Berlin – Finanzierung und Organisation einer Metropole: Ringvorlesung der Fachbereiche Rechts- und Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin im Sommersemester 2005 [1 ed.] 9783428518937, 9783428118939

Der Band fasst in leicht überarbeiteter Form elf Vorträge zusammen, die im Sommersemester 2005 an der Freien Universität

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Berlin – Finanzierung und Organisation einer Metropole: Ringvorlesung der Fachbereiche Rechts- und Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin im Sommersemester 2005 [1 ed.]
 9783428518937, 9783428118939

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Studien und Gutachten aus dem Institut für Staatslehre, Staats- und Verwaltungsrecht der Freien Universität Berlin Heft 18

Berlin – Finanzierung und Organisation einer Metropole Ringvorlesung der Fachbereiche Rechts- und Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin im Sommersemester 2005

Herausgegeben von

Ulrich Baßeler, Markus Heintzen und Lutz Kruschwitz

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

U. Baßeler / M. Heintzen / L. Kruschwitz (Hrsg.)

Berlin – Finanzierung und Organisation einer Metropole

Studien und Gutachten aus dem Institut für Staatslehre, Staats- und Verwaltungsrecht der Freien Universität Berlin Heft 18

Berlin – Finanzierung und Organisation einer Metropole Ringvorlesung der Fachbereiche Rechts- und Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin im Sommersemester 2005

Herausgegeben von

Ulrich Baßeler, Markus Heintzen und Lutz Kruschwitz

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0409-1426 ISBN 3-428-11893-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Dieser Band fasst elf Vorträge zusammen, die im Sommersemester 2005 an der Freien Universität Berlin im Rahmen der Ringvorlesung zum Thema „Berlin – Finanzierung und Organisation einer Metropole“ gehalten worden sind. Die Vorträge sind für die Drucklegung teilweise etwas überarbeitet und aktualisiert worden. Die Fachbereiche Rechts- und Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin führen seit einigen Jahren Ringvorlesungen durch, die sich mit aktuellen und grundlegenden Problemen aus juristischer und ökonomischer Perspektive auseinander setzen. Die finanzielle Krise des Landes Berlin ist ein Thema, das sich für eine solche Veranstaltung geradezu aufdrängt. Es ging in der Ringvorlesung jedoch nicht nur um die finanzielle Perspektive der Stadt, sondern auch um die Frage, wie man eine Metropole und deren Verwaltung organisieren kann. Die Herausgeber danken den elf Referenten, dass sie ihre Vorträge für die Veröffentlichung in diesem Buch zur Verfügung gestellt haben. Alle Beteiligten haben sich strikt an die engen Zeitvorgaben gehalten, wofür wir besonders dankbar sind. GÖRG Partnerschaft von Rechtsanwälten, Berlin, die Deutsche Bundesbank sowie PwC Deutsche Revision haben das Projekt finanziell gefördert. Auch dafür wollen wir uns gern bedanken. Berlin-Dahlem, im Sommer 2005

Ulrich Baßeler Markus Heintzen Lutz Kruschwitz

Inhaltsverzeichnis Ulrich Baßeler, Markus Heintzen und Lutz Kruschwitz Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Thilo Sarrazin Finanzpolitische Perspektiven für Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Harald Wolf Strukturwandel zur Metropole: Perspektiven nach dem Ende der Subventionswirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Manfred Röber Ist die Berliner Verwaltung noch zu retten? Werkstattbericht aus dem Projekt „Europäische Metropolen im Vergleich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Michael Heine Zielkonflikte zwischen regionaler Konsolidierungs- und makroökonomischer Stabilisierungspolitik: das Beispiel Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Volker Halsch Berlin im Geflecht der Bund / Länder-Finanzbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Helmut Seitz Finanzpolitische Herausforderungen an das Land Berlin bis zum Jahr 2020 . . . . . . . . .

99

Wolfgang Wieland Kein Land in Sicht, oder die hohe Kunst der Verschleppung einer notwendigen Fusion von Berlin und Brandenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117

Gunnar Folke Schuppert Regierbarkeitsprobleme von Großstädten am Beispiel Berlins – Überlegungen zu Metropolitan Governance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131

Joachim Wieland Die „extreme Haushaltsnotlage“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Normenkontrollantrag Berlins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

173

8

Inhaltsverzeichnis

Andreas Musil Probleme und Perspektiven bezirklicher Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185

Peter Dussmann Überlegungen eines Berliner Unternehmers zur privaten Finanzierung einer Staatsoper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

203

Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207

Autoren- und Herausgeberverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einführung Von Ulrich Baßeler, Markus Heintzen und Lutz Kruschwitz

Seit der Wiedervereinigung Deutschlands im Herbst 1990 hat Berlin damit begonnen, wieder eine international offene Metropole1 zu werden. Der ersehnte, aber kaum noch für möglich gehaltene Fall der Mauer hat zugleich massive Probleme bei der Finanzierung und der Organisation dieser Stadt zu Tage treten lassen. Erlebte man unmittelbar nach 1990 in Berlin noch einen Boom, der den sofortigen Zusammenbruch der finanziellen Sonderstellung Ost-Berlins und die zu rasche Streichung der Bundeshilfen für West-Berlin überdeckt hat, so machte sich ab Mitte der 1990er Jahre Ernüchterung wegen der auf lange Zeit verlorenen Rolle als Wirtschaftszentrum und eine Weiter-wie-bisher-Haltung breit, aus der die Krise der Berliner Landesbank gegen Ende dieses Jahrzehnts herausriss; in einer dritten Phase versucht die Berliner Politik nun, den Haushalt, insbesondere die aus dem Ruder laufende Staatsverschuldung2, wieder in den Griff zu bekommen, und hofft auf eine ihr günstige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, vor dem das Land gegen den Bund wegen einer extremen Haushaltsnotlage mit dem Ziel klagt, weitere Bundesmittel zu erhalten; die Entscheidung könnte eine vierte Phase der Finanzpolitik des wiedervereinigten Berlins einleiten. Gleichzeitig erweist sich Berlin als eine ungewöhnlich preiswerte Metropole. – Die Organisation Berlins beruht nach wie vor wesentlich auf dem preußischen Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin vom April 1920; das Verhältnis von Haupt- und Bezirksverwaltung war Gegenstand von drei Verwaltungsreformen (1958, 1994 / 95, 1998); der föderale Stadtstaatenstatus könnte bei einem dauerhaften Scheitern der Länderfusion mit Brandenburg ein bleibendes Relikt aus den Zeiten der Teilung werden. Diese Ausgangslage gibt dem Thema der Ringvorlesung zwei Ebenen: eine aktuelle, auf der das Leitmotiv „Schulden“ heißt, und eine strukturelle, auf der es um eine metropolengerechte Binnenorganisation und um einen angemessenen 1 Zum Metropolenbegriff etwa Hans Joachim Kujath (Hrsg.), Knoten im Netz. Zur neuen Rolle der Metropolregionen in der Dienstleistungswirtschaft und Wissensökonomie, 2005. Zu Berlin Werner Süß (Hrsg.), Hauptstadt Berlin, Bd. 1: Nationale Hauptstadt. Europäische Metropole, 1994, Bd. 3: Metropole im Umbruch, 1996. 2 Nach Angaben der Berliner Senatsverwaltung für Finanzen (http: // www.berlin.de / sen / finanzen / haushalt / basis / index.html) sind die Schulden des Landes Berlin von 10,8 Milliarden Euro im Jahr 1991 auf 58,8 Milliarden Euro im Jahr 2005 gestiegen; 2009 sollen es über 68 Milliarden Euro sein. Vgl. auch Hans Willi Weinzen, Berlin und seine Schulden: ein Land auf der Flucht vor der Wirklichkeit?, 2003.

10

Ulrich Baßeler, Markus Heintzen und Lutz Kruschwitz

Platz im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland geht. Die zweite Frage ist für eine Metropole die klassische.3 In Berlin stellt sie sich konkret bei dem Verhältnis von Hauptverwaltung, insbesondere Senat, und Bezirksverwaltung. Die erste Frage ist die derzeit drängendere, ökonomisch wegen der galoppierenden Verschuldung des Landes, juristisch wegen der Klage, die das Land Berlin vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Bund wegen einer extremen Haushaltsnotlage erhoben hat. Dem Themenkomplex „Finanzen“ lassen sich die Beiträge von Halsch, Heine, Sarrazin, Seitz und Joachim Wieland zuordnen. Halsch und Sarrazin stellen als Politiker die unterschiedlichen Positionen von Bund und Land Berlin dar. Die Wissenschaftler Heine und Seitz bringen unterschiedliche volkswirtschaftliche Sichtweisen ein.4 Joachim Wieland, der Prozessbevollmächtigte des Landes Berlin vor dem Bundesverfassungsgericht in dem Verfahren um dessen extreme Haushaltsnotlage, befasst sich mit dem finanzverfassungsrechtlichen Rahmen, den das Grundgesetz vorgibt. Der Themenkomplex „Organisation“ steht im Vordergrund der Beiträge von Musil, Röber, Schuppert und – als einzigem Politiker in dieser Gruppe – Wolfgang Wieland. Wieland behandelt, mit einem skeptischen Grundton, die Aussichten auf eine Fusion der Bundesländer Berlin und Brandenburg. Bei Musil und Röber geht es, hier aus juristischer, da aus ökonomischer und verwaltungswissenschaftlicher Perspektive, um die organisatorische Kernfrage jeder Metropole: das richtige Verhältnis von Zentralisation und Dezentralisation, bei Röber mit einem Vergleich von Berlin mit London und Paris. Die Beiträge von Dussmann und Wolf entziehen sich einer eindeutigen Zuordnung zu einem der zuvor genannten Komplexe; ihr Thema ist für beide grundlegend. Wolf entwirft ein Bild von den ökonomischen Entwicklungsperspektiven einer Metropole Berlin nach dem Ende der Subventionswirtschaft. Dussmann veranschaulicht an der Staatsoper Unter den Linden, welche Rolle zivilgesellschaftliches Engagement spielen kann; der Beitrag schneidet die Fragen nach Existenz, öffentlicher Rolle und Verantwortung von Eliten in einer Metropole an. Der vorliegende Band erhebt keinen systematischen Anspruch. Die Dimension des Themas ist auch Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Umzug von Bundestag und Bundesregierung von Bonn noch Berlin noch nicht erschlossen. Der vorliegende Band will hierzu einen bescheidenen Beitrag leisten, indem er Aspekte des Themas anspricht, die den Herausgebern im Sommer 2005 als besonders aktuell und wichtig erschienen sind. 3 Hierzu schon Hans J. Wolff, Die Grundlagen der Organisation der Metropole, masch.schriftliche Dissertation, Universität Göttingen, 1925. 4 Eine hier noch denkbare historische Blickerweiterung erfolgt durch Harald Engler, Die Finanzierung der Reichshauptstadt. Untersuchungen zu den hauptstadtbedingten staatlichen Ausgaben Preußens und des Deutschen Reiches in Berlin vom Kaiserreich bis zum Dritten Reich (1871 – 1945), 2004.

Finanzpolitische Perspektiven für Berlin Von Thilo Sarrazin

I. Einleitung Es gibt etwas, das aus meinem Mund vielleicht erstaunlich klingt: Geld ist nicht alles! Wenn es da ist, ist es gut, gar nicht über Geld zu reden, sondern sich um Anderes zu kümmern, nämlich um Inhalte. Nur wenn das Geld nicht da ist oder wenn man es falsch ausgibt, ist ohne Geld alles nichts. Deshalb: Geld ist wie für den Motor das Öl. Wenn das Öl da ist, redet keiner davon; ist es nicht da, gibt es einen Kolbenfresser. Und darum sorgt man immer für einen ordentlichen Ölstand, wenn man nicht liegen bleiben will. Und in diesem Sinne sollen die folgenden Ausführungen verstanden sein. Weiterhin ist wichtig, dass man nicht in allem einer Meinung sein muss. Aber wenn am Ende allen deutlich wird, dass es einige unabänderliche Wahrheiten gibt, wenn man über die öffentlichen Finanzen redet, dann ist das schon viel.

II. Strukturdaten Berlins Das erste Schaubild enthält einige Daten über Berlin im Verhältnis zum übrigen Deutschland und auch über einige Eigenheiten in Berlin. Man kann hieraus sehen, dass Berlin eine Stadt ist mit sehr hoher Arbeitslosigkeit, mit sehr niedrigem Wirtschaftswachstum und mit den höchsten, aus dem Landeshaushalt finanzierten öffentlichen Ausgaben pro Einwohner überhaupt, 6.100 A pro Einwohner gegenüber einem Bundesdurchschnitt von 4.300 A pro Einwohner, mehr noch als zum Beispiel Hamburg, weitaus mehr als Bayern oder auch Nordrhein-Westfalen. Das muss man sich immer vor Augen führen, denn schließlich können Nordrhein-Westfalen, zur Zeit sozialdemokratisch regiert, oder Bayern, seit 50 Jahren regiert von der CSU, mit 30 % weniger Geld ein funktionierendes Staatswesen hinstellen, das reicher ist als das Berliner Staatswesen. Als Flächenbundesländer müssen beide übrigens wesentlich mehr ausgeben, wo es auf die Länge von Wegen ankommt, z. B. im Straßenbau. Bei um 50 % höheren Ausgaben kann es dann in Berlin nicht sein, dass der Mangel ausbricht, wenn irgendwo etwas eingespart wird. Um das zu erkennen, reicht es, sich mit elementaren Zahlen zu beschäftigen. Das Tragische ist: Wenn die Ausgaben verglichen werden mit den Schulden, sollte man doch mei-

12

Thilo Sarrazin

nen, wer zwar viel ausgibt, aber auch viel einnimmt, dürfte doch nicht mehr Schulden haben als die anderen. Das ist aber nicht der Fall. Berlin hat gleichzeitig einen gewaltigen Schuldenstand angehäuft, 18.100 A pro Einwohner, im Verhältnis zu 3.300 A pro Einwohner in Bayern. Und das ist das eigentliche Thema. Schulden an sich – das heißt, wenn sie zins- und tilgungsfrei wären – wären noch kein Problem. Quasi Tilgungsfrei sind staatliche Schulden übrigens immer, sie werden nur umgeschuldet. Aber man muss für sie Zinsen zahlen, und das, was Berlin an Zinsen zahlt, ist das, was hier fehlt für andere Aufgaben. 2,3 Mrd. A zahlt im Augenblick Berlin jährlich an Zinsen. Zum Vergleich: Für alle unsere Hochschulen geben wir zusammen 1,4 Mrd. A im Jahr aus, 270 Mio. A davon für die Freie Universität Berlin. Bayern zum Beispiel, mit wesentlich weniger Schulden und damit wesentlich weniger Zinsen, hat – trotz ähnlicher Einnahmeverhältnisse – mehr Möglichkeiten, Geld so auszugeben, dass es den Bürgern des Landes zugute kommt. Solange der Zinssatz höher ist als die durchschnittliche Wachstumsrate der Wirtschaft, das ist ein eherner ökonomischer Grundsatz, machen Schulden ärmer und nicht reicher. Als Kernsatz zusammengefasst: Was an zusätzlichen Einnahmen heute, bei einem Wachstum von nominal von 2 bis 3 % und Zinsen von 3 bis 5 %, erkauft wird über zusätzliche Schulden, muss morgen oder übermorgen doppelt und dreifach durch weitere Einsparungen zurückgezahlt werden. Wenn dagegen jetzt eingespart wird, ist das die Basis, um für die Zukunft Ausgabemöglichkeiten zu sichern. Das eine oder andere Detail dieses Beitrags vor diesem Hintergrund zu sehen, fördert das Verständnis. Hierauf wird am Schluss zurückzukommen sein. Senatsverwaltung für Finanzen

Strukturdaten

Berlin

Hamburg

Bremen

Bayern

NRW

Länder

Bevölkerungsstruktur 0 bis 18 Jahre

16,2%

16,1%

16,7%

19,4%

19,3%

18,6%

18 bis 65 Jahre

68,8%

66,8%

64,5%

64,1%

63,3%

64,3%

65 Jahre und älter

15,0%

17,1%

18,8%

16,5%

17,4%

17,1%

Sozialdaten Arbeitslosenquote 2004

17,6

9,7

13,3

6,9

10,2

10,5

Arbeitslose je offener Stelle

33,1

11,3

12,6

7,9

13,5

12,3

Erwerbstätige je 1000 Einwohner

418

453

408

473

416

438

Industriebeschäftigte je 1000 Einwohner

30

53

90

92

70

71

Sozialhilfeempfänger je 1000 Einwohner *)

74

70

89

18

36

33

13,1%

14,8%

12,5%

9,5%

11,0%

8,9%

0,4%

1,5%

1,0%

2,3%

1,3%

1,7%

-8,7%

15,7%

9,6%

20,4%

9,0%

12,0%

Ausländerquote Wirtschaft Reales Wirtschaftswachstum 2004 (BIP) Reales Wirtschaftswachstum 1995 bis 2004 Bruttoinlandsprodukt je Einwohner 2003

© Senatsverwaltung für Finanzen Berlin 2005

Export je Einwohner 2003

22 700 €

44 800 €

34 900 €

30 300€

26 000 €

25 800 €

2 700 €

11 300 €

16 600 €

8 600 €

6 700 €

8 000 €

6 100 €

5 600 €

6 100 €

4 200 €

4 300 €

4 300 €

18,9%

8,2%

28,0%

4,7%

8,0%

8,9%

18 100€

13 800 €

20 000€

3 300 €

7 500 €

7 400€

Landeshaushalt Soll 2005 Landesausgaben je Einwohner **) Defizitquote ***) Schuldenstand je Einwohner

Quelle: Statistisches Bundesamt, Bundesagentur für Arbeit, eigene Berechnungen. Teilweise geschätzt. Werte gerundet, Bevölkerungsstruktur und Sozialdaten jeweils letztverfügbarer Stand ( 2003 bzw. 2002) *) laufende Hilfe zum Lebensunterhalt **) einschließlich kommunaler Ebene; bereinigt um LFA ***) Finanzierungsdefizit im Verhältnis zu den Ausgaben; Landeshaushalt einschl. kommunaler Ebene. Bremen ohne Sanierungs-BEZ Finanzpolitische Perspektiven Folie 1

Schaubild 1

Finanzpolitische Perspektiven für Berlin

13

III. Wirtschaftswachstum in Berlin im Kontext deutscher und internationaler Entwicklungen Das Berliner Wirtschaftswachstum liegt seit 1991 weit unter dem ohnehin schwachen bundesdeutschen Durchschnitt. An dem zweiten Schaubild kann man sehen, dass – bedingt durch den Bauboom Anfang der Neunziger Jahre – die Berliner Wachstumsraten zunächst einen kleinen Hüpfer machten. Mittlerweile ist die wirtschaftliche Aktivität in Berlin aber wieder auf dem Niveau des Jahres 1991 angekommen, während Deutschland in der Zwischenzeit insgesamt um knapp 20 % wuchs. Und das ist natürlich für die öffentlichen Haushalte in der Stadt ein Problem. Wo es kein Wachstum gibt, gibt es zu wenig Arbeitsplätze. Und wo es zu wenig Arbeitsplätze gibt, hat auch der Staat zu wenig Geld. Irgendwo hängt alles miteinander zusammen. Die Entwicklung in Berlin in den letzten 15 Jahren hat gezeigt, dass der Staat nicht mehr Wachstum erzeugt, indem er einfach mehr Geld ausgibt. Senatsverwaltung für Finanzen

Index Bruttoinlandsprodukt (1991 = 100) 119,5

120,0

Deutschland

117,9

Berlin 116,1

116,3

116,2

115,1

116,0 111,9

112,0 109,7 107,6

107,1

108,0 105,4

105,3 103,5

103,2

104,0

106,1

106,0

104,4 101,9

101,1

101,3

100,9

102,0 100,5

100,0

© Senatsverwaltung für Finanzen Berlin 2005

100,0 99,4 98,1

98,5

99,5

96,0 1991

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004 *)

2005 **)

Quelle: Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder, Stand Februar 2005 *) vorläufiges Ergebnis **) Prognose Finanzpolitische Perspektiven

Folie 2

Schaubild 2

Man muss dies auch in einen internationalen Zusammenhang stellen. Schaubild 3 ist zugegebenermaßen ein bisschen polemisch. Hier werden die Wachstumsraten von China über die USA und die EU bis hin zu Deutschland und Berlin gegenübergestellt. Die Wirtschaftskraft in China hat sich, ausgehend natürlich von einem niedrigen Niveau, in den zehn Jahren seit 1994 verdoppelt. In Polen oder Korea stieg sie um etwa die Hälfte, in den USA um 32 %, im Durchschnitt der EU um

14

Thilo Sarrazin

21 %, in Deutschland um knapp 13 %, und die Berliner Wirtschaftskraft ist seit dem Jahre 1994 um nahezu 6 % gesunken. In diesem Beitrag geht es nicht um die Ursachen fehlenden Wirtschaftswachstums in Berlin und das, was man daran zum Positiven ändern kann. Wirtschaftswachstum ist aber eine wichtige Vorgabe für die Finanzpolitik. Wer auf künftiges Wachstum nur hoffen kann, darf sich in der Gegenwart noch weniger verschulden als die, die fest davon ausgehen dürfen, dass sie die Schulden aus dem Ertrag des Wachstums morgen oder übermorgen wieder zurückzahlen können. Senatsverwaltung für Finanzen

Wachstumsdynamik im Zehn-Jahres-Zeitraum 1994 bis 2003 Veränderung des Bruttoinlandsprodukts in %

107,7 100,0

80,0

60,0

55,6 45,5

40,0

38,1 36,4 36,1 35,8 34,9 33,2 32,2

28,9 27,7 27,6 27,1

25,0

22,1 21,5 20,9 19,6 19,4

20,0

16,3

12,8 12,6 10,7

E Fr an U kr ei c Ös h te rre ich Be lg ien Ita lie n J De apa ut n sc hl an Sc d hw ei z Be rli n

-5,9

Ch in a Ko re a Po Au len st ra lie n Un ga Fi rn n Gr nla iec nd he nl an d Ka na d Sp a an ien U No SA rw e Sc gen hw ed en P Gr ortu oß g br al ita n Ni ed ien er l an Dä de ne m ar k

© Senatsverwaltung für Finanzen Berlin 2005

0,0

Quelle: OECD, Economic Outlook 74, Dezember 2003; eigene Berechnungen Finanzpolitische Perspektiven

Folie 3

Schaubild 3

IV. Schuldenstandsentwicklung in Berlin im Ländervergleich Berlin war, wie aus Schaubild 4 hervorgeht, im Jahre 1991 ein Land in Deutschland, das relativ wenig Schulden hatte. Der Schuldenstand in Berlin im Jahre 1991 lag leicht unter dem Niveau des Durchschnitts aller Bundesländer, nämlich bei 10,8 Mrd. A. Mittlerweile liegen die Schulden in Berlin bei dem Betrag von 56 Mrd. A, werden Ende diesen Jahres knappe 60 Mrd. A und im Jahre 2009 etwa 70 Mrd. A erreichen. Die schwarz gezogene Linie in der Graphik zeigt die Entwicklung im Durchschnitt aller Bundesländer (Länder-Benchmark). Ausgehend von Schulden, die pro Kopf etwa so waren wie im Bundesdurchschnitt, hat Berlin mittlerweile mehr als doppelt so viele Schulden wie dieser Bundesdurchschnitt und zahlt damit auch mehr als doppelt so viel Zinsen.

Finanzpolitische Perspektiven für Berlin

15

Senatsverwaltung für Finanzen

Schuldenstandsentwicklung 69 744 70 000

65 114 59 444

60 000

55 317

Länder-Benchmark

51 749

Mio €

50 000 42 384 40 000

34 812 31 344

30 000 23 868 16 053

© Senatsverwaltung für Finanzen Berlin 2005

21 900

19 500

18 000

17 300

15 600

10 815 10 000

27 800

26 400

24 500

20 000

13 800

11 100

1991

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

Quelle: Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen; ab 2005 Projektion. Schuldenstände unter Einschluss von Kassenkrediten Finanzpolitische Perspektiven

Folie 4

Schaubild 4

V. Entwicklung der Zinsausgaben seit der Wiedervereinigung Das Schaubild 5 zeigt, wie die Zinsausgaben in Berlin angewachsen sind. Im Jahr 1991 lagen die Berliner Zinsausgaben bei 537 Mio. A; die Schulden bestanden teilweise in unverzinslichen Darlehen des Bundes. 2004 haben die Zinsausgaben bei 2,3 Mrd. A gelegen. 2005 werden sie ein wenig niedriger sein als die in der Graphik angezeigten 2,6 Mrd. A – die Graphik gibt noch das Haushaltssoll wieder – und die Zinssätze sind weiter gefallen. Im Jahr 2009 erreicht die Zinsbelastung, die Berlin zu tragen hat, einen Wert über 3 Mrd. A. Man muss kein Ökonom sein, um sich das folgende Szenario auszumalen: Die Wirtschaft wächst nicht, die staatlichen Einnahmen wachsen auch nicht: die Steuereinnahmen sind ungefähr so hoch wie im Jahr 2000 und seitdem nicht mehr gewachsen. Gleichzeitig wachsen die Zinsen; allein das Anwachsen der Zinsen um 1,8 Mrd. A 1990 bis 2004 ist höher als die gesamten Hochschulausgaben des Landes Berlin (1,4 Mrd. A für alle Einrichtungen). Das bedeutet: Wenn insgesamt der Kuchen nicht oder kaum wächst, der Zinsanteil am Kuchen aber wächst, aus welchen Gründen auch immer, dann bleibt für den Rest weniger übrig. Die Aufgabe des Finanzsenators von Berlin ist es, dieses Weniger möglichst gerecht in der Stadt zu verteilen oder zumindest den Prozess, wie man sich darüber auseinander setzt, einigermaßen rational zu organisieren.

16

Thilo Sarrazin Senatsverwaltung für Finanzen

Zinsausgaben 3 099

2 936

3 000

2 783 2 617 2 632

2 500

2 313 2 194 2 255

Länder-Benchmark

Mio €

2 000 1 714

1 823

1 915 1 963

2 071

1 466

1 500 1 163 1 000 710

© Senatsverwaltung für Finanzen Berlin 2005

500

770

537 672

866 850

985 890

920

950

980

990

1 000

990

1 280 1 310 1 190 1 240 1 090 1 140 1 010 1 030 1 050

1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Quelle: Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen; ab 2005 Projektion Finanzpolitische Perspektiven

Folie 5

Schaubild 5

VI. Mehreinnahmen und Mehrausgaben im Ländervergleich An dieser Stelle wird man sich fragen, wie es dazu kommen konnte. Dazu enthält Schaubild 6 einige Angaben, die aber ein wenig abstrakt und darum erklärungsbedürftig sind. Die Zahlen betreffen bis 1991 West-Berlin, danach das vereinte Berlin. Berlin war in Ost und West das Ausstellungsstück des jeweiligen Systems, das Schaufenster. Es wurde sehr gut mit Mitteln aus dem jeweils zuständigen Zentralhaushalt ausgestattet, und während der siebziger Jahre, als Berlin wirtschaftlich bereits zurückfiel und unter der Mauer litt, hat man als politischen Ausgleich noch mehr öffentliche Gelder nach Berlin gebracht. Und das bedeutete für West-Berlin, dass sowohl die Einnahmen pro Kopf der Einwohner, als auch die entsprechenden öffentlichen Ausgaben im Jahre 1989 doppelt so hoch waren – + 108 % – wie im Durchschnitt des alten Bundesgebiets. Die Finanzpolitik in West-Berlin bestand nicht darin, Gelder zu verteilen oder Gelder einzusammeln oder Gelder, die unzureichend waren, aufzuteilen auf unterschiedliche Zwecke. Sie bestand eher darin, Geld, das man zusätzlich bekam, auch noch irgendwo in der Stadt unterzubringen. Beim Flughafen Tegel war es beispielsweise so, dass der Wirtschaftsplan einen Umfang von 70 Mio. DM hatte, wovon aus dem Bundeshaushalt als Zuschuss für das Defizit des Flughafens 35 Mio. DM, also genau die Hälfte, kamen. Der Berliner Landeshaushalt hatte Mitte der achtziger Jahre einen Umfang von etwa 35 Mrd. DM, die Hälfte davon, ungefähr 17 Mrd. DM, war der

Finanzpolitische Perspektiven für Berlin

17

Zuschuss des Bundes. Dabei ist noch nicht eingerechnet, was von den unmittelbaren Einnahmen des Landes Berlin mittelbar auch vom Bund kam, etwa durch die Berlin-Zulage, Umsatzsteuer-Präferenzen, und so weiter. Man konnte eine einfache Regel aufstellen: Dass bei jedweder Aktivität in West-Berlin etwa die Hälfte der Finanzierung aus der Wertschöpfung in der Stadt kam, die andere Hälfte aber von außerhalb, und zwar bei einem Niveau, welches weitaus höher war als in Westdeutschland. Auch der Ostteil der Stadt wurde als repräsentative Hauptstadt der DDR großzügig aus dem Zentralhaushalt alimentiert. Mit Öffnung der Mauer und mit der Einheit der Stadt entfiel diese Finanzquelle völlig. Die vom Bund zunächst ungekürzten Zuweisungen verteilten sich nun auf eine um die Einwohnerzahl OstBerlins vergrößerte Bevölkerung. Auch die Erhöhung dieser Beträge mit Blick auf den Ostteil der Stadt konnte nicht verhindern, dass sich die Besserstellung Berlins gegenüber dem Bundesdurchschnitt drastisch verminderte. Die Mehreinnahmen betrugen im vereinten Berlin gegenüber dem Bundesdurchschnitt 53 % und die Mehrausgaben fielen auf – pro Kopf – etwa 50 %. Diese Entwicklung verschärfte sich dadurch, dass Berlin mit einem Übergangszeitraum von nur drei Jahren von der bisherigen Bundeshilfe auf das System des Länderfinanzausgleichs umgestellt wurde – mit deutlich geringeren Zahlungen. Heute hat Berlin noch immer Mehreinnahmen von 28 % und Mehrausgaben von knapp 40 %, beides gemessen am Bundesdurchschnitt. Und diese Differenz zeigt das gesamte Drama. Während einerseits der Bund nach der Einheit seine Zuwendungen an Berlin relativ scharf und schnell zurückführte, das zeigt die dick gedruckte Linie, deren Verlauf wegen des Finanzausgleichs und anderer Einflüsse etwas schwankt, hat die Berliner Politik die Signale auf der Einnahmeseite nicht beachtet, sondern in einer gewissen Wachstumseuphorie – man sprach Anfang der 1990er Jahre davon, Berlin könnte bald 5 oder 5,5 Millionen Einwohner haben – die Ausgaben weiter erhöht, jedenfalls nicht abgesenkt. Und dieser Zustand hielt an bis Ende der neunziger Jahre. In der Graphik ist dort ein gewisser Buckel. Das sind die Ausgaben für die Bankgesellschaft im Jahre 2001, als deren Krise 1,8 Mrd. A Zuwendungen aus dem Landeshaushalt erforderte. Darüber stürzte der Senat von CDU und SPD, dann kam Rot-Grün, dann kam Rot-Rot, und dann wurde ich Finanzsenator. Das heißt, ich habe etwa am Fuße dieses Buckels das Amt übernommen. Diese Lage ist, jetzt in der Nachschau, als Folge von Fehlverhalten zu bewerten, sowohl von Seiten des Bundes, der seine Zuwendungen zu schnell und zu scharf zurückgefahren hat, wie auch von Seiten des Landes, das in einem verfehlten Optimismus zu viel Geld ausgab – und das auch nicht immer ganz vernünftig. Im Sinne einer Schuldzuweisung könnte man sagen, beim unteren Teil der Linie, der eine rationale Zukunft mit der irrationalen Vergangenheit verbindet, hat der Bund dem Land Berlin zu wenig Geld gegeben, und beim oberen Teil der Linie – der Gelb ist – hat Berlin die Signale missachtet, die sich aus den veränderten Bedingungen 2 Baßeler u. a.

18

Thilo Sarrazin

ergaben. Und das bedeutet: Berlins Verschuldung, die im Jahr 2009 etwa bei 70 Mrd. A liegen wird, kann man wie folgt aufteilen: Als durchschnittliches Land hätte Berlin bei 3,3 Mio. Einwohnern etwa 26 Mrd. A Schulden, das ist die so genannte Benchmark-Verschuldung. 24 Mrd. A weitere Schulden kamen von der Einnahmeseite, und etwa 24 Mrd. A Schulden kamen von der Ausgabenseite. Das meint keine Zuweisung von persönlicher Schuld und Verantwortung, aber wenn das Land Berlin dreimal soviel Schulden hat, wie es haben dürfte, muss man fragen, woran es gelegen hat und wie man die Summe aufteilen kann. Die Diskussion von Schuld und Verantwortung soll hier nicht weiterverfolgt werden, denn für die Zukunft hilft sie nicht. Berlin muss jetzt nach vorne schauen und sehen, wie es mit dieser Lage umgeht. Senatsverwaltung für Finanzen

Mehreinnahmen und Mehrausgaben Berlins im Ländervergleich 108,8% 74 Mrd € Schulden zwischen 1991 und 2009 davon: 26 Mrd € Benchmark- Verschuldung 24 Mrd € einnahmebedingt 24 Mrd € ausgabebedingt

100%

80%

60%

Mehrausgaben 2009: 4,7 Mrd €

52,7% 50,7%

39,8%

40%

30,0% 28,3%

20%

21,2%

© Senatsverwaltung für Finanzen Berlin 2005

Mehrausgaben

Mehreinnahmen (ohne Vermögensaktivierung)

0% 1970 1975 1980 1985 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Mehreinnahmen 2009: 3,1 Mrd €

Quelle: Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen. Bis 2004 einschließlich Ist, ab 2005 Soll bzw. Plan

Finanzpolitische Perspektiven

Folie 6

Schaubild 6

VII. Mehrausgaben in Berlin nach Politikfeldern Mit einer Lage umzugehen, heißt zunächst zu schauen, wie sie sich erklärt. Wenn die Berliner 50 % mehr ausgeben als der Bundesdurchschnitt, stellt sich die Frage, wo das Geld denn hinfließt. Diese Frage beantwortet Schaubild 7. Die – gerundeten – Zahlen benennen die Berliner Ausgaben in den jeweiligen Bereichen im Verhältnis zum Durchschnitt aller Länder und im Verhältnis zum Stadtstaat Hamburg, der Berlin in einigen Gesichtspunkten vergleichbar ist, in vielen anderen aber auch nicht. Die Tabelle ist geordnet nach der Größe der Ausgabenblöcke. Die meisten Ausgaben Berlins fließen in Soziales, knapp 3 Mrd. A. Darin

Finanzpolitische Perspektiven für Berlin

19

sind Ausgaben für Familien- und Jugendpolitik, z. B. Kindertagesstätten, nicht enthalten; diese Ausgaben werden gesondert erfasst. Die Größe dieser Ausgabenposten überrascht nicht, bei einer Arbeitslosenquote von 18 % aber auch bei einer sehr guten Ausstattung, die Berlin sich im Sozialsektor leistet. 3 Mrd. A Ausgaben fließen in Soziales, damit 1 / 3 mehr als im Durchschnitt aller deutschen Länder und Gemeinden und auch etwas mehr als im „reichen“ Hamburg. Der nächste Ausgabenposten sind dann schon die Zinsausgaben. 2,6 Mrd. A ist das Soll in diesem Jahr, 1,5 Mrd. A mehr als im Durchschnitt der Länder, und 600 Mio. A mehr als in Hamburg. Wer reich ist, kann sich auch mehr Schulden leisten, das muss man immer dazu sagen. Für Schulen, einschließlich Unterrichtsverwaltung, gibt Berlin in etwa das aus, was andere auch ausgeben, wobei sich der Betrag in Berlin etwas anders zusammensetzt. Berlin hält mehr Personal vor, hat 15 – 17 % mehr Lehrer als der Bundesdurchschnitt, hat dafür aber weniger Sachausgaben, dementsprechend sehen auch Berliner Schulen aus. Aber in der Summe ist es ein ähnlicher Betrag. Für die Hochschulen gibt Berlin 1,36 Mrd. A aus, damit 530 Mio. mehr als der Bundesdurchschnitt und auch ein wenig mehr als Hamburg. 1,1 Mrd. A gibt Berlin für Wohnungsbau aus, obwohl seit dem Jahre 1999 neue Wohnungen in der Stadt gar nicht mehr gefördert werden. Woher kommt das? Das sind die alten Programme aus den siebziger, achtziger und neunziger Jahren, die alle auf Kredit finanziert wurden und jetzt vom Land mit hohen Zinsen weiter abgezahlt werden. Das ist wie ein Auto, das man gekauft hat, vor die Wand gefahren hat, bei dem man aber noch weitere 8 Jahre die Raten zu zahlen hat. Hier fallen weit über 1 Mrd. A an Mehrausgaben an, gemessen am Bundesdurchschnitt. Dieser Wert ist in letzter Zeit auf 960 Mio. A gesunken. Der Senat hat nach der Diskussion um die so genannte Anschlussförderung Anfang 2003 entschieden, aus dieser Art der langfristigen Wohnungsbauförderung auszusteigen und nur noch zu bedienen, was an verbindlichen Zusagen gegeben worden war. Darüber führt das Land Berlin umfangreiche Prozesse gegen unterschiedliche Fonds und Investoren. Aber hier bleiben etwa 1 Mrd. A. Dieser Betrag wird sich bis zum Jahr 2019 stufenweise abbauen, aber bis dahin steht er, wenn auch fallend, in den Büchern. Der nächste Posten: Polizei. 1,1 Mrd. A, 270 Mio. A mehr als in Hamburg. In diesem Bereich wird gegenwärtig Einiges abgebaut. Berlin wird hier im Jahr 2009 im Wesentlichen die Hamburger Zahlen erreicht haben. Dass die Ausgaben dauerhaft höher liegen als im Bundesdurchschnitt ist unvermeidlich in einer Stadt wie Berlin. Ein weiterer Bereich sind die Ausgaben für Kinderbetreuung. Berlin gehört zwar zu den Ländern mit den wenigsten Kindern in Deutschland, das Land gibt gleichwohl für die Betreuung dieser Kinder etwa 40 % mehr aus als die Länder im Bundesdurchschnitt. Das ist ein politischer Eigenwert, den ein Finanzpolitiker nicht inhaltlich bewerten sollte. Berlin hat eben sehr umfangreiche Angebote, vor allem in Ost-Berlin, aber nicht nur dort. Die Tabelle zeigt hier, dass Geld ausgegeben und damit verbraucht ist; sie zeigt nicht, ob die Ausgabe einem unvernünftigen Zweck dient, wie beim Wohnungsbau, oder einem vernünftigen, wie bei den Kindertagesstätten. 2*

20

Thilo Sarrazin

Bei der Gerichtsbarkeit und im Justizvollzug liegen die Berliner Ausgaben bei 600 Mio. A im Jahr; etwa ein Drittel mehr als im Bundesdurchschnitt. Das liegt zum Teil an einer höheren Kriminalität. Das liegt aber auch daran, dass Berliner doppelt so viele Prozesse führen wie die Bürger im Bundesdurchschnitt. Ohne das weiter zu kommentieren, kann man feststellen, dass der Berliner jemand zu sein scheint, der sich gerne auseinandersetzt und der sehr auf seine Rechte achtet. Und das kostet eben auch staatliches Geld. Für Kultureinrichtungen bleiben 440 Mio. A, etwa doppelt soviel wie im Bundesdurchschnitt. Hier wurde bereits einiges abgebaut. Aber auch das ist ein Thema, welches ständig im Streit ist. Gesundheit: 280 Mio. A, auch hier gewisse Mehrausgaben, wenn auch relativ wenige. Wissenschaft und Forschung: 260 Mio. A, das sind im Wesentlichen Programme, die auch vom Bund mitfinanziert werden; wir haben nicht vor, hier etwas zu ändern. Arbeitsmarktpolitik: 170 Mio. A; die Höhe dieses Betrages ist angesichts der Berliner Arbeitslosenquote verständlich. Dann gibt es noch andere Bereiche. Senatsverwaltung für Finanzen

Mehrausgaben nach Politikfeldern Ausgaben (Soll 2005)

in Mio Euro

© Senatsverwaltung für Finanzen Berlin 2005

Soziales / Familien- und Jugendpolitik Zinsausgaben

3

2 940 2 620

Mehrausgaben ggü. Ländern 1, 2

950 1 480

Mehrausgaben ggü. Hamburg

4

270 590

5

allgemeinbildende Schulen (einschl. Unterrichtsverwaltung) 7

1 580

Hochschulen

1 360

530

- 20 50

Förderung des Wohnungsbaus

1 140

960

900

Polizei 6 Kinderbetreuung / Kita

1 120 870

640 360

270 240

Gerichtsbarkeit / Justizvollzug 7

600

180

- 70

Kultureinrichtungen 8

440

230

20

Gesundheit

280

30

- 50

Wissenschaft und Forschung

260

120

100

Arbeitsmarktpolitik

170

70

- 20

andere Bereiche 9

10

7 330

bereinigte Ausgaben insgesamt

20 710

5 900

- 680 11 1 600

Abweichung in den Summen durch Rundung 1 Grobabschätzung auf der Basis des letztverfügbaren Datenstandes des Statistischen Bundesamtes (Rechnungsergebnisse 2001), hochgerechnet auf das Jahr 2005 2 einschließlich kommunaler Ebene 3 Familien- und Sozialhilfe, Jugendhilfe nach SGB VIII, Kriegsfolgelasten. Ohne Auswirkungen der Hartz-IV-Reform 4 wegen Neuabgrenzung des Berichtskreises nur eingeschränkt vergleichbar 5 derzeit keine belastbare Angabe möglich 6 nicht bereinigt um besondere Hauptstadtaufgaben 7 ohne Versorgung 8 Theater, Musik, Museen, Bibliotheken 9 einschließlich Rechnungsabgrenzung 10 Größenordnung etwa 400 bis 500 Mio Euro 11 hierin enthalten Mehrausgaben Hamburgs für Häfen und Küstenschutz rd. 530 Mio Euro, für Versorgung rd. 760 Mio Euro, zusammen 1 290 Mio Euro Finanzpolitische Perspektiven

Folie 7

Schaubild 7

VIII. Geplante Entlastungen auf der Ausgabenseite Die Ausgabentabelle zeigt auch, wo man Ausgaben eher gestalten und wo man sie weniger gestalten kann. „Soziales“ kann relativ wenig gestaltet werden, weil das, was an sozialer Not und Bedürftigkeit da ist, befriedigt werden muss. Der größte Ausgabenposten ist damit wenig gestaltbar. Zinsausgaben sind auf eine Art

Finanzpolitische Perspektiven für Berlin

21

gestaltbar: künftig weniger Schulden und damit weniger Zinsanstieg; für die Vergangenheit sind sie aber gar nicht gestaltbar. Der Ausgabenposten „Schulen“ ist schon eher gestaltbar; bei 17 % mehr an Lehrern und deutlich schlechteren Pisaergebnissen als im Bundesdurchschnitt stellen sich Fragen, über die Finanz- und Bildungsressort in ständigem Austausch stehen. Aber Kürzungen wurden in diesem Bereich nicht vorgenommen; sie wären auch nicht populär. Der Ausgabenposten „Hochschulen“ ist begrenzt gestaltbar. Das Land schließt mit den Hochschulen langfristige Verträge (bis zum Jahr 2009) und gibt ihnen bis dahin Planungssicherheit. Diese 1,36 Mrd. A werden sich bis zum Jahr 2009 um etwa 50 Mio. A reduzieren. Die Kosten aus der Förderung des Wohnungsbaus sind eine Altlast und daher gar nicht gestaltbar, bauen sich allerdings ab. Polizei: begrenzt gestaltbar. Kinderbetreuung: in hohem Umfang gestaltbar, aber auch ein politisches Thema. Kultureinrichtungen sind ein gewisses Guthaben dieser Stadt, es wäre teilweise gestaltbar. Was können wir daraus lernen? Die Positionen, die wir als besonders nützliche Ausgaben empfinden, sind auch die besonders gestaltbaren. Die Positionen, die wir als weniger nützliche Ausgaben empfinden, von Soziales bis hin zu Wohnungsbau, sind die, die nicht gestaltbar sind. Keine Einsparanstrengung in dieser Stadt kann an den Bereichen, in denen wir Ausgaben als besonders notwendig oder nützlich empfinden, vorbei gehen, weil das tatsächliche Verhältnis von Gestaltbarkeit und Nützlichkeit gerade umgekehrt ist zu dem, das man sich eigentlich wünscht. Wenn darüber diskutiert wird, wie es in Berlin finanzpolitisch weitergeht, müssen diese Zusammenhänge gesehen werden. Senatsverwaltung für Finanzen

Die Eigenanstrengungen in Zahlen Ausgabenentlastungen gegenüber 2003 in Mio €. 2003

2004

2005

2006

2007

langfristig

0

strukturelle Konsolidierungsentscheidungen im Rahmen der HH-Aufstellung 2004/2005

-315 -250

-720 -1 077

- 500 -42

-1 339

-1 275

-250 -1 000

Minderausgaben Tarifvertrag/Besoldung

-102 -250 -165

-1 500

-250

-250

© Senatsverwaltung für Finanzen Berlin 2005

-240 -2 000

-1 002

Absenkung Wohnungsbauförderung

-2 500

Ausgabenentlastung gegenüber 2003 in Mio €; einschl. Senatsbeschlüsse vom Dezember 2003; *) gegenüber 2002: 500 Mio € Finanzpolitische Perspektiven

Schaubild 8

Folie 8

22

Thilo Sarrazin

IX. Primärsalden Berlins im Ländervergleich In der Vergangenheit ist das Drama angelegt worden. Jetzt ist die Frage, wie man damit umgeht. Der Senat hat ein Programm aufgelegt, welches mittelfristig die Ausgaben deutlich denen anderer Bundesländer annähert und dazu befähigt, jedenfalls bis zum Jahr 2007 das Hamburger Ausgabenniveau zu erreichen. Die Stadtstaaten bekommen 35 % mehr als die Flächenländer aus der Verteilung der wichtigen Gemeinschaftssteuern; das hamburgische Ausgabenniveau bedeutet also schon einen erheblichen Vorsprung vor dem Durchschnitt aller Bundesländer. In den kommenden Jahren kann Berlin sogar noch ein wenig mehr ausgeben, weil es als ostdeutsches Bundesland wesentliche Sonderhilfen bekommt, die allerdings auslaufen. Deshalb muss das Hamburger Niveau für Berlin die mittelfristige Perspektive sein. Und die aktuelle Finanzplanung zeigt, dass dafür langfristig auf der Ausgabenseite 2,5 Mrd. A herausgenommen werden müssen. Die Berliner Politik tut das, damit als Zwischenziel der Haushaltssanierung zumindest erreicht wird, dass Berlin mit seinen laufenden Einnahmen seine laufenden Ausgaben deckt. Diese Sichtweise klammert die Schulden und die daraus erwachsenden Zinslasten völlig aus und konzentriert sich nur auf den heute finanzwirksam gestaltbaren Teil des Haushalts. Das Ziel lautet, dass Berlin kein – wie der Ökonom sagt – Primärdefizit hat. Das Primärdefizit oder der Primärsaldo ist der Unterschied zwischen den Einnahmen, und zwar den laufenden Einnahmen, ohne Einnahmen aus Vermögensverkäufen, und den Ausgaben, ohne Zinsen. Wenn ein Privatmann zu viele Schulden hat, so dass die Bank die Konten gesperrt hat und er nirgendwo mehr Kredit bekommt, geht dieser Privatmann zur Schuldnerberatung. Das Erste, was dort gemacht wird, ist eine vom Einkommen ausgehende Ausgabenanalyse. Wenn das Einkommen z. B. 1.300 A im Monat beträgt, sind Mietausgaben in Höhe von 600 A zu hoch, sie müssen auf 300 A reduziert werden; etwas lässt sich sparen durch die Abschaffung eines privaten KfZ und den Umstieg auf den öffentlichen Personennahverkehr. Kurzum, die Schuldnerberatung entwickelt mit diesem Privatmann eine Ausgabenstruktur, die zu seinen Einnahmen passt. Und daran muss er sich halten. Und erst dann gibt es eine Basis, um zur Bank zu gehen und mit ihr über Umschuldung, Schuldenverzicht oder Ähnliches zu verhandeln. Deshalb ist für das Land Berlin wichtig, dass es in eine Lage kommt, wo es jenseits der Zinsen und Schulden, die aufgelaufen sind, sagen kann: „Wenn wir dieses Problem nicht hätten, kämen wir mit unserem Geld aus.“ Schaubild 9 zeigt, und das ist der Kern des Dramas, wie auch ohne Zinsen und Schulden das Primärdefizit des Landes Berlin bis auf 5 Mrd. A stieg; im Jahre 1995 sank es, dann kam aber die Bankenkrise, und jetzt arbeitet der Senat seit dem Jahr 2001 daran, das Primärdefizit wieder abzusenken. Im letzten Jahr wurde mit 1,3 Mrd. A ein Primärdefizit erreicht, wie Berlin es schon einmal im Jahre 1991 und 1992 gehabt hatte. 2005 schließt das Land nach heutiger Einschätzung wahrscheinlich bei etwa 1 Mrd. A Primärdefizit ab, im Schaubild sind noch 1,4 Mrd. A angegeben. Und bis zum Jahr 2007 soll Berlin die laufenden Ausgaben aus den

Finanzpolitische Perspektiven für Berlin

23

laufenden Einnahmen bezahlen können. Langfristig braucht Berlin einen Überschuss der laufenden Einnahmen über die laufenden Ausgaben, weil die Schulden bleiben, selbst wenn der Bund Berlin teilentschuldet. Ohne Zinsausgaben hätte Berlin es bis zum Jahr 2007 geschafft. Unter Einschluss der Zinsausgaben hat sich zwar die Lage leicht verbessert, aber es ist objektiv unmöglich, die laufenden Ausgaben so weit zu senken, dass die unvermeidlich ansteigenden Zinsen aufgefangen werden können. Würde das Schaubild 9 bis zum Jahr 2020 weitergeführt, so würde deutlich, dass Berlin „die Kurve nicht bekommen kann“, weil die Einsparungen von immer weiter steigenden Zinsen und Schulden aufgezehrt würden. Senatsverwaltung für Finanzen

Primärsalden Länder-Benchmark

~ 400

~ 600

>0

~ -700 -1 080

vorl. Ist -1 266

-1 227 -1 547 -1 819 -2 334

-2 575

Soll ~ -1 455

-2 432 -2 933

-2 971 -3 757

© Senatsverwaltung für Finanzen Berlin 2005

-4 024

-4 079

-5 134

1991

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

Finanzpolitische Perspektiven

Folie 9

1991 bis 2003 Ist, 2004 vorläufiges Ist, ab 2005 Projektion. Stand 21. Januar 2005

Schaubild 9

X. Extreme Haushaltsnotlage Deshalb hat das Land Berlin beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Klage auf Hilfen des Bundes erhoben, nachdem der Bund politisch unzugänglich war. Die Klage stützt sich auf das juristische Argument einer extremen Haushaltsnotlage. Das heißt, Berlin kann, nachdem das Land nun einmal so viele Schulden hat, zu einem finanzpolitischen Kurs, bei dem die Schulden voll bedient werden können, nur um den Preis finden, dass die Ausgaben so radikal gekürzt werden, das seine bundesrechtlich vorgegebenen Aufgaben und landesverfassungsrechtlichen Verpflichtungen nicht erfüllen kann. Das könnte z. B. bedeuten, dass bei „Kindertagesstätten“ statt Ausgaben von 800 Mio. A nur noch 300 Mio. A stünden und bei

24

Thilo Sarrazin

Hochschulausgaben statt 1,3 Mrd. A nur noch 500 Mio. A, dass die Kulturausgaben weitgehend gestrichen würden und so weiter. Das ist weder politisch noch rechtlich möglich. Und deshalb ist die Zielsetzung, so auch unsere Argumentation vor Gericht in Karlsruhe, dass die Ausgaben auf ein Niveau zurückgefahren werden, das zu den langfristigen Einnahmen passt, und dass zugleich für Bund und die übrigen Länder eine Teilentschuldung gefordert wird, die Berlin die Chance gibt, die auf die Schulden anfallenden Zinsausgaben dauerhaft zu bedienen.

Senatsverwaltung für Finanzen

# Senatsverwaltung für Finanzen Berlin 2005

Extreme Haushaltsnotlage Die Berliner Finanzpolitik beruht auf den beiden folgenden Elementen:

o Der Bund entlastet Berlin durch Teilentschuldung auf ein länderdurchschnittliches Niveau.

o Berlin erwirtschaftet durch strikte Fortsetzung des Konsolidierungskurses die erforderlichen Primärüberschüsse, um die Zinslasten auf die verbliebenen Schulden zu finanzieren und den Haushalt ohne weitere Neuverschuldung auszugleichen. Finanzpolitische Perspektiven | Folie 11

Schaubild 10

Dass Berlin geklagt hat, ist aus drei Gründen wichtig: 1. Man muss diese Möglichkeit, vielleicht in Karlsruhe zu gewinnen, ausschöpfen; Bremen und Saarland haben auch geklagt, haben gewonnen, haben allerdings danach 10 Jahre eine falsche Politik gemacht. 2. Der Hinweis auf die Klage und auf die Notwendigkeit, ihren Erfolg nicht zu gefährden, war in der politischen Diskussion in der Stadt, sowohl intern wie in der Öffentlichkeit, ein ganz entscheidendes Argument, alle die, die mitentscheiden, auf diesen Konsolidierungskurs einzuschwören. Ob Berlin den Prozess gewinnt, wird man sehen müssen. Wenn aber der Bund mit gutem Recht argumentieren kann, dass Berlin seinen Teil nicht tut, also die ihm möglichen Einsparungen nicht leistet, wird Berlin bestimmt nicht gewinnen. 3. Und außerdem gilt: Wenn Berlin den Prozess in Karlsruhe vollständig verlieren würde, war die Klage ein notwendiges Durchgangsstadium, um das, was dann an bitteren Entscheidungen unvermeidlich ist, auch zu rechtfertigen. Auch das ist kein unwesentlicher Gesichtspunkt. Es gibt übrigens bei der Frage, ob man gewinnt oder verliert, nicht nur das Ja oder das Nein. Wahrscheinlicher ist, dass Karlsruhe, wie es das üblicherweise macht, Leitsätze bilden wird für den Bund und für die Ländergemeinschaft, wie

Finanzpolitische Perspektiven für Berlin

25

der Fall Berlin zu behandeln ist, und dann dem Bund aufgeben wird, dass er das Finanzausgleichsgesetz entsprechend novelliert. Derartige Leitsätze könnten zum Beispiel beinhalten, dass jedes Land noch in der Lage sein muss, das bundesweite Durchschnittsniveau öffentlicher Leistungen zu präsentieren, dass weiter ein Stadtstaat wie Berlin in der Lage sein muss, eine gewisse Überlast in den Bereichen Hochschulen und Kultur zu finanzieren. Man müsste dann in diesem Umfang entschulden, gleichzeitig müsste auch das Land Mehrausstattungen, welche sich nicht durch solche Ziele rechtfertigen, abbauen. Mit derartigen Leitsätzen könnte Berlin am Ende leben. Nur braucht das Land eine klare Perspektive, um von diesem Umfang der Schulden teilweise entlastet zu werden.

XI. Vergleich der Berliner Haushaltsplanung mit Hamburg Diese Perspektive führt zu einem Vergleich mit Hamburg. Dieser Vergleich ist Thema des nächsten Schaubildes (Nr. 11). Die Berliner Planung steht bis zum Jahr 2009, die Hamburger Planung geht im Augenblick bis zum Jahr 2008. In dem Schaubild kann man das Berliner Ausgabenniveau im Verhältnis zu Hamburg sehen. Bei den Personalausgaben lag Berlin im Jahre 1995 3 % über Hamburg. Hamburg leistet sich auch hohe Personalausgaben. Berlin wird im Jahr 2008 um 8 % unter Hamburg liegen. Bei den konsumtiven Sachausgaben lag Berlin 1995 37 % über Hamburg, bis zum Jahre 2008 wird dieser Unterschied abgebaut sein. Das Bedauerliche: Berlin hatte in der Vergangenheit wesentlich mehr investiert als Hamburg, die Investitionsausgaben lagen 65 % über denen von Hamburg. Im Jahr 2008 wird Berlin deutlich weniger investieren als Hamburg, was die Stadt sich aber leisten kann, weil auch der Bund in Berlin sehr viel investiert und weil schon viel getan worden ist. Insgesamt wird Berlin bei den Ausgaben ohne Zinsen, den Primärausgaben, letztlich auf das Niveau von Hamburg kommen; über alle Ausgaben gemittelt wird sich folgende Entwicklung ergeben: von etwa 27 % Mehrausgaben im Jahr 1995 auf etwa 3 % Minderausgaben im Jahr 2008. Eine gänzlich andere Entwicklung zeigt sich bei den Zinsausgaben, hier lag Berlin noch im Jahre 1995 38 % unter Hamburg und wird im Jahre 2008 27 % über Hamburg liegen.

26

Thilo Sarrazin Senatsverwaltung für Finanzen

Berlin im Benchmark mit Hamburg 1995 und 2008 Personalausg.

kons. Sachausgaben

Investitionsausg.

Primärausgaben

Zinsausgaben

Primäreinnahmen

65%

37% 27%

27%

3%

3% 2%

-3%

© Senatsverwaltung für Finanzen Berlin 2005

-8%

-6%

-25% 1995

2008

1995

2008

1995

2008

-38% 1995

2008

1995

2008

1995

2008

Datenstand: März 2005. Berlin gemäß Eckwerten 2006 bis 2009 (SB vom 15. Februar 2005), Hamburg gemäß Finanzbericht 2005/06. Werte methodisch bereinigt Finanzpolitische Perspektiven

Folie 12

Schaubild 11

XII. Abbau der Solidarpaktmittel bis zum Jahr 2020 Zum Schluss sei noch auf zwei Dinge eingegangen. Wenn die Haushaltsnotlage im Griff ist, kommt ein weiteres Thema. Berlin ist ein ostdeutsches Bundesland und bekommt wie die anderen ostdeutschen Bundesländer vom Bund pro Jahr derzeit etwa 2 Mrd. A zur Schließung der vorhandenen Infrastrukturlücke und zum Ausgleich der schwachen kommunalen Steuerkraft. Diese sogenannte Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisung wird aber bis zum Jahr 2020 vollständig abgebaut. Die Raten stehen bereits mit genauen Zahlen im Bundesgesetz. Berlin wird im Jahr 2006 den ersten, bescheidenen Einschnitt erleiden. Die Einschnitte werden deutlich spürbar in den Jahren 2008, 2009. Danach werden dem Berliner Haushalt kontinuierlich weitere Beträge bis zum vollständigen Wegfall von 2 Mrd. A jährlich entzogen. Wenn die gegenwärtige Phase der Haushaltssanierung vorbei ist, wenn Berlin einen Primärüberschuss hergestellt und der Bund die Stadt teilentschuldet haben wird, dann wird sich Berlin, wie alle ostdeutschen Länder, mit dem Thema auseinander setzen müssen, wie dieser Wegfall von Haushaltsmitteln finanzpolitisch zu verkraften sein wird. Dieses Schicksaal teilt Berlin mit Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Und bisher hat noch keines der genannten Länder eine überzeugende Lösung gefunden.

Finanzpolitische Perspektiven für Berlin

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Senatsverwaltung für Finanzen

Abbau der Solidarpaktmittel bis zum Jahre 2020 (Mio €) 2 003

1 994 1 974

2 000

1 945 1 809 1 663 1 527

1 600

1 381 1 245

Senatsverwaltung zen Berlin# 2005

für Finanzen Berlin 2005

1 200

1 099 963 817

800

681 535 399

400 0 0 2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

2019

2020

Finanzpolitische Perspektiven | Folie 13

Schaubild 12

XIII. Das Konzept einer nachhaltigen Finanzpolitik Zum Schluss eine Formel zur Nachhaltigkeit, vor der Nichtmathematiker bitte nicht erschrecken. Die Formel wird nicht vertiefend erklärt. Ökonomen kennen sie vielleicht schon. Bei der Frage, wie viele Schulden sich ein Land langfristig leisten kann, gibt es den Zusammenhang, dass ein Land sich um so mehr Schulden leisten kann, je höher die Wachstumsrate ist, weil das Land aus wachsenden Einnahmen anteilig mehr für den Schuldendienst entbehren kann. Das führt zu einer Formel, die besagt, bei einem gegebenen Defizit im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) werde sich irgendwann die Quote der Schulden einpendeln. Auf Berlin bezogen ergibt sich aktuell Folgendes: Berlin hat derzeit ein BIP von jährlich 75 Mrd. A, das ist die Summe der hier produzierten Güter und Dienstleistungen. Es hat eine jährliche Neuverschuldung von 3,5 bis 3,8 Mrd. A, etwa 5 % des BIP. Es hat eine Wachstumsrate, nominal gerechnet, von 2,0 % pro Jahr. Wenn man die aktuellen Berliner Zahlen der letzten fünf Jahre in die Formel einsetzt, kommt man zu folgender Rechnung: 5 % Defizitquote im Verhältnis zu einer Wachstumsrate von 2 % bedeutet eine langfristige Schuldenquote Berlins bei gleichbleibender Finanz- und Haushaltspolitik von 250 %. Das bedeutet, dass sich die Schulden am Ende bei 180 Mrd. A einpendeln werden. Berechnet man von 180 Mrd. A Schulden 5 % Zinsendienst, dann ist man bei Zinsen von jährlich 9 Mrd. A (im Augenblick sind es 2,3 Mrd. A). Diese kleine Zahlenbetrachtung zeigt eindeutig, dass man die Finanzen des Landes nicht auf diesen Zustand zutreiben lassen darf. Die Berliner Finanzverwaltung hat übrigens Modellrechnungen, die zeigen, dass dieser Zustand nicht erst in 50 Jahren, sondern schon im Jahr 2020 erreicht wird.

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Thilo Sarrazin Senatsverwaltung für Finanzen

Nachhaltigkeit (1): Konzept Die staatliche Budgetrestriktion: Das Finanzierungsdefizit des Staates setzt sich zusammen aus dem Primärdefizit (= Primärausgaben - Primäreinnahmen) zuzüglich der Zinsausgaben:

(1) Finanzierungsdefizit = (Primärausgaben - Primäreinnahmen) + Zinsausgaben

Senatsverwaltung erwaltung für# Berlin 2005 Finanzen

für Finanzen Berlin 2005

Langfristig entwickelt sich die Schuldenstandsquote bei einer konstanten Defizitquote auf ein Niveau hin, das durch das Verhältnis der Defizitquote zur Wachstumsrate des nominalen BIP bestimmt ist: 5%

Defizitquote

(2) langfristige Schuldenstandsquote =

[= Wachstumsrate des BIP

= 250% ] 2%

Nachhaltigkeit verlangt, dass die Primärüberschussquote ausreichen muss, um die um die Wachstumsrate des BIP korrigierte Zinsausgabenquote zu bedienen:

(3) Primärüberschussquote = (Zinssatz - Wachstumsrate des BIP) x Schuldenstandsquote Finanzpolitische Perspektiven | Folie 14

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Man kann damit auf zwei Arten umgehen. Entweder wird das Wachstum erhöht, das kann durchaus sein. Wenn das Wachstum bei 10 % liegt, stehen diese 10 %, statt der 2 %, im Nenner, dann beträgt die langfristige Schuldenstandsquote 50 %. Das entspricht zwar noch immer einem Schuldenstand von 40 bis 50 Mrd. A, aber nicht mehr als diesem. Wenn das Wachstum diesen Wert nicht erreicht, wofür alle wirtschaftshistorische Erfahrung spricht und worauf die Landespolitik im Einzelnen wenig Einfluss hat, dann hilft nur eins: weniger Schulden machen. Damit wirken wir auf den Zähler des Bruches ein, die oberen 5 %.

XIV. Schlusswort Es handelt sich auch um ein Generationenproblem. Die ältere Generation wird es nicht erleben, dass der Staat nicht mehr einigermaßen geordnet funktioniert. Die jüngere Generation (mit einer Lebenserwartung bis ca. 2065) wird dagegen – wenn wir nicht mit aller Kraft die geschilderte Entwicklung bremsen – mit einem Staat konfrontiert werden, der sich gar nichts mehr leisten kann. Und darum ist es ihr Interesse, dass dieses Niveau, wie eben dargestellt, nicht erreicht wird.

Strukturwandel zur Metropole: Perspektiven nach dem Ende der Subventionswirtschaft Von Harald Wolf

I. Die aktuelle wirtschaftliche Misere Berlins Hätten Sie Anfang der neunziger Jahre einen Berliner Regierungspolitiker zu einem Vortrag mit dem Thema „Berlin: Strukturwandel zur Metropole“ eingeladen, hätten Sie mit größter Wahrscheinlichkeit ein faszinierendes Szenario der Zukunft entwickelt bekommen: Sie hätten mitgeteilt bekommen, dass Berlin sich sehr rasch zu einer blühenden Metropole in der Mitte Europas entwickeln wird und dass im Jahre 2005 die Einwohnerzahl der Stadt auf 5 Mio. gestiegen sein würde. Berlin 2005 – so hätten Sie ausgemalt bekommen – wäre eine internationale Dienstleistungsmetropole, eine Global City vom Range Londons, Paris und New Yorks. Wir alle wissen heute: Dieses Szenario ist nicht eingetreten, sondern hat sich als vollständig illusionär erwiesen. Die heutige Situation steht im krassen Gegensatz zu den damaligen Erwartungen: Die Stadt hat ein unterdurchschnittliches Wachstum gegenüber der übrigen Bundesrepublik Deutschland, das Bruttoinlandsprodukt ging mehrere Jahre hintereinander zurück, erstmalig im Jahre 2004 konnten wir wieder ein bescheidenes Wachstum von 0,5 % verzeichnen, aber auch dieses Wachstum blieb noch deutlich hinter dem bundesdeutschen Durchschnitt zurück. Berlin hat, berechnet nach dem neuen statistischen Verfahren gemäß Hartz IV eine exorbitant hohe Erwerbslosigkeit von jetzt 19,7 %. Über 320.000 Menschen in dieser Stadt sind erwerbslos. Berlin ist mit ca. 60 Mrd. A hochgradig verschuldet und befindet sich in einer extremen Haushaltsnotlage. Die Entwicklungsszenarien Anfang der neunziger Jahre gingen somit gründlich an der Wirklichkeit vorbei. Nun hat Politik immer das Problem der Prognoseunsicherheit. Die Gefahr des Irrtums ist immer eingeschlossen. Erstaunlich ist jedoch, wie groß die Kluft zwischen der sich dann einstellenden Realität und der Prognose war und wie einig sich trotzdem fast alle Akteure in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft in diesem Irrtum waren und wie vehement sie – quasi in einer Art Selbstsuggestion – diese Fehlprognose propagierten und Politik, Stadtplanung und Investitionen an ihr ausrichteten. Freilich gab es damals auch kritische Stimmen aus der Wissenschaft und der Politik, die auf die Strukturprobleme und die Hemmnisse, die einer solchen florierenden Entwicklung entgegenstehen, hingewiesen haben. Aber sie blieben vereinzelte dissidente Stimmen, die nicht handlungsbestimmend werden konnten.

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Ich habe damals im Berliner Parlament zu den Kritikern dieser Szenarien gehört – und galt damit als unverbesserlicher Schwarzmaler und Pessimist, der die ökonomische Dynamik nicht begriffen hat, die mit der deutschen und Berliner Einheit ausgelöst würde. Leider hat sich die Perspektive der Skeptiker bewahrheitet. Die falsche Prognose des Mainstreams über eine rasche Entwicklung Berlins zur florierenden Metropole war jedoch mehr als eine Fehleinschätzung, mehr als ein bedauerlicher Irrtum. Denn diese falsche Einschätzung der Entwicklung wurde politikbestimmend, alle wesentlichen politischen Entscheidungen und viele Investitionsentscheidungen waren von diesem Szenario bestimmt und auf dieses ausgerichtet. Resultat waren gravierende politische Fehlentscheidungen, unterlassene Strukturreformen und eine Fehlallokation von Ressourcen in gravierendem Umfang. Darauf wird im Einzelnen noch einzugehen sein.

II. Die Subventionswirtschaft im geteilten Berlin Der Titel „Perspektiven nach dem Ende der Subventionswirtschaft“ erfordert als Erstes eine Klärung dessen, was mit Subventionswirtschaft gemeint ist. Ich spreche von der „Berliner Subventionswirtschaft“ und ihrem Ende unter drei Gesichtspunkten. Erstens meine ich damit die alte Westberliner Subventionswirtschaft, mit der die „Frontstadt“ nach dem Bau der Mauer und der Abwanderung von Konzernzentralen und Produktionsunternehmen wirtschaftlich am Leben gehalten wurde. Diese Subventionierungen wie die Berlinzulage oder die Umsatzsteuerpräferenzen wurden zu Beginn der neunziger Jahre durch politische Entscheidungen der Bundesregierung abrupt beendet. Zweitens ist damit die neue Gesamtberliner Subventionswirtschaft gemeint, mit der versucht wurde, alte Westberliner Strukturen auf ganz Berlin zu übertragen, die alte Subventionswirtschaft u. a. mit neuen Instrumenten aus dem „Aufbau Ost“ zu prolongieren und die Transformationskrise abzufedern. Dieses „neue“ Modell erfuhr mit der Krise der Bankgesellschaft Berlin seinen Kulminationspunkt und dramatisches Ende. Es war das Ende eines wirtschaftlichen „Entwicklungs“-Modells, bei dem die wirtschaftliche Generierung von Einkommen und von Produkten in erheblichem Maße von Zuflüssen aus öffentlichen Haushalten abhängig war. Und es ist ein dritter Aspekt zu betrachten: die politisch-kulturelle Dimension der Subventionswirtschaft: sie hat Mentalitäten geprägt – Mentalitäten die seit den sechziger Jahren in West-Berlin entstanden sind und dann in den neunziger Jahren teilweise anknüpfend an staatssozialistische Traditionen im Ostteil der Stadt übertragen wurden. Diese Subventionsmentalität von Institutionen und von politischen Akteuren hat einen rechtzeitigen politischen und institutionellen Anpassungsprozess verhindert, als der Subventionswirtschaft eigentlich schon längst die materielle Basis entzogen war. Um zur Ausgangssituation vor der Wiedervereinigung der Stadt zurückzukehren und die damalige Subventionsstruktur deutlich zu machen: Der West-Berliner Haushalt wurde in erheblichem Umfange direkt aus dem Bundeshaushalt gespeist. West-Berlin mit seinem besonderen politischen Status war nicht in das System des

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Länderfinanzausgleichs einbezogen. Über 50 % des Landeshaushalts von WestBerlin, das sind mehr als 13 Mrd. DM, waren direkte Zuflüsse aus dem Bundeshaushalt. Häufig war es so, dass, wenn Berlin ein politisches Anliegen hatte und dazu zusätzliche Mittel brauchte, in der Regel dann auch ein Scheck aus Bonn kam – weil politisch gewollt war, dass West-Berlin als Insel inmitten der DDR die nötige Unterstützung bekam und seine Funktion als Schaufenster des Westens einnehmen konnte. Die Berlinförderung für die Wirtschaft beruhte im Wesentlichen auf der Umsatzsteuerpräferenz. Diese war eine Reaktion darauf, dass nach dem Bau der Mauer in erheblichem Umfang Industrie und vor allem auch Headquarters aus Berlin abwanderten. Die Subventionierung und deren Struktur führten dazu, dass sich in WestBerlin vor allem Produktionen mit einer geringen Wertschöpfungstiefe, die so genannten verlängerten Werkbänke, ansiedelten; im Extremfall wurde in Berlin ein Produkt nur abgefüllt oder etikettiert, um in den Genuss der Umsatzsteuerpräferenz zu kommen. Ein weiteres wesentliches Subventionsinstrument war die Förderung des sozialen Wohnungsbaus. Es gab in West-Berlin fast keinen frei finanzierten Wohnungsbau. Wohnungsbau reduzierte sich im Wesentlichen auf den öffentlich subventionierten Wohnungsbau, mit einer Berliner Besonderheit. Indem nur Kreditkosten subventioniert worden sind, war das System der öffentlichen Wohnungsbauförderung kreditmarktbasiert und darum in erheblichem Umfang ausdehnbar, verglichen mit einem System, in dem unmittelbar direkte öffentliche Darlehen vergeben worden wären; später ist das zu einem erheblichen Problem geworden. Ein letzter großer Subventionsmechanismus waren der öffentliche Dienst und die öffentlichen Unternehmen. Sie wurden als Instrumente der Arbeitsmarktpolitik, zur Stabilisierung der Beschäftigung genutzt. Es war nicht unüblich, den Abbau von Arbeitsplätzen in Industrieunternehmen durch Beschäftigungsaufbau im öffentlichen Sektor z. B. bei den öffentlichen Betrieben zu kompensieren. Die landeseigenen Unternehmen waren also auch große Beschäftigungsgesellschaften, die Arbeitsplatzverluste im Wettbewerbssektor kompensieren sollten.

III. Die Umbrüche des Jahres 1990 Dieses System mit seinen vier Haupterscheinungsformen (Finanztransfers aus dem Bundeshaushalt, Umsatzsteuerpräferenz, sozialer Wohnungsbau, Verwaltung und Betriebe als öffentliche Beschäftigungsgesellschaften) geriet mit der Wiedervereinigung an sein Ende. 1990 war klar: Die bisherige Berlinförderung läuft aus. Es wird keine Unternehmenssubventionierung in der bisherigen Form mehr geben, und das Land Berlin wird, nach einer kurzen Übergangszeit, in den Länderfinanzausgleich einbezogen. Letzteres bedeutete, dass der direkte Bundeszuschuss an den Landeshaushalt abgeschafft wurde. So sanken die Zuflüsse aus dem Bundes- in den Landeshaushalt Berlins von 1990 bis 1995 von 10 auf 5,5 Mrd. DM. Finanz-

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ströme, die für Berlin bis dato essenziell waren, wurden beendet – teilweise schlagartig. Die zeitlich erste wichtige Konsequenz war ein dramatischer Abbau von Industrie, der bis in die zweite Hälfte der neunziger Jahre hinein anhielt. Die Unternehmen, deren Produktion im Wesentlichen subventionsgetrieben war und eine geringe Produktionstiefe aufwies, hatten an einem großstädtischen Hochlohnstandort wie Berlin keine Perspektive und gaben ihre Produktion entweder auf oder verlagerten sie an andere Standorte, zum Beispiel nach Osteuropa. In den Ursachen verschieden, im Effekt aber gleichartig war die Entwicklung in Ostberlin. Durch die Wirtschafts- und Währungsunion, die aus der Sicht der DDR-Wirtschaft einer faktischen Aufwertung von fast 400 % gleichgekommen ist, war die Wettbewerbsfähigkeit großer Teile der Ostberliner Industrie mit einem Schlag nicht mehr gegeben; der Währungspuffer war weg. Hinzu kam das Wegbrechen der Märkte in Osteuropa – auch dies ein Resultat der Wirtschafts- und Währungsunion. Im Ostteil Berlins kam es in Kumulation dieser zwei Prozesse zum Verlust von vier Fünfteln der industriellen Arbeitsplätze. Berlin insgesamt hat heute nur noch etwas unter 100.000 industrielle Arbeitsplätze, davon sind viele erst nach der Wende wieder neu geschaffen worden.

IV. Die verschleiernde Wirkung des Vereinigungsbooms Dieser dramatische, nicht einfach zu korrigierende Strukturbruch wurde Anfang der neunziger Jahre überdeckt durch den Vereinigungsboom. In den ersten Jahren hat es einen großen Nachholbedarf im Osten Deutschlands gegeben, durch den die westdeutschen und die Westberliner Kapazitäten ausgelastet wurden. Gleichzeitig setzte die Politik in Berlin ausgehend vom eingangs beschriebenen euphorischen Wachstumsszenario darauf, dass die Struktur(um)brüche lediglich kurzfristiger Natur sein und die Verluste an industriellen Arbeitsplätzen durch ein rasches Wachstum Berlins zu einer internationalen Dienstleistungsmetropole schnell kompensiert werden würden. Aufgrund der neuen Rolle Berlins in der Mitte Europas würden sich – so die Hoffnung – zunehmend Headquarter (wieder) ansiedeln, so dass insgesamt eine positive wirtschaftliche Entwicklung zu Stande käme. Diese Strategie hat wesentlich auf exogene Faktoren gesetzt, insbesondere auf die großen Investoren, die von außen neue Impulse in die Stadt bringen sollten. Diese Erwartung wurde durch einen spekulativen Immobilienboom genährt, der obendrein durch neue Subventionsinstrumente verstärkt wurde, die die Bundespolitik im Rahmen des „Aufbaus Ost“ ins Leben rief. Zu nennen sind hier namentlich die Abschreibungsmöglichkeiten. Projektentwickler investierten massiv, nachdem Berlin wieder zu einem offenen Immobilienmarkt wurde, was in der Zeit der Teilung ja faktisch nicht der Fall war. Den Immobilieninvestitionen folgten jedoch nicht in gleichem Umfang die nötigen Arbeitsplatz schaffenden Investitionen. Vor dem Hintergrund dieses Investitionsbooms hat die Berliner Politik auf die Veränderungen des Jahres 1990 für die öffentlichen Finanzen nicht ernsthaft rea-

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giert. Es gab kein Gegensteuern auf das schlagartige Abbrechen der Finanzströme aus dem Bund und das Auslaufen der Subventionierung. Statt ernsthafter Anpassung und Strukturveränderung erfolgten nur marginale Korrekturen.

V. Der Weg in die Krise So bereitete man den Boden für eine ab Mitte der neunziger Jahre galoppierende Verschuldung der Stadt. Deren Steuerschwäche kombinierte sich mit dem Schwund von Steuereinnahmen durch die Abschreibungsmöglichkeiten. Es gab bei den Steuereinnahmen Mitte der neunziger Jahre massive Einbrüche, weil ein Großteil der Investitionen auf den Abschreibungsmodellen basierte. Statt dem sich abzeichnenden Marsch in die Überschuldung gegenzusteuern, versuchte die Berliner Politik, die Subventionswirtschaft mit einer Mischung aus alten und neuen Mitteln fortzusetzen. Neben den durch die Abschreibungsmöglichkeiten angetriebenen Immobilieninvestitionen wurde das alte Instrument der Wohnungsbauförderung als Instrument der Stadtentwicklung und Investitionsförderung eingesetzt. So wurde beispielsweise im Vorgriff auf das Wachstum der Stadt und die prognostizierte Metropolenentwicklung eine Reihe von städtebaulichen Entwicklungsgebieten ausgewiesen. Die privaten Investitionen in diesen Entwicklungsgebieten fielen jedoch gegenüber den ursprünglichen Erwartungen ausgesprochen kärglich aus. So griff man auf ein aus alten Westberliner Zeiten vertrautes Politikmuster zurück: öffentliche Subventionen mussten herhalten, um die Entwicklung trotzdem voranzutreiben. So wurde Anfang der neunziger Jahre noch ein Programm öffentlich geförderten Wohnungsbaus mit einem Volumen von 100.000 Wohnungen aufgelegt. Diese Förderung wurde in großem Umfang in die städtebaulichen Entwicklungsgebiete gelenkt, jede private Investition, die dort getätigt worden ist, ist in hohem Umfang öffentlich gefördert worden – und zwar faktisch auf Pump. Legitimiert wurde der Beginn dieser großen Projekte mit der Bewerbung Berlins für die Olympischen Spiele 2000, die als Katalysator für einen umfassenden Stadtumbau genutzt werden sollte – ein Stadtumbau, der wieder wesentlich subventionsgetrieben war. Das gravierendste Beispiel für den fehlenden Mentalitätswechsel ist die Historie der Bankgesellschaft. Eine florierende Metropole, so dachte die Berlin regierende Große Koalition in den neunziger Jahren, müsse auch ein florierender Finanzplatz sein. Und zu einem Finanzplatz gehöre auch eine global agierende Bank, die in der Lage ist, die Entwicklung der Region finanziell zu fördern. Dabei wurde nur die Tatsache ignoriert, dass eine Bank, deren Hauptgeschäftsgebiet eine strukturschwache Region ist, hohe Risiken eingehen muss, wenn sie trotzdem rasch expandieren will. Genau dies ist mit der Bankgesellschaft Berlin geschehen. Sie ist hohe Risiken eingegangen, die andere gemieden haben – und dies unter Nutzung der öffentlichen Garantie der Gewährträgerhaftung. So konnte sie im Immobilienfondsgeschäft rasch expandieren – indem sie Risiken akkumulierte, die nie und 3 Baßeler u. a.

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nimmer durch den Ertrag der Fondsimmobilien abgesichert werden konnten. Resultat war die Krise der Bankgesellschaft im Jahre 2001. Ein wesentliches Merkmal der Berliner Subventionswirtschaft tritt hier wieder zu Tage: nicht Wirtschaftlichkeit, nicht Rentabilität führten zum Wachstum der Immobilienfonds, sondern wirtschaftlich nicht gedeckte Garantien der Bank im Landesbesitz. Auch im öffentlichen Sektor – sowohl im unmittelbaren Landesdienst wie auch bei den öffentlichen Unternehmen – kam die notwendige Modernisierung nur ungenügend voran. Zwar wurden die ehemaligen Eigenbetriebe, insbesondere BVG und BSR, in Anstalten öffentlichen Rechts umgewandelt. Sie wurden damit vom Grundsatz her unternehmerisch flexibler. Weil die Berliner Eigenbetriebe in der Vergangenheit eine Schlüsselfunktion als Machtbasis der beiden großen Parteien hatten, wurden in den neunziger Jahren populistische Zugeständnisse gemacht, z. B. mit bis 15 Jahre reichenden Beschäftigungsgarantien fast schon beamtenähnlicher Natur, die bis heute fortwirken, ohne dass damals Gegenleistungen zur betriebswirtschaftlichen Effektivierung verlangt und ausgehandelt wurden. Was für die Betriebe gilt, lässt sich im Ansatz auch für die öffentliche Verwaltung feststellen. Die unmittelbare Staatsverwaltung hat in erheblichem Umfang Personal aus zwei schon getrennt aufgeblähten Verwaltungen übernommen, aus der Westberliner Verwaltung und aus dem öffentlichen Dienst Ostberlins, ohne dass mit der notwendigen Konsequenz an personellen Anpassungsprozessen gearbeitet worden ist. Dies lässt sich mit Benchmark-Zahlen aus anderen Bundesländern belegen. Auch hier wurden bis in die zweite Hälfte der neunziger Jahre hinein erforderliche Anpassungsprozesse, um ein mit anderen Großstädten und Metropolen vergleichbares Niveau an Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen, vermieden. Zusammengefasst heißt das: Im Berlin der neunziger Jahre ist der Strukturwandel, die aktiv politisch gestaltete Verabschiedung von der Subventionswirtschaft an Beharrungstendenzen in Politik und öffentlichen Institutionen gescheitert. Es gab eine institutionelle Sklerose, in der das Motto galt: Die risikoärmste Variante ist im Prinzip, so weiter zu machen wie bisher, mit ein paar kleinen Korrekturen, aber keiner Änderung im Grundsatz. Ökonomisch bewirkte dies, dass notwendige Impulse und Veränderungen ausgeblieben sind und eine erhebliche Fehlallokation von Ressourcen stattgefunden hat. Zum Beispiel ist durch das riesige Volumen von Wohnungsbauförderung die am öffentlichen Tropf hängende Immobilienwirtschaft Westberlins weiter subventioniert und gefördert worden mit der Konsequenz, dass in dieser Branche der notwendige Anpassungsprozess nicht stattfand; ein Strukturproblem Westberlins, eine vom öffentlichen Tropf abhängige Immobilienwirtschaft als Ersatz für ein selbstbewusstes und wirtschaftlich funktionierendes Bürgertum, wurde damit in den neunziger Jahren fortgeschrieben. Das Resultat war Ende der neunziger Jahre zu sehen: die Finanzkrise der Stadt mit einer öffentlichen Verschuldung von ca. 60 Mrd. Euro, einer Kreditfinanzierungsquote von 20,7 % (bei einem bundesweiten Durchschnitt von 8,6 %), einer Zins-Steuer-Quote von 21,7 % (bundesweiter Durchschnitt 12,7 %), bei Schulden pro Kopf von 18.100 Euro

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(Bundesdurchschnitt 7.400 Euro), um nur ein paar Kennziffern (diese bezogen auf 2004) zu nennen. Gegen Ende der neunziger Jahre war klar: So wie bisher geht es nicht weiter!

VI. Die Krise der Bankgesellschaft als Wendepunkt Die Krise der Bankgesellschaft im Jahr 2001 brachte das Fass zum Überlaufen. Ich habe damals gesagt: „Was bei der Bankgesellschaft geschehen ist, das ist nur das Wetterleuchten dessen, was Berlin insgesamt bevorsteht, nämlich die Rückkehr zu den Realitäten, künstlich aufrechterhaltene Strukturen zurückzufahren und dafür die wirklichen Zukunftspotenziale der Stadt zu entwickeln.“ Es bedurfte dieser Bankenkrise auch, um die politischen Voraussetzungen für einen Regierungswechsel zu schaffen – die institutionelle Voraussetzung dafür, ein neues Entwicklungsmodell für die Stadt umzusetzen.

VII. Elemente der Neuorientierung Woraus besteht diese Neuorientierung? Erstens: Die Berliner Politik geht die Haushaltskonsolidierung als ernsthaftes Thema an. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass die öffentliche Hand Handlungsfähigkeit für ihre eigentlichen Aufgaben überhaupt wieder gewinnt. Dazu gehört zweitens als ein wesentlicher Punkt, dass Subventionsstränge aus der Vergangenheit abgeschnitten werden, zum Beispiel durch Beendigung des Berliner Systems der öffentlichen Wohnungsbauförderung. Drittens wurde begonnen, die öffentlichen Unternehmen wirtschaftlich zu führen. Das bedeutet für viele dieser Unternehmen einen Sanierungskurs und diese so auszurichten, dass sie den Anforderungen des europäischen Wettbewerbs, der auch auf Unternehmen der öffentlichen Hand zukommen wird, standhalten können. Dazu gehört viertens ein Wechsel in der Wirtschaftspolitik, der zaghaft schon Ende der neunziger Jahre begann. Das bedeutet: weg vom vorrangigen Setzen auf exogene Faktoren hin zur Entwicklung der endogenen Faktoren und der Potenziale in Berlin selbst. Das bedeutet zunächst, sich von einer Reihe von Fehleinschätzungen und Legenden zu verabschieden: von der Hoffnung, Berlin könne sich rasch zur international florierenden Dienstleistungsmetropole entwickeln und von der irrigen Meinung, in einer Dienstleistungsmetropole spiele Industrie keine Rolle. Ausgangspunkt einer Neuorientierung muss auch die Erkenntnis sein, dass Berlin die Unternehmen, die es im Gefolge der Teilung verloren hat – dies betrifft sowohl die industrielle Produktion als auch Konzernzentralen – nicht einfach so wiedergewinnen kann. Natürlich wäre es schön, wenn ein Unternehmen wie Siemens sich entschiede, sein Headquarter von München wieder nach Berlin zu verlegen. Das scheint aber für die Zeit, für die man politisch planen kann, unrealistisch zu sein. Im bundesrepublikanischen Städtenetzwerk hat sich eine Arbeitsteilung zwischen den Standorten herausgebildet, die kurzfristig nicht zu korrigieren ist. Berlin wird 3*

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also in dem Bereich der „old-economy“ nicht zurückgewinnen können, was es im Gefolge des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Teilung an andere Städte verloren hat. Eine Restitution wird nur in Randbereichen möglich sein. Das kann aber nicht im Zentrum der Berliner Strategie liegen. Berlin muss es vielmehr darum gehen, im internationalen Städtewettbewerb und im Städtenetzwerk der Bundesrepublik Deutschland eine Stellung wiederzugewinnen, die seiner Einwohnerzahl, seinem Gewicht als Bundeshauptstadt und auch seiner früheren wirtschaftlichen Bedeutung entspricht, indem Berlin sich auf den Wachstumsfeldern der Zukunft positioniert und versucht, hier nationale und internationale Spitzenpositionen einzunehmen.

VIII. Die Wachstumsfelder der Zukunft Neben vielen Hypotheken aus der Zeit der Teilung hat Berlin ein positives Erbe und einen zentralen Vorteil: die hervorragende Ausstattung im Bereich von Wissenschaft und Forschung. Im Standortranking hat Berlin bei Universitäten, Fachhochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland eine führende Position. Berlin hatte durch die deutsche Teilung den Glücksfall, dass fast jede Institution in diesem Bereich doppelt vorhanden war, wenn nicht dreifach. Diese Potenziale können nun genutzt werden für die künftige wirtschaftliche Entwicklung. Die politische Aufgabe in Berlin besteht darin, aus Wissen Arbeit zu schaffen. Das heißt: Neues Potenzial in den Bereichen von Wissenschaft und Forschung, neue Produkte zu entwickeln, um damit neue Geschäftsmodelle, neue Beschäftigung und neues Wachstum zu generieren. Vor diesem Hintergrund hat der Senat eine Reihe von Kompetenzfeldern identifiziert, die perspektivisch Wachstumspotenzial haben und auf denen Berlin gute Kompetenzen hat. Ein solches Kompetenzfeld ist die Biotechnologie, wo Berlin in der Bundesrepublik Deutschland zusammen mit München der führende Standort ist. Ein zweites wichtiges Kompetenzfeld ist die Medizintechnik (einschließlich Mikrosystemtechnik), wo Berlin gute wissenschaftliche Potenziale und auch eine Reihe von Unternehmen aufzuweisen hat, die in ihrem Sektor Weltmarktführer sind. Berlin hat auch eine große Kompetenz in den Bereichen von Informations- und Kommunikationstechnologien und Medien. Im Bereich Medien ist das in letzter Zeit in der Musikwirtschaft sehr deutlich geworden. In den Kommunikations- und Informationstechnologien gibt es in Berlin über 3.000 Unternehmen, häufig sehr kleine, aber auch sehr innovative. Das Unternehmen Jamba z. B. hat mittlerweile über 500 Beschäftigte, einen weithin rapiden Beschäftigungsaufbau und vertreibt mittlerweile seine Produkte weltweit. In diesem Bereich entwickelt sich einiges. Eine Schwäche Berlins ist freilich, dass kein international agierendes Unternehmen aus der IT-Branche seinen zentralen Standort hier in Berlin hat. Die Kompetenz in der Verkehrstechnologie ist gut entwickelt – von der Schienenverkehrstechnik, über Telematik, Automotive bis – gemeinsam mit Branden-

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burg – zur Luft- und Raumfahrtindustrie. Die optischen Technologien, eine Querschnittstechnologie, die in all diesen Feldern zunehmend Bedeutung gewinnt, ist ein weiteres Kompetenzfeld, das sich für Berlin lohnt weiterzuentwickeln.

IX. Die Gesundheitswirtschaft Viele dieser Kompetenzfelder haben eine große Schnittmenge mit dem Thema „Gesundheitswirtschaft“. Für Biotechnologie und Medizintechnik versteht sich das von selbst. Aber auch bei „IuK“ und Medien spielt Medizin eine immer größere Rolle; das Stichwort Telemedizin sei als ein Beispiel genannt. Optische Technologie ist für den Gesundheitsbereich eine wichtige Schlüsseltechnologie. Das Gesundheitswesen ist in Berlin fast der einzige Wirtschaftssektor, in dem alle Elemente der Wertschöpfungskette innerhalb der Stadt versammelt sind. Es gibt Kapazitäten in Forschung und Entwicklung, mit der Universitätsmedizin, mit den außeruniversitären Einrichtungen, wie zum Beispiel dem Max-Dellbrück-Zentrum in Berlin-Buch. In Berlin beheimatet sind große Player der Pharmaindustrie, wie Schering oder Berlin Chemie, ein Unternehmen, das expandiert, in Berlin Arbeitsplätze schafft und mittlerweile Marktführer in Osteuropa ist. Wir haben wichtige Unternehmen der Medizintechnik, die zum Teil Weltmarktführer sind. Und in Berlin gibt es große Versorger, sowohl im öffentlichen Bereich, im Bereich der frei-gemeinnützigen Träger als auch im privaten Bereich, wie zum Beispiel die Helios-Kliniken, die mit 200 Mio. A die größte private Krankenhausinvestition der Bundesrepublik in Berlin tätigen. Die Gesundheitswirtschaft wird künftig eine wichtige Wachstumsbranche sein. Dafür spricht allein schon die demographische Entwicklung; es wird neue Anforderungen, zum Beispiel hinsichtlich Betreuung, Wellness oder Prävention geben. In diesen Bereichen der Medizin stehen neue Entwicklungen an und auch neue (bio-)technische Möglichkeiten. Ganz neue Produkte sind möglich, die wiederum neue Behandlungsmethoden ermöglichen. Hier liegt ein lukratives Wachstumsfeld.

X. Die Politik des Senats Der Senat ist darum zu der Auffassung gekommen, dass die Berliner Potenziale in der Gesundheitswirtschaft gebündelt werden müssen und dass in einer konzertierten Aktion aller beteiligten Akteure versucht werden muss, diese zu entwickeln. Wir sind zurzeit dabei, für die einzelnen Kompetenzfelder Strategien auszuarbeiten: nicht am grünen Tisch, sondern im Gespräch mit den Akteuren aus Wissenschaft und Forschung, den Unternehmen, der Politik und den Wirtschaftsförderinstitutionen. Das geschieht mit einem doppelten Ziel: einmal um die Qualität des Standorts und seine Entwicklungsperspektiven nach außen besser kommunizieren zu können, damit jeder weiß, wo Berlin hin will; zum anderen als wichtige Selbstverständigung zwischen den Akteuren nach innen, damit wir koordiniert in die gleiche Richtung arbeiten.

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Wir haben uns daran gemacht, ein in den neunziger Jahren gewachsenes, teilweise unübersichtliches Netz von Wirtschaftsförderinstitutionen neu zu organisieren. So sind die Wirtschaftsförderung Berlin, die BAO, die für die Außenwirtschaftsförderung zuständig war, und die Marketinginstitution „Partner für Berlin“ in einer Institution zusammengefasst worden; damit konnte die Rivalität zwischen verschiedenen Institutionen beendet werden, die in unterschiedlichen historischen Perioden entstanden sind, die alle ihre Geschäftsführer hatten, mit all ihren Sonderinteressen. Auf diese Weise ist eine einheitliche Anlaufstelle und eine kompetente Ansprechpartnerin für Investoren entstanden, die sich zentral und strategisch steuern lässt. Zur Arbeit dieser Institution gehört zum Beispiel: Lücken in der Wertschöpfungskette zu identifizieren und dann zu versuchen, gezielt Investoren zu gewinnen, um am Standort Berlin diese Wertschöpfungslücke zu schließen. Eine weitere wichtige institutionelle Veränderung im letzten Jahr war die Ausgründung der Investitionsbank Berlin aus der Landesbank. Sie wurde gemäß der „Verständigung II“ über die öffentlichen Banken mit der Europäischen Kommission zu einer eigenständigen Förderbank entwickelt, mit der Zielsetzung, die Investitionsbank zu einer Berliner Mittelstandsbank umzubauen. Die Wirtschaft in Berlin ist zu 95 % mittelständisch geprägt. Der Mittelstand hat generell ein Problem bei der Finanzierung durch Hausbanken. Viele Geschäftsbanken haben sich in der Vergangenheit aus der Mittelstandsfinanzierung weitgehend zurückgezogen. Andere Banken gehen, auch aufgrund eigener wirtschaftlicher Probleme, das Thema sehr restriktiv an. Die Investitionsbank Berlin (IBB) soll nun, mit den Hausbanken gemeinsam, diese Kreditklemme für den Mittelstand auflösen, indem sie die Refinanzierungsvorteile, die sie als öffentliche Bank hat, zu diesem Zweck nutzt. Der Schwerpunkt der IBB-Politik wird auf die oben genannten Kompetenzfelder ausgerichtet. Der eine oder andere mag sich nun fragen, ob Berlin hier nicht schon wieder in die Subventionswirtschaft zurückfällt. Das ist nicht der Fall. Wir haben große Bereiche der Wirtschaftsförderung von der Gewährung so genannter verlorener Zuschüsse hin zu Darlehen umgestellt; Rückzahlbarkeit ist die Grundphilosophie; Unternehmen bekommen öffentliche Unterstützung nur unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit; die Empfänger öffentlicher Unterstützung müssen sich deshalb nüchtern betriebswirtschaftlich fragen, ob sie diese vereinbarungsgemäß zurückzahlen können; bei einem verlorenen Zuschuss ist das anders, er wird oft „mitgenommen“.

XI. Industrie in Berlin Berlin wird kein bevorzugter Standort traditioneller Industrie mehr sein. Das ist auch politisch nicht beabsichtigt. Die Zukunft Berlins liegt in der Entwicklung der neuen Wachstumsfelder, die wissensgetrieben und wissensbasiert sind. Aber das sind häufig auch neue Formen von Industrie. Deshalb lege ich großen Wert darauf, dass die Senatspolitik nicht die Verabschiedung von der Industrie als solcher in

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Berlin heißen darf. Am Standort Berlin müssen sich moderne, innovative Formen von Industrie entwickeln, aus denen sich künftiges Wachstum generieren kann. Eine unlängst veröffentlichte Studie von Prof. Semmlinger (von der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft) ist insoweit hochinteressant, in gewisser Weise auch ein „Wirtschaftskrimi“, der die Dramatik des Strukturwandels in Berlin beleuchtet. Diese Studie kann in einer Reihe von Punkten hoffnungsfroh stimmen, obgleich sie auch auf Risiken hinweist. Es gibt zurzeit in Berlin ca. 100.000 industrielle Arbeitsplätze. Im Ostteil der Stadt sind 90 % der industriellen Arbeitsplätze nach 1990 neu entstanden. Das war bis zu dieser Studie so nicht bekannt. Diese Unternehmen sind neu; häufig sind es Unternehmen, die als start-ups gegründet oder ausgegründet worden sind; häufig sind es Unternehmen, die Forschungsergebnisse aus DDR-Unternehmen nutzen; die – ebenfalls häufig – innovative Ideen und Produkte haben und darum produktiv sind. Berlin hat mittlerweile, so die Studie, im industriellen Sektor nicht mehr, wie in den neunziger Jahren, einen Produktivitätsrückstand gegenüber dem Bundesdurchschnitt, sondern Berlin hat im industriellen Sektor mittlerweile einen Produktivitätsvorsprung. Ein Problem und gleichzeitig ein Risiko besteht darin, dass diese Unternehmen oftmals noch sehr klein sind; sie stehen am Anfang ihres Lebenszyklus, sind auf der einen Seite häufig noch nicht wirklich gefestigt, damit auch gefährdet; auf der anderen Seite haben diese Unternehmen, eben weil sie erst am Anfang ihres Lebenszyklus stehen, Wachstumsperspektiven. Die Berliner Politik wird sich von einer modernen Industrie in Berlin nicht verabschieden können und nicht verabschieden dürfen. Es kann keine nachhaltige Entwicklung von Dienstleistung geben, wenn es keinen industriellen Kern gibt, der auch Nachfrage nach bestimmten Dienstleistungen generiert. Die aktuell rund 100.000 industriellen Arbeitsplätze sind Auftraggeber für rund 200.000 Arbeitsplätze in den produktionsnahen Dienstleistungen. Teilweise werden OutsourcingProzesse nicht mehr bei den industriellen Arbeitsplätzen mitgezählt, sondern bei produktionsnahen Dienstleistungen, die früher in Industrieunternehmen integriert waren; auch das macht ein gewandeltes Verhältnis zwischen Industrie und Dienstleistung deutlich. Deshalb zum Schluss das Plädoyer: Berlin braucht einen industriellen Kern, um den sich die Politik kümmern muss.

XII. Geringfügig Qualifizierte Pläne für eine bessere Zukunft dürfen eines nicht vergessen: Was passiert mit all jenen, die, wie man so schön sagt, in der Wissensgesellschaft keinen Platz haben, weil sie nicht die nötigen Qualifikationen haben, zum Beispiel keine Schulabschlüsse. Von den Berliner Langzeitarbeitslosen haben über 50 % entweder keinen Schulabschluss oder keinen berufsqualifizierenden Abschluss. Bei den unter 25-jährigen, die arbeitslos sind, das gleiche Bild: über 50 % ohne Schul- oder ohne berufsqualifizierenden Abschluss. Politisch wirft das die Frage auf, wie Beschäftigung geschaffen werden kann für diejenigen, die eher zu den Verlierern dieser

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Gesellschaft gehören, zu den Verlierern in einer Wirtschaft, die stark exportorientiert ist und die in den Sektoren, die auf die globalisierte Ökonomie ausgerichtet sind, immer höhere Produktivitätssteigerungen zu verzeichnen hat – die von einfach Qualifizierten nicht erbracht werden können. Die Bundesrepublik Deutschland muss hier zu einer tief greifenden Reform kommen, um für diesen Personenkreis wieder Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Das Problem sei an einem einfachen Beispiel verdeutlicht, die Zahlen sind gerundet, so dass man es leichter nachvollziehen kann. Ein Arbeitnehmer verdient brutto 1.000 Euro und kostet seinem Unternehmen dann, alle Abgaben zusammen, 1.200 Euro. Netto erhält dieser Arbeitnehmer 800 Euro. Das ist derzeit ungefähr das Niveau des Arbeitslosengeldes II, werden die Kosten des Wohnens, Unterhaltsleistungen und so weiter zusammengenommen. Der Abstand ist jedenfalls sehr gering. Gleichzeitig sind solche einfach gelagerten Tätigkeiten hoch anfällig für Schwarzarbeit; die Eintrittsbarriere ist gering, und der Preis von Schwarzarbeit liegt ungefähr bei dem Niveau der Netto-Löhne. Deshalb ist es notwendig, in der Bundesrepublik Deutschland die Energien zur Senkung der Lohnnebenkosten vor allem im Sektor dieser einfach qualifizierten und damit auch niedrig entlohnten Tätigkeiten zu konzentrieren, die besonders anfällig für Schwarzarbeit oder die Verlagerung z. B. nach Osteuropa sind. Es sollte darüber nachgedacht werden, bis zu einer Freibetragsgrenze eine völlige Freistellung von an den Arbeitslohn gekoppelten Sozialversicherungsbeiträgen vorzunehmen und das den Sozialversicherungsträgern so entstehende Defizit über Steuern gegenzufinanzieren. Das hätte folgende Effekte: die Belastung der Arbeitskosten durch Sozialversicherungsbeträge für Unternehmen fiele im Segment der gering qualifizierten Tätigkeiten nahezu weg, die Konkurrenzfähigkeit gegenüber der Schwarzarbeit würde spürbar erhöht und neue Beschäftigungsfelder, gerade im Bereich personenbezogener Dienstleistungen, würden eröffnet. Die Gegenfinanzierung müsste über Steuern stattfinden, so wie die Skandinavier dies getan haben. Das würde, auch am Standort Berlin, wichtige und spürbare Beschäftigungsimpulse geben. Sozialversicherungsrecht ist aber ein Thema, das in Berlin nicht gelöst werden kann.

XIII. Regionalpolitik Dem Thema Region wurde in Berlin nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet. Eine Metropole hat normalerweise eine Metropolenregion mit wirtschaftlichen Verflechtungsstrukturen. Nun hat Berlin hier in doppelter Hinsicht eine Hypothek. Der Brandenburger Raum war noch nie ein wirtschaftsstarker Raum, auch historisch gesehen nicht. Verstärkt durch die Tatsachen, dass durch die Insellage West-Berlins auch gewachsene, historisch einmal existente Verflechtungsstrukturen zerstört worden sind und dass wegen der europäischen Teilung wirtschaftliche Beziehungen nach Stettin, das einmal der Hafen Berlins war, nach Posen oder nach Breslau weitgehend zum Erliegen gekommen sind, ergibt sich, dass mit Berlin eine für deutsche Verhältnisse riesige Metropole (was die Bevölkerungszahl angeht) in einem Raum mit geringer Bevölkerungszahl und geringer

Perspektiven nach dem Ende der Subventionswirtschaft

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wirtschaftlicher Aktivität liegt. Wer um Berlin einen Radius von ca. 250 km schlägt, kommt zu der Erkenntnis, dass die großen städtischen Ballungszentren in Polen liegen, nämlich die eben genannten Städte. Es ist deshalb notwendig für Berlin, sich stärker dem Thema Region zu öffnen. „Region“ heißt zum einen Brandenburg, mit dem Berlin durch Kooperation in der Wirtschaftspolitik in einer Reihe von Themen weitergekommen ist; die Länderfusion steht nach wie vor auf der Tagesordnung. Aber Berliner Politik muss über Brandenburg hinaus denken, wenn es um eine wettbewerbsfähige Region geht. Es geht dann um die OderRegion, um die Region westlich und östlich der Oder, um die Entwicklung wirtschaftlicher Verflechtung und die Intensivierung wirtschaftlicher Kooperation mit den genannten drei Städten. Berlin hat – spät – begonnen, dies zu entwickeln. Berlin hat in den neunziger Jahren vor allem den Blick auf die anderen Metropolen, die anderen Hauptstädte gerichtet, was alles nicht verkehrt ist; aber Berlin hat über die Region hinweggesehen. Auch hier ist eine Korrektur dringend notwendig, weil nur eine Stadt, die aus der Region heraus lebt, die endogenen Potenziale innerhalb der Region auch entwickelt und die Kooperation in dieser Region voranbringt. Nur eine solche Region kann international wettbewerbsfähig und attraktiv sein. Meine Vision ist, dass sich die Oderregion so entwickelt, wie an der WestGrenze der Bundesrepublik Deutschland die Grenzregionen zu Frankreich oder der Aachener Raum im Verhältnis zu den Niederlanden und zu Belgien. In der OderRegion dürfen Grenzen keine (oder kaum noch eine) Rolle mehr spielen, ein gemeinsamer institutioneller Rahmen einer europäischen Region muss geschaffen werden. Die Oder-Region muss sich als gemeinsame Wirtschaftsregion in Deutschland und Polen verstehen. Damit wäre ein wichtiger Grundpfeiler für wirtschaftliches Wachstum in dieser Region gelegt.

XIV. Schluss Mit den drei Hauptstichworten „Industriestandort Berlin“ für den unverzichtbaren Kern der Dienstleistungsbranchen, „Gesundheitswirtschaft“ für die Berliner Stärke in einem zentralen Zukunftssektor und „Oder-Region“ für den Ausbau der regionalen Verflechtungen zu einem international wettbewerbsfähigen Standort sind die wirtschaftspolitischen Eckpunkte des Strukturwandels in Berlin gesetzt. Sie stehen für den Weg, den der Berliner Senat in Reaktion auf das Ende der illusionären Subventionswirtschaft beschritten hat. Welcher Erfolg wie schnell diesem Weg beschieden sein wird, hängt in starkem Maße davon ab, ob die Berliner Haushaltskonsolidierung gelingt und welcher Ausweg aus der Erblast Haushaltsnotstand und Schuldenfalle nach dem Verfassungsgerichtsurteil in Karlsruhe gangbar sein wird. Dieser Beitrag kann ein Überblick zum Strukturwandel in Berlin sein, mehr will er auch nicht sein. Viele Themen sind angeschnitten, bei den einzelnen Themen könnte – und müsste – man in die Tiefe gehen. Insgesamt handelt es sich um eine Momentaufnahme, einen Zwischenbericht, wo Berlin derzeit steht. Die Talsohle ist durchschritten, aber der Kamm noch längst nicht ereicht.

Ist die Berliner Verwaltung noch zu retten? Werkstattbericht aus dem Projekt „Europäische Metropolen im Vergleich“1 Von Manfred Röber

I. Einleitung Die verwaltungspolitische Situation Berlins ist gekennzeichnet durch eine dramatische Haushaltskrise, durch einen im Zuge der Globalisierung stärker gewordenen Wettbewerb der Regionen und Metropolen sowie durch einen zunehmenden Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Problemlösungsfähigkeit von Politik und Verwaltung und einen damit einhergehenden Legitimationsverlust der politischadministrativen Institutionen. Außerdem hat die Stadt nach wie vor den komplexen Transformationsprozess in Ost-Berlin zu gestalten und die Folgen der jahrzehntelangen Spaltung zu überwinden. Überdies ist durch die Verlagerung der Hauptstadtfunktion von Bonn nach Berlin für die Stadt eine neue Situation entstanden, die neben großen Chancen auch zusätzliche Herausforderungen mit sich bringt. Angesichts des Ausmaßes und der Intensität der Probleme wird immer wieder die Frage nach der Leistungsfähigkeit des politisch-administrativen Gefüges der Stadt gestellt, das bislang nicht gerade als Muster für Effizienz und Effektivität, sondern eher als Ausdruck einer besonders verkrusteten Variante des „bürokratischen Zentralismus“ galt. Die Kritik richtete sich vor allem auf unübersichtliche Strukturen in Verbindung mit wenig bürgerfreundlichen Verfahren, auf die im Vergleich zu anderen Großstädten zu hohen Kosten der Verwaltungsleistungen sowie auf umständliche und zeitraubende Entscheidungsprozesse. Als eine maßgebliche Ursache für diese Struktur- und Verfahrensdefizite wird immer wieder das zweistufige System von Politik und Verwaltung mit Abgeordnetenhaus und Senatsverwaltungen sowie Bezirksverordnetenversammlungen und Bezirksverwaltungen genannt, das zu Reibungsverlusten und unnötigen Doppelarbeiten führe. Mit der Frage „Ist die Berliner Verwaltung noch zu retten?“ soll das Interesse deshalb vornehmlich auf die institutionelle Regelung des Spannungsverhältnisses von Zentralisierung und Dezentralisierung gerichtet werden, das zur Zeit in vielen 1 Vgl. zu Konzept und Ergebnissen dieses Projekts, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird, Arbeit / Kuhlmann / Röber / Wollmann (2006)

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europäischen Ballungszentren Gegenstand politischer Diskussionen ist. Diese Diskussionen deuten darauf hin, dass die traditionellen Formen der hierarchischen Steuerung offensichtlich an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit stoßen. Zugleich weisen Systeme der weitreichenden (horizontalen) Selbstkoordination erhebliche Defizite auf, solange sie nicht „im Schatten“ von hierarchisch möglichen Problemlösungen (als ultima ratio) stehen. Vor diesem Hintergrund gibt es eine Reihe von Anzeichen, dass sich die politisch-administrativen Strukturen von Metropolen immer stärker zu zweistufigen Modellen entwickeln, die den vertikalen und horizontalen Abstimmungsproblemen in Verdichtungsräumen Rechnung tragen und mit deren Hilfe die Vorteile zentraler und dezentraler Steuerung kombiniert werden können (vgl. zu dieser Thematik auch Barlow 1993, S. 132 – 134). Das könnte bedeuten, dass die Errichtung der zweistufigen Grundstruktur Berlins vielleicht doch kein – wie immer wieder behauptet wird – „Geburtsfehler“ der im Jahre 1920 geschaffenen dezentralisierten Einheitsgemeinde gewesen ist. Um diese Einschätzung besser beurteilen zu können, wird im Folgenden die institutionelle Entwicklung der Berliner Verwaltung von der Zeit vor der Verabschiedung des Groß-Berlin-Gesetzes im Jahre 1920 bis heute beschrieben und mit der aktuellen Entwicklung der institutionellen Arrangements in London und Paris verglichen.2 Abschließend werden ein paar Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Berliner Institutionengefüges präsentiert.

II. Berlins Entwicklung als dezentralisierte Einheitsgemeinde 1. Vom Zweckverband zum Groß-Berlin-Gesetz Spätestens nach der Reichsgründung im Jahre 1871 wurde das Problem der Koordination des Verwaltungshandelns der unterschiedlichen Gebietskörperschaften im Großraum Berlin regelungsbedürftig. Besonders kompliziert war die Situation deshalb, weil Berlin mit seiner dynamischen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung sowie der damit verbundenen Bevölkerungsentwicklung mit den anderen Landkreisen im Bezirk Potsdam überhaupt nicht mehr zu vergleichen war, aber trotzdem wie diese behandelt wurde und den Regierungsbehörden des brandenburgischen Bezirks Potsdam unterstellt war (vgl. Erbe 1987: 745). Im Jahre 1881 wurde Berlin ein eigener Verwaltungsbezirk mit mehr kommunalen Rechten. Die administrative Macht lag aber weitgehend beim Polizeipräsidenten, der dem preußischen Innenministerium unterstand und der faktisch die Funktion eines Regierungspräsidenten ausübte. 2 Diese beiden Städte sind als Vergleichsstädte ausgewählt worden, weil sie markante europäische Staats- und Verwaltungskulturen repräsentieren und als „dissimilar cases“ eine signifikante Varianz der institutionellen Arrangements in der lokalen Politik und Verwaltung aufweisen, die es erlaubt, die Frage nach der eventuellen Konvergenz der Politik- und Verwaltungsstrukturen sinnvoll zu stellen und mit einiger Aussicht auf Erfolg zu beantworten.

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Vor dem Hintergrund eines sich im Zuge der Industrialisierung immer dynamischer entwickelnden Wirtschafts- und Sozialraumes, dem keine korrespondierenden Politik- und Verwaltungseinheiten gegenüberstanden, wurde damals schon intensiv über Regionalmodelle diskutiert, weil alle Stadtplanungskonzepte – vor allem jene zur Verkehrs-, Wohnungs- und Grünflächenpolitik – nur dann sinnvoll und erfolgreich sein konnten, wenn sie über die (engen) Stadtgrenzen Berlins hinaus reichten. Dagegen sperrten sich die umliegenden Städte und Kreise, weil diese sehr stark auf ihre Selbständigkeit bedacht waren und sich zunächst allen Überlegungen Berlins zur Eingemeindung widersetzten. Man befürchtete vor allem finanzielle Einbußen, weil viele wohlhabende Berliner ins Umland gezogen waren und mit ihren Steuerzahlungen nicht unerheblich zum Reichtum der an Berlin angrenzenden Städte und Gemeinden beitrugen. Die Diskussion über jene Fragen der Verwaltungsstruktur im Großraum Berlin, die auch für die heutige verwaltungspolitische Debatte noch interessant und zum Teil auch lehrreich sind, setzte praktisch am Ende des 19. Jahrhunderts ein. Zur Lösung der Probleme, die sich in diesem Ballungsgebiet durch die rasante Industrialisierung und Urbanisierung über die alten Berliner Stadtgrenzen hinaus ergeben hatten, ist 1911 auf das Organisationsmodell eines Zweckverbandes zurückgegriffen worden, um die überörtlichen Aufgaben der Verkehrs-, Infrastruktur- und Raumplanung in Angriff nehmen zu können. Trotz einiger Erfolge zeigte sich aber sehr schnell, dass die damals gehegten Hoffnungen sich nicht erfüllten, mit dem Zweckverbandsgesetz eine zweckmäßige Verwaltungsstruktur für den sich immer dynamischer entwickelnden Großraum Berlin gefunden zu haben (vgl. Engeli 1986: 38). Die damalige Verwaltungsstruktur war in Bezug auf die zu bewältigenden Probleme, die sich aus der Industrialisierung und der damit verbundenen Urbanisierung ergaben, immer noch zu fragmentiert. Der Zweckverband war zu schwach, um die daraus resultierenden Nachteile überwinden zu können, weil er zu geringe Zuständigkeiten hatte, der Verbandsversammlung die demokratische Legitimation fehlte und es zu starke Kompetenzkonflikte zwischen dem Berliner Oberbürgermeister und dem Verbandsdirektor des Zweckverbandes gab. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges flammten deshalb die Diskussionen über eine institutionelle Architektur, die den Erfordernissen des Ballungsraumes Berlin Rechnung trug, sehr schnell wieder auf. Die Debatte über die zweckmäßige Verwaltungsstruktur Berlins bezog sich zunächst auf die drei Modelle einer Einheitsgemeinde, eines neuen Zweckverbandes mit erweiterten Zuständigkeiten und einer Gesamtgemeinde mit einem verkleinerten Gebiet von Groß-Berlin. Im Endeffekt liefen die Diskussionen auf das Modell einer dezentralisierten Einheitsgemeinde als Kompromiss hinaus – mit Stadtverordnetenversammlung und Magistratsverwaltung, die für die gesamtstädtischen Fragen, und mit Bezirksversammlungen und Bezirksämtern, die für die lokalen Fragen zuständig sein sollten (vgl. zur historischen Entwicklung Zivier 1998, Röber 2002). Dieses Modell bewegte sich in dem Handlungskorridor, der schon Anfang des 19. Jahrhunderts mit der Stein-Hardenbergschen Städtereform vorgezeichnet wurde. Obgleich die

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Bezirke nicht – wie in London – vollwertige Gemeinden mit allen Rechten und Pflichten wurden, erhielten sie dennoch auf Grund ihres städtischen Charakters Quasi-Selbstverwaltungsrechte nach den „Spielregeln“ der Magistratsverfassung. Der Kompromiss in Form der Zweistufigkeit, der die institutionelle Entwicklung Berlins bis in die heutige Zeit prägt, wurde dadurch ermöglicht, dass im Unterschied zur zentralisierten Einheitsgemeinde den Bezirken zusätzliche Kompetenzen u. a. bei den Jugendämtern, bei der Schulverwaltung, bei der Wahl der Bezirksamtsmitglieder und bei der Verwaltung der bezirklichen Angelegenheiten zugestanden wurden. Mit dem Groß-Berlin-Gesetz war zugleich eine umfassende Gebietsreform verbunden, die vornehmlich die zahlreichen eingemeindeten Landgemeinden betraf. Berlin bestand nunmehr aus ehemals acht Stadtgemeinden, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirken. Das Stadtgebiet wurde in insgesamt 20 Verwaltungsbezirke eingeteilt. Letztlich kam es zu dem im Groß-Berlin-Gesetz verankerten Modell der dezentralisierten Einheitsgemeinde als Kompromiss im Sinne des kleinsten gemeinsamen Nenners, weil sich weder die Protagonisten einer zentralistischen Einheitsgemeinde auf der politischen Linken noch die Verfechter eines lockeren Gemeindeverbandes im bürgerlichen Lager mit ihren diametral entgegengesetzten Vorstellungen durchsetzen konnten. Beide Seiten hatten die Hoffnung, den gefundenen Kompromiss im Zuge praktischen Verwaltungshandelns in ihrem Sinne beeinflussen und verändern zu können. Damit waren einige der auch heute noch virulenten Spannungen zwischen zentraler und dezentraler Steuerung im Kern angelegt. Die langwierigen Konflikte und Kompetenzstreitigkeiten führten unter den insgesamt prekären politischen Verhältnissen in den 1920er Jahren insbesondere gegen Ende der Weimarer Republik zu weiteren Bestrebungen, den Einfluss der Bezirke zu beschneiden und die Stellung des Oberbürgermeisters als zentrale Politik- und Verwaltungsinstanz zu stärken. Diese Bestrebungen müssen im Kontext der immer autoritärer werdenden gesamtstaatlichen Regierungsformen in der Endphase der Weimarer Republik gesehen werden, die allein schon den gedanklichen Spielraum für lokale Demokratie und dezentrale Aufgabenwahrnehmung einengten. Im Jahre 1933 setzte das diktatorische Führerprinzip der demokratischen Institutionenentwicklung ein vorläufiges Ende.

2. Suburbanisierung auf der politischen Insel Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges begann in Berlin mit der Spaltung Deutschlands eine Entwicklung, die mit der anderer europäischer Metropolen auch nicht annähernd vergleichbar war. Die geteilte Stadt hatte in ihren beiden Hälften völlig unterschiedliche Funktionen zu erfüllen. Während Ost-Berlin schrittweise zur Hauptstadt der DDR ausgebaut wurde, hatte West-Berlin – von der DDR umgeben – seine Rolle als Stadtstaat (Zivier 1998, Pfennig / Neumann 2000) neu zu definieren. Anknüpfend an die Verwaltungstraditionen der Weimarer Republik,

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übernahm (West-)Berlin3 in seiner Verfassung das Modell der dezentralisierten Einheitsgemeinde und blieb damit auf dem 1920 vorgezeichneten institutionellen Pfad (Kreutzer 1956 und 1959). Die Bezirke waren auch weiterhin keine eigenen Rechtspersönlichkeiten. Im Unterschied zu Paris hatten die Berliner Bezirke jedoch das Recht, gemäß den Grundsätzen der kommunalen Selbstverwaltung an den Verwaltungsaufgaben beteiligt zu werden, was eine weitgehende Organisations- und Personalhoheit sowie die selbständige Erledigung bezirklicher Aufgaben einschloss. Die Aufwertung der Berliner Senatsverwaltung zu „obersten Landesbehörden“, die besonderen Herausforderungen beim Wiederaufbau der Stadt und die exponierte geo-politische Lage begünstigten allerdings in der Folgezeit die Position der gesamtstädtischen Hauptverwaltung gegenüber der bezirklichen Administration. Ausdruck dieser Entwicklung war nicht zuletzt der – in den 1950er Jahren erstmals kodifizierte – Zuständigkeitskatalog, der für umfassende Aufgabenbereiche eine Kompetenz der Senatsebene oder zumindest weitreichende Aufsichtsrechte postulierte. Der immense – und überwiegend durch Bundesmittel finanzierte – Ausbau des öffentlichen Sektors führte jedoch auch bei der unteren Verwaltungsebene zu einem Kapazitätswachstum und verdeckte den Eindruck relativen Machtverlustes auf Seiten der Bezirke. Faktisch wurden bezirkliche Kompetenzen allerdings schrittweise ausgehöhlt, so dass die Bezirke Gefahr liefen, immer stärker auf organisatorische Hülsen ohne Bezug zur materiellen Substanz von öffentlichen Aufgaben reduziert zu werden. Die Stadtentwicklung (und damit auch die Entwicklung des politisch-administrativen Systems) war in dieser Phase entscheidend von der geo-politischen Insellage der Stadt geprägt. Die Aufgabe, die Lebensfähigkeit (West-)Berlins zu sichern, hatte eindeutige politische Priorität. Gleichwohl gab es einige Entwicklungen, die unter den besonderen Rahmenbedingungen der Stadt als funktionale Äquivalente zu dem betrachtet werden können, was im Zuge der Suburbanisierung in London und Paris zu beobachten war. Hierzu zählt zum Beispiel, dass auf Grund von Sanierungsmaßnahmen im Innenstadtbereich Wohnraumbedarf am Stadtrand entstand. Der hieraus resultierende wohnungspolitische Handlungsdruck mit dem Bau von Großsiedlungen in den Außenbezirken der Stadt konnte nur auf der gesamtstädtischen Planungsebene bewältigt werden. Hierbei handelte es sich um eine den West-Berliner Gegebenheiten entsprechende (im wahrsten Sinne des Wortes) „Intra-Muros“-Form der Suburbanisierung, die eine weitere Zentralisierung öffentlicher Aufgaben (zum Beispiel in der Verkehrsplanung sowie in der Ver- und Entsorgung) begünstigte und die zudem im Einklang mit dem Leitbild großer, leistungsfähiger Einheiten stand („big is beautiful“). Damit korrespondierten Versuche, eine „rationale“ ganzheitliche Stadtentwicklungspolitik zu betreiben, die 3 Die weiteren Ausführungen sind ausschließlich auf West-Berlin bezogen, weil die Politik- und Verwaltungsstrukturen Ost-Berlins zwar formal dem Modell der Magistratsverfassung entsprachen, faktisch aber Teil des „demokratischen Zentralismus“ waren und demzufolge nicht mit der strukturellen Entwicklung des politisch-administrativen Systems in West-Berlin vergleichbar sind.

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die inhaltlichen Spielräume für eigene bezirkspolitische Strategien einengten. Gerade dieser letzte Punkt kann als Indiz dafür genommen werden, dass es auch unter dem extremen Druck der geo-politischen Situation Berlins Versuche gegeben hat, sich in der Institutionengestaltung im Sinne des professionellen und mimetischen Isomorphismus (vgl. hierzu DiMaggio / Powell 1983) an Vorbildern zu orientieren. Im Laufe der Zeit zeigten sich allerdings relativ deutlich die Schwächen einer auf immer stärkere Zentralisierung ausgerichteten Politik. Die Kritik richtete sich vor allem auf die größer und schwerfälliger werdenden Apparate, die immer weniger in der Lage waren, drängende gesellschaftliche Probleme zu lösen, und die auf immer geringere Akzeptanz in der Bevölkerung stießen. Diese Signale sind vom Berliner Abgeordnetenhaus aufgegriffen worden, das im Jahre 1982 eine EnqueteKommission zur Verwaltungsreform einsetzte. Die Zeichen für eine grundlegende Reform waren damals günstig, weil die SPD ihre jahrzehntelange Regierungsmehrheit im Jahre 1981 unter anderem deshalb verloren hatte, weil sie für den Filz in der Verwaltung und für die generelle Leistungsunfähigkeit der Verwaltung verantwortlich gemacht wurde und weil die CDU nach Übernahme der Regierungsverantwortung erst gar nicht mit der „alten“ Verwaltung identifiziert werden wollte. Die Vorschläge in dem von der Kommission im Mai 1984 vorgelegten Schlussbericht (Enquete-Kommission 1984) richteten sich – neben der Überlegung, die öffentliche Verwaltung als Dienstleistungsunternehmen zu begreifen und verstärkt Instrumente der betriebswirtschaftlichen Steuerung und des Personalmanagements einzuführen – auch darauf, im Rahmen des zweistufigen Berliner Verwaltungsaufbaus die eigenverantwortliche bezirkliche Selbstverwaltung zu stärken. Die praktischen Konsequenzen aus den Vorschlägen der Enquete-Kommission hielten sich insgesamt aber in sehr engen Grenzen, weil die politische Mehrheit auf der gesamtstädtischen Ebene an einer Stärkung der Bezirke kein Interesse hatte.

3. Im Dilemma zwischen Hauptstadtfunktion und Stärkung der Bezirke Die Wiedervereinigung der Stadt mit ihren dramatischen politischen, wirtschaftlichen und finanzwirtschaftlichen Herausforderungen brachte eine neuerliche Reform- und Modernisierungsphase in Gang. Während ein Reformbündel – eingebettet in die dominierende Cutback-Strategie im öffentlichen Sektor – seit Mitte der neunziger Jahre vielfältige Maßnahmen zur managementorientierten Binnenmodernisierung der Senats- und Bezirksverwaltungen vereinte (vgl. Engelniederhammer u. a. 1999), versuchte man mit einem zweiten Reformpaket (vgl. Röber / Schröter 2002), das Verhältnis von Haupt- und Bezirksverwaltungen unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen neu auszubalancieren. Diesem Ziel dienten zum einen Veränderungen politischer Institutionen und Entscheidungsver-

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fahren, zum anderen die territoriale Neugliederung der Bezirksverwaltungsebene (Bezirksgebietsreform) und die Abschichtung von Verwaltungskompetenzen zugunsten der Bezirke (Funktionalreform). Bei den Verfassungsänderungen zu politischen Institutionen und Entscheidungsverfahren ging es z. B. darum, die Bevölkerung in den Bezirken über Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide verstärkt in die politischen Entscheidungsprozesse einzubeziehen (vgl. Wollmann 2002). Zudem wurde die politische Sichtbarkeit der einzelnen Bezirke dadurch erhöht, dass die Bezirksbürgermeister nicht mehr automatisch von der stärksten Fraktion gestellt, sondern von einer Koalition, die über die Stimmenmehrheit in der Bezirksverordnetenversammlung verfügt, gewählt werden. Einen besonders markanten Einschnitt in die gewachsenen Politik- und Verwaltungsstrukturen Berlins bildete die Neugliederung des Stadtgebiets zu Beginn des Jahres 2001 in zwölf anstelle von 23 Bezirken (die damit die ungefähre Größe der Londoner Boroughs angenommen haben). Obgleich diese tiefgreifende Gebietsreform vorrangig damit begründet wurde, Kosten bei der Verwaltungsführung zu senken, kann sie auch als ein Ansatz betrachtet werden, den Koordinationsaufwand zwischen den Bezirken zu verringern, die Stellung der Bezirke potenziell zu stärken und so das Verhältnis von zentraler und dezentraler politisch-administrativer Steuerung in der Stadt vor dem Hintergrund des Scheiterns zentralistisch-bürokratischer Systeme neu zu gewichten. Bei der zeitgleich mit der Bezirksgebietsreform auf den Weg gebrachten Funktionalreform wurde im Verhältnis von Haupt- und Bezirksverwaltungen – zumindest theoretisch – unter impliziter Bezugnahme auf das Subsidiaritätsprinzip von einer Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Bezirke ausgegangen, ohne dass jedoch der Charakter der „Einheitsgemeinde Berlin“ in Frage gestellt worden ist. So können die Bezirke beispielsweise bezirkliche Aufgaben eigenverantwortlich wahrnehmen (z. B. bei der Festsetzung von Flächennutzungs- und Bebauungsplänen), ihre Verwaltung unabhängig von Senatsvorgaben strukturieren und ihre Ausgabenpolitik im Rahmen eines Globalhaushaltes selbständiger gestalten. Allerdings behält sich die Hauptverwaltung in Aufgabenbereichen, die für die Stadtentwicklung besonders wichtig sind, eigene Handlungskompetenzen (wie z. B. bei der, von globalen ökonomischen Trends besonders betroffenen, Wirtschaftsförderung, wo die Bezirke hauptsächlich ergänzende Funktionen wahrnehmen) und ein punktuelles, an die Stelle der generellen Fachaufsicht getretenes Eingriffsrecht vor, das in den Fällen ausgeübt werden kann, in denen die Gesamtinteressen Berlins durch bezirkliche Aktivitäten und Entscheidungen beeinträchtigt werden. Diese Reform ist vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit sehr stark bürokratisierten Systemen in beiden Hälften der Stadt und vor dem Hintergrund der allgemeinen Diskussion zur Modernisierung des öffentlichen Sektors zu sehen. Die Modernisierung der Berliner Verwaltung ist quer durch die politischen Lager für erforderlich gehalten worden, weil man meinte, nur so den neuen Herausforderun4 Baßeler u. a.

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gen, denen sich die Stadt gegenübersah (wie denen der Folgen der Vereinigung und denen der wirtschaftlichen und der finanzpolitischen Krise), begegnen zu können. Unter Bezug auf organisatorische Entwicklungen in erfolgreichen privatwirtschaftlichen Unternehmen ist man insbesondere der Philosophie von leistungsfähigen dezentralen Einheiten gefolgt, die sich dann in analogen Entscheidungen für weniger und größere Bezirke und für eine Abschichtung von Aufgaben auf die Bezirke niedergeschlagen haben. Vereinzelte kritische Hinweise auf eventuell nicht vorhandene Fusionsvoraussetzungen und mögliche negative Fusionsfolgen hatten angesichts des empfundenen Reformdrucks keine Aussicht, im politischen Entscheidungsprozess berücksichtigt zu werden. Im Rückblick auf den langfristigen Institutionalisierungspfad Berlins (einschließlich der Reformphase nach der Wiedervereinigung der Stadt) lassen sich somit eindeutige Anzeichen dafür erkennen, dass die Zweistufigkeit während der gesamten Zeit das organisatorische Leitbild für die Einheitsgemeinde Berlin gewesen ist. Obgleich sich das Modell des zweistufigen Aufbaus von Politik und Verwaltung nicht unabhängig von externen globalen Trends (wie Industrialisierung, Suburbanisierung und Globalisierung) entwickelt hat, waren die Veränderungen im Verhältnis von zentraler und dezentraler Steuerung nie so tiefgreifend, dass dieses Modell grundsätzlich in Frage gestellt worden wäre. Alle Reorganisationen oszillierten mehr oder weniger stark um den schon vor nahezu 100 Jahren gefundenen Kompromiss. Parteipolitisch anfangs eindeutige Positionen – die Zentralisten auf der politischen Linken, die Dezentralisten im konservativ-bürgerlichen Lager – verschwammen im Laufe der Zeit immer mehr, so dass die Konfliktlinie in Bezug auf Zentralisierung und Dezentralisierung inzwischen quer durch alle politischen Parteien verläuft. Die Machtbalance zwischen den Verwaltungsebenen wird seit der Übernahme der Hauptstadtfunktionen allerdings in zunehmendem Maße von Aktivitäten der Bundesregierung beeinflusst. Mit Blick auf diese zentralen Hauptstadtfunktionen könnte die untere Verwaltungsebene Berlins in Zukunft immer öfter „Verlierer von Zuständigkeiten“ bei den Verhandlungen zwischen dem Bund und dem Land Berlin sein. Dies dürfte aber zunächst nur die Innenstadtbezirke betreffen – wie am Beispiel der eingeschränkten bezirklichen Planungshoheit im zentralen innerstädtischen Bereich deutlich geworden ist. Überdies nehmen die Senatsbehörden öffentlichkeitswirksame Projekte im Citybereich häufig zum Anlass, mit Hinweis auf gesamtstädtische Interessen von ihrem Eingriffsrecht Gebrauch zu machen. Insgesamt wird dies aber sicherlich auch in Zukunft nicht dazu führen, dass vom Leitbild der politisch-administrativen Zweistufigkeit in der Einheitsgemeinde Berlin substantiell abgewichen werden wird.

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III. Berlin, London und Paris: Institutionelle Arrangements im Vergleich Damit wird deutlich, dass sich in Berlin die Konstruktionsidee der dezentralisierten Einheitsgemeinde über einen Zeitraum von fast 100 Jahren als erstaunlich stabil erwiesen hat. Interessanterweise zeigt die Rekonstruktion der politischen und administrativen Strukturen von London und Paris, dass die institutionelle Entwicklung in diesen beiden Städten während des vergangenen Jahrhunderts ebenfalls von einer erstaunlichen Beständigkeit gekennzeichnet war (vgl. zur Bedeutung solcher Pfadabhängigkeiten Wollmann 2004). Die Grundidee des zweistufigen dezentralisierten Gemeindeverbandes in London mit „Boroughs“, denen als eigenständige „Local Authorities“ alle Gemeinderechte und -pflichten gewährt werden, lässt sich bis auf die Einrichtung des Metropolitan Board of Works (MBW) im Jahre 1855 und des London County Council (LCC) im Jahre 1889 zurück verfolgen (vgl. zur damaligen Situation Owen 1982, Boyne / Cole 1998, Davis 2001). Die Entscheidung, das Gebiet von Groß-London im Jahre 1965 politisch-administrativ neu zu ordnen und mit dem Greater London Council (GLC) eine neue „Dachorganisation“ zu etablieren, die den Herausforderungen der ausufernden Suburbanisierung besser gerecht werden sollte, folgte ebenfalls diesem Pfad institutioneller Entwicklung. Die Entscheidung der Thatcher-Regierung, den GLC im Jahre 1986 abzuschaffen, stellte hingegen einen eklatanten Bruch dieser Entwicklungslinie dar, der vordergründig mit Schwächen des GLC begründet wurde, in Wirklichkeit aber eine vorwiegend parteipolitisch gefärbte Entscheidung war, die (linke) „Labour-Bastion“ – zusammen mit sechs weiteren labour-dominierten metropolitanen Ballungsräumen – „zu schleifen“ und London seiner politisch einflussreichen Gesamtrepräsentanz zu berauben (O’Leary 1987). Dieses fragmentierte System führte zu erheblichen funktionellen Störungen der gesamtstädtischen Aufgabenerfüllung („headless horror“), die die Notwendigkeit einer gesamtstädtischen Vertretung verdeutlichten. Diese institutionelle Fehlentwicklung wurde von der 1997 ins Amt gewählten Labour Regierung im Zuge von nationalen Regionalisierungsbestrebungen korrigiert (vgl. hierzu Pimlott / Rao 2002, Travers 2004), indem im Jahre 2000 die Greater London Authority (GLA) geschaffen wurde, welche aus einem direkt gewählten, mit Exekutivbefugnissen ausgestatteten Bürgermeister und 25 Mitgliedern einer London Assembly besteht. Für Paris gilt die Einschätzung der institutionellen Beständigkeit noch stärker als für Berlin und London (vgl. zum Folgenden Kuhlmann 2005a und b). Die Stadt (Ville de Paris) wurde zum Ende des 18. Jahrhunderts als zentralisierte Einheitsgemeinde mit zwei Präfekten (einem für die allgemeinen Verwaltungsangelegenheiten und einem für die Polizeiaufgaben) unmittelbar der Staatsverwaltung unterstellt (siehe auch Glum 1920). Das Territorium der Stadt wurde in 20 Arrondissements unterteilt, die hinsichtlich ihrer Funktionen aber bei weitem nicht an die Kompetenzen heranreichen, die die Berliner Bezirke oder gar die Londoner Boroughs hatten bzw. haben. An dieser Situation änderte sich – von kurzen Zwi4*

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schenspielen 1848 und 1870 / 71 abgesehen – bis weit in das 20. Jahrhundert hinein nichts. Das relativ stabile Verhältnis zwischen der Stadt Paris und dem französischen Staat geriet erst in den 1960er Jahren unter Veränderungsdruck. Die starke Ausdehnung des metropolitanen Ballungsraumes über die „Intra Muros“-Grenzen des traditionellen Stadtkerns hinaus sowie der sich wandelnde demographische und ökonomische Charakter der Ville de Paris von einer kompakten Industriestadt zu einer mehr und mehr „bürgerlichen“ post-industriellen Metropole signalisierten politisch-administrativen Reformbedarf. In der Folge dieser Erkenntnis und der landesweiten Bemühungen um eine stärkere Dezentralisierung des nationalen Politik- und Verwaltungssystems führte dies 1964 zunächst zur Reorganisation der althergebrachten Seine-Departements (Seine, Seine et Marne, Seine et Oise), wobei der Ville de Paris – die den kommunalrechtlichen Charakter einer Stadt hatte, praktisch aber nach wie vor nichts anderes als ein staatlicher Verwaltungsbezirk war – der Status eines Departements zuerkannt wurde (siehe Hauck Walsh 1968). Die neu geschaffenen acht Departements im Pariser Ballungszentrum (einschließlich der Ville de Paris) wurden überdies zur La Region Parisienne zusammengefasst und bildeten somit den Kristallisationspunkt der 1971 eingeführten Region Ile de France, die nunmehr eine von landesweit 21 Einrichtungen dieser neu gegründeten Verwaltungsebene repräsentiert. In diesem Geflecht lokaler und regionaler Verwaltungen (bestehend aus 1.300 Kommunen und acht Departements in der Region Ile de France) blieb die nun selbständigere Kernstadt Paris mit 2,1 Millionen Einwohnern (und damit etwa einem Viertel der Einwohnerschaft der gesamten Ile de France) der zentrale Akteur in den Beziehungen mit den benachbarten Verwaltungseinheiten und der Region. 1975 wurde Paris rechtlich den anderen französischen Kommunen gleichgestellt. 1977 erhielt die Stadt erstmals seit Ende des 18. Jahrhunderts wieder einen Bürgermeister, der hinsichtlich der kommunalen (zunächst aber noch nicht der departementalen) Aufgaben den Präfekten von Paris ablöste. Als Ergebnis des Dezentralisierungsgesetzes von 1982 (vgl. zur französischen Dezentralisierungspolitik Mabileau 1996) profitierte Paris mit seinem Status als Departement von zusätzlich übertragenen Aufgaben und von deutlich gestiegenen Ressourcen. In den letzten Jahren hat es darüber hinaus mit den Gesetzen aus den Jahren 1986 und 2002 weitere Bemühungen gegeben, die Institutionen der Stadtpolitik und auch die der Arrondissements zu stärken. So wurden mit dem Gesetz vom 29. Dezember 1986 erstmals einige der Polizeiaufgaben auf den Bürgermeister von Paris übertragen, bei denen es sich allerdings im Vergleich zur Ausübung der Polizeigewalt in Berlin und London um vergleichsweise marginale Zuständigkeiten handelt, die offenbaren, in welchem Maße Paris nach wie vor unter der Kuratel des Polizeipräfekten steht. Nachdem die Arrondissements auf Basis des Gesetzes aus dem Jahre 1982 eine eingeschränkte Personalhoheit erhalten hatten, ist ihre Position mit dem Reformgesetz vom 27. Februar 2002 – wenn auch in sehr bescheidenem Umfange – gestärkt worden. Darüber hinaus hat es Bemühungen gegeben, die lokale Demokratie in den Bezirken durch die Einrichtung von Konsultativorganen auf der Quartiersebene zu stärken. Insgesamt kann man zwar nicht sagen, dass mit diesen Veränderungen zugunsten der Arrondissements prin-

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zipiell am zentralistisch-hierarchischen Verwaltungssystem der Stadt Paris gerüttelt worden ist; dennoch ist eine leichte Tendenz zur politischen Aufwertung der bezirklichen Ebene unübersehbar. Wenn man die institutionellen Entwicklungslinien der drei Städte insbesondere in den letzten drei Jahrzehnten im Vergleich betrachtet, dann fällt zum einen die moderate Konvergenz der Verwaltungsregimes, die historisch an ganz unterschiedlichen Ausgangspunkten angesiedelt waren, in Bezug auf eine neue Balance von Zentralisierung und Dezentralisierung auf. Dies deutet im Sinne der ökonomischinstitutionalistischen Interpretation (vgl. hierzu Röber / Schröter 2004) darauf hin, dass externe Faktoren (wie die Globalisierung) einen institutionellen Veränderungsdruck erzeugen. Zum anderen zeigt die Rekonstruktion der politischen und administrativen Strukturen von Berlin, London und Paris aber auch, in welch hohem Maße sich die drei Städte in institutionellen Korridoren der Pfadabhängigkeit bewegen, deren „Leitplanken“ schon sehr früh in der Institutionengeschichte der drei Städte mit grundlegenden Weichenstellungen fixiert wurden. Ganz im Sinne der historisch-institutionalistischen Interpretation kann demzufolge nicht von einem deterministischen Zusammenhang zwischen äußeren Einflussfaktoren und der Institutionenentwicklung gesprochen werden. Vielmehr wirken die Grundmodelle der dezentralen Einheitsgemeinde (Berlin), des dezentralisierten Gemeindeverbandes (London) und der zentralisierten Einheitsgemeinde (Paris) im Zusammenspiel mit den jeweiligen Staatstraditionen als wirksame Filter oder Verstärker globaler Entwicklungstrends. Im Ergebnis scheint sich derzeit allerdings ein zweistufiges Metropolenregime herauszuschälen, das sich auf dem Wege zu einer mittleren Position auf dem Zentralisierungs-Dezentralisierungsspektrum befindet und damit weitere Dezentralisierungsbemühungen in Paris und Berlin sowie eine Konsolidierung der gesamtstädtischen Ebene in London erwarten lässt.

IV. Abschließende Einschätzungen Für das politisch-administrative System Berlins lässt sich daraus – unter besonderer Berücksichtigung des Spannungsverhältnisses von zentraler und dezentraler Steuerung – eine Reihe von Anregungen ableiten, die im Folgenden kurz – und manchmal auch normativ zugespitzt – skizziert werden (vgl. hierzu Röber / Schulz zur Wiesch 2003). Zunächst kann festgestellt werden, dass der mit dem Groß-Berlin-Gesetz aus dem Jahre 1920 geschaffene zweistufige Verwaltungsaufbau – wie der Blick nach London und Paris zeigt – offensichtlich eine organisatorisch angemessene Grundstruktur für Metropolen ist, weil Städte dieser Größenordnung angesichts ihrer Ausdehnung und Bevölkerungszahl nicht von einer zentralen Stelle regiert werden können. Veränderungen sind allerdings in der überregulierten Prozessstruktur erforderlich, weil eine unzweckmäßige Organisation von Entscheidungsprozessen und Arbeitsabläufen Effizienz und Effektivität des Verwaltungshandelns beein-

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Manfred Röber

trächtigt. Außerdem ist zu beachten, dass es in allen zweistufigen Systemen zwischen den beiden Ebenen einen nicht unerheblichen (vertikalen) Koordinationsbedarf gibt, der den Anforderungen von Kooperation und Konflikt zwischen Senatsverwaltungen und Bezirksverwaltungen gerecht werden muss. Die Balance von Kooperation und Konflikt kann nur dann gelingen, wenn die Konfliktregelung dem Geist der Verfassung entspricht. Hieran mangelt es aber, weil die Senatsverwaltungen große Schwierigkeiten haben, die Bezirke – wie in der Verfassung von Berlin formuliert – „an der Verwaltung nach den Grundsätzen der Selbstverwaltung zu beteiligen“. Der praktische Umgang mit dem zweistufigen System zeichnet sich häufig dadurch aus, dass die Senatsverwaltungen die Verfassung im Sinne eines überzogenen Zentralismus interpretieren, indem sie Einzelentscheidungen und Aufgaben mit der Begründung an sich ziehen, sie seien von „gesamtstädtischer Bedeutung“ oder bedürfen „wegen ihrer Eigenart zwingend einer einheitlichen Durchführung“. An dieser Situation sind die Bezirke nicht unschuldig. Gerade bei unangenehmen Entscheidungen haben sie sich in der Vergangenheit zu häufig hinter den Senatsverwaltungen versteckt. Die Übertragung von Zuständigkeiten und Entscheidungskompetenzen auf die Bezirke kann aber nur dann funktionieren, wenn diese auch bereit sind, die Verantwortung für die Folgen ihrer Entscheidungen zu übernehmen. Zudem weist die horizontale Selbstkoordination zwischen den Bezirken erhebliche Mängel auf. Zur Beseitigung dieser Mängel sind geeignete Organisationsformen zu entwickeln, die den gleichzeitigen Anforderungen von Kooperation und Konkurrenz zwischen den Bezirken gerecht werden. So könnten z. B. regelmäßige themenorientierte Bürgermeisterkonferenzen und Stadträtekonferenzen (ohne Beteiligung der Senatsverwaltungen) Clearingfunktionen übernehmen und abgestimmte Handlungsstrategien vorbereiten. Angesichts der dramatischen Haushaltslage des Landes Berlin werden sich die Bezirke auf weitere finanzielle Einschnitte einstellen müssen. Dabei wird man aber beachten müssen, dass sie auf Dauer nur dann eine selbständige Rolle spielen können, wenn sie über ein Mindestmaß an öffentlichen Aufgaben und an Finanzautonomie verfügen. Zur Finanzautonomie gehört nicht nur, im Rahmen von produktorientierten Globalbudgets eigenverantwortliche Ausgabenentscheidungen zu treffen. Hierzu gehört auch, an den im Bezirk erzielten Einnahmen zu partizipieren. Bezirke ohne eigene Einnahmen unterliegen immer der Gefahr, als Bittsteller behandelt zu werden. Außerdem besteht bei den Bezirken unter diesen Bedingungen wenig Interesse an der Generierung von eigenen Einnahmen. Generell hat für die Finanzverfassung zu gelten: Eine Übertragung von Aufgaben auf die Bezirke muss mit der Übertragung von Ressourcen verbunden sein (Konnexitätsprinzip). Unter dem vor allem aus demokratietheoretischer Perspektive wichtigen Gesichtspunkt, die bestehenden Instrumente repräsentativer Demokratie zu sichern und die Instrumente unmittelbarer lokaler Demokratie (Bürgergehren, Bürgerentscheid, Direktwahl von Exekutivpolitikern) zu erweitern, ist es wichtig, dass die

Ist die Berliner Verwaltung noch zu retten?

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Bezirke substantielle Aufgaben eigenverantwortlich bearbeiten können. Um die Verantwortung auch personell und politisch sichtbar zu machen, sollten die Möglichkeiten einer Direktwahl der Bezirksbürgermeisterinnen und -bürgermeister und der Bildung des „Politischen Bezirksamtes“ (das heißt, dass das Bezirksamtskollegium nicht nach der Stärke der Parteien in der Bezirksverordnetenversammlung, sondern nach parteipolitischen Mehrheiten zusammengesetzt wird) geprüft werden. Ungeachtet der Ausgestaltung der kommunalverfassungsrechtlichen Regelungen muss das Verfahren zur Auswahl der Stadträte bzw. Dezernenten in Zukunft aber auf jeden Fall wesentlich transparenter (zum Beispiel in Form bundesweiter Ausschreibungen) gestaltet und aus der „Hinterzimmerkungelei“ der politischen Parteien ans Licht der Öffentlichkeit gezogen werden. Mit der Verlagerung der Hauptstadtfunktion nach Berlin ist für die Stadt eine neue Situation entstanden. Mit Blick auf das Verhältnis von Zentralisierung und Dezentralisierung hat das z. B. die Konsequenz, dass die bezirkliche Planungshoheit im „zentralen Bereich“ weitgehend außer Kraft gesetzt ist, weil das Planungsrecht für die Verfassungsorgane des Bundes auf der Grundlage von Sonderregelungen in Ausfüllung des Hauptstadtvertrages von Senat und Abgeordnetenhaus bereitgestellt wird (§ 8 AGBauGB). Zusätzlich sind die Kompetenzen des Bezirks Mitte im zentralen Bereich durch eine extensive Eingriffspraxis des Stadtentwicklungssenators reduziert worden. Wenn damit schrittweise ein Teilgebiet des Bezirks Mitte („Hauptstadtbereich“) unter staatliche Verwaltung gestellt wird, dann ist dies für den Bezirk nicht unproblematisch. Deshalb erscheint es ratsam, ein Organisationsmodell für den zentralen Regierungsbereich zu entwickeln, das sowohl den Interessen des Bezirks Mitte als auch der Landesregierung Berlins und der Bundesregierung gerecht wird. Die mögliche Fusion der beiden Bundesländer Berlin und Brandenburg muss keine gravierenden Konsequenzen für das zweistufige Modell der dezentralen Einheitsgemeinde Berlin haben, weil es die Zweistufigkeit von Politik und Verwaltung in Berlin schon seit 1920 – also lange vor der Bildung des Stadtstaates Berlin – gibt. Dieser Einschätzung hat auch der Staatsvertrag der Länder Berlin und Brandenburg über die Bildung eines gemeinsamen Bundeslandes (Neugliederungs-Vertrag) vom 22. 6. 1995 Rechnung getragen, der überdies auch eine ausdrückliche Aufforderung enthielt, die Position der Bezirke in der interkommunalen Kooperation zu stärken (Art. 21 (3) Neugliederungs-Vertrag). Die Bezirke werden sich allerdings im Falle einer Fusion einem zunehmenden Druck ausgesetzt sehen, weil die Senatsverwaltungen ihre Ministerialaufgaben nach Potsdam abgeben müssten und weil damit die Gefahr bestünde, dass sie sich hinsichtlich der Aufgaben und Kompetenzen bei den Bezirken schadlos halten würden. Schließlich können sich für die Balance von Zentralisierung und Dezentralisierung völlig neue Herausforderungen aus der aus finanz- und ordnungspolitischen Gründen forcierten Ausgliederung bzw. Privatisierung öffentlicher Aufgaben ergeben. Dies kann (wie z. B. die aktuelle Entwicklung bei den öffentlichen Bädern und bei den Kindertagesstätten zeigt) dazu führen, dass der substantielle Kern

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Manfred Röber

bezirklicher Aufgaben immer weiter ausgehöhlt wird. Selbst wenn einzelne öffentliche Aufgaben nicht auf die Ebene der Senatsverwaltungen verlagert oder grundsätzlich in Frage gestellt werden, müssen sich die Bezirke bei vielen dieser Aufgaben einem immer stärker werdenden Wettbewerb mit gemeinnützigen und privaten Anbietern stellen. Überdies bieten die neuen Informationstechniken die Möglichkeit, dezentrale Anlaufstellen für die Bürger zu schaffen und gleichzeitig die Bearbeitung und die Entscheidungskompetenz zu zentralisieren. Deshalb müssen die Bezirke darauf achten, dass sie im Rahmen der zweistufigen dezentralen Einheitsgemeinde nicht zu funktionslosen organisatorischen Hülsen degenerieren. Wenn es gelingt, das zweistufige Modell der dezentralisierten Einheitsgemeinde in der hier skizzierten Weise weiterzuentwickeln, dann könnte ein Modell entstehen, welches Anlass zu der berechtigten Hoffnung gibt, dass die Berliner Verwaltung trotz aller aktuellen Probleme durchaus noch zu retten ist, und welches darüber hinaus auch Vorbildcharakter für andere Großstädte und Metropolen haben könnte.

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Ist die Berliner Verwaltung noch zu retten?

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Zielkonflikte zwischen regionaler Konsolidierungsund makroökonomischer Stabilisierungspolitik: das Beispiel Berlin Von Michael Heine

Ich weiß zwar nicht, wo ich hinfahre, aber dafür bin ich schneller dort. (Qualtinger)

I. Einleitung Die Vorstellungen, wie eine Erfolg versprechende Stabilisierungspolitik – sei es auf gesamtwirtschaftlicher oder auf regionaler Ebene – aussehen sollte, gehen innerhalb der Volkswirtschaftlehre bekanntlich weit auseinander. Vor allem konkurrieren keynesianische und neoklassische Vorstellungen miteinander (vgl. Tabelle 1). Es ist nicht das Ziel dieses Aufsatzes die beiden Paradigmen miteinander zu vergleichen und kritisch zu würdigen (vgl. hierzu Heine / Herr 2003). Stattdessen sollen Kriterien einer makroökonomischen Stabilisierungspolitik aus einer keynesianischen Perspektive diskutiert werden, um auf dieser Grundlage zu zeigen, welchen Anforderungen auch regionale Wirtschaftspolitiken genügen müssen, wenn sie einen Beitrag zur gesamtwirtschaftlichen Stabilisierungspolitik leisten wollen. Im Zentrum stehen hier die Lohn- und die Fiskalpolitik, da geldpolitische Entscheidungen nicht im Ermessensbereich von Bund, Ländern und Gemeinden liegen. Der Beitrag der Länder und Gemeinden zur Lohn- und Fiskalpolitik ist keinesfalls eine zu vernachlässigende Größe: Beispielsweise betrug der Anteil des Bundes an den gesamten öffentlichen Sachinvestitionen aller Gebietskörperschaften im Jahr 2004 nur ziemlich exakt 20 % (vgl. DIW 2004, S. 512). Auch der Anteil von Ländern und Gemeinden an den gesamten öffentlichen Lohn- und Gehaltsaufwendungen ist beträchtlich (vgl. ebenda). Daher kann der Bund, auf sich allein gestellt, nur unzureichend die makroökonomische Entwicklung stabilisieren. Die andere Seite der Medaille ist, dass gesamtwirtschaftliche Krisenprozesse eine Stabilisierungs- und Konsolidierungspolitik auf Länderebene und in den Kommunen deutlich erschweren können und zuweilen scheitern lassen. Insofern sollten Länder und Gemeinden ein genuines Interesse an einer gesamtwirtschaftlich funktionalen Lohn- und Fiskalpolitik haben. Allerdings scheint der eigene Bei-

60

Michael Heine

trag hierzu zu unbedeutend zu sein, um sich an einer gesamtwirtschaftlichen Perspektive zu orientieren. Damit aber entsteht die Gefahr, dass die gesamtwirtschaftliche Entwicklung unter ihren Möglichkeiten bleibt, weil sich jede dezentrale Einheit einzelwirtschaftlich durchaus funktional verhält und gerade dadurch die gesamtwirtschaftliche Entwicklung belastet. Eine solche „Logik“ lässt sich für Berlin sehr anschaulich nachzeichnen. Tabelle 1 Systemvergleich Neoklassik (angebotsorientiert)

(Post-)Keynesianismus (nachfrageorientiert)

Geldpolitik

 Geld ist neutral  Geldmenge exogen durch Zentralbank gesetzt  Geldmenge legt Preisniveau fest  Regelbindung der Geldpolitik

 Geld ist nicht neutral  Geldmenge endogen bestimmt durch Wachstum und Portfolioentscheidungen  Diskretionäre Geldpolitik an expansiver Grenze

Lohnpolitik

 Inverser Zusammenhang zwischen Reallohn und Beschäftigung  Lohnzurückhaltung fördert Beschäftigung

 Zusammenhang zwischen Nominallohn und Preisniveau  Norm für Lohnerhöhungen: Trendproduktivität plus Zielinflationsrate  Verletzung der Norm: Deflation oder Inflation

Fiskalpolitik

 Wirkungslos (crowding out)

 Notwendig: a) automatische Stabilisatoren b) Verstetigung der Investitionen

Staatsverschuldung  Abbau (auch in der Krise)

 antizyklische Entwicklung  langfristig: goldene Regel

Um den Kriterien einer funktionalen Stabilisierungspolitik eine höhere Plausibilität zu verleihen, sollen in knapper Form einige Ergebnisse eines Forschungsprojekts (vgl. Fritsche u. a. 2005) wiedergegeben werden, an dem der Autor mitgewirkt hat. Damit ergibt sich der folgende Aufbau für diesen Aufsatz: Zunächst werden Kriterien für eine makroökonomisch funktionale Fiskal- und Lohnpolitik aufgestellt und am Beispiel ausgewählter Länder überprüft. Bei den ausgesuchten Ländern handelt es sich um Deutschland, Großbritannien, Japan und die USA. Anschließend wird gezeigt, dass Berlin gegen diese Anforderungen erheblich verstoßen hat. Im Ergebnis wurde nicht nur ein aktiver Beitrag zur nunmehr fünfjährigen wirtschaftlichen Stagnation in Deutschland geleistet, sondern zugleich wurden die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Regionalentwicklung in Berlin negativ beeinflusst. Drittens wird überprüft, ob Berlin zumindest seine

Zielkonflikte zwischen Konsolidierungs- und Stabilisierungspolitik

61

eigenständig definierten wirtschaftspolitischen Ziele erreichen konnte. Schließlich wird ein knappes wirtschaftspolitisches Fazit gezogen.

II. Fiskal- und lohnpolitische Kriterien einer funktionalen Makropolitik Einer keynesianischen Anforderung zufolge sollten die Löhne jährlich die Trendproduktivität plus die Zielinflationsrate der Zentralbank ausschöpfen (vgl. Tabelle 1). Lohnerhöhungen im Rahmen der Produktivitätsfortschritte sind kostenneutral und führen daher ceteris paribus zu einer Inflationsrate von Null. Tatsächlich aber streben alle Zentralbanken der Welt eine Zielinflationsrate an, die üblicherweise zwischen zwei und drei Prozent liegt (vgl. Bofinder u. a. 1996). Dadurch gewinnen sie Abstand zu deflationären Prozessen und erhalten sich den Spielraum, notfalls die Realzinsen senken zu können. Demnach sind aus dieser Perspektive jährliche Lohnsteigerungen zwischen drei und vier Prozent funktional. Die Abbildung 1 zeigt die unterschiedlichen Lohnentwicklungen in den vier ausgewählten Ländern. Vor allem ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ist die Lohnentwicklung in Großbritannien und in den USA im Trend in etwa dieser Norm gefolgt. In Deutschland blieb die Lohnentwicklung ab Mitte der 1990er Jahre deutlich unterhalb der Norm und in Japan wurden die Nominallöhne sogar gesenkt. Auch wenn die Entwicklung der Produktivität in den jeweiligen Ländern berücksichtigt wird, also die Lohnstückkosten miteinander verglichen werden, ändert sich das Bild nicht. Ebenso führt ein Vergleich der Reallohnentwicklung zu keinem anderen Ergebnis (vgl. Fritsche u. a. 2005, S. 81). Im Kontext der neoklassischen Theorie hätte man erwarten müssen, dass die Wachstums- und Beschäftigungsdynamik in Japan und Deutschland ausgeprägter war als in den USA und Großbritannien. Tatsächlich aber zeigt sich das umgekehrte Bild (vgl. Abbildungen 2 und 3). Sowohl die Wachstumsraten des realen BIP als auch die Zuwächse bei der Beschäftigung lagen in den USA und in Großbritannien deutlich oberhalb jener in Deutschland oder Japan. Die Überzeugung keynesianischer Autoren, wonach es keinen inversen Zusammenhang zwischen (Real-)Lohn- und Beschäftigungsentwicklung gibt, findet hier eine empirische Bestätigung.1 Aus einer keynesianischen Sicht der Dinge ist aufgrund der unterschiedlichen Nominallohnentwicklung zu erwarten, dass die Inflationsraten in Deutschland und vor allem in Japan deutlich niedriger liegen als in den beiden anderen Ländern (vgl. Tabelle 1, Lohnpolitik). Auch dieser Aspekt wird, wie die Abbildung 4 zeigt, empirisch bestätigt. Besonders deutlich wird die Dysfunktionalität sinkender Nominallöhne in Japan. Hier hat diese Lohnpolitik keinesfalls zu einer Verbesserung der Arbeitsmarktkonstellationen, sondern zu Deflation geführt. 1 Selbstverständlich ist das neoklassische Paradigma mit solchen (und anderen) empirischen Befunden nicht zu falzifizieren, da sie „am Schutzschild“ des Paradigmas abprallen (vgl. Kuhn 1967).

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Michael Heine

180 170 160 150 140 130 120 110 100 1991

1993

Japan

1995

Deutschland

1997

1999

Großbritannien

USA

2001

2003

Quelle: Ameco, Datenbank der EU-Kommission

Quelle: Ameco, Datenbank der EU-Kommission.

Abbildung 1: Entwicklung der nominalen Arbeitnehmerentgelte (1991 = 100)

155

145

135

125

115

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95 1990

1992

1994

1996

Deutschland

Großbritannien

USA

Japan

1998

2000

2002

2004

Quelle: Ameco, Datenbank der EU-Kommission

Quelle: Ameco, Datenbank der EU-Kommission.

Abbildung 2: Entwicklung des realen BIP im Vergleich (1991 = 100)

Zielkonflikte zwischen Konsolidierungs- und Stabilisierungspolitik

63

120

115

110

105

100

95 1990

1992

Deutschland USA

1994

1996

1998

2000

Großbritannien Japan

2002

2004

Quelle: Ameco, Datenbank der EU-Kommission

Quelle: Ameco, Datenbank der EU-Kommission.

Abbildung 3: Beschäftigungsentwicklung im Vergleich (Vollzeitäquivalenz; 1991 =100)

10%

8%

6%

4%

2%

0%

-2% 1990

1992

Deutschland

1994

Großbritannien

1996

USA

1998

Japan

2000

2002

Quelle: Ameco, Datenbank der EU-Kommission

Quelle: Ameco, Datenbank der EU-Kommission.

Abbildung 4: Inflationsraten im Vergleich (Konsumentenpreise)

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Michael Heine

Des Weiteren zeigt sich, dass Entwicklungen des Reallohns immer ein Ergebnis von Marktprozessen ist. Denn die Reallohnhöhe ist abhängig von der Entwicklung des Preisniveaus und somit von Marktkonstellationen. In Japan beispielsweise haben sinkende Nominallohnentwicklungen nicht zu sinkenden Reallöhnen geführt, weil das Preisniveau noch schneller gefallen ist (vgl. Fritsche u. a. 2005, S. 81). Dies zeigt, dass die Gewerkschaften realiter nicht einmal dann eine Politik der Reallohnsenkung Erfolg versprechend verfolgen können, wenn sie dies, aus welchen Gründen auch immer, gern möchten.2 Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen sind lohnpolitische Entwicklungen dann funktional, wenn sie dem Wachstum der Trendproduktivität plus der Zielinflationsrate der Zentralbank folgen. Darüber hinaus gehende Lohnabschlüsse drohen eine Lohn-Preis-Spirale anzustoßen und darunter bleibende laufen Gefahr, deflationäre Prozesse zu initiieren. Man wird sehen, dass gerade der Berliner Senat gegen dieses Funktionalitätsgebot massiv verstoßen hat. Ein weiterer relevanter makroökonomischer Akteur ist die Fiskalpolitik, da mit Hilfe der Einnahmen- und Ausgabenpolitik stabilisierend auf die ökonomische Entwicklung eingewirkt werden kann. Das folgende, stark vereinfachte, Einnahmen-Ausgaben-Konto des Staates kann diesen Aspekt verdeutlichen.3 Staatliches Einnahmen-Ausgaben-Konto Einnahmen  Steuern  Umsatzsteuer  Lohnsteuer  Einkommensteuer  Körperschaftsteuer  Kreditaufnahme

Ausgaben     

Löhne Investitionen Transfers Subventionen Zinsen

Das Konto zeigt, dass der Budgetsaldo unmittelbar wirtschaftliche Wachstumsphasen widerspiegelt, also abhängig ist von der ökonomischen Entwicklung. In Aufschwungphasen steigen marktendogen die Einnahmen an und die Ausgaben für Transfers, beispielsweise an die Arbeitslosenversicherung, sinken. Dadurch sinkt ceteris paribus die Kreditaufnahme oder es kommt sogar zu Budgetüberschüssen. Abschwünge wiederum führen endogen zu Defiziten. Sie resultieren aus den sinkenden Steuereinnahmen und den gleichzeitig steigenden Transferausgaben. 2 Auf diesen Aspekt hat Keynes bereits vor rund 70 Jahren eindringlich hingewiesen (vgl. Keynes 1936, S. 9 ff.) und es bleibt ein Geheimnis der Theoriegeschichte, warum sich diese, an sich doch völlig triviale Erkenntnis, bis heute in neoklassischen und ISLM-keynesianischen Modellen nicht durchgesetzt hat. 3 Natürlich sind auch andere Systematiken denkbar, indem z. B. Transfers, Subventionen und bauliche Sanierungsmaßnahmen als konsumtive Sachausgaben zusammengefasst werden.

Zielkonflikte zwischen Konsolidierungs- und Stabilisierungspolitik

65

Dehnt der Staat im Aufschwung seine Ausgaben, also üblicherweise seine Investitionsausgaben, aus oder senkt er die Steuern, ohne seine Ausgaben entsprechend zu reduzieren, so erhöht er die Gefahr einer konjunkturellen Überhitzung. Senkt er seine Ausgaben im Abschwung oder erhöht er die Steuern, ohne diese Mehreinnahmen auszugeben, so kommt es zu negativen Multiplikatorwirkungen, die die krisenhafte Entwicklung noch verstärken und zu weiteren Einnahmeverlusten führen. Im Folgenden soll das Augenmerk auf die Ausgabenpolitik gelegt werden, da die steuerpolitischen Handlungsspielräume der Länder und Gemeinden sehr begrenzt sind. Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass aus einer keynesianischen Sicht eine fiskalische Stabilisierungspolitik antizyklische Akzente setzen muss. Demnach muss sie erstens konjunkturell bedingte Budgetschwankungen akzeptieren. Zweitens sollten die diskretionären Ausgaben des Staates – vor allem die Investitionsausgaben – stabilisiert werden. Drittens sollte das Budget immer dann, wenn die Ökonomie ihr langfristiges Trendwachstum erreicht, ausgeglichen sein. Wenn überhaupt, dann können in einer solchen Konstellation jene Investitionen mittels Kredit finanziert werden, die auch tatsächlich pekuniäre Erträge in Höhe der Investitionskosten abwerfen. Eine solche fiskalische Ausrichtung würde zwangsläufig in Rezessionen zu Defiziten und in Aufschwüngen zu Überschüssen führen, die zur Rückzahlung der Kredite verwendet werden sollten. Dass der Maastrichter Stabilitäts- und Wachstumspakt eine solche fiskalische Ausrichtung eher erschwert als fördert, liegt auf der Hand. Es geht also nicht um aktive Konjunkturprogramme, die in der Tat mit Problemen der Konjunkturprognosen und des time-lags behaftet sind, wenngleich auch sie in Phasen außergewöhnlich schwerer ökonomischer Krisen sinnvoll sein können. Die Abbildung 5 zeigt, dass die USA und Großbritannien, im Unterschied zu Deutschland, eine solche Fiskalpolitik im Untersuchungszeitraum betrieben haben. Deutliche Defizite während der Rezessionen Anfang der 1990er und 2000er Jahre gingen mit erheblichen Budgetüberschüssen in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre einher.4 Im Unterschied zu diesen Staaten hat Deutschland gegen eine funktionale Fiskalpolitik mehrfach verstoßen. Trotz eines starken Wirtschaftsaufschwungs Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre kam es in dieser Phase zu einer erheblichen Kreditaufnahme, mit der die deutsche Vereinigung im Wesentlichen finanziert wurde. Hier wären Steuererhöhungen ohne Zweifel sinnvoller gewesen. Mit der Krise 1992 / 93 wechselte dann der Kurs und es kam zu einer restriktiven Fiskalpolitik, nicht zuletzt, um jenes Maastricht-Kriterium zu erfüllen, wonach die jährliche Nettoneuverschuldung nicht mehr als 3 Prozent betragen darf. Ab 2000 hat man dann, trotz einer mehrjährigen Stagnationsphase, versucht, die Nettoneuverschuldung unter 3 Prozent am BIP zu halten, was erwartungsgemäß nicht geklappt hat. 4 Allerdings deutet vor allem die Steuerpolitik der gegenwärtigen US-Regierung darauf hin, dass dieser Kurs mittlerweile verlassen worden ist.

5 Baßeler u. a.

1990

1992

1996

1998

Budgetsaldo in Prozent am BIP, Deutschland (West)

reale Wachstumsrate(bis 1991 Deutschland (West) ab 1992 Gesamt-Deutschland

2000 2002

1990

1992

Wachstumsrate (real)

1996

1998 2000

Quelle: OECD, MEI & Economic Outlook

1996

0

1992 Wachstumsrate (real)

1990

1996 Budgetsaldo in % am BIP

1994

2002

1998

2000

2002 Quelle: IWF, International Financial Statistics 2004; Council of Economic Advisors

Quelle: IWF, International Financial Statistics 2004; Council of Economic Advisors.

-10

-8

-6

-4

-2

USA

2000

Quelle: AMECO; National Statistics Online

1998

Budgetsaldo in Prozent am BIP

1994

Abbildung 5: Reales Wachstum und Budgetsaldo in Prozent des BIP

Budgetsaldo in Prozent am BIP

1994

Quelle: OECD, MEI & Economic Outlook.

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0

2

2

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Prozent

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Japan

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Wachstumsrate (real)

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Großbritannien

Quelle: Ameco; National Statistics Online.

-10

-8

-6

-4

4

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Prozent

2002

Quelle: IIWF, International Financial Statistics 2004; Sachverständigenrat

Quelle: IWF, International Financial Statistics 2004; Sachverständigenrat.

-10

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1994

0 -2

2

0

-2

4

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Prozent

2

Deutschland

4

6

Prozent

66 Michael Heine

Zielkonflikte zwischen Konsolidierungs- und Stabilisierungspolitik

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Die ab 2000 erfolgten Steuersenkungen haben die finanziellen Probleme noch verschärft, da sie das wirtschaftliche Wachstum nicht anzuregen vermochten und daher zu erheblichen Mindereinnahmen geführt haben (vgl. Deutsche Bundesbank 2002, S. 15 ff. und 2005, S. 61). Das Ergebnis kam nicht überraschend, da es realiter keinen empirischen Zusammenhang zwischen Abgaben- und Steuerquoten einerseits und Wirtschaftswachstum andererseits gibt – auch wenn er immer und immer wieder behauptet wird (vgl. Deutsche Bundesbank 2002, S. 15 ff. oder DIW 2002).5 Der „Ausreißer“ 1995 kam dadurch zustande, dass die Sonderhaushalte, die im Prozess der deutschen Vereinigung angelegt worden waren, in den normalen Haushalt eingestellt wurden. Japans sprunghaft gestiegenen Budgetdefizite spiegeln keine antizyklische Fiskalpolitik wider, sondern sind Ausdruck der Deflation und der Bankenkrise. Die japanische Fiskalpolitik lässt sich eher mit einer Stop and Go Politik beschreiben, die bei kleinsten konjunkturellen Besserungen umgehend restriktiv wurde, um dann mit Fortschreiten der Krise doch wieder zu einer expansiveren Ausrichtung gezwungen zu sein.

III. Wirtschaftspolitik in Berlin Da ein erheblicher Teil der öffentlichen Ausgaben von den Ländern und Gemeinden getätigt werden, sollten auch diese Gebietskörperschaften versuchen, ihr Investitionsverhalten zu stabilisieren. Auch gegen diese Anforderung hat Berlin verstoßen. Allerdings hat der Bund ein solches Verhalten (nicht nur) Berlins gefördert, da er der Stadt dringend notwendige Unterstützungen verweigert hat.6 In einem stark föderalistisch strukturierten Wirtschaftssystem wie dem Deutschlands setzt eine antizyklische Fiskalpolitik der Länder und Gemeinden nämlich voraus, dass die finanzpolitischen Ausgleichsysteme zwischen den Gebietskörperschaften diese Ausrichtung auch ermöglichen.7 Die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger in Berlin sind ohne Zweifel nicht zu beneiden. Nach dem vereinigungsbedingten Boom Anfang der 1990er 5 Unter theoretischen Aspekten ist dieser Zusammenhang allemal dubios, da Wirtschaftswachstum ohne Zweifel keine einfache Funktion der Steuersätze ist (vgl. Betz 2001). Hinzu kommt, dass man mit Hilfe des Haavelmo-Theorems ableiten kann, dass ceteris paribus Steuersenkungen saldenmechanisch die Gesamtnachfrage wegen des Spareffekts der privaten Haushalte senken, wenn sie durch staatliche Minderausgaben gegenfinanziert werden. Ansonsten erhöhen sie die Staatsverschuldung. 6 Diese Problematik gilt besonders für die Gemeinden, deren Möglichkeiten zur Kreditaufnahme bekanntlich gesetzlich limitiert sind. Werden sie vom Bund und von den Ländern in Krisenphasen nicht unterstützt, ist eine prozyklische Haltung geradezu unvermeidbar. 7 Es kann selbstverständlich nicht die Aufgabe dieses Aufsatzes sein, diesen Aspekt zu konkretisieren.

5*

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Jahre durchläuft die Stadt nunmehr seit Jahren eine „strukturelle Dauerkrise“. Einige wenige Zahlen mögen dies illustrieren (vgl. Senatsverwaltung für Finanzen Berlin 2005).  Wird das reale BIP 1991 mit 100 indexiert, dann liegt der Wert im Jahr 2005 bei 98,2.  Die Zahl der Erwerbstätigen ist in diesem Zeitraum von rund 1,66 Mio. auf 1,55 Mio. gesunken.  Die Arbeitslosenquote hat sich in diesem Zeitraum von 9,5 % auf mehr als 17 % erhöht.  Betrug der Schuldenstand des Landes 1991 noch knapp 11 Mrd. Euro, so sind es mittlerweile rund 60 Mrd. Euro.

An dieser katastrophalen Entwicklung ist Berlin alleine gewiss nicht schuld. Beispielsweise sind die Bundeszuschüsse an den Berliner Haushalt viel zu schnell gekürzt worden und die Zuwendungen aus dem Länderfinanzausgleich (2005 rund 3,1 Mrd. Euro) betragen nicht einmal die Hälfte der damaligen Bundeshilfe (1991 ca. 7,4 Mrd. Euro). Auch die zu schnelle Abschaffung des Berlin-Förderungsgesetzes hat die Berliner Industrie stark belastet. Gleichwohl hat auch Berlin nicht adäquat auf die veränderten Rahmenbedingungen reagiert. Zunächst hat man sich mit Prognosen getröstet, die eine verheißungsvolle Zukunft versprachen (vgl. Brenke 2003, S. 11 f.). Erst Mitte der 1990er Jahre hat man allmählich zur Kenntnis genommen, dass die Stadt eine andere Entwicklungsrichtung als die prognostizierte nehmen würde. Von da ab wurden die Sparanstrengungen verstärkt und Ausstattungsvorsprünge gegenüber vergleichbaren Regionen abgebaut. Auch wenn es immer wieder Rückschritte gab, das markanteste Beispiel ist die Krise der Bankgesellschaft Berlin, so lässt sich nicht bestreiten, dass ab Mitte des letzten Jahrzehnts die Probleme der Stadt zur Kenntnis genommen wurden. Daher finden die Sparanstrengungen auch nicht erst seit der rot / roten Regierungskoalition statt. Bereits seit 1995 verfolgt die Stadt einen relativ strikten Sparkurs, mit Ausgaben, die deutlich unterhalb der Zuwächse aller anderen Bundesländer liegen (vgl. DIW 2001 und 2003). Dies hatte zunächst zu einer deutlich sinkenden Nettoneuverschuldung ab 1994 geführt, die allerdings auch den konjunkturellen Aufschwung widerspiegelt, der ab diesem Zeitpunkt in Deutschland einsetzte. Tabelle 2 Nettoneuverschuldung in Berlin in Mio. Euro 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 1840 2084 3267 3784 3451 3119 2787 2454 2079 1937 4896 6043 4064 4389 Quelle: Senatsverwaltung für Finanzen Berlin 2005.

Zielkonflikte zwischen Konsolidierungs- und Stabilisierungspolitik

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Dass ab 2000 die Nettoneuverschuldung wieder deutlich angestiegen ist, lag erstens an der Wachstumsschwäche Deutschlands insgesamt, die auch in Berlin zu deutlichen Steuermindereinnahmen geführt hat. Zweitens hat die Steuerreform des Bundes Berlin erheblich belastet (vgl. DIW 2003, S. 363 f.). So sind die originären Steuereinnahmen des Landes deutlich gesunken (vgl. weiter unten). Drittens schließlich kam es zu negativen Einmaleffekten, wie die Zuwendungen an die Bankgesellschaft Berlin. An sich hätte die finanzielle Entwicklung Berlins ab 2000 den Entscheidungsträgern der Stadt zu denken geben müssen. Denn offensichtlich reicht es zur Konsolidierung eines staatlichen Budgets nicht aus, nur strikt die Ausgaben zu senken. Wirtschaftliche Wachstumsschwächen können jeder, auch seriösen, Konsolidierungspolitik den Boden entziehen. Für eine erfolgreiche Budgetpolitik ist neben einer Steuerpolitik, die hinreichende Einnahmen generiert, auch wirtschaftliches Wachstum notwendig. Insofern spiegelt das Zitat von Mark Twain, „Von jetzt an werde ich nur so viel ausgeben, wie ich einnehme“, das der mittelfristigen Finanzplanung Berlins im Jahr 2003 als Motto diente (vgl. Senatsverwaltung für Finanzen Berlin 2003, S. 3), eine inadäquate Problemwahrnehmung wider. Staatliche Budgets sind nämlich mit Familienbudgets nicht zu vergleichen. Zum einen können Bund und Länder8 bei interner Verschuldung, also bei einer Verschuldung in eigener Währung, nicht pleite gehen. Notfalls kann der Bund immer zum Mittel der Steuererhöhung greifen und – um eine aktuelle Diskussion aufzugreifen – etwa die Mehrwertsteuer erhöhen. Zum anderen haben staatliche Budgetentscheidungen unmittelbare Rückwirkungen auf die eigenen Einnahmen. So führen staatliche Sparprogramme zwingend zu Einnahmeverlusten bei anderen Wirtschaftssubjekten, die über die Multiplikatorwirkungen noch verstärkt werden. Damit senken sie die Steuereinnahmen in der folgenden Periode und können die Sparanstrengungen konterkarieren. An dieser Saldenmechanik führt kein Weg vorbei, wenngleich sie für Bund und Länder stärker gilt als für die Gemeinden. Ob hingegen die Privaten, wenn wir einmal unterstellen, die staatlichen Sparanstrengungen würden zu einer rückläufigen Staatsverschuldung führen, ihre Ausgaben erhöhen, weil sie Zins- oder Steuersenkungen erwarten, ist höchst spekulativ und eher unwahrscheinlich. Daher sind Ausgabenkürzungen in einer ökonomischen Wachstumsschwäche mit hohen Risiken verbunden und sie laufen Gefahr, am Ende sogar das Konsolidierungsziel wegen rückläufiger Einnahmen und steigender Ausgaben zu verfehlen. Insofern wäre es unter einer makroökonomischen Wachstumsperspektive in Berlin darum gegangen, zwar die nicht zu rechtfertigenden Ausstattungsvorsprünge gegenüber vergleichbaren Regionen schrittweise abzubauen, die Ausgaben dann aber auf diesem Niveau zu stabilisieren. Gegen eine solche Orientierung wird üblicherweise eingewendet, dass so die strukturellen Defizite nicht abgebaut würden. 8 Die Länder werden hier mit erwähnt, weil der Bund ihnen notfalls finanziell unter die Arme greifen muss.

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Dieses Argument wird weiter unten aufgegriffen. Vorher soll die Fiskal- und Lohnpolitik Berlins dargestellt werden. Bekanntlich sind die einnahmeseitigen Gestaltungsspielräume von Landesregierungen recht klein. Steuerpolitisch sind ihnen weitgehend die Hände gebunden, so dass sie aus eigener Kraft die Einnahmesituation nur unwesentlich verändern können. Selbst wenn dies (in Ansätzen) gelingen sollte, sinken die Zuweisungen aus dem Finanzausgleich um fast den gleichen Betrag. Auch die Spielräume für Ausgabenkürzungen sind begrenzt. Die Zinszahlungen für die bereits aufgenommenen Kredite stehen faktisch nicht zur Disposition. Die Transferleistungen sind üblicherweise bundesgesetzlich geregelt und Absenkungen sind daher vor allem auf freiwillige Leistungen des Landes begrenzt. Beispielsweise umfassen sie Zuschüsse an die Kindertagesstätten oder Hilfen zur Erziehung. Natürlich kann hier gekürzt werden, allerdings oftmals nur um den Preis, dass wichtige Zukunftsaufgaben preisgegeben werden und neue gesellschaftliche Probleme auf anderen Ebenen entstehen (die eventuell sogar zu neuen Ausgaben führen).9 Bei Subventionszahlungen erhalten die Landesregierungen häufig einen Teil der Gelder von der Europäischen Gemeinschaft oder aus den Töpfen der Gemeinschaftsaufgaben. Wenn sie auf dieses zusätzliche Geld nicht verzichten wollen, dann müssen sie zu einer Kofinanzierung bereit sein. Selbst die Personalausgaben sind nicht beliebig steuerbar. Zum einen existieren dienst- und tarifrechtliche Regelungen, die Lohnsenkungen und Entlassungen erschweren. Und selbst wenn es gelingt, Personal abzubauen, dann fallen für Beamte Pensionszahlungen beim Staat an, die die Nettoeinsparungen über lange Zeiträume begrenzen. Gleichwohl hat der Berliner Senat versucht, hier deutliche Kostenreduzierungen durchzusetzen. Wesentlich leichter zu beeinflussen sind die Investitionsausgaben. Aus diesem Grunde versuchen (nicht nur) die Berliner Senate seit Jahren, durch Kürzungen der Investitionen den Haushalt zu konsolidieren. 1. Öffentliche Investitionen in Berlin Die Kürzung öffentlicher Investitionen ist ein beliebtes Mittel von Ländern und Gemeinden, die als notwendig erachteten Einsparungen vorzunehmen. Der Umfang an öffentlichen Investitionen ist gesetzlich nicht festgelegt und daher manövrierfähig. Hinzu kommt, dass die negativen Multiplikatorwirkungen, die zwangsläufig mit diesen Kürzungen verbunden sind, nicht unbedingt im eigenen Regierungsbereich anfallen. 9 Derartige Ausgaben werden (neben anderen) als konsumtive Sachausgaben gebucht. Gemäß der mittelfristigen Finanzplanung von 2003 sollten sie von 2002 bis 2007 um rund 1,2 Mrd. Euro und damit um deutlich mehr als 10% gekürzt werden (vgl. Senatsverwaltung für Finanzen Berlin 2003, S. 35). Allerdings wurden diese Sparziele bereits 2003 und 2004 nicht erreicht (vgl. Senatsverwaltung für Finanzen Berlin 2004).

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Freilich hat diese Politik erhebliche Schattenseiten. Erstens ändert die Tatsache, dass die negativen Multiplikatorwirkungen auch anderenorts anfallen, nichts daran, dass sie gesamtwirtschaftlich auftreten und insofern die makroökonomische Entwicklung negativ beeinflussen. Da rund 80 % aller öffentlichen Investitionen von den Ländern und Gemeinden getätigt werden, ist der Effekt bedeutsam. Zweitens werden die Investitionen vor allem in Rezessionen gekürzt, so dass öffentliche Investitionen prozyklisch erfolgen. Damit erhöhen sie im Aufschwung die Gefahr inflationärer und im Abschwung die Gefahr deflationärer Entwicklungen. Drittens schließlich sind die so erfolgten Einsparungen sehr häufig „Luftbuchungen“, weil die Investitionen nur aufgeschoben werden. Früher oder später lässt sich der Investitionsbedarf in den Bildungseinrichtungen, im Bereich der Verkehrs- oder Entsorgungsinfrastruktur oder der inneren Sicherheit nicht länger ignorieren. Zuweilen sind die Ausgaben dann aufgrund nicht behobener Schäden faktisch höher, als wenn kontinuierlich investiert worden wäre. Vor diesem Hintergrund wäre es funktional, wenn die Gebietskörperschaften ihr Investitionsverhalten verstetigen würden, indem sie – unabhängig von konjunkturellen Entwicklungen – ein in etwa gleiches Volumen jährlich investieren würden. Ein solches Investitionsverhalten wirkt antizyklisch und vermeidet die Probleme, die mit Konjunkturprognosen und time-lags verbunden sind. Der Berliner Senat allerdings möchte sich anders verhalten. Tabelle 3 Öffentliche Investitionsausgaben in Berlin in Mio. Euro 2002

2003

2004

2005

2006

2007

1818

1971

1990

1873

1785

1622

Quelle: Senatsverwaltung für Finanzen Berlin 2003, S. 37.

Gemessen am Volumen des Jahres 2002 sollen die gesamten Investitionsausgaben bis 2007 um rund 200 Mio. Euro (ca. –11 %) gesenkt werden. Noch drastischer verläuft der Trend bei den reinen Sachinvestitionen. Sie beliefen sich 1995 noch auf rund 965 Mio. Euro. Seitdem wurden sie Jahr für Jahr zurück gefahren, und sie werden 2005 noch etwa 280 Mio. Euro betragen (vgl. DIW 2003, S. 364). Dieser Betrag ist niedriger als jener, den Berlin als Investitionshilfe vom Bund erhält (vgl. ebenda, S. 366). Im Jahr 2002 lagen die Ausgaben für Sachinvestitionen je Einwohner in Berlin bei etwa 25 % des Durchschnitts der Länder und Gemeinden (Senatsverwaltung für Finanzen Berlin 2003, S. 30). Dass eine solche Investitionspolitik den Anforderungen an eine funktionale Fiskalpolitik widerspricht, ist ebenso offenkundig wie die fehlende Nachhaltigkeit dieser Strategie.

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2. Lohnpolitik des Berliner Senats Wie oben bereits ausgeführt wurde, wären Tarifparteien gut beraten, wenn sie ein Sinken der Nominallöhne verhindern würden. Denn sinkende Löhne führen keinesfalls zu mehr Beschäftigung, sondern zu Deflation.10 Besonders eindringlich zeigte sich dies im Kontext der Lohnpolitik Brünings oder zuletzt in Japan. Auch Deutschland steht seit Anfang 2003 aufgrund einer dysfunktionalen Lohnpolitik am Rande einer Deflation, wie unter anderem der IMF zugestehen musste (vgl. IMF 2003). Ein aktiver Beitrag zu einer solchen Entwicklung ist von Berlin ausgegangen. Im Rahmen der Konsolidierungsbemühungen hatte der rot / rote Senat im Oktober 2002 versucht, die Gewerkschaften im Rahmen so genannter Solidargespräche zur Akzeptanz von Lohnsenkungen zu bewegen. Die Personalausgaben sollten 2003 um 250 Mio. Euro und in den Folgejahren um jeweils 5oo Mio. Euro gesenkt werden. Als Gegenleistung wurden eine Arbeitsplatzgarantie und Arbeitszeitverkürzungen angeboten. Als diese Gespräche scheiterten, trat der Senat 2003 aus der Tarifgemeinschaft der öffentlichen Arbeitgeber aus (vgl. Senatsverwaltung für Finanzen Berlin 2003, S. 33). Ein Ziel des Austritts war es, den Tarifabschluss der Tarifgemeinschaft von 2,4 % Anfang 2003 nicht zu übernehmen, obwohl er eher am unteren Rand der oben diskutierten Lohnnorm lag. Nach dem Austritt verhandelte der Senat eigenständig mit den Gewerkschaften und setzte seine Ziele durch. Es wurde eine Kürzung der Löhne und Gehälter zwischen 8 % und 12 % vereinbart. Die Wochenarbeitszeit wurde, ausgehend von 38,5 Stunden, entsprechend der Lohnkürzungen gesenkt.11 Im Gegenzug wurde der Tarifabschluss von 2,4 % für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes übernommen und bis Ende 2009 wird auf betriebsbedingte Kündigungen verzichtet. Diese Linie wurde auch zum Beispiel bei den Tarifverhandlungen mit den Beschäftigten der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) beibehalten (vgl. Berliner Zeitung vom 31. 5. 2005).12 Parallel zum Austritt aus der Tarifgemeinschaft der öffentlichen Arbeitgeber wurde im Bundesrat ein Initiativantrag zur Öffnung des Besoldungs- und Versorgungsrechts mit Erfolg eingebracht, um auch die Einkommen der Beamten kürzen zu können. Diesem Antrag wurde gern stattgegeben, erhofften sich doch so die anderen Bundesländer, ebenfalls den Weg der Lohnkürzungen beschreiten zu können. Im Ergebnis hat Berlin den Beamten das Urlaubsgeld gestrichen und das Weihnachtsgeld auf 640 Euro gekürzt. Mit diesen Maßnahmen hat der Senat seine Einsparziele vollständig erreicht (vgl. Senatsverwaltung für Finanzen Berlin, 2003, 10 Theoretisch hat diesen Zusammenhang zwischen Nominallohn- und Preisniveauentwicklung zuerst Keynes (vgl. Keynes 1930, S. 109 ff.) abgeleitet. 11 Die Anwesenheitszeit beträgt seitdem 37 Wochenstunden. Die Differenz zu der tariflich festgelegten Arbeitszeit wird auf Arbeitszeitkonten erfasst. 12 Das Verhandlungsergebnis steht zurzeit (Anfang Juni 2005) noch nicht fest.

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S. 33 f.). Gleichzeitig hat er die Weichen für eine vergleichbare Politik in den anderen Bundesländern gestellt (vgl. z. B. Eicker-Wolf 2004 oder Die Zeit vom 19. 5. 2005, S. 35). Aus keynesianischer Perspektive muss die geschilderte Entwicklung als katastrophal bewertet werden. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich eine solche Politik der einzelwirtschaftlichen Logik verallgemeinert. Dann aber läuft die Ökonomie Gefahr, dass der „Lohnanker reißt“ und man in eine deflationäre Entwicklung einmündet. Mittlerweile haben faktisch alle anderen Bundesländer ebenfalls Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen angekündigt oder bereits vollzogen und zahlreiche private Unternehmen haben die Akzeptanz der Flächentarife aufgekündigt. Parallel dazu haben die so genannten betrieblichen Bündnisse, die im Kern auf eine Absenkung der Lohnkosten zielen, an Bedeutung gewonnen. Eine Kerninflationsrate von kaum über Null bei rund fünf Mio. Arbeitslosen zeugt von den Risiken einer solchen Politik. Die dezentralen Lohnfindungssysteme neigen zu prozyklischem Verhalten. Unter den Bedingungen des Aufschwungs und positiver Gewinnentwicklungen werden Lohnerhöhungen oberhalb der Stabilitätsnorm gefordert und in der Krise ist man zu jedem Kompromiss bereit, um den Arbeitsplatz zu retten (vgl. Calmfors / Driffill 1988 oder Soskice 1990). Selbstverständlich kann dies nicht klappen, wenn sich ein solches Verhalten verallgemeinert. Faktisch wird so die Unsicherheit innerhalb der Ökonomie erhöht, weil kein Unternehmer mehr sicher sein kann, zu welchen Lohnkonditionen der Wettbewerber arbeitet. Eine Erhöhung der Unsicherheit wirkt aber unstrittig negativ auf die ökonomische Entwicklung. Dass ein solcher Prozess zumindest für den öffentlichen Dienst gerade von einer rot / roten Koalition eingeleitet wurde, ist doch sehr bemerkenswert.

IV. Ergebnisse der Konsolidierungsbemühungen Die bisherigen Ausführungen legen Zweifel nahe, dass der Berliner Senat seine Ziele auch erreichen wird. Die zentralen Ziele wurden zu Beginn der Koalition vom Wirtschafts- und vom Finanzsenator genannt. Der Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen, Harald Wolf, gab zu Beginn der Legislaturperiode die folgende Zielsetzung an: „Bestehende Arbeitplätze sichern und neue Arbeitsplätze schaffen ist daher die zentrale Aufgabe der nächsten Jahre. Und das unter schwierigsten Bedingungen, denn zugleich muss der Haushalt saniert werden“ (Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen 2002, S. 1). Wie das Ziel der Haushaltssanierung zu konkretisieren ist, hat wiederum der Finanzsenator, Thilo Sarrazin, formuliert. Gemäß der Zeitung „Die Zeit“ vom 16. 1. 2003 soll er zu Beginn seiner Amtszeit immer wieder darauf hingewiesen haben, dass die „Stadt . . . inzwischen (2002; der Verf.) mit 46 Milliarden Euro verschuldet“ sei und „wenn nichts Einschneidendes geschieht, werden es Ende der Amtszeit dieses Senats, also 2006, um die 60 Milliarden sein“. Dies gelte es zu verhindern. Außerdem soll „das Primärdefizit bis

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zum Jahr 2007 vollständig“ abgebaut werden, „also die Ausgaben und Einnahmen ohne Zinsen und Vermögensaktivierungen in Ausgleich“ gebracht werden. „Die ,schwarze Null‘ . . . ist und bleibt das zentrale finanzpolitische Ziel dieser Legislaturperiode. Daran lassen wir uns messen – auch mit Blick auf unsere Klage bei dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe“ (vgl. Presseerklärung vom 15. 2. 2005: Finanzpolitische Eckwerte bis 2009: Weiterhin strenger Sanierungskurs). Werden diese Kriterien, also die so definierte Haushaltskonsolidierung und der Abbau der Arbeitslosigkeit, zum Maßstab der Bewertung des Senats genommen, so fällt die Bilanz ohne Zweifel negativ aus. Tabelle 4 Gesamtverschuldung in Berlin in Mio. Euro 1991

1995

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

10815

23868

37188

42384

47505

51749

55317

59444

62558

Quelle: Senatsverwaltung für Finanzen Berlin 2005.

Trotz aller geradezu verzweifelter Konsolidierungsbemühungen werden die Gesamtschulden nicht etwa „nur“ 60, sondern sogar rund 62,5 Mrd. Euro betragen. Und auch die „schwarze Null“ wird 2007 aller Voraussicht nach nicht stehen, unter anderem, weil die Steuersenkungen des Bundes den Doppelhaushalt 2006 / 07 um rund 600 Mio. Euro belasten werden (vgl. Berliner Zeitung vom 7. 6. 2005). Die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland, gepaart mit der konsequenten Steuersenkungspolitik hat den Konsolidierungsbemühungen den Boden entzogen. Vor diesem Hintergrund konnte die Sparpolitik des Berliner Senats nicht erfolgreich sein. Im Gegenteil: Sie hat zu den negativen makroökonomischen Rahmenbedingungen aktiv beigetragen. Erstens hat diese Wirtschaftspolitik negative Multiplikatoreffekte hervorgerufen. Denn jeder Cent, der von der öffentlichen Hand weniger ausgegeben wird, führt zu einer Mindereinnahme exakt in dieser Größenordnung im Unternehmens- oder Haushaltssektor. Die Folge dieser Mindereinnahmen sind sinkende Ausgaben, die zu weiteren Mindereinnahmen bei anderen Wirtschaftssubjekten führen. Es kommt also zu negativen Multiplikatoreffekten innerhalb Berlins, aber auch in anderen Regionen.13 In anderen Zusammenhängen waren regionale Multiplikatorwirkungen der Berliner Politik durchaus bekannt. Beispielsweise wurde die ökonomische Vernünftig13 Aufgrund der Kürzungen der öffentlichen Investitionen wirkt der Staatsausgabenmultiplikator und aufgrund der Einkommenskürzungen der Multiplikator des verfügbaren Einkommens negativ. Der Staatsausgabenmultiplikator wirkt stärker, da die Haushalte einen Teil des nun nicht mehr vorhandenen Einkommens gespart hätten.

Zielkonflikte zwischen Konsolidierungs- und Stabilisierungspolitik

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keit des Umzugs der Bundesregierung von Bonn nach Berlin auf der Grundlage einer empirischen Studie der Berliner Bank begründet. Demnach sollte es dank des Umzugs zu einer zusätzlichen Nachfrage von (umgerechnet in Euro) rund 1,1 Mrd. Euro kommen. Der regionale Multiplikator wurde auf 1,6 geschätzt, so dass sich die regionale Gesamtnachfrage um etwa 1,8 Mrd. Euro erhöhen sollte. Bei einem geschätzten Regionalprodukt von etwa 37.500 Euro je Beschäftigten sollte sich ein positiver Beschäftigungseffekt von mehr als 45.000 Arbeitsplätze ergeben (vgl. Berliner Bank 1991, S. 8 ff.). Über die konkrete Größe regionaler Multiplikatoren wird man lange streiten können, dass sie wirken, ist indes unstrittig.14 Wird diese Berechnung überschlagsartig auf die gesamte Legislaturperiode des rot / roten Senats angewendet, dann ergibt sich in etwa das folgende Bild:  Die Personalausgaben werden um mindestens 500 Mio. Euro gesenkt.  Die Investitionsausgaben sollen um rund 200 Mio. Euro gekürzt werden.  Bei den konsumtiven Sachausgaben sind Absenkungen von 1,2, Mrd. Euro vorgesehen (vgl. Fußnote 9).

Bei einem regionalen Multiplikator von 1,6 würde die regionale Gesamtnachfrage um etwa 3 Mrd. Euro sinken. Da jeder Erwerbstätige im Durchschnitt rund 50.000 Euro BIP produziert (vgl. Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen 2004, S. 12) käme es zu einem Verlust von deutlich mehr als 60.000 Arbeitsplätzen. Auch wenn man über die konkrete Größenordnung streiten kann, bleibt unstrittig, dass die Fiskalpolitik des Berliner Senats aktiv zu einer Absenkung der regionalen Nachfrage und Wertschöpfung und damit zu der seit Jahren anhaltenden Wachstums- und Arbeitsmarktkrise in Berlin beigetragen hat.15 Zweitens trägt die Sparpolitik des Berliner Senats aufgrund ihres negativen Wachstumseffekts zu gesamtwirtschaftlich sinkenden Steuereinnahmen bei, die rückwirkend auch die Steuereinnahmen des Landes Berlin belasten. Dies betrifft vor allem die Gemeinschaftssteuern, also jene, die zwischen Bund und Ländern aufgeteilt werden. Hierzu gehören insbesondere die Umsatz-, die Lohn- und die veranlagte Einkommens-, die Körperschafts- und die Gewerbesteuer. Allerdings werden die Auswirkungen dieser Steuerausfälle nur mittelbar wirksam, da die Zuteilung an die Länder durch den Länderfinanzausgleich erheblich modifiziert wird. Dessen ungeachtet leistet Berlin durch seine Sparpolitik einen Beitrag zur Absenkung des gesamten Steueraufkommens, das dem Länderfinanzausgleich zur 14 Theoretisch könnte die negative Multiplikatorwirkung durch eine sinkende Spar- und folglich durch eine steigende Konsumquote zumindest teilweise kompensiert werden. Aufgrund der hohen ökonomischen Unsicherheit für die privaten Haushalte ist dies allerdings nicht der Fall. 15 Freilich gibt es auch negative Multiplikatorwirkungen in anderen Regionen, da Ausgaben der Berliner Wirtschaftssubjekte nicht allein auf Berlin konzentriert sind. Relativ stark betroffen dürften Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sein, da diese beiden Länder ökonomisch stark mit Berlin verflochten sind.

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Verfügung steht. Hinzu kommt, dass mittlerweile auch die anderen Gebietskörperschaften diese strategische Orientierung verfolgen. Dadurch verschärfen sich die makroökonomisch negativen Effekte. Im Ergebnis hat Berlin im Jahr 2000 noch 3266 Mio. Euro aus dem Länderfinanzausgleich erhalten. 2005 werden es voraussichtlich rund 3120 Euro sein. Und gemäß den Planungen des rot / roten Senats sollten die originären Steuereinnahmen des Landes von knapp 8600 Mio. Euro im Jahr 2000 auf knapp 8300 Mio. Euro 2005 sinken (vgl. Senatsverwaltung für Finanzen 2005, Folien 5 und 6). Allerdings sind selbst diese Schätzungen aufgrund der bereits erwähnten Steuermindereinnahmen mittlerweile überholt. Insofern spiegeln sich in diesen Zahlen auch die Steuerreformen der letzten Jahre wider. Berlin durchläuft die Konstellation einer Schuldenfalle geradezu „idealtypisch“. Ausgabenkürzungen vor allem bei den Einkommen der abhängig Beschäftigten und bei den Investitionen ziehen multiplikativ Nachfrageausfälle und sinkende Wertschöpfungen nach sich, die ihrerseits direkt und indirekt über Steuerausfälle die Einnahmeseite und über steigende Transfers die Ausgabenseite des Landes belasten. Die Folge sind weiterhin hohe Nettokreditaufnahmen (vgl. Tabelle 2), die wiederum die Zinsbelastungen Berlins erhöhen. So sind die Zinsausgaben Berlins von 537 Mio. Euro im Jahre 1991 über 1963 Mio. Euro im Jahr 2000 auf voraussichtlich 2617 Mio. Euro im Jahr 2005 gestiegen (vgl. Senatsverwaltung für Finanzen 2005, Folie 9). Schließlich trägt die rückläufige Nachfrage zu den sinkenden Wachstumsraten der Berliner Wirtschaft bei. Da die Wachstumsrate der Produktivität oberhalb jener des realen BIP liegt, hat Berlin Arbeitsplätze eingebüßt und ist mit steigender Arbeitslosigkeit konfrontiert. Dies wiederum führt zu steigenden Transferzahlungen des Berliner Senats und belastet den Haushalt. Selbstverständlich musste die Stadt auf der Grundlage einer solchen Entwicklung auch das beschäftigungspolitische Ziel des Senats verfehlen. Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass staatliche Budgetsalden nur sehr begrenzt von der Finanzpolitik beeinflusst werden können, da sie maßgeblich von der wirtschaftlichen Entwicklung und den Zinssatzentwicklungen abhängig sind. Sie sind sozusagen ein Marktergebnis. Dies hat auch die Finanzpolitik in Berlin zu spüren bekommen. Beispielsweise sah die Finanzplanung noch im Jahr 2000 (vgl. Senatsverwaltung für Finanzen, 2000, S. 48) einen Gesamtschuldenstand von knapp 41 Mrd. Euro für das Jahr 2005 vor. Tatsächlich werden die Schulden – wie gesagt – rund 60 Mrd. Euro betragen. Dieser Entwicklung entspricht, dass auch die Schätzung der Nettoneuverschuldung aus dem Jahr 2000 nicht näherungsweise mit der tatsächlichen überein stimmte (vgl. Tabelle 5). Die tatsächliche Nettoneuverschuldung liegt seit dem Jahr der Prognose um ein Vielfaches höher als es die Planung vorsah. In den skizzierten Abweichungen spiegeln sich auch Fehleinschätzungen über die zu erzielenden Privatisierungserlöse wider. Sie wichen seit dem Beginn dieser Dekade deutlich von den Planungen des Jahres 2000 ab (vgl. Senatsverwaltung für Finanzen 2000, Blatt 10 sowie 2003, S. 16).

Zielkonflikte zwischen Konsolidierungs- und Stabilisierungspolitik

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Tabelle 5 Planungen der Nettoneuverschuldung in den Jahren 2000 und 2005* in Mrd. Euro 2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

Planung 2000

1,9

1,9

1,8

1,5

1,0

0,8

0,6

0,4

0,2

0

Planung 2005

1,9

4,9

6,0

4,1

4,4

4,3

3,2

2,6

2,4

2,3

* Bis 2003 Ist-Werte, 2004 vorläufiges Ergebnis und ab 2005 Planung (vgl. Senatsverwaltung für Finanzen, 2000, S. 47, sowie 2005, Folie 7).

Die Entwicklungen zeigen unzweifelhaft, dass Budgetsalden von der Politik nicht zu planen sind, weil sie das komplexe Resultat marktwirtschaftlicher Prozesse darstellen. Dies vor Augen wirken Finanzpolitiker zuweilen wie kleine Kinder auf einem Kirmeskarussell, die, auf einem Motorrad sitzend, glauben, sie könnten die Richtung steuern, indem sie sich „in die Kurve legen“.

V. Alternative Finanzpolitik Werden die vom rot / roten Senat selbst benannten Beurteilungskriterien für seine Politik zugrunde gelegt16, ist die Bilanz ernüchternd. Berlin, das ist offenkundig, wird sich aus der Verschuldungsfalle nicht heraussparen können. Die im Falle des Saarlands und Bremens angewandten Kriterien zur Beurteilung eines Haushaltsnotstandes werden von Berlin im Wesentlichen erfüllt (vgl. Seitz 2001). Daher wird die Klage Berlins vor dem Bundesverfassungsgericht aller Voraussicht nach erfolgreich sein. Hinzu kommt, dass Berlin seit Mitte der 1990er Jahre nachweisbare Eigenanstrengungen zur Lösung der Finanzkrise unternimmt (vgl. DIW 2003), die freilich auch vom Bundesverfassungsgericht erwartet werden. Sicherlich war es des weiteren notwendig, Maßnahmen zum Abbau von Überausstattungen Berlins in Relation zu vergleichbaren Bundesländern zu ergreifen. Man kann sich schwerlich im Rahmen des Länderfinanzausgleichs Ausstattungen mit öffentlichen Gütern und Einrichtungen finanzieren lassen, die sich die übrigen Bundesländer nicht leisten. Der Abbau ist allerdings auch seit Mitte der 1990er Jahre schrittweise erfolgt (vgl. ebenda). Allerdings hätte es für eine Erfolg versprechende Verfassungsklage nicht der Alleingänge in der Lohnpolitik und der radikalen Absenkung der öffentlichen Investitionen bedurft. Eine Tarifpolitik im Rahmen der Tarifgemeinschaft des öffentlichen Dienstes hätte die Erfolgsaussichten der Berliner Klage nicht geschmälert, da das Bundesverfassungsgericht im Fall von Bremen und dem Saarland andere Kriterien zur Urteilsbegründung benannt hat als einen Ausstieg aus dem Tarifver16 Damit werden noch nicht einmal die sozialen und infrastrukturellen Folgeschäden dieser Politik berücksichtigt.

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bund. Offensichtlich hat sich der rot / rote Senat hier von anderen Beweggründen als den Erfolgsaussichten der Klage leiten lassen. Auch in Bezug auf die öffentliche Investitionspolitik hatte das Bundesverfassungsgericht seinerzeit von Bremen und vom Saarland keine Absenkung notwendiger öffentlicher Investitionen gefordert. Insofern war Berlin aktiver Vorreiter einer makroökonomisch dysfunktionalen Wirtschaftspolitik. Eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik und eine Verstetigung öffentlicher Investitionen hätten die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Berlins gefördert und makroökonomisch einen Stabilitätsbeitrag geleistet. Wie sich im Rahmen eines solchen Szenarios die Schulden Berlins entwickelt hätten, ist nicht zu ermitteln und es kann keinesfalls als sicher unterstellt werden, dass sie höher ausgefallen wären. Freilich kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass der Gesamtschuldenstand Berlins in diesem Fall noch höher wäre, als er es jetzt bereits ist. Eine solche Entwicklung ist insofern wahrscheinlich, als sich der Bund und die übrigen Länder ebenfalls einer funktionaleren Lohn- und Investitionspolitik entzogen haben. Allerdings hat Berlin insbesondere lohnpolitisch diesen Weg auch geebnet. Im Fall höherer Gesamtschulden wären allerdings die Erfolgsaussichten einer Klage Berlins vor dem Bundesverfassungsgericht noch höher gewesen. Vor diesem Hintergrund sind Konzepte, das strukturelle Defizit oder primäre Defizite wegzusparen, diffiziler als sie öffentlich kommuniziert werden. Auch diese Defizite ergeben sich als Saldo aus Ausgaben und Einnahmen. Werden die Steuern gesenkt, so erhöhen sich ceteris paribus diese Defizite, und Versuche, sie durch zusätzliche Sparanstrengungen auszugleichen, sind wegen der Multiplikatorwirkungen so Erfolg versprechend wie der Versuch, mit dem Schaumlöffel Wasser zu schöpfen. Und Privatisierungen und Investitionskürzungen verschieben die Finanzierungsprobleme lediglich in die Zukunft. Insbesondere eine Finanzpolitik, die laufende Defizite über einmalige Vermögensveräußerungen zu decken versucht, verstößt gegen das Prinzip der Nachhaltigkeit. Wird mit Hilfe solcher Transaktionen beispielsweise das Budgetdefizit beseitigt, dann öffnet sich die Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen spätestens dann wieder, wenn die vermögenshaltigen Teile des staatlichen Eigentums veräußert sind. Werden so zudem künftige Einnahmeüberschüsse preisgegeben, so ist eine solche Politik nur noch (nach engen ökonomischen Kriterien) zu rechtfertigen, wenn die durch die Privatisierung erzielten Einsparungen beim künftigen Schuldendienst höher ausfallen als die künftigen Einnahmeverluste. Dies bedarf jeweils der Einzelprüfung und kann keinesfalls a priori unterstellt werden. Allemal wäre es besser, um die eigentlichen fiskalpolitischen Aufgaben nicht zu verwischen, im Falle einer (durchgerechneten) Privatisierung die Erlöse für die Schuldentilgung und nicht für die Finanzierung laufender Ausgaben zu verwenden. Eine effiziente Stabilisierungspolitik setzt voraus, dass Bund, Länder und Gemeinden möglichst an einem Strang ziehen. Grundsätzlich sieht das Stabilitätsgesetz solche Möglichkeiten vor, und im Finanzplanungsrat könnten abgestimmte

Zielkonflikte zwischen Konsolidierungs- und Stabilisierungspolitik

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Strategien vereinbart werden. Allerdings wurde diese Möglichkeit zuletzt nur genutzt, um die Länder auf eine Konsolidierungspolitik einzuschwören, indem ihre Ausgaben um nicht mehr als 1 % zunehmen sollten (vgl. DIW 2004, S. 513). Faktisch wurde so eine prozyklische Finanzpolitik gefördert. Die fünfjährige wirtschaftliche Stagnation in Deutschland ist aus einer keynesianischen Perspektive nicht verwunderlich und im Rahmen dieses Paradigmas auch konsistent zu erklären (vgl. Fritsche u. a. 2005). An sich hätte man erwarten können, dass vor diesem Hintergrund die wirtschaftspolitischen Empfehlungen neoklassischer Provenienz an Bedeutung verlieren. Doch davon scheint Deutschland im Allgemeinen und Berlin im Besonderen im Sommer 2005 sehr, sehr weit entfernt zu sein.

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Michael Heine

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Berlin im Geflecht der Bund / Länder-Finanzbeziehungen Von Volker Halsch

I. Die Finanzsituation Berlins – ein Problemaufriss „Berlin im Geflecht der Bund / Länder-Finanzbeziehungen“. Man könnte bei diesem Titel auf den Gedanken kommen, dass Berlin in einem Geflecht gefangen gehalten wird. An dieser Stelle soll aus der Sicht des Bundes gezeigt werden, dass dieses Geflecht für Berlin überaus vorteilhaft ist. Seit geraumer Zeit wird in der Öffentlichkeit aus dem überaus vielschichtigen Thema ein spezieller Aspekt besonders wahrgenommen: die kritische Haushaltslage Berlins und der vermeintliche – so die Auffassung des Bundes –, jedenfalls von Berlin vorgetragene Anspruch auf Sanierungshilfe. Dieser Aspekt soll auch hier nicht zu kurz kommen. Um Berlins Finanzen steht es bekanntermaßen nicht gut, nicht erst, seitdem der Senat im November 2002 per Kabinettbeschluss die extreme Haushaltsnotlage proklamiert hat. Mit dieser einseitigen Feststellung – man könnte auch sagen – Behauptung, soll der Bund zur Zahlung von Sanierungshilfen verpflichtet werden. Nachdem die darauf folgenden Gespräche mit dem Bund – auch aus Berliner Sicht sicherlich nicht überraschend – scheiterten, hat Berlin im September 2003 Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Nunmehr soll über den Gerichtsweg die Zahlung von Sanierungshilfen erreicht werden. Man wird sehen, ob noch im Laufe des Jahres 2005 eine Entscheidung ergehen wird. Der Rechtsstreit verdeutlicht die grundsätzlichen Auffassungsunterschiede zwischen dem Senat von Berlin und der Bundesregierung. Diese rühren keineswegs daher, dass der Bund etwa die Finanzprobleme Berlins schön reden würde. Auch nach Einschätzung des Bundes ist die Finanzsituation Berlins äußerst schwierig. Der rasante Anstieg der Schulden Berlins lässt eigentlich keinen Interpretationsspielraum zu. Unterschiedliche Ansichten bestehen in erster Linie über den richtigen Weg aus der Berliner Finanzkrise. Der Berliner Senat behauptet, alles unternommen und das Seine getan zu haben, um die Berliner Finanzlage zu verbessern. Da dies allein nicht ausreichen würde, um die Finanzkrise zu meistern, sieht der Senat nunmehr die Solidargemeinschaft von Bund und Ländern in der Hilfeleistungspflicht. Genau an diesem Punkt ist die Bundesregierung anderer Auffassung. Berlin verfügt selbst über hinreichende Möglichkeiten, seine Finanzsituation zu verbessern 6 Baßeler u. a.

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Volker Halsch

und das Abgleiten in eine extreme Haushaltsnotlage zu verhindern. Deshalb hat Berlin keinen Anspruch auf zusätzliche Hilfen der Solidargemeinschaft. Ein Land, das wie Berlin – zusammen mit Bremen – die höchsten Pro-Kopf-Ausgaben aller Länder aufweist, hat nach Auffassung der Bundesregierung ein massives Ausgabenproblem. Der Weg zur Sanierung führt daher über die strikte Begrenzung der Ausgaben. Die Ausgabenprobleme Berlins bestehen bereits seit der Überwindung der Teilung. Man hat sich in Berlin viel zu lange Illusionen über die Finanzperspektiven der Stadt gemacht. Man leistete sich beispielsweise die frühzeitige Westangleichung der Entlohnung im Öffentlichen Dienst in der Osthälfte der Stadt. Hingegen warten die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst in den übrigen neuen Ländern sowie die im Osten Berlins beschäftigten Bundesbediensteten, auch knapp fünfzehn Jahre nach der Einigung, noch auf die vollständige Angleichung. Allzu spät wurde in Berlin auf die steigenden Defizite reagiert. Dabei wurde versucht, die Neuverschuldung insbesondere durch Privatisierungen in den Griff zu bekommen. Tatsächlich kam es in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre auch zur deutlichen Verringerung der Defizite. Allerdings konnten diese Entlastungen nur temporär sein. Erst seit 2002 wurde auch ausgabenseitig Substantielles bewegt. Das Problem der überhöhten Wohnungsbauförderung wurde endlich in Angriff genommen. Weiter zeigen Solidarpakt und Stellenpool, dass die Berliner Politik sich auch nicht scheut, die hohen Personalkosten anzugehen und den Unmut der Beschäftigten auf sich zu ziehen. Der Protest verschiedener Gruppierungen – seien es die öffentlich Beschäftigten, die Wohnungsbesitzer, die Gebührenzahler oder die Nutzer öffentlicher Leistungen – ist nachvollziehbar und aus der jeweiligen Position der Betroffenen heraus verständlich. Aus dem Blickwinkel des Finanzpolitikers kann dieses aber als „gutes Zeichen“ gewertet werden. Es zeigt, dass die Finanzpolitik Berlins auf dem richtigen Weg ist. Die ersten Erfolge dürfen allerdings nicht primär am Ausgabenniveau vorangegangener Jahre gemessen werden, weil dieses das Ergebnis eines langjährigen ausgabenseitigen Konsolidierungsstaus ist. Maßstab für den Erfolg der Konsolidierung kann – und das sollte unstrittig sein – nur das Ausmaß der zu lösenden Aufgabe sein. Im Folgenden soll nachgewiesen werden, warum die Einnahmen Berlins nicht als Erklärung für die Berliner Finanzprobleme herhalten können. Seit 1995 sorgt der bundesstaatliche Finanzausgleich als wichtigste Grundlage der Finanzausstattung dafür, dass das finanzschwache Berlin am Ende des Umverteilungsprozesses sogar die höchsten Einnahmen je Kopf hat. Gegen die Berliner Forderung nach Entschuldung spricht weiter, dass Berlin aus der Sicht des Bundes die für die Gewährung von Sanierungshilfen unabdingbaren Eigenleistungen noch keinesfalls erbracht hat. Gegen diese Forderung spricht schließlich die Möglichkeit einer Länderfusion; auch wenn der Fusionsfahrplan derzeit stockt, ist die Fusion eine Zukunftschance für die Region, die Berlin und Brandenburg gemeinsam nutzen sollten. Zunächst also zu den einnahmenseitigen Rahmenbedingungen für die Finanzentwicklung Berlins.

Berlin im Geflecht der Bund / Länder-Finanzbeziehungen

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II. Die einnahmeseitigen Rahmenbedingungen für die Finanzentwicklung Berlins 1. Vorwendezeit und Übergangsregelungen bis 1994 Bis zum Mauerfall brauchte sich die Politik in Westberlin nie wirklich Sorgen um den Haushaltsausgleich zu machen. Man hatte einen besonderen Status im System des westdeutschen Föderalismus. Als Frontstadt wurde man durch Notopfer, hohe Subventionen und Finanzhilfen gestützt. Allerdings bildeten sich dadurch Strukturen heraus, die ohne Daueralimentierung nicht erhalten werden konnten. Die Bundeshilfe hat regelmäßig etwa die Hälfte des Haushaltsvolumens Westberlins abgedeckt. Der Öffentliche Dienst konnte so zum Auffangbecken des Arbeitsmarktes werden. Im Ergebnis war in kaum einer westdeutschen Stadt ein vergleichbares Angebot an öffentlichen Leistungen zu finden, wie im Westteil Berlins. Ebenso hatte Ostberlin seinen Sonderstatus im zentralistischen System der DDR. Die Osthälfte der Stadt sollte mit aller Kraft zur Hauptstadt ausgebaut werden. Für die umfassenden Regelungszwänge der Zentralverwaltungswirtschaft wurde ein enormer Staats- und Verwaltungsapparat unterhalten. Die für die Sonderrolle Ostberlins erforderlichen Ressourcen wurden politisch zugeteilt, oft auf Kosten der übrigen Regionen der ehemaligen DDR. Mauerfall und Vereinigung bedeuteten eine Zäsur für die Stadt, auch für ihre Finanzen. Von Beginn an war allen politisch Verantwortlichen klar, dass der aus der Phase der Teilung herrührende finanzielle Sonderstatus Berlins beendet werden musste. Dies galt für die Sonderfinanzierungssysteme auf der Einnahmenseite ebenso wie für die Überausstattungen auf der Ausgabenseite. Bis zur vollständigen Integration des Landes Berlins in die föderale Finanzstruktur der Bundesrepublik Deutschland galten zunächst finanzielle Übergangsregelungen. Für die Einnahmenseite der geeinten Stadt hieß dies vor allem, dass die Bundeshilfe zurückgeführt und ein großer Teil der Einnahmenverluste kompensiert werden mussten. Dies gelang auch weitgehend, zum einen mit dem Abbau berlinspezifischer Steuervergünstigungen, zum zweiten mit Zuschüssen des Fonds „Deutsche Einheit“, schließlich mit verstärkter Gebührenfinanzierung und über Privatisierungen. 2. Der gesamtdeutsche Finanzausgleich ab 1995 Mit Beginn des Jahres 1995 änderten sich die Rahmenbedingungen auf der Einnahmenseite für Berlin noch einmal grundlegend. Mit dem Wegfall der befristeten Sonderregelungen wurden die Normen der bundesdeutschen Finanzverfassung auch für Berlin verbindlich. Das Fundament für die Sicherung der finanziellen Handlungsfähigkeit und Eigenständigkeit aller Länder ist seitdem der gesamtdeutsche bundesstaatliche Finanzausgleich. Die Umverteilung der Steuereinnahmen stellt die aufgabengerechte Finanzausstattung aller Länder sicher. Wie alle Länder so kommt auch Berlin auf der Basis des im Grundgesetz festgeschriebenen mehr6*

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Volker Halsch

stufigen Steuerverteilungs- und Ausgleichssystems zu einem ausreichenden Einnahmenniveau – und zwar weitgehend losgelöst von der eigenen Wirtschafts- und Steuerentwicklung. In diesem System wird auch den beiden Besonderheiten Berlins, sowohl Stadtstaat als auch neues Bundesland zu sein, in sachgerechter Weise Rechnung getragen. Die Wirkungen des bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems für Berlin (je Einwohner in Euro; Basis: vorläufige Abrechnung des Länderfinanzausgleichs für das Jahr 2004)

Berlin

Hamburg

Länder insgesamt

Berlin in v.H. von Länder insgesamt

Hamburg in v.H. von Länder insgesamt

Örtliches Aufkommen der Länder

938

2.152

1.112

84,4

193,6

Steuerkraft der Gemeinden

574

1.225

690

83,3

177,7

Erste Ausgleichsstufe:

Horizontale Umsatzsteuerverteilung

778

693

807

Zweite Ausgleichsstufe:

Länderfinanzausgleich

795

-329

0

davon: Effekt der Einwohnerwertung

646

472

0

3.085

3.741

2.608

118,3

143,5

Bundesergänzungszuweisungen

757

0

182

Fehlbetrags-BEZ

133

0

37

Sonderbedarfs-BEZ (SoBEZ)

624

0

145

davon: SoBEZ für neue Länder

591

0

128

SoBEZ für leistungsschwache kleine Länder

33

0

10

3.842

3.741

2.790

137,7

134,1

Ausgangsbasis:

Zwischenergebnis:

Dritte Ausgleichsstufe:

Gesamtergebnis:

Das horizontale Steuerverteilungs- und Ausgleichssystem in Deutschland erfolgt in mehreren Stufen. Ausgangsbasis für die Ausgleichsberechnungen bildet das Aufkommen der Steuern in den einzelnen Ländern. Grundsätzlich steht einem Land das auf seinem Gebiet örtlich anfallende Aufkommen bei den Länderanteilen an der Einkommen- und Körperschaftsteuer sowie bei den Landessteuern selbst zu. Über so genannte Steuerzerlegungen werden dabei erhebungstechnische Besonderheiten bei der Lohn- und Körperschaftsteuer sowie beim Zinsabschlag korrigiert. Im örtlichen Aufkommen der einzelnen Länder spiegelt sich die jeweilige Wirtschaftskraft wieder. Im Land Berlin betrug das örtliche Steueraufkommen im vergangenen Jahr 938 Euro je Einwohner. Dies entsprach 84,4 % des Bundesdurchschnitts. Zum Vergleich: Als wirtschaftsstärkstes Land hat Hamburg mit 193,6 % des Bundesdurchschnitts das mit Abstand höchste Aufkommen aller Länder. Auf der ersten Stufe der horizontalen Umverteilung erfolgt die Verteilung der Umsatzsteuer auf die einzelnen Länder. Bei der Umsatzsteuer ist eine länderweise Verteilung nach dem örtlichen Aufkommen nicht sinnvoll. Ihr Aufkommen ist besonders wegen der weiträumigen wirtschaftlichen Verflechtungen nicht einzelnen Ländern zurechenbar. Maßstab für die Verteilung des Länderanteils an der Umsatzsteuer ist grundsätzlich die Einwohnerzahl. Ein Teil des Länderanteils an

Berlin im Geflecht der Bund / Länder-Finanzbeziehungen

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der Umsatzsteuer wird allerdings als so genannte Ergänzungsanteile an besonders steuerschwache Länder vergeben. Empfänger dieser ersten Stufe der horizontalen Umverteilung sind insbesondere die besonders steuerschwachen neuen Länder. Seit 2001 erhält auch Berlin Ergänzungsanteile aus der Umsatzsteuer. Von den 778 Euro, die Berlin im vergangenen Jahr über diese erste Umverteilungsstufe für jeden Einwohner erhielt, gehen 693 Euro auf die Verteilung nach Einwohnern und 85 Euro auf Ergänzungsanteile zurück. Auf der zweiten horizontalen Umverteilungsstufe findet der Länderfinanzausgleich statt. Aufgabe des Länderfinanzausgleichs ist die Gewährleistung einer notwendigen Finanzausstattung für die finanzschwachen Länder durch deren hinreichende Annäherung an die durchschnittliche Finanzkraft. Maßstab für die Angemessenheit des Ausgleichs sind dabei die zu bewältigenden Aufgaben der Länder. Ziel ist keinesfalls die Nivellierung der Finanzkraft. Die Finanzkraft eines Landes bestimmt sich dabei über die Steuereinnahmen des Landes selbst, seinen Umsatzsteueranteil, sowie über die Steuerkraft der Gemeindeebene des Landes. Dabei wird die Steuerkraft der Gemeinden nicht vollständig angerechnet, sondern bis 2004 zur Hälfte und ab 2005 zu 64 %. Der Ausgleich der Finanzkraft erfolgt grundsätzlich einnahmenbezogen. Finanzbedarfe der Länder bleiben außer Betracht. Dies bedeutet, dass beim Länderfinanzausgleich vom Grundsatz des gleichen Finanzbedarfs je Einwohner ausgegangen wird. Wie häufig, so gilt auch hier: Kein Grundsatz ohne Ausnahme. Die wichtigste Ausnahme betrifft die Stadtstaaten. Sie haben einen höheren Finanzbedarf als Flächenländer. Deshalb gibt es für sie die Einwohnerwertung im Länderfinanzausgleich. Der höhere Finanzbedarf der Stadtstaaten wird rechentechnisch umgesetzt, indem die Einwohnerzahlen der Stadtstaaten mit einem Faktor multipliziert werden, den bekannten 135 %. Bei der Ermittlung des für den Finanzausgleich maßgeblichen Finanzbedarfs Berlins wird also von der Fiktion ausgegangen, dass Berlin nicht nur knapp 3,4 Mio. Einwohner hat, sondern 1,35 Mal soviel, also knapp 4,6 Mio. Einwohner. Die Vorgehensweise, Mehrbedarfe der Stadtstaaten über die Einwohnerwertung im Länderfinanzausgleich zu berücksichtigen, ist vom Bundesverfassungsgericht im Laufe der Jahre mehrmals als sachgerecht bestätigt worden. Die Einwohnerwertung war, ist und bleibt politisch jedoch in hohem Maße strittig. Juristische und ökonomische Gutachten zu dieser Thematik füllen in manchen Bibliotheken inzwischen ganze Regale. Ihr besonderer Stellenwert zeigt sich, wenn man sich vor Augen führt, dass sie erheblichen Einfluss auf Höhe und Richtung der Finanzausgleichsströme hat. Hätte es die Einwohnerwertung im vergangenen Jahr nicht gegeben, hätte beispielsweise Berlin rechnerisch statt 2,7 Mrd. Euro lediglich 500 Mio. Euro über den Länderfinanzausgleich erhalten. Eine ganz schwierige Frage stellt sich in jedem Finanzausgleichssystem: Es ist die Frage nach der angemessenen Ausgleichsintensität. Bei ihrer Beantwortung muss eine Balance gefunden werden zwischen den Interessen von Geber- und Nehmerländern gleichermaßen. Erstere haben das berechtigte Interesse, möglichst viel von dem, was ihre Steuerzahler erwirtschaften, diesen wieder zugute kommen zu

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Volker Halsch

lassen. Bei Letzteren muss sichergestellt sein, dass sie ihren Ausgabenverpflichtungen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Einnahmen nachkommen können. Daher darf die Intensität des Finanzausgleichssystems ein Mindestmaß nicht unterschreiten. Seit Einbeziehung Berlins in den Finanzausgleich war Berlin in jedem Jahr der mit Abstand größte Zuweisungsempfänger, sowohl, was die Gesamtsumme anbelangt, als auch beim Betrag je Einwohner. 2004 erhielt Berlin rd. 2,7 Mrd. Euro. Je Einwohner sind das 795 Euro. Zum Vergleich: Das nächste Land Bremen erhielt je Einwohner lediglich 499 Euro, also nur gut 60 % des Berliner Vergleichswertes. Nach der zweiten horizontalen Umverteilungsstufe, dem Länderfinanzausgleich, verfügt Berlin über Steuereinnahmen je Einwohner von 118,3 % des Bundesdurchschnitts. Auf der dritten Stufe des Ausgleichs werden verschiedene Arten von Bundesergänzungszuweisungen gewährt. Zu nennen sind hier zunächst die FehlbetragsBundesergänzungszuweisungen, die rechnerisch an das Ergebnis des Länderfinanzausgleichs anknüpfen und den größten Teil der nach Länderfinanzausgleich verbliebenen Fehlbeträge zur durchschnittlichen Finanzkraft ausgleichen. Im vergangenen Jahr erhielt Berlin insgesamt rund 450 Mio. Euro an Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen; dieses entsprach 133 Euro je Einwohner. Auch bei diesem Ausgleichselement war Berlin im Jahr 2004 mit Abstand größter Empfänger. Zur dritten Ausgleichsstufe gehören ebenso die Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen. Auch von diesen profitiert Berlin in erheblichem Maße. An erster Stelle sind hier die Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen zu nennen, die Berlin und die neuen Länder zum Ausgleich ihrer Sonderlasten aus der deutschen Teilung erhalten. Berlin bekommt dafür im Jahr 2004 gut 2 Mrd. Euro oder 591 Euro je Einwohner. Zu guter Letzt erhält Berlin Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen zum Ausgleich dafür, dass es aufgrund der geringen Einwohnerzahl im Vergleich zum Länderdurchschnitt überproportional hohe Kosten für die politische Führung zu tragen hat. Im vergangenen Jahr waren dies 112 Mio. Euro. Rechnet man die Effekte aller Umverteilungsstufen des Ausgleichssystems zusammen, ist festzuhalten: Berlin profitiert wie kein anderes Land vom bundesstaatlichen Finanzausgleich. Letztendlich standen Berlin im vergangenen Jahr 3.842 Euro je Einwohner an Steuern und an Zuweisungen des bundesstaatlichen Finanzausgleichssystems zur Verfügung. Dies sind exakt 137,7% des Bundesdurchschnitts. Im Unterschied hierzu musste sich das mit Abstand steuerstärkste Land Hamburg im vergangenen Jahr mit lediglich 134,1 % zufrieden geben. Gemessen an der Ausgangssituation – also den 84,4 % des Bundesdurchschnitts vor Umverteilung – ist dies ein Zuwachs, der die Konkretisierung des grundgesetzlich festgelegten Solidarprinzip eindrucksvoll unterstreicht. Die Solidargemeinschaft von Bund und Ländern kann berechtigterweise erwarten, dass Berlin damit entsprechend sparsam wirtschaftet. Am Ausmaß der Solidarität des Bundes und der übrigen Länder wird sich auch mit dem neuen, seit Beginn des Jahres 2005 geltenden Finanzausgleichsrecht nichts Grundsätzliches ändern. Insgesamt bleibt die Finanzposition Berlins mehr als gewahrt.

Berlin im Geflecht der Bund / Länder-Finanzbeziehungen

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Damit bleibt festzuhalten: Der Finanzausgleich bietet Berlin die Garantie für verlässliche und angemessene Einnahmen. Berlin verfügt sowohl nach dem alten als auch nach dem neuen Finanzausgleichsrecht über die höchsten Finanzmittel je Einwohner. 3. Der Hauptstadtstatus Berlins In der Diskussion um eine angemessene Finanzausstattung Berlins wird von Berliner Seite zusätzlich auf die Hauptstadtfunktion der Stadt verwiesen. Die Funktion als Hauptstadt sei schließlich mit finanziellen Mehrbelastungen verbunden. Nicht zuletzt war dies der Grund für den Vorstoß Berlins in der Föderalismuskommission, den Status Berlins als Bundeshauptstadt im Grundgesetz festzuschreiben. Berlin ist schließlich wieder – wie schon von 1871 bis 1945 – deutsche Hauptstadt und seit einigen Jahren auch wieder Regierungssitz. Der Blick zurück in die Geschichte zeigt allerdings, dass Berlin weder in der Verfassung von 1871 noch in der von 1919 einen besonderen verfassungsrechtlichen Status als Hauptstadt des deutschen Reiches genoss und auch von keinen hauptstadtbezogenen finanziellen Privilegierungen des Reichs profitiert hatte. Allerdings war die Reichshauptstadt seinerzeit zugleich auch die Hauptstadt des Landes Preußen. Und von dort ging die Förderung Berlins aus, so zum Beispiel bei der Finanzierung der Bauten auf der Berliner Museumsinsel. In der Föderalismuskommission kam auch die Idee auf, den Status des US-amerikanischen Washington D.C. als Modell einer Sonderverwaltungszone des Bundes für Berlin heranzuziehen. Zu diesem Thema gibt es eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa aus dem Frühjahr des Jahres 2005. Darin sprachen sich ein Drittel der Bundesbürger und sogar die Hälfte der Berliner für einen Sonderstatus Berlins entsprechend dem der US-amerikanischen Hauptstadt aus. Dieses Ergebnis überrascht. Bei den Antworten der Berliner scheint vielleicht die Hoffnung im Vordergrund gestanden zu haben, über einen solchen Hauptstadtstatus könnten die Finanzierungsprobleme der Stadt ohne schmerzliche Ausgabenkürzungen gelöst werden. Allerdings erhält Berlin auch ohne Grundgesetzfestlegung seiner Hauptstadtrolle und ohne Schaffung eines Sondergebietsstatus besondere Hauptstadthilfen. So leistet der Bund einen pauschalen Ausgleich für die Sonderbelastungen des Landes im Sicherheitsbereich. Er fördert das Kulturangebot der Stadt in umfangreichem Maße, zum Beispiel mit der Übernahme der alleinigen institutionellen Förderung des Jüdischen Museums, des Hauses der Kulturen oder des Martin-Gropius-Hauses. Über den Hauptstadtkulturfonds fördert der Bund nationale und internationale Kulturereignisse der Stadt. Über die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist er – der Bund – auch an der Wiederherrichtung der Museumsinsel beteiligt. Es mag Auffassungsunterschiede zur angemessenen Höhe des Hauptstadtausgleichs geben. Hierbei geht es aber um Größenordnungen, die nicht so bedeutend sind, als dass hiervon die Lösung der Finanzprobleme der Stadt abhängen würde. „Die

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Volker Halsch

Hauptstadtfinanzierung wird maßlos überschätzt.“ So sah das laut Presse auch der Finanzsenator von Berlin im März 2005 auf einer Veranstaltung der Historischen Kommission im Roten Rathaus. Er bezifferte die hauptstadtbedingten jährlichen Ausgaben Berlins auf zusammen 140 Mio. Euro. Hauptstadt zu sein, erscheint allerdings nur dann als Sonderbelastung, wenn man lediglich einzelne Ausgabenbereiche betrachtet. Dies wird jedoch der Hauptstadtfunktion nicht gerecht. Insgesamt gesehen zieht Berlin sogar erheblichen Nutzen aus seiner neuen Funktion – nicht nur kulturell, sondern ganz besonders auch ökonomisch. Bestätigt wird dies zum Beispiel durch ein Gutachten des Schweizer Prognos-Instituts aus dem Jahr 2003, das vom Bundesministerium der Finanzen in Auftrag gegeben wurde. Die Verlagerung der Regierung vom Rhein an die Spree bringt danach zusätzliches Wachstum nach Berlin. Auch stehen in Berlin dauerhaft mehr als 50.000 Arbeitsplätze in direktem Zusammenhang mit der Hauptstadtfunktion und dem Regierungsumzug. Wer die vielfältigen Facetten des Hauptstadtthemas beleuchtet und alle dabei relevanten Effekte beziffert und zusammenzählt, kann nicht behaupten, Berlin sei mit der Übertragung der Hauptstadtfunktion und der Verlagerung des Regierungssitzes eine Sonderbelastung aufgebürdet worden. Über die Hauptstadtfunktion Berlins können deshalb keine weiteren nennenswerten Ausgleichsansprüche gegenüber dem Bund gerechtfertigt werden.

III. Befindet sich Berlin in einer Haushaltsnotlage? 1. Die Sicht Berlins Was wird von Berliner Seite zu seiner schwierigen Haushaltslage vorgetragen? Was sind die Berliner Argumente für das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe? Die Finanzprobleme werden erklärt durch die schwache Wirtschafts- und Einnahmenentwicklung sowie die heute nicht mehr finanzierbaren Ausgabenbelastungen aus der Zeit der Teilung. Ebenso wird auf nicht ausreichende Übergangsregelungen bei der Einbeziehung Berlins in das bundesstaatliche Finanzierungssystem hingewiesen. Berlin argumentiert, dass der daraus resultierende Anstieg von Verschuldung und Zinsbelastung die Haushaltsspielräume vollständig aufgezehrt habe. Weiter steigende Zinslasten bedrohten die zukünftige Handlungsfähigkeit. Weil sich die Solidargemeinschaft nicht freiwillig zur Hilfe bereit erklärt hat, habe Berlin im September 2003 beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe auf Sanierungshilfen klagen müssen. Berlin begründet seinen Anspruch auf Sanierungshilfen in seiner Klageschrift formal: Nach Ansicht des Senats zeigen Haushaltskennziffern die extreme Haushaltsnotlage des Landes an, weil diese mittlerweile ein Niveau erreicht haben, das vom Bundesverfassungsgericht 1992 als Kriterium für eine extreme Haushaltsnotlage in Bremen und im Saarland herangezogen wurde und Sanierungshilfen auslö-

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ste. Darüber hinaus verweist Berlin darauf, seinen Eigenbeitrag zur Sanierung erbracht zu haben. Die Neukonzeption der Finanzpolitik sei eingeleitet, und die mittelfristige Finanzplanung sehe eine restriktive Ausgabenlinie vor. Mit seinen Konsolidierungsentscheidungen habe Berlin das ihm Mögliche zur Haushaltssanierung getan. Das Land sei allerdings aus eigener Kraft nicht zur Sanierung des Haushalts in der Lage. Daher habe Berlin gegenüber der Solidargemeinschaft einen Anspruch auf Sanierungshilfen in Form von SonderbedarfsBundesergänzungszuweisungen.

2. Die Sicht des Bundes Nach Ansicht der Bundesregierung macht sich Berlin die Sache zu einfach. Die von Berlin angeführten Begründungen verschleiern den Blick auf das eigentliche Problem: seine zu hohen Ausgaben. Berlin hat – zusammen mit Bremen – die höchsten Pro-Kopf-Ausgaben aller Länder. Von Bundesseite ist schwerlich nachvollziehbar, wie das Land dennoch argumentieren kann, sämtliche Spielräume zu Ausgabensenkungen bereits genutzt zu haben. Im Folgenden wird in sechs Einzelpunkten beispielhaft aufzeigt, warum die Bundesregierung Berlin nicht in einer Haushaltsnotlage sieht und deshalb den Forderungen Berlins nach Sanierungshilfen nicht nachkommen kann.  Für den Bund ist nicht akzeptabel, wenn Berlin heute noch mit den hohen Ausgabenansätzen der Vorwendezeit argumentiert. Vielmehr sind es die zu späten oder ganz unterbliebenen Anpassungen an die geänderte Situation, die die Probleme aufgeworfen haben. Die Stadt selbst hat es nicht geschafft, die überhöhten Ausgabenansprüche der Vergangenheit frühzeitig und mit Nachdruck an die geänderten Gegebenheiten anzupassen.  Die Einbeziehung Berlins in den Finanzausgleich ist nicht übereilt erfolgt und war für Berlin vorteilhaft. Sie wurde im Übrigen von Berliner Seite 1993 noch als großer politischer Erfolg verkündet. In der damaligen Finanzplanung heißt es wörtlich: „Im Zuge der Normalisierung war der Abbau der Berliner Sonderstellung und der Bundeshilfe unvermeidbar. Dafür wird jetzt ganz Berlin – auch die westlichen Bezirke – als geeinte Stadt und im bundesstaatlichen Finanzausgleich wie die anderen neuen Bundesländer behandelt. Außerdem erhält Berlin zusätzlich 35 % als „Stadtstaatenprivileg“. Damit wird Berlin gemeinsam mit Sachsen größter Empfänger. Das ist ein beachtlicher Erfolg, der Berlin die dringend notwendige Unterstützung bringt.“ Der heutige Einwand Berlins wischt auch beiseite, dass durch das Finanzausgleichssystem Berlin je Einwohner über mehr Mittel aus Steuereinnahmen und Zuweisungen im Finanzausgleichssystem verfügt als sämtliche anderen Länder. Das Ausgleichssystem kann daher auf keinen Fall zugleich für die Schuldenentwicklung verantwortlich gemacht werden. Es bleiben auch hier die fehlenden Anpassungen auf der Ausgabenseite.

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 Die Berliner Argumentation mit Haushaltskennziffern ist formalistisch. Sie wird dem Grundgedanken des Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 1992 nicht gerecht. Berlin begründet seinen Anspruch auf Hilfeleistungen der Solidargemeinschaft vor allem mit zwei Haushaltskennziffern. Deren Höhe habe bestimmte Schwellenwerte überschritten, die das Vorliegen einer extremen Haushaltsnotlage definieren sollen. Berlin beruft sich dabei vorgeblich auf das Urteil aus dem Jahr 1992. Die Haushaltskennziffern, um die es dabei geht, sind zum einen die Zins-Steuer-Quote und zum anderen die Kreditfinanzierungsquote. Die Zins-Steuer-Quote ist das Verhältnis von Zinszahlungen zu Steuereinnahmen einschließlich von Steuersurrogaten. Hierzu zählen zum Beispiel die Zuweisungen im Länderfinanzausgleich. Mit der Quote soll der Anteil der Steuereinnahmen erfasst werden, der für Zinszahlungen aufgewandt werden muss und deshalb nicht für die Erfüllung aktueller Aufgaben zur Verfügung steht. Die zweite Kennziffer, die Kreditfinanzierungsquote, gibt den Teil der Gesamtausgaben an, der über Kredite finanziert wird.

Die Berliner Argumentation, dass diese beiden Ziffern die Haushaltsnotlage Berlins zweifelsfrei anzeigen, ist nicht stichhaltig. Die seinerzeit als Indikatoren herangezogenen Haushaltsziffern sind im Jahr 1992 vom Bundesverfassungsgericht situationsbezogen entwickelt worden. Dies hatte das Gericht seinerzeit sogar herausgestellt. Die Rechtsprechung von damals ist also auf die derzeitige Situation Berlins nicht ohne Weiteres übertragbar. Vielmehr ist vorab zu fragen, in wieweit diese Indikatoren tatsächlich Rückschlüsse auf eine bestimmte Haushaltssituation ermöglichen. Und hier gibt es erhebliche Unterschiede zwischen der damaligen Situation und der Situation heute. Ein Unterschied liegt in den finanziellen Rahmenbedingungen in Deutschland. Diese haben sich gegenüber damals nahezu vollständig geändert. So hat sich allein das Niveau der Gesamtverschuldung seit 1986 etwa verdreifacht. Die gesamtdeutsche Schuldenquote – also die Relation zum BIP – ist in diesem Zeitraum um rund die Hälfte angestiegen. Das zeigt, dass die finanzpolitischen Handlungsspielräume insgesamt erheblich enger geworden sind. Dies gilt für den Bund und für alle Länder. Ein weiterer Unterschied liegt in der mangelnden Vergleichbarkeit westdeutscher und gesamtdeutscher Durchschnitte. Die im Urteil von 1992 vom Bundesverfassungsgericht bewerteten Finanzverhältnisse bezogen sich noch ausschließlich auf die Verhältnisse in Westdeutschland Ende der achtziger Jahre. Bremen und das Saarland wurden damals nur mit den übrigen westdeutschen Ländern verglichen. Und nur im Vergleich dieser Gruppe waren die Finanzverhältnisse der Länder Bremen und Saarland als besonders anzusehen. Ein ebenso bedeutender Unterschied betrifft den geänderten Grad der Homogenität aufgrund der Ausdehnung des Vergleichs auf sechzehn Länder. Damals waren Bremen und das Saarland, verglichen mit den übrigen acht westdeutschen Ländern, extreme Ausnahmen. Heute haben viele Länder schwerwiegende Finanzprobleme. Bei etwa der Hälfe der Länder liegen die Werte der beiden genannten Indikatoren um mehr als 20 % über dem Durchschnitt. In einer Situa-

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tion, in der eine Vielzahl von Ländern einer derart angespannten Haushaltssituation ausgesetzt ist, müssen die Schwellenwerte der Indikatoren einer extremen Haushaltsnotlage auch entsprechend der Hilfeleistungsmöglichkeiten der potentiellen Zahler von Sanierungsleistungen erhöht werden. Die Schwellenwerte aus dem 1992er Urteil sind demnach in ihrer Aussagekraft bezogen auf die aktuelle Situation zu relativieren. Völlig losgelöst von der unterschiedlichen Wertung der Indikatoren kommt schließlich auch noch hinzu, dass Berlin die Quoten nicht sauber berechnet. Dadurch erscheint Berlins Lage schlechter als sie tatsächlich ist. Damit die ZinsSteuer-Quote überhaupt Aussagekraft erlangt, müssen bei der Berechnung der Quote auch sämtliche Steuersurrogate mit erfasst werden. Berücksichtigt werden muss daher, dass ein Teil der Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen zum Ausgleich der Sonderlasten aus der deutschen Teilung auch dem Ausgleich der unterproportionalen kommunalen Finanzkraft dient. Obwohl ihre Funktion als Steuerersatz im Gesetz steht, gehen sie nicht in die Berliner Berechnungen ein. Auch der übrige Teil wird von Berlin nicht, wie vorgesehen, für den Abbau der teilungsbedingten Infrastrukturlücke eingesetzt, sondern zur allgemeinen Haushaltsfinanzierung. Bezieht man folglich die Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen aus dem Solidarpakt in der Quotenberechnung ein, bleibt die Zins-Steuer-Quote weit unterhalb des selbst von Berlin für maßgeblich gehaltenen Grenzwerts.  Aus Bundessicht wird der Aussagegehalt der von Berlin vorgebrachten Haushaltsindikatoren grundsätzlich in Frage gestellt.

Für die Bundesregierung kann das Überschreiten bestimmter Schwellenwerte einzelner Quoten allenfalls Indiz, jedoch niemals hinreichendes Kriterium für eine Haushaltsnotlage sein. Diese Festlegung gilt unabhängig von eventuellen Streitfragen über die richtige Höhe der Schwellenwerte. Sowohl die Zins-Steuer-Quote als auch die Kreditfinanzierungsquote verlieren nämlich ihre Indikatorfunktion für Haushaltsnotlagen, wenn die Ursachen der Haushaltsprobleme auf der Ausgabenseite zu finden sind. Die Indikatoren verraten insbesondere nichts darüber, ob ein Land auf der Ausgabenseite noch über Handlungsspielräume verfügt. Wenn jedoch das Ausgabenniveau im Vergleich zu den übrigen Ländern als überhöht anzusehen ist, liegt keine Haushaltsnotlage vor, weil das betroffene Land die Möglichkeiten hat, sich über die Anpassung der Ausgaben selbst aus der angespannten Finanzlage zu befreien. Daher sind die vom Berliner Senat vorgenommenen Rückschlüsse aus den Werten für die Zins-SteuerQuote und die Kreditfinanzierungsquote – das Vorliegen einer extremen Haushaltsnotlage – aus Bundessicht falsch.  Aus Bundessicht hat Berlin die Konsolidierungsmöglichkeiten bei den Ausgaben nicht ausgeschöpft. Im Gegensatz zu Berlin geht die Bundesregierung davon aus, dass es noch erhebliche Konsolidierungsspielräume auf der Ausgabenseite des Berliner Haushalts gibt. Um Spielräume für Ausgabensenkungen auf-

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zuspüren, wird üblicherweise auf den Quervergleich der Länder zurückgegriffen. Möglichkeiten der Konsolidierung sind vor allen dort zu vermuten, wo ein Land im Quervergleich überdurchschnittliche Ausgaben tätigt. Für Berlin bietet sich Hamburg auch für die Ausgaben als Vergleichsmaßstab an, weil beide Länder Stadtstaaten sind. Gegen Hamburg als Vergleichsland könnte eingewendet werden, dass der Vergleich dort zu Fehlinterpretationen führt, wo die Rolle Berlins als neues Bundesland berührt ist. Dieser Einwand ist grundsätzlich berechtigt, kann allerdings beim Ausgabenvergleich zwischen Berlin und Hamburg aufgrund des teilungsbedingten infrastrukturellen Nachholbedarfs nur im Bereich der Investitionsausgaben zum Tragen kommen. Bei den konsumtiven Ausgaben kann Berlin gegenüber Hamburg keine teilungsbedingten Sonderlasten geltend machen. Eine Einschränkung des Ausgabenvergleichs zwischen Berlin und Hamburg muss allerdings gemacht werden. Im Unterschied zu Berlin handelt es sich bei Hamburg um das wirtschafts- und steuerstärkste Bundesland. Das Hamburger Ausgabenniveau darf für Berlin somit nur Orientierungsmaßstab sein, von dem entsprechende Abschläge vorgenommen werden müssten. Die Analyse gewinnt an Aussagekraft, wenn die Zinsausgaben aus der Betrachtung ausgeklammert werden, weil diese nicht zur Finanzierung aktueller Aufgaben zur Verfügung stehen. Die konsumtiven Ausgaben ohne die Zinsausgaben werden üblicherweise als konsumtive Primärausgaben bezeichnet. Ihr Niveau zeigt das eigentliche Haushaltsproblem Berlins und bietet damit auch den Ansatzpunkt für die Begrenzung der Zinsausgaben. Der Vergleich mit Hamburg zeigt folgendes Ergebnis: Bei den konsumtiven Primärausgaben hat das wirtschafts- und steuerschwache Berlin gegenüber dem wirtschafts- und steuerstarken Hamburg selbst fünfzehn Jahre nach dem Mauerfall immer noch einen erheblichen Ausgabenüberhang von etwa 10 %. In den Jahren 1991 bis 1995 ist es sogar noch zu einer deutlichen Ausweitung des Ausgabenüberhangs gegenüber Hamburg gekommen. Auch in den Jahren 1997 bis 2001 hat es im Vergleich zu Hamburg keine Fortschritte gegeben. Erst in den letzten Jahren hat offensichtlich ein Umdenken eingesetzt. Die Folgen des Unterlassens in der Vergangenheit sind weiterhin deutlich spürbar. Hochgerechnet auf die Bevölkerungszahl von Berlin beträgt der Überhang bei den konsumtiven Primärausgaben gegenüber Hamburg noch immer etwa 1,5 Mrd. Euro. Das bedeutet, dass das Defizit Berlins um diesen Betrag gesenkt werden könnte, ohne dass das Berliner Ausgabenniveau unter das Niveau des finanzstärksten Landes Hamburg absinken müsste. Das wäre etwa der Betrag, den Berlin bei Zinsen einsparen würde, wenn die Solidargemeinschaft – wie von Berlin gefordert – Landesschulden in Höhe von 35 Mrd. Euro übernähme. Der Bund kann keine detaillierten Sparvorschläge für den Berliner Haushalt machen. Dies ist Aufgabe Berlins. Einige Hinweise trotzdem: Bei den konsumtiven Ausgabenüberhängen fallen als erstes die hohen Berliner Personalkosten ins Auge. Hier wirken sich die Fehler der Vergangenheit besonders stark nach-

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teilig aus. So hätten frühzeitig Maßnahmen ergriffen werden müssen, den stark überbesetzten Öffentlichen Dienst an die Bedarfe anzupassen. Der Vergleich mit Hamburg zeigt auch den Anknüpfungspunkt für die Konsolidierung klar auf: Berlin weist nach wie vor mit deutlichem Abstand die höchste Dichte an öffentlich Beschäftigten auf. Dass von Berliner Seite mittlerweile eigene Fehler in der Vergangenheit eingeräumt werden, ist zwar zu begrüßen, ändert jedoch nichts am Befund. Spitzenniveaus im Ländervergleich erreicht Berlin auch bei den laufenden Sachaufwendungen und den laufenden Zuweisungen. Bei den Ausgaben für die Wohnungsbauförderung, bei denen Berlin besonders weit über Hamburger Niveau liegt, ist die Kehrtwende eingeleitet. Spürbare Ausgabensenkungen werden sich aber erst nach und nach im Haushalt niederschlagen. Eine Bemerkung zur Umsetzung von Sparmaßnahmen: Nach Ansicht der Bundesregierung reicht es für den Anspruch auf Sanierungshilfen nicht aus, die Ausgabenrückführung als Eigenanstrengung lediglich über die Finanzplanung in der Zukunft zu veranschlagen, wie es Berlin macht. Die im Maßstäbegesetz als Vorbedingung für die Vergabe von Sanierungshilfen genannten hinreichenden Eigenanstrengungen sind nicht erfüllt. Sie liegen vielmehr erst dann vor, wenn die Ausgabenüberhänge abgebaut und die Ausgaben in ein angemessenes Verhältnis zu den verfügbaren und, wie gezeigt, keinesfalls knapp bemessenen Einnahmen gebracht worden sind.  Aus Bundessicht kann Berlin das Abgleiten in eine Haushaltsnotlage aus eigener Kraft verhindern. Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass Berlin mit eigenen Möglichkeiten und ohne Hilfe von außen einen nachhaltigen Konsolidierungspfad einschlagen kann. Dies ist auch das Ergebnis einer Studie, die vom Bundesministerium der Finanzen bei Professor Bernd Huber, Finanzwissenschaftler der Universität München, in Auftrag gegeben wurde. Mit dem Konzept der Nachhaltigkeit wird in dem Gutachten ein in den vergangenen Jahren entwickeltes modernes Instrument zur Analyse der staatlichen Finanzpolitik zu Grunde gelegt, wie es zum Beispiel auch von der OECD und vom Sachverständigenrat herangezogen wird. Dadurch kann das Vorliegen einer extremen Haushaltsnotlage sehr viel genauer als mit den von Berlin in den Vordergrund gestellten statischen Haushaltsindikatoren analysiert werden. Vereinfacht ausgedrückt wird mit der Nachhaltigkeitsanalyse untersucht, ob die Haushaltspolitik, gemessen am Kriterium „Stabilisierung der Schuldenquote“, als langfristig tragfähig – sprich: nachhaltig – bezeichnet werden kann. Wird diese Bedingung verletzt, führt die Haushaltspolitik zu einem Anstieg der Schuldenquote. Dann besteht im Sinne des Nachhaltigkeitskonzepts ein Konsolidierungsbedarf. Dabei liefert der Umfang der für Nachhaltigkeit erforderlichen Ausgabenkürzungen den Ansatzpunkt für die Definition einer extremen Haushaltsnotlage. Nur in dem Fall, in dem der Umfang der erforderlichen Ausgabenkürzungen dazu führt, dass ein kritisches Mindestniveau bei den Primärausgaben unterschritten wird, liegt eine extreme Haushaltsnotlage vor. Denn nur bei Unterschreitung dieses Niveaus wäre das Land nicht mehr in der Lage, seinen unabweislichen Ausgabenver-

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pflichtungen nachzukommen. Schwierig ist dabei natürlich die Bestimmung dieses kritischen Mindestniveaus. Im Gutachten von Professor Huber werden Konsolidierungspfade aufgezeigt, bei denen sich Berlin bei rechtzeitiger und rascher ausgabenseitiger Konsolidierung selbst aus seiner Haushaltskrise befreien kann, ohne dass das Niveau der Primärausgaben unter 95 % des Hamburger Niveaus sinkt. Gemessen am Ausgabenniveau des wirtschafts- und finanzstärksten Landes Hamburg scheint die Größe von 95 % keine für Berlin unvertretbare Setzung von Professor Huber zu sein. Im Gegenteil. Der Unterschied zwischen den Primärausgaben je Kopf im finanzstarken Flächenland Hessen und im finanzschwachen Flächenland Rheinland-Pfalz – jeweils einschließlich ihrer Kommunen – beträgt beispielsweise nicht 5, sondern 11 Prozentpunkte, wird ausschließlich auf die konsumtiven Primärausgaben abgestellt sogar 13 Prozentpunkte. Berlin befindet sich also auch unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit nicht in einer extremen Haushaltsnotlage, weil es selbst über ausreichende Möglichkeiten verfügt, seine Finanzsituation dauerhaft zu stabilisieren.

IV. Handlungsoptionen Berlins Unabhängig von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Sanierungshilfen kommt Berlin nicht umhin, sämtliche Konsolidierungsspielräume im Haushalt zu nutzen. Doch welche Handlungsoptionen bestehen für Berlin über den Konsolidierungskurs hinaus?

1. Verbesserung der Haushaltsstruktur Was Sorgen machen muss, sind die Wachstumsraten der letzten Jahre. Deshalb sind wachstumsfördernde Investitionen unabdingbar. Die quantitative Konsolidierung über die Rückführung der konsumtiven Ausgaben muss mit einer qualitativen Konsolidierung durch Erhöhung des investiven Ausgabenanteils einhergehen. Wie bereits bei den Einnahmen ausgeführt, erhält Berlin vom Bund jährlich 2 Mrd. Euro Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen im Rahmen des Solidarpakts. Diese Mittel sind insbesondere zur Schließung der Infrastrukturlücke gedacht. Weil der Berliner Senat sie jedoch für die Finanzierung überhöhter konsumtiver Ausgaben einsetzt, gehen sie für Investitionen verloren. Dies ist möglich, weil nach dem Wortlaut der Verfassung Ergänzungszuweisungen des Bundes ungebundene Finanzmittel darstellen. Die Fehlverwendung der Solidarpaktmittel streitet der Berliner Finanzsenator im Übrigen auch gar nicht ab. Er rechtfertigt die zweckwidrige Verwendung vielmehr damit, dass er das Geld aufgrund der schwierigen Haushaltslage gar nicht anders verwenden kann. Hier wird der Bund nicht locker lassen; die zugesicherte Verwendung der Bundesmittel muss sichergestellt werden. Auch die knapp 100 Mio. Euro vom Bund jährlich bereitgestellten Mittel aus der Gemeinschaftsaufgabe Regionale Wirtschaftsstruktur werden von Berlin nur zum Teil

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in Anspruch genommen. So ließ Berlin im Durchschnitt der vergangenen drei Jahre Investitionsmittel zur Förderung der regionalen Wirtschaft zu mehr als einem Drittel verfallen. Investitionen sind kein Selbstzweck. Der Bund stellt die Investitionsmittel mit dem Ziel bereit, der Stadt eine Zukunftsperspektive zu eröffnen.

2. Länderfusion Berlin – Brandenburg Auch die Länderfusion ist eine Chance zur Verbesserung der Lage für die gesamte Region, die nicht leichtfertig verspielt werden darf. Nirgendwo sonst verlaufen die Landesgrenzen so zufällig und willkürlich wie zwischen Berlin und Brandenburg. Nirgendwo sind die Schritte, diese Grenze zu beseitigen, so weit fortgeschritten wie hier. Die Vorteile des Projekts Länderfusion erlauben es nicht, dass man es einfach von der politischen Agenda absetzt. Von Brandenburger Seite war das Projekt allerdings mit dem Hinweis der mangelnden Zustimmung in der Bevölkerung vor einiger Zeit auf Eis gelegt worden. Anfang April 2005 war das Thema Länderfusion dann plötzlich wieder in aller Munde. Auslöser war das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Finanzen zum Thema Haushaltsnotlagen. Die Reaktion bezog sich allerdings nicht in erster Linie auf die Inhalte des Gutachtens, obwohl diese es verdient hätten. Sie betrafen vielmehr eine Äußerung von Bundesfinanzminister Eichel, die dieser im Zusammenhang mit der Vorstellung des Gutachtens gemacht hat. Der Minister hatte gesagt: „Wenn ein Land nachhaltig nicht auf die Beine kommt, wird natürlich die Frage nach der Existenzberechtigung des Landes gestellt.“ Natürlich hat Minister Eichel dadurch nicht das Existenzrecht etwa Berlins oder eines anderen Landes in Zweifel gezogen. Er hat allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass die Finanzprobleme Berlins keineswegs ein Einzelfall im deutschen Föderalismus sind. In allen öffentlichen Haushalten ist die Lage mehr oder weniger angespannt. Bremen und das Saarland sind bereits mit der Forderung nach weiteren Sanierungshilfen an den Bund herangetreten. Sie argumentieren, die bisherigen Hilfen für die erfolgreiche Haushaltssanierung hätten nicht ausgereicht. Sollte nicht entschieden gegengesteuert werden, könnten sich in ein paar Jahren die Haushaltssituationen in sämtlichen neuen Ländern mit Ausnahme Sachsens ernsthaft verschärfen. Es bedarf nicht besonderer Phantasie festzustellen, dass ein Solidarsystem überfordert ist, wenn gleich mehrere Länder ernste Haushaltsprobleme haben und Sanierungshilfen einfordern. Was aber folgt für ein föderales System, wenn sich in Zukunft nur noch die großen Länder finanziell einigermaßen behaupten können? Anstatt auf Fragen des deutschen Föderalismus im Allgemeinen einzugehen, soll hier nur ein spezieller Berlin-Aspekt näher beleuchtet werden. Die Länderneugliederung ist eine ernst zu nehmende Option. Diese Feststellung ist im Übrigen nicht neu. Es hat immer wieder Diskussionen und auch Kommissionen zum Thema Länderneugliederung gegeben. Das Bundesverfassungsgericht

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selbst hatte 1992 bei seiner Entscheidung zu den Sanierungshilfen für Bremen und das Saarland die Länderneugliederung sogar als Alternative zu den Sanierungshilfen zur Sprache gebracht. Vor einiger Zeit hat sich auch der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Professor Papier, für die Neugliederung der Länder ausgesprochen. Dass die Entschuldung Berlins durch den Bund gelegentlich zur Vorbedingung für weitere Schritte auf dem Weg zur Fusion der Länder Berlin und Brandenburg erklärt wird, ist in der Sache falsch, politisch muss man das Argument allerdings ernst nehmen. Das Thema Länderfusion gehört auch und gerade dann auf die politische Agenda, wenn Berlin mit seiner Klage in Karlsruhe – wie von Bundesseite erwartet – keinen Erfolg hat. Niemand behauptet, dass die Fusion der Länder Berlin und Brandenburg ein Allheilmittel für die Lösung aller bestehenden Probleme in den beiden Ländern ist. Es gibt allerdings keine stichhaltigen Gründe, auf die Vorteile eines Länderzusammenschlusses zu verzichten. Gerade deshalb ist zu bedauern, dass der Fahrplan für die Fusion von Berlin und Brandenburg zurzeit auf Eis liegt. Die Vor-teile einer Fusion kommen eher in der mittel- und langfristigen Perspektive zum Tragen:  Für die öffentlichen Haushalte könnten erhebliche Einsparpotentiale durch die Steigerung der Verwaltungseffizienz erzielt werden, insbesondere im Personalbereich. Diese kämen den jetzigen Ländern Berlin und Brandenburg gemeinsam zugute.  Durch den Wegfall administrativer Landesaufgaben in Berlin könnten die Kosten politischer Führung gesenkt werden.  Der Wegfall zahlreicher Doppelinstitutionen, wie Landesgerichte, Landesregierungen, Landesparlamente wäre möglich.  Durch eine koordinierte Standortplanung würde die derzeitige ineffiziente Standortkonkurrenz zwischen Berlin und Brandenburg entfallen. Damit könnten z. B. ein unnötiger Subventionswettlauf bei der Konkurrenz um ansiedelungswillige Unternehmen oder Überkapazitäten bei Infrastruktureinrichtungen vermieden werden.  Effizienzverbesserungen ließen sich auch durch eine gemeinsame Raumordnung und Landesplanung erreichen. Getrennte Bundesländer müssen die Zusammenarbeit in unterschiedlichsten Gebieten – von der Müllentsorgung bis zu Kindergartenplätzen für Umlandpendler – im Rahmen von Staatsverträgen oder Verwaltungsvereinbarungen regeln. Solche Vereinbarungen sind nicht nur langwierig. Es gibt auch keinen übergeordneten Interessenausgleich. Dies ist insbesondere im Zusammenhang mit der Lösung von Stadt / Umland-Problemen von Bedeutung.  Auch der sich immer mehr auf die europäische Ebene verlagernde Standortwettbewerb verbietet ein getrenntes Agieren in Berlin und Potsdam, will man als Region wahrnehmbar und erfolgreich sein.

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Ein fusioniertes Land Berlin-Brandenburg erhielte auch mehr politisches Gewicht in der Bundespolitik. Durch ein einheitliches Auftreten hätten die Interessen der Region eine stärkere Durchsetzungskraft. Noch viel entscheidender sind wohl die positiven Wirkungen im privatwirtschaftlichen Bereich, zum Beispiel durch die Vermeidung von Reibungsverlusten insbesondere bei länderübergreifend tätigen Unternehmen. Diese Wirkungen für Wachstum und Beschäftigung in der Region lassen sich nicht einmal ansatzweise beziffern. Als ein besonderes Hindernis auf dem Weg zur Länderfusion von Berlin und Brandenburg werden die bestehenden Regelungen zum Länderfinanzausgleich und hier insbesondere die Einwohnerwertungen angesehen. Wie gezeigt, hängt ein großer Teil der Zuweisungen, die Berlin über den Länderfinanzausgleich und als Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen erhält, von der Einwohnerwertung ab. Würde mit dem Wegfall des Stadtstaatenstatus der Stadt die Einwohnerwertung für Berlin ersatzlos entfallen, wäre dies ein Fusionshemmnis ersten Ranges. Nutznießer dieser Einbußen wären insbesondere die nicht an der Fusion beteiligten Länder, über den Wegfall der Einwohnerwertungen im Länderfinanzausgleich. Der Bund würde geringere Vorteile durch die Reduktion der Bundesergänzungszuweisungen erlangen. Es ist nicht einzusehen, dass die übrigen Länder über das Finanzausgleichssystem zu den Hauptgewinnern der Fusion würden, die fusionierenden Länder hingegen mit massiven finanziellen Verschlechterungen rechnen müssen. Im „Gesetz zur Regelung der finanziellen Voraussetzungen für die Neugliederung der Länder Berlin und Brandenburg“ waren für die für 1999 geplante Fusion bekanntlich Übergangsregelungen für den Finanzausgleich vorgesehen worden. Das Stadtstaatenprivileg sollte für einen Zeitraum von fünfzehn Jahren fortbestehen. In diesem Zeitraum sollte die Einwohnerwertung von 135 % langsam abgeschmolzen werden. Für die Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen zum Ausgleich überproportional hoher Kosten politischer Führung von Berlin und Brandenburg sollten einmalig Übergangs-Bundesergänzungszuweisungen in Höhe von rd. 190 Mio. Euro gezahlt werden. Das Gesetz war vom Bundestag bereits beschlossen worden, der Bundesrat hatte ebenfalls zugestimmt. Es wäre nach einer Länderfusion automatisch in Kraft getreten. Hierzu kam es bekanntlich nicht. Da der Finanzausgleich inzwischen weitgehend verändert wurde, ist klar, dass die damaligen Regelungen heute nicht eins zu eins übernommen werden könnten. Allerdings müsste das Grundprinzip der seinerzeitigen Regelungen weiter gültig bleiben: Der faire Interessensausgleich zwischen den fusionswilligen Ländern auf der einen Seite und dem Bund und den übrigen Ländern auf der anderen Seite. Der Länderfinanzausgleich darf nicht zur bewahrenden Klammer ineffizienter Strukturen werden, weil er ansonsten sinnvolle Änderungen verhindern würde. Die übrigen Länder müssen daher überzeugt werden, dass auch sie hieran kein Interesse haben können. Bei einem neuen Fusionsanlauf würde sich die Bundesregierung deshalb gegenüber den anderen Ländern dafür einsetzen, die Regelungen zum Länderfinanzausgleich nicht zum Hindernis für eine insgesamt vorteilhafte Fusion werden zu lassen. 7 Baßeler u. a.

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V. Zusammenfassung „Die Haushaltslage von Berlin ist ernst, aber nicht hoffnungslos.“ Vordringliches Ziel der Politik der nächsten Jahre in Berlin muss es sein, zu einer auf Dauer tragfähigen Haushaltsentwicklung zu kommen. Den Schlüssel hierzu hält der Berliner Senat in Händen. Er liegt primär in der Anpassung der konsumtiven Ausgaben. Hier sieht die Bundesregierung nach wie vor erhebliche Spielräume, die genutzt werden müssen und die genutzt werden können, ohne das Niveau der öffentlichen Leistungen der Stadt über Gebühr abzusenken. Zu einer auf Dauer tragfähigen Haushaltsentwicklung gehört auch, dass die von Bundesseite bereitgestellten Investitionsmittel nicht länger für das Stopfen von Haushaltslöchern zweckentfremdet werden. Damit bestünde eine realistische Chance, dass sich Berlin aus eigener Kraft aus der kritischen Finanzsituation befreien kann. Die Umsetzung der hierfür notwendigen Entscheidungen stellt besondere Anforderungen an Bürger und politisch Verantwortliche gleichermaßen. Es gilt, diese Anforderungen als Herausforderungen zu begreifen und neben den Risiken auch die Chancen zu sehen. Flankiert wird dieser Prozess über die Regelungen des Finanzausgleichs, die einen verlässlichen Rahmen auf der Einnahmenseite bieten. Mittel- und langfristig ermöglicht eine Fusion von Berlin und Brandenburg weitere Vorteile, in erster Linie für die Wirtschaft der Region, aber auch für die öffentlichen Haushalte. Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung ist es allerdings, dass die Politik zuvor wieder die Bürger erreicht, die über den Länderzusammenschluss befinden sollen. Hierzu ist es wichtig, dass die Vorteile einer Fusion klarer herausgestellt werden. Und die Vorteile, die von einer Länderfusion ausgehen, bestehen unabhängig vom Ausgang des Karlsruher Verfahrens zu den Sanierungshilfen. Eine erfolgreiche Länderfusion von Berlin und Brandenburg könnte im Übrigen Beispiel dafür sein, dass die Länder in der Lage sind, Probleme selbst zu meistern. Und selbstbewusste Länder sind der beste Weg zur Stärkung des Föderalismus in Deutschland.

Finanzpolitische Herausforderungen an das Land Berlin bis zum Jahr 2020 Von Helmut Seitz

I. Einleitung und Übersicht Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit den finanzpolitischen Herausforderungen an das Land Berlin, wobei sich unsere Ausführungen auf die drei zentralen Probleme konzentrieren, die das Land Berlin in den nächsten Jahren bewältigen muss:  Die Beseitigung der immer noch vorhandenen Ausgabenüberhänge in der laufenden Rechnung,  die Anpassung an die im Solidarpaktfortführungsgesetz fixierte Rückführung der umfangreichen Osttransfers bis zum Jahr 2020 und  die Anpassung der Ausgabenstrukturen des Landes Berlin an den tief greifenden demographischen Wandel, insbesondere an die Veränderungen der Altersstruktur der Bevölkerung.

Im Mittelpunkt stehen die ersten beiden Themenkomplexe, während wir das Thema „demographische Anpassungszwänge“ nur kurz streifen.1 Hierzu werden wir in einem ersten Schritt die finanzpolitische Ausgangslage des Landes Berlin betrachten. In einem nächsten Abschnitt werden die drei benannten Problemfelder näher erläutert. Ausgehend von einfachen Modellrechnungen wird dann die Frage untersucht, welche finanzpolitische Entwicklung das Land bis zum Ende der nächsten Dekade erfahren wird bzw. ansteuern muss. Abschließend sollen finanzpolitische Schlussfolgerungen und Empfehlungen aus unserer Betrachtung abgeleitet werden.

II. Zur Ausgangslage in Berlin2 Dass das Land Berlin in einer schweren finanzpolitischen Schieflage ist, dürfte allgemein bekannt sein3, auch wenn die Politik im Land Berlin noch vielfach andeSiehe hierzu Seitz (2004) sowie Seitz und Kempkes (2005). Ausgabenseitig wird der Sondereffekt durch die Zahlungen des Landes Berlin an die Berliner Bankgesellschaft im Jahr 2001 in Höhe von ca. 1,76 Mrd. Euro herausgerechnet. Die 1 2

7*

100

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ren Träumen nachhinkt. Die Schulden des Landes Berlin, siehe Abbildung 1, beliefen sich Ende des Jahres 2004 auf ca. 70 % des Berliner Bruttoinlandsprodukts (BIP) und liegen somit noch deutlich über dem Wert des Stadtstaates Bremen (ca. 48 %), der in den Jahren von 1994 bis 2004 massive Haushaltssanierungshilfen vom Bund erhalten hat. Je Einwohner gerechnet, liegt die Verschuldung Berlins aber noch etwas unter dem Bremer Vergleichswert. Das zentrale Problem Berlins sind die deutlich überhöhten Ausgaben. So betrugen die laufenden Primärausgaben – definiert als laufende Ausgaben abzüglich der Zinsaufwendungen – im Jahr 2004 in Berlin ca. 4.840 Euro, während der Länderdurchschnitt bei ca. 3.400 Euro und der Vergleichswert des Stadtstaates Hamburg bei ca. 4.440 Euro – jeweils je Einwohner gerechnet – lag. Zentrale Ursache für die Ausgabenüberhänge in Berlin sind die Personalüberhänge in der Landesverwaltung sowie in den vom Land getragenen Einrichtungen, die jeden Vergleichsmaßstab in der Bundesrepublik übersteigen. Es ist sicherlich richtig, dass die in den letzten Jahren rückläufige und recht unstetige Einnahmenentwicklung des Landes Berlin – hiervon waren aber alle Gebietskörperschaften in der Bundesrepublik betroffen – zur erheblichen Finanzmisere des Landes beigetragen hat. Aber auch bei einer besseren Einnahmenentwicklung in den vergangenen Jahren hätte Berlin eine deutlich unterdurchschnittliche finanzpolitische Performance gehabt. Ferner ist es ebenfalls zutreffend, dass Berlin in der unmittelbaren Nachwendezeit von einer viel zu zügigen Rückführung der einst großzügigen Berlin-Transfers (an das ehemalige West-Berlin) hart getroffen wurde, siehe hierzu Seitz (1997), und auch die Ost-West-Anpassungsprobleme wurden allgemein unterschätzt. Aber das von der CDU und der SPD unter der Führung Diepgens in der Nachwendezeit in einer Mischung aus Größenwahn und nackter Realitätsverweigerung finanzpolitisch extrem defizitär geführte Berlin trifft ebenfalls in erheblichem Umfang eine Mitschuld an der schwierigen finanzpolitischen Lage des Landes. Leider hat diese gemeinsame historische Verantwortung für den Status Quo bislang noch nicht zu einer gemeinsamen Verantwortung der Politik für die Zukunftsgestaltung des Landes Berlin geführt. Im Gegenteil, die Berliner Politik ist über weite Bereiche von einem atemberaubenden Mangel an Diskussionsniveau und Sachkompetenz charakterisiert. Ohne Behebung dieses Problems wird Berlin seine Anpassungslasten nicht bewältigen können. Anzuerkennen ist aber, dass das Land Berlin in den vergangenen Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen hat, seine Finanzen wieder in Ordnung zu bringen. Isoliert betrachtet hat sich die Sanierungspolitik im Land Berlin aber in erheblichem Umfang zu Lasten der investiven Ausgaben vollzogen. Im Jahr 2004 betrugen diese gerade noch ca. 55 % des Vergleichswertes von 1995, während die laufenden Primärausgaben um lediglich ca. 7 % gesunken sind, siehe Abbildung 2. Allerdings hat Berlin im Ländervergleich seine laufenden Primärausgaben erheblich reduziert, da dem Rückgang der laufenden Primärausgaben in Berlin in Höhe Bankenkrise hat zwar zur Verschärfung der Finanzlage in Berlin beigetragen, ist aber keinesfalls Ursache oder ein Haupteinflussfaktor! 3 Siehe hierzu auch Seitz (2003a).

Finanzpolitische Herausforderungen an das Land Berlin bis zum Jahr 2020

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80

18.000

70

16.000 14.000

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12.000

50

10.000 40 8.000 30

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20

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10

2.000

H BE B RL IN

V

ST

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0 BY

0

Quelle: Berechnet aus Angaben des Statistischen Bundesamtes.

Abbildung 1: Verschuldung auf der Ebene der Länder- und Gemeindehaushalte im Jahr 2004: In Euro je EW (rechte Achse) und in % des nominalen BIP (linke Achse)

110 100 90

laufende Primärausgaben 80

investive Ausgaben Primärausgaben

70 60 50 1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

Quelle: Berechnet aus Angaben der Kassenstatistik.

Abbildung 2: Entwicklung der Primärausgaben insgesamt, der laufenden Primärausgaben und der investiven Ausgaben in Berlin seit 1995: Normierung 1995 = 100

von 7 % z. B. in Hamburg ein Anstieg im gleichen Zeitraum in Höhe von ca. 15 % und in Baden-Württemberg (Land und Gemeinden) von ca. 12 % gegenüberstand. Entsprechend haben sich denn auch die laufenden Primärausgaben je Einwohner in

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Berlin und in Hamburg bis zum Jahr 2004 deutlich angeglichen. Während im Jahr 1995 Berlin noch Mehrausgaben bei den laufenden Primärausgaben von ca. 22 % verzeichnete, ist diese Relation bis zum Jahr 2004 auf ca. 7 % gesunken. Somit ist unzweifelhaft festzuhalten, dass sich Berlin im Ländervergleich erheblich angestrengt hat. Dass diese Anstrengungen aber noch nicht ausreichend sind, wird deutlich, wenn man sich anschaut, welche Entwicklung einnahmenseitig auf das Land Berlin zukommt, wobei wir unseren unten dokumentierten Modellrechnungen etwas vorgreifen. Gegenwärtig, siehe Abbildung 3, ist Berlin im Bundesland-Vergleich „reich“, da die Pro-Kopf-Einnahmen4 im Jahr 2004 bei ca. 106,6 % des Vergleichswertes von Hamburg lagen und Hamburg fiskalisch das „reichste“ Bundesland ist. Bedingt durch den Abbau der Osttransferleistungen wird Berlin bis zum Jahr 2020 seinen Einnahmenvorsprung verlieren und im Jahr 2020 nur noch ein Einnahmenvolumen erreichen, das bei ca. 92 % bzw. ca. 97 % des Hamburger bzw. Bremer Niveaus liegen wird, wobei der Hauptgrund für die langfristig geringeren Pro-Kopf-Einnahmen die unterproportionale kommunale Finanzkraft des Landes Berlin ist. 115

112,8

110

106,6 105 100

96,6 95

91,2

90 85 80 2004

2020

Quelle: Berechnet aus Angaben der Kassenstatistik.

Abbildung 3: Die Pro-Kopf-Einnahmen in Berlin (netto) im Jahr 2004 und Schätzung für 2020 in Relation zu den anderen beiden Stadtstaaten

In der Tabelle 1 werden die wichtigsten Einnahmenkomponenten Berlins mit denen Hamburgs im Jahr 2004 verglichen. Je Einwohner verfügte Berlin im Jahr 2004 – nach Abzug der in der Regel recht volatilen Vermögensverkäufe – über Einnahmen in Höhe von ca. 5.000 Euro, während Hamburg – nach Abzug der Vermögensverkäufe sowie der Leistungen im Rahmen des Länderfinanzausgleichs (LFA) – über Einnahmen in Höhe von ca. 4.680 Euro verfügte. Die Nettosteuerein4 Ohne LFA-Leistungen in Hamburg, ohne Vermögensverkäufe und ohne Sanierungs-BEZ in Bremen.

Finanzpolitische Herausforderungen an das Land Berlin bis zum Jahr 2020

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nahmen – Steuereinnahmen abzüglich Zahlungen in den LFA – in Hamburg beliefen sich je Einwohner auf ca. 3.770 Euro, während Berlin lediglich ca. 2.400 Euro vereinnahmte. Ein großer Teil dieser Steueraufkommenslücke wird in Berlin aber durch Zuweisungen aus dem Finanzausgleichssystem in Höhe von ca. 950 Euro ausgeglichen, so dass Berlin nach Finanzausgleich immerhin ca. 88,5 % der Hamburger Steuereinnahmen erreicht. Die Mehreinnahmen des Landes Berlins im Vergleich zu Hamburg resultieren aus den hohen Zuweisungen des Bundes an das Land Berlin, deren „Löwenanteil“ auf die befristeten Osttransfers zurückzuführen ist. Tabelle 1 Einnahmenvergleich Berlin und Hamburg im Jahr 2004 Angaben in Euro je EW 2004 Einnahmen, brutto, insgesamt

Berlin

Hamburg

5.186

5.406

0

395

185

329



LFA-Leistungen



Vermögensverkäufe

=

Einnahmen, netto, darunter:

5.001

4.682

1

Steuern, netto (ohne LFA)

2.387

3.773

2

Einnahmen aus dem Finanzausgleich

950

0

1.012

286

3

a)

Zahlungen vom Bund (ohne Fehlbetrags-BEZ ) und der EU

3a

Bund (Bundesanspruch)

285

286

3b

Osttransfers

727

0

4

sonstige Einnahmen

652

909

a)

Die Fehlbetrags-BEZ an das Land Berlin sind in der Position 2 bereits enthalten.

Quelle: Berechnet aus Angaben der Kassenstatistik.

III. Zu den Anpassungszwängen in Berlin Nach unserer kurzen Bestandsaufnahme der aktuellen Finanzsituation des Landes Berlin wollen wir uns nunmehr den eingangs erwähnten drei großen Problembereichen zuwenden, die in den nächsten Jahren auf das Land Berlin zukommen werden. Hierbei ergibt sich ein finanzpolitisch schwierig zu bewältigender Kumulationsprozess aus dem Zusammentreffen von „Altlasten“ aus der Vergangenheit und zukünftigen Lasten, deren Ausmaß bereits jetzt weitgehend klar zu beziffern ist. Nicht nur Berlin, sondern auch die ostdeutschen Flächenländer stehen vor weitgehend ähnlichen Herausforderungen. Allerdings lassen der Hang der Politik zum extrem kurzfristigen Denken sowie die vielfach vorhandenen Wissens- und Ver-

104

Helmut Seitz

ständnisdefizite Zweifel daran aufkommen, ob die Politik in der Lage ist, diesen Prozess prospektiv zu bewältigen. Sollte dies nicht der Fall sein, muss der Bürger für dieses Politikversagen mit höheren Steuern bzw. Abgaben und oder geringeren öffentlichen Leistungen natürlich bezahlen. Schlechte Politik ist eben teuer! Anpassungszwang I: Die notwendige Rückführung der Primärausgaben aufgrund des bereits jetzt bestehenden Anpassungsbedarfs Selbst dann, wenn wir die aus den noch zu diskutierenden zukünftigen Herausforderungen aus der Abschmelzung der Osttransfers und den Anpassungen an demographische Veränderungen resultierenden zukünftigen Konsolidierungsprobleme nicht berücksichtigen, bestehen bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Berlin erhebliche Ausgabenüberhänge. Wir haben bereits eingangs auf das hohe Niveau der Pro-Kopf-Primärausgaben in Berlin hingewiesen. Trotz des Umstandes, dass Berlin in den vergangenen Jahren in einem erheblichen Umfang seine Ausgabenüberhänge gegenüber dem Durchschnitt der alten Länder sowie gegenüber Hamburg schon deutlich reduziert hat, sind diese Anpassungen bislang noch keinesfalls ausreichend. Angesichts der ebenfalls bereits erwähnten längerfristigen Reduktion der relativen Einnahmenposition des Landes Berlin muss dieser Prozess allerdings weiter vorangetrieben werden, da Berlin auch die steigenden Zinslasten – die in den Primärausgaben nicht enthalten sind – durch weitere Einsparungen bei den Primärausgaben kompensieren muss. 0 -1.000 -2.000 -3.000 -4.000 -5.000 -6.000 1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

Quelle: Berechnet aus Angaben des Statistischen Bundesamtes.

Abbildung 4: Finanzierungssaldo des Landes Berlin in Mio. Euro von 1995 bis 2004

Gegenwärtig beträgt der Finanzierungssaldo des Landes Berlin immer noch nahezu 3 Mrd. Euro, was in etwa 17 % der Einnahmen des Landes Berlin entspricht, siehe Abbildung 4. Die hohe und auch noch in Zukunft weiter ansteigende Verschuldung des Landes ist mit drastischen Zinsbelastungen verbunden, die im Jahr 2004 bereits ca. 13 % der Einnahmen absorbierten.

Finanzpolitische Herausforderungen an das Land Berlin bis zum Jahr 2020

105

Anpassungszwang II: Die Rückführung der Osttransfers Gegenwärtig erzielt Berlin ca. 14,5 % seiner Einnahmen aus Osttransfers, wobei der größte Teil dieser Osttransfers auf die „Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen für die Neuen Länder“ (SoBEZ) entfällt.5 Im Solidarpaktfortführungsgesetz von 2001 wurde die Rückführung der SoBEZ bis zum Jahr 2019 gesetzlich geregelt, siehe Abbildung 5, und eine Fortführung der Osttransferleistungen über das Jahr 2019 hinaus wurde in den Verhandlungen um den Solidarpakt II ausgeschlossen. Dies bedeutet aber nicht, dass Berlin, und auch die Ostflächenländer, nach 2019 nicht weitere überproportionale Leistungen des Bundes bzw. der EU beziehen könnten, die allerdings dann aufgrund der Strukturschwäche und nicht des Ostcharakters gewährt werden. 3.000

SoBEZ

Osttransfers insgesamt

2.500 2.000 1.500 1.000 500

20

19

20

18

20

17

20

16

20

15

20

14

20

13

20

12

20

11

20

10

20

09

20

08

20

07

20

06

20

20

20

05

0

Quelle: Berechnet aus Angaben des Solidarpaktfortführungsgesetzes.

Abbildung 5: Entwicklung der Osttransfers insgesamt sowie der SoBEZ (Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen) als wichtigste Teilkomponente der Osttransfers an das Land Berlin im Zeitraum von 2005 bis 2020 in Mio. Euro

Die SoBEZ dürfen von den neuen Ländern sowie dem Land Berlin für den Ausgleich der unterproportionalen kommunalen Finanzkraft sowie zur Finanzierung von Investitionen in die Infrastruktur und Investitionsfördermaßnahmen verwendet werden. Da Berlin in kaum nennenswertem Umfang überproportionale Investitionen tätigt, fließt der überwiegende Teil der von Berlin empfangenen SoBEZ in die Finanzierung konsumtiver Ausgaben. Hierzu ist aber auch anzumerken, dass in Berlin das Ausmaß der unterproportionalen kommunalen Finanzkraft erheblich ist. So erreicht Berlin noch nicht einmal 50 % des Pro-Kopf-Aufkommens aus Kommunalsteuern des Landes Hamburg, und selbst in Relation zu Bremen wird nur 5 Die über die SoBEZ hinausgehenden Osttransfers, die im Rahmen des sogenannten „Korb 2“ fließen, wurden von uns geschätzt.

106

Helmut Seitz

eine Quote von 71 % erreicht. Allerdings wird ein Teil der fehlenden Kommunalsteuerkraft des Landes Berlin auch im Rahmen des Länderfinanzausgleichs ausgeglichen. Der Umstand, dass Berlin seine SoBEZ weitgehend intentionswidrig6 verwendet, ist aber nicht verwunderlich, sondern Reflex auf die prekäre Haushaltslage des Landes Berlin. Der Umstand, dass Berlin die SoBEZ weitgehend konsumtiv und nicht investiv einsetzt, gestaltet aber den Anpassungsprozess an die Rückführung der Osttransfers in Berlin besonders schwierig. Würden diese Einnahmen überwiegend in die investive Verwendung fließen, so wäre eine Anpassung problemlos durch Rückführung und / oder Streckung von Investitionsprojekten möglich, während im konsumtiven Bereich Ausgabenkürzungen viel schwieriger sind, da der Bindungscharakter konsumtiver Ausgaben (z. B. Arbeitsverträge, vertragliche Zusicherung von Zuweisungen und Zuschüsse für soziale und kulturelle Einrichtungen, für öffentliche Unternehmen usw.) viel höher ist als bei investiven Ausgaben. Anpassungszwang III: Anpassung der Ausgabenstrukturen an die demographischen Veränderungen Die aktuellste Bevölkerungsprognose des Statistischen Bundesamtes (Variante 4) geht von einem Rückgang der Bevölkerung des Landes Berlin bis zum Jahr 2020 von etwas über 2 % und bis 2030 von etwas über 6 % aus. Approximativ gilt, dass c.p. die Bevölkerungselastizität der Einnahmen in etwa 1 beträgt, d. h. c.p. führt der Rückgang der Bevölkerung um 1 % zu einem Einnahmenrückgang von ebenfalls ca. 1 %. Daher wird der Effekt der demographischen Veränderungen auf der Einnahmenseite in Berlin recht gering sein.7 Allerdings führen die demographischen Veränderungen zu einer erheblichen Verschiebung der Bevölkerungsanteile der einzelnen Altersklassen, siehe Abbildung 6. So wird sich der Anteil der bildungsrelevanten Bevölkerung – von 6 bis unter 28 Jahre – von ca. 24,6 % im Jahr 2003 auf ca. 19,1 % im Jahr 2030 reduzieren, während im gleichen Zeitraum der Anteil der Bevölkerung im Alter von über 65 Jahren von ca. 15,4 % auf 27,5 % steigen wird. Dies wird erhebliche Anpassungen bei der Ausgabenstruktur des Landes Berlin erforderlich machen, da junge Menschen andere Bedarfe haben als ältere Menschen. Diese Anpassungsprozesse müssen im Interesse einer möglichst friktionsfreien Anpassung prospektiv gestaltet werden, wobei die sich bietenden Optionen zur Einsparung von Ausgaben bei der Versorgung der sinkenden Zahl junger Menschen konsequent genutzt werden müssen, um die Mehrbedarfe gegenzufinanzieren, die aus dem steigenden Anteil älterer Menschen resultieren. Hierbei muss auch das Risiko berücksichtigt werden, dass in Zukunft ggf. höhere Kosten der Alterung auf die Länder- (und Gemeinde-) 6 Aber auch die Ostflächenländer, mit Ausnahme des Freistaates Sachsen, lenken erhebliche Teile der SoBEZ in die konsumtive Verwendung! 7 Auch die Veränderung der Altersstruktur wird nur einen geringen Effekt auf die Höhe der Einnahmen des Landes Berlin haben, siehe Seitz (2004) sowie Seitz und Kempkes (2005).

Finanzpolitische Herausforderungen an das Land Berlin bis zum Jahr 2020 80

107

71,8

70

2003

61,6

2030

60 50 40

27,5

30

10

15,4

15,1 12,8

20

9,5

4,2 3,2

6,3

0 unter 6

6 bis 21

21 bis 28

über 65

15 bis 65

Quelle: Berechnet auf Basis der 10ten Koordinierten Bevölkerungsprognose, Variante 4.

Abbildung 6: Bevölkerungsanteile für ausgewählte Altersgruppen in Berlin

haushalte zukommen werden, da die sozialen Sicherungssysteme – angefangen von der Renten- über die Kranken- bis hin zur Pflegeversicherung – auf bundesstaatlicher Ebene offenkundig nicht nachhaltig ausfinanziert sind. So ist es durchaus möglich, dass in Zukunft die Sozialhilfeansprüche der älteren Generation wieder ansteigen (insbes. Kosten der Unterkunft, Hilfe zur Pflege und zum Lebensunterhalt), da die Erwerbsbiographien vieler Menschen im Zuge der anhaltenden und hohen Dauerarbeitslosigkeit unterbrochen wurden, so dass ggf. deren Ansprüche an die Sozialversicherung nicht ausreichen werden, um die Versorgung im Alter zu sichern.

IV. Was kommt auf Berlin noch zu? Erkenntnisse aus einfachen Nachhaltigkeitsmodellrechnungen Aufbauend auf unserer Bestandsaufnahme der finanzpolitischen Grunddaten des Landes Berlin sowie der zukünftigen Herausforderungen wollen wir nunmehr mit Hilfe von einfachen Nachhaltigkeitsmodellrechnungen die längerfristige Entwicklung in Berlin untersuchen, wobei der Zeithorizont unserer Berechnungen bis in das Jahr 2020 reicht. Dieses Jahr haben wir deshalb gewählt, da im Jahr 2019 letztmalig Osttransfers an das Land Berlin fließen werden und Berlin daher ab dem Jahr 2020 ohne diese Mittel auskommen muss. Den Ausgangspunkt unserer Berechnungen bildet die intertemporale Budgetrestriktion des Staates: …1†

Bt

Bt

1

ˆ iBt

1

‡ …Et

Rt † ˆ iBt

mit: P t ˆ Et

Rt

1

‡ Pt

108

Helmut Seitz

Bt = Schuldenstand am Ende der Periode t R = Einnahmen E = Primärausgaben (Gesamtausgaben abzüglich Zinsausgaben) P = Primärdefizit i

= konstanter Zinssatz

Üblicherweise wird die Budgetrestriktion des Staates aber nicht in Termini von absoluten Beträgen, sondern in Termini von Pro-Kopf-Größen bzw. in Relation zum Bruttoinlandsprodukt, BIP, betrachtet. Wählen wir die Normierung mit dem BIP, so muss Gleichung (1) durch das BIP dividiert werden, so dass wir folgende Gleichung erhalten: …2†

t ˆ

1‡i t 1‡g

1

‡ …"t

t †

mit: t ˆ

Bt Et Rt ; "t ˆ ; t ˆ Yt Yt Yt

wobei Y das BIP und g die als konstant unterstellte Wachstumsrate des nominalen BIP bezeichnet. ist die Schuldenquote,  die Relation der Einnahmen zum BIP und " die Relation der Primärausgaben zum BIP. Die Finanzpolitik eines Landes wird dann als nachhaltig betrachtet, wenn die Schuldenquote in einem bestimmten Jahr in der Zukunft einen fest vorgegebenen Wert nicht überschreitet. Häufig verwendete Zielwerte für die zukünftige Schuldenquote sind z. B. die Einhaltung des Maastrichtkriteriums (gesamtstaatlich dürfte dann den Wert von 0,6 nicht übersteigen) oder die gegenwärtige Schuldenquote. Allerdings lassen sich auch andere Grenzwerte begründen, wie z. B. die Rückführung der Schuldenquote des Landes Berlin an den Länderdurchschnitt, usw. Um diese Berechnungen durchzuführen, benötigt man zunächst eine Projektion der Entwicklung der zukünftigen Einnahmen des Landes Berlin, wobei insbesondere die Rückführung der Osttransfers zu beachten ist. Hierbei muss man eine Annahme über das BIP-Wachstum treffen, wobei wir vereinfachend davon ausgehen, dass in den Jahren von 2005 bis 2020 das reale BIP – zu Preisen von 2004 – in Berlin sowie in Gesamtdeutschland um jahresdurchschnittlich 1,5 % ansteigt. Die realen Einnahmen des Landes – netto der Erlöse aus Vermögensverkäufen sowie der Osttransferleistungen – werden ebenfalls mit einer Wachstumsrate von 1,5 % fortgeschrieben. In einem weiteren Schritt kann dann berechnet werden, um welchen Prozentsatz die realen Primärausgaben des Landes Berlin maximal wachsen dürfen, um das vorgegebene Nachhaltigkeitsziel im Jahr 2020 zu erreichen. Hierbei gehen wir bei unseren Modellrechnungen von einer konstanten Bevölkerungszahl aus. Unterstellt wird bei den Modellrechnungen ferner ein Zinssatz von 5 %. Ausdrücklich betont sei an dieser Stelle, dass die hier vorgestellten Berechnungen einen „vorläufigen Charakter“ haben, da wir gegenwärtig eine tiefer

Finanzpolitische Herausforderungen an das Land Berlin bis zum Jahr 2020

109

gehende und methodisch verbesserte Modellrechnung des Berliner Landeshaushaltes erarbeiten.8 Die Abbildung 7 zeigt unsere Projektion der Einnahmen des Berliner Landeshaushalts bis zum Jahr 2020. Ab dem Jahr 2009 flacht das Einnahmenwachstum deutlich ab, da dann die Degression der SoBEZ verstärkt einsetzt. Trotz eines Realwachstums von jahresdurchschnittlich 1,5 % steigen die Einnahmen von ca. 17 Mrd. Euro im Jahr 2004 bis zum Jahr 2020 nur auf ca. 18,3 Mrd. Euro an. Die Ursache für diesen bescheidenen Einnahmenzuwachs liegt darin begründet, dass dem Steueraufkommenswachstum in Höhe von ca. 3,8 Mrd. Euro Mindereinnahmen aus den Osttransfers in Höhe von 2,5 Mrd. Euro gegenüberstehen, siehe Tabelle 2. Als Vergleichsmaßstab haben wir auch Einnahmenprojektionen für die anderen beiden Stadtstaaten berechnet, bei denen ebenfalls ein Einnahmenwachstum von 1,5 % unterstellt wurde. Diese Ergebnisse haben wir gemeinsam mit den Berliner Daten in Form von Pro-Kopf-Werten in der Abbildung 8 dargestellt. Hierbei wird deutlich, dass das Land Berlin seinen Einnahmenvorsprung gegenüber Hamburg im Jahr 2011 und gegenüber dem Land Bremen im Jahr 2017 verlieren wird. 19.000

18.500 18.000

17.500

17.000 16.500

16.000 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020

Quelle: Eigene Berechnungen, Die Bevölkerungszahl wurde konstant gehalten (Niveau des Jahres 2004).

Abbildung 7: Projektion der Entwicklung des Gesamtvolumens der bereinigten Nettoeinnahmen in Berlin von 2005 bis 2020 in Mio. Euro, real zu Preisen von 2005 bei einem Realwachstum von 1,5 %

Ausgehend von den Einnahmenprojektionen für das Land Berlin haben wir berechnet, wie die realen Primärausgaben alljährlich angepasst werden müssen, um zu gewährleisten, dass das Land Berlin im Jahr 2020 eine Schuldenquote aufweist, die nicht über der des Jahres 2004 (ca. 69,2 %) liegt. Dieses recht bescheiden 8

Siehe alternativ auch die Nachhaltigkeitsberechnungen von Huber und Milbrandt (2002).

110

Helmut Seitz Tabelle 2 Komponenten der Realeinnahmenentwicklung in Berlin bis 2020 Einnahmenkomponente

Volumen

1. bereinigte Einnahmen (netto) im Jahr 2004

16,94 Mrd. Euro

2. Abbau der Osttransfers

2,48 Mrd. Euro

3. wachstumsbedingte Mehreinnahmen

3,83 Mrd. Euro

5. = 1. – 2. + 3. reale Einnahmen (netto) im Jahr 2020

18,28 Mrd. Euro

Quelle: Eigene Schätzungen, siehe Text.

6.000 5.750 5.500 5.250 5.000 4.750 4.500 4.250

Berlin

Hamburg

Bremen

4.000 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020

Quelle: Eigene Berechnungen, siehe Text.

Abbildung 8: Entwicklung der Pro-Kopf-Einnahmen in den Stadtstaaten im Zeitraum von 2005 bis 2020, real zu Preisen von 2005 bei einem Realwachstum von 1,5 %

klingende Nachhaltigkeitsziel ist aber mit erheblichen Einschränkungen bei den Primärausgaben verbunden, da in diesem Fall eine alljährliche Reduktion der Primärausgaben um 1,22 % erfolgen muss und dies trotz unseres unterstellten Realwachstums von 1,5 %! Die Pro-Kopf-Verschuldung in Berlin würde hierbei von gegenwärtig ca. 15.800 Euro auf ca. 20.100 Euro im Jahr 2020 ansteigen, siehe Abbildung 9. Würde das Land Berlin seine realen Primärausgaben in diesem Zeitraum konstant halten, würde die Pro-Kopf-Verschuldung sogar auf ca. 30.000 Euro ansteigen. Die Pro-Kopf-Primärausgaben würden bei dem berechneten Nachhaltigkeitskurs einer alljährlichen Kürzung der Primärausgaben um 1,22 % von gegenwärtig ca. 5.300 Euro auf real ca. 4.350 Euro im Jahr 2020 absinken, siehe Abbildung 10. Das Land würde im Jahr 2020 dann ein Pro-Kopf-Primärausgabenvolumen erreichen, das nicht nur deutlich unter dem Wert Hamburgs liegen würde, sondern – wie weitergehende Berechnungen ergeben haben, siehe hierzu Seitz (2005) – sogar unter dem Durchschnitt der alten Länder.

Finanzpolitische Herausforderungen an das Land Berlin bis zum Jahr 2020

111

Wachstumsrate der Primärausgaben = 0%

30.000

25.000

20.000

Wachstumsrate der Primärausgaben -1,22%

15.000

10.000 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020

Quelle: Eigene Berechnungen.

Abbildung 9: Entwicklung der Pro-Kopf-Verschuldung in Berlin bei einem Realwachstum von 1,5 % und unterschiedlichen Annahmen über das Wachstum der realen Primärausgaben im Zeitraum von 2005 bis 2020

Wachstumsrate der Primärausgaben 6.500 6.250

BERLIN

6.000 5.750 5.500 5.250 5.000 4.750 4.500

Zum Vergleich: IST von Hamburg

4.250

PROJEKTION

19 20

20

17

15 20

13 20

11 20

09 20

07 20

05 20

03 20

01 20

99 19

97 19

19

95

4.000

Quelle: Eigene Berechnungen, Die Bevölkerungszahl wurde konstant gehalten (2004).

Abbildung 10: Entwicklung der realen Primärausgaben je EW in Berlin von 1995 bis 2004 (IST) und Projektion von 2005 bis 2020 bei einem Realwachstum von 1,5 %

Diese Modellrechnungen zeigen, dass das Land Berlin kaum in der Lage sein wird, sich selbst aus seiner prekären Finanzsituation zu befreien, ohne die Ausgaben auf ein solches Niveau abzusenken, das erhebliche Zweifel an der Möglich-

112

Helmut Seitz

keit zur Erfüllung der notwendigen Aufgaben aufkommen lässt. Aus diesen Gründen haben wir in einem weiteren Schritt geschätzt, welches Teilentschuldungsvolumen erforderlich wäre, um in Berlin in den Jahren von 2005 bis 2020 ein real konstantes Volumen der Pro-Kopf-Primärausgaben finanzierbar zu machen und gleichzeitig das gesetzte Nachhaltigkeitsziel (Schuldenquote in 2020 = Schuldenquote in 2004) zu erreichen. Die Ergebnisse dieser Berechnungen haben wir in der Tabelle 3 aufgeführt, wobei wir zahlreiche Alternativen durchgespielt haben:  Das unterstellte Realwachstum im Zeitraum von 2005 bis 2020 wird im Intervall von 1 % bis 2 % variiert und  im Hinblick auf den Zeitpunkt der Entschuldung wird alternativ das Jahr 2005 und das Jahr 2008 unterstellt. Tabelle 3 Entschuldungsvolumen für den Berliner Landeshaushalt bei alternativen Annahmen über den Entschuldungszeitpunkt und die reale Wachstumsrate bei Einhaltung einer nachhaltigen Finanzpolitik (konstante Schuldenquote) und einem konstanten realen Pro-Kopf-Primärausgabenvolumen Realwachstum

1%

1,5 %

2%

Entschuldung 2005

~ 31,7 Mrd. Euro

~ 20,7 Mrd. Euro

~ 9 Mrd. Euro

Entschuldung 2008

~ 37 Mrd. Euro

~ 24 Mrd. Euro

~ 10,5 Mrd. Euro

Quelle: Eigene Berechnungen.

Wie die Modellrechnungen zeigen, hängt das erforderliche Teilentschuldungsvolumen insbesondere von der Höhe der unterstellten Realwachstumsrate ab, wobei sich drastische Unterschiede ergeben. So wäre bei einem Realwachstum von 1 % eine Teilentschuldung in Höhe von nahezu 32 Mrd. Euro im Jahr 2005 erforderlich (bei einem Schuldenbestand von nahezu 54 Mrd. Euro Ende 2004), während im Falle eines Realwachstums von 2 % dieser Betrag auf 9 Mrd. Euro sinkt. Auch das Timing der Entschuldungspolitik hat einen erheblichen Einfluss auf das Entschuldungsvolumen. So wäre bei einem Realwachstum von 1,5 % für eine Teilentschuldung im Jahr 2005 ein Betrag von ca. 20,7 Mrd. Euro erforderlich, der aber bereits auf 24 Mrd. Euro ansteigt, wenn die Teilentschuldung erst im Jahr 2008 erfolgt. Es dürfte offenkundig sein, dass die hier abgeleiteten Teilentschuldungsvolumina lediglich einen Modellrechnungscharakter haben. Kritisch für den Erfolg einer Haushaltsnotlagenhilfe in Berlin ist ebenso ein hartes Controlling von Sanierungsauflagen. Ferner wäre eine Begrenzung der Finanzautonomie des Landes Berlin erforderlich, um die Bürger des Landes Berlin – und die Bürger in Gesamtdeutschland, die diese Hilfe mit ihren Steuergeldern finanzieren müssen – davor zu schützen, dass die Berliner Politik, von welcher parteipolitischen Konstellation diese auch immer getragen wird, die Vorteile aus der Teilentschuldung nicht mit Klientelpolitik verprasst und das Land in Zukunft erneut in eine Haushaltskrise steuert.

Finanzpolitische Herausforderungen an das Land Berlin bis zum Jahr 2020

113

V. Schlussfolgerungen Unsere Analyse der Berliner Finanzdaten hat gezeigt, dass Berlin noch einen erheblichen Anpassungsbedarf auf der Ausgabenseite hat. Hierbei sind unzweifelhaft die Personalausgaben bzw. die Zuweisungen und Zuschüsse an die vom Land direkt und indirekt finanzierten Einrichtungen die zentralen Steuerungsgrößen. Aufgrund des erheblichen Volumens des Anpassungsbedarfs kann dies nur in Verbindung mit einer grundlegenden Aufgabenkritik einhergehen, also der Prüfung der Frage, welche Aufgaben das Land unabdingbar wahrnehmen muss und welche Aufgabenwahrnehmung das Land einschränken kann, ohne die Grundversorgung der Bürger mit den notwendigen öffentlichen Leistungen einzuschränken. Hierzu müssen insbesondere solche Ausgaben auf den Prüfstand, die ein hohes Maß an „Freiwilligkeit“ haben, wie z. B. im Kulturbereich. Es ist nämlich nicht einzusehen, dass Kultureinrichtungen für ein recht kleines Klientel, das zudem noch in der Tendenz den höheren Einkommensschichten angehört, großzügig unterstützt werden, während in Berliner Schulen Toilettenanlagen am Rande der Benutzbarkeit stehen. Neben der Notwendigkeit, das Ausgabenniveau nach unten zu korrigieren, entsteht in der nächsten Zukunft auch noch ein struktureller Anpassungsbedarf infolge der Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung. Hierbei müssen die Ausgaben in jenen Bereichen überproportional abgesenkt werden, die primär auf die Versorgung der jüngeren Alterskohorten ausgerichtet sind. So können z. B. im Schulbereich erhebliche Einsparungen realisiert werden, ohne die Bildungsversorgung der bildungsrelevanten Bevölkerung – je Kopf der bildungsrelevanten Bevölkerung gerechnet! – zu reduzieren. Einsparungen in diesen Bereichen sind schon deshalb erforderlich, da mit diesen Minderausgaben die Mehrausgaben gegenfinanziert werden müssen, die zukünftig aufgebracht werden müssen, um die Leistungsnachfrage des steigenden Anteils älterer Mitbürger zu befriedigen. Die demographischen Anpassungen müssen bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt vorausschauend geplant werden, damit diese weitgehend friktionsfrei erfolgen können. Unsere Nachhaltigkeitsmodellrechnungen haben ferner gezeigt, dass das Land Berlin unter realistischen Annahmen über das zukünftige Wachstumspotential der deutschen Volkswirtschaft kaum in der Lage sein wird, sich ohne Hilfe der Solidargemeinschaft aus seiner Haushaltsnotlage zu befreien. „Rechnerisch“ kann sich Berlin natürlich aus seiner Haushaltskrise durch weitergehende Einsparungen bei den Primärausgaben selbst befreien. Im Zuge dieses Prozesses muss dann aber in Berlin das Niveau der Pro-Kopf-Primärausgaben deutlich unter den Länderdurchschnitt abgesenkt werden, wobei diese Absenkungen berechtigte Zweifel entstehen lassen, ob dann das Land Berlin seine verfassungsrechtlich determinierten Aufgaben mit einem hinreichenden Qualitäts- und Mengenniveau noch erledigen kann. Allerdings muss sich Berlin gerade bei den freiwilligen Aufgaben einem kritischen Maßstab unterziehen und hierbei auch eine Versorgung unter dem Länderdurchschnitt hinnehmen. Ein Haushaltsnotlagenland, das von der Solidargemeinschaft 8 Baßeler u. a.

114

Helmut Seitz

Unterstützung einklagt, kann sich nicht drei Opernhäuser leisten! Wenn der Bund oder die Solidargemeinschaft der Meinung ist, dass die Bundeshauptstadt aus Gründen der „Außenwirkung“ eine solche generöse Kulturlandschaft benötigt, dann sollten diese Einrichtungen direkt vom Bund oder einer Trägergemeinschaft bestehend aus der gesamten Solidargemeinschaft getragen werden, aber keinesfalls aus der Kasse des Landes! Für die Planbarkeit der zukünftigen Berliner Finanzpolitik ist es auch unabdingbar, dass über die vom Land Berlin im Jahr 2004 eingereichte „Haushaltsnotlagenklage“ alsbald entschieden wird. Hierbei rechnen wir für das Land Berlin durchaus mit einer großen Erfolgswahrscheinlichkeit, da sich der Bund bzw. die Solidargemeinschaft insgesamt – wozu allerdings auch das Land Berlin rechnet – ein erhebliches Handlungsversäumnis entgegenhalten lassen muss. So hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem „Haushaltsnotlagenurteil“ vom 27. 5. 1992 festgehalten: „Zuvörderst nötig und besonders dringlich ist es, dass Bund und Länder gemeinsam treffende Verpflichtungen und Verfahrensregelungen festlegen, die der Entstehung einer Haushaltsnotlage entgegenwirken und zum Abbau einer eingetretenen Haushaltsnotlage beizutragen geeignet sind. . .. Regelungsgegenstand könnten beispielsweise Grundsätze über die Obliegenheit von Bund und Ländern sein, in ihrer Haushaltsplanung – unter Berücksichtigung der Nebenhaushalte – gewisse durch finanzwirtschaftliche Kennziffern bezeichnete Grenzen, etwa bei der Kreditfinanzierung und beim Schuldensockel zu beachten, und, sollten diese Grenzen überschritten sein, ein (verbindliches) Sanierungsprogramm aufzustellen, das die Haushaltswirtschaft in eine Normallage zurückführen soll“, BVerfG 86, S. 266 – 267.

Dieser klar umrissene Regelungsauftrag wurde bislang noch nicht einmal ansatzweise in Angriff genommen, so dass das Bundesverfassungsgericht wohl im Sinne Berlins wird entscheiden müssen, in Verbindung mit der Aufforderung, den noch offen stehenden Regelungsauftrag umgehend zu erfüllen. Allerdings müssen auch die Anforderungen an die Hilfeleistungen an das Land Berlin strikter gehandhabt werden als im Falle des Saarlandes sowie Bremens. Dies könnte dadurch erfolgen, dass die Hilfeleistungen ausschließlich in Form einer Direktentschuldung erfolgen und Berlin zu einem transparenten und harten weiteren Konsolidierungsprozess verpflichtet wird. Letzteres stellt auch hohe Anforderungen an die Qualität der Politik in der Stadt. So muss man sich davon verabschieden, Versprechungen zu machen, die nicht zu finanzieren sind. Alle Parteien müssen die Spielregel befolgen, dass Vorschläge für Mehrausgaben (mehr für Kitas, mehr für Hochschulen) durch konkrete reale Einsparungen an anderer Stelle zu untermauern sind. Hierzu ist es aber auch erforderlich, dass mehr Transparenz in den öffentlichen Haushalten geschaffen wird und dass man eine Bildungs- und Wissensoffensive in der Politik startet, um dort die mangelhafte Sachkompetenz gerade in finanzpolitischen Fragen nachhaltig zu überwinden. Letztendlich ist in einer längerfristigen Perspektive auch das Projekt einer Länderfusion mit Brandenburg nicht aus dem Auge zu verlieren. Auch wenn sich die

Finanzpolitische Herausforderungen an das Land Berlin bis zum Jahr 2020

115

möglichen Ersparnisse aus einer Länderfusion mit Brandenburg in engen Grenzen halten (Größenordnung: 350 – 500 Mio. Euro)9 und die damit verbundenen finanzpolitischen Anforderungen erheblich sind (Stichwort: Erhalt der Stadtstaatenwertung für Berlin), so ist dennoch unter entwicklungsstrategischen Aspekten eine Länderfusion erforderlich und ökonomisch sinnvoll.

Literatur Huber, B. / Milbrandt, B. (2002): Die Finanzkrise Berlins: Eine Analyse der Nachhaltigkeit der Berliner Finanzpolitik, Wirtschaftsdienst, S. 395 – 401. Seitz, H. (1997): „Quo Vadis Berlin? Eine ökonomische Analyse“, in: R. Pohl und H. Schneider (Hrsg.), „Wandeln oder weichen: Herausforderungen der wirtschaftlichen Integration für Deutschland“, IWH-Halle, 1997, 205 – 238. – (2003a): „Perspektiven der Berliner Finanzpolitik“, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, S. 259 – 270. – (2003b): „Die finanzpolitischen Voraussetzungen einer Fusion der beiden Länder Berlin und Brandenburg“, Studie im Auftrag der Vereinigung der Unternehmensverbände in Berlin und Brandenburg (UVB). – (2004): Die Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs auf die Finanzsituation des Freistaates Sachsen und seiner Kommunen. In: G. Milbradt und J. Meier (Hrsg.): Die demographische Herausforderung – Sachsens Zukunft gestalten, Verlag Bertelsmann Stiftung, 20 – 43. – (2005): Finanzpolitik in Berlin: Zwischen Eigenanstrengungen und Haushaltsnotlagenhilfe, Manuskript, TU Dresden. Seitz, H. / Kempkes, G. (2005): Fiscal Federalism and Demography, Manuskript, TU Dresden, August 2005.

9

8*

Siehe Seitz (2003b).

Kein Land in Sicht, oder die hohe Kunst der Verschleppung einer notwendigen Fusion von Berlin und Brandenburg Von Wolfgang Wieland

In diesem Beitrag geht es um folgende Fragen: Warum ist die Länderfusion von Berlin und Brandenburg notwendig? Weshalb scheiterte der erste Anlauf? Was kann man in Zukunft besser machen? Welchen Sinn hätte eine gemeinsame Verfassung, die den Wählern vorher vorgelegt wird, und wie könnte sie aussehen? Wie wäre der Status von Berlin in einem fusionierten Bundesland? Was ist bei einer gemeinsamen Finanzverfassung zu beachten? Und als Ausblick: Wer steht heute aktiv für eine Länderfusion?

I. Die Notwendigkeit einer Fusion Ökonomen versprechen sich von einer Fusion von Berlin und Brandenburg Synergieeffekte. Das meint: Werden aus zwei Staatsorganisationen eine gemacht, ist das billiger. Dem ist nicht zu widersprechen. Ein Parlament kostet weniger als zwei Parlamente; eine Landesregierung kostet weniger als zwei Landesregierungen. Vorsichtiger muss man bei den nachgeordneten Behörden sein. In einem fusionierten Bundesland Berlin / Brandenburg kann man, schon wegen des Beamtenstatus, nur peu à peu davon ausgehen, dass Synergieeffekte bei Personal und sächlichen Mitteln eintreten werden. Es überrascht nicht, dass Zahlen, die insoweit genannt werden, höchst unterschiedlich sind. Die Unterschiede reichen bis zu 2 Mrd. A pro Jahr. Man wird deshalb zwar sagen können, es gebe Synergieeffekte, ohne sie aber belastbar quantifizieren zu können. Eine Parallele ist die Berliner Bezirksreform, bei der aus 23 Bezirken 12 gemacht wurden; erst allmählich stellen sich hier Synergieeffekte ein. Zunächst sind sie gering, aber dann werden sie größer. Berlin ist ein Stadtstaat wider Willen, kein klassischer Stadtstaat wie Bremen oder Hamburg, die sehr auf ihre Eigenständigkeit bedacht sind, zunächst als Hansestadt, sodann als Bundesland. Die Existenz eines Bundeslandes, eines Stadtstaates Berlin ist eigentlich noch Folge der deutschen Teilung. Berlin war vorher eine „normale Kommune“, mit Oberbürgermeister, zudem eine spät entstandene Kommune. Berlin ist erst im Jahr 1920 gebildet worden, aus 8 Städten und vielen Landgemeinden und unter großen Mühen (Spandau und andere zierten sich). Berlin war seitdem eine große Stadt im Märkischen und hatte keine eigene föderale Struktur. Eine

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Rückkehr Berlins in den Status einer „normalen“ Stadt, einer kreisfreien Großstadt in einem Bundesland, wäre eine Rückkehr in die historische Kontinuität. Die Berliner empfinden das zum Teil nicht mehr so; aber die Vorbehalte in Brandenburg sind größer. Das ist jedenfalls das Ergebnis der ersten Volksabstimmung über eine Länderfusion gewesen.

II. Besonderheiten der Fusionspartner Brandenburg ist ein Flächenbundesland, Berlin ein Stadtstaat. Berlin hat nur 3 % der Fläche eines gemeinsamen Landes Berlin / Brandenburg, aber 58 % der Bevölkerung, also die Mehrheit. Auch die Wirtschaftskraft ist der Fusionspartner ist höchst unterschiedlich. Berlin hat, trotz aller Schwächen, eine dreimal so große Wirtschaftskraft, ein ca. dreimal so großes Bruttoinlandsprodukt wie Brandenburg. Auf der anderen Seite hat Berlin großstadtbedingte Mehraufwendungen zu finanzieren, beispielsweise für Kultur, Polizei oder Sozialhilfe; in Berlin gibt es auch siebenmal so viele Studierende wie in Brandenburg. Bei einer Fusion kämen nicht zwei gleichgewichtige Partner zusammen, sondern ein Gravitationsfeld, eine Metropole und ein relativ wenig spektakulär entwickeltes Land. Anders formuliert: In Brandenburg gibt es keine Großstadt, sondern nur Orte, von denen keiner die Größe des kleinsten Berliner Bezirkes erreicht, gemessen an der Einwohnerzahl. Das führt auf Brandenburger Seite zu mentalitätsmäßigen Vorbehalten.

III. Das Pro und das Contra einer Fusion Die Wissenschaftler Hartmann, Herten und Schröder haben in einem Buch die wichtigsten Argumente für und gegen eine Fusion der Bundesländer Berlin und Brandenburg zusammengetragen. Einige dieser Argumente, die in einem Diskussionsprozess ausgetauscht worden sind, bei dem man es sich seinerzeit schwer gemacht hat, seien hier beispielhaft genannt. Ein Pro-Argument war (und ist): Berlin und Brandenburg bilden eine Region, deren Entwicklung ohne eine politische Gesamtverantwortung nicht planbar ist. Gegenargument: Eine gemeinsame Planung ist auch über Kooperation und Staatsverträge möglich. Das ist zweifelsohne so. Es ist aber der umständlichere Weg. Trotzdem ist anzuerkennen, dass z. B. der Eisenbahnverkehr zwischen Berlin und Brandenburg sich mit Verkehrsverbund und anderen Modellen gut entwickelt hat, so dass Fahrten aus dem Umland nach Berlin und umgekehrt kein Problem sind; das war möglich auch ohne Länderfusion. Zweites Argument: Nur eine einheitliche Wirtschaft- und Strukturpolitik schafft eine im europäischen Rahmen wettbewerbsfähige Region. Gegenargument: Eine gemeinsame Region ist auch ohne Fusion entstanden. Auch das stimmt. Es gibt diese Wirtschaftsregion Berlin / Brandenburg. Allerdings ist es eine Wirtschafts-

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region, in der immer noch abgeworben wird, in der immer noch Firmen, die aus Berlin in den Brandenburgischen Speckgürtel ziehen, dort Wirtschaftsförderung bekommen. Das sorgt für böses Blut dort, wo weggezogen wird. Das „Abwerbungsopfer“ ist empört, macht aber mit, indem es bei „den anderen“ selbst abwirbt. In einem gemeinsamen Land gäbe es für solche Umzüge keine staatlichen Strukturbeihilfen mehr. Drittes Pro-Argument: Eine gemeinsame Verwaltung führt zu mehr Effizienz und zu einer Entbürokratisierung und verringert den Abstimmungsbedarf. Gegenargument: Zentrale Verwaltungseinheiten führen keineswegs zu mehr Effizienz oder zu Entbürokratisierung; im Gegenteil: Bürgernahe Verwaltung wird erschwert. Das Gegenargument sieht die – reale – Gefahr zu großer Einheiten (Stichwort: Bundesagentur für Arbeit). Im Fall einer Fusion von Berlin und Brandenburg wären die zentrale Einheiten, deren Bildung ansteht, aber von keiner außerordentlichen Größe; im Sicherheitsbereich wären z. B. ein gemeinsames Landeskriminalamt zu bilden und eine gemeinsame Bereitschaftspolizei. Viertes Pro-Argument: Eine Fusion ist der Kooperation vorzuziehen, da Letztere eine Vielzahl von Staatsverträgen notwendig macht, die nur eine eingeschränkte demokratische Kontrolle durch die Parlamente erlauben. Gegenargument: Auch eine gemeinsame Landesregierung vertritt nicht alle Interessen in gleicher Weise. Sie steht in der Gefahr, ländliche Räume zu vernachlässigen und große Städte mit hohem Wählerpotential, insbesondere Berlin, zu bevorzugen. Bei Staatsverträgen gibt es aber tatsächlich eine Ratifikationslage: Parlamente haben mit die Möglichkeit, Ja oder Nein zu sagen; anders als im „normalen“ Gesetzgebungsverfahren gibt es keine Möglichkeit zu Änderungen. Die „Strucksche Formel“ (Kein Gesetz kommt so aus dem Bundestag, wie es in den Bundestag hineingegangen ist.) ist außer Kraft gesetzt. Das ist ein Weniger an Demokratie, so dass hier das Pro-Argument das Richtige ist. Fünftes Pro-Argument: Die Ausweitung und Entwicklung eines Speckgürtels um die Metropole Berlin kann nur durch eine Fusion zugunsten der übrigen Gebiete Brandenburgs wirksam eingedämmt werden. Gegenargument: Das Beispiel anderer Bundesländer zeigt, dass sich um Großstädte immer Speckgürtel bilden. Obwohl Anfang der 1990er Jahre von Berliner Politikern ceterum censeo – artig erklärt worden ist, es dürfe kein Speckgürtel um Berlin herum entstehen, entstand er mit aller Macht. Rings um Berlin sind Einkaufszentren entstanden; ich habe damals etwas ironisch gesagt: Nur gut, dass es Golfplätze gibt, dann gibt es wenigstens grüne „Unterbrecher“ zwischen diesen Einkaufszentren. Dies einzudämmen, wäre auch in einem gemeinsamen Bundesland schwer gewesen; die Kommunen im Speckgürtel haben ein wirtschaftliches Interesse, Gewerbe in ihrem Gebiet anzusiedeln; gleich nach der Wende, als Subventionen fröhlicher flossen, war jedes Dorf darauf aus, sich seinen Gewerbepark anzulegen, mit der Folge, dass heute 80 % der Gewerbeparks in Brandenburg zu unter 50 % belegt sind. Das heißt: „Beleuchtete Wiesen“ sind entstanden; viel Geld ist in eine Infrastruktur geflossen, die nicht nachgefragt wird, es sei denn im Speckgürtel, wohin Kaufkraft aus Berlin

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abgezogen ist, mit negativen Folgen für die Innenstadtbezirke und großen Problemen für den Einzelhandel vor Ort. Sechstes Pro-Argument: Ein gemeinsames Land erhöht den bundespolitischen Einfluss und den Stellenwert der Region. Gegenargument: Ein erweiterter bundespolitischer Einfluss bleibt unsicher; real ist nur der Verlust von drei Stimmen im Bundesrat. Letzteres liegt an der Zählmethode. Bisher haben Berlin und Brandenburg je drei Stimmen, nach einer Fusion schrumpft die Gesamtzahl der Stimmen entsprechend. Siebtes Pro-Argument: Auf mittlere Sicht führt ein gemeinsames Land aufgrund von Verwaltungszusammenschlüssen und Einsparungen zu einer verbesserten Haushaltssituation. Gegenargument: Zur Verwirklichung der Fusion müssen viele Interessen bedient werden, die die Einsparungen mehr als kompensieren. Dies scheint ein schwaches Gegenargument zu sein, denn bei schrumpfenden Haushalten ist eine solche Bedienung von Interessen kaum noch möglich. Ein Spareffekt wäre da! Verbände und Wirtschaftsvereinigungen haben die Fusion längst vorweggenommen; sie alle sind auf die gemeinsame Region ausgerichtet. Auch Kirchen oder Gewerkschaften haben ihre Organisation in Berlin und Brandenburg fusioniert. Die Politik hinkt hinterher. Brandenburg hat dabei die Fusion noch nötiger als Berlin: Berlin ist attraktiv, gerade für junge Leute ein Magnet; ein Drittel seiner Bevölkerung sind nach der Wende zugezogen ist; es gibt also einen enormen Bevölkerungsumschlag in Berlin. Brandenburg dagegen hat das große Problem, dass die Randregionen, bös formuliert, „veröden und verblöden“; die Qualifizierten ziehen weg, die weniger Qualifizierten bleiben. Es gibt viel versteckte Armut auf den Dörfern; Probleme, die in anderen Regionen Deutschlands aufgefangen werden könnten, führen hier dazu, dass Sozialinfrastrukturen einfach wegbrechen. Es gibt z. B. in Subzentren Probleme, den Schulbetrieb aufrecht zu erhalten, wegen zurückgegangener Schülerzahlen; das führt zu Überlegungen, wie in Finnland Unterricht per Videokonferenz zu machen, so dass ein Lehrer mehrere Dependancen auf dem Land gleichzeitig bedienen kann. Es gibt weiter Überlegungen, intelligente Mobilitätssysteme einzuführen, z. B. einen Rufbus. Sich entleerende Landschaften bedeuten auch, dass Steuerzahler wegziehen und eine Spirale nach unten in Gang kommt, die schwer zu stoppen ist. Die Ausnahme sind Teile des Speckgürtels. Die Regionen südlich und südwestlich von Berlin, speziell die Landkreise Potsdam-Mittelmark und Teltow-Fläming, sind Boom-Regionen, dies auch in einem gesamtdeutschen Maßstab. Diese Regionen verzeichnen einen Bevölkerungszuwachs; es sind nicht nur Berliner, die dort hinziehen und wohnen und trotzdem in Berlin arbeiten; viele haben in den Bereichen Logistik oder Biotechnologie, aber auch in klassischen Industriebereichen (wie in Ludwigsfelde im Turbinenbau) Arbeitsplätze gefunden. Die Region BerlinBrandenburg liegt mithin nicht insgesamt danieder, sondern es gibt durchaus Gebiete und Branchen, die in einer Aufwärtsentwicklung sind. Bio-Technologie ist

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eine solche Branche, mit Standorten in Brandenburg; 11.000 Arbeitsplätze in Berlin und Brandenburg, mit steigender Tendenz, größte Konzentration in der Bundesrepublik. Ähnlich sieht es in den sog. Life-Sciences aus. Es wäre deshalb sinnvoll, die Vermarktung dieser Region zusammenzufassen. Weiter wären gemeinsame Tourismusangebote für Berlin und für Brandenburg sinnvoll. Der Fahrradtourismus in Brandenburg liegt uns Grünen am Herzen, und es bietet sich beispielsweise an, diesen mit dem kulturellen Angebot in Berlin (mit z. B. drei Opern) zu koppeln. Diese Chancen sind ungenutzt; bisher macht jeder noch seine Werbung allein. Als BMW einen Standort suchte für ein neues Werk, war man auch in Berlin. Im Keller eines Hotels wurde auf einer ansonsten zum Tischtennisspielen vorgesehenen Platte ein Plan ausgebreitet für eine Ansiedlung in diesem Berliner Bezirk. Das Ganze lief als bezirkseigene Angelegenheit. Im Kontrast dazu hat in Leipzig der Oberbürgermeister die Herren von BMW in einen Hubschrauber gepackt und mit ihnen das potentielle Baugelände abgeflogen. In Leiptzig war diese Ansiedelung Chefsache, während sie in Berlin bezirkseigene Angelegenheit blieb. Wohin BMW schließlich gegangen ist, ist bekannt: nach Leipzig. Zwar lag das nicht nur an der Tischtennisplatte. Das Beispiel zeigt aber, dass heute angesichts der Standortkonkurrenz eine gemeinsame Vermarktung Vorteile hat, bei der die Stärken von Berlin und von Brandenburg herausgestellt werden können. Ein anderes Beispiel für die Schwierigkeiten mit der Ländertrennung ist die Errichtung gemeinsamer Obergerichte: Oberverwaltungsgericht, Landessozialgericht, Landesarbeitsgericht und Finanzgericht. Noch leicht zu lösen war die Frage eines gemeinsamen Oberverwaltungsgerichts; da das Bundesverwaltungsgericht weichen musste aus der Berliner Hardenbergstraße und nach Leipzig ging, war dieses ehrwürdige Gebäude, früher Sitz des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, frei. Und die OVG-Richter aus Frankfurt an der Oder waren gern bereit, dienstlich nach Berlin umzuziehen, zumal die meisten ohnehin hier in leben. Unproblematisch waren auch die Sitzentscheidungen bei Landessozialgericht und Landesarbeitsgericht; das eine zieht nach Potsdam, das andere nach Berlin. Einen richtigen Krieg gab es aber um das Finanzgericht in Cottbus. Die Berliner CDU hielt es für unzumutbar, dass ein Berliner wegen seiner Finanzangelegenheiten nach Cottbus fahren muss. Auch die Richter, haupt- wie ehrenamtlich, protestierten gegen den Wegzug aus Berlin, aus einem schönen und modern eingerichteten Gerichtsgebäude. Protest kam auch von Rechtsanwälten und Steuerberatern aus den nördlichen Teilen Brandenburgs. Trotz dieser Proteste blieb Brandenburg hart; nichts anderes als diese Proteste habe man von den Berlinern erwartet; die Landeshauptstadt Potsdam würden sie noch als Vorort von Berlin akzeptieren; Cottbus aber sei inakzeptabel. Der Streit hat eine Verzögerung von drei bis vier Jahren bewirkt. Es hätte wohl auch elegantere Lösungen gegeben, z. B. ein gemeinsames Verfassungsgericht nach Cottbus, nach Schloss Branitz, zu legen und die Finanzgerichtsbarkeit so aufzuteilen, dass die publikumswirksamen Kammern (KfzSteuer und Kindergeldsachen) nach Berlin, die Kopfstelle aber nach Cottbus kommt. Kompromisse wollte aber niemand hören. Ergebnis: Es wird nur eine

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Außenstelle in Berlin geben; das Gericht geht ansonsten nach Cottbus, und die Lausitz hat einen (kleinen) Sieg davon getragen. Dieses Beispiel zeigt, wie schwer Aushandlungsprozesse sein können. Wann immer Berlin und Brandenburg an einem Tisch sitzen, will jeder als alleiniger Sieger aufstehen; diese Situation wird durch die Medien weiter aufgeladen; in den Verhandlungen und vor den Medien wird gefragt und genau ausgezählt, wer bekommt was; entweder die Berliner Seite oder die Brandenburger Seite hat sich dann durchgesetzt. Kompensationsgeschäfte, die man in der Politik gern macht, werden erschwert, wenn für jede Materie ein gesonderter Staatsvertrag geschlossen werden soll. Ein Gegenbeispiel war seinerzeit in dem Neugliederungsstaatsvertrag die Verteilung der Ministerien in dem geplanten, neuen Bundesland. Sie sollten alle nach Brandenburg gehen; Berlin war bereit, Brandenburg total entgegenzukommen. Auch das gemeinsame Parlament sollte in Brandenburg sein. Dieses Verhandlungsergebnis war absurd, weil Berlin ein teures und gut ausgebautes Parlamentsgebäude in der Niederkirchner Straße hat, im Gebäude des früheren preußischen Landtags, auf der Rückseite des Bundesratsgebäudes; die Brandenburger Parlamentarier sitzen dagegen in einer alten Kriegsschule, in der früher die Bezirksleitung der SED saß und wo die Technik aus der Decke herausfällt und es wohl nur eine Frage der Zeit ist, bis die Baupolizei einschreitet. Es hätte danach eine klare Präferenz für Berlin geben müssen. Solche Entscheidungen folgen aber nicht den Gesetzen der Logik. Die Brandenburger Seite bestand dezidiert auf Potsdam, so dass geplant wurde, im Stadtschloss von Potsdam, das noch gar nicht wieder aufgebaut war, das dann gemeinsame Parlament unterzubringen.

IV. Das Scheitern des ersten Anlaufs zu einer Fusion Ein Neugliederungsstaatsvertrag zwischen Berlin und Brandenburg war im Juni 1995 in beiden Landesparlamenten mit einer 2 / 3-Mehrheit beschlossen worden. Die Volksabstimmung wurde am 5. Mai 1996 durchgeführt. Bei dieser Volksabstimmung sollte die Bevölkerung nicht nur über das Ob, sondern auch über das Datum einer Fusion (1999 oder 2002) entscheiden (über das die Politiker sich nicht haben einigen können). Es war ein qualifiziertes Quorum vorgesehen; es sollte nicht ausreichen, dass in beiden Ländern die Mehrzahl der tatsächlich Abstimmenden Ja sagt, sondern von dieser Mehrzahl wurde weiter gefordert, dass sie jeweils 25 % der Abstimmungsberechtigten repräsentiert. Damit sollte verhindert werden, dass ein Mehrheitsvotum für eine Fusion bei einer geringen Abstimmungsbeteiligung den Ausschlag hätte geben können. Im Hintergrund stand auch die große Angst der Brandenburger, „über den Tisch gezogen“ zu werden. Die Fusion sollte nur stattfinden, wenn in jedem Land die Mehrheit Ja sagt und wenn in jedem Land die Jasager mehr als 25 % der abstimmungsberechtigten Bevölkerung ausmachen. So kompliziert wurde es dann nicht: schon am Wahlabend war klar, dass in Bran-

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denburg sämtliche Landkreise mit Nein gestimmt haben. Das Gleiche in Ostberlin, mit der einen Ausnahme, dem Bezirk Köpenick. Die Westberliner haben mehrheitlich mit Ja gestimmt, so dass Berlin wegen des größeren Gewichts von Westberlin (2 / 3 West zu 1 / 3 Ost) insgesamt im positiven Bereich lag. Trotzdem war mit dem Nein aus Brandenburg das Ganze gescheitert. Die Analyse dieses Ergebnisses hat ein Phänomen zutage gefördert. Die Werbekampagne, und es war leider weitestgehend eine Werbekampagne und keine Wahlkampagne, wurde zu Beginn als „Landesvaterkampagne“ angelegt. „Landesväter“ waren damals die Herren Diepgen und Stolpe. Stolpe glaubte, mit väterlicher Autorität seine Bevölkerung davon überzeugen zu können, dass sie diesen Weg mitgeht. Es wurde wenig mit Argumenten, dafür viel mit Werbematerial gearbeitet. Dabei gab es Pannen. Beispielsweise die Panne mit einer schönen, angeblich Brandenburger Allee; denn die abgebildete Allee befand sich in Wahrheit in Südfrankreich; dies ließ sofort Stimmen laut werden, dass die Politiker noch nicht einmal in der Lage seien, die schönen Brandenburger Alleen fotografieren zu lassen, sondern alles aus dem Westen holten, selbst Fotos von angeblichen Brandenburger Alleen. Bei der Abstimmung prallten West und Ost mentalitätsmäßig aufeinander. Auch im Westen bestand die Angst, in einem „roten Meer“ unterzugehen; einige Westberliner hatten errechnet, dass die Bevölkerung in einem gemeinsamen Bundesland zwar zu 58 % aus Berliner bestehen würde, dass sich unter diesen 58 % aber auch die Ostberliner befinden, so dass die Westberliner in dem Gesamtgebilde nicht mehr die Mehrheit hätten. Aus diesem Grund haben in Berlin zahlreiche CDUPolitiker nicht mitgestimmt. Der damalige Parlamentsvizepräsident Führer hat unter den Wählern in seinem Wahlkreis eine Umfrage gemacht und erklärt, er werde sich dem Mehrheitsvotum bei seiner Stimmabgabe anschließen. Dabei hat er u. a. folgende Frage gestellt: „Möchten Sie in Zukunft von nicht überprüften ehemaligen Volkspolizisten der ehemaligen DDR in Verkehrskontrollen kontrolliert und so schikaniert werden wie früher?“ Mit Fragen diesen Kalibers wurden alle Anti-Fusions-Gefühle mobilisiert. Das hat zu dem absurden Ergebnis geführt, dass selbst der Verhandlungsführer der Berliner CDU bei den Fusionsverhandlungen mit Brandenburg, der Abgeordnete Adler, sich in der entscheidenden Abstimmung der Stimme enthalten hat. Das hat ihm von Bündnis 90 / Die Grünen den Spott eingebracht: Stürze ab, schwarzer Adler. In Berlin hatte die damals regierende Große Koalition allein nicht die Zwei-Drittel-Mehrheit hatte, sondern brauchte Bündnis 90 / Die Grünen und die FDP. Erst mit deren Stimmen konnte das Quorum erfüllt werden. Bei Bündnis 90 / Die Grünen war das Ergebnis in Berlin eindeutig, 17 zu 4. Die Brandenburger Grünen dagegen sagten Nein zu dem ganzen Vorgang. Das war in gespaltenes Votum. Die PDS sagte in beiden Ländern Nein, mit dem denkwürdigen Satz: Nein, weil man zu schlechten Verträgen nicht Ja sagen kann. Damit hat sich die PDS eine Hintertür offen gelassen, irgendwann doch für eine Länderfusion zu stimmen. Aber 1996 hat die PDS politisch die Nein-Stimmen hinter sich versammelt. Und das war sehr wesentlich, dass es in Brandenburg auch eine politische Kraft gegeben hat, die für ein Nein plädiert hat. Hinter diesem Nein

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konnten sich in Brandenburg alle Anti-Berlin-Ressentiments versammeln, die Angst, für die Hauptstadt bluten zu müssen. Bei den Brandenburgern waren die DDR-Erfahrungen 1996 (wie auch heute) noch vital: „Alles geht nach Berlin, in die Hauptstadt“ – die Maurerbrigaden, die Südfrüchte, und so weiter. Hier zeigt sich auch grundsätzliche Angst von Landbewohnern vor der Großstadt, die als unheimlich und undurchsichtig erscheint. Als weiteres Argument kam Mitte der neunziger Jahre hinzu, dass keine erneute Wiedervereinigung erfolgen solle, bevor man die Folgen und Lasten der letzten Wiedervereinigung verkraftet habe. Ein zusätzliches Gegenargument war Bequemlichkeit im öffentlichen Dienst. Bei der Berliner Polizei war z. B. niemand für die Fusion – außer den höheren Dienstgraden, die sich entsprechend äußern mussten –, weil man befürchtete, z. B. in die Prignitz versetzt zu werden. Gerade für Beamte bietet ein Stadtstaat Bequemlichkeit; das Schlimmste, was hier passieren kann, ist eine Versetzung nach Hellersdorf oder nach Spandau; eine Zwangsversetzung an die Peripherie, so wie früher nach Königsberg oder noch weiter östlich, ist aber ausgeschlossen. Also starke Vorbehalte der Bevölkerung in Brandenburg und in Berlin gegen eine solche Fusion. Negativ hat auch gewirkt, dass hinter der Fassade der offiziellen Werbung für die Fusion die politischen Parteien sich erkennbar und bis zuletzt, wie die Kesselflicker, über die Bedingungen der konkreten Überleitung gestritten haben. Streit herrschte z. B. darüber, wer das angebliche Vermögen der Bankgesellschaft Berlin bekommt. Das war 1993 ein Topthema. Nächtelang haben die Verhandlungsführer sich an der Glienicker Brücke (Schloss Glienicke war der Tagungsort) darüber behakt. Im Gegenzug hat der damalige Finanzminister in Brandenburg, Herr Kühbacher, die Berliner mit Hinweisen auf Milliardenzuschüsse an die Berliner Verkehrsbetriebe gequält, die im Fall einer Fusion halbiert werden müssten. Wer die Verhandlungsprotokolle heute nachliest, stellt fest, dass damals mit Fingern auf die sich anbahnende Verschuldung, ja des Staatsbankrotts beider Länder gezeigt wurde. Sie war damals noch kein wichtiges Thema, als man noch glaubte, irgendwann komme durch den Aufstieg Berlins zur Metropole alles wieder in die öffentlichen Kassen, was aktuell (zuviel) ausgegeben werde (so dass damals mit dem Bau eines Tunnels unter dem Tiergarten begonnen worden ist, der demnächst eingeweiht wird, den in der Zwischenzeit aber erkennbar niemand vermisst hat; oder dass mit dem Bau eines Hauptbahnhofs begonnen worden ist, den es früher in Berlin nicht gegeben hat, so dass die Züge nicht mehr am Zoo und am Ostbahnhof halten werden, sondern im Nirgendwo). Der Streit hat zu persönlichen Fehlleistungen geführt, von denen hier zwei zitiert werden, weil sie kennzeichnend sind für das Klima, in dem die Abstimmung stattgefunden hat. Der Fraktionsvorsitzende der Brandenburger SPD, Herr Birthler, ein Tierarzt aus der Uckermark, hat zunächst deutlich seine Ablehnung signalisiert. Nach der Schließung der Wahllokale hat er dann im Fernsehen zur allgemeinen Überraschung verlautbart, er habe mit Ja gestimmt. Der CDU-Politiker Landowsky

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hat – neben Erwägungen über eine „stand-alone-Lösung“ und Kritik an Brandenburger Präferenz für einen Flughafen Jüterbog (und nicht Schönefeld) – mit einer Äußerung, die von der PDS auch plakatiert worden ist, den Fusionsgegnern besonders wirksame Argumentationshilfe geliefert; er hat wörtlich erklärt: „Nach der Fusion werden wir die sozialistischen Wärmestuben mit eisernem Besen auskehren in Stolpes kleiner DDR.“ Anhänger von Verschwörungstheorien mögen sagen, er habe die Fusion so hintertrieben, die er offen aus parteipolitischer Rücksichtnahme nicht hätte angreifen können; ob es so war, wird sich nie feststellen lassen; dass der Effekt so gewesen ist, ist gar keine Frage. Der Satz von den sozialistischen Wärmestuben ist bis heute in den Köpfen der Brandenburger. Und diesen Streit hat die Bevölkerung natürlich bemerkt. Er müsste schlicht unterbleiben, wenn das Referendum über eine Länderfusion beim nächsten Mal besser ausgehen soll. Immerhin: Für ein solches Referendum gibt bzw. gab es einen Zeitplan: Volksabstimmung 2006, zusammen mit der Bundestagswahl (die es nun so wohl nicht geben wird), Fusion 2009. Weiterhin ist man der Meinung, dass es einen dritten Anlauf zu einer Fusion nicht geben wird. Dieser zweite Fusionsanlauf muss klappen, oder es wird auf Dauer so wie im Verhältnis von Schleswig-Holstein und Hamburg.

V. Stillstand der Fusionsbemühungen Statt einen zweiten Anlauf vorzubereiten, gab es nach dem Scheitern der Länderfusion im Verhältnis von Berlin und Brandenburg aber immer nur so genannte Fraktionsvorsitzendentreffen. Deren einzig greifbares Ergebnis war eine Übereinkunft, bei jedem neuen Gesetz, sowohl in Brandenburg wie in Berlin, die Auswirkungen auf das jeweils andere Bundesland zu prüfen. In der Regel heißt es dann „keine Auswirkung“, aber die Gesetzgeber müssen sich darüber jedenfalls Gedanken machen. Die Fraktionsvorsitzenden wechselten häufig, damit auch die Bedenkenträger. Wenn 2006 eine Volksabstimmung sein soll, muss jemand mit deren Vorbereitung anfangen. Auch weil der alte Staatsvertrag so lange verhandelt wurde, wurde gefragt, wer diese Aufgabe übernimmt. Die Antwort hieß: Das machen die Staatskanzleien – irgendwann. Als sich im Dezember 2003 der Berliner Senat mit der Brandenburger Landesregierung wieder einmal traf, hat der Ministerpräsident von Brandenburg erklärt, dieser Zeitplan sei nicht mehr einzuhalten. Das war nicht abgesprochen, weder im Verhältnis von Berlin und Brandenburg noch im Verhältnis der Brandenburger Koalitionspartner. Zur Begründung wurde auf die derzeit ablehnende Haltung der Bevölkerung hingewiesen, die eine gründlichere und längere Vorbereitung erforderlich mache. Das Thema sollte vor allem aus dem Wahlkampf herausgehalten werden. Der Brandenburgische Ministerpräsident hat sich mit dieser Position durchgesetzt. In Brandenburg gibt es keine Medien, die einen Ministerpräsidenten mit den Fragen konfrontieren, wann und wie es weitergehen soll

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und ob eine Fusion überhaupt noch gewollt werde. Der derzeitige Ministerpräsident Platzeck hat die Fusion 1996 als Umweltminister nicht gewollt und ist nur dem damaligen Ministerpräsidenten Stolpe zuliebe Fusionsbefürworter geworden. Die Erklärung vom Dezember 2003 war jedenfalls das entscheidende StoppSignal. Auch der stellvertretende Ministerpräsident des Landes Brandenburg, der CDU-Politiker Schönbohm hat sich, so würde ich es formulieren, vom „GeneralVorwärts“ des Fusionsgedankens zum Kommandanten des Krähwinkler Landsturms entwickelt: „Immer langsam voran“. Wenn man jetzt hört, 2010 könnte man einen neuen Fusionsanlauf initiieren, so ist Misstrauen geboten. Angeblich wird auch das Landtagsgebäude in Potsdam für einen gemeinsamen Landtag konzipiert. Aber noch gibt es keinen Grundstein.

VI. Verfassungsgebung und Länderfusion Um wieder Bewegung in die Dinge zu bringen und um es bei einem neuen Anlauf zu einer Länderfusion besser zu machen, müsste nach Ansicht von Bündnis 90 / Die Grünen vorher eine gemeinsame Landesverfassung geschrieben und den Berlinern und Brandenburgern zur Abstimmung unterbreitet werden. Das wurde 1996 nicht gemacht. Ein Argument war, dass man eine Verfassung nicht per Staatsvertrag in Kraft setzen könne; Verfassungsgebung setze ein gemeinsames Staatsvolk und ein gemeinsames Staatsgebiet voraus. Gegenargumente, insbesondere von der PDS, lauten, die Brandenburger Verfassung sei moderner als seinerzeit die Berliner Verfassung und dem Volk dürfe nicht zugemutet werden, „die Katze im Sack zu kaufen“. Die Brandenburger Landesverfassung ist eine Nachwendeverfassung, die in der Tat gute Elemente aus der „Runde-Tisch-Bewegung“ und aus der westdeutschen Verfassungsentwicklung übernommen hat. Man sollte bei einem weiteren Fusionsreferendum eine gemeinsame Verfassung vorher ausarbeiten, in der der Status von Berlin in dem gemeinsamen Bundesland geklärt ist und die eine gemeinsame Finanzverfassung enthält. Wie sollte eine gemeinsame Verfassung aussehen? Sie sollte die lebendigen Elemente aus beiden Verfassungen zusammennehmen. Solche Elemente gibt es auch in Berlin, z. B. die Wahl der einzelnen Senatoren durch das Abgeordnetenhaus; dies hat z. B. in jüngerer Vergangenheit zu der Frage geführt, ob ein Peter Strieder im ersten, im zweiten Wahlgang oder gar nicht gewählt wird. Die Berliner Landesverfassung kennt auch die Möglichkeit des Misstrauensvotums gegen einzelne Senatoren. Beides hat Brandenburg nicht. Alles, was den Parlamentarismus lebendiger gestaltet, sollte man einführen. Berlin gilt landläufig als die Hauptstadt von Filz und Korruption. Ähnliches müsste man aber auch für Brandenburg sagen. Dort hat es in jüngerer Zeit z. B. eine Trennungsgeldaffäre gegeben, die höchste Juristen erfasst hat. Dort gab es auch einen Minister, Fürniß, der in den Vereinigten Arabischen Emiraten eine private Entschuldung bekam, während die Finanzierung einer Chip-Fabrik, um die es dort eigentlich gehen sollte, nicht geklappt hat. Man

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sollte deshalb, nach baden-württembergischem Vorbild, eine Ministeranklage in den Entwurf der Verfassung aufnehmen. Ein weiterer Punkt ist die Stärkung der Demokratie innerhalb Berlins, mehr Demokratie von unten, durch eine Stärkung der Bezirke. Diese Bezirke sind größer als jede Stadt in Brandenburg, und es ist nicht einzusehen, warum die Demokratie in den viel kleineren Kommunen in Brandenburg stärker ausgeprägt ist als bisher in den Berliner Bezirken. Bei der Umgestaltung der inneren Verfassung Berlins in einem gemeinsamen Bundesland sollte die Stadt einen Oberbürgermeister erhalten mit einem Magistrat; in den Bezirken sollten die Bezirksbürgermeister direkt vom Volk gewählt werden. Die Bezirksämter sollten politisch, d. h. nicht nach dem Proporz aller politischen Parteien besetzt sein. Bei all dem soll Berlin eine so genannte Einheitsgemeinde bleiben. Niemand beabsichtigt, Berlin in 12 selbstständige kommunale Einheiten aufzulösen. Aber der Rat der Bürgermeister, spöttisch auch Rat der Bademeister genannt (weil eine seiner wenigen Kompetenzen die Schwimmbäder betrifft), der zur Zeit ein Kümmerdasein führt, soll neu formiert und gestärkt werden; er müsste eine Geschäftsstelle bekommen und eine Vetokompetenz erhalten, er müsste die Möglichkeit haben, ein Veto einzulegen, wenn gravierend in die Rechte der Bezirke eingegriffen wird; sein Veto sollte nur mit einer qualifizierten Mehrheit im Abgeordnetenhaus überwunden werden können. Mehr Demokratie von unten heißt auch Bürgerentscheid auf Bezirksebene. Berlin leidet an einem Manko an direkter Demokratie auf kommunaler Ebene. Bündnis 90 / Die Grünen ist der Ansicht, dass man die Bürger auch über Geld oder über Bebauungspläne mitentscheiden lassen soll. Die Länderfusion wäre ein Anlass, dies auf die politische Agenda zu setzen.

VII. Die Finanzen eines gemeinsamen Bundeslandes Angesichts der finanziellen Ausgangslage in Berlin und in Brandenburg soll abschließend der Frage nachgegangen werden, ob ein gemeinsames Land überhaupt finanzierbar ist. Diese Frage umfasst mehrere Aspekte. Einer ist die Angst der Brandenburger vor den Schulden Berlins. 50 bis 60 Mrd. A Schulden sind nicht wenig, Nebenhaushalte nicht mitgezählt, und eine jährliche Netto-Neuverschuldung von 4 bis 6 Mrd. A ist astronomisch. Wenn man die Fusion will, muss man klären, wer Altschulden Berlins übernimmt. Der erste Staatsvertrag sah vor, dass alle mit der gleichen Pro-Kopf-Verschuldung in das gemeinsame Land gehen. Da der Brandenburger pro Kopf geringer verschuldet ist, ist er der Maßstab. Entsprechend geht der Berliner in das gemeinsame Land. Was auf ihn zusätzlich an Schulden entfällt, bleibt bei der Kommune Berlin und wird nicht von dem gemeinsamen Bundesland übernommen. Daran schließt sich eine nächste Frage gleich an: Wie soll eine derart verschuldete Kommune ihre öffentlichen Aufgaben erfüllen? Eine Entschuldung Berlins ist deswegen notwendig. Wenn sie nicht durch die anstehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

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herbeigeführt wird, muss sie in dem Fusionsvertrag als auflösende Bedingung vereinbart werden. Anderenfalls würde ein Konstrukt gebildet, das von Anfang an nicht tragfähig ist. Es würde den Brandenburgern nicht helfen, wenn sie nur soviel Berliner Schulden übernehmen müssten wie sie selbst haben, die Stadt Berlin, die dann Teil ihres Bundeslandes wäre, aber nicht lebensfähig wäre. Deswegen: Die Teilentschuldung Berlins, die angestrebt wird, ist Voraussetzung. Es gab seinerzeit ein schwieriges Ausgleichsprinzip, mit dem verhindert werden sollte, dass Brandenburg für Berlins laufende Verpflichtungen (im Unterschied zu den Altschulden) eintreten muss. Nach der Fusion sollte befristet die Finanzierung der Ausgaben von Stadt und Land getrennt werden, so dass für Berliner Ausgaben nur die Berliner Einnahmen zur Verfügung gestanden hätten. Dieses Prinzip hätte nur mit zwei Dritteln der Stimmen im gemeinsamen Landtag aufgehoben werden können. Weiter müsste eine neue Stellenobergrenze im Staatsvertrag vereinbart werden. Sie lag seinerzeit bei ca. 160.000 Landesbediensteten. Heute würde man weniger ansetzten. Aber dies ist Teil des Verhandlungsprozesses. Es dürfte hart darum gerungen werden, welches Land wie viel Landesbedienstete auf Dauer in dem gemeinsamen Land halten kann. Der letzte Punkt, der hier angesprochen werden muss, ist das Stadtstaatenprivileg im föderalen Finanzausgleich. Dieses Privileg bringt Berlin jährlich 2 Mrd. A. Auf diese Summe kann Berlin nicht verzichten. Das gemeinsame Land wäre aber kein Stadtstaat mehr, es käme darum nicht in den Genuss des Stadtstaatenprivilegs. Beim ersten Fusionsversuch gab es eine Vereinbarung mit den anderen Bundesländern: Für 15 Jahre profitiert Berlin / Brandenburg weiterhin vom Stadtstaatenprivileg. Die anderen Bundesländer haben dem zugestimmt, nicht um dem gemeinsamen Land Berlin / Brandenburg, das kein Stadtstaat mehr wäre, Geld zu schenken. Ihre einfache Überlegung war, langfristig Geld zu sparen; hätten sie nicht zugestimmt, dann wäre es zur Fusion gewiss nicht gekommen, und sie hätten dauerhaft für Berlin zahlen müssen. Da war ihnen eine Übergangsperiode von 15 Jahren lieber. So wurde 1996 gedacht. Und so erklärt sich auch diese relativ lange Übergangsperiode. Nur ist diese Zeit (15 Jahre, gerechnet ab 1991) nun fast vorbei. Die Berliner Haushälter sagen, 15 Jahre ab heute wäre zu wenig, weil die Gelder, die Berlin vom Bund aus dem so genannten Solidarpaktfortführungsgesetz an Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen erhält (Gleiches gilt für Brandenburg) im Jahre 2020 versiegen. Ab 2005 sind sie degressiv, 2020 hören sie gänzlich auf. Den gleichzeitigen Wegfall des Stadtstaatenprivilegs und der Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen nach dem Solidarpakt II könnte Berlin nicht verkraften; es ist nicht realistisch, dass Berlin bis dato genügend eigene Einnahmen haben wird. Man könnte den anderen Ländern für eine entsprechende Verlängerung des Stadtstaatenprivilegs anbieten, anzurechnen, was das gemeinsame Land durch Synergien einsparen wird, also durch das, womit dieser Beitrag begann. Das wäre eine Summe von 2 Mrd. A minus x, aber dieses x wäre das Ergebnis eines offenen Aushandlungsprozesses.

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VIII. Ausblick Ein Ausblick kann nicht optimistisch stimmen. Zur Zeit liegt das Fusionsprojekt auf Eis. Das Abgeordnetenhaus von Berlin hat den Ausschuss Berlin / Brandenburg aufgelöst mit der Begründung, die Fusion komme erst einmal nicht. Berlins Regierender Bürgermeister steht auf dem Standpunkt, nicht er, sondern sein Brandenburger Kollege habe Nein gesagt. Ein wenig boshaft formuliert ist im Übrigen der „Glamour-Faktor“ von Brandenburg gering. Warum sollte der Regierende Bürgermeister sich ins Zeug legen für dieses ländlich geprägte märkische Gebiet. Und in Brandenburgs politischer Landschaft ist niemand, der die Fusion ernsthaft angeht. Leider muss man sagen, dass die Fusion beim ersten Mal in den Sand gesetzt wurde. Vielleicht musste es so sein. Vielleicht waren die Brandenburger wirklich überfordert, nach dem, was sie nach der deutschen Einheit erlebt hatten an negativen Veränderungen ihrer Lebensumstände. Zum großen Teil waren sie es, aber nicht nur. Viele sagen unwidersprochen: Wäre gleich mit der deutschen Einheit das Land Berlin / Brandenburg gebildet worden, hätte dies funktioniert. Rechtlich wäre das möglich gewesen. Die Fusion wäre per Verwaltungsakt erfolgt, so wie die anderen neuen Bundesländer per Verwaltungsakt gebildet wurden. Es ist die geschichtliche Erfahrung, dass es in der alten Bundesrepublik nur eine einzige Länderneugründung gegeben hat, nämlich das Land Baden-Württemberg. Und die war alles andere als harmonisch. Die so genannten Altbadener fühlen sich bis heute, wenn sie noch leben, über den Tisch gezogen. Sie waren damals nicht einverstanden. Man hat das Abstimmungsgebiet jeweils so aufgeteilt, dass die Württemberger die Mehrheit hatten, also in Scheiben geschnitten, wo immer eine württembergische Mehrheit gegen eine Badische gestanden hat. Das Bundesverfassungsgericht hat das 20 Jahre später für rechtswidrig erklärt und hat die Volksabstimmung wiederholen lassen. In der Zwischenzeit hatte sich das neue Land aber bewährt, so dass es letztendlich die Zustimmung des Volkes gefunden hat. Aber der Entstehungsprozess auch des so erfolgreichen Landes BadenWürttemberg war sehr, sehr schwierig. Im Kleinen hat sich das bei der Gründung des Rundfunks Berlin – Brandenburg (RBB) wiederholt. Zwei Länder, ein Sender, so die Parole. Wer den RBB aus der Nähe beobachtet, merkt natürlich, mit wie viel Haken und Ösen dort um Personal gestritten wird. Wer wird Chef dieses Programms, wer wird Chefin jenes Programms? Auch um Milieus wird gerungen wird, wo es immer noch so viele faktische Unterschiede zwischen Ost und West gibt. Dennoch, die Hoffnung stirbt zuletzt. Im Titel dieses Beitrags heißt es zwar „Kein Land in Sicht“, aber wer segelt oder sonst maritim veranlagt ist, der weiß, dass man plötzlich doch irgendwas sieht. Eine Möglichkeit wäre eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf die Finanzklage Berlins. Das Gerichts könnte sagen, es erwarte, dass die Bundesrepublik Deutschland sich insgesamt neu gliedere, damit insgesamt ausgeglichenere und lebensfähigere Bundesländer entstehen. Ob diese Erwartung an das Bundesverfassungsgericht erfüllt wird, kann niemand wissen. Klar ist aber, dass viele Bundesländer drängende Haushaltsprobleme haben. In Bremen stehen solche Probleme schon wieder an. Man darf daher 9 Baßeler u. a.

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Wolfgang Wieland

heute die Bundesländer nicht nur nach historischen Bezügen und Mentalitäten betrachten, sondern muss dies auch nach Finanzkraft und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit tun. Bis dahin gilt: Gemeinsames Land ersehnt – aber noch nicht in Sicht.

Regierbarkeitsprobleme von Großstädten am Beispiel Berlins – Überlegungen zu Metropolitan Governance Von Gunnar Folke Schuppert

Mein Vortragsthema lautet „Regierbarkeitsprobleme von Großstädten am Beispiel Berlins – Überlegungen zu Metropolitan Governance“. Ich möchte den Titel gern insofern ein ganz klein wenig verändern, als ich den Untertitel zum Haupttitel avancieren lasse und über Metropolitan Governance spreche, und dies vornehmlich am Beispiel Berlins, aber auch am Beispiel Hamburgs, wo ich einige Jahre gelebt und gearbeitet habe. Diese governancetheoretische Perspektive liegt aus drei Gründen besonders nahe; einmal schlicht deshalb, weil ich mich seit meiner Berufung auf die am Wissenschaftszentrum Berlin eingerichtete Forschungsprofessur für „Neue Formen von Governance“ vor allem mit Governance-Forschung beschäftige und daher zunehmend dazu neige, die Welt durch die Governance-Brille zu betrachten; zum anderen deshalb, weil die Governance-Perspektive mir – wie gleich noch näher zu erläutern sein wird – besonders geeignet erscheint, die komplexen Steuerungsstrukturen von Metropol-Regionen klarer hervortreten zu lassen; drittens schließlich hoffe ich, dass das Aufsetzen der Governance-Brille für manche Zuhörer doch ein neuartiges Seherlebnis vermittelt, weil die Governance-Perspektive vergleichsweise relativ unverbraucht ist und vielleicht sogar die Neugier weckt, zu erfahren, was Governance eigentlich ist. Ich möchte so vorgehen, dass ich das Gesamtthema in vier GovernanceBereiche auffächere, die ich für Metropol-Regionen wie Berlin oder Hamburg für typisch halte, um dann einen Ausblick zu wagen, der von der Hauptstadtfrage seinen Ausgang nimmt, um daran anschließend einige finanzverfassungsrechtliche Probleme des deutschen Föderalismus in den Blick zu nehmen.

I. Metropolitan Governance als Regional Governance 1. Zum Governance-Begriff allgemein und zum Begriff von Regional-Governance im Besonderen Wenn von Governance die Rede ist, wird häufig und nahezu rituell beklagt, dass es einen allgemein akzeptierten Begriff von Governance nicht gebe und er erst 9*

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Gunnar Folke Schuppert

noch beweisen müsse, ob in ihm mehr als nur eine modische Umformulierung des Steuerungsbegriffs steckt1. Auch wenn diese Sichtweise durchaus ihre Berechtigung hat, kann man doch zumindest vier Bedeutungsvarianten des Governance-Begriffs unterscheiden2 und damit zugleich angeben, über welchen GovernanceAspekt man selbst zu sprechen beabsichtigt. Die erste Bedeutungsvariante ist das Verständnis von Governance als „Corporate Governance“3; unter dieser Überschrift werden Fragen diskutiert, die von den grundlegenden Zielorientierungen von Unternehmen, ihrer gesellschaftlichen Verantwortlichkeit (Corporate Social Responsibility) bis hin zu konkreten Fragen der Regelung zur Transparenz der Rechnungslegung, der Anreizsysteme für das Management und der Organisation der Aufsichtsratsfunktionen reichen. Die zweite Bedeutungsvariante wird vor allem in dem politikwissenschaftlichen Teilgebiet „Internationale Beziehungen“ diskutiert. Hier bezeichnet Governance Wege der Bewältigung transnationaler Probleme wie etwa solche der Umweltverschmutzung und der Klimaveränderung, und zwar ohne einen zentralen Akteur wie eine „Weltregierung“ und unter Einbeziehung von internationalen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) im Rahmen sog. „internationaler Regime“. Die beiden zentralen Begriffe heißen „Global Governance“ und „Governance without Government“4, womit die Herausbildung von Governancestrukturen jenseits nationalstaatlicher Regierungsdominanz auf den Begriff gebracht wird. In etwas weiterer Ausdifferenzierung kann zur besseren Erfassung der Varianten des „Regierens jenseits des Nationalstaates“5 je nach dem „Staatlichkeitsgrad“ der Governancestrukturen von „governance by government“ – hierarchisches Regieren mittels einer übergeordneten Zentralinstanz –, „governance with government“ – kooperatives Regieren – und von „governance without government“ – Selbstorganisation ohne Rückgriff auf übergeordnete Zentralinstanzen und ohne Beteiligung von Regierungen – gesprochen werden. Die dritte Wurzel des Governance-Begriffs ist der Sprachgebrauch der Weltbank, die den Begriff von „Good Governance“6 kreierte, um damit Kriterien einer 1 Vgl. etwa Wolfgang Hoffmann-Riem, Governance im Gewährleistungsstaat – vom Nutzen der Governance-Perspektive für die Rechtswissenschaft, in: Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung. Vergewisserung über Stand und Entwicklungslinien, Baden-Baden 2005, S. 195 ff. 2 Siehe als komprimierten Überblick G. F. Schuppert, Stichwort „Governance“, in: Werner Heun u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl. (im Erscheinen). 3 Zusammenfassend und weiterführend Ulrich Jürgens, Corporate Governance – Anwendungsfelder und Entwicklungen, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung (Fußnote 1), S. 47 ff. 4 James N. Rosenau / Ernst-Otto Czempiel (Hrsg.), Governance without Government: Order and Change in World Politics, Cambridge 1992. 5 Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, Frankfurt am Main 1998. 6 Vgl. dazu den Überblick bei Herrmann Hill, Good Governance – Konzepte und Kontexte, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung (Fußnote 1), S. 220 ff.

Regierbarkeitsprobleme von Großstädten am Beispiel Berlins

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effizienten und rechtsstaatlichen Verwaltungspraxis für die Vergabe von Krediten an Entwicklungs- und Transformationsländer aufzustellen. In diesem normativen Konzept werden vier Bereiche als maßgeblich erachtet: Public Sector Management, Verantwortlichkeit von Staats- und Verwaltungshandeln (Accountability), Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen (Rule of Law) sowie Transparenz des öffentlichen Sektors. Viertens schließlich mündeten diese drei Ursprünge des Governance-Begriffs in eine breite und auch andauernde politikwissenschaftliche Governance-Diskussion, die man unter der Überschrift „von Steuerung zu Governance“ zusammenfassen kann7. Während die klassische Steuerungstheorie sehr stark akteurszentriert ist, also die Akteure einer politischen Arena und ihre Beziehungen zueinander in den Mittelpunkt stellt, erweitert der Governance-Ansatz den Blick auf die institutionellen Rahmenbedingungen des Akteurshandelns und rückt damit die jeweiligen Regelungsstrukturen in das Zentrum des Interesses. Gegenstand der GovernanceForschung ist daher die Koordination des Handelns von Akteuren in und durch Regelungsstrukturen. Wenn im Folgenden von Governance die Rede ist, dann in dieser vierten Bedeutungsvariante. Ganz in diesem Sinne und in geglückter Verbindung von steuerungstheoretischer Akteursperspektive und governancetheoretischer Strukturperspektive wird der Governancebegriff auch von Artur Benz und Dietrich Fürst verwendet, die in ihrem Beitrag über „Regional Governance“ dazu folgendes ausführen8: „Besonders geeignet ist hierfür der Begriff „governance“. Er wird in der internationalen Sozialwissenschaft verwendet, um in sehr allgemeiner Weise die Form einer Steuerungsstruktur zu erfassen. Für diesen Begriff gibt es keine eindeutige Definition9. Üblicherweise bezeichnet er die Regeln, d. h. Organisationsstrukturen, Verfahrensnormen und Entscheidungsprinzipien, nach denen Handlungen von Akteuren im Hinblick auf bestimmte Funktionen koordiniert werden. Der Begriff verweist auch darauf, dass Regeln nicht das Handeln und die Interaktionen der Akteure vollständig determinieren, sie vielmehr nur insoweit funktionieren, als sie mit der sozialen Praxis kompatibel sind. Im engeren Sinn werden mit „governance“ netzwerkartige Strukturen umschrieben, in denen öffentliche und private Akteure zusammenwirken. In der Regionalpolitik werden private Akteure in der Regel zumindest informell beteiligt, sodass auch diese enge Definition im Folgenden anwendbar ist. 7 Renate Mayntz, Governance Theory als fortentwickelte Steuerungstheorie?, in: G. F. Schuppert (Hrsg.), Governance-Forschung (Fußnote 1), S. 11 ff. 8 Arthur Benz / Dietrich Fürst, Region – „Regional Governance“, Regionalentwicklung, in: Bernd Adamaschek / Marga Pröhl (Hrsg.), Regionen erfolgreich steuern. Regional Governance – von der kommunalen zur regionalen Strategie, Gütersloh 2003, S. 11 ff., 24. 9 Vgl. Jan Kooiman (Hrsg.), Modern Governance, London 1993; Renate Mayntz, „New Challenges to Governance Theory“, Jean Monnet Chair Paper (50). Robert Schuman Centre of the European University Institute, Florenz 1998; Jean Pierre (Hrsg.), Debating Governance. Authority, Stearing, and Democracy, Oxford 2000.

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Gunnar Folke Schuppert

Wenn wir dieses Konzept auf die Region übertragen, so lenkt dies unseren Blick nicht allein auf die formale Verfassung bzw. Organisation einer regionalen Planungs- und Verwaltungseinheit, sondern auf die Art und Weise, wie regionale Akteure zusammenwirken. Mit ,Regional Governance‘10 erfassen wir also sowohl die relevanten öffentlichen Organisationen als auch private Akteure wie Unternehmen, Kammern, Verbände und Bürgergruppen.“

In diesem Sinne lasse sich – so Benz / Fürst – „Regional Governance“ durch die folgenden vier Merkmale näher bestimmen:  „Interdependenzmanagement als Steuerungsziel: ,Regional Governance‘ zielt auf eine integrierte Politik, aber nicht im Sinne der alten Entwicklungsplanung, sondern durch strategische Koordination von interdependenten Prozessen11. Es geht um die Abstimmung von Plänen und Maßnahmen verschiedener Organisationen und Akteure, die teils gleichgerichtete, teils konkurrierende Ziele verfolgen. Koordination wird verwirklicht durch Entwicklungskonzepte und durch gemeinsame Projekte (wobei meist wichtige ,Leitprojekte‘ im Mittelpunkt stehen).  Interorganisatorischer Charakter von Regionalpolitik: Regionale Aufgaben werden nicht durch eine staatliche Institution erfüllt, sondern im Zusammenwirken von Organisationen aller Ebenen (europäische Kommission, nationale Förderinstitutionen und Fachbehörden, regionale Planungs- und Verwaltungsbehörden, Kreise und Gemeinden) sowie Organisationen aus dem öffentlichen wie dem privaten Sektor. Die Region stellt, so betrachtet, einen intermediären Handlungsraum dar, der die Grenzen zwischen staatlichen Ebenen wie zwischen Staat und Privatem überschreitet.  Kombination von Steuerungsmodi (hybride Steuerungsformen): Regionalpolitische Entscheidungen beruhen im Kern auf Verhandlungsprozessen (Kooperation), weil einseitigautoritäre Durchsetzung von Entscheidungen zu starke Widerstände erzeugt.  Informelle und formelle Strukturen: Dauerhafte Verhandlungen verdichten sich oft zu Netzwerken, zu vertrauensgestützten Kommunikationsbeziehungen zwischen zentralen Akteuren der Region. Dauerhaftigkeit kann aber auch durch institutionelle Strukturen gesichert werden. Die Art und das Maß der Stabilisierung von Interaktionen kann als weiteres Merkmal unterschiedlicher Formen von ,Regional Governance‘ betrachtet werden. Diese umfasst sowohl die ,interne‘ Institutionalisierung der Politik in der Region als auch die ,externe‘ Institutionalisierung der Beziehungen zwischen der Region und anderen Handlungsebenen, die insbesondere auch die Politik für die Region der nationalen und europäischen Ebene einschließt.“

2. Typen von Regional Governance Arthur Benz und Dietrich Fürst sind es auch, die eine Typologie der Erscheinungsformen von „Regional Governance“ vorgelegt haben, wobei sie sich interessanterweise als entscheidendes Abgrenzungsmerkmal für die Organisationsstruktur als formale Institutionenordnung entschieden haben, da es – Governance als Fußnote 8, S. 24 f. Renate Mayntz, „Governing failures and the Problem of governability: Some comments on an emerging paradigm“, in: J. Kooiman (Hrsg.), Modern governance, London 1993. 10 11

Regierbarkeitsprobleme von Großstädten am Beispiel Berlins

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Steuerung durch Regelungsstrukturen12 – die institutionellen Strukturen sind, in deren Rahmen sich die unterschiedlichen Formen von „Regional Governance“ entfalten; diese institutionellen Strukturen können – so Benz und Fürst – wie folgt bestimmt werden13:  „Die institutionellen Strukturen können bestimmt werden nach der Art der Regionsabgrenzung (nach bestehenden Grenzen kommunaler Gebietskörperschaften oder nach regionalpolitischen Funktionen);  nach der Rechtsform (Gebietskörperschaft, Verband, privatrechtliche Form, freiwillige Kooperation);  nach der Instanz, die legitimiert ist, grundlegende Beschlüsse oder abschließende Konfliktentscheidungen zu treffen (Regionalparlament, Verbandsversammlung, Gemeinde- / Kreisräte;  nach den Kompetenzen (Planungskompetenzen, Durchführungskompetenzen).“

Unter Zugrundelegung dieser institutionellen Strukturen kommen Benz und Fürst zu der nachstehenden Übersicht über vier Typen regionaler Organisationsformen14: Übersicht 1 Typen regionaler Organisation Regionsabgrenzung

Rechtsform

Entscheidungs instanz

Regionale Gebietskörperschaft

kommunale Verwaltungsgrenzen

Gebietskörperschaft

Regionalverband

kommunale Verwaltungsgrenzen

VerbandsVerband (freiwilliger oder versammlung Zwangsverband)

Regionalplanung, regionale Entwicklungskonzepte, Fachaufgaben

Vereinbarung

Regionalkonferenz

Entwicklungskonzept, Leitprojekte

(Entwicklungsagentur: öffentliches / privates Unternehmen) keine Rechtsform

keine

Entwicklungskonzept, Leitprojekte Ad-hoc-Kooperation

Regionalkonferenz funktionale Abgrenzung Regionale Netzwerke  mit organisatorischem Kern

funktionale Abgrenzung

 ohne organisato- flexible rischem Kern Abgrenzung

Regionalparlament

Kompetenzen rechtverbindliche Planung, regionale Fachaufgaben

keine

12 Näher dazu G. F. Schuppert, Governance im Spiegel der Wissenschaftsdisziplinen, in: ders. (Hrsg.), Governance-Forschung (Fußnote 1), S. 371 – 469. 13 Fußnote 8, S. 27. 14 Fußnote 8, S. 30.

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Gunnar Folke Schuppert

Interessanter noch als diese sehr stark an rechtlichen Kategorien orientierte Übersicht ist das zweite von Benz und Fürst präsentierte Schaubild, das unter Verwendung der klassischen steuerungstheoretischen Perspektive die verschiedenen an regionaler Governance beteiligten Akteure sowie die von ihnen praktizierten Steuerungsmodi in den Blick nimmt15: Übersicht 2 Typen von Regional Governance Kreis der beteiligten Akteure

Regelsystem

Stabilität der Beziehungen

Regionale Gebietskörperschaft

weit, öffentliche Akteure (Land, Region, Kommunen), festliegend

Regulierung, finanzielle Anreize, Finanzausgleich

institutionalisiert

Regionale Mehrebenenstruktur

weit, öffentliche (Land, Region, Kommunen) und private Akteure, relativ offen

Verhandlungen im Schatten der Hierarchie

institutioneller Rahmen, Vertragsbeziehungen und Netzwerke

Regionaler Planungsverband

eng, öffentliche Akteure (Planungsabteilungen des Landes und der Kommunen), festliegend

Regulierung durch verbindliche Pläne, faktische Verhandlungen

institutionalisiert, Netzwerke

Regionalkonferenz

weit, öffentliche und private Akteure, offen

Verhandlungen, z. T. mit Anreizen

schwach institutionalisiert

Regionale Netzwerke

weit, öffentliche und private Akteure, offen

Verhandlungen

Netzwerke

3. Drei ausgewählte Beispielsregionen Damit diese Übersichten nicht allzu abstrakt bleiben, soll ein kurzer Blick auf drei Beispielsregionen geworfen werden, die in dem schon zitierten Sammelband „Regionen erfolgreich steuern“ von Bernd Steinacher16, Axel Priebs17 und Christian Specht18 vorgestellt worden sind. Fußnote 8, S. 32. Bernd Steinacher (Regionaldirektor Verband Region Stuttgart), Regionale Steuerung am Beispiel des Verbands Region Stuttgart, in: Regionen erfolgreich steuern (Fußnote 8), S. 67 – 79. 17 Axel Priebs (Erster Regionsrat, Dezernat Ökologie und Planung, Region Hannover), Die neue Region Hannover – ein Sonderfall stadtregionaler Organisation?, in: Regionen erfolgreich steuern (Fußnote 8), S. 80 – 97. 18 Christian Specht (Verbandsdirektor, Raumordnungsverband Rhein-Neckar), Regionale Steuerung im Raumordnungsverband Rhein-Neckar, in: Regionen erfolgreich steuern (Fußnote 8), S. 98 – 108. 15 16

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a) Verband Region Stuttgart Der Verband Region Stuttgart wurde 1994 per Landesgesetz gegründet und nimmt als sog. Pflichtaufgaben die folgenden Aufgaben in den Bereichen Infrastruktur, Verkehr, Wirtschaft und Umwelt wahr:  Regionalplanung,  Infrastrukturplanung,  Regionalverkehrsplanung,  Regional bedeutsamer Schienennahverkehr (z. B. Trägerschaft für die S-Bahn),  Wirtschaftsförderung,  Tourismus-Marketing,  Landschaftsrahmenplanung,  Landschaftsparks,  Teile der Abfallwirtschaft.

Vom Organisationstyp her handelt es sich bei dem Verband um eine regionale Gebietskörperschaft in der Rechtsform einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Wichtigstes Organ ist die direkt vom Volk gewählte Regionalversammlung; geleitet wird der Verband von einer Doppelspitze mit dem ehrenamtlichen Verbandsvorsitzenden und dem hauptamtlichen Regionaldirektor. Mitglieder des Verbandes sind 179 Gemeinden, fünf Landkreise und der Stadtkreis Stuttgart. Die Beteiligung der in der Region vorhandenen öffentlichen und privaten Akteure gestaltet sich je nach Aufgabe sehr verschieden. Was insbesondere die Form der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaftsförderung angeht, so heißt es dazu in dem Bericht des Regionaldirektors Steinacher wie folgt19: „Die Form der Zusammenarbeit entspringt dem sich wandelnden Verständnis öffentlicher Aufgabenerfüllung und einer stärkeren Outputorientierung. Veränderte Rahmenbedingungen, wie der anhaltende Konsolidierungsdruck bei den öffentlichen Haushalten und ein verändertes Leitbild staatlicher und kommunaler Aufgabenerfüllung im Sinne stärkerer Outputorientierung und New Public Management befördern privatrechtliche Organisationen zur Aufgabenerledigung. Public-Private-Partnerships und die Erfüllung öffentlicher Aufgaben in privatrechtlichen Organisationen werden damit zu wesentlichen Instrumenten eines öffentlichen Managements. Die Vorteile sind:  hohe Flexibilität durch Ergebnisorientierung;  finanzielle Entlastung durch Einbindung von regionalen Partnern und durch die Möglichkeit, Förder- und andere Drittmittel zu akquirieren;  Stärkung regionaler Kooperationsstrukturen und die Schaffung einer auf Verbindlichkeit setzenden Kooperationskultur.“ 19

Fußnote 17, S. 73.

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Gunnar Folke Schuppert

b) Die Region Hannover Während es sich bei dem Verband Region Stuttgart um einen typischen Planungs- und Wirtschaftsförderungsverbund handelt, ist mit der Region Hannover ein präzedenzloses neues rechtliches Gebilde entstanden, dessen Konstruktion Axel Priebs wie folgt erläutert20: „Die Region Hannover wurde zum 1. November 2001 gebildet. Sie ist Gebietskörperschaft und Gemeindeverband in einem und hat die Rechtsnachfolge sowohl für den Landkreis Hannover als auch für den Kommunalverband Großraum Hannover angetreten. Sie bündelt alle wesentlichen regionalen Zuständigkeiten und hat deswegen auch eine Reihe von Aufgaben übernommen, die bis dahin von der Landeshauptstadt Hannover und der Bezirksregierung Hannover wahrgenommen wurden. Die Landeshauptstadt hat auf ihre Kreisfreiheit verzichtet, ihr verbleiben jedoch entsprechend ihrer Größe und Bedeutung bestimmte Rechte und Aufgaben, die den kreisfreien Städten vorbehalten sind.“

Dementsprechend ist die Regionalverwaltung ein Schmelztiegel unterschiedlicher Verwaltungstraditionen, bestehend aus Personal des Landkreises Hannover, des Kommunalverbandes Großraum Hannover, der Landeshauptstadt sowie – wenn auch in begrenztem Umfang – der Bezirksregierung Hannover. Die Personalstärke der neuen Regionalverwaltung beträgt (ohne Krankenhäuser und Abfallwirtschaftsbetriebe) ca. 1.900; die Kompetenzen der neuen Verwaltungsstruktur gehen deutlich weiter als die aller anderen regionalen Institutionen in den deutschen Großstadtregionen und umfassen die folgenden Aufgaben21:  Die Region ist Aufgabenträgerin für den gesamten öffentlichen Personennahverkehr auf Schiene und Straße. Sie ist Bestellerin der Verkehrsleistungen, ist verantwortlich für den Bau von Stadtbahnstrecken und besitzt Anteile an den regionalen Verkehrsunternehmen. Ferner wurde im vergangenen Jahr eine Infrastrukturgesellschaft für den Schienenpersonennahverkehr als Tochtergesellschaft einer von Region und Landeshauptstadt getragenen Gesellschaft gebildet.  Sie ist zuständig für die Wirtschaftsförderung und das Regionalmarketing; darüber hinaus ist sie auch – neben den staatlichen Stellen – zuständig für Beschäftigungsförderung. Im operativen Bereich kann sie sich zur Erfüllung ihrer Aufgaben mehrerer Gesellschaften bedienen, z. B. der Hannover Region Grundstücksgesellschaft (HRG), der Hannover Region Beschäftigungsgesellschaft (HRB) und des Technologie Centrums Hannover (TCH).  Für ihr gesamtes Gebiet ist sie örtliche Trägerin der Sozial- und Jugendhilfe, was bedeutet, dass die erforderlichen Leistungen in der gesamten Region auch durch sämtliche regionsangehörige Kommunen solidarisch finanziert werden.  Im Bereich des Umweltschutzes (Naturschutz, Gewässerschutz, Bodenschutz) bündelt die Region alle wesentlichen Aufgaben, die vor dem 1. November 2001 20 21

Fußnote 18, S. 80. Fußnote 18, S. 81 / 82 / 83.

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vom Landkreis Hannover, von der Landeshauptstadt Hannover und von der Bezirksregierung Hannover wahrgenommen wurden. Ab 2003 wird die Region zudem für die Abfallbeseitigung in ihrem gesamten Gebiet zuständig sein, womit auch eine einheitliche Abfallpolitik ermöglicht wird.  Die Region ist nicht nur Trägerin der Regionalplanung, sondern auch selbst untere Landesplanungsbehörde (und damit z. B. verantwortlich für Raumordnungsverfahren) und Genehmigungsbehörde für die Flächennutzungsplanung der Städte und Gemeinden. Für die kleineren regionsangehörigen Kommunen nimmt die Region zudem die Aufgaben der Bauaufsichtsbehörde wahr.  Ansprechende Naherholungsmöglichkeiten werden in der Region Hannover als wichtiger Beitrag zur Sicherung und Steigerung der Lebensqualität gesehen. Deswegen ist die Planung, Förderung und Trägerschaft regional bedeutsamer Erholungseinrichtungen der Kommunen ausdrücklich eine regionale Aufgabe; u. a. ist die Region für den Zoo Hannover, der in den vergangenen Jahren wegen seines herausragenden Edutainment-Konzepts bundesweite Anerkennung erfuhr, verantwortlich.  Im Bereich des Gesundheitswesens wurden zum 1. 11. 2001 die Gesundheitsämter der Landeshauptstadt und des bisherigen Landkreises bei der Region zusammengeführt. Ab 2003 wird die Region Trägerin sämtlicher Krankenhäuser sein, die früher vom Landkreis Hannover und von der Landeshauptstadt Hannover betrieben wurden. Auch in diesem Bereich besteht dann die Möglichkeit einer einheitlichen politischen Weichenstellung, z. B. hinsichtlich der optimalen Betriebsform für die zur Region gehörenden Krankenhäuser.

c) Raumordnungsverband Rhein-Neckar Der Raumordnungsverband Rhein-Neckar ist ein gutes Beispiel für eine Planungsorganisation in einem Verdichtungsraum, der aus den Oberzentren Mannheim, Ludwigshafen sowie Heidelberg besteht und sich auf Teile der drei Bundesländer Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen verteilt. Grundlage des regionalen Steuerungsmodells ist eine mehrstufige Planungsverbandsorganisation auf staatsvertraglicher Basis, deren Struktur der Verbandsdirektor Christian Specht wie folgt erläutert22: „Im Staatsvertrag verpflichten sich die beteiligten Bundesländer, alle Aufgaben der Raumordnung und Landesplanung im Rhein-Neckar-Raum gemeinsam wahrzunehmen. Hierzu wurde auf der Ebene der Länder eine Raumordnungskommission eingerichtet, die aus den für die Landesplanung in den jeweiligen Bundesländern zuständigen Fachministern besteht. Aufgabe der Kommission ist es, die Ziele und Erfordernisse der Raumordnung und Landesplanung für den Rhein-Neckar-Raum abzustimmen. Die Kommission entscheidet nach dem Prinzip der Einstimmigkeit. 22

Fußnote 19, S. 99.

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Gunnar Folke Schuppert

Die Abstimmung auf der regionalen Ebene erfolgt durch die grenzüberschreitende öffentlich-rechtliche Körperschaft ,Raumordnungsverband Rhein-Neckar‘. Dieser wird getragen von den Regionalplanungsträgern der beteiligten Bundesländer. Der Raumordnungsverband Rhein-Neckar bildet dabei das Dach für die regionalen Planungsträger, die gemäß den landesrechtlichen Vorgaben als Verbände in der Rechtsform der Körperschaft des öffentlichen Rechts oder als Planungsgemeinschaft verfasst sind.“

4. Steuerungstheoretische Typisierung von Metropolitan Governance Auf gänzlich anderen methodischen Wegen gelangt Joachim Blatter23 zu einer Typologie von Erscheinungsformen von Metropolitan Governance, die der von Benz und Fürst bei näherem Hinsehen ziemlich ähnlich ist. Blatter geht so vor, dass er zunächst – in Anlehnung an Jürgen Habermas24 – vier Typen von Handeln unterscheidet, nämlich  normorientiertes Handeln,  nutzenorientiertes Handeln,  kommunikatives Handeln sowie  dramaturgisches Handeln,

um diese sodann – in einem zweiten Schritt – mit zwei Grundtypen von Strukturmustern der Interaktion zu „kreuzen“, nämlich  einer festen Kopplung mit den Merkmalen: hierarchische Struktur; monozentrisch; eindeutige Grenzziehung; relativ geschlossene Einheit  einer losen Kopplung mit den Merkmalen: Netzwerkstruktur; polyzentrisch; uneindeutige Grenzziehung; relativ offene Einheit.

Das Ergebnis dieser „Einkreuzung“ ist die nachstehende Typologie von Metropolitan Governance, die letztlich in ganz ähnlicher Weise die von Benz und Fürst bestimmten Organisationstypen mit bestimmten Interaktions- und Steuerungsmodi zueinander in Beziehung setzt:

23 Joachim Blatter, Metropolitan Governance in Deutschland: Normative, utilitaristische, kommunikative und dramaturgische Steuerungsansätze, in: Swiss Political Science Review 11 (1): 119 – 155. 24 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt am Main 1981, S. 126 – 151.

Regierbarkeitsprobleme von Großstädten am Beispiel Berlins

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Übersicht 3 Handlungstypen und die entsprechenden Logiken der regionalen Kooperation Strukturelle Logik der Kooperation Handlungstyp

Prozessuale Logik der regionalen Kooperation

Feste Koppelung

Lose Koppelung

Hierarchische Organisation Regionalstadt

Mehrebenensystem Stadt-Umland-Verband

Deduktion

Nutzen-orientiertes Club Handeln Regionaler Zweckverband

Verhandlungssystem Rahmenvereinbarung

Evolution

Kommunikatives Handeln

Konsensorientierter Dialog Regionalkonferenz

Diskursives Feld Regionale Allianzen

Konstruktion

Dramaturgisches Handeln

Vereinigung Marke(ting-Gesellschaft)

Bewegungen Reg. Leuchtturmprojekte

Induktion

Norm-orientiertes Handeln

Was zunächst den Typus des normorientierten Handelns angeht, so verwirklicht er sich organisatorisch idealtypisch im Typus der Regionalstadt bzw. des Stadt-Umland-Verbandes25: „Eine erste, fest gekoppelte institutionelle Entsprechung des normorientierten Handelns stellt die formale Organisation mit hierarchischen Weisungsmöglichkeiten dar. Dem entspricht in den urbanen Agglomerationen die Eingemeindung und die Fusion von Kommunen zu einer Regionalstadt. Der Stadtrat ist hier das eindeutige Zentrum der politischen Interaktionsstruktur und es gibt eine eindeutige und zeitlich stabile Grenze, die festlegt, wer Mitglied in der politischen Gemeinde ist. Die Verbindung von normorientierter Steuerung und loser Koppelung entspricht einem Mehrebenensystem mit formal autonomen Einheiten auf verschiedenen Ebenen und wird im Untersuchungsfeld durch einen StadtLand-Verband repräsentiert. Diesen Verbänden sind idealtypisch Kompetenzen im Bereich der territorialen Planung übertragen. Damit entsteht ein regionaler Netzknotenpunkt in einem wichtigen, aber nur in einem Feld der lokalen Politik. Verbindlichkeit der Normen einerseits und Mitgliedschaft der Bürger andererseits erfolgen nur indirekt über die einzelnen kommunalen Gebietskörperschaften.“

Das typische Organisationsgewand des nutzenorientierten Handelns sei hingegen der kommunale Zweckverband26: „Dem nutzenorientierten Handeln entspricht als erster Koppelungstyp der Club, wie er in der finanzwissenschaftlichen Theorie definiert wird. Clubs sind effiziente Einrichtungen für die freiwillige gemeinschaftliche Produktion von spezifischen öffentlichen Gütern, bei denen Ausschließbarkeit und teilweise Rivalität in der Nutzung bestehen. Während in der Clubtheorie von Individuen als Mitglieder ausgegangen wird, sind in der Realität üblicherweise Clubs in der Form der inter-kommunalen Zweckverbände vorzufinden. Zweckverbände bedeuten eine organisatorische Verselbständigung auf regionaler Ebene und damit im thematischen Zuständigkeitsbereich des Zweckverbandes eine monozentrische Interaktionsstruktur und klare Mitgliedschaftsregeln. Ein Zweckverband ist allerdings im Ge25 26

Fußnote 24, S. 126 / 127. Fußnote 24, S. 127.

142

Gunnar Folke Schuppert

gensatz zur Regionalstadt funktional beschränkt und rechtlich weniger stark verankert. Nutzenbasierte Kooperation ohne institutionelle Verselbständigung (und damit ohne Zentralisierung der Interaktionsstruktur und ohne formelle Mitgliedschaftsregeln) erfolgt durch interkommunale Rahmenvereinbarungen, in denen durch Verhandlungen Koppelgeschäfte oder Ausgleichszahlungen verbindlich festgelegt werden.“

Paradefall des kommunikativen Handlungstyps von Metropolitan Governance sei der Organisationstyp der Regionalkonferenz27: „Eine kommunikative Steuerung mit fester Koppelung stellt der verständigungsorientierte Dialog im Rahmen eines dauerhaft institutionalisierten Gesprächsforums dar. Im Untersuchungsfeld heißt das, dass bei regelmäßig stattfindenden Regionalkonferenzen versucht wird, eine gemeinsame Problemdefinition und gemeinsame Zielsetzungen festzulegen. Im Gegensatz zu formalen Planungsverfahren ist die Beteiligung freiwillig, die Beschlüsse werden im Konsens getroffen und sind nicht rechtlich verbindlich. Im Vordergrund steht der kommunikative Prozess der gemeinsamen Entwicklung von integrativen Regionalen Entwicklungskonzepten.“

Für den Typus des dramaturgischen Handelns gibt Blatter ein anschauliches Beispiel aus der Metropolregion Hamburg28: „In der Folgezeit entwickelte sich der Kooperations- und Steuerungsansatz in der Metropolregion in Richtung dramaturgischer Ansätze. Dies vor allem, weil die neu konstituierte zwischenstaatliche Zusammenarbeit durch Initiativen der Wirtschaft herausgefordert wurde. Im Mai 1997 lancierte der Hauptgeschäftsführer der Handelskammer Hamburg in Abstimmung mit anderen Kammern eine ,Initiative Metropolregion Hamburg‘ mit dem Ziel eines gemeinsamen Regionalmarketings. Die Behörden reagierten auf die Forderung dieser Diskurskoalition mit der Einrichtung einer Gesprächsrunde Regionalmarketing und machten den HK-Geschäftsführer zum Leiter dieser Gesprächsrunde. Kammern und Landesplanung ließen dann ein dynamisches und innovatives Logo erstellen, das der ,Marke Metropolregion Hamburg‘ ein visuelles Erscheinungsbild vermittelt. Insgesamt zeigt sich in der Metropolregion Hamburg inzwischen eine deutliche Dominanz dramaturgischer Ansätze vor allem in der strukturellen Form der losen Koppelung: es gibt keine institutionelle Verselbständigung der Metropolregion und keine einheitliche Logik der Regionsabgrenzung im Süden und im Norden, statt dessen klare Leitprojekte und eine gemeinsame Olympia-Bewerbung. Die auch intern wirkende Marke ,Metropolregion‘ und das stark verdichtete Interaktionsnetzwerk zwischen den Länderadministrationen stellen Elemente der festeren Koppelung dar.“

Nachdem wir nun so viel zum Thema „Regional Governance“ erfahren haben, wollen wir uns einem zweiten „Governance-Klassiker“ im Bereich von MetropolRegionen zuwenden, nämlich dem Spannungsverhältnis von Zentralisierung und Dezentralisierung.

27 28

Fußnote 24, S. 128. Fußnote 24, S. 135.

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II. Das Finden der richtigen Mitte zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung als Governance-Problem 1. Die Grundmelodie des Spannungsverhältnisses zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung Diese Grundmelodie wird in dem Einleitungssatz des Beitrages von Manfred Röber mit dem Titel „Vom Zweckverband zur dezentralisierten Einheitsgemeinde: Die Entwicklung der Berliner Verwaltungsorganisation im 20. Jahrhundert“29 wie folgt angeschlagen: „Die Diskussion über die Berliner Verwaltung dreht sich seit ungefähr 100 Jahren um das organisationstheoretische Kernproblem von Zentralisierung und Dezentralisierung“. Ganz in diesem Sinne führte der Schöneberger Oberbürgermeister Dominicus in der Debatte über den Gesetzentwurf zur Bildung einer Stadt Groß-Berlin am 2. 12. 1919 folgendes aus30: „Jeder von uns wird damit einverstanden sein, dass die wichtigen Geschäfte, die Grundlinien der Verwaltung zentral, einheitlich behandelt werden müssen, und jeder wird auf der anderen Seite zugeben, dass bei der ungeheuren Größe des Gebietes im übrigen bei den nicht unbedingt wichtigen Dingen eine dezentralisierte Verwaltung allein das Richtige ist.“

2. Juristische Auflösung dieser Spannungslage a) Modell „Einheitsgemeinde“ oder Modell der kommunalen Selbstverwaltung? Rechtstellung und Funktion der Berliner Bezirke als Anwendungsfall kommunaler Selbstverwaltung anzusehen, böte sich zwar im Hinblick auf den Wortlaut von Art. 66 Abs. 2 der Berliner Verfassung an, wäre aber in der Sache nicht gerechtfertigt. Zwar erfüllen die Bezirke nach Art. 66 II VvB „ihre Aufgaben nach den Grundsätzen der Selbstverwaltung“ und „nehmen regelmäßig die örtlichen Verwaltungsaufgaben wahr“, sie haben aber – wie insbesondere die Stellung der Bezirksverordnetenversammlung zeigt – kein Recht der Selbstverwaltung im Sinne von Art. 28 Abs. 2 des Grundgesetzes. Sie sind – wenn man dies so nennen will – nach wie vor „Zwittergebilde“, die auf dem bei der Entscheidung über das Berlin-Gesetz von 1920 gefundenen Kompromiss beruhen, „den Bezirken keinen eigenständigen kommunalen Status zu geben, sie aber im Rahmen einer Einheitsgemeinde mit ungewöhnlichen Selbstverwaltungskompetenzen auszustatten“31. Was die schon in Bezug genommene Stellung der Bezirksverordnetenversammlungen angeht, so wird sie von Manfred Röber zutreffend wie folgt beschrieben32: 29 In: Manfred Röber / Eckhard Schröter / Helmut Wollmann (Hrsg.), Moderne Verwaltung für moderne Metropolen: Berlin und London im Vergleich, Opladen 2002, S. 38 – 62. 30 Zitiert nach Röber (Fußnote 30), S. 42. 31 Röber (Fußnote 30), S. 49. 32 Fußnote 30, S. 54.

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„Die Bezirksverordnetenversammlung ist nach Art. 72 VvB ,Organ der bezirklichen Selbstverwaltung‘. Organisationsrechtlich ist sie Verwaltungsbehörde33 und demzufolge nur sehr bedingt mit den ,normalen‘ Gemeinderäten in den Flächenstaaten der Bundesrepublik vergleichbar. Ihr fehlen auf Grund der Tatsache, dass die Bezirke keine rechtsfähigen Gebietskörperschaften sind und weder über Satzungs- und Besteuerungsrechte noch über Budgethoheit und Dienstherrenfähigkeit (sondern lediglich über eine stark eingeschränkte Personalhoheit) verfügen, die elementaren konstitutiven parlamentarischen Rechte. Insofern wird häufig davon gesprochen, dass die Bezirksverordnetenversammlungen nur quasi-parlamentarischen Status haben.“

b) Zuständigkeitskataloge und Aufgabenkategorien Im Zuge der Verfassungs- und Verwaltungsreformdiskussion gab es seit Anfang der 90er Jahre Bemühungen, die Stellung der Bezirke zu stärken, wovon insbesondere die neuen Formulierungen über die Aufgabenverteilung im sog. Allgemeinen Zuständigkeitsgesetz (AZG) Zeugnis ablegen; Röber kommentiert diese Entwicklung wie folgt34: „Grundsätzlich wird unter impliziter Bezugnahme auf das Subsidiaritätsprinzip von einer Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Bezirke ausgegangen. Nach Art. 67 I VvB nimmt der Senat durch die Hauptverwaltung nur noch Aufgaben von gesamtstädtischer Bedeutung wahr, zu denen Leitungsaufgaben (Planung, Grundsatzangelegenheiten, Steuerung, Aufsicht), Aufgaben der Polizei-, Justiz- und Steuerverwaltung sowie „einzelne andere Aufgabenbereiche, die wegen ihrer Eigenart zwingend einer Durchführung in unmittelbarer Regierungsverantwortung bedürfen“, gehören35.

Damit ist die alte vertikale Dreiteilung der Aufgaben in Vorbehaltsaufgaben (bzw. Aufgaben der Hauptverwaltung), übertragene Vorbehaltsaufgaben (bzw. Bezirksaufgaben unter Fachaufsicht) und bezirkseigene Angelegenheiten (bzw. Bezirksaufgaben) ,zugunsten eines Einheitsmodells‘ aufgegeben worden36. Trotz dieser veränderten „Aufgabenrhetorik“ bleibt die eigentliche Stellschraube zur Austarierung des Verhältnisses von Bezirksverwaltung und Hauptverwaltung die Aufsichtskompetenz, die nach der Neufassung des AZG nunmehr als eine Zugriffskompetenz bei Vorliegen eines dringenden Gesamtinteresses ausgestaltet ist; Röber erläutert diese Konstruktion wie folgt37: „Im Zuge dieser Veränderungen haben sich auch die Aufsichtsformen verändert. So unterstehen nach § 8 I AZG nur noch Sonderbehörden und nicht rechtsfähige Anstalten der Fachaufsicht durch die zuständige Senatsverwaltung. Die Bezirksverwaltung unterliegt 33 Rolf-Peter Magen, in: Gero Pfennig / Manfred J. Neumann, Verfassung von Berlin. Kommentar, 3. Aufl., Berlin / New York 2000, Art. 2, Rn 6. 34 Fußnote 30, S. 48. 35 Vgl. zu näheren Erläuterungen Neumann, in: Pfennig / Neumann 2000 (Fußnote 33), Art. 66 / 67, Rn 11. 36 Neumann, in: Pfennig / Neumann 2000 (Fußnote 33), Art. 66 / 67, Rn 28. 37 Fußnote 30, S. 48.

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hingegen nur noch der Bezirks-, aber nicht mehr der Fachaufsicht der Senatsebene. Stattdessen ist allerdings ein Eingriffsrecht ins AZG eingefügt worden, das nach § 13a AZG dem fachlich zuständigen Senatsmitglied in den Fällen, in denen die Bezirke den ,dringenden Gesamtinteressen‘ Berlins zuwiderhandeln, ermöglicht, Aufsichtsinstrumente einzusetzen, die denen der Fachaufsicht nach § 8 III AZG (Informations-, Weisungs- und Eintrittsrecht) entsprechen. Damit ist natürlich die Gefahr verbunden, dass die Senatsverwaltungen dieses Eingriffsrecht extensiv interpretieren und zu einem wesentlich schärferen Instrument als die Fachaufsicht machen. Hierdurch würde faktisch die Position der Bezirke geschwächt werden. In welcher Weise das Eingriffsrecht genutzt werden wird, kann auf Grund der bisherigen Erfahrungen noch nicht zuverlässig beurteilt werden.“

3. Das mehrstufige Berliner Verwaltungsmodell als dynamisches Modell a) Mehrebenensysteme als dynamische Systeme: das Beispiel des deutschen Föderalismus Mehrebenensysteme sind – wie insbesondere Arthur Benz herausgearbeitet hat38 – dynamische Systeme, in denen die Beziehungen zwischen den einzelnen Ebenen einem dauernden Wandel unterworfen sind und zwischen ihnen stets aufs Neue eine situations- und entwicklungsspezifische Machtbalance gefunden werden muss. An der Entwicklung des deutschen föderalen Systems lässt sich dies besonders gut veranschaulichen; sie lässt sich – insbesondere unter Einbeziehung der finanzverfassungsrechtlichen Entwicklungen, die die Achillesferse des Föderalismus darstellen – in sechs Entwicklungsstufen aufteilen, die zugleich Pendelschwünge im Verhältnis des relativen Gesichts von Zentralebene und Gliedstaatenebene markieren39:  Die erste Phase kann als die des separativen Föderalismus bezeichnet werden, gekennzeichnet durch eine klare Trennung der Kompetenzen und der finanziellen Ressourcen (sog. Trennsystem).  Die zweite Phase bezeichnet die Entwicklung zum sog. unitarischen Bundesstaat, eine Phase, in der der Bund mehr und mehr an Gewicht gewinnt, und zwar durch eine kontinuierliche, durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begünstigte „Landnahme“ des Bundes auf dem Gebiet der Gesetzgebungskompetenz.  In der dritten Phase vollzieht sich der explizite Wechsel zum sog. kooperativen Föderalismus, gekennzeichnet durch die Einführung der sog. Gemeinschaftsauf38 Arthur Benz, Föderalismus als dynamisches System. Zentralisierung und Dezentralisierung im föderativen Staat, Opladen 1985. 39 Näher dazu mit weiteren Nachweisen G. F. Schuppert, Die neue Ungleichheit: der deutsche Föderalismus vor neuen Herausforderungen, in: Josef Becker (Hrsg.), Wiedervereinigung in Mitteleuropa, München 1992, S. 219 – 238; derselbe, Maßstäbe für einen künftigen Länderfinanzausgleich, in: Staatwissenschaften und Staatspraxis 1993, S. 26 ff.

10 Baßeler u. a.

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gaben und der Ersetzung des finanzverfassungsrechtlichen Trennsystems durch ein Mischsystem (Einführung der Gemeinschaftssteuern).  Die vierte Phase ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Gegenbewegung gegen die als übermäßig empfundene föderale Politikverflechtung einsetzt, einer stärkeren Trennung der Aufgabenbereiche und ihrer Finanzierung das Wort geredet und zunehmend die Idee eines Wettbewerbsföderalismus diskutiert wird.  Unterbrochen wurde diese Phase durch das politische, rechtliche und finanzielle Großereignis der deutschen Wiedervereinigung, das wegen der gravierenden Entwicklungsunterschiede zwischen West- und Ostdeutschland das Phänomen der sog. neuen Ungleichheit mit sich brachte, eine Ungleichheit, die der Idee des Wettbewerbsföderalismus jedenfalls für eine Übergangszeit den Boden entzog.  Die vorläufig letzte, gegenwärtige Phase ist durch zwei parallel verlaufende Entwicklungen gekennzeichnet, nämlich einmal durch eine deutliche Akzentverschiebung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die auf eine Kompetenzstärkung der Länder hinausläuft (Stichworte: Studiengebühren, Juniorprofessuren) sowie durch die Anstrengungen einer groß angelegten Föderalismusreform, die allerdings bisher40 an den Differenzen in der Bildungsund insbesondere der Hochschulpolitik gescheitert ist.

Durch dieses Beispiel des deutschen Föderalismus in der Wahrnehmung von Pendelschwüngen in Mehrebenensystemen geschärft, soll jetzt ein kurzer Blick auf die Entwicklung des Berliner Mehrebenensystems geworfen werden.

b) Zur Empirie der Pendelschwünge aa) Das Gewicht der Berliner Verwaltungsebenen im Spiegel ihrer Personalausstattung Einer der besten Kenner der Berliner Verwaltung – Horst Kuprath – hat in einem Beitrag über das Berliner Verwaltungsmodell41 den Personalbestand der Hauptverwaltung und der Bezirksverwaltungen gegenübergestellt, um auf diese Weise eine an objektiven Daten ausgerichtete Gewichtung des „Verwaltungsgewichts“ der beiden Ebenen vornehmen zu können. Dabei hat er zunächst die Personalkörper mit einheitlicher Aufgabenstellung und Struktur herausgerechnet – dazu gehören als Löwenanteile die Lehrer und Polizisten mit über 55.000 Stellen – und die folgende, auf diese Weise bereinigte Rechnung aufgemacht und wie folgt kommentiert42:

Geschrieben wurde dieser Beitrag Ende September 2005. Horst Kuprath, Das Berliner Modell einer (de-)zentralisierten Metropole aus der Sicht der Hauptverwaltung, in: Manfred Röber u. a. (Hrsg.), Moderne Verwaltung für moderne Metropolen: Berlin und London im Vergleich, Opladen 2002, S. 215 – 222. 42 Fußnote 41, S. 216. 40 41

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„Nach Abzug der Ministerialverwaltung, von Lehrern, Polizisten, Feuerwehr, Justizvollzug und Steuerverwaltung verbleiben für die Hauptverwaltung 20.000, nach Abzug der Erzieherinnen verbleiben in den Bezirken 29.700 Stellen / Vollzeitäquivalente. Gemessen am Personal ergibt sich also etwa ein Verhältnis von zwei zu drei. Im Vergleich zu den Verhältnissen in den Flächenländern der Bundesrepublik Deutschland ist das immer noch eine starke Zentralinstanz, im Vergleich zu London wird das noch deutlicher.“ Übersicht 4 Stellenzahl und Verteilung auf die Verwaltungsbereiche43 Bereich

Stellenzahl

Land Berlin Stellen insgesamt davon Senatsverwaltungen / Hauptverwaltung minus Ministerialbereich minus Ausnahmebereiche (Deutsche Dienststelle (WASt), Rechnungshof, Abgeordnetenhaus etc.) minus Lehrerbereich minus Polizei minus Feuerwehr minus Justizvollzug minus Steuerverwaltung Hauptverwaltung bereinigt

142.000 97.500 rd. 5.400 1.700 30.300 25.600 4.100 3.100 7.300 20.000

davon Bezirke minus Kita-Breich Bezirke bereinigt

44.500 14.800 29.700

Land Berlin insgesamt ohne geschlossene Personalkörper

49.700

bb) Gewinn- und Verlustlisten für die Ebenen der Haupt- und Bezirksverwaltung Neben diesem Vergleich der Personalstärken ist natürlich die Antwort auf die Frage besonders interessant, welcher Bereich verglichen mit dem anderen an „spezifischem Gewicht“ zuzulegen vermag und welcher Bereich tendenziell in seinem Verwaltungsgewicht schrumpft. Wenn wir den Bericht von Horst Kuprath richtig verstanden haben, so ist man gut beraten, zwischen einer gewissen „Verlagerungsrhetorik“ zugunsten der Bezirke und dem tatsächlichen Gewicht der Kernaufgaben zu unterscheiden; bei Kuprath heißt es dazu – bezogen auf den Stand von Ende 2000 – wie folgt44: „Es sind weitere Aufgabenverlagerungen von der Hauptverwaltung auf die Bezirke geplant, die aber die grundsätzliche Einschätzung nicht verändern werden, dass hier eben43 44

10*

Stand Stellenplan 2000. Fußnote 41, S. 220.

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falls wichtige, aber doch letztlich nur technische Korrekturen vorgenommen werden. Es handelt sich dabei um  weitere Aufgaben des Kraftfahrzeug- und Führerscheinwesens, also Aufgaben aus dem Landeseinwohneramt, deren kleiner Teil bereits zur Übertragung vorbereitet wird und  rein örtliche Aufgaben der Straßenverkehrsbehörde, die derzeit vom Polizeipräsidenten in Berlin wahrgenommen werden, den Vollzug von Aufgaben des Arbeitsschutzes, Gesundheitsschutzes, des Umweltschutzes oder der technischen Sicherheit, die zurzeit zumeist vom Landesamt für Arbeitsschutz und technische Sicherheit wahrgenommen werden. Im Verlaufe des letzten Jahrzehnts ergibt sich allerdings auch eine stattliche Verlustliste für die bezirklichen Zuständigkeiten bzw. Einflussmöglichkeiten durch  den Wechsel der Zuständigkeit für die Lehrerschaft zur Hauptverwaltung am 01. 01. 1995 (mehr als 30.000 Personen),  die Ausgliederung der Bäderbetriebe, Heime und Kindertagesstätten (rd. 2.500 Beschäftigte),  die Ausgliederung von Senioreneinrichtungen (mehr als 3.000 Beschäftigte) und  die voraussichtliche Ausgliederung der Krankenhausbetriebe (rd. 16.000 Beschäftigte, die zwar außerhalb des Stellenplans geführt werden, bei denen die Bezirke aber in den Krankenhauskonferenzen Einfluss haben). Von den freien Trägern wird außerdem immer wieder gefordert, ihren Anteil an den Kindertagesstätten deutlich zu erhöhen.“

Insgesamt kommt Kuprath dabei zu dem Fazit, dass die Aufgabenverlagerungen zugunsten der Bezirke letztendlich nichts an der starken Stellung der Berliner Hauptverwaltung verändert haben45: „Bei der Frage nach den Auswirkungen der bisher gesetzgeberisch entschiedenen, aber noch nicht vollzogenen Aufgabenverlagerung von der Hauptverwaltung in die Bezirke, aber auch bei der in der Vorbereitung befindlichen Verlagerung der Aufgaben der Meldestellen und einiger anderer Aufgaben – dort vielleicht mit einiger Zurückhaltung – kann doch gesagt werden, dass die Einheitsgemeinde mit Sicherheit keinen Schaden nehmen wird. Bei diesen Aufgabenverlagerungen handelt es sich nicht um Aufgaben, denen man eine prägende Wirkung zumessen kann. Es handelt sich eher um technische Korrekturen, an die die Erwartung geknüpft wird, dass damit der Serviceauftrag öffentlicher Verwaltung ortsnäher erfüllt wird.“

III. Management unterschiedlicher Sozialräume als Governance-Problem Metropolen sind nicht nur faszinierende Verkehrsräume, in denen der Stadt über der Erde eine Stadt unter der Erde46 mit Tunneln47, Abwasserkanälen und 45 46

Fußnote 41, S. 221. Vgl. R. Daley, The World Beneath the City, New York 1959.

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U-Bahnen48 entspricht, eine Metropole ist zugleich – wie jeder nach Berlin Zugezogene täglich spürt – ein spezifischer Kulturraum und ein Sozialraum, der sich ausdifferenziert in die Gegenden des wohlhabenden Bürgertums und die „Quartiere des Elends und Verbrechens“49. Was zunächst die Metropole als Kulturraum angeht, so finden sich dazu lesenswerte Ausführungen in einem Beitrag von Rolf Lindner50, die nicht nur veranschaulichen, wie flüssig und facettenreich ein solcher Kulturraum ist, sondern wie schwierig es für eine normalerweise im gegenständlichen und abgrenzbaren Verwaltungsbereichen denkende Verwaltung ist, es nicht mit einer „Container Kultur“, sondern mit einer in räumlichen Grenzen nur schwer fassbaren „cultural sphere“51 zu tun zu haben; bei Lindner heißt es dazu wie folgt52: „Was macht also eine Metropole aus? Ist es die schiere Größe gemessen an Zahl, Dichte, Ausdehnung? Ist es der administrativ-politische Komplex einer Kapitale? oder ist es die wirtschaftliche Funktion einer Kommandozentrale des internationalen Kapitals im Sinne der global city? Eine Metropole kann alles dies sein, wie wir es in unterschiedlicher Ausprägung und Mischung im Fall von London und Paris kennen, aber sie muss es nicht sein, abgesehen von einer gewissen Mindestgröße als Voraussetzung für die notwendige innere Differenzierung. Die Metropole ist ein Gebilde, dem mit einer Verwaltungsdefinition nicht beizukommen ist. Mehr noch: es existiert schlicht keine Verwaltungsdefinition der Metropole ,wie sie für alle Siedlungsgebilde vom Dorf an aufwärts selbstredend eingeführt ist‘ wie es bei Gerwin Zohlen heißt53. Man mag diesen Mangel als ein Indiz dafür nehmen, dass es sich bei der Metropole gar nicht vorrangig um ein besonderes Siedlungsgebilde handelt, sondern um ein kulturelles Konstrukt, für das Legenden (von bedeutenden Personen und wichtigen Ereignissen) und Mythen (von Helden und Schurken) konstruktiv sind. Hauptstadt wird man per Dekret. Global City durch Beschluss der Konzernzentralen. Metropole aufgrund einer Mythologie. ,Viele ziehen nur deshalb in die Stadt, um ein Teil dieser Mythologie zu werden‘ schreibt György Konrad. Ohne Subjekt von Romanen, Gedichten und Citylore, von Spielfilmen, TV-Serials und Popsongs zu sein, ist eine Metropole kaum vorstellbar; nur sie erreicht, wie Daniel Kiecol betont54, ,eine Stufe der Mythologisierung, die die eigentliche Stadt hinter ihrer Symbolkraft verschwinden lassen konnte‘. Eine Metropole ist als eine totale kulturelle Tatsache zu verstehen, eine im jeweiligen nationalen (und heute mehr und mehr im internationalen) Maßstab singuläre Zusammen47 Margaret Morton, Der Tunnel. Die Obdachlosen im Untergrund von New York City, München 1996. 48 Marc Augé, Ein Ethnologe in der Metro. Frankfurt am Main / New York 1988. 49 Emil Klaeger, Durch die Wiener Quartiere des Elend und Verbrechens, Wien 1908. 50 Rolf Lindner, Die Kultur der Metropole, in: humboldt spektrum, Heft 2 / 2005, S. 22 – 28. 51 Zu den Grenzen des räumlichen Denkens siehe Martina Löw, Soziologie des Raumes, Frankfurt a. Main / New York 2003. 52 Fußnote 50, S. 27 / 28. 53 Gerwin Zolen, Metropole als Metapher, in: Gotthard Fuchs (Hrsg.), Mythos Metropole, Frankfurt am Main, S. 23 – 34. 54 Daniel Kiecol, Selbstbild und Image zweier europäischer Metropolen: Paris und Berlin zwischen 1900 und 1930, Frankfurt am Main u. a. 2001.

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ballung kultureller Potenzen und Ressourcen an einem vor der Geschichte ausgezeichneten Ort. Die Besonderheit einer solchen totalen kulturellen Tatsache besteht in der Orientierungsfunktion, die die Metropole für die Gesellschaft, für das gesamte so genannte ,Hinterland‘ ausübt. Eine Metropole braucht kein Leitbild, sie ist das Leitbild. Man schaut, um in der Metaphorik des Bildes zu bleiben, auf eine Metropole, um Kenntnis zu gewinnen von neuen Ideen, von Innovationen, Lebensstilen, Trends, um sich darüber in Kenntnis zu setzen, was sich ,tut‘, was ,angesagt‘ ist, was uns, im Positiven wie im Negativen, ,bevorsteht‘. Die Metropole ist also, anders gesagt, das wichtigste kulturelle Medium einer Gesellschaft.“

Aber nicht die Metropole als Kulturraum soll im folgenden im Vordergrund stehen, sondern die Metropole als eine Zusammenballung von Sozialräumen höchst unterschiedlicher sozialer Konsistenz; dieser am Beispiel Berlins leicht zu erhebende Befund stellt nicht nur ein soziales Problem dar, sondern zugleich ein zentrales Governanceproblem, das an die Metropolenverwaltung hohe Ansprüche im Hinblick auf ihre Verwaltungskompetenz als auch ihre soziale Kompetenz stellt.

1. Zur sozialen Binnendifferenzierung von Metropolen am Beispiel Berlins Bevor ein Blick in den insoweit äußerst materialreichen Berliner Sozialstrukturatlas55 geworfen werden soll, mag ein Bericht der Berliner Zeitung vom 1. Juni 200556 illustrieren, wie vielfältig und komplex die Aufgabe von Sozialgovernance in Metropolen ist.

a) Quartiersmanagement als interaktiver Kommunikationsprozess Sozialgovernance ist – und darauf wird sogleich noch zurückzukommen sein – keine Governanceform vom Typ „command and contral“ und kann dies auch nicht sein; die Verwaltungsaufgabe „Verbesserung der Sozialstruktur“ in sozial schwachen Gebieten und „Verhinderung der Verslumung“ in prekären Stadtteilen kann nicht „per ordre de mufti“ erledigt werden, sondern erfordert die „aufsuchende Beteiligung“ der dort lebenden Einwohner, ihre Aktivierung und Einbeziehung in die Stadtteilspolitik, das Knüpfen von Netzwerken unter Beteiligung aller relevanten Akteure und eine präventive Strategie, mit der verhindert werden kann, dass gefährdete Gebiete „umkippen“ und damit erst zum Sanierungsfall werden; all dies kommt sehr schön in dem schon angesprochenen Artikel der Berliner Zeitung zum Ausdruck, in dem es unter der Überschrift „Mehr Geld für sozial schwache Stadtteile. Quartiersmanagement wird ausgeweitet“ wie folgt heißt57: 55 Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz (Hrsg.), Sozialstrukturatlas Berlin 2003, Berlin 2004. 56 Nr. 125, S. 20. 57 Fußnote 56, S. 20.

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„Der rot-rote Senat verstärkt seine finanzielle Hilfe für Stadtteile, die sozial besonders belastet sind. 16 neue Gebiete werden nun in das Quartiersmanagement aufgenommen, mit dem die Landesregierung seit fünf Jahren versucht, Stadtteile zu stabilisieren und die Bewohner für ihre Viertel zu interessieren. ,Wir glauben, dass es durch koordiniertes Zusammenspiel der wichtigsten Akteure vor Ort gelingt, wieder lebenswerte Quartiere zu entwickeln‘, sagte Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) nach der Senatssitzung. In den neuen und erweiterten Gebieten leben 159.000 Menschen. Seit 1999 gibt es schon 17 Gebiete mit rund 226.000 Einwohnern, in denen Quartiersmanager tätig sind. Die Senatsverwaltung unterteilt die neuen Gebiete künftig in verschiedene Kategorien. In manchen Stadtteilen zeichnet sich eine problematische soziale Entwicklung ab, so dass die Quartiersmanager präventiv tätig werden sollen. Gebiete wie der Mehringplatz in Kreuzberg oder die Mehrower Allee in Marzahn-Hellersdorf werden deshalb der Kategorie Prävention zugeordnet. In anderen Gebieten haben sich die Probleme mit hoher Arbeitslosigkeit oder verwahrlostem Umfeld schon aufgebaut. Diese Gebiete gehören zur Kategorie Intervention, wo ein staatliches Eingreifen als dringend erforderlich angesehen wird – beispielsweise am Mariannenplatz in Kreuzberg oder der Brunnenstraße in Mitte. Doch der Senat will die Probleme nicht allein lösen. Zentrales Ziel ist es, die Menschen, die in dem jeweiligen Stadtteil leben, zu aktivieren. Sie sollen sich für die Gestaltung ihres Viertels verantwortlich fühlen und mitentscheiden.“

b) Die Messung der Sozialstruktur der Berliner Bezirke: zum Verhältnis von Sozial- und Statusindex Der Berliner Sozialstrukturatlas arbeitet mit zwei Indizes, dem Sozialindex und dem Statusindex. Was zunächst den Sozialindex angeht, so misst er den Grad der sozialen Schwäche eines Bezirkes vor allem anhand der Variablen „Umfang des Einkommens, Arbeitslosenquote und Anteil der Sozialhilfeempfänger“; im Atlas heißt es dazu erläuternd wie folgt58: „Im Einzelnen reproduziert der Sozialindex für die alte und neue Bezirksstruktur folgende Variablen: (positive Korrelation)  Männer an der Bevölkerung  Personen im Alter von 18 bis unter 35 Jahren an der Bevölkerung  Ausländische Personen (ohne EU-Ausländer) an der Bevölkerung  1-Personen-Haushalte im Alter bis unter 65 Jahren an allen Haushalten  Personen ohne beruflichen Ausbildungsabschluss an der Bevölkerung  Arbeitslosenquote  Arbeiter an den Erwerbstätigen  Sozialhilfeempfänger (Hilfe zum Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen) an der Bevölkerung  Personen mit Einkommen unter 500 A an der Bevölkerung  Vorzeitige Sterblichkeit  Gemeldete Tbc-Fälle (offene) je 100.000 der Bevölkerung 58

Fußnote 55, S. 22.

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(negative Korrelation)  Personen im Alter von 35 bis unter 65 Jahren an der Bevölkerung (nur Ebene 12 Bezirke)  Personen von 65 und mehr Jahren an der Bevölkerung  Personen mit überwiegendem Lebensunterhalt aus Rente / Pension an der Bevölkerung  Mittleres Pro-Kopf-Einkommen  Mittleres Haushaltsnettoeinkommen  Lebenserwartung Die Variablenkonstellation ist so zu interpretieren, dass Gebiete mit z. B. einer hohen Arbeitslosenquote, einem hohen Anteil von Sozialhilfeempfängern, ausländischen Personen usw. gleichzeitig ein geringes Pro-Kopf-Einkommen und eine geringe Lebenserwartung aufweisen.“ Was den Statusindex betrifft, so spielen in ihm die folgenden Variablen eine zentrale Rolle59: „Der zweite Faktor weist eine sehr hohe Korrelation mit Schul- und Ausbildungsabschlüssen und jungen Bevölkerungsgruppen auf, er wird deshalb als Statusindex bezeichnet. Die folgenden Variablen prägen den Index: (positive Korrelation)  Personen im Alter von 18 bis unter 35 Jahren an der Bevölkerung (nur Ebene 23 Bezirke)  1-Personen-Haushalte im Alter bis unter 65 Jahren an allen Haushalten  Alleinerziehende Haushalte mit Kindern unter 18 Jahren an Familien mit Kindern der entsprechenden Altersgruppe  Personen mit (Fach-)Hochschulreife an der Bevölkerung  Personen mit (Fach-)Hochschulabschluss an der Bevölkerung  Angestellte an den Erwerbstätigen (nur Ebene 23 Bezirke)  Selbständige und mithelfende Familienangehörige an den Erwerbstätigen (negative Korrelation)  Personen im Alter von unter 18 Jahren an der Bevölkerung  Personen im Alter von 35 bis unter 65 Jahren an der Bevölkerung (nur Ebene 23 Bezirke)  Haushaltsgröße  Personen mit Volks- / Hauptschulabschluss an der Bevölkerung  Arbeiter an den Erwerbstätigen Die Variablenkonstellation ist so zu interpretieren, dass Gebiete mit z. B. einem hohen Anteil von Personen mit (Fach-)Hochschulreife und -abschluss, einem hohen Angestelltenanteil usw. gleichzeitig einen geringen Anteil Kinder ausweisen.“

Was nun das Verhältnis von Sozial- und Statusindex angeht, so lassen sich für die alte Bezirksstruktur (23 Bezirke) die folgenden Beobachtungen beschreiben60:  „Sechs der insgesamt 14 Bezirke mit einem über dem Berliner Durchschnitt liegenden Sozialindex weisen gleichzeitig einen positiven Statusindex auf (Zehlendorf, Steglitz, Wilmersdorf, Pankow, Lichtenberg, Charlottenburg). Für diese Bezirke gilt: Geringe 59 60

Fußnote 55, S. 25. Fußnote 55, S. 32.

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soziale Belastung – ausgedrückt in geringen Anteilen von Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern, Ausländern usw. – gleichzeitig hohe Anteile von höherwertigen Schul- und Berufsabschlüssen, 1-Personen-Haushalten sowie geringe Kinder- und Jugendanteile.  Bezirke mit schlechten Sozialindizes – wie Kreuzberg, Wedding, Tiergarten und Neukölln – weisen gleichzeitig niedrige Statusindizes auf. Hier treffen hohe Arbeitslosenquoten, niedrige Einkommen, schlechter Gesundheitszustand usw. mit hohen Kinder- und Jugendanteilen, großen Haushalten und hohen Arbeiteranteilen unter den Erwerbstätigen zusammen.  Eine Ausnahme bilden die östlichen Innenstadtbezirke Friedrichshain, Prenzlauer Berg und Mitte: Den unterdurchschnittlichen Sozialindizes stehen die höchsten Statusindizes gegenüber. Das deutet darauf hin, dass sich die dort insbesondere vorhandenen Bildungspotentiale und die große Zahl von Singlehaushalten häufig über Arbeitslosen- und Sozialhilfegelder finanzieren. Diese Bezirke gelten als beliebte Wohngebiete unter Studenten und anderen in der Ausbildung befindlichen Personen.“

2. Metropolitan Governance als betreuende, beratende, moderierende und kommunizierende Verwaltung: das Beispiel Hamburgs Im folgenden greife ich auf Überlegungen zurück, die ich vor etwa zehn Jahren als Bestandteil eines Beitrages über typische Probleme großstädtischer Aufgabenerfüllung angestellt habe61 und die – noch einmal gelesen – aktueller denn je erscheinen; an vier Beispielen habe ich in diesem Beitrag zu zeigen versucht, wie sich die Tatsache, dass Metropolenverwaltungen durch den sozialen Wandel besonders gefordert sind und dass sie diesen Wandel nicht direkt, sondern nur mittelbar steuern können, auf die Art des Verwaltens in Ballungsräumen auswirkt, also insbesondere auf die Instrumente, deren sich die Verwaltung bedient, um mit Problemregionen und ihren Bewohnern angemessen umzugehen.

a) Bekämpfung der Armut Das erste Beispiel ist das der Bekämpfung der Armut, die in der Metropolregion Hamburg wie in allen anderen vergleichbaren Großstädten ein großes Problem darstellt62. Die Stadtentwicklungsbehörde Hamburg hatte daher „Maßnahmen zur Armutsbekämpfung als Bestandteil sozialer Stadtentwicklung“ vorgeschlagen63, die sich lesen, als wären sie als eine praktische Illustration zu der in unserer „Verwaltungswissenschaft“ skizzierten Funktionenvielfalt moderner Verwaltung ge61 G. F. Schuppert, Organisation großstädtischer Aufgabenerfüllung – Nationale und internationale Erfahrungen, in: Dietrich Budäus / Gunther Engelhardt (Hrsg.), Großstädtische Aufgabenerfüllung im Wandel, Baden-Baden 1996, S. 108 – 139. 62 Vgl. näher Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales (Hrsg.), Armut in Hamburg. Beiträge zur Sozialberichterstattung, Hamburg 1993. 63 Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, Maßnahmen zur Armutsbekämpfung als Bestandteil sozialer Stadtentwicklung. Senatsdrucksache Nr. 94 / 0829, Hamburg 1994.

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dacht64, und zwar zum Kapitel „Verwaltung als Moderator und Netzwerkpartner“; zur Erläuterung der vorgeschlagenen, in acht Pilotprojekten zu verwirklichenden Maßnahmen heißt es im Begründungsteil des Maßnahmenkataloges wie folgt: „In den Pilotgebieten sollen geeignete Handlungsansätze, Kooperationsformen und Entscheidungsabläufe entwickelt und ausprobiert werden, um einerseits Ansatzpunkte für sinnvolle Änderungen vorhandener Programme, Maßnahmen oder Förderungsmodalitäten zu finden und andererseits neue Möglichkeiten einer sinnvollen Arbeitsteilung zwischen Verwaltung, intermediären Organisationen, privaten Unternehmen und Verbänden zu entwickeln.“

Im Sinne einer solchen sinnvollen Arbeitsteilung liege es, die lokalen Strukturen zu stabilisieren und zu unterstützen, um die ihnen innewohnende Problemlösungskapazität zu nutzen; dazu wird – was im Zusammenhang zitierenswert ist – folgendes ausgeführt: „In den Pilotgebieten ergeben sich im Sinne der Leitziele somit die folgenden Aufgaben: 1. Organisation sozialer Integration auf lokaler Ebene, 2. Herausarbeiten von Synergieeffekten, 3. Stimulation der gebietseigenen Potentiale; Aufbauen und Stützen lokaler Partnerschaften; Anregungen von Selbsthilfe und Selbstorganisation, 4. Erfolgskontrolle. Für die Projektentwicklung, das Herstellen und Nutzen von Synergieeffekten und das Anregen der Selbsthilfe ist ein Projektmanagement notwendig, das quer zu den traditionellen Verwaltungsstrukturen angelegt ist, das flexibel und situationsnah agiert. Zu diesem Zweck werden in den Pilotgebieten Projektentwickler beauftragt bzw. vorhandene Einrichtungen (z. B. das Stadtteilbüro) gezielt gefördert und ausgestaltet. Der Projektentwickler ist vor Ort als Ansprechpartner präsent. In verschiedenen Pilotgebieten sind bereits Strukturen geschaffen worden, die diesem Anspruch weitgehend Rechnung tragen. Je nach Ausgangslage des Quartiers, den vorhandenen Strukturen und dem Stand der begonnenen Handlungsansätze sollte der Projektentwickler grundsätzlich folgende haben:  Organisation von Kommunikationsprozessen und Konfliktmanagement zwischen den beteiligten Akteuren.  Projektentwicklung auf der Basis der gebietsspezifischen Sozial-, Problem- und Infrastruktur möglichst auch unter Beteiligung privat-wirtschaftlicher Akteure (ihre Mitwirkung könnte in einer finanziellen Unterstützung, organisatorischen Unterstützung oder in der Übernahme von Patenschaften u. a. liegen) und Moderation der Umsetzung von Handlungskompetenzen.  Koordination der verschiedenen fachpolitischen beschäftigungswirksamen Möglichkeiten bezogen auf das Pilotgebiet und die Organisation von Bewohnerbeteiligung und Gemeinwesenarbeit, (aufsuchende Beteiligung).  Vernetzung lokaler Akteure untereinander und mit staatlichen Handlungsebenen sowie privaten Partnern, d. h. Koordination der verschiedenen vor Ort tätigen Träger, Initiativen, Vereine (z. B. um Verbindungen zwischen Beschäftigungsprojekten und Wohn64 G. F. Schuppert, Verwaltungswissenschaft. Verwaltung, Verwaltungsrecht, Verwaltungslehre, Baden-Baden 2000.

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umfeldverbesserungen herzustellen wie im Arbeitsladen Heimfeld-Nord, Existenzgründerbörsen oder ,social investment-Projekte‘ zu initiieren).“

Auch bei der angestrebten Verbesserung der Beschäftigungsmöglichkeiten in benachteiligten Gebieten heißen die Vokabeln Förderung und Beratung, Anregung und Organisation: „Die Förderung des gewerblichen Bestandes ist dabei eine vorrangige Aufgabe. Zu dieser Bestandsförderung gehören je nach der Ausgangslage in den benachteiligenden Gebieten der Stadt die folgenden Handlungsansätze:  Entwicklung neuer Gewerbestandorte (z. B. Gewerbehofkonzepte, Bereitstellung von Gewerbeflächen durch Aktivierung von Brachen),  Förderung und Beratung von Existenzgründern (Beschaffung von Räumen, Finanzierungsberatung etc.),  Organisation von Betriebsberatungen, insb. für kleine Betriebe, Anregen von Interessengemeinschaften für die lokalen Gewerbetreibenden,  Förderung eines Ausgleichs zwischen Beschäftigungsangebot und -nachfrage.“

b) Ausländerbetreuung und Ausländerintegration Zunächst zum Befund. Der steigende Ausländeranteil ist ein typisches Problem von Ballungsräumen, so auch von Hamburg. In dem Bericht über die „Lebenssituation der ausländischen Mitbürger und Mitbürgerinnen in Hamburg“ vom 17. 8. 199365 heißt es dazu: „Die Zahl der im Hamburg lebenden Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit ist zwischen 1981 und 1992 von rund 167.000 auf rund 256.400, das heißt um 53 v.H., angestiegen. Der Ausländeranteil erhöhte sich in diesem Zeitraum von 9,8 auf 15,0 v.H. Der Anteil der Ausländerinnen und Ausländer aus den ehemaligen Hauptanwerberländern sank in dieser Periode von 61,5 auf 50,0 v.H. Dass immer mehr ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger ihren Lebensmittelpunkt in Hamburg gefunden haben, wird daran deutlich, dass der Anteil der ausländischen Hamburgerinnen und Hamburger, die zehn Jahre und länger hier leben, von 1981 bis 1992 von rund 38 v.H. auf 63 v.H. zugenommen hat.“

Dieser ständig zunehmende Ausländeranteil an der Bevölkerung bei weiter verfestigtem Aufenthaltsstatus erfordert Aktivitäten einer beratenden und betreuenden Verwaltung mit Integrations- und Betreuungsangeboten: „Der Senat wird seine Ausländerpolitik deshalb auch künftig darauf ausrichten, Angebote für eine Integration der hier langfristig oder auf Dauer lebenden ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger fortzusetzen sowie rechtliche und faktische Gleichstellungshemmnisse für diese Zielgruppe abzubauen. Für diejenigen Ausländerinnen und Ausländer, die ein zeitlich begrenztes Aufenthaltsrecht besitzen, sind je nach ihrer konkreten Situation entsprechende Betreuungsangebote erforderlich.“ 65 „Lebenssituation der ausländischen Mitbürger und Mitbürgerinnen in Hamburg“, Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg vom 17. 08. 1993 (Drucksache 14 / 4595).

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Die zunehmend ausgeweiteten Angebote zur Förderung der sozialen Integration werden vor allem in Zusammenarbeit mit und durch die finanzielle Förderung von außerstaatlichen Organisationen, vor allem des Dritten Sektors, bereitgestellt: „Die Angebote zur Förderung der sozialen Integration ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger im außerstaatlichen Bereich sind seit 1981 erheblich ausgeweitet worden. Die von der Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales für freie Träger bereitgestellten Mittel sind von knapp 2,1 Mio. DM im Jahre 1981 (Ist) auf knapp 5,6 Mio. DM in 1993 (Soll) angestiegen. Hierzu gehören die Sozialberatung für ausländische Arbeitnehmer und ihre Familien aus den ehemaligen Anwerbestaaten durch die Wohlfahrtsverbände sowie die arbeits- und sozialrechtliche Beratung des DGB, die von allen ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Anspruch genommen werden kann. Der größte Ausgabenblock entfällt jedoch auf die Begegnungsstätten.“

Eine zentrale Rolle spielen Deutsch-Ausländische Begegnungsstätten und die finanzielle Förderung des Vereinslebens der ausländischen Mitbürger und anderer Formen ihrer Selbstorganisation: „Von 1978 bis 1990 sind in Hamburg schwerpunktmäßig in Stadtteilen mit überdurchschnittlich hohen Ausländeranteilen insgesamt acht Deutsch-Ausländische Begegnungsstätten sowie zwei Internationale Frauenbegegnungsstätten eingerichtet worden. Für die Arbeit dieser Zentren stehen 1993 rund 4 Mio. DM zur Verfügung. Neben ihren Beiträgen zur Förderung der Integration ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger sollen die Deutsch-Ausländischen Begegnungsstätten die Begegnung zwischen Deutschen und Ausländerinnen und Ausländern und damit ein besseres gegenseitiges Verstehen und Zusammenleben fördern.“

c) Effektive Sozialhilfe Dramatisch hohe und ständig wachsende Sozialhilfekosten sind ein weiteres typisches Großstadtproblem,66 natürlich auch in Hamburg. Konsens besteht auch über die Hauptursache dieser Kostenexplosion, nämlich den Funktionswandel der Sozialhilfe67 von der Individualhilfe zum letzten Sozialnetz für Dauerhilflose und solche – Stichwort: Dauerarbeitslosigkeit –, die durch andere soziale Netze hindurchgefallen sind. Von daher muss Interesse daran bestehen, die Kosten der Sozialhilfe zu senken und sie – soweit dies möglich ist – auf ihre ursprüngliche Funktion der Hilfe zur Selbsthilfe zurückzuführen. Der Modellversuch „Effektive Sozialhilfe der Behörde Arbeit, Gesundheit und Soziales68 war und ist ein verwaltungswissenschaftlich interessanter Versuch, Einsparungszwänge, Besinnung auf die Eigenart des „Produkts“ Sozialhilfe und daraus folgende Organisations- wie Personalarrangements miteinander zu verbinden. 66 Vgl. dazu Aloys Prinz, Die Finanzierung der Sozialhilfe im Finanzverbund zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, Finanzarchiv N.F. 41, 1983, S. 431 – 451. 67 Vgl. Stefan Korioth, Beteiligung des Bundes an den Sozialhilfekosten?, in: Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl.), 108. Jg., 1993, S. 356 – 364 mit weiteren Nachweisen. 68 Vgl. Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales (Hrsg.), Wege aus der Armut finden und gehen. Modellversuch „Effektive Sozialhilfe“, Informationsbroschüre, Hamburg 1993.

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In der Informationsbroschüre der Sozialbehörde heißt es zu Idee und Verfahren dieses Modellversuchs und insbesondere zur Vorstellung von Sachbearbeitern als Hilfemanagern wie folgt: „Wir haben seit Jahren als Einzelne oder in Abteilungen darüber nachgedacht, wie die Arbeit in Hamburgs Sozialämtern effektiver gemacht werden kann. . . Aber noch ist es so, dass wir die Probleme und Notlagen der Bürger überwiegend nur verwalten. Der Modellversuch ,Effektive Sozialhilfe‘ will erreichen, dass in Hamburgs Sozialämtern zukünftig Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter als Hilfemanager tätig sind, die bei optimaler Nutzung der vorhandenen Angebote Menschen zu einem von der Sozialhilfe unabhängigen Leben hinführen. Hilfe zur Selbsthilfe und ,persönliche Hilfe und Beratung‘ haben im Modellversuch hohe Priorität. Außerdem versprechen wir uns durch den Modellversuch fachliche und finanzpolitische Antworten auf die Frage, wie und in welchem Umfang wir Armut in Hamburg effektiver überwinden und dadurch Geld sparen können.“

Zu den Funktionen dieser Hilfeplaner und zum Ablauf des Modellversuchs heißt es: „Als kompetente Hilfeplanerinnen und Hilfeplaner haben sie den individuellen Hilfebedarf ihrer Klienten genau im Auge. Sie entscheiden darüber, zu welchem Zeitpunkt welche Hilfen in welchem Umfang von welcher Stelle zu leisten sind, damit die betroffenen Bürger das Ziel, von Sozialhilfe unabhängig zu werden, auch tatsächlich erreichen. Dieser Schlüsselposition der Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter will der Modellversuch volle Geltung verschaffen. Damit ist auch das Ziel verbunden, zukünftig eine größere Nähe zwischen Praxis- und Fachebene innerhalb der Sozialverwaltung herzustellen. Die neuen Strukturen sollen auf alle Hamburger Sozialämter übertragen werden. Die am Modellversuch Beteiligten sind die ,change agents‘, die nach Beendigung des Modellversuchs in einem Jahr die neue Bewegung in anderen Sozialämtern weitertragen werden.“

d) Drogen- und Suchthilfe „Hilfesysteme müssen – so zutreffend der Suchtbericht des Drogenbeauftragten des Hamburger Senats69 – darauf zielen, ihre Klienten möglichst frühzeitig, in einer den jeweiligen Lebenssituationen der Betroffenen adäquaten und effektiven Weise zu erreichen. Einem alten Grundsatz der Sozialpädagogik zufolge geht es darum, die Klienten stets so anzunehmen und dort abzuholen, wo sie stehen.“ Erreichbarkeitshürden dürfe es nicht geben. Gerade unter diesem wichtigen Gesichtspunkt der Erreichbarkeit der Klienten und insbesondere der Konsumenten illegaler Drogen ist es sinnvoll, als Anbieter von Hilfe- und Beratungsprogrammen – nicht primär die staatliche Verwaltung selbst, sondern – wiederum – Organisationen des Dritten Sektors einzuschalten, weil sie von den Hilfebedürftigen in aller Regel besser angenommen werden.70 Der Drogenbeauftragte des Senats (Hrsg.), Suchtbericht, Hamburg, Mai 1994. Vgl. Sten Kuhnle / Per Selle (Hrsg.), Die Beziehungen zwischen Staat und gemeinnützigen Organisationen in Norwegen, in: Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft, Bd. 4, 1990, S. 275 – 298. 69 70

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Drogen- und Suchthilfe ist daher eine in hohem Maße auf arbeitsteilige Koordination und Kooperation angewiesene Verwaltungsaufgabe; im schon zitierten Suchtbericht heißt es zur Kooperation in der Suchtprävention wie folgt: „Wie bereits anlässlich der Fortschreibung des Landesprogramms Drogen berichtet, wurde zu Beginn des Jahres 1991 im Rahmen der interbehördlichen Koordinierung ein regelmäßig tagender Präventionsausschuss eingerichtet, dem neben den Vertretern der Behörden auch Mitarbeiter von Freien Trägern und Krankenkassen angehören. Die Geschäftsführung dieses Ausschusses wurde im Januar 1994 dem neu geschaffenen Büro für Suchtprävention bei der Landesstelle gegen die Suchtgefahren übertragen. Der sodann als Fachausschuss Suchtprävention konstituierte Ausschuss wurde inzwischen erweitert, so dass nun Vertreter von ca. 40 verschiedenen Institutionen und Einrichtungen an den Sitzungen teilnehmen. Ziel des Fachausschusses ist es, die bisherige Arbeit auf eine noch breitere Basis zu stellen, die unterschiedlichen Aspekte suchtpräventiver Arbeit zusammenfassen, um so zu einer weiteren Optimierung der Vernetzung präventiver Aktivitäten zu gelangen. Hierbei ist besonders die verstärkte Zusammenarbeit unterschiedlicher Projekte, Institutionen und Träger bei einzelnen Aktionen zu betonen, die eine Umsetzung der im Landesprogramm Drogen formulierten Leitlinien zur Drogen- bzw. Suchtprävention sicherstellt.“

Überlebenshilfe und Beratung im Drogenbereich müssen – orientiert am Kriterium der Erreichbarkeit – „niedrigschwellig“ (so der Fachausdruck) und vor Ort angeboten werden, und zwar – so in Hamburg – in drei Varianten: Niedrigschwellige Kriseninterventionszentren existieren in jenen Stadtteilen, in denen es sog. offene Drogenszenen gibt (St. Georg und St. Pauli). Es handelt sich hier um das DROB INN in St. Georg und das STAY ALIVE in St. Pauli, beide in der Trägerschaft des Vereins Jugendhilfe e.V. Beide Einrichtungen haben einen öffentlichen und einen nicht-öffentlichen Bereich, bieten medizinische Versorgung und beschäftigen jeweils 7 bis 12 Fachkräfte. Neben einer breiten Palette von Beratungsangeboten gibt es die Gelegenheit zum Spritzentausch (60.000 bis 80.000 im Monat je Einrichtung). Außerdem gibt es eine Vielzahl von stadtteilorientierten Kontakt- und Beratungszentren wie z. B.: – VIVA WANDSBEK: Trägerverein Jugendhilfe, – Beratungsstelle HORIZONT: in der Trägerschaft der Drogenhilfe Wilhelmsburg e.V., – DROGENHILFE EIMSBÜTTEL e.V.: Trägerschaft des gleichnamigen Vereins, – Beratungsstelle KODROBS in Altona: Träger ist der Verein ,Jugend hilft Jugend‘, – Beratungsstelle HUMMEL des Sozialtherapeutischen Zentrums (STZ): Trägerin ist die Martha-Stiftung Hamburg, – Beratungs- und Behandlungsstelle OSDORFER BORN: Trägerin ist die Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde.

Diese Beispiele mögen hier genügen; im Suchtbericht finden sich noch viele andere mehr.

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Darüber hinaus gibt es noch spezielle Beratungsangebote für Frauen wie etwa die Beratungsstelle Frauenperspektiven: Trägerschaft des gleichnamigen Vereins in Altona Kontakt- und Beratungsstelle RAGAZZA e.V.: Trägerschaft des gleichnamigen Vereins in St. Georg.“ Nachdem wir nunmehr vor allem diejenigen Governance-Probleme kennengelernt haben, die sich aus den sozialen Problemen von Metropolregionen ergeben, soll im folgenden versucht werden, eine Art zusammenfassenden Überblick über die Besonderheiten großstädtischer Aufgabenerfüllung zu geben, wobei wir uns wiederum vornehmlich am Beispiel Hamburgs orientieren.

IV. Besonderheiten großstädtischer Aufgabenerfüllung im Überblick 1. Zur Aufgabenabhängigkeit von Verwaltungsorganisation und Governancestrukturen Wenn im Folgenden – unsere bisherigen Überlegungen zusammenfassend und weiterführend – von den Besonderheiten großstädtischer Aufgabenerfüllung die Rede sein soll, so liegen denen zwei leicht erkennbare Grundannahmen zugrunde: Erstens die Annahme, dass die Frage nach der „richtigen“ Verwaltungsorganisation von den Aufgaben der Verwaltung her gedacht und beantwortet werden muss. Darüber besteht eigentlich auch Konsens. So heißt es etwa im ersten Satz der 1939 erschienenen Schrift von Arnold Köttgen über „Die rechtsfähige Verwaltungseinheit“71 ebenso bündig wie zutreffend: „Die Organisation eines Staates wird immer durch die Aufgaben bestimmt werden, die diesem Staat gestellt worden sind.“ Und Rainer Wahl spricht in dem 1993 erschienenen Sammelband über die „Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts“ zu Recht von der „Aufgabenabhängigkeit von Verwaltung und Verwaltungsrecht“72. Auch das sog. Neue Steuerungsmodell73 kann als Beleg herangezogen werden; in ihm wird zwar nicht von den Aufgaben der Verwaltung gesprochen, sondern – was auf dasselbe hinausläuft – von den Produkten, die eine als Dienstleistungsunternehmen verstandene Verwaltung anbietet. Gerade das neue Steuerungsmodell ist ein lehrbuchmäßiges Beispiel für den stets von uns hervorgehobenen Zusammenhang von Aufgaben, Organisation, Personal und Finanzen der VerwalArnold Köttgen, Ein Beitrag zur Lehre der mittelbaren Reichsverwaltung, Berlin 1939. In: Wolfgang Hoffmann-Riem / Eberhard Schmidt-Aßmann / Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts. Grundfragen, Baden-Baden 1993, S. 177 ff. 73 Christoph Reichard, Umdenken im Rathaus, neue Steuerungsmodelle in der deutschen Kommunalverwaltung. Schriftenreihe: Modernisierung des öffentlichen Sektors, Carl Böhret u. a. (Hrsg.), Band 3, 3. Aufl., Berlin 1995. 71 72

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tung74 oder – wie man es jetzt formulieren würde – von Verwaltungsaufgaben und Governancestrukturen. Zweitens die Annahme, dass es organisationsrelevante Besonderheiten großstädtischer Aufgaben gibt,75 Besonderheiten, die es sinnvoll erscheinen lassen, nicht einfach über die Verwaltungsorganisation als solche zu sprechen, sondern – und dies ist ja mein Thema – über Governanceprobleme großstädtischer Aufgabenerfüllung. Es ist daher unverzichtbar, über großstädtische Aufgaben nachzudenken, um von da aus nach aufgabenadäquaten Organisationsformen zu suchen, und zwar nach Organisationsformen, die einmal der jeweiligen Sachaufgabe gerecht werden, zum anderen aber zugleich governancegeeignete Organisationsformen sind, die die Steuerbarkeit der Verwaltung / Großstadtverwaltung insgesamt nicht beeinträchtigen. Diese Doppelanforderung an die Verwaltungsorganisation zu beachten – nämlich sowohl eine effiziente Dienstleistungserfüllung „vor Ort“ wie auch eine aus politischen wie rechtlichen Gründen unverzichtbare Steuerungsgeeignetheit zu gewährleisten – scheint mir einer der wichtigsten Gesichtspunkte für die Diskussion über die Modernisierung der Verwaltung zu sein.“ Nach diesen Vorüberlegungen möchte ich eine Grobgliederung großstädtischer Aufgaben vorschlagen76, in der drei Aufgabengruppen bzw. drei Problembereiche unterschieden werden, die jeweils spezifische Governanceprobleme mit sich bringen; die ersten beiden Aufgabengruppen fassen vor allem unsere schon angestellten Überlegungen zusammen, während die dritte einen neuen Aspekt hinzufügt.

2. Drei ausgewählte Beispiele metropolentypischer Aufgabenbereiche a) Verdichtungsraumspezifische Aufgaben Von der organisatorischen Bewältigung verdichtungsraumspezifischer Aufgaben, die sich aus der Ausstrahlungswirkung von Metropolen in die Region ergibt, war schon unter dem Stichwort „Regional Governance“ ausführlich die Rede; um diese Überlegungen noch einmal aufzugreifen und zugleich zusammenzufassen, erscheinen uns einige Bemerkungen Schmidt-Aßmanns zu „Verwaltungsproblemen in Verdichtungsräumen“77 hilfreich zu sein. 74 Vgl. Gunnar Folke Schuppert, Verwaltungswissenschaft als Steuerungswissenschaft. Zur Steuerung des Verwaltungshandelns durch Verwaltungsrecht, in: Wolfgang HoffmannRiem / Eberhard Schmidt-Aßmann / Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts. Grundfragen, Baden-Baden 1993, S. 65 ff. 75 Zu diesem Ansatz, nach organisationsrelevanten Besonderheiten der Aufgabenstellung zu fragen, siehe für den Bereich der Wirtschaftssteuerung Gunnar Folke Schuppert, Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch verselbständigte Verwaltungseinheiten, Göttingen 1981, S. 213 ff. 76 Wir folgen hier unserer Darstellung in Budäus / Engelhardt (Fußnote 61), S. 109 f. 77 Eberhard Schmidt-Aßmann, Verwaltungsprobleme in Verdichtungsräumen, in: Die Verwaltung, 1985, S. 273 – 288.

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Eine Reihe dieser Verdichtungsprobleme lassen sich – wenn man etwa an Großstädte wie Hamburg, München oder Stuttgart denkt – als räumliche Ballungsschäden bezeichnen, die sich wie folgt auflisten lassen78:  Überlastungen der Umwelt bei konzentrierter Beanspruchung der natürlichen Lebensgrundlagen durch Industrie, Verkehr und private Haushalte;  hohes Verkehrsaufkommen mit den negativen Folgen langer Fahrtzeiten und nervlicher Belastungen der Verkehrsteilnehmer;  Knappheit des verfügbaren Raumes mit der Folge hoher Bodenpreise und teurer Mieten;  Knappheit insbesondere an Freiflächen für die Naherholung und die Regeneration des Naturhaushalts;  Abwanderung der Wohnbevölkerung aus der Kernstadt in das Umland. Negative Folgen sind hier die weitere Steigerung des Verkehrsaufkommens, die schlechte Auslastung der teuren Infrastruktur in der Kernstadt und die sog. soziale Segregation.“

Das organisationsrelevante Besondere an diesen Problemen ist nun, dass sie nicht von der Großstadt Hamburg allein gelöst werden können, sondern nur in Koordination und Kooperation mit dem Umland, so dass Verdichtungsprobleme in hohem Maße Koordinations- und Kooperationsprobleme sind. Schmidt-Aßmann hat vorgeschlagen, den in Verdichtungsräumen auftretenden Koordinationsbedarf wie folgt weiter aufzugliedern, und zwar in:79  Planungsbedarf, nach abgestimmter oder einheitlicher Raumplanung;  Trägerschaftsbedarf, bei überörtlichen Infrastruktureinrichtungen;  Vollzugsbedarf, vor allem um eine einheitliche Praxis bei der Verhütung von Umweltschäden zu gewährleisten;  Ausgleichsbedarf, zur angemessenen Verteilung der finanziellen Lasten aus Veranstaltungen, die Teile des Ballungsgebietes für andere Teile durchführen.

Der finanzielle Ausgleichsbedarf ist dabei naturgemäß ein besonders schwieriger Punkt, und zwar – wenn hier noch einmal die Hamburger Perspektive eingenommen werden darf – auch mit einer grundsätzlichen Perspektive; denn finanzielle Ausgleichsbeziehungen wie etwa in der Metropolregion Hamburg bedeuten im Ergebnis einen regionalen Finanzausgleich, dessen Existenz der Geltendmachung von Sonderbedürfen im bundesweiten Finanzausgleich entgegengehalten werden könnte. Darauf wird im letzten Gliederungspunkt noch zurückzukommen sein.

78 79

Fußnote 77, S. 275. Fußnote 77, S. 281.

11 Baßeler u. a.

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b) Die Bekämpfung sozialer Ballungsschäden Mit dieser Überschrift soll die zweite schon behandelte Aufgabengruppe noch einmal angesprochen werden, die Aufgaben nämlich, die sich aus den sozialen Problemen des Wohnens und Lebens in Ballungsräumen ergeben. Insbesondere die Literatur zur Stadtforschung zeigt80, dass all das, was man sozialen oder gesellschaftlichen Wandel nennt – von den neuen Sozialstrukturen (Funktionsverlust der Familie, Zunahme von Einpersonenhaushalten) über neue Lebensstile zu neuer Armut – sich vor allem zuerst in den Großstädten und Ballungsräumen vollzieht und dass sich die Probleme des sozialen Wandels brennglasartig in den großen Städten bündeln und spiegeln. Weil auf drei zentrale Probleme – Bekämpfung der Armut, Sozialhilfe und Drogenpolitik – schon ausführlicher eingegangen worden ist, kann es hier genügen, einen Stichwortkatalog zu präsentieren, in dem nahezu alle sozialen Ballungsschäden enthalten sind; dazu gehören  der unaufhaltsame Anstieg der Sozialhilfekosten,  die Bekämpfung der Armut,  das Drogenproblem,  die Bekämpfung von Vandalismus und Kriminalität, insbesondere der organisierten Kriminalität,  der ständig zunehmende Ausländeranteil,  die Gefahr von Ghettobildung,  die zunehmende Wohnungsknappheit und der Mietenanstieg,  die Zunahme der Obdachlosigkeit etc., etc.

All diesen aufgelisteten Problemen ist gemeinsam, dass sie ein Verwaltungshandeln erfordern, das nicht nur besonders kostenintensiv ist (Sozialhilfekosten, Programme zur Bekämpfung der Armut, der Förderung des Wohnungsbaus etc.), sondern auch besonders beratungs- und betreuungsintensiv (Sozialbetreuung, Drogenberatung, Ausländerintegration), vor allem aber weniger durch ein ordnungspolitisches, sondern vielmehr durch ein sozialplanerisches Denken geprägt ist. Zu diesem sozialplanerischen Ansatz heißt es in dem Beitrag von Wulff Tessin über Stadtentwicklung und sozialen Wandel anschaulich wie folgt81: „Vor diesem Hintergrund einer Zunahme abweichenden Verhaltens in bezug auf die öffentliche Ordnung und einer wachsenden Kriminalität in bestimmten Bereichen (vor allem 80 Vgl. dazu insbesondere die Arbeiten von Katrin Zapf, Lebensphasen, Lebensstile und Stadtstruktur, in: Rudolf Wildemann (Hrsg.), Stadt, Kultur, Natur – Chancen zukünftiger Lebensgestaltung, Baden-Baden 1989, S. 466 – 475 sowie von Wolfgang Zapf u. a., Individualisierung und Sicherheit – Untersuchungen zur Lebensqualität in der Bundesrepublik Deutschland, München 1987. 81 Wulff Tessin, Stadtentwicklung und sozialer Wandel, in: Wüstenrot-Stiftung (Hrsg.), Zukunft Stadt 2000, Stuttgart 1993, S. 184 f.

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Diebstahl) werden Stadtviertel mehr denn je nach ihrer Sicherheit und ,Ordentlichkeit‘ ausgewählt (vgl. hierzu die ,Flucht‘ von ,Normalmietern‘ aus den Großstadtsiedlungen der 60er und 70er Jahre, als der Wohnungsmarkt dies noch zuließ) und Teilräume gemieden werden, wo die Gefahr unliebsamer Ereignisse besteht. Wenn nicht alles täuscht, wird die Aufrechterhaltung von Ordnung, Sicherheit und Sauberkeit in den Straßen, öffentlichen Anlagen, den Nahverkehrsmitteln, also die Eindämmung des ,Entnormativierungsprozesses‘ in bestimmten Bereichen (rücksichtsloses Verhalten, Kriminalität, Vandalismus, Drogen- und Alkoholmissbrauch etc.) eine wesentliche Aufgabe zukünftiger Stadtpolitik sein, wobei diese Aufgabe keineswegs nur ordnungspolitisch zu sehen ist, sondern vor allem sozialplanerisch. Der sozialstrukturelle und sozio-kulturelle Modernisierungsprozess produziert eben auch eine Vielzahl von ,Opfern‘, die mit dem raschen sozialen Wandel, den ,neuen Freiheiten‘ nicht zurechtkommen: Jugendliche, Arbeitslose, z. T. auch alte Menschen, Leute mit schlechter Schul- und Berufsbildung, ,Scheidungsopfer‘, Immigranten aus anderen Gesellschaftssystemen, ein Teil der Bevölkerung in den neuen Bundesländern – sie alle haben Schwierigkeiten, sich in der unübersichtlich gewordenen Gesellschaft zurechtzufinden, und brauchen dementsprechend (Re-)Integrationshilfen. Alle kommunalen Sozialisationsinstanzen, von Kinderhorten und Schulen angefangen über Freizeitheime, Beratungsstellen, die Gemeinwesenarbeit bis hin zu den Vereinen, Kirchen, Stätten der Erwachsenenbildung werden vor großen, kaum lösbaren Aufgaben stehen, weil die sozialen Probleme im Zuge des Modernisierungs- und Individualisierungsprozesses eher zu- als abnehmen werden.“

c) Metropolen im Wettbewerb Diese – soweit ich sehe – in der „Großstadtliteratur“ 82 sonst nicht vorkommende Aufgabengruppe möchte ich aufgrund meiner Erfahrungen als Prozessvertreter Hamburgs im Streit über den Länderfinanzausgleich vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vorschlagen. Die Freie und Hansestadt Hamburg hatte u. a. vorgetragen: Ob der Länderfinanzausgleich aus Hamburger Sicht als im Sinne von Art. 107 Abs. II GG „angemessen“ sei, müsse sich danach beantworten, ob Hamburg nach Durchführung des Finanzausgleichs eine Finanzausstattung habe, die mit der Finanzausstattung anderer Großstädte wie München oder Stuttgart vergleichbar sei und Hamburg so im Vergleich mit anderen Metropolen konkurrenzfähig bleibe. Das Bundesverfassungsgericht hatte diesen Gedanken einer Metropolenkonkurrenz positiv aufgenommen,83 und die Bundesregierung hatte daraufhin zur Vorbereitung einer Novellierung des Finanzausgleichsgesetzes die Durchführung eines finanzwissenschaftlichen Städtevergleichs in Auftrag gegeben.84 82 Vgl. etwa Eleonore Irmen, Zur Entwicklung der Agglomerationsräume in der Bundesrepublik Deutschland sowie Helmut Güttler u. a., Entwicklungstendenzen und aktuelle Probleme von Stadtregionen, beide in: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 11 / 12, 1989, S. 811 – 822 und 845 – 867; siehe ferner Jochen Schulz zur Wiesch, Das Doppelgesicht der Metropolen – Tendenzen der amerikanischen Stadtentwicklung, in: Archiv für Kommunalwissenschaften, Nr. 1, 1993, S. 24 – 46. 83 Vgl. BVerfGE 72, S. 330 ff.

11*

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Dass Metropolen miteinander konkurrieren, sich auf nationaler wie auf internationaler Ebene in einem harten Standortwettbewerb befinden – Stichwort: Medienstandort Hamburg – ist eine Einsicht, die auch in dem Regionalen Entwicklungskonzept für die Metropolregion Hamburg an den Beginn der Überlegungen gestellt worden ist; es heißt dort85: „Hamburg ist Kern einer Metropolregion von europäischem Rang mit wachsender Bedeutung und steigenden Anforderungen an ihre Fähigkeit, ihre Wettbewerbsposition gegenüber den nationalen und europäischen Konkurrenzregionen zu behaupten, ihre wieder wachsende Bevölkerung mit Wohnraum und Arbeitsplätzen zu versorgen und gleichzeitig ihre natürlichen Lebensgrundlagen zu bewahren. Die Region muss sich den mit diesen Aufgaben verbundenen Herausforderungen stellen.“

Will man etwas über die Besonderheiten dieser Aufgabengruppe „Behauptung im Wettbewerb“ aussagen, so stellen sich zwei miteinander zusammenhängende Stichworte ein, nämlich indirekte Steuerung und Infrastrukturausstattung: Indirekte Steuerung deswegen, weil sich sowohl die Wanderungsbewegungen zwischen Stadt und Umland – die sich im Übrigen umzukehren scheinen86 – wie auch die Standortwahlentscheidungen von Unternehmen und Organisationen / Verbänden nicht direkt steuern lassen, also nicht mit den Mitteln imperativer oder hierarchischer Steuerung, sondern nur mittelbar durch die Attraktivität des Standorts, worin auch immer diese im Einzelfall bestehen mag. Nur am Rande sei bemerkt, dass auch die Güte der Verwaltungsorganisation selbst ein nicht unwesentlicher Gesichtspunkt bei der Platzierung im „Ranking“ von Großstädten sein dürfte. Infrastrukturausstattung deswegen, weil das Infrastrukturangebot das zentrale Auswahlkriterium bei Standortentscheidungen sein dürfte. Ohne dies empirisch untersucht zu haben, welche Gesichtspunkte unternehmerische Standortentscheidungen letztlich steuern, spricht jedenfalls die auf die Infrastrukturausstattung abstellende Eigenwerbung von Städten und Regionen87 für die Bedeutung von Infrastrukturangeboten, etwa im  Bildungssektor (weiterführende Schulen, Universitäten),  Kultursektor (unprovinzielles Kulturangebot, Staatsoper etc.),

84 Siehe Marlies Hummel / Willi Leibfritz, Die Stadtstaaten im Länderfinanzausgleich, Gutachten im Auftrag des Bundesministers der Finanzen, Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung e.V. München 1986. 85 Regionales Entwicklungskonzept für die Metropolregion Hamburg, Hamburg 1994, S. 3. 86 Dazu Eberhard Schmidt-Aßmann, Verwaltungsprobleme in Verdichtungsräumen, in: Die Verwaltung, Nr. 3, 1985, S. 273 – 288. 87 So wirbt etwa die Stadt Jena mit der hervorragenden Verkehrsanbindung (Autobahnknotenpunkt, IC) und dem Charakter als Universitätsstadt, die Stadt Oldenburg („Wir Oldenbürger“) mit dem Humankapital einer zuverlässigen Arbeitnehmerschaft, dem Universitätsstandort etc.

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 Verkehrssektor (Autobahnanschluss, funktionsfähiger ÖPNV),  Freizeitbereich (Naherholung im Metropolbereich, Einbettung in landschaftlich attraktive Umgebung, gute Erreichbarkeit),  Wohnbereich (ausreichend Wohnraum für unterschiedliche Bedürfniskategorien).

Will man die Besonderheiten dieser Aufgabengruppe „Metropolen im Wettbewerb“ auf Konsequenzen für Verwaltungsorganisation und Governancestrukturen befragen, so fallen einem wiederum zwei Stichworte ein, nämlich die Notwendigkeit einer kooperierenden wie kommunizierenden Verwaltung mit unterschiedlicher Akzentsetzung, abgestuft nach der jeweiligen Klientel, der gegenüber sich die Großstadt als attraktiver Standort darstellen will. Was die Unternehmen angeht oder – anders ausgedrückt – die für eine Wirtschaftsmetropole wie Hamburg zentrale Aufgabe der Wirtschaftsansiedlung, Wirtschaftsförderung und Wirtschaftsbestandspflege, so bedarf es einer kooperierenden, einen Dialog mit der Wirtschaft pflegenden Verwaltung. Ein gutes Beispiel dafür sind die vor kurzem ins Leben gerufenen „Hamburger Wirtschaftsdialoge“88 mit folgenden Arbeitsschwerpunkten:  Initiative von Existenzgründung und Innovation,  Umweltmanagement als Zukunftsaufgabe,  Chancen durch moderne Bio-Technologie (Bio-Med.),  Finanzdienstleistungsplatz Hamburg (Banken und Versicherungen),  Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung,  Synergien durch stärkere Kooperation der öffentlichen Unternehmen,  Standortmarketing,  Einsatz neuer Technologien und Verknüpfung von Verkehrssystemen.

Ein nicht minder schönes Beispiel für eine solche auf Kooperation und Dialog angelegte Verwaltungsarbeit ist das Technologie-Beratungs-Zentrum (TBZ) Hamburg, eine Einrichtung, die – wie ich an anderer Stelle kommentiert habe89 – „die typischen Züge des verwaltungsorganisatorischen Aufbruchs ins Technologiezeitalter“ trägt: die Technologieförderung soll in Kooperation mit Wirtschaft und Wissenschaft erfolgen und möglichst ohne bürokratische Hemmnisse. So heißt es in der Informationsbroschüre über das TBZ unter der Überschrift „Unbürokratisch 88 Vgl. dazu Wolfgang Prill, Steuerungs- und Organisationsprobleme am Beispiel des Aufgabenfeldes Wirtschaft und Arbeit in Hamburg, in: Budäus / Engelhardt (Fußnote 61) S. 174 ff. 89 Gunnar Folke Schuppert, PGOs in der Bundesrepublik Deutschland, in: Christopher Hood / Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Verselbständigte Verwaltungseinheiten in Westeuropa. Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch Para-Government Organizations (PGOs), Baden-Baden 1988, S. 202 – 226, hier S. 222.

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und schnell. Technologieberatungszentrum Hamburg: Partner für Wirtschaft und Wissenschaft“ wie folgt: „Die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit kleinerer und mittlerer Betriebe zu stärken und damit Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen, steht im Zentrum der Hamburger Wirtschafts- und Technologiepolitik. Nur dann, wenn die Innovationskraft dieser Unternehmen durch geeignete Maßnahmen gesteigert wird . . . , können wir dieses Ziel erreichen . . . Dieses kann nicht Aufgabe einer Behörde sein. Erforderlich ist vielmehr eine privatrechtlich organisierte, neutrale Einrichtung, die als unbürokratischer Partner zwischen Wirtschaft und Wissenschaft operiert. Das Technologieberatungszentrum ist folgerichtig als Stiftung bürgerlichen Rechts durch die Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Landwirtschaft der Freien und Hansestadt Hamburg gegründet worden.“

Was die einzelnen Bürger angeht, die – sei es als Einzelperson, sei es als Familie – vor der Entscheidung stehen, ob sie aufs Land oder in die Stadt ziehen, so geht es um die – was noch schwerer direkt steuerbar ist – Attraktivität des Lebensraums Großstadt und ihre Vermittlung. Wirft man einen Blick auf die neuere Urbanitätsdiskussion der achtziger Jahre90, die „Urbanität als Lebensform“91 zum Thema hat, so ist sie sich in dem Urteil einig, dass die urbane Stadtkultur eine Art von Renaissance erlebt; verwiesen wird dabei auf92:  den Erfolg der Fußgängerzonen, Passagen und Einkaufszentren mancherorts, wo das Einkaufen zum Erlebnis wird,  den Erfolg öffentlicher Veranstaltungen wie Open-Air-Konzerte, Stadtmarathons, Flohmärkte, Schützenfeste, Ausstellungen, Messen, Stadt(-teil)feste, Museen, Tage der offenen Tür usf.,  das Aufblühen einer Gaststätten- und Kneipenkultur, von Straßencafés und Biergärten,  das Wiederaufleben einer Park- und Freiraumkultur in den städtischen Grünanlagen und Stadtplätzen.

Wenn diese Überlegungen richtig sind, dann ergeben sich daraus neue und erhöhte Anforderungen an die kommunale Infrastrukturpolitik, und zwar in dreierlei Richtung, nämlich  als soziale Infrastrukturpolitik, 90 Vgl. Hartmut Häußermann / Walter Seibel, Neue Urbanität, Frankfurt am Main 1987; ferner Hartmut Häußermann / Walter Seibel, Polarisierte Stadtentwicklung – Ökonomische Restrukturierung und industrielle Lebensweise, in: Walter Prigge (Hrsg.), Die Materialität des Städtischen, Basel / Boston 1987, S. 79 – 88. 91 Louis Wirth, Urbanität als Lebensform, in: Ulfert Herlyn (Hrsg.), Stadt- und Sozialstruktur, München 1974, S. 42 – 66. 92 Vgl. dazu Wullf Tessin, Stadtentwicklung und sozialer Wandel, in: Wüstenrot-Stiftung (Hrsg.), Zukunft Stadt 2000, Stuttgart 1993, S. 161 – 209, hier S. 180.

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 als kulturelle Infrastrukturpolitik und  als Beförderung der kommunalen Spiel-, Sport- und Freizeitinfrastruktur.

V. Die Finanzierung von Metropolen als Governanceproblem 1. Die Stellung der Stadtstaaten im Länderfinanzausgleich: das Beispiel Hamburg Die angemessene Behandlung der Stadtstaaten Bremen und Hamburg im Länderfinanzausgleich ist ein immer währender „Zankapfel“ zwischen den von der sog. Einwohnerveredelung93 profitierenden Stadtstaaten auf der einen Seite und den Geberländern auf der anderen Seite, die hierin eine im Vergleich zu den Flächenländern immer weniger zu rechtfertigende Sonderbehandlung sehen: rechtfertigungsbedürftige „Extrawurst“ oder eine vom Finanzausgleichsgesetzgeber anzuerkennende strukturelle Eigenart der Stadtstaaten, so könnte man vereinfachend und zuspitzend die beiden einander gegenüber stehenden Positionen bezeichnen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Grundsatzentscheidung zum Länderfinanzausgleich vom 24. 6. 198694 die Sichtweise der Stadtstaaten anerkannt und klargestellt, dass die Berücksichtigung der strukturellen Eigenart der Stadtstaaten Bremen und Hamburg durch eine Einwohnerwertung „zumindest zulässig“ sei; in den Entscheidungsgründen heißt es dazu wie folgt95: „Die Berücksichtigung der vorgegebenen strukturellen Eigenart der Stadtstaaten Bremen und Hamburg durch die Einwohnerwertung des § 9 II FAG ist dem Grunde nach zumindest zulässig. Es handelt sich hierbei nicht um die Einstellung von Sonderbedarfen dieser Länder in die Berechnung des Länderfinanzausgleichs, sondern um die Folge einer spezifischen Problematik des deutschen Bundesstaates. Das Bestehen von Stadtstaaten gehört zum historischen Bestand der deutschen Staatsentwicklung, insbesondere auch seit der Entstehung des deutschen Bundesstaates im 19. Jahrhundert. Es ist sachgerecht, die Andersartigkeit der Stadtstaaten gegenüber den Flächenstaaten im Länderfinanzausgleich zu berücksichtigen. Dies kann in Form einer Einwohnerveredelung geschehen, die Auswirkungen auf alle Flächenstaaten hat. Die Andersartigkeit der Stadtstaaten betrifft nämlich nicht etwa nur deren Nachbarländer, sondern alle Glieder des Bundes.“

Umfang und Höhe dieser Berücksichtigung müssten sich an objektivierbaren Kriterien orientieren und dürften nicht aus der Luft gegriffen werden. Interessant 93 Dadurch, dass die Einwohner der Stadtstaaten nicht wie bei den Flächenstaaten mit 100% angesetzt, sondern mit dem Berechnungsfaktor 135 „veredelt“ werden und die errechnete Finanzkraft eines Landes durch die Zahl seiner Einwohner geteilt wird, ergibt sich für die Stadtstaaten ein nicht unerheblicher Berechnungsvorteil, der für die „Freie und Hansestadt Hamburg“ in den achtziger Jahren ca. 1 Mrd. DM jährlich ausmachte. 94 BVerfGE 72, 330, 401 f. 95 Fußnote 94, S. 415.

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ist nun, dass das Gericht in diesem Zusammenhang just auf diejenigen Finanzprobleme abstellt, die sich gewissermaßen als Spiegelbild von typischen Problemen von „regional governance“ darstellen: die Stichworte lauten „Hauptstädte ohne Umland, Bettlerproblematik, Enklavecharakter“; in den Urteilsgründen heißt es dazu wie folgt: „Umfang und Höhe dieser Berücksichtigung dürfen allerdings vom Gesetzgeber nicht frei gegriffen werden. Sie müssen sich – nach Maßgabe verlässlicher, objektivierbarer Indikatoren – als angemessen erweisen. Als solche Indikatoren kommen etwa in Betracht: ein schlichter Großstadtvergleich, bei dem die Finanzausstattung von Städten vergleichbarer Größe – unter Einbeziehung der für sie wirksamen staatlichen Sonderleistungen – mit derjenigen der Länder Bremen und Hamburg verglichen wird; das Fehlen der Möglichkeit eines Landesinternen Finanzausgleichs in den Ländern Bremen und Hamburg, die beide Ballungszentren ohne Umland sind; die Besonderheit, dass die Länder Bremen und Hamburg Hauptstädte ohne Umland sind. Dabei kann auch ein Blick auf die hanseatische Pendlerproblematik geworfen werden. Diese hat insofern eine stadtstaatenspezifische Komponente, als die beiden Hansestädte für die Wirtschaftsregion, in der sie liegen, Industrie-, Handels- und Dienstleistungszentren darstellen, die zugleich Enklavecharakter haben, d. h. nach allen Seiten von Staatsgrenzen umschlossen sind.“

Im gleichen Atemzuge gab das Gericht dem Gesetzgeber den Auftrag, die Angemessenheit dieser seit 1958 geltenden Einwohnerwertung zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren: „Der Gesetzgeber hat die Angemessenheit der gegenwärtigen Regelung unter anderem anhand der genannten Indikatoren für die stadtstaatliche Besonderheit der Länder Bremen und Hamburg zu überprüfen und gegebenenfalls – sei es nach oben, sei es nach unten – zu korrigieren. Das Ergebnis dieser Überprüfung und gegebenenfalls einer Korrektur muss auch dann maßgeblich bleiben, wenn dadurch der finanzielle Status der Länder Bremen und Hamburg nicht in seinem gegenwärtigen Stand – auch im Verhältnis zu den anderen Ländern – erhalten bleibt oder einen früher als angemessen angesehenen Stand nicht (wieder) erreicht.“

Auch in der „nächsten Runde“ konnte sich die stadtstaatenspezifische Einwohnerwertung behaupten, da der 1986 erteilte Überprüfungsauftrag zu einem für die Stadtstaaten positiven Ergebnis führte; in seiner Entscheidung vom 27. 05. 1992 führt das Gericht dazu folgendes aus96: „Wie der Senat in seinem Urteil vom 24. 06. 1986 entscheiden hatte, ist es zumindest zulässig, der vorgegebenen historisch gewachsenen strukturellen Eigenart der Stadtstaaten Bremen und Hamburg durch eine Einwohnerwertung Rechnung zu tragen. Umfang und Höhe dieser Berücksichtigung dürfen allerdings vom Gesetzgeber nicht frei gegriffen werden. Sie müssen sich nach Maßgabe verlässlicher, objektivierbarer Indikatoren als angemessen erweisen. Das BVerfG hat daher dem Gesetzgeber aufgegeben, die Angemessenheit der Regelung des § 9 Abs. 2 FAG (i.d.F. vom 28. 8. 1969, BGBl. I S. 1432) zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Zum Zwecke einer solchen Überprüfung erstellte das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung im Auftrag der Bundesregierung und begleitet von einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe ein 96

BVerfGE 86, 148, 212.

Regierbarkeitsprobleme von Großstädten am Beispiel Berlins

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finanzwissenschaftliches Gutachten. Der Gesetzgeber hat für seine Entscheidung den Indikator II dieses Gutachtens zugrunde gelegt und sich dafür entschieden, die Einwohnerwertung der Stadtstaaten in der bisherigen Höhe von 135 v.H. beizubehalten (Begründung des Gesetzes, BT-Drucks. 11 / 789, S. 7). Dies ist von Verfassung wegen nicht zu beanstanden.“

Auch den durch die Entscheidung zum Maßstäbegesetz97 ausgelösten Neuregelungsprozess hat die Einwohnerwertung überlebt. Mit der Verabschiedung des Maßstäbegesetzes, des neuen Finanzausgleichsgesetzes sowie des Solidarpaktfortführungsgesetzes wurden wichtige Bestimmungen der föderalen Finanzbeziehungen überarbeitet und bis 2019 fortgeschrieben. Die im Jahr 2005 in Kraft tretenden Veränderungen des Länderfinanzausgleichs betreffen zwar alle drei Stufen des Finanzausgleichs, d. h. den Umsatzsteuer-Vorwegausgleich, den horizontalen Länderfinanzausgleich i. e. S. sowie den vertikalen Finanzausgleich durch Transfers des Bundes (Fehlbetragsbundesergänzungszuweisungen) lassen aber – wie die folgende Übersicht zeigt98 – die Einwohnerwertung für die Stadtstaaten (einschließlich Berlins) unberührt. Die spezifische Governanceproblematik von Metropolregionen – Metropolen ohne eigenes Umland, Pendlerströme, Ballungskosten – finden also nach wie vor ihre finanzverfassungsrechtliche Entsprechung. Übersicht 5 Länderfinanzausgleich Länderfinanzausgleich i. e. S. „Prämienmodell“

Nein

Freistellung von 12 % der überdurchschnittlichen Steuermehreinnahmen je Einwohner durch Finanzkraftabzug

Einbeziehung Kommunalsteuern

Zu 50 %

Zu 64 %

Ermittlung Realsteuerkraft

Über einheitliche Hebesätze

Ohne Hebesätze

Einwohnergewichtung Gemeindesteuern

Nach Gemeindegröße und Einwohnerdichte gestaffelte Einwohnerwertung

Dünn besiedelte Länder: MecklenburgVorpommern 105 %, Brandenburg 103 %, Sachsen-Anhalt 102 %, Stadtstaaten 135 %, übrige Länder 100 %

Hafenlasten

Für Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Bremen insgesamt 153,4 Mill. Euro als Abzug von der Finanzkraft

Außerhalb des Länderfinanzausgleichs im Umfang von 38,3 Mill. Euro als Finanzhilfe des Bundes für Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen gewährt und von der Ländergesamtheit finanziert

BVerfG, DÖV 2000, S. 113 ff. Vgl. den Überblick bei Hans Fehr / Michael Tröger, Die Anreizwirkungen des Länderfinanzausgleichs: Reformanspruch und Wirklichkeit, Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung, DIW, 72. Jg. Heft 3 / 2003, S. 391 ff. 97 98

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2. Die Haushaltsnotlage Berlins und die dadurch ins Bewusstsein tretende Notwendigkeit neuer Governancestrukturen zur Bewältigung von Haushaltskrisen im Bundesstaat Wie erinnerlich, hatte das Bundesverfassungsgericht in seiner zweiten Grundsatzentscheidung zum bundesstaatlichen Finanzausgleich den Ländern Bremen und Saarland eine sog. Haushaltsnotlage – die nirgendwo geregelt war und auch jetzt nur hinsichtlich bestimmter Rechtsfolgen ausbuchstabiert ist (§ 12 Abs. 4 MaßstäbeG) – bescheinigt und darauf – unter Berufung auf die Argumentationsfiguren der Bundestreue und des solidarischen Füreinander-Einstehen-Müssens – Hilfsansprüche der in Not geratenen Länder abgeleitet99. Obwohl die Unterstützungsperiode mit Ende des Jahres 2004 abgelaufen ist, können die beiden „Haushaltspatienten“ nicht als geheilt gelten: Das Saarland hat bereits erneut auf eine Fortsetzung der Unterstützung vor dem BVerfG geklagt100, die Klage Bremens steht – wie man hört – unmittelbar bevor. Konnte man die Fälle Saarland und Bremen noch als „Ausreißer“ abtun und kann man auch den Fall Berlin mit guten Gründen als einen Sonderfall ansehen, so versagt diese Betrachtungsweise, wenn man sich mit dem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen101 klarmacht, dass das Haushaltsnotlagen-Bazillus bald auch andere Bundesländer wie Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein befallen dürfte. Spätestens dann aber hat man es nicht mehr mit einem Sonderproblem des deutschen Föderalismus zu tun, sondern mit dem allgemeinen Problem, ob die bisherigen Governancestrukturen zur Gestaltung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern noch ausreichen oder nicht vielmehr einer Fortentwicklung bedürfen. Bereits in seinem 1992er Urteil hatte das BVerfG dem Bundesgesetzgeber aufgegeben, die Governanceleistungen der Finanzverfassung durch Gebrauchmachen vom Instrument der Grundsatzgesetzgebung nach Art. 109 Abs. 3 GG zu verbessern und Eckpunkte einer Haushaltsnotlagen-Regelung zu normieren102; „Zuvörderst nötig und besonders dringlich ist es, Bund und Länder gemeinsam treffende Verpflichtungen und Verfahrensregelungen festzulegen, die der Entstehung einer Haushaltsnotlage entgegenwirken und zum Abbau einer eingetretenen Haushaltsnotlage beizutragen geeignet sind. Dem Bundesgesetzgeber bietet hierzu Art. 109 Abs. 3 GG die Regelungskompetenz. Die durch Haushaltsnotlagen der hier in Rede stehenden Betroffenen sind daran gehindert, durch ihre Haushaltswirtschaft und die Gestaltung der Haushaltspolitik den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen; sie verlieren die Fähigkeit zu einem konjunkturgerechten Haushaltsgebaren und zu konjunktursteuerndem HanBVerfGE 86, 148, 212 ff. Schriftsatz des Bevollmächtigten des Saarlandes Prof. Rudolf Wendt vom 10. September 2005. 101 Bundesministerium der Finanzen (Hrsg.), Haushaltsrisiken im Bundesstaat. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen, Berlin April 2005. 102 BVerfGE 86, 148 ff. = DVBl. 1992, S. 965 ff. 978. 99

100

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deln. Normative Vorkehrungen hiergegen – etwa im Rahmen des HGG – sind daher durch Art. 109 Abs. 2 GG nicht nur nahegelegt, sondern geboten. Regelungsgegenstand könnten beispielsweise Grundsätze über die Obliegenheit von Bund und Ländern sein, in ihrer Haushaltsplanung – unter Berücksichtigung der Nebenhaushalte – gewisse durch finanzwirtschaftliche Kennziffern bezeichnete Grenzen, etwa bei der Kreditfinanzierung und beim Schuldensockel, zu beachten, und sollten diese Grenzen überschritten sein, ein (verbindliches) Sanierungsprogramm aufzustellen, das die Haushaltswirtschaft in eine Normallage zurückführen soll. Regelungen dieser oder ähnlicher Art sind nicht nur für die Erhaltung oder Wiedergewinnung der Handlungsfähigkeit nach Art. 109 Abs. 2 GG von Bedeutung, sie sollen zugleich eine Grundlage dafür bieten, dass finanzwirksame Instrumentarien, die als Hilfe zum Einsatz kommen, die erstrebte stabilisierende Wirkung herbeiführen.“

Es erscheint nunmehr endgültig an der Zeit, ernsthaft mit der Entwicklung eines gesetzlichen Haushaltsnotlagenregimes zu beginnen, das aus zumindest den folgenden drei Bausteinen bestehen müsste, die hier nur als Stichworte genannt werden können:  Haushaltsnotlagenprävention, insbesondere durch Festlegung von Verschuldensgrenzen  Haushaltsnotlagenfeststellung, insbesondere durch Institutionalisierung einer unabhängigen „Feststellungsinstanz“  Haushaltsnotlagensanierung, insbesondere durch Normierung eines bedingungsabhängigen Sanierungssystems.

Wenn die Anzeichen nicht trügen, scheint die längst überfällige Debatte über die Entwicklung eines bundesverfassungsrechtlich kompatiblen Haushaltsnotlagenregimes nunmehr verstärkt in Gang zu kommen, und es bleibt abzuwarten, welche Folgen sich daraus für die Lösung des Falles Berlin ergeben.

Die „extreme Haushaltsnotlage“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Normenkontrollantrag Berlins Von Joachim Wieland

I. Das Problem Warum sollte das Land Berlin einen Anspruch gegen den Bund haben, ihm 35 Milliarden Euro als finanzielle Unterstützung zur Sanierung seines Haushalts zu zahlen? Jeder Jurist lernt schon am Anfang seines Studiums den Satz: „Geld hat man zu haben.“ Diese Aussage soll deutlich machen, dass ein Mangel an Geld niemanden von den rechtlichen Pflichten befreit, deren Erfüllung er versprochen hat oder deren Umsetzung ihm das Recht gebietet. Geldmangel entfaltet rechtlich gesehen weder rechtfertigende noch entschuldigende Kraft. Wer höhere finanzielle Verpflichtungen eingegangen ist, als er dauerhaft erfüllen kann, muss sich einem Insolvenzverfahren stellen. Das gilt für Unternehmen nicht anders als für Verbraucher. Wer überschuldet ist, muss seinen finanziellen Verpflichtungen zugunsten aller seiner Gläubiger in Raten nachkommen. Von einer Finanzhilfe des Staates ist weder im Recht der Unternehmensinsolvenzen noch im Verbraucherinsolvenzrecht die Rede. Warum sollte dann für ein überschuldetes Land etwas anderes gelten? Die Antwort lautet: Weil das Land ein Staat ist, der sich mit anderen Ländern zu einem Bundesstaat zusammengeschlossen hat. Ebenso wie man Geld zu haben hat, kann ein Staat sich selbst dann nicht auflösen, wenn er kein Geld mehr hat. Das unterscheidet Staaten und Unternehmen grundlegend. Schaut man genauer hin, gilt allerdings auch für Unternehmen, dass sie selbst im Falle der Insolvenz weiter betrieben werden, wenn sie nur hinreichend groß sind. Das spricht dafür, dass die Unterschiede in den Folgen der Überschuldung zwischen Großunternehmen und Staaten vielleicht doch nicht so bedeutsam sind, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Woraus ergibt sich nun aber der verfassungsrechtliche Anspruch Berlins auf finanzielle Hilfe zur Sanierung des Landeshaushalts? Ich werde meine Antwort auf diese Frage in neun Schritten vortragen: Zunächst skizziere ich das vom Bundesverfassungsgericht entfaltete bündische Prinzip des Einstehens füreinander, das Grundlage der finanziellen Solidargemeinschaft im Bundesstaat Deutschland ist (II.), und gehe sodann auf die Notwendigkeit eines Finanzausgleichs ein (III.). Eng damit verbunden ist die im dritten Schritt zu erörternde Solidarpflicht in Haushalts-

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notlagen (IV.), deren Tatbestand ich im vierten Schritt meines Vortrags darlegen werde (V.). Sodann begründe ich, warum ein Verschulden der Haushaltsnotlage rechtlich keine Bedeutung hat (VI.) und welche Rechtsfolgen die Notlage auslöst (VII.). Abschließend behandele ich das bundesstaatliche Gleichbehandlungsgebot (VIII.), wende mich den konkreten Folgerungen für Berlin zu (IX.) und setze mich mit den Argumenten auseinander, die der Bund und einige Länder dem Antrag des Landes in Karlsruhe entgegen halten (X.).

II. Das bündische Prinzip des Einstehens füreinander Ein Staat, der wie das Land Berlin Glied eines Bundesstaates ist, verfügt mit seinen bundesstaatlichen Verbindungen über eine institutionelle Grundlage, die wie eine Risikogemeinschaft wirkt. In dieser Gemeinschaft ist der finanzielle Handlungsspielraum der beteiligten Länder auf der Einnahmen- wie auf der Ausgabenseite begrenzt. Zum Ausgleich für den Verlust an Autonomie haben die Länder aber einen Anspruch auf einen aufgabenangemessenen Anteil an dem insgesamt zur Verfügung stehenden Finanzvolumen des Bundes und auf Hilfe in Notlagen, aus denen sie sich selbst nicht befreien können. Die Glieder des Bundesstaates schulden sich gegenseitig Treue und Unterstützung. Insoweit weist der Bundesstaat noch heute Strukturen auf, die seine feudalen Wurzeln erkennen lassen. Wie das Lehensverhältnis von Treue und Gehorsam bestimmt war, so ist Leitprinzip des Bundesstaates die Bundestreue. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang in etwas altertümlich anmutender Sprache nicht von der Bundestreue, sondern von dem „bündischen Prinzip des Einstehens füreinander“ gesprochen.1 Es gilt nicht nur im Verhältnis von Bund und Ländern, sondern auch im Verhältnis der Länder untereinander. Das bündische Prinzip des Einstehens füreinander verpflichtet die Glieder des Bundesstaates ungeachtet ihrer Eigenstaatlichkeit und finanziellen Selbständigkeit zu Hilfeleistungen an andere, finanziell leistungsschwache Länder. Der bundesstaatliche Solidargedanke bildet den rechtfertigenden Grund, aber auch die Grenze der bündischen Einstehenspflicht.

III. Die Notwendigkeit des bundesstaatlichen Finanzausgleichs Diese Pflicht zeigt sich in der finanziellen Normallage im Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern sowie zwischen den Ländern untereinander und in der Möglichkeit des Bundes, leistungsschwachen Ländern finanzielle Zuweisungen zur ergänzenden Deckung ihres allgemeinen Finanzbedarfs, die sogenannten Bundesergänzungszuweisungen, zu gewähren. 1

BVerfGE 72, 330 (387); BVerfGE 86, 148 (168).

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Die sich auf diese Weise ergebenden finanziellen Verflechtungen im Bundesstaat werden vor allem von Finanzwissenschaftlern häufig kritisiert, weil sie Intransparenz mit sich brächten und die Zuordnung politischer Verantwortung erschwerten. Zudem wirke der bundesstaatliche Finanzausgleich allen Bemühungen entgegen, die öffentlichen Haushalte dadurch zu stärken, dass für Bund und Länder Anreize für ein möglichst sparsames Haushalten mit einer Steigerung der Einnahmen und einer Senkung der Ausgaben geschaffen werden. Diese Kritik an der bundesstaatlichen Finanzverfassung hat durchaus ihren Grund. Sie scheint mir aber letztlich doch unberechtigt. Selbst wenn man die besondere Lage zunächst einmal außer Acht lässt, in der sich Deutschland als Folge der Wiedervereinigung nach jahrzehntelanger Teilung befindet, ist ein erhebliches Maß an finanzieller Verflechtung zwischen Bund und Ländern unausweichlich. Auf der Einnahmenseite beruht das darauf, dass für Deutschland nur ein einheitliches Steuersystem denkbar ist. Wir erleben gerade, dass der einheitliche Binnenmarkt in Europa auf eine Vereinheitlichung des europäischen Steuerrechts drängt.2 Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union erleben schmerzhaft, wie ihre Steuerhoheit faktisch schwindet und wie ihre Steuerbasis als Folge des stetig wachsenden Steuerwettbewerbs dahin schmilzt. In dieser Situation wäre es nicht nur ein Anachronismus, sondern finanzwirtschaftlich undenkbar, dass die Länder über die großen Steuern auf Umsatz und Einkommen eigenständig entschieden, bundesstaatliche Vielfalt im Steuerecht schüfen und sodann Doppelbesteuerungsabkommen untereinander abschlössen. Der Gedanke der Steuerautonomie der Länder mag für manchen Finanzwissenschaftler attraktiv erscheinen, aus der Sicht des Finanzverfassungsrechts und des Steuerrechts ist er ein theoretisches Konstrukt, das praktisch undurchführbar wäre. Da nur der Bund als Gesetzgeber eines einheitlichen Steuerrechts in Deutschland in Betracht kommt, trägt er die Verantwortung für eine angemessene Finanzausstattung aller Glieder des Bundes. Da zugleich wesentliche Teile der Ausgaben der Länder durch Bundesrecht oder inzwischen zunehmend durch Europarecht festgelegt werden, verfügen die Länder in Deutschland nur noch über sehr eingeschränkte Möglichkeiten, einen Haushaltsausgleich herbeizuführen. Zudem ist die Verteilung der Steuererträge nach dem örtlichen Aufkommen, wie sie für die meisten Steuern in der Finanzverfassung des Grundgesetzes vorgeschrieben ist, von vielen Zufällen abhängig. Große Unternehmen haben es weitgehend selbst in der Hand, ob sie in Deutschland oder in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union Steuern zahlen, und wenn sie in Deutschland Steuern entrichten, in welchem Land das geschieht. Daraus folgen Entwicklungen des Steueraufkommens, welche die Länder – wenn überhaupt – nur begrenzt zu beeinflussen vermögen. Hinzu kommt die große Steuerschwäche der ostdeutschen Länder, deren Steuererträge durchschnittlich nur etwa 25 bis 30 Prozent des Steueraufkommens der westdeutschen Länder ausmachen. 2

Schießl, NJW 2005, 849 (851).

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In dieser Situation sind schon in einer finanziellen Normallage Ausgleichszahlungen zwischen den Ländern untereinander und vom Bund an finanzschwächere Länder unabdingbar. Ein Bundesstaat wie Deutschland, in dem der Bund die Verantwortung für das Steuerrecht trägt und über seine Gesetzgebung in weitem Ausmaß das Ausgabeverhalten der Länder definiert, ist auf einen Finanzausgleich angewiesen. Die Wiedervereinigung hat diese Notwendigkeit noch einmal deutlich verstärkt. In absehbarer Zeit wird sich daran nichts ändern. Das gilt unabhängig vom Verständnis des finanzverfassungsrechtlichen Gebots der Wahrung der einheitlichen Lebensverhältnisse im Bundesgebiet, das nicht im Sinne einer formalen Gleichheit der Lebensverhältnisse verstanden werden darf.

IV. Die Solidarpflicht in Haushaltsnotlagen Da schon in der finanziellen Normallage Zahlungen des Bundes an finanzschwächere Länder und ein Finanzausgleich zwischen den Ländern aufgrund der Struktur des deutschen Bundesstaates zwingend geboten sind, war es konsequent, dass das Bundesverfassungsgericht auf Antrag des Saarlands und Bremens hin 1992 eine bundesstaatliche Hilfeleistungspflicht zur Überwindung einer extremen Haushaltsnotlage in der Finanzverfassung des Grundgesetzes zwar nicht ausdrücklich, aber implizit angelegt gesehen hat. Wenn ein Land trotz aller Anstrengungen nicht in der Lage ist, sich selbst aus einer Haushaltsnotlage zu befreien, müssen die anderen Glieder des Bundes ihm zur Hilfe kommen.3 Der verfassungsrechtliche Anspruch auf Sanierungshilfe findet seine Grundlage letztlich im Bundesstaatsprinzip.4 Die föderale Finanzverfassung des Grundgesetzes zielt darauf, durch ein mehrstufiges System zur Verteilung des Finanzaufkommens im Bundesstaat sowohl den Bund wie auch die Länder in die Lage zu versetzen, die ihnen verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben wahrzunehmen. Nur eine aufgabenangemessene Finanzausstattung lässt die staatliche Selbständigkeit von Bund und Ländern real werden. Sie schafft die Grundlage dafür, dass sich Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenwahrnehmung entfalten können. Alle Glieder des Bundesstaates müssen im Rahmen der insgesamt verfügbaren Finanzmasse, soweit möglich, über eine angemessene Finanzausstattung verfügen.5 Die Vorschriften der Finanzverfassung des Grundgesetzes über die Verteilung des Steueraufkommens bringen die im Bundesstaat bestehende Solidargemein3 BVerfGE 86, 148 (264 f.); bestätigt in BVerfGE 101, 158 (235); aus der Literatur Kesper, Bundesstaatliche Finanzordnung, 1998, S. 122 f.; Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, S. 662 ff.; Selmer, JuS 1995, 978 (983). 4 BVerfGE 86, 148 (263). 5 BVerfGE 72, 330 (383 ff.); Häde, Finanzausgleich, 1996, S. 139 ff.; Hidien, Der bundesstaatliche Finanzausgleich in Deutschland, 1999, S. 496 ff.; Kesper (Fn. 3), S. 97 ff.; Korioth (Fn. 3), S. 419 ff.; Wieland, Finanzverfassung, Steuerstaat und föderaler Ausgleich, in: Badura / Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre BVerfG, 2. Band, 2001, S. 771 (786 ff.).

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schaft von Bund und Ländern zum Ausdruck. Sie konkretisieren das die bundesstaatliche Ordnung prägende Prinzip des Einstehens der Glieder des Bundes füreinander.6 Aus diesem Prinzip hat das Bundesverfassungsgericht 1992 die verfassungsrechtliche Pflicht zur Hilfeleistung in extremen Haushaltnotlagen abgeleitet: „Befindet sich ein Glied der bundesstaatlichen Gemeinschaft – sei es der Bund, sei es ein Land – in einer extremen Haushaltsnotlage, die seine Fähigkeit zur Erfüllung der ihm verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben in Frage stellt und aus der es sich mit eigener Kraft nicht befreien kann, so erfährt dieses bundesstaatliche Prinzip seine . . . Konkretisierung in der Pflicht aller anderen Glieder der bundesstaatlichen Gemeinschaft, dem betroffenen Glied mit dem Ziel der haushaltswirtschaftlichen Stabilisierung auf der Grundlage konzeptionell aufeinander abgestimmter Maßnahmen Hilfe zu leisten, damit es wieder zur Wahrung seiner politischen Autonomie und zur Beachtung seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtungen befähigt wird.“7 Fehlt die finanzielle Basis für die autonome Staatlichkeit eines Gliedes des Bundesstaates, ist dieser selbst in seiner Existenz bedroht.8 Gerade in dieser existenzbedrohenden Situation beweist der Bund, der die Glieder zu einer staatlichen Einheit verknüpft, seine Stärke und Eigenart. Da alle Glieder des Bundes aufeinander angewiesen sind, ist ihr Verhältnis durch das Prinzip der Solidarität geprägt. Extreme Notlagen – sei es in haushaltsmäßiger, sei es in anderer Hinsicht – treffen ein Glied des Bundes nicht allein, sondern in seiner Stellung als Teil einer Gemeinschaft. Diese begründet eine Hilfspflicht; sie legt dem in finanzieller Notlage befindlichen Mitglied des Bundes aber ebenfalls weitreichende Pflichten auf. Bundesstaatliche Solidarität wirkt nicht nur in einer Richtung, sondern verpflichtet ebenso wie die hilfeleistungsfähigen Bundesglieder auch das hilfsbedürftige Mitglied. Bundesstaatliche Pflichten sind wechselbezüglich und können nur gemeinsam umgesetzt werden. Das zeigt sich an Tatbestand und Rechtsfolgen der verfassungsrechtlichen Pflicht zur Sanierungshilfe in extremen Haushaltsnotlagen.

V. Der Tatbestand der Hilfeleistungspflicht Tatbestandliche Voraussetzungen der Pflicht zur Sanierungshilfe sind eine extreme Haushaltsnotlage und alle zumutbaren eigenen Sparanstrengungen.

6 7 8

Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 218 ff. BVerfGE 86, 148 (264 f.). BVerfGE 86, 148 (263).

12 Baßeler u. a.

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1. Haushaltsnotlage Eine Haushaltsnotlage wird durch das Verhältnis zwischen der Netto-Kreditaufnahme auf der einen und Einnahmen oder Ausgaben des Haushalts auf der anderen Seite indiziert. Als Indikator für eine Haushaltsnotlage kommt darüber hinaus die Zins-Steuerquote in Betracht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts befindet sich ein Land jedenfalls dann in einer Haushaltsnotlage, wenn seine Kreditfinanzierungsquote höher ist als der doppelte Durchschnittswert aller Länder unter Einbeziehung ihrer Kommunen und wenn seine Zins-Steuer-Quote um 70 % über dem Länderdurchschnitt liegt. Besonders aussagekräftig ist insoweit die Zins-Steuer-Quote, weil sie kurzfristig nicht beeinflussbar ist, während die Kreditfinanzierungsquote sich in einzelnen Jahren eher nach oben oder unten verändern lässt, um haushaltspolitisch gewünschte Ergebnisse zu erreichen.

2. Extreme Haushaltsnotlage Eine extreme Haushaltsnotlage unterscheidet sicht von einer „einfachen“ Haushaltsnotlage durch den Umfang der finanziellen Mittel, die zu einer Sanierung des Haushalts erforderlich sind.9 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegt eine extreme Haushaltsnotlage dann vor, wenn der jährliche Finanzbedarf, der mindestens für eine Haushaltssanierung erforderlich ist, eine Höhe erreicht, die es ausschließt, noch von einer Hilfe zur Selbsthilfe zu sprechen, die durch die üblichen Ausgleichs- und Unterstützungsmechanismen der Finanzverfassung bewirkt werden können.10 Als erstes Kriterium für das extreme Ausmaß einer Haushaltsnotlage gilt, dass ein Land über viele Jahre hinweg fasst ununterbrochen die rechtliche Grenze für eine Kreditaufnahme überschritten hat. Zweiter Indikator ist der finanzielle Aufwand, den eine Haushaltssanierung innerhalb eines begrenzten Zeitraums – etwa von 5 Jahren – erfordern würde. Als Bezugspunkt für das nach Ablauf dieses Zeitraums zu erreichende Ziel gilt die Haushaltslage des Landes, das im Vergleich zu dem Notlagenland die nächstschlechte Haushaltslage aufweist. Eine Hilfe zur Selbsthilfe scheidet dann aus, wenn die für eine Sanierung benötigten Finanzmittel jährlich einen Umfang von mehr als 20 Prozent des Haushaltvolumens des Notlagenlandes ausmachen. Aus dem Tatbestand der extremen Haushaltsnotlage ergibt sich damit zugleich der für die erforderliche Haushaltssanierung bestehende Finanzbedarf. Danach besteht der Tatbestand einer extremen Haushaltsnotlage jedenfalls dann, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: Der während einer fünfjährigen Sanierungsperiode erforderliche Finanzbedarf für den Ersatz der normal üblichen BVerfGE 86, 148 (262 f.). Hidien, Ergänzungszuweisungen des Bundes gem. Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG, 1997, S. 138 ff. und ders. (Fn. 3), S. 794. 9

10

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Kreditaufnahme und die stufenweise Entschuldung müssen einen Umfang von mindestens 20 Prozent des Haushalts des Notlagelandes ausmachen. Bezugspunkt für den zur Haushaltssanierung und zur Beendigung der extremen Haushaltsnotlage erforderlichen Betrag ist das Land mit der im Vergleich zu dem Notlagenland oder den Notlagenländern nächsthöchsten Zins-Steuer-Quote. Weiterer wesentlicher Indikator für eine extreme Haushaltsnotlage ist eine langjährige beträchtliche Überschreitung der verfassungsrechtlich vorgegebenen Grenze für die Kreditaufnahme in dem betreffenden Land.11

3. Entstehen des Anspruchs auf Sanierungshilfe Der verfassungsrechtliche Anspruch auf Sanierungshilfe entsteht, sobald die Gefahr einer extremen Haushaltsnotlage sich konkretisiert. Das ist dann der Fall, wenn im zeitlichen Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung und unter Zugrundelegung von deren Daten ohne Eingreifen von außen mit einer extremen Haushaltsnotlage zu rechnen ist. Dann sind präventive Maßnahmen zur Abwehr einer extremen Haushaltsnotlage nicht nur zulässig, sondern von Verfassungs wegen geboten. Dem entspricht das subjektive Recht eines möglichen Notlagenlandes auf vorbeugende Sanierungshilfe. Es widerspräche der bundesstaatlichen Solidaritätspflicht, wenn die zur Hilfe verpflichteten Glieder des Bundes sehenden Auges abwarten dürften oder sogar müssten, bis eine seit längerem abzusehende extreme Haushaltsnotlage tatsächlich eingetreten ist, obwohl vorbeugende Hilfe den Eintritt der extremen Haushaltsnotlage verhindert hätte.12

4. Eigenanstrengungen des Haushaltsnotlagenlandes Die Gewährung von Sanierungshilfe zur Beseitigung der extremen Haushaltsnotlage eines Landes, die nur in Ausnahmefällen als Hilfeleistungspflicht der bundesstaatlichen Gemeinschaft im Betracht kommt, setzt bereits von Verfassungs wegen ausreichende eigene Anstrengungen des Notlagenlandes voraus. Der Gesetzgeber hat diese Obliegenheit des Notlagenlandes im § 12 Abs. 4 des Maßstäbegesetzes verdeutlicht. Bund und Notlagenland trifft insoweit eine Kooperationspflicht.13 Diese Pflicht ist unmittelbar im Prinzip bundesstaatlicher Hilfeleistung angelegt. Da Not, die im Bundesstaat kraft der Solidaritätspflicht gemeinsam zu bewältigen ist, „Anstrengungen und Einschränkungen auf allen Seiten“ erfordert, darf Sanierungshilfe nur „im Rahmen eines von dem betroffenen Land aufzustellenden Programms zur Haushaltssanierung“ geleistet werden.14 11 12 13 14

12*

BVerfGE 86, 148 (263). BVerfGE 86, 148 (Ls. 6 b). BVerfGE 86, 148 (268). BVerfGE 86, 148 (263 f.).

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Die bundesstaatliche Solidargemeinschaft wirkt also nicht etwa nur in eine Richtung, sondern verlangt von allen Beteiligten erhebliche Anstrengungen. Die Pflicht zur Sanierungshilfe und die Pflicht zur Aufstellung eines Sanierungsprogramms korrespondieren miteinander. Ein Land, das nicht alle ihm möglichen Anstrengungen zur Haushaltssanierung unternimmt und sich entsprechend einschränkt, hat keinen Anspruch auf finanziellen Beistand der anderen Bundesglieder.15 Sie müssen wegen der extremen Haushaltsnotlage eines Landes auf Finanzmittel verzichten, die ihnen nach den finanzverfassungsrechtlichen Vorgaben für die bundesstaatliche Verteilung der insgesamt zur Verfügung stehenden Gelder in der Normallage zustehen. Aus diesem Grund müssen sie ihre eigenen Ausgaben einschränken oder ihre eigene Verschuldung erhöhen. Dieses Opfer verlangt die Verfassung von ihnen nur unter der Voraussetzung, dass das Empfängerland mindestens gleichwertige, besser: größere Sparanstrengungen unternimmt.

VI. Die Irrelevanz von Verschulden Für die verfassungsrechtliche Beistandpflicht spielt es keine Rolle, ob und inwieweit in Not befindliche Glieder des Bundes ihre Lage selbst verursacht oder verschuldet haben. Zwar soll die Sanierungshilfe nicht dazu dienen, finanziellen Schwächen abzuhelfen, die eine unmittelbare und voraussehbare Folge von politischen Entscheidungen bilden, die von einem Land in Wahrnehmung von seiner Aufgaben selbst getroffen werden. Eigenständigkeit und politische Autonomie bringen es mit sich, dass die Länder für die haushaltpolitischen Folgen solcher Entscheidungen einzustehen haben.16 Ungeachtet dessen können nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „aber bei einer Haushaltsnotsituation eines Landes, wenn eine Abhilfe auf andere Weise nicht möglich ist, auch Lasten, die durch diese Notsituation bedingt sind, als berücksichtigungsfähiger Sonderbedarf in Betracht kommen.“17 Allein das Bestehen einer extremen Haushaltsnotlage löst unabhängig von ihren Ursachen die Pflicht zu Gewährung von Sanierungshilfe aus. Das Bundesverfassungsgericht macht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Sanierungshilfe zu Recht nicht davon abhängig, dass kein „Fehlverhalten“ des Haushaltsnotlagenlandes in der Vergangenheit vorgelegen hat. Eine derartige Ursachenforschung würde wegen der Komplexität haushalts- und finanzwirtschaftlicher Fehlentwicklungen und wegen des Ineinanderwirkens verschiedener Faktoren regelmäßig erfolglos bleiben und wäre der Schwere der finanziellen Notlage, die letztlich für ein Land existenzbedrohend werden kann, nicht angemessen. In einer extremen Haushaltsnotlage greift die verfassungsrechtliche Solidaritätspflicht in jedem Fall ein, weil das Grundgesetz eine föderale Ordnung geschaffen 15 16 17

BVerfGE 72, 330 (405). BVerfGE 72, 330 (405). BVerfGE 86, 148 (260 f.).

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hat, in der jedes Land seine verfassungsmäßigen Aufgaben erfüllen muss. Das aber ist nur möglich, wenn alle Länder ebenso wie der Bund über die erforderliche Finanzausstattung verfügen. Mangelt es an dieser, ist der Bundesstaat als solcher in seiner Funktionsfähigkeit bedroht.18 Deshalb kann es für die verfassungsrechtliche Beistandspflicht keine Rolle spielen, ob und inwieweit in Not befindliche Glieder des Bundes ihre Lage selbst verursacht oder verschuldet haben.

VII. Die Rechtsfolgen Zur Sanierungshilfe verpflichtet ist vorrangig der Bund. Er steht in einer besonderen Verantwortung, weil er aufgrund der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes über die Handlungsinstrumente verfügt, die zur wirksamen Abwehr oder Beseitigung einer extremen Haushaltsnotlage erforderlich sind. Das sind vor allem die Gesetzgebungsbefugnisse des Bundes im Bereich des Steuer-, Finanzausgleichs- und Haushaltsgrundsatzrechts.19 Die verfassungsrechtliche Beistandspflicht aus dem bündischen Prinzip des Einstehens füreinander trifft jedoch nicht den Bund allein, sondern auch die Länder. Ihre Kooperationspflicht dirigiert ihre Mitwirkung bei der Bundesgesetzgebung durch ihr Abstimmverhalten im Bundesrat sowie die Verteilung der Lasten. Die beistandsverpflichteten Länder müssen den Bund durch ihre Vertreter im Bundesrat bei der Erfüllung seiner Beistandspflicht für das Haushaltsnotlagenland unterstützen. Daneben müssen sie ebenso wie der Bund die finanziellen Lasten tragen, die sich aus der Wahrnehmung der Beistandspflicht für das Land in einer extremen Haushaltsnotlage ergeben.20 Dem Bundesgesetzgeber steht zwar regelmäßig ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu, welches Mittel zur Sanierungshilfe ergriffen wird. Dieser Spielraum verdichtet sich jedoch regelmäßig zu der Pflicht, Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen zu gewähren. Das ist dann der Fall, wenn der Einsatz anderer Hilfsinstrumente wie Mischfinanzierungen oder Investitionshilfen nicht ausreicht, um der extremen Haushaltsnotlage wirksam zu begegnen. Der Betrag der Sanierungshilfe muss so bemessen sein, dass das Land, das sich in einer extremen Haushaltsnotlage befindet, im Zeitraum von ungefähr 5 Jahren die Zins-Steuer-Quote des Landes erreichen kann, das im Verhältnis zu dem Land oder den Ländern in einer extremen Haushaltsnotlage die nächsthöhere Zins-Steuer-Quote aufweist.21 Außerdem muss die Sanierungshilfe so bemessen sein, dass dem Land in einer extremen Haushaltsnotlage die Möglichkeit gegeben wird, seine 18 19 20 21

BVerfGE 86, 148 (263). BVerfGE 86, 148 (265 f.). BVerfGE 86, 148 (264 f.). BVerfGE 86, 148 (263).

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Staatsverschuldung wieder auf ein Maß zurückzuführen, das den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht.

VIII. Das föderale Gleichbehandlungsgebot Die Gewährung von Sanierungshilfe unterliegt dem föderativen Gleichbehandlungsgebot. Der Status der Gleichheit ist für alle Mitgliedstaaten der Bundesrepublik von Verfassungs wegen grundlegend. Berlin hat seinen Anspruch auf Sanierungshilfe geltend gemacht, als der Bund dem Saarland und Bremen Sanierungshilfe gewährt hat. Es konnte sich insoweit zur Unterstützung seines Anspruchs auf das föderative Gleichbehandlungsgebot berufen. Das Gleichbehandlungsgebot schließt es aus, Länder in einer Extremhaushaltsnotlage bei der Gewährung von Sanierungshilfe unterschiedlich zu behandeln. Der Bund darf seine finanziellen Leistungen nur zeitlich strecken, wenn er sonst selbst finanziell überfordert wäre.

IX. Die Folgerungen für Berlin Berlin befindet sich spätestens seit 2002 in einer extremen Haushaltsnotlage. Die Zins-Steuer-Quote des Landes liegt weit über dem Doppelten des Länderdurchschnitts.22 Die Kreditfinanzierungsquote Berlins machte schon 2001 ungefähr das Doppelte des Länderdurchschnitts aus und war 2002 um weitere 2 Prozentpunkte auf über 17 Prozent gestiegen.23 Die verfassungsrechtliche Obergrenze für die Kreditaufnahme in der Berliner Landesverfassung ist nicht nur in der Vergangenheit regelmäßig überschritten worden, sondern wird selbst bei einschneidenden Konsolidierungsmaßnahmen vom Land aus eigener Kraft in absehbarer Zukunft nicht einzuhalten sein.24 Dennoch hat der Bundesminister der Finanzen im April 2003 die Auffassung vertreten, das Land Berlin habe nicht überzeugend darlegen können, dass es sich tatsächlich in einer extremen Haushaltsnotlage befinde. Immerhin hat auch der Bundesfinanzminister eingeräumt, dass das anhaltend hohe Defizit und die stark wachsende Verschuldung des Berliner Landeshaushalts für die Zukunft die Gefahr des Entstehens einer Haushaltsnotlage berge. Daraus folgt aber nicht nur die Pflicht des Landes Berlin zu einem restriktiven Konsolidierungskurs, der geeignet ist, das Eintreten einer Haushaltsnotlage zu vermeiden. Vielmehr verpflichtet bereits die konkrete Gefahr einer Haushaltsnotlage als solche den Bund zur Gewäh22 Finanzplanung von Berlin 2003 bis 2007, 2003, S. 21 ff.; Färber, Zur Haushaltsnotlage Berlins, 2003, S. 7 ff. 23 Finanzplanung von Berlin, 2003 bis 2007, 2003, S. 24. 24 Näher zu den Perspektiven der Haushaltsentwicklung Berlins Finanzplanung von Berlin, 2003 bis 2007, 2003, S. 45 ff.; Färber (Fn. 22), S. 15 ff.

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rung von Sanierungshilfe, damit die nach seiner Auffassung noch nicht entstandene Notlage nicht eintritt. Den erforderlichen Sanierungsbeitrag hatte das Land mit der Senkung seiner Primärausgaben, die seitdem weiter fortgesetzt wird, erbracht. Wenn das Land an seinem Sanierungskurs festhält und weiterhin alle ihm zumutbaren Anstrengungen zur Haushaltssanierung unternimmt, bleiben die Voraussetzungen für die Gewährung von Sanierungshilfe bestehen.

X. Die Gegenargumente In dem von Berlin angestrengten Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht bestreiten der Bund und mehrere andere Länder, dass die vom Bundesverfassungsrecht 1992 für die Sanierungshilfe in Haushaltsnotlagen aufgestellten Voraussetzungen heute noch gelten. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Voraussetzungen aber ganz allgemein formuliert. Da sie letztlich im bundesstaatlichen Prinzip selbst wurzeln, gelten sie ungeachtet dessen weiter, dass sich auch die Finanzsituation des Bundes und vieler anderer Länder in den letzten 15 Jahren deutlich verschlechtert hat. Weiter berufen sich der Bund und einige andere Länder in Karlsruhe darauf, dass Berlin letztlich ein Ausgabenproblem habe, das es selbst lösen könne. Eine Analyse der Entstehung der extremen Haushaltsnotlage in Berlin zeigt jedoch, dass diese strukturell bedingt ist. Eine strukturelle Ursache der Notlage liegt insbesondere im überstürzten Abbau der Bundeshilfe für Berlin nach der Wiedervereinigung bei gleichzeitig fortdauernden Belastungen durch dauerhafte Ausgabenstrukturen, die zur Zeit der Teilung Deutschlands geschaffen wurden und nicht kurzfristig abgebaut werden konnten. Meist übersehen wird in diesem Zusammenhang der Wegfall der Finanzierung Ost-Berlins aus dem Zentralhaushalt der ehemaligen DDR, während gleichzeitig ein nach westlichen Maßstäben überdimensionierter Personalkörper und ein Immobilienbestand mit erheblichem Sanierungsbedarf übernommen werden mussten.25 Nach der Wiedervereinigung hat sich das Bruttoinlandsprodukt und in der Folge das Steueraufkommen Berlins deutlich unterdurchschnittlich entwickelt, zumal die früher hochsubventionierte Berliner Wirtschaft in beiden Stadthälften nach der Wende weitgehend nicht mehr konkurrenzfähig war. Bereits seit Mitte der 90er Jahre hat Berlin eine durchgreifende Konsolidierungspolitik betrieben. Seit 1995 hat es seine Ausgaben in einem im Ländervergleich einmaligen Umfang zurückgeführt, während gleichzeitig die Ausgaben im Durchschnitt aller Länder und Gemeinden stetig anstiegen. Dennoch hat der Einbruch der Steuereinnahmen vom Jahre 2001 an jede Chance auf eine Sanierung aus eigener Kraft zunichte gemacht. 25 Näher Finanzplanung von Berlin 2002 bis 2006, 2002, Seite 21 ff.; zu den Ursachen und Hintergründen der Berliner Haushaltsnotlage umfassend Färber (Fn. 22), S. 32 ff.

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Zwar kann nicht bestritten werden, dass die Sanierungsbemühungen Bremens und des Saarlands bislang nicht von Erfolg gekrönt waren. Bei der Gestaltung der im Zusammenhang mit der Gewährung von Sanierungshilfe abzuschließenden Sanierungsvereinbarung können aber im Falle Bremens und des Saarlands gewonnenen Erfahrungen im Sinne einer möglichst effizienten Hilfe genutzt werden. Denkbar ist es auch, dass der Bund seine Hilfe zur Sanierung nicht in Form von Zahlungen an Berlin leistet, sondern dass die Altschulden ähnlich jenen der Treuhandanstalt oder der Deutschen Bahn in einen Fonds übernommen werden. Berlin würde auf diese Weise von Zins und Tilgung entlastet und erhielte die Chance zu einem finanzwirtschaftlichen Neuanfang, ohne dass die Gefahr einer „Fehlverwendung“ von Sanierungsgeldern bestünde. Letztlich vermögen die im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht vom Bund und einigen Ländern vorgebrachten Argumente gegen einen Anspruch Berlins auf Sanierungshilfe also nicht zu überzeugen. Zwar ist die finanzielle Lage von Bund und allen Ländern schwierig. Dennoch ist es verfassungsrechtlich geboten und tatsächlich möglich, dass der Bund mit Unterstützung der anderen Länder Berlin zu einer Sanierung seines Haushalts verhilft, wenn das Land weiter an seinem strikten Konsolidierungskurs festhält. Die Sanierung der Berliner Finanzen liegt im wohlverstandenen Interesse nicht nur des Landes selbst, sondern von ganz Deutschland. Je eher diese Aufgabe angegangen wird, desto eher kann sie erfolgreich bewältigt werden.

Probleme und Perspektiven bezirklicher Selbstverwaltung Von Andreas Musil

I. Einleitung Wer als unbefangener Betrachter auf Berlin und seine Bezirke blickt, mag sich angesichts meines Themas fragen, was man denn schon als Jurist Interessantes über die Rechtsstellung der Bezirke und ihr Verhältnis zur Gesamtstadt sagen könne. Sie seien eben Städte von etwa 300.000 Einwohnern mit eigenem Bürgermeister und Bezirksverordnetenversammlung, die zusammen die große Stadt und das Land Berlin bilden. Ein Blick in jedes gängige Kommunalrechts-Lehrbuch könne doch die auftretenden Rechtsfragen klären. So einfach liegen die Dinge indes nicht. Die Berliner Bezirke stellen in der kommunalrechtlichen Landschaft der Bundesrepublik Deutschland Unikate dar, die einer besonderen Betrachtung bedürfen. Dieser Charakter wird vom Gesetz selbst treffend umschrieben. In § 2 BezVG heißt es nämlich, die Berliner Bezirke seien Selbstverwaltungseinheiten Berlins ohne Rechtspersönlichkeit. Die Bezirke sind also keine Gemeinden. Gemeinde ist nach Art. 1 VvB ausschließlich das Land Berlin in seiner Gesamtheit1. Trotzdem sollen die Bezirke aber Selbstverwaltung ausüben. Das verwundert, ist Selbstverwaltung normalerweise doch untrennbar mit einem autonomen rechtlichen Status, meist in Form der Körperschaft, verbunden. Der gedankliche Hintergrund dieser zwiespältigen Regelung ist klar. Einerseits soll Berlin eine starke Einheit bilden. Man hat sich für das Prinzip der Einheitsgemeinde entschieden, im Unterschied zu Zweckverbandslösungen, bei denen die einzelnen Glieder selbständig blieben. Gleichzeitig sollen aber handlungsfähige örtliche Einheiten bestehen, die für die Probleme der Bürger vor Ort zuständig sind, den Bürgern also vor Ort Mitsprache ermöglichen. Soweit der richtige Grundgedanke. Die in Berlin gefundene Mittellösung vermeidet vom Ansatz her die Probleme, die mit zu starker Zentralisierung, aber auch zu starker Dezentralisierung einhergehen2. Allerdings fragt sich, ob die Ausgestal1 Hierzu Remmert, Zur Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 II 1 GG im Land und für das Land Berlin, LKV 2004, S. 341 ff. 2 Siehe Röber / Schröter, Europäische Metropolen im Vergleich – Institutionenentwicklung zwischen Konvergenz und Divergenz, Zeitschrift für Kommunalwissenschaften 2004, Heft 2, S. 129 ff.

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tung der bezirklichen Stellung im Einzelnen wirklich gelungen ist. Die Frage ist zu verneinen. Dies näher aufzuzeigen und mögliche Alternativen und Perspektiven anzubieten ist das Anliegen dieses Vortrages. Zu diesem Zweck möchte ich die bezirkliche Rechtsstellung zunächst allgemein im Rahmen eines Vergleichs mit der Stellung der Gemeinden verdeutlichen3. Im Anschluss widme ich mich einigen besonders brisanten Einzelproblemen, die sich im Verhältnis der Bezirke zur Gesamtstadt stellen. Dies ist zunächst die Frage der Finanzierung und der Haushaltswirtschaft, sodann die Frage des Aufsichtsinstrumentariums, Stichwort: Eingriffsrecht. Hier geht es auch um etwaige bezirkliche Klagerechte gegen die Gesamtstadt. Weiter befasse ich mich mit dem politischen Bezirksamt. Es wird sich zeigen, dass all diese Einzelprobleme auf Strukturdefizite der Berliner Verwaltung hinweisen. Diese bestehen vor allem in einer zu starken Verschränkung der Kompetenzen von Bezirksebene und Gesamtstadtebene. Als Therapie schlage ich eine Entflechtung der Ebenen und eine Stärkung der Bezirksebene vor. Dies trotz und angesichts der Perspektive, dass Berlin mittelfristig selbst nur noch den Status einer kreisfreien Stadt innehaben könnte.

II. Begriffsfragen Zunächst aber noch einmal zu den Begrifflichkeiten. Man kann der Auffassung sein, die gesetzliche Bestimmung, die Bezirke seien Selbstverwaltungseinheiten ohne Rechtspersönlichkeit, sei begrifflich widersprüchlich4. Der Begriff der Selbstverwaltung setzt in der Tat einen abgrenzbaren Verband voraus, der Mitglieder besitzt, die ihre eigenen Angelegenheiten selbst und eigenständig verwalten5. Eine Grundvoraussetzung, nämlich die mitgliedschaftliche Verfasstheit, erfüllen die Bezirke nicht. Insoweit kann im Zusammenhang mit den Bezirken keine Selbstverwaltung im technischen Sinne vorliegen. Der Begriff wird vom Gesetzgeber benutzt, um prägnant zu umschreiben, dass es um Elemente einer Rechtsstellung geht, wie sie in der Regel nur Selbstverwaltungsträgern zukommt. Die Bezirke sollen organisationsrechtlich aus dem Kreis bloß in die Hierarchie eingebundener Behörden herausgehoben werden. Deshalb spricht Art. 66 Abs. 2 VvB auch nicht davon, die Bezirke verwalteten sich selbst, sondern sie erfüllten ihre Aufgaben nach den Grundsätzen der Selbstverwaltung. Entscheidend für die bezirkliche Rechtsstellung soll sein, dass es Aufgaben gibt, die die Bezirke in eigener Verantwortung und mit Letztentscheidungskompetenz erfüllen. In diesem Sinne soll Selbstverwaltung auch im Folgenden verstanden werden. 3 Siehe hierzu bereits Deutelmoser, Zur Garantie der bezirklichen Selbstverwaltung nach der Verfassung von Berlin, LKV 1999, S. 350 f. 4 So insbesondere Sendler, Verwaltungsorganisation und Entwicklung der Verwaltung in Berlin seit 1945, JR 1985, S. 441 ff., 446. 5 Vgl. Jestaedt, Selbstverwaltung als „Verbundbegriff“ – Vom Wesen und Wert eines allgemeinen Selbstverwaltungsbegriffs, Die Verwaltung 35 (2002), S. 293 ff.

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Selbstverwaltung wird in der Regel flankiert durch entsprechende rechtliche Garantien. So steht den Gemeinden die Garantie kommunaler Selbstverwaltung zu6, die Hochschulen können sich auf die Garantie der akademischen Selbstverwaltung berufen7. Dass demgegenüber keine ausdrückliche Garantie bezirklicher Selbstverwaltung in der Verfassung normiert ist, verwundert angesichts der Rechtsnatur der Bezirke nicht. Um ihrer Rechtsstellung dennoch näher zu kommen, soll nun ein Vergleich mit der Rechtsstellung der Gemeinden vorgenommen werden.

III. Die bezirkliche Rechtsstellung im Vergleich mit den Gemeinden 1. Die Rechtsstellung der Gemeinden im Überblick Die gemeindliche Rechtsstellung ist vor allem durch die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung geprägt, die in Art. 28 Abs. 2 GG normiert ist8. Diese Garantie gewährleistet den Gemeinden einen autonomen Status, der sie zu eigenständigem Handeln unabhängig von dem Bundesland befähigt, zu dem sie organisatorisch gehören9. Die kommunale Selbstverwaltungsgarantie lässt sich dementsprechend in eine Reihe von Einzelverbürgungen aufspalten, deren wichtigste im Folgenden genannt seien10. Zunächst garantiert Art. 28 Abs. 2 GG die Existenz von Verwaltungseinheiten mit der Bezeichnung Gemeinde, die gegenüber der staatlichen Ebene eine verselbständigte Stellung innehaben. Zwar ist nicht jede einzelne Gemeinde in ihrem Bestand geschützt, den Gemeinden insgesamt ist aber der Körperschaftsstatus verbürgt, so dass es keine Gemeinde ohne Körperschaftsstatus geben kann. Weiterhin gewährleistet Art. 28 Abs. 2 GG den Gemeinden das Recht, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln11. Diese Gewährleistung lässt sich in zwei Segmente untergliedern: die Allzuständigkeit und die Eigenverantwortlichkeit. Allzuständigkeit heißt, dass die Gemeinden grundsätzlich zur Regelung aller Angelegenheiten in ihrem räumlichen Bereich zuständig sind, insbesondere für neue Aufgaben12. Hierzu statt vieler Löwer, in: von Münch / Kunig, GG, Art. 28, Rz. 33 ff. Zu deren Inhalt vgl. nur Knemeyer, Hochschulautonomie / Hochschulselbstverwaltung in: Handbuch des Wissenschaftsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 1996, S. 237 ff. 8 Dazu Löwer, in: von Münch / Kunig, GG, Art. 28, Rz. 33. 9 Siehe hierzu auch den Überblick in Musil / Kirchner, Das Recht der Berliner Verwaltung, 2002, Rz. 36 ff. 10 In Anlehnung an Stern, Staatsrecht Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 409, wird unterschieden zwischen institutioneller Rechtssubjektsgarantie, objektiver Rechtsinstitutionsgarantie und subjektiver Rechtsstellungsgarantie. 11 Vgl. BVerfGE 26, 228, 237; 79, 127, 143. 12 BVerfGE 79, 127, 146 f. 6 7

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Eigenverantwortlichkeit heißt, dass die Gemeinden ihre Aufgaben grundsätzlich frei von Weisungen in eigener Verantwortung erledigen können13. Die Eigenverantwortlichkeit umfasst die sogenannten Gemeindehoheiten. Die Gemeinden besitzen Gebietshoheit, Personalhoheit, Organisationshoheit, Rechtssetzungshoheit, Planungshoheit und Finanzhoheit14. Art. 28 Abs. 2 GG garantiert den Gemeinden auch das Recht, die soeben geschilderten Garantien gerichtlich einklagen zu können. Deshalb gibt es die Kommunale Verfassungsbeschwerde und das Klagerecht vor den Verwaltungsgerichten. Schließlich gewährleistet Art. 28 Abs. 2 S. 3 GG auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung. Im Zusammenspiel mit der Finanzhoheit sind also die so wichtigen finanziellen Grundlagen der Selbstverwaltung verfassungsrechtlich untermauert. Die Selbstverwaltungsgarantie ist Ausgangspunkt weiterer Normierungen in den Länderverfassungen sowie in den Gemeindeordnungen und sonstigen Vorschriften der Länder. Diese müssen sich alle an Art. 28 Abs. 2 GG ausrichten und bleiben in ihren Einzelheiten vorliegend außer Betracht.

2. Die Rechtsstellung der Bezirke Die bezirkliche Rechtsstellung ist mit der gemeindlichen nur partiell vergleichbar. Dies gilt auch nach den Verwaltungsreformen der neunziger Jahre, die unter anderem auch das Ziel verfolgten, die bezirkliche Selbstverwaltung und Eigenverantwortlichkeit zu stärken15. Dass dies nur in Ansätzen gelungen ist, soll im Folgenden gezeigt werden. Zunächst kann festgehalten werden, dass die kommunale Selbstverwaltungsgarantie nicht für die Bezirke gilt. Vielmehr kann sich Berlin als Ganzes auf Art. 28 Abs. 2 GG berufen16. Dies hat insbesondere im Verhältnis zum Bund Bedeutung17. In der Verfassung von Berlin findet sich keine Art. 28 Abs. 2 GG vergleichbare Garantie für die Bezirke. Zwar steht in Art. 66 Abs. 2 VvB, dass die Bezirke ihre Aufgaben nach den Grundsätzen der Selbstverwaltung wahrnehmen. Der Berliner Verfassungsgerichtshof hat jedoch bereits festgestellt, dass aus dieser Norm keine verfassungsrechtliche Selbstverwaltungsgarantie folge18. Wenn überhaupt, so gibt es für die Bezirke nur in Teilbereichen Gewährleistungen, die mit der gemeindlichen Rechtsstellung vergleichbar sind. 13 14 15 16 17 18

Dreier, in: ders., GG, Art. 28, Rz. 106. Vgl. Stern, Staatsrecht Bd. 1, S. 413 ff. Ausführlich Musil / Kirchner, Das Recht der Berliner Verwaltung, Rz. 44 ff. Vgl. Remmert, LKV 2004, S. 341. Dazu Remmert, LKV 2004, S. 341 ff., 343 ff. VerfGH, LVerfGE 1, 33, 37.

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Zunächst ist die bezirkliche Rechtsstellung durch ihre organisatorische Unselbständigkeit bestimmt. Die Bezirke sind unselbständige Teile des Landes Berlin und damit unmittelbare Staatsverwaltung. Sie stehen also, was die organisatorische Stellung betrifft, nicht besser da als der Polizeipräsident oder die Feuerwehr. Auch sind die Bezirke nicht allzuständig. Sie sind zwar regelmäßig zur Erledigung der örtlichen Angelegenheiten berufen (vgl. Art. 66 Abs. 2 S. 2 VvB), auch besteht im Falle der Nichtregelung eine Auffangzuständigkeit der Bezirke. Jedoch fehlen den Bezirken die rechtlichen Mittel, um beispielsweise neue Aufgaben sinnvoll regeln zu können19. So haben sie keine Satzungsgewalt und können nur sehr begrenzt rechtssetzend tätig werden. Eigenverantwortliches Handeln ist den Bezirken nur in engen Grenzen erlaubt. Gebietshoheit können sie mangels Rechtspersönlichkeit nicht besitzen. Personalhoheit, verstanden als Bestimmungsrecht über Einstellung, Versetzung, Entlassung des eigenen Personals, steht den Bezirken aufgrund von Art. 77 Abs. 1 S. 2 VvB partiell zu. Die bezirkliche Organisationshoheit ist durch detaillierte Regelungen im BezVG stark eingeschränkt. Bereits erwähnt wurde die mangelnde Rechtssetzungshoheit der Bezirke. Nur in einem Bereich, nämlich bei Bauleit- und Landschaftsplanung, erlaubt Art. 64 Abs. 2 VvB die Übertragung der Befugnis zum Erlass von Rechtsverordnungen auf die Bezirke. Damit ist auch bereits der Bereich angesprochen, in dem die bezirkliche Stellung noch am ehesten mit der gemeindlichen vergleichbar ist. Es ist dies der Erlass von Bebauungsplänen. Hier besitzen die Bezirke Elemente einer Planungshoheit, die allerdings durch das AGBauGB wieder abgeschwächt werden. Besonders gravierend für die bezirkliche Rechtsstellung ist das Fehlen einer eigenen Finanzhoheit. Die Bezirke verfügen anders als die Gemeinden nicht über eigene Steuereinnahmen, sondern sind von Mittelzuweisungen durch die Gesamtstadt abhängig. Auch der Haushaltsplan wird nicht als eigenständige Rechtsnorm erlassen, sondern ist nur Teil des Haushaltsgesetzes des Landes Berlin20. Ein Klagerecht vor dem Verfassungsgericht besteht nur in dem speziellen Fall des Art. 84 Abs. 2 VvB21. Ob die Bezirke im Falle der Verletzung ihrer Rechtsstellung vor dem Verwaltungsgericht klagen können ist umstritten, im Ergebnis differenzierend zu beantworten22. Dazu später noch mehr. Das Fazit hinsichtlich des Vergleichs der Bezirke mit den Gemeinden fällt differenzierend aus. Einerseits fehlen den Bezirken aufgrund ihrer organisatorischen Eingliederung in die unmittelbare Staatsverwaltung wichtige selbständige BefugVgl. Musil / Kirchner, Das Recht der Berliner Verwaltung, Rz. 46 ff. Zu Elementen der Gemeindehoheiten mit Blick auf die Bezirke vgl. Deutelmoser, LKV 1999, S. 350 f.; Musil / Kirchner, Das Recht der Berliner Verwaltung, Rz. 53 ff. 21 Hierzu einerseits Remmert, Der Anspruch der Berliner Bezirke auf eine finanzielle Mindestausstattung, LKV 2003, S. 258 ff., 261 f.; andererseits Musil, Der Rechtsschutz der Berliner Bezirke, LKV 2003, S. 262. 22 Ausführlich Musil, LKV 2003, S. 262 ff. 19 20

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nisse, etwa die Satzungsgewalt oder die Gebietshoheit. In anderen Bereichen besitzen sie weitreichende Selbstverwaltungsbefugnisse, wie etwa im Rahmen der Bauleitplanung. Wenn in der Literatur allerdings teilweise bereits eine gemeindeähnliche Stellung konstatiert wurde23, so geht dieser Befund an den rechtlichen Fakten vorbei.

IV. Die finanzielle Lage der Bezirke 1. Die Einnahmewirtschaft Die Zwitterstellung der Bezirke wird vor allem dann zum Problem, wenn sie mit einer Kompetenzverschränkung der Bezirks- und der Gesamtstadtebene einhergeht. Dies führt zu Kompetenzkonflikten und Effizienzverlusten. An verschiedenen Einzelproblemen sei dies aufgezeigt. Zunächst soll die finanzielle Situation der Bezirke beleuchtet werden. Es wurde bereits angedeutet, dass die Bezirke keine Finanzhoheit besitzen. Dies gilt zunächst auf der Einnahmenseite. Im Unterschied zu den Gemeinden fehlt ihnen eine eigene steuerliche Einnahmequelle. Die Steuern, die normalerweise den Gemeinden zufließen, stehen dem Land Berlin in seiner Gesamtheit zu24. Auch haben die Bezirke keine Satzungsgewalt hinsichtlich kommunaler Steuern und keine Verwaltungskompetenz. Lediglich Gebühren und Beiträge können die Bezirke im Rahmen ihrer Zuständigkeiten vereinnahmen. Auch was die Erschließung sonstiger Einnahmequellen angeht, sind die Bezirke von der Gesamtstadt abhängig. Mangels Rechtsfähigkeit werden die Bezirke immer nur im Namen und für Rechnung des Landes Berlin tätig. Immerhin können sich die Bezirke im Rahmen ihrer Kompetenzen zumindest theoretisch selbst wirtschaftlich betätigen. In der Praxis sind allerdings diejenigen Betriebe und Beteiligungen, die einen wirtschaftlichen Erfolg versprechen, nicht bei den Bezirken, sondern bei der Hauptverwaltung angesiedelt25. Wie erhalten die Bezirke aber nun die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Mittel? Dies beantwortet Art. 85 Abs. 2 VvB, der anordnet, dass jeder Bezirk eine Globalsumme zur Erfüllung seiner Aufgaben zugewiesen erhält. Die Globalsummen wurden in den neunziger Jahren im Zuge der Verwaltungsreform eingeführt, um den Bezirken eine größere Eigenverantwortung zuzuweisen. Sie sollten selbst mit der erhaltenen Summe wirtschaften können. In der Praxis wird dieses Ansinnen allerdings durch zu niedrige Globalsummenzuweisungen konterkariert. Die Summen reichen kaum, um die Kosten für die Erfüllung der gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben der Bezirke zu decken, so dass jenseits dessen kein 23 So etwa Haaß, Die Rechtsstellung der Bezirke Berlins nach der Verfassungsreform, LKV 1996, S. 84 ff. 24 Hierzu Musil / Kirchner, Das Recht der Berliner Verwaltung, Rz. 411 ff. 25 Siehe zum Ganzen Musil / Kirchner, Das Recht der Berliner Verwaltung, Rz. 483 ff.

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Spielraum mehr zu eigenverantwortlicher Gestaltung bleibt. Angesichts dessen wurde bereits die Frage aufgeworfen, ob die Bezirke ein verfassungskräftiges Recht auf eine finanzielle Mindestausstattung hätten26. Die Frage ist richtigerweise zu verneinen, da ein solches Recht nur Ausfluss eines etwa vorhandenen Selbstverwaltungsrechtes sein könnte. Wie bereits geschildert, steht ein solches den Bezirken aber gerade nicht zu. Es geht meines Erachtens zu weit, aus der partiellen Zuweisung von Letztentscheidungsbefugnissen an die Bezirke auf ein Recht auf finanzielle Mindestausstattung zu schließen27. Das Fehlen einer eigenen Einnahmequelle führt im Ergebnis dazu, dass die Bezirke gerade in Zeiten knapper Ressourcen in hohem Maße von der Gesamtstadt abhängig sind. Spielräume, die in manchem Sachbereich eigentlich eröffnet sind, können so nicht genutzt werden. Der Mangel an eigenen Einnahmen kann aber auch von den Bezirkspolitikern als Vorwand benutzt werden, um eigene Verantwortung zu negieren oder zu relativieren. Insgesamt besteht hier Handlungsbedarf. 2. Die Haushaltswirtschaft Auch mit Blick auf die Ausgabenseite kann von einer eigenständigen bezirklichen Stellung nicht gesprochen werden. § 12 Abs. 2 Nr. 1 BezVG spricht der Bezirksverordnetenversammlung zwar das Recht zu, den Bezirkshaushaltsplan aufzustellen. Dieser ist jedoch keine eigenständige Rechtsnorm. Die Bezirke besitzen anders als die Gemeinden auch mit Blick auf den Haushaltsplan kein Satzungsrecht. Vielmehr stellen die von den Bezirksverordnetenversammlungen beschlossenen Pläne nur Entwürfe dar, die eine Grundlage für den Entwurf eines Haushaltsplans für das gesamte Land Berlin bilden28. Der Haushaltsplan wird vom Abgeordnetenhaus im Haushaltsgesetz festgesetzt, wie sich aus Art. 85 Abs. 1 S. 1 VvB ergibt. In ihrer prozeduralen Beteiligung sahen einige Bezirke in der Vergangenheit eine Möglichkeit, Druck auf das Abgeordnetenhaus auszuüben. Man erwog, die Verabschiedung von Bezirkshaushaltsplänen zu verweigern, um auf die finanzielle Misere der Bezirke aufmerksam zu machen. In der Tat hätte eine solche Weigerung zunächst das Verfahren zur Verabschiedung des Haushaltsgesetzes gestoppt, da die Bezirkshaushaltspläne unverzichtbare Bestandteile desselben sind. Allerdings hätte die bezirkliche Blockade im Wege der Bezirksaufsicht aufgelöst werden können29, so dass die Bezirke im Ergebnis nur eine zeitliche Verzögerung hätten erreichen So insbesondere Remmert, LKV 2003, S. 258 ff. So aber Remmert, LKV 2003, S. 258 ff., 261. 28 Zum Verfahren und zur Stellung der Bezirke siehe ausführlich Musil / Kirchner, Das Recht der Berliner Verwaltung, Rz. 438 ff.; Pfennig, in: ders. / Neumann, VvB, Art. 85, Rz. 43 ff. 29 Siehe hierzu noch später V. 2. 26 27

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können. Selbst wenn die zugewiesenen Mittel nicht zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben ausreichten, ergäbe sich hieraus kein Recht zur Verweigerung notwendiger Mitwirkungshandlungen bei der Aufstellung des Landeshaushalts. In der Vergangenheit konnte denn auch eine derartige bezirkliche Obstruktion noch verhindert werden. Es bleibt abzuwarten, ob manche Bezirke bei sich weiter verschärfender Finanzlage nicht doch zu diesem Mittel des Protestes greifen. Auch bei der Haushaltsaufstellung zeigt sich die typische Berliner Kompetenzverschränkung. Alle Seiten müssen mitwirken, um zu einem konstruktiven Ergebnis gelangen zu können.

V. Verwaltungskompetenzen, Aufsicht, Rechtsschutz 1. Die Verwaltungskompetenzen der Bezirke Ein Feld, auf dem sich die Ebenenverschränkung in besonderem Maße offenbart, ist das der Verwaltungskompetenzen. Die Bezirke besitzen zwei Organe, die Bezirksverordnetenversammlung und das Bezirksamt, das aus dem Bezirksbürgermeister und den Bezirksstadträten besteht. Insbesondere das Bezirksamt als Verwaltungsbehörde des Bezirks30 besitzt umfassende Verwaltungsbefugnisse, die sich im Einzelnen aus den Zuständigkeitskatalogen zum AZG sowie zum ASOG ergeben. Als untere Verwaltungsbehörde sind die Bezirksämter insbesondere für die Gefahrenabwehr zuständig. Sie erteilen beispielsweise Erlaubnisse aller Art und üben die Aufsicht in den ihnen zugewiesenen Angelegenheiten, etwa im Rahmen der Bau- und Gewerbeaufsicht, aus. Ein Bereich relativer Eigenverantwortung ist die bereits erwähnte Bauleitplanung. Generell lässt sich sagen, dass die Bezirke in etwa die Aufgaben erfüllen, die auch kreisfreien Städten in den Flächenbundesländern obliegen. Dennoch bestehen erhebliche Unterschiede. In den Flächenbundesländern wird zwischen gemeindlichen Selbstverwaltungsaufgaben und staatlichen Aufgaben differenziert31. Diese Differenzierung entscheidet darüber, wie eigenständig die Gemeinden bei der Aufgabenerfüllung sind. In Berlin bestimmt § 1 AZG, dass nicht zwischen gemeindlicher und staatlicher Tätigkeit getrennt werde. Ein wesentlicher Anknüpfungspunkt für die Gewährung von Selbstverwaltungsbefugnissen fehlt also. Dementsprechend gibt es keine Selbstverwaltungsaufgaben für die Bezirke. Es ist deshalb rechtlich möglich, der Hauptverwaltung weitgehende und alle Aufgabenbereiche erfassende Ingerenzbefugnisse gegenüber den Bezirken einzuräumen. So besitzt die Hauptverwaltung beispielsweise in allen Aufgabenbereichen nach § 6 AZG die Möglichkeit, allgemeine Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die für die Arbeit der Bezirksverwaltungen bindend sind. Allein dies führt bereits dazu, dass in jedem Aufgabenbereich beide Ebenen, Bezirke und Senatsverwaltun30 31

Vgl. Art. 74 Abs. 2 VvB und § 36 Abs. 1 S. 1 BezVG. Vgl. etwa Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2004, § 23, Rz. 12 ff.

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gen, inhaltlich mit den gleichen Fragen befasst sein können32. Vergleichbare Kompetenzen der staatlichen Behörden gibt es in den Flächenländern nur für den Bereich der staatlichen Aufgaben.

2. Die Aufsichtsbefugnisse der Hauptverwaltung Von besonderer Bedeutung für das Maß an Eigenverantwortung, das dem Bezirksamt bei der Aufgabenerfüllung zukommt, ist auch die Reichweite der Aufsichtsbefugnisse der übergeordneten Verwaltungsebene. In den Flächenländern unterliegen die Gemeinden bei den Selbstverwaltungsaufgaben nur der Rechtsaufsicht, wohingegen der Staat im Rahmen der Erfüllung staatlicher Aufgaben in weitem Umfang Einfluss auf die Aufgabenerledigung nehmen kann, insbesondere durch die Mittel der Fachaufsicht33. Rechtsaufsicht bedeutet Rechtmäßigkeitskontrolle, während im Rahmen der Fachaufsicht auch Aspekte der Zweckmäßigkeit und der politischen Opportunität eine Rolle spielen. Auch wenn in Berlin nicht zwischen gemeindlichen und staatlichen Aufgaben getrennt wird, orientierte sich früher die Aufsicht weitgehend an dem Aufsichtsmodell der Flächenbundesländer. Es gab also Aufgaben, die der bloßen Rechtsaufsicht unterlagen, und solche, bei denen zusätzlich eine Fachaufsicht erfolgte. Diese Unterscheidung wurde im Zuge der Verwaltungsreform aufgegeben, wiederum mit dem erklärten Ziel, die bezirkliche Eigenverantwortung zu stärken34. Man unterwarf alle Aufgaben der Bezirke zunächst der Bezirksaufsicht, die eine bloße Rechtsaufsicht ist. Sie wird vom Senat als Kollegialorgan ausgeübt und ist deshalb vom Prozedere her recht schwerfällig. Als Ersatz für die Fachaufsicht wurde in § 13a AZG ein sogenanntes Eingriffsrecht geschaffen. Dieses erstreckt sich ebenfalls auf alle Aufgaben der Bezirke, darf aber nur ausgeübt werden, wenn bezirkliches Handeln dringende Gesamtinteressen Berlins beeinträchtigt 35. Jeder Senator kann das Eingriffsrecht ausüben. Von der Auslegung und Handhabung dieses Instrumentes hängt es nun ab, ob die Reform der Aufsicht über die Bezirke diesen tatsächlich ein Mehr an Eigenverantwortlichkeit oder im Gegenteil ein weiteres Selbständigkeitsdefizit beschert hat. Sieht man sich die bisher praktizierten Fälle an, so ist man geneigt, eher zu Letzterem zu tendieren. Meist ging es um Fragen baurechtlicher Genehmigungen, die einige Bezirke nicht bereit waren zu erteilen. Daraufhin zog der seinerzeitige Stadtentwicklungssenator Strieder das Verfahren im Rahmen eines Eingriffs an sich und erteilte die Genehmigung selbst. Zu nennen sind die Fälle des HeißluftMusil / Kirchner, Das Recht der Berliner Verwaltung, Rz. 154 ff. Siehe den Überblick bei Gern, Deutsches Kommunalrecht, 2. Aufl. 1997, Rz. 803 ff. 34 Zu den Hintergründen Musil / Kirchner, Das Recht der Berliner Verwaltung, Rz. 209. 35 Siehe Collin / Zepf, Die Flexibilisierung des Aufsichtsrechts als Problem des Verwaltungsrechts, DÖV 2003, S. 1017 ff. 32 33

13 Baßeler u. a.

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ballons HiFlyer am Potsdamer Platz, einer Toilettenanlage am Reichstag und eines überdimensionalen Harry-Potter-Werbeplakates am Alexanderplatz. Allerdings wäre es voreilig, aus diesen medienwirksamen Fällen gleich auf die Wirkung des Eingriffsrechts insgesamt zu schließen. Zum einen ergibt eine genaue Betrachtung, dass der Senator zumindest in der Mehrzahl der Fälle nicht von seinem Eingriffsrecht hätte Gebrauch machen können, also rechtswidrig gehandelt hat. Zum anderen geraten durch die aufgezählten Fälle die ungezählten bezirklichen Entscheidungen aus dem Blick, in denen ersichtlich keine Gesamtinteressen Berlins beeinträchtigt sind. Legt man also das Instrument des Eingriffsrechts korrekt aus, so führt es tatsächlich zu einer Stärkung der Bezirke36. Um die korrekte Ausübung des Eingriffsrechts sicherzustellen, bedürfte es der Möglichkeit, dies in jedem Fall gerichtlich überprüfen lassen zu können. Damit ist ein weiterer neuralgischer Punkt des Verhältnisses von Bezirken und Gesamtstadt angesprochen: der Rechtsschutz der Bezirke. 3. Der Rechtsschutz der Bezirke Wären die Bezirke lediglich die untere Ebene einer hierarchisch geordneten Verwaltungseinheit, so könnte die Frage nach Rechtsschutz gegen Entscheidungen der übergeordneten Ebene nicht ernsthaft gestellt werden. Verwaltungseinheiten besitzen in der Regel keine gerichtlich klagbaren subjektiven Rechte. Anders ist dies nur, wenn eine Verwaltungseinheit gegenüber einer anderen so verselbständigt ist, dass ihr eigene Rechtspositionen zukommen, die sie auch verteidigen können muss. Ein Blick auf die Gemeinden verdeutlicht das Gemeinte. Soweit der von Art. 28 Abs. 2 GG geschützte Bereich der gemeindlichen Selbstverwaltung betroffen ist, können sie gegen staatliche Entscheidungen, die diesen Selbstverwaltungsbereich tangieren, gerichtlich vorgehen. Das subjektive Klagerecht folgt unmittelbar aus der Selbstverwaltungsgarantie. Darüber hinaus ist anerkannt, dass innerhalb eines Verwaltungsträgers dann ein Organ gegen ein anderes gerichtlich vorgehen kann, wenn es um Rechte kämpft, die ihm nicht nur zum Zwecke besserer Arbeitsteilung, sondern zur Schaffung einer innerorganisatorischen Machtbalance verliehen wurden37. Der sogenannte Kommunalverfassungsstreit ist eine Erscheinungsform dieser Organstreitigkeiten. Er kann zulässigerweise vor dem Verwaltungsgericht ausgefochten werden. Was die bezirkliche Stellung angeht, so kann es kein umfassendes Klagerecht nach dem Muster der Gemeinden geben, da sie sich auf keine verfassungsrechtliche Selbstverwaltungsgarantie berufen können38. Dies schließt es allerdings nicht Vgl. auch Collin / Zepf, DÖV 2003, S. 1017 ff., 1021 ff. Schmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 12. Aufl. 2003, 1. Kap., Rz. 83. 38 So zutreffend VerfGH, LVerfGE 1, 33, 37; zum Meinungsstand siehe Musil / Kirchner, Das Recht der Berliner Verwaltung, Rz. 32 ff.; anders Collin / Zepf, DÖV 2003, S. 1017 ff., 1019 ff. 36 37

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aus, den Bezirken in Teilbereichen doch verwaltungsgerichtliche Rechtsschutzmöglichkeiten zuzubilligen. In Anlehnung an den Kommunalverfassungsstreit ist dies immer dann erforderlich, wenn sie im Verhältnis zur Gesamtstadt um Kompetenzen kämpfen, die ihnen im Dienste der Machtbalance eingeräumt wurden39. Der Streit zwischen Bezirk und Gesamtstadt erscheint so als Sonderfall des kommunalen Organstreits. Nach diesem Muster haben die Verwaltungsgerichte bereits bezirkliche Klagemöglichkeiten vor den Verwaltungsgerichten anerkannt. Die entschiedenen Fälle betrafen zum einen Konstellationen, in denen es um die Wahl des Bezirksamtes durch die Bezirksverordnetenversammlung ging40. Zum anderen waren Kompetenzen im Rahmen der Bauleitplanung betroffen41. Diese beiden Bereiche – Bezirksamtsbildung und Bauleitplanung – wird man dem ureigensten Feld bezirklicher Eigenverantwortung zurechnen müssen, in dem auch eine Klagemöglichkeit gegen Übergriffe der Gesamtstadt bestehen muss42. Zweifelhaft ist hingegen, ob auch im Zusammenhang mit dem Eingriffsrecht Klagerechte bestehen. Wie bereits ausgeführt, hängt von der Reichweite und Überprüfbarkeit des Eingriffsrechts in erheblichem Umfang das Maß bezirklicher Eigenverantwortlichkeit bei der Aufgabenerfüllung ab. Vor diesem Hintergrund wird man ein Klagerecht vor dem Verwaltungsgericht partiell bejahen müssen. Nur wenn gerichtlich überprüft werden kann, ob bezirkliches Handeln dringende Gesamtinteressen Berlins beeinträchtigt, stellt dieses Merkmal eine wirksame Eingrenzung der Aufsichtsbefugnisse der Hauptverwaltung dar. Dass eine solche Eingrenzung verfassungsrechtlich gefordert ist, zeigt die besondere Verankerung des genannten Tatbestandsmerkmals in Art. 67 Abs. 1 S. 4 VvB43. 4. Bewertung Die Darstellung der Kompetenzabgrenzung zwischen Haupt- und Bezirksverwaltung sowie der Aufsicht und des bezirklichen Rechtsschutzes hat Felder der Eigenverantwortlichkeit, aber auch Gefahrenpotential für die bezirkliche Eigenständigkeit aufgezeigt. Wird das neuartige und einzigartige Eingriffsrecht sachgerecht gehandhabt und durch ein gerichtliches Klagerecht abgesichert, so kann es in der Tat einen Beitrag zu mehr bezirklicher Selbständigkeit leisten und überdies die Verschränkung der Ebenen abbauen. Wird es hingegen inflationär eingesetzt, ohne dass für die Bezirke eine Möglichkeit besteht, sich zur Wehr zu setzen, so kann es den umgekehrten Effekt haben. In jedem Einzelfall müssen die Bezirke dann befürchten, dass die Hauptverwaltung Kompetenzen an sich zieht. Da noch keine 39 40 41 42 43

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Zusammenfassend Musil, LKV 2003, S. 262 ff. VG Berlin, Urt. v. 8. 6. 1998, VG 26 A 43.96, n.v. OVG Berlin, LKV 2000, S. 453 ff.; VG Berlin, LKV 1996, S. 106 f. So auch mit ausführlicher Begründung OVG Berlin, LKV 2000, S. 453 ff. Siehe bereits Musil, LKV 2003, S. 262 ff., 264.

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Rechtsprechung in dieser Frage vorliegt, bleiben die Konturen des Eingriffsrechts weiterhin unscharf. Ein massives Hindernis für bezirkliche Selbstverwaltung stellt die Möglichkeit der Hauptverwaltung dar, Verwaltungsvorschriften zu erlassen. Dies erkennend, hat der Reformgesetzgeber in § 6 AZG den Erlass solcher Vorschriften an einschränkende Voraussetzungen geknüpft. Es bleibt zu hoffen, dass in diesem Sinne das Instrument der Verwaltungsvorschriften nur mehr sparsam eingesetzt wird.

VI. Das politische Bezirksamt 1. Die geltende Rechtslage Die Besonderheiten der bezirklichen Stellung werden auch noch an einem dritten Komplex deutlich: der Bezirksamtsbildung. Das Bezirksamt ist nach Art. 74 Abs. 2 VvB die Verwaltungsbehörde des Bezirks. Es besteht aus dem Bezirksbürgermeister und fünf weiteren Stadträten. Das Bezirksamt wird von der Bezirksverordnetenversammlung gewählt. Die Besonderheiten dieser Wahl verdeutlicht folgender Fall, der sich im Bezirk Prenzlauer Berg in den neunziger Jahren zugetragen hat44. Die dortige BVV wollte nämlich bei der Wahl des Bezirksbürgermeisters zwei konkurrierende Kandidaten aufstellen. Man könnte meinen, dass das doch nichts Besonderes sei; bei jeder demokratischen Wahl müsse es doch mehrere Wahlmöglichkeiten geben. Dennoch hob der Senat im Wege der Bezirks- also Rechtsaufsicht den Beschluss und die durchgeführte Wahl auf. Die dagegen gerichtete Klage vor dem Verwaltungsgericht blieb erfolglos. Senat und Gericht sahen einen Verstoß gegen § 35 Abs. 2 S. 1 BezVG. Dort steht, dass die Wahl der Bezirksamtsmitglieder entsprechend dem in der BVV herrschenden Stärkeverhältnis der Fraktionen vorzunehmen sei. Zulässig ist also nur ein Wahlvorschlag einer Fraktion oder im Falle des Bürgermeisters auch einer Zählgemeinschaft mehrerer Fraktionen. Das führt dazu, dass im Bezirksamt alle größeren Fraktionen der BVV vertreten sind. Diese Form des Bezirksamtes kann man als Proporzbezirksamt bezeichnen45.

2. Die Diskussion Schon seit langer Zeit scheiden sich die Geister an der Frage, ob am Proporzbezirksamt festzuhalten sei, oder ob nicht doch dem sogenannten politischen Bezirksamt der Vorzug gebühre. Politisches Bezirksamt würde bedeuten, dass die Bezirksamtsbildung so erfolgte, wie es auch auf übergeordneter Ebene, in Berlin 44 45

Vgl. hierzu VG Berlin, Urt. v. 8. 6. 1998, VG 26 A 43.96, n.v. Ausführlich Musil / Kirchner, Das Recht der Berliner Verwaltung, Rz. 306 ff.

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etwa auf Ebene der Gesamtstadt, üblich ist. Es wären mehrere Kandidaten und Koalitionen möglich. Das Bezirksamt spiegelte die politischen Mehrheitsverhältnisse in der BVV wider, indem die jeweils stärkste politische Richtung vollständig über seine Besetzung entschiede. Es fragt sich zunächst, wieso § 35 BezVG und die entsprechende Regelung in Art. 99 VvB das Proporzbezirksamt dem politischen Bezirksamt vorziehen. Dies hat im Ausgangspunkt historische Gründe. Die Regelungen über die Bezirksverfassung gehen auf das preußische Kommunalrecht zurück, das dem Modell der sogenannten Magistratsverfassung folgte. Danach war die Verwaltungsbehörde der Gemeinden – vergleichbar dem Bezirksamt – proportional den politischen Kräften in der Gemeindevertretung zu besetzen. Mittlerweile ist die historische Begründung des Proporzbezirksamtes in den Hintergrund getreten und durch die vorliegend eher interessierende machtpolitische ersetzt worden46. Das Proporzbezirksamt verhindert nämlich eine zu starke Politisierung der Bezirksebene. Dadurch, dass die wesentlichen politischen Kräfte bei der Bezirksamtsbildung berücksichtigt werden, ist die Gefahr geringer, dass sich ein Bezirk in eine politische Frontstellung zum Senat und den ihn tragenden politischen Kräften begibt. Partiell treten zwar auch beim Proporzbezirksamt solche Konfliktlagen auf, jedoch meist beschränkt auf einzelne Bezirksamtsmitglieder. Gerade wegen der Möglichkeit politischer Konfrontation wird das politische Bezirksamt aber auch von vielen befürwortet. Nur die Politisierung ermögliche eine Stärkung der bezirklichen Ebene gegenüber Senat und Abgeordnetenhaus. Bezirkliche Bedürfnisse könnten gegenüber der Gesamtstadt besser durch ein politisches Bezirksamt formuliert und möglicherweise auch durchgesetzt werden. Im Zuge der Verfassungsreform der neunziger Jahre wurde die Streitfrage auf Verfassungsebene beantwortet. Art. 99 schreibt bis zum 1. Januar 2010 ein Festhalten am Proporzbezirksamt vor. Das Proporzbezirksamt besitzt also noch für fünf Jahre Verfassungsrang. Danach kann wieder einfach-gesetzlich entschieden werden.

3. Notwendigkeit des politischen Bezirksamts Gegen das politische Bezirksamt sprechen in der Tat die Zentrifugalkräfte, die von ihm potentiell ausgehen. Der politische Prozess könnte sich tatsächlich weg von der Landes- und hin zur Bezirksebene verlagern. Weiterhin bestünde die Gefahr, dass Bezirke, die nicht die gleiche politische Ausrichtung wie die gesamtstädtische Ebene besitzen, bei Verteilungsentscheidungen benachteiligt werden. Für eine Politisierung spricht aber der zu erwartende Schub für die Qualität des politischen Willensbildungsprozesses auf Bezirksebene. Es ist zu erwarten, dass 46 Vgl. zu den Hintergründen Musil / Kirchner, Das Recht der Berliner Verwaltung, Rz. 306 ff.

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der Anreiz zu politischer Mitarbeit steigt, wenn auch tatsächlich politische Entscheidungen im Sinne einer bestimmten Richtung getroffen werden können. Die beschriebenen negativen Aspekte der Politisierung werden vermutlich auf extreme Ausnahmefälle beschränkt bleiben. Die Politisierung würde den Charakter der Bezirke als echte Selbstverwaltungseinheiten stärken und die Funktion der Verwaltungsbehörde etwas in den Hintergrund treten lassen. Wollte der Gesetzgeber derzeit das politische Bezirksamt einführen, so bedürfte es hierfür einer Verfassungsänderung. Es erscheint daher zweifelhaft, ob in den nächsten fünf Jahren ein solcher Schritt unternommen wird. Gleichwohl wäre er jetzt schon lohnend und richtig.

VII. Zwischenbefund Die Bezirke sind keine Gemeinden, aber auch keine schlichte untere Verwaltungsbehörden. Sie sind aufgrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben und deren einfach-gesetzlicher Ausgestaltung Verwaltungseinheiten sui generis. Ihre Struktur trägt dem Grundgedanken Rechnung, dass eine Metropole wie Berlin als einheitliches Gemeinwesen verfasst sein soll, gleichzeitig aber zu groß ist, um auf eine dezentrale Ebene zu verzichten, die eine gewisse Eigenständigkeit besitzt. In Hamburg, das nur etwa halb so groß ist wie Berlin, konnte man den Weg gehen, die Bezirke weitgehend politisch zu marginalisieren47. Dies ist in Berlin nicht ratsam, da den Bürgern die Möglichkeit genommen würde, auf örtlicher Ebene an der Gestaltung ihrer Angelegenheiten mitzuwirken. Die Stellung der Bezirke birgt aber auch erhebliche Gefahren, die bei der Schilderung der Einzelausprägungen der bezirklichen Rechtsstellung deutlich wurden. Zu Recht wird beklagt, dass es aufgrund der Verzahnung von Haupt- und Bezirksverwaltung zu Kompetenzkonflikten und Doppelbefassungen kommt. Als Beispiel sei die Rechtskontrolle bezirklicher Bebauungspläne nach § 6 AGBauGB genannt. Zwar darf die Senatsverwaltung bezirkliche Bebauungspläne nur auf ihre Rechtmäßigkeit prüfen, in der Praxis führt dieses Recht aber zu langwierigen Verwaltungsabläufen, da immer neue Nachbesserungsforderungen an die Bezirke gestellt werden. Umgekehrt kommt es in der Praxis oft dazu, dass die Bezirke geradezu eine eigenständige Entscheidung scheuen und sich lieber im vorhinein mit der übergeordneten Senatsverwaltung über die zu treffende Entscheidung abstimmen, als die eigene Verantwortung selbst wahrzunehmen. Diese Probleme erkennend hat die Verwaltungsreform der neunziger Jahre bereits gegenzusteuern versucht, allerdings nicht mit ausreichendem Erfolg.

47 Hierzu ausführlich Deutelmoser, Die Rechtsstellung der Bezirke in den Stadtstaaten Berlin und Hamburg, 2000, S. 1 ff.

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VIII. Perspektiven bezirklicher Selbstverwaltung 1. Perspektiven in einem Stadtstaat Berlin Fragt man nach dem einzuschlagenden Weg, um die beschriebenen Probleme zu bewältigen, so muss man auch die Frage nach der Zukunft des Stadtstaates Berlin mit in den Blick nehmen. Käme es zu einer Fusion der Länder Berlin und Brandenburg, so stellte sich die Frage nach der Zukunft der Bezirke möglicherweise anders, als wenn die Fusion nicht zustande käme. Zunächst möchte ich deshalb auf die Frage eingehen, wie die Bezirke weiterzuentwickeln sind, wenn es bei der derzeitigen Stellung Berlins als Stadtstaat bleibt. Sodann kann überlegt werden, ob die Lage anders zu beurteilen ist, wenn Berlin selbst nur noch den Status einer kreisfreien Stadt innehat. Theoretisch sind zwei Wege denkbar, um die auftretenden Ineffizienzen und Konflikte zu minimieren. Man kann einerseits auf mehr Zentralisierung, andererseits auf Dezentralisierung setzen. Erstere Alternative ist meines Erachtens nicht zielführend. Dies nicht nur deshalb, weil Zentralisierung auch immer bedeutet, dass die Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger auf örtlicher Ebene sinken. Es ist vielmehr nicht zu erwarten, dass eine stärkere Zentralverwaltung in der Lage wäre, die vor Ort auftretenden Probleme sachgerecht und effizient zu lösen. Dafür ist Berlin schlicht zu groß. Demgegenüber sollte der bereits in den neunziger Jahren eingeschlagene Weg der Stärkung bezirklicher Eigenständigkeit weiter beschritten werden. In finanzieller Hinsicht müssten die Bezirke besser abgesichert werden. Aufgrund ihrer unselbständigen organisatorischen Stellung wird man ihnen zwar keine eigenen Steuerquellen zubilligen können. Allerdings sollte die Gesamtstadt rechtlich verpflichtet werden, den Bezirken eine ausreichende Finanzausstattung zukommen zu lassen. So könnte in die Landeshaushaltsordnung eine Bestimmung aufgenommen werden, die den Bezirken ein Mindestmaß an finanzieller Ausstattung sichert. Diese könnte an die finanzielle Situation der Gesamtstadt angekoppelt sein, müsste aber konkreter ausgestaltet sein als die derzeitige Regelung. Denkbar erscheint etwa eine quotale Beteiligung der Bezirke an den Einnahmen des Landes Berlin, die den Bezirken mehr Planungssicherheit verspräche als eine jedes Jahr von neuem variierende Globalsummenzuweisung. Was die Kompetenzverteilung und die Aufsicht angeht, so sollte eine weitere Entflechtung der Ebenen angestrebt werden. Dies kann zum einen durch den sparsamen Einsatz des Instruments der Verwaltungsvorschriften geschehen. Denkbar ist auch eine gesetzliche Beschränkung der Befugnis zum Erlass von Verwaltungsvorschriften auf bestimmte Sachgebiete. Zum anderen bedarf es einer restriktiven Interpretation des Eingriffsrechts. Nur wenn wirklich dringende Gesamtinteressen Berlins beeinträchtigt sind, sollte die Senatsverwaltung eingreifen. Zur Not müsste ein von unberechtigten Eingriffsmaßnahmen betroffener Bezirk den Rechtsweg beschreiten, um klare Abgrenzungen zu erreichen. Einhergehen müssten diese

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Maßnahmen mit einem stärkeren Bewusstsein für die bezirkliche Eigenständigkeit. Eine Abstimmung mit der Senatsverwaltung sollte nur in echten Zweifelsfällen erfolgen. Umgekehrt sollten die Senatsverwaltungen Zurückhaltung bei der Kontrolle bezirklicher Entscheidungen üben. So sollte beispielsweise das Instrument der Rechtskontrolle bezirklicher Bebauungspläne sparsamer eingesetzt werden. Meines Erachtens sollte, wie bereits dargelegt, auch das politische Bezirksamt eingeführt werden. Dieses würde auch im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu einer Aufwertung der bezirklichen Ebene führen. Die bestehenden Gefahren und Unwägbarkeiten sind meines Erachtens beherrschbar.

2. Perspektiven nach einer möglichen Länderfusion Der vorgeschlagene Weg sollte auch in einem Land Berlin-Brandenburg nicht grundlegend anders gewählt werden. Der in der Volksabstimmung 1996 gescheiterte Fusionsvertrag zwischen Berlin und Brandenburg sah vor, dass Berlin den Status einer kreisfreien Stadt erhalten solle. Allerdings sollte die Gliederung in Bezirke erhalten bleiben und auch im Übrigen der Stadt ein Sonderstatus zukommen, der der jetzigen Rechtsstellung sehr ähnlich ist. Es ist zu erwarten, dass sich künftige Verträge an diesem Vertragswerk orientieren werden. Angesichts dessen ist zu konstatieren, dass die Statusveränderung zu einem gewissen Grad formaler Natur ist. Schon aufgrund der schieren Größe kann Berlin nicht die gleiche Bedeutung erhalten wie Cottbus oder Wittenberge. Es bestünde kein zwingender Grund, neben der Stadtverordnetenversammlung und dem Bürgermeister nicht auch weiterhin bezirkliche Versammlungen und Bezirksämter sowie Bezirksbürgermeister beizubehalten. Das Bedürfnis nach Partizipation der Bevölkerung auf lokaler Ebene bliebe weiter erhalten. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass der Verlust der Staatsfunktion für die Stadt und ihre Organe insgesamt zu einem Kompetenzverlust führen würde. Dieser müsste innerhalb der städtischen Organisation aufgefangen werden. So ist zu erwarten, dass im Falle der Fusion bisher von den Bezirken wahrgenommene Aufgaben nunmehr auf die Hauptverwaltung verlagert werden, um das entstandene Vakuum zu füllen. An der generell vorhandenen bezirklichen Rechtsstellung sollte indes nichts geändert werden. So kann die bezirkliche Eigenständigkeit sich auch auf die verbliebenen Kompetenzen beziehen. Auch in einer kreisfreien Stadt Berlin besteht ein Bedürfnis zur Beteiligung der Bürger am politischen Prozess auf lokaler Ebene.

IX. Fazit Berlin geht zwischen den beiden Polen Zentralität und Dezentralität einen Mittelweg. Dies ist vom Grundansatz her richtig. Allerdings weist die Ausgestaltung des Verhältnisses von Hauptebene und Bezirksebene im Einzelnen erhebliche

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Defizite auf. Die Bezirke sind in zu starkem Maße finanziell abhängig von der Gesamtstadt. Die Kompetenzverteilung ist zu wenig auf Abgrenzung und Eigenständigkeit, sondern vielmehr auf Verflechtung und Doppelbefassung ausgerichtet. Das Proporzbezirksamt führt zum Verlust wichtiger politischer Impulse. Perspektivisch sollten diese Mängel durch eine Stärkung der bezirklichen Ebene behoben werden. Zum einen müssten die entsprechenden Vorschriften reformiert werden. Zum anderen müsste aber bei den Beteiligten das Bewusstsein dafür gestärkt oder geschaffen werden, dass rechtlich angeordnete Eigenständigkeit auch im Alltag umgesetzt werden muss. Dies gilt nicht nur in einem Stadtstaat Berlin, sondern auch für den Fall, dass Berlin eines näheren oder ferneren Tages die größte kreisfreie Stadt des Landes Berlin-Brandenburg sein sollte.

Überlegungen eines Berliner Unternehmers zur privaten Finanzierung einer Staatsoper Von Peter Dussmann

Als Unternehmer und als Bürger Peter Dussmann bin ich Nachfolger von Dr. Hans-Dietrich Genscher, natürlich nicht als Außenminister, sondern Nachfolger im Vorsitz der „Freunde und Förderer der Staatsoper Berlin Unter den Linden e.V.“. Die „Freunde“ haben etwa 1.000 Mitglieder in dieser Stadt und waren bisher sehr stark engagiert bei der Unterstützung der Staatsoper Unter den Linden. Sie sind dort eingesprungen, wo Barenboim und der jetzige Intendant Mussbach Probleme mit dem Geld und den Finanzen hatten. Die Probleme sind ähnlich wie hier an der Freien Universität Berlin; dies wäre übrigens ein Argument, auch hier einen „Freundeskreis“ aufzubauen – dann wäre Einiges vielleicht einfacher. Was haben die „Freunde“ bisher gemacht? Sie haben die „Zauberflöte“ sicher nicht komponiert, aber deren Aufführung mitfinanziert. Die Staatskapelle wurde unterstützt mit neuen Instrumenten, das Ballett mit neuen Schuhen. Kurz: Wo der Etat zu knapp war, wurde diese Lücke von den „Freunden“ ausgefüllt. So war es bisher. Als ich meine Funktion übernommen habe, war meine Zielsetzung für die Zukunft nicht mehr Mozart, sondern Knobelsdorff. Die Staatsoper Unter den Linden ist ein Nationaldenkmal, ein den Bebelplatz beherrschendes Gebäude. Sie wurde 1742 als erste Oper außerhalb eines Schlosses errichtet. Der Architekt war Georg W. von Knobelsdorff, der auch das berühmte Schloss Sanssouci gebaut hat. Es handelt sich hier um eines der ältesten Opernhäuser auf der Welt überhaupt. Das wissen viele nicht. Es war die Hauptstadtbühne der Preußen, des Deutschen Reiches unter Hitler, und selbst Ulbricht und Honecker haben diese Bühne sehr gepflegt. Sie war das erste Haus in Deutschland. 1942 das erste Mal im Krieg zerstört, hat Hitler die Staatsoper sogleich wieder aufgebaut. 1945 erneut zerbombt, hat diesmal Ulbricht sie wieder errichten lassen und 1954 eröffnet. Seitdem wurde an diesem Haus fast nichts mehr getan, nichts mehr saniert. Da gibt es einen schönen Spruch von Eppler: „Wenn Steine sprechen könnten . . .“. Würde dieser Spruch auf die Staatsoper abgewandelt, so müssten deren Steine brüllen. In diesem Haus hat deutsche Geschichte stattgefunden, deutsche Musikgeschichte. Es war ein Ort der Welturaufführungen. Bis heute, denn gerade dieser Tage durften wir eine solche erleben. Weltberühmte Dirigenten haben hier die Leitung gehabt, und die Staatsoper war die Bühne des Reiches: ein Nationaldenkmal Unter den Linden, eines der großen in Deutschland.

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Seit der Wende 1989 / 90 aber ist dieses Haus leider zum Stiefkind geworden. Es bestanden sogar Pläne für eine Abwicklung der Staatsoper, und in Diepgens Berliner Senat war wirklich der Plan gefasst worden, dieses Haus nur noch als Zweitbühne, als „Musikhalle der Bismarckoper“ wie ich sie nenne, der Deutschen Oper in Charlottenburg zu führen und den regulären Opernbetrieb einzustellen. Es gab starke Tendenzen, Barenboim aus der Stadt „wegzumobben“. Und damit kam, vor sechs, acht Jahren, die erste Herausforderung für die „Opernfreunde“: Wir haben dagegen gekämpft und Barenboim als „Leuchtturm“ in dieser Stadt gehalten. Dies war unsere erste Rettungsmaßnahme. Barenboim blieb, der Spielbetrieb wurde weitergeführt und kreativer. Dies ist auch gelungen, indem wir Professor Mussbach gewinnen konnten. Die Staatsoper ist seit 50 Jahren nicht saniert worden. Die Bühnentechnik besteht heute noch aus der guten Siemenstechnik der zwanziger Jahre des vorangegangenen Jahrhunderts. Diese Bühnentechnik hat erstaunlicherweise zwei Bombardierungen überstanden. Aber heute müsste, würde Caruso noch singen, jederzeit damit gerechnet werden, dass Steine auf die Bühne krachen und den Sänger erschlagen. Wenn eine Callas noch sänge, könnte es passieren, dass mit großem Getöse unter und über ihr die Bühne zusammenfiele, das aber nicht aus Gründen der Inszenierung, sondern – ganz trivial – weil die Bühnentechnik der Staatsoper so marode ist. Durchs Dach regnet es herein; obwohl die DDR einen Dachdecker als letzten Präsidenten hatte, hat sie es nicht geschafft, das in Ordnung zu halten. Heute müssen die Aufsichtsbehörden wirklich alle Augen zudrücken, damit der Spielbetrieb überhaupt noch aufrechterhalten werden kann. Würde die Staatsoper als privater Betrieb geführt, so hätte dieser längst eingestellt werden müssen. Zugunsten der Staatsoper Unter den Linden üben die Berliner Behörden sehr viel Toleranz. Aus diesen Gründen heißt mein Plan nun nicht mehr Mozart, sondern Knobelsdorff. Ich baue seit September vorigen Jahres, in Abwandlung der Bezeichnung „PPP“ (Public-Private-Partnership), eine „PBP“ auf, eine Private-Bürger-Partnership. Das heißt, ich möchte als Bürger zu Ihnen sprechen. Wir wollen erreichen, dass endlich die Sanierung der Staatsoper wieder in Gang kommt. Denn die Pläne sind in den vergangenen Jahren langsam eingeschlafen. Man redet heute nicht mehr davon. Deshalb haben wir im Juni 2005 in der Mitgliederversammlung der „Opernfreunde“ den Beschluss gefasst, dass wir, um einen Anstoß zu geben und guten Willen zu beweisen, 30 Mio. A aus privaten Mitteln geben, um die überfällige Sanierung endlich in Gang zu setzten. Dieser Beschluss wurde mit „DDR-Mehrheit“ angenommen. Es waren ca. 100 Mitglieder auf der Versammlung anwesend, und es wurde lediglich eine Gegenstimme abgegeben. Das heißt: Eine Mehrheit von 99 % hat den Beschluss angenommen. Allerdings kamen später doch einige Leute auf mich zu und haben sich beschwert, dass die Abstimmung wegen ihrer Geschwindigkeit zu wenig demokratisch gewesen sei. Aber Beschlüsse müssen eben schnell passieren, denn vom Reden allein kommt nichts – es müssen auch Taten folgen, darauf kommt es an.

Überlegungen eines Berliner Unternehmers zur privaten Finanzierung einer Staatsoper 205

Um die Finanzierung sicherzustellen, müssen die „Freunde“ in den nächsten fünf bis zehn Jahren hart an Folgendem arbeiten: Die Mitgliederzahl von derzeit 1.000 muss zunächst verdrei-, bis vervierfacht werden, damit die Mitglieder per anno 1 Mio. Euro selbst einbringen können. Die Förderung soll in Zukunft nur noch auf die Sanierung der Staatsoper fokussiert werden, unter Verzicht auf andere Projekte. Wir wollen durch Zusatzveranstaltungen, also Konzerte von Barenboim in großen Hallen, in der Waldbühne und dergleichen, sowie durch einen Opernball 1 Mio. A im Jahr aufbringen. Zudem soll durch Fundraising ein Betrag von 1 bis 2 Mio. A pro Jahr erwirtschaftet, erbettelt werden. Damit schneller mit der Sanierung begonnen wird, wollen die „Freunde“ bei Banken möglichst viele zinsfreie Kredite aufnehmen, die in 5 bis 10 Jahren wieder zurückgezahlt werden sollen. Auf diese Weise kommt insgesamt eine Anstoßfinanzierung von ca. 30 Mio. A zusammen. Die Gesamtkosten des Projekts – und ich spreche nur von der Sanierung des Knobelsdorff-Juwels, nur von dem Gebäude Unter den Linden und nicht von den Nebengebäuden, die sich noch im Hintergrund befinden – dürften sich zwischen 80 und 100 Mio. A bewegen. Die „Opernfreunde“ sind dabei, ein Gutachten bei einem Architekten einzuholen. Die „Opernfreunde“ wohlgemerkt, nicht der Staat. Deshalb unser Plan: Dass wir etwa 1 / 3 der Sanierungskosten aufbringen wollen, das Land 1 / 3 und ebenfalls 1 / 3 der Bund. Zu unserer Erleichterung hat Intendant Mussbach seinen Vertrag verlängert und auch Barenboim will noch lange Jahre am Opernhaus bleiben. Er arbeitet sehr gern mit der Staatskapelle; es ist seine Lieblingskapelle. Er hat sie mit dem Sinfonieorchester in Chicago verglichen. Die Staatskapelle und Barenboim sind eine Einheit, er liebt sie viel mehr, er hat mehr Resonanz bei ihnen. Und sie sind ihm dankbar, dass er sie in internationale Höhen bringt. Er arbeitet mit dem Orchester in einer Weise zusammen, die weit über seine Arbeit als Dirigent hinausgeht. Noch einmal: Barenboim erlebt in Berlin mehr Resonanz und Entgegenkommen als in Chicago, was für die gesamte Arbeitsatmosphäre von unschlagbarem Vorteil ist. Dank Barenboim und Mussbach hat sich in den vergangenen fünf Jahren einiges Neues an der Staatsoper Berlin getan: Neue Premieren, Uraufführungen, die Wagner-Osterfestspiele und vieles mehr haben dieses Haus wieder zu internationalem Renommee gebracht. Mit verantwortlich dafür ist in großem Maße die Staatskapelle, die bereits 1570 gegründet wurde und über die Jahrhunderte hinweg immer bestanden hat. Barenboim hat diesen Klangkörper wieder zu einem der führenden in Deutschland gemacht und sogar zu internationalem Renommee gebracht. Barenboim hat den „Deutschen Sound“ wie er ihn bezeichnet, aus Israel reimportiert. Der „Deutsche Sound“, der von Furtwängler und anderen großen deutschen Dirigenten vor dem Krieg und im Kaiserreich gepflegt wurde, ging in Deutschland nach dem Krieg verloren. Er wurde in Israel gepflegt, bis heute. Warum? Jüdische Musiker, die aus Deutschland weg mussten, aus den bekannten Gründen, haben diesen „Sound“ in Israel gepflegt. Über diesen „Deutschen Sound“ zu reden, ist schwierig, wenn man sich keine Vergleichshörproben anhört. Aber Barenboim sagt mir, wenn er das Radio anmache und irgendwo eine Sinfonie höre und die Philhar-

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Peter Dussmann

moniker spielten, könne er nicht, wie früher, an den ersten Takten hören, um welches Orchester es sich handele, weil alle einen sehr internationalen Sound hätten, der die einen nicht mehr von den anderen unterscheiden lässt. Auf diese Art, durch das Wiedererklingen des „Deutschen Sounds“, wurde die Staatsoper Berlin mit ihrer Staatskapelle und mit ihrem Intendanten wieder eine der führenden in der Welt. Was nützt dies alles, wenn es zum Dach herein regnet und die konkrete Gefahr besteht, dass das Opernhaus aus baupolizeilichen Gründen geschlossen werden muss? Um unsere Möglichkeiten auszuloten, haben die „Freunde“ seit September letzten Jahres positive Diskussionen geführt und mit den Verantwortlichen die „Drittellösung“ vorgestellt. Dazu kann ich als Ergebnis kurz sagen, dass wir viel Resonanz gefunden haben: Die Betreffenden kennen nun ihre Verantwortung: Sie wissen, dass sie etwas tun müssen und haben zugestimmt, ihren Anteil einzubringen. Die jetzige Bundesregierung betrachtet das Thema seit Jahren recht negativ und hat Probleme, sich zu engagieren, obwohl die Staatsoper nie ein Landestheater war. Sie war nie in einem Land oder – in der Kaiserzeit – in einem Königreich beheimatet, sondern war immer eine Staatsoper des Bundes oder des Reiches: Sie war die Bühne in Deutschland. Deshalb sehe ich und sehen alle „Freunde“ eine Verpflichtung des Bundes: Der Bund hätte dieses Haus gleich nach der Wende übernehmen müssen. Das war anfangs sogar beabsichtigt, genauso übrigens, wie der Preußische Kulturbesitz übernommen worden ist. In diesen Rahmen hätte auch die Staatsoper mit eingegliedert werden müssen: eine Staatsbibliothek, ein Staatsmuseum und eine Staatsoper. Dies wurde damals versäumt, und zwar von Diepgen & Co, der damaligen CDU / SPD Regierung, die gedacht hat, man würde Berlin die Juwelen entreißen wollen. Man hat damals noch nicht an die zukünftigen Finanzprobleme gedacht. Die Staatsoper wollte das Land Berlin unbedingt und mit allen Mitteln behalten. Und das Versäumte heute mit der Bundesregierung nachzuholen, ist unmöglich. Deshalb waren meine Gespräche so unerfreulich. Bei den vielleicht zukünftigen Regierenden ist eine andere Meinung vorhanden. Frau Merkel ist eine Freundin der Staatsoper Unter den Linden, ihr Mann ein noch viel größerer Freund der Staatsoper. Vielleicht bahnt sich hier eine überraschende Wende an. Auf jeden Fall verfolgt auch der Berliner Senat neue Gedanken, seitdem die „Freunde“ einen Stein ins Wasser geschmissen haben, der Ringe zieht. Es werden neue Pläne ausgearbeitet, die im August oder September dem Abgeordnetenhaus zugeleitet werden sollen. Der Anteil der „Freunde“ bringt möglicherweise die Politik dazu, das Ihrige zu tun, um die Staatsoper, dieses Nationaldenkmal ersten Ranges, zu renovieren. Der Senat denkt nach, macht Vorschläge, die CDU denkt noch weiter und, ich habe es angedeutet, vielleicht ergibt sich alsbald eine Lösung. Deshalb würde ich meinen, für die Staatsoper wäre die beste Lösung eine neue Regierung im Herbst 2005.

Stichwortverzeichnis Allzuständigkeit 187 Angelegenheit, bezirkseigene 121 Arbeitnehmerentgelt 62 Arbeitslosenquote 68 Arbeitszeitverlängerung 73 Auffangzuständigkeit 189 Aufgaben, staatliche 192, 193 Aufschwung 65 Aufsicht 192 Aufsichtsbefugnisse 193 Ausgaben 18 Ausgabenkürzung 69 f. Ausgabenniveau 25 Ballungsschäden, soziale 162 Bankgesellschaft Berlin 35, 124 Barenboim, Daniel 203 Bauleitplanung 195 Bebauungsplan 189 Berlin 67, 120, 173 f. – dringende Gesamtinteressen 193, 195 – Industriestandort 41 – Region – Schulden 128 – Status 117 – Wirtschaftsförderung 38 Berlin-Brandenburg 117, 128, 200 f. – Finanzierbarkeit 127 – Fusion 199 – gemeinsame Verfassung 117 Berlin Chemie 37 Berlinzulage 30 Beschäftigungsentwicklung 63 Besoldungsrecht 72 Bezirke – Berliner 127, 185 – Stärkung 127 Bezirksamt 127, 192, 195 f., 200 – politisches 196 ff. Bezirksamtsbildung 196 f.

Bezirksamtsmitglieder 197 Bezirksaufsicht Bezirksbürgermeister 192, 196, 200 Bezirksgebietsreform 49 Bezirkshaushaltsplan 191 Bezirksreform 117 Bezirksstadträte 192, 196 Bezirksverordnetenversammlung 192, 195 f. Binnenmodernisierung 48 Biotechnologie 36, 37 Branche, Dienstleistungsbranche 41 Brandenburg 41, 82, 95 ff., 120 Bremen 82, 86, 88 ff., 95 f. Bruttoinlandsprodukt 62 Budget – Saldo 64, 66 – Zuschuss Budgetdefizit 78 Bund 184 Bundesergänzungszuweisungen 84, 86, 174 Bundesstaat 174 Bundesverfassungsgericht 77, 114, 129, 184 – Urteil 41 Bundeszuschüsse 68 Corporate Governance 132 Defizit, strukturelles 78 Deflation 67, 72 Dezentralisierung 43, 50, 52 f., 55, 143 Dienstleistungsbranche 41 Dienstleistungsmetropole 35 Dussmann, Peter 203 Eigenanstrengungen 77 Eigenverantwortlichkeit 187 – bezirkliche 195 Einfluss, bundespolitischer 120 Eingriffsrecht 193 ff., 199 Einheitsgemeinde 127

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Stichwortverzeichnis

– dezentralisierte 44 ff., 51, 53, 55 f. – zentralisierte 46, 51, 53 Einkommensteuer 84 Einnahmewirtschaft 190 Einsparanstrengung 21 Einwohnerwertung 84 f., 97 Entbürokratisierung 119 Entwicklung – demographische 37 – regionale 60 Erwerbstätige 68 Fachaufsicht 193 Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisung 86, 97 Finanzausgleich 17, 31, 70, 82 f., 85 ff., 89, 97, 173 Finanzentwicklung 82 f. Finanzhoheit 188 f., 190 Finanzklage 129 Finanzkraft 85 f., 91, 130 Finanzkrise 77 Finanzplanung 76 Finanzpolitik 76 Finanzverfassung 117, 126, 175 Fiskalpolitik 60, 64 – antizyklische 67 Flächenbundesländer 193 Flächentarif 73 Föderalismus 145 Föderalismuskommission 87 Freunde und Förderer der Staatsoper Berlin Unter den Linden e.V. 203 Funktionalreform 49 Fusion 128, 199 Fusionsprojekt 129 Fusionsvertrag 200 Gebietshoheit 188 f. Gebietskörperschaften 67, 76 Geldpolitik 60 Gemeindehoheit 188 Gemeinden 187, 193 f., 197 f. Gemeindeverband, dezentralisierter 51, 53 Gemeindevertretung 197 Gemeinschaftsaufgabe Regionale Wirtschaftsstruktur 94 Gemeinschaftssteuern 75

Gesamtverschuldung 74 Gesundheitswirtschaft 37, 41 Gewährträgerhaftung 33 Gewerbepark 119 Gleichbehandlungsgebot 174 Global Governance 132 Globalisierung 43, 50, 53 Globalsumme 190 Globalsummenzuweisung 199 Good Governance 132 Governance – Begriff 131 – Corporate-Governance 132 – Global-Governance 132 – Good-Governance 132 – Metropolitan-Governance 131 – Regional-Governance 131 – Sozial-Governance 150 Greater London Authority 51 Greater London Council 51 Groß-Berlin-Gesetz 44, 46 Hamburg 84, 86, 92 ff. Hauptstadtfunktion 87 Hauptstadtstatus 87 f. Haushalt – extreme Notlage 23 – Konsolidierung 35 – Notstand 41, 77 Haushaltsindikatoren 91, 93 Haushaltskonsolidierung 35 Haushaltslage 81, 88, 94, 98 Haushaltsnotlage 88 ff., 93, 113 f., 170, 173 – extreme 23, 81 f., 90 f. Haushaltsnotstand 41, 77 Haushaltssituation 120 Haushaltsstruktur 94 Haushaltswirtschaft 191 Helios-Kliniken 37 Hessen 94 Ile de France 52 Immobilienmarkt 32 Immobilienwirtschaft 34 Industrialisierung 45, 50 Industrie 38 – Standort Berlin 41

Stichwortverzeichnis Inflationsrate 61, 63 Informationstechnologie 36 Infrastrukturlücke 91, 94 Investitionen – öffentliche 70 – Sachinvestitionen 59, 71 Investitionsausgaben, öffentliche 71 Investitionsbank Berlin 38 Investitionshilfe 71 Isomorphismus 48 Kerninflationsrate 73 Keynesianismus 60 Körperschaftsteuer 84 Kommunalverfassungsstreit 194 f. Kommunikationstechnologie 36 Kompetenzfelder 36 Konsolidierung 69, 73 Konsolidierungspfade 94 Konsolidierungsspielräume 91, 94 Konvergenz 53 Kreditfinanzierungsquote 34, 89, 91 Krise 65 Land – Berlin 173 – Berlin-Brandenburg 117, 128, 200 f. Länderfinanzausgleich 31, 68, 75 f., 167 Länderfusion 41, 82, 96 f., 117, 126 f., 200 – Abstimmung 123 – Notwendigkeit 117 – Scheitern 122, 125 – Werbung 124 – Zeitplan 125 Länderneugliederung 95 f. Länderneugründung 129 Landeshaushalt 16 Landeshaushaltsordnung 199 Landesplanung 96 Letztentscheidungskompetenz 186 Lohnentwicklung 61 Lohnfindungssystem 73 Lohnkürzung 72 Lohnnebenkosten, Senkung 40 Lohnpolitik 60, 72 – produktivitätsorientierte 78 Lohn-Preis-Spirale 64 Lohnsenkung 72 14 Baûeler u. a.

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Lohnstückkosten 61 London County Council 51 Machtbalance 195 – innerorganisatorische 194 Magistratsverfassung 197 Makropolitik 61 Maßstäbegesetz 179 Medien 36 Medizintechnik 36 f. Mehrausgaben 17 Mehrebenensysteme 145 Mehreinnahmen 17 Mehrwertsteuer 69 Metropole 163 – Dienstleistungsmetropole 35 – im Wettbewerb 163 Metropolenregion 40 Metropolitan Governance 131 Mindestausstattung, finanzielle 191 Multiplikator, regionaler 75 Multiplikatoreffekt 74 Multiplikatorwirkungen 65 Musikwirtschaft 36 Mussbach 203 Nachfrage 75 Nachfrageausfall 76 Nachhaltigkeit 27 Nachhaltigkeitsanalyse 93 Nachhaltigkeitskurs 110 Nachhaltigkeitsmodellrechnungen107, 113 Nachhaltigkeitsziel 108, 110, 112 Neoklassik 60 Nettoneuverschuldung 65, 68, 76 Neugliederungsstaatsvertrag 122 Nominallohn 61 Obergerichte, Errichtung gemeinsamer 121 Oder-Region 41 Ordnung, föderale 180 Organisationshoheit 188 f. Osttransfer 99, 103 ff. Pensionszahlungen 70 Personalausgaben 70, 72 Personalhoheit 188 Pfadabhängigkeit 51, 53

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Stichwortverzeichnis

Planungshoheit 188 Platzeck, Matthias 126 Polen 41 Politik – Finanzpolitik 76 – Fiskalpolitik 60, 64 – Geldpolitik 60 – Lohnpolitik 60, 72 – Makropolitik 61 – produktivitätsorientierte Lohnpolitik 78 – Sparpolitik 74 – Stabilisierungspolitik 59, 65 Primärausgaben 93 f., 100 f., 104, 108, 109 ff., 113 Primärdefizit 22, 73 Privatisierung 78 Privatisierungserlöse 76 Prognose 76 Pro-Kopf-Ausgaben 82, 89 Pro-Kopf-Verschuldung 110, 127 Proporzbezirksamt 196, 197, 201 Qualifizierte, geringfügige 39 Raumordnung 96 Reallohnentwicklung 61 Rechtsaufsicht 193 Rechtskontrolle, bezirklicher Bebauungspläne 198, 200 Rechtspersönlichkeit 189 Rechtsschutz 192, 194 Rechtssetzungshoheit 188 f. Region 118 – Oder-Region 41 Regional Governance 131 Regionalentwicklung 60 Rezession 65, 71 Rheinland-Pfalz 94 Saarland 88, 90, 95 f. Sachaufwendungen 93 Sachinvestitionen 59, 71 Sachsen 95 Sanierungshilfen 81, 82, 88 f., 94 ff., 98, 176 Satzungsgewalt 189 f. Schering 37 Schönbohm 126

Schulden 12 Schuldenfalle 41, 76 Schuldenstand 14, 68 Schwarzarbeit 40 Selbstverwaltung 186 – bezirkliche 185 – kommunale 187 – Perspektiven 199 Selbstverwaltungsaufgaben 193 – gemeindliche 192 Selbstverwaltungseinheiten 185 f., 198 Selbstverwaltungsgarantie 194 – kommunale 188 Senat 37 Solidarpaktfortführungsgesetz 128 Sonderbedarfs-Bundesergänzungs-zuweisung 26, 86, 89, 91, 94, 97 Sonderfinanzierungssystem 83 Sonderverwaltungszone 87 Sozialgovernance 150 Sozialindex 151 Sparpolitik 74 Speckgürtel 119 f. Staatskapelle 205 Staatsoper Unter den Linden 203 Staatsverschuldung 60 Staatsvertrag 119, 128 Stabilisierungspolitik 59, 65 Stabilitäts- und Wachstumspakt 65 Städtenetzwerk 35 Stadtstaat 85, 93, 109 f., 199 – Berlin 201 Stadtstaatenprivileg 89, 97, 128 Stadtstaatenwertung 115 Stadtverordnetenversammlung 200 Stagnation 79 Standortplanung 96 Standortranking 36 Statusindex 151 Steueraufkommen 75 Steuerausfall 75 Steuereinnahmen 69 Steuererhöhung 69 Steuerkraft 84 f. Steuersenkung 67 Steuerung 44, 53 – betriebswirtschaftliche 48 – dezentrale 44, 46, 49 f.

Stichwortverzeichnis

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– hierarchische 44 – zentrale 44, 46, 49 f. Steuerzerlegungen 84 Stolpe, Manfred 126 Strieder, Peter 126 Strukturdaten 11 Strukturpolitik 118 Strukturwandel 41 Suburbanisierung 46 f., 50 f. Subventionsmentalität 30 Subventionswettlauf 96 Subventionswirtschaft 33 f. Subventionszahlungen 70

Verfassungsreform 197 f. Verflechtungsstrukturen 40 Verkehrstechnologie 36 Verschuldung 100 f., 104 Versorgungsrecht 72 – Staat 60 Verwaltung, öffentliche 34 Verwaltungseffizienz 96 Verwaltungskompetenz 192 Verwaltungsreform 188, 190, 193 Verwaltungsvorschriften 196, 199 Ville de Paris 51 f. Volksabstimmung 125, 200

Tarifgemeinschaft – der öffentlichen Auftraggeber 72 – des öffentlichen Dienstes 77 Tarifparteien 72 Technik, Medizintechnik 36 f. Technologie – Biotechnologie 36 f. – Informationstechnologie 36 – Kommunikationstechnologie 36 – Verkehr 36 Teilentschuldung 128 Transferleistungen 70 Trendproduktivität 61 Trendwachstum 65 Typisierung, steuerungstheoretische 140

Wachstum 66 Wachstumsfelder 36 Wachstumsschwäche 69 Wahlkampf 125 Werkbänke, verlängerte 31 Wertschöpfungskette 37 Westangleichung 82 Wettbewerb 163 Wiedervereinigung 124, 183 Wirtschaft – Gesundheitswirtschaft 37, 41 – Immobilienwirtschaft 34 – Musik- 36 Wirtschaftsförderung Berlin 38 Wirtschaftspolitik 118 Wirtschaftswachstum 13 Wohnungsbau, sozialer 31 Wohnungsbauförderung 31, 33 ff., 82, 93

Umsatzsteuer 84 f. Umsatzsteuerpräferenzen 30 f. Unsicherheit 73 Unternehmen, öffentliche 31 Verdichtungsraum 160 Vereinigungsboom 32 Verfassung, gemeinsame 117 Verfassungsbeschwerde, kommunale 188 Verfassungsgebung 126 Verfassungsgerichtshof, Berliner 188 Verfassungsgerichtsurteil 41 Verfassungsklage 77

14*

Zählgemeinschaft 196 Zentralisierung 43, 47 f., 50, 53, 55, 143 Zentralverwaltungswirtschaft 83 Zielinflationsrate 61 Zinsabschlag 84 Zinsausgaben 15, 76 Zinsbelastung 88 Zins-Steuer-Quote 34, 90, 91 Zweckverband 44 f.

Autoren- und Herausgeberverzeichnis Baßeler, Ulrich; Professor Dr. sc. pol., Freie Universität Berlin, Fachbereich Wirtschaftswissenschaft, Institut für Wirtschaftstheorie, Boltzmannstr. 20, 14195 Berlin Dussmann, Peter; Unternehmer, Dussmann AG & Co. KGaA, Friedrichstr. 90, 10117 Berlin Halsch, Volker; M.A., Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, Wilhelmstr. 97, 10117 Berlin Heine, Michael; Prof. Dr. rer. pol., Fachhochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften I, Volkswirtschaftslehre, Treskowallee 8, 10318 Berlin Heintzen, Markus; Professor Dr. iur., Freie Universität Berlin, Fachbereich Rechtswissenschaft, Institut für Staatslehre, Staats- und Verwaltungsrecht, Van’t-Hoff-Str. 8, 14195 Berlin Kruschwitz, Lutz; Professor Dr. rer. pol., Freie Universität Berlin, Fachbereich Wirtschaftswissenschaft, Institut für Bank- und Finanzwirtschaft, Boltzmannstr. 20, 14195 Berlin Musil, Andreas; Priv.-Doz. Dr. iur., Freie Universität Berlin, Fachbereich Rechtswissenschaft, Institut für Staatslehre, Staats- und Verwaltungsrecht, Van’t-Hoff-Str. 8, 14195 Berlin Röber, Manfred; Professor Dr. rer. pol., Fachhochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften I, Arbeitsbereich „Public Management“, Treskowallee 8, 10318 Berlin Sarrazin, Thilo; Dr. rer. pol., Senator für Finanzen in Berlin, Klosterstr. 59, 10179 Berlin Schuppert, Folke; Professor Dr. iur., Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Forschungsprofessur „Neue Formen von Governance“, Reichpietschufer 50, 10785 Berlin Seitz, Helmut; Professor Dr. rer. pol., Technische Universität Dresden, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Empirische Finanzwissenschaften und Finanzpolitik, Helmholtzstr. 10, 01062 Dresden Wieland, Joachim; Professor Dr. iur., Johann Wolfgang Goethe-Universität, Fachbereich Rechtswissenschaft, Professor für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht, Senckenberganlage 31 – 33, 60054 Frankfurt am Main Wieland, Wolfgang; Senator für Justiz a.D., Rechtsanwälte Ehrig & Wieland, Richard-Wagner-Str. 51, 10585 Berlin Wolf, Harald; Dipl.-Politologe, Bürgermeister und Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen in Berlin, Martin-Luther-Str. 105, 10825 Berlin