim: OP für BWL 1963; FU: OP für BWL und Direktor des Instituts für Betriebliches Steuerwesen 1965-1969, Honorarprofessor für BWL bis 1973. Erwin Grochla (1921-1986); FU: DK 1950, P 1953, D: Interne und externe Betriebsplanung. Formen, Möglichkeiten und Grenzen (EG: Kosiol), H 1957, HaS: Betriebsverband und Verbandbetrieb. Wesen, Formen und Organisation der Verbände aus betriebswirtschaftlicher Sicht (EG: Kosiol) PD 1957, L: Betriebsbuchhaltung, Büro- und Verwaltungswirtschaft; WH Mannheim: OP für BWL 1958; U Köln: OP für BWL und Organisationslehre 1961-1986; Mitgründer und Geschäftsführender Direktor des Betriebswirtschaftlichen Instituts für Organisation und Automation (BIFOA) an der U Köln 1963; Mitglied des Gründungsausschusses der U Dortmund 1963-1968; EP: U Dortmund, FU 1979, U Graz; »Erwin-Grochla-Fonds« des BIFOAFördervereins e. V. seit 2003. Wolfgang Wetzel (1921-2004); FU: P 1953, D: Untersuchungen über das Problem der Betriebsgröße (EG: Kosiol), H 1958, HaS: Die Grundform linearer Verteilungsmodelle. Ein Ausschnitt aus der Linearplanung (EG: Münzner), PD 1958, L: Betriebsstatistik, Lineare Planung; U Kiel: OP für Statistik 1960; FU: OP für Statistik und Direktor des Instituts für angewandte Statistik 1965; U Kiel: OP für Statistik und Ökonometrie 1971-1987; Präsident der Deutschen Statistischen Gesellschaft 1972-1976, Ehrenmitglied 1987; EP: FU 1994. Ulrich Pleiß (1923-2013); FU: DK 1957, P 1959, D: Freiwillige Leistungen der industriellen Unternehmung (EG: Kosiol), H 1970, HaS: Wirtschaftslehrerbildung und Wirtschaftspädagogik (EG: Blankertz, Zweitgutachter: Kosiol), L: Wirtschaftspädagogik; Erziehungswissenschaftliche HS Rhein-

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land-Pfalz (seit 1990 U Koblenz-Landau): OP für Wirtschaftspädagogik 1971-1991; Käthe und Ulrich Pleiß-Stiftung zur Förderung der Wirtschaftsund Berufspädagogik, seit 2013. Werner Vollrodt (1923-1986); FU: DK 1951, P 1955, D: Die finanzielle Einheit der Französischen Union (EG: Linhardt), Akademischer Rat 1963, H 1964, HaS: Die betriebswirtschaftliche Kostentheorie als Grundlage unternehmerischer Entscheidungen (EG: Kosiol), L: Finanzmathematik, Buchhaltungs- und Abschlußtechnik, Bankbetriebslehre; Würzburg: OP für BWL und Direktor des Instituts für Bank- und Kreditwirtschaft 1965-1986. Dieter Pohmer (1925-2013); FU: DK 1951, P 1953, D: Wesen und Grenzen der betriebswirtschaftlichen Berechtigung stiller Reserven in der Jahresbilanz in dynamischer und statischer Betrachtung (EG: Eich), H 1957, HaS: Grundlagen der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre (EG: Eich), PD 1957, L: Bilanztheorie, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre; U Tübingen: OP für BWL 1959, OP für VWL, insbesondere Finanzwissenschaft (als Nachfolger von Woldemar Koch) 1970-1994; stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (Verein für Socialpolitik) 1967-1974; SVR 1984-1991. Friedrich Jonas (1926-1968); U Berlin: DV 1949; FU: P 1951, D: Eine Untersuchung über das Say’sche Theorem in der nationalökonomischen Klassik (EG: Paulsen), wissenschaftliche Hilfskraft 1952-1954; University of Illinois: Stipendiat 1951/52; Oberhausen: Leiter der volkswirtschaftlichen Abteilung der Gutehoffnungshütte AG 1954-1960; Speyer: HS für Verwaltungswissenschaften, Assistent von Arnold Gehlen, 1960; U Münster: Forschungsassistent von Helmut Schelsky an der Sozialforschungsstelle Dortmund 1962, H 1964, HaS: Die Institutionenlehre Arnold Gehlens; U Mainz: OP für Soziologie, insbesondere Geschichte der Soziologie und Sozialphilosophie 1965-1968. Klaus Dieter Arndt (1927-1974); U Berlin, FU: DV 1949, P 1954, D: Wohnungsversorgung und Mietenniveau in der Bundesrepublik Deutschland (EG: Paulsen); DIW Berlin: Wissenschaftlicher Mitarbeiter 1950, Abteilungsleiter 1959, Präsident 1968-1973; MdB (SPD) 1965-1972; Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium 1967-1970; Mitglied des Europäischen Parlaments 1971-1974; Klaus-Dieter-Arndt-Stiftung e. V. zur Förderung von Wissenschaft und Forschung auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, seit 1979. Gerhard Zeitel (1927-1991); FU: DV 1951, P 1955, D: Zur Methodologie internationaler Vergleiche von Steuerbelastung und Steuerdruck (EG: Koch), L: Finanzwissenschaft; U Tübingen: H 1960, HaS: Die Steuerlastverteilung in der Bundesrepublik Deutschland (EG: Koch), PD 1960; WH bzw. U Mannheim: OP für VWL, insbesondere Finanzwissenschaft 1962-1991, Rektor 1970-1973; Präsident des Bundesverbandes Deutscher Volks- und Betriebswirte e. V. 1975-1982, Ehrenpräsident 1983; MdB (CDU) 1972-1980;

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Finanzminister des Saarlandes 1980-1984, Minister für Kultus, Bildung und Sport des Saarlandes 1984/85. Jürgen Pahlke (1928-2009); U Berlin 1948/49; FU: DV 1952; U Tübingen: P 1958, D: Welfare Economics – Grundlage allgemeingültiger wirtschaftspolitischer Entscheidungen? (EG: Koch), H 1968, HaS: Steuerbedarf und Geldpolitik in der wachsenden Wirtschaft – Geldschöpfung als Mittel der Staatsfinanzierung (EG: Koch), PD 1968; U Bochum: OP für Wirtschaftslehre, insbesondere Finanzwissenschaft 1968-1989; Mitglied des engeren Vorstandes des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultätentages 19791985, Vorsitzender 1981-1983. Ralf-Bodo Schmidt (1928-1991); FU: DK ?, P 1952, D: Die finanzwirtschaftliche Deckungsbilanz der Unternehmung (EG: Kosiol), H 1963, HaS: Die Gewinnverwendung der Unternehmung (EG: Kosiol), PD 1963, L: Industrieunternehmen; praktische Tätigkeit in der gewerblichen Wirtschaft 1952-1960; Akademie für Wirtschaft und Politik Hamburg: OP für BWL 1964; Freiburg/Br.: OP für BWL 1966-1991; Ralf-Bodo-Schmidt-Preis der Dr. Buttgereit-Stiftung des Verbands der Freunde der Universität Freiburg e. V. für herausragende Studienabschlußarbeiten in BWL, seit 2006. Eberhard Witte (geb. 1928); FU: DK 1951, P 1953, D: Der Zusammenhang von Kalkulation und Finanzplanung im Industriebetrieb (EG: Kosiol); Akademie für Wirtschaft und Politik Hamburg: Dozent 1956-1963; U Hamburg: H 1962, HaS: Die Liquiditätspolitik der Unternehmung; WH Mannheim: OP für Allgemeine BWL und Organisation 1962; U München: OP für BWL 1970-1996; Vorsitzender verschiedener Regierungskommissionen zur Liberalisierung des Fernmeldewesens 1973-1998; EP: U Gießen, WU Wien, TU München. Knut Bleicher (geb. 1929); FU: DK 1952, P 1955, D: Die Organisation der Planung in industriellen Unternehmungen (EG: Kosiol), H 1964, HaS: Zentralisation und Dezentralisation von Aufgaben in der Organisation der Unternehmungen (EG: Kosiol), PD 1964, L: Unternehmensführung und organisation; Gießen: OP für BWL 1966; St. Gallen: OP für BWL 19841994, Direktor der Gesellschaft für Integriertes Management 2002, Präsident des Beirats und wissenschaftlicher Leiter der Diplomprogramme der Business School 2003-2008; EP: Indiana University, U Siegen, WU Krakau. Detlef Lorenz (1929-1999); FU: DV 1953, P 1957, D: Probleme und Ansätze einer kapazitätsorientierten Investitionspolitik (EG: Thalheim), H 1966, HaS: Dynamische Theorie der Internationalen Arbeitsteilung (EG: Thalheim), PD 1966, L: Weltwirtschaftslehre, Volkswirtschaftspolitik; U Graz: abgelehnter Ruf 1969; U Hamburg und U Graz: Gastprofessuren 1969 und 1970; FU: OP für VWL, insbesondere Außenwirtschaftslehre, und Mitglied des Instituts für Weltwirtschaft 1970-1994. Gerhard Kade (1931-1995); FU: DV ?, P 1957, D: Die logischen Grundlagen der mathematischen Wirtschaftstheorie als Methodenproblem der theo-

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retischen Ökonomik (EG: Bülow), H 1961, HaS: Grundannahmen der Preistheorie. Eine Kritik an den Ausgangssätzen der mikroökonomischen Modellbildung (EG: Tiburtius), PD 1961, L: Übungen zur Volkswirtschaftslehre, Außenhandelspolitik und ökonomischen Modellbildung; DIW Berlin: auswärtiger Mitarbeiter 1961, Leiter der Abteilung »Entwicklungsländer« 1964; TH Darmstadt: OP für Statistik und Ökonometrie 1966-1978; Hinwendung zur Politischen Ökonomie und zum Marxismus: leitendes Mitglied des der DKP und der SED nahestehenden Komitees für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit 1974; Mitglied des Wissenschaftlichen Kuratoriums des DKPZentrums für Marxistische Friedensforschung 1987-1989; inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR und des KGB der Sowjetunion (Knabe 1999, S. 244, 253-255, 499). Norbert Szyperski (geb. 1931); FU: DK 1957, P 1961, D: Zur Problematik der quantitativen Terminologie in der Betriebswirtschaftslehre (EG: Kosiol), L: Büro-, Verwaltungs- und Personalwirtschaft; U Köln: H 1969, HaS: Wirtschaftliche Aspekte der Durchsetzung und Realisierung von Unternehmungsplänen. Ein Beitrag zur betriebswirtschaftlichen Analyse der Unternehmungspolitik (EG: Grochla), PD 1969/70, OP für Allgemeine BWL und Betriebswirtschaftliche Planung 1970-1986, Honorarprofessor 1986; Herausgeber der Fachzeitschrift Wirtschaftsinformatik 1971-1991; Mitglied des Aufsichtsrats der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung 1979, Vorsitzender des Vorstandes 1981; Geschäftsführer der Mannesmann Kienzle GmbH 1986; EP: U Linz.

3.2.2 Studiengänge 32 Mit der Dreiteilung der wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung in Studiengänge für Volkswirte, Betriebswirte und Wirtschaftspädagogen setzte die WiSo-Fakultät eine Tradition fort, die sich im deutschen Hochschulsystem im 20. Jahrhundert herausgebildet und verfestigt hatte. Diplom-Studiengänge für Kaufleute und Handelslehrer gab es schon bald an den um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gegründeten Handelshochschulen, obwohl erst 1924/25 Preußische Prüfungsordnungen die Bezeichnungen »DiplomKaufmann« und »Diplom-Handelslehrer« als geschützte akademische Grade legitimierten. Gleiches galt für den Titel »Diplom-Volkswirt« seit 1922/23. Auch hinsichtlich der Ziele und des Aufbaus der drei Studiengänge orientierten sich die Fakultätsgründer weitgehend an den als bewährt geltenden Konzepten – mit anderen Worten: daran, was sie in ihrem eigenen Studium rund 25 Jahre zuvor kennengelernt hatten und ihnen daher bestens vertraut war. Es gab keine Versuche, organisatorische oder fachliche Elemente anders gearte32 Siehe auch Thalheim um 1957, Bülow um 1957, Kosiol um 1957, Behrens um 1957.

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ter – etwa angelsächsischer – Universitätssysteme einzubeziehen und insofern ein reformiertes Studienprogramm auszuprobieren. Vorläufige Prüfungsordnungen für Volks- und Betriebswirte, die zunächst galten, wurden am 11. Mai 1951 durch endgültig gefaßte Diplomprüfungsordnungen ersetzt, getrennt für Volkswirte, Betriebswirte, Handelslehrer (vgl. FU Studienführer um 1957, S. 149-159, bzw. 1962/63, S. 171-181) und am 10. März 1956 um »Allgemeine Bestimmungen« erweitert (vgl. FU Studienführer 1962/63, S. 171). Sie traten rückwirkend zum Sommersemester 1950 bzw. Wintersemester 1950/51 in Kraft und sollten weit über ein Jahrzehnt verbindlich bleiben: Der Hauptprüfung ging eine Vorprüfung in den Anfangssemestern voraus, die sich im volkswirtschaftlichen Studiengang auf »zwei Klausurarbeiten in Wirtschaftsrechnen und Buchhaltungs- und Abschlußtechnik« (Propädeutik) sowie »eine Klausurarbeit und mündliche Prüfung in Statistik (Methodenlehre sowie Bevölkerungs- und Wirtschaftsstatistik)« erstreckte. Das Ergebnis in Statistik wurde »bei der Hauptprüfung berücksichtigt und in das Diplom-Zeugnis aufgenommen«. Die entsprechende Vorprüfung für Betriebswirte und Handelslehrer bestand in bis zu vierstündigen Klausurarbeiten auf vier Gebieten: Wirtschaftsrechnen einschließlich Finanzmathematik, Technik der Finanzbuchhaltung, Kalkulationstechnik und Betriebsstatistik, Technik der Betriebsbuchhaltung. Diese Vorprüfung zu bestehen reichte bei den betriebswirtschaftlichen und wirtschaftspädagogischen Kandidaten nicht aus, um zur Hauptprüfung zugelassen zu werden. Sie mußten zusätzlich eine »einjährige Praktikantentätigkeit in kaufmännischen Betrieben« bzw. »eine für das Ausbildungsziel geeignete mindestens zweijährige kaufmännische Praxis oder eine dreijährige Lehrzeit mit Abschluß durch eine Handlungsgehilfenprüfung« absolviert haben. Die Hauptprüfung erfolgte in allen drei Studiengängen in schriftlicher und mündlicher Form. Die schriftliche Prüfung umfaßte »eine freie wissenschaftliche Arbeit« (Diplomarbeit), für deren Anfertigung keine Frist vorgegeben war, und Klausurarbeiten von jeweils bis zu fünf Stunden Dauer in den Pflichtgebieten. Diese wurden sodann mündlich abgeprüft – ebenso die Ergänzungs- bzw. Wahlfächer. Volkswirte hatten fünf Pflichtgebiete zu studieren: Allgemeine Volkswirtschaftslehre (einschließlich Lehrgeschichte), Volkswirtschaftspolitik (einschließlich Wirtschaftsgeschichte), Finanzwissenschaft, Betriebswirtschaftslehre, Grundzüge des Bürgerlichen, des Öffentlichen und des Handelsrechts. Als Ergänzungsgebiete waren jedenfalls zugelassen: Soziologie, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Statistik, Wirtschaftsgeographie, Genossenschaftswesen, Versicherungswesen, Wirtschaftspublizistik, Öffentliches Recht, Technologie, Fremdsprachen mit Wirtschaftskunde der Sprachgebiete, eine Besondere Betriebswirtschaftslehre. Pflichtgebiete für Studierende der Betriebswirtschaft waren: Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, eine der Besonderen Betriebswirtschaftslehren (Industrie- und Werkwirtschaft, Handels- und Marktwirtschaft, Bank- und Finanzwirtschaft

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oder Wirtschaftsprüfung und Steuerberatung), Volkswirtschaftslehre, Grundzüge des Bürgerlichen, des Öffentlichen und des Handelsrechts. Als Wahlgebiete waren jedenfalls zugelassen: Statistik, vorwiegend Betriebsstatistik, Wirtschaftsgeschichte, insbesondere Entwicklungsgeschichte der Betriebswirtschaft, Wirtschaftsgeographie, Wirtschaftspublizistik, Genossenschaftswesen, Versicherungswesen, Technologie und Arbeitsvorbereitung, Warenund Stoffkunde, Fremdsprachen mit Wirtschaftskunde der Sprachgebiete, eine Besondere Betriebswirtschaftslehre, »sofern diese nicht bereits als Pflichtgebiet gewählt wurde«. Die Prüfungsordnung für Handelslehrer wich von diesen Vorgaben nur insoweit ab, als die Wirtschaftspädagogik den Pflichtfächern hinzugefügt und dafür die Besondere Betriebswirtschaftslehre zu den Wahlfächern verschoben wurde. Die Handelslehrer-Ausbildung stärker mit den anderen beiden Studiengängen zu verknüpfen bedeutete, sie – anders als bisher (Pleiß 1963, Kap. D) – auf eine eindeutig »wirtschaftswissenschaftlich-wirtschaftspädagogische Grundlage« zu stellen (ebd., Kap. E). Bei der Umsetzung dieses Konzeptes mußte allerdings längere Zeit improvisiert werden. Die Studenten des Handelslehramtes waren anfangs weitgehend auf das pädagogische und psychologische Lehrangebot der Philosophischen Fakultät angewiesen. Der WiSoFakultät stand der notwendige Lehrstuhl als fünftes betriebswirtschaftliches Ordinariat zwar seit Anfang 1952 zur Verfügung, doch es erwies sich als schwierig, die Stelle zügig zu besetzen. Auf Antrag der Fakultät wurde zum Sommersemester 1952 der Wirtschaftspädagoge und Psychologe Prof. Dr. Walther Löbner (1902-1982) berufen. Löbner war seit 1938 Ordinarius für Wirtschaftspädagogik an der Handels-Hochschule Leipzig gewesen, 1945 aus politischen Gründen entlassen worden und bald danach nach Westdeutschland gegangen, wo er seit 1949 (bis 1958) die Kaufmännischen Schulen der Industrie- und Handelskammer zu Bochum leitete. Die Berliner Kollegen, namentlich jene, die ihn wie Thalheim aus gemeinsamen Leipziger Tagen gut kannten, rechneten so fest mit ihm, daß er schon in das Personenverzeichnis des Sommersemesters 1952 ohne Vorbehalt aufgenommen wurde. Doch Löbner lehnte, nachdem ihm eine Frist gesetzt worden war, im Juli 1952 den Ruf ab. Offenbar bedauerte er später seine Entscheidung, denn von 1953 bis 1956 fragte er mehrfach an, ob es nicht doch noch möglich sei, ihn zu berufen. Am 9. November 1956 entschied sich die Fakultät, »von weiteren Verhandlungen mit Prof. Löbner abzusehen und die Habilitation von Dr. Dörschel zu fördern«. 33 Das vakante Ordinariat ebenso wie das mittlerweile gegründete Institut für Wirtschaftspädagogik mußten daraufhin wie bisher kommissarisch von Fakultätsmitgliedern verwaltet werden – zunächst von Erich Kosiol, 1961/62 von dem inzwischen habilitierten Alfons Dörschel und 33 FU Berlin, Universitätsarchiv, Bestand Rep. 2.4 WISO-Fak.-Protokolle (1956), Bl. 120. Siehe auch ebd., Ordner II.O, Berufungen, Prof. Dr. Löbner.

