Dichtung als Spiel: Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache. Mit einem Nachtrag 'Parodie', ergänzender Auswahlbibliographie, Namenregister [2. Aufl. Reprint 2011] 9783110859959, 9783110129236

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Dichtung als Spiel: Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache. Mit einem Nachtrag 'Parodie', ergänzender Auswahlbibliographie, Namenregister [2. Aufl. Reprint 2011]
 9783110859959, 9783110129236

Table of contents :
Vorwort von Walter Pape
I. Umgrenzung des Themas
II. Die geistigen Grundlagen des Spiels
A. Das kindliche Spiel
1. Das dämonische Spiel
2. Das kosmische Spiel
3. Das göttliche Spiel
B. Der Traum von der Befreiung des Menschen im Spiel
1. Das Chaos als höchste Schönheit und Ordnung
2. Höherer Blödsinn und Nonsense
3. Die Zerstörung im Dienst einer neuen Ordnung
C. Das Spiel der Resignation
Sprachskepsis und Mystik
D. Die Grenzen des Spiels
1. Tristan Tzaras Blague
2. Hans Arp und der Tod
3. Der Aufstand der Sprache
Schluß- und Nachwort
Anhang. Die Technik des Spiels
A. Das asemantische und das semantisch unsinnige Zeichen
1. Der sinnlose Refrain als Zeichen ohne Bedeutung
2. Der Kindervers als Übergang vom Zeichen ohne Bedeutung zum Spiel mit dem gegebenen Sprachstoff
3. Das Spiel mit der gegebenen Sprache
B. Die Gattungen der Unsinnspoesie
1. Die unliterarischen Spiele
2. Die literarischen, gesellschaftlichen und gelehrten Spiele
3. In der deutschen Literatur fehlende Gattungen
4. Spiele in Magie und Mystik
C. Gesellschaften und Sammlungen
Sigel und Abkürzungen des Anhangs
Abbildungsverzeichnis zu Band 2
NACHTRÄGE
Parodie
I. Begriff
II. Artistische Parodie und Spiel mit der literarischen Bildung
1. Mittelalter
2. Das 16. Jahrhundert
3. Das 17. Jahrhundert
4. Das 18. Jahrhundert und die Klassik
5. Das 19. Jahrhundert
6. Der Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert
III. Kritische Parodie und parodistische Anspielung
1. Vom Mittelalter bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts
2. Die kritische Parodie in Barock und Frühaufklärung
3. Die Blütezeit der kritischen Parodie: literarische Kritik von der Aufklärung zur Klassik
4. Das 19. Jahrhundert
5. Das 20. Jahrhundert
IV. Agitatorische Parodie
1. Die parodierten Vorlagen
2. Die Wirkungsproblematik agitatorischer Parodien im zwanzigsten Jahrhundert
Literatur zur Parodie (Stand 1965)
Ergänzende Auswahlbibliographie zu zentralen Themen und Autoren
Namenregister

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Alfred Liede Dichtung als Spiel

Alfred Liede

Dichtung als Spiel Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache Zweite Auflage Mit einem Nachtrag Parodie, ergänzender Auswahlbibliographie, Namenregister und einem Vorwort neu herausgegeben von Walter Pape

w DE

G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1992

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Deutsche Bibliothek



ClP-Einheitsaufnahme

Liede, Alfred: Dichtung als Spiel : Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache / Alfred Liede. — 2. Aufl. / mit einem Nachtr. Parodie, erg. Ausw.-Bibliogr., Namenreg. und einem Vorw. neu hrsg. von Walter Pape. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1992 ISBN 3-11-012923-X

© Copyright 1963/1966/1992 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Thormann Sc Goetsch, Berlin / Arthur Collignon GmbH, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Einbandgestaltung: Rudolf Hübler (unter Verwendung der Collage von Kurt Schwitters „Für Rußland unannehmbar" 1922, © VG Bild-Kunst, Bonn 1992) Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz &C Bauer GmbH, Berlin

Vorwort von Walter Pape

I. Die Sprache und ihre Grenzen, die sprachkritische Diskussion über die beherrschende Rolle der Schrift und die weitgehend verlorene Mündlichkeit der Dichtung, Sprachspiel, Intertextualität und Parodie als Kennzeichen postmoderner Literatur, die Unzulänglichkeit traditioneller (und auch moderner) Literaturgeschichtsschreibung, soweit sie einen nur scheinbar „regelmäßigen und regelgerechten Ablauf" konstruiert (Band 1, S. 3), all das steht im Mittelpunkt des Interesses der modernen Literaturwissenschaft und Philosophie. Alfred Liedes Standardwerk erregt vor diesem Hintergrund erneutes Interesse, denn es diskutiert diese Fragen und breitet die immer noch umfassendste Materialsammlung zum Thema ,Dichtung als Spiel' in einem weiten historischen und die nationalen Grenzen überschreitenden Überblick aus. Dem Neudruck hinzugefügt wurden nicht nur ein ausführliches Namenregister, eine ergänzende Auswahlbibliographie und dieses Vorwort, in dem einige Hinweise auf die Bedeutung von Liedes Werk1 und die neuere Forschung zu seinen zentralen Themen gegeben werden sollen2, sondern auch seine umfangreiche und im Materialreichtum immer noch unübertroffene Arbeit über die Parodie, 1966 als Artikel des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte erschienen; der durchgesehene und vom Herausgeber mit Zwischenüberschriften versehene Nachdruck vervollständigt den zweiten Band, wo Liede in der ersten Auflage (S. 218) nur einen Hinweis auf die Stoffülle und den dadurch notwendigen Verzicht einer Behandlung geben konnte. Daß die Sprache dem Menschen ihre Ordnung aufzwingt, macht Dichtung, die ihre Grenzen aufsucht, so faszinierend. Das Wiederaufleben von Nietzsches Sprachkritik in der Philosophie Jacques Derridas und anderer richtet den Blick wieder verstärkt auf den Zeichencharakter der Sprache und der Schrift (Derrida: „Die

1 Damit liegt das Hauptwerk Alfred Liedes (*26. Oktober 1926 in Basel, f5. Januar 1975 in Sumiswald) vor, der durch seinen frühen Tod daran gehindert wurde, das Thema weiter und bis in die Gegenwart zu verfolgen, wie er es in Seminaren während seiner Tätigkeit auf dem Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur in Köln (seit 1968) getan hat. 2 Die vollständigen Angaben zu der in den Anmerkungen abgekürzt zitierten Literatur finden sich in der Ergänzenden Auswahlbibliographie im Nachtrag in Bd. 2, S. 423 - 440.

VI

Vorwort

Heraufkunft der Schrift ist die Heraufkunft des Spiels" 3 ), dadurch aber auch auf die Fiktionalisierung unserer Wirklichkeit durch, wie Jean Baudrillard es ausdrückt, die „precession des simulacres" 4 der Realität gegenüber: „Die Realität geht im Hyperrealismus unter, in der exakten Verdoppelung des Realen, vorzugsweise auf der Grundlage eines anderen reproduktiven Mediums — Werbung, Photo etc. —, und von Medium zu Medium verflüchtigt sich das Reale" 5 . Glaubte man bis ins 17. Jahrhundert noch an eine mögliche Ähnlichkeit der Zeichen und der Dinge, sah man in der Natur selbst ein „Spiel von Zeichen und Ähnlichkeiten" 6 und suchte man nach der verlorenen Lingua adamica, so verstärkte sich mit dem wachsenden Bewußtsein, daß Sprache bloß zeichenhaft ist, die Skepsis der Dichter gegenüber ihrem genuinen Medium. 7

II. Alfred Liede hat nachdrücklich auf diese Tradition hingewiesen, vor allem im Kapitel Sprachskepsis und Mystik des ersten Bandes (S. 248 — 354), wo auch erstmals in der Geschichte der neueren Literaturwissenschaft Fritz Mauthners Sprachkritik 8 und seine Bedeutung für die Literatur der Moderne herausgearbeitet und Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief in die zweite Reihe verwiesen werden. So erweist sich Morgensterns scheinbar harmloser Unsinn als von Nietzsche und Mauthner geprägte avantgardistische Literatur, und auch die Bedeutung Dadas für die Moderne und Hugo Balls 9 zentrale Rolle als „Denker des Dadaismus" hat Liede erstmals in dieser Klarheit dargestellt. Die zentralen Kapitel des ersten Bandes kreisen um eine Literatur, bei der die „Loslösung des Sprachzeichens vom Ding" (Bd. 1, S. 249) das Prinzip der Natur-

3 Derrida: Grammatologie (1967/1983), S. 17; Grammatologie ist „Wissenschaft von der Schrift". 4 Jean Baudrillard: La precession des simulacres. In: Baudrillard: Simulacres et simulations (1981), S. 9 - 6 8 . 5 Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod (1976/1991), S. 1 1 3 - 1 1 4 . 6 Foucault: Die Ordnung der Dinge (1966/1974), S. 62. 7 Unter den neueren Untersuchungen zum Wandel der Sprachauffassung (neben der Arbeit Foucaults) siehe besonders die Sammelbände History of Linguistic Thought (1976) und Theorien vom Ursprung der Sprache (1989) mit reichen Literaturangaben, zur Sprachkritik besonders die Arbeiten von Säße (1977), Göttsche (1987) und Stenglin (1990). 8 Vgl. zu Mauthner und seiner Bedeutung vor allem die bei Alfred Liede entstandene Dissertation von Joachim Kühn: Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben und Werk. Mit einer Fritz-Mauthner-Bibliographie (1975); ferner die Aufsätze von Elizabeth Bredeck, Gerhard Fuchs und Peter Kampits im zweiten Heft des Jahrgangs 1990 der Zeitschrift Modern

Austrian Literature.

9 Hugo Balls Stellung in der Moderne ist inzwischen unumstritten; das belegt nicht nur der seit 1977 erscheinende Hugo Ball Almanach (Pirmasens), sondern auch eine Vielzahl von Publikationen über ihn, vgl. die laufenden Bibliographien von Ernst Teubner im Almanach und Teubners Bibliographie (1992).

Vorwort

VII

nachahmung und Illusion10 zurückgedrängt hat. Im Kapitel über Lewis Carroll analysiert Liede dessen Werk als Schlüsseltexte der Moderne und der Avantgarde: Abseits von jeder expliziten theoretischen Reflexion schuf Lewis Carroll in der sprachlichen Selbstherrlichkeit Humpty Dumptys ein Symbol für eine Literatur an den Grenzen der Sprache. „In seinem Wort: ,When I use a word, it means just, what I choose it to mean' erfüllt sich die Sehnsucht der Unsinnspoeten nach Befreiung vom überlieferten Wortsinn." (Bd. 1, S. 190) Wie Alfred Liede hat in letzter Zeit eine Vielzahl von Untersuchungen in Carroll einen Ahnherrn der modernen Sprachkritik und Metafiktion gesehen11. Doch wenn man ihn zu einem Vorläufer und Anreger Ludwig Wittgensteins macht, übersieht man die sprachskeptische Linie von Nietzsche bis Mauthner und darüber hinaus, die Liede nachgezeichnet hat und die sich noch weiter fortführen ließe: So wollte James Joyce in seinem Finnegans Wake „durch Kombination der besten Teile jeder Sprache" Form und Inhalt wieder vereinen12; er traf sich in solcher Hochschätzung der Möglichkeiten des poetischen Sprachspiels durchaus mit Fritz Mauthner, ließ sich Joyce doch während der Arbeit an Finnegangs Wake vom jungen Samuel Beckett sogar Stellen aus Mauthners Beiträgen zu einer Kritik des Sprache vorlesen13. Das „bange Wissen um die Grenzen des Mediums der eigenen Sprachkunst" und die „Fiktion als erkenntnis- und sprachkritische metafiktionale Inszenierung eines befürchteten Sinnverlusts und gleichzeitig als ebenfalls metafiktional thematisierte Möglichkeit der Flucht in eine Welt des ästhetischen Spiels"14 verbindet nicht nur Carroll mit der Literatur der Moderne und Postmoderne15, sondern nichts anderes ist auch das Thema der einzelnen Untersuchungen des ersten Bandes von Alfred Liedes Dichtung als Spiel, in dem die sprachkritische und sprachspielerische Dichtung von der Romantik bis zum Dadaismus und darüber hinaus im Mittelpunkt steht.

10 Dazu jetzt: Aesthetic Illusion. Theoretical and Historical Approaches. Ed. by Frederick Burwick and Walter Pape (1990). 11 Vgl. Bibliographie und Forschungsbericht von Edward Guiliano sowie besonders Werner Wolfs Beitrag (1987). 12 Kühn: Gescheiterte Sprachkritik (1975), S. 15. Vgl. auch Steiner: After Babel (1975), S. 190. 13 Vgl. die Beiträge von Linda Ben-Zvi. 14 Wolf: Lewis Carrolls „Alice"-Geschichten, S. 433 und 443. 15 In seiner „Merkmalreihe" zur Postmoderne und postmodernen Literatur zählt Ihab Hassan (Postmoderne heute. — In: Wege aus der Postmoderne [1988], S. 47 — 56) Merkmale auf, die alle auch für Liedes Begriff der Unsinnspoesie zutreffen: „ U n b e s t i m m t h e i t " , „Fragmentarisierung" (Montage, Collage, objet trouve, Paradox, unerklärte Randzonen), „ A u f l ö sung des Kanons" („umfassende Entlegitimierung gesellschaftlicher Normen", Tod Gottes, des Autors und des Vaters), „Verlust von ,lch' und ,Tiefe'" („Das Ich, im Spiel der Sprache sich verlierend"), „Das Nicht-Zeigbare, Nicht-Darstellbare" („Wie schon ihre Vorgängerin, so ist auch die postmoderne Kunst irrealistisch, nicht-ikonisch"), „Ironie", „Hybridisierung oder die Reproduktion von Genre-Mutationen, unter ihnen Parodie, Travestie, Pastiche", „Karnevali-

sierung",

„Performanz,

Teilnahme",

„Konstruktcharakter"

(Arbeit mit „Tropen, figurativer

Sprache, mit Irrealismen"), „ I m m a n e n z " („Dies ist die Zeit des Menschen als sprachliches Wesen, sein M a ß ist die Intertextualität allen Lebens").

VIII

Vorwort III.

Liedes Untersuchung und sein methodischer Ansatz unterscheiden sich jedoch von postmoderner oder poststrukturalistischer T h e o r i e und Literatur darin, daß er an die Sprache glaubt, obwohl er mit Lichtenberg weiß, d a ß die „Wörter-Welt" vor der eigentlichen Welt steht (Bd. 1, S. 251), daß er gegen die problematische erkenntnistheoretische Doktrin von der Unzugänglichkeit der Wahrheit oder auch nur des Sinns eines Textes an einem Autor-zentrierten Literaturverständnis dort festhält, w o es der Textintention entspricht. Denn da die Sprache dem Menschen ihre Ordnung aufzwingt (Bd. 1, S. 421), ist jeder Aufstand gegen ihre Regeln, jeder Grenzüberschreitungsversuch aus diesem „anonymen System ohne S u b j e k t " (Foucault) die Leistung eines einzelnen, der diesem System wortwörtlich unterworfen ist oder sich ihm unterwirft, indem er schon traditionell gewordene Techniken des Grenz-Spiels verwendet, und der damit — auf die eine oder die andere Weise — zum Scheitern verurteilt ist. In diesem Sinne ist für Alfred Liede Unsinnspoesie „immer eine Dichtung aus Unvermögen" (Bd. 1, S. 430). M a n c h e Kritiker haben diese Definition als Abwertung der Unsinnspoesie mißverstanden; sie ist nur verständlich vor dem Hintergrund eines Glaubens an die Transzendenz: „Unsinnspoesie ist auch Dichtung an den Grenzen des M e n s c h e n . " (S. 431) Anders als die postmoderne Literaturwissenschaft geht Liede von der Möglichkeit systematischen Wissens und davon aus, daß nicht nur der „Effekt des Spiels der S p r a c h e " 1 6 in Texten aufgedeckt, dekonstruiert werden soll. M i t der sprachkritischen Tradition und den Poststrukturalisten wäre er sich zwar darin einig, daß „Bedeutung eher als Produkt der Sprache und nicht als deren Ursprung" zu denken ist 1 7 , doch kündet für ihn die moderne Unsinnspoesie nicht vom Tod des Autors — obwohl er dem „an der Goethezeit gebildeten Wertempfinden der deutschen Literaturwissenschaft mit seiner Überbetonung des schöpferischen Individuums" (Bd. 2, S. 321) kritisch gegenüberstand —, sondern sie zeigt SprachSpiele von Menschen, die um ihre Freiheit ringen und „an jener höchsten M a c h t scheitern, vor der aller Unsinn Sinn ist." (S. 431) Deshalb hat sich Liede auch nicht Lewis Carroll, sondern Chesterton als „Schutzp a t r o n " seiner Arbeit (S. 18) gewählt: Credo quia absurdum. Wenn er den Glauben an die Sprache den „Glauben des Dichters" nennt und feststellt, daß der Dichter dennoch am Wort leide und ihn immer „der unheimliche Schatten der Sprachskepsis" begleite (S. 248), so gilt Entsprechendes auch für Alfred Liede als Literaturwissenschaftler. Folgerichtig verbindet Liede im ersten Band seines Werkes die sprachkritische Zerlegung der T e x t e mit dem Versuch einer Rekonstruktion der Autorintention, der Funktion der Texte für den Autor und im Kontext ihrer Zeit. Freilich tritt dort,

16 Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Aus dem Amerikanischen von Manfred Momberger. (On Deconstruction, dt.) Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1988 (Rowohlts Enzyklopädie. 474), S. 20. 17 Ebenda, S. 123.

Vorwort

IX

„wo die Dichtkunst zur Hauptsache als Wissen und Kunsthandwerk betrachtet und vom Dichter keine künstlerische Originalität und keine Rücksichtnahme auf das geistige Eigentumsrecht anderer erwartet" wird (Bd. 2, S. 323), der Autor in den Hintergrund und die sprachliche Virtuosität sowie das, was man heute 'Intertextualität' nennt, in den Mittelpunkt des Interesses. In der Einleitung zum Kapitel Die literarischen, gesellschaftlichen und gelehrten Spiele (Bd. 2, S. 58 — 70) skizziert Liede in einem weiten Überblick von der persischen Dichtung bis zu Max Bense und in Auseinandersetzung mit Ernst Robert Curtius' Manierismus-Begriff jene Art höfischer und gesellschaftlicher Sprachkunst, bei der die Person des Autors keine Rolle spielte, und er grenzt sie ab von der „persönlichen Unsinnspoesie des einzelnen Dichters", die erst im Laufe des 18. Jahrhunderts mit der Herausbildung dichterischer Subjektivität entstehe. Wie nahe Liedes Verständnis von ,Dichtung als Spiel' und Unsinnspoesie auch hier wieder dem heutigen „Passepartoutbegriff" ,postmodern' ist, zeigen Umberto Ecos Ausführungen, für den Ironie und metasprachliches Spiel Kennzeichen der Postmoderne sind und für den „jede Epoche ihre Postmoderne hat, so wie man gesagt hat, jede Epoche habe ihren eigenen Manierismus", und der sich schließlich fragt, ob „postmodern überhaupt der moderne Name für Manierismus als metahistorische Kategorie" sei. 18

IV. Dichtung als Spiel beschränkt sich nicht, hierin den erweiterten Literaturbegriff nach dem Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft Anfang der siebziger Jahre vorwegnehmend, auf die anerkannten großen Autoren; denn bedeutende Dichter wie vergessene Poetae minores können Symbolgestalten für verschiedene Arten dichterischen Spiels und ihre Zeit sein. So legt Liede beispielsweise den Zusammenhang von Mörikes scheinbar abseitigen Wispeliaden mit dem Gesamtwerk dar, und das im Goetheschen Sinne dämonische, nur scheinbar private Spiel Mörikes erweist sich als durchaus epochentypisches Spiel gegen die Zeit (Bd. 1, S. 27 — 72). Auch die literarisch weniger bedeutenden deutschen Vertreter des Höheren Blödsinns, Ludwig Eichrodt und Viktor von Scheffel, analysiert Liede als typische Vertreter des Zeitgeistes, hier aber nun der bildungsbürgerlichen Mentalität des 19. Jahrhunderts" (Bd. 1, S. 145 — 157); die Verbindung von empirischer Textunter18 Umberto Eco: Nachschrift zum „Namen der Rose". (Postille a „II nome della rosa", dt.) Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. 4. Aufl. München: Hanser 1984, S. 77. 19 Für Scheffel ist das zum Teil unter kaum gerechtfertigter Aufwertung seiner Werke — in jüngster Zeit explizit geschehen; siehe besonders folgende Untersuchungen: Lechner, Manfred: Joseph Viktor von Scheffel: Eine Analyse seines Werks und seines Publikums. München, Phil. Diss. 1962. Mahal, Günter: Joseph Viktor von Scheffel. Versuch einer Revision. Karlsruhe: C. F. Müller 1986. Selbmann, Rolf: Dichterberuf im bürgerlichen Zeitalter. Joseph Viktor von Scheffel und seine Literatur. Heidelberg: Winter 1982 (Beitr. z. neueren Lit.gesch. 3. Folge. 58).

χ

Vorwort

suchung und Repräsentativität der Analyse bewährt sich auch im Kapitel über die bürgerlichen Künstler- und Unsinnsgesellschaften Gesellschaften

und

Sammlungen

(Bd. 2, S. 2 7 9 — 306), w o man mehr über die Funktion von Literatur in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts erfährt als in mancher theoretischen Untersuchung. Den harmlosen bürgerlichen Spielen stellt Liede das romantische „Gespenst der absoluten Ironie, die fortschreitend die Welt auflöst" (S. 122) gegenüber. Die Ironieforschung hat seit 1957, als Liede seine Arbeit abschloß, große Fortschritte gemacht 2 0 ; und dennoch überzeugt der Bogen, den Liede von Schlegel über den Surrealismus und Kurt Schwitters bis hin zu Karl Valentin schlägt. Zudem zeigt Liede auch die Vergeblichkeit jenes Kampfes gegen eine „falsche Zivilisation durch Schreiben, Dichten und Malen" (S. 134); wenn er zu Schwitters' 2 1 Merzdichtung und seinen Collagen feststellt, dort seien „Werte nur noch Worte, Sprache und Vorstellungen" (S. 137), so sagt die postmoderne Wissenschaft letztlich dasselbe, freilich in ihren an Derrida geschulten Worten: „Die schriftliche Spur als Bildelement verweist nicht mehr referentiell auf eine gewußte Wirklichkeit, sondern tritt an deren Stelle. Sie zeigt damit, daß die Welt, in der sie gefunden und verarbeitet werden kann, selbst eine Welt aus Zeichen durch das semiologische

Erlebnis

Liedes Kapitel Zerstörung

ist, daß die Erfahrung

von

Wirklichkeit

verdrängt worden ist." 2 2

im Dienst einer neuen Ordnung

über die Bewegungen

vom Futurismus 2 3 und Dadaismus 2 4 bis zum Surrealismus und ihren Versuch, mit der Zerstörung der herrschenden Sprache auch die Herrschenden zu treffen 2 5 , gehört

20 Vgl. besonders folgende Arbeiten: Behler, Ernst: Klassische Ironie, Romantische Ironie, Tragische Ironie. Zum Ursprung dieser Begriffe. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972. Finlay, Marike: The Romantic Irony of Semiotics. Friedrich Schlegel and the crisis of representation. Berlin, Amsterdam: Mouton 8c de Gruyter 1988. Japp, Uwe: Theorie der Ironie. Frankfurt a. Μ.: Klostermann 1983 (Das Abendland N.F. 15). Prang, Helmut: Die romantische Ironie. 3. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989 (Erträge der Forschung. 12). Strohschneider-Kohrs, Ingrid: Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung. 2. Aufl. Tübingen: Niemeyer 1977 (Hermaea N.F. 6). 21 Schwitters, dem als einzigem der deutschen Dadaisten bislang eine kritische Gesamtausgabe zuteil geworden ist, wird heute nicht nur als bildender Künstler wohl etwas überschätzt; grundlegend die Monographien von Schmalenbach und Elderfield, zum literarischen Werk siehe vor allem Homayr (1991). 22 Geier: Schriftbilder (1980), S. 70. 23 Siehe vor allem die Arbeiten von Peter Demetz (1987 und 1990). 24 Siehe besonders die reich bebilderte und mit einer ausführlichen Bibliographie versehene Studie von Hanne Bergius (1989), den Sammelband Sinn aus Unsinn. Dada International (1982) und die Darstellung von Eckhard Philipp (1980). 25 Vgl. dazu auch die gut pointierte Skizze von Peter Demetz: Italian Futurism and the German Literary Avant-garde (1987); Demetz kommt — offenbar ohne Kenntnis der Arbeit Liedes — zu ähnlichen Ergebnissen: S. 19: der Beginn des neuen Jahrhunderts sei eine Zeit „of restless doubts about the possibilities of expression and communication", er erwähnt u. a. Mauthner und dessen Einfluß und faßt ganz im Sinne Liedes zusammen: „As soon as we question the form of language itself, we move, whether we want to or not, to the most essential question of all writing." (S. 20).

Vorwort

XI

zu den Pionierarbeiten auf diesem Gebiet; doch verfällt er nicht wie manche Apologeten postmoderner Literaturwissenschaft der Zeichenmagie und dem Analogiezauber, sondern er weif?, daß die „schrankenlose Freiheit" des Spiels sich als „stumpfe Waffe gegen den Zwang" der Gewalt und der Herrschaft erweist, daß der dadaistische Protest gesellschaftlich ein hoffnungsloses Beginnen war: „Dada blieb immer nur ein literarischer und künstlerischer Aufbruch, die wirklichen Mächte gingen mit einem Achselzuken an ihm vorüber." (S. 221 —222)

V. Liedes Lehrer Walter Muschg hat 1964, ein Jahr nach dem Erscheinen von Dichtung als Spiel und also lange vor einem größeren Interesse der Literaturwissenschaft an diesen Formen der Literatur, die „Abstraktion von der Wirklichkeit", das „Spiel mit den Dingen dieser Welt" wie Liede als „Absage an das Denken des bürgerlichen Zeitalters" gesehen, dennoch aber darauf beharrt, daß von allen Künsten einzig die Dichtung imstande — und verpflichtet — sei, „an die Vernunft des Menschen zu appellieren." 26 An die vergessene Vernunft appellieren kann aber auch Unsinnspoesie, wenn sie sich gegen das durch Gewohnheit und Tradition ästhetisch wie gesellschaftlich Akzeptierte wendet. Deshalb bedeutet „Unsinnspoesie" keine Abwertung der spielerischen, artistischen oder sprachkritischen Literatur, obwohl man diesem Mißverständnis immer wieder begegnet27; durch diesen Begriff soll diese Art Literatur „gut charakterisiert, aber nicht gewertet" (Bd. 1, S. 6) werden. Denn Unsinnsdichtungen sind für Liede Texte, deren Sinn nicht direkt oder durch traditionelle hermeneutische Lektüre zugänglich ist, Texte, welche die Grenzen der Sprache aufsuchen und sich in Gegensatz zu einer „bestimmten geistigen Ordnung der Sprache" (Bd. 1, S. 6) stellen. Auch für Susan Stewart (Nonsense. Aspects of Intertextuality in Folklore and Literature [1979]) verlangt der Unsinn „a transgression of common-sense interpretive procedures" und ist sozialgeschichtlich als Gegensatz zum Commonsense zu sehen: „The ,content' of nonsense will always shift as a result of the ongoing social process of making common sense." 28 Die literarhistorische Einordnung Dadas als Avantgarde — in Übereinstimmung oder in Auseindersetzung mit Peter Bürgers Theorie der Avantgarde — geht von einer ähnlichen Opposition aus: Dem ästhetischen Commonsense, der Tradition steht die Thematisierung des Ausbruchs aus den Grenzen der traditionellen Kunst gegenüber. In diesem Sinne hat jüngst Christian Schärf das experimentelle literarische Spiel aus der durch Nietzsche begründeten „Dynamik der Negation" erklärt und am Beispiel Dadas (Arp, Ball, Schwitters) dargelegt, daß man die literarische „Artistik im 20. Jahrhundert nicht ohne die Muschg: Der Zauber der Abstraktion (1964/1965), S. 30. Zuletzt wieder im Forschungsüberblick zur visuellen Poesie von Ulrich Ernst: Carmen figuratum (1991), S. 1. 28 Stewart: Nonsense (1979), S. 37 und 39. 26 27

XII

Vorwort

besondere Beachtung des Aspekts der Verneinung begreifen" könne 2 9 . Ähnlich sieht Josef Homayr die Avantgarde und das Werk Kurt Schwitters im Rahmen seiner „negationstheoretischen Auslegung der Avantgarde" und spricht der modernen Kunst ästhetische Negativität zu 30 : Dieser Begriff hat gegenüber dem der ,Unsinnspoesie' den Vorteil, den semantischen und formalen Aspekt zu verbinden, verdeckt aber die Tatsache, daß viele (auch avantgardistische) Werke sich sehr traditioneller ästhetischer Mittel bedienen, wie Liede ausführlich dargelegt hat, und daß es unterschiedliche Arten der Negation, unterschiedliche Funktionen des Un-Sinns gibt. Daß Alfred Liede 1963 und Walter Muschg 1964 (in seinem Aufsatz Der Zauber der Abstraktion) die Funktion der Negation für den Avantgardismus und das, was man heute Postmoderne nennt, bereits klar herausgearbeitet haben, wird von der heutigen Literaturwissenschaft nur allzu leicht übersehen. Den umfassendsten Forschungsbericht zu den oft gegensätzlichen Unsinns- bzw. Nonsense-Begriffen hat 1988 Wim Tigges vorgelegt 31 . Viele Theoretiker des Nonsense haben für einen engen Begriff plädiert; so will Peter Köhler in seiner apodiktisch-schlichten Untersuchung Nonsens [sie] vom „literarischen Unsinn" trennen und jenen auf rein komische und tendenzlose Formen einschränken 32 , Klaus Reichert gar will in seiner klugen, aber einseitigen Analyse die englische Unsinnsliteratur als „transitorische Erscheinung" auf die viktorianische Ära beschränken 33 . Peter Christian Lang dagegen übernimmt nicht nur Liedes weiten Unsinns-Begriff, sondern orientiert sich auch hinsichtlich seiner Textgrundlage weitgehend am ersten Band Liedes; er konzentriert sich dabei auf die linguistische Analyse, die allerdings — auf der Grundlage der modernen Grammatiktheorien — über Liede hinausgeht 34 .

VI. Einer Verharmlosung und Abwertung der Unsinnspoesie als komische Spielerei hat Liede nicht nur durch den Rekurs auf ihre sprachkritische Fundierung, sondern auch durch seinen gegenüber Huizinga erweiterten Spielbegriff selbst den Boden entzogen: Dichtung als Spiel 35 umfaßt auch das regellose und das zerstörerische Schärf: Spur der Verneinung, S. 395. Homayr: Montage als Kunstform (1991). — Siehe auch den Essayband: Languages of the Unsayable. The Play of Negativity in Literature and Literary Theory (1989). 31 Tigges: An Anatomy of Nonsense (1988), S. 6 — 55; mit umfassender Bibliographie; siehe auch seine annotierte Auswahlbibliographie in dem von ihm herausgegebenen Sammelband: Explorations in the Field of Nonsense (1987), S. 245 - 255. 3 2 Köhler: Nonsens. Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung (1989), S. 28 und 34 - 35; Köhlers Arbeit bietet allerdings die erste größere Darstellung des „modernen deutschen Nonsens" von F. W. Bernstein, Robert Gernhardt und Friedrich Karl Waechter. 33 Reichert: Lewis Carroll. Studien zum literarischen Unsinn, S. 7. 34 Lang: Literarischer Unsinn im späten 19. und 20. Jahrhundert (1982). 3 5 Die Tradition des ästhetischen Spielbegriffs hat Irmgard Kowatzki (Der Begriff des Spiels als ästhetisches Phänomen [1973]) an Schiller, Novalis, Heine, Hofmannsthal und Benn als den Weg zu einer absoluten Trennung von Ethischem und Ästhetischem, zu nihilistischem Grundgefühl und Sprachzerstörung nachgezeichnet (S. 156). 29 30

Vorwort

XIII

Spiel, umfaßt für ihn auch alle Formen der Parodie, die er als „bewußtes Spiel mit einem (möglicherweise auch nur fingierten) literarischen Werk" sieht (Bd. 2, S. 320). Allerdings hat Liede die literaturwissenschaftliche Aufwertung und die alltägliche Gegenwart von Spiel und Parodie nicht voraussehen können. Denn — und das sollte bei meiner Skizze zur bleibenden Bedeutung und zur Aktualität von Liedes Werk klar werden — Metafiktion, Spiel und Parodie beherrschten in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten zunehmend die literarische und wissenschaftliche Produktion und Reproduktion vor allem im französischen und im angelsächsischen Raum, da England und Frankreich — im Gegensatz zu Deutschland — „ein breiteres literarisch versiertes und Sprachkunstwerke genießendes Publikum" besitzen, wie auch Liede wußte (Bd. 2, S. 321); und Margaret A. Rose kann sogar eine „structuralist and poststructuralist canonisation of characteristics of specifically parody works as norms for literary theory in general" feststellen 36 , so daß Künstler, Kunst und ihre Theoretiker im „Funhouse of Language", dem Spiel der Echos, Anspielungen, Assoziationen und Variationen, langsam verloren zu gehen drohen 3 7 . Parodie und Spiel mit der literarischen Tradition sind immer auch ein Teil der Alltagskultur gewesen; Alfred Liede hat das im Abschnitt über die Unliterarischen Spiele (Bd. 2, S. 34 — 42) gezeigt und in seiner Untersuchung der Parodie darauf hingewiesen; da jedoch „die öffentlich Bedeutung des literarischen Erbes" zumindest im deutschen Sprachgebiet schwindet, bleiben nur die Parodie „populärer Lieder, Schlager, Kinderverse und Choräle" (Bd. 2, S. 403) sowie die Parodierung von Märchen und Reklamesprüchen. Untersuchungen deutscher Volkskundler bestätigen die Allgegenwärtigkeit der Parodie, so daß Rainer Wehse sogar von einer „neuen Einfachen Form" sprechen konnte, die global und diachron gültig sei. Deswegen halten er und Lutz Röhrich sich auch an die Definition Alfred Liedes und Gustav Gerbers 38 . Denn Liedes Zuordnung der Parodie zum Komplex „Dichtung als Spiel" und sein weiter, von der Autorintention und der literarischen Funktion ausgehender Parodie-Begriff erweisen sich im Lichte der volkskundlichen wie der postmodernen Diskussion als geeigneter als beispielsweise die „antithematische Behandlung", „Herabsetzung" und „kritische Textverarbeitung" betonende Definition Verweyens und Wittings 39 .

36 Margaret A. Rose: Parodie and Post-Structuralist Criticism (1986), S. 97. Sie nennt als Beispiel solcher Werke Don Quijote und Tristam Shandy und ihre einflußreiche Analyse durch Viktor Sklovskij ( T h e o r i e der Prosa 1966). 37 Ich variiere Gedanken aus Brian Edwards Essay „Deconstructing the Artist and the Art: Barth and Calvino at Play in the Funhouse of Language" (1985), bes. S. 264 - 265, der wiederum auf John Barths Lost in the Funhouse (1968) Bezug nimmt. 38 Wehse: Parodie - eine neue Einfache Form? (1982/83), S. 318 u. 319; Röhrich: Gebärde — Metapher - Parodie (1967), S. 1 1 5 - 2 2 1 : „Volksüberlieferung und Parodie". 39 Verweyen/Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur (1979), S. 187, 210. - Vgl. auch Jürgen Stackelbergs Skepsis gegenüber modernen Einschränkungen des Begriffs: „In der jüngeren Literaturwissenschaft gilt das meiste Erkenntnisinteresse dem Bemühen um eine neue, möglichst allumfassende Definition, wobei dann Abgrenzungen zur Travestie, zum Pastiche oder auch zur Burleske eine große Rolle zu spielen pflegen. Strukturalisten und Semiotiker sind um die Wette bestrebt, Typologien aufzustellen und in abstrakte

XIV

Vorwort

Die modernen Medien schließlich, vor allem Film, Video und musikalische Tonträger, haben die Möglichkeiten der — nun allerdings nicht literarischen — Parodie erheblich erweitert, vor allem durch die „getrennte Reproduzierbarkeit von Text-, Bild- und Musikspuren", wie Wolfgang Karrer anhand von „Parodie und Travestie in den Massenmedien und im Alltagsverhalten der USA" gezeigt hat 40 . D o c h verschwindet mit der Ubiquität von Parodie und Unsinn gerade in den Medien, verschwindet durch den glänzenden englischen Nonsense von Monthy Python oder den braven deutschen Unsinn von Otto (Waalkes) auch seine provokative Kraft. In einer Zeit, w o die Zerstörung der gesamten Welt droht, kann die Zerstörung der Sprache keine Provokation mehr sein. Und so ist trotz allen Vergnügens im „Funhouse of Language" heute die Skepsis von Walter Muschg angebracht, zu dessen lange verpöntem ethischen und moralischen Anspruch an die Literatur sich auch Alfred Liede bekannte. Für Muschg stand 1964 der „Avantgardismus [...] vor einem ganz anderen Zeithintergrund als vor fünfzig Jahren"; und vielleicht gilt das auch für manche Spiele der Postmoderne: Nachdem ein besessener Scharlatan Europa mit sich in die Luft gesprengt hat, ist die Schwerelosigkeit, von der Kleist träumte, kein unerreichbares Ideal mehr, sondern der allgemeine Weltzustand. Die entfesselte Literatur spiegelt genau die Geistesverfassung einer überlebenden Menschheit, die in Unglauben, Fiktionen und technischen Spielen wie im Traum dahintreibt, unfähig, die Gefahr zu erkennen, in der sie schwebt. Das künstlerische Experiment ist kein Wagnis mehr, sondern die einzig noch interessierende Sensation. Am kühnsten und erfolgreichsten zaubern aber längst nicht mehr die Dichter und Künstler, sondern die Physiker und Ingenieure, die mit der schwarzen Kunst ihrer von niemandem verstandenen Formeln die Öffentlichkeit hypnotisieren. Während die Mitläufer des Spätexpressionismus mittels der Sprache die Wirklichkeit zertrümmern, wächst diese Wirklichkeit wie in einem Angsttraum riesig über uns hinaus und ist im Begriff, uns endgültig zu zerschmettern. Dieser Sachverhalt ist mehr als paradox, er ist eine weltgeschichtliche Ironie, vor der das Spiel mit dem Absurden seinerseits absurd wird. 41

Formeln zu fassen, worum es bei der Parodie und verwandten Formen der ,Intertextualität' geht. Ich möchte nicht verhehlen, daß ich diesen Bestrebungen skeptisch gegenüberstehe." (Stackelberg: Vergil, Lalli, Scarron. Ein Ausschnitt aus der Geschichte der Parodie [1982], S. 226.). - Überhaupt nicht hilfreich ist Winfried Freunds seltsame Unterscheidung einer „seriösen Parodie", in der „eine kritische Auseinandersetzung mit bornierten und bornierenden Bewußtseinsgehalten" stattfinde, und einer „trivialen Parodie", deren Hauptziel „die gelegentlich bis zum Klamauk vergröbernde Belustigung" sei (Freund: Die literarische Parodie [1981], S. 14-15). 40 Karrer: Parodie und Travestie in den Massenmedien und im Alltagsverhalten der USA (1981), hier S. 53. 41 Muschg: Der Zauber der Abstraktion (1964/65), S. 29.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Walter Pape

V

BAND

I.

1

Umgrenzung des Themas Unsinn als Wort und Begriff Unsinnspoesie und Sprache Unsinnspoesie und Lebensgefühl Die Unsinnspoesie und das Komische Die Unsinnspoesie als ästhetische Gestalt des Metaphysischen

1 4 7 9 11 17

II. Die geistigen Grundlagen des Spiels

21

A.

Das kindliche Spiel 1. Das dämonische Spiel Mörikes Wispeliaden 2. Das kosmische Spiel Paul Scheerbart 3. Das göttliche Spiel Gilbert Keith Chesterton

27 27 27 73 73 93 93

B.

Der Traum von der Befreiung des Menschen im Spiel 113 1. Das Chaos als höchste Schönheit und Ordnung 113 a) Friedrich Schlegels Aufsatz „Über die Unverständlichkeit" und die romantische Ironie 113 b) Der Surrealismus und Kurt Schwitters' Merz 124 c) Karl Valentin 141 2. Höherer Blödsinn und Nonsense 145 a) Der höhere Blödsinn 145 Ludwig Eichrodt 145 Scheffel 151

XVI

Inhaltsverzeichnis b) D e r Nonsense

157

Edward Lear

165

Lewis Caroll

172

3. Die Zerstörung im Dienst einer neuen Ordnung

C.

a) Der italienische Futurismus

206

b) Wladimir M a j a k o w s k i

208

c) Der Aktivismus

212

d) Exkurs über Dada als Gesamtbewegung

216

e) Hugo Balls Anarchie

224

£) Der Berliner Dadaismus

229

g) Der Surrealismus

245

Das Spiel der Resignation

248

Sprachskepsis und Mystik

D.

205

248

Fritz M a u t h n e r

254

Christian Morgenstern

273

Exkurs über „Eduards T r a u m " von Wilhelm Busch

350

Die Grenzen des Spiels

355

1. Tristan Tzaras Blague

355

2. Hans Arp und der Tod

365

3. Der Aufstand der Sprache

400

Schluß- und Nachwort

429

BAND 2

Anhang. Die Technik des Spiels A.

1

Das asemantische und das semantisch unsinnige Zeichen

2

1. Der sinnlose Refrain als Zeichen ohne Bedeutung

3

2. D e r Kindervers als Übergang vom Zeichen ohne Bedeutung zum Spiel mit dem gegebenen Sprachstoff

12

a) Die Variation des Anlautes in der Wiederholung

13

b) Die Vokalvariation in der Wiederholung

B.

17

3. Das Spiel mit der gegebenen Sprache

21

Die Gattungen der Unsinnspoesie

32

1. Die unliterarischen Spiele

34

Inhaltsverzeichnis a) Der Kindervers Auszählreim 35 — Neckvers 36 - Reim auf unnütze Fragen 36 b) Die Spiele der Erwachsenen Beispielsprichwort 37 - Wetterregel 37 — Grabschrift und Marterl 37 — Lügendichtung 38 - Verkehrte Welt und Schlaraffenland 40 - Volkslied 41 2. Die literarischen, gesellschaftlichen und gelehrten Spiele

XVII 34 36

43

a) Der Übergang von den unliterarischen zu den literarischen Spielen Wortungeheuer 43 - Interpunktionsscherz 45 - Cross-Reading 45 — Wort in Zahlen 46 - Merkvers 46 - Studentenlied 47 — Stumpfsinnvers 47 — Klapphornvers 48 - Quodlibet 48 - Priamel 57 - Vielspruch 57 Unsinnige Aufzählung 58 - Rätsel und Scherzfrage 58

43

b) Die eigentlichen literarischen und gelehrten Spiele Einleitung: Die Spiele des Orients und die deutschen Spiele 58 - Das höfische Element 65 - Das gehehrte Element 67 — Das gesellschaftliche Element 67

58

A. Buchstabenspiele a) Anagramm Buchstabenballett 75 b) Akro-, Meso-, Telestich und Notarikon c) Chronogramm und Chronostich d) Der Abecedarius Die Vokalfolge AEIOU 88 e) Das Lipogramm f) Das Tautogramm g) Das Palindrom h) Der Schüttelreim B. Silbenspiele a) Einsilbige Verse und andere Verse von bestimmter Silbenzahl . . Versos de cabo roto 119 — Versus rhopalici 120 b) Die Tmesis C. Reimspiele a) Reimreichtum Allreim 122 — Schlag- und Binnenreim 126 — Mittel-, In- und Anfangsreim 130 — Endschallender Reim (vers couronne) 132 - Echoreim 136 b) Reimarmut Tiradenreim 140 — Rührender Reim 142 — Identischer Reim 142 — Grammatischer Reim 145 — Gebrochener Reim 147 — Waise 148 — Reimwetzeier 148 c) Reimverkettung Korn 148 - Irreim 149 - Pause 150 - Kettenreim 151 - Übergehender Reim 155 d) Seltene Reime D. Versfigurenspiele a) Versus rapportati b) Der Proteusvers Wechselsatz 160 - Versus reticulati 161 - Sestine 167

70 70 75 81 82 90 94 103 112 115 116 120 121 122

140

148

157 158 158 160

XVIII

Inhaltsverzeichnis

c) Der Spaltvers 168 d) Versus concordantes 170 e) Aufgegebene Reime und Ähnliches 171 Satz und Gegensatz 174 - Kontrafaktur 174 — Leberreim 177 f) Annominatio im Vers 178 Anapher 186 E. Einzelne größere Spiele 187 Wortspiel 187 - Paradoxon 188 - Oxymoron 188 - Worthäufung 189 a) Das Figurengedicht 190 b) Die maccaronische Poesie und andere Arten der Sprachmischung 205 Vers entrelarde 208 c) Der Cento 214 Sprichwortspiel 217 d) Parodie und Travestie 218 e) Der Niemand 218 f) Die Lautdichtung 221 Lautdeutung 221 - Vokalfarbenleitern 223 — Lautmalerei 227 — Künstliche Sprachen 230 - Spielerische Lautdichtung 231 — Moderne Lautdichtungen 239 3. In der deutschen Literatur fehlende Gattungen 256 Antike und altgermanische Spiele 256 Versus isopsephoi 256 - Kenning 256 Französische Spiele 257 Fatrasie 258 — Sottie 260 — Menus propos 260 — Baguenaude 260 — Coq-ä-l'ane 260 — Galimatias 261 — Amphigouri 262 Spanische Spiele 263 Disparate 263 Italienische Spiele 264 Frottola 264 - Manieray burchiellesca 264 - Rime boscareccie 264 Englische Spiele 264 Rigmarole 264 - Limerick 264 4. Spiele in Magie und Mystik 267 Semantisch unsinniges Zeichen 268 - Lügendichtung und verkehrte Welt 269 - Quodlibet 270 - Priamel 270 - Leberreim 270 - Rätsel 270 Magie der Buchstaben 270 - Anagramm: Temuräh 271 — Gematria: Chronogramm und Chronostich 272 — Notarikon 272 — Akrostichon 272 — Abecedarius: Abc-Denkmäler 272 - Güldenes Abc 273 — Lipogramm 273 — Tautogramm 274 — Palindrom 274 — Satorformel 274 — Echo 275 — Kettenreim 275 — Proteusvers und Wechselsatz 275 — Wortspiel 276 — Kenning 276 - Paradoxon 276 - Figurengedicht 276 — Geheimsprachen, Lautdeutung und Sprachmischung 278 — Zeruph 278 C.

Gesellschaften und Sammlungen 279 Hebels Bund der Proteuser 279 - Ludlamshöhle 281 - Brinler Gesellschaft 283 — Rostbratel-Orden 283 - Kreis im Blumenstöckl 283 — Soupiritium 283 - Baumannshöhle 283 - Grüne Insel 284 - Schlaraffia 285 Pankgrafschaft 285 - Tunnel über der Spree 285 - Montagsklub 286 -

XIX

Inhaltsverzeichnis Gesellschaft herodotliebender Freunde 286 — Gesetzlose Gesellschaft 286 — Gesellschaft der Zwanglosen 286 — Mittwochgesellschaft 286 — Tunnel über der Pleisse 288 -

Ellora 288 -

Rytli 288 -

Serapionsbrüder 288

-

Kreislers musikalisch-poetischer Klub 288 — Nordsternbund 289 — Mittwochsgesellschaft 289 - Gesellschaft der Krokodile 290 - Die Zwanglosen 291 -

Alt-England 291 -

Sechzehner 291 -

Zwecklose Gesellschaft -

291 -

Bund der

Die Raitenden 292 — Gesellschaft vom Stehwein 2 9 2 —

Bund der Maikäfer 292 -

Gesellschaften um R a a b e 292 -

Musenklänge

aus Deutschlands Leierkasten 293 — Verein der Maikäfer 296 — Blüthen aus dem Treibhause der Lyrik 300 3 0 0 — Stalaktiten 302 -

Allgemeiner Deutscher Reimverein

Galgenberg 302 -

Schwimm-Klub geistig hoch-

stehender Männer 302 — Stadelmann-Gesellschaft 303 — Das junge Krokodil 304 — Verein süddeutscher Bühnenkünstler 304 — Hermetische Gesellschaft 304 -

Kabarett 305

Sigel und Abkürzungen des Anhangs

307

Abbildungsverzeichnis zu Band 2

315

NACHTRÄGE

Parodie

319

I.

Begriff

319

II.

A r t i s t i s c h e P a r o d i e u n d Spiel m i t der l i t e r a r i s c h e n B i l d u n g

322

1. M i t t e l a l t e r

323

Minnesang

323

G r o b i a n i s c h e T i s c h z u c h t und g r o b i a n i s c h e r Sittenspiegel

324

P r e d i g t p a r o d i e n und a n d e r e G a t t u n g s p a r o d i e n

325

U m d i c h t u n g kirchlicher Texte

326

2. D a s 16. Jahrhundert

327

3.

Das 17. Jahrhundert

328

4.

D a s 1 8 . J a h r h u n d e r t u n d die Klassik

329

Anakreontik und R o k o k o

329

Goethe

331

Horaz-Parodien

331

Komisches Epos

331

P a r o d i e und T r a v e s t i e a n t i k e r W e r k e ( O v i d , Vergil, H o m e r )

332

Ä s t h e t i k d e r Klassik u n d P a r o d i e - F e i n d l i c h k e i t

334

XX

Inhaltsverzeichnis

5. Das 19. Jahrhundert a) Artistisches und gelehrtes Spiel Artistisches Spiel mit Klassikern und Romantikern Gelehrte Parodien Komisch-parodistisches Spiel mit der klassischen Dichtung Klassiker in Mundart Ubersetzungen populärer Werke ins Griechische und Lateinische Moritatenparodien Unsinntreibende Gesellschaften b) Theaterparodien Die Wiener Theaterparodie Joachim Perinet und Joseph Ferdinand Kringsteiner Gleich, Bäuerle und Meisl Weitere Parodisten bis in die Zeit Nestroys Raimund und Nestroy Die Berliner Theaterparodien Puppentheater und Volkstheater 6. Der Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert Parodistisches Bildungsspiel: Burschenschaften und Honoratiorenkneipen Travestie der Wissenschaften Wissenschaftsparodien Die Funktionen der Parodie im 19. Jahrhundert: ,scheinkritische' Parodiensammlungen Gesellschaften und Kabaretts im 20. Jahrhundert ,Scheinkritische' Sammlungen und Bildungsspiel Thomas Mann III.

Kritische Parodie und parodistische Anspielung 1. Vom Mittelalter bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts 2. Die kritische Parodie in Barock und Frühaufklärung 3. Die Blütezeit der kritischen Parodie: literarische Kritik von der Aufklärung zur Klassik Johann J a c o b Bodmer Friedrich Nicolai Politische kritische Parodien Literarische Kampfschriften zu umstrittenen Persönlichkeiten . . . . Einzelne kritische Parodisten: Lichtenberg, Knigge, Ratschky und Schink . . . Schillers und Goethes Xenien Parodien auf Erfolgsbücher Parodierte Gattungen: Nachdrucke und Fortsetzungen Parodistische Goethekritik (I) Legendenparodien Romanparodien: Deutscher Don Quijote

334 336 336 337 338 339 340 340 341 343 346 346 347 350 351 354 355 356 356 356 357 359 362 363 364 365 366 367 368 370 371 373 373 374 375 376 377 377 378 379

Inhaltsverzeichnis 4. Das 19. Jahrhundert

XXI 380

Parodistische Goethe-Kritik (II)

380

Parodistische Romantik-Kritik

381

Die kritischen Parodien der Romantiker

382

August Wilhelm Schlegel

383

Pamphlete auf Kotzebue

384

Parodien auf das Schicksalsdrama

385

Die kritischen Parodien Eichendorffs und Platens

386

Ausgang der Blütezeit der kritischen Parodie: Immermann und Heine 388 Die kritische Parodie bei den Jungdeutschen und bei Gottfried Keller 3 9 0 Parodistischer Widerspruch: gegen Naturalismus und gegen AntiNaturalismus 5. Das 20. Jahrhundert a) Weiterführung herkömmlicher Formen der kritischen Parodie . . . .

393

Parodien auf die Trivialliteratur

393

Kritische Parodien vom Expressionismus bis zur Gegenwart

393

b) Kritische Parodie als Zerstörung der Tradition

IV.

391 393

394

Bertolt Brecht

396

Brecht-Nachfolger: R ü h m k o r f , Dürrenmatt

397

Agitatorische Parodie

398

1. Die parodierten Vorlagen

398

Das Vaterunser

398

Parodien auf andere kirchliche Texte: Evangelien, Credo, M e s s e , Katechismus

398

Kirchenlied und Volkslied

399

Zeitgebundene Parodievorlagen

400

Bildungsspiel und parodistische Polemik

400

Parodie klassischer Gedichte: Schiller und G o e t h e

401

Sonstige bekannte Werke in agitatorischen Umdichtungen

402

2. Die Wirkungsproblematik agitatorischer Parodien im zwanzigsten Jahrhundert Parodien traditioneller Gattungen

403 403

Die agitatorische Parodie als Waffe im literarischen Streit

404

Klassische Werke im literarischen Streit

405

Literatur zur Parodie (Stand 1965)

406

Ergänzende Auswahlbibliographie zu zentralen Themen und Autoren 423 Namenregister

441

A L F R E D LIE D E

Dichtung als Spiel Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache

BAND 1

WALTER

DE

GRUYTER & CO

· B E R L I N 30

vormals G. J. Göschen'scbe Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp.

1963

Maria Elisabeth Liede geb. Bäckert (1893-1954)

in memoriam

DANK Was dieses Buch Prof. Dr. Walter Muschg verdankt, erkennt jeder, der mit dessen Arbeiten vertraut ist. Prof. Dr. H a r a l d Fuchs überprüfte freundlicherweise die altphilologischen Teile des Anhangs und steuerte manchen Hinweis bei. Emmy Wegmann-Morath befreite mich von mühseliger Schreibarbeit. Im Verlag Walter de Gruyter, insbesondere in Dr. Annelore Naumann, fand ich hochherzige und sorgfältige Betreuer des Werks. N i e aber wäre diese Arbeit zustande gekommen ohne die Opfer meiner Mutter, die den Abschluß nicht mehr erleben durfte, nie ohne die Opfer meiner Frau. Ihnen allen danke ich herzlich.

It is better to speak wisdom foolishly, like the Saints, rather than to speak folly wisely, like the Dons. Gilbert Keith Chesterton

Weil es unleugbar viele Narren gibt und alles Wirkliche vernünftig ist, so zieht der konsequente Denker den Schluß, daß auch die Narrheit vernünftig sein müsse. Ludwig Bauer

Erstes Motto: „Es ist besser, Weisheiten in törichter Form zu sagen wie die Heiligen als Torheiten weise zu verkünden wie die [Universitäts-] Bonzen." G. K. Chesterton, G. B. Shaw, London John Lane 1910, Übersetzung Wien 1925, 17; zweites Motto: Ludwig Bauer, Die Überschwänglichen, Stuttgart 1836, II 39.

I Umgrenzung des Themas

Die vorliegende, — abgesehen von einigen Nachträgen — 1957 abgeschlossene Arbeit beschäftigt sich mit einer Art von Poesie, welche am Rande der Literatur und damit auch der Literaturgeschichte liegt. Die hier beschriebenen und gedeuteten Erscheinungen haben oft nur noch äußere Formen, etwa Vers und Reim, mit dem gemeinsam, was sonst zur Geschichte der Dichtung gehört. Deshalb haben sie bis jetzt zum größten Teil nicht einmal in 'den rein historisch-lexikographischen Beschreibungen Platz gefunden. Dies ist verständlich: die Literaturgeschichte als Geschichtsschreibung nimmt lieber unbedeutende Werke in Kauf, welche einen regelmäßigen und regelgerechten Ablauf der Literaturgeschichte erkennen lassen, als daß sie sich in die von mir aufgesuchten Grenzen der Dichtung wagt. Nach einer wesentlichen Erkenntnis der heutigen Literaturwissenschaft können sich jedoch an den äußersten Grenzen der Dichtung Bestrebungen enthüllen, welche in einer gemäßigteren Form, durch anidere Kräfte gebändigt, auch in den bedeutenderen Werken eines Dichters oder einer Zeit eine Rolle spielen. „Ce sont les abus qui carac^risent le mieux les tendances." Es ist dabei ein Glücksfall, wenn solche extremen Erscheinungen in bisher meist wenig oder gar nicht beachteten Poesien bekannter Dichter auftreten oder wenn bedeutende Dichter ein besonderes Interesse für solche Erscheinungen bekundet haben. Ich werde diese Fälle in den Vordergrund rücken. Ursprünglich wollte ich moderne Bewegungen wie Dadaismus und Surrealismus im Zusammenhang mit ihren Vorläufern deuten und sie von allen Modeschlagwörtern befreien. Der Gang der Arbeit hat die Akzente verschoben; sie ist in ein Gebiet vorgestoßen, in welchem die modernen Ismen nur als letzte Ausläufer gelten können, von denen aus sich freilich Ausblicke in neue Möglichkeiten der Dichtung öffnen. Die Vertreter der modernen Strömungen haben anderseits ihre Geisteskinder mit Ahnen zu legitimieren versucht, von deren Blut kaum mehr etwas in ihren Adern fließt. Sogar in der Literaturwissenschaft werden oft voreilige Schlüsse aus äußern Ähnlichkeiten auf innere Gleichartigkeit der Erscheinungen gezogen. Einige solche Irrtümer zu berichtigen, ist nicht die letzte Aufgabe dieses Buchs. So bin ich zu einer Geschichte der Unsinnspoesie gekommen, von der ich hier freilich nur einen Ausschnitt vorlege. Ich verzichte auf die Darstellung der ekstatischen Formen und beschränke mich selbst beim Spiel auf einige typische Vertreter. Ich kann ohnehin nicht mehr alles zur Geltung bringen, was die Ästhetik der verschiedensten Zeiten aus der Literaturgeschichte verbannt hat; dafür fehlt mir die umfassende Kenntnis. Dieser Mangel zwingt mich .auch sehr oft, auf die mir wesentlich scheinenden Darstellungen von Epochen und Dichtern zurückzugreifen, sodaß ich die Vorbehalte jedes einzelnen Spezialisten zu ge-

4

Umgrenzung

des

Themas

wärtigen habe. Trotzdem wage ich es, diese Arbeit zu sdireiben und nicht zu warten, bis idi auf jedem der angeschnittenen Gebiete Fachmann geworden bin: es liegt mir daran, die grundsätzlichen Probleme darzustellen. Die Einzeluntersuchungen haben nur vorläufigen Charakter. Ich (begnüge mich mit Studien zur Unsinnspoesie, mit .den Prolegomena zu einer Geschichte der Unsinnspoesie. Eine solche Geschichte ist für die Sprachgroteske wenigstens schon gefordert worden, wenn Hugo Schuchardt in seiner Rezension von Leo Spitzers Morgenstern-Studie zur Beurteilung des Dichters ein Zurückgreifen auf alle ähnlichen Erscheinunigen verlangt. 1 Ich habe die Dichtunigen, die mir zusammenzugehören scheinen, unter dem Begriff „Unsinnspoesie" zusammengefaßt. Der erste Bestandteil dieses Worts bedarf einer Begründung. Das Wort Unsinn trägt in seinem heutigen Gebrauch als Kraftwort einen Stempel der Mißachtung, der dem Inhalt der Arbeit nicht gerecht würde und den Leser in Versuchung führen könnte, sie in einen Zusammenhang mit den Werken jener Kunsthistoriker zu bringen, die sich unter dem Schlagwort „Verlust der Mitte" zusammengefunden haben, einer Neuauflage der These von der entarteten Kunst. 2 Eine kurze Betrachtung der Wortbedeutung und ihrer sprachphilosophisch-psychologisdien Seite muß deshalb dem Wort seinen verächtlichen Beigeschmack nehmen. Unsinn als Wort und Begriff Ein Blick in das Grimmsche Wörterbuch zeigt, daß das heutige Wort, das auf etwa demselben Niveau wie Blödsinn, Blech oder Mumpitz steht, nur noch einen schwachen Abglanz eines ursprünglich viel umfassenderen und wesentlicheren Bedeutungskreises bietet. 3 In diesem finden sidi geistige Erkrankung, Bewußtlosigkeit, deliquium animi, Raserei, Wut, Erbitterung und Zorn neben der höchsten Narrheit; alles Erscheinungen, die zwar im unmittelbaren Eindruck nicht verständlich sind, sich unserm Verständnis jedoch öffnen, wenn wir nach den Motiven fragen, die hinter ihnen stehen. Die Aufklärung hat das Wort mit einem rationalistischen Einschlag belastet. Sie benützte es als Lieblingswaffe, um die Abwesenheit alles vernünftigen Verstandes bei ihren Gegnern lächerlich zu machen.4 So verzeichnete noch 1833 Wilhelm Traugott Krug in seinem philosophischen Lexikon die Sinngedichte des Angelus Silesius unter dem Stichwort „Mystischer Unsinn". 5 Von diesem Beigeschmack hat sich das Wort nicht mehr befreien können; er lastet selbst auf der englischen „Nonsense Literature", nur wird er 1

Hugo Schuchardt, Christian Morgensterns groteske Gedichte und ihre Würdigung durch L. Spitzer, Lose Betrachtungen, Euphorion 22 (1915) 639 ff., Forderung 654. 2 besonders Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte, Salzburg 1948. 3 Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Leipzig 1854—1960, XI.3 1393 ff. 4 so Johann Christoph Adelung, Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart, Leipzig 1774—1786, I V 1276. 5 Wilhelm Traugott Krug, Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, 2. Auflage Leipzig 1832—1838, II 958.

Umgrenzung

des

Themas

5

dort durch das Verständnis des Engländers f ü r den Spleen abgeschwächt. T r o t z dem haben wir nach reiflicher Überlegung für unsere Erscheinungen das W o r t „Unsinnspoesie"

gewählt.

M a n kann beobachten, daß verständige Betrachter der modernen Dichtung an den Grenzen der Sprache das W o r t „ U n s i n n " umkreisen, es aber seiner verächtlichen Tönung wegen doch nicht zu verwenden wagen. Sie sprechen von „ U n S i n n " oder von

„Ohne-Sinn".