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danach von Erich Thieß, bis endlich zum Wintersemester 1964/65 Prof. Dr. Herwig Blankertz (1927-1983) gewonnen werden konnte. Zuvor vermittelten überwiegend fachkundige Assistenten, vornehmlich der schon erwähnte Ulrich Pleiß (s. Abschn. 3.2.1.3), und Berliner Schulpraktiker das erforderliche wirtschaftspädagogische Rüstzeug.

3.2.3 Zu Lehre und Forschung 3.2.3.1 Die Ausgangslage 1945 Die deutsche Wirtschaftswissenschaft befand sich in den ersten Nachkriegsjahren in einer schwierigen Lage; sie mußte sich neu orientieren (vgl. u. a. Hagemann 2000). Der nationalsozialistischen Ideologie entsprechend, war sie – wie letztlich alle wissenschaftlichen Disziplinen in Deutschland seit 1933 – dem Primat nationalistischer und rassistischer »Willensziele« unterworfen worden. Auch die Wirtschaftslehre hatte einen »deutsch-völkischen« Auftrag zu erfüllen gehabt, weshalb herkömmliche Theorien weitgehend aus den Lehr- und Forschungsprogrammen eliminiert und deren Vertreter geächtet und verfolgt worden waren, sofern sie sich nicht mehr oder weniger angepaßt verhielten. Und alle jüdischen, aber auch viele sich treu gebliebenen sozialistisch oder liberal denkenden nichtjüdischen Gelehrten hatten aus Deutschland fliehen und sich im Ausland eine neue Existenz aufbauen müssen. Gerade die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften betraf dieser intellektuelle Aderlaß besonders heftig: Allein 253 Ökonomen waren an deutschsprachigen Hochschulen entlassen worden und mußten emigrieren (Hagemann / Krohn 1999, S. xii). »Während bis zum Wintersemester 1934/35 im Durchschnitt etwa 14 Prozent des Lehrkörpers an deutschen Hochschulen aus politischen oder ›rassischen‹ Gründen entlassen worden waren, betrug die Quote bei den Ökonomen 24 Prozent«, an den Universitäten Frankfurt am Main, Heidelberg und Kiel sogar 40 Prozent und mehr (ebd., S. xviii). Befreit von der NS-Doktrin, zeigten sich zwei Tendenzen in der deutschen Wirtschaftswissenschaft: Zum einen bestand das Bedürfnis, in Lehre und Forschung dort wieder anzuknüpfen, wo man 1933 aufhören mußte. Das betraf sowohl gewisse deutsche, bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Traditionslinien, die staats- und sozialwissenschaftliche Denkrichtungen ebenso wie die Ethisch-Historische Schule der Nationalökonomie und deren Nachfahren vorgezeichnet hatten, als auch sich davon scharf absetzende, in Deutschland erst im 20. Jahrhundert partiell etablierte (rein) theoretische Ansätze, die abstrakt-isolierend und »wertfrei« (im Sinne Max Webers) mikround makroökonomische Phänomene zu erklären suchten. Zum anderen mußte man den Anschluß an jene Entwicklungen in der Betriebs- wie in der Volkswirtschaftslehre finden, die sich in der Zwischenzeit international, insbesondere in den angelsächsischen und skandinavischen Ländern, vollzogen hatten

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und entweder gar nicht oder nur unzureichend unter der NS-Diktatur rezipiert werden konnten (s. u. a. E. Schneider 1947). Unabhängig davon, ob und wie sich die beiden Tendenzen an den Hochschulen und in den Forschungsinstituten jeweils durchzusetzen vermochten, erzwang die desolate wirtschaftliche Lage in den Nachkriegsjahren, sich vordringlich mit bestimmten Problemen zu beschäftigen: Wohnungsnot, Lebensmittelknappheit, Vermögensverluste, Wiederaufbau, Eingliederung von Heimkehrern, Flüchtlingen und Vertriebenen, Lastenausgleich, Währungsreform und dergleichen. Was also Lehre und Forschung im westdeutschen Wissenschaftsbetrieb schon seit 1945 methodisch wie inhaltlich kennzeichnete, galt grundsätzlich, das heißt, mit einigen Besonderheiten, ebenfalls für die FU in ihrem ersten Jahrzehnt.

3.2.3.1 Traditionen Auch in der WiSo-Fakultät der FU gab es in ihrem ersten Dezennium ein – allerdings mit den Jahren verblassendes – »afterglow of the German Historical School« (Schefold 1998, 1999) und ähnlicher sozialwissenschaftlicher Denkweisen. Ihr engagiertester Sachwalter war Friedrich Bülow (s. auch Thalheim 1960). Schon in seinem frühen Lehrbuch Volkswirtschaftslehre (1931, 1934) erblickte er die »Höhe volkswirtschaftlicher Betrachtung« in »einer wahrhaft ganzheitlichen Gesamtschau des sozialen und wirtschaftlichen Lebens« – eine Auffassung, an der er im Prinzip in seiner 1957 neu gefaßten Volkswirtschaftslehre festhielt. In diesem Sinne bestand er (Bülow um 1957, S. 131) im offiziellen Studienführer der FU auf der »Notwendigkeit, die Volkswirtschaftslehre als Sozialwissenschaft zu behandeln«, weshalb deren Studium neben wirtschaftskundlichen und -geographischen, lehr- sowie wirtschafts- und sozialgeschichtlichen »durch sozialwissenschaftliche, insbesondere soziologische Vorlesungen zu ergänzen« sei. Zudem habe »der Studierende sich in den ersten Semestern im Dienste eines studium generale in der Philosophischen Fakultät« nach bestimmten Fächern, vor allem Sozialphilosophie, »umzusehen«. Nur auf diese Weise sei gesichert, die »Studierenden (...) zum wirtschaftlichen Denken im Dienste des sozialen Ganzen zu erziehen«! Bülows betriebswirtschaftliche Kollegen setzten ähnliche Akzente: Erich Kosiol (um 1957, S. 137) empfahl im Studienführer den Studierenden der Betriebswirtschaft dringend, neben dem Unterricht in ihren engeren Kernfächern »alle Veranstaltungen über Nachbarwissenschaften, die sich auch auf den Betrieb beziehen (Volkswirtschaftslehre, Rechtswissenschaft, Soziologie, Psychologie, Pädagogik), ferner allgemeine Vorlesungen über Philosophie, Anthropologie, Geschichte, Geographie, Sprachen usw.« zu belegen. Karl Christian Behrens ging im Fall der Wirtschaftspädagogik noch einen Schritt weiter, indem er sie als »junge erziehungswissenschaftliche Disziplin« ganz selbstverständlich – »ebenso wie die Wirtschaftswissenschaft« überhaupt –

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»zur Gruppe der Geisteswissenschaften« rechnete, denn sie brauche »die Mithilfe der Philosophie (besonders Wirtschaftsphilosophie, Philosophie der Erziehung, Ethik), der Psychologie, Soziologie, Physiologie und den ständigen Rückgriff auf Ergebnisse der Allgemeinen Erziehungswissenschaft«. 34 Mit gleicher Tendenz verortete Andreas Paulsen (1950, S. 3) sein Fachgebiet: »Die Volkswirtschaft liegt mitteninne in der Welt der Menschen und ihrer gesellschaftlichen Bildungen, nicht mit scharfen Rändern als begrenztes Gebiet zu erfassen, sondern in einer Spannung zwischen Geistigem, Gesellschaftlichem und Sachenwelt schwebend.« Deshalb reiche es nicht, nur »die kausalen und funktionalen Beziehungen« ökonomischer Größen zu »erklären«, sondern »als Kind des Geistes will Wirtschaft verstanden sein und fordert das einfühlende Miterleben des Handelns bedürftiger, wollender, sich sorgender und wertender Menschen«. Mit anderen Worten: Auch die Hermeneutik behalte ihre Berechtigung als Erkenntnismethode in der Ökonomik. Hinsichtlich der volkswirtschaftlichen Studienrichtung gab es schon bald Anzeichen dafür, wie sich das Selbstverständnis des Faches zu ändern begann. Als eine Neuauflage des FU-Studienführers anstand, wurde Bülows Artikel nicht übernommen und durch einen von Helmut Arndt verfaßten Text ersetzt, in dem etwa der »Inhalt des Studiums« nun ohne geistes- und sozialwissenschaftliche Vertiefung vage darauf begrenzt war, »den Studierenden das Verständnis für gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge in einer Gesellschaft zu erschließen« (Arndt 1962/63, S. 156). Dennoch ist nicht zu verkennen, daß es in den frühen Jahren der Fakultät konkrete Bemühungen gab, Traditionen zu bewahren und zu pflegen, die für die deutsche Universität allgemein oder speziell für das deutsche ÖkonomieStudium lange Zeit typisch waren. Dies begann an der WiSo-Fakultät schon damit, den Immatrikulierten das klassische Ideal eines Universitätsstudiums mit auf den Weg zu geben. Andreas Paulsen (1950, S. 4) faßte es in Worte, die mutmaßlich alle seine damaligen Kollegen so oder ähnlich gewählt hätten: »Die Universität vermittelt wissenschaftliche Bildung im Sinne einer menschlichen und geistigen Haltung, wissenschaftlicher Methode und eines umfassenden Grundbestandes an Kenntnissen (...).« Im Studienführer der FU (Thalheim um 1957, S. 130) verband sich diese Doktrin mit einer bemerkenswerten Verheißung für Ökonomie-Studenten: »Gerade bei den führenden Männern unserer Wirtschaft setzt sich immer mehr die Überzeugung durch, daß für leitende Stellungen im Wirtschaftsleben nicht enge Spezialisten, sondern wahrhaft gebildete Menschen die besten Voraussetzungen besitzen. Jeder Student mache deshalb von den reichen Möglichkeiten Gebrauch, die ihm 34 Behrens um 1957, S. 140, fast wortgleich Dörschel 1962/63, S. 163. Siehe auch Freie Universität Berlin. Mitteilungen für Dozenten und Studenten, Sonderheft Lehrerbildung, April 1950. Einmütig ordneten damals die FU-Betriebswirte ihr Fach den Geisteswissenschaften zu (vgl. Rieter 2010, S. 81).

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die Freie Universität zum Erwerb solcher Bildung bietet!« Die Fakultät selbst trug nach Kräften dazu bei, solch »reiche Möglichkeiten« innerhalb der Hochschule zu schaffen – mit einem relativ breiten Angebot an soziologischen und politologischen Lehrveranstaltungen, einem Lehrstuhl eigens für Dogmen- und Wirtschaftsgeschichte, mit Vorlesungen zur Wirtschaftsgeographie und -philosophie. Im Gegensatz zur großen Mehrheit heute lehrender Ökonomen stimmte man darin überein, daß das Studium der Geschichte der Wirtschaft wie der Wirtschaftswissenschaft unverzichtbar sei (vgl. u. a. Paulsen 1950, Kosiol um 1957, S. 136). Um dies sicherzustellen, waren beide Gebiete integraler Bestandteil der Pflichtprüfungsfächer Betriebswirtschaftslehre und Volkswirtschaftstheorie bzw. -politik. Welche Bedeutung man den geistes-, geschichts- oder sozialwissenschaftlichen Aspekten beimaß, ist auch daran abzulesen, daß regelmäßig auswärtige Wissenschaftler als Gastdozenten eingeladen wurden, die aus diesem Blickwinkel auf die Ökonomik schauten. Darunter waren viele prominente Gelehrte: So las der Münchner Wirtschaftshistoriker Prof. Dr. Dr. Friedrich Lütge im Juli 1950 über »Epochen der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters«. Im Februar 1951 las der Historiker und Sozialökonom Prof. Dr. Carl Brinkmann (Universität Tübingen) über »Wirtschaftsgeschichte und Soziologie im Verhältnis zur modernen Wirtschaftstheorie« und der Nationalökonom und Kultursoziologe Prof. Dr. Alfred Weber (Universität Heidelberg) über kulturanthropologische Fragen wie »Der Mensch und seine Wandlungen« und »Mensch, Geschichte und Transzendenz«. 35 Mehrfach besuchte die FU der Finanzwissenschaftler Prof. Dr. Fritz Karl Mann (American University in Washington, D. C.), den die Universität Köln 1935 als Professor wegen seiner »nicht-arischen Abstammung« entlassen hatte und der sich nun wieder öfters in Deutschland aufhielt. Zum Beispiel referierte er im Juni 1952 über sein engeres Fachgebiet »Finanzsoziologie«, im Juni 1955 aber auch über »Wirtschaftsplanung und Haushaltspolitik in den Vereinigten Staaten« und zwei Jahre darauf über den »Methodenstreit in der Finanzwissenschaft«. 36 Im Sommersemester 1955 sprach der 1933 aus Hamburg vertriebene Sozialökonom Prof. Dr. Eduard Heimann (New School for Social Research, New York) an mehreren Tagen über »Die Spaltung der modernen Welt und ihre Überwindung«. 37 Traditionsbewußt verfuhren die Fakultätsgründer des Weiteren bei der inhaltlichen Strukturierung der Studiengänge. Sie regelten die Dinge im Grunde so, wie sie ihnen aus ihrer Studienzeit und früheren Hochschultätigkeit 35 Freie Universität Berlin. Mitteilungen für Dozenten und Studenten, Heft 1, 15. 2. 1951, S. 2. 36 Ebd. Nr. 16, 12. 6. 1952, S. 61, Nr. 43, 1. 6. 1955, S. 171, und Nr. 55, 1. 6. 1957, S. 234. 37 Ebd. Nr. 44, 1. 7. 1955, S. 175.

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vertraut waren: Die Volkswirtschaftslehre wurde in der seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts üblichen Weise in die drei Fächer »Volkswirtschaftstheorie«, »Volkswirtschaftspolitik« und »Finanzwissenschaft« gegliedert. In der Volkswirtschaftspolitik unterschied man zwischen einem allgemeinen (theoretischen) und einem speziellen Bereich, der wiederum aus funktional oder sektoral abgegrenzten Teilgebieten (Agrar-, Gewerbe-, Binnenhandels-, Außenwirtschafts-, Verkehrs-, Sozialpolitik usw.) bestand. Ähnlich verhielt es sich bei der Betriebswirtschaftslehre. Spätestens seit sie ein Hochschulfach war, unterschied man die Allgemeine von der Besonderen Betriebswirtschaftslehre, die gleichfalls funktional oder sektoral miteinander verschränkte Teilgebiete umfaßte (vgl. Abschn. 3.2.2). Ergänzend kamen althergebrachte Nebengebiete hinzu wie Genossenschafts- und Versicherungswesen, aber auch Betriebs- und Arbeitspsychologie sowie (mechanische und chemische) Technologie und Arbeitsvorbereitung, bis hin zur Büromaschinenkunde. Die technische und psychische Seite betrieblichen Geschehens einzubeziehen war seit langem bewährter Brauch in der deutschen Ökonomik. Mittlerweile gehören diese Aspekte kaum noch zum Standardprogramm der akademischen Ausbildung von Betriebswirten. Schließlich waren sich alle darin einig, den wissenschaftlichen Anspruch eines Universitätsstudiums in Ökonomie dadurch unterstreichen zu können, daß auf der Anfertigung einer »freien wissenschaftlichen Diplomarbeit« bestanden wurde. Das bedeutete für den Kandidaten, er hatte das Thema eigenständig zu wählen und für dessen Bearbeitung eine Zeit von mindestens einem Jahr zu veranschlagen – ein Prüfstein wissenschaftlicher Qualifikation, der heutzutage zu Gunsten anderer, mutmaßlich leichterer Hürden verschwunden ist. Zwangsläufig stellte sich nach dem Ende der NS-Diktatur die Frage, wie die neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Deutschland gestaltet werden soll. Für die sowjetische Besatzungszone erzwangen die kommunistischen Machthaber bekanntlich eine radikale Antwort in ihrem Sinne. Aber in den westlichen Zonen war die anzustrebende Lösung strittig. In unserem Kontext interessiert dies insoweit, als im politischen wie akademischen Milieu alte Ordnungsdebatten wieder auflebten, die sowohl aus sozialistischer als auch aus liberalistischer Sicht in der Weimarer Republik geführt worden waren. Sie galten der Suche nach einem »dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus, Individualismus und Kollektivismus, Markt- und Planwirtschaft. Man braucht nur die Vorlesungsverzeichnisse der WiSo-Fakultät aus den ersten Jahren flüchtig durchzusehen, um zu erkennen, daß diese Thematik wieder aufflammte. Einige Beispiele: »Wirtschaftliche Ordnungsformen« (Tiburtius), »System der Gemeinwirtschaft« (Tiburtius), »Freie und gebundene Wirtschaft« (Paulsen), »Theorie der Planwirtschaft« (von Eynern), »Kapitalismus, Sozialismus, Gemeinwirtschaft« (von der Gablentz), »Volksund betriebswirtschaftliche Probleme des Marktes« (Metzner), »Theorie der Wirtschaftsordnungen und Wirtschaftsformen« (Klug), »Wirtschaftsplanung

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im heutigen Deutschland« (von Eynern), »Soziale Marktwirtschaft« (von Eynern). Von den Genannten orientierte sich Joachim Tiburtius sehr konsequent an deutschen Vorgaben – namentlich an den liberal- bzw. religiössozialistischen Konzeptionen Franz Oppenheimers bzw. Eduard Heimanns, am sozialpolitischen Programm der jüngeren Historisch-Ethischen Schule sowie dem ordoliberalen Prinzip einer funktionsfähigen und zugleich menschenwürdigen Wettbewerbsordnung. Im Spannungsfeld von Wirtschaftslenkung, Marktwirtschaft und Einzelwirtschaften (1948) erblickte er den bestmöglichen Ausweg in einer »Christlichen Wirtschaftsordnung«, die »den Schwachen stützt und den Starken in Gemeinschaften eingliedert« (Tiburtius 1947, S. 87). Als Volkswirt betrieb Tiburtius zeitlebens Sozialökonomie in politischer Verantwortung – so der Titel der ihm zum 75. Geburtstag gewidmeten Festschrift (Triebenstein 1964). Auch für Andreas Paulsen verstand es sich von selbst, daß die Wirtschaftswissenschaft der Frage nach einem Ausgleich zwischen Individual- und Sozialprinzip nicht ausweichen darf. Er beantwortete sie in seinen Schriften und Vorträgen dahingehend, daß Soziale Gerechtigkeit als Wertnorm der Wirtschaftsordnung (1948) garantiert sein müsse, damit die Menschen in Würde und Freiheit leben können. Schließlich ist bemerkenswert, daß von den ersten vier Wirtschaftswissenschaftlichen Abhandlungen, die in der von Kosiol und Paulsen herausgegebenen Volksund Betriebswirtschaftlichen Schriftenreihe der Fakultät erschienen sind, drei dem Thema »Wirtschaftsordnung« gewidmet waren: Grundsatzfragen der Wirtschaftsordnung (1954), ein Vortragszyklus aus dem Sommersemester 1953; Erwin Grochla: Betrieb und Wirtschaftsordnung. Das Problem der Wirtschaftsordnung aus betriebswirtschaftlicher Sicht (1954); Fritz Mertsch: Die Aufgaben der Statistik in den verschiedenen Wirtschaftsordnungen (Habilitationsschrift 1954). Es ist eine Tatsache, daß in Deutschland und Österreich die Ökonomik als wissenschaftliche Disziplin – beginnend mit dem Kameralismus – besonders über die Rechtswissenschaft Zugang zu den Universitäten fand und schließlich in Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultäten mit ihr unter einem Dach – allerdings oft bloß in der Rolle des Juniorpartners – vereint wurde. Da sich das Studium dort zu großen Teilen auf juristische Felder erstreckte, entwickelte sich eine starke Affinität zur Rechtswissenschaft. Auch die FUGründungsökonomen kannten dies nicht anders seit ihren eigenen Studientagen, weshalb die meisten von ihnen diese Verzahnung für sinnvoll erachteten und sie daher bewahren wollten. So argumentierte etwa Andreas Paulsen in der Fakultätssitzung am 30. Juli 1949, in der sich die Auflösung der Rechtsund Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät abzeichnete, daß »die Studierenden sich in beiden Sparten zu orientieren hätten, was nicht durch die Trennung erschwert, (...) werden sollte«, und daß »in der Praxis die beruflichen Anforderungen (Verwaltung und Wirtschaft) ineinander übergehen und daß die Praxis von der Universität nicht Akademiker, die Wirtschaftler oder Juris-

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ten, wohl aber die Wirtschaftler und Juristen sind, erwartet«. 38 Daß es zur Spaltung kam, änderte jedoch nichts an der Überzeugung der Ökonomen, dem Fach »Recht« in allen drei Wirtschaftsstudiengängen wie eh und je ein besonderes Gewicht verleihen zu müssen. Im Studienführer hieß es: 39 »Da ein großer Teil der Erscheinungen und Vorgänge des wirtschaftlichen und sozialen Lebens durch die Rechtsordnung geregelt wird, ist das Studium der hierfür in Frage kommenden Rechtsdisziplinen eine unbedingte Notwendigkeit, und diese sind deshalb auch in die Prüfungs-Ordnungen einbezogen. Für Wirtschaftswissenschaftler kommen besonders Rechtsvorlesungen über die folgenden Gebiete in Betracht: Einführung in die Rechtswissenschaft; Grundzüge des Staats- und Verwaltungsrechts; Recht der öffentlichen Wirtschaft und Sozialverwaltung; Grundzüge des Bürgerlichen Vermögensrechts; Grundzüge des allgemeinen Steuerrechts; Handels- und Gesellschaftsrecht; Wertpapierrecht; Grundzüge des Zivilprozeßrechts, der Schiedsgerichtsbarkeit, des Vergleichs- und Konkursrechts.« Und das war noch nicht alles, denn darüber hinaus wurde empfohlen, zusätzlich »die folgenden rechtswissenschaftlichen Vorlesungen zu hören: Allgemeine Staatslehre; Wirtschaftsstrafrecht; Besonderes Steuerrecht; Wettbewerbs- und Warenzeichenrecht; Banken- und Börsenrecht; Geschäftsbedingungen und Handelsklauseln; Arbeitsrecht und Privatversicherungsrecht«. Das gesamte Lehrangebot dazu wurde von der Juristischen Fakultät erbracht, da die WiSo-Fakultät über keine entsprechenden Ressourcen verfügte. Geprüft wurden die Wirtschaftsstudenten von Prof. Dr. Ernst E. Hirsch (1902-1985), der – aus türkischem Exil zurückgekehrt – seit April 1950 an der Juristischen Fakultät einen Lehrstuhl für Handelsrecht, Bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie innehatte. Das enorme rechtswissenschaftliche Pensum absorbierte einen Großteil der Studienzeit und konnte von der Mehrzahl der Studierenden nur bewältigt werden, indem sie private Repetitorien besuchten, die speziell auf die Diplomprüfung im Fach »Recht« vorbereiteten. Verglichen damit ist die juristische Ausbildung der Ökonomen heutzutage auf ein geradezu bescheidenes Maß geschrumpft.

3.2.3.2 Wissenschaftlicher Nachholbedarf Die Betriebs- und Volkswirte der FU beließen es jedoch keineswegs dabei, bestimmte deutsche Traditionen ihrer Disziplinen zu pflegen. Sie bemühten sich in vielfältiger Weise ebenso, fachliche Wissensrückstände aufzuholen, um international (wieder) mitreden zu können. Nicht zuletzt um sich kundig zu machen, lud man gezielt bestimmte ausländische Gelehrte zu Gastvorlesungen oder Gastsemestern ein. Darunter waren mehrfach deutsche Emigran38 FU Berlin, Universitätsarchiv, Bestand REWI-Fak.-Protokolle 1948–1949, Bl. 55. 39 Thalheim um 1957, S. 129; kaum verändert Thalheim 1962/63, S. 155.

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ten, die nach ihrer Vertreibung vor allem in England und den USA Fuß gefaßt hatten. So kam schon im Wintersemester 1949/50 Prof. Dr. Carl Landauer (University of California, Berkeley) – bis 1933 ›theoretischer Kopf‹ in der Redaktion des in der Weimarer Republik führenden Wirtschaftsjournals Der Volkswirt und außerordentlicher Professor der Berliner HandelsHochschule – an die Fakultät, um »Gastvorlesungen über moderne Wirtschaftstheorie (zu) halten, unter besonderer Berücksichtigung der in den letzten zwei Jahrzehnten in Großbritannien und den USA vorangetriebenen Entwicklungen«. 40 Und er versprach, Ausschau zu halten, »wer von den amerikanischen Professoren bereit wäre, Gastvorlesungen in Berlin zu halten«. 41 Es kam unter anderem Prof. Dr. Julius Hirsch (New School for Social Research, New York), Nestor der Handelslehre und ehedem in Berlin Ordinarius an der Handels-Hochschule sowie Honorarprofessor an der Universität, der 1929 gemeinsam mit Tiburtius die Forschungsstelle für den Handel gegründet hatte. Hirsch sprach am 18. September 1951 über »Die neuere Entwicklung der USA-Wirtschaft und der Wirtschaftswissenschaft«. 42 Im Sommersemester 1952 lasen Prof. Dr. Gerhard Törnquist (Handelshochschule Stockholm) u. a. über »Problemstellung und Forschungsaufgaben der Warendistribution«, »Kostenanalyse der Unternehmungspolitik« und »Hauptzüge der amerikanischen Distributionsprobleme« 43 sowie der in Hamburg geborene und an der Columbia University, New York, als Professor für Business Administration tätige Ernest Dale über »Labour Economics«, »The Structure and the Working of the American Economy« und »Analysis of Basic Problems Facing Management«. 44 Dale lehrte erneut im Sommersemester 1954 an der FU; ebenso wie der Betriebswirt Prof. Dr. Theodore J. Kreps (Stanford University), der »Grundprobleme im Verhältnis der Wirtschaft zur Regierung in den Vereinigten Staaten« behandelte. 45 1953 und 1954 weilte der in Ungarn geborene, wegen seiner wissenschaftshistorischen Werke hochgeschätzte Ökonom Prof. Dr. mult. Theodore Surányi-Unger (Syracuse University New York) als Gastprofessor an der FU und machte die Fakultät u. a. mit »Entwicklungstendenzen der amerikanischen Nationalökonomie« vertraut. 46 Im gleichen Zeitraum hielt der spätere Nobelpreisträger Prof. Dr. Jan Tinbergen (Den Haag) Gastvorträge über »Die Zusammenhänge zwischen Zielen 40 Freie Universität Berlin. Mitteilungen für Dozenten und Studenten, Heft 10, 21. 11. 1949. 41 FU Berlin, Universitätsarchiv, Bestand Rep. 2.4 WISO-Fak.-Protokolle (1950), Bl. 22. 42 Ebd., Nr. 16, 12. 6. 1952, S. 61. 43 Ebd., Nr. 16, 12. 6. 1952, S. 61. 44 Ebd., Nr. 15, 15. 5. 1952, S. 58; Nr. 16, 12. 6. 1952, S. 61; Nr. 18, 1. 8. 1952, S. 71. 45 Ebd., Nr. 37, 8. 6. 1954, S. 145, und Nr. 38, 12. 7. 1954, S. 151. 46 Ebd., Nr. 21, 2. 1. 1953, S. 83.

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und Instrumenten in der Wirtschaftspolitik« und »Die wirtschaftlichen Grundlagen einer Integrationspolitik«. 47 Über »Die Entwicklung der Finanzund Geldpolitik in den Vereinigten Staaten während der letzten Jahrzehnte« referierte im Juli 1956 der von den Nationalsozialisten nach seinem Diplomexamen 1933 in Heidelberg ins Exil getriebene Prof. Dr. Richard Abel Musgrave (University of Michigan). 48 Im Wintersemester 1956/57 kehrte der ebenfalls emigrierte Sozialpädagoge Prof. Dr. Walter Friedländer (School of Social Welfare der University of California) an seinen Geburtsort Berlin zurück, um in einer Vorlesung und einem Seminar »Methoden der neuen amerikanischen sozialen Sicherheit« vorzustellen. 49 Die Liste solcher Fakultätsgäste ließe sich fast beliebig fortschreiben. An ihren Vorlesungsthemen fällt auf, daß diese häufig auf die USA fokussiert waren. Eine solche Blickrichtung mag insoweit nicht verwundern, als die FU den Vereinigten Staaten sehr viel verdankte. Sie wäre ohne Mitwirkung der amerikanischen Militärregierung gar nicht entstanden, und ihr Auf- und Ausbau wurde unvermindert von der US-Administration und privaten amerikanischen Institutionen ideell wie finanziell unterstützt. Wissenschaftlich gesehen, war jedoch etwas anderes dafür ausschlaggebend, gezielt Gastdozenten einzuladen, die bestens über Amerika Bescheid wußten: Spätestens seit den 1940er Jahren bestimmten in den USA tätige Wissenschaftler mehr und mehr den westlichen Diskurs in Wirtschaftsfragen. Demgemäß wies der Dekan (Thalheim um 1957, S. 130) im FU-Studienführer ausdrücklich darauf hin, daß »die in unserer Fakultät vertretenen Disziplinen gerade in den angelsächsischen Ländern besonders stark entwickelt worden sind und ein großer Teil des wichtigen Schrifttums in englischer Sprache geschrieben ist«, weshalb gute Englisch-Kenntnisse »von großem Nutzen sind«. Folgerichtig legte man Wert darauf, ausreichend Kurse in Wirtschaftsenglisch anzubieten. Aus gutem Grund wurde auch Prof. Dr. Erich Schneider (Universität Kiel) zu Gastvorlesungen eingeladen. Am 5. bzw. 6. Juli 1954 sprach er im Auditorium Maximum über »Die Theorie der Unternehmung als Gegenstand betriebswirtschaftlicher und volkswirtschaftlicher Forschung« bzw. über »Kontroverse Fragen der Theorie der Unternehmung«. 50 Schneiders Auftreten und die gewählten Themen waren in doppelter Hinsicht prägend: Der Mathematiker Schneider hatte sich 1932 in Bonn mit einer von Joseph A. Schumpeter begutachteten wirtschaftstheoretischen Arbeit habilitiert, von 1936 bis 1946 an der Universität Aarhus in Dänemark gelehrt und sich durch Schriften zum Rechnungswesen und zur Markt-, Wettbewerbs-, Produktionsund Investitionstheorie international einen Namen gemacht. Mit seinem zu47 48 49 50

Ebd., Nr. 33, 2. 2. 1954, S. 130. Ebd., Nr. 50, 1. 7. 1956, S. 201. Ebd., Nr. 51, 1. 11. 1956, S. 206, und Nr. 52, 1. 12. 1956, S. 215. Ebd., Nr. 38, 12. 7. 1954, S. 151.

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nächst dreibändigen Werk Einführung in die Wirtschaftstheorie (1947, 1949, 1952) hatte er zudem ein Lehrbuch geschaffen, mit dessen Hilfe »in Nachkriegsdeutschland der Anschluß an den internationalen Standard wieder hergestellt« wurde (Hagemann 2007, S. 287). In vielen Auflagen dominierte es im deutschsprachigen Raum den akademischen Unterricht in Volkswirtschaftslehre bis weit in die 1960er Jahre. Auch im Ausland fand es Anklang und wurde deshalb in mehrere Sprachen übersetzt. Seit seiner Bonner Antrittsvorlesung »Volkswirtschaftslehre und Betriebswirtschaftslehre« focht Schneider überdies für die fachliche Einheit der Wirtschaftswissenschaft. Ähnlich sah das einer der damals führenden deutschen Betriebswirte, Prof. Dr. Erich Gutenberg (Universität Köln). In seinem gleichermaßen erfolgreichen zweibändigen Lehrbuch Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre (1951, 1955) vollzog er den »Einbau der im wesentlichen auf erklärende Theorien gerichteten, volkswirtschaftlichen Mikroökonomie in die bisher im wesentlichen praktisch gestaltende Betriebswirtschaftslehre« (D. Schneider 1999, S. 21; 2010, S. 465-470). In der WiSo-Fakultät der FU fanden solche Töne Anklang (vgl. Rieter 2010, S. 81). Nicht zuletzt deshalb verlieh sie beiden Gelehrten am 23. Februar 1957 in einer gemeinsamen Feier die Ehrendoktorwürde. Beider Idee, Betriebs- und Volkswirtschaftslehre fachlich zu integrieren, wurde erst viel später, aber letztlich erfolglos, auf die Probe gestellt, als sich die Gründer der 1965 eröffneten Ruhr-Universität Bochum entschlossen, in der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät einen einheitlichen, volks- und betriebswirtschaftlichen Fächer gleichberechtigt umfassenden Studiengang mit dem Abschluß »Diplom-Ökonom« einzuführen. Dadurch sollten die zunehmend auseinander driftenden und sich stets weiter differenzierenden Schwesterdisziplinen zusammengeführt und ihre Kernbereiche arbeitsteilig vermittelt werden. Dies möglicherweise erreichen zu können war übrigens für Rudolf Schilcher (s. Abschn. 3.2.1.3) ein Anreiz, die FU zu verlassen und den Ruf an die Bochumer Universität anzunehmen. Innerhalb der Fakultät öffneten sich am stärksten die Ordinarien Andreas Paulsen und Erich Kosiol sowie deren Mitarbeiter in Lehre und Forschung dem internationalen mainstream ökonomischen Denkens. Spürbar trugen sie dazu bei, The Post-1945 Internationalization of Economics (Coats 1996) auch in der Bundesrepublik Deutschland voranzutreiben. Kosiol und Paulsen waren nicht von ungefähr die beiden Köpfe, mit denen die Fachwelt den wissenschaftlichen Rang der WiSo-Fakultät von Anbeginn fast zwei Jahrzehnte lang primär verband. Ihre Leistungen würdigte die Fakultät am 18. Februar 1999 anläßlich ihres 100. Geburtstages in einer gemeinsamen Gedenkfeier (Dekan 1999), obwohl die beiden Persönlichkeiten nicht unterschiedlicher hätten sein können. Kosiol, ein Rheinländer, geboren in Köln-Nippes, extrovertiert und eitel, »ein Ordinarius traditioneller Prägung«, der – wie sich sein Schüler und späterer Fachkollege Eberhard Witte (1999, S. 20, 24) rückblickend des weiteren

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erinnerte – als »akademischer Übervater in seiner intellektuellen Qualität und seinem souveränen Verhalten nicht nur respektiert, sondern auch menschlich genossen« wurde. Kosiol nahm seine Pflichten als Hochschullehrer sehr ernst, zumal er gern am Katheder stand und intensive Debatten in seinen Seminaren pflegte. Zudem diente er der Universität in einer sehr wichtigen Funktion, er saß von 1951 bis 1965 dem Haushaltsausschuß des Senats vor. Als Professor knüpfte er – u. a. durch Einladung von Gästen und zahlreiche eigene Vortragsreisen – vielfältige wissenschaftliche Kontakte, auch im Ausland. So wurde ihm zum 70. Geburtstag die seltene Ehre zuteil, eine Festschrift (Kloidt 1969) überreicht zu bekommen, die nur Beiträge ausländischer Kollegen enthielt. Überdies verliehen ihm die Hochschule für Welthandel in Wien 1962 und die Universität zu Köln im Jahr darauf Ehrendoktorate. Ferner bemühten sich die TH Darmstadt und die Frankfurter Universität 1953 bzw. 1957, ihn zu gewinnen, doch er lehnte deren Rufe ab und blieb über seine Emeritierung hinaus bis 1969 an der FU tätig. Dort ließ er »keinen Zweifel« daran aufkommen, »daß die von ihm dargebotene Allgemeine Betriebswirtschaftslehre das Zentrum des Faches darstellte. Er zog die meisten Studenten an, hatte den größten Assistentenstab und bestimmte die Bestellungen der (Betriebswirtschaftlichen) Bibliothek« (Witte 1999, S. 20). Kosiol ist es in besonderem Maße gelungen, begabte Studenten und Assistenten für sein Fach zu interessieren, an seinen Lehrstuhl bzw. die von ihm geleiteten Institute zu binden und sie zu fördern. Insoweit hat er mehr für den wissenschaftlichen Nachwuchs getan als alle anderen seiner ebenso lange an der FU tätigen Fakultätskollegen. So waren neun der elf im Abschnitt 3.2.1.3 aufgelisteten Wissenschaftlichen Mitarbeiter, die im Hochschulbereich blieben und als Professoren der Betriebswirtschaftslehre oder der Wirtschaftspädagogik Karriere machten, Schüler Kosiols (s. auch Witte 1999, S. 21). Zum einen hatte Kosiol mit der von ihm entwickelten so genannten pagatorischen Bilanzauffassung Neuland betreten. Er versuchte mit seinem Ansatz, ältere (deutsche) Bilanztheorien zu überwinden, indem er die Erfolgsrechnung und damit die Steuerung des Unternehmens konsequent von der Finanzseite her aufzäumte. Zum anderen »sind seine Beiträge zur Organisationslehre der Beginn einer weitverzweigten Entwicklung geworden« (Witte 1999, S. 12). In ihnen »klammert (er) den soziologischen und sozialpsychologischen Aspekt der Organisation bewußt aus«, um zu einer (rein) betriebswirtschaftlichen Organisationstheorie zu gelangen. Die ökonomische Seite menschlichen Verhaltens isoliert zu betrachten und »die Humankomponente als ›ärgerliche Tatsache‹ den Nachbarwissenschaften zu überlassen« (ebd., S. 15), das entsprach der damals unter Ökonomen allgemein vorherrschenden Meinung von einer interdisziplinären Arbeitsteilung, die nötig sei, um reale Vorgänge möglichst exakt erklären zu können. Daß Kosiol als promovierter Mathematiker dieser Denkweise zuneigte, kann nicht überraschen. Seine Schüler (s. Abschn. 3.2.1.3) haben die Organisationslehre – teils in diesen

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Grenzen, teils sich darüber hinwegsetzend – zu einer »eigenständigen Speziellen Betriebswirtschaftslehre weiterentwickelt und als Prüfungsfach an allen großen Wirtschaftsfakultäten etabliert« (ebd., S. 16). Auch in anderen modernen Zweigen des Faches, wie Planung, Unternehmensführung, Controlling, Automation, Wirtschaftsinformatik, finden sich noch heute ›Erbstücke‹ der Kosiol-Schule (ebd., S. 21). Andreas Paulsen hatte gleichfalls enormen Zulauf in seinen Hauptvorlesungen, da sich die Ökonomiestudenten ganz überwiegend für sein Lehrangebot im Pflichtprüfungsfach »Allgemeine Volkswirtschaftslehre« entschieden. Doch verglichen mit Kosiol beschäftigte er stets nur wenige Mitarbeiter, und er verzichtete bis 1953 sogar auf ein eigenes Seminar bzw. Institut für Wirtschaftstheorie. Im Grunde wurden nur zwei seiner Assistenten – Rudolf Schilcher und Wilhelm Wedig (geb. 1931) – selbst Hochschullehrer. Der Norddeutsche Paulsen, in Flensburg geboren, wirkte in sich gekehrt, er sprach auffällig leise und bedächtig, galt als streng und etwas unnahbar. Im persönlichen Umgang mit seinen Studenten und Mitarbeitern war er indes sehr aufgeschlossen, hilfsbereit und empathisch (so auch Wedig 1999, S. 31 f.). Sich als der erfolgreiche Professor, der er war, in Szene zu setzen lag ihm völlig fern. Welches Gelehrtendasein er sich erträumte, vertraute er seinem Leipziger Mentor und späteren Freund Friedrich Lütge in einem Brief vom 1. November 1958 an: »Das Leben eines Don oder Fellow in einem der altberühmten Colleges von Oxford oder Cambridge scheint mir gerade der Idealzustand für einen wissenschaftlich und kontemplativ gestimmten Menschen zu sein!« Geistiges Format und sicheres Urteilsvermögen verliehen Paulsen eine natürliche Autorität. Sein hohes Ansehen innerhalb und außerhalb der Universität nutzte er in seinen administrativen Ämtern zum Vorteil der FU. Unter seinem Rektorat von 1955 bis 1957 gelang es, finanzielle Mittel von der Henry-Ford-Foundation für die Erweiterung der Universitätsgebäude und von der US-Regierung für den Bau des Studentendorfes in BerlinSchlachtensee zu erhalten. Sodann konnte das seit dem Sommersemester 1952 immatrikulierten Studenten und Gasthörern zur Weiterbildung angebotene Programm von Abendvorlesungen 51 zu einem regulären Abendstudium ausgebaut werden. 52 Die ersten Bewerber für die Hauptfächer »Volkswirtschaftslehre« und »Betriebswirtschaftslehre« wurden zum Wintersemester 1955/56 zugelassen. Eine weitere Neuerung bestand in jährlich wiederkehrenden Universitätstagen mit öffentlichen Vorträgen. Sie fanden erstmals im Januar 1956 statt – bezeichnenderweise zum Thema »Fortschritte in der Forschung«. 51 Vgl. Freie Universität Berlin: Personal- und Vorlesungsverzeichnis Sommersemester 1952, S. 129-134. 52 Vgl. Freie Universität Berlin: Personal- und Vorlesungsverzeichnis Sommersemester 1955, S. 103-113.

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Paulsen legte 1950 ein Werk mit dem programmatischen Titel Neue Wirtschaftslehre vor, in dem er die makroökonomischen Theorien und wirtschaftspolitischen Empfehlungen des Keynesianismus vorstellte, die den Diskurs der Ökonomen in der westlichen Welt seit den 1930er Jahren dominierten. Er gehörte damit – wie Erich Schneider – zu den Ersten in der Bundesrepublik Deutschland, die die Wirtschaftslehren von John Maynard Keynes und dessen Anhängern hier nachhaltig verbreiteten. Dies führte er fort mit seiner Allgemeinen Volkswirtschaftslehre in vier Bänden. Seit 1956 oftmals aufgelegt, erschien sie in der populären Sammlung Göschen. Fast jeder Wirtschaftsstudent nutzte sie als handliches Kompendium, zumal darin nicht nur die keynesianische Makroökonomie, sondern mit der so genannten neoklassischen Mikroökonomie ebenfalls der zweite Hauptstrom moderneren Wirtschaftsdenkens verbal und mathematisch vermittelt wurde. Übersetzt ins Spanische, waren beide Werke auch in Lateinamerika eingeführt. Stets betonte Paulsen (u. a. 1950, S. 4), daß weder die wissenschaftliche Ausbildung noch die Forschungsarbeit ohne Theorien auskommt, denn: »Ohne Theorie gelingt es nicht einmal, die Realerscheinungen zu ordnen, geschweige sie in ihren Zusammenhängen einsichtig zu machen«. Nach diesem Verständnis sind ökonomische Theorien nie um ihrer selbst willen berechtigt, sondern nur dann, wenn sie dazu taugen, angewandt zu werden, um Phänomene zu erklären oder Probleme zu lösen. »Die analytische Theorie hat instrumentalen Charakter«, lautete ein Kernsatz Paulsens in seiner Akademischen Festrede über »Wirtschaftswissenschaft und die Wirtschaft unserer Zeit« am 4. November 1955 anlässlich seiner Einführung als Rektor. Nur in diesem Sinne betrieb er Wirtschaftstheorie. Schon der Untertitel seiner Neuen Wirtschaftslehre ließ dies erkennen: Einführung in die Wirtschaftstheorie von John Maynard Keynes und die Wirtschaftspolitik der Vollbeschäftigung. Lord Keynes’ Theorie interessierte, ja faszinierte ihn hauptsächlich deshalb, weil sie eine Erklärung dafür bot, warum in einer Volkswirtschaft konjunkturell Arbeitslosigkeit entstehen kann und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, damit dies Übel kein Dauerzustand wird. Als in späteren Jahren andere Wirtschaftsprobleme aktuell(er) wurden – Wirtschaftswachstum, unterentwickelte Länder, Inflation – wandte sich Paulsen vornehmlich ihnen zu. Manche seiner Schüler haben diese Arbeiten unterstützt oder fortgesetzt. Lotet man Paulsens Denk- und Arbeitsweise als Wissenschaftler tiefer aus, dann offenbart sich – um mit Rudolf Schilcher (1974, S. 205) zu sprechen, der ihn in dieser Hinsicht wohl am besten kannte – »ein unverwechselbarer ›Paulsen-Stil‹«: »Dieser kann in einer Art Dichotomie gesehen werden. Auf der einen Seite strebte Paulsen intensiv nach formaler, häufig mathematisch formulierter Exaktheit seiner Aussagen. (...) Auf der anderen Seite aber hat ihn die Frage nach dem ›Sinn‹ der in oder hinter den formal beschriebenen Phänomenen liegt, nie losgelassen. Der sozialphilosophische und gesellschaftspolitische Hintergrund ökonomischer Probleme wurde bei Paulsen nicht abgetrennt. (...) Er

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(...) bezieht eine Position, die der Theorie nicht ein Wolkenkuckucksheim, sondern diese Erde als Operationsfeld zuweist.« Mit seiner Emeritierung im März 1967 schied Paulsen aus dem Universitätsdienst aus und widmete sich fürderhin philosophischen und theologischen Studien (Wedig 1999, S. 36). Sein Lehrstuhl-Nachfolger wurde 1969 der Spieltheoretiker und spätere Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften Prof. Dr. Reinhard Selten aus Frankfurt am Main, der dann 1973 an die Universität Bielefeld wechselte. Allmählich im Gleichschritt mit der internationalen Entwicklung gewannen an der WiSo-Fakultät ›moderne‹ Trends in Lehre und Forschung die Oberhand. Dies galt im Prinzip für die meisten wirtschaftswissenschaftlichen Teilbereiche. Die in jenen Jahren in der Ökonomik fast überall stetig zunehmende Bedeutung sowohl empirisch-statistischer Verfahren als auch deduktiv-theoretischer Modellierungen erzwang ein adäquat ausgedehntes Lehrprogramm. Den Studierenden wurde »dringend der Besuch von Vorlesungen über Mathematik, Statistik, Wissenschaftslehre, Logik und Erkenntnistheorie« empfohlen (Kosiol um 1957, S. 137, so auch Thalheim um 1957, S. 129). Wirtschaftsmathematik, Datenverarbeitung, Informatik und Ökonometrie fanden schrittweise Eingang in die Studienpläne aller drei Fachrichtungen und wurden bis in die Gegenwart – wie an allen Wirtschaftsfakultäten – ein fester, stetig vergrößerter Bestandteil der Ausbildung und Forschungspraxis.

3.2.3.3 Besonderheiten Die Freie Universität Berlin war als Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden in dem vollen Bewußtsein gegründet worden, auch einen politischen Auftrag zu erfüllen. Er bestand darin, repressive Ideologien zu bekämpfen und jene Werte zu verteidigen, die im Universitätswappen gleich zweimal verewigt waren: veritas, iustitia, libertas. Dabei sollte in dem sich anbahnenden Kalten Krieg zwischen Ost und West die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Ideologie und den sowjetisch beherrschten Regimen, insbesondere mit der DDR, im Vordergrund stehen. Dies zu leisten waren in erster Linie die geistes- wie die wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen aufgerufen. Eine große Bereitschaft fand sich verständlicherweise bei jenen Professoren und Mitarbeitern, die unter den Verhältnissen im sowjetischen Einflußbereich hatten leiden müssen, bevor sie an die FU kamen. Und davon gab es anfangs nicht wenige. Viele gingen in ihrem Engagement noch einen Schritt weiter, indem sie sich parteipolitisch betätigten. Für die WiSo-Fakultät ist das gut mit Beispielen zu belegen: Die Professoren Eich (FDP) und Tiburtius (CDU) amtierten als Berliner Senatoren, Reif war Parlamentarier für die FDP, von der Gablentz war Mitglied der CDU, Forstmann, Paulsen, von Eynern und Stammer gehörten der SPD an. Verglichen damit engagierten sich Hochschullehrer westdeutscher Wirtschaftsfakultäten schon seinerzeit weitaus seltener in politischen Parteien.

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Die FU war durch drei fächerübergreifende Institutionen besonders prädestiniert, sich mit der Geschichte, Politik und Ideologie des Ostblocks auseinanderzusetzen – die 1948/49 wiedergegründete Deutsche Hochschule für Politik, seit 1952 durch einen Kooperationsvertrag mit der FU verbunden und 1959 als Otto-Suhr-Institut in sie einbezogen; das 1950 zunächst außeruniversitär entstandene und 1958 ebenfalls integrierte Institut für politische Wissenschaft; das 1951 eröffnete Osteuropa-Institut, das – so hieß es offiziell – »die Tradition der Ostforschung an den Universitäten Breslau und Königsberg fortsetzen (soll)«. 53 Nicht nur am Zustandekommen, sondern auch am Ausbau und den Aktivitäten aller drei Einrichtungen waren Mitglieder der WiSo-Fakultät wesentlich beteiligt. Die Ökonomen unterhielten zwangsläufig die engste Verbindung zum Osteuropa-Institut, weil dessen Abteilung für Osteuropäische Wirtschaftswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre – 1953 in Abteilung für Osteuropäische Wirtschaft umbenannt – in ihre Zuständigkeit fiel. Seitens der Betriebswirte trug zunächst auch hier Erich Kosiol, später der oben (Abschn. 3.2.1.3) erwähnte Wolfgang Förster die Hauptverantwortung; seitens der Volkswirte Karl Christian Thalheim – und das in viel größerem Maße. Er leitete nicht nur bis 1969 ununterbrochen diese Abteilung, sondern fungierte mehrfach als Geschäftsführender Direktor des gesamten Instituts. Der Deutschbalte Thalheim, der sich seit seiner Studienzeit mit Problemen des »Grenz- und Auslandsdeutschtums« beschäftigt (vgl. Rieter 2010, S. 134, 144) und sich während der NS-Zeit auf Fragen der Raumordnung – besonders solcher der vom NS-Regime beanspruchten und okkupierten Ostgebiete – spezialisiert hatte, 54 blieb nach 1945 – nun natürlich mit anderer politischer Blickrichtung und veränderten Methoden – dieser Thematik verhaftet und bearbeitete sie neben seinem weltwirtschaftlichen Interessengebiet. Er tat dies ebenso umfangreich und intensiv außerhalb der FU in Vorträgen und Schriften (s. Lankisch 1960), denn er gehörte fast allen Gremien – oft in herausgehobener Position – an, die sich in der Bundesrepublik Deutschland mit Osteuropa einschließlich der DDR befaßten: von 1952 bis zu seiner Auflösung 1975 dem Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands beim Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen bzw. für innerdeutsche Beziehungen; der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde; der Forschungsstelle für gesamtdeutsche wirtschaftliche und soziale Fragen in Berlin; dem Direktorium des Bundesinstituts zur Erforschung des Marxismus-Leninismus (Institut für Sowjetologie); dem Forschungsrat des Johann-Gottfried-Herder-Instituts in Marburg, einem Zentrum außeruniversitärer Ostmitteleuropa-Forschung; dem Wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit; dem Direktorium des 53 Freie Universität Berlin. Mitteilungen für Dozenten und Studenten, Nr. 4, 10. 5. 1951, S. 13. 54 Vgl. Rieter 2014, S. 312-317. Ein Beispiel: Thalheim / Ziegfeld 1936.

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Ost-Kollegs der Bundeszentrale für politische Bildung in Köln. Daneben war er Mitherausgeber der Zeitschrift Osteuropa Wirtschaft. Bei solcher Vernetzung nimmt es nicht wunder, daß Thalheim jahrzehntelang als einer der angesehensten Ost-Experten galt. An der WiSo-Fakultät blieb er über seine Emeritierung 1968 hinaus bis zum Wintersemester 1969/70 tätig. Freilich nicht in diesem Ausmaß, aber genauso entschieden, beteiligten sich auch etliche von Thalheims Kollegen schriftlich wie mündlich an der Ost-West-Diskussion. Dies geschah nicht nur in einschlägigen Vorlesungen des Tages- und Abendstudiums sowie in wissenschaftlichen Beiträgen, sondern auch durch öffentliche Auftritte und aktuelle Stellungnahmen. Beispielsweise berichtete Andreas Paulsen am 17. September 1956 im Rahmen der Berlin-Woche in Bonn über »Berliner Erfahrungen zur geistigen Auseinandersetzung zwischen Ost und West«, und im Rahmen der vom Otto-SuhrInstitut im Sommersemester 1959 veranstalteten Vortragsreihe Berlin – Brennpunkt deutschen Schicksals sprachen Joachim Tiburtius über »Kulturpolitik diesseits und jenseits des Brandenburger Tores« und Otto Stammer über »Die Lage Berlins als soziologisch-politisches Problem«. Eine Besonderheit der WiSo-Fakultät in ihrem ersten Jahrzehnt bestand auch darin, daß jenes Lehr- und Forschungsgebiet, das sich mit dem Binnenhandel in einer Volkswirtschaft und dem Absatz von Gütern und Dienstleistungen befaßte, in einer ungewöhnlichen Doppelung vertreten wurde – nämlich von Joachim Tiburtius (volkswirtschaftliches Ordinariat »Handels- und Sozialpolitik«) und Karl Christian Behrens (betriebswirtschaftliches Ordinariat »Handels- und Marktwirtschaft«). Behrens gliederte seinem Lehrstuhl ein Seminar (seit 1957: Institut) für Markt- und Verbrauchsforschung an, das er stetig ausbaute und das Interessenten die Möglichkeit bot, sich als demoskopischer Marktforscher zu qualifizieren. Tiburtius legte sich ein Seminar für Handelsforschung zu, das 1952 in Forschungsstelle für den Handel und 1956 in Seminar für Theorie und Politik des Binnenhandels umgetauft wurde. Zu der Parallelität war es gekommen, weil Tiburtius als ausgewiesener Fachmann nicht nur für Sozialpolitik, sondern auch für Handelsbetriebslehre, bei seiner Berufung darauf bestanden hatte, das zweite Fach nicht aufgeben zu wollen. Auf beiden Feldern hatte er sich nämlich schon seit 1915 einen Namen gemacht. Er war im Preußischen Kriegsministerium Referent für das Tarif- und Schlichtungswesen und im Reichsarbeitsministerium der Weimarer Republik für Arbeiterfragen des Bergbaus und der Bühnen-Angehörigen gewesen und hatte zu sozialpolitischen Themen publiziert; 1925 bis zu seiner Entlassung im April 1933 war er Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels e. V., und an der Handels(später: Wirtschafts)-Hochschule Berlin lehrte er über volks- und betriebswirtschaftliche Aspekte des Einzelhandels. Dies ergab sich dadurch, daß Prof. Dr. Julius Hirsch – wie erwähnt – gemeinsam mit Tiburtius 1929 eine Forschungsstelle für den Handel e. V. als Außeninstitut der Handels-

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Hochschule gegründet hatte, deren Leitung 1935 auf Tiburtius überging, weil Hirsch emigrieren mußte. Tiburtius setzte nach 1945 alles daran, die Institution zu erhalten. Dies gelang, indem die Forschungsstelle Anfang 1955 als gemeinnütziger Verein konstituiert wurde. Die Geschäftsführung übertrug er seinem langjährigen Assistenten Dr. Wolfgang Fleck, während er selbst bis zu seinem Tod 1967 Wissenschaftlicher Leiter blieb. Sein unmittelbarer Nachfolger in dieser Funktion wurde Behrens, ebenso in der Leitung des Seminars für Theorie und Politik des Binnenhandels, das 1969 aufgelöst wurde, zumal es schon in Tiburtius’ letzten Jahren wohl eine »ziemlich leblose« Existenz gefristet hatte. 55 Das Vermächtnis volks- und betriebswirtschaftlicher Binnenhandelslehre und -forschung sowie die Bedeutung, die man gerade diesem Fachgebiet beimaß, würdigte die Fakultät mehrfach: Sie ehrte Julius Hirsch anlässlich seines 70. Geburtstages am 30. Oktober 1952 mit einer Promotion honoris causa 56 und gedachte seiner Leistungen in memoriam mit einem wissenschaftlichen Sammelwerk (Behrens 1962). Eine Festschrift zum 50jährigen Bestehen der Forschungsstelle für den Handel verband deren Historie mit der Handelsforschung heute (1979). Und die Fakultät vergaß auch nicht, daß 1906 die Handels-Hochschule Berlin gegründet worden war, die als Institution 40 Jahre lang selbständig bestand, bis sie 1946 in der HumboldtUniversität aufging. Die FU-Betriebswirte sahen sich gern in der Rolle, das Erbe dieser Hochschule, der die deutsche Betriebswirtschaftslehre nachhaltige Impulse verdankte, angetreten zu haben, was allerdings ihre TU-Kollegen auch für sich reklamierten (vgl. Rieter 2010, S. 81). Am 28. Oktober 1956 veranstalteten Rektor und Fakultät eine Gedenkfeier »50 Jahre Berliner Handels-Hochschule«. 57 Prof. Dr. Konrad Mellerowicz (TU Berlin), der von 1926 bis 1945 an der Handels- bzw. Wirtschaftshochschule Berlin tätig gewesen war, sprach über »Die Idee der Betriebswirtschaftslehre und ihre Entwicklung durch die Handels-Hochschule Berlin«. Außerdem wurde im Verlauf der Veranstaltung dem ehemaligen Rektor der Hochschule Prof. Dr. Moritz Julius Bonn (London), der 1933 einer der ersten war, die das NS-Regime entließ und ins Exil trieb, die Würde eines Ehrendoktors verliehen. Bonn bedankte sich mit einem Festvortrag über das Thema »Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspraxis«.

55 Dies schrieb mir am 18. 3. 2014 mein Berliner Studienkollege Prof. Dr. Hans-Otto Schenk (Universität Duisburg), der seit dem Wintersemester 1963/64 bei der im gleichen Haus untergebrachten Forschungsstelle für den Handel beschäftigt war. 56 Freie Universität Berlin. Mitteilungen für Dozenten und Studenten, Heft 20, 1. 12. 1952, S. 80. 57 Freie Universität Berlin. Mitteilungen für Dozenten und Studenten, Nr. 51, 1. 11. 1956, S. 211 f.

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4. Die Zäsur Daß ich mich in meiner Darstellung in etwa auf das erste FU-Jahrzehnt beschränkt habe, macht insoweit Sinn, als sich die WiSo-Fakultät danach grundlegend zu verändern begann. Dies war personell wie wissenschaftlich bedingt, wobei die beiden Faktoren keineswegs unabhängig voneinander wirkten. Die noch tätigen Professoren aus der Gründergeneration schieden allesamt spätestens in den 1960er Jahren aus, nachdem sie das Emeritierungsalter erreicht hatten. Verständlicherweise wünschten einige, ihre Nachfolge so geregelt zu sehen, daß die Fakultät den von ihnen eingeschlagenen wissenschaftlichen und hochschulpolitischen Kurs beibehält. Ein solcher Wunsch konnte freilich auf Dauer nicht in Erfüllung gehen, denn manche der vorhandenen oder neu eingerichteten Lehrstühle wurden mit jüngeren Ökonomen besetzt, die von auswärts kamen und nicht selten ganz anders dachten als ihre Vorgänger. Der Lehrkörper verjüngte sich nicht nur, sondern orientierte sich halt neu. Zudem brachen für die Ökonomik modernere Zeiten an. In der Betriebswirtschaftslehre (vgl. u. a. D. Schneider 1999, S. 22-24) kamen sozialwissenschaftlich ausgerichtete neben wirtschaftstheoretisch fundierten Ansätzen auf, wodurch die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre als Kernfach an Homogenität verlor. In der Speziellen Betriebswirtschaftslehre wurden die sektoralen immer mehr durch funktionale Zweiglehren verdrängt. Nachdem lange Zeit die Produktionsseite als Angelpunkt für die mikrotheoretische Analyse unternehmerischen Handelns diente, rückte die Absatzseite in den Vordergrund (»Marketingdenken«), wobei wieder stärker sozialwissenschaftliche Lehren herangezogen wurden. Ähnliches galt für jene stark aufkommenden Bemühungen, die Betriebswirtschaftslehre als interdisziplinäre Managementwissenschaft zu etablieren. Später wiederum gab es eine Gegenbewegung insofern, als sich das theoretische Interesse an Investitions- und Finanzierungsproblemen belebte und eine Brücke zur mikroökonomischen Theorie der Institutionen geschlagen wurde. Und nicht zuletzt sollte die neuzeitliche Informations- und Kommunikationstechnologie tiefe Spuren in der betriebswirtschaftliche Forschung und Lehre hinterlassen. In der Volkswirtschaftslehre (vgl. u. a. Berthold 1995) verblaßten die geistes-, geschichts- und sozialwissenschaftlichen Bezüge zusehends. Statt dessen richtete man sich methodologisch strikt an den Natur- und Ingenieurwissenschaften aus und nutzte neben der bewährten Funktionsalgebra und dem Infinitesimalkalkül weitere formale Instrumente wie die Korrelations- und Wahrscheinlichkeitsrechnung und die Theorie strategischer Spiele. Diese Werkzeuge erweiterten die Möglichkeiten, wirtschaftliche Vorgänge modellmäßig und quantitativ zu untersuchen. Sowohl in der Mikro- als auch in der Makroökonomik wechselten die Forschungsgegenstände und damit die Lehrinhalte, wobei die angelsächsischen Economics nach wie vor leitend wa-

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ren. Der bis dato dominierende keynesianische Ansatz zur Erklärung von Konjunkturerscheinungen und zu ihrer wirtschaftspolitischen Bekämpfung wurde durch den Monetarismus der Chicagoer Schule herausgefordert und schließlich in die Defensive gedrängt. Dies belebte die Diskussion über geldtheoretische Fragen, zeitigte weitreichende Folgen für die Geldpolitik und begünstigte verschiedene Rekonstruktionen des Keynesianismus. Andere angestammte Themenfelder der Volkswirtschaftslehre wie Wettbewerb, Märkte, Außenhandel, Wachstum und öffentliche Finanzen wurden neu ausgeleuchtet, frische kamen hinzu: Umwelt, Migration, Institutionen, Recht, Politik und anderes mehr wurden ökonomischen Analysen unterworfen. Letztlich trugen in späteren Jahren all diese Entwicklungen dazu bei, die akademische Dreiteilung des Faches in Wirtschaftstheorie, Wirtschaftspolitik und Finanzwissenschaft, von deren Zweckmäßigkeit die Gründungsväter der Fakultät so überzeugt waren, in Frage zu stellen, aufzuweichen und am Ende aufzugeben. In einer über das Fachliche weit hinausgreifenden Weise änderte sich das Erscheinungsbild der WiSo-Fakultät wie das der gesamten Universität natürlich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre total, als bestimmte politische Ereignisse eine außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik Deutschland mobilisierten, an der Hochschüler – auch und gerade der FU – wesentlich beteiligt waren. Die im Zuge dieser Unruhen durchgesetzten Reformen sowohl der Hochschulstrukturen als auch der Studieninhalte waren so gravierend, daß sie ohne Frage eine deutliche Zäsur in der Geschichte der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Freien Universität Berlin markieren.

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Gisela Simmat Fachbereich Wirtschaftswissenschaft an der Freien Universität Berlin

Strukturelle Entwicklung Bei der Gründung der Freien Universität Berlin im Herbst 1948 wurden die Wirtschafts- und Sozialwissenschaft zunächst mit den Juristen zu einer Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät vereinigt. Im Sommersemester 1949 war der Ausbau der Einzeldisziplinen soweit fortgeschritten, daß die juristische und die wirtschaftswissenschaftliche Disziplin verselbständigt werden konnten. So entstand am 01.08.1949 die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät mit den Studienrichtungen Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre und der Ausbildung der Handeislehrer, später ergänzt durch die Studienrichtung Soziologie. Außerdem wurden im Rahmen einer Kooperation mit der Deutschen Hochschule für Politik (später Otto-Suhr-Institut an der FU) Lehrveranstaltungen mit dem Schwerpunkt Politische Wissenschaft angeboten. Mit dem Universitätsgesetz von 1969, das u.a. auch der Vergrößerung der FU und der damit verbundenen Problemen Rechnung trug, änderten sich nicht nur die Leitungsstrukturen innerhalb der Universität und ihrer Gremien, es bewirkte auch eine grundsätzlicher Änderung der Gesamtstruktur. Die ehemaligen sechs Fakultäten, die durch das rasche Wachstum der FU zu unübersichtlich geworden waren, wurden in 24 Fachbereiche aufgeteilt.

Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät wurde der Fachbereich Wirtschaftswissenschaft. Das Institut für Soziologie wurde dem neu gestalteten Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften zugeordnet. Die Ausbildung der Handelslehrer wurde geteilt: während der praktisch-pädagogische Teil an den Fachbereich Erziehungswissenschaft verlagert wurde, verblieb der wirtschaftswissenschaftliche Ausbildungsbereich am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft. Die Professoren, die den Schwerpunkt Politische Wissenschaft an der Fakultät vertraten, wurden Mitglieder des neu geschaffenen Fachbereichs Politische Wissenschaft. Dazu eine Nebenbemerkung: Obwohl nun über 30 Jahre seit dieser Trennung vergangen sind, wird das Hauptgebäude des Fachbereichs in der Ga-

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rystr. 21 nicht nur von Ehemaligen, sondern auch von jüngeren Mitgliedern der Universität nach wie vor die »WISO« genannt. Im Zusammenhang mit der Neustrukturierung der FU wurde auch die interne Struktur des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaft neu gegliedert. Es entstanden im Laufe der nächsten Jahre acht wissenschaftliche Einrichtungen (WE), die – zumindest teilweise – den betriebswirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Schwerpunkt eines Gebietes zusammenfassen sollten: WE 1 - Institut für Quantitative Ökonomik und Statistik, WE 2 - Institut für Finanzen, Steuern und Sozialpolitik, WE 3 - Institut für Banken und Industrie, Geld und Kredit, WE 4 - Institut für Wirtschaftspolitik, WE 5 - Institut für Markt- und Verbrauchsforschung und Betriebswirtschaftliche Vergleiche, WE 6 - Institut für Unternehmungsführung, WE 7 - Institut für Volks- und Weltwirtschaft, WE 8 - Institut für Bankwissenschaft. Die Institute gliederten sich in 27 Fachrichtungen. Diese Konstruktion wurde bis 1989 aufrechterhalten, hatte jedoch zu einer starken Zersplitterung der Fachgebiete und einer Zergliederung der Entscheidungskompetenzen innerhalb des Fachbereichs geführt. Im Rahmen neuer Strukturüberlegungen für die gesamte Universität beschloß das Kuratorium der FU, den Fachbereich Wirtschaftswissenschaft in zwei Wissenschaftliche Einrichtungen mit den folgenden Instituten zu gliedern: WE 1 - Wissenschaftliche Einrichtung Betriebswirtschaftslehre: Institut für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Institut für Management, Institut für Marketing, Institut für Bank- und Finanzwirtschaft, Institut für Betriebswirtschaftliche Prüfungs- und Steuerlehre, Institut für Produktion, Wirtschaftsinformatik u. Operations Research, WE 2 - Wissenschaftliche Einrichtung Volkswirtschaftslehre: Institut für Wirtschaftstheorie, Institut für Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsgeschichte, Institut für Weltwirtschaft, Institut für Öffentliche Finanzen und Sozialpolitik, Institut für Statistik und Ökonometrie. Mit Ausnahme des Instituts für Weltwirtschaft ist diese Aufgliederung bis heute erhalten. In enger Kooperation mit dem Fachbereich stehen außerdem die interdisziplinären Zentralinstitute Osteuropa-Institut, Lateinamerika-Institut und

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Fachbereich Wirtschaftswissenschaft

John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerika-Studien, deren wirtschaftswissenschaftliche Professuren in den Fachbereich eingebunden sind. Eine weitere Kooperation bestand und besteht mit dem Fachbereich Rechtswissenschaft. Bis zu seiner Emeritierung Ende der 60er Jahre hatte der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Ernst E. Hirsch die juristische Ausbildung der Wirtschaftswissenschaftler übernommen. Nach seinem Ausscheiden bestand am Fachbereich Rechtswissenschaft kein Interesse, diese Aufgabe weiterzuführen. Erst durch einen Beschluß des Akademischen Senats und Schaffung neuer Professoren-Stellen, die im Fachbereich Rechtswissenschaft mit der Verpflichtung etatisiert wurden, Jura-Ausbildung am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft zu übernehmen, konnte diese Problematik gelöst werden. Eine Gemeinsame Kommission der Fachbereiche Rechtswissenschaft und Wirtschaftswissenschaft ist dafür zuständig, daß die Pflichtveranstaltungen Recht (Privatrecht und Öffentliches Recht) im Grundstudium regelmäßig angeboten werden. In den Jahren 1983 und 1987 wurden am Fachbereich zwei Aufbau/Ergänzungsstudiengänge institutionalisiert: 1983 wurde der Ergänzungsstudiengang »Tourismus mit den Schwerpunkten Management und regionale Verkehrsplanung« eingerichtet, an dem auch die Fachbereiche Geowissenschaft und Geschichtswissenschaft beteiligt waren. Zum jetzigen Zeitpunkt ist nur noch der Fachbereich Geowissenschaft einbezogen. Durchgeführt wird der Studiengang durch das dem Fachbereich zugeordnete Willy-Scharnow-Institut für Tourismus, einer bundesweit einmaligen Einrichtung auf dem Gebiet der Tourismus-Forschung. Initiator und langjähriger Leiter war bis zu seiner Emeritierung Prof. Dr. Günther Haedrich. Seit 2003 hat Prof. Dr. Christoph Haehling v. Lanzenauer diese Funktion übernommen. Im Jahre 1987 wurde der Aufbaustudiengang »Weiterbildendes Studium Technischer Vertrieb« als universitäres berufsbegleitendes Weiterbildungsangebot für im Vertrieb tätige Ingenieure und Naturwissenschaftler eingeführt. Er bietet dem engagierten Ingenieur im Vertrieb die Möglichkeit, sich modernes Marketing-Know-how und betriebswirtschaftliches Grundwissen anzueignen. Dieser Studiengang ist inzwischen so erfolgreich eingeführt, das er zu einem großen Teil aus Studiengebühren finanziert werden kann. Aufgebaut wurde dieser Studiengang von Prof. Dr. Wulff Plinke. Nach seinem Ausscheiden übernahm Prof. Dr. Michael Kleinaltenkamp die Leitung und den weiteren Ausbau. Außerdem beteiligen sich Professoren des Fachbereichs am Bachelor/Master-Studiengang Statistik gemeinsam mit der HumboldtUniversität und dem Studiengang Europawissenschaften (Master of European Studies) gemeinsam mit der Humboldt-Universität und der Technischen Universität.

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Lehre, Lehrstühle. Studentenzahlen, Prüfungsordnungen Das erste Vorlesungsverzeichnis im Sommersemester 1949 weist ein Volkswirtschaftliches und ein Betriebswirtschaftliches Institut mit 6 besetzten Lehrstühlen nach, so daß ein Teil der Lehre, wie auch noch viele Jahre später, durch Lehrbeauftragte, Honorarprofessoren und außerplanmäßige Professoren getragen wurde. Bis 1953 hatte sich die Zahl der besetzten Lehrstühle auf 10 erhöht. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde ein umfangreiches Lehrangebot (in Auszügen) angezeigt: Allgemeine Volkswirtschaftslehre/Wirtschaftstheorie, Finanzwissenschaft, Volkswirtschafts- und Sozialpolitik, Wirtschaftskunde, Kommunalwissenschaft, Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Besondere Betriebswirtschaftslehren: Industrie- und Werkwirtschaft, Handels- und Marktwirtschaft, Bank- und Finanzwirtschaft, Wirtschaftsprüfung und Steuerberatung, Statistik und Wirtschaftsmathematik, Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftsgeographie, Genossenschaftswesen, Wirtschaftsrecht, Wirtschaftssprachen, Betriebs- und Arbeitspsychologie, Soziologie, Politische Wissenschaften. Zu Beginn des Wintersemesters 1950/51 hatte die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät insgesamt 1055 Studierende, die sich durch Kriegsheimkehrer, ehemalige Studierende der Humboldt-Universität und denen, die ihr Studium an anderen Universitäten der Sowjetischen Besatzungszone begonnen hatten, auch auf höhere Semester verteilten. Die Zahl der Studierenden entwickelte sich kontinuierlich weiter (1956: 1435 Stud.; 1958: 1821 Stud.), aber erst 1961/62 waren bei einer Studierendenzahl von 2471 16 ord. Professuren besetzt. 1966 war die Zahl der Studierenden auf 3141 angestiegen, die Zahl der Lehrstühle auf 27. Für die Zeit von 1970 - 1980 kann der Fachbereich auf eine sehr gute Personalausstattung zurückblicken. Bei einer durchschnittlichen Zahl von ca. 3000 Studierenden konnte bei 46 Professuren und über 100 Stellen im Mittelbau eine intensive Nachwuchsförderung und Betreuung durchgeführt werden. So konnten z.B. alle Pflichtveranstaltungen des Grundstudiums doppelt angeboten werden. Zum Fachbereich gehörten außerdem 8 Professuren, die

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jedoch ihren Lehr- und Forschungsmittelpunkt in den interdisziplinären Zentralinstituten Osteuropa-Institut, Lateinamerika-Institut und John-F.Kennedy-Institut für Nordamerika-Studien hatten. Es ist nahe liegend, daß mit der starken Vergrößerung des Lehrkörpers in den 70er Jahren eine umfassendere Spezialisierung der Lehr- und Forschungsgebiete Hand in Hand ging, die auch der Weiterentwicklung der Wissenschaftsgebiete Rechnung trug. So wurde bereits 1971 eine Professur für Wissenschaftstheorie eingerichtet, die 1982 durch eine zweite Professur ergänzt wurde: Mit der Bezeichnung »Methodenprobleme der Ökonomie« gehörte das Fach zu den Pflichtveranstaltungen des Grundstudiums. Nach dem Ausscheiden von Prof. Reinhard Kamitz und dem Tod von Prof. Dr. Michael Küttner wird dieses Gebiet am Fachbereich seit 1994 nicht mehr angeboten und ist als Pflichtfach im Grundstudium entfallen. 1976 folgte eine Professur für Datenverarbeitung, inzwischen gehört das Fach Wirtschaftsinformatik zu den Kernfächern, die auch unter den Kürzungszwänge zukünftig erhalten bleiben. Eine Bereicherung des Lehrangebots und der Forschungsaktivitäten erfolgte durch die Schaffung von drei Professuren, die durch außeruniversitäre Institutionen veranlaßt wurden: Die Stiftung Volkswagenwerk stellte 1980 die Anlauffinanzierung einer Professorenstelle für »Volkswirtschaft des Vorderen Orients« (in Kombination mit einer Professur für »Politik und Zeitgeschichte im Vorderen Orient« am Fachbereich Politische Wissenschaft) zur Verfügung, deren Weiterfinanzierung die Universität übernahm. Nach der Emeritierung des Stelleninhabers Prof. Dr. Dieter Weiss entfiel diese Stelle. Durch die Deutsche Bundesbank wurde 1987 eine Ständige Gastprofessur für »Internationale Währungs- und Geldpolitik« eingerichtet. Ziel dieser Gastprofessur ist es, herausragende internationale Wissenschaftler auf dem gen. Fachgebiet für einen Zeitraum nicht unter einem Semester an den Fachbereich zu berufen und in den Lehr- und Forschungsbetrieb einzubinden. Diese Professur wird in der Regel durch ausländische Wissenschaftler besetzt. Von der Fa. Schering AG wurde 1991 die Anlauffinanzierung einer Professur für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbes. Mittelständische Wirtschaft zur Verfügung gestellt. Durch den Weggang des Stelleninhabers Prof. Dr. Joachim Schwalbach nach drei Jahren entfiel diese Professur, was von Seiten der Wirtschaft auf außerordentliches Bedauern stieß. Ein weiterer Gewinn für den Fachbereich war die Schaffung von zwei Sonderprofessuren: 1989 nahm Prof. Dr. Lutz Hoffmann, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, den Ruf auf die für diese Kooperation geschaffene Sonderprofessur für Empirische Wirtschaftsforschung an, die er bis zu seiner

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Emeritierung bis 1999 innehatte. Der jetzige Präsident des DIW, Prof. Dr. Klaus F. Zimmermann, führt die Verbindung mit dem Fachbereich als Honorarprofessor fort. Durch eine weitere Sonderprofessur für Betriebswirtschaftslehre konnte der Fachbereich von 1990 - 1994 Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Horst Albach, der von 1987-1990 das Amt des Präsidenten der Akademie der Wissenschaften ehrenamtlich innehatte, gewinnen. Sein Lehrangebot im Fach Industriebetriebslehre wurde von den Studierenden sehr geschätzt. Mit seinem Entschluß, einen Ruf an die Humboldt-Universität anzunehmen, entfiel diese Professur. Schon seit Beginn der 80er Jahre mußte der Fachbereich in immer stärkerem Maße Rückschnitte in Kauf nehmen, die zuerst durch den erwarteten allerdings nicht eingetretenen Rückgang - der Studentenzahlen begründet wurde. Als dann noch der numerus clausus für Wirtschaftswissenschaft kurzfristig aufgehoben wurde, hatten sich die Studentenzahlen so erhöht, daß nur durch Stellenzuweisungen aus dem Bund-Länder-Programm der Lehrbetrieb ordnungsgemäß weitergeführt werden konnte. 1990 kann eine weitere Aufgabe hinzu: Aufgrund der Auflösung der Hochschule für Ökonomie nach der Wende mußte den dort Immatrikulierten die Weiterführung und der Abschluß ihres wirtschaftswissenschaftlichen Studiums angeboten werden, wobei die Studierenden die Wahl zwischen der Humboldt-Universität, der Technischen Universität und der Freien Universität hatten. Für die Freie Universität entschieden sich ca. 280 Studierende, die in den Fächern des Grundstudiums intensiv gefördert werden mußten, um den Anforderungen des Hauptstudiums gewachsen zu sein. Bis Mitte der 90er Jahre stieg die Zahl der Studierenden auf über 5000, da außer den Diplomabschlüssen in Betriebswirtschaftslehre und Volkswirtschaftslehre auch die Möglichkeit bestand und besteht, diese Fächer mit dem Magisterabschluß als 2. Hauptfach oder als 2. bzw. 3. Nebenfach zu wählen. Der 1992/93 beschlossene Strukturplan sah vor, die Zahl der Hochschullehrerstellen zu halbieren, so daß man in Zukunft von 22 Professorenstellen (einschl. 3 Stellen in den Zentralinstituten) ausgehen konnte. Inzwischen wurde in dem vom Kuratorium 2004 beschlossenen Struktur- und Entwicklungsplan eine weitere Reduktion vorgesehen: Erhalten bleiben 9 Professuren für die Betriebswirtschaftslehre und 9 Professuren für Volkswirtschaftslehre, von denen die Professuren für Volkswirtschaftslehre im Osteuropa-Institut und im J.-F.-Kennedy-Institut nur mit 50 % ihrer Lehre dem Fachbereich zur Verfügung stehen. In der Betriebswirtschaftslehre sind folgende Gebiete vorgesehen: Betriebliche Finanzwirtschaft, Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre,

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Organisation und Führung, Strategische Management, Personal, Marketing (Marktforschung und Konsumentenverhalten), Business- und Dienstleistungsmarketing, Produktionswirtschaft, Wirtschaftsinformatik und Operations Research. In der Volkswirtschaftslehre sind vorgesehen: Mikroökonomie und ihre Anwendungen, Internationale Makroökonomie, Öffentliche Wirtschaft, Theorie des Wohlfahrtsstaates, Internationale Finanzpolitik, Geld und Währung, Angewandte Statistik und Datenanalyse, Volkswirtschaftslehre unter bes. Berücksichtigung Nordamerikas, Volkswirtschaftslehre unter bes. Berücksichtigung Osteuropas. Verbunden mit der Stellenreduktion ist der Rückgang der Zahl der Studierenden, da die Zugangszahlen der Erstsemester für Betriebswirtschaftslehre (ZVS) und Volkswirtschaftslehre (FU-intern) als Numerus-clausus-Fächer von der Stellenzahl des Lehrpersonals abhängig sind. Trotzdem sind immer noch ca. 3200 Hauptfach-Studierende zu betreuen, von denen etwa 2/3 den betriebswirtschaftlichen und 1/3 den volkswirtschaftlichen Abschluß anstreben. Trotz der vorher genannten Einschränkungen und der damit verbundenen Kürzungen des Lehrangebots ist es erstaunlich und erfreulich, daß z.B. die Betriebswirtschaftslehre an der Freien Universität in den letzten Jahren zu den begehrtesten Studienplätzen Deutschlands gehört. Mit zwischen 7 und 9 Bewerbungen auf einen Studienplatz liegt die FU deutlich über dem bundesweiten Durchschnitt von 2,3 und behauptet sich nach wie vor klar gegenüber anderen Fakultäten wie beispielsweise Mannheim, Köln, Frankfurt/M. oder Saarbrücken. Dabei spiegeln diese Zahlen der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) noch nicht einmal das gesamte Ausmaß der Nachfrage wider. Rechnet man nämlich die Bewerbungen der ausländischen (Nicht-EU) und Magisterstudenten hinzu, so steigt diese Quote um weitere drei Punkte, d.h. auf nahezu zehn Bewerbungen pro Studienplatz an. Als Besonderheit kommt hinzu, daß der Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der FU die Bewerberauswahl nicht allein der ZVS - und damit formaler Qualifikation - überläßt, sondern einen Teil der Studienkandidaten (20 %) über spezielle Auswahlgespräche aussucht.

Diplomprüfungsordnung Bereits 1949 wurde die erste vorläufige Prüfungsordnung für die Studiengänge Betriebswirtschaftslehre und Volkswirtschafslehre sowie 1950 für das

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handelslehramtliche Studium beschlossen. Die 1956 beschlossene Prüfungsordnung wurde erst durch die 1980 für das Grundstudium und 1982 für das Hauptstudium beschlossene Prüfungsordnung abgelöst. Insbesondere das Grundstudium, das in der 56er Ordnung aus den propädeutischen Fächern Rechnungswesen, Mathematik, Statistik und Recht bestand, mußte den veränderten Bedingungen der angestiegenen Studentenzahlen angepaßt werden. Es wurde um die Prüfungsfächer Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre und Grundlagen der Volkswirtschaftslehre, Methodenprobleme der Ökonomie und Wirtschaftsinformatik erweitert. Das Grundstudium, das mit einer Zwischenprüfung abschließt, gilt einheitlich für beide Studiengänge Betriebswirtschaftslehre und Volkswirtschaftslehre, die Spezialisierung erfolgt im Hauptstudium in einem der beiden Studiengänge. 1987 trat für die Diplomstudiengänge Betriebs/Volkswirtschaftslehre eine Studien- und Prüfungsordnung in Kraft, die den üblichen Hochschulanforderungen im In- und Ausland entsprach. Die seit 2000 geltende Prüfungsordnung hat zu einer grundsätzlichen Änderung des Studienverlaufes geführt. Entsprechend der Studienordnung umfaßt das Grundstudium in der Regel 3 Semester, das Hauptstudium eine Dauer von 5 Semestern (einschl. Diplomarbeit). Durch die Modularisierung der Fächereinheiten konnte die Lehr- und Studienorganisation gestrafft und übersichtlicher gestaltet werden. Prüfungsleistungen für den Abschluß des Hauptstudiums werden studienbegleitend durchgeführt. Außerdem nimmt die Betriebswirtschaftslehre wie auch die Volkswirtschaftslehre am European Transfer System (ETCS) teil. Eine wichtige Rolle im Rahmen des Grundstudiums hat schon seit Beginn der 60er Jahre die Begleitung durch Wissenschaftliche und Studentische Tutoren gespielt. Die Wiederholung des Vorlesungsstoffes in kleinen Gruppen, in denen Inhalte noch einmal geklärt und geübt werden können, hat sich bis heute bewährt und wird, nun allerdings durch die Kürzung der Mittel in Form von Übungen, fortgeführt und sind Teil der Studienordnung. Eine weitere, für die Studienorganisation und Information der Studierenden sehr nützliche und notwendige Veranstaltung bietet der Fachbereich seit mehr als 15 Jahren an: Eine Woche vor Vorlesungsbeginn findet für die Erstsemester eine Orientierungswoche statt, in der die Lehrinhalte des Grundstudiums vorgestellt werden. Angeboten werden außerdem Führungen durch die Wirtschaftswissenschaftliche Bibliothek und die Begleitung durch Mentoren auf den ersten Schritten in die Universität. Auch ein Brückenkursus Mathematik (eingerichtet von Prof. Dr. Herbert Büning) soll Lücken der erforderlichen mathematischen Kenntnisse beheben. Für Studierende, die das Grundstudium abgeschlossen haben, werden im Rahmen eines Infomarktes die Fachgebiete und ihre Vertreter vorgestellt.

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Promotionsordnung/Habilitationsordnung Die erste Promotionsordnung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät zum Dr. rer. pol. wurde 1951 beschlossen. Die Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen erfolgte 1981. Die jetzt geltende Promotionsordnung Trat 1993 in Kraft. Sie enthält die Möglichkeit, daß auch Fachhochschulabsolventen unter besonderen Voraussetzungen zum Promotionsverfahren zugelassen werden können. Die geltende Habilitationsordnung wurde 1997 beschlossen. Sie ersetzt die Habilitationsordnung von 1978, deren Vorgänger die Ordnungen von 1965 und 1954 waren.

Bibliotheken Die Wirtschaftswissenschaftliche Bibliothek hat ihre Wurzeln im Bücherbestand des Betriebswirtschaftlichen und Volkswirtschaftlichen Instituts der Gründungszeit. Anfang der 60er Jahre verselbständigten sich, schon aufgrund des angewachsenen Bücherbestandes, diese Institutsbibliotheken zu den beiden Bereichsbibliotheken: Betriebswirtschaftliche Bibliothek und Volkswirtschaftliche Bibliothek, die seitdem als eigenständige Institutionen für die Literaturversorgung des Fachbereichs zuständig waren. Das seit 1950 aufgebaute Wirtschaftsarchiv (Volks- und Betriebswirtschaftliches Archiv) wurde 1976 aufgelöst und entsprechend der Fachgebiete in die beiden Bibliotheken eingegliedert. 1997 wurden beide Bibliotheken zu einer Wirtschaftswissenschaftlichen Bibliothek zusammengelegt. Damit verbunden war die wünschenswerte Veränderung, durch Umbauten den Freihandbestand im Lesesaal zu vergrößern, wenn auch heute noch die Buchausleihe im Vordergrund steht. Die gemeinsame Bibliothek verfügt z. Zt. über einen Bestand von ca. 600 000 Büchern, Zeitschriften und Medieneinheiten und ist eine der größten Fachbibliotheken in Deutschland. Ihr Bestand wird nicht nur von den Studierenden und Wissenschaftlern der 3 Berliner Universitäten und der Fachhochschulen, sondern auch von außeruniversitären Forschungseinrichtungen, Behörden und Unternehmen genutzt. Die Einführung der EDV in den einzelnen Arbeitsbereichen, z.B. Katalogisierung, Erwerbung und Ausleihe haben den Zugriff auf den Titelbestand erweitert, da er über den Bibliotheksverbund Berlin-Brandenburg nachgewiesen wird.

Wirtschaftswissenschaftliches Rechenzentrum Ausgehend von den Aktivitäten der Fachrichtung Angewandte Statistik (Prof. Dr. Joachim Lenz) erhielt die Elektronische Datenverarbeitung am Fachbereich großen Stellenwert. Mitte der 80er Jahre wurde die Einrichtung »Wirtschafswissenschaftliches Rechenzentrum« als selbständige Institution geschaffen, das sich mit der Einführung des Computers an allen Arbeitsplätzen

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(Wissenschaftler, Sekretariate, Verwaltung, Prüfungsamt) befaßte und intensiv vorantrieb. Für die Studierenden wurden PC-Pools mit 72 Arbeitsplätzen und 19 PCs in der Bibliothek eingerichtet, die für alle Interessenten ausreichend Platz bieten. Kommentiertes Vorlesungsverzeichnis, Studienberatung, Lehrmaterialien u. ä. können durch Online Angebote genutzt werden.

Raumsituation Über viele Jahre war die Raumsituation der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät und des späteren Fachbereichs Wirtschaftswissenschaft außerordentlich angespannt. Nach einem ersten Jahr gemeinsam mit der rechtswissenschaftlichen Disziplin in der Ihnestr. 22 erhielt die Fakultät das Haus Corrensplatz 2 zur eigenen Nutzung. Es erwies sich schon bald als zu klein, so daß auf Nebenstandorte (Gelfertstraße, Auf dem Grat, Bachstelzenweg, Ehrenbergstraße) ausgewichen werden mußte. 1958 konnte die Fakultät einen Neubau in der Garystrasse 21 beziehen, der auch heute noch mit seinen Hörsälen, der Wirtschaftswissenschaftlichen Bibliothek, der Fachbereichsverwaltung und Arbeitsräumen für einige Lehrstühle das »Hauptgebäude« des Fachbereichs ist. Aber auch durch diesen Neubau konnten die Raumanforderungen nicht befriedigt werden, so daß weiterhin Außenstandorte notwendig waren. Die Situation entspannte sich, als dem Fachbereich 1982 in der Boltzmannstraße ein von der Max-PlanckGesellschaft angemietetes Gebäude zur Nutzung zur Verfügung gestellt wurde. Die Konzentration auf zwei »Hauptgebäude« wurde im Laufe der Zeit von allen Wissenschaftlern begrüßt, sie war auch der wissenschaftlichen Zusammenarbeit sehr förderlich. Forschung Die Forschung am Fachbereich ist zum größten Teil Individualforschung. Bei einer Anzahl von ca. 110 Professoren, die von 1949 bis 2004 am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft gewirkt haben oder zum jetzigen Zeitpunkt noch tätig sind, ist es nicht möglich, die wissenschaftlichen Leistungen des Einzelnen zu würdigen. Es mag aber nicht unerheblich sein, daß in dem genannten Zeitraum 1464 Promotionsverfahren erfolgreich abgeschlossen wurden. Die erste Promotion an der neu gegründeten Fakultät erfolgte bereits im August 1949. Zwischen 1949 und 1950 wurden 6 weitere Verfahren abgeschlossen. Zwei junge Wissenschaftler des Fachbereichs erhielten (1990 Dr. Dimitrios Malliaropulos; 1992 Dr. Roland Schütze) den von der Ernst-ReuterGesellschaft gestifteten Ernst-Reuter-Preis für hervorragende Dissertationen. Seit 1949 hat die Fakultät/der Fachbereich 21 Ehrenpromotionen verliehen, u.a. an

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Ernst Reuter (1949), Eleanor Dulles (1957), Erich Gutenberg (1957), Erich Schneider (1957), Erwin Grochla (1979), Fritz Neumark (1961), Carl C. Hempel (1984), Albert O. Hirschman (1988), Wolfgang Wetzel (1994) und Ursula Hansen (2001). Der Fachbereich gibt seit 1980 im Abstand von drei Jahren einen Forschungsbericht heraus, in dem die Forschungsvorhaben der Professoren und der Wissenschaftlichen Mitarbeiter, ihre wissenschaftlichen Veröffentlichungen, drittmittelfinanzierte Forschungsprojekte und internationale Kontakte dokumentiert werden. Außerdem werden seit mehreren Jahren neuere Forschungsergebnisse innerhalb des Fachbereichs in der Reihe »Diskussionsbeiträge des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität« in einer »Betriebswirtschaftlichen Reihe« und in einer »Volkswirtschaftlichen Reihe« vorgestellt. Es läßt sich feststellen, daß die Forschungsintensität und die Aktivitäten zur Einwerbung von Drittmitteln in den letzten 15 Jahren angestiegen sind und die Zusammenarbeit der Professoren untereinander wie auch mit Forschern anderer Institutionen und Universitäten an Bedeutung gewonnen hat. Eine große Rolle mag dabei spielen, daß erst Mitte der 80er Jahre durch Emeritierung und Weg-Berufungen Professoren-Stellen frei wurden und Neuberufungen - wenn auch nicht in gleicher Anzahl - ermöglichten. Es erfolgte eine Verjüngung des Lehrkörpers, und die Neuberufenen brachten Erfahrungen und Kontakte mit, die festgefahrene Strukturen einer kritischen Prüfung unterwarfen. Diese Entwicklung schien zum Stillstand zu kommen, als nach der »Wende« einige aktive Reformer vom Senator für Wissenschaft und Forschung an die Humboldt-Universität berufen wurden. Es war sehr zu bedauern, daß die Betriebswirte Prof. Dr. Wulff Plinke, seit 1985 und Prof. Dr. Joachim Schwalbach, seit 1990 am Fachbereich, sowie der Volkswirt Prof. Dr. Elmar Wolfstetter, seit 1979 am Fachbereich, 1992/1993 einen Ruf an die Humboldt-Universität annahmen. Zur gleichen Zeit nahm der Betriebswirt Prof. Dr. Martin Richter, der seit 1991 das Fach Rechnungswesen vertrat, einen Ruf an die Universität Potsdam an. Es gelang jedoch dem Fachbereich, Nachfolger mit vergleichbarer Qualifikation zu gewinnen. Hervorzuheben ist, daß sich die Zusammenarbeit mit der HumboldtUniversität durch gemeinsame Graduiertenkollegs und Teilnahme an Sonder-

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forschungsbereichen im volkswirtschaftlichen Forschungsbereich intensiv entwickelt hat. So wurde ab dem WS 1988/89 das Berliner Graduiertenkolleg »Angewandte Mikroökonomie« an der Freien Universität von Hochschullehrern des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaft in Zusammenarbeit mit Mitarbeitern des Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) angeboten. Zielsetzung des Kollegs ist es, eine kleine Zahl besonders qualifizierter Doktoranden mit den fortgeschrittenen Fragestellungen und Methoden des Faches vertraut zu machen und bis zum Abschluß der Dissertation intensiv zu betreuen. Das Kolleg wurde anfangs von der Stiftung Volkswagenwerk finanziert. Für spätere Durchgänge hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Finanzierung übernommen. Nach der Rufannahme von Prof. Wolfstetter - Sprecher des Graduiertenkollegs - an die Humboldt-Universität wurde das Kolleg gemeinsam von Professoren beider Universitäten durchgeführt. Beteiligt von Seiten des Fachbereichs waren Prof. Dr. Helmut Bester, Prof. Dr. Irwin Collier, Prof. Dr. Kai A. Konrad, Prof. Dr. Peter Kuhbier, Prof. Dr. Lutz Kruschwitz, Prof. Dr. Jürgen Wolters. In der Volkswirtschaftslehre beteiligen sich Wissenschaftler des Fachbereichs gemeinsam mit der Humboldt-Universität, der Technischen Universität und den Universitäten Bonn, Mannheim und München am SFB/TR 15: »Governance und die Effizienz ökonomischer Systeme« und am «Berlin Doctoral Program in Economics and Management«. Ein weiteres Graduiertenkolleg wird in Kürze seine Arbeit aufnehmen: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft wird ab 2005 im Bereich Betriebswirtschaftslehre ein Graduiertenkolleg »Pfade organisatorischer Prozesse« fördern. Im Zentrum des auf 9 Jahre angelegten Forschungs- und Förderungsprogramms soll die Erforschung von festgefahrenen Entscheidungspfaden stehen, die von den Beteiligten viel zu spät erkannt werden und dann nur noch unter großem Aufwand zu ändern sind. Sprecher des Kollegs ist Prof. Dr. Jörg Sydow, sein Stellvertreter Prof. Dr. Georg Schreyögg. Von Seiten des Fachbereichs sind weiter eingebunden: Prof. Dr. Christoph Haehling von Lanzenauer, Prof. Dr. Michael Kleinaltenkamp, Prof. Dr. Gertraude Krell, Prof. Dr. Alfred Kuss. Die Kontakte mit dem Wissenschaftszentrum Berlin und dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung gehören zu den Selbstverständlichkeiten des wissenschaftlichen Austausches. Außerdem besteht eine Vernetzung mit dem European Institute for Advanced Studies in Management (EIASM), dem European Auditing Research Network (EARNET), der European Group of Organizational Studies (EGOS) und dem Wissenschaftlichen Institut für Kommunikationsdienste. Forschungsförderung im größeren Rahmen erfolgt vorrangig durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Stiftung Volkswagenwerk und das

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Bundesministerium für Forschung und Bildung, aber auch Auftragsforschung durch private Unternehmen gewinnt zunehmend an Bedeutung. Abgesehen von den Kontakten, die die einzelnen Wissenschaftler mit ihren Fachkollegen im Rahmen von Forschungsprojekten im In- und Ausland pflegen, wird der internationale Austausch in der jüngeren Generation durch einen relativ hohen Anteil von Sokrates/Erasmus-Stipendiaten gefördert. Ringvorlesungen und regelmäßig organisierte Diskussionsreihen mit betriebswirtschaftlichen Themen sprechen nicht nur Mitglieder der Universität an, sondern wenden sich auch an Repräsentanten von Wirtschaft und Politik. So wird seit nunmehr 9 Jahren im Wintersemester der von Prof. Schreyögg veranstaltete »Management-Dialog« angeboten, zu dem als Referenten hochrangige Vertreter großer Wirtschaftsunternehmen eingeladen werden. Die Veranstaltungen haben jeweils einen eigenen Schwerpunkt, wie z.B. »Internationale Organisationen«, »Management und Kreativität«, »Glaubwürdigkeit und Gerechtigkeit in der Wirtschaft«. Als Ringvorlesungen zu aktuellen Themen sind zu nennen die von Prof. Dr. Lutz Kruschwitz und dem Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Markus Heintzen organisierte Veranstaltungsreihe »Unternehmen in der Krise« und »Arbeitslosigkeit«, an der auch Prof. Dr. Ulrich Baßeler beteiligt war. Personalentwicklung Zu den Persönlichkeiten, die den Aufbau der damaligen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät erst ermöglicht haben, gehören als Professoren der »ersten Stunde« die Professoren Drs. Erich Kosiol und Dr. Andreas Paulsen. Prof. Kosiol (geb. 1899) übernahm den ersten betriebswirtschaftlichen Lehrstuhl und errichtete das Institut für Industrieforschung. In der Zeit von 1949 bis 1953 wirkt er als Dekan oder Prodekan der Fakultät und setzte seine langjährige Erfahrung und seine wissenschaftlichen Verbindungen ein, um Neuberufungen durchzuführen und den Studienbetrieb zu organisieren. Er nutzte seine guten Kontakte zur Industrie, um manchen finanziellen Engpaß auszugleichen. In seinem Institut legt er den Grundstein der späteren Betriebswirtschaftlichen Bibliothek, deren Direktor er nach ihrer Ausgliederung aus seinem Institut wird. Er ist der Begründer der »Grüne Reihe«, einer Sammlung betriebswirtschaftlicher Forschungsergebnisse. Diese Reihe wurde und wird von seinen Schülern und anderen Betriebswirten fortgeführt (u.a. Prof. Drs. Knut Bleicher, Prof. Dr. Klaus Chmielewicz, Prof. Dr. Günter Dlugos, Prof. Drs. Eberhard Witte). Bis jetzt sind in dieser Reihe, die z. Zt. von Prof. Dr. Marcell Schweitzer herausgegeben wird, 124 Bände erschienen. Trotz weiterer Rufe nach Nürnberg, Darmstadt und Nürnberg blieb Prof. Kosiol der Freien Universität bis zu seiner Emeritierung 1967 treu.

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Auch der Volkswirt Prof. Dr. Andreas Paulsen (geb. 1899) nahm bereits 1949 einen Ruf an die Freie Universität an. Als Direktor des ersten Volkswirtschaftlichen Instituts (zusammen mit den Professoren Dr. Friedrich Bülow und Dr. Joachim Tiburtius) und des Instituts für Wirtschaftstheorie baute er den volkswirtschaftlichen Studiengang aus. 1955/57 übernahm er das Amt des Rektors der Freien Universität. Auch er blieb der FU bis zu seiner Emeritierung treu. – Prof. Dr. Wilhelm Eich (geb. 1889). Er kam wie Prof. Kosiol bereits 1949 an die Freie Universität und lehrte bis zu seiner Emeritierung 1958 außer der Allgemeinen Betriebswirtschaftslehre die Fächer Wirtschaftsprüfung und Steuerberatung. – Prof. Dr. Karl Christian Behrens (geb. 1907). Er legte den Grundstein für den noch heute wichtigen Schwerpunkt Markt- und Verbrauchsforschung und der später ausgegliederten Forschungsstelle für den Handel. Er war von 1950 - 1975 tätig und hat die Entwicklung seines Faches geprägt. – Prof. Dr. Woldemar Koch (geb. 1902). Er vertrat im Volkswirtschaftlichen Institut den Schwerpunkt Finanzwissenschaft von 1950 - 1954. – Von 1951 - 1956 wurde Betriebswirtschaftslehre, insbes. Betriebslehre der Bankwirtschaft und der Versicherungswirtschaft von Prof. Dr. Hanns Linhardt (geb. 1901) vertreten. – Als Professor für Handels- und Sozialpolitik war Dr. Joachim Tiburtius (geb. 1889), der von 1951 - 1963 das Amt des Senators für Volksbildung in Berlin innehatte, von Beginn an bis zu seiner Emeritierung 1957 der Fakultät verbunden. – Mit der Berufung (1951) von Prof. Dr. Karl C. Thalheim entstand die erste Verbindung mit dem neu - als interfakultative Einrichtung - gegründeten Osteuropa-Instituts. – 1956 wurde Prof. Dr. Hans Münzner berufen. Er vertrat bis 1975 das Fachgebiet Statistik, das bis 2001 von Prof. Dr. Peter Theodor Wilrich weitergeführt wurde. Seit 2003 ist der Lehrstuhl mit Prof. Dr. Ulrich Rendtel besetzt. – Prof. Dr. Helmut Arndt (1911-1997). Er konnte 1957 als Direktor des Instituts für Volkswirtschaftslehre gewonnen werden. Er baute das Institut für Konzentrationsforschung auf und legte in seinem Institut den Grundstein für die spätere Volkswirtschaftliche Bibliothek, deren Ausbau er als Direktor noch viele Jahre förderte. Von den in den 60er Jahren berufenen Professoren verblieben nur die Professoren – Dr. Kurt Elsner (Volkswirtschaftslehre, Volkswirtschaftspolitik) – Dr. Walter Endres (Allgemeine Betriebswirtschaftslehre) – Drs. Wolfram Fischer (Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsgeschichte) bis zu ihrer Emeritierung an der Freien Universität.

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Eine außerordentlich große Erweiterung des Lehrkörpers erfolgte in den Jahren 1970 - 1980. Es wurden über 30 Professuren neu besetzt. Das beruhte einerseits auf ki Stellen, da bei einigen Lehrstühlen der Professoren der »ersten Stunde« aufgrund der Altersstruktur Neuberufungen anstanden, andrerseits auch in erheblichem Maße Professoren-Stellen neu geschaffen wurden. Hinzu kam die Möglichkeit, fast 30 neu zugewiesene AssistenzprofessorenStellen zu besetzen, deren promovierte Stelleninhaber die Habilitation anstrebten. Mit diesem Stellenpotential konnte den Studierenden ein breit gefächertes Lehrangebot zur Verfügung gestellt werden, was allerdings im organisatorischen Bereich zu einer Verknappung der Hörsäle und Arbeitsräume für Wissenschaftler führte. Von den in den 70er Jahren berufenen Professoren verließen ca. ein Drittel die Freie Universität durch Rufannahme an andere Universitäten. Zu nennen sind: – Prof. Dr. Hans Peter Bareis (Betriebswirtschaftslehre, Steuerlehre) – Prof. Dr. Hermann Garbers (Volkswirtschaftslehre, Statistik) – Prof. Dr. Alfred Kieser (Betriebswirtschaftslehre, Organisation und Führung) – Prof. Dr. Gerold Krause-Junk (Volkswirtschaftslehre, Finanzwissenschaft) – Prof. Dr. Peter Naeve (Volkswirtschaftslehre, Statistik) – Prof. Dr. Manfred J. M. Neumann (Volkswirtschaftslehre, Geldtheorie) – Prof. Dr. Wilfried Schmähl (Volkswirtschaftslehre, Geldtheorie) – Prof. Dr. Christoph Schneeweiß (Betriebswirtschaftslehre, Wirtschaftsinformatik) – Prof. Dr. Peter Stahlknecht (Datenverarbeitung) – Prof. Dr. Heinz Strebel (Betriebswirtschaftslehre, Industriebetriebslehre). Durch die seit 1982 beginnenden Kürzungen kamen Wiederbesetzungen nur sehr zögerlich voran. Das führte, wie schon vorab erwähnt, im Lehrangebot zu großen Engpässen, da sich inzwischen die Zahl der Studierenden fast verdoppelt hatte. Außer den genannten Wegberufungen von 4 Professoren an die Humboldt-Universität mußte der Fachbereich 1990 und 1992 einen weiteren Verlust hinnehmen. Viel zu früh verstarben die Professoren – Dr. Burkhard Strümpel (Betriebswirtschaftslehre, Markt- und Verbrauchsforschung) – Dr. Wolfgang Staehle (Betriebswirtschaftslehre, Organisation und Führung) – Dr. Frank Klanberg (Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik).

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Aussichten Innerhalb der Professorenschaft des Fachbereichs hatte bereits Mitte der 80er Jahre ein Konsolidierungsprozeß eingesetzt; hochschulpolitische Auseinandersetzungen verloren an Schärfe, die Stellenkürzungen bei steigenden Studentenzahlen zwangen zur Kooperation und zum Verzicht auf allzu breit gefächerte Spezialisierungen. Die Strukturplanungen des Präsidialamtes 1992/93 sahen die Halbierung der Professorenstellen vor (22), der Struktur- und Entwicklungsplan des Kuratoriums von 2004 geht nur noch von dem Erhalt von 18 Stellen aus. Die von der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur auf Empfehlung des Wissenschaftsrates eingerichtete Strukturkommission hat empfohlen, Wirtschaftswissenschaft an den drei Berliner Universitäten und der Universität Potsdam zu erhalten. Während sich die Technische Universität auf die Ausbildung der Wirtschaftsingenieure konzentriert, werden die Freie Universität und die Humboldt-Universität das Fach weiterhin grundständig vorhalten, jedoch mit jeweils deutlicher Schwerpunktbildung im Hauptstudium anbieten. Das Profil im Fach Betriebswirtschaftslehre konzentriert sich auf die Schwerpunkte ‒ Management (Unternehmenssteuerung - marktorientierte Steuerung von Wertschöpfungsprozessen) – Rechnungslegung, Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, Wirtschaftsprüfung und Finanzierung im Fach Volkswirtschaftslehre auf die Schwerpunkte – Theorie und Politik internationaler ökonomischer Verflechtungen – Quantitative Modellierung und empirische Analyse. Man kann sich dem Eindruck nicht entziehen, daß heute unter dem Druck der äußeren Verhältnisse neue Motivation entstanden ist, das Potential des Fachbereichs in Forschung und Lehre besser zur Geltung zu bringen, wie auch die Professoren der »ersten Stunde« ihre Kräfte eingesetzt haben, um die Fakultät zu einer geachteten Lehr- und Forschungsstätte aufzubauen.

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Acham, Karl 180 Akervall, Lisa 116, 120 Akurgal, Ekrem 13 Albach, Horst 188 Alexander der Große 28 Alexander, Meta 8 Alsdorf, Ludwig 47 Andrae, Walter 25, 32, 34, 39 Antoine, Herbert 150 Arndt, Helmut Hoyer 148, 154, 161, 177, 196 Arndt, Klaus Dieter 154 Artaxerxes 28 Asper, Helmut G. 60, 97 Augustus 16, 19 Badenhausen, Rolf 65, 99 Bai, Gang 56 Bakels, Jan-Hendrik 118, 120 Bakker, Hans T. 48 Balázs, Béla 108 Balbir, Nalini 50 Balensiefen, Lilian 19 Balme, Christopher 97 Barck, Karlheinz 75, 93, 98 Bareis, Hans Peter 197 Barthes, Roland 102 Bartolomei-Guercovich, Maria 69, 93 Baske, Siegfried 7 Baßeler, Ulrich 195 Baudry, Jean-Louis 106 Baumgart, Wolfgang 62, 93 Bautze, Joachim K. 40, 47, 48 Bazin, André 110, 126 Behrens, Karl Christian 148, 156, 160, 161, 174, 175, 177, 196 Behrens, Michaela 134, 177 Bellour, Raymond 113 Benda, Ernst 8

Benjamin, Walter 106 Benz, Wolfgang 180 Berg, Jan 98, 107 Berger, Kurt 135 Berns, Christof 21 Berthold, Norbert 176, 177 Besser, Ursula 7 Bester, Helmut 194 Betz, Connie 110, 122 Bittel, Kurt 13 Blankertz, Herwig 153, 159 Bleicher, Knut 155, 195 Boehm, Gottfried 84 Boehmer, Rainer M. 23 Boehringer, Erich 13 Bolte, Karl Martin 178 Bonn, Moritz Julius 128, 174, 175 Boor, Helmut de 52 Bopp, Franz 51 Borbein, Adolf Heinrich 11, 14, 17, 19, 20, 22 Börker, Christoph 13, 23 Bormann, Hans-Friedrich 82, 93 Boyens, Walter 135 Brandenstein, Wilhelm 52 Brands, Gunnar 19 Brandstetter, Gabriele 82, 83, 84, 85, 87, 91, 94 Brandt, Willy 179 Brauer, Max 136 Breughel, Pieter 28 Breunig, Werner 126, 178 Brinkmann, Carl 162 Bruhn, Klaus 39, 41, 42, 43, 47, 48 Brüstle, Christa 94 Buchholz, Hans-Günter 13 Buddensieg, Tilmann 179

Personenregister

Bulgakowa, Oksana 110 Bülow, Friedrich 133, 138, 139, 140, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 148, 156, 160, 161, 178, 181, 196 Büning, Herbert 190 Butzenberger, Klaus 40, 44, 48 Cage, John 82, 93 Chats, Inna 56 Chepurov, Alexander 74 Chmielewicz, Klaus 195 Claessens, Dieter 145, 178 Coats, A. W. Bob 168, 178, 179 Cohen-Séat, Gilbert 102 Collier, Irwin 194 Conradt, Gerd 107 Cürlis, Hans 103, 121 Curtis, Robin 114, 116, 121, 122 Curtius, Ernst 12 Czirak, Adam 80, 94 Dahrendorf, Gustav 127 Daiber, Hans 72, 94 Dally, Ortwin 19, 21 Dalügge, Marina 77, 94 Deleuze, Gilles 90, 111, 113, 118 Devrient, Eduard 62, 94 Didi-Huberman, George 87 Diedrich, Willi 7 Dlugos, Günter 195 Döge, Ulrich 103, 121 Dörschel, Alfons 153, 158, 161, 178 Dovifat, Emil 103 Draht, Martin 133, 134, 135, 137, 142 Dulles, Eleanor 193 Durr, M. 47 Düwell, Kurt 179 Ebbrecht, Tobias 112, 121 Eckert, Rainer 55 Egert, Gerko 94 Ehlers, Gerhard 40, 44, 48 Eich, Wilhelm 131, 133, 142, 147, 154, 172, 196 Eicher, Thomas 68, 94

200

Eichner, Karl 8 Eimer, Helmut 47 Eisenstein, Sergej 108 Elsaesser, Thomas 87, 113 Elsner, Kurt 196 Endres, Walter 196 Eschbach, Norbert 21 Eylau, Johannes 129, 135 Eynern, Gert von 135, 144, 163, 164, 172 Fabricius, Johanna 20, 21 Falk, Harry 40, 41, 42, 48 Farocki, Harun 110 Fase, Martin M. G. 180 Fels, Edwin 135, 178 Felten, Uta 94 Feyer, Ursula 54 Fichter, Tilman 60, 97 Fiebach, Joachim 97 Fijalkowski, Jürgen 145 Fischer, Wolfram 150, 178, 196 Fischer-Lichte, Erika 59, 61, 74, 75, 76, 77, 85, 86, 88, 89, 91, 92, 94, 105, 110 Fleck, Wolfgang 143, 175 Fless, Friederike 20, 21 Foellmer, Susanne 90, 96 Fontius, Martin 75, 93, 98 Förster, Wolfgang 152, 173 Förster-Steinbrück, Eva 134 Forstmann, Albrecht 131, 133, 134, 137, 138, 172 Franzkeit, Susanne 10 Freygang, Harry 134 Fricke, Johannes 125 Friedländer, Walter 167 Friedrich, Johannes 11, 12, 13, 14, 15, 19, 22, 24, 29, 30, 32, 39, 51, 53, 59, 82, 93, 94, 97, 99, 110, 129, 131, 133, 136, 154, 160, 162, 170, 178, 181, 196 Fritz, Matthias 56, 57, Siehe Froundjian, Bedros 54 Fuchs, Michaela 19

Personenregister

Fuller, Loїe 83 Furth, Peter 9 Furth-Heilmann, Eva 8 Gablentz, Otto-Heinrich von der 135, 143, 144, 146, 163, 172, 178 Gaehtgens, Peter 7 Gaertner, David 101, 119, 121 Gail, Adalbert J. 39, 40, 41, 44, 46, 47, 48 Galli-Bibiena, Alesssandro 65 Garbers, Hermann 197 Gebhard, Walter 94 Gehlen, Arnold 154 Gerhard, Eduard 12 Gerlach, Johann W. 7 Germer, Karl J. 128, 179 Ghattas, Nadia 94 Gippert, Jost 55 Gisbert, Erich 135 Giuliani, Luca 18 Glanz, Alexandra 65, 96 Glöde, Marc 114, 121, 122 Gniffke, Erich Walter 127, 179 Godard, Jean-Luc 107 Goerdeler, Carl 128, 141 Goethert, Friedrich Wilhelm 11, 13, 14, 22 Grapow, Hermann 25 Grob, Norbert 107, 109, 121 Grochla, Erwin 153, 156, 164, 193 Gronmaier, Danny 101 Groß, Bernhard 116, 121, 122 Grotefend, Georg Friedrich 29 Grotewohl, Otto 127, 179 Grotkopp, Matthias 118, 121 Güntert, Hermann 52 Gutenberg, Erich 168, 193 Gvozdev, Alexander 74 Haas, Hans 51 Haase 130 Haase, Norbert 179 Haedrich, Günther 185

Hagemann, Harald 136, 159, 168, 179 Hajnal, Ivo 56 Hamm, Frank-Richard 39, 47, 48 Handschuck, Martin 134, 179 Hanfmann, George M. A. 19 Hänsel, Bernhard 54, 55 Hansen, Olaf 41, 53, 54 Hansen, Ursula 193 Harbage, Alfred 66, 96 Hartel, Herbert 39, 41, 46, 48 Hartwich, Horst 7 Haug, Wolfgang Fritz 9 Haupts, Tobias 101 Haussherr, Reiner 9 Heertje, Arnold 192 Heilmeyer, Wolf-Dieter 14, 16, 20 Heimann, Eduard 162, 164 Heimann, Siegfried 178 Heintzen, Markus 195 Hempel, Carl C. 193 Hennig, Anke 115, 122 Hennig, Ursula 8 Hensel, Monica 178 Herbst 126, 131 Herbst, Andreas 178 Herbst, Ludolf 181 Herrmann, Max 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 67, 74, 96 Herz, Hanns-Peter 8 Heymann, Wilhelm 130, 135 Heynitz, Wolfram von 135 Hickethier, Knut 107, 108, 109 Hiener, Gloria Olcese 19 Hierle-Granger, Margarete 150 Hiersche, Rolf 53 Hildebrandt, Rolf 178 Hilprecht, H. 39 Himmler, Heinrich 139 Hintze, Almut 55 Hintze, Werner 96 Hirsch, Ernst E. 165, 185 Hirsch, Julius 166, 174, 175 Hirschman, Albert O. 193

201

Personenregister

Hirt, Aloys 12 Hitler, Adolf 139 Hoenigswald, Henry 54 Hoepfner, Wolfram 17, 20 Hoepfners, Wolfram 23 Hoffmann, Hilmar 104, 122 Hoffmann, Karl 52 Hoffmann, Lutz 187 Hofmann, Erich 52 Hofter, Mathias René 19 Hohenberger, Eva 116, 122 Horn, Christian 77, 95, 96 Hubertus, Hubertus 179 Humbach, Helmut 52 Humboldt, Wilhelm von 30, 54 Illger, Daniel 116, 121 Ingarden, Roman 64, 97 Jahn, Bruno 181 Jahn, Georg Max 132 Januschas, Norbert 53, 55 Johnson, Howard W. 133 Jonas, Friedrich 154 Jordan, Hans-Jürgen 53 Jöris, Stephan 98 Kade, Gerhard 155 Kalischer, Wolfgang 8 Kamitz, Reinhard 187 Kanning, Walter 180 Kanzog, Klaus 110 Kappelhoff, Hermann 101, 111, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 121 Karstien, Carl 52 Keilbach, Judith 112, 116, 121, 122 Keilhacker, Martin 103 Kellerer, Hans 149 Kellner-Heinkele, Barbara 9 Kempner, Robert W. 140 Kewitz, Helmut 8 Keynes, John Maynard 153, 171 Kienast, Dietmar 53 Kienle, Richard von 52, 53, 54 Kieser, Alfred 197 Kindermann, Heinz 62, 97

202

Kirsch, Mechthild 60, 97 Kittler, Friedrich 110 Klanberg, Frank 197 Kleikamp, Anna (geb. Kletzin) 126 Kleikamp, Gustav 126 Kleikamp, Karl 125, 126, 127, 128, 129, 130, 132 Kleikamp, Katharine (geb. Kirchner 128 Klein, Gabriele 14, 94 Kleinaltenkamp, Michael 185, 194 Klengel-Brandt, E. 37 Klier, Helmar 61, 67, 96, 97, 98 Klier, Siegfried 107 Kloidt, Heinrich 152, 169, 179 Klug, Oskar 134, 140, 141, 163 Knoll, Ernst 129, 135 Knorr, Heinz 62 Knudsen, Hans 59, 60, 62, 72, 97 Koch, Christoph 55 Koch, Gertrud 101, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 121, 122 Koch, Woldemar 148, 154, 196 Koebner, Thomas 110 Köhler, Claus 149 Köhler, Henning 8 Kolbe, Wilhelm 150 Koldewey, Robert 31, 32 Kolesch, Doris 61, 74, 81, 82, 95, 97 Kolms, Heinz 134, 148 König, René 145, 179 Konrad, Kai A. 194 Korres, Manolis 19 Kosiol, Erich 133, 138, 142, 149, 152, 153, 154, 155, 156, 158, 160, 162, 164, 168, 169, 170, 172, 173, 178, 179, 181, 195, 196 Kotowski, Georg 8 Koutcharian, Gerayer 55

Personenregister

Kracauer, Siegfried 103, 106, 110, 122 Krahe, Hans 52, 53, 56 Krämer, Gudrun 9 Krappe, Edith 132 Krause-Junk, Gerold 197 Krell, Gertraude 194 Krengel, Rolf 131, 179 Kreps, Theodore J. 166 Kreuder, Friedemann 95 Kreuzer, Gundula 97 Krohn, Claus-Dieter 159, 179 Kröll, Katrin 77, 89 Kron, Uta 18 Kruschwitz, Lutz 194, 195 Kubicki, Karol St. 178 Kubicki, Stanislaw Karol 2, 3, 7, 8, 10 Kuhbier, Peter 194 Künßberg, Eberhard Freiherr von 52 Küpper, Joachim 112 Kuss, Alfred 194 Kutscher, Arthur 60, 63 Küttner, Michael 187 Kyrieleis, Helmut 17 Landauer, Carl 166 Landsberg, Kurt 130 Lange, Richard 135, 142 Langen, Heinz Axel 153 Langner, Martin 21 Lankisch, Eva 173, 179 Lanzenauer, Christoph Haehling von 185, 194 Lehmann, Frank 125 Lehmann, Hans-Thies 87 Lehmann, Hauke 118, 122 Lenssen, Claudia 107 Lenz, Joachim 191 Leuschner, Wilhelm 128 Lie, Sulgi 112, 122 Lieber, Hans-Joachim 145 Limbach, Jutta 9 Lindelaub, Horst 150 Lingenfelder, Michael 181

Linhardt, Hanns 149, 154, 196 Littmann, Konrad 148 Littmann, Ulrich 8 Löbner, Walther 158 Locker, Ernst 52 Loewenthal, Siegfried 129 Lommel, Herman 54 Lönnendonker, Siegward 2, 3, 7, 8, 10, 60, 97 Lorenz, C. 127 Lorenz, Detlef 155 Lough, John 66, 97 Lübtow, Ulrich von 134, 135, 142 Lüders, Marie-Elisabeth 134 Lürssen, Eduard 51 Lütge, Friedrich 162, 170 Lutt, Jürgen 41 Malliaropulos, Dimitrios 192 Mann, Fritz Karl 162 Mantel, Peter 149, 179 Marc Aurel 15 Martin, Heinz Günther 16, 40, 75, 193 May, Walter 133 Mayntz, Renate 145 Mayrhofer, Manfred 56 Mead, Gerorge Herbert 67 Meier-Brügger, Michael 56 Melchinger, Siegfried 68, 98 Mellerowicz, Konrad 149, 175 Menke, Christoph 112 Meringer, Rudolf 56 Mertsch, Fritz 136, 149, 164 Metzner, Max 135, 163 Mevissen, Gerd j. r. 41 Meyer, Konrad 139, 140, 179 Michael, Friedrich 62, 72, 94, 97 Mielsch, Harald 14, 18 Mierendorff, Marta 60, 97 Milich, Günter 131, 135 Möbius, Janina 73, 97 Möller-Zeidler, Sabine 97 Möller-Zeitler, S. 69

203

Personenregister

Moltke, Helmuth James Graf von 137 Moortgat, Anton 23, 24, 25, 33, 37 Moortgat-Correns, Ursula 9, 23, 24 Morsch, Thomas 101, 119, 122 Mosolff, Hans 152 Mövius, Ruth 60 Mühl-Benninghaus, Wolfgang 97 Müller, Achatz von 84 Müller, Cornelia 117 Münke, Stephanie (vormals Witt) 136 Münzner, Hans 149, 153, 196 Musgrave, Richard Abel 167 Naeve, Peter 197 Nebukadnezar II 30 Nebukadnezar II. 28 Nehlert, Gerhard 135 Nehring, Alfons 52 Neidhardt, Friedhelm 178 Nespital, Helmut 39, 40, 45, 46, 49 Nessel, Sabine 111 Nestriepke, Siegfried 62 Neumann, Franz 128 Neumann, Gerhard 94 Neumann, Manfred J. M. 197 Neumark, Fritz 193 Nicolas, Marcel 149 Niessen, Carl 63 Nörr, Knut Wolfgang 180 Oppenheim, Max Freiherr von 24, 31 Oppenheimer, Franz 164 Otto, Heinz 150, 181 Overhoff, Caroline 69, 97 Paech, Joachim 104, 122 Pahlke, Jürgen 155 Panse, Barbara 68, 69, 73, 94, 97 Paul, Arno 52, 63, 66, 67, 98, 106 Paulsen, Andreas 134, 138, 140, 141, 142, 147, 149, 153, 154,

204

161, 163, 164, 168, 170, 171, 172, 174, 178, 180, 181, 195, 196 Pehle, Walter H. 180 Peters, Sibylle/Sybille 84, 94 Pfeiffer, Martin 40, 43, 49 Pflug, Isabel 95 Pinnow, Hans-Jürgen 48, 53 Pinnow, Heinz-Jürgen 39, 40, 42, 43, 47, 49, 53 Piper, Klaus 55 Pischel, Christian 101, 118, 122 Pleiß, Ulrich 153, 158, 180 Plessner, Hellmuth 72, 78 Plinke, Wulff 185, 193 Pogodda, Cilli 101, 119, 121 Pohmer, Dieter 154 Polla, Silvia 21 Pritzwald, Kurt Stegmann von 52 Propp, Vladimir Jakovlevič 43 Prümm, Karl 70, 108, 109, 110, 121 Quaresima, Leonardo 103, 122 Rancière, Jacques 116, 122 Recknagel, Ruth 8 Reddewig, Georg 150 Redslob, Edwin 23, 133 Reichenkron, Günter 51, 52 Reif, Hans 128, 129, 130, 131, 136, 172 Remmert, Heiner 98 Rendtel, Ulrich 196 Renger, Johannes 37 Reus, Sebastian 98 Reuter, Ernst 136, 138, 192, 193 Rieken, Elisabeth 56 Rieter, Heinz 9, 125, 126, 128, 130, 131, 132, 133, 135, 136, 139, 148, 149, 150, 161, 168, 173, 175, 180 Risch, Ernst 52, 56 Rischbieter, Henning 68, 70, 94, 98, 108, 110 Risi, Clemens 85, 86, 94, 95, 96, 97, 98

Personenregister

Ritter, Hans-Peter 55 Ritter, Ralf-Peter 55 Ritterbusch, Paul 139, 180 Robinsohn, Hans 136, 192 Rodenwaldt, Gerd 13 Rodenwaldt, Gerhart 13, 14, 25 Rögnitz, Hans 150 Rogowsky, Bruno 148 Roselt, Jens 80, 95, 98 Rößler, Detlef 18 Rössler, Ruth Kristin 128, 180 Rothöhler, Simon 112, 122 Röttger, Kati 69, 98 Rühl, Günter 150 Ruhland, Gustav 139 Rumscheid, Frank 19 Sachs, Hans 65 Salin, Edgar 140 Sander 99 Sassin 130 Sassin, Horst R. 180 Schack, Herbert 135 Scheer, Christian 181 Schefold, Bertram 180 Schefold, Bertram 160, 180 Schefold, Bertram 180 Scheller, Meinrad 52 Schenk, Hans-Otto 175 Schilcher, Rudolf 153, 168, 170, 171, 180 Schilling-Voß, Fritz-Adolf 150 Schlerath, Berndfried 54, 55 Schlerath, Bernfried 54, 55 Schlösser, Rainer 59 Schmähl, Wilfried 197 Schmidt, Erika E. 13, 14 Schmidt, Gernot 53 Schmidt, Johannes Friedrich Heinrich 52 Schmidt, Ralf-Bodo 155 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 9 Schneeweiß, Christoph 197 Schneider, Dieter 132, 168, 176, 181

Schneider, Erich 160, 167, 171, 179, 193 Schneider, Lambert 17 Schobert, Walter 104, 122 Scholl, Andreas 17, 19, 21 Scholz, Friedrich 129, 181 Schouten, Sabine 94 Schrader, Hans 129 Schramm, Helmar 75, 76, 77, 80, 81, 98 Schreyögg, Georg 194, 195 Schröder, Nele 22 Schüler Witte, Ursulina 15 Schüler, Hans 15 Schultz, Bruno 149 Schulze, Wilhelm 51, 52 Schumacher, Kurt 131 Schumpeter, Joseph A. 167 Schütze, Roland 192 Schwab, Lothar 107 Schwalbach, Joachim 187, 193 Schwarz, Gerhard 130 Schwarz, Stephanie 94 Schwarzmaier, Agnes 19 Schweitzer, Marcell 195 Schwennicke, Carl-Hubert 130 Schwyzer (ursprünglich Schweizer), Eduard 51, 52 Schwyzer (ursprünglich Schweizer), Eduard 51, 52 Seiler, Hansjakob 52 Selten, Reinhard 172 Sembach, Klaus-Jürgen 179 Seume, Franz 131 Severin, Hans-Georg 18 Shakespeare, William 66 Sierek, Karl 110 Simmat, Gisela 9, 183 Sittig, Ernst 52 Snell, Bruno 53, 56 Sollich, Robert 88, 96, 98 Spann, Othmar 144 Staehle, Wolfgang 197 Stahlknecht, Peter 197

205

Personenregister

Stammer, Otto 143, 144, 145, 146, 172, 174, 178, 181 Stammler, Rudolf 130 Steinbach, Peter 179 Steinbeck, Dietrich 63, 64, 66, 67, 98 Steiner, G. 49 Stemmer, Klaus 15, 16 Stockhorst, Erich 129, 181 Stoye, Martina 47 Strassmann, Ernst 129, 130, 179, 180 Strebel, Heinz 197 Streiter, Anja 116, 121 Strocka, Volker-Michael 14 Strümpel, Burkhard 197 Stüttgen, Günter 8 Suhr, Otto 144 Surányi-Unger, Theodore 166 Swarzenski, Alexander 135 Szemerényi, Oswald 52 Szyperski, Norbert 156 Tecklenburg, Nina 80, 98 Tedjasukmana, Christian 116, 122 Tent, James F. 35, 36, 37, Thalheim, Karl Christian 147, 155, 156, 158, 160, 161, 165, 167, 172, 173, 174, 179, 181, 196 Thieme, Paul 52 Thierse, Wolfgang 75, 93, 98 Thieß, Erich 149, 159 Thorau, Henry 69, 98 Tiburtius, Joachim 131, 132, 133, 137, 138, 142, 147, 149, 153, 156, 163, 164, 166, 172, 174, 175, 181, 196 Tillmann, Hugo 135 Tinbergen, Jan 166 Tornow, Hans 135 Törnquist, Gerhard 166 Trautwein, Hans-Michael 180 Triebenstein, Olaf 164, 181 Trillmich, Walter 13

206

Tripathi, Chandrabhal B. 39, 40, 41, 42, 43, 45, 48, 49 Trümper, Monika 21 Tuchel, Johannes 179 Ulbricht, Walter 179 Umathum, Sandra 87, 98 Vahldiek, Werner 135 Vasmer, Max 52 Veksina, Marina 56 Vierhaus, Rudolf 131, 181 Vöhler, Martin 116, 121 Völckers Hortensia 94 Völckers, Hortensia 94 Vollrodt, Werner 154 Voss, Christiane 115, 116, 121, 122 Wähler, Klaus 8, 9 Waldschmidt, Ernst 42, 48 Walker, Donald A. 180 Walter, Gert 125 Warburg, Aby 83 Warstat, Mathias 77, 87, 89, 92, 93, 95, 98 Weber, Alfred 162 Weber, Hans 13 Weber, Max 23, 159 Wedig, Wilhelm 170, 172, 181 Wehner, Herbert 179 Weiler, Christel 61, 74, 89, 91, 92, 95 Weiss, Dieter 187 Weizsäcker, Ernst von 125 Welzing-Bräutigam, Bianca 131 Wengler, Wilhelm 135, 137, 142 Wesel, Uwe 9 Westermann, Dietrich 54 Wetzel, Wolfgang 153, 193 Wicclair, Walter 60, 97 Wihstutz, Benjamin 87, 96, 99 Wilhelm II. 12 Wilrich, Peter Theodor 196 Winckelmann, Johann Joachim 19, 20 Winkler-Horacek, Lorenz 15, 22 Wissmann, Wilhelm 51, 52

Personenregister

Witt, Stephanie (später Münke) 136 Witte, Eberhard 155, 168, 169, 181, 195 Witte, Karsten 73, 114, 115, 119, 121, 127 Wolfstetter, Elmar 193, 194 Wolters, Jürgen 194 Wortelkamp, Isa 90, 99 Wulf, Christoph 21, 94 Wulf, Joseph 59, 60, 99

Wulf-Rheidt, Ulrike 21 Wünsche, Günther 159 Xander, Harald 95 Yaldiz, Marianne 46 Zeitel, Gerhard 154 Ziegfeld, A. Hillen 173, 181 Zielske, Harald 63, 65, 66, 96, 99 Zimmer, Gerhard 18 Zimmer, Stefan 55 Zimmermann, Klaus F. 188 Zubarik, Sabine 94

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