„Un-Sinn"

spiegelt jedoch eine Vertiefung

des

Sinns nur vor, indem idas W o r t nach dem Muster von Heideggers Wortspielen durch den Bindestrich aus dem alltäglichen Gebrauch herausgehoben wird. S o b a l d wir uns über das Wesen

des Unsinns im klaren

sind, können w i r

uns

die

Bindestrichmethode zur Vortäuschung von Tiefsinn schenken. Ebensowenig sagt „ O h n e - S i n n " mehr als Unsinn. I n dem S a t z : „ D a d a ist für den , O h n e - S i n n ' der Kunst, was nicht Unsinn bedeutet", 8 täuscht sich H a n s Arp, wenn er Unsinn von Ohne-Sinn glaubt unterscheiden zu können. D e r E r s a t z von „ u n - " durch „ o h n - " ist schon im 15. Jahrhundert als eine A r t Volksetymologie in W ö r t e r n wie „ungefähr — Vertiefung

ohngefähr"

sehr häufig, ohne d a ß sich daraus eine Änderung

des Wortsinns

ergeben

hätte. 7

„Ohne-Sinn"

scheint

eine

oder

Bildung

Nietzsches zu sein, der Zarathustra die W o r t e in den Munid legt: „Noch kämpfen wir Schritt um Schritt mit dem Riesen Zufall, und über der ganzen Menschheit waltete bisher noch der Unsinn, der O h n e - S i n n " . 8 Beide W ö r t e r werden hier durchaus gleichbedeutend verwendet. O h n e - S i n n und Unsinn sind genau dasselbe. Andere mögliche, etwa aus der Linguistik

oder der Phonologie

entnommene

Benennungen wie „asemantisch" usw. treffen nur einen Teil der Unsinnspoesien, ebenso Arps Unterscheidung von „non-sens logique" und „sans-sens illogique", die überdies mit „non-sens logique" das meint, was w i r sonst Sinn „Sinnlose Dichtung"

nennen! 9

in der Bedeutung „Dichtung, die frei von Wortsinn,

Wortsinns ledig ist" wunde ebenfalls nicht f ü r alle Arten von gelten, zudem den gleichen Mißverständnissen

des

Unsinnspoesie

wie „Unsinnspoesie"

ausgesetzt

sein und w ä r e weniger praktisch zu verwenden als unser Begriff. Deshalb wählen wir „Unsinnspoesie". Es ist nicht einzusehen, w a r u m Unsinn in dieser Zusammensetzung nicht seinen aufklärerischen, verurteilenden Beigeschmack verlieren könnte. D i e Befreiung

von jeder verächtlichen

Tönung,

die uns am H e r z e n

liegt,

gelingt noch besser, wenn wir den Begriff Unsinn m i t der Sprachphilosophie und -Psychologie anleuchten. Z w a r ist die Mißachtiung durch die A u f k l ä r u n g

auch

hier nie ganz überwunden worden; auch der Philosoph ist versucht, mit „ U n s i n n " ihm unverständliche gegnerische Ansichten abzutun, selten findet sich der S t a n d punkt J e a n Pauls: „Ich h a b e Hochachtung für ieden Unsin, weil er von und in einem Menschen ist und weil ieder Unsin bei näherer Umleuchtung G r ü n d e v e r Hans Arp, Unser täglicher Traum, Zürich 1955, 50. DWb. XI.3 Sp. 1 ff. 8 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, l.Teil, Von der schenkenden Tugend 2, Werke hg. v. Alfred Baeumler, Kröner Leipzig o. J., IV 82. 9 Jean Arp, On my way, New York Wittenborn, Schultz 1948, 91. 6

7

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des

Themas

räth, die seine Annahme entschuldigen." 10 Dies mag daran liegen, d a ß der Begriff nie einer eingehenderen Untersuchung gewürdigt worden ist, da dem Philosophen naturgemäß an der Betonung des Sinnfaktors liegt. Schon allein die Vorsilbe „un" weist aber auf die Unsicherheit unserer Negationsbegriffe hin, geht ihre Bedeutung doch bis zur Verstärkung in Wörtern wie „Unmenge" usw. Wie jede Negation heißt audi „un": „Ich will nicht. Ich kann nicht." Unsinn bedeutet so: „Mein Gehirn kann keinen Sinn hinter etwas finden". Das ist jedoch eine Feststellung, die sich nur von einer bestimmten Ordnung des Denkens her treffen läßt. 11 Unsinn gehört als Einteilungsprinzip zu einer festen geistigen Ordnung. Das Wort drückt einen Gegensatz aus, der letztlich in der Natur nicht existiert. Wo eine feste geistige Ordnung fehlt oder wo eine bestimmte geistige Ordnung zerstört werden soll, gibt es keinen „Sinn" mehr. Wenn wir so von Unsinnspoesie sprechen, wenn in gewissen Dichtungen der Leser keinen direkten Sinn, besonders keinen Wortsinn, finden kann, so ist diese Negation nur eine scheinbare, von einer bestimmten geistigen Ordnung der Sprache ausgehende. Die Dichtung wird damit gut charakterisiert, aber nicht gewertet. Der Unsinn läßt sich in verschiedene Arten einteilen. Die einzige uns bekannte Arbeit über den Begriff, die Studie „Sinn und Unsinn" des Husserlschülers Walter Blumenfeld, 12 unterscheidet analog zu fünf Sinnes- fünf Unsinnsarten: semantischen, telischen, eidischen, logischen und Motivationsunsinn. Der Motivationsunsinn und der telische, der Zweckunsinn, fallen für uns aus, da in dieser Beziehung der Dichter äußerst frei schalten und walten kann. Im Märchen von den drei Faulen verspricht der König dem faulsten seiner Söhne das Königreich, „ein offenbarer Hohn auf den Zwecksinn". 13 Auch der eidische, der Gestaltunsinn, kommt nur in den wenigen Fällen in Betracht, wo er sich an der Grenze des semantischen und des logischen Unsinns bewegt, wenn etwa bei Morgenstern ein Knie einsam durch die Welt geht und so ein in der Natur nur als Teil vorkommender Gagenstand zum Ganzen gemacht wird. Dafür spielt der eidische Unsinn in der bildenden Kunst eine umso größere Rolle. In der Dichtung herrschen der semantische und der logische Unsinn. Im semantischen Unsinn fehlt die Relation des Zeichens zum Gegenstand. Es werden Zeichen verwendet, die überhaupt keinen Gegenstand bezeichnen, so in jeder Art von Lautdichtung. Es kann aber auch dem Zeichen der ReLationscharakter zum Gegenstand bew.ußt genommen werden, so in den mannigfachsten Arten von Sprachspielereien bis zum Kalauer, wo Klang- oder Schriftbildähnlichkeit zum komischen Effekt dienen. Eng ver10 Jean Paul, Sämtliche Werke, Hist.-krit. Ausgabe ed. Eduard Berend, Weimar bzw. Berlin 1927 ff., III.l Nr. 327 S. 297. 11 Aufs schönste bestätigt dies neuestens für „un-" Walter Weiss, Die Verneinung mit „un-", Muttersprache 70 (1960) 335 ff. (mit Literatur), wenn er hervorhebt, daß „un-" selten ohne negative oder auch positive Wertbetonung erscheint und einen festen Erwartungshorizont voraussetzt (343). 12 Walter Blumenfeld, Sinn und Unsinn, München 1933. 13 ebda. 97.

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wandt mit dem semantischen und oft kaum von ihm zu trennen ist der logische Unsinn, bei dem einem Satz, einer Aussage jede Begründung fehlt. In dem durch Steinthal und Croce bekannt gewordenen Satz „Dieser runde Tisch ist viereckig" 14 scheint im ersten Augenblick der Grammatiker befriedigt, und nur der Logiker muß sich entsetzen. Da aber der runde und viereckige Tisch oder Lichtenbergs Messer ohne Klinge, an welchem der Stiel fehlt, nicht vorstellbar, denkunmöglich sind, werden sie auch semantisch unsinnig; nur daß da in der Relation zwischen Zeichen und Gegenstand nicht vom Zeichen, sondern vom Gegenstand her Schwierigkeiten auftreten. Nun muß aber schon hier betont werden, d a ß der größte semantische oder logische Unsinn in unserer Arbeit offenbar einen Sinn hat, einen Sinn freilich, der außerhalb der Semantik oder der Logik liegt. Es wird eine unserer Aufgaben sein, solche semantisch oder logisch unsinnige Gebilde in der Geschichte der Poesie von einer andern Ebene, von der geistigen Haltung, vom Lebensgefühl her, aus dem heraus sie gedichtet wurden, sinnvoll werden zu lassen. Entscheidend ist für uns nicht der direkte Sinn, sondern der Anlaß. Das Stammeln des Zungenredners wird sinnvoll als Kundgabe Gottes, die Lautdichtung als musikalisches Spiel. Unsinnspoesie und Sprache Das Werkzeug des Dichters ist die Sprache. Der westafrikanisdie Neger kann diese für seine Zwecke wie ein nach Belieben bildsames Material formen. Uns bindet sie an ihre Gesetze, an die der Grammatik und die der Logik kleinerer Sinnzusammenhänige. N u r für die größern Sinnzusammenhänge, für den Inhalt allgemein, werden wir heute (im Gegensatz zu früheren Zeiten) prinzipiell die größte Freiheit zubilligen. Je größer die Sinnzusammenhänge sind, umso schwerer läßt sich die Frage nach Sinn und Unsinn beantworten; sie erübrigt sich ganz, wo ein an sich unsinniges Geschehen wie Kafkas „Verwandlung" zum großen Symbol oder zur Allegorie, also sinnvoll wird. Wir begnügen uns in dieser Arbeit mit den kleinsten Wort- und Satzeinheiten, wobei wir uns aber einige eindeutige Ausnahmefälle vorbehalten. Der Sprachpsychologe definiert die Sprache als jene Kommunikationsform, durch die zum Zweck gegenseitiger Verständigung — mit Hilfe einer Anzahl artikulierter und in verschiedenen Sinnverbindumgen auftretender symbolischer Zeichen — Forderungen und Wünsche zum Ausdruck gebracht, Tatbestände der innern und äußern Wahrnehmung angezeigt und Fragen zur Veranlassung von Mitteilungen gestellt werden. 15 Das eigentliche Wesen der Sprache liegt in ihrer Funktion als Werkzeug der Mitteilung, ihrer Bericht- und Kundgabefunktion. Deshalb gelangt Friedrich Kainz zu der Formulierung: „Die Sprache ist ein 14

H . Steinthal, Grammatik, Logik und Psychologie, ihre Prinzipien und ihr Verhältnis zueinander, Berlin 1855, 220; Benedetto Croce, Dieser runde Tisch ist viereckig, Kleine Schriften zur Ästhetik, Tübingen 1929, I 223 ff. 15 G. R i v & z , Ursprung und Vorgeschichte der Sprache, Bern 1946, 151.

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soziales Organ, eine individuelle Sprache gibt es nicht." 16 Mag ein solcher Satz auch, aus dem ihn deutenden und einschränkenden Zusammenhang herausgerissen, zu scharf pointiert erscheinen, er drückt einen entscheidenden Gedanken aus und ermöglicht uns, zu erklären, was mit dem Begriff von Grenzen der Sprache gemeint ist. Wohl kann der Dichter den Rahmen der konventionellen Sprache sprengen, die Umformung der Konventionalsprache ist sogar ein Kriterium der literarischen Wertung. Sie zieht auch eine Umformung des Weltbildes nach sich, wie schon Wilhelm von Humboldt 1 7 und in neuerer Zeit besonders Ernst Cassirer 18 betont hat. Damit geht aber der Dichter nicht über die oben gegebene Definition der Sprache hinaus. Das geschieht erst, wenn die Sprache nicht mehr Kommunikationsmittel ist, d. h. in einer Ausdrucksform, die mit der Sprache eigentlich nur noch Laute, Wörter und Sätze gemeinsam hat. Diese äußern Mittel stammen aus dem Lexikon einer bestimmten Sprache, werden aber in Zusammenhängen, die ihrer Bedeutung unangemessen sind, unter Aufhebung des eigentlichen Sinns der Wörter verwendet. Die Sinnzusammenhänge ergeben sich nicht mehr aus idem eigentlichen Bedeutungsträger, sondern aus der Sinnbeziohung zur konkreten geistigen Situation des Sprechenden, was wir später die geistige Haltung, das Lebens- oder Weltgefühl des Dichters nennen werden. Für Blumenfeld ist übrigens das Vermögen, bewußt vollkommenen Unsinn erzeugen zu können, ein Zeichen von Intelligenz, und zwar mit der Begründung, die Erzeugung von Unsinn erfordere als schwere geistige Arbeit ständige Kontrollprozesse, weil man immer wieder durch die gewohnten Geleise der Sprache in den Bereich des Sinns gezogen werde. Schon die Bindung an die Grammatik ist gefährlich, da diese eine ausgesprochene Tendenz zum Sinn besitzt. Dann liegt der Sinn in der Vieldeutigkeit unserer Sprachwörter auf der Lauer. Die eigentliche Sinntendenz jedes Sprachsystems erklärt, wie wir noch sehen werden, zum Teil den Erfolg moderner literarischer Bewegungen. Wir sind durch den allzuhäufigen Gebrauch unserer Sprachwörter als Metaphern gewohnt, auch hinter dem Sinnlosesten noch einen semantischen Sinn zu finden; die Methoden der Psychoanalyse bestärken uns darin. 19 Wenn Richard M. Meyer in einem Aufsatz darlegt, daß es unmöglich sei, absichtlich und willkürlich einen Unsinn zu komponieren, und das an Beispielen von Spracherfindungen einiger Dichter erläutert, 20 so wird diese Be16

Friedrich Kainz, Psychologie der Sprache, Stuttgart 1941 ff., I 201. Wilhelm von Humboldt, Die sprachphilosophisdien Werke ed. H . Steinthal, Berlin 1884, bes. 67 ff., 152 ff. 18 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen I: Die Sprache, 2. Aufl. Darmstadt 1953, passim. 19 Gunther Ipsen, Zur Theorie des Erkennens, Untersuchungen über Gestalt und Sinn sinnloser Wörter, Neue psychologische Studien I (1926) 297 ff., war mir leider nicht zugänglich. Nach der Rezension von Walter Porzig, IF 46 (1928) 253 ff., beschreibt Ipsen, wie Versuchspersonen in an sich völlig sinnloses Material (Buchstaben, Silben, Laute, Kleckse usw.) einen Sinn hineinlesen. 20 R. M. Meyer, Künstliche Sprachen, IF 12 (1901) 33 ff., 242 ff.; ders., Grenzen des Irrtums, Die Zeit 21 (1899) Nr. 271 (9.12. 1899) 150 ff. 17

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hauptung durch die Psychoanalyse auf eine ungeahnte Weise vertieft. Sogar der unfreiwillige Unsinn einer Friederike Kempner kann sinnvoll •werden; man denke nur an die Mode der naiven Malerei in der heutigen Kunst. Welches Mißtrauen gegen die Sprache vor aller Psychoanalyse schon allein durch die Metapher entstehen kann, wird Fritz Mauthner im Zusammenhang mit Christian Morgenstern bezeugen. Unsinnspoesie und

Lebensgefühl

Lebensgefühl oder geistige Haltung und Sprache hängen in der Unsinnspoesie eng zusammen. Die geistige Haltung färbt die „Stimmung" der Unsinnspoesie und entscheidet über ihren Wert oder Unwert. Neben „Dunkel war's, der Mond schien helle" steht der Satz „Die Ewigkeit dauert eine Sekunde"; in beiden Fällen ist der sprachliche Trick — das Paradoxon — derselbe, wesentlich unterscheiden sie sich aber im geistigen Grund, auf dem sie gewachsen sind. Friedrich Kainz kennt eine obere und eine untere Grenze des Sprachlichen; eine obere, wo die geistige Arbeit in ein übersprachliches Denken übergeht, wo sich das Verstehen von der Anschauung und von den Sprachzeichen emanzipiert, und eine untere Grenze gegenüber den vor- und pseudosprachlichen Erscheinungen in glossomorphen Funktionsspielereien und expressiven Verbigerationen. 21 Beide Fälle kommen für die Dichtung an den Grenzen der Sprache in Betracht; der obern Grenze begegnen wir in den mannigfachen sprachlichen Abstraktionen, der untern in den Sprachspielereien. Wir möchten freilich die Erscheinungen, in denen die Sprache nur noch Kunde von einer übermächtigen Empfindung gibt, nicht unbedingt zur untern Grenze des Sprachlichen rechnen; selbst Kainz erklärt in einem andern Zusammenhang, daß für einen absoluten Ausdruck in der Sprache kein Platz sei, weil der Akt der Bedeutungssetzung im Zustand völligen Herrsdiens der Affekte nicht möglich ist. Die Erfahrung lehrt, daß eine solche Icb-Sprache — denn darum handelt es sich in allen Fällen, wie die Einreihung bei Kainz unter die monologischen Funktionen der Sprache bezeugt — besonders in zwei Grenzsituationen der Dichtung auftritt, nämlich einerseits dort, wo sie in die Ekstase, anderseits dort, wo sie in das reine Spiel übergeht. In der Ekstase kann die Sprache 'die Ich-Erlebnisse des Ekstatikers nicht mehr ausdrücken, die für die Sprache notwendige SubjektObjektspaltung ist aufgehoben. Im Spiel spielt das Ich mit dem Nicht-Ich, dem Gegenstand, durch das Mittel der Sprache oder entlädt durch diese gewisse Lustgefühle. Dazu kommen noch einige „uneigentliche" Situationen wie der Rausch oder die Geisteskrankheit, wo durch künstliche Mittel oder eben durch Krankheit ähnliche Zustände hervorgerufen werden. Die Ekstase, besonders in ihrer sprachlichen Sonderform der Glossolalie, wird aber von Kainz und mit ihm von Bühler und Vossler als nicht mehr zur Sprache gehörig betrachtet, weil sie den Ekstatikern selbst wie den beteiligten Hörern 21

Kainz aaO I 198.

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unverständlich bleibt. Was die Zungenredner hervorbringen, „mag noch so beseelt sein, es bleibt als blosser Sprechakt ohne das dazugehörige Verstehen unterhalb der menschlichen Sprachgrenze. Es ist religiöser Ausdruck, aber es ist keine Sprache." 22 „Der Ekstatiker vollbringt religiöse Expressivleistungen mit einem Material, das gar nicht als sprachliches gelten kann, da es weder dem Lexikon einer konkreten ,langue* entstammt, noch in der Verwendung seiner einzelnen Bestände die Konsequenz und Konstanz aufweist, die diesen den Charakter privatsprachlicher Symbole vermitteln würde." 23 Anders gesagt: es handelt sich um einmalige Augenblicksgebilde, Lautkomplexe, aber nicht um Zeichen. Dasselbe gilt nach Kainz für die glossomorphen Funktionsspielereien, eine Art höherer Lallspiele, wie sie auch beim Kleinkind vorkommen. Aber Kainz inuß an anderer Stelle zugeben: „Die Bestimmung dessen, was zur Sprache zu rechnen ist, zeitigt vom Gebildeaspekt des Sprachwissenschaftlers ein anderes Ergebnis als die vom Handlungs-, Intentions- und Leistungsgesichtspunkt des Psychologen vorgenommene." 24 Für uns erhebt sich da die Frage, die schon Croce über dem Satz „Dieser runde Tisdi ist viereckig" für .die Grammatik gestellt hat, ob denn der Sprachwissenschaft überhaupt ein besonderer Erkenntnisgehalt zukommen kann, wenn sie solch eminent wichtige Aspekte der Spradie außer acht läßt. Wenn es Kainz gefällt, berücksichtigt er die Spielereien doch, so daß er etwa bei den ästhetischen Sekundärfunktionen zu der seltsamen Formulierung über die Glossomorphie kommt: „Diese ist, wo es sich um logische Erträge handelt, schlechthin schädlich. Auf einem Teilgebiete des Ästhetischen, dem Komischen, ist sie dagegen erlaubtes Wirkungsmittel." 25 Von hier aus anerkennt er dann alles, von der Scherzkatachrese, dem Unsinnsmärchen bis zu Christian Morgenstern, während er vorher den Expressionismus und Dadaismus nicht mehr dem Kulturphänomen Sprache zurechnet, 20 mit einem eindeutigen Vorurteil allerdings, wie seine Epitheta „französisierend, rumänisierend, undeutsch" 27 enthüllen. Wenn man die Rolle der Sprache beim Aufbau des Weltbildes anerkennt, muß man aber auch die Zerstörung eines bestimmten Weltbildes durch das Mittel der Zerstörung seiner Sprache zu den Kulturphänomena zählen. Deshalb werden solche Erscheinungen bestimmten Sekundärfunktionen der Sprache zugerechnet werden müssen; vielleicht sogar den ästhetischen? Für die größern Sinnzusammenhänge, für Dichtungen wie Kafkas „Verwandlung" ist das längst kein Problem mehr, und für unser Gebiet fehlt nur noch die überzeugende dichterische Leistung. Aus dem Komischen und allgemein aus dem Spiel freilich — das wird man Kainz zugestehen müssen — ist die Unsinnspoesie nicht mehr wegzudenken, so daß wir diesem Sonderfall noch einen Abschnitt zu widmen haben.

22

Karl Vossler, Geist und Kultur in der Sprache, Leipzig 1925, 50 f. Kainz aaO II (2. Aufl. 1960) 543 f. 24 Kainz aaO I 202. 25 ebda. I 223. 28 ebda. I 202. 27 Friedrich Kainz, Zur Psychologie der Sprachfunktionen, Zs. f. Psychologie (1936) 38 ff., Zitat 75. 23

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Die Unsinnspoesie und das Komische Viele der in meiner Arbeit behandelten Erscheinungen haben bis jetzt unter den Bezeichnungen grotesk und burlesk Eingang in 'die Literaturgeschichte gefunden, wenn audi nur als Nebenerscheinungen, da Jeans Pauls Humorbegriff unsere Wertmaßstäbe so geprägt hat, daß das Komische, sofern es nicht Humor im Sinne Jeans Pauls war, abgewertet wurde. Es ziemt sich deshalb, die Begriffe grotesk und burlesk kurz zu streifen. Mit der dabei auftauchenden Frage, wie weit das Groteske überhaupt zum Komischen gehört, ergibt sich der erste Ansatzpunkt für das Problem der Beziehungen der Unsinnspoesie zum Komischen. Im Bereich genauer Definitionen kommen das Groteske und das Burleske bedenklich zu kurz. Die ersten und einzig gebliebenen Materialsammlungen, Carl Friedrich Flögeis posthum erschienenen Geschichten des Groteskekomischen von 1788 und des Burlesken von 1794, begnügen sich mit reichen Zusammenstellungen des Vorhandenen und beim Burlesken der technischen Mittel. Immerhin scheint uns für die folgende Auseinandersetzung bedeutsam, daß Flögel den Begriff des Groteskkomischen wählt. Es ist keine abwegige Vermutung, daß er damit die Frage, ob das Groteske immer komisch sein muß, offen lassen will. Die gründlichste Bearbeitung des Grotesken verdanken wir Heinrich Schneegans in seiner „Geschichte der grotesken Satire", 28 mit ihm haben wir uns auseinanderzusetzen. Friedrich Theodor Vischer umschreibt das Groteske in „Über das Erhabene und Komische" mit folgenden Worten: „Die Gestalt wird in eine Art von Wahnsinn hineingezogen und ihre festen Umrisse zu einem wilden Taumel aufgelöst. Die Tiergestalt wird mit der Menschengestalt vermischt, das Leben mit dem Unorganischen, technische Gegenstände erscheinen als Glieder des menschlichen Körpers, Tische und Stühle sprechen, der Teufel setzt sich rittlings auf ein Dach eines Klosters und reitet davon, eine Nase wird zur zielend hinausragenden Flinte, läßt sich wie ein Perspektiv auseinanderschieben."29 Vischer gibt uns eindeutig eine Beschreibung eidischen Unsinns. Absolut zweckfreie Phantastik ist für ihn das Hauptmoment des Grotesken. Ist nun aber eine solche Phantastik wirklidi komisch? Schneegans weist Vischer nach, daß dessen Beispiel aus einer Venezianer Posse gar nichts Phantastisches an sich hat, sondern nur iderbkomisch genannt werden kann, daß anderseits ein phantastischer Gestaltunsinn wie der Wald der Selbstmörder in Dantes Hölle nicht komisch empfunden wird. 30 Dieses Beispiel von Schneegans ist freilich ein Fehlgriff, da von absolut zweckfreier Phantastik bei Dante nicht die Rede sein kann; der Einwand hat jedoch etwas Richtiges an sich. Ähnliche Widersprüche kann Schneegans auch leicht in der übrigen Ästhetik finden. Schließlich gelangt er zu einer eigenen Definition, macht aber unseres Erachtens die Sache nicht viel besser, weil er einfach versucht, alle bisherigen Ansichten über das Groteske zu addieren. Zum Phantastischen, wie er es bei 28 29 30

Heinrich Schneegans, Geschichte der grotesken Satire, Straßburg 1894. Friedrich Theodor Vischer, Über das Erhabene und Komische, Stuttgart 1837, 193. Schneegans a a O 14 f.

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Vischer und im Wortgeb rauch seiner Zeit findet, muß für ihn noch etwas. Behaglich-Heiteres, wie es Köstlin nach der Etymologie des Wortes und dem früheren Wortgebraudi herausgestellt, und etwias Karikierendes, was Eduard von Hartmann betont hat, hinzukommen, damit wir von grotesk sprechen können; 31 dazu operiert er mit Lust- und Unlustgefühlen: ein durch die Phantastik hervorgerufenes Unbehagen soll durch das Behaglidi-Heitere in Wohlbehagen verwandelt werden. Seine Beispiele beleuchten die Schwächen der Definition. Wir können etwa in Rabelais' Behauptung, daß sogar der Schatten eines Klosters fruditbar sei, gar nichts Behaglich-Heiteres entdecken.32 Bezeichnenderweise läßt Theodor Lipps, der sonst Sdineegans folgt, dieses Behaglich-Heitere in der Zitierung von Schneegans weg. 33 In jüngerer Zeit haben zwei Schüler Oskar Walzels auf verschiedenen Wegen das Groteske zu umschreiben versucht. Elli Desalm 34 geht nach Ablehnung aller bisherigen Definitionen vom Werk Ε. T. A. Hoffmanns aus und beschreibt die Erscheinungen, die sie bei diesem Dichter als grotesk ansieht. Sie begeht jedoch den Fehler, die Formen des Grotesken bei Hoffmann und die geistigen Voraussetzungen dieses Dichters zum Wesen des Grotesken überhaupt zu erklären. Ludger Vieth 35 versucht anhand einer bestimmten Gattung, der Wortgroteske, in die Tiefe zu dringen, kommt aber über eine Beschreibung einzelner Phänomene nicht hinaus. Volksetymologie, komisches Enjambement bei Wilhelm Busch und der unbildliche Witz Jean Pauls vereinigen sich unter einem Undefinierten Begriff des Grotesken. Eine Zusammenfassung am Schluß bezieht sich nur noch auf einen Teil der beschriebenen Erscheinungen, und wenn Vieth siegesbewußt schreibt: „Die Grundhaltung der Groteske wird sich in einem einzigen Satz niederlegen lassen", so ist er uns diesen Satz schuldig geblieben. Auch bei Wolfgang Kayser, dessen Arbeit trotz ihren offensichtlichen Schwächen grotesk zu einem Modewort ,der Literaturwissenschaft werden ließ, trifft das Schlußkapitel „Versuch einer Wesensbestimmung des Grotesken" nur noch einen Teil der im Buch beschriebenen Werke. Grotesk bedeutet für Kayser am Schluß ganz einfach unheimlich oder in seinem Zeitjargon „verfremdete Welt, Gestaltung des Es". 3 6 Grauen ist der geistige Hintergrund. Damit ersetzt Kayser nur das „behaglich-heitere" Lebensgefühl des bürgerlichen neunzehnten Jahrhunderts durch eine zeitgemäßere Lebensangst; einen ästhetischen Grundbesgriff, wie er glaubt, schafft er damit aber selbst dann nicht, wenn er sein Lebensigefühl in die Werke früherer Jahrhunderte einschmuggelt. Rabelais und Fischart werden zu halben Satanisten, damit sie ihren Rang in der Literaturgeschichte auch unter dem Vorzeichen des Grotesken als des Unheimlichen behaupten können; literatur-

ebda. 29. ebda. 17, 26. 3 3 Theodor Lipps, Komik und Humor, Hamburg-Leipzig 1898, 168. 3 4 Elli Desalm, Ε . T . A. Hoffmann und das Groteske, Diss. Bonn 1930. 3 5 Ludger Vieth, Beobachtungen zur Wortgroteske, Diss. Bonn 1931: Volksetymologie 34, Wilhelm Busch 36, Jean Paul 36, Zitat 41. 3 4 Wolfgang Kayser, Das Groteske, Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, Oldenburg und Hamburg 1957, 198 ff. 31

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geschichtlich noch ungewertete Autoren wie Hans Arp werden damit erledigt, daß ihnen „die Tiefendimension der Unheimlichkeit, die den Grotesken eines Rabelais, Fischart und Morgenstern das Gepräge gab" 37 fehlt. Aus äußerlich identischen sprachspielerischen Mitteln schließt Kayser auf ein gleiches Denken und verbindet so etwa Fischart und Morgenstern 38 mit demselben Recht, mit dem man bei allen, die Meier heißen, Gemeinsamkeiten vermuten könnte. Ein Hinweis auf zwei Arten des Grotesken, eine phantastische und eine satirische,39 bleibt bloße Andeutung, da sie nicht in die Wesensbestimmung passen. Das Lachen nimmt nach Kayser „beim Übergang ins Groteske Züge des höhnischen, zynischen, schließlich des satanischen Gelächters an". 40 Vor lauter Abgründen, die sich um ihn herum auftun, hört Kayser das herzliche Lachen nicht mehr, das aus manchen Werken strömt, die er verunheimlicht. 41 Demgegenüber gesteht der marxistische Theoretiker des Komischen, Jurij Borew, der doch am liebsten alle Komik in satirische Gesellschaftskritik verwandeln möchte, einem Teil des Grotesken auch ein „herzlich-wohlwollendes" Lachen42 zu und knüpft damit wiederum an die bürgerliche Ästhetik des 19. Jahrhunderts an. Die Werke der bildenden Kunst, die Kayser für seine Groteske beansprucht, faßt Erwin Gradmann mit den Begriffen Phantastik und Komik, wobei Phantastik eine Steigerung ins Übergroße, Übermenschliche, in eine Art Erhabenheit ohne Tiefe, und Komik eine Forcierung ins Überkleine, Entstellte, „ins Groteske" bedeutet. 43 Auch hier gelingt die gedankliche Klarstellung der Beziehungen des Grotesken zum Komischen und Phantastischen nicht; einmal ist das Groteske eine Bloßstellung des Triebhaften „ahne das Moment komischer Wirkung", 44 an anderer Stelle geht es nicht mehr „restlos in die Vorstellung des Komischen auf", 45 schwebt also gewissermaßen zwischen Phantastik und Komik auf und ab. Wir wollen es nun nicht mit einer eigenen Definition versuchen; es genügt, festzustellen, daß auch der eingehendste Bearbeiter, Schneegans, den Begriff des Grotesken und seine Beziehungen zum Komischen nicht klären konnte. Ähnlich steht es mit dem Begriff des Burlesken. Auch hier hat Schneegans nach abwegigen Versuchen wie dem Genthes, mit grotesk in der bildenden Kunst und mit burlesk in der Poesie das gleiche Phänomen zu umschreiben,46 dem Begriff eine Fassung gegeben, der spätere Bearbeiter wie Theodor Lipps unverständlicherweise 37

ebda. 178. ebda. 166 ff. 39 ebda. 203. 40 ebda. 201. 41 Ähnliche Einwände gegen Kayser erheben nun auch neuerdings, ohne freilich auf den Begriff „grotesk" zu verzichten: Clemens Heselhaus, Deutsche Lyrik der Moderne, Düsseldorf 1961, 286 ff.; Reinhold Grimm, Parodie und Groteske im Werk Friedrich Dürrenmatts, in: GRM 42 (1961) 431 ff., Einwände 449 f. 42 Jurij Borew, Über das Komische, Berlin 1960, 407. 43 Erwin Gradmann, Phantastik und Komik, Bern 1957, 7. 44 ebda. 31. 45 ebda. 28. 44 F. W. Genthe, Geschichte der maccaronischen Poesie, Halle-Leipzig 1829, 32 f. 38

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folgen. Das Burleske gilt Schneegans als eine frivole Geistesrichtung, die ohne irgendwelchen Grund das Erhabene in den Staub zieht. Literarisch äußert es sich in der Parodie und Travestie. 47 Gerne würde man dieser Definition folgen, wenn Sdineegans nicht das Mißgeschick passiert wäre, als Beispiel einer burlesken Parodie Platens „Verhängnisvolle Gabel" hinzustellen; man muß sich schon fragen, wo er da das Erhabene ohne irgendwelchen Grund in den Staub gezogen sehen will. Sdineegans zwingt uns, zwischen einer burlesken und einer satirischen Parodie oder Travestie zu unterscheiden, wie er ja audi eigentümlicherweise sein Buch „Geschichte der grotesken Satire" und nidit Geschichte des Grotesken betitelt, obwohl seine Definition das Satirische als das Karikierende in der Groteske bereits enthält. Die satirische Tendenz wird dann auch in verschiedenen Poesien, etwa den maccaronischen, überbetont. D a ß Hanns Heiss in seinen „Studien über die burleske Modedichtung Frankreichs im 17. Jahrhundert" 4 8 an den wirklich frivolen Parodien und Travestien jener Literatur die Definition von Schneegans bestätigt findet, verwundert nicht; aber das Burleske wird so zu einer Geisteshaltung, die beinahe nur das Frankreich jener Zeit kennt, woran wiederum die Einengung des Begriffs durch Schneegans deutlich wird. Wohin dessen Definition führen kann, zeigt Leo Spitzer, wenn er sich zu dem Satz versteigt: Das Burleske „entspringt der zerstörend hämischen Freude des geistigen Nihilismus". 4 9 Mit den Begriffen des Burlesken und des Grotesken sind die Beziehungen der Unsinnspoesie zum Komischen nicht zu klären; beide Begriffe zerfließen auch in der wissenschaftlichen Literatur, vom Mißbrauch, der mit dem Wort grotesk besonders seit dem Expressionismus getrieben wird, ganz zu schweigen. Wann wirkt die Unsinnspoesie komisch? Wir müssen darauf verzichten, die Bedingungen des Komischen 50 überhaupt zu untersuchen und verweisen dafür auf die entsprechende Literatur, aus der die Arbeiten von Friedrich Theodor Vischer, 51 Karl Köstlin, 5 2 Kuno Fischer, 53 Theodor Lipps 54 und Henri Bergson 55 hervorzuheben sind, wobei mit Vorteil deren marxistische Kritiker Georgina Baum5® und Jurij Borew 57 mitberücksiditigt werden sollten. Den Werken aller dieser BeSdineegans a a O 3 3 f. Hanns Heiss, Studien über die burleske Modedichtung Frankreichs im 17. Jahrhundert, Roman. Forschungen 21 (1908) 448 ff. 4 9 Leo Spitzer, Die Wortbildung als stilistisches Mittel, exemplifiziert an Rabelais, ZfrPh. Beih. 29 (1910) 29. 5 0 eine Übersicht über die Theorien des Komischen von Hobbes bis Gegenwart bei Otto Rommel, Die wissenschaftlichen Bemühungen um die Analyse des Komischen, DVjs. 21 (1943) 161 ff. 5 1 Friedrich Theodor Visdier a a O ; ders., Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen I : Metaphysik des Schönen, Reutlingen-Leipzig 1846. 5 2 Karl Köstlin, Ästhetik, Tübingen 1869, bes. 165 ff. 5 3 Kuno Fischer, Über den W i t z , Kleine Schriften, Heidelberg 1 8 8 8 — 1 8 9 8 , II. 5 4 Lipps aaO. 5 5 Henri Bergson, Le Rire, Paris Alcan 1900 u. ö., Übers.: Das Lachen, Jena 1914. 0 6 Georgina Baum, H u m o r und Satire in der bürgerlichen Ästhetik, Berlin 1959. 5 7 Jurij Borew aaO. 47

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trachter haftet etwas von dem Fehler an, den Kuno Fisdier seinen Vorgängern angekreidet hat: „daß sie ihren Gegenstand in fertigen Formen, in einer Reihe bekannter Beispiele vor sich haben, die gemeinsamen Merkmale dieser vorhandenen Exemplare aufsuchen, sammeln und daraus die Definition zusammenstellen, die nun, wenn es gut geht, für einige Fälle, nidit für alle paßt und darum auch nur für die wenigen scheinbar. Man kann die Dinge aus ihren äußeren Merkmalen beschreiben, aber nicht erklären, sonst wäre der Steckbrief die beste Definition. Um sie zu erklären, muß man sie aufsuchen in ihren Ursprüngen, in ihrer Entstehung. Aus der Art, wie etwas wird, erkennen wir am besten, was es ist." 5 8 Diese Arbeitsmethode ist mehr noch als beim Werk Kuno Fischers ein besonderer Vorzug von Freuds Schrift „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten". „Die Torheit ist dem Menschen gleichsam angeboren", schreibt ein französischer Geistlicher des 15. Jahrhunderts zur Verteidigung der Eselsmessen,59 und Sigmund Freud 60 spricht im Anschluß an die Arbeiten von Karl Groos 61 in der ästhetischpsychologischen Literatur zum erstenmale von einer Lust des Menschen am Unsinn. Diese Lust ist im ernsthaften Leben bis zum Verschwinden verdeckt, wird aber deutlich sichtbar beim Kind und beim Erwachsenen in toxisch veränderter Stimmung. In der Zeit, wo das Kind die Sprache erlernt, spielt es mit Worten, wie es mit Holzstückchen spielt. Später bekommt dieses Spiel den Reiz des von der Vernunft Verbotenen und wird schließlich dazu benützt, sich dem Druck der kritischen Vernunft zu entziehen. Der Unsinn bedeutet dann eine Auflehnung gegen den Denk- und Realitätszwang, gegen logische, praktische und ideelle Normen. Die Freiheit des Denkens soll in der Lust am Unsinn gerettet werden, so etwa im Studentenulk gegen den Zwang der geistigen Schulung. Es ist aber bezeichnend für die Unterdrückung dieser Lust, daß beim Erwachsenen meist bereits toxische Hilfsmittel zur Befreiung nötig sind. Der Dichter einer spielerischen Unsinnspoesie — denn nur im Spiel ist diese Art möglich — hat sich diese Freiheit bewahrt; er ist noch jenes Kind, das mit Worten wie mit Bauklötzchen spielt. Ob es sich um Sinn oder Unsinn handelt, entscheidet die Kritik der Vernunft; sie schützt etwa die Lust am Unsinn im Witz durch die Kunst der Witzarbeit; durch Verdichtung der Wörter, Verwendung ihres Doppelsinnes und anderer Anknüpfungsmöglichkeiten, durch akustische statt dinglicher Relationen usw. wird der kritischen Vernunft das lustvolle Spiel leicht durchschaubar. Diese leichte Verständlichkeit des Sinnes im Unsinn ist für den Witz Bedingung. Ein nur witziges Gedicht fällt deshalb nicht mehr unter unsern Begriff von Unsinnspoesie, wenn wir es auch möglicherweise bei einem Dichter um des Zusammenhanges willen betrachten werden. Lassen wir aber nur diese Art von vor der Kritik Kuno Fischer a a O 64. nach Justus Moser, Harlekin oder die Verteidigung des Groteske-Komischen, Sämtliche Werke ed. B. R. Abeken, Berlin 1 8 4 2 — 5 8 , I X 101. 6 0 Sigmund Freud, Der W i t z und seine Beziehung zum Unbewußten, Ges. Schriften, Leipzig etc. 1 9 2 4 — 3 4 , I X bes. 140 ff. 6 1 Karl Groos, Die Spiele der Menschen, Jena 1899. 58

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Themas

geschütztem „sinnvollem Unsinn" als komisch gelten, wie das die meisten Ästhetiker im Gegensatz zu den Psychoanalytikern tun, so ist überhaupt keine Unsinnspoesie komisch, und wir müssen sie einer Parallelerscheinung des Komisdien, der Ästhetiker würde sagen: einer Vorstufe, zuordnen, die etwa mit Lachen der kindlichen Freude und des Spaßes zu umschreiben wäre. Dies ist für uns nicht von Belang. Für den Ästhetiker ist der Unsinnswitz — das Messer ohne Klinge, an welchem der Stiel fehlt — immer ein schlechter Witz, ein witzig scheinender Blödsinn; daß man darüber lachen kann, erklärt er höchstens damit, daß die Erwartung eines Witzes erweckt wird, der Hörer also versucht, den Sinn hinter dem Unsinn zu finden, der aber nicht vorhanden ist.62 Die Vorspiegelung eines Sinnes im Unsinn kann momentan die Lust am Unsinn befreien; da aber der Schutz vor der Kritik der Vernunft in Form der Witzarbeit fehlt, erfolgt sofort Ablehnung, wir ärgern uns. Dieser Ärger jedoch kann wiederum Absicht des Verfassers sein, wie sich noch erweisen wird. Doch vermag auch schon allein das Gewährenlassen unbewußter und verpönter Denkweisen nach Freud komische Lust zu erzeugen. Das zeigt sich an der Geschichte vom geliehenen Topf: „Erstens habe ich mir den Topf nicht geliehen, zweitens war er schon vorher beschädigt, und drittens habe ich ihn vor der Rückgabe in Ordnung gebracht" oder am Wippdien, der Scherzkatachrese. Auf ähnliche Weise rufen die Scherzrätsel vom Typus: "Was hängt an der Wand, und man kann sich damit die Hände abtrocknen?" Antwort: „Ein Hering" eine komische Wirkung hervor. Einen Sonderfall bilden die Dichtungen des unfreiwilligen Humors, etwa Friederike Kempners oder König Ludwigs I. von Bayern, bei denen der Ärger über den allzubilligen Sinn durch ein Lächeln über die hilfslose Gefüihlsinnigkeit oder das monarchische Pedantentum entwaffnet wird. Wir glauben nicht, mit diesen wenigen Andeutungen endgültig geklärt zu haben, wann und warum wir über einzelne Unsinnspoesien lachen und über andere nicht; denn Dugas sagt mit Recht: „II n'est pas de fait plus banal et plus 6tudi£ que le r i r e ; . . . il n'en est pas sur lequel on ait recueilli plus d'observations et bäti plus de theories, et avec cela il n'est pas qui demeure plus inexpliq^. On serait tent0 de dire avec les sceptiques qu'il faut etre content de rire et ne pas chercher ä savoir pourquoi on rit, d'autant que peut-etre la reflexion tue le rire, et qu'il serait alors contradictoire qu'elle en decouvrit les causes!"®3 Vielleicht läßt sich einfacher feststellen, wann Unsinnspoesie nicht komisch wirkt: zum Beispiel in ihren ekstatischen Elementen, wo die gleichzeitige Affektentladung die komische Wirkung tötet, oder ganz allgemein überall dort, wo wirklicher Unsinn dauernd geschieht. Wohl wird man sich anfänglich noch an solchen Gedichten belustigen; wenn aber jede Art des Verstehens längere Zeit hindurch versagt, erweckt die Unsinnspoesie bald das Bewußtsein des Pathologischen, das sogar in ein Gefühl des Grauens übergehen kann. Selbst Nestroys Ver62

so etwa Eduard Eckhardt, Über Wortspiele, GRM 1 (1909) 674 ff., Sinn hinter U n sinn 676. 63 L. Dugas, Psychologie du Rire, Paris Alcan 1902, 1 f.

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des

Themas

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Wandlungszauber reicht in einen Bezirk, in dem sich „das Komische mit dem Unheimlichen berührt". 6 4 In der Spielsphäre wirkt dauernder Unsinn meist langweilig und scheinbar unigekonnt. Das können wir zum Beispiel an Gervinus' Urteil über die Lügendichtung vom Finkenritter beobachten: „Aber Verdienst ist gar nicht an diesem Buche. Es muß sidi Sinn unter scheinbarem Unsinn bergen, wenn dergleichen angenehm sein soll, und wenigstens muß sich der Spaß nicht so häufen wie hier." 65 Der Ästhetiker des Komischen bricht im Literarhistoriker durch; er lehnt den Unsinn ab, der nicht durch einen leicht durchschaubaren Sinn im Unsinn vor der Kritik der Vernunft geschützt, also nicht witzig ist; oder wenigstens sollte der Spaß so kurz sein wie im Scherzrätsel und Unsinnswitz, sich also vom komischen Effekt der Enttäuschung nähren, daß kein Sinn gefunden werden kann. Man muß nur Julius Schultz' „Psychologie des Wortspiels" lesen, um zu erfahren, w,ie weit ästhetische Vorurteile selbst einen Psychologen irreleiten. Schultz spricht von Fischarts „blöden Reimfolgen" und fragt verurteilend: „Wie breit ist da noch der Graben, der seine Kunst von der Unkunst der Katatoniker trennt?" Er meint Fischart zu treffen, wenn er feststellt: „Wörter zu verdrehen bleibt ein witzlos gassenbubiges Spiel". Weil er völlig in seiner Typologie des Wortspiels gefangen ist, die auf den sechs Typen des infantilen, grobianischen, künstlerischen, spielerischen, witzigen und geistreichen Wortspiels ruht, sieht er nur die Witzsphäre und steht dem Unsinn hilflos gegenüber® 6 Ähnlidie Urteile finden sich überall in der Literaturgeschichte, wo Unsinnspoesien gestreift werden, bis zu den modernen Kritikern Morgensterns. Die Unsinnspoesie als ästhetische Gestalt des

Metaphysischen

Julius Bahnsen hat den H u m o r als eine ästhetische Gestalt des Metaphysischen umrissen. 67 Wir stehen nicht an, auch einzelnen Unsinnspoesien schlagwortartig die gleiche Eigenschaft zuzuerkennen und uns auch so von der durch Jean Paul verursachten Überbewertung des Humorbegriffs zu lösen. Schon Baudelaire hat in seinem Aufsatz „Vom Wesen des Lachens" das Lachen des Grotesken als etwas gnundtatsächlich Tiefes und Elementares bezeichnet, das sich viel mehr dem urtümlichen Leben und der von jedem Zweck gelösten Freude nähere als das durch Satire und Karikatur hervorgerufene Lachen. Er nennt das Groteske einen Höhenmaßstab f ü r das Komische und die absolute Komik, was in unserm Sprachgebrauch wohl bedeutet, daß es zum H u m o r gehöre. 68 Den vehementesten Verteidiger hat jedoch die Unsinnspoesie in Gilbert Keith 64

Otto Rommel, Die Alt-Wiener Volkskomödie, Wien 1952, 964, 968. G. G. Gervinus, Geschichte der deutschen Dichtung, 4. Aufl. Leipzig 1853, II 307. 66 Julius Schultz, Psychologie des Wortspiels, Zs. f. Ästhetik und allg. Kunstwiss. 21 (1927) 16 ff.; blöde Reimfolgen 31, Wörter zu verdrehen 29. 67 Julius Bahnsen, Das Tragische als Weltgesetz und der Humor als ästhetische Gestalt der Metaphysik, Lauenburg i. P. 1877. 68 Charles Baudelaire, Vom Wesen des Lachens, Zürich 1922, 22. 65

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Themas

Chesterton. Für ihn ist der Unsinn ein Unsinn der Fundamente. Für ihn kann ein Witz so groß sein, „daß er das Sternenzelt durchbricht"; „durch immer höher steigende Absurdität kann etwas gottgleich werden, vom Lächerlidien zum E r habenen ist nur ein Schritt." 0 9 So hat er um 1900 den Unsinn als eine neue Literatur und „man könnte fast sagen als einen neuen Sinn" verkündet und diese Literatur auch dichterisch, etwa im „Man who was Thursday", zu begründen versucht. 1901 schreibt er in seinem „Defendant": „Wenn Unsinnigkeiten wirklich die Literatur der Zukunft sein sollen, so müssen sie ihre eigene Deutung in der Schöpfung haben; die Welt muß nicht nur das Tragische, Romantische und Religiöse, sie muß auch das Unsinnige sein. U n d hier glaube ich, daß der Unsinn auf eine sehr unerwartete Weise sich zu einer geistigen Auffassung der Dinge gesellen wird. Die Religion hat Jahrtausende hindurch die Menschen angespornt, die ,Wunder' der Schöpfung anzustaunen; aber sie ließ gänzlich außer acht, daß etwas Sinnfälliges nicht vollkommen wunderbar sein kann. Solange wir im Baume nichts weiter als einen sinnfälligen Gegenstand erblicken, kann er kein sonderliches Erstaunen in uns erregen. Erst, wenn wir in ihm eine unerklärliche Welle des Lebens sehen, die, man weiß nicht recht warum, aus dem Erdboden zum Himmel emporstrebt, erst dann erfaßt uns Furcht vor dem Waldhüter. Es hat alles zwei Seiten, wie der Mond, der zugleich der Patron des Unsinns ist. So läßt sich der Vogel betrachten wie eine Blüte, die von ihrem Federstengel abfiel, der Mensch wie ein Vierfüßler, der auf seinen Hinterpfoten bettelt, ein Haus wie ein Riesenhut, um ihn vor der Sonne zu beschützen, ein Stuhl wie ein Apparat mit vier Füßen für einen Krüppel, der nur auf zwei Füßen steht. Das ist jene andere Seite der Dinge, die uns am sichersten zum geistigen Wunder führt. Es ist bezeichnend, daß in dem größten religiösen Dichterwerk, deim Buch Hiob, nicht dasjenige Argument auf den Gottlosen wirkt, das die Sdiöpfung als ein planvoll wollendes Werk darstellt, sondern das im Gegenteil ein Bild von ihrer ungeheuren, rätselhaften Sinnlosigkeit entwirft. ,Hast Du, ο G o t t , regnen lassen, wo keine Menschen sind?' Dieses naive Staunen über die Gestaltung des Lebens und deren namenlose Unabhängigkeit von unsern intellektuellen Voraussetzungen ist ebenso die Grundlage des Spiritualismus, wie es die Grundlage des Unsinns ist. Unsinn und Glaube (so ungereimt dies auch klingen mag) sind die zwei stärksten symbolischen Beweise für die Tatsache, daß es ebenso unmöglich ist, das Wesen der Dinge mittels eines logischen Schlusses zu enträtseln, wie einen Walfisch mittels einer Angel zu fangen. Die gute Seele, welche lediglich die logische Seite der Dinge zu erforschen suchte und somit zu dem Ergebnis kam, daß ,Glaube Unsinn' sei, weiß nicht, wie richtig sie es trifft, vielleicht kommt sie später darauf, daß Unsinn Glaube ist." Chesterton ist der Schutzpatron unserer Arbeit, und wir können diesen einleitenden ersten Teil nicht besser als mit seinen Worten beschließen: „Der älteste, der gesündeste und religiöseste Wert der N a t u r " liegt in „dem Wert, der 69

G. K. Chesterton, Charles Dickens, London Methuen 1906. Deutsch: Wien Phaidon

o. ]., 35.

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von ihrer ungeheuren Kindlichkeit ausgeht; sie ist so wacklig, so grotesk, so feierlich, so glücklidi wie ein Kind. Es gibt eine Stimmung, wo wir all ihre Formen wie Formen sehen, die ein Kind auf eine Schiefertafel kritzelt, einfach, ursprünglich, Millionen Jahre älter und stärker als die ganze Krankheit, die man Kunst heißt. Die Gegenstände der Erde und des Himmels scheinen sich zu einem Ammenmärchen zu verbinden, und unsere Beziehung zu den Dingen scheint auf einmal so einfach, daß man einen tanzenden Narren braudien würde, um der Klarheit und Leichtigkeit des Augenblicks gerecht zu werden. Der Baum über meinem Kopfe schlägt wie ein Riesenvogel, der auf einem Bein steht; der Mond ist ein Zyklopenauge. Und, wie sehr sich audi mein Antlitz mit dunkler Eitelkeit oder gemeiner Radie oder verächtlicher Verachtung umwölkt, die Knochen meines Schädels darunter lachen ewig." 70 Franz Kafka, der in einer für ihn bezeichnenden Mischung von leiser Bewunderung und trauerndem Mißtrauen von Chesterton gesagt haben soll: „Er ist so lustig, daß man fast glauben könnte, er habe Gott gefunden", 71 steht am Gegenpol zu diesem Weltgefühl; aber audi dort endet vielleicht der Unsinn der Fundamente in einem „Credo quia absurdum".

70 G.K.Chesterton, T h e Defendant, London R . Brimley Johnson 1901 u. ö. Deutsch: Verteidigung, Ölten 1945, 57 IT. (Nachdruck einer anonymen Übersetzung von 1917). Leider ersetzt diese sonst ziemlich gute Übersetzung englische Dichter durch deutsche, etwa Sterne durch Heine (58), Lear und Carroll durch Busch (58), was Chestertons Denken verfälscht. 7 1 Gustav Janoudi, Gespräche mit Kafka, S. Fischer 1951, 53.

II Die geistigen Grundlagen des Spiels

Was das Spiel für die Kultur bedeutet, hat Johan Huizinga in seinem Buche aufs schönste dargestellt, indem er zum H o m o sapiens und H o m o faber den H o m o ludens gesellt. 1 Das Spiel ist ein Urgrund menschlichen Seins, der in alle Lebensalter und in alle Geisteshaltungen hineingewoben ist: „Der Mensch spielt als Kind zum Vergnügen und zur Erholung unterhalb des Niveaus des ernsthaften Lebens. E r kann aber audi über diesem Niveau spielen: Spiele der Schönheit und Heiligkeit", 2 oder wie Schiller sagt: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, w o er spielt". 3 Huizinga und Schiller im Spiel sehen, das ist ein Ideal

des Spieltriebes.

Was Wenn

Plato vom Menschen als dem Spielzeug des Gottes sprach, so ist nun bei ihnen die Welt ein Spielzeug des Menschen. I m Anschluß an Kants freies, interesseloses Spiel der Vorstellungskräfte ästhetischen Wohlgefallen 4 verschmelzen sich bei Schiller

der Sachtrieb,

im

dessen

Gegenstand das „Leben", und der Formtrieb, dessen Gegenstand die „Gestalt" ist, im Spieltrieb, dessen Objekt, die „lebendige Gestalt",

alles umfaßt, was

wir

1 Johan Huizinga, Homo ludens; idi zitiere nach der 3. Auflage Basel etc. o. J . Uber die Spieltheorien der neueren Zeit orientiert ausgezeichnet Hans Sdieuerl in seiner Arbeit Das Spiel, 2. Auflage Weinheim-Berlin 1959, und in seiner Anthologie Beiträge zur Theorie des Spiels, 2. Auflage Weinheim-Berlin 1960. Huizingas Werk hat zahllose Betrachtungen über das Spiel von sehr zweifelhaftem Wert hervorgerufen (vgl. das Literaturverzeichnis bei Sdieuerl). Die meisten entfernen sich noch stärker als Huizinga von den tatsächlich gespielten Spielen. Wir besitzen nun bereits eine Theologia ludens (Hans Rahner, Der spielende Mensch, 5. Auflage Einsiedeln 1960) und eine Philosophia ludens (Eugen Fink, Spiel als Weltsymbol, Stuttgart 1960); mit der Theorie der strategischen Spiele (John von Neumann and Oskar Morgenstern, Theory of Games and Economic Behaviour, Princeton UP 1944; Claude Berge, Sur une thiorie ensembliste des jeux alternatifs . . . , These Paris 1953) hat sich auch die Mathematik des Spiels bemächtigt. Aus der Vielzahl der andern Publikationen sei ausdrücklich ein Werk hervorgehoben: Roger Caillois, Les jeux et les hommes (Le masque et le vertige), Paris Gallimard 1958, deutsch: Die Spiele und die Menschen (Maske und Rausch), Stuttgart 1960, weil es nach Abschluß unserer Arbeit mit der Untersuchung der Spiele der Gegenwart und der Einbeziehung des Spielrausches über Huizinga hinausführt und unsere Gedanken mannigfach ergänzt und bestätigt. 2

Huizinga aaO 32.

Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen 15. Brief, Sämtliche Werke, Säkularausgabe X I I 59. 3

4 zum Spiel bei Kant vgl. Kuno Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, Jubiläumsausgabe Heidelberg 1897—1904, V 410 ff.; zu den nachkantischen Spielbegriffen vgl. Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 4. Auflage Berlin 1927—30, I I I 135 ff.; Georg Schläger, Einige Grundfragen der Kinderspielforschung I, Zs. d. Ver. f. Volkskunde 27 (1917) 106 ff.

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Schönheit nennen. 5 Das Ideal der Schönheit, das die Vernunft aufstellt, setzt audi das Ideal des Spieltriebs fest, das der Mensch „in allen seinen Spielen vor Augen haben soll", 6 so daß sich eine doppelte Forderung ergibt: „Der Mensch soll mit der Sdiönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen."7 An den Spielen kann man den Menschen erkennen. Als Beispiele zieht Schiller die Olympischen Spiele, römische Gladiatorenkämpfe, Londoner "Wettrennen und Madrider Stiergefechte heran 8 und behauptet, daß sich die Spiele des wirklichen Lebens „gewöhnlich nur auf sehr materielle Gegenstände richten" (Kartenspiele und Kampfpreise?). 9 Das ist erstaunlich, der unbefangene Leser hätte eher Sprachspiele und poetische Spiele als gute oder schlechte Exempel erwartet. Schillers poetischer Spieltrieb ist jedoch so weit von allen sonst üblichen Spielbegriffen entfernt, daß er überhaupt nichts mehr mit dem zu tun hat, was wir gemeinhin Spiel nennen. Schillers Spieltrieb heißt für uns künstlerische Schöpferkraft. Das Zitat „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt" kann nie als Motto für eine Betrachtung menschlicher Spiele benützt werden. 10 Schillers Spieltrieb staht so hoch über allem irdischen Spiel, daß er den künstlerischen Genius an sich meint. Er ist das Spiel der Götter, wie Schiller es in einem Fragment aus dem Nachlaß am Unterschied zwischen Tragödie und Komödie formuliert: „Die Komödie setzt uns in einen höhern Zustand, die Tragödie in eine höhere Tätigkeit. Unser Zustand in der Komödie ist ruhig, klar, frei, heiter, wir fühlen uns weder tätig noch leidend, wir schauen an, und alles bleibt außer uns; dies ist der Zustand der Götter, die sich um nicht Menschliches bekümmern, die über allem frei schweben, die kein Schicksal berührt, die kein Gesetz zwingt. — Aber wir sind Menschen, wir stehen unter dem Schicksal, wir sind unter dem Zwang von Gesetzen. Es muß also eine höhere, rüstigere Kraft in uns aufgeweckt und geübt werden, damit wir uns wieder herstellen können, wenn jenes glückliche Gleichgewicht, worin die Komödie uns fand, aufgehoben ist. Dort brauchten wir unsere Kraft nicht, weil wir nichts zu kämpfen hatten; aber hier müssen wir siegen und bedürfen also der Kraft. Die Tragödie macht uns nicht zu Göttern, weil Götter nicht leiden können; sie macht uns zu Heroen, d. i. zu göttlichen Menschen, oder, wenn man will, zu leidenden Göttern, zu Titanen. Prometheus, der Held einer der schönsten Tragödien, ist gewissermaßen ein Sinnbild der Tragödie selbst." 11 Nicht so hoch setzt Huizinga seinen SpielbegrifT an. Neben den Spielen der Schönheit und Heiligkeit kennt er auch die des Kindes. Er definiert das Spiel als eine „freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter 5

Über die ästhetische Erziehung des Menschen 14.—16. Brief, aaO 52 ff.; vgl. allgemein: Karl Berger, D i e Entwicklung von Schillers Ästhetik, Weimar 1894, 276 ff.; Gottfried Baumecker, Schillers Schönheitslehre, Heidelberg 1937, 80 ff. 6 15. Brief aaO 58. 7 ebda. 59. 8 ebda. 58 f. und Anra. 9 ebda. 10 Als Motto steht dieser Satz über der Arbeit von Gustav Bally, V o m Ursprung und von den Grenzen der Freiheit, Eine Deutung des Spiels bei Tier und Mensch, Basel 1945. 11 Tragödie und Komödie (Aus dem Nachlaß), Säkularausgabe X I I 329 f.

Die geistigen Grundlagen

des Spiels

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Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewußtsein des .Andersseins* als das gewöhnliche Leben." 12 So kann er den Menschen auf allen Stufen der Entwicklung verfolgen, vom Kinderspiel über das Spiel in der Sprachschöpfung bis zu den Spielen des Geistes in der Philosophie, den Spielen der Religion und der Dichtung („Das Spiel ist die erste Poesie des Menschen", sagt schon Jean Paul 13 ), wo in der lyrischen Sprache der Mensch „am nächsten bei der höchsten Weisheit, aber auch bei der Sinnlosigkeit" 14 steht. Kosmische Ergriffenheit ist der Urgrund: „In Form und Funktion des Spiels, das eine selbständige Qualität ist, findet das Gefühl des Eingebettetseins des Menschen im Kosmos einen ersten, höchsten und heiligsten Ausdruck". 15 Im Gagensatz zu Schillers Spielbegriff umfaßt der Huizingas einen großen Teil der Spiele dieser Arbeit, so die Spielgattungen, die literarischen, gesellschaftlichen, die gelehrten und die magischen Spiele. Das letzte kosmische Spielgefühl finden wir im Urgelächter Chestertons, in Mörikes „Wispeliaden" oder in den Dichtungen Paul Scheerbarts und in dessen Wort: „Ach, das ganze Weltall lacht! Der Weltgeist lacht auch, und ich lache leise mit!" 16 An diesen Dichtungen zeigt sich aber, daß das Spiel nicht in allen Fällen „freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln" folgen muß, wie Huizinga es haben will. Es gibt in der Unsinnspoesie eine Freiheit des Spiels, die keine Regeln und Grenzen mehr anerkennt, die „Spielverderberin" ist gegenüber dem Spiel der Dichtung und kaum mehr eine neue Spielwelt mit festen Ragein aufhaut oder höchstens insofern, als sie Regellosigkeit des Spiels fordert. Damit greifen wir über Huizingas Spielwelt hinaus. Im Spiel findet nicht nur das Gefühl des Eingebettetseins im Kosmos seinen höchsten und heiligsten Ausdrude, es können auch andere geistige Haltungen, ein anderes Weltgefühl hinter der Spielwelt stehen. Wir meinen nicht nur die unendliche Grenzenlosigkeit, mit der das romantische Spiel unter Mißachtung aller Spielregeln über die Welt hinausgelanigen will. Dieses baut doch noch eine neue Spielwelt auf, wenn auch unter Aufhebung der gegenständlichen Welt, also durchaus in schärfstem Widerspruch zu Schillers harmonischem SpieltriebIdeal. Sondern wir denken vor allem an jenen unheimlichen Urgrund des Spieltriebs, den Huizinga verschweigt: an den Zerstörungstrieb als „so leicht hervorbrechenden Kampfinstinkt, der sich sogar dem todten Objekt — als ob es ein lebendiger Gegner wäre — mit einer oft bis zum Rausche gesteigerten Zerstörungslust zuwendet und in der völligen Vernichtung des Objektes seine eigene Macht wie einen Sieg genießt —". 17 Es gibt einen zerstörenden Spieltrieb, der die Zerstörung um der rauschähnlichen Wirkung willen genießt, einen äußersten Gegen13 13 14 15 16 17

Huizinga aaO 45 f. Levana § 49, Stle. Werke hist.-krit. Ausg. 1.12 150. Huizinga aaO 229. ebda. 29. Paul Scheerbart, Ich liebe Dich! Berlin 1897, 296. Karl Groos aaO 275.

26

Die geistigen Grundlagen

des

Spiels

satz zu jenem heiligsten Eingebettetsein des Menschen im Kosmos. D e r

Spiel-

verderber braucht nicht außerhalb der Spielwelt zu stehen, durch seinen Einbruch die R e l a t i v i t ä t und Sprödigkeit der Spielwelt zu enthüllen und die Spielwelt zu zerstören, wie Huizinga meint, 1 8 er kann selbst Spieler sein, die ganze Lust des Spiels in dessen Zerstörung genießen. Die Zerstörung ist sogar eines der häufigsten Spiele, ein Spiel mit dem Entsetzen und mit der Freude an der M a d i t des Menschen über die Dinge. Gerade im Spiel mit der Sprache wird der zerstörende Spieltrieb sichtbar: W e n n in der R o m a n t i k einzelne Dichter die gegenständliche W e l t im Spiel mit der Sprache zerstören, um die Gegenstände zugunsten einer grenzenlosen

mystischen

W e l t zu überwinden,

so ahnen wir

doch schon

bei

andern eine Lust am zerstörenden Spiel um der Zerstörung willen. Huizinga unterschätzt die K r ä f t e des spielenden Zerstörungstriebs zu allen Zeiten, wenn er erst im Spielelement der modernen K u l t u r Puerilismus, Habitus des Vorpubertätszeitalters zwischen Kindlichkeit und jünglingshafter Unausgeglichenheit, zu finden glaubt. 1 8 N i d i t nur kindisches Spiel statt kindlidies tritt etwa im deutschen D a d a i s mus zutage, sondern das Lachen des Teufels, „jene Diabolik, die von der höchsten Groteske h e r k o m m t " , 2 0 das Lachen als das „Satansmal des Menschen", 2 1 das Lachen des Elends und der Tränen, von dem schon die Sprüche Salomos wissen. 22 So ist die spielende Unsinnspoesie nidit nur Spiel im Gefühl des Eingebettetseins im Kosmos, sondern auch Spiel der satanischen Zerstörungslust, Spiel des Teufels mit der Welt. H u g o B a l l hat diesen völligen Gegensatz im Lachen igesehen. E r zitiert Schillers S a t z aus der „Ästhetischen E r z i e h u n g " : „ D e r Mensch kann sich a b e r auf eine doppelte Weise entgegengesetzt sein: entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen; oder als B a r b a r , wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören" 2 3 und fügt ironisch hinzu: „Deutsdiland ist also heute wild und barbarisch zugleich". 2 4 D i e Ironie hebt sich jedoch selbst auf, wenn er ein p a a r Seiten später sdireibt: „ D i e Antithese in Permanenz, das Urspiel in seinem majestätischen Gelächter — : in Berlin konnte ich diese D i n g e schätzen. Ich k a n n das W o r t Geist nicht mehr hören. M a n macht mich furibond, wenn man das W o r t nur ausspricht". 2 5 Dieses Urspiel in Permanenz ist ein anderes majestätisches Gelächter als Chesterton

und Scheerbart es meinen;

Schillers

Spieltrieb-Ideal

p a ß t nidit in eine Welt, in der m a n das W o r t Geist nicht mehr hören kann. Furchtbar und erhaben zugleidi aber ist die Lehre jener gnostischen Sekte Ä g y p tens, daß die W e l t aus dem siebenmaligen Urgelächter des Gottes Abraxas entstanden sei. Huizinga aaO 19. ebda. 330, vgl. audi Johan Huizinga, Im Schatten von morgen, 17. Aufl. Zürich 1930, 140 ff. 2 0 G. K. Chesterton, Der Mann, der Donnerstag war, München 1924, 86. 2 1 Baudelaire aaO 13. 2 2 Spr. Sal. 14 V. 13. 2 3 Über die ästhetische Erziehung des Menschen aaO 13. 2 4 Hugo Ball, Flucht aus der Zeit, Ausgabe Luzern 1946, 124 f. 2 5 ebda. 141. 18

19

Α. Das kindliche Spiel 1. D A S

Mörikes

DÄMONISCHE

SPIEL

Wispeliaden

Dämonisch hat Goeche die Macht genannt, die in der untrennbaren, irrationalen Einheit von schöpferischer Person, Werk und Schicksal wirkt. Dämonisch ist Eduard Mörikes scheinbar harmlos-kindliches Spiel. Es ist mit unbegreiflichen Mächten geladen, durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen 1 und verleiht dem Dichter „eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe", 2 die uns furchtbar erscheint, wenn sie sich gegen Mörikes Umwelt wendet. Denn immer wieder durchkreuzt das dämonische Spiel die moralische Weltordnung. 3 Alle sittlichen Kräfte vermögen nichts über es, 4 bis die Dämonen sich gegen den Menschen wenden und ihn wieder ruinieren. 5 Dies alles sind Worte Goethes. D a ß wir sie zu Recht für Mörike benützen, versuchen wir im folgenden darzulegen. Eine Beziehung ist augenscheinlich: Goethe nennt Mozart eine Verkörperung des Dämonischen, Mozart aber ist das schönste Symbol von Mörikes Spiel. Mörikes Leben und Werk ist von einem kindlichen Schimmer umglänzt. B e rühmt und oft zitiert ist sein Jugendglück mit den Astlochphantasien im beschränkten Winkel.® Noch als Zwanzigjähriger h a t sich der Dichter in seinen Spielen nicht von dieser Welt entfernt. Im „Waldhäusle" fühlt sich sein „Innerliches sonderbar geborgen und guckt wie ein Kind, das sich mit verhaltenem Jauchzen vor dem nassen Ungetüm- draußen versteckt, mit hellen Augen durchs Vorhängel, bald aus jenem, bald aus diesem vergnügten Winkelchen". 7 E r macht seiner Schwester „tausend (jedoch unschädliche) Sachen und hohle Nüsse vor, wodurch sie außer sich selbst gesetzt wird und mich mit großen Augen ansieht, bis wohl auch zuweilen diese Bewunderung in lautes Schreien, Weinen und H i l f e rufen gegen das zitierte Geisterreich ausschlägt." 8 1 zu Eckermann 2. 3. 1831, Eckermann, Gespräche mit Goethe ed. Η . H . Houben, Leipzig 1918, 373. 2 Diditung und Wahrheit 20. Budi, W A 1.29 177. 3 ebda. 176. 4 ebda. 177. 5 zu Eckermann 1 1 . 3 . 1828, ed. Houben 542. β Mörikes Werke hg. v. H a r r y Maync, Neue Ausgabe Leipzig-Wien 1914, II 287. 7 an Wilhelm Waiblinger Aug. 1824, Briefe hg. v. Friedrich Seebass (im folgenden als „Briefe" zitiert), Tübingen 1939, 26. 8 ebda. 30.

28

Die geistigen

Grundlagen

des

Spiels

Die Briefe, die von seinem Leben mit den Kindern erzählen, sind auch später wohl seine schönsten, gewiß die sonnigsten. 9 Zu seiner Kindlichkeit gehört aber noch mehr. Wie ein kleiner Bub verdreht er 1832, als er ein Pseudonym für den Maler Nohen sucht, seinen Namen in E. Meerschwein, Meerrettig, Mopsvesta, von Meerigel und Sanitätsrat Märkle; 10 Cleversulzbach wird Klepperfeld, Hartlaub Artiglaub, Agnes und Ada zu Bagnes und Bada, Fanny zu Pfanny. Er sammelt leidenschaftlich, was ihm in die Hände gerät, Autographen, Versteinerungen usw. Er bastelt alles mögliche: „Wie er am Grabkreuz für Schillers Mutter Steinmetzarbeit verrichtete und als Bräutigam selbst dem Goldschmied das Muster des Ringes für Luise entworfen hatte, so stach er sich einen Siegelstock in Silber oder schnitzte . . . aus einem gewöhnlichen Stück Perlmutter ein zierliches Heft oder aus Holz die kunstvollsten Federhalter, womit er dann Nahestehende beschenkte Er richtete Flächen von Baumrinde zu, um der Mutter ein paar Verse darauf zu schreiben oder einen Horazkopf daraus zu schneiden, den er alsdann in ein hübsches Kästchen klebte." 11 Viel Mühe und Geld verwendet er an den Versuch, Zeidinungen auf Glas zu vervielfältigen. 12 Im Alter geht er in Lorch zu einem Töpfermeister in die Lehre und formt nun mit größter Lust Vasen und Töpfe. 18 Tagelang arbeitet er kalligraphisdi, zuweilen sogar für klingenden Lohn, wie bei einem Spiegelschriftgedicht.14 Mörikes Zeichnen war nie wirklich künstlerisches Gestalten, sondern immer Spiel. Aiuf einem Bildchen läßt er uns durchs Schlüsselloch in Hartlaubs Kirche von Wermutsharusen blicken und spinnt so direkt die Astlochphantasien weiter. 15 Auch seine Hilflosigkeit in praktischen Dingen gehört zu seiner Kindlichkeit; ohne weibliche Hilfe ist er verloren und kann kaum einen Ofen anzünden oder Kaifee kochen.16 Herrlich aber ist der alte Herr Professor Mörike, wenn er stundenlang mit einem brennenden Licht im Bett liegt, das audi sonst schon immer seine Zuflucht vor der Welt war — wie er einst auf der Wiese neben der Kirche lag und sich durch das geöffnete Fenster die Predigt seines Stellvertreters anhörte —, mit den Fingern an der Wand Schattenfiguren produziert und es mit Stolz von anfänglich sechs durch anhaltende Übung schließlich auf einige zwanzig bringt! 17 Tausendfältig spiegelt sich diese Kindlichkeit Mörikes sichtbar und unsichtbar in seinem Werk wieder. Im kleinen sind die eigentlichen Kindergedichte ein 9 vgl. e t w a an W i l h e l m Waiblinger Aug. 1824, Briefe 30 f.; an Hartlaub 2 1 . 3 . 1842, ebda. 542; an denselben A n f . März 1862, ebda. 756 ff.; an dens. 20./25. 3. 1826, ebda. 5 0 ff. 10 an Johannes Mährlein, 5. 6. 1832, Briefe 360. 11 H a r r y Maync, Eduard Mörike, 5. A u f l . Stuttgart 1944, 244. 12 ebda. 245. 13 vgl. Eduard Mörike, Zeichnungen, hg. v. Herbert Meyer, München 1952, 23. 14 Werke I 248; z w e i f a r b i g lithographiertes Einzelblatt, abgebildet in: Briefwechsel zwischen T h . Storm und Ed. Mörike hg. v. H a n n s W o l f g . Rath, Stuttgart 1919, T a f . 6. 15 Mörike als Zeichner hg. v. O t t o Güntter, Stuttgart Berlin 1930, Abb. 1; andere Fassung: Zeichnungen ed. M e y e r 48. 18 M a y n c , Mörike 244. 17 ebda. 511; vgl. allgemein: Rudolf Krauß, Mörike als Gelegenheitsdichter, 2. A u f l . Stuttgart Leipzig 1904.

Das dämonische

Spiel

29

Ausdruck dafür, das „Kinderlied", 1 8 das „Mausfallensprüchlein", 1 9 das in keinem Lesebuch fehlende Vogelschutzgedicht „Unser F r i t z " 2 0 und vor allem die Gedichte an

und

für

Mörikes,

Hartlaubs

und

anderer

Kinder,

Geburtstagsgedichte, 2 1

Begleitgedichte zu Geschenken und Rätsel, wie das Reimspiel für „Zwei dichterische Schwestern", das beginnt: Heut lehr' ich euch die Regel der Son— Versucht gleich eins! Gewiß, es wird ge—, Vier Reime hübsch mit vieren zu versch—, Dann noch drei Paare, daß man vierzehn h — . . . 2 2 Auch die eigene Schwester wird immer wieder ins Spiel miteinbezogen;

durch

H u n d und K a t z e läßt er ihr zu Geburts- und Namenstagen (gratulieren, 23 wobei er einmal eine ganze unsinnige Kinderpredigt

einflicht. 24 Wenn

sucht er sie zu versöhnen: Da dein Bruder Das Ruder Des Hauswesens führt Und kein Narr ist, Sondern Pfarr' ist, Der ganz Sulzbach regiert, Der zwar genötigt, Auf Predigt Und manches verzicht't, Audi im Kranze Keine Lanze Für Steudel mehr bricht; Da man ihn ferner Trotz Justin Kerner Als Dichter begrüßt, Und, obgleich Dichter, Er doch die Lichter Für die Haushaltung gießt; Da er dir endlich Unendlich Viel Gutes erweist, Wie er noch gestern Seine Schwestern Mit Zimtstern gespeist: So sollt* ich schließen Aus allem diesen — Doch ist's gescheiter, 18 19 20 21 22 23 24

Werke I 255 f. ebda. 212. ebda. 213. ebda. 255, 345 ff., 350 ff. ebda. 196. ebda. 328 ff., vgl. auch Vogellied, ebda. 212 und Anm. zu 329 (449). Zum Geburtstag 1843, Werke I 330 f.

sie schmollt,

30

Die geistigen

Grundlagen

des

Ich sag' nicht weiter U n d mach' ohne Zirkel Einen schönen

Spiels

25

.

Jede Kleinigkeit wird in Scherzversen besungen und jedes Geschenklein mit Versen begleitet. Wie Mallarmd schreibt er auf ein Ei — wobei man sich fragt, wie die achtzehn Verse des Gedichts darauf Platz gehabt haben —, 2e auf eine Versteinerung, 27 auf seine Blumentöpfe und Trinkschalen. 28 Gurkenrezepte, Salatsamen, sogar Stecknadeln werden besungen, 29 Kochrezepte und Quittungen 30 versifiziert. Das kleinste Ereignis, etwa daß er aus Ärger über seine Fanny, die nicht Klavier spielen will, einen Spiegel zerbricht 31 oder daß ihn Schnaken bei der KlopstockLektüre stören, 32 bekommt ein Gedicht. Diese Verspieltheit ist so völlig kindlich,, daß sie auch nicht vor derben Spaßen wie N u n , an welchem Paragraphen Sind w i r neulich eingeschlafen? — — Horch'! w a s scholl? Donnert's wohl??" — „Fritz sitzt auf dem H a f e n " — — , 3 3

und vor parodistischen Verballhornungen bekannter Gedichte Uhlands „Mohn" („Scherz" 34 ), Goethes „Schäfers Klagelied" Klagelied" 35 ) oder die „Wandelnde Glocke"

zurückscheut. („Lammwirts

Es war ein Kind, das w o l l t e nie Zur Putzscher sich bequemen, U n d alle Tage fands ein Wie D e n W e g zum Markt zu nehmen.

Doch w e h e ! wehe! hinterher D i e Putzscher kommt gewackelt. 3 '

müssen zur Schilderung pfarr- und wirtshäuslicher Begebenheiten herhalten. Keines andern deutschen Dichters Werk quillt in einen solchen Reichtum von Augenblicksscherzen über; darüber halben sich schon Mörikes Freunde, besonders F. Th. Vischer, geärgert, die mehr ernsten Fleiß von einem solchen Talent erwarteten und somit die eigentliche Quelle von Mörikes Spiel und Dichtung nicht 25

ebda. 254 f. Auf ein Ei geschrieben, ebda. 220 f. 27 Einer Freundin auf eine Versteinerung geschrieben, ebda. 308. 28 ebda. 320 ff. 29 ebda. 348 f. 30 Frankfurter Brenten, ebda. 275 f.; Quittung ebda. 308 f. 31 D e r Spiegel an seinen Besitzer, ebda. 346. 32 Waldplage, ebda. 168 ff. 33 D i e sechs oder sieben Weisen im Unterland, ebda. 298 f . 34 ebda. 261. 35 ebda. 209 f. 36 Eduard Mörikes Haushaltungsbuch hg. v. Bezirksheimatmuseum Mergentheim o. J., Faksimile 29. 26

Das dämonische Spiel

31

erlkannten. Es ist leicht gesagt, diese Gelegenheitsgedichte seien neben der „großen Dichtung" unbedeutende Scherze; so kann man nur sprechen, wenn man M ö r i k e aus dem engen Blickwinkel der heutigen Dichtung sieht. H i n t e r Mörikes Gelegenheitspoesie steckt m e h r : in ihr glänzt wohl zum letztenmal etwas von

einer

versunkenen W e l t der Dichtung auf, von der W e l t des R o k o k o mit ihrer tänzelnden und scherzenden Gelegenheitspoesie. 3 6 " Zu diesem gesellschaftlich-geselligen Element gesellt sich ein Wesenszug Mörikes, der für uns wichtig ist: sein „unvergleichliches T a l e n t humoristischer

Mimik".37

D i e großartige G a b e zur Menschendarstellung l ä ß t ihn das T h e a t e r so leidenschaftlich lieben, d a ß er von sich sagt, er könne „noch zum Wilhelm w e r d e n " , 3 8 und einmal sogar als Hofmarschall K a l b bei einer

Meister

Theatertruppe

einspringt, w o r a u f die Sage geht, der V i k a r ziehe mit einer wandernden Schauspielertruppe umher. 3 9 V o r allem aber erschafft sich Mörike

Phantasiefiguren,

mit denen er zeit seines Lebens seine Bekannten mystifiziert und seine Freunde unterhält. I m m e r wieder erzählt er in den Briefen, d a ß er bei dieser oder jener Gelegenheit K o m ö d i e gespielt habe. D i e Figuren, die er v o r den Augen seiner Zuschauer entstehen läßt, sind bis auf iganz wenige Ausnahmen bürgerliche O r i ginale, Karikaturen kauziger Zeitgenossen; manche von ihnen hat er auch gezeichnet. D a gibt es einen „ P o u r q u o i " : „ D e r K e r l k o m m t nemlich, so oft er Gründe anführen will, in ein solches Stocken mit nemlich — ä — natürlich und dergleichen, daß der Zuhörer kaum mehr zu atmen fähig ist; und dabei h a t er die Caprice, gerade immer das erklären zu wollen, was sich platterdings von selbst versteht . . . ein Mensch, der seine Gedanken nicht an den M a n n bringen kann, sich darüber verhaspelt, und in die ärgste Pein g e r ä t " . 4 0 D a n n kennen w i r einen „Bombeaga", eine Mundartparodie auf die Verwandten von Mörikes F r a u , 4 1 einen Pächter B u n z , 4 2 einen Theatercoiffeur Monsieur Qgnotet, dessen N a m e nach Zwiebelkuchen tönt und der ein französischer V e r w a n d t e r Wispels ist, 4 3 einen fingierten Kinderfreund Äderlein, 4 4 den H e r r n Krägle, den kropfigen Angestellten der Rechnungsbalance in Karlsruhe, 4 5 den groben Wüteridi Kohler, 4 ® die unerträgliche Krankenpflegerin K r a u ß , die Mörikes Schwester pflegen, 4 7 oder die 3 6 a Eine ähnliche Fülle von Gelegenheitspoesien bietet später in der französischen Literatur Stephane Mallarm^, vgl. Oeuvres completes publ. p. Henri Mondor et G. JeanAubry, Paris nrf Gallimard 1956, 7 9 ff. 3 7 D. F. Strauß, Ludwig Bauer, Ges. Schriften ed. Ed. Zeller, Bonn 1876—78, II 203. 3 8 an Luise Rau 17. 7. 1831, Briefe 291. 3 9 Maync, Mörike 141. 4 0 Ludwig Bauer, Brief vom 9. 10. 1823, zitiert nach Eduard Mörike, Liebmund Maria Wispel und seine Gesellen hg. v. Walther Eggert Windegg, Stuttgart 1919, 17 ff. 4 1 ebda. 21 f. 4 3 ebda. 19; vgl. an Margarethe von Speeth 5. 5. 1851, Briefe 6 9 9 ; Zeichnungen ed. Meyer 47. 4 3 Zeichnungen ed. Meyer 29, 56. 4 4 an Hartlaub 2 4 . 1 . 1862, Briefe 754. 4 5 Zeichnungen ed. Meyer 32, 57. 4 6 ebda. 39, 60. 4 7 Zeichnungen ed. Güntter 57.

32

Die geistigen Grundlagen des Spiels

Kaiserin Brimsille, die ihr 50 000 Gulden schenken will. 4 8 A n d e r e Figuren besitzen keinen N a m e n , nur einen kauzigen C h a r a k t e r : Mörike schmeichelt einem Freund, von dem das falsche Gerücht geht, er habe in der Lotterie gewonnen, als wohlbeleibter, sich räuspernder Bonvivant 4 9 u n d gibt sich als alle Arten von Pfarrherren, als einen, der das reine „Euangel" predigt, dh. nur den Text liest, ohne darüber zu predigen, oder als den Pater Schaffner des „Besuchs in der K a r tause", dem der K ü r a ß besser anstellt als die Kutte. 5 0 Natürlich h a t man auch f ü r die u n d jene Figur Vorbilder in Zeitgenossen gesucht und gefunden. 5 1 Doch schreibt Mörike einmal a n H a r t l a u b : „Ich las ihnen auch den Sehrmann vor und spielte endlich noch Komödie". 5 2 Zu einem großen Teil sind seine Gestalten einfach das, was er Sehrmänner nennt, 5 3 Menschen mit „Schnurrbartbewußtsein" u n d „glattgespannter Hosen Sicherheitsgefühl": „Die Tugend selber zeiget sich in Sahrheit gern", Doch nicht die affektierte Fratze, nicht allein D e n Gecken zeichnet dieses einz'ge Wort, vielmehr, Was sich mit Selbstgefälligkeit Bedeutung gibt, Amtliches Air, vornehm ablehnende Manier, Dies und nodi manches andere begreifet es. 54

Eines dieser Geschöpfe spielerischer Phantasie, der abgerundetste und durchgearbeitetste aller Sehrmänner, ist Liebmund Maria Wispel, der Dichter der „Sommersprossen". Er ist die Figur, die zur „großen" Dichtung Mörikes hinüberleitet; er ist der Schlüssel zum innersten Wesen v o n Mörikes Kindlichkeit. Wispel stammt aus Mörikes Jugend, er ist ein Geschöpf der Welt von O r p l i d in jener „ziemlich weitverbreiteten See mit lieblichen, duftigen Inseln", welche die Kinder „vom schönsten P u r p u r brennend rot erleuchtet" im Astloch des Knaben N o h e n sehen. Wispel ist mit Orplid untrennbar verknüpft. Das spüren wir schon aus den Briefen der Freunde, so wenn Bauer an H a r t l a u b schreibt: „Was meinst D u , wenn wir erst den dritten M a n n bei uns haben? wenn wir in Ernsbach oder Wermutshausen das Zelt von O r p l i d aufschlagen u n d die W e r k stätte des Uchruckers und die Bude des Professors eröffnen?" 5 5 Mag sein, daß in Wispel die Erinnerung Mörikes a n ein Ludwigsburger Original, einen Perückenmacher Fribolin, weiterlebt, den Kerner als einen „ganz dürren, schlanken, langgezogenen Menschen in einem enganliegenden, weißen, gestrickten Wämschen, an welches zugleich auch die langen weißen Beinkleider samt den 48

ebda 54. an Hartlaub 2 1 . 8 . 1 8 2 6 , Briefe 67 ff. 50 an Hartlaub 2 4 . 1 . 1 8 6 2 , Briefe 754, vgl. W e r k e l 177 ff.: Besuch in der Kartause. 51 zum Präzeptor Ziborius vgl. Werke I Anm. zu 214 (442). Sehrmänner: Zeichnungen ed. Meyer 24, 42, 55, 62; Maync, Mörike Anm. zu 340 (577). 52 an Hartlaub 29. 12. 1842, Briefe 559. 63 An Longus, Werke I 164 ff. Der Ausdruck Sehrmann stammt nicht von Mörike, vgl. ebda. Anm. zu 164 V. 27 (436 f.). 54 ebda. 165. 55 Bauer an Hartlaub 4. 4.1829, zitiert nach Wispel ed. Eggert Windegg 23. 49

Das dämonische Spiel Strümpfen

angestrickt w a r e n "

33

schildert, 5 6 wie M a y n c

meint;57

zu

wirklichem

Leben ist Wispel erst in Tübingen und nur zusammen mit seinem Genossen, dem Budidrucker, gespielt v o n Mörikes Freund L u d w i g Amandus Bauer, gekommen. Ü b e r die „Freimaurerloge", über das geheimnisvolle „Brunnenstübchen, von dem am T a g e

künstlich

verdunkelten

und kerzenerleuchteten

Gartenhause,

wo

er

[ M ö r i k e ] mit seinen E r w ä h l t e n in Shakespeare lese, oder von Orplid, der S t a d t der Götter, sich unterrede", von dem „nur wunderliche Sagen im V o l k e gingen", wie D a v i d Friedrich S t r a u ß erzählt, 5 8 ist hier nur das nötigste zu berichten: 5 0 O r p l i d ist alles, was Jugend sein kann, Freundschafts- und Geheimbund, Poesie einer eigenen mythischen Welt, Zauberwort f ü r alle T r ä u m e der Ferne. O r p l i d bedeutet aber auch Jugendpossen und Jugendscherze, B o g e n - und Pistolenschießen, T r i n k e n und Raudien, bedeutet auch Wispel und den Buchdrucker. Wispel ist „ein verwahrloster Mensch von schwächlicher Gestalt und k r ä n k lichem Aussehen, eine spindeldürre Schneiderfigur",

aber stutzerhaft

und von affektiertem Betragen.® 0 S o tritt er in Larkens*

gekleidet

phantasmagorischem

Zwischenspiel v o m letzten K ö n i g von O r p l i d zusammen mit seinem

Freund,

einem groben, versoffenen Buchdrucker, auf.®1 D i e beiden Gesellen halten mit dem geheimnisvollen Buch aus dem Tempel N i d r u - H a d d i n das Schicksal Ulmons, des letzten Königs von Orplid, in den H ä n d e n . K o l l m e r , der Richter von

Eine,

k a n n es jedoch den „schmutzigen und unwissenden Burschen" 6 2 leicht abnehmen. I n der eigentlichen Wispelszene warten die beiden auf K o l l m e r und träumen v o m Erlös aus dem V e r k a u f des Buchs, den keiner mit dem andern teilen möchte. 6 3 D e r Buchdrucker ist betrunken und grob, Wispel immer geschäftig und unruhig, von einer Affektion, die auch nodi dem größten Elend seine vornehme

Seite

abgewinnt. D e r Buchdrucker schwäbelt („Das ischt j a eine w a h r e Schweinerei!") und flucht; Wispel hüpft von Fremdwort zu Fremdwort, er rangiert, embelliert, transiliert usw.; er h a t keine H a a r e , sondern Kapillen, die e r sich mangels P o m a d e mit Schmalz bestreicht, der tolpatschige Buchdrucker ahmt ihn darin auf seine Weise nach. Wispel .hat nicht nur eine geläufige Zunge,

sondern

auch

einen

geläufigen Verstand voll Unsinn und Gedankenschrullen. Sein Freund h ä l t dem nur die Faust als Ausdruck seines Geistes entgegen. D i e Szene endet mit der Enttäuschung, d a ß K o l l m e r nicht persönlich erscheint. D e r Budidrucker bindet Wispel fest, um sich allein dem Auspacken des Profits in F o r m von Mehl, H o n i g und einem goldenen Kettlein zu widmen. Wispel „fängt an, mit dem Saft seines Mundes künstliche Blasen nach der A r t der Seifenblasen zu bilden. D e r Buch5 6 Bilderbuch aus meiner Knabenzeit, Stle. poet. Werke ed. Josef Gaismaier, Leipzig o. J., IV 222. 5 7 Maync, Mörike 23. 8 8 D. F. Strauß aaO 203. 5 9 vgl. etwa Werner Zemp, Mörike, Elemente und Anfänge, Frauenfeld Leipzig 1939, 58 ff. 6 0 Werke II 21 f. 6 1 7. Szene, Werke II 127 f. 6 2 2. Szene, ebda. 111. 6 3 8. Szene, ebda. 128 ff.

34

Die geistigen Grundlagen

des Spiels

drucker sieht ihm eine Zeitlang durch das Schlüsselloch zu. Endlich schläft Wispel ein." 6 4 D i e heitere Seifenblase der Szene löst sich auf. Mörike ist es bei dieser Fassung nicht recht wohl, schreibt er doch an einen Jugendfreund: „Die Wispelszenen des Orplidstücks hab ich ohnedem revidiert und alles weggestrichen, was allzuderb aussehen könnte. W o f e m Du's aber sonst im Mindesten nicht passend hieltest, unterblieb' es natürlich." 6 5 Freilich weicht dann die zweite Fassung in der Sammlung „Iris" (1839) kaum von der ersten ab, wohl weil der Dichter auf die geplante Widmung an die Prinzessin Marie von Württemberg verzichtet hat. In der dritten Fassung des „Letzten Königs von O r p l i d " , des „Schattenspiels", wie es nun heißt, ist die Wispelszene völlig umgearbeitet und straffer aufgebaut.6® Die beiden Figuren sind nun professionelle Schatzgräber, was den Fund des Buchs erklären soll. Gumprecht, der Branntweinzapf, wie Mörike jetzt den Buchdrucker nennt, flucht zwar noch und streicht in seiner Tolpatschigkeit zu viel Schmalz auf die Haare, aber er schlägt nicht mehr drein, sondern antwortet auf Wispels Theorien mit „Guet". Wispels Affektiertheit ist stark eingedämmt. Die Wispelszene ist kein Dorfschwank mehr, sondern der märchenhaften Südseeszenerie der Insel angeglichen. In Erwartung des jetzt exotischen Lohnes (Schildkröten, Kokosnüsse, Ananas und Gazellenfelle) phantasiert Wispel — er hat sich schon in der ersten Fassung als Professor ausgegeben — über das Schulwesen, er möchte ein „Gymnase, ein C o l ^ g e " gründen und als Professor „employiert" werden. Wispel wird Professor Sicher6 und hält seine ersten Vorlesungen. Seine neue Liebessehnsucht nach den Töchtern Anselmos, der Kollmer ersetzt, unterstreicht er mit einer „Serenade". Das Speichelblasen ist gestrichen. Zweifellos hat diese Umformung trotz des durchdachteren Aufbaus, trotz der neuen Professorenhaftigkeit Wispels und trotz der Serenade viel vom Reiz der ersten Fassung verloren. Wispel oder Professor S i c h e l — beide sind ein und dieselbe Person — ist auch in Mörikes Leben von allen kaiuzigen Geschöpfen des Dichters das wichtigste. So berichtet er 1824 an Mutter und Luise von der Rückreise nach Tübingen: „Nachher lief ich einen Berg hinauf, hinter den Rädern her und spielte im Ton des vagierenden, imaginären Herrn Professor Sicherer auf ein übriges Plätzchen in der Schäse an," 6 7 oder er schreibt an Johannes Mährlein in Wispels Sprache: „Noch hatte ich in das Bilderpäckchen erst ein und den andern schüchternen Blick geworfen und ihn sogleich wieder (wie der Professor Sicherer sagen würde) mit fröstelnder Ahnung zurückgezogen." 68 Ein andermal erzählt Sichere, er habe an einem Mann gerochen, der einmal an einer indischen Blume und zwar an einer szenische Anmerkung, ebda. 134. an Hermann Hardegg 17. 2. 1839, Unveröffentlichte Briefe hg. v . Friedrich Seebaß, Stuttgart 1941, N r . 66, S. 95. 6 6 jetzt 4. Szene, Eduard Mörike, Maler Nohen, Vierte Auflage, Dritter Abdruck der Neubearbeitung [hg. v. Julius Klaiber], Stuttgart 1893 (im folgenden zitiert als „KlaiberAusgabe") I 177 ff. 6 1 an Mutter und Schwester Luise 6. 2 . 1 8 2 4 , Unveröffentlichte Briefe N r . 10, S. 11. e s an Johannes Mährlein 1 4 . 3 . 1 8 2 8 , Briefe 107. 64

65

Das dämonische

Spiel

35

Aloe gerochen habe. 69 Einen Hermann Kurz zieht Mörike gleich zu Beginn der Freundschaft in dieses Spiel hinein; wie Kurz einmal seinen Schreibtisch und sein ganzes Zimmer verwüstet findet, hat er zuerst den Buchdrucker als Übeltäter im Verdacht: „Aber wie kam der Buchdrucker hieher, wenige Tage nachdem er mir einen excellenten Brief geschrieben hatte, wozu er sich offenbar Ihrer Feder bediente und für dessen Besorgung ich Ihnen meinen gefühltesten Dank zu sagen habe? Überdies, wenn das Papier von ihm herrührt, so mußte .bei einer der beiden Strophen, die eine kritische Exegese allerdings, ohne sich zu blamiren ihm zuschreiben könnte, Wispel Mitarbeiter gewesen sein." 70 In Mörikes Briefwechsel mit den Hartlaubs würde Wispel etwa bei der Geburt von Hartlaubs erstem Sohn „zur Revanche und einiger Dämpfung elterlichen Stolzes nur ganz im Gegenteil hartnäckig nur von der ,lieben Kleinen', Hildegardis oder Edeltrudis reden." 71 Wispel hat Mörikes Schneider und Türmer in Mergentheim besucht, der ihm aus einem gestohlenen Stück grünen Bettvorhangs ein neues Fräcklein anfertigen soll.72 Im Alter gedenkt der Dichter wehmütig Bauers als des Buchdruckers, wie er den Maximiliansorden bekommt: „Denke dir den seligen Bauer als Buchdrucker, wenn er mich seinen Bruder, in diesem Augenblicke vor diesem Hofmann hätte stehen sehen, um einen Orden in Empfang zu nehmen — mich! wie boshaft er hinter dem Ofen in seine Faust ,gekränkelt' hätte!" 7 3 Natürlich hat Mörike Wispel in seiner ganzen Geckenhaftigkeit und Frechheit, mit Stöckchen, Fräckchen und H u t auch gezeichnet.74 Für Bauer und Hartlaub sind zwei der drei eigentlichen Wispeliaden außerhalb des Nohen geschrieben. Von der dritten, der zeitlich ersten, kennen wir den Empfänger nicht. D a ß es ebenfalls Bauer oder Hartlaub war, scheint unwahrscheinlich. Die Einleitung ist für jemanden berechnet, der Wispel noch nicht kennt. Datiert ist dieses Schreiben Wispels „den 4. Streichmonds 26"; falls das Datum stimmt, wäre es also 1826 geschrieben, sei es in Tübingen, worauf die Klagen über die Einsamkeit Wispels in Orplid hindeuten könnten, da Bauer 1825 das Stift verließ, oder in Oberboihingen, Mörikes erster Vikariatsstation, was man aus der Ortsangabe „Oxawittle" als einem Spiel mit ßoihingen — bos-oxa herauslesen möchte, oder schließlich in Möhringen. Der Brief ist offensichtlich mit Anspielungen auf dem Empfänger bekannte Orte, Begebenheiten usw. gespickt, vielleicht auf Tübinger Stiftsdinge: Oxawittle, den 4. Streidimonds 26. Verehrtester Herr und Gönner! Ich nehme mir die Frechheit, Ihnen ein Sendschreiben anzuwidmen. Mein Bruder hat mir gesagt, Sie haben hierher-geäußert, daß Sie meine Individual-Bekanntschafl zu machen wünschten. Sie kennen meine Leidenschaft für Wissen, Schönes und 69

an Hartlaub 20./25. 3. 1826, Briefe 65. Kurz an Mörike 16. 12.1837, Briefwechsel zwischen Hermann Kurz und Eduard Mörike hg. v. Jakob Baechthold, Stuttgart 1885, Nr. 16, S. 52 ff. 71 an Wilhelm und Konstanze Hartlaub 9 . 7 . 1 8 4 5 , Briefe 597. 72 an Hartlaub 29. 6. 1846, Briefe ausgewählt und hg. v. Karl Fischer und Rudolf Krauß, Berlin 1903, II 127. 73 an Wilhelm und Konstanze Hartlaub 10. 12. 1862, Briefe 759. 71 Zeichnungen ed. Güntter Abb. 38; Zeichnungen ed. Meyer 28. 70

36

Die geistigen Grundlagen

des

Spiels

Literaturverzweigung — so kennen Sie die Hälfte meines Ichs. Ich-Nichtich sagt schon Ficht. Indessen je länger ich auf diesem vergessenen Eiland, wo nicht die geringsten Literatur-Hebel existieren, fuße, je mehr sage ich, sich dieser Aufenthalt — in Ermangelung gehöriger Abfahrt-Navigation — verlängert, desto mehr verkürzt sich, um ein Wortspiel zu gebrauchen, mein Wirkungskreis. Das einzige, was ich hier seit 1 Jahr habe tun können, sind einige wenige Novizen über die hier vorkommenden Schwirrvögel oder Insekten; ich habe in der Gegend des Wartturmes, im LöfTelgrund, eine Klasse Wanzen entdeckt, die einen viel schärferen Geruch hat als die deutsche Bettwanze, sie nistet hinter alten Baumrinden und möchte füglich die Lauerwanze genannt werden. Außerdem einige Mutmaßungen über Geschichte der Vor-Menschheit. Hierzu waren mir die Sagen, welche unter dem Volke hier umlaufen, ohne Interesse, da ich ihren Ursprung zu wenig kenne und durchaus gründlich sein mödite. Der Boden dieser Insel ist auch durchaus nicht klassisch, man findet nicht eine Statue, nicht eine. Ich muß jetzt abbrechen: es ist zehn morgens, wo ich mich gewöhnlich im Freien zu rasieren pflege. Fortgefahren nachmittags 12 Uhr. Ich bin sehr beschäftigt, eine warme Quelle hier zu entdecken, um zum Behuf des Rasements, immer sogleich warmes Wasser zur Hand zu haben. 75 Aus Hartlaubs N a d i l a ß stammt die zweite Wispeliade, ein Reiseerlebnis des Professors und des Buchdruckers, das Mörike berichtet worden sein soll. 7 · Der Professor will mit dem Buchdrucker unter Zuhilfenahme eines „Flächendeuters", das heißt einer Landkarte, nach Aalen reisen, um eine käufliche Druckerei zu besichtigen. Unterwegs werden sie von einem H e r r n belauscht, als der Professor dem Buchdrucker den Inhalt seines ersten Werkes auseinandersetzt, zu dem er schon drei bis vier Vorreden im K o p f hat, denn „die Prolegominen sind die Hauptsache, vielleicht geb' ich sie auch einzeln heraus." „,Ein Werk aber wird Aufsehen, Revolte veranlassen, das ist mein Sturz Linees. Du kennst diesen Naturalisten, diesen Schwärmer. Sein System ist sinnlos. Es gibt nichts Kapriziöseres als seine Einteilung der Pflanzen- und Bestial-Welt. Man kann ihn einen trocknen Verstandes-Schwärmer nennen, einen Sophisten. Ich habe 302 Sophimata bei sei'm System aufgezählt.' Buchdr.: ,Mnja.' Prof.: ,Meine Gegenbehauptungen werden stark, sie werden kühn sein, aber umso gewisser werden sie siegen. Man wird sie am Ende natürlich finden, man wird Linee'n einen Pedantiker nennen: Was konnte ihn ζ. B. verleiten, die Rubrik der Säugetiere so einzuschränken: Ist etwa die Bremse, der Blutegel nicht so gut ein Säugetier als der Elephas helfenbeiniensis etc.? Wie? übersah Herr Linee denn gänzlich den Saugrüssel dieser Geschöpfe? Er muß wahrhaftig noch keine Biene in der Nähe betrachtet haben. Wie weise ist doch vom Schöpfer alles eingerichtet! und das sollte Herrn L. entgangen sein? Ferner wie engherzig ist bei ihm die Rubrik .Insekten'! Was will er denn? Ich werde den Satz aufstellen, daß alles Geflügel, was unter der Größe einer Schnepfe ist, zu den Insekten zu rechnen sei. Mit 8 Worten ist dies bewiesen. Ferner: Warum rechnet Herr L. die Fische nicht zu den Mollusken? gibt es kätschigeres Fleisch als das der Schwimmtiere? Der Walfisch ist der größte Mollusk. Überhaupt aber was will eine Einteilung der Werke des Allvaters besagen vonseiten eines endlichen Verstandswesens? Wie kann er sagen, dies ist ein Ungeheuer, jenes ein Infusionstier? In den Sehnerven Allvaters rinnt das Volumen eines Nilpferdes zu einer Banmeise zusammen. So ist der Mammut eigentlich nur die größte Infusion.' 75 76

Werke II 497 f. ebda. 449 ff.

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Budidr.: ,Mnjä.' Prof.: ,Weil aber doch einmal klassifiziert sein will, so Idi werde namentlich die bisherige Ordnung der Planeten, umstoßen. Ebenso das Gestein-Reich. Ich werde zeigen, daß es Männgen und Weibgen gibt. Auch sie begatten sich.' etc. Hier wurde der Buchdrucker aufmerksam, und es entspann ich nicht erzählen mag . .

will Ich klassifizieren. Blumen oder Floskeln audi unter den Steinen sich ein Gespräch, das

A m Abend stellt sich dann heraus, daß der Flächendeuter doch nidit den rechten Weg gewiesen hat, und der Professor erhält v o m Buchdrucker im „Privet" eine tüchtige Tracht Prügel. D i e zoologische Systematisierung nach neuen N o r m e n kennen wir auch aus einem andern „Versuch" Mörikes: 1840 teilt er die Menagerie in Tierklassen ein, in „1. stinkende und zugleich singende, 2. rein singende, 3. rein stinkende, 4. solche, die weder stinken noch singen, unter welche letzte der Joli und die Katze zu kommen sich schmeicheln". 78 N e u ist jedoch an dem Bericht die Sprache des Professors. D e r umständliche Ausdruck und die Fremdwörter w i e Prolegon^nen und negotiieren sind zwar dieselben geblieben; aber jetzt verändert Wispel-Sicheri auch die Aussprache der Wörter. D i e Ameisen werden zu „Banmeisen", der Buchdrucker zum „Uchrucker", der in der „Ruckerei ruckt". A n scheinend ist das anlautende Α zu offen und direkt, „Ban"-meisen lassen sich eher lispeln; w o das Β dann wirklich hingehört, wird es als zu banal gestrichen. D a s fehlende D ist wohl dem Mangel an Zähnen zuzuschreiben, der im Orplidspiel ausdrücklich erwähnt wird. 7 9 Mörikes Wispelei greift nun also auch auf den Sprachkörper über. D i e schönste Wispeliade hat Mörike Ludwig Bauer sprossen / v o n / Liebmund Maria Wispel / Bel-Esprit / Creglingen / zu haben bey dem Verf. / 1837. / Mit Mörike zu diesen Gedichten gekommen ist, erzählt er

geschenkt: die „SommerLettre de cachet &c &c / einem Stahlstich". 80 Wie Hartlaub:

„Nun gleich etwas Neues. Du warst kaum weg und ich lag auf dem Bette, so klopfte es an und Herr Professor Sichere tritt herein. Die Freude war natürlich auf beiden Seiten groß. Nachdem er mir mit dem bekannten Blinzeln und jenem Zwinkeln des ganzen Gesichts verschiedene ganz undenkbare .Plänchen zur Suffulzierung seiner Pekuniar-Subsistenz' mit größter Unklarheit in der beliebten desultorischen Manier entwickelt, wies er mir ein Gedicht von nicht ganz einem Dutzend Versen und wünschte, daß ich ihm einen Verleger hier [in Mergentheim] .ausfündig' mache. Dies Markelsheim — es würde gar zu gut auf dem Titelblatt als Druckort lauten, wenn er nicht etwa doch noch vorzöge Marienthal [Irrenanstalt] zu setzen. Ich bat ihn, dieses vorderhand noch dahingestellt sein zu lassen und wenigstens noch ein Studier zwölf oder vierzehn Lyriken zu verfassen, indem ein einziges doch gar zu dürftig wäre. Er wollte dieses nicht sogleich begreifen, jedoch versprach er's mir zulieb. Indessen bat ich ihn, jenen Erstling für Dich, als einen Hauptkenner, ins reine zu schreiben, was denn audi gleich mit großen Vorbereitungen in Rücksicht 17

ebda. 450 f. an Wilhelm Hartlaub 13. 10.1840, Briefe 501. 79 Werke II 129. 80 Faksimileausgabe der Sommersprossen: Wispel ed. Eggert Windegg 65 ff.; Text audi Werke II 431 ff. 78

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Die geistigen Grundlagen des Spiels auf die Feststellung des Tisches, Anschärfung des Gänserichs, Atramental-Mixtur usw. geschah (wobei er fragte, ob ich es rouge oder noir verlange). Beim Weggehen bat er mich um 12 Kreuzer; er wolle in des Adlerwirts Garten ein ,Boem' konskribieren, wozu er sich jedoch mit etwas Hopfenmälzling aufreizen müsse. Er werde dort die Nacht zubringen. Licht führe er stets in der Tasdie, ingleichen Papier und dergleichen. Heut früh nun kommt er wieder und bringt richtig ein Gedicht ,An Goethe'. Es fängt an: Du hast mich keiner Antiwort gewürdigt? Wohl, weil mein Geist sidi kühn dir ebenbürtigt, Deshalb, du Sprödling, willst du mir mißgönnen, Dich Freund zu nennen? Hab ich dir meine Framse 81 nicht gebaichnet? Die zärtste Neigung zart dadurch bezeichnet? usf. Allmählich wird er ganz malitiös und höhnisch, macht Goethes Gesamtwerke herunter, beruft sich auf Pustkuchen usw., spricht von Gemeinheit und Frivolität. Da kommen Stellen vor wie folgende: H a ! ließest du dich schmälings von der scharfen Kritik entlarven! Und Enfin, so sind gesamtlich deine Verse Nur güldne Ärse. Doch ich darf nicht fortfahren. Kurz, unverschämt, was man nur sagen kann! Wir schieden übrigens als gute Freunde. Heute früh ist er nach Creglingen, nach welcher Stadt er schon seit frühster Jugend eine wahre Sehnsucht hatte, des bloßen Namens wegen. In Cleversulzbach hofft er deine persönliche Bekanntschaft zu machen." 82

D i e „Sommersprossen" selbst sind „S r Wohlgebohrn Herrn Prof. Ludwig v. (Luigi de) Bauer zum X V t e n Weinmondes M D C C C X X X V I I gebaichnet vom Verfasser.", sie sind also ein köstliches Geburtstagsgeschenk zum 15. Oktober 1837, ein Heftchen in hellblauem, biegsamem Glanzkarton mit feinem weißem Schreibpapier 83 , v o n Mörike aufs sorgfältigste mit allen erdenklichen kalligraphischen Künsten ausgestattet, mit Schnörkeln und verschiedenen Schriftarten — Antiqua und Fraktur wechseln oft innerhalb eines Worts — und mit einer nidit ganz ausgeführten Illustration zur Ballade „Der Straefling": Wispel in gelbem Frack und grünen Nankinghosen wird nach der Legende vom Portier aus dem Zwiebelbeet gejagt. Schon im Vorwort schlägt Mörikes spielerische Laune über die Grenzen der Sprache hinaus: Bevorwortendes „Factürusne opera pretium sim — — — nec satis scio, nec, si sciam, dicere ausim" — so beginnt der große Tite-Live seine meisterhafte Geschichte des Römischen Stuhls, und ähnliche Gefühle der Bescheidenheit beseelten mich bei Auszwarkung dieser Poemen. Allein die Stimme zerschiedener Kenner und Mäzenaten, welche meiner poetischen Arterie einen, wohl nidit ganz fehl greifenden, Beifall zugeflüstert, (ich nenne hier statt aller Andern blos Se. Hochwürden, Herrn Dom Dediant Hart81 82 83

nach der Anmerkung Mörikes „Die Bremse", ein Gedicht. Brief an Hartlaub 14. 9. 1837, Briefe ed. Fisdier-Krauß I 262 f. Werke II 504.

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laub in W.) ermuthigte midi endlidi zu dieser literärbezüglichen Entreprise. Unschwer würde es gewesen seyn, die Banzahl der hier präsentirten Piecen auf das Dreifache zu steigern, doch eben jener Kenner und Patron bemerkte, daß Gedichte, zumal Lyriken von gegenwärtigem Genre, wenn sie en masse antreten, nachgerade äkelhafl zu werden pflegen. Lange Vorreden sind die Sache eines, auch nur halbwegs, bedeutenden Schriftstellers nicht; es wäre daher lächerlich und abstrakt, ein Wort weiter hinzuzufügen. Alles Übrige ist in der Nachschrift angeschiftet. W. 8 4

Wir erkennen Wispel an seinen Fremdwörtern wieder, daran, wie er die poetische Ader zur poetischen Arterie macht oder von einer literärbezüglichen Entreprise spricht, an seiner großartigen Unwissenheit, mit der er anerkennend Tite-Live's meisterhafte Gesdiichte des Römischen Stuhls erwähnt. Auch hier vermeidet er den harten A - A n l a u t u n d f o r m t die Anzahl zur Banzahl um. Es sei d a r a n erinnert, d a ß diese Anlautvariation die G r u n d l a g e der meisten kindlichen Auszählreime bildet. Aber sonst ist Wispel reifer geworden u n d hat sich eine eigene Sprache angeschafft. Deren Sinn ist z w a r noch zu durchschauen, aber nicht mehr direkt aus dem W o r t zu verstehen, bis m a n erkennt, d a ß hier der Schwabe mit den Wörtern seiner M u n d a r t spielt. Die Poeme sind „ausgezwarkt", was nach dem schwäbischen „Zwerge" wohl so viel wie „mit gewaltiger Anstrengung herausgearbeitet" bedeutet, mit dem wortspielerischen U n t e r t o n von „ungeschickt gearbeitet". 8 5 Im letzten Satz sagt der Schwabe „anschifte" f ü r anfügen. 8 6 D a ß es „zerschiedene" Kenner gibt u n d die Lyriken — der Strich über dem I wird die Länge angeben — an- u n d nicht auftreten, ist jedoch völlig eigene Sprache. Daneben schimmert in diesem V o r w o r t eine persönliche Anspielung durch: Wispel selbst h ä t t e sich gewiß nicht an die Warnung des Kenners und Patrons H a r t l a u b gehalten, d a ß „Lyriken v o n gegenwärtigem Genre, wenn sie en masse antreten, nachgerade äkelhaft zu werden pflegen''. Die Freunde haben wohl Mörikes Wispeliaden einen Riegel gestoßen; anscheinend ist ihnen Wispel allmählich auf die N e r v e n gefallen. Wispels Sammlung besteht aus zwölf Gedichten in allen möglichen Tonarten, Balladen, Stachelreimen und H o r a z - O d e n , galanter u n d eigentlicher Gedankenlyrik. Das Avertissement am Schluß verspricht weitere „Nachgeburten", der Ankündigung nach zum Teil Parodien, etwa „An die katholische Religion [Petrinism] Im v o n Hardenberg'sdhen Styl", „Umarbeitung des v. Schillerschen ,Laurette am Flügel' (Ich beginne: ,Wenn dein Finger durch den Stahl-Darm geistert')" oder „Sonett. U n t e r heftigen Schmerzen, als ich in einem Gehölze bei Zwerenberg lag und zu sterben meinte" als Parodie auf Körners „Abschied vom Leben. Als ich schwer verwundet und hilflos in einem Gehölze lag u n d zu sterben meinte", Horaztravestien: „An den Krammets-Vogel, (würde, in flakkischer Weise, etwa anfangen: ,Du, Philomelens glücklichster Sang-Rival' etc.)", aber auch ein d i d a k tisches Gedicht „Bei Betrachtung des Glanz-Gaifers der Gartenschnecke (cochl. hört. Lin.)". 84 85 86

Wispel ed. Eggert Windegg 70 f. Hermann Fischer, Schwäbisches Wörterbuch, Tübingen 1904—36, V I . l 1442 f. ebda. I 252.

40 Doch nun Balladiere":

Die geistigen Grundlagen des Spiels zu

den

Gedichten

selbst.

Sie

beginnen

mit

einer

„Elegischen

Der Straefling Elegische Balladiere. Im Kerker zu Stouttgart gedichtet d.3. Ap. 1837. In des Zwingers Mißgerüchen Fröstelnd sitz' ich da; Weil man mich der königlichen Zwiebeln dräuen sah. Denn ich wähnt', es war nicht übel. Wenn wir unserem Aquavit Statt gemeiner Zähren-Zwiebel Zärtern Schmälzling theilten mit. Und ich schlich zum Herrscher-Garten, Wo der Silberstölzling schwimmt, Wo die Afrikanen schnarrten Und die Tulpe flimmt. ,Ihre Knolle auszuzwarken, Hilf, ο Küpris, mir! Niemand wird mir dieß verargen, Niemand lauschet hier!' Und schon bohrt' ich auf die Neige Und schon gab sie nach, Als aus nahem Lust-Gezweige Still ein Bosmann brach. Und ich trat mit meinem Zweke Floskelnhaft hervor, Doch der goldbordirte Reke Wismet' mir kein Ohr. — — Wie nothwendig Junge brechen Aus dem HühnerEi, So folgt jeglichem Verbrechen Stets die Polizei. In des Zwingers Mißgerüchen Fröstelnd siz' ich da, Weil man mich der königlichen Zwiebeln dräuen sah.87 Niemand wird nach diesem ersten Werkdien bezweifeln, daß Wispel ein Dichter ist, sind doch F o r m und Inhalt miteinander verschmolzen, wie es die Literaturkritik verlangt,

die Wiederholung

der ersten Strophe am Schluß rundet die

Ballade ab. J a , auch poetische Sprache ist Wispel nicht abzusprechen, er sagt dräuen statt drohen und nennt die Zwiebel alliterierend „Zähren-Zwiebel" oder „Schmälzling", weil er damit seine Suppe schmelzen kann. Diese Substantive auf 8 7 Wispel ed. Eggert Windegg 74 ff.; eine etwas andere Fassung von „Prof. Sichert" bei Krauß, Mörike als Gelegenheitsdichter 162 ff.

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-ling haben es ihm ohnehin angetan, neben dem Silberstölzling für den Schwan haben wir schon den Hopfenmälzling, das Bier, angetroffen. Das Gebüsch wird zum Lust-Gezweig, aus dem der Bosmann, ein böser Mann also, eine Parallele zum Sehrmann, als goldbordierter Recke hervorbricht. Dem Bild von der flimmenden Tulpe ist ebenfalls eine gewisse Sprachgewalt nicht abzusprechen, selbst wenn es der Reimzwang herbeigerufen hätte. Die Kraft des Scherzes liegt einmal vor allem darin, daß es sich um einen Zwiebeldiebstahl handelt, das Thema folglich der bilderreichen und oft abstrakten Sprache nicht ganz angemessen ist, dann natürlich in den Bildern selbst, die in der zweitletzten Strophe in logischen Unsinn umschlagen. Selbst wo blasseste Bilder miteinander kombiniert werden, erreicht Wispel unerhörte Wirkungen: „Und ich trat mit meinem Zweke / Floskelnhaft hervor". Daneben werden natürlich Wortscherze wie „auszwarken" eingefloditen. Anmerkungen und Anmerkungen zu den Anmerkungen zerspielen das Gedicht noch weiter. So wird die zweite Strophe mit der Fußnote ergänzt: Audi mein Kochwerk auszubessern Pröblings wollt idi's thun Diesen Wissenszweig zu größern Kann mein Geist nicht ruhn,

worauf zum ersten Vers nochmals beigefügt wird: „Der Verf. beabsichtigte die Herausgabe eines Kochbuchs mit baichenen Ideen, welches sein Bruder drucken wollte." Aber auch andere Ergänzungen, etwa, daß Aquavit ein „Euphemism, pour Wasser-Soupe" und Reke „Altteutsch pour Portier" sei, spinnen den Scherz aus. Das nächste Gedicht „An die Schönen des Katherinen Stifts in Stuttgart", zwei Vierzeiler, in denen Wispel statt des Katheders „ein eigenes GeschichtsTheater arrangiren" will, ist auf Bauer gemünzt, der 1835-1838, also zur Zeit der „Sommersprossen", dort Lehrer war. „Der Antrag ging jedoch nicht durch und die wichtigsten Fächer werden durch Fuscher und suspendirte Pfarrer besezt". Die Ironie des Schicksals wollte es, daß auch Mörike 1851 dort in größter N o t eine Anstellung fand. Abgesehen davon, daß Wispel die Wißbegier durch ein kräftigeres Wiß-Gier ersetzt, fallen die Verse nicht aus dem Rahmen eines einfachen Scherzgedichts, ebenso könnte das übernächste „An eine Weinende" gut in den „Musenklängen aus Deutschlands Leierkasten" stehen, besonders mit den beiden Schlüssen zur Auswahl: Dann in unserm Liebesgarten Wollen wir ein Kind erwarten, Das der Stordi, wenn's ihm gelingt, Einst aus Edens Teiche bringt. (Oder, falls Lezteres zu kühn, beliebe man:) Nimm, ο Liebliche, einstweilen Diese zartentworfnen Zeilen Und, als Mittel, diesen Kuß Wider deinen Zährenfluß.88 88

Wispel ed. Eggert Windegg 80 f.

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Diese Verse reihen sich völlig in die gesellschaftlichen Scherzpoesien des beginnenden 19. Jahrhunderts ein. Vor ihnen steht jedoch der „Sarkasme" „An meinen Bruder den Uchrucker": Du Mich mit Perl-Sdirift drucken? Nein! Ich bin die Perle und du bist das Schwein, 8 "

in dem sich Grobheit mit einer paradoxen Assoziation verbindet (Perl-Schrift — Perle — Perlen vor die Schweine werfen), wie wir sie aus Scherzen des zwanzigsten Jahrhunderts bei Morgenstern usw. kennen. Das fünfte Gedicht „La Jalousie" verspottet Ludwig I. von Bayern, den „guten König und mäßigen Dichter": Ich ging an Louis von Bayerns Schloß vorbey D a wispert' man ihm zu, daß ich es sei: Von Baiern eilt an's Fenster, midi zu sehn, Doch nur verstohlen wollt' er nadi mir spähn; Ich merkt' es wohl und lächelt' vor mich hin: ,Ein Dichter sieht sehr oft aus Jalousien J a manchmal gar aus präditgen Basiliken Mit Basilisken-Augen nach sich blicken!' 90

Nur der Wortwitz mit Jalousie als Eifersucht und Fensterladen und seine unsinnige Fortsetzung Basiliken-Basilisken sind ganz wispelisch. Der Scherz von der Eifersucht Ludwigs auf seine Dichterkollegen war weit verbreitet; Gotthelf schrieb nicht viel später: „Und endlich muß idi noch melden, daß mein Kolleg, der Ludi in Bayern, der auch Bücher schreibt, schalus über mich geworden ist und meine ,Armennot' verboten hat. Mache er nur, was er kann, deswegen verbiete ich ihm seine Bücher nicht, bin nicht schalus über ihn, er wird deswegen seinen Büchern um nichts besser abkommen, der arme Ludi!"®1 Es mußte Wispel reizen, einmal wie Mörike Horaz zu übersetzen, und er wählt dafür ausgerechnet „Vides, ut alta s t e t . . (Chansons, Livre 1, od. 9)". Daß dabei nur Verdrehungen, Mißverständnisse, kurz Unsinn herauskommen kann, ist klar. Zur Theologie der Zeit mußte er ebenfalls Stellung nehmen. Im „Sarkasme wider den Pietism" verrät er das Rezept eines „wonne-schmerzlich Reu- und BußTränkleins", eines Extrait d'evangile aus dem in Branntwein eingeweichten „Evangilen-Buch", und in „Meine BAnsicht" wettert er gegen die StraußenEier von D. F. Strauß, den er freilich nicht gelesen hat, „weil der Preis zu diffizil", der aber die Unsterblichkeit „auch sogar in Würtemberg" zerstören will, und gegen dessen Drucker Oslander, dem auch der Druck des christlichen Taschenbuchs „Christoterpe" nicht helfen kann: Strauß und Oslander Müssen beide sterb', Einer wie der Ander, Trotz der Christoterp'! ebda. ebda. 82 f. 9 1 Neuer Berner Kalender für das J a h r 1843; Stle. Werke in 24 Bden. ed. Hunziker und Bioesch, Erlenbach-Zürich 1921 ff., X X I I I 364. 89

eo

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Glaubt nur, daß die Hölle drüben Euch mit gleichem Recht verschluckt, Denn der Eine hat's geschrieben, U n d der Andere hats gedruckt! 9 2

„Idi habe schon so mandie Prosa von verkappten Wispels über midi zu lesen gehabt und freue midi nun auch vom wahren Wispel Poesie zu bekommen", schreibt Strauß darüber an Mörike. 9 3 Aber nicht nur Strauß betrachtet Wispel als Sehrmann, auch Goethe muß dem eifersüchtigen und schadenfreudigen „Dichterfreund" herhalten: Sarkasme An v. Göthe D u hast mich keiner AntiWort gewürdigt, Wohl weil mein Geist sidi kühn dir ebenbürtigt? Deßwegen, Sprödling! willst du mir mißgönnen Dich Freund zu nennen? H a ! eitler Stolz! Man sah dich von der scharfen Kritik Bustkuchens schon vorlängst entlarven; D a zeigte sichs, daß alle deine Verse N u r güldne Ärse! 9 4

Pustkuchen, der polemische Fortsetzer des „Wilhelm Meister", hat Goethe entlarvt. Sind die Ärse nur ein Reimspiel zu Verse und stehen für Ähren? Bedeuten sie A . . . im Sinne des den Ähren entgegengesetzten Teils der Garbe, 9 5 oder ist etwas weit Schlimmeres gemeint, etwa nach dem Sprichwort „Ein schöner A . . . gibt schön Gestalt, und schön Gestalt hat groß G e w a l t " ? 8 6 Alle Varianten sind Wispel zuzutrauen, die Vieldeutigkeit mag beabsichtigt sein. Die zuletzt erwähnten Wispelgedichte scheiden sich von ähnlichen Scherzen aller Zeiten nur in den unlogischen Gedankenverbindungen und in der Sprache; diese beiden Elemente geben ihnen einen persönlichen Reiz. Von allen Seiten dringt Wispels Sprache auf uns ein, in den schon bekannten Bildungen Banzahl, Bansicht, baigen, wismen, Sprödling, in der schwäbischen Aufweichung des Ρ zu Bandeist, Bustkudien, in schwäbischen Ausdrücken wie „ausfündig" oder „besdimitzen" ( = beschmeißen, audi in „Turmhahn"), in orthographischen Fehlern wie W a r i ante, Reimvergewaltigungen wie „sterb': Christoterp'", aber auch in neuen schwierigen Bildern, so „wie Spießglas zwitzern", was soviel heißt wie „wie Antimon glitzern".® 7 E r dichtet, wie er spricht, also „Evangilen" usw., und streckt einzelne Wörter „etymologisch", wie Antwort zu „AntiWort". Formen wie „du w i l l t " hat er sicher von Mörike gelernt; andere Bildungen seines Sprachgeistes können wir dagegen nicht durchschauen. Warum sagt er „Framse" für Bremse? Einzelne Wispel ed. Eggert Windegg 92 f. H a r r y Maync, David Friedrich Strauß und Eduard Mörike (mit zwölf ungedruckten Briefen), Deutsche Rundschau Band 115 (29. Jg. 1 9 0 2 / 0 3 ) 9 4 ff., Zitat 105 (8. 2. 1838). 9 4 Wispel ed. Eggert Windegg 92 f. 9 5 Schwab. W b . I 328 d. 9 6 K . F. W . Wander, Deutsches Sprichwörterlexikon, Leipzig 1 8 6 7 — 8 0 , I 146 N r . 19. 9 7 Spießglas: Schwab. W b . V 1530; zwitzere: ebda. V I . l 1474. 92

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W ö r t e r geben direkt Rätsel a u f : „ Auslaichnen" bis auf den letzten T r o p f e n scheint mit süddeutsch „Iedine" z u s a m m e n z u h ä n g e n , das aber n u r als ausgetrocknet sein o d e r werden v e r w e n d e t w i r d , 6 8 doch liebt Wispel den k ü h n e n Neugebrauch v o n W ö r t e r n . W i e er in der A n m e r k u n g z u m „Straefling" analog zu jählings ein „pröblings" bildet, so k a n n sein Geist sich im S a r k a s m e a n G o e t h e „ k ü h n ebenb ü r t i g e n " . D a steckt im kleinen das schöpferische Sprachspiel dahinter, das M ö r i k e auch sonst liebt, w e n n er die sonnigen S e h r m ä n n e r „ S o m m e r w e s t e n " n e n n t u n d eine d a v o n als lebendige S o n n e n u h r h e r u m l a u f e n l ä ß t " o d e r aus der Febris Scarlatina, dem Scharlach, eine Fee Briskarl'atina bildet. 1 0 0 Die spielerischsten, k ü h n s t e n u n d zugleich vollendetsten Gedichte der „Sommersprossen" sind die drei letzten, die „Serenade" u n d „ Z w o Ältere G e dichte". F ü r die „Serenade" h a t das M ö r i k e selbst e m p f u n d e n , sonst h ä t t e er sie gewiß nicht, umgearbeitet, in die letzte Fassung der wispelischen O r p l i d s z e n e a u f genommen : Engelgleidi in ihrem Daunenbette, Halb entschlummert, liegt das süße Kind, Während, ach, an frost'ger Stätte Vor dem eisernen Stakete Liebmunds Instrument beginnt. Lächelnd hört sie, wie der Arme, Voll von seinem Liebesharme, Ihr auf dem Fünffingerdarme Eine Serenade bringt. Es ist kalt — (Dies wird pizzicato mit der Guitarre begleitet.) Mondlicht wallt. Siehst Du Liebmunds wandelnde Gestalt?101 D i e Fassung in den „Sommersprossen"dagegen l a u t e t : Serenade zu Tübingen, als ich noch PrivatDocent, in dem strengen Winter 1829/30 einer Dienenden dargebracht Musique von Bornschein (Con tenerezza) Eingehüllt in ihre Daunen Feder Ruht, entkleidet, schon das süße Kind, Als mit Eins vor dem fenetre Liebmund's Instrument beginnt; Und es rührt sie, daß der Arme Noch in seinem LiebesHarme Ihr auf dem Fünf-FingerDarme Eine Serenade bringt. 98

ebda. IV 1082. An meinen Vetter, Werke I 203 f.; An denselben, ebda. 204 f.; auch gezeichnet: Manfred Koschlig, Mörike in seiner Welt, Stuttgart 1954, 133. 100 Der Schatz. 101 Klaiber-Ausgabe I 184. 99

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(Piccicato) MondLicht wallt; Es ist kalt. Siehst du Liebmunds wandelnde Gestalt??10®

Zweifellos muß man der ursprünglicheren, weniger geglätteten, aber wispelisdieren Fassung den Vorzug geben. Uberraschend ist nicht nur der spielerische Fluß des Ganzen, das Fehlen jeglichen Spiels mit dem gegebenen Sprachstoff und die so modern-kabarettistisch klingende Benennung der Gitarre als Fünf-FingerDarm, sondern vor allem der Pizzicato-Schluß. Das Pizzicato hat eine vollendete Form in Worten gefunden, wie sie sonst kaum anzutreffen ist. In diesem Gedicht ist das Spiel vollendete Lyrik geworden. Es wächst über die Grenzen der Sprache hinaus, wenigstens über die Grenzen jenes Wortverständnisses, das die Worte des Pizzicatos nur als ein komisches Anhängsel nehmen kann. Die letzten Worttöne entfernen sich weit von der Gestalt Wispels. Ganz klein steht dieser irgendwo auf der Erde, in völliger Einsamkeit, umflossen von der Kälte der Winternacht. Er wird zum Symbol der Verlorenheit des Menschen und verkörpert zugleich Mörikes eigenes Schicksal. Seine Serenade verklingt in die Einsamkeit der Dichtung und des Dichters, in das Zupfen einer Gitarre, die in einer leeren und kalten Welt widertönt wie ein rührend schönes und zugleich wehmütigschauerliches Echo. Alles endet in zwei Fragezeichen. Die Serenade läßt uns in den Sommersprossen zum erstenmal eine tiefere Bedeutung der Wispelfigur ahnen. Anders, äußerlicher streift das erste der „Zwo Älteren Gedichte" die Grenzen der Sprache: Der

Kehlkopf

Der Kehlkopf, der im hohlen Born Als Weidensdinuppe uns ergözt, Dem kam man endlich auf das Trom, Und hat ihn säuberlich zerbäzt; Man kam von hinten angestiegen, Drauf ward er vorne ausgezwiegen. 10 *

Die schwäbischen und andern sprachlichen Eigenarten Wispels lassen sich relativ leicht übersetzen, sodaß das Gedicht ungefähr sagt: Der Kehlkopf, der im hohlen Baum104 als Weidenschnuppe uns ergötzt, dem kam man endlich auf die Spur 105 und hat ihn säuberlich zerquetscht. 106 Man kam von hinten angestiegen. Drauf ward er vorne ausgezweigt (gepfropft) oder abgezwickt. 107 Sehr viel weiter sind wir allerdings damit nicht gekommen, der Sinn bleibt rätselhaft: die Sprache versagt als Mitteilung. Die Verbindung des Kehlkopfs mit einem Baum ist so außerordentlich seltsam, daß man unwillkürlich a n einen Bosch'schen Nachtmahr oder an ein 102

Wispel ed. Eggert Windegg 94 f. ebda. 96 f. 104 Bom: Schwab. Wb. I 710. 105 Trom: ebda. II 422. 106 zerbäzt: D W b I 1160 (batzen); J. A. Schneller, Bayer. Wb., 2. Aufl. München 1872—77, I 314 (bätzen). 107 zweigen: Sdiwäb. Wb. V I . l 1431, evtl. aber zwicken. 103

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modernes surrealistisches Gemälde denkt. Ist Mörike der erste Surrealist oder soll das Gedicht andeuten, daß Wispel geisteskrank ist? Sicher nicht. Der ganze Scherz besteht zwar in der Unverständlichkeit der Kombination; aber Bauer muß gewußt haben, worum es hier geht. Gewisse Andeutungen gibt schon das Gedicht: anscheinend spricht Wispel von einem hohlen Baum und zwar von einer Weide. Die häufigste hohle Weide ist sicher die Kopfweide, die dadurch entsteht, d a ß man die jungen Stämme köpft. Das abgestutzte Ende wird durch das später immer wiederholte Abschneiden der besenförmigen Krone kopfförmig und durch die Wunden dringen Wasser und Pilzsporen ein, die den Stamm allmählich aushöhlen. Den Auswuchs einer solchen Kehlkopf zu nennen, liegt wispelischer Phantasie nicht fern, ebensowenig, das Ereignis der Abzwickung oder P f r o p f u n g dieses Auswuchses zu besingen. Auf einen Auswuchs deutet auch das Wort Weidenschnuppe als schwäbische Abwandlung von Weidenschuppe. 108 Schuppen nennt man die kapuzenförmigen Umhüllungen der Weidenknospen, die an älteren Bäumen ziemlich dick und rund werden können. Wir müssen uns nur noch dazu denken, daß Bauer die Weide, die gemeint ist, kennt. — Es ist ein „älteres" Gedicht und kann so auf die Tübinger Zeit anspielen. — So wird die Erklärung plötzlich überraschend einfach: jener Auswuchs der hohlen Kopfweide, der wie ein Kehlkopf aussieht, der als eine zu groß geratene Schuppe uns ergötzte, auf den wurde man aufmerksam. Man hat ihn entfernt (zerquetscht), indem man von hinten (vom hohlen Innern des Baumes aus?) ihn nach außen herausbrach oder ihn pfropfte. Vollkommen ist natürlich diese Deutung nicht, doch hat sie viel Wahrscheinlichkeit f ü r sich. Damit ist aber dem Gedicht der irreale Reiz nicht genommen. Der Anlaß dazu ist zwar durchaus keine irreale Kombination, kein sich überschlagendes Phantasiespiel vom Kehlkopf, der in einem hohlen Baum sitzt, wie bei Morgenstern ein Knie einsam durch die Welt geht. Es ist also sicher falsch, daß Mörike Morgenstern vorwegnehme, wie Maync meint und alle ihm nachschreiben; 109 aber die irreale Wirkung bleibt trotzdem, weil uns hier private Spiele zu Rätseln werden, eine Privatsprache unter Freunden uns nicht mehr verständlich ist und so über die Grenzen der allgemeinen Sprache hinausgeht. Der Witz und die Irrealität ergeben sich daraus, daß mit der Wahl der Worte im einzelnen der Eindruck eines unzusammenhängenden Zusammenhangs erweckt wird, obwohl sich dahinter ein wirklicher Zusammenhang verbirgt. Der Sinn wird zum Unsinn verspielt, während in Morgensterns Galgenliedern aus dem Unsinn der Kombination ein neuer Sinn erwächst. Man kann das Gedicht jedoch auch anders deuten. Der Kehlkopf könnte auch ein „Kielkopf", ein Wechselbalg, 110 sein, das „zerbäzen" könnte nicht das seltene Wort f ü r zerquetschen usw., sondern eine wispelische Anlautsvariation zu zeroder verätzen bedeuten, doch das w ü r d e am Gesamtbild des Gedichts wenig ändern. Dagegen kann man den Kehlkopf auch wörtlich nehmen und den Sinn 108 109

110

Schnuppe: Schwab. Wb. V 1086. Maync, Mörike 271; Benno von Wiese, Eduard Mörike, Tübingen-Stuttgart 1950, 252. DWb V 681.

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des Übrigen auf ihn ausrichten. Dann wird das Gedicht eine Krankheitsgeschichte: der Kehlkopf im Hals (hohlen Bom) „ergötzte" uns mit einem „weidlichen" (wackern) „Schnuppen" (Schnupfen, Katarrh), bis man ihm auf die Spur kam, ihn ätzte und auskratzte. Diese Deutung ist freilich etwas unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, zumal Mörike hie und da über einen kranken Hals klagt. 111 Wo aber alles möglich ist, wo der Sinn sich verändert, je nachdem man den Kehlkopf oder den Rest des Gedichts wörtlich nimmt, sind die Grenzen der Sprache gewiß überschritten. Das zweite der beiden „ältern" Gedichte gibt uns ebenfalls Rätsel auf: Die

Streicbkröte

Die Kröte, die einst muthig stridi, H a t nun der blasse Tod ergriffen, D a ß ihr das Eingeweichse blich, Die Volz dazu war nicht geschliffen: Man rieb sie etwas mit dem Fuß, Dieweil sie sterben muß. 112

Die Streichkröte als Gattung scheint eine Phantasiebildung Mörikes zu sein, gebildet in Analogie zur schwäbischen Strichente 113 als Bezeichnung für alle Enten mit Ausnahme der Märzente, und sdiließt sich so an die Strichvögel (vgl. Finkenstrich usw.) an. D a ß diese Kröte einst mutig herumstrich, ist ein zoologisches Kuriosum, da die Erdkröten im allgemeinen Streifzüge eher meiden und in dem kleinen von ihnen beherrschten Gebiet bleiben. Doch hat diese außerordentliche Kröte ihren Mut mit dem Tod bezahlt, der blasse Tod hat sie ergriffen. Die wispelisch zu Eingeweichse verdrehten Eingeweide ver- oder erblichen ihr. Diese Art, die Eingeweide für die Angabe von Gesundheit oder Tod zu benützen, ist nicht einmal wispelisch, sondern volkstümlich. Soweit ist der Scherz verständlich. Dann folgt aber der rätselhafte Satz: „Die Volz dazu war nicht geschliffen". Nirgends ist das Wort Volz bezeugt, weder im schwäbischen, im bayrischen noch in einem andern Mundart- noch im Grimmschen Wörterbuch. 114 Wir dürfen also eine wispelische Umbildung annehmen, aber weldies Wortes? Weder der Protz — ein Wort für Kröte 115 — noch die Balz, die Warze oder die Pfotz (Pustel 116 ) ergeben einen Sinn, audi eine Ableitung von „Bolz haben" (hochmütig sein117) ist unwahrscheinlich. Die „Wulze" als ein mit der Wurzel und der daran anhaftenden Erde ausgerissener Baum oder „Wurz" f ü r Wurzel liegen schon näher; 118 die Kröte wäre dann mit einem derben Stock erschlagen worden. Noch wahrscheinlicher sind „der Watz" und „der Wetz" als Bezeichnungen für die 111 112 113 114 115 116 117 118

ζ. B. an Johannes Mährlein 5. 6.1832, Briefe ed. Seebaß 357 f. Wispel ed. Eggert Windegg 96 f. Schwab. Wb. V 1864. DWb. XII.2 737, nur Volz als Pilzart, was keinen Sinn ergibt. Schwab. Wb. I 1451. ebda. 1077. ebda. 1282. Wulze: Schwab. Wb. VI.l 970; Wurz: ebda. 1003.

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Schärfe — und vielleicht hier der Schneide — eines Messers, 119 wobei aber Wispel das W o r t weiblich gemacht haben müßte. A m nächstliegenden ist jedoch, daß Wispel Falz meint, das als Falze im Schwäbischen und auch sonst weiblich bezeugt ist. 1 2 0 Die Falze, durch welche die Kröte umgekommen ist, war nicht geschliffen. Vielleicht kennt Wispel die Falze vom Schreiner als Kante am Brett zum Anfügen 1 2 1 oder vom Gerber als Werkzeug zum Reinigen der Häute, 1 2 2 vielleicht jedodi — und das ist das wahrscheinlichste — hat er in einer alten Chronik geblättert und dort Falz als Bezeichnung des Schwertes oder seiner Klinge gelesen! Kennt er eine Stelle wie „lüter als ein spiegelglas glizzen ime [swerte] die velze", so haben wir auch die mögliche Quelle für das oben zitierte „wie Spießglas zwitzern". 1 2 3 So ergäbe sich als Sinn des Ganzen: die Kröte, die einst mutig herumstrich, hat nun der blasse T o d ergriffen. Das Schwert, durch das sie umkam, war nicht geschliffen. N u r mit dem F u ß wurde sie etwas „gerieben", d. h. sie wurde zertreten, und doch 124 mußte sie daran sterben; oder auch: sie wurde durch einen stumpfen Gegenstand getötet oder sie wurde überfahren, und Wispel berührt sie etwas mit dem Fuße, um zu sehen, ob sie noch lebe. Diese Deutung ist wie die des Kehlkopfs nicht sicher, aber einigermaßen wahrscheinlich. Auch hier wird man kein Morgensternsches Spiel mit dem Wörtlichnehmen abstrakter Begriffe oder mit Bezeichnungen, die einen uneigentlichen Sinn bekommen haben, vermuten dürfen, sondern ein kleines, durch seltene Wörter und Wortspielereien im Sinne einer Privatsprache verhülltes Erlebnis Bauers und Mörikes. Mörikes Spiel entspringt einer ganz andern Quelle als die Galgenlieder. Immerhin mag Morgenstern von Mörike Anregungen empfangen haben, sind doch motivische Übereinstimmungen vom „Horatius travestitus" über das Geschichtstheater, die Perl-Schrift (gegenüber Morgensterns Perlhuhn) bis zu den botanischen und zoologischen Spielen vorhanden. Damit stehen wir nun vor der Frage, welche Bedeutung Wispel und seine Gesellen für das Werk Mörikes besitzen und ob sich an ihnen unsere Behauptung beweisen läßt, daß in solchen Nebenwerkchen Tendenzen deutlicher werden, die im großen Werk eher verhüllt sind. Eine gewisse Auseinandersetzung mit der Gestalt Wispels zeigt sich auch in der Mörike-Literatur. Während sich Maync noch damit begnügen konnte, Wispel als „höheren Blödsinn" und Ausdruck der Begabung des Dichters für Mimik und Komik zu charakterisieren, 125 wozu im Orplidspiel noch die Rolle des shakespearischen Rüpels tritt, 1 2 8 geht Werner Zemp wesentlich tiefer, wenn er als „wispelisch" ein Stück Lebensgefühl dämoniW a t z : ebda. 5 0 6 ; W e t z : ebda. 746. Schwab. W b . II 9 3 7 ; D W b I I I 1 3 0 3 . 1 2 1 Schwab. W b . II 937. 1 2 2 ebda. 1 2 3 Virginal 4 V . 5 f., Deutsches Heldenbuch Berlin 1 8 6 6 — 7 3 , V (ed. Julius Zupitza) 1; vgl. D W b . I I I 1302 f. 1 2 4 dieweil: eigtl. während oder weil. 1 2 5 Maync, Mörike 271. 1 2 6 ebda. 2 2 0 f. 119 120

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sehen Ursprungs bei Mörike benennt, ein „Sich-verstellen-wollen und Sich-verstecken-müssen". 127 „Wispel und «ein Spiegelbruder Monsieur Sichere sind Ausgeburten einer . . . zwielichtig gebrochenen, scheinhaft-uneigentlichen PapagenoHaltung". 1 2 8 Hinter Wispel verbirgt sich nach Zemp ein „Horror vacui" 129 : „In . . . Zuständen völligen Abgelöstseins, da er sich selber gleichsam aus den Händen verlor, indes ein inmitten maskenhafter Vordergründlichkeiten halb bewußtlos agierendes, französisch wisperndes Trugbild, das später den Namen Wispel erhielt, an seiner Stelle die Führung übernahm, rührte ihn, in der Leere des Nirgendwohingehörens, wohl zufrühst jene Ur-Angst an, die nachmals den erbleichenden Helden des ,Spillner'-Fragments als Anfall kosmischer Panik wie ein Blitz heimsucht und zu Boden wirft." 130 Der „einer Art von .horror vacui' entstammende Spieltrieb ist letzten Endes eines Ursprungs mit jenem in einer moralischen Schicht als sündhaft erkannten angstvoll-amphibolischen Verhalten, das von jeher allem Eigentlichen, Eindeutigen gegenüber die Trug- oder Schutzmaske Wispels sich borgte." 131 Zemp hat als erster etwas von der Unheimlichkeit der Wispelfigur geahnt; spätere Betrachter wie Benno von Wiese oder Herbert Meyer haben diese eher wieder abgeschwächt; von Wiese zählt Wispel zum „großen Humor" Mörikes, der seine „Form der Lebensrettung" vor dem Tragischen sei, das er bis an die Grenze der Selbstzerstörung und des Wahnsinns gekannt habe. 132 „Solches Sichverkleiden ist für Mörike ein Selbstschutz seiner allzuverletzbaren Seele." 133 Immerhin bemerkt Benno von Wiese, daß der „Humor als Spiel auch wiederum etwas gefährlich Boden- und Bedingungsloses" behält. Sind Wispel und Mörikes Humor eine Flucht aus der Zeit, eine Art von Überwindung der Wirklichkeit, persönlich gefärbtes romantisches Spiel, das nichts mehr ernst nimmt, weil es jede Verwirklichung des Ideals für unbefriedigendes Blendwerk hält und sich demgegenüber eine eigene Welt außerhalb von Zeit und Raum baut, die Wirklichkeit in diese Welt hineinzieht und sie in einem tollen Tanze durcheinanderwirbelt? Kein Zeugnis spricht davon, daß Mörike mit der Welt spielt, weil sie ihn in ihrer Form nicht befriedigt; nirgends sagt er, daß er die ganze Welt als Ball in seiner Hand halten und mit ihr spielen möchte. Von etwas anderem spricht er aber: vom Zwang seines Spiels, von der Not seines Proteusgefühls. Die bekannte Stelle aus einem Brief an Waiblinger ist dafür nur ein erstes unreifes Zeugnis: „Das ist ein wunderlicher, aber schon tausendmal von mir verfluchter Zug, daß ich aus einer dunklen Besorgnis, ich möchte dem Freund oder Bekannten, den ich zum erstenmal oder auch nach langer Zeit wieder 127

Zemp aaO 9. ebda. 17. 129 ebda. 37. 130 ebda. 22. 131 ebda. 37. 132 von Wiese aaO 98 f.; Humor und Phantasie als Flucht Mörikes aus der Zeit auch bei Herbert Meyer, Eduard Mörike, Stuttgart 1950, z . B . 53; zu Mörikes „Grotesken" vgl. nun auch Lee B. Jannings, Mörike's Grotesquery: A Post-Romantic Phaenomenon, in: Journal of English and Germanic Philology 59 (1960) 600 ff. 133 v. Wiese aaO 99. 128

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sehe (der aber im ersten Fall schon von mir gehört haben muß), in einem ungünstigen Licht erscheinen, blitzschnell aus meinem eigentlichen Wesen heraustrete. Das ist schon so eingewurzelt bei mir, daß ich diese Maske fast bewußtlos annehme . . .". 134 Immer wieder fällt er aus heiterem Spiel in „hypochondrische Quälereien". 135 Wispel gratuliert den Hartlaubs zur Geburt eines Sohnes, der nächste Satz aber heißt schon: „Was midi betrifft, so werd ich mirs zur Ehre schätzen, hier meinen Namen herzuleihn, wiewohl mir manchmal schien, daß er nicht zu den glücklichsten gehöre." 13 · Umgekehrt kann der Wein eine „sonderbar melancholische Wirkung" auf ihn haben, aber fünf Minuten später treffen Freundesbriefe ein, und er fängt an sich zu drehen: „Meine Brust gor und sprudelte von tausendfachen Empfindungen, ich hätte mögen den nächsten besten — leeren Bücherschrank umarmen — und doch war Alles um mich her so tot und teilnahmslos, daß mir meine Schätze und Entzückungen ordentlich zur Last wurden." 137 Mörike sind die eigenen Entzückungen oft zur Last geworden, oft hat er auch spüren müssen, daß seine Freunde von seinen Spielen genug hatten. Für den „Boamberger" muß er Hartlaub versprechen, er solle „nicht länger als 10 Minuten zu unserer vermehrten Erheiterung . . . a n w e s e n d sein", 138 auf eine entsprechende Stelle im Vorwort zu den „Sommersprossen" haben wir bereits hingewiesen. Mörike ist wie kein zweiter ein Dichter des reinen Spiels und ringt — das scheint uns entscheidend für das Verständnis seiner Dichtung — mit der Dämonie des Spiels. Was wir im allgemeinen als die Dämonie des Spiels im kleinen kennen, als das Verfallensein des Roulette- oder Kartenspielers an sein Spiel, das geschieht an Mörike im großen. Wie ein Mensch unter dem Zwang der Ekstase stehen kann, lallend in nie gehörten Sprachen, so kann ein Mensch auch der Gewalt des reinen Spiels anheim gegeben sein, verzückt und gezwungen zugleich, hingegeben und dahingejagt von dem Zwang, die Welt als ein einziges großes, grenzenloses Spiel zu schauen; gepackt von einer dämonischen Macht, mit der Welt spielen zu müssen, ob er will oder nicht. Nicht in einem Zwiespalt von Dichtung und Welt liegt die innerste Tragik Mörikes, sondern in der Dämonie des Spiels, die ihn zwingt, mit allem zu spielen, was ihm in die Hände gerät, sei es Mensch oder Gegenstand, sei es auch das Liebste, was er zu besitzen glaubt. Was unter seinem Spiel aus den Gegenständen, was aus den Menschenschicksalen wird, steht nicht in seiner Macht, und wenn er selbst auch darob erschrickt, wenn ihm vor seinem eigenen Spiel zu grauen beginnt, er muß weiterspielen. Das Grauen vor dem eigenen Spiel, das ist jene Ur-Angst, die Zemp hinter Wispel gefunden hat. Er deutet sie als eine Angst, die Mörike mit dem Spiel überwinden will; sie ist jedoch das Grauen vor der Unheimlichkeit des eigenen Spiels. Dem diesem dämonischen Spieltrieb verfallenen Mensdien ist es völlig gleich, 134 135 136 137 138

an an an an an

Wilhelm Waiblinger nach Mitte Februar 1822, Briefe ed. Seebaß 12. Johannes Mährlein März 1825, Briefe 38. Hartlaub 9. 7. 1845, Briefe 597. Johannes Mährlein 14. 3. 1828, Briefe 107. Hartlaub 27. 5. 1874, Briefe 857.

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ob sein Gegenstand eine hödiste Empfindung menschlichen Lebens und Schicksals ist oder ob er mit Sandkörnchen oder Streichkröten spielt: im Spiel ist jeder innere und äußere Maßstab aufgehoben, eine Aufschrift auf einem Lorcher Blumentopf steht neben „Um Mitternacht", Wispel gerät neben Peregrina. Gerade diese ist ein Beispiel für die Dämonie des Spiels, für das grausame Spiel mit dem Mädchen Maria Meyer, einer unbegreiflichen und märchenhaften Schicksalsfigur. Mörike zieht sie einen Augenblick in seine Spielwelt und wirft sie wieder weg, als aus dem Spiel Ernst zu werden droht, macht sie dann aber zur herrlichsten Schöpfung dieser Spielwelt. Ganz kindlich steht noch Klara Neuffer in dieser Welt, unheimlich wirkt Mörikes Spiel mit seiner Schwester und Margaretha von Speeth, wie er da über alle Unterschiede der Konfession und des Temperaments hinübergreift und den Ernst der Ehe überspielen will. Einmal überfällt ihn jedoch blitzartig die Erkenntnis des dämonischen Ursprungs seines Spiels: er zeichnet ein Bilddien, das seine Schwester nach einer Reise mit „Kikeriki! Unsere goldene Jungfer ist wieder hie!" begrüßen soll. Doch muß das in einem Moment der höchsten Verzweiflung über den Zwang des Spiels geschehen sein, denn auf die Rückseite dieser Zeichnung schreibt er: „Ach, Wie gut ist, daß niemand weiß, D a ß ich Rumpelstilzchen heiß!" 139 Ein böser Naturdämon, das ist die wahre Gestalt der tausend Figuren des Spiels, so sieht sich Mörike in einem Augenblick, wo er in seiner Wut am liebsten den linken Fuß mit beiden Händen ergriffen und sich selbst mitten entzwei gerissen hätte, wie es das Märchen erzählt. Wie unheimlich rumpelstilzchenhaft Mörike tatsächlich sein kann, zeigt das seltsame Schreiben aus Tübingen an Franz Bauer: Lieber alter Freund, Du wirst nicht wahr, kaum noch diese Handschrift kennen. Ich sollt es dann versuchen und meine Namen nicht unter den Brief setzen, allein ich fürdite, Du verstecktest, wenn Du mein Schreiben nicht wolltest erwiedern, Deine Gleichgültigkeit hinter bloße Unwissenheit. Aber so muß es endlich — sieh, Bauer, man entfernt sich plötzlich; ich sage schnell von einander, man schreibt sich zu Anfangs — aber diese Falschheit, dann bleibts liegen und nun — Ja, Ja, und wiederher schreib ich Dir doch — ο warum, den[n] das Ewige, Ewige! sucht doch dieSündfluth der N a t u r und die Schwalbe sucht ja des andern als auch wieder sich zu erinnern, — wann auch die Leute boshafter Weise midi nie mehr wollen verstehen, als stack ich in roth Fastnachtskleidern, aber ich lache schändlich jeden aus, das glaube D u ; denn bey Deiner H a n d , wenn ich diese halte, jetzt, so wird mir wohl diese lügen urplötzlich und du hast doch nicht das Fieber — Schau so geht der Mund mir über, Gelt mein Lieber, gilt mein Lieber? Denn Du nimmer nimmst mirs niemals übel, daß ich die lange Hypostase, wie im Mondlicht eine Spinne, leise heimlich kreuzend webe, daß sie Beute sich gewinne, daß sie lebe, daß sie lebe! Alle diese armen Kinder. Ich habe midi sehr verwundert. Lebe wohl In Achtung und Liebe Dein gewisser Freund E. Mörike 140

Was soll dieser Unsinn? Schreibt da Mörike, schreibt Wispel, ist das Ernst, ekstatische Zerrissenheit oder Spiel? Manches deutet auf Spiel, besonders der in 139 140

9. 4. 1836, Zeichnungen ed. Güntter 53. Anfang Juli 1823, Unveröffentlichte Briefe N r . 6, S. 5 f.

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Verse übergehende Sdiluß; manches deutet auf Ernst, wie „Wann auch die Leute boshafter Weise mich nie mehr wollen verstehen, als stäck ich in roth Fastnachtskleidern, aber ich lache schändlich jeden aus, das glaube D u " . Falls der Nachsatz zu einem Brief an die Mutter: „ M i t Franz B a u e r hab ich einen jeweiligen Briefwechsel wieder begonnen, z w a r fürs erste auf eine sonderliche Weise durch einen Scherz, der mich zufällig ankam. Solltest D u gelegentlich ihn sehen, so erwähne dessen nicht" 1 4 1 sich auf diesen Brief bezieht, was wahrscheinlich ist, dann will Mörike ihn als Spaß verstanden haben, vielleicht aber audi das nur, weil er sich des Briefes nachträglich schämte, worauf die Bitte „ S o erwähne dessen nicht" hinweist; denn es ist ein fratzenhafter, dämonischer Rumpelstilzchenspaß, der über alle Wispeliaden hinausgeht. Doch ist Wispel selbst eine dämonische Figur. Nicht im Orplidspiel freilich, dort ist er nur der dumme D ä m o n , der nicht weiß, was für einen Schatz er mit dem Buch in den H ä n d e n hält, und der darum betrogen wird, wohl aber im R o m a n selbst. Was wir in den Wispeliaden als schönsten Ausdruck rein kindlicher, leicht skurriler Spielfreude absichtlich so ausführlich beschrieben haben, vertieft sich im „Maler N o l t e n " auf eine ungeahnte Weise. Schon als Gestalt ist diese zischelnde, unruhige, hastige Person im innersten unheimlich (der N a m e Wispel ist nicht nur ein A n k l a n g an seine süß wispernde Aussprache, „Wispel" für eine unruhige Person kennt etwa die Basler Mundart noch heute 1 4 2 ). Wispel ist eine lange, dürre Schneiderfigur, 1 4 3 sein Geschwätz geht in bedeutungsvolle Worte und pikante Streiflichter von Scharfsinn über, die Tillsen das Geheimnis eines Fehlers seiner Manier lösen. E r scheint mit einem seltsamen Kichern sich selbst und Tillsen zu verhöhnen. 1 4 4 Dies alles erweckt den Eindruck eines Menschen, „der mit seinem außerordentlichen Talente, vielleicht durch gekränkte Eitelkeit, vielleicht durch Liederlichkeit, dergestalt in Zerfall geraten war, daß zuletzt nur dieser jämmerliche Schatten übrig blieb." 1 4 5 Wispel erscheint Tillsen als bemitleidenswerter, auf Abwege geratener, zerlumpter, halbwahnsinniger Künstler, als die K a r i k a t u r eines Künstlers. D a ß er ein „Dichtel" 1 4 6 ist, beweist er in den „ Sommersprossen". Entscheidend aber ist die dämonische Rolle, in der er N o h e n s Lebensweg begleitet. Als entlaufener Diener N o h e n s führt er diesen zu Tillsen und in die Gesellschaft ein und bringt damit das Schicksal Theobalds in Bewegung. 1 4 7 Indirekt gibt er zu der entscheidenden Liebeserklärung N o h e n s an die Gräfin Konstanze in der G r o t t e Anlaß, da Nolten die Einladung dem U m s t a n d verdankt, daß in Anwesenheit des italienischen Künstlers im Lustschloß des Königs 4. 7.1823, Unveröffentliche Briefe Nr. 5, S. 5. vgl G. A. Seiler, Basler Mundart, Basel 1879, 317; Schwab. Wb. VI.l 894; DWb XIV.2 735. 143 Werke II 21. 144 ebda. 21 f. 1 4 5 ebda. 22. 1 4 8 vgl. ebda. I 310. 147 ebda. II 26. 141

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Statuen aufgestellt werden sollen. 1 4 8 Dieser Künstler ist niemand anders als Wispel. E r parodiert Nohens Leidenschaft „mit einem entsetzlichen Lachen". 1 4 9 Freilich hat es Mörike sichtlich Mühe bereitet, den jähzornigen, wild streitenden und perfekt italienisch sprechenden Bildhauer mit Wispel zu verknüpfen. Des langen und breiten wird deshalb dessen Wandlung erklärt, 1 5 0 in der zweiten Fassung des Romans dann aber doch gestrichen, der Italiener bleibt Italiener, 1 6 1 während die ersten beiden Auftritte Wispels nicht stark verändert werden. N u r der Hinweis auf Wispels Gutmütigkeit fohlt bezeichnenderweise in Nohens Schilderung der ersten Begegnung. 1 5 2 Wispels Rolle im Roman ist jedoch noch nicht zu Ende; noch einmal erscheint er an entscheidender Stelle. M i t ihm endet die Scheinidylle, in die sich Theobald und Agnes nach der Krise mit Konstanze zurückfinden. 153 Wispel will N o h e n zu Joseph dem Tischler als dem verschollenen Larkens führen; dieser entflieht und begeht Selbstmord. E r geht an seinem eigenen Spiel zugrunde, das ihn von tausend Possen mit Mörikeschen Musterkärtdien und anderm Spielplunder 1 5 4 über die Schauspielerei zur „völligen Verwandlung in ein anderes I c h " 1 5 5 geführt hat. Nohens Schicksal rollt dem Ende zu. Als Überbringer der ersten Schreckensnachricht von Larkens' Tod ist Wispel einen Augenblick lang ganz von Schmerz und Entsetzen gepeinigter Mensch, dann fällt er wieder in das alte Geschwätz zurück. 1 5 6 Nach der Entlarvung des jähzornigen Italieners erregt der „arme Verrückte" 1 3 7 bei Konstanze und beim Grafen Mitleid und Verwunderung. Verwunderung erregt er aber auch bei den Bürgern von Orplid, es hat für sie den Anschein, „als ob die Götter selbst sie [die beiden Gesellen] aus irgendeiner spaßhaften Grille ordentlich durch ein Wunder an unsern Strand geworfen". 1 5 8 Wispel ist ein Wechselbalg, ein Kind, das durch dämonische oder magische Zeugung in der Absicht geschaffen wurde, es in das Geschlecht der Menschen zum Schaden oder zur Plage einzuschmuggeln. 159 E r ist ein unruhiger und boshafter Dämon, ein Wichtel, menschenähnlich und doch nicht Mensch, sagt doch Lörmer von ihm: „Vielleicht ist euch nicht unbekannt, daß der Kerl an H ä n d ' und Füßen, besonders aber zwischen den Zehen, wirkliche Schwimmhäute hat, auch lebe ich in der festen Überzeugung, man würde aus seinen Gliedmassen lauter schmale Stäbe von 148 149 150 151 152 153 154 155 15e 157 158 159

ebda. 80. ebda. 93. ebda. 95. Klaiber-Ausgabe I 120 f., 132 f. ebda. 18 f. W e r k e i l 331 ίϊ. Klaiber-Ausgabe I 52 ff., 69. ebda. I 105. Werke II 3 4 0 f. ebda. 96. ebda. 126. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Berlin-Leipzig 1 9 2 7 — 1 9 4 1 , I X 835 ff.

(Piasdiewski).

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Fischbein statt Knochen ziehen und überhaupt die wunderbarsten Dinge bei ihm entdecken." 160 Wenn Wispel auf Orplid phantasiert: „Wenn sich einmal die Straßensteine zu einem Aufruhr gegen die stolzen Gebäude verschwören, sich zusammenrotteten, die Häuser stürzten, um selbst Häuser zu bilden?", 161 so ist das mehr als skurrile Phantasie, es ist Aufbruch der Unterwelt nach oben. Mit seinen Schwimmhäuten gehört Wispel zu der Welt der schönen Lau. Aber er ist kein großer Dämon, nur ein kleiner dienstfertiger Geist des Unheils. Er hat Nohen in die Gesellschaft eingeführt, er reißt ihn auch endgültig aus ihr heraus. D a ß am Ende des Romans, überwältigt von einem augenblicklichen Schrecken, Wispel im Gefängnis landet, 162 kann uns nidit darüber hinwegtäuschen, daß er bald wieder zu neuen Untaten frei sein wird. Das Wediselbalghafle Wispels hat Zemp unbewußt empfunden, wenn er von Larkens behauptet, daß dieser das Wispelische Element gleidisam in dritter Potenz als Mensch verkörpere. 163 Freilich ist Wispel für diese Dämonie nicht immer tragfähig genug. Noch weniger ist es sein Freund, der Buchdrucker Mürschel (seinen Namen wird er von mursch-morsch, Mürsel-Sdiimmel, 164 oder von murren haben). Dieser tolpatschige, ewig dreinsdilagende Begleiter Wispels auf Orplid, dessen Einfügung Mörike sichtlich Mühe bereitet, weshalb er ihn wenig überzeugend als das Porträt eines ehemaligen Dieners von Larkens erklärt, wird denn auch dort ersetzt, wo er als eigentlicher Dämon in das Geschehen eingreifen soll: Mürschel ist gestorben und im Büchsenmacher Lörmer wieder auferstanden, „einem aufgeweckten und, wie es sdieint, etwas verwilderten Burschen. Aus seinen kleinen schwarzen Augen blitzte die helle Spottlustigkeit, eine zu allerlei Sprüngen und Possen aufgelegte Einbildungskraft". 165 Lörmer ist dem Buchdrucker an innerer Kraft und Spradigewalt vielfältig überlegen. Wie Wispel, aber auf eine natürlichere Art, entwickelt er eine leicht schrullige Phantasie: „Es wäre nicht übel, der Mensch hätte für seinen Kopf, wenn der Docht zu lang wird, audi so eine Gattung Instrumente oder Vorrichtung am Ohr, um sich wieder einen frischen Gedankensatz zu geben. Zwar hat man mir sdion in der Schule versichert, daß seit Erfindung der Ohrfeigen in diesem Punkte nichts mehr zu wünschen übrig sei; das mag vielleicht für junge Köpfe gelten." 166 Wie der Buchdrucker ist Lörmer ein versoffener Faulenzer, ein verkommener Meister seines Fachs, der nur noch hie und da für Taglohn arbeitet. 167 Gerade seine Lustigkeit ist letztlich nur unheimlich: Lörmer ist von einer „desperaten Lustigkeit" ergriffen; zu seiner Holzbeinphantasie gehört das „entsetzliche Lachen", das Wispel als Italiener besitzen soll und das bei Lörmer zu einem „gräßlichen Lächeln" 168 wird: 160 161 162 183

Werke II 331. ebda. 131. ebda. 349 f. Zemp aaO 22.

184

Sdiwäb. Wb. IV 1824.

165

Werke II 328. ebda. 329. ebda. 330. ebda. 348.

1ββ 161 168

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Jetzt hob der Büchsenmacher sachte seinen hölzernen Fuß in die Höhe und legte ihn mitten auf den Tisdi. Dabei sagte er mit angenommenem Ernst: ,Seht, meine Herren, da drinne haust ein Wurm; es ist meine Totenuhr; hat der Bursche das Holz durchgefressen und das Bein knackt einmal, eben wenn ich zum Exempel über den Stadtgraben zu einem Schoppen Roten spaziere, so schlägt mein letztes Stündlein. Das ist nun nicht anders zu machen, Freunde. Ich denke gar häufig an meinen Stelzen, d. h. an meinen Tod, wie einem guten Christen ziemt. Es ist mein Memento mori, wie der Lateiner zu sagen pflegt. So werden einst die Würmer auch an euren fleischernen Stötzdien sich erlustigen, Prosit Mahlzeit, und euch ein seliges Ende! Aber wir gedenken bis dahin noch manchen Gang nach dem Kapuzinerkeller zu tun und beim Heimweg über manchen Stein wegzustolpern, bis das Stelzchen bricht, juhe! bricht juhe! bis das Stelzdien bricht!' 1 " Lörmer 1st der echte, der dämonische Buchdrucker, er ersetzt dessen blassen Schatten im Orplidspiel. D i e zitierte Wirtshausszene ist innere Vorbereitung zu der Szene an Larkens' Leiche. Mit furchtbarer Gewalt dringt Lörmer in das „Heiligtum des Todes" ein und verzerrt mit seiner Leichenpredigt Larkens' T o d zu einer wilden, entsetzlichen Fratze. D a ß Maync Lörmer mit „treuherziger Verlumptheit" 1 7 0 charakterisiert, ist unbegreiflich. Lörmers Schmerz über den Tod des Freundes wäre bei ihrer jungen Freundschaft nicht zu verstehen, w e n n eben in Lörmer nicht auch der ehemalige „Sandio" Larkens', also der Buchdrucker, stecken würde. D e r Buchdrucker-Büchsenmacher wächst vor der Leiche seines Freundes auf eine Art ins Übermenschliche, die Wispel trotz allem Schmerz über den T o d des Schauspielers nie erreicht. In Lörmer verschwören sich wirklich die Straßensteine gegen die stolzen Gebäude und rotten sich zusammen, um die Häuser zu stürzen: Der Mensch bot einen Anblick dar, der Ekel, Grauen und Mitleid zugleich erwecken mußte. Von Wein furchtbar erhitzt, mit stieren Augen, einen gräßlichen Zug von Lächeln um den herabhängenden Mund, so war er im Begriff, das Heiligtum des Todes zu betreten. Nolten, ganz außer sich von Schmerz und Zorn, stößt ihn zurück und reißt den Schlüssel aus der Tür, Lörmer wird wütend, der Maler braucht Gewalt und kann nicht verhüten, daß das Scheusal vor ihm niederstürzt und mit dem Kopfe am Boden aufschlägt. ,Ich bitte Sie', lallt er, indem er sich vergebens aufzurichten sucht und nicht bemerkt, daß Nolten schon verschwunden ist, um die Hausleute von dem Skandal zu benachrichtigen, ,um Gottes Barmherzigkeit willen! lassen Sie mich hinein! mich! ich bin noch allein der Mann, ihm zu helfen — Sie müssen wissen, Herr, er pflegte gelegentlich auf den Lörmer was zu halten, Herr — Sehn Sie, diese Uhr hab' ich von ihm — aber sie ist stehen geblieben — Wir standen du und du, mein guter Herr, ich und der Komödiant — Hieß er mich nicht immerdar sein liebes Vieh? hat er je einen andern so geheißen? und Hol euch der Teufel alle zusammen — Sehn muß ich ihn, da hilft kein Gott und keine Polizei — Ihr wißt den Henker zu distinguiren, ob ein Mensch in der Tat und Wahrheit k . . .iert ist oder nicht — Soll ich dir etwas im Vertrauen sagen? Da drinne liegt er munter und gesund und hat euch alle am Narrenseil. Denn das ist einer, sag' ich euch, der weiß, wie man den Mäusen pfeift. Und — aber — — wenn es je wahr wäre — (hier fing er an zu heulen) wenn er mir das Herzeleid antun wollte und aufpacken 169 170

ebda. 334 f. Maync, Mörike 219.

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und seinen Stelzer verlassen — wenn das — Jesus Maria! Auf! auf! schlagt die Tür ein! ich muß ihm noch beichten — Jagt Papst und Pfaff und Bischöff', die ganze Klerisei zum Teufel! ich will dem Komödianten beichten, trotzdem daß er ein Ketzer ist — E r muß alles wissen, was ich seit meiner Firmelung an Gott und Welt gesündigt! Auf! hört ihr nicht? Ich will die ganze Baracke in Trümmer schmeißen, ich will ein solches Jüngstes Gericht austrommeln, daß es eine Art hat! — Alter! lieber Schreiner, laß mich hinein — ' Das Schloß sprang auf, und Lörmer stürzte einige Stufen hinab in das Zimmer, wo man ihn, als die Leute kamen, bewußtlos am Fuß des Bettes liegen fand. 1 7 1

Vor Lörmers Schmerz ist der Nohens nur ein blasser Schatten. Im grauenhaften Versuch eines „Stehe auf und wandle!" ist der Dämon des Lebens selbst Gestalt geworden. Uber der Urgewalt dieses Schmerzes bricht alle irdische Ordnung, der ganze Kosmos zusammen. Der Tod des Komödianten hat dessen Spiel bis an die letzten Grenzen getrieben: Lörmer kann den Tod dessen, der weiß, wie man den Mäusen pfeift, nicht glauben. Larkens' letzte Rolle wird gespensterhaft. Ist er wirklich tot oder tut er nur so? Lörmer ist der einzige, der ihm helfen kann, und der will ein Jüngstes Gericht des Schreckens über die ganze Welt austrommeln. Aber alles ist vergeblich, bewußtlos schlägt er hin. So fließt in ihm aller Schmerz der Welt zusammen. Von Lörmer aus wird jedoch auch der Buchdrucker unheimlich, auch er ist eine Figur jenseits von Gut und Böse, selbst wenn der Durchbruch des Dämonischen erst in seinem Nachfolger geschieht. Wispel und der Buchdrucker stehen am Ende des Romans in viel größeren Zusammenhängen, als es am Anfang oder im Orplidspiel den Anschein hat; sie sind keine Nebenfiguren, sondern Teile einer gespenstischen Welt, die über Nohen hereinbricht und in der die Personen „alle Tage eine andere Gestalt" annehmen, damit der Heideläufer „nicht weiß, welches von allen die rechte ist." 172 Ihre Unheimlichkeit verstärkt sich noch, wenn Mörike der zerrütteten Agnes nicht nur diese rumpelstilzchenhaften Worte über Nohen-Larkens, sondern auch eine eigentliche Wispeliade von der je nach Jahreszeit wechselnden Aussprache „ginesisch"—„chinesisch" in den Mund legt. 173 Wenn es im Maler Nohen noch Zweifel darüber geben könnte, ob unsere Sicht Wispels als eines halb oder ganz dämonischen Wesens richtig ist, so werden sie durch das Leben, das Wispel außerhalb des Romans führt, beseitigt. Ein anderer Name für Wispel ist Professor Sicher£; so wird er immer wieder in den Briefen genannt, hie und da gar „Der Sichre". Mörikes Sicherer Mann und Wispel haben also den gleichen Namen. Das ist kein Zufall: was Wispel in der menschlichen Sphäre als kleiner Dämon mit Schwimmhäuten und Fischgräten verkörpert, ist in der Gestalt des Sicheren Mannes mythische Vision. „O mache doch auch Dein Orplidsstück, weißt Du mit dem sonderbaren Gott, der eine Art von Hanswurst der Götter ist", bittet Bauer 1826, 174 und wirklich läßt Mörike dann den göttW e r k e i l 347 f. ebda. 399 f. 1 7 3 ebda. 401. 1 7 4 an Mörike 16. 8 . 1 8 2 6 , Ludwig Bauers Schriften, Nach seinem T o d e in einer Auswahl herausgegeben von seinen Freunden, Stuttgart 1847, S. X X X V I . 171 172

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liehen Hanswurst im „Letzten König von Orplid" indirekt auftreten, wenn audi nidit in der Hauptrolle, die Bauer offenbar erwartet hat: Malwy: Als wir Silpelitt suchten, konnten wir sie gar nicht finden. Wir rannten wohl neun Elfenmeilen, darfst glauben, und stöberten in dem Schilf herum, wo sie zu sitzen pflegt, wenn sie sidi verlaufen hat. Auf einmal an dem Fels, wo das Gras aus den mauligen Löchern wächst, steht Talpe still und sagt: ,Hört ihr nicht Silpelitts Stimme? sie redet mit jemand und lacht.' Da löschten wir die Laternlein aus und liefen zu. Ach du mein! Thereile, da ist ein großer, grausam starker Mann gewesen, dem saß Silpelitt auf dem Stiefel und ließ sidi schaukeln. Er lachte auch dazu, aber mit einem so tückischen Gesicht — Talpe: Schwester, ich weiß wohl, das ist der Riese, er heißt der Sichere Mann. Thereile: Ober das verwegene, ungeratene Kind! Warte nur, du böses, duckmäuseriges Ding! Weißt du nicht, daß dieses Ungeheuer die Kinder alle umbringt? Talpe: Bewahre, er spielt nur mit ihnen, er knetet sie unter seiner Sohle auf dem Boden herum und lacht und grunzt so artig dabei und schmunzelt so gütig. Thereile (zum König): Mir tötete er einst den schönsten Elfen durch diese heillose Beschäftigung. Er ist ein wahrer Sumpf an langer Weile. Talpe (zu einem andern Kind): Gelt? ich und du, wir haben ihn einmal belauscht, wie er bis über die Brust im Brulla-Sumpf gestanden, samt den Kleidern; da sang er so laut und brummelte dazwischen: ,ich bin ein Wasservogel, ich bin die allerschönste Wassernachtigall'. Später hört man in der Ferne eine gewaltige Stimme „Trallirra-a-aa-aü-ü- / Pfuldararaddada- -! —!", 1 7 5 die Anwesenden erstrecken heftig, die Kinder hängen sich schreiend an Thereile. Sichere hat alle menschliche Gebrochenheit seines Wispel-Daseins, alle U n z u länglichkeit, Tücke und Bosheit des kleinen Dämons abgestreift und audi den Buchdrucker in sich aufgenommen. Dessen Tolpatschigkeit und Wispels Unsinnsphantasie haben sich zu einer Gestalt verbunden, die alles umfaßt, was Mörikes Spiel bedeutet. D e r Sichere Mann ist die Verkörperung der ungeheuren Kindlichkeit der Natur, w i e sie uns Chesterton in der Einleitung geschildert hat: „Sie [die N a t u r ] ist so wacklig, so grotesk, so feierlich, so glücklich wie ein Kind." D e r Sichere Mann spielt Wassernachtigall und sdiaukelt Silpelitt auf dem Stiefel. D e m Suckelborst im „Märchen v o m sidiern Mann", 1 7 6 der v o n einer steinernen Kröte — also v o n einer Riesenverwandten der Streichkröte — geboren ist, setzt sich der göttliche Lustigmacher Lolegrin auf den Stiefelabsatzrand und stellt ihm die Aufgabe, ein Buch zu schreiben und es den Toten der Unterwelt auszulegen. So reißt Suckelborst Sdieunentorflügel aus, bindet sie mit Stricken zusammen und „schreibet aus Kräften Striche so grad' und krumm, in unsagbaren Sprachen", 177 bis er zum Punktum kommt „groß wie ein Kindskopf". Wie er dem Teufel in 175 Werke II 123 f. (5. Szene); in der zweiten Fassung ändert Mörike beinahe nichts, vgl. Klaiber-Ausgabe I 173 f. 176 Werke I 65 ff.; über Vorbilder ebda. 421 f.; vgl. dazu neuerdings: Romano Guardini, Gegenwart und Geheimnis, Würzburg 1957, 65 ff. Walter Heinsius' Annahme (Mörike und die Romantik, DVjs 3 [1925] 194 ff., bes. 218 f.), daß Suckelborst Sdielling verspotte, vermag midi nicht zu überzeugen. 177 V. 189 f., W e r k e l 70 f.

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der Unterwelt den Sdiwanz ausreißt und zum Propheten wird, steigt das Spiel über alles Irdische hinaus. D i e Kindlichkeit des Sichern Mannes kündet sich als Erlösung der Welt: Aber es standen die Scharen umher von Grausen gefesselt, Ehrfurchtsvoll zum sichern Mann die Augen erhoben. Dieser hielt noch und wog den wuchtigen Schweif in den Händen, Den bisweilen ein zuckender Schmerz noch leise bewegte. Sinnend schaut' er ihn an und sprach die prophetischen Worte: ,Wie oft tut der sichere Mann dem Teufel ein Leides? Erstlich heut, wie eben geschehn, ihr saht es mit Augen; Dann ein zweites, ein drittes Mal in der Zeiten Vollendung: Dreimal rauft der sichere Mann dem Teufel den Schweif aus. Neu zwar sprosset hervor ihm derselbige, aber nicht ganz mehr; Kürzer gerät er, je um ein Dritteil, bis daß er welket. Gleichermaßen vergeht dem Bösen der Mut und die Stärke, Kindisch wird er und alt, ein Bettler von allen verachtet. Dann wird ein Festtag sein in der Unterwelt und auf der Erde; Aber der sichere Mann wird ein lieber Genösse den Göttern.' Sprach er, und jetzo legt' er den Schweif in das Buch als ein Zeichen Sorgsam, daß eben noch just der haarige Büschel heraussah, Denn er gedachte für jetzt nicht weiter zu lehren, und basta Schmettert er zu den Deckel des ungeheueren Werkes, Faßt es unter den Arm, nimmt H u t und Stock und empfiehlt sich.178 Die Kindlichkeit der Natur wird den Menschen v o m Bösen erlösen, das Spiel wird ein Genösse der Götter werden. Mörike hat gern den Sichern Mann gespielt, w i e das ein Brief Ludwig Bauers v o n 1829 erzählt: Er [Mörike] hielt Kinderlehre, und nun nahmen wir von den lieben Plattenhardtern Abschied und pilgerten mit dem Louis nach Bernhausen und von dort nach kurzem Aufenthalt Nürtingen zu. Es wurde Nacht, der Mond flimmerte am Himmel, die Abendglocken tönten, und siehe da, plötzlich erwachte der „sichere Mann", vielleicht noch herrlicher als in der glänzendsten seiner früheren Perioden. Er begann mit unmutigen Reflexionen über die Gestirne, weil er diesen nichts anhaben kann, er nannte die Sonne eine Rauthstrunsel, den Mond einen grünschissigen Blitz, einen unnaitigen Zinnteller. Sodann sang er einen Liedervers, den er einmal gehört hatte, während er das Wasser an einer Kirche abschlug, auf eine so infame, bäurisch trillernde, wasserorgelnde Weise, daß ich fast närrisch wurde. Höre nur etwas davon: „Mein Glaub ist meines Lebens Ruh Und führt midi Deinem Himmel — dui Staig von Nürtingen muß i au wieder amol woiche, dui brunz i voll, daß 's pflatscht — zu, Ο Gott, an den ich glaube — morge um neune ka i dort sei, no wurd uffgschnallt" usw. usw. 1 ' 9 178

V. 264 ff., Werke I 73. an Hartlaub 9. 10. 1829, nach Mörike, Stle. Werke-Briefe ed. Baumann und Grosse, Stuttgart 1959, III 887. 179

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Leicht gereinigt hat Mörike diese Szene direkt — sogar mit Ortsangabe 1 8 0 — in den Maler N o h e n eingebaut, nur nennt dort Theobald den Sichren „Flömer". 1 8 1 Auch hier zeigt sich, wie nahe Wispel und Suckelborst einander stehen; Suckelborst ist die mythische Form von Sicheri, das Riesenkind, das nach der „Erbaulichen Betrachtung" mit dem Weltall spielen möchte: Bis wir zuletzt an Kühnheit mit dem sichern Mann Wetteiferten, da dieser Urwelts-Göttersohn In Flößerstiefeln vom Gebirg' zum Himmel sich Verstieg und mit der breiten Hand der Sterne Heer Zusammenstrich in einen Habersack und den Mit großem Schnaufen bis zum Rand der Schöpfung trug, Den Plunder auszuschütteln vor das Weltentor. — 182

Aus dieser Kindlichkeit wachsen Mörikes schönste Dichtungen, die Schiffer- und Nixenmärchen, das Stuttgarter Hutzelmännlein, die Historie von der Schönen Lau, die ja geradezu von Kinderspielen getragen wird und in der — welch herrlicher Einfall! — der Kinderschnellsprechvers „'s leit a Klötzle Blei glei bei Blaubeura" die Erlösung vorbereitet, aber auch die großen mythischen Gestalten des Spiels, der Sichere Mann, Orplid und — Feregrina. Mörike würde diese Kindlichkeit nicht besitzen, wenn er nicht auch deren Ahgründe kennte. Vom Sichern Mann erfahren wir zwar nur einen einzigen tückischen Zug: Malwy spricht von einem Lachen mit tückischem Gesicht. Doch ist .gerade dieser Riese ein dämonischer Zerstörer. „Lauter Nichts ist sein Tun und voll törichter Grillen", 1 8 3 er ist ein „unnützer Tropf". 1 8 4 Ingrimmig knickt er Weg- und Meilenzeiger; er sinnt auf Unheil, trennt nachts die Bänder von den Flößen los und schleudert die Balken weit ins Land hinein; er lockt die Wildsau nur, um sie zu zwicken und sich an ihrem Geschrei zu weiden. Auf Orplid hat er im Spiel mit seiner Ungeschicklichkeit den schönsten Elfen getötet. Dies ist ja die ungeheure G e f a h r kindlichen Spiels, daß der Spielende aus bloßer Freude an seinem Spiel andere Wesen zerstört, so wie die von Mörike geschilderte Giftmörderin „mit herzlichem, lautem Lachen . . . aus reinem Mordbehagen den gleichgültigsten, ja sogar wohlwollendsten Personen" Mäusegift aufs Butterbrot strich, „z. B. befreundeten Kindern, die ihr zum Geburtstag gratulieren und denen sie eigentlich gut w a r " , wobei nicht eine „Spur von Wahnsinn bei ihr" ist. 185 Im Spiele andere Wesen zu zerstören, diese Tragik hat Mörike empfunden. In einem Brief über seine Spiele mit der Schwester schreibt er: „Zu guter Letzt zerriß ich 180

Werke II 203. ebda. 317. 182 Werke I 163 — Mörike hat den Sichern Mann besonders geliebt und auch selbst gezeichnet (vgl. Kurz-Mörike Briefwechsel, Brief an Kurz Nr. 15, S. 51); vor allem war er von den Illustrationen Moritz von Sdiwinds begeistert, vgl. an M. v. Schwind 5. 3. 1867, Briefe 789 ff., An Moritz von Schwind, Werke I 266. 183 V. 16, Werke I 65. 181 V. 172. 185 an F. Th. Vischer 23. 5. 1832, Briefe 354. 181

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— eben wie der Sichere — durch eine unvorsichtige Bewegung das Gespinst".18®· In seiner Ungeschicklichkeit, die immer wieder zerstört, fühlt sidi Mörike als der Sichere Mann. Hierin verbinden sich audi Wispel und der Sichere; beide sind nicht für irdische Maßstäbe geschaffen, beide sind letztlich nidit böse und nicht gut; sie gehören einer "Welt an, die sich um böse und gut, um fleißig und faul nicht kümmert, einer Welt des reinen Spiels. N u r in der Begegnung mit dem Widerstand der irdisdien Welt gegen das Spiel und in den mannigfachen Zerstörungen, die ihr Spiel anrichtet, ahnen die Spieler, daß hinter ihrem Spiel ein Dämon steht, dem sie verfallen sind. Wie sehr auch die Zeitgenossen und Freunde Mörikes die dämonische Verbindung von Sichel und Sicherm Mann empfunden haben, dafür ist schließlich auch der schon zitierte Brief von Hermann Kurz an Mörike Zeugnis, 187 wo jener die Verwüstung seines Schreibtisches Wispel und dem Buchdrucker zuschreibt und dann fortfährt: „Jetzt drangen Gerüchte zu mir, welche meinen Gedanken vollends allen H a l t nahmen und die Sache in's Mythische hinüberspielten. Bauern wollten im Walde einen Menschen, wenn man sich in diesem Falle noch des Ausdrucks bedienen darf, gesehen haben, dessen Länge eilf Ellen maß, seiner Kleidung kann sich keiner mehr erinnern, doch haben sie Alle zwei Dekorationen von ihm gesehen, die ihnen sehr aufgefallen sind: im Halstuch nämlich, dessen Farbe, da sie wahrscheinlich keine war, ihnen nicht in die Augen stach, hatte er statt der Vorstecknadel einen großen Bohrer stecken mit breiter, beweglicher Handhabe, wie ihn die Schreiner führen; statt der Uhr — ο horrible, ο horrible, most horrible! — trug er eine mäßige Schwarzwälderuhr als Taschenzwiebel. Es soll wahrhaftig scheußlich ausgesehen haben, wie die bleiernen Gewichte als Cachets ihm um die Beine schlugen . . ," 188 Am andern Tag richtet er in einem Wirtshaus Unheil an: „Das Ungethüm habe sich für einen Bengelianer ausgegeben, vom Weltuntergang gesprochen, große Sensation erregt, habe sich dann in dem dargebotenen Kornbranntwein fürchterlich betrunken, ein tausendjähriges Reich und Weibergemeinschaft proklamirt, letzte auch stante p. in Ausübung bringen wollen, aber starke Opposition gefunden; wüthend über diesen Unglauben, habe er mit dem Fuße dermaßen auf den Boden gestampft, daß dieser krachend wie ein Stück Holz entzweigesprungen und abgebrochen sei; er habe sich dies jedoch nicht kümmern lassen, sondern sei auf beiden hiedurch sehr unproportionirt gewordenen Beinen davongetrampelt." 189 Auch Kurz findet also ohne weiteres den Übergang von Wispel zum Sichern Mann; freilich steckt bei ihm viel Wispel im Sichern; mit der Schwarzwälderuhr und dem Schreinerbohrer, mit dem schwäbisch1M

an Wilhelm Waiblinger Aug. 1824, Briefe 30 f. eine weitere Erwähnung des Sichern Mannes in Brief an Friedrich Kauffmann 1. 8. 1827, Briefe 93, w o Mörike einen medizinischen Text über Affekte und Melancholie mit brummiger Sicher-Manns-Stimme vertonen möchte („immer in zwei monotonen Tönen müßte es sein"). 188 Kurz-Mörike Briefwechsel Nr. 16 S. 53. 189 ebda. 54. 187

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bengelischen Chiliasmus und der Weibergemeinschaft ist dieser mehr ein zu groß geratener Wispel oder Buchdrucker. Sichere ist nicht der einzige Dämon aus Mörikes Welt, der im Alltag und in einer mythischen Dichtung zugleich verwurzelt ist. Die mythenbildende Kraft, von der bei Mörike oft und sicher mit Recht gesprochen wird, beschränkt sich eben nicht auf das Große, auf die „Dichtung"; ihr gestaltenbildendes Spiel kennt keine Maßstäbe. Das Stuttgarter Hutzelmännlein schreibt Mörikes Schwester in seltsamen kalligraphischen und sprachlichen Schnörkeln einen pergamentenen Geburtstagsbrief, 190 oder im herrlichen Kinderbrief aus der Vakanz von 1826 taucht plötzlich Silpelitt auf, das Kind von Fee und Mensch aus Orplid: „Letzthin kommt Klara zu mir herüber mit der Magd, die mein Felleisen trägt, ich soll es aufmachen. ,Ist er drin?' Wer denn? ,Der Silpelitt' sagte sie leise. J a so! Denn meine Lüge fiel mir erst jetzt wieder ein. Ja! rief ich bedeutsam. Du wirst sogleich unter dem Boden donnern hören. Das war hinreichend, mich aus meiner Verlegenheit zu reißen, denn Klärchen eilte pfeilschnell der Magd nach." 191 Solche Dämonen in Mörikes Leben und Werk sind manchmal harmlos und gut wie Silpelitt, das Hutzelmännlein oder das Waldmeisterlein, das für Agnes Hartlaub lebendig wird; 192 manche sind jedoch beängstigend und verfolgen Mörike selbst, sind seine Gespenster. Mörikes Verhältnis zur Gespensterwelt und zu den Träumen ist der sichtbarste Ausdruck der Dämonie des Spiels. Die mythische Schau, die aus Hölderlins Kopf am Fenster den Feuerreiter und aus dem Namen Schön-Rohtraut eine Ballade formt, strahlt eine solche Kraft aus, daß wir nicht wissen, ob seine Spukgestalten nicht Fratzen sind, die er sich selbst im Scherz geformt hat und von denen er nun geängstigt wird. Mörikes Schilderungen von Träumen gleiten meist ins Spielerische hinüber. So erzählt er etwa Ernst Kurz die Traumfahrt in einer Diligence: Es saß bereits ein Herr darin, der eine Kappe mit sehr breitem Stulz und einen abgetragenen grauen Mantel trug. Die Unterhaltung war gering. Er drehte den Kopf hin und her, ganz leise schnüffelnd, als wäre Unheimliches im Wagen, welches gar von einem oder dem andern Passagiere ausgehen könnte. Man lächelte und hätte sidi beinahe beleidigt finden können. Ich überzeugte midi jedoch, daß in dieser Ängstlichkeit etwas Krankhaftes und Idiosynkrates zugrunde liegen müsse, und fing an, im Stillen ihn aufrichtig zu bedauern. Auf einmal nahm er einen herzhaften Anlauf und sagte: Verzeihen Sie, meine Herren, ich bin Korrektor und Faktor in der J. G. Cottaschen Offizin und habe diese einträgliche Stellung einer sonderbaren Eigenschaft zu danken, die mir sehr beschwerlich fällt. Sobald sich irgendwo ein Druckfehler oder dergleichen in meiner N ä h e befindet, so fühle ich es und bin dadurch aufs Unangenehmste affiziert, bis ich ihn aufgedeckt und allenfalls beseitigt habe. Haben Sie daher doch die Güte, ein wenig bei sidi nachzusehen, ob Sie nicht irgendein erratum bei sich tragen. Sie werden mich dadurch äußerst erleichtern. Auf dieses zog jeder von uns aus der Tasche, was er etwa Gedrucktes haben mochte; er nahm die Papiere in die Hand, gab sie jedoch nach einem oberflächlichen Befühlen mit dem 190 Faksimile bei "Wispel ed. Eggert Windegg 101 ff.; T e x t audi an Klara Mörike 9 . 1 2 . 1868, Briefe 843 ff. 191 an Hartlaub 20./25. 3. 1826, Briefe 50 ff., Silpelit 57 f. 192 Zeichnungen ed. Meyer 35, 58 f.; Werke I 255.

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Bedauern zurück, daß hierin der Fehler nicht enthalten sei. Nun hatte idi zufällig ein Briefkuvert Ihres Herrn Bruders mit hervor gezogen. Sogleich gerieten die Finger des Korrektors in eine zitternde Bewegung, und ich gab ihm das Papier. Er drehte es um, besah sich das Siegel und seine Gesichtszüge erheiterten sich plötzlich. Nun sehen Sie, meine Herren, da stehen über dem Amor, der einen Vogel lockt, die Worte: C'est resister en vain; es wird jedoch en vin heißen müssen . . Und Mörike fährt fort:

„Ist das nicht ein musterhafler

Traum?

Man

sollte

meinen, er wäre wachend gemacht." 1 9 8 Dieser Zweifel steigt in jedem auf, der ihn liest. Z w a r ist man Unsinn im Traum gewöhnt; aber wenn er so spielerisch und folgerichtig durchgearbeitet ist wie hier, wird man mißtrauisch. Noch mißtrauischer wird man, wenn Mörike bald darauf an Hartlaub schreibt: „Nachdem ich Dir kürzlich einen fingierten Traum geschickt . . , " 1 9 4 Der Druckfehlerriecher ist gar /.u wispelisch, und man wird den Verdacht nicht los, Mörike habe aus einer T r a u m situation einen kleinen Scherz gezogen. Audi der „wahrhafte" Traum, den er dann Hartlaub erzählt, spinnt sicher das Geträumte weiter aus: Hartlaub schickt im Stuttgarter Theater gegen den störenden Compromotionalen Treßler einen Zettel hinter die Bühne. Nicht lange darauf — es war soeben der erste Akt zu ende — steigt ein schlichtgekleideter Mann aus der Falltür hervor, sieht sich einen Augenblick unter den Zuschauern um, geht dann auf Treßler zu: ,Herr Pfarrer Treßler von Heslach (ein Dorf bei Stuttgart) — wenn ich nicht irre?' Aufzuwarten. .Vorhin war jemand da, aus Ihrem Hause: Euer Hochwürden möchten sich heimbeeilen: die Frau Pfarrerin wollen niederkommen.' Die letzten Worte des Balkentreters erstickte der Angeredete in großer Verlegenheit durch ein geflissentliches Husten, indem er zugleich seinen Hut ergriff, dem Manne dankte und von dannen flog. ,Das hätten wir einmal gut gemacht', sagtest Du mit herzlicher Selbstzufriedenheit und ich bewunderte die List. 195 Traumwirklichkeit und Spiel haben sich vermischt, ohne daß Mörike deshalb ein Vorwurf zu machen wäre. I m Grunde sind ja alle Spielfiguren des Dichters spielerische Klecksographien. Aus dem Tintenfleck bildet sich durch Falten und Drücken eine geheimnisvolle Figur, vielleicht ein Gespenst. Deshalb liebt Mörike die Kledcsographien Justinus Kerners, 1 9 8 die durchs Band weg Gespenster und Dämonen, Hades- und Höllenbilder ergeben, und gedenkt ihrer in zwei Gedichten. 1 8 7 Seine gezeichneten Träume, der Hebräischlehrer als Kamez, den er auch bedichtet hat, 1 9 8 das Gespenst des Mönchs mit dem Schlüssel 199 oder die beiden Gespenster, die voreinander erschrecken, 200 sind spielerisch. Zum Spuk des wüsten Pfarrers Rabausch im P f a r r an Ernst Kurz 1 8 . 2 . 1 8 3 8 , Briefe 445. an Hartlaub 10. 3. 1838, Briefe 447. 1 9 5 ebda. 448. 1 9 6 Klecksographien und Gedichte, Justinus Kerner, Stle. poet. Werke ed. Josef Gaismaier, Leipzig o. J., II 198 ff. 1 9 7 An Fräulein Luise von Breitschwert, Werke I 197 f.; In das Album einer Dame, ebda. 253 f. 1 9 8 Zeichnungen ed. Güntter 29; Gedicht: Werke I 224 vgl. Anm. 443. 1 9 9 Zeichnungen ed. Meyer 26. 2 0 0 Krauß, Mörike als Gelegenheitsdichter 178. 193

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haus von Cleversulzbach, dessen Geistern er für Kerners „Magikon" genau aufzeichnet,201 bemerkt er Hartlaub gegenüber ausdrücklich: „Ihr müßt aber nicht glauben, daß uns dies Zeug besonders alteriere oder beschäftige." 202 Im Gegenteil, Mörike freut sich von ganzem Herzen darüber, daß er neben allen Phantasiegestalten ein richtiges Gespenst zum Hausgenossen hat, und malt dessen sämtliche Erscheinungsformen mit breitem Behagen aus. Er sammelt neben den Petrefakten und Handschriften auch Äußerunigen „seines" Gespenstes und bedauert sichtlich, daß seine Hausgenossen bedeutend mehr Umgang mit diesem haben als er selbst. 203 Das kleinste Klopfen, der schwächste Lichtschein wird registriert und als Geistern des Rabausch gedeutet. Ob Rabausch wirklich gespenstert hat oder nicht, ist belanglos; nach dem Charakter der Aufzeichnungen gehört er auf jeden Fall zu Mörikes Welt des Spiels. Denn nicht solche äußere Spukgestalten verfolgen ihn, sondern die harmlosen heiteren Schnaken, die ihn bei der Klopstock-Lektüre stören, 204 und die quälenden Gespenster, die aus seinem Innern hervorbrechen. So liest er einmal den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe: Statt midi niederzuschlagen, hatte der Geist dieser beiden Männer eher die andere Wirkung auf mich. Gar manche Idee — das darf ich Dir wohl gestehen — erkannte ich als mein selbst erworbenes Eigentum wieder, und ich schauderte oft vor Freuden über seine Begrüßung. Zuletzt geriet meine Phantasie auf ganz fremde Abwege; ich durchlief die benachbarten Zellen des Irrenhauses und wühlte in der nächtlichen Fratzen weit ihrer Träume; auf die schöne Tagesklarheit Deines Büchleins grinsten tausend Narrengesichter, die mit ihren tiefpfiffigen Augen mich fast überredeten, die Philosophen liegen in einem entsetzlichen Irrtum, und nur sie, die Narren, wären hinter die Gardine des göttlichen Verstandes gekommen, w o man sehe und fast platze vor Lachen, wie Herr Schiller und Herr Goethe sich mit wichtigen Mienen und Bücklingen über die Vergoldung von Nüssen und des mundus in nuce unterhalten. — Ich hatte viel zu tun, um der Demonstration des herrlichen Zirkels zu entrinnen — sie riefen und pfiffen mir noch lange aus Sprachrohren nach, als ich schon wieder in dem Büchlein weiter machte. Aber endlich wars doch wieder Frieden, und ich pries mich glücklich im blauen Tage der Poesie, deren Herz man in diesem Buche in abgemessenen, langsam vorgezählten Pulsen schlagen hören kann. 205

Das sind die wirklichen Dämonen, die Mörike quälen und ihn an den Rand des Wahnsinns treiben 209 : Fratzen seiner eigenen spielenden Schöpfung wie Wispel, der zuerst das Irrenhaus Marienthal als Drudeort der Sommersprossen einsetzen will. Mörike kann seine eigenen Geschöpfe nicht mehr beherrschen. Sie brechen in alles ein, machen sich über alles lustig und kichern mit entsetzlichem Lachen über die Sehrmänner Schiller und Goethe, bis sie endlich wieder Frieden geben. Seine eigenen Figuren erheben sich gegen ihn, schlagen um sich und fressen sich wie ein 201

Werke II 464 ff. an Hartlaub ca. 19. 12. 1837, Briefe 439. 203 vgl. W e r k e l l 464 ff., Anm. 498 f.; Maync, Mörike 277 β.; an Kerner 1 . 2 . 1 8 4 1 , 2 6 . 3 . 1 8 4 1 , 2 2 . 1 2 . 1 8 4 1 , Unveröffentlichte Briefe Nr. 83, 84, 90, S. 111 ff., 125 ff.; Cleversulzbacher Briefe an Hartlaub passim. 204 Waldplage, Werke I 168 ff. 205 an Johannes Mährlein 7. 5. 1829, Briefe 136 f. 206 vgl. auch Zemp aaO 19. 202

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Geschwür in ihn hinein. 207 Das ist die eigentliche Dämonie von Mörikes Spiel, aber auch der Urgrund der mannigfachen Klagen des Dichters, daß er nicht mehr wisse, wer er sei: „Kurz, ich bin mir Du, Alles — ist mir ein Rätsel". Sieh! dann fließt mein ganzes Wesen in eine Wehmut zusammen; und es ist, als sähe ich durch meine Tränen hindurch mein eigenes Bildnis doppelt, wüßte nicht, welches das rechte ist oder das gute kurz, ich bin mir Du, Alles — ist mir ein Rätsel — glaube mir bester Hartlaub! Ich habe in solchen Augenblicken der wunderbarsten Rührung allemal ordentlich laut lachen müssen, wie man im Schwindel tut, über mein eignes Geschick als über etwas Fremdes und über etwas, was sich seit meiner Geburt sonderbar und mit einem wie durch unsichtbare Geister immer wieder sanft aufgelösten Widerspruch in mir gemischt hat. 2 0 8

So schreibt Mörike in jenem Kinderbrief an Hartlaub, der einige Zeilen vorher den herrlichen Satz „Meine Seele ist ganz voll von Kindern" enthält. Das ist nicht Bewußtseinsspaltung, nicht Doppelgängermotiv oder innerer Zwiespalt Mörikes, wie es manche Betrachter deuten, aber auch nicht „doppelte Seelentätigkeit", wie der Dichter es selbst erklärt: „Die Seele strahlt und wirkt von ihrer Nacht- oder Traumseite aus in das wahre Bewußtsein herüber, indem sie innerhalb der dunkeln Region die Anschauung von Dingen hat, die ihr sonst völlig unbekannt blieben", 209 sondern Dämonie eines Spiels, das nicht mehr weiß, ob es gespielt wird oder ob es spielt, das sich gegen seinen Schöpfer kehrt und mit ihm spielt, wo er noch selbst zu spielen glaubt. Das „neckische Spiel der Traumseele" 210 wendet sich gegen den Spieler, und dieser weiß nicht mehr, wer er ist. Garrick hört auf, „Garrick zu sein, und er ist einzig das, was er vorstellt", wie Mörike in der zweiten Fassung des Maler Nohen aus Friedrich Melchior Grimms Briefen zitiert. 210 ® Für Garridc ist es dabei gleichgültig, ob er Macbeth oder ein Kuchenbäckerjunge ist. Plötzlich kann es jedoch geschehen — so möchten wir hinzufügen —, daß der Kuchenbäckerjunge in den Macbeth hinein gerät, wie in Mörikes Begeisterung über den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe Fratzen hineinplatzen oder wie Nolten nach Larkens' Abschiedsbrief zerrissen wird: In einer ihm selbst verwundersamen, traumähnlichen Gleichgültigkeit ritt er bald langsam, bald hitzig einen einsamen Feldweg, und statt daß er, wie er einigemale versuchte, wenigstens die Punkte, worauf es ankam, hätte nach der Reihe durchdenken können, sah er sich, wie eigen! immer nur von einer monotonen lächerlichen Melodie verfolgt, womit ihm irgendein Kobold zur höchsten Unzeit neckisch in den Ohren lag. Mochte er sich Gewalt antun so viel und wie er wollte, die ärmliche Leier kehrte immer wieder und schnurrte, vom Takte des Reitens unterstützt, unbarmherzig in ihm fort, weder im Zusammenhange zu denken noch lebhaft zu empfinden war ihm gegönnt; ein unerträglicher Zustand. ,Um Gottes willen, was ist doch das?' rief er zähneknirschend, indem er seinem Pferde die Sporen heftig in die so auch Zemp a a O 71 zum „Spillner"-Fragment. an Hartlaub 2 0 . / 2 5 . 3. 1826, Briefe 60 f. 2 0 9 Werke I I 483. 2 1 0 ebda. 2 1 0 a Klaiber-Ausgabe I 142. 207

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Das dämonische

Spiel

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Seiten drückte, daß es schmerzhaft auffuhr und unaufhaltsam dahinsprengte. ,Bin idi's denn noch? Kann ich diesen Krampf nicht abschütteln, der mich so schnürt? Und was ist denn weiter? wie, darf diese Entdeckung so mich ganz vernichten? was ist mir denn verloren, seit ich alles weiß? Genau besehen — nichts, gewonnen — nichts ei ja dodi, ein Mädchen, von dem man mir schreibt, sie sei ein wahres Gotteslamm, ein Sans-pareil, ein Angelus!' Er lachte herzlich über sich selbst, er jauchzte hell auf und lachte über seine eigenen Töne, die ein ganz anderes Ich aus ihm herauszustoßen schien.211 Die Welt der selbstgeschafifenen Dämonen

ist frei und ledig geworden.

Wir

stehen am Abgrund des reinen Spiels. Mörikes Bekenntnis „Oft bin ich mir kaum bewußt",

seine sich nach

allen Seiten verströmende

Kindlichkeit

haben

uns

schönste Dichtungen geschenkt, eine Welt voll herrlichster, ins Göttliche hinübergleitender Gestalten, neue Mythen von berückendem Zauber, aber sie wecken auth in ahnungslosem Spiel die Welt der Dämonen, die Menschenschicksale zerbricht und Mörike an die Grenzen des Wahnsinns treibt. Wenn er aber erkennen muß, daß sich mit der Welt nicht einfach spielen läßt, daß die entfesselten Dämonen ein eigenes Spiel beginnen, dann läuft er „wie ein Knabe, heftig schluchzend, zur verzeihenden Mutter N a t u r hin". Es ist bedeutungsvoll, daß er in einem undatierten Gedicht des Schmerzes über den Verlust von Maria Meyer —

„Im Freien" —

zu diesem Bild greift. D a ist das neckische

Traumspiel zu Ende, der Sichere Mann hat das Spinnennetz zerrissen, das E n t setzen über das Spiel der „Schatten" bricht durch: An euch noch glaubt' idi Mich trösten zu können, Meine Sehnsucht — an euch! Ihr Lüfte, webend über den Wiesen! Und ich eilte zu euch Unter die Weiden; Aber nun wehet ihr, Und, ich sehe, das stillet mich nicht! Da ich ohne euch war, Unter dem Drude der Stadt, Mahnt's mich mit einmal an euch, Wunder — Hoffnung durchzückt' mich, Tränen der Wonne schössen vom Auge mir Bei deinem langvergessenen Namen, Ruhige, gute Natur! Und wie ein Knabe, heftig schluchzend, Zur verzeihenden Mutter hinläuft, Also lief ich entgegen euch, Und nun seid ihr mir Lüfte nur! Jetzt verläßt midi alles! Oder bin ich dir gestorben, Du unsterblicher Geist der Natur? Konnte die weibliche Pein Jener unseligen Liebe 211

Werke II 237 f.

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Die geistigen Grundlagen des Spiels Dich mir auf ewig entfremden? Und so verzweifl' ich jetzt, Weil idi mein Herzblut gab Für einen Schatten? "Wühlt durch die Locken mir, Ihr Winde! Verbirg dein Antlitz, freundlicher Himmel, Mit dieser Wolken beruhigendem Grau! Laß dichter deine großen Tropfen fallen! Rolle donnernder durch die Wölbung! Daß es mich aufregt Aus dem unerquicklichen Matten Tod! Nur daß ich fühl': idi lebe! Und seh' einen Wandel, ein Geschäft der Natur! Die tot mir lag, Mir Einsamen.

Wie die beneidenswerten Käfer und Würmchen der Erde, Die im Gewitter In ihre heimlichen Wohnungen ducken, Will ich dann audi in Meines Herzens Wohnung Zu kehren meinen, Mit gleich ahnungsvoller Freude, Als fand' idi einen Tropfen Nahrung, Einen Lebensgedanken; Dein mahnend Schauspiel schaut' ich dann, Gott, aus ruhigem Winkel, Und Kräfte brütend, saugt' ich Zu eignem Tun! Heile midi, Mutter Natur, ach, an deinem Lautschlagenden Busen! Oder gefällt es dir, ja, so sende, Send' aus den Höhen auf meine Stirn Reine Blitze, Mein Leben zu scheiden!212 Das Grauen der Leere breitet sich um den Einsamen; nur Elementargewalt, nur ein Gewitter könnte den Bann brechen und ihn in des eigenen Herzens Wohnung sich selber finden lassen. Mörike ist entblößt, das Spielzeug ist zerbrochen. Hier ist Mörike völlig er selbst, so wie er wirklich ist, er offenbart sein innerstes Wesen ohne jedes Spiel. Deshalb ist das Gedicht zwar ergreifend als Zeugnis, aber keine große Dichtung; er selbst hat es in seine Sammlung nicht aufgenommen. D e n n große Dichtung kann bei ihm erst entstehen, w o er sich wieder in seine Kindlichkeit zurückfindet, w o aus Maria Meyer Peregrina, w o aus dem Gedicht „Im Freien" der „Besuch in Uradi" wird. Aber unauslöschlich hat sich dieses Herausfallen aus der Spielwelt in ihn eingegraben: Orplid ist untergegangen, es ist Ruine, leere steinerne Stadt; es ist nur noch Vergangenheit, verlorenes Paradies. 212

ebda. I 283 ff.

Das dämonische

Spiel

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So breitet sich über alles wie ein Nebel jene wehmütig melancholische Stimmung, die von nun an über Orplid und manch anderer Dichtung liegt. Das Spiel ist vergänglich, man kann aus der Spielwelt herausfallen. Dies sehen zu müssen, ist die eigene Tragik Mörikes, die nichts mehr mit Dämonie des Spiels zu tun hat. Mörike ahnt, daß die Spielwelt vielleicht doch nicht das Letzte, daß sie nur Schatten, nur Vergänglichkeit vor einem unsagbaren Ewigen ist. Der Schatten der Vergänglichkeit senkt sich über die letzte und schönste Schöpfung seiner Spielwelt, über „Mozart auf der Reise nach Prag". In dieser Dichtung ist jedoch die Tragik nicht mehr Herausfallen aus dem Spiel in eine Welt, wo jenes nur noch ein neckisches Spiel der Traumseele bedeutet. Mörike offenbart uns die größte Dämonie des Spiels: es verzehrt den Spielenden. Der Spielende selbst geht am Spiel zugrunde, weil das reine Spiel Erfüllung ist, die im Irdischen nicht dauern kann, welcher der irdisdie Teil des Menschen nicht gewachsen ist. Im Gedicht „Im Freien" sehnt Mörike den Rausch eines Gewitters herbei, „daß es mich aufregt Aus dem unerquicklichen Matten Tod! Nur daß ich fühl': ich lebe!" Ähnlich schlägt eine Klage des kranken Mörike von 1832 in Jubel um: Ich hätte heulen können, wie ein Mädchen. D a sah ich am Fenster ein Gewitter von der Teckseite herziehen, eine Minute drauf rollte der erste Donner, und alle meine Lebensgeister fingen an, heimlich vergnüglich aufzulauschen. In unglaublicher Schnelle stand uns das Wetter überm Kopf. Breite, gewaltige Blitze, wie ich sie nie bei Tag gesehen, fielen wie Regenschauer in unsre Stube, und Schlag auf Schlag. Der alte Mozart muß in diesen Augenblicken mit dem Kapellmeister-Stäbchen unsichtbar in meinem Rücken gestanden und mir die Schulter berührt haben, denn wie der Teufel fuhr die Ouvertüre zum Titus in meiner Seele los, so unaufhaltsam, so prächtig, so durchdringend mit jenem oft wiederholten ehernen Schrei der römischen Tuba, daß sich mir beide Fäuste vor Entzücken ballten. 213

Mörike ist „besoffen". Das Gewitter führt ihn wieder in die Spielwelt, aber nun nicht in eine dämonisch verfolgende, fratzenhafte, wie sie als leiernde Melodie den Ritt Nohens begleitet, sondern in den befreienden Jubel der Welt Mozarts als in die höchste Region jeglichen schöpferischen Spiels. Denn das ist Mozart für Mörike: Spiel in höchster Reinheit und Vollendung. Mozart muß Mörike fasziniert haben, weil jener alles in sich verkörperte, was Mörike von sich selbst ahnend wünschte: höchsten Genius einer ungeheuren Kindlichkeit. Sogar im Briefstil sind sich die beiden hie und da außerordentlich nahe, etwa dort, wo der zitierte Brief an Franz Bauer plötzlich in Reimereien übergeht: „Und du hast doch nicht das Fieber — schau so geht der Mund mir über, gelt mein Lieber, gilt mein Lieber?" Das könnte auch Mozart an das „Bäsle" /geschrieben haben, für das er ein ganzes Feuerwerk von Sprachspielen abbrennt: Ich habe so viel zu thun gehabt, daß ich wohl Zeit hatte an das Bäsle zu denken, aber nicht zu schreiben, mithin habe ich es müssen lassen bleiben. Nun aber habe ich die Ehre sie zu fragen, wie sie sich befinden und sich tragen? — Ob Sie noch 213

an Johannes Mährlein 5 . 6 . 1832, Briefe 353.

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Die geistigen Grundlagen des Spiels offenes Leibs sind? — ob sie gar etwa haben den Grind? — ob sie mich noch können ein bischen leiden? — Ob Sie öfters schreiben mit einer Kreiden? Ob sie noch dann und wann an mich gedenken? Ob sie nicht zuweilen Lust haben sich aufzuhenken? ob sie etwa gar böse waren? auf mich armen Narren, ob sie nicht gutwillig wollen Fried machen, oder ich laß bei meiner Ehr einen krachen! Doch sie lachen — Victoria! — unsere Arsch sollen die Friedenszeichen sein, ich dachte wohl, daß Sie mir nicht länger wiederstehen könnten, ja ja ich bin meiner Sache gewiß, und sollt ich heut noch machen einen Schyss, obwohl ich in 14 Tagen gehe nach Paris. Wenn Sie mir also wollen antworten aus der Stadt Augsburg dorten, so schreiben sie mir bald damit ich den Brief erhalt, sonst wenn idi etwa schon bin wek, bekomm ich statt einen Brief einen Drek, — Drek! . . . 2 U

Auch die kindlichen Derbheiten finden sich ja unter dem geistlidien Gewände Mörikes: „Horch! was scholl? Donnert's wohl? — Fritz sitzt auf dem Hafen!" D a ß ein wispelisdies Drauflosschwatzen bei Mozart nicht fehlt, dürfte bestätigen, daß Wispel nicht aus einer Bewußtseinsspaltung geboren ist, sondern ganz einfach zum Spiel gehört. Wie Wispel verdreht Mozart die Wörter und erzählt in gewichtigstem Ton die größten Banalitäten: Idi muß Ihnen geschwind etwas erzehlen: ich habe heute nicht zu Hause gespeist, sondern bey einem gewissen Möns. Wendling; nun müssen Sie wissen, daß der allzeit um halb zwei ißt, er ist verheyrathet und hat audi eine Tochter, die aber immer kränklich ist. Seine Frau singt auf der zukünftigen Opera, und Er spielt die Flöte. Nun stellen Sie sich vor, wie es halb 2 Uhr war, setzten wir uns alle, bis auf die Tochter, welche im Bette blieb, zu Tisch und aßen. 218 In seinem Mozartbild runden und vereinigen sich alle Spiele, die Mörike selbst gespielt hat. Sein Mozart ist der Rokokotändler Mörike, der Mörike der Gesellschaftspoesien und kalligraphischen Schnörkel. Mozart ist Wispel, der Sichere Mann, aber nun über alle zeitliche Bindung und Beschränkung hinausgehoben. Mozart ist der Mythos des Spiels. Mozart ist Wispel. Man vergleiche nur die beiden Texte: „,Mit Erlaubnis, mein Herr — wie kommen Sie dazu, an diesem O r t auf eine solche Weise zuzugreifen?' ,Was?' rief Mozart, .zugreifen? Zum Teufel, glaubt Er denn, ich wollte stehlen und das Ding da fressen?' ,Mein Herr, ich glaube, was ich sehe. Diese Früchte sind gezählt, ich bin dafür verantwortlich. Der Baum ist vom Herrn Grafen zu einem Fest bestimmt, soeben soll er weggebracht werden. Ich lasse Sie nicht fort, ehbevor idi die Sache gemeldet und Sie mir selbst bezeugten, wie das zugegangen ist.'" 21 · „Portier: ,Des ischt a saubere Arbeit! Kreuzschwerenot! Des gfallt mer!' Prof.: ,Es ist Ihnen vielleicht selbst interessant, die hier obschwebenden scientifisdien Motive kennen zu lernen, sie lassen sich digitaliter aufzählen und ungefähr folgender Ma —' 214

Briefe Wolfgang Amadeus Mozarts, . . . hg. v. Erich H . Müller von Asow, Berlin 1942, II 338; vgl. auch ebda, alle „Bäsle 0 -Briefe II 333—345, ferner etwa I 137 f., 147, 179, 310; II 7, 19, 292, 458 oder Kanon K V N r . 561. Dazu: Irma Hoesli, Wolfgang Amadeus Mozart, Briefstil eines Musikgenies, Zürich 1948; Otto Schneider, Mozart in Wirklichkeit, Wien 1955, 347 ff. (Mozart als Gelegenheitsdiditer). ϊ15 Briefe ed. Müller von Asow II 337. 219 Werke III 229 f.

Das dämonisdie Port.:

Spiel

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,Raus aus der Rabatt! Was brauch ich dia Faxa do! Raus! sag i Do naus goht der Weg auf d'Polizei!'"

Der zweite Text ist die Lagende zur Illustration von Wispels elegischer Balladi£re „Der Straefling" in den Sommersprossen von 1837; der erste stammt aus der Mozartnovelle von 1857. Die Übereinstimmung ist kein Zufall. Wispel „dräut den königlichen Zwiebeln", Mozart den gräflichen Pomeranzen (Mörike selbst stahl 1846 in „gottesdienstlichem Gelüst" mit Hilfe seiner Schwester einen zierlichen schmiedeeisernen Fuß für seine Sanduhr aus der Kirche von Unterschlüpf 217 ) „Die Nemesis oder Der Straefling" heißt Wispels Balladiere, als Nemesis bezeichnet Mozart den Gärtner: „Mittlerweile hatten meine Hände das große Unheil angerichtet. Die Nemesis lauerte schon an der Hecke und trat jetzt hervor in Gestalt eines entsetzlichen Mannes im gallonierten blauen Rock." In der Balladiere wird erzählt: Und schon bohrt' ich auf die Neige Und schon gab sie nach, Als aus nahem Lust-Gezweige Still ein Bosmann brach. Und ich trat mit meinem Zweke Floskelnhaft hervor, Doch der goldbordirte Reke Wismet' mir kein Ohr. 218

Aber was ist aus dem gleichen Motiv auf dem Weg vom kleinen Dämon zum Genius des Spiels geworden! Während Wispel daran denkt, seinem Aquavit zärtern Schmelzling mitzuteilen und sein Kochwerk auszubessern, ist bei Mozart der Diebstahl nur ein neckisches Spiel der Traumseele mit einer lieblichen Erinnerung der Knabenzeit und einer längst verwischten musikalischen Reminiszenz. So landet er nicht im Arrestantenwinkel des gräflichen Schlosses, nicht im Kerker wie Wispel. Aus der Zwiebel wird eine Pomeranze; schon diese symbolische Wandlung zur südlichen Schönheit und Kostbarkeit läßt erkennen, wie sehr sich das Spiel von aller Wirklichkeit gelöst hat. In Mozart steckt auch der Sichere Mann. Er will mit Konstanze den „Mond und 's Mandl drin" betrachten. Im Fernrohr „soll man auf der ungeheuern Scheibe, hell und deutlich bis zum Greifen, Gebirger, Täler, Klüfte sehen und von der Seite, wo die Sonne nicht hinfällt, den Schatten, den die Berge werfen." 219 Wenigstens mit dem Fernrohr kann Mozart zur Rautstrunsel und zum unnaitige Zinnteller, zu Sonne und Mond, greifen, mit denen der Sichere vergeblich spielen wollte. Schließlich aber ist Mozart jenes Kind, das Mörike sein möchte und letztlich auch ist, das sich nach allen Seiten hin verschwendet, bald ein kostbares Riechwasser oder, wie Mozart es wispelisch nennt, einen „Götter-Riechschnaps" ausleert, bald den böhmischen Wald bewundert, sich ohne Unterschied mit Schmarotzern und Kennern herumtreibt, dann wieder phantasiert „je toller desto 217 218 219

an Hartlaub 8. 7. 1846, Briefe ed. Fisdier-Krauß II 130. Werke II 244. ebda. III 216 f.

70

Die geistigen

Grundlagen

des

Spiels

besser", in einem bunten Spiel von Seifenblasen um die Zukunft, um die Vergangenheit des neapolitanisch-sizilianischen Wasserspiels, um ein Quodlibet von Melodien — „Ich glaubte wieder dieselbe Musik in den Ohren zu haben, ein ganzer Rosenkranz von fröhlichen Melodien zog innerlich an mir vorbei, fremdes und eigenes, Krethi und Plethi, eines immer das andere ablösend" 220 — aus dem ein längst gesuchtes Tanzliedchen herausklingt. Mozart ist der bezauberndste Gesellschafter; leichten Herzens verschenkt er Küsse und Melodien nach allen Seiten, bis schließlich die ganze Runde in Versen zu sprechen anfängt und alles im tollen Wirbel eines Terzetts und Kanons von reinem Spielunsinn, in Tanz und Billard endet: Mögen ihn die Götter stärken Zu den angenehmsten Werken — M a x (fortfahrend) W o v o n der da Ponte weder N o d i der große Schikaneder — Mozart N o c h bi Gott der Komponist 's mindest w e i ß zu dieser Frist! Graf Alle, alle soll sie jener Hauptspitzbub v o n Italiener Noch erleben, wünsch' ich sehr, Unser Signo Bonbonniere! Max Gut, ich geb' ihm hundert Jahre — Mozart Wenn ihn nicht samt seiner Ware — Alle drei con forza Noch der Teufel holt vorher Unsern Monsieur Bonbonniere. 2 2 1

Immer wieder hält uns Mörike Mozarts Kindlichkeit vor Augen. Er erzählt uns von dessen vergeblichem Versuch, mit dem Stock zu Würde und Ordnung zu kommen, von seiner Verletzlichkeit wegen des „piccolo grifo raso", wo die heitere Spielwelt für einen Augenblick in Frage gestellt wird, vom kindlichen Schmollen der Gatten und von ihrer Versöhnung im Fliegenfangen, die sich kaum von der Versöhnung Mörikes mit seiner Schwester in „An Klara — Als sie ein wenig kurz angebunden war" 2 2 2 unterscheidet, von Mozarts Güte gegenüber der Kellnerin und deren Liebstem und so weiter. Alles, was hier lebendig wird, ist jedoch nicht mehr nur Mörike, nicht mehr Gesellschaftsspiel, nicht mehr Rokoko und nicht mehr Mozart, sondern ist allein der Mythus von Mozart, der Mythus des Spiels in seiner herrlichsten Vollkommenheit, der Mythus von der ungeheuren Kindlichkeit von Kunst und Welt. Diese Kindlichkeit aber ist völlig dämonischen Ursprungs; sie ist vergänglich, weil sie immer weiter treibt und den Leib des Menschen aufzehrt. Nirgends ist die Herrlichkeit des Spiels so dargestellt wie in 220 221 222

ebda. II 243. ebda. III 252. ebda. I 254 f .

Das dämonische Spiel

71

Mörikes Mozart, nirgends ist aber auch die D ä m o n i e des Spiels in ihrer unerbittlichen Schicksalhaftigkeit so tief gesehen. Das Spiel treibt M o z a r t immer weiter: „ O pfui, ich darf nicht daran denken, was man verpaßt, verschiebt und hängen läßt! — von Pflichten gegen Gott und Menschen gar nicht zu reden — ich sage, von purem G e n u ß , von den kleinen unschuldigen Freuden, die einem täglich vor den Füßen liegen." 2 2 3 — „ W a r d ich denn je nur meiner Kindchen ein volles Stünddien froh? Wie halb ist das bei mir und immer en passant! Die Buben einmal rittlings auf das Knie gesetzt, mich zwei Minuten mit ihnen durchs Zimmer gejagt, und damit basta, wieder abgeschüttelt. Es denkt mir nicht, d a ß wir uns auf dem Lande zusammen einen schönen Tag gemacht hätten, an Ostern oder an Pfingsten, in einem G a r t e n oder Wäldel, auf der Wiese, wir unter uns allein, bei Kinderscherz u n d Blumenspiel, um selber wieder einmal Kind zu werden. Allmittelst geht u n d rennt und saust das Leben hin — H e r r G o t t ! bedenkt man's recht, es möcht einem der Angstschweiß ausbrechen!" 224 Ein Leben en passant, in dem man sich selbst zu finden hofft — so ist das „ K i n d w e r d e n " hier zu verstehen —, ist dem Spielenden nicht vergönnt, er jagt von einem Gegenstand zum andern; er k a n n nicht verweilen; will er es, wird er sofort wieder vom Spiel ergriffen; es gibt kein Verschnaufen, nur ein Genießen u n d Schaffen „ohne M a ß und Ziel". 2 2 5 Kein M a ß u n d kein Ziel: darin liegt die D ä m o n i e des reinen Spiels. Und Mozart weiß, was das Ende eines solchen Verströmens sein wird; er verfolgt „den einen traurigen Gedanken, zu sterben, wie eine endlose Schraube". 2 2 8 Seine Versuche, den Z w a n g zu lösen, sind kindlich rührend und hoffnungslos: der Spazierstock verschwindet nach dem dritten Ausgang. So erwacht in ihm das Grauen vor dem Ende, das zugleich Wissen ist, d a ß das Werk nie enden, der D ä m o n schöpferischen Spiels ihn immer weiter treiben wird, bis er ihn zerstört h a t : „Dein Lachen endet vor der Morgenröte!" „Rosee d ' A u r o r e " heißt das kostbare Riechwasser, das M o z a r t am A n f a n g der Novelle so verschwenderisch über alles ausgießt, rosee d'Aurore ist auf mannigfache Weise das Werk Mozarts f ü r Mörike. „Dein Lachen endet vor der Morgenröte!", vor der Morgenröte einer neuen Zeit, die nicht mehr die Zeit des Spiels ist, nicht mehr die Zeit des Pomeranzenbäumchens vom H o f e Ludwigs X I V . , „die schon die unheilvolle Z u k u n f t " in sich trägt. 2 2 7 ,,,Dein Lachen endet vor der Morgenröte!' erklang durch die Totenstille des Zimmers. Wie von entlegenen Sternen fallen die Töne aus silbernen Posaunen, eiskalt, M a r k und Seele durchschneidend, herunter durch die blaue Nacht." Dem Lachen D o n Juans, des Spielers, dem Lachen Mozarts, des schöpferisch Spielenden, setzt das eherne Schicksal eine Grenze: den Tod. Der Tod ist die Grenze des Spiels. Das Jenseits „fordert schleunigen Entschluß zur Buße. K u r z ist dem Geist die Zeit gemessen; 223 224 225 226 227

ebda. ebda. ebda. ebda. ebda.

III 217. 219. 221. 247.

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Die geistigen Grundlagen

des Spiels

weit, weit, weit ist der Weg!" 228 Don Juan trotzt in ungeheurem Eigenwillen den ewigen Ordnungen, er setzt seine Welt des Spiels dem Jenseits entgegen; aber die Dämonen sind lebendig geworden und stellen sich gegen ihn. „Unter dem wachsenden Andrang der höllischen Mächte" ringt er ratlos, sträubt, windet sich und geht schließlidi unter, „noch mit dem vollen Ausdruck der Erhabenheit in jeder Gebärde." 229 Der Dämon des Spiels hat gesiegt: es gibt keine Reue und keine Buße. „Es ist ein Gefühl, ähnlich dem, womit man das prächtige Schauspiel einer unbändigen Naturkraft, den Brand eines herrlichen Sdiifies anstaunt. Wir nehmen wider Willen gleichsam Partei für diese blinde Größe und teilen knirsdiend ihren Schmerz im reißenden Verlauf ihrer Selbstvernichtung". 230 Blinde Größe ist Mozarts Kindlichkeit nicht, er ahnt die Selbstvernichtung und kann dodi den reißenden Verlauf nicht aufhalten. Kaum sind die letzten Akkorde des Grauens verklungen, erzählt er wieder von häuslichen Lügen und Scherzen; er vergeht vor Freude über den geschenkten Wagen: das Spiel geht weiter, nur leise untermalt von den trauernden Tönen des angeblichen böhmischen Volkslieds „Ein Tännlein grünet wo." Mörike ist nicht Mozart — schon allein der frühe Tod Mozarts schafft von selbst eine Distanz vom Komponisten zum Dichter —, Mörike ist Ulmon, der Überlebende des verlorenen Paradieses, der in einer leeren steinernen Stadt der Ruinen des Spiels müde ist und nicht sterben kann. N u r in der Dichtung hat Ulmon-Mörike das Feenkind Silpelitt gefunden, das ihn erlöst. Die Dichtung ist das „Stückchen alten Gesteins von der geliebten Ruine", 231 ein Stückchen von Orplid. Kein Zwiespalt in Mörikes Seele trennt Wispel und seine Gesellen von Mozart: beide unterliegen auf ihre Art den gleichen Gesetzen des Spiels. Damit hat sich unsere Betrachtung auf eine Weise vertieft, wie es nur aus dem Blick auf einen großen Dichter möglich war, der Glück und Tragik des Spiels an sich selbst erfahren hat.

228 229 230 231

ebda. 270. ebda. ebda. 271. ebda. II 103.

2. D A S

KOSMISCHE

SPIEL

Paul Scheerbart Von Paul Sdieerbart wissen wir heute nodi wenig. Eine Gesamtausgabe fehlt, von seinem Briefwechsel sind nur Bruchstücke veröffentlicht, 1 und die Erinnerungen der Zeitgenossen sind nicht ergiebig. D a s schönste Denkmal haben ihm bis jetzt Richard Dehmel und Erich Mühsam gesetzt, Dehmel mit einem Brief an seine Frau v o m 20. Oktober 1915: „Ich kann nicht trauern über Paul Scheerbarts Tod. Wir waren niemals traurig zusammen, ich habe nur immer mit ihm gelacht, und so lebt er in mir, bis ich selber sterbe", 2 Mühsam in seinen unpolitischen Erinnerungen „Namen und Menschen", w o er im Kapitel „Scheerbartiana" seine Begegnungen mit dem Dichter erzählt: Wer Paul Scheerbart persönlich nahe stand, der sah, wie einheitlich diese Persönlichkeit war. Seine unbändige Lustigkeit war ein Bestandteil seiner Weltanschauung, und seine Weltanschauung bejahte das Weltall in seiner unfaßbaren Größe, Schönheit und Mannigfaltigkeit, die der dichterischen Phantasie schrankenlose Möglichkeiten öffnete, während das Wichtignehmen der irdischen Absonderlichkeiten Scheerbarts Freude am Lachen immer neue Nahrung gab. „Antierotiker" nannte er sich, weil ihm die Feierlichkeit, mit der seine alten Freunde Dehmel und Przybyszewski die Geschlechtsbeziehungen der Menschen als poetisch zu glorifizierende Angelegenheit behandelten, ungeheuer komisch zu sein schien. Das gesamte Gebaren der Erdbewohner, in ihrer natürlichen Beschaffenheit, wie sie sich in den Dingen der Liebe und in den Vorgängen der Ernährung und des Stoffwechsels offenbart, und erst recht ihr Verhalten gegeneinander, das er vor allem in jeder Art Staatsherrschaft und in der Einrichtung des Krieges charakterisiert sah, war ihm ein unversieglicher Quell donnernden Gelächters . . . 3 Scheerbarts Bücher und Scheerbarts Persönlichkeit hatten ganz die gleichen Eigenschaften. Er überschlug sich in grotesken Einfallen, über die er maßlos lachte und die trotzdem niemals ausschließlich als Spaß zu nehmen waren. Am bezeichnendsten für ihn, der sein Lebtag nie aus dem qualvollsten Geldmangel und ganz selten aus buchstäblicher Not herausgekommen ist, scheint mir der jahrelang verfolgte Plan, durch die Konstruktion eines Perpetuum mobile mit einem Schlag Multimillionär zu werden. Scheerbart — und außer ihm noch sein prächtiger ,Bär', die rührendste Gestalt unter allen Dichterfrauen, dieser weibliche Sancho Pansa, der, der Realität des Daseins in resoluter Nüchternheit 1 Paul Scheerbart, Von Zimmer zu Zimmer, 70 Schmoll- und Liebesbriefe des Dichters an seine Frau, Berlin-Wilmersdorf 1921 [Scherze]. 2 Richard Dehmel, Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1902 bis 1920, Berlin 1923, Nr. 806, S. 384 f. (Unvollständige) Bibliographie: Kurt Lubasch und Alfred Richard Meyer, Paul-Sdieerbart-Bibliographie, Privatdruck Berlin 1930. Nach der ersten Auswahl der Werke, hg. v. Carl Mumm, Wiesbaden 1955, hat der Verlag Rowohlt auf Veranlassung von Hellmut Draws-Tychsen, der die Witwe des Dichters „laufend materiell und ideell" unterstützte und in dessen Händen sich audi der Nadilaß befindet, alle Restauflagen Scheerbartscher Bücher aufgekauft (S. 15). 3 Erich Mühsam, Namen und Menschen, Unpolitische Erinnerungen, Leipzig 1949, 72 f.

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Die geistigen Grundlagen

des

Spiels

gewachsen, acht Jahre älter als sein von Bier und Phantasien ewig angesäuselter Don Quichote, die dicke Zigarre im Munde, alle Verrücktheiten des Dichters geduldig und gläubig anhörte — Scheerbart und der Bär waren völlig davon überzeugt, daß das Problem gelöst sei, und was immer nur an kleiner Münze zusammenzukratzen war, wanderte zum Patentamt. Zu den Rädern und Gewichten, zu seiner von früh bis spät betreuten Bastelarbeit gewann aber Sdieerbart eine immer persönlichere Beziehung. ,Perpeh' nannte er sein Werk, und ich bekam Postkarten nach München mit dem Postskriptum: ,Perpeh läßt Dich schön grüßen.* Einmal teilte mir Scheerbart mit: ,Perpeh ist fertig; es bewegt sich nur noch nicht' — für ein Perpetuum mobile offenbar ein Nachteil. 4 Scheerbarts

Kindlichkeit tritt

in allen Einzelerlebnissen

zutage,

mit

denen

Mühsam dieses Bild ergänzt, etwa wenn er erzählt, wie Scheerbart einem zufällig hereinplatzenden Versicherungsagenten den von ihm neu entdeckten Aluminiumring um den Saturn erklärt, wie Sdieerbart und er eine Tageszeitung gründen wollen, die als etwas ganz Neues nur Lügen enthalten soll, „Lügen mit Hintergrund", wie die beiden für ihr „Vaterland" einen Verleger finden und sich der Plan nur dadurch zerschlägt, daß dieser Verleger bald darauf zwei Soldatenblätter kauft und deshalb auf das antimilitaristische „Vaterland" verzichtet, sie aber mit dem Verlegen zweier Bücher — Scheerbarts „Maditspäße" und Mühsams „Wüste" — entschädigt. O t t o Julius Bierbaum porträtiert in seinem „Stilpe" den Dichter als „Bärenführer": Ein wunderlicher Mensch, der mitten in Berlin mit dem Gleichmut eines orientalischen Weisen lebte und, arm wie ein persischer Bettelmöndi, sich mit einer köstlichen Grazie des Geistes aushalten ließ. Sein Reich war nicht von dieser Welt, aber wer sein Reich kannte, diese weiten kosmischen Räume voll unerhörter Phantasien und diese bunten Fabelstädte mit den intimsten Winkeln genießender Ruhe nach rasendem Rauschen, der wußte, daß seine Welt beträchtlich schöner war als unsere. Ein Fakir mit Humor. In der Heimat seines Geistes, in Indien, wäre er wohl audi ohne Alkohol weise und heiter gewesen; in Berlin aber mußte er sehr viel trinken. Es schien, als ob er wirklich die Fakirkunst besäße, sich durch seelische Kräfte gegen alles Giftige immun zu machen.5 Mühsams Erinnerungen schließen: Während des Krieges ist Paul Scheerbart gestorben; 6 er hat sein Leben lang zu wenig gegessen und zu viel getrunken. Das herrliche, mächtige, Leib und Seele erschütternde Lachen des einzigen großen Humoristen der modernen deutschen Literatur ist stumm geworden. Ich denke an eine öffentliche Vorlesung, die er aus seinen Werken halten sollte. Er las brillant, aber plötzlich übermannte ihn sein eigener Humor. Er fing zu wackeln an, er fing zu prusten an, und dann brach das Lachen mit einer solchen Urgewalt hervor, daß an kein Lesen mehr zu denken war. Da stand ein deutscher Dichter auf dem Podium und lachte, schüttelte sich, brüllte vor Lachen und der ganze Zuhörerraum war angesteckt von dem lachenden Dichter, bog sich und krähte. Die Zeit wird kommen, die Scheerbarts Lachen wieder lernen wird, das große freie ebda. 74. Otto Julius Bierbaum, Stilpe, 1 9 . - 2 2 . Aufl. Berlin o. J . , 330 ff.; vgl. auch O. J . Bierbaum, Die Freiersfahrten und Freiersmeinungen des weiberfeindlichen Herrn Pankrazius Graunzer, 16.—17. Taus. Stuttgart 1925, 230 if. 6 Scheerbart starb 1915. 4

6

Das kosmische

Spiel

75

und befreiende Lachen, das aus dem weiten glücklichen Weltall stammt, wo es keine Not und keine Kriege gibt. Es wird die Zeit sein, die audi Scheerbarts Bücher wieder drucken, lesen und mit ernsthafter Heiterkeit genießen wird. 7

Unwillkürlich erinnert man sich an Börnes Worte über Jean Paul: „Er aber steht geduldig an der Pforte des zwanzigsten Jahrhunderts und wartet lächelnd, bis sein schleichend Volk ihm nachkomme. Dann führt er die Müden und Hungrigen ein, in die Stadt seiner Liebe." 8 Für beide ist die Prophezeiung noch nicht in Erfüllung gegangen. Während sich mit Jean Paul wenigstens Kenner und Literaturwissenschaftler auseinandersetzen, wird Scheerbart völlig übergangen. So ist unsere kurze Betrachtung auch in dieser Beziehung nicht überflüssig. Aus den wenigen Angaben Mühsams erkennen wir den Spielenden. Seine Hingabe an die Bastelei des Perpetuum mobile erinnert stark an Mörikes Versuche, Zeichnungen auf Glas zu vervielfältigen; beide hoffen mit einer Erfindung aus der täglichen Misere herauszukommen, beiden ist der Versuch mißlungen. Doch schon hier zeigt sich der Unterschied: Mörike hält sich wenigstens an das Mögliche, Scheerbart schweift ins Unmögliche. Auch sonst sind die beiden wesenhaft verschieden. Im dichterischen Werk trennen Scheerbart vor allem zwei Elemente von Mörike und werden zugleich auch seinem Ruhm zum Verhängnis: seine astralen Dichtungen und seine Sprache. Dadurch daß Scheerbart sein Spiel zu einem großen Teil in den Kosmos verlegt, von der Geburt von Sternen, dem Leben auf diesen und von einem kosmischen Theater träumt, löst er es völlig von sich selbst und allen Gegebenheiten irdischen Daseins. In dieser Entfernung ist ein Einfluß des Spiels auf den Menschen kaum möglich; Scheerbart schwelgt in Kometentänzen und Sternenwesen. So schweben viele seiner astralen Novelletten im leeren Räume. Sein Astero'idenRoman „Lesabendio", 9 die geschlossenste Dichtung, fast die einzige, die einen deutlicheren Aufbau erkennen läßt, erzählt die Wandlung eines Pallasbewohners zum Stern. Er ist ein Rausch völlig freier Spiele und Assoziationen, ein prächtiges Feuerwerk, das schnell verpufft und bei dessen Wiederholung wir trotz aller phantastischen Ausmalung eines solchen Sternenlebens ein leichtes Gähnen nicht unterdrücken können. Der Lesab6ndio ist kaum eine Dichtung im üblichen Sinne, audi kaum eine Dichtung an den Grenzen der Sprache, weil er völlig abseits von allem Irdischen in einer eigenen Welt eigenen Gesetzen gehorcht. Er ist kindliches Spiel in absoluter Freiheit. Damit nähert sich Scheerbart, ohne es zu wissen, der erlösten Welt, von der Novalis träumt, und tatsächlich findet sich bei diesem Dichter ein Satz, der als Motto für Scheerbarts ganze Dichtung dienen kann: „Die Kometen sind wahrhaft exzentrische Wesen, der höchsten Erleuchtung und der höchsten Verdunkelung fähig — ein wahres Ginnistan —, bewohnt von mächtigen, guten und bösen Geistern, erfüllt mit organischen Körpern, die sich zu Mühsam a a O 80 f. Ludwig Börne, Denkrede auf Jean Paul, Ges. Schriften, Hamburg Hoffmann und Campe 1829—34, I V 47. 9 Paul Scheerbart, Astrale Novelletten, 2. Aufl. München-Leipzig 1912; Lesabendio, Ein Asteroiden-Roman, München Leipzig 1913. 7

8

Die geistigen Grundlagen des Spiels

76

Gas ausdehnen — und zu G o l d verdichten k ö n n e n . " 1 0 I n den meisten W e r k e n berichtet Scheerbart v o m exzentrischen Leben der Sterne und ihrer Bewohner. Ist der Lesabέndio ein Pallasroman,

so enthalten die „Astralen

Novelletten"

Venus-, Vesta-, J u n o - , Ceres-, Jupitermond-, Sonnenring- und Merkurgeschichten. D i e Formen und das Leben der Sterne unterscheiden sich auf alle möglichen Arten. Es gibt trichterförmige 1 1 oder Eierkuchensterne, die von Riesenbaumwesen bewohnt sind, 1 2 farbige Monde 1 8 und ganze Feuerwerke von Sternen und Sternennebeln. I h r e B e w o h n e r sind ebenso seltsam. D i e von Pallas und Q u i k k o im Lesabέndio

soll

Kubin

„wie

Molche,

mit

recht

kleinen

Augen

und

einem

Schneckenfuß" zeichnen, was dem M a l e r den Stoßseufzer entlockt: „Als wenn Molche so aussähen!", 1 4 die des N e p t u n sind dünner als ein Spinngewebe. 1 5 Es gibt sogar astrale Pantomimen u s w . l e D a alle diese Geschöpfe nichts mehr mit dem Irdischen zu tun haben, verlieren sie die K r a f t , die sie nur aus dem Irdischen schöpfen könnten, und bleiben blasse gestaltlose Schemen. D i e Flucht in den Kosmos w i r k t sich auch auf die Spradie aus. Scheerbarts Sternenwelt ist so weit entfernt, daß sie nicht einmal mehr im Pathos beschworen werden kann. D i e Sprache der astralen Dichtungen besitzt nicht die geringste Ausdruckskraft,

sodaß

man

von

„mühelos

schwadronierendem

Plauderton"

sprechen kann. 1 7 Sie ist dem Dichter völlig gleichgültig und ergießt sich in banalste und trivialste W o r t e , die das Lesen zeitweise unerträglich machen. Scheerbarts Sprache zeigt, daß die Grenzen der Sprache auch die Grenzen der Dichtung sind. Seine Kindlichkeit ist am Unsagbaren angestoßen und läuft nun in ein hemmungsloses Geschwätz über grenzenlose Vorstellungen aus. W o den Mystiker die G r e n zen der Sprache ins Schweigen führen, lenken sie diesen Dichter ins Schwadronieren des Kindes. D e r Versuch, so die Grenzen der Sprache zu überwinden, muß dem Leser als saloppe Sudelei erscheinen. Erich Mühsam kommt jedoch der Sache näher, wenn er Scheerbarts Sprache „eigentümlich" nennt und von ihr schreibt, d a ß sie „mit äußerstem stilistisdien

Feingefühl

jeden Anschein v o n

Pathetik

durch salopp klingende Wortanordnung zu vermeiden w u ß t e . " 1 8 M a n kann nicht von einem Unvermögen des Dichters, höchstens von einem Irrweg sprechen, da die astrale W e l t ohne Zusammenhang mit der irdischen sich audi dem Symbol entzieht, das j a aus dem Irdischen allein Gestalt gewinnt. D i e astrale Dichtung Scheerbarts ist eine völlig symbollose Kunst und steht auch dadurch gänzlich im leeren R ä u m e . Sie ist hemmungsloser Erzählrausch eines Kindes, dem die Sprache Novalis Schriften ed. Samuel und Kluckhohn, Leipzig 1929, II 401 N r . 436. Pallas in „Lesabendio". 1 2 Juno-Novellette, Astrale Novelletten 65 ff.; ebenso in: Paul Scheerbart, Das große Licht, Leipzig 1912, 22 ff. 1 3 farbige Monde: Paul Scheerbart, Ich liebe Dich! Ein Eisenbahnroman mit 66 Intermezzos, Berlin 1897, 74 ff. 1 4 Alfred Kubin, Vom Schreibtisch eines Zeichners, Berlin 1939, 96. 1 5 Professor Kienbeins Abenteuer, Astrale Novelletten 107 ff. 1 8 Paul Scheerbart, Kometentanz, Astrale Pantomime, Leipzig 1902. 1 7 Auswahl Mumm 13. 1 8 Mühsam aaO 73. 10 11

Das kosmische Spiel

77

nicht mehr gewachsen ist. Man kann diesen Dichter nur bewundern und genießen, wenn man das Organ für planetarische Phantasie besitzt. Erst in den astral-tellurischen Dichtungen, wo Scheerbart unsern Planeten in sein Spiel einbezieht, müssen wir aufhorchen. Die Stellung der astralen Wesen zu den Erdbewohnern ist eindeutig: wir sind für sie Wesen der niedrigsten Entwicklungsstufe. Was sie auf der Erde sehen, ist seltsam und wenig erfeulich: „Die Menschen vernichteten nicht nur die weniger intelligenten Lebewesen auf der Erdrinde, sie vernichteten sich sogar gegenseitig um der Nahrung willen. Und wenn ich auch nicht gesehen habe, daß sie sidi gegenseitig auffraßen, so mußte ich doch sehen, wie sie in großen Horden zu Tausenden aufeinander losgingen und sich mit Schußwaffen und scharfen Eisenstücken die entsetzlichsten Wunden beibrachten, an denen die meisten nach kurzer Zeit starben." 19 Ein Neptunwesen stellt fest: „Ich finde das irdische Menschenleben, obsdion es sehr grob ist, durchaus nicht uninteressant." 20 Die „große Revolution" bei den Mondbewohnern endet mit einem Sieg der Erdgegner; die Erde wird von der Forschung boykottiert, bis die Erdmenschen aufhören, das Weltall mit Kriegen zu schänden.21 Entsetzt ist der Pallasbewohner über die Ernährungsart der Menschen: „Diese nehmen die Nahrung durch den Mund auf, bis ihr Leib aufquillt, und das Furchtbarste war, daß sie andre Lebewesen töteten und zerhackten und dann stück- und kloßweise in ihren Mund steckten; im Munde hatten sie steinharte Zähne, mit denen sie alles zermalmten." 22 Das Gelächter über unsere Art des Lebens und vor allem des Essens ist eine der tiefsten Quellen von Scheerbarts Träumen: „Peinlich berührt es midi immer, daß man sich auf dem Stern Erde in so lächerlicher Form .ernährt'. Das soll wohl nur eine Verspottung des Menschen sein. Und ich glaube, daß man später einmal Oblaten fabrizieren könnte, die uns alle Nahrungsstoffe in konzentriertester Form bieten. Reines Eiweiß haben wir doch schon. Bedauerlich bleibt es ja immer, daß wir nicht einfach von Luft leben können. Aber — dieses Unbequeme hat doch wohl einen Grund: uns soll es nicht so gut gehen auf der Erdhaut, daß wir darüber die Existenz der andern Sterne vergessen." 23 Scheerbarts Dichtung ist aber nicht etwa eine Satire auf die Zeit und die Zeitgenossen, er spottet nicht, sondern lacht frei aus der Tiefe einer unstillbaren Sehnsucht nach einer andern Welt. Das ist die Wurzel seines Spiels: „Merkwürdig ist doch, daß auf dem Stern Erde eigentlich Alles immer auf etwas sehr Komisches hinausläuft." 24 In diesem Lachen weiß er sich mit jener mythischen Gestalt einig, in die er alles hineinlegt, was ihm selbst das Spiel bedeutet, und die er aus hundertjährigem 19

ίεββΒέηάίο 16.

Astrale Novelletten 124. Paul Scheerbart, Die große Revolution, Ein Mondroman, Leipzig 1902. 2 2 Lesabendio 16. 2 3 Paul Scheerbart, Das Perpetuum mobile, Die Geschichte einer Erfindung, 3. Aufl. Leipzig 1910, 3 3 ; vgl. auch Paul Scheerbart, Münchhausen und Clarissa, Ein Berliner Roman, Berlin 1906, 58. 2 4 Perpetuum mobile 43. 20 21

78

Die geistigen Grundlagen des Spiels

Schlaf wieder aufweckt: Münchhausen. Der sagenhafte Lügenbaron .ist der Mittler zwischen den kosmischen Wundern neuer Welten und uns Erdbewohnern. Eine glühende Bewunderin, Gräfin Clarissa von Rabenstein, ruft ihn aus unbekannten Fernen herbei, damit er die Welt ändere: „Im vorigen Jahrhundert sind so viele Dinge umgekrempelt worden. Und so passen alle Menschen eigentlich nicht in unsre Zeit hinein. D e r alte Münchhausen müßte kommen und die Menschen umkrempeln." 2 5 Er erscheint, aber die Menschen wundern sich nicht einmal darüber, denn ein „bellender Stumpfsinn" beherrscht Europa: „Man könnte sich ja über all die maulaufsperrende Idiotie einfach schwach lachen — man könnte sich aber auch angegähnt vorkommen". 2 6 Deshalb macht Mündihausen die Menschen Europas mit der Zukunft bekannt. Er verlangt in Paraphrasierung Nietzsches die „Umkrempelung aller Dinge" 2 7 durch einen genialen Neuschaffenden: „Wie grandios ist es in der Erdrindennatur ausgesprochen, daß viele Billionen ,Kreaturen' ruhig qualvoll zugrunde gehen können, wenn nur ein einziger Neuschaffender entsteht." 2 8 Der Lügenbaron kämpft gegen das „ewige Nochmalmachen", das „ein etwas umständlicher Idiotenspaß der Erdrinde" is.t.29 Er ist der Neuschaffende, er vermag „das Andere" zu geben, „ob dieses Andere besser ist als das Bekannte — das ist mir ganz egal; wenns nur anders ist." 3 0 Wie er einst seine Lügengeschichten erzählte, so berichtet er nun in den sieben Wochentagen von „Münchhausen und Clarissa" von den Wundern der Weltausstellung in Melbourne als der ersten irdischen Verwirklichung kosmischer Träume. Er beschreibt die Wunderarchitektur, welche die kosmische Drehung auf die Erdoberfläche überträgt, 31 „damit alle Lebewesen auf der Erdrinde immer wieder neue Bilder von der unendlichen Welt empfangen. Die Erde selbst will auch immer wieder neue Weltbilder empfangen — es geht doch so viel in der großen Welt vor." 3 2 E r erzählt von der Linienarchitektur elektrischer Lichtspiele und von der Automatisierung des Haushalts, unternimmt eine Reise ins Erdinnere, eine Fahrt zur Sonne und durch diese hindurch. Dabei entwickelt er erschreckend tiefsinnige Gedanken, etwa den, daß die Architekten die Tyrannen unserer Zeit seien und dem Menschen seinen Lebensstil, ja seine Weltanschauung aufzwängen 33 : das australische Haus erzeugt neue Gedanken in den Köpfen der Bewohner. 34 Die Technik steht in Australien im Dienste der Kunst, durch chemische Parfüms wird den ganz stupiden Menschen eine „weltgestaltende Phantasiekraft" eingeimpft. 35 Wie Frau Wanda Neumann 2 5 Münchhausen und Clarissa 8. Uber Scheerbarts Münchhausen vgl. Werner Schweizer, Die Wandlungen Mündihausens, Leipzig 1931, 146 ff. 2 3 Mündihausen und Clarissa 10 f. 2 7 ebda. 2 8 ebda. 70. 2 9 ebda. 68. 3 0 Das große Lidit 61. 3 1 Münchhausen und Clarissa 25. 3 2 Astrale Novelletten 124 f. 3 3 Münchhausen und Clarissa 34. 3 4 ebda. 42. 3 5 ebda. 44.

Das kosmische Spiel

79

im „Großen Licht" 36 besitzen die Australier ein kosmisches Theater, in dem Werke aus andern Weltregionen aufgeführt werden. 37 Ihrer Plastik kann nicht der unbeholfene Mensch als Modell dienen, 38 sie steht über den scheinbaren Gegenständlichkeitsempfindungen, die dem Menschen nur durch fünf Sinne vermittelt werden, und stellt Wesen anderer Welten dar. Man kann zwar kein intimeres Verhältnis im Sinne von „Erinnerungen gemütlicher Art" zu diesen Werken bekommen, doch wird dieses durch andere Assoziationen auf gewogen, „die nicht gemütsartig sind und doch sehr scharf wirken — durch neue Gedankenreihen, die audi durch ihre Neuheit einen komplizierten Gefühlseindruck auslösen". 39 Die Kunst darf eben nicht ängstlich sein: „Gerade die Ängstlichkeit sollte man sich in der Kunst abgewöhnen — wenn auch da und dort durch ein allzu lebhaftes Vorwärtsstürmen etwas zerstört wird — nur nicht ängstlich werden — das Zerstörte kann auch leicht wieder rekonstruiert werden." 40 „Schaffen heißt für den Australiaten: Neues schaffen!" 41 Das zweite Münchhausenbuch Scheerbarts, „Das große Licht", schwelgt in ähnlichen Phantasien aus außereuropäischen Ländern, die sich noch wundern und noch das Wunderbare verehren. 42 Es erzählt vom Glasblumenzüchter Mr. Weller in Melbourne, der sich zu Geschäftszwecken eine nüchterne Europäerin als Kontrastfigur hält, von der Reise des Lügenbarons als Kugelstern ins Weltall, von Glasgärten, Perlmutter- und Glasstädten, von Luftforschern, Glasarchitekten und kosmischen Gespensternäditen. Alles ist „immer anders als das Natürliche", 43 denn, was anders ist, „bereichert uns". 44 Münchhausen verkündet die Religion vom großen Licht: „Das große Licht macht den Menschen g u t . . . Darum baut Glaspaläste . . . Das große Licht soll der Erlöser der Menschheit sein." 45 Scheerbart hat diese Glasarchitektur auch sonst öfters gepriesen; eine Schrift „Glasarchitektur" ist im Sturm-Verlag erschienen,48 Architekten wie Bruno Taut haben sie geschätzt.47 Das geschlossenste Bild von ihr gibt der Damenroman „Das graue Tuch und zehn Prozent Weiß". 48 Der seltsame Titel entspringt dem Einfall, daß der Held des Buches, der Glasarchitekt Edgar Kurz, seine Frau unter der Bedingung heiratet, daß sie als Kontrast zu seinen Schöpfungen immer ein graues Kleid mit zehn Prozent Weiß trägt. Der Roman schildert dann das Bauen 36

Die kosmischen Postillione, Das große Licht 14 ff. Münchhausen und Clarissa 45 f. 38 ebda. 51 ff. 39 ebda. 54 f. 40 ebda. 56. 41 ebda. 117. 42 Das große Licht 34. 43 ebda. 47. 44 ebda. 65. 45 ebda. 144. 415 Paul Scheerbart, Glasarchitektur in 111 Kapiteln, Berlin 1914. 47 Bruno Taut, Der Weltbaumeister, Architektur-Schauspiel für symphonische Musik, Hagen i. W. 1920, „Dem Geiste Paul Scheerbarts gewidmet". 48 Paul Scheerbart, Das graue Tuch und zehn Prozent Weiß, München-Berlin 1914. 37

80

Die geistigen

Grundlagen

des

Spiels

dieses Glasarchitekten, von Chicago über die Fidschi-Inseln zum Südpol, von Borneo über Japan, vom Himalaya über Ceylon zum Aralsee, von den KurianMurian-Inseln über Babylon und Zypern nach Sardinien und auf die Isola Grande im Lago Maggiore. Holz gibt Behaglichkeit, aber „die Holzkiste ist nur eine Gewohnheitskiste", 49 der Glasarchitekt liebt das schreiend Bunte: „Und dodi ist alles sehr angenehm, wenn man von dem Bunten weiter absitzt. Es kommt also bei Farben und Tönen auf die Distanz an. Ich kann mir sogar ein Konzert mit Explosivstoffen denken; Schüsse können in der Ferne vielleidit sehr angenehm wirken. Ich bin ja so heftig für das Bunte — auch für das unferne Bunte — das sogenannte unferne Bunte — eingenommen, daß ich meine Leidenschaft maskieren muß." 50 Nicht bewegt genug, nicht bunt genug kann es auf der Erde sein51: „Libellenflügel, Paradiesvögel, Leuchtkäfer, Liditfische, Orchideen, Muscheln, Perlen, Brillanten usw. usw. — alles das zusammen ist das Herrlichste auf der Erdoberfläche — und das finden wir alles in der Glasarchitektur wieder. Sie ist das Höchste — ein Kulturgipfel.·'' 2 Diese Skizzierung einiger Übergänge vom Kosmos zum Menschen muß unsere Erwartungen enttäuschen: wohl sind Erde und Mensch in das Spiel einbezogen, aber nur in fernen unbekannten Traumländern. Abgesehen von den Klagen über den europäischen Stumpfsinn ist auch hier das Spiel von allem Irdischen gelöst und darum ohne innere Kraft. Leo Spitzer sagt einmal, zur Groteske gehöre nicht nur der Salto mortale ins Phantastische, sondern auch der feste Grund und Boden einer konkreten Wirklichkeit; 53 an Scheerbarts astralen und astral-tellurischen Dichtungen erweist sich, daß ein reines Spiel ohne Wirklichkeit verpuffen muß. Scheerbarts astrale Wesen und Australier können nie über ihren Schöpfer Gewalt bekommen wie die Gestalten Mörikes, denn Sdieerbart setzt weder sich noch den Mensdien „aufs Spiel". Er baut sich in seinem Wortsandkasten neue Welten und wählt sich das Zwischenwesen Mündihausen zum Propheten. Dieser aber ist ein kindlich phantasiereicher Lügner. Sollten also die Zukunftsprophezeiungen nicht eintreffen, dann geschähe kein Unglück, dann wäre eben alles ein phantastisches Lügennetz des Barons, auf das man Sdieerbart selbst nicht festlegen dürfte. Das Spiel bleibt unverpfliditend. Deshalb fehlt in diesen Dichtungen das Leiden am eigenen Spiel. Clarissa von Rabenstein verzweifelt zwar über das Unverständnis der Menschen für die Melbourne-Kunst und über die stereotype Antwort der Künstler: „Wir möchten das ja so gerne entzückend finden. Aber wir verstehens doch nidit. Das geht uns zu weit. Wie gerne würden wir's begreifen wollen, wenn wir's nur könnten". 54 Doch Mündihausen kann sie leicht auf eine verständnisvollere Zukunft ver*' ebda. 68. 50 ebda. 180 f. 51 ebda. 222. 52 ebda. 246. 63 Leo Spitzer, Die groteske Gestaltungs- und Sprachkunst Christian Morgensterns, Motiv und Wort, Leipzig 1918, 88. M Mündihausen und Clarissa 140 f.

Das kosmische Spiel

81

trösten. Nur selten hören wir eine leise Selbstkritik, so wenn Flora Mohr aus Graudenz die Glasblumenzucht des Herrn Weller betrachtet und dazu bemerkt: „Wenn Sie glauben, daß mir diese Spielerei irgendwie imponieren könnte, so irren Sie sich gründlich. Wo ist denn hier das Leben? Sind diese Spielereien nicht einfadi tot? Können Sie leugnen, daß sie tot sind? Und — ist es nicht immer wieder dasselbe, was man hier sieht? Immer nur Farben! Und immer nur wieder Formen!" 55 Der Züchter gibt ihr beinahe recht: „Ich gebe zu, daß immer nur Farben und Formen kommen. Aber — ist es nicht ein bischen anspruchsvoll, wenn man immer gleich den Kern der Natur entdecken w i l l ? . . . 5β Aber ich, der ich neue Formen und Farben in ganz neuen Blumen geben will, werde so behandelt, als wenn ich alles Seelenleben dadurch vernichte. Rede nicht! Es ist so! Das macht die Gewohnheit! Als wenn ich nicht die genügende Begeisterung für die lebendigen Blumen der großen Natur habe! ob dieses Andere besser ist als das Bekannte — das ist mir ganz egal; wenns nur anders ist." 57 Diese kindliche Selbstgenügsamkeit macht Scheerbart liebenswert, wenn auch sein Spiel oft außerhalb der Kunst steht. Das schönste Bekenntnis legt er Münchhausen in den Mund: „Mir war das Lachen niemals unangenehm, auch wenns nur wie ein Auslachen klang." 58 Dieses Lachen hören wir in seinen Titeln: „Das graue Tuch oder zehn Prozent Weiß. Ein Damenroman", „Immer mutig! Ein phantastischer Nilpferdroman", „Ich liebe dich! Ein Eisenbahnroman" und allen ähnlichen Überschriften, in den Untertiteln „Angststück", „Sorgenvision", „Nervöses Capriccio", „Kosmosophisches Scherzo", „Gaoinersilhouette", „Erlösungsburleske", „Ein Unauflösbares" usw., die er gewiß Jean Paul abgeschaut hat. Es ist die Quelle seiner skurrilen Einfälle: den Pallasbewohner nennt er Lesabendio; bei einem Licht- und Luftfest wird auf einer Vierzigturmorgel gespielt und bengalische Tiger werden bengalisch beleuchtet;59 ein reicher Chinese will die Häuser an Galgen aufhängen, um das Majolikaparkett, mit dem seine ganze Insel belegt ist, zu schonen;60 in Sibirien wird ein lebendiges Mastodon in einem Ballon entdeckt und gefangen; es wächst dann ins Uberdimensionale, wird sieben Meter lang und schließlich nach seinem Tode in Spiritus gelegt usw.61 Auch das Lachen über sich selbst fehlt nicht, nicht von ungefähr tritt Scheerbart als Münchhausen auf und baut der Glasarchitekt für sidi selbst kein Glashaus. Die äußere Misere des Dichters macht dieses Lachen groß. In ruhiger Heiterkeit stellt er ihr sein Glaubensbekenntnis entgegen: „Je größer die Verzweiflung — um so näher ist man den Göttern. Die Götter wollen uns zwingen, dem Grandiosen immer näher zu kommen. Und sie haben kein anderes Mittel zum Zwingen als die Misere. Nur in der Misere wachsen die großen Zukunftspläne." 62 Selbst in „Perpetuum mobile. Die Geschichte einer 55 66 57 58 59

61 63

Das große Licht 49. ebda. 59. ebda. 61. ebda. 152. Das graue Tuch 105. ebda. 136. Das große Licht 99 ff. Perpetuum mobile 5.

Die geistigen Grundlagen des Spiels

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Erfindung", wo er tagebuchartig von seiner Erfindung berichtet, überlegt er sich immer wieder, ob er dem Menschen schade oder nütze, wenn er ihn durch sie vom Stumpfsinn der Arbeit®3 erlöse und den Stern Erde für ihn arbeiten lasse,64 ob nicht die Kunst dadurch gefährdet wäre: „Fast möchte ich wünschen, daß das Rad nicht geht. Die Literatur wird durch das Nichtgehen des Rades mehr gefördert als durch das Gehen des Rades — das weiß ich ganz genau." 65 Manche von Scheerbarts Prophezeiungen sind in unserer Zeit in Erfüllung gegangen und besitzen darum für uns eine gewisse Aktualität. Seine Glasarchitektur und seine Ernährungstabletten haben wir; der Luftkrieg seiner Flugschrift „Die Entwicklung des Luftmilitarismus und die Auflösung der europäischen Landheere, Festungen und Seeflotten" 66 ist unser Grauen geworden. Manches hat er vorausgesehen, nichts davon hat er wirklich durchschaut. Sdieerbarts Bücher sind keine wirklichen Prophezeiungen, er malt sidi bloß richtig aus, was alles geschehen könnte, etwa in der Vision vom barbarischen General: Im Jahr 2050 p. Chr. n. lebte im Lande Germania ein General, der bösartiger war als alle Generale seiner Zeit zusammen. Damals führten gerade die Europäer mit den Amerikanern einen großen Bombenkrieg. Es gab da viele Bombenerfolge für die allermodernste Kriegswissenschaft. Und trotzdem lebten die Amerikaner ruhig weiter. Dieses ärgerte natürlich den bösartigsten General seiner Zeit, der in Germania den Oberbefehl inne hatte. Was tat dieser Grausame, der den Namen Kuhlmann führte? Kuhlmann arbeitete einen Plan aus, der ganz Amerika überschwemmen sollte . .

Vor solchen Gefahren schließt man natürlich sofort Frieden. Nach Scheerbarts Perpetuum mobile sind Vaterländer nicht mehr lebensfähig, der Militarismus hat nur noch Witzblattbedeutung, und Kuhlmann geht auf Vortragstournee nach Amerika. Ähnlich löst sich der Knoten in „Rakkox, der Billionär. Ein Protzenroman", 68 in dem der mehrfache Billionär die „Genies und Obergenies" der Erde in seinen Diensten hält und von einem seiner Obergenies, einem Wüterich voll tückischen Jähzorns, überwunden wird. Tyrannei des Geldes über den Geist, Mordlust der höchsten Genialität: alles ist angetönt, was zu den Gefahren unserer Zeit gehört; aber alles zerfließt. Den Propheten Scheerbart quält keine Zukunftsvision, er ist im tiefsten ahnungslos. Wie Wispel auf Orplid hält er das Schicksal unserer Zeit in Händen, doch dieses rinnt ihm zwischen den Fingern durch. So schwingt bei der Lektüre seiner Werke ein Grauen über seine Ahnungs63

ebda. 29. ebda. 7. 65 ebda. 13. 66 Paul Sdieerbart, Die Entwicklung des Luftmilitarismus und die Auflösung der europäischen Land-Heere, Festungen und Seeflotten, Berlin 1909; teilweise abgedruckt in Auswahl Mumm 36 ff. 67 Perpetuum mobile 18. 68 Paul Sdieerbart, Rakkox, der Billionär, Ein Protzenroman, Leipzig 1901; abgedruckt in Auswahl Mumm 19 ff. 64

Das kosmische Spiel

83

losigkeit mit. Es ist falsch, wenn man Scheerbart wieder lebendig machen will, indem man wie Carl Mumm seine Aktualität betont: Die deutsche Literatur der letzten Jahrzehnte ist nicht so reich an kompromißlos freien Dichtern und Denkern, daß Kritiker und Leser es sich leisten können, an dem vorbeizusehen, was Scheerbart, einer von den wirklich Unbedingten, in seinen kulturkritischen und dichterischen Werken ausgesagt hat. Unter Verzicht auf den Versuch, die vielgestaltige Fülle seiner Phantasie aufzuzeigen, greift daher unsre Auswahl entschiedene Äußerungen dieses Dichterdenkers heraus, die in einem hohen Sinne dieses Wortes .aktuell' sind. Sein prophetisch warnendes Pamphlet gegen den ,Luftmilitarismus' zeigt jedem Lernwilligen, wie nötig ,Phantasten' sind, wenn es darum geht, das Kommende und Drohende zu prognostizieren. Es erschien im Jahre 1 9 0 9 (!) · · .

Man könnte höchstens sagen: Die Wirklichkeit hat den grauenhaften Kommentar zu Scheerbarts Spielen geschrieben. Wir haben bis jetzt absichtlich nur von den astralen und astral-tellurischen Dichtungen Scheerbarts gesprochen; denn in denjenigen, die sich stärker dem irdischen Leben und der Wirklichkeit nähern, tritt eine neue Seite an ihm zutage. Sie lassen uns ahnen, daß Scheerbarts Raketenflug in den Kosmos eine Fludit vor der Dämonie des Spiels bedeutet. Ansätze zu einem bedeutungsvolleren Spiel treten vereinzelt schon in den astralen Novellen auf. In der Weltuntergangsnovellette „Das kosmische Theater" 7 0 führt das Zerschneiden der runden roten Kugel eines Edamer Käses einen Weltuntergang herbei, weil auch „die kleinsten Dinge verhängnisvoll in unser Leben" 7 1 eingreifen können: Das größte Geheimnis unsrer sichtbaren Welt ist jedenfalls das Gesellschaftsleben der Lebewesen untereinander. Die unzähligen Fäden, die die Sterne und die Bewohner der Sterne mit einander und mit den Sternen verbinden, bilden ein so kompliziertes Gewebe, daß unser Geist vorläufig noch nicht reich genug erscheint, dieses Gewebe stellenweise übersichtlich zu gliedern und geordnet vor uns erscheinen zu lassen. D a s ist aber die Kardinalaufgabe unsrer Literatur. 7 2

Justus vom Treckenbrock schneidet trotz den Warnungen seiner Frau Justina den Käse an; das kosmische Theater gerät in Brand; Justina stirbt und Just baut sein neues kosmisches Theater nicht mehr, sondern läßt die Weltkörper planlos umherliegen und verstauben. 73 Hier gerät Scheerbart in die Nähe des Symbols, eine geheimnisvolle magische Beziehung zwischen den irdischen Dingen und dem Kosmos leuchtet auf, wie sonst nie bei ihm. Zweifellos ist „Das kosmisdie Theater" in seiner knappen Kürze die beste astral-tellurische Dichtung Scheerbarts. Wenn wir dem Zauber seines Lachens verfallen wollen, müssen wir uns ohnehin an seine kleinen und kleinsten Skizzen halten. In ihnen ist auch der Reiz seiner eigentümlich banalen Sprache am wirksamsten, welche die Trivialität sucht, um die Beziehungslosigkeit seiner Welt zu der unsern sichtbar zu machen. In ihrer kindlichen Einfalt 69 70 71 72 73

Auswahl Mumm 15. Astrale Novelletten 11 ff. ebda. 13 f. Münchhausen und Clarissa 129 f. Astrale Novelletten 30.

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Die geistigen

Grundlagen

des

Spiels

erinnert sie an die Bilder der Peintres na'ifs, aber audi an echt kindliche Erzählungen. Die folgende Stelle könnte — abgesehen von den Fremdwörtern — von einem Kinde stammen: U n d auf der Spitze des Kinibalo sah man den großartigen Sternenhimmel. Alle Sterne leuchteten ganz klar auf dem dunklen Himmelsgrunde. U n d die Sterne spiegelten sich in den Fluten des Ozeans, der w i e eine große Schüssel sich nach allen Seiten aufreckte. Ein paar Aeroplane fuhren mit Scheinwerfern durch den N a d i t h i m m e l . Es w a r sehr still oben auf dem Berge; v o n der Meeresbrandung hörte man nicht einen Ton. Frau Clara fröstelte, und ihr Gatte hing ihr ein großes Tuch um und ließ ihr ein Glas Grog bringen. D i e Herren tranken ebenfalls Grog auf Frau Claras Wohl. Man saß bis Mitternacht oben in dem großen Spitzenlokal. N u r bunte Laternen leuchteten da oben und die Sterne des Himmels. Der M o n d ließ sich nicht sehen. Meteore zogen in Parabelbahnen durch den Sternenhimmel. A m H o r i z o n t e strahlte die Venus. 7 4

Niemand kann sich nach einigem Einlesen ganz dem Zauber dieser naiven Sprechweise entziehen. „Ich liebe Dich! Ein Eisenbahnroman mit 66 Intermezzos" ist die Geschichte der Flucht vor der Erotik, eine Eisenbahnfahrt Scheerbarts mit dem Rechtsanwalt Müller von Berlin nach Nowaja Semlja, in die er 66 Skizzen einflicht, darunter die Lautdichtung „Kikakoku! Ekoralaps!". 75 Die Erotik ist das Reich der ewigen Qual, 78 das Reich der „Fleischermeisterphantasie" 77 der modernen Dichter, auf die es böse Hiebe regnet. Scheerbarts „Ich liebe Dich" ist an den Weltgeist gerichtet. Audi „Immer mutig! Ein phantastischer Nilpferdroman mit dreiundaditzig merkwürdigen Geschichten", die er sieben Nilpferden — ehemaligen ägyptischen Königen — erzählt, preist das „Sternenglück statt Spießerglück" 78 und ist für Leute bestimmt, die noch nicht ganz tot sind, die sich noch wundern können. Bei beiden Romanen fällt jedoch auf, daß sie eine Fülle von Angstvisionen enthalten. Sdieerbart erschrickt plötzlidi vor seinem Lachen, und dieses verzerrt sich zur Grimasse. Er ist nicht mehr völlig Herr über seine Geschöpfe, die ihn als „lädierlichen thranköpfigen Herrn und Meister" 79 anbeten; sie beginnen sich von ihm zu lösen. Aus der Freude an Buntheit wächst der „Dämon des Glanzrausches" mit tiefblauen Flügeln, tiefschwarzem Körper und elfenbeinweißem Kopf; „seine rothen Feueraugen brennen durch die Dämmerung", 80 wie er unheimlich didit unter dem Himmel liegt. Die Sterne beginnen den Dichter aus74

D a s graue Tuch 83 f. Ich liebe D i d i 248 f. 76 ebda. 117 ff.; vgl. auch 13 f., 54, 72, 151 ff., 166 ff., 210 f f . 77 ebda. 121. 78 Paul Sdieerbart, Immer mutig! Ein phantastischer N i l p f e r d e r o m a n mit achtzig merkwürdigen Geschichten, Minden i. W . 1902, I 38. 79 ebda. II 211. 80 Ich liebe Dich 21. 75

dreiund-

Das kosmische Spiel

85

zulachen; sie „lachten im Chor so schrecklich laut und so gräßlich höhnisch, daß ich verrückt zu werden glaubte", 81 oder Scheerbart flieht in entsetzlicher Pein vor einem grauenhaften Tier. 82 Die Welt gerät aus den Fugen; etwas ist beim Spiel schief gegangen, wie im „Romantischen Symbolistengesang" die überraschende Wendung des Schlusses verrät: D a tönten von allen Bergen So seltsam und wunderschön Die Lieder von tausend Zwergen, Die nie ein Mensch gesehn. Es klang wie ein alter Reigen Wohl über Feld und Thal. D a n n aber begann ein Schweigen, Das erfüllte das ganze All. Wir standen und sahen träumend Die Berge und Zwerge an. Das Bächlein aber lief schäumend Plötzlich zum Himmel hinan. 83

Plötzlich ist etwas in den Bildern ver-rückt, und eine Stimme spricht: „,Die Kunst, die Du erträumtest, ist immer tot. Die Paläste haben kein Leben. Bäume leben — Tiere leben — aber Paläste leben nicht.' ,Demnach', versetz' ich, ,will ich das Tote!' J a w o h l ! ' hör' ich rufen — aber ich weiß nicht, wer das sagt. ,Ich wollte die Ruhe — den Frieden!' schrei' ich wild in grausigem Ekel." 84 Scheerbarts kosmische Planetenwunder platzen als Kometen über der Erde und säen dem Leben Untergang, bloß ein bestaubter Erdball dreht sich allein weiter. 85 Das Lachen wird zum tödlichen Lachen: seine Freundin Elogifana gibt ihm ein Fläschchen voll herrlichsten Gelächters, und er trinkt jeden Tag dreimal daraus, obwohl er weiß, daß er sterben muß, wenn die Flasche leer ist.86 Scheerbart muß Gelächter trinken, obwohl er weiß, daß er sich an seinem Gelächter verzehrt, daß er — wie in einer andern Skizze dargestellt ist — seine eigene giftige Tinte trinken muß, bis sein Ich entzweiplatzt. 87 So fällt auch er einen Augenblick lang aus der Welt des Spiels hinaus in Grauen und Müdigkeit: „Alles ist bloß ein Schattenspiel". — „Kann man's sehr geistreich nennen, wenn uns die Welt immer bloß als ein müßiges Spiel erscheint?" — „Schließlich ist mir Alles ganz egal. Und das macht mich nicht heiter." 88 Die schwarze Nacht durchschritt die Welt U n d die schwarze Nacht zertrat Alles, was licht erglänzte. 81 82 83 84 85 88 87 88

ebda. 33. ebda. 40 ff. (Angststück). ebda. 71. Immer mutig I 107. ebda. 56 ff. Ich liebe Dich 47 ff. Immer mutig II 53 ff. ebda. I 189.

86

Die geistigen Grundlagen

des Spiels

Ich warf midi der schwarzen N a d i t wüthend entgegen und wollte mit ihr kämpfen. Aber die schwarze Nacht zertrat auch mich.*9 Scheerbart w i r d der astralen Dichtung müde: Weiß nicht, aber ich glaube doch, Daß die Welt ein faules Loch, Drinn die vielen großen Sterne Nichts als Phosphorschimmer sind. Lieblich tönt, ja das weiß ich schon, N u r ein toller Weltenhohn. Freundlidi wären wir so gerne . . . Aber lacht denn noch ein Kind? Wundersam, ja nun glaub' ich fast: Uns zerklemmt die Weltlochlast. Ach, die vielen großen Sterne Sind verweht wie müder Wind. 8 0 „ U n d dann fallen alle meine tiefphilosophischen Theorien wie Kartenhäuser durcheinander — u n d ich kann wieder in wüstester Gesellschaft im Unsinn schwelgen — und kann mir tausend Frauen kaufen w i e König S a l o m e — und kann w i e mancher andre Prophet blödsinnig konstatiren, daß Alles — Alles Unsinn ist." 91 Übrig bleiben der Unsinn u n d die Einsamkeit. Rettung aus dieser Verzweiflung gewährt nur der Traum v o m K i n d und dessen Lachen: In dieser Nacht sah ich ein Kind, Das lachte mich an. Es hat das Lachen in dieser Nacht Mir wohlgethan. Über die Haide wogten Große bläuliche Flammen, Die haben den Himmel ganz hell gemacht, Dazu hat das Kind noch viel mehr gelacht, Über die bläulichen Flammen. 93 N o c h einen Erlöser aus Einsamkeit und Leere kennt er freilidi: den A l k o h o l . Weißt Du, wie es kommt, D a ß die Menschen so viel trinken? D a ß sie dabei oft versinken? Weißt Du, wie es kommt? Hör's! Ich weiß es ganz genau: Wir, die wahren großen Menschen, Sind vom Stamm der großen Löwen, Die da immer einsam leben Und sich ledern in Gesellschaft — Wir, die wahren großen Menschen, 89 90 91 93

Ich liebe Dich 204. ebda. 171. ebda. 274. ebda. 157.

Das kosmische

Spiel

87

Sehn uns aber viel zu häufig! Müssen drum gewaltig trinken! Könnten uns sonst nie ertragen. 93 In dieser Stimmung entsteht Alkohol- und Katerpoesie von der A r t : Putz mir meine Krone, Denn ich will spazieren gehn! Sei mein Leibhurone! Aller Welt zum Hohne Gehn wir auf den kleinen Zehn. Putz mir meine Krone! Putz sie mir recht blank! Kriegst audi eine Feder Und ein Ei zum Dank — 8 4 Darin aber ist schon Mörike Scheerbart

vorangegangen:

Einmal nach einer lustigen Nacht War ich am Morgen seltsam aufgewacht: Durst, Wasserscheu, ungleich Geblüt, Dabei gerührt und weichlich im Gemüt, Beinah' poetisch, ja, ich bat die Muse um ein Lied. Sie, mit verstelltem Pathos spottet' mein, Gab mir den schnöden Bafel ein: ,Es schlagt eine Nachtigall Am Wasserfall; Und ein Vogel ebenfalls, Der schreibt sich Wendehals, Johann Jakob Wendehals; Der tut tanzen Bei den Pflanzen Obbemeld'ten Wasserfalls —* So ging es fort; mir wurde immer bänger, Jetzt sprang ich auf: zum Wein! Der war denn auch mein Retter. — Merkt's euch, ihr thränenreichen Sänger Im Katzenjammer ruft man — keine Götter. 9 5 Mörike hängt seinem Katzenjammer noch das Mäntelchen literarischer Satire um, in Sdieerbarts „Katerpoesie" 9 9 tritt das Elend unverhüllt auf. Die Spielwelt ist zusammengebrochen; alles ist Unsinn, „Delirium! D e l i r i u m ! " : Alte Knaben sitzen auf den leersten Tonnen, Und die Nächte siegen über alle Sonnen. Hinten nagen unsichtbare weiße Mäuse An dem bös zerbeulten großen Hirngehäuse. Hör doch, wie die ganze Schädelhöhle quarrt! Ist die alte Rinde ,wirklich' noch so hart? Alles geht zu Ende — auch der dickste Kopf! Ach, die weißen Mäuse haben dich am Schöpf! 95 M 95 98

ebda. 292. ebda. 140. Werke I 222 f. (Warnung). Paul Scheerbart, Katerpoesie, hier zitiert nach 2.—4. Aufl. Berlin o. J .

88

Die geistigen Grundlagen des Spiels Glaubst du, Läuse sitzen bloß in deinem Puder? Nein, du bist ein unverschämtes dummes Luder, Und die Frechheit kommt in erster Reihe ran. 97

Wut und Verzweiflung schreit aus jedem dieser Katerlieder: Reimerei und Schweinerei! Mir ist alles einerlei! Alte Katzen sind nicht blöde. Aber jene Untermenschen, Die ich täglich braten möchte, Machen mir die Welt so öde. Mir ist alles einerlei! Mensch sei frei! 68 «CO Reich mir meine Platzpatronen, Denn midi packt die Raserei! Keinen Menschen will ich schonen, Alles schlag ich jetzt entzwei. Hunderttausend Köpfe reiß ich Heute noch von ihrem Rumpf! Hei! Das wilde Morden preis ich, Denn das ist der letzte Trumpf! Welt, verschrumpf!" Aus dieser höchsten Verzweiflung wächst das Lachen dessen, der „aus Wut sogar Humorist geworden ist, nicht aus Liebenswürdigkeit". 100 D i e Maske der fröhlichen Betrunkenheit fällt: Die Maske der Betrunkenheit hab ich nun abgelegt! Ich bin allein — und tue, was ich wollte. Wer jemals über Albernes sich kindlich aufgeregt, Der weiß nun endlich, daß ich stets ihm grollte. Ich lächle nur und lächle immer wieder — wieder! Mir hängt die Luft voll kreischend-toller Jubellieder! 101 Noch einmal versucht Scheerbart sich aus der Verstrickung der Finsternis zu lösen: So nehm' ich denn die Finsternis Und balle sie zusammen Und werfe sie, so weit ich kann, Bis in die großen Flammen, Die ich noch nicht gesehen habe Und die doch da sind — irgendwo Lichterloh . . . 102 Noch einmal beschreitet er den Weg zur astralen Dichtung, zum Kosmos: 97

Delirium! Delirium! Katerpoesie 8. ebda. 19. 99 Donnerkarl der Schreckliche, ebda. 29. 100 Rakkox, der Billionär, Auswahl Mumm 27. 101 Ermitage, Katerpoesie 33. 102 Die großen Flammen, ebda. 43. 98

Das kosmische Spiel

89

Eine wilde Fratze Muß ich schneiden, Denn dies Leben Macht mir keinen Spaß. O, ich möchte nur Ein altes Rabenaas Mit verrückter Wollust In zehntausend Stücke reißen, Und dann möcht ich Hübsche Mädchenköpfe Balsamieren mit verfaultem Tran Oder andrer ekler Flüssigkeit. Und dann möcht ich In den Himmel springen Und die Sterne fressen Und zuletzt: Den ganzen Lebensunsinn Ohne weiteres vergessen Und als Ätherwolke Traumlos weiterschweben. Dieses glaub ich, wird mir Noch einmal gelingen. 103 Doch nein, die Auffahrt mißglückt und läßt ihm nur Sehnsucht und Alkohol zurück: Wenn die große Sehnsucht wieder kommt, Wird mein ganzes Wesen wieder weidi. Und ich möchte weinend niedersinken — Und dann möcht ich wieder maßlos trinken. 101 In den astralen und astral-tellurischen Dichtungen schwebt Scheerbart empor, aber um den Preis der dichterischen Kraft, die sich in unverpflichtendes Spiel auflöst; aus der Verzweiflung am Irdischen aber entfalten sich die schönsten Blüten seiner Erzählkunst, die kleinen Skizzen v o n „Ich liebe Dich!" und „Immer mutig!", in denen der Dichter versucht, sich wieder in die Spielwelt hineinzufinden. Eigentlidie Wispeliaden entstehen, die von Mörike stammen könnten: Kühn Eine Morgenstudie Ich wandelte gedankenvoll durch die große Stube, dachte an die alten Götter der alten Indianer, an ihre Tempel und an ihre Liebesopfer . . . Da sperrt' ich den Mund zu weit auf. Und was geschah da? Eine Fliege flog mir in meinen Mund. Unglaublich! Aber wahr! Ich dadite lange Zeit darüber nach, was das wohl zu bedeuten haben könnte. 103 104

Ingrimm, ebda. 47 f. Die große Sehnsucht, ebda. 9.

Die geistigen Grundlagen

90

des

Spiels

Indes den Rebus löst' ich nicht. Kühn war die Fliege. Sie starb in meinem Rachen. 105 Die

Butterblume

Eine große gelbe Butterblume wuchs in den blauen Himmel hinein und leuditete wie eine große gelbe Sonne. Die gelben Blütenblätter glänzten und kräuselten sich. Und in den Blütenblättern bauten Störche mit langen roten Schnäbeln und langen roten Beinen ihre Nester. Und die Störche flogen täglich mit ihren langen weiß und schwarz gefärbten Flügeln um die große gelbe Butterblume rum. Die Butterblume wurde nicht welk, und die Störche wurden nicht krank. Im blauen Himmel leuditete die gelbe glänzende Butterblume wie eine große gelbe Sonne. Die Menschen schauten das Wunder an. Es war aber gar kein Wunder — es war nur ein lächerliches Symbol. 108 Die gebratene Flunder Tanz-Poem der ,tiefen' Richtung Die gebratene Flunder sitzt auf dem gelbseidenen Familiensopha und sinnt — sinnt lange. Plötzlich springt sie auf und schaut den heiligen Nepomuk, der sich im Schaukelstuhl ein bischen schaukelt, durchdringend an. Dann ruft sie, während sie auf ihrem knusprigen Schwänze in der Stube herumhopst: ,Nepomuk, Du solltest Kaiser von Pangermanien werden — wahrhaftig! wirklich!' ,Du hast wohl', erwidert Nepomuk, ,zu viel gebratne Butter im Kopp!' Die gebratne Flunder springt auf den Tisch und singt die Marseillaise. Da wird der heilige Nepomuk wüthend und schlägt mit der Faust auf den Tisch. Was geschieht? Die Lampe fällt runter und explodirt. Alles verbrennt und stirbt. Die Asche giebt kein einziges Lebenszeichen von sich. Hieraus erkennt man wieder, wieviel der Zorn zerstören kann. 107 Wenn man mit Schlagworten späterer Zeit operieren will, kann man das Surrealismus nennen; H a n s Arp, der einzige deutsche dadaistische Surrealist, ist ja auch zweifellos von Scheerbart beeinflußt. Aber eine solche Bezeichnung ist sinnlos, Scheerbart

ist ebensosehr ein Nachläufer

Wispels.

Seine berauschte

hegelsdie

Weltgeistliebe könnte auch aus der Trunkenheitspoesie von Heines „Im H a f e n " herrühren: 105 108 107

Ich liebe Dich 69. Immer mutig II 65 f. Ich liebe Dich 129 f.

Das kosmische Spiel

91

Du braver Kellermeister von Bremen! Siehst du, auf den Dächern der Häuser sitzen Die Engel und sind betrunken und singen, Die glühende Sonne dort oben Ist nur eine rote betrunkne Nase, Und um die rote Weltgeistnase Dreht sich die ganze, betrunkne Welt. 108 D i e Formen des Spiels sind eben an kein modisches Schlagwort gebunden. D i e Lautdichtungen 109 und die Flundergesdiidite madien einen £influß auf Morgenstern wahrscheinlich; die Katerpoesien leben mit Versen w i e Meine ganze Welt ist kantig, Und die Bäume sind verrückt. Sage, Wilhelm, sage Sauhirt, Warum gehst du so gebückt?110 in den Gedichten von Joachim Ringelnatz weiter. Aber nicht das ist der eigentliche Reiz Scheerbarts, daß er manchem Vorbild und Vorläufer war, denn im Vergleich zu seinen Nachfolgern wirken die astralen Visionen bürgerlich harmlos. Er liegt darin, daß er dort, w o ihm die Flucht in den Kosmos nicht gelingt, unvermutet in die Dämonie des Spiels gerät und «ich dann audi der geheimnisvollen Region nähert, w o sich seine Formen mit denen der Unsinnspoesie anderer Weltgefühle vereinigen. Sein „Meerglück" steht unerwartet in der N ä h e v o n M a i l a n d s „Un Coup de D£s jamais n'abolira le Hasard": Das alte Meer tobt. Und langsam steigen aus den schäumenden Wogen Geister heraus — maßlos riesige Geister! Mit wildem Trotz kommen sie höher und höher. Ihre Fäuste sind geballt. Sie drohen mit ihren geballten Fäusten. Und plötzlich schlagen sie mit ihren Fäusten aufs tobende Meer, daß die schäumenden Wasser hoch aufspritzen — bis an die Sterne. Unergründliche smaragdgrüne Augen starren aus den Geisterköpfen heraus — in die Welt hinein. Verzehrende Wehmut und maßloser Zorn kreischt — in diesen grünen Augen. Das alte Meer tobt. Und langsam tauchen die Geister des Meeres wieder hinab — ins alte kalte Wogenbett. Gurgelnd schließt sich das Wasser über den haarigen Köpfen, in denen die smaragdgrünen Augen verlöschen. Und wieder tobt das Meer — einsam — einsam — und groß! 111 „Ich träume eigentlich zu allen Zeiten — audi mit offenen Augen am hellen liditen Tage. Sehr oft spiele ich mit den Sternen, klebe dem Monde lange Ohren an 108

Heine, Stle. Werke ed. Walzel, Leipzig 1911—15, I 225. Kikakoku! Ekoraldps! Ich liebe Dich 248; Monolog des verrückten Mastodons, Immer mutig II 85 f. 110 Katerpoesie 13. 111 Immer mutig I 132 f. 109

92

Die geistigen Grundlagen des Spiels

und knipse der Sonne die Nase ab, verspeise ein paar Kometen und reiße die Milchstraße entzwei." 1 1 2 Ist das nidit das Weltgefühl des Sichern Mannes? In einer Zeit, die das freie Lachen und Träumen verlernt hat, blicken wir mit Sehnsucht und Trauer auf ein solches Spiel zurück. Die Einheit seines Lebens, Dichtens und Denkens macht uns Scheerbart liebenswert. Schon in einer seiner ersten Schriften hat er ihr mit einem einfachen programmatischen Gedicht Ausdrude gegeben: Laß die Erde! Laß die Erde! Laß sie liegen, bis sie fault! Uber schwarze Wiesentriften Fliegen große Purpurengel, Ihre Scharlachlocken leuchten In dem grünen Himmel Meiner Welt. Laß die Erde! Laß die Erde! Laßt sie schlafen, bis sie fault! Uber weißen Bernsteinkuppeln Flattern blaue Turteltauben, Ihre Saphirflügel flimmern In den grünen Himmel Meiner Welt. Laßt die Erde! Laßt die Erde! Laßt sie, laßt sie, bis sie fault! Über goldnen Schaumgewässern Spielen zahme Silberfische, Ihre langen Flossen zittern In den grünen Himmel Meiner Welt. Haßt die Erde! Haßt die Erde! 1 1 3

ebda. 207. Paul Scheerbart, J a . . . was . . . möchten wir nicht Alles! Ein Wunderfabelbudi, Erstes Heft, Berlin 1893, 3. 112

113

3.

DAS

G Ö T T L I C H E

S P I E L

Gilbert Keith Chesterton Zu

Mörikes

dämonischem

und

Scheerbarts

kosmischcm

gesellt

sich

das

im

Religiösen v e r w u r z e l t e Spiel G . K . Chestertons. E r ist elf J a h r e jünger als Sdieerb a r t und h a t ihn u m v o l l e einundzwanzig

J a h r e überlebt. I n vielem sind sie

Zeitgenossen und -sich innerlich ähnlich — a n den P h o t o g r a p h i e n läßt sich sogar eine gewisse äußere Ähnlichkeit feststellen. 1 A b e r es ist, w i e wenn die N a t u r mit Scheerbart e t w a s versucht hätte, was ihr erst in C h e s t e r t o n g e l a n g : einen Menschen sein ganzes L e b e n lang glückliches K i n d bleiben zu Chesterton

h a t nie astrale Dichtungen geschrieben,

lassen. aber er h a t in

knappen

Z ü g e n eine Vision dieser Dichtung hingeworfen, die alles, w a s Scheerbart p h a n t a siert, zu E n d e

spielt:

Ein einziges Gedicht oder eine einzige, von dem Kopernikanischen Gedanken wirklich durchdrungene Geschichte wäre ein wahrer Alp. Können wir uns eine Berglandschaft in feierlicher Stille und einen in Verzückung emporblickenden Propheten veranschaulichen und gleichzeitig uns vergegenwärtigen, daß dies alles mit höchster Geschwindigkeit wie ein Kreisel im Herumschwirren begriffen ist? Können wir uns einen mächtigen König vorstellen, der einen wichtigen Beschluß verkündet und zugleich eingedenk ist, daß er tatsächlich mit dem K o p f nach unten in den leeren Raum hinausragt? Es ließe sich eine gar seltsame Fabel von einem Mann erdichten, der, mit den Augen des Kopernikus gesegnet oder verflucht, alle Menschen auf der Erde als einem Magneten zustrebende Eisenstäbe sähe. Es wäre kurios, sich vorzustellen, wie sehr verschieden eine aggressive Rede über die Selbstherrlichkeit und Göttlichkeit des Menschen erklänge, wenn man ihn zugleich mit seinen Schuhsohlen am Planeten hängen sähe . . . 2 „Du hast die Welt auf nichts gebaut", sagt der Verfasser des Buches Hiob, und in diesem Ausspruch ist die ganze furchtbare Poesie der modernen Astronomie enthalten. Das Gefühl, daß sie von einem Moment zum andern zerstört werden kann, wird uns durch die runde und sich drehende Erde auf das mächtigste zum Bewußtsein gebracht . . . 3 In früheren Zeiten folgte der Entdeckung einer naturgeschichtlichen Tatsache sofort deren Vergegenwärtigung als einer poetischen Tatsache. Als der Mensch zu seinem wahren Bewußtsein erwachte und zu erkennen anfing, daß der Himmel blau und das Gras grün ist, wurde ihm diese Erkenntnis alsbald zum Symbol . . . Infolge irgendeines geheimnisvollen Grundes fand diese Gewohnheit, wissenschaftliche T a t sachen ins Poetische umzusetzen, mit dem Fortschritt der Wissenschaft ein plötzliches Ende, und all die überwältigenden Verkündigungen, die ein Galilei und ein Newton 1 vgl. G. K . Chesterton, D e r Mann mit dem goldenen Schlüssel, Freiburg 1952, Frontispiz, mit Albert Soergel, Dichtung und Dichter der Zeit, Leipzig 1911, 583. 2 G. K. Chesterton, Verteidigung, Ölten 1945, 64 f. I m folgenden sind alle Schriften Chestertons, für die eine erträgliche Übersetzung vorliegt, in dieser zitiert (oft mit kleinen Verbesserungen nach dem englischen Original), die andern nach dem Original von mir übersetzt. 3 Verteidigung 65.

94

Die geistigen Grundlagen

des

Spiels

verkündeten, klangen an taube Ohren. Und dennoch malten sie eine Welt, mit der verglichen die Apokalypse mit ihren niederstürzenden Sternen die reine Idylle war. Sie stellten fest, daß alle, an eine Kanonenkugel geklammert, im Saus durch den leeren Raum dahin wirbeln; und die Dichter ignorierten dies, als wäre es eine Bemerkung über das Wetter. Sie teilten mit, daß eine unsichtbare Macht uns in unsre Lehnstühle bannt, während die Erde in heftigsten Schwingungen dahinbraust wie ein Wurfgeschoß; . . . zu welchen hohen dichterischen Schilderungen würden wir es nicht gebracht haben, wenn wir die Naturgeschichte auch weiterhin poetisch verwertet hätten, und die menschliche Phantasie mit den Planeten ein ebenso natürliches Spiel getrieben hätte wie zuvor mit den Blumen! Es wäre uns ein planetarer Patriotismus entstanden, in dem das grüne Blatt die Rolle der Kokarde übernommen hätte, und die See zur immerwirbelnden Trommel geworden wäre. Wir würden stolz sein auf alle Phasen, durch welche unser Planet sich emporrang, und würden sein Banner in dem blinden Turnier der Sphären pietätvoll aufrechterhalten. Dies alles können wir ja jederzeit noch tun; denn bei all unserem angehäuften Wissen ist doch eins, was zum Glück keiner weiß: ob die Welt alt ist oder jung. 4 Spiel mit Planeten wie mit Blumen ist Scheerbarts Dichtung. Doch mit welch heiterer Überlegenheit und welch saftigem Spott malt Chesterton das alles aus und führt es schließlich ad absurdum! Die Kraft Chestertons verliert sich im Gegensatz zu der Scheerbarts nie in Phantasien von irgendwelchen Welten; er steht mit beiden Beinen fest auf der E r d e ; seine Kraft wächst aus dem Menschen und aus der Kindlichkeit des Menschen. Chesterton selbst wäre der letzte, der diese Wurzel seines Wesens nicht gekannt hätte. So steht seine kurz nach dem Tode erschienene Autobiographie unter dem Symbol des Mannes mit dem goldenen Schlüssel,5 einer Figur aus dem Puppentheater, die in seiner Erinnerung „wie ein Schimmer aus einem unwahrscheinlichen Paradies"® glüht: Das Wundervolle an der Kindheit ist, daß alles in ihr ein Wunder war. Sie war nicht nur eine Welt voller Wunder, sie war eine Wunderwelt. Fast alles, woran ich mich wirklich erinnere, fügt mir diesen Schock zu, nicht jene Dinge, die ich für würdig geachtet hätte, mich ihrer zu erinnern. Dies ist es, worin sich die Kindheit von der andern großen Erschütterung der Vergangenheit unterscheidet, nämlich von allem, was mit der ersten Liebe und der romantischen Leidenschaft verknüpft ist; denn dieses sticht zwar ebenso, trifft aber immer nur auf einen einzigen Punkt und ist schmal wie ein Stoßdegen, der das Herz durchbohrt, während das andere eher hundert Fenstern glich, die auf allen Seiten des Kopfes offenstanden . . .7 Unter Nr. 999 des ungeheuren Verzeichnisses der Bücher, die ich nie geschrieben habe (die alle soviel glänzender sind als die Bücher, die ich geschrieben), findet sich die Geschichte von einem erfolgreichen Großstadtmenschen, der ein dunkles Geheimnis in seinem Leben zu haben schien und von dem die Detektive schließlich herausbrachten, daß er noch mit Puppen oder Zinnsoldaten oder sonst einer albernen * ebda. 66 ff. B vgl. audi Mrs. Cecil Chesterton, The Chestertons, London Chapman & Hall 1941; Maisie Ward, G. K. Chesterton, London-New York Sheed & Ward 1944 (deutsch: Regensburg 1956); Michael Mason, The Centre of Hilarity, New York Sheed & Ward 1960, 168 ff.; Garry Wills, Chesterton, Man and Mask, New York Sheed & Ward 1961; Bibliographie: John Sullivan, G. K. Chesterton, A Bibliography, London University of London Press 1958. 6 Der Mann mit dem goldenen Schlüssel 27. 7 ebda. 34 f.

Das göttliche

Spiel

95

Kinderei spielte. Idi möchte bei aller Bescheidenheit sagen, daß ich ganz und gar dieser Mann bin, abgesehen von der Gediegenheit seines Rufes und seiner erfolgreichen kaufmännischen Laufbahn. Es trifft dies vielleicht in diesem Sinne noch mehr auf meinen Vater zu als auf mich, denn, was mich angeht, so habe ich nie zu spielen aufgehört, und idi wünschte, ich hätte mehr Zeit dazu. Ich wünschte, wir müßten unsere Zeit nicht mit albernen Dingen wie mit Vorträgen und mit Literatur vergeuden, — die Zeit, die wir auf ernste, solide und konstruktive Arbeit verwenden könnten, etwa Pappfiguren auszuschneiden und mit bunten Füttern zu bekleben . . . 8 Entscheidend ist, daß ich das Puppentheater liebte, selbst als ich wußte, daß es ein Puppentheater war. Ich liebte die Pappdeckelfiguren auch dann noch, als ich herausfand, daß sie von Pappdeckel waren. 9 Zahllos sind die Anekdoten,

die sich um Chestertons

„türrahmenfüllende"

Gestalt schlingen, von der er selbst sagt, daß sich die Gassenjungen an ihr belustigten, weil sie unbewußt den Maßstab griechischer Bildhauer anlegten und an die Marmorstatue Apollos dächten. 10 Die schönsten Geschichten sind aber die, welche er selbst erzählt. 1 1 Rührend ist seine Hilflosigkeit: so schickt er einmal seiner Frau das Telegramm: „Bin in Market Harborough. W o müßte ich sein?"'· 2 Chesterton ist kein eigentlicher Dichter; er selbst hat sich einen Journalisten genannt. Doch erhält dieses W o r t durch ihn den Klang wieder, den es als „Schriftsteller" in der Aufklärung besitzt. E r reiht sich würdig an jene lange Liste von Namen, die der englischen Literatur in dieser Beziehung eine eigene Größe geben. E r ist ein Mensch, der alle Möglichkeiten menschlichen Ausdrucks in den Dienst einer großen Idee stellt. Sein ganzes Lebenswerk ist der Bewahrung der Kindlichkeit gewidmet; er ist ihr Polemiker gegen eine Welt, die sie verloren h a t : Die zwei Dinge, die beinahe jeden normalen Menschen bei Kindern anziehen, sind: erstens, daß sie sehr ernst, und zweitens, daß sie infolgedessen sehr glücklich sind. Sie sind so restlos lustig, wie es nur möglich ist, wenn der Humor aus dem Spiel bleibt. Die unergründlichsten Schulen und weise Männer haben niemals die Tiefe erreicht, die in den Augen eines drei Monate alten Kindes wohnt. Es ist die Tiefe des Staunens über die Welt, und Staunen über die Welt ist nicht Mystizismus, sondern verklärter Menschenverstand. Darin liegt das Berückende an Kindern, daß mit jedem von ihnen alle Dinge neu erschaffen werden und daß das Weltall auf die Probe gestellt wird . . D e r komische Anblick der Kinder ist vielleicht das teuerste aller Bande, die den Kosmos zusammenhalten. Ihre schwerköpfige Würde ist rührender als die Demut; ihre Tiefe gibt uns mehr Hoffnung zu allem als tausend Karnevale des Optimismus; ihre großen und glänzenden Augen scheinen in ihrem Staunen alle Sterne zu enthalten; die bezaubernde Abwesenheit ihrer Nase scheint uns der deutlichste Hinweis auf die Freude, die unser im Himmelreich harrt. 14 ebda. 42. ebda. 47. 1 0 Orthodoxie, Das Abenteuer des Glaubens, Ölten o. J . , 69. 1 1 vgl. Der Mann mit dem goldenen Schlüssel bes. 33, 165 f. 1 2 ebda. 356; einige Briefe Chestertons in: G. K . Chesterton, An Anthology, Selected with an Introduction by Lewis D. B. Wyndham, The World's Classics 554, London Oxford UP 1957. 1 3 Verteidigung 151. 1 4 ebda. 156. 8

9

Die geistigen Grundlagen des Spiels

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Mit den Augen des Kindes entdeckt Chesterton die Welt neu, und diese entpuppt sich als ein Märchenland. E r verliert sich jedoch nie in Phantasmagorien, die keine symbolische Beziehung zu unserm Dasein haben; denn er erkennt klar, daß er sein Spiel unter feste Regeln stellen iwuß. So ist er ein vollkommenes Beispiel für Huizingas Spielbegriff: Es ist eine Tatsache, daß das Kind in Grenzen verliebt ist. Es gebraucht seine Einbildungskraft, um eingebildete Grenzen zu finden. Das Kindermädchen und die Erzieherin haben ihm nie erzählt, daß es seine moralische Pflicht sei, immer nur auf den zweiten Pflasterstein zu treten. Es beraubt mit Überlegenheit diese Welt der Hälfte ihrer Pflastersteine, um über eine Herausforderung zu triumphieren, die es gegen sich selbst gerichtet hat . . . In diesem Sinne habe ich beharrlich versucht, den wirklichen, zu meiner Verfügung stehenden Raum zu zerlegen und das Haus, in dem ich in voller Freiheit herumrennen durfte, in diese beglückenden Gefängnisse zu teilen und zu unterteilen. Ich glaube, daß in dieser psychologischen Grille eine Wahrheit liegt, ohne welche die ganze moderne Welt ihre günstigste Gelegenheit verpaßt . . , 15 Dieses Spiel der Selbstbegrenzung ist eines der geheimen Vergnügen des Lebens . . . Stets wird das Spiel beherrscht von diesem Prinzip der Teilung und Begrenzung, das mit jenem Spiel des Kindes mit den Pflastersteinen beginnt.16 Mit dem schönsten von vielen Bildern dieser Selbstbegrenzung setzt Chestertons „Orthodoxie" ein: Ich hatte oft Lust, einen Roman zu schreiben, in dem ein englischer Seefahrer seine Richtung falsch berechnet hat und England entdeckte, in der Meinung, es handle sich um eine neue Insel in der Südsee . . . Wahrscheinlich wird jedermann der Meinung sein, daß der Mann, der, bis an die Zähne bewaffnet und in Zeichensprache redend, landete, um die britische Flagge auf jenem barbarischen Tempel zu hissen, der sich in der Folge als der Pavillon von Brighton herausstellte, sich recht dumm vorkam. Ich will nicht leugnen, daß er ein redit dummes Gesicht machte. Wer sich aber vorstellt, daß er sich für einen Toren hielt oder daß das Gefühl der Torheit seine einzige und vorherrschende Empfindung war, der hat die romantische Natur des Helden dieser Geschichte durchaus verkannt. Sein Irrtum war in Wirklichkeit ein höchst beneidenswerter, und darüber war er sich klar, sofern er der Mann war, für den ich ihn halte. Was könnte es Erfreulicheres geben, als innerhalb weniger Minuten all die spannenden Schrecken der Fremde und das warme Sicherheitsgefühl der Heimkehr zu erleben? Was könnte herrlicher sein, als den Spaß einer Entdeckung Südafrikas zu empfinden, ohne die widerliche Notwendigkeit, dort zu landen? Was könnte es Glorreicheres geben, als sich zur Entdeckung von Neu-Südwales aufzumachen und dann mit einem Strom von Freudentränen herauszufinden, daß es das alte Südwales war? Wie kann diese sonderbare Weltstadt mit ihren vielbeinigen Einwohnern, mit ihren monströsen alten Lampen, wie kann diese Welt in uns gleichzeitig die faszinierende Empfindung einer fremden Stadt und das Behagen und die Ehre, unsere eigene Stadt zu sein, hervorrufen? 17 Selbst w o Chesterton das Spiel sehr weit über die Grenzen des Sinns und des Möglichen hinaustreibt, hütet er sich, den irdischen Schauplatz zu verlassen. Wie Scheerbart lacht er etwa über die Komik des Essens, 1 8 nie würde er jedoch eine Der Mann mit dem goldenen Schlüssel 112 f. ebda. 113 f. 1 7 Abenteuer des Glaubens 16 f. 1 8 G. K. Chesterton, Essays, Selected with a Preface by John Guest, Library of Classics, London Collins 1939, 43. 15

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Uberwindung dieser Komik durch Tabletten wünschen, im Gegenteil: die ungeheure Komik, das heißt die ungeheure Kindlichkeit, macht die eigentliche Größe des Menschen aus. Aus ihr gewinnt dieser Dichter eine schier unbeschreibliche Fülle von neuer Poesie des Lebens. In den verachtetsten Dingen erkennt er verborgene Schätze, die er als Schatzgräber des Wunders hebt: im Schundroman, in unüberlegten Gelübden, Gerippen, Kitschfiguren, häßlichen Dingen, im Kriminalroman, in Tageszeitungen, im Patriotismus 1 ' und in noch viel Geringerem: „Beinahe alle besten und kostbarsten Dinge des Universums bekommt man für einen Halfpenny, mit Ausnahme natürlich von Sonne, Mond, Erde, Mensdien, Sternen, Gewittern und solchen Kleinigkeiten, die bekommt man u m s o n s t . . . Aber für einen Halfpenny kann man zum Beispiel auf der Straße hinter mir Tram fahren, und die elektrische Straßenbahn ist das fliegende Schloß des Märchens. Für einen Halfpenny erhält man eine recht große Menge buntfarbiger Süßigkeiten." 20 Chesterton liebt alles Ursprüngliche. Der Alkohol ist zum Beispiel keine Medizin, er soll frohen Herzens und sorglos getrunken werden; nur Trinker und Mohammedaner können nidit leichtsinnig trinken. 21 Deshalb ist sein Spott auf die Wassertrinker fürchterlich, er hält ihnen die ganze absurde Romantik der Abstinenz vor Augen: Ich kann einfach nicht verstehen, daß der Wassertrinker übersieht, welche Faszination der Regen auf ihn ausüben müßte. Der enthusiastische Wassertrinker muß einen Platzregen für eine A r t Weltbankett und eine Schwelgerei in seinem Lieblingsgetränk halten. Man stelle sich doch einen Weintrinker vor, über den karmesinrote Wolken roten und goldenen weißen Wein schütten würden. Man male doch einmal auf den Hintergrund der ursprünglichen Finsternis apokalyptische Szenen, turmhohe und gewaltige Himmelslandschaften, auf denen Champagner wie Feuer vom Himmel fällt oder die schrecklichen Farben des Portweins, die den dunkeln Himmel purpurrot und lohfarben aufglühen lassen. So muß der wilde Abstinenzler fühlen, sich ins tiefsaufende Gras werfen und die Beine verzückt gegen den Himmel strecken, wenn er dem Rauschen des Regens lauscht. 22

Er predigt, man solle im Bett liegen bleiben und träumen: „Wenn ein gesunder Mann im Bett liegt, so laßt ihn liegen und verlangt keine Entschuldigung"; 23 das Bett hat nur den einzigen Nachteil, daß es noch keine Pinsel gibt, lang genug, die wunderbar weiße Zimmerdecke zu bemalen. Chesterton preist das Nichtstun; die edle Gewohnheit des Nichtstuns wird auf eine Art vernachlässigt, daß die Degeneration einer ganzen Rasse droht. 24 Wie weit der moderne Mensch von aller Ursprünglichkeit entfernt ist, zeigt sich daran, daß seine Berufe keine Lieder mehr haben. 25 Deshalb dichtet Chesterton für die Bankangestellten einen „Chorus in Praise of Simple Addition": 19 20 21 22 23 24 25

Kapitel in Verteidigung. T h e Shop of Ghosts, Essays 147. Wine when it is red, Essays 69. T h e Romantic in the Rain, Essays 211. On Lying in Bed, ebda. 106. On Leisure, ebda. 291. Little Birds who won't sing, ebda. 123 ff.

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Die geistigen Grundlagen des Spiels Up, my lads, and lift the ledgers, sleep and ease are o'er. Hear the Stars of Morning shouting: ,Two and Two are Four.' Though the creeds and realms are reeling, though the sophists roar, Though we weep and pawn our watches, Two and Two are Four.26 Und je mehr ich darüber nachdachte, umso gewisser schien mir, daß die wichtigsten und typischsten modernen Dinge nicht von einem Lied begleitet werden können. Man kann zum Beispiel nicht ein großer Finanzmann sein und singen, weil man nur ein großer Finanzmann werden kann, wenn man still ist. Man kann nicht einmal in vielen modernen Kreisen ein Mann der Öffentlichkeit sein und singen, weil es in diesen Kreisen zum Wesen des Mannes der Öffentlichkeit gehört, daß er beinahe alles privat erledigt. Niemand kann sich ein Lied der Geldgeber vorstellen . . . Auf unserm Leben lastet etwas, das den Geist erstickt. Bankangestellte haben keine Lieder, nidit weil sie arm sind — Seeleute sind viel ärmer —, sondern weil sie traurig sind. Auf dem Heimweg kam ich an einem winzigen kirchlichen Gebäude vorbei, das von Gesang geschüttelt wurde. Hier sang man jedenfalls, und es kam mir in den Sinn, was ich schon oft gedacht hatte: daß bei uns das Übermenschliche der einzige Ort ist, wo man noch Mensdiliches findet. Man hat die menschliche Natur gejagt, und sie hat sich in das Heiligtum geflüchtet.27

Mit einem Stück Kreide in der Tasche wandert das Kind Chesterton durch diese verrückte Welt und schreibt an die Hauswände: James Harrogate, thank God for meat, Then eat and eat and eat and eat.28 Alle Dinge, denen er begegnet, sind Bruchstücke von etwas anderem, „das äußerst erregend sein würde, wenn es nicht zu groß wäre, um gesehen zu werden. Die Verworrenheit unseres Lebens entsteht dadurch, daß es zu viele interessante Dinge in ihm gibt, sodaß wir uns nicht mehr ernsthaft für irgendetwas interessieren können. "Was wir seine Trivialität nennen, sind in Wirklichkeit nur die äußersten Enddien zahlloser Märchen." 2 9 Im schönsten seiner Essays 30 zieht der Dichter mit braunem Packpapier und farbigen Kreiden bewaffnet in die Natur hinaus, um zu malen: Ich wollte Teufel und Seraphim zeichnen, blinde alte Götter, wie sie die Menschen vor der Morgendämmerung des Rechten verehrten, Heilige in hochroten Gewändern, seltsam grüne Meere, und alle heiligen oder monströsen Symbole, die in hellen Farben auf braunem Papier so gut aussehen. Sie verdienen viel eher gezeichnet zu werden als die Natur, zugleich sind sie auch viel leichter zu zeichnen. Ein gewöhnlicher Künstler hätte vielleicht die Kuh gemalt, die mit hängendem Kopf auf das benachbarte Feld kam; aber ich zeichne die Hinterbeine von Vierfüßlern immer falsch. So malte ich die Seele der Kuh, die ich im Sonnenlicht dort klar vor mir 26 27 28 29 30

ebda. 125. ebda. 127 f. The Hypothetical Householder, Essays 197. The Secret of a Train, ebda. 75. A Piece of Chalk, ebda. 70 ff.

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Spiel

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sah; und die Seele war ganz von Purpur und S i l b e r ; sie hatte sieben H ö r n e r und besaß das Geheimnis aller Tiere. 3 1

Chesterton hat die weiße Kreide zu Hause vergessen. Weiß jedoch ist auf braunem Papier Farbe und nicht bloßes Fehlen von Farbe. Weiß ist mehr: Gott malt in Weiß. Chesterton ist verzweifelt. „Da stand ich plötzlich auf und brüllte vor Lachen, sodaß die Kühe midi anstarrten und eine Kommission w ä h l t e n . . . Ich stand auf einem gewaltigen Lager weißen Kalks." 3 2 Chesterton entdeckt, daß Südengland nicht nur eine große Halbinsel, sondern „noch etwas viel Bewundernswerteres ist". Das Große wird zum Kleinen, das Kleine zum Großen, alles steckt voll Wunder. Der Mensch sitzt auf einem Kreidefelsen und findet keine weiße Kreide. Das ist Chestertons Welt- und Lebensgefühl. Jemandem, der das Spiel nicht liebt, mögen alle diese Zitate als belanglose Spielereien eines Kindskopfs erscheinen; aber dieser Jemand wird wenigstens zugeben müssen, daß Chesterton in einigen Werken trotz des Unsinns zu beachtlichen Erkenntnissen gekommen ist. E r wird zwar sagen: „Trotz des Unsinns", wir halten dem entgegen: „Wegen des Unsinns". Denn das kindliche Spiel erweist sich als ein Hebel, mit dem eine ganze falsche Welt aus den Angeln gehoben werden kann. W o Chesterton mit den Dingen zu spielen beginnt, bekommen diese ein neues Gesicht und eine neue Weihe. Und wiederum ist es für das Spiel völlig belanglos, ob es sich um „Kleinigkeiten" des Alltags oder um „große" Fragen handelt. Mit Kleinigkeiten beginnt Chestertons Kampf gegen alles, was Unrecht ist an der Welt, gegen jene ungeheure moderne Ketzerei, welche die Menschenseele den Bedingungen der Zeit anpassen will, statt diese der Menschenseele anzuqo

passen : Ich beginne mit dem H a a r eines kleinen Mädchens. Das ist, was idi bestimmt weiß, auf jeden Fall eine gute Sadie. Was immer sonst schlecht sein mag, der Stolz einer guten Mutter auf die Schönheit ihrer Tochter ist gut. Es ist eine jener adamantischen Zärtlichkeiten, die der Prüfstein jedes Zeitalters und jeder Rasse sind. Wenn andere Dinge dagegen sprechen, müssen die andern Dinge weichen. Wenn Gutsherren und Gesetze und Wissenschaften dagegen sind, müssen Gutsherren und Gesetze und Wissenschaften weichen. Mit den roten Locken einer kleinen Schelmin aus der Gosse will ich an die ganze moderne Zivilisation Feuer legen. Weil ein Mädchen langes H a a r haben soll, soll sie eine freie und ausgeruhte M u t t e r haben; weil sie eine freie Mutter haben soll, sollte sie keinen wucherischen Gutsherrn haben; weil es keinen wucherischen Gutsherrn geben soll, sollte eine neue Vermögensaufteilung stattfinden; weil eine neue Vermögensaufteilung stattfinden soll, muß Revolution sein! Diese kleine Schelmin mit dem goldroten H a a r (der ich eben zugesehen habe, wie sie an meinem Haus vorbeigeschlendert ist), an ihr soll nicht gezwackt und geschnitten und geändert werden; ihr H a a r soll nicht kurz geschnitten werden wie das einer Nonne. N e i n ! Alle Königreiche der Erde sollen ihr zulieb verwüstet und verstümmelt werden. Die Stürme der Welt sollen um dieses ungeschorenen Lammes willen besänftigt werden. Alle Kronen, die ihrem H a u p t e nicht passen, sollen zerbrochen werden, alles Zier- und Bauwerk, das mit ihrer Glorie nicht harmoniert, soll \erebda. 72. ebda. 74. 3 3 What's W r o n g with the World? London Cassell 1910. Deutsch: W a s Unrecht ist an der W e l t , München 1924, 119. 31

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gehen! Ihre Mutter mag ihr befehlen, ihr Haar aufzubinden; denn das ist natürlidie Autorität; aber der Kaiser des Planeten soll ihr nicht gebieten, es abzuschneiden. Sie ist das geheiligte Menschenbildnis; rings um sie soll aller soziale Bau verschwinden und bersten und fallen; es soll an den Grundpfeilern der Gesellschaft gerüttelt werden; die Dächer des Zeitalters mögen einstürzen; und nicht ein Haar ihres Hauptes soll fallen! — 3 4 Man hat Chesterton schon den „Abenteurer des Glaubens" genannt; 3 5 dieser N a m e ist ebenso oberflächlich wie der vom „Sänger und Propheten des Durchschnittsmenschen". 38

Denn

Abenteuer

und

Poesie

des

Durchschnittsmenschen

gründen auf der Kindlichkeit, diese aber steht auf der Gotteskindschaft des Menschen. Das ist die letzte metaphysische Begründung des Spiels. „Die Welt w a r [für das K i n d ] ein Erschrecken, das nichts Schreckliches an sich hatte. Das Dasein war

eine Überraschung,

aber

eine

angenehme

Überraschung.

Eigentlich

sind

meine ersten Ansichten genau in einem Rätsel ausgedrückt, das mir seit meiner Knabenzeit im Gedächtnis haften blieb. Die Frage hieß: ,Was sagt der erste Frosch?' U n d die A n t w o r t w a r : ,Gott, wie lässest du mich hüpfen!' Das sagt in Kürze alles aus, was ich selber sage. Gott ließ den Frosch hüpfen; der Frosch aber tut nichts lieber als das." 3 7 Der geistige Ruin der Zeit ist für Chesterton durch verwilderte Vernunft herbeigeführt worden, nicht durch verwilderte Phantasie. 3 8 Denn der Wahnsinnige ist für ihn der Mensch, der alles verloren hat, ausgenommen seinen Verstand,

indem er nach seiner eigenen Meinung keine sinnlosen

Dinge mehr tut. 3 9 Der Glückliche und Gesunde vollbringt Sinnloses, nur dem Kranken fehlt die Kraft, müßig zu sein. 40 Für Chesterton erzeugt die Vernunft den Wahnsinn der Zeit — , 4 1 das Christentum dagegen befreit von dem Irrsinn verwilderter

Vernunft;

es ist ein Märchen von

der sonnigen Landschaft

des

gesunden Menschenverstands: 4 2 Der äußere Ring des Christentums bildet eine starre Mauer von ethischen Abtötungen und berufsmäßigen Priestern; doch innerhalb dieser unmenschlichen Mauer wird man das alte menschliche Leben finden, reigentanzend wie Kinder und zechend wie Männer; denn das Christentum ist der einzige Rahmen für heidnische Freiheit. Aber in der modernen Philosophie liegt der Fall gerade umgekehrt: in ihrem äußern Ring geht es künstlerisch und ausgelassen zu; die Verzweiflung aber wohnt innen. — Und ihre letzte Verzweiflung besteht darin, daß sie nidit an einen Sinn des Universums glaubt; daher besteht für sie keine Hoffnung auf Romantik; ihre Romane entbehren der eigentlichen Handlung. Man kann im Lande der Anarchie keine Abenteuer erwarten. Aber man kann sich auf jede beliebige Anzahl von Abenteuern gefaßt machen, wenn man in das Land der Autorität zieht. In einem Dickicht von Skeptizismus ist kein Sinn zu entdecken; aber einem Menschen, der 34 35 38 37 M 39 40 41 42

ebda. 299 f. so Karl Pfleger, Geister, die um Christus ringen, 6. Aufl. Heidelberg 1951, 179 ff. ebda. 184 ff. Abenteuer des Glaubens 91. ebda. 63. ebda. 32. ebda. 31. ebda. 28. ebda. 81.

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durch den Wald der sichern Lehrsätze und festen Pläne geht, wird eine Bedeutung nach der andern aufgehen. Hier hängt an jedem Ding eine Geschichte wie an den Werkzeugen oder Bildern im Hause meines Vaters. Ich höre auf, wo ich angefangen habe — am rechten Ende. Endlich bin ich durch das Tor aller guten Philosophie getreten. Ich bin in meiner zweiten Kindheit angelangt. 4 3

Die Konversion von der Anglikanischen zur Römisch-Katholischen Kirche von 1922 ist nur eine letzte Konsequenz von Chestertons eigenen Spielregeln der Umgrenzung; 4 4 er geht nun darauf aus, das Märchen des Glaubens zu entdecken, im Wunder eines Franziskus von Assisi, eines Thomas von Aquin und in Christus selbst. 45 Das Christentum gibt dem Unsinn der Welt einen neuen Sinn: „Das ist es, was das Leben so großartig und so seltsam zugleich macht. W i r sind in der falschen W e l t . . . D e r falsche Optimismus, das moderne Glück, macht uns müde, weil er uns sagt, wir paßten in diese Welt. Das wirkliche Glück ist, daß wir nicht in diese Welt gehören. W i r kommen anderswo her. Wir haben uns verirrt." 4 8 Die menschliche Tragödie ist uns vielleicht „als eine Art mitleidsvoller Komödie bewilligt, weil das Ungestüm göttlicher Dinge uns wie eine trunkene Posse überrumpeln würde. W i r können unsere eigenen Tränen leichter nehmen als den kolossalen Leichtsinn der Engel. So sitzen wir vielleicht in einem schweigenden Sternenraum,während das Lachen des Himmels zu laut ist, als daß wir es hören könnten." 4 7 Das große befreiende Lachen Gottes trennt Chesterton von Mörike wie von Scheerbart. Mörike muß, wie ein Kind weinend, zur Mutter N a t u r fliehen, doch diese schenkt ihm keine Erlösung vom Zwang des Spiels — im Gegenteil: erst die Flucht zur Natur schafft jene echten Dämonen, die ihren Schöpfer zu zerstören drohen, erst aus ihr wächst die mythenbildende Kraft. Scheerbarts Gelächter dagegen verhallt im Kosmos ohne Echo. Chesterton ordnet das Spiel in die Gotteskindschaft des Menschen ein. Der Mensch muß Kind sein, weil er ein Kind Gottes ist. Das gibt dem Spiel ein verhältnismäßig sicheres Fundament. D i e großen Romane Chestertons zeigen uns freilich, daß selbst die Gotteskindschaft den Menschen nicht völlig vor den Dämonen des Spiels bewahrt, daß das Urgelächter Gottes audi ein unheimliches Gelächter ist. Als Dichter ist Chesterton vor allem durch seinen Father Brown bekannt geworden, einen hilflos kindlichen und schäbigen Priester, der Kraft seines Amtes mehr vom Wesen des Verbrechens weiß als der Verbrecher selbst und deshalb den Schlüssel zu allen Untaten findet.48 Chesterton hat der Kriminalgeschichte — Abenteuer des Glaubens 261. „He had dwelt so long in a spiritual uncertainty that he yearned to find himself anchored to a definite belief", T h e Chestertons 2 6 4 f. 4 5 St. Francis of Assisi, London Hodder & Stoughton 1923 u. ö. (deutsch: Freiburg 1. Br. 1959); St. Thomas Aquinas, London H o d d e r & Stoughton 1933 u. ö. (deutsch: 2. Aufl. Heidelberg 1957) etc. 4 8 The Ballade of a Strange Town, Essays 158. 4 7 Abenteuer des Glaubens 265. 4 8 zuletzt gesammelt in: G. K. Chesterton, T h e Father Brown Stories, 5. Aufl. London Cassell 1951. 43

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der „frühesten und einzigen Form volkstümlicher Literatur, in der sich etwas Sinn für die Poesie des modernen Lebens geltend macht" 4 9 — Impulse gegeben, die bis ins Bekenntnishafte gehen, indem er Father Brown mit jener ins Absolute weisenden Kindlichkeit umgibt. Seine schönsten Schöpfungen sind aber die Romane „The Napoleon of Notting Hill", „The Man who was Thursday", „The Flying Inn" und „The Return of Don Quixote". „The Napoleon of Notting Hill" ist die Geschichte eines Jugendtraums, der Wirklichkeit wird, die Geschichte vom Wasserturm auf Campden Hill in LondonKensington gegenüber der Kirche, in der Chesterton getauft wurde. 50 Der Roman spielt im London des Jahres 1984 und ist die Erzählung vom Kind gebliebenen Mann Adam Wayne, der mit der Ernsthaftigkeit, deren nur ein Kind fähig ist, einen clownesken Einfall des Königs von England — eines zu dieser Zeit durch Zufallsmehr erkorenen Beamten — verwirklicht. Wie der König auf Notting Hill von einem Knaben, der sein Schloß mit einem Holzschwert verteidigt, angehalten wird, bestimmt er, daß die Quartiere Londons geschlossene Städte mit Banner und Wappen werden sollen. Was für ihn eine Laune phantastischen Humors ist und was seine geschäftstüchtigen Untertanen nur widerwillig ertragen, indem sie Erdarbeiter und Sandwichmänner als Herolde und Stadtwachen anstellen, nimmt der Knabe Adam Wayne für Wirklichkeit. E r wird später Bürgermeister von Notting Hill, verteidigt seine Pumpenstraße gegen das Projekt einer Durciigangsstraße und wirft dem König und Spaßmacher, als dieser vor einem Blutvergießen warnt, voll Verachtung ins Gesicht: O h , ihr Könige, ihr Könige, wie menschlich seid ihr, wie empfindlich, wie bedacht! I h r macht Kriege einer Grenze wegen oder wegen der Einfuhr aus einem ausländischen H a f e n . Ihr vergießt B l u t wegen eines bestimmten Zolls auf Spitzen oder für den einem Admiral schuldigen G r u ß . Aber für das, was das Leben wert oder unwert macht — wie menschlich seid ihr da. Ich behaupte hier und weiß sehr gut, was ich sage, es hat niemals notwendige Kriege gegeben außer den Religionskriegen. D i e Religionskriege waren die einzigen gerechten Kriege, sie waren die einzigen menschlichen Kriege. Denn diese Männer fochten für etwas, das wenigstens den Anspruch darauf erheben konnte, Glück und Kraft des Menschen auszumachen. Ein Kreuzzüglcr glaubte doch immerhin, daß der Islam der Seele jedes Menschen, sei es eines Königs oder Kesselflickers, schaden müsse, j a , daß er sie G o t t wegkapere. Ich glaube nun, daß Buck und B a r k e r und alle diese reichen Geier der Seele jedes Menschen schaden, jeden Zoll der Erde, ja, jeden Ziegelstein der Häuser schänden, daß sie wirklidi Seelenfang treiben. Glauben Sie wirklich, ich hätte kein Recht für Notting H i l l zu kämpfen, Sie, dessen englische Regierung so oft für reine Narrenspossen gekämpft hat? Wenn es, wie ihre reichen Freunde sagen, keine Götter gibt und der Himmel über uns leer und dunkel ist, wofür sollte dann ein M a n n kämpfen, wenn nicht für den O r t , wo er das Paradies seiner Kindheit und den kurzen Himmel seiner ersten Liebe erlebte? Wenn Tempel und Bibel nicht heilig sind, was ist dann heilig, wenn nicht eines Mannes eigenste Jugend? 5 1

Verteidigung 158. vgl. D e r Mann mit dem goldenen Schlüssel 114 f., 119. 5 1 G. K . Chesterton, Napoleon o f N o t t i n g H i l l , London J o h n Lane 1904. Deutsch: D e r H e l d von Notting H i l l , Berlin o. J . , 95 f . 49

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So kommt es zum blutigen Kampf; mit Hilfe eines Spielwarenhändlers, der im Hinterstübchen an Bleisoldaten schon jahrzehntelang über der Verteidigung von Notting Hill gebrütet hat, gelingt es Wayne, Notting Hill gegen tausendfache Übermacht zu halten und schließlich seine Feinde — die Armee von South Kensington — mit der Drohung, die Reservoire des Wasserturms in die Stadt auslaufen zu lassen, zur Kapitulation zu zwingen. Adam Wayne erreicht noch mehr: er zwingt den Geschäftsleuten der andern Viertel nicht nur seinen Kampf, sondern auch seine Ideale auf. Sie kämpfen und sterben nun für Bayswater oder South Kensington wie er für Notting Hill. Die Eintönigkeit der modernen Zivilisation wird durch den Kampf um ein unsinniges Ideal zerstört. Zwanzig Jahre nach seinem Sieg fällt Adam Wayne im Aufstand South Kensingtons und der andern Quartiere gegen die Tyrannei Notting Hills. So werden jene Urdinge wiedergeboren, die den Menschen jung machen und die ewig sind: Es gibt keinen Anbeter des Fortschritts, der nicht auf seinem Nacken das ungeheure Gewicht des müden Weltalls spürt. Aber wir, die wir das Alte vollbringen, sind von der N a t u r mit dauernder Unmündigkeit gesegnet. Kein M a n n , der liebt, glaubt, daß vor ihm schon jemand geliebt habe. Keine Frau, die ein K i n d hat, glaubt, daß es auch noch andere Kinder gibt. Kein V o l k , das für sein Land fidit, wird von dem Gedanken an zusammengebrochene Reiche belastet . . . die W e l t ist sich immer gleich, denn sie ist immer voller Überraschungen. 5 2

Auf dem Schlachtfeld nach der letzten Schlacht von Notting Hill sprechen die Stimme des toten Königs Auberon Quin, der den Scherz von den Quartierstädten erfunden hat, und die des toten Adam Wayne als die Stimme des Gelächters und der Ehrfurdit einen metaphysischen Dialog: ,Wenn ich nun G o t t wäre', sagte die Stimme [des K ö n i g s ] , ,und wenn ich die W e l t aus Laune erschaffen hätte. Wenn nun die Sterne, die für dich Ewigkeiten sind, nur das dumme Feuerwerk eines unsterblichen Schulbuben wären? Wenn nun Sonne und Mond, die du besingst, nur die beiden Augen eines ungeheuren und höhnischen Riesen wären, die er abwechselnd schließt und öffnet in einem unendlichen Blinzeln? Wenn die Bäume in meinen Augen nichts wären als lächerliche enorme Giftpilze, und wenn Sokrates und K a r l der G r o ß e für mich nur Viecher wären, die darum spaßhafter sind, weil sie auf den Hinterfüßen gehen? N i m m an, ich sei G o t t und hätte dies alles geschaffen, um darüber zu lachen.' ,Und nimm an, ich sei ein Mensch,' antwortete der andere [Adam W a y n e ] , ,und höre, daß ich dir eine A n t w o r t gebe, die selbst ein Lachen übertönt. Nimm an, daß ich dich nicht lästere, dir nicht fluche. Aber vernimm, daß ich, hochaufgerichtet unter dem Himmel, dir mit aller Kraft meines Wesens danke für das Paradies der Narren, das du geschaffen hast. Nimm an, ich preise dich mit einer wirklich schmerzhaften Begeisterung für den Scherz, der für mich eine so ungeheure Freude gewesen ist. Wenn wir einem Kinderspiel den Ernst eines Kreuzzuges verliehen, wenn wir deinen grotesken Blumengarten mit dem Blut von Märtyrern gekrönt haben, so haben wir eine Kinderstube in einen Tempel verwandelt. Ich frage didi im Namen des H i m m e l s : W e r h a t gewonnen? 5 3

Der Roman endet, indem das Gelächter des Gottes und die Ehrfurcht des Kindes gemeinsam über die Welt wandern: „Wir sind nur die beiden Teile eines un52 53

ebda. 2 2 9 f . ebda. 2 3 2 f .

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des Spiels

gebrochenen Gemütes. Gelächter und Liebe sind überall. D i e großen Kathedralen, die in den Jahrhunderten der Gottesverehrung .gebaut wurden, sind voll von lästerlichen Grotesken. Die Mutter lacht ständig über ihr K i n d , der Liebhaber lacht immer über die Geliebte, die Frau über den M a n n , der Freund über den Freund."54 In „The Return of D o n Q u i x o t e " 3 5 hat Chesterton das gleiche T h e m a nochmals zu gestalten versucht. D e r Bibliothekar Michael H e r n e wird durch eine Theaterauffährung aus seinen Büdiern herausgerissen. M i t ihm aufersteht die mittelalterliche Welt, und die feudalen und reaktionären Mächte glauben, ihn dem G e w e r k schaftsführer J o h n Braintree entgegenstellen zu können. H e r n e zwingt wie W a y n e seine Umgebung zu „konservativen R e v o l u t i o n "

eines neuen Rittertums.

Wie

W a y n e besiegt er seinen modernen Gegner und sitzt über ihn zu Gericht. E r muß jedoch mit seinem fanatischen Wahrheitsdrang erkennen, daß die adelige R i t t e r welt nidit zu erneuern ist; die heutigen Adeligen sind keine wahren Ritter mehr. D i e Adeligen, die sich um ihn geschart haben, sind Seifensieder und F a r b f a b r i k a n ten mit gekauften Titeln, die im Mittelalter nicht einmal in eine Zunft aufgenommen worden wären. D e r Arbeiterführer J o h n Braintree dagegen verkörpert das mittelalterliche Ideal, „daß jene die Herrschaft über das Gewerbe ausüben sollten, die allein und in gehöriger Weise dieses Gewerbe betreiben". 5 0 D i e Arbeiter sind die wahren Erben der Tradition. Michael Herne, die Ehrfurcht, zieht, begleitet von Douglas Murrel, seinem Gelächter, mit einer altersschwachen Droschke in die W e l t hinaus: Im Augenblick, ehe vernichtendes Gelächter donnergleich niederscholl, sahen die Zuschauer, wie von einem Blitzstrahl erhellt, klar und scharf, gleich einer momentanen Wiederauferstehung aus dem Schattenreiche, eine Vision und ein Erinnerungsbild. Die Backenknochen des hageren, scharfgesdhnittenen Antlitzes, der flammenähnliche Gabelbart, die eingesunkenen, fast immer irrsinnigen Augen blickten aus einem erschreckend bekannten Rahmen. Starr über dem Sattel der Rosinante, hochaufgeschossen und in zerbeulter Rüstung, hob dieses Bild jene ohnmächtige Lanze, die uns drei Jahrhunderte hindurch gelehrt hat, über das Speereschwenken zu lachen. Und hinter ihm ragte, ein riesiger gähnender Schatten, gleich der Vision jenes Leviathans von Gelächter, das groteske Hansom, an die Kiefer eines hämischen Drachens gemahnend, ihn ständig verfolgend — wie der Schatten der Karikatur unsere verzweifelte Würde und Schönheit verfolgt — ewig ihn überschattend, dräuend wie die Woge der Welt; und über allem schwebte der einfältigere und schwächere menschliche Geist und schaute — nicht unfreundlich — hinab auf alles, was das Höchste ist. — Und doch — trotz jenes hochgetürmten und überragenden Anhängsels der Lächerlichkeit, das gleich einer überwältigenden Last hinter ihm dreinschleppte, war alles in jenem Augenblick ausgelöscht und vergessen angesichts der Kraft und erschreckenden Leidenschaftlichkeit seines Antlitzes. 57

D a m i t legt sich über diese Geschichte eine leise Resignation, die dem „Napoleon o f Notting H i l l " fehlt. Wenn der neue D o n Q u i x o t e und sein Sancho Pansa später ebda. 236. G. K. Chesterton, The Return of Don Quixote, London Chatto & Windus 1927. Deutsch: Don Quijotes Wiederkehr, Leipzig o. J., 285. 5 6 ebda. 274. 5 7 ebda. 291 f. 54

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wieder zu den Frauen zurückkehren, die ihnen bestimmt sind, und Michael Herne in die Kirche als die einzige Heimstatt für eine Heiligkeit wie die seine eingeht, so kann das nicht den Eindruck verwischen, daß Chesterton in diesem Roman an der Kraft seiner Spielwelt zweifelt. Jedoch nur dort, wo der Mensch völlig an sein Spiel glaubt, gibt es ihm alles überwindende Stärke; deshalb verrät der Roman audi künstlerische Schwächen. In „The Flying Inn" 5 8 stemmt sich der irische Abenteurer Kapitän Dalroy mit seiner kraftvollen Ursprünglichkeit, mit Rum und Gesang gegen eine Welt von Verirrungen, gegen Abstinenzler, Vegetarier, Sektenprediger, Futuristen und Heuchler. Er siegt mit unsinnigen Scherzen und Streichen über Lord Philipp Ivywood, den Übermenschen, der alle diese „orientalischen Genüsse" nach England einführen will. Am Ende des Romans stellt sich heraus, daß Dalroy mehr ist als ein bloßer Mensch. In einer visionären Schlacht zwischen Morgen- und Abendland wird er zum Mythus der Ursprünglichkeit des christlichen Westens; sein Gegenspieler enthüllt sich als Helfeshelfer Osman Paschas, der mythischen Verkörperung Asiens. Nicht zufällig jedoch ist Dalroy Ire, denn Chestertons trunkene Spielfreude ist im Grunde heidnisch-magischen Ursprungs und findet im Christentum bloß ihre neue beglückende Rechtfertigung, wie wir das von der irischen Religiosität her kennen. Der heidnische Ursprung im christlichen Gewand zeigt sich vor allem in den beiden Romanen „Manalive" und „The Man who was Thursday". Mit „Manalive" — wofür „Menschenskind" eine nicht ungeschickte Übersetzung ist — hat Chesterton einen wahren Dämon des Spiels geschaffen. Wie bei Rumpelstilzchen kennt niemand seinen Namen. Immer wieder wird er gefragt, wer er sei: „Sie müssen sich doch irgendwie benennen." „Midi irgendwie benennen," donnerte der Verborgene und schüttelte den Baum so, daß alle seine zehntausend Blätter auf einmal zu sprechen schienen: „Ich nenne midi R o l a n d Oliver Jesajah Charlemagne Arthur Hildebrand H o m e r D a n t o n Michelangelo Shakespeare Brakespeare . . . " „Aber Menschenskind!" begann I n g l e w o o d verärgert. „Sie haben es getroffen!" brüllte es aus dem schaukelnden Baum, „das ist mein richtiger N a m e . " U n d er brach einen Z w e i g ab, und ein oder zwei Herbstblätter flatterten über den M o n d hinweg. 5 9

Diese Antwort ist keine Antwort; Manalive bleibt ein rätselhaftes Wesen, das die Welt wieder einrenkt, indem es sie auf den Kopf stellt. Geheimnisvoll weht der Sturm die riesenhafte Gestalt mit dem seltsam unnatürlich kleinen Kopf und dem leuchtend blonden H a a r in die Pension „Haus Leuchtfeuer". 60 Auf dem Kopfe stehend führt sich Manalive in die Gesellschaft ein, wie Auberon Quin in „Napoleon of Notting Hill" auf dem Kopfe stehend die Königswürde angenommen hat. Aller Unsinn, den Manalive treibt, besitzt einen dunklen Sinn: „Es 58 G. K. Chesterton, T h e Flying Inn, London Methuen 1914. Deutsch: D a s fliegende Wirtshaus, München 1922. 59 G. K. Chesterton, Manalive, London N e l s o n 1912. Deutsch: Menschenskind, M ü n chen 1926, 123 f. 60 ebda. 20.

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sieht so aus, als ob er nur einen Schritt von der gewöhnlichen S t r a ß e abzuweichen brauchte, um jede Minute in ein Wunderland zu gelangen". 6 1

Unverständlich

dunkel und doch rätselhaft sinnvoll sind seine Worte. S o spricht er beim Auspacken einer riesigen, mit sinnlosen Dingen gefüllten Reisetasche vor sich h i n : Die lieben Leute sprechen vom unendlichen Weltall . . . von Unendlichkeit und Astronomie; nicht sicher, . . . ich glaube, die Sachen liegen zu dicht beisammen . . . eingepackt, für die Reise . . . die Sterne liegen auch zu dicht nebeneinander . . . die Sonne ist ein Stern, zu dicht, um überhaupt gesehen zu werden . . . zu viele Kieselsteine am Strand, sie müßten alle im Kreise gelegt werden; zu viele Grashalme, um sie betrachten zu können . . . es sind so viele Federn auf einem Vogel, daß das Gehirn es nicht faßt; warten, bis die große Tasche ausgepackt ist . . . so kommen wir dann alle auf unsern richtigen Platz.* 2

In solchen Augenblicken ist Manalive G o t t selbst, der spielt und seine große Tasche auspackt. A l t e r heidnischer G o t t ist er, wenn eine „ F l a m m e heidnischen G o l d e s " 6 3 auf seinen H a a r e n liegt oder wenn er so im G a r t e n steht: „Wie in Stein gehauen w a r er unbeweglich geblieben; der G o t t des Gartens. Ein Sperling hatte sich auf eine seiner breiten Schultern gesetzt und war, nachdem e r sein Federkleid in Ordnung gebracht hatte, weggeflogen." 6 4 Aber er ist ein eigenartiger Gott, denn er ist ein K i n d : „Unbewußt w a r er mit einem Riesenschritt von der Kindheit zum Mannesalter gelangt, und auf diese Weise hatte er die Krisenzeit der Jugend, in der die meisten von uns alt werden, übersprungen." 6 5 Seine U n heimlichkeit

verdichtet

sich immer mehr,

sodaß

ihn einzelne

Pensionäre

für

irrsinnig halten und einen A r z t herbeirufen. Manalive schießt auf diesen m i t einem Revolver, von dem er behauptet, er streue nicht T o d , sondern Leben taus.66 D e r A r z t als Vertreter rationalster Wissenschaft klagt ihn an. E r nennt ihn einen der grausamsten und schrecklichsten Feinde der Menschheit, dessen Raffiniertheit und Erbarmungslosigkeit noch nie ihresgleichen gehabt hätten: E r hat schon viele Namen geführt, aber nicht einen, an dem nicht Verwünschungen haften. Dieser Mann . . . hat auf seinem Weg durch die Welt eine Spur von Blut und Tränen hinterlassen . . . Die Irrenanstalt, in die er eingesperrt wird, muß wie eine Festung mit dicken Mauern und Kanonen umgeben werden, sonst wird er wieder ausbrechen und von neuem Gemetzel und Entsetzen in die Welt bringen. 67

Freilich werden in der Folge a l l e konkreten Anklagen widerlegt: der Philosoph und absolute Lebensverneiner, dem er mit der Pistole in der H a n d versprochen hat, ihn von seinem Leiden am Leben endgültig zu erlösen, und den er so zwang, zwischen einer Lobpreisung des Lebens oder dem T o d zu wählen, ist ihm für diese T a t ewig dankbar, ebenso der idealistische Hilfsgeiscliche, den e r zu „praktischem Sozialismus", el 62 63 64 65 66 67

ebda. ebda. ebda. ebda. ebda. ebda. ebda.

44. 35. 60. 113 f. 37. 47. 88.

dh. zum Einbruch

zwang,

aber zu einem Einbruch

in

Das göttliche

Spiel

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Manalives Haus. Die Anklage wegen böswilligen Verlassens seiner Gattin fällt in sich zusammen, als sich herausstellt, daß Manalive von Croydon über Dünkirchen, durch die russische Steppe, durch China und Kalifornien um die ganze Erde gewandert ist, um sein eigenes Haus von der andern Seite her zu betreten, um über die Hecke springen, gelassen Tee trinken und sagen zu können: „Ach, was für einen schönen Platz habt ihr hier", gerade so, als ob er ihn noch nie gesehen hätte. 68 Polygamie hat er nur mit «einer eigenen Frau getrieben, die er als einsame Schneiderin, alleinstehende Stenotypistin, Seminaristin immer wieder entführt, wie er sie nun hier als Gouvernante fortlocken will. Alle seine angeblichen Verbrechen sind nichts als Ubermut, überschäumende Kraft, Ausgelassenheit und lärmende Fröhlichkeit. Manalive ist die „unschuldige Seele, und darum ist er so merkwürdig", 69 er ist das Sternenkind, die eigene zurückgekehrte Jugend der Menschheit. 70 Er ist wie ein Mann, der wie wahnsinnig in einer Spielhölle spielt und nachher entdeckt, daß er um Hosenknöpfe spielt." 71 Geheimnisvoll, wie er gekommen ist, verschwindet er, nachdem er die Bewohner der Pension glücklich gemacht hat: Während der Sturm wie mit Trompetenstößen den Himmel zerriß, wurde ein Fenster nach dem andern im Hause hell. Ehe die kleine Gesellschaft zwischen Lachen und Windstößen sich wieder ins Haus zurückgetastet hatte, sah sie die große, affenartige Gestalt von Innozenz Smith auf dem Dach. Er war aus einem Mansardenfenster herausgeklettert, und nun brüllte er immer wieder: ,Haus Leuchtfeuer' und schwenkte dabei um seinen Kopf einen riesigen Holzscheit oder Klotz von dem Herdfeuer unten. Von diesem brennenden Scheit strömte eine leuchtende rote Flamme und ein violetter Rauchstreifen in die lärmende Luft hinaus. Innozenz war so deutlich sichtbar, daß man ihn von drei Grafschaften aus hätte erblicken können; aber als sich der Wind legte und die Gesellschaft auf dem Gipfel ihrer Fröhlichkeit wieder nach Mary und Smith suchte, waren die beiden nicht zu finden.72

Trotz aller rationalen Erklärung seiner Streiche bleibt Manalive so unheimlich wie zuvor. Ist er „heilig, heilig, heilig", wie ihn Moses Gould nennt? 73 Ist er Mensch, Dämon oder Gott? Das Buch gibt keine Antwort auf diese Frage. Doch hat sie Chesterton schon beantwortet, denn Manalive ist eine dämonischere Form von Auberon Quin, und der hat gesagt: „Wenn ich nun Gott wäre, und wenn ich die Welt aus Laune erschaffen hätte, wenn nun die Sterne, die für dich Ewigkeiten sind, nur das dumme Feuerwerk eines unsterblichen Schulbuben wären? . . . Nimm an, ich sei Gott und hätte dies alles geschaffen, um darüber zu lachen." 74 Manalive ist dieser Gott des Gelächters über die Welt, eines Lachens der Freude. Manalive ist jedoch nicht das letzte Wort Chestertons. Die wirkliche Tiefe dieser Figur offenbart sich erst in seinem besten Werk, in „The Man who was 08 09 70 71 72 73 74

ebda. 242. ebda. 82. ebda. 83. ebda. 270. ebda. 278 f. ebda. 210. Der H e l d von Notting Hill 232.

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Die geistigen Grundlagen

des

Spiels

Thursday". Zu der Gestalt Sonntags in diesem Roman kennen wir nur eine ebenbürtige mythische Verkörperung des Spiels, Mörikes Sicheren Mann. Sonntag und der Sichere Mann sind ein Wesen, das bei Mörike das Gewand des Märchens und der Sage, bei Chesterton ein modernes Kostüm angezogen hat, Dämon oder Gott des absolut sinnlosen und darum sinnvollen Spiels. Mörikes Riese bleibt ein Naturwesen, auch deshalb haben wir dieses Dichters Spiel dämonisch genannt; Chestertons Sonntag dagegen vertieft sich zum christlichen Gott; das göttliche Spiel hat Manalives dämonisches Gelächter der Freude in sich laufgenommen, aber es entquillt einem noch tieferen Born: dem Leiden Gottes an dem und für den Menschen. „The Man who was Thursday", „ Der Mann, der Donnerstag war", verblüfft schon durch seinen Titel, der Erinnerungen an den Freitag des „Robinson Crusoe" weckt und bei den Zeitgenossen Parodien wie „The Man who was thirsty" (als Anspielung auf Chestertons Trinkfreude), „Die Frau, die halb neun Uhr war", „Die Kuh, die morgen abend war" usw. auslöste.75 Mit Recht trägt der Roman den Untertitel „Ein Nachtmahr", denn mit Sonntag verglichen ist etwa Manalive harmlos. Sonntag verbreitet bleibendes Entsetzen um sich. Er ist der Präsident des Zentralen Anarchistenrates, „der mächtigste Mann von ganz Europa". Seinen wahren Namen kennt niemand; Sonntag heißt er nur, weil sich die sieben Mitglieder des Rats nach den sieben Wochentagen nennen; manche seiner Bewunderer sprechen vom Blutsonntag. Der Roman ist dem Titel gemäß zuerst die Geschichte Donnerstags, des Dichters Gabriel Syme, der von einem massiv gebauten Menschen in einem düstern Raum der Londoner Kriminalpolizei mit den seltsamen Worten „Ich verurteile sie hiermit zum Tode" als Detektiv für die Anti-AnarchistenAbteilung angeworben wird. 78 Syme gelingt es, als Donnerstag, dh. als Vertreter der Londoner Filiale, in den Zentralen Anarchistenrat gewählt zu werden, indem er in der Wahlversammlung den eigentlichen Kandidaten zum humanen Sonntagsschulprediger stempelt und ihn mit der Härte und Erbarmungslosigkeit eines anarchistischen Scharfrichters aussticht. Am Essen -des Zentralrats lernt er Sonntag kennen, eine Kolossalstatue von absoluten Proportionen, entsetzlich traumhaft groß wie die Memnonmaske im Britischen Museum, die der Schrecken seiner Jugend war. 77 In einer Fülle von Abenteuern enthüllen sich — das ist der Inhalt des Romans — die sechs Wochentage voreinander, indem sie sich durch London und Frankreich jagen und gegenseitig bekämpfen. Es stellt sich heraus, daß sie samt und sonders verkleidete Bürger und Detektive der Kriminalpolizei sind. So würde sich alles in Gelächter und Wohlbehagen auflösen, wenn Sonntag nicht wäre: „Die bloße Nennung dieses Namens machte Syme frieren und verstummen. Und sein Lachen erstarb ihm in seinem Herzen, bevor es noch auf seinen Lippen erstarrte." 78 Die Wochentage wollen den Kampf mit Sonntag aufnehmen nach dem 75

vgl. Der Mann mit dem goldenen Schlüssel 165. G. K. Chesterton, The Man who was Thursday, Bristol Arrowsmith-London Simpkin & Marshall 1908. Deutsch: Der Mann der Donnerstag war, München 1924, 74. 77 ebda. 83 ff. 78 ebda. 129; vgl. audi 159, 192 ff., 237 ff. 78

Das göttliche

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wunderbaren Wort Symes: „Kein Mensch soll in der Welt das belassen, was er fürchtet." 79 Sie glauben ihn zu überwinden, wenn sie ihm die Rumpelstilzchenfrage stellen, der Name soll die magische Gewalt Sonntags brechen. Sonntag antwortet im Tone biblischer Verkündigung: „Ich aber sage euch, eher findet ihr die Wahrheit über den geringsten Baum und über die höchste Wolke, als daß ihr die Wahrheit über mich findet. Ihr werdet das Meer ergründen — und ich werde euch immer noch ein Rätsel sein." 80 N u r eines verrät er: er hat sie alle als Polizisten angeworben. Damit bricht wieder die Spielfreude durch. Sonntag flieht, und es beginnt die großartig unsinnige Jagd durch London. Zuerst fährt er in einer Droschke, dann reißt er die Peitsche des Kutschers an sich und lenkt selbst. Er schwingt sich auf ein dahinrasendes Feuerwehrauto, geht mit einem Elephanten aus dem Zoo durch und verbreitet Terror in den Straßen, bis er schließlich den Fesselballon einer Ausstellung löst und mit ihm in den Himmel aufsteigt. Während der ganzen Jagd schneidet er den in Droschken nachsetzenden Detektiven Grimassen oder zeigt ihnen seine „unmeßbare, unübersehbare Hinteransicht". Er bombardiert sie mit Papierknäiueln voll unsinniger Botschaften. Die Jagd endet außerhalb Londons auf den grünen Hügeln von Surrey, wo die sechs müden und verschmutzten Wochentage das Rätsel des in den Himmel gestiegenen Sonntags zu lösen versuchen. 81 Da hebt einer von ihnen wie im Traum zu singen an: „Pan, Pan war ein Gott und ein Tier"; 82 „die Natur, zu einem mysteriösen Jokus aufgelegt", hat schon vorher ein zweiter empfunden, 8 3 ein „ins Riesenhafte übersetztes Baby", hat ihn ein dritter genannt. „Pan ist alles", und mit gesenktem Blick fügt einer hinzu: „Sie dürfen nicht vergessen, daß man auch panisch sagt." 84 Wie wenn er auf dieses Stichwort gewartet hätte, landet der Ballon. Die Pseudoanarchisten werden in sechs Equipagen mit prunkvollem Zeremoniell und blitzenden Degen zu einem langen niedrigen Haus geleitet, das jeden „auf irgendeine unsagbare Weise an seine Knabenzeit erinnert", an eine Zeit, „aus der er sich nicht einmal seiner Mutter erinnern konnte." 85 Im Auftrage des „Meisters" werden sie in Gewänder für einen Kostümball gekleidet, die mit Symbolen bestickt sind. Diese entsprechen dem Geschehen der biblischen Schöpfungsgeschichte an ihrem Wochentag und — wie sich jetzt zeigt — ihrem ureigensten Wesen. Am Abend spielt sidi im Garten ein riesiger Karneval ab, indem zuerst alle Gegenstände, die in der abenteuerlichen Erzählung vorgekommen sind, miteinander tanzen. Daraus entwickelt sich eine ungeheure Menschheitsmaskerade zu triumphierender Marschmusik: „Und jedes tanzende Paar schien ein Roman für sich. Ob nun eine Nymphe mit einem Briefkasten oder ein Bauernmädchen mit dem Mond tanzte, es war immer irgendwie so absurd wie ,Alice im Wunderland' und doch so tiefsinnig und

79 80 81 82 83 84 85

ebda. ebda. ebda. ebda. ebda. ebda. ebda.

130. 242 f. 256 ff. 265. 251. 268. 272.

Die geistigen Grundlagen des Spiels

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zärtlich wie eine Liebesgeschichte." 86 Sonntag tritt auf: „ E r war ganz und gar in pures, gewaltiges Weiß gekleidet, und das H a a r züngelte wie eine silberne Flamme ihm aus der Stirn." 8 7 Nochmals erhebt sich die Frage: „Und wer und was bist du?" Sonntag antwortet voll unendlicher Ruhe: „Ich bin der Sabbat. Ich bin der Gottesfriede." 8 8 D a erschallen die Klagen der Wochentage: „Wenn Sie ,der Mann in dem dunklen Zimmer waren, warum sind Sie dann zugleich Sonntag — das Ärgernis des Sonnenlichts? Wenn Sie von Anbeginn unser Vater und unser Freund waren, warum waren Sie zugleich unser größter Feind? Wir weinten, wir flohen vor Schrecken; Schwerter durchbohrten unsere Seelen — und Sie sind der Friede Gottes! G O T T E S Zorn kann idi I H M vergeben, obwohl ganze Völker durch die Schale des Zorns ertranken. Aber G O T T E S Frieden vergeb ich I H M nie." 8 9 Schließlich erscheint der letzte Ankläger: „Das ersterbende Feuer in der großen Pechpfanne lohte ein letztes Mal auf — wie glühend Gold — und warf einen Schein übers dunkle Gras hin. Und auf diesem feurigen Band schritten tiefschwarz die Beine einer schwarzgekleideten Gestalt her." 9 0 Dieser absolut Schwarze ist der wahre Donnertag, der echte Anarchist, dessen Wahl Syme verhindert hatte, um selbst Donnerstag zu werden. E r ist der wirkliche Zerstörer, und aus diesem Unbegreiflichen donnert allgewaltiger letzter Donner hervor: ,Ihr habt niemals gehaßt, weil ihr nie geliebt h a b t ! Ich weiß, was ihr alle zusammen seid, vom ersten bis zum letzten — ihr seid Leute, die die G e w a l t haben! Ihr seid die Polizei — die großen, fetten, lächelnden M ä n n e r in Blau und mit U n i f o r m knöpfen! Ihr seid das Gesetz — und ihr wart noch nie gebrochen! Aber ist wo eine freie, lebende Seele, die's nicht gelüsten sollte, euch zu brechen, nur weil ihr niemals gebrochen wart? W i r Revolutionäre quatschen allen Unsinn zusammen — wie daß Regierung ein Verbrechen sei, ein solches und ein solches . . . Einfach blödsinnig! D a s einzige Verbrechen der Regierung ist, daß sie das Höchste ist. Ich fluche euch nicht (obwohl ich möchte), daß ihr gütig seid. Ich fluche euch nur darum, daß ihr sicher seid! Ihr sitzt in euern steinernen Sesseln und seid nie aus ihnen aufgestanden. I h r seid die sieben Engel des Himmels — und ihr habt noch keine unruhige Minute gehabt. O h — oh, ich könnte euch alles und jedes verzeihen, ihr, die ihr die ganze Menschheit beherrscht, wenn ich mit einmal gewiß wüßte, daß ihr eine einzige Stunde einmal so in Seelenängsten und Todeskämpfen gerungen habt wie ich ' Syme sprang auf. Zitternd von K o p f bis zu den Füßen — ,Ich sehe ein jedes Ding, das ist. Warum besiegt ein D i n g das andere auf der Erde? Warum kämpft jedes kleine Ding in der Welt gegen die Welt selber? Warum streitet jede Fliege gegen das ganze Universum? Aus demselben Grund, aus dem ich in dem schrecklichen R a t der Tage allein stand! So daß jedes Ding, das dem Gesetz gehorcht, die Gloriole und die Isolation eines Anarchisten verdient. So daß jedermann, der für Ordnung ficht, ein so guter und braver M a n n wie jeder Dynamitheld genannt zu werden verdient. Also daß die Satanslüge in den Schlund dieses Gotteslästerers zurückfahren muß, also daß wir durch Tränen mannigfach und durdi Torturen das Recht uns erworben haben, zu diesem M a n n zu sagen ,Du lügst!' . . . Es ist keine Angst, und es ist kein T o d , womit wir nicht gerungen hätten, also daß 86 87 88 89 90

ebda. ebda. ebda. ebda. ebda.

281. 283. 284. 285.

Das göttliche

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wir gegen diesen Kläger die Widerklage erheben können: ,Wir haben so sehr gelitten wie du!' Es ist nicht wahr, daß wir niemals gebrochen worden sind. Wir sind durchs R a d gebrochen worden. Es ist nicht wahr, daß wir nie von diesen Sesseln heruntergestiegen sind. Wir sind bis v o r die Tore der Hölle hinabgestiegen. Wir beklagten und bejammerten unvergeßliches Elend — in demselben Augenblicke noch, da dieser Unverschämte auftrat, uns um unseres Glückes willen zu verklagen. Ich weise den Schimpf zurück: wir waren nicht glücklich! Ith stehe ein für jeden der großen Hüter des Gesetzes, die da verklagt sind. Und nun — — ' U n d er richtete seine Augen auf das große Gesicht Sonntags, das seltsam lächelte. ,Hast du — ' schrie er mit schrecklicher Stimme, ,hast du jemals gelitten?' U n d wie er es anstarrte, wuchs das Gesicht zu einer scheußlichen Größe an und wurde immer größer und größer — größer sogar als die kolossale Memmonmaske, die ihn als Kind aufschreien machte. Und wurde schließlich so groß, daß es den ganzen Himmel füllte und alles unter Dunkelheit setzte. Und gerade eh' die Dunkelheit ihm die Augen und alles Gehirn aushackte, hörte er eine Stimme — fernher — und die sang einen Gemeinplatz, den er irgendwo schon gehört hatte: .Vermagst du aus dem Kelch zu trinken, aus dem ich trinke?' 91

Bis zu Sonntags Antwort auf die Frage nach seinem Namen vor der Jagd durch London sieht der Roman wie eine harmlos-heitere Kriminalgescbichte aus. Sonntag ist ein gewaltiger Verbrecher, den sechs Detektive unter allerlei Mißverständnissen verfolgen. Die feierliche Antwort führt in eine unerwartete Tiefe. Scheinbar wird diese durch die folgende Jagd durch London wieder zunichte gemacht, wobei freilich der unwahrscheinliche Ballonaufstieg eine noch unverständliche Symbolik andeutet. Erst mit dem Gespräch der Verfolger, in dem diese Sonntag für eine Maske Pans halten, beginnt sich das Dunkel zu lichten. Die sieben Wochentage erleben in einem unsinnigen Karneval die ganze trunkene Spielfreude Sonntags noch einmal. Es tönt dann wie Hohn, wenn der Meister verkündet, er sei der Gottesfriede. Deshalb treten die Verfolger als die sieben Erzengel stellvertretend für die ganze Menschheit auf. Sie klagen Sonntag wegen seiner unbegreiflichen Ruhe gegenüber den entsetzlichen Leiden des Menschen an, sie werfen ihm vor, mit ihrer Not und ihrem Leid zu spielen. Die heftigste Anklage erhebt jedoch der Schwarze, der gefallene Engel. E r wendet sich nicht nur gegen Gott, sondern auch gegen die Selbstsicherheit der sieben Wochentage. Sein H a ß ist der H a ß enttäuschter Liebe, die Verzweiflung dessen, der an eine absolute Gerechtigkeit glaubt und erleben muß, daß es immer ein Unten und ein Oben gibt. Doch Donnerstag nimmt die Anklage dieses wahren Revolutionärs auf und steigert sie noch im Namen all derer, die scheinbar oben sind, die Gesetz und Ordnung bewahren wollen und um des Gesetzes willen noch mehr leiden, noch unglücklicher sind als der Revolutionär. Und weil sich so enthüllt, daß alle leiden und alle unglücklich sind, erhebt Syme die letzte Frage und Klage: „Hast du jemals gelitten?" Die Spielfreude des Kind-Gottes hat mit der Jagd durch London und dem unsinnigen Karneval absichtlich die Antwort Sonntags auf Symes erste Frage: „Wer bist du?" unterbrochen, um noch einmal das unbegreifliche und unlösbare Rätsel seiner Gestalt in ihrer ganzen Unsinnigkeit vor Augen zu führen. Denn Sonntag ist Pan und der Sichere Mann. Der Mensch leidet unter 91

ebda. 2 8 6 ff.

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des Spiels

der trunkenen Posse dieses heidnischen Gottes, der ihn nur als Spielzeug benützt und als Gottesfriede alle menschlichen Leiden scheinbar verhöhnt. Auberon Quins „Nimm an, ich sei Gott und hätte dies alles geschaffen, um darüber zu lachen" 92 wird zur Frage nach den letzten Dingen. Sonntag ist der Gott, der panischen Schrecken sät, um über den Erschreckten zu lachen. Symes letzte Frage ist die Anklage gegen das Spiel, das Pan mit dem Menschen treibt. Syme fragt, ob das Leben des Menschen sinnlos, ob dieser ein Spielball des Schicksals sei. Da verwandelt sich Pan-Sonntag in den christlichen Gott, denn seine Antwort ist die Antwort des Christentums. In ihr wird aller heidnisdie Spuk zwar nicht sinnvoll, aber erträglich. Der Heide Chesterton — denn seine magisch-dämonischen Züge sind heidnisches Erbe — kann das Spiel, das Gott mit der Welt treibt, ertragen, weil er als Christ weiß: auch Gott hat gelitten, nicht nur 'der Mensch, ja, Gott hat gelitten, wie kein Mensch je leiden kann, und spielt trotzdem mit dem Menschen. Das ist der Sinn der letzten biblischen Worte: „Vermagst du aus dem Kelch zu trinken, aus dem ich trinke?" Das Geheimnis des Leidens Gottes in Christo ist der Urgrund des Spiels. Weil Gott nodi mehr gelitten hat als der Mensch, muß der Mensch sein Spiel geduldig erleiden. Weil er trotz des Leidens spielt, darf auch der Mensdi spielen, Spiele des Unsinns in einer Welt voll Unsinn. Chesterton nannte sich, als er diesen Roman schrieb, einen Optimisten, weil er „so schrecklich nahe daran war, ein Pessimist zu sein", 93 weil er verzweifelt darum rang, einen Sinn hinter allem irdischen Unsinn zu finden. Auf diesem dunklen Hintergrund unausgesprochenen Leidens wirkt die letzte Antwort Sonntags umso heiligender. Sie hat nicht nur auf Chesterton selbst, sondern ,auch auf viele seiner Leser gewirkt, hat doch ein Psychoanalitiker bezeugt: "Ich kenne viele Menschen, die nahe daran waren, verrückt zu werden, die aber gerettet wurden, weil sie wirklich den ,Mann der Donnertag war' verstanden hatten." 94 Aus dem Leiden erst, das nur ein winziges Stückchen vom Leiden Gottes ist, wächst die tiefste Kindlidikeit in der Überzeugung: „Die Welt ist die beste aller unmöglichen Welten." 95 „Alle Worte und alle Spielereien in einem Lehmklumpen sind wundervoll, und es ist nur geredit zu sagen, daß des Philosophen Worte und Spielereien ebenso wundervoll sind."9® Dieser Satz umfaßt die ganze Welt Gilbert Keith Chestertons, dessen äußere Erscheinung sein Freund Hilaire Belloc einmal mit den Versen paraphrasierte: H e held to the Traditional plan And fortified his own belief In Natural Law, the Rights of Man With Paradox, and Beer, and Beef." 92

Der Held von Nörting Hill 232. Der Mann mit dem goldenen Schlüssel 105. 94 ebda. 108. 95 G. K. Chesterton, Charles Diekens, London Methuen 1906. Deutsch: Wien Phaidon o. J., 424. 96 Verteidigung 153. 97 John Guest im Vorwort zu Essays, 15. 93

Β. Der Traum von der Befreiung des Menschen im Spiel 1. D A S

CHAOS

ALS UND

HÖCHSTE O R D N U N G

S C H Ö N H E I T

a) Friedrieb Schlegels Aufsatz „Über die Unverständlichkeit" und die romantische Ironie Selbst den stillsten Menschen, der am ruhigsten dahinlebt, wird manchmal ein plötzlicher Hunger nach den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Daseins anwandeln; er wird sich unvermittelt fragen, wie es wäre, wenn die Teekanne plötzlich Salzwasser oder Honig enthielte, wenn die U h r auf alle Tagesstunden zugleich zeigte, wenn die Kerze grün statt rot zu flammen begänne, und die T ü r e auf einen See oder ein K a r toffelfeld, statt auf eine Straße sich öffnete. W e r von einer solchen namenlosen Anarchie sich angeweht fühlt, den hat zeitweilig der Geist der Posse erfaßt. 1

Das Lebensgefühl, das hier Chesterton zur Verteidigung der Posse heraufbeschwört, gehört ein wenig zu aller Unsinnspoesie. Bei Mörike bricht die namenlose Anarchie an der genießerischen Schilderung einer erträumten Aufführung von Tiecks „Verkehrter W e l t " im „Maler N o h e n " hervor, wo plötzlich zum Tumult auf der Bühne und im skandalisierten Zuschauerraum ein Präzeptor fürchterlichen Unsinn schwatzt. Mörike dichtet zur zeitweise dreifachen Verschachtelung von Bühnen im Theaterstück noch die vierte Bühne des Präzeptors hinzu, von dem man nicht weiß, ob sein Wahnsinn echt oder gespielt ist, sodaß sich die ganze Welt um den Erzähler des Erlebnisses zu drehen beginnt. Der Dichter macht Tiecks Chaos noch chaotischer, bis man schließlich erfährt, daß der Präzeptor eine Rolle Larkens' ist, die dieser in abenteuerlicher Spiellaune als Zuschauer dem Stüde beifügt. 2 Dieses Geschehen, das nach dem Tode des Schauspielers erzählt wird, wirft ein letztes Licht auf dessen Wesen: Larkens verkörpert im N o h e n die namenlose Anarchie. E r ist kein Dämon wie Lörmer oder die Zigeunerin Elisabeth, sondern ganz Mensch gewordener, undämonischer Wispel. Mörike läßt jedoch Larkens an sich selbst und seiner Anarchie zugrunde gehen, der Versuch der Rettung in die Maske des Tischlers, die Einordung in die Welt der Gesetze und der Ordnung scheitert. Damit richtet Mörike die „Verkehrte W e l t " , die er selbst doch glühend liebt und auf Bruder Adolfs Puppentheater aufführen wollte. 3 Der Zauber der chaotischen W e h von Tiecks Komödie packt ihn zwar, aber sein endgültiges Urteil ist vernichtend, denn er weiß, daß sich hinter der witzigen 1 2 3

G. K. Chesterton, Verteidigung 73. Werke II 351 ff. ebda. Anm. 495.

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Die geistigen Grundlagen

des Spiels

Fassade ein Abgrund auftut, der dem Dichter der Komödie selbst verborgen blieb. Mörikes Spiel ist nicht das romantische der absoluten Anarchie, sondern das einer ungleich tieferen und dodi auch unheimlicheren Seele. Harmloser ist freilich das frühromantische Spiel an sich nicht, aber seine Dichter sind ahnungsloser als Mörike. H ä l t man dessen Spiel neben Friedrich Schlegels Aufsatz „Uber die Unverständlichkeit", so erstaunt man über die Oberflächlichkeit von Schlegels Theorie. Mit einem riesigen Optimismus, dessen sich ein Mensch der Aufklärung nicht zu schämen brauchte, spricht Schlegel über Dinge, die einmal die Kunst in ihren Fundamenten erschüttern sollten. Schlegel und Tieck sitzen vor einem Faß Dynamit und basteln sich mit einzelnen Prisen des Pulvers Knallfrösche, um damit die Philister zu schrecken. Manchen Zeitgenossen und Nachfahren sind freilich schon diese Knallfrösche als Bomben erschienen, und sie sind darüber mehr erschrocken als über Mörikes scheinbar harmlose Wispelfigur. Immerhin war das Basteln von Knallfröschen eine gute Vorübung für die Herstellung jener Bomben, mit denen im zwanzigsten Jahrhundert der Surrealismus eine ganze Literaturtradition in die Luft sprengen wollte. Chaos als höchste Schönheit und Ordnung ist das Weltgefühl, aus dem die ersten Werke romantischer Unsinnspoesie herauswachsen. Das Chaos wird als Urgrund aller Dinge gepriesen und soll durch künstliche Zerstörung wiederhergestellt werden, denn nur im Spiel des Chaos ist der Mensch wirklich frei. Am greifbarsten ist dieses Weltgefühl in den Theorien des jungen Friedrich Schlegel, doch atmet auch die Auffassung des Märchens bei Novalis denselben Geist. Das Märchen ist für diesen „echte Naturanarchie", 4 ein „Traumbild, ohne Zusammenhang" 5 : In einem echten Märdien muß alles wunderbar, geheimnisvoll und unzusammenhängend sein; alles belebt. Jedes auf eine andre Art. Die ganze Natur muß auf eine wunderliche Art mit der ganzen Geisterwelt vermischt sein; die Zeit der allgemeinen Anarchie, der Gesetzlosigkeit, Freiheit, der Naturzustand der Natur, die Zeit vor der Welt. Diese Zeit vor der Welt liefert gleichsam die zerstreuten Züge der Zeit nach der Welt, wie der Naturzustand ein sonderbares Bild des ewigen Reiches ist. Die Welt des Märchens ist die durchaus entgegengesetzte Welt der Welt der Wahrheit und eben darum ihr so durchaus ähnlich wie das Chaos der vollendeten Schöpfung. — In der künftigen Welt ist alles wie in der ehemaligen Welt und doch alles ganz anders. Die künftige Welt ist das vernünftige Chaos; das Chaos, das sich selbst durchdrang, in sich und außer sich ist . . . (Mit der Zeit muß die Geschichte Märchen werden; sie wird wieder wie sie anfing.)'

Bei Friedrich Schlegel ist das, wovon Novalis in diesem Zitat träumt, Programm, die Naturanarchie des Märchens ist die Naturanarchie der Welt überhaupt: „Die höchste Schönheit, ja die höchste Ordnung ist denn doch nur die des Chaos", 7 allerdings nur jenes Chaos', aus dem „eine Welt entspringen kann". 8 Dieses ist 4

Novalis Schriften ed. Samuel und Kluckhohn III 167 Nr. 600. ebda. III 253 Nr. 987. β ebda. III 97 Nr. 238. 7 Gespräch über die Poesie, Friedrich Schlegel, Prosaische Jugendschriften hg. v. J. Minor, 2. (Titel-)Auflage, Wien 1906, II 358. 8 Ideen Nr. 71, ebda. II 297. 5

Das Chaos als höchste Schönheit

und

Ordnung

115

gleichsam ein Jenseits zur systematischen und geordneten Welt: "Zur Vielseitigkeit gehört nicht allein ein umfassendes System, sondern auch Sinn für das Chaos außerhalb desselben, wie zur Menschheit der Sinn für ein Jenseits der Menschheit." 9 Im Menschen selbst .ist das höchste Chaos das der Religion, das „lichte Chaos von göttlichen Gedanken und Gefühlen", welches wir Enthusiasmus nennen.10 Von diesem Jenseits aus sind alle Wirklichkeiten nur Spiele, heilige Spiele sind die der Kunst, denn „alle heiligen Spiele der Kunst sind nur ferne Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk". 11 Wie Schiller weiß Schlegel, daß das höchste Spiel unerreichbares Ideal ist, aber er zieht im Gegensatz zu Schiller „praktische" Folgerungen für die Poesie. In knappster Formulierung heißt sein Postulat: „Wir fordern, daß die Begebenheiten, die Menschen, kurz das ganze Spiel des Lebens wirklich auch als Spiel genommen und dargestellt sey". 12 Das heißt: der Geist der namenlosen Anarchie, der hinter allen Dingen steckt, soll auch auf die Darstellung der sichtbaren Dinge übergehen, die Wirrnis des Chaos muß Dichtung werden. Die Gegenstände sollen nur noch Spielmarken des großen heiligen Spiels sein, sie müssen unwirklich gemacht, ihre Gegenständlichkeit muß aufgelöst werden, damit das lichte Chaos der göttlichen Gedanken und Gefühle durchbrechen kann. Damit lenkt Schlegel eigentlich in die Abstraktion ein, wie sie sich in den Theorien von Novalis findet. Aber dieser letzte Hintergrund klingt bei ihm und seinem Schüler Tieck doch nur leise nach und wird von der Vehemenz der Zerstörung übertönt, die sich aus der Forderung ergibt, Leben und Welt als Spiel darzustellen. Die magische oder mystische Abstraktion ist zwar Rechtfertigung der Zerstörung, aber nicht tragendes Fundament. Die Forderung nach künstlicher Verwirrung macht sich selbständig und befriedigt sich in sich selbst. Ob Schlegel das so gewollt hat und die Abstraktion bloß Vorwand war, läßt sich nicht entscheiden. Doch stehen einer Fülle von Aussagen über die „Verspielung" der Welt nur wenige über den magischen oder mystischen Hintergrund gegenüber. „Ich gebrauche also mein unbezweifelbares Verwirrungsrecht...", heißt es programmatisch am Anfang der „Lucinde", und: „Für mich und für diese Schrift, f ü r meine Liebe zu ihr und für ihre Bildung in sich, ist aber kein Zweck zweckmässiger als der, daß ich gleich anfangs das, was wir Ordnung nennen, vernichte,, weit von ihr entferne und mir das Recht einer reizenden Verwirrung deutlich zueigne und durch die Tat behaupte". Der Roman will „das schönste Chaos von erhabenen Harmonien und interessanten Genüssen nachbilden und ergänzen". 13 Für viele moderne Dichter ist die Welt auseinandergefallen, Schlegel muß sie erst durch das Spiel zerstören. Das Recht auf Verwirrung ist der Grundton des Aufsatzes „Uber die UnIdeen Nr. 55, ebda. 295. Ideen Nr. 55, ebda. 291. 1 1 Gespräch über die Poesie, ebda. 364. 1 2 ebda. II 364. 1 3 Friedrich Schlegel, Lucinde, Deutsche Literatur . . . in Entwicklungsreihen, Romantik. I V 157. 9

10

116

Die geistigen

Grundlagen

des

Spiels

Verständlichkeit" von 1800, 14 der witzigsten Zusammenfassung seiner Theorie der Verwirrung. Diese kann audi nodi moderne Herausgeber so durcheinanderbringen, daß sie sie in der Sammlung „Deutsche Literatur . . . in Entwicklungsreihen" in den Band „Satiren und Parodien" einordnen, 15 wo sie trotz allen satirischen und polemischen Ausfällen sicher nicht hingehört; denn sie ist selbst noch darin Programmschrift, daß sie die eigenen Theorien ironisiert. Äußerlich setzt sich der Aufsatz mit den Klagen von Lesern und Rezensenten auseinander, die Fragmente und das „Athenäum" überhaupt seien unverständlich, und er endet in einem Preis der Unverständlichkeit. Dazwischen aber zeigt Friedrich Schlegel die Waffen, welche die Wirrnis des Chaos hervorrufen sollen: Wortspiel, Paradox und Ironie. Das Wortspiel will „zeigen, daß die Worte sich selbst oft besser verstehen, als diejenigen, von denen sie gebraucht werden". Schlegel will darauf aufmerksam machen, daß es „unter den philosophischen Worten, die o f t . . . wie eine Schaar zu früh entsprungener Geister alles verwirren und die unsichtbare Gewalt des Weltgeistes auch an dem ausüben, der sie nicht anerkennen will, geheime Ordensverbindungen geben m u ß . " l e Das Paradox, die zweite Waffe, reißt die Wahrheiten aus der gewohnten Ordnung heraus und macht sie neu: „Alle höchsten Wahrheiten jeder Art sind durchaus trivial und eben darum ist nichts nothwendiger als sie immer neu, und womöglich immer paradoxer auszudrücken, damit es nicht vergessen wird, daß sie noch da sind, und d a ß sie nie eigentlich ganz ausgesprochen werden können." 1 7 Das beste ist, bei solchen Wahrheiten „es immer ärger zu machen; wenn das Ärgernis die größte H ö h e erreicht hat, so reißt es und verschwindet, und kann das Verstehen dann sogleidi seinen Anfang nehmen. Noch sind wir nicht weit genug mit dem Anstoßgeben gekommen: aber was nicht ist kann noch werden." 1 8 Die dritte Waffe schließlich ist die Ironie. In einem tollen Gemisch von Seitenhieben auf die Menge großer und kleiner Ironien, die das „Athenäum" hervorgerufen hat, und ernster Gedanken, die aber sofort von Ironie auf die Ironie aufgehoben werden, so daß am Ende alles verschlungen wird, gibt Friedrich Schlegel eine „Ubersicht vom ganzen System der Ironie", die wir zitieren müssen, um unsere Folgerungen plausibel zu machen: D i e erste und vornehmste v o n allen ist die grobe Ironie; findet sich am meisten in der wirklichen N a t u r der D i n g e und ist einer ihrer allgemein verbreiteten Stoffe; in der Geschichte der Menschheit ist sie recht eigentlich zu Hause. D a n n k o m m t die feine oder die delikate Ironie; dann die extrafeine; in dieser Manier arbeitet Skaramuz, w e n n er sich freundlich und ernsthaft mit jemand zu besprechen scheint, indem er nur den Augenblick erwartet, w o er wird mit einer guten Art einen Tritt in den Hintern geben können. Diese Sorte wird auch w o h l bey Dichtern gefunden, 14 Jugendschriften II 386 ff. Ober ein mögliches Vorbild in Heinses anonymer „Theorie des Paradoxen" nach Abbe Morellets „Theorie du paradoxe" vgl. Georg Stefansky, T h e o rie des Paradoxen, Euphorion 25 (1924) 379 ff., bes. 386 ff. 15 Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen, Romantik I X 166 ff. 16 Jugendschriften II 387. 17 ebda. 389. 18 ebda. 390.

Das Chaos

als höchste

Schönheit

und

Ordnung

117

wie ebenfalls die redliche Ironie, welche am reinsten und ursprünglichsten in alten Garten angebracht ist, wo wunderbar liebliche Grotten den gefühlvollen Freund der N a t u r in ihren kühlen Schoos locken, um ihn dann von allen Seiten mit Wasser reichlich zu bespritzen und ihm so die Zartheit zu vertreiben. Ferner die dramatische Ironie, wenn der Dichter drey Akte geschrieben hat, dann wider Vermuthen ein andrer Mensch wird, und nun die beiden letzten A k t e schreiben muß. D i e doppelte Ironie, wenn zwey Linien von Ironie parallel neben einander laufen ohne sich zu stören, eine fürs Parterre die andre für die Logen, wobey noch kleine Funken in die Coulissen fahren können. Endlich die Ironie der Ironie. I m allgemeinen ist das wohl die gründlichste Ironie der Ironie, daß man sie eben auch überdrüssig wird, wenn sie uns überall und immer wieder geboten wird. Was wir aber hier zunächst unter Ironie verstanden wissen wollen, das entsteht auf mehr als einem Wege. Wenn man ohne Ironie von der Ironie redt, wie es so eben der F a l l w a r ; wenn man mit Ironie von einer Ironie redet, ohne zu merken, daß man sich zu eben der Zeit in einer andren viel auffallenderen Ironie befindet; wenn man nicht wieder aus der Ironie herauskommen kann, wie es in diesem Versuch über die Unverständlichkeit zu seyn scheint; wenn die Ironie Manier wird und so den Dichter gleichsam wieder ironirt; wenn man Ironie zu einem überflüssigen Taschenbuche versprochen hat, ohne seinen Vorrath vorher zu überschlagen und nun wider Willen Ironie machen muß, wie ein Schauspielkünstler der Leibschmerzen hat; wenn die Ironie wild wird, und sich gar nicht mehr regieren l ä ß t . Welche Götter werden uns von allen diesen Ironien erretten können? das einzige wäre, wenn sich eine Ironie fände, welche die Eigenschaft hätte, alle jene großen und kleinen Ironien zu verschlucken und zu verschlingen, daß nichts mehr davon zu sehen wäre, und ich muß gestehen, daß ich eben dazu in der meinigen eine merkliche Disposition fühle. Aber auch das würde nur auf eine kurze Zeit helfen können. Ich fürchte, wenn ich anders, was das Schicksal in Winken zu sagen scheint, richtig verstehe, es würde bald eine neue Generation von kleinen Ironien entstehn: denn wahrlich die Gestirne deuten auf fantastisch. U n d gesetzt es blieb auch während eines langen Zeitraums alles ruhig, so wäre doch nicht zu trauen. Mit der Ironie ist durchaus nicht zu scherzen. Sie kann unglaublich lange nachwirken. 1 9 M a n pflegt im a l l g e m e i n e n die r o m a n t i s c h e I r o n i e einen Z u s t a n d des Schwebens über den G e g e n s t ä n d e n z u n e n n e n , d e n höchsten A u s d r u c k r o m a n t i s c h e n L e b e n s gefühls, 2 0 in d e r v o l l e n d e t s t e n F o r m das L a c h e n über sich selbst, die l e t z t e Geistesfreiheit,21

wofür

Karl

Wilhelm

Solgers

„Erwin",

der

fünfzehn

Schlegels A u f s a t z erschien, die schönsten B e l e g e bietet. F ü r

Jahre

Solger bedeutet

nach die

I r o n i e E r k e n n t n i s der „ N i c h t i g k e i t d e r I d e e als irdischer E r s c h e i n u n g " , 2 2 sie ist ein „alles überschauender,

über a l l e m schwebender,

alles v e r n i c h t e n d e r

Blick".23

D i e I r o n i e l ä ß t den Menschen seine eigene N i c h t i g k e i t e r k e n n e n , ihr L a c h e n ist die zeitliche G e s t a l t , „in welche v e r w a n d e l t uns ein T e i l d e r reinsten Seligkeit v o m H i m m e l w i e ein erfrischender T a u h e r a b g e s a n d t w i r d " . 2 4 S o h a t auch

Friedrich

Schlegel oft genug ihre t r a n s z e n d e n t a l e F r e i h e i t g e p r i e s e n :

lfl 20

ebda. 3 9 2 f . so etwa Paul Kludthohn, D a s Ideengut der deutschen R o m a n t i k , H a l l e a. S. 1941,

13 ff. 21 22 23 24

Η . A . K o r f f , Geist der Goethezeit, Leipzig 1 9 2 3 — 5 7 , I V 7 4 8 . K a r l Wilhelm Solger, E r w i n , hg. und eingel. v. R u d o l f K u r t z , Berlin 1907, 3 8 9 . ebda. 3 8 7 . ebda. 182.

118

Die geistigen Grundlagen

des Spiels

Sie [die Sokratische Ironie] enthält und erregt ein Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten, der Unmöglichkeit und Nothwendigkeit einer vollständigen Mitteilung. Sie ist die freyeste aller Licenzen, denn durch sie setzt man sich über sich selbst weg; und doch auch die gesetzlichste, denn sie ist unbedingt nothwendig. 2 5

Der Künstler erhebt sich in der Ironie über das Höchste der Kunst. 2 6 Die Ironie ist „transcendentale Buffonerie. Im Innern die Stimmung, welche alles übersieht, und sich über alles Bedingte unendlich erhebt, auch über eigene Kunst, Tugend, oder Genialität: im Äußern, in der Ausführung die mimische Manier eines ungewöhnlich guten italiänischen B u f f o " . 2 7 Schlegel empfindet, daß „alle Menschen etwas lächerlich und grotesk" sind, „bloß weil sie Menschen sind; und die Künstler sind wohl auch in dieser Rücksicht doppelte Menschen. So ist es, so war es, und so wird es seyn". 2 8 „Ironie ist die Form des Paradoxen. Paradox ist alles, was zugleich gut und groß ist." 2 9 Im zitierten Abschnitt des Aufsatzes über die U n verständlichkeit klingt jedoch mit der „Ironie der Ironie" eine unheimliche Saite des ironischen Spiels an, wenn sie auch nur scherzhaft gezupft wird: daß es nämlich Ironie der Ironie sei, „wenn man nicht wieder aus der Ironie herauskommen kann, . . . wenn die Ironie wild wird, und sich gar nicht mehr regieren l ä ß t . " Jede Ironie muß wieder ironisiert werden, wenn sie „klares Bewußtsein der ewigen Agilität des unendlich vollen Chaos" bleiben will; 3 0 die Ironie der Ironie muß durch die Ironie der Ironie der Ironie überwunden werden oder, wie Schlegel unheimlich treffend sagt: die Ironie wird wild und läßt sich nicht mehr regieren. Solger kennt einen Schutzschild gegen die Gefahr; er stellt für die Ironie die Bedingung auf, daß sie mit der Begeisterung als Wahrnehmung der göttlichen Idee untrennbar verbunden sein müsse: „Die Mystik ist, wenn sie nach der Wirklichkeit hinschaut, die Mutter der Ironie, und wenn nach der ewigen Welt, das Kind der Begeisterung oder der Inspiration." 8 1 Solger legt der Ironie Zügel an und stellt ein Gleichgewicht zwischen Ironie und Begeisterung her. E r lehnt Schlegels Gedanken ab, weil sich dessen Ironie von der Begeisterung und damit vom Göttlichen löst und sich ganz dem Ich anheimstellt. Zweifellos ist das klug. Und doch: wie weit vermag der Mensch wirklich Begeisterung und Ironie untrennbar miteinander zu verbinden? Ist Solgers Theorie nicht ein unerreichbares Ideal, das mit der irdischen Ironie so wenig zu tun hat wie Schillers Spielbegriff mit dem menschlichen Spial? Beide — Solgers Ironie und Schillers Spiel — sind den Göttern vorbehalten, dem Menschen aber verschlossen, beide sind der Traum des 2 5 Kritische Fragmente N r . 108, Jugendschriften II 198; auch in der „Unverständlidikeit" zitiert: ebda. 391. 2 6 Kritische Fragmente N r . 87, ebda. II 195. 2 7 Krit. Fragmente N r . 42, ebda. 189. 2 8 Ideen N r . 145, ebda. 305. 2 9 Krit. Fragmente N r . 48, ebda. 189. 3 0 Ideen N r . 69, ebda. 296. 3 1 Solgers nachgelassene Schriften und Briefwechsel hg. v. Ludwig Tieck und Friedrich v. Raumer, Leipzig 1826, I 689.

119

Das Chaos als höchste Schönheit und Ordnung Menschen von der Befreiung im Spiel. D e n n , was bei den G ö t t e r n

Ausdruck

höchster Geistesfreiheit ist, wird beim Menschen letzte Geistesknechtschaft:

die

Ironie wird zum Z w a n g , zum D ä m o n , der jeden G e d a n k e n knechtet und zerstört, indem er ihn ironisiert. Reine Ironie ist Versklavung, Zerstörung und Selbstvernichtung des Geistes, tiefstes Elend des Menschen, der nicht mehr frei spielen kann, sondern unter der Fuchtel der Ironie zu E n d e spielen muß. Dieses E n d e ist nicht das unendlich volle Chaos, sondern Nichts u n d Leere. J a , nicht einmal die kann übrig bleiben, denn auch sie unterliegt wieder der Ironie, sodaß der k o n sequente I r o n i k e r zuletzt verzweifelt gegen a l l e W ä n d e rennt,

in einer

end-

gültigen Verzweiflung — die wiederum der Ironie unterliegt, falls er nicht den ewig wiederkehrenden Weg des Ironikers geht und ins C r e d o quia

absurdum

springt. Diesen Sprung schlägt Schlegel eigentlich schon in seinem Aufsatz vor, wenn er über die „im Feuer der I r o n i e " entstandenen Unverständlichkeiten des „Athenäums" weiterfährt: Aber ist denn die UnVerständlichkeit etwas so durchaus Verwerfliches und Schlechtes? Mich dünkt das Heil der Familien und der Nationen beruhet auf ihr; wenn mich nicht alles trügt, Staaten und Systeme, die künstlichsten Werke des Menschen, oft so künstlidi, daß man die Weisheit des Schöpfers nicht genug darin bewundern kann. Eine unglaublich kleine Portion ist zureichend, wenn sie nur unverbrüchlich treu und rein bewahrt wird, und kein frevelnder Verstand es wagen darf, sich der heiligen Gränze zu nähern. Ja das köstlichste was der Mensch hat, die innere Zufriedenheit selbst hängt, wie jeder leicht wissen kann, irgendwo zuletzt an einem solchen Punkte, der im Dunkeln gelassen werden muß, dafür aber audi das Ganze trägt und hält, und diese Kraft in demselben Augenblicke verlieren würde, wo man ihn in Verstand auflösen wollte. Wahrlich, es würde euch bange werden, wenn die ganze Welt, wie ihr es fordert, einmal im Ernst durchaus verständlich würde. Und ist sie selbst, diese unendliche Welt, nicht durch den Verstand aus der Unverständlidikeit oder dem Chaos gebildet?32 Es gehört zur persönlichen T r a g i k Schlegels, daß er hier den P u n k t , der im Dunkeln gelassen werden muß, der den letzten H a l t des Menschen zweifellos

ironisiert.

Er

ist

zu

sehr

dem

Intellekt

verhaftet

und

bedeutet, sieht

den

Abgrund nicht, der sich in seiner Ironie der Ironie auftut. Es ist seine Ironie, daß das, was er ironisch meint, w a h r ist, daß die Ironie wild werden kann. D i e Prophezeiung: „Denn wahrlich die Gestirne deuten auf fantastisch. U n d gesetzt es blieb auch während eines langen Zeitraumes alles ruhig, so wäre -doch nicht zu trauen. M i t der Ironie ist nicht zu scherzen", 3 3 ist in Erfüllung gegangen. Nicht zu Schlegels Zeiten freilich. Seinen Theorien gelang es nicht, die trotz allen Rissen noch festgefügte W e l t in den Fundamenten zu erschüttern; alles, was uns heute an romantischer Dichtung kostbar ist, entstand fern von seiner Ironie und gehört zum Strom der Tradition, den K o r f f die Goethezeit genannt h a t . A b e r Schlegel sagt j a selbst: „ U n d gesetzt es blieb auch während eines langen Zeitraums alles ruhig, so wäre doch nicht zu trauen". Erst im zwanzigsten J a h r h u n d e r t w a r die 32 33

Jugendschriften II 393. ebda.

120

Die geistigen

Grundlagen

des

Spiels

Welt so weit zerstört, daß die Ironie der Ironie im Surrealismus mit neuer Stoßkraft durchdringen konnte. Und doch ist es ihr auch diesmal noch nicht gelungen, alles in namenlose Anarchie aufzulösen. Was Schlegel und Tieck vor dem Abgrund fortschreitender Ironisierung bewahrte, ist eigentlich etwas Negatives: Beide begnügen sich mit der Ironisierung der Werte ihrer Umwelt und gehen nicht weiter; die Ironisierung der durch die Ironie gewonnenen neuen Werte bleibt bloße Theorie, keiner von beiden wagt sich auf das Glatteis der Ironie der Ironie. Damit wird ihr Spiel aber vordergründig. Ihr Steckenbleiben bricht der frühromantischen Ironie die Spitze ab. Die Dichtungen bleiben schönes unverpflichtendes Spiel, das man weder in seiner schöpferischen noch in seiner zerstörerischen Kraft überbewerten darf. „Poetischer Schein ist Spiel der Vorstellungen, und Spiel ist Schein von Handlungen", heißt es bei Schlegel.34 Die gewollte Unverständlichkeit der Athenäumsfragmente soll das Unaussprechbare ausdrücken; denn das Endliche ist unverständlich, weil es das (unverständliche) Unendliche enthält 35 und alle Unverständlichkeit relativ ist.36 Aber Sdilegel erzeugt diese Unverständlichkeit künstlich und vermeidet alles Selbstverständliche der Formulierung, damit auch die Ironie wirken kann. Er benützt zu diesem Zweck das Wortspiel vom Typus: „Genialischer Scharfsinn ist scharfsinniger Gebrauch des Scharfsinns" 37 oder macht mit witzigen Verknüpfungen unzusammenhängender Begriffe Effekt, etwa: „Witz ist die Erscheinung, der äußere Blitz der Fantasie. Daher seine Göttlichkeit, und das Witzähnliche der Mystik". 38 Das Verfahren ist an sich legitim, so können wirklich aus Alltagsweisheiten neue Wahrheiten werden. Aber Schlegel bleibt in der kleinen Ironie stecken, für ihn gilt das Wort aus der „Verkehrten Welt": „Ich schüttle die Worte zwischen den Zähnen herum, und werfe sie dann, dreist und gleichgültig wie Würfel heraus". 39 So entsteht jener poetischer Nihilismus, vor dem Jean Paul als einem Zeitgeist warnt, „der lieber ichsüchtig die Welt und das All vernichtet, um sich nur freien S/>/e/-Raum im Nichts auszuleeren". 40 Durch das „Pikante einer Impertinenz" 41 will Schlegels Ironie das Publikum verblüffen und ärgern, sie ist eine erste Form des später so beliebten „epater le bourgeois" und bedeutet für den Ironiker eine ungeheure Stärkung des Selbstgefühls, ja vielleicht „sogar das überhaupt höchstmögliche Gefühl der persönlichen Überlegenheit über die im Vergleich zu ihm rückständige Umgebung, den Grad des Subjektivismus, der dem enthusiastischen

34

Krit. Fragmente N r . 100, ebda. 218. H a n s v o n Zastrow, D i e Unverständlichkeit in den Aphorismen Friedridi Sdilegels im „Athenäum" und im „Lyceum der schönen Künste", Diss. München 1917, 5. 33 Jugendschriften II 387. 37 Fragment N r . 294, Jugendschriften II 251; eine Zusammenstellung soldier Wortspiele: Zastrow aaO 10 ff. 38 Ideen N r . 26, Jugendschriften II 291. 39 Tieck, Schriften, Berlin Reimer 1828—54, V 363. 40 Jean Paul, Vorschule § 2, Stle. Werke 1.11 22. 41 vgl. e t w a Friedrich Sdilegels Briefe an seinen Bruder Wilhelm, hg. v . O . Walzel, Berlin 1890, N r . 105, S. 366. 35

Das Chaos als höchste Schönheit und

Ordnung

121

Seelenleben noch am ersten adäquat sein dürfte". 42 Die Welt der Objekte, die ganze Außenwelt in Frage zu stellen, erzeugt ein berauschendes Gefühl des eigenen Ichs. Eine solche Befriedigung des Selbstgefühls führt aber notwendigerweise zur Pose und Blague. Die Liebe zum Pikanten und Verblüffenden zeitigt auch ein Interesse für alle poetischen Erscheinungen, die aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fallen, für die „Abarten" der Poesie: „Aus dem romantischen Gesichtspunkt haben auch die Abarten der Poesie, selbst die exzentrischen und monströsen, ihren Werth, als Materialien und Vorübungen der Universalität, wenn nur irgend etwas drin ist, wenn sie nur original sind". 43 Aus solchen Äußerungen Schlegels weht nicht der Geist der namenlosen Anarchie, den der Aufsatz über die Unverständlidikeit ahnen läßt, sondern einer, der um jeden Preis originell sein will. Der metaphysische Hintergrund der Ironie und Anarchie — das Chaos vor der Schöpfung — ist verloren gegangen und wird durch eine oberflächlich zerstörende Ironie ersetzt. Übrig bleibt die Haltung des Revolutionärs gegen die geistigen Popanzen der Zeit. Aus dem Chaos als letzter Schönheit und Ordnung wird Tiecks vordergründiger Satz: „Eine gute Verwirrung ist mehr werth als eine schlechte Ordnung", 4 4 eine Umkehrung von Goethes bekanntem Ausspruch: „Ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen als Unordnung ertragen." 45 Eine gute Verwirrung ist der tiefere Sinn der Literaturkomödien Tiecks, des „Gestiefelten Katers", der „Verkehrten Welt" und des „Prinzen Zerbino", 46 über denen als Motto das Wort aus „Franz Sternbalds Wanderungen" stehen könnte: „Warum soll eben Inhalt den Inhalt eines Gedichtes ausmachen?" 47 Weder die satirischen Anspielungen auf literarische Zeitgenossen und Philister noch alle schönen poetischen Einlagen und philosophischen Reflexionen sind für die geistige Haltung letztlich von Belang; alles dient nur dazu, eine verkehrte Welt, ein vollendetes Chaos hemmungsloser Freiheit zu erzeugen. Die Mittel sind bekannt: absolute Aufhebung .aller Theaterillusion, die Zuschauer beginnen zu spielen und die Schauspieler über ihre Rollen zu reflektieren. Der Zuschauer will Schauspieler, der Schauspieler will Zuschauer sein. In den Zwischenspielen der Verkehrten Welt wird in Tönen gedacht und in Worten musiziert. Bis zu drei Bühnen werden ineinander verschachtelt, so im dritten Akt der Verkehrten Welt; 48 42 Fritz Brüggemann, Die Ironie als entwicklungsgeschichtliches Element, Jena 1909, 378. Zur romantischen Ironie nun neuestens: Ingrid Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, Tübingen 1960, grundlegend in der Darstellung der Theorie ( l . T e i l , mit Benützung unveröffentlichter Handschriften), unbefriedigend in der Deutung der Gestaltung (2. Teil), in der audi Schlegels „Über die Unverständlichkeit" (273 ff.) und Ludwig Tiecks Lustspiele (283 ff.) behandelt werden. Zur Ironie allgemein vgl. auch: Beda Allemann, Ironie und Dichtung, Pfullingen 1956. 43 Fragmente Nr. 139, Jugendschriften II 225. 44 Tieck, Schriften V 412. 45 Belagerung von Mainz, WA 1.33 315. 46 Der gestiefelte Kater, Schriften V 161 ff.; D i e verkehrte Welt, ebda. 283 ff.; Prinz Zerbino oder die Reise nach dem guten Geschmack: Schriften X 1 ff. 47 Schriften X V I 333. 48 Schriften V 372.

122

Die geistigen Grundlagen des Spiels

der rasende Zerbino beginnt die Szenen seines Stücks mit Gewalt zurückzudrehen, um den guten Geschmack zu suchen: „Mein guter Nestor, hilf mir Hand anlegen, wir wollen uns beide durch alle Wörter und Redensarten bis zum ersten Chor oder Prolog durchdrängen, damit unsre mühselige Existenz aufhöre, und das Gedicht, das uns elend macht, wie Spreu durch die Lüfte verfliege." 49 Die Welt soll sich auflösen. Aber Zerbino mag noch so sehr an den Szenen rütteln, er wird den .guten Geschmack nicht finden. Das Spiel verpuff!: ins Leere, der ursprüngliche Sinn dieser Unsinnspoesie bleibt tinerfülltes Programm. Zerbino ist wohl Gefangener des Spiels, aber nicht Gefangener der wildgewordenen absoluten Ironie, sondern einer kleinen, die nur eine kleine literarische Welt des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts zerstören will. Tiecks Figuren sind harmlose Bürger und Künstler, welche plötzlich die Lust angekommen ist, mit ihren Idealen und mit sich selbst Unsinn zu treiben; an der Fastnadit gerät die bürgerliche Ordnung für einige Tage ins Wanken, aber jeder Beteiligte weiß genau, daß sie nachher wieder wie vordem herrschen wird. Tieck tut nur so, als ob er an den Fundamenten der Welt rüttle. Die Harmlosigkeit gibt seinem Spiel den Reiz der Stegreifkomödie, deren Zauber man sich nicht entziehen kann. Wo der Geist namenloser Anarchie befriedigt ist, wenn der Kaffee aus der Tasse in die Kanne rinnt und der Film rückwärts läuft — Zerbinos Zurückdrehen des Stücks ist ja eine Vorwegnahme dieses Filmtricks —, da ist die Welt nicht gefährdet, und der Unsinn läßt uns trotz einer momentanen leichten Verwirrung unserer Sinne ruhig schlafen. Tieck hat den unheimlichen Gedanken der letzten absoluten Ironie beiseite geschoben und sich mit der bescheideneren Zerstörung der Zeitwerte begnügt, denn er glaubt nicht an das Chaos der höchsten Schönheit und Ordnung. Korff hat recht, wenn er ihn für diese Dichtungen einen „glaubenslosen Ironiker" nennt; 50 wenn er aber den romantischen Humor für Resignation und Notbehelf hält und behauptet, mit der Flucht in den Scherz weiche die Romantik dem Ernst der Klassik aus,51 verkennt er das Gespenst der absoluten Ironie, die fortschreitend die Welt auflöst. Das über Tieck und Schlegel Gesagte gilt für viele romantische Unsinnspoesien, etwa für die „Geschichte von BOGS dem Uhrmacher" von Brentano und Görres. Dagegen löst Brentanos „Ponce ,de Leon" die Werte der Wirklichkeit erregender auf, so in dem Monolog, den Brentano in einer szenischen Anmerkung „nicht Wortspiel", sondern „Charakter des Ponce" nennt: O, gern will ich des Schlafes Ehre trinken; doch lieber Mohn als Wein, dann schlief die Ehre ein, und auf der Ehre Schlaf läßt sich gut trinken — und besser noch, wenn Ehre und Liebe beieinander schlafen, die eine will die andre nicht erwecken, und beide läßt die Sorge nicht schlafen. Die Ehre wacht über die Liebe, und die Liebe schläft über der Ehre ein. Aus Liebe wacht die Liebe wieder auf, und endlich macht die Ehre sich eine Ehre daraus, einzuschlafen, sie drückt ein Auge zu; — nun kann die Liebe recht erwachen, und nun ist es gefährlich, die Ehre der Ehre ist auf dem Spiel — darum trinke ich auf der Ehre Schlaf; der Schlaf wäre wahrlich nicht zu ehren, er wäre bloß zu schlafen, wenn die Ehre nicht in ihm einschliefe, daß die 49 50 51

Schriften X 329 f. Η . A. Korff a a O I I I 523. ebda. 505.

Das Chaos als höchste Schönheit und Ordnung

123

Liebe wachen könne. O , pfui des Schlafes, Schlaf — H e y a popeya, die Ehre. — N u n Wein her! Wein, daß die Liebe recht erwache, — ο holder Traum, gerade ausgestreckt auf der linken Seite schlief Isidoren's Ehre heute Nacht, und meine Liebe wachte — ο süßer Schlaf der Ehre, wo Liebe wacht, — gute Nacht! 5 2

Die Auflösung von Schlaf, Liebe, Tugend in einen Wirbel von Assoziationen schafft eine traumhafte, phantastische Unwirklichkeit, dahinter steht das Nichts. Das spürt mian stärker als bei Tieck, weil Brentano die kleine Ironie auf Zeit und Umwelt meidet. Ponce arbeitet „zu viel Nichts", wie er selbst sagt, 53 er arbeitet an einem Chaos, für welches der „Himmel leer" ist. 54 Aber er tanzt aut Witzen und Wortspielen leicht über den Abgrund, gehalten von dem Spiel der Liebe, ohne daß man — wie bei der tödlichen Ironie von Büchners „Leonce und Lena" — von einer Rettung durch die Liebe sprechen könnte. Über der Freude am Glanz des Wortfeuerwerks bleiben die letzten Fragen offen. Später beschwört Brentano das Chaos noch einmal in der sechzehnten Romanze vom Rosenkranz herauf. Im Zauberlied des Geisterweibs55 ist das Chaos nicht mehr vordergründiges Geflimmer, sondern tatsächlich das Jenseits der geordneten Wirklichkeit, das ursprüngliche Chaos, aus dem die Welten entspringen. Aber es zeigt sich, daß dieses nicht der Ort der reizenden Verwirrung ist, wie Schlegel glaubt, sondern der des höchsten Entsetzens und Grauens, dem die magischen Kräfte entquellen. Statt in höchste Schönheit und Ordnung blicken wir in einen lodernden und brodelnden Hexenkessel, in eine Walpurgisnacht und einen Abgrund voll schrecklichen Gewürms. Hexen, Irrwische, Wichte, Kröten, Elfen usw., Dämonen und niedere Magie des Volks fließen mit den Elementen der hohen Magie zu einem gewaltigen unzusammenhängenden Zusammenhang, zu einem magischen Quodlibet der Vernichtung zusammen, verstärkt durch die beschwörende Kraft eines eintönigen Rhythmus mit Ei- und U-Assonanzen und -Reimen. Ein dämonischer Ernst hat sich die ironische Maske vom Gesicht gerissen. Was sich bei Novalis in die Abstraktion, ins „reine Werk" verflüchtigt, schlägt iin Brentanos Ponce in die bodenlose Leere, in seinem Zauberlied des Geisterweibs aber in den Aufstand des Chaos als der Heimat der Dämonen um. Vor beidem flüchtet sich der Dichter in den Schoß der katholischen Kirche wie hundert Jahre später Hugo Ball. Nur einem einzigen Romantiker, der vom Geist der namenlosen Anarchie angeweht ist, gelingt es, das Chaos spielerisch zu beherrschen: Ludwig Achim von Arnim. Dessen „Loch oder das wiedergefundene Paradies" 56 nennt sich wie Mörikes Orplid ein Schattenspiel, entfernt sich .also von der Wirklichkeit. Die äußere Fabel nach der Geschichte von der Königin im Turm aus dem Volksbuch von den sieben weisen Meistern läßt einen zwar kaum ahnen, daß es hier um Clemens Brentano, Ges. Schriften ed. Chr. Brentano, Frankfurt a. M . 1852, V I I 6 2 f. ebda. 65. 5 4 ebda. 40. 6 5 16. Romanze, Strophen 8 5 — 1 1 1 , Stle. W e r k e hg. v. Carl Schüddekopf, MünchenLeipzig 1909 ff., I V 3 0 4 ff. 5 6 Arnim, Stle. Werke, hg. v. Wilhelm Grimm, Berlin 1 8 3 9 — 4 8 , V I 1 ff.; zu den Schattenspielen voll unsinniger Phantastik vgl. Justinus Kerners „Bärenhäuter im Salzbade" und „König Eginhard" (Reisesdiatten), Stle. poet. Werke ed. Gaismaier I I I 44 ff., 100 ff. 52

53

Die geistigen

124

Grundlagen

des

Spiels

Ordnung und Chaos geht. Doch hat Arnim mit der „Regierungsmaschine" dem Spiel ein seltsames Element einverleibt, das später in Alfred J a r r y s „Ubu Roi" usw. in noch stärkerer Form wieder auftaucht. Die Regierungsmasdiine, die der König und sein R a t Kasper bedienen, produziert die Gesetze, das heißt: die Ordnung. Diese aber bedeutet Unterdrückung und Tyrannei und geht bis zur Besteuerung der Finger: Finger? Die sollen auch wie Lichtputze bezahlen, W i r stempeln ein jedes Paar Finger mit Zahlen, Und setzen jedem einen Aufseher dabei, D a ß im Gebrauch auch Ordnung sei, D a ß kein Paar früher wird abgenutzt, Und daß das Volk nicht der Ordnung trutzt, Und über den Aufseher setzen wir zwei, Damit er thut seine Pflicht dabei. 57

Durch einen Ritter, den Geliebten der Kaiserin, gerät die absolute Ordnung ins Wanken. Er zerhaut Kasper in Stücke und steckt ihn in einen Suppentopf, wobei — welch unheimlicher Einfall — die Stücke für sich weitersprechen. Da steigt aus der Regierungsmaschine das Chaos des Teufels und bemächtigt sich der Welt. Alles zerfällt. Kaiser, Kasper und Menschen fahren mit Freuden durch die Regierungsmaschine in die Hölle, die Tiere herrschen. Die Ordnung der Maschine wird abgelöst vom Chaos der ursprünglichen Welt vor Erschaffung des Menschen. Dieses ist kein Paradies, sondern der „Graus" der „aus ihrer Haft entlassenen Erde", 5 8 die als Teufel den Menschen verschlingt. Die Tiere leiden unter der Freiheit und sehnen sich nach der Herrschaft des Menschen zurück. Erst als die ihnen wieder geschenkt wird, ist das Paradies wiedergefunden. Nicht das Chaos an sich ist schön, stellt Arnim fest, nur das Chaos unter der Herrschaft der „spielenden Freiheit" mit des „Glaubens Weihe". 5 9 Mit Solger verbindet er also Ironie und Begeisterung und mündet damit — etwas Einzigartiges in der romantischen Dichtung — in die Welt des reinen schönen Spiels ein, wie sie Schiller ersehnt hat. Die Einfachheit des Schattenspiels mit seinen schlichten und oft naiven Reimen macht die Lösung glaubwürdig. Arnim erliegt den Gefahren der oberflächlichen wie dem Abgrund der fortschreitenden Ironie nicht. „Wir hassen alle schauderhaften Bilder, die das Gemüth trostlos verwirren," schreibt er in der Gräfin Dolores. 60 Aber der Geist des Spiels steht bei ihm auf des Messers Schneide zwisdien der Helle der Schöpfung und dem Dunkel der Zerstörung.

b) Der Surrealismus und Kurt Schwitters'

Merz

Das zwanzigste Jahrhundert hat Schlegels Ideen im Surrealismus wieder aufgenommen, womit wir A n d r i Bretons engsten Kreis meinen, den dieser so rein bewahren wollte, daß nach zahlreichen Ausschlüssen und Spaltungen heute fast 57 58 59 60

Stle. W e r k e V I 12. ebda. 41. ebda. Stle. W e r k e V I I I 57.

Das Chaos

als höchste

Schönheit

keiner der G r ü n d e r m e h r z u i h m g e h ö r t . 1 W o

und

Ordnung

im Surrealismus

125 das C h a o s

ge-

priesen w i r d , b e d e u t e t es i m m e r d e n U r s p r u n g d e r S c h ö p f u n g : V o m intellektuellen Standpunkt aus handelte es sich und handelt es sich noch darum, mit allen Mitteln und um jeden Preis das trügerische Wesen der alten Widersprüche aufzuzeigen und zu erschüttern, die heuchlerisch dazu bestimmt waren, jegliche ungewöhnliche Erregung im Menschen zu verhindern, sei es nur dadurch, daß sie ihm eine minderwertige Vorstellung seiner Möglichkeiten ließen oder seinem Versuch trotzten, in wirkungsvollem M a ß e dem allgemeinen Zwang zu entgehen. D i e Vogelscheuche des Todes, die Cafis-chantants des Jenseits, der Schiffbruch der höchsten Vernunft im Schlafe, der vernichtende Vorhang der Zukunft, die Türme von Babel, die Spiegel der Unbeständigkeit, die unüberwindliche Geldmauer, die mit H i r n substanz bespritzt ist, — diese allzu ergreifenden Bilder der menschlichen Katastrophe sind vielleicht nur Bilder. Alles veranlaßt uns zu glauben, daß es auf geistigem Gebiet einen P u n k t gibt, wo Leben und T o d , Wirklichkeit und Einbildung, das Mittelbare und das Nichtmittelbare, Oben und U n t e n aufhören, als Widersprüche gesehen zu werden. Nun wird man in der surrealistischen T ä t i g k e i t vergebens einen andern Beweggrund suchen als die Hoffnung, diesen P u n k t zu bestimmen. Daraus sieht man, wie unsinnig es wäre, ihr einen lediglich zerstörenden oder aufbauenden Sinn zu unterlegen: D e r Punkt, der zur Frage steht, ist α fortiori der, an welchem Aufbau und Zerstörung nicht mehr als Waffen gegeneinander gebraucht werden können. 2 D e r P u n k t , w o L e b e n u n d T o d , W i r k l i c h k e i t u n d E i n b i l d u n g keine W i d e r s p r ü c h e m e h r sind, ist d e r O r t , aus d e m alles Sein entquillt u n d in d e n alles zurückfließt. D o r t gibt es a u d i keine T r e n n u n g zwischen Poesie u n d N i c h t p o e s i e m e h r ; in dieser B e z i e h u n g ist B r e t o n k o n s e q u e n t e r als Schlegel: Es ist klar, daß der Surrealismus nicht daran interessiert ist, das zu berücksichtigen, was neben ihm unter dem V o r wand von Kunst, das h e i ß t : Anti-Kunst, von Philosophie oder Anti-Philosophie produziert wird, kurz all das, was nicht der K o m p r i mierung des Seins zu einem Brillanten, einem innern und blinden, dient, der zugleich Seele des Eises wie des Feuers ist. 3 D e r Surrealist w i l l alle O r d n u n g nach

der S c h ö p f u n g a u f h e b e n u n d eine „neue A r t

v o n M y s t i k " schaffen, 4 die v o m A n f a n g s p u n k t der S c h ö p f u n g ausgehen soll. I m W o r t S u r r e a l i s m u s steckt die innerste H o f f n u n g dieser B e w e g u n g : „die z u k ü n f t i g e 1 allgemeine Literatur: Maurice Nadeau, Histoire du surrialisme,, Paris Ed. du Seuil 3e ed. revue 1947; ders., Documents surrealistes (Histoire du surrealisme I I ) , Paris E d . du Seuil 1948; Marcel R a y m o n d , D e Baudelaire au surrealisme, ed. nouv. revue et remaniee Paris Corti 1947, 281 ff.; Andre Breton, Entretiens 1 9 1 3 — 1 9 5 2 , Paris nrf Gallimard 1952; G . Ribemont-Dessaignes, D e j i jadis ou du mouvement D a d a 4 l'espace abstrait, Paris J u l l i a r d 1958, 111 ff.; Marcel J e a n , Histoire de la peinture surrealiste, Paris E d . du Seuil 1959; Jean-Louis Bedouin, V i n g t Ans de Surrealisme 1 9 3 9 — 1 9 5 9 , Paris Denoel 1961; eine gute deutsche Einführung: Surrealismus 1 9 2 4 — 1 9 4 9 , T e x t e und K r i t i k hg. und eingel. v. Alain Bosquet, Berlin 1 9 5 0 ; ferner: Dieter Wyss, D e r Surrealismus, Heidelberg 1950; Yves Duplessis, D e r Surrealismus, Hamburg 1960; weitere Literatur in den Anm. zu S. 245 ff. W o im folgenden nichts anderes angegeben ist, sind die T e x t e von mir übersetzt. 2 Andre Breton, Second Manifeste du Surrealisme (1930), Les Manifestes du Surrealisme, Paris Sagittaire, Auflage 1947, 91 f., Übersetzung: Surrealismus ed. Bosquet 56 f. 3 Breton a a O 92, Übersetzung: Surrealist. Publikationen hg. v. Edgar J e n e und Max Hölzer, Klagenfurt 1950, 16. 4 R a y m o n d Queneau nach Nadeau Histoire 106.

126

Die geistigen Grundlagen des Spiels

Auflösung der beiden anscheinend sich widersprechenden Zustände des Traumes und der Wirklichkeit in eine Art absoluter Wirklichkeit, einer Surrealität."5 Ihre Waffe ist nicht mehr die Ironie — diese wird im Gegenteil durch ein Pathos der Proklamation abgelöst —, sondern der Traum. Er bedeutet für Breton und seinen Kreis die sichtbarste Befreiung des Geistes von der Tyrannei einer beschränkten Logik und Ordnung: Noch leben wir unter der Herrschaft der Logik . . . Aber logische Verfahren werden heutzutage nur angewandt, um Fragen minderen Interesses zu entscheiden. D e r absolute Rationalismus, der noch an der Tagesordnung ist, erlaubt nur die Berücksichtigung von Tatsachen, die unmittelbar unseren Erfahrungen entspringen. Andererseits entgehen uns logische Schlüsse. Es erübrigt sich, hinzuzufügen, daß selbst der Erfahrung Grenzen gezogen sind. Sie läuft in einem Käfig auf und ab, aus dem es immer schwieriger wird, sie herauszubekommen. Auch sie stützt sich auf unmittelbare Sachlichkeit und wird durch den gesunden Menschenverstand bewacht. Unter der Flagge der Zivilisation, unter dem V o r w a n d des Fortschritts ist es gelungen, aus dem Geist alles zu verbannen, was mit Recht oder Unrecht als Aberglaube oder H i r n gespinst verurteilt werden kann, jede A r t der Wahrheitsforschung zu verbannen, die nicht dem Brauch entspricht. Anscheinend nur durch großen Zufall ist ein Teil der Geisteswelt, in meinen Augen der weitaus wichtigste, um den man sich nicht weiter zu kümmern vorgab, dem Lichte wieder geschenkt worden. Dies geschah dank den Entdeckungen Freuds. Gestützt auf diese Entdeckungen zeichnet sich endlich eine Strömung ab, in deren Schutz der Menschenforscher seine Untersuchungen wird weiterführen können, wobei er nicht mehr ausschließlich an die bloße Wirklichkeit gebunden sein wird. D i e Einbildungskraft ist vielleicht im Begriff, ihre Rechte zurückzuerobern. Wenn die Tiefen unseres Geistes erstaunliche K r ä f t e bergen, die diejenigen der Oberfläche zu steigern oder siegreich gegen sie anzukämpfen vermögen, so ist es von höchstem Interesse, sie einzufangen, zunächst einzufangen, um sie dann, wenn nötig, der Kontrolle unserer Vernunft zu unterwerfen. 6 D i e Analytiker selbst haben dabei nur zu gewinnen. Aber es ist wichtig zu bemerken, daß kein Mittel α priori zur Durchführung dieses Unternehmens bestimmt ist, daß es bis auf weiteres zum Gebiet des Dichters wie des Gelehrten gehören kann und daß sein Erfolg nicht von den mehr oder weniger eigensinnigen Wegen abhängt, die befolgt werden. 7

Klug und zugleich typisch für die Haltung Bretons ist der Ausdruck „bis auf weiteres" („jusqu'ä nouvel ordre") im Schlußsatz. Das Chaos des Traumes ist nicht absolut und endgültig das Letzte, es ist nur vorläufig, denn eine neue Tyrannei beschränkter Logik könnte audi den Traum in sein System einbeziehen. Die Berufung auf die Traumdeutung Freuds ist nur Vorwand. Trotz dem „Bureau de redierches surrealistes" denken die Surrealisten gar nicht daran, Freud auf einen Weg zu folgen, der zu jener höchsten Geltung menschlicher Vernunft führt, wo diese sogar in die wirre Welt des Traums leuchtet.8 Der Traum dient ihnen als Mittel zur Erzeugung einer chaotischen Bilderwelt; sie suchen nicht wie Freud den Sinn hinter dem scheinbar sinnlosen Traumbild, sondern einen Gesamteindrude chaotischer Assoziationen. Breton ist übrigens zu gescheit, dies nicht zuzugeben. Breton a a O 28 f. (1er Manifeste), Obersetzung Surrealismus 52. Breton a a O 23 f . (1er Man.), Übers. Surrealismus 50. 7 ebda., Übers. Surr. Publikationen 13. 8 Freud über die Surrealisten: Briefe 1 8 7 3 — 1 9 3 9 , F r a n k f u r t a. M . 1960, 441 (an Stefan Zweig 20. 7. 1938). 5

β

Das Chaos als höchste Schönheit und

Ordnung

127

Die „ Vases communicants" betonen ausdrücklich, daß der Traum keine andere oder neue Realität bringe, 9 sondern nur zu einer Umwandlung der tiefen U r sachen des menschlichen Ekels und zu einem allgemeinen Umsturz der gesellschaftlichen Beziehungen führen müsse.9" Damit verliert jedoch der Traum die entscheidende Bedeutung, die er für die Romantik besaß. 10 Er ist nicht das Tor zu einer neuen Erkenntnis, zu einer neuen Welt, sondern bloß der Ort, w o sich die Überreste einer zerstörten Welt ansammeln. So fällt die nächstliegende Parallele zwischen Romantik und Surrealismus dahin. Der Traum ist nur ein Motiv, mit dem die Freude am Unsinn und an der Zerstörung gerechtfertigt wird. Die deutsche Romantik wird freilich von den Surrealisten besonders ihres Traumdenkens wegen geliebt. Im „System seiner Koordinaten" nennt Breton Arnim als einzigen deutschen Dichter 11 — wie wir gesehen haben, mit einem gewissen Recht —, während er sonst noch auf Novalis hinweist, 12 dessen Traumdenken jedoch völlig im Banne der Sehnsucht nach übersinnlicher Erkenntnis steht. Im Schattenspiel vom Loch trennt nur die Bezeichnung „Schattenspiel", die den Unsinn zu den Schatten verweist und von der Wirklichkeit distanziert, die chaotische Welt von der irdischen und erfüllt im Wissen um des „Glaubens Weihe" der göttlichen Freiheit alle Thesen eines Surrealismus, der sich noch nicht auf eine oberflächliche Zerstörung der Wirklichkeit festgelegt hat. Wenn die romantische Dichtung das Chaos durch Ironiisierunig der Welt herbeizwingen wollte, so versucht es der Surrealismus mit einer systematischen Benützung aller psychologischen Automatismen. Diese sollen den Geist sichtbar werden lassen, bevor er sich zum eigentlichen Gedanken .geformt hat. Neben dem Erzählen von Träumen, bei dem alles auszuschalten ist, was die denkende Vernunft hinzugesetzt haben könnte, ist das automatische Schreiben das eigentliche „Geheimnis der magischen surrealistischen Kunst". 13 Dies ist aber nichts anderes als eine moderne Form des Wortspiels, wie es Schlegel im Aufsatz über die Unverständlichkeit auffaßt, wenn er sagt, daß die Worte sich selbst oft besser verstehen als die, von denen sie gebraucht werden. 14 Der erste, der automatisch schreibt, ist — wie schon Albert Beguin erkannte 15 — Arnim mit der Sprache des gekränkten Herzens in der Gräfin Dolores: Uber Stock, über Stein, drein, drein, ohne Bewußtsein; knackts, bridits, wirfts um, ich sitze stumm, meiner Blicke einzige Sprache ist ewiges Wachen, ein nordischer Tag ohne Nacht in hallender trostloser Jagd. — Der Schweißfuchs trabt, der Braune hinkt, das Sattelpferd springt — ein Heimchen noch singt: Halt still, wie mir's das Herz erlabt. — Der Schwager sagt: Wir sind gleich da, wir sind gleich da! — D a s 9

Breton, Vases communicants, 6e Edition Paris nrf Gallimard 1955, 156. ®a ebda. 157. 10 vgl. Albert Beguin, Le reve chez les romantiques allemands et dans la poisie franfaise, These Geneve 1937, zum Surrealismus bes. II 419 ff. 11 Breton, Manifestes 199. 12 ebda. 211. 13 vgl. ebda. 51 f. 14 Jugendschriften II 387. 15 Beguin aaO II 191.

128

Die geistigen Grundlagen des Spiels Posthorn klagt: Die H ä n d e riß ich auseinander, die Herzen zerreiß ich elende, und wandre hin und zurück; dies ist Geschick. Berge ihr hemmenden, neblig beklemmenden, Berge ihr trennenden, abendlidi brennenden, seid mir nun nah, und wir sind nah und wir sind da. 1 ·

Aber Arnims Automatismus entsteht aus der höchsten Anspannung eines einzigen Gefühls, aus dem Rausch namenlosen Schmerzes, nicht aus der höchsten Entspannung des Geistes, wie es die Surrealisten wollen. Die Ablehnung des Traums als Erkenntnisweg und die Erzeugung von Automatismen durch Geistleere sind nur zwei Anzeichen für die Fragwürdigkeit des eigentlichen Surrealismus. An einer dritten Technik zur Erzeugung des Chaos wird diese noch deutlicher. Nicht jedem ist es vengönnt, so hä-ufig zu träumen, daß es für einige Bücher reicht, nicht immer sind die künstlich erzeugten Automatismen ergiebig, ja, manchem gelingen sie nidit einmal. Deshalb benützt der Surrealismus auch den bequemeren Weg der Gesellschaftsspiele, um chaotische Wirkungen hervorzurufen und die Wörter mit sich selbst spielen zu lassen. Beim „Cadavre exquis" — so benannt nach dem ersten mit diesem Spiel erzeugten Satz „Le cadavre exquis boira le vin nouveau" 1 7 — wird ein Blatt herumgegeben, und jeder Teilnehmer führt einen Satz weiter, dessen vorhergeschriebene Teile er nicht kennt. Das Spiel ist alt; Harsdörffer zitiert etwa als Ergebnisse dieses Verfahrens „Die schönste unter allen Kohlen, wenn sie allein ist" oder „Was macht die Nachbarin morgens früh mit ihrer feuchten Nasen." 18 Eine Abart ist das Si-Quand-Spiel der Surrealisten, bei dem ein Teilnehmer zu einem ihm unbekannten Konditional- oder Temporalsatz den Hauptsatz schreiben muß. Gewiß ist auf diesem Weg das ursprüngliche Chaos nicht wiederherzustellen, unterliegen doch beim „Cadavre exquis" die Abfolge der Wortarten, die gegeben sein muß, damit überhaupt ein Sinn herauskommt, und beim Si-Quand-Spiel die Abfolge von Neben- und Hauptsatz dem Zwang der in den Sprachgesetzen enthaltenen Logik. Zudem ist jeder Teilnehmer versucht, seinen Satz- oder Satzteil möglichst weit herzuholen, damit ja etwas Geistreiches entsteht; das lassen Ergebnisse erkennen wie: „S'il n'y avait pas de guillotine — Les guepes enleveraient le corset." — „Quand les a6ronautes auront atteint le septieme ciel — Les statues se feront servir des soupers froids". 19 Selbst wenn Breton im Anhang zum ersten surrealistischen Manifest Zeitungsausschnitte so zufällig wie möglich zu einem Gedicht zusammenfügt 20 — eine direkte Weiterführung des Crossreading, wie wir es in der deutschen Literatur von Lichtenberg, Nestroy u. a. kennen —, kann er seinen spielerischen Geist und den Zwang der Sprache nicht ausschalten. Das Gesellschaftsspiel Stle. Werke V I I I 58. Nadeau Histoire 277 f.; gezeichnet: Nadeau Documents 122; Fantastic Art, Dada, Surrealism, ed. by Alfred H . Barr Jr., Essays by Georges Hugnet, 3rd edition New Y o r k T h e Museum of Modern Art/Simon and Schuster 1947, 154. 1 8 Georg Philipp Harsdörffer, Frauen-Zimmer Gesprächspiele, Nürnberg Endter 1641 bis 1649, II 253. 1 9 Nadeau Histoire 2 8 0 ; Ähnliches ebda. 277 f. 2 0 Breton Manifestes 67 ff. 16 17

Das Chaos als höchste S Jeremias Gotthelf, Sämtliche Werke ed. Rudolf Hunziker und Hans Bioesch, Erlenbach-Zürich 1921 ff., X I I I 1 9 / . 1 1 Nestroy V 38 Z. 18; II 193 (Titel); ferner: I I 496 Z. 18; IV 121 Z. 15; I V 161 Z. 24; V 154 Z. 14; V 249 Z. 18; VI 573 Z. 2; X I V 559 Z. 10; X V 299. 1 2 Scheffel I 41 f. 1 3 Raabe, Sämtliche "Werke, Berlin-Grunewald H . Klemm o. J., III.5 409; ebda. 4 3 3 : Olimsblutundverwesungsquark. Parodistisch in Platens Oedipus I Vers 4 7 : Vorzeitsfamilienmordgemälde, Vers 5 7 : Freischiitzkaskadenfeuerwerkmaschinerie. 14 Lewalter-Schläger 601. 1 5 ebda. 543; vgl. audi Canel I 209. 18 Edmund E. Stengel und Friedrich Vogt, Zwölf mhd. Minnelieder und Reimreden aus den Sammlungen des Rudolf Losse von Eisenach, Köln-Graz 1956, 36 f. N r . 9. 1 7 nach Weis Jocosa 65; die Originalstelle konnte ich nicht finden.

46

Die Gattungen

der

Unsinnspoesie

westliches Cross-Reading betrachtet Dornseiff die Satorformel. 1 8 Bekannt sind die Beispiele Lichtenbergs: „Heute wurde Frau N . . . . von Zwillingen entbunden



W e r auf zehne pränumerirt, kriegt eines umsonst." 1 9 Lichtenberg ahmt englische Vorbilder nach; noch heute ist das Crossreading besonders in der angelsächsischen Welt beliebt. Nestroy verwendet es geschickt auf der Bühne in einzelnen Szenen 2 0 und sogar in ganzen Theaterstücken wie in „Zu ebener E r d e und im ersten Stock" 2 1 oder im „Haus der Temperamente" 2 2 mit ihrer zwei- resp. viergeteilten Bühne. Auch in Eichendorffs „Krieg den Philistern" findet sich eine solche Szene: Starker Mann: Delitio (zu Florismene): Altdeutscher Jüngling: Florismene (zu Delitio):

Die Ideen — Träumend bei der stillen Hürde. Das Turnen — Mit der süßen Liebschaftsbürde . . , 23

Eine musikalische Abart sind die Kanons vom Typus: „Ei du sau Mägdelein, ei du hund Das Spiel, W o r t e

beres

ertfältiger Christ." 2 4 in Z a h l e n

zu schreiben, führen wir deshalb auf, weil

seltsamerweise modernen Beispielen „Wild heulen in der Brust des Jammers W 1 1 " ( = W ö l f ! ) 2 5 solche der Rhätoriqueurs wie Molinets „I est pen I I gibet" (Unus

est

pen du au gibet) 2 6 gegenüberstehen. Einen besondern Bereich von Unsinnspoesie, der seines Zwecks wegen nicht mehr als Unsinn empfunden wird, hat sich die Schule in den M e r k v e r s e n

geschaf-

fen, 2 7 in denen der Vers als Gedächtnisstütze für allerlei Regeln und Tatsachen dient. Dem Knaben Goethe mißfiel die Grammatik: Und wäre nicht der gereimte angehende Lateiner gewesen, so hätte es schlimm mit mir ausgesehen, doch diesen trommelte und sang ich gerne vor. So hatten wir auch eine Geographie in solchen Gedächtnisversen, wo uns die abgeschmacktesten Reime das zu Behaltende am besten einprägten, ζ. B. Ober-Yssel viel Morast / Macht das gute Land verhaßt. 28 Der Unsinn des „Nach si, nisi, ne und num Fällt der Türke Ali u m " reicht von der 18 Dornseiff 179. Harald Fuchs macht mich auf zwei antike Scherze aufmerksam, bei denen eine Antwort auf zwei verschiedene Arten gelesen werden kann: Rhetores Graeci ed. Christian Walz, Stuttgart-Tübingen 1832-36, I 209 (Theonos, Progymnasmata cap. 5); Rhetores Graeci ed. Leonhard Spengel, Leipzig 1853 ff., II 141, vgl. Richard Volkmann, Die Rhetorik der Griechen und Römer, 2. Aufl. Leipzig 1885, 9 0 f . ; Lorenz Grasberger, Erziehung und Unterricht im klassischen Altertum, Würzburg 1864-81, II 29; neulatein. Scherze: Buxtorf 124. 1 9 G. Chr. Lichtenberg, Vermischte Schriften, Neue Ausgabe Göttingen 1844-53, I I 63 f. Zitat 64. 2 0 Nestroy I I 562 f.; V I 163 f.; I X 338 Z. 3 ff. 2 1 ebda. V I 1 ff., bes. 90. 2 2 ebda. X 1 ff. 2 3 Eichendorff N G I 562. 2 4 Commersbuch 483. 2 5 Fliegende Blätter 40 (1864) 55. 2 8 Molinet 749 (Dupires Schreibweise verdirbt den Scherz). 27 Canel I I 332ff.; Weis Jocosa 14ff.; Weis Curiosa 13ff. 2 8 Dichtung und Wahrheit 1: W A 1.26 46.

Die literarischen,

gesellschafllichen

und gelehrten

Spiele

47

altgermanisdien Zeit bis in die Gegenwart. H i e und da probiert Goethe als Dichter einen Rhythmus mit sinnlosen Wortfolgen aus: Onckel und diri bleiben werden ich dumsi da vy



Also nit weiter treiben Moditen im Samsi da. 29 Wenn die Schule mit ihren Merkversen den Unsinn fördert, wird es uns nicht verwundern, daß der Unsinn als Befreiung von der Logik auf der Universität seinen reinsten Ausdruck findet. Das S t u d e n t e n l i e d „höheren Blödsinn":

überschlägt sich oft in

Und wer des Lebens Unverstand Mit Wehmut will genießen, Der stelle sich an jene Wand Und strample mit den Füßen. Und wer des Lebens Wehmut will Mit Unverstand genießen, Audi der verhalte sich nicht still, Er strample mit den Füßen. 30

Berühmt ist Edwin Bormanns Lied vom Wenn: Wenn der Backfisch con amore Auf melod'schem Benz-Motore Nietzsches „Zarathustra" liest, Und der Übermensch vergebens Zur Versüßung seines Lebens Pfundweis Saccharin genießt — Wenn das alles tut passieren, Dann soll nichts mich mehr chokiren, Dann verwechsl' ich Bayrisch Bier Heute noch mit Malz-Kathreiner Und wills glauben, sagt mir einer: Zwei mal zwei ist nicht mehr vier. 31 Ähnlich wollen die über die Universität hinausgedrungenen verse32

Stumpf

sinn-

blödeln: Der Ziegelstein Ist nie allein. Man findet ihn stets zu vielen,

Der junge Goethe V 456; W A 1.5.2 414 (Paralip. 118); W A 1.12 425 Nr. 2. 30 »Neues Deutsches Kommersbuch, 2. Aufl. Frankfurt/M. 1925, zitiert nach Dunkel war's 33. 3 1 Euling Priamel 568 f. Anm. 1; eine andere Fassung: Commersbuch 664 und Dunkel war's 23; ähnlicher Unsinn auch in den Liedern der Handwerksburschengeographie. 32 vgl. ^Stumpfsinn-Verse gesammelt von Heinrich Stillfried, Boppard 1910. 29

48

Die Gattungen

der

Unsinnspoesie

Und ist er allein, So ist er wahrscheinLidi irgendwo liegen geblieben. 33 Ihnen schließen sich die Κ 1 a ρ ρ h ο r η ν e r s e an, die besonders um 1 8 8 0 en vogue waren. Ihr Ursprung liegt im dunkeln; man hat dafür schon die unfreiwillig komischen Anfangszeilen eines Gedichtes des Göttinger N o t a r s Friedrich Daniel von 1 8 6 2 verantwortlich gemacht, 34 dodi sind im Kinderreim ähnliche Gebilde nicht unbekannt. Aus den Versen wie Ein Jäger und ein Hund Die fingen 'nen Hasen, und — Sie hätten ihn bald, aber — Der Hase lief in den Haber 3 5 könnte auch das Klapphornschema „Zwei Knaben . . e n t s t a n d e n sein: Zwei Knaben stiegen auf einen Baum, Sie fanden weder Apfel noch Pflaum, Sie fanden audi keine Orange, Denn es war eine Telephonstange. Sehr wahrscheinlich aus dem studentischen Bereich herausgewachsen ist die unzweifelhaft bedeutendste halbliterarische Gattung: das Q u o d l i b e t . 3 8 Nach Uhl w a r die quaestio quodlibetica ursprünglich die alljährlich wiederkehrende H a u p t und Staatsaktion einer pompösen Disputation. 3 7 Gleichwie bei einer Disputation tausenderlei verschiedene Materien aus allen Fächern der scholastischen Kathederweisheit jener Tage vorgebracht wurden oder vorgebracht werden konnten, so setzte nun audi das spaßhafte Quodlibet seine Ehre darein, möglichst viel heterogene Dinge in einem Atemzuge nebeneinander zu stellen. Die akademische Jugend verspottete durch diese Spielerei, halb unbewußt [in gutmütiger Selbstironie] eine Institution der Alma mater, die sich als überlebt herausgestellt hatte und beim Erwachen des Humanismus für immer entschlummerte.38 Gegen diese Theorie wandte Ehrismann ein, daß die quaestio quodlibetica ernsthaft gewesen sei und das Quodlibet als N a m e für eine Diditungsart erst in der galanten Poetik am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts auftrete, die quaestiones quodlibeticae aber schon im sechzehnten Jahrhundert abgeschafft worden seien, die Bezeichnung folglich nicht mit der quaestio quolibetica zusammenhänge. 3 8

Uns

Dunkel war's 39. vgl. Lewalter-Schläger 721 Anm.; Dunkel war's 68. Der Urklapphornvers hieße dann: „Zwei Knaben gingen durch das Korn / Der andre blies das Klapperhorn / Zwar könnt' er's nicht ordentlich blasen / Doch blies er es einigermaßen", davon abweichend: Dunkel war's 69. 3 5 Böhme I 1219. 3 6 Der Ursprung der Bezeichnung ist umstritten: quotlibet (wieviele man miteinander verbindet) oder quodlibet (was man alles durcheinander bringt), vgl. Bienenfeld 120. Quodlibet heißt auch eine Homonymik in Versen vgl. unten S. 83 Anm. 7. 37 Wilhelm Uhl, Die deutsche Priamel, ihre Entstehung und Ausbildung, Leipzig 1897. 3 8 Uhl aaO 28. 3 9 Gustav Ehrismann, Rezension in AzfdA 25 (1899) 160 ff., Einwand 164 f. 33

34

Die literarischen, gesellschafllichen und gelehrten

Spiele

49

sdieint jedoch, daß Ehrismann eine wichtige Stelle übersehen hat, die gegen seine Einwände spricht: die Erwähnung des Quodlibets bei Fischart, also gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts, in einer Aufzählung scherzhafter Bräuche und dazu noch im Zusammenhang mit der Schule: „Die Teutschen mit Faßnachtsspielen, Freihartspredigen, Pritzenschlagen: die in Schulen mit deponieren, und Quotlibeten: welche weis wie die Quotlibetarij fürgeben, audi S. Augustin soll gebraucht haben, und gewiß S. Thomas vom Aquavino." 40 Diese Stelle spricht für Uhls Überlegungen, verbindet sie doch den ernsthaften Ursprung in der Erwähnung von Augustin und Thomas von Aquin mit dem Scherz des Quodlibets. Überdies treffen wir bei einer bestimmten Art, die freilich selbst Uhl nicht beachtet, im ganzen sechzehnten Jahrhundert und später die Bezeichnung Quodlibet an: beim musikalischen Quodlibet. Es lohnt sich, auf dessen Geschichte zu blicken, da es das nichtmusikalische — zum mindesten das des achtzehnten Jahrhunderts — ohne Zweifel beeinflußt hat. Für die Entstehung gibt uns die Entwicklung des Rondells und des Motetts im Frankreich des zwölften Jahrhunderts einen Fingerzeig. Diese beiden Liedarten wurden ursprünglich von den Oberstimmen gesungen, während die Unterstimme (Tenor) immer ein- und denselben Vokal erschallen ließ. Für den mehrstimmigen Gesang des Motetts wurde dann oft für zwei bis drei neugesetzte Oberstimmen je ein besonderer Text gedichtet und gesungen, wobei das Verständnis von gleichzeitig drei (mit Tenorvokal vier) Texten unmöglich oder mindestens sehr schwierig war. Das läßt Wilhelm Meyer vermuten, daß diese Gesänge nicht für die Zuhörer, sondern für Gott bestimmt waren. 41 So vereinigen sich vielleicht auch hier wie bei andern Unsinnspoesien spielerische und religiöse Beweggründe. Denn diesen Liedarten ähnlich baut sich audi eine Art des musikalischen Quodlibets auf, die wir in der folgenden Schilderung aller Quodlibetarten wiederfinden: Messanza seu Mistichanza: Ist ein Quotlibet oder Mixtur von allerley Kräutern, una salata di Mistichanza: W i r d sonsten in gemein Quotlibet genennet. D o nemlich aus vielen vnnd mancherley Motetten, Madrigalien vnd andern deutschen weltlichen, audi possirlidien Liedern, eine halbe oder gantze zeile T e x t mit den Melodeyen vnd Notten, so darzu vnd darüber gesetzt seyn, herausser genommen, vnd aus vielen stücklin vnd fläddin gleichsam ein gantzer Peltz zusammen gesticket und geflicket wird. 4 2 Es sind aber derselben Quotlibeten dreyerley Arten. 1. Etliche haben in einer jedem Stimme einen besondern vnnd vollkommenen T e x t : Wie dann eins, so mir sehr wol gefeilt, gefunden wird, da in einer Stimme: „Erhalt uns H E R R " ; In der andern: „Ach Gott vom H i m m e l " ; In der dritten: „Vater unser im H i m m e l " ; In der vierdten „ W i r gleuben"; In der fünfften: „Durch Adams F a l l " gantz durchgeführet werden; Autore Iohanne Göldelio. 4 3 2. Etliche haben zwar in einer jeden Stimm einen besondern T e x t , aber gar zerstümmelt vnd zerbrochen; Wie in des Nicolai Zangii Quotlibet. Fischart Geschichtklitterung 6 f. Meyer Mlat R y t h I I 3 1 2 f f . ; vgl. auch Johann Huizinga, Herbst des Mittelalters, 8. Aufl. Stuttgart 1961, 221 zur Entstehung der Motette u. die dort angegebene Literatur. 4 2 Diese Definition stammt eigentlich von der des Cento, vgl. unten S. 214. 4 3 nicht erhalten, restituiert nach Praetorius von A. A. H . Redeker: C. L. Hilgenfeldt, Bachs Leben, Wirken und Werke, Leipzig 1850, Notenbeil. Tab. I. 40

41

50

Die Gattungen der Unsinnspoesie 3. Etliche haben in allen Stimmen einerley Text, weither aber auch vnvollkommen vnd abrumpirt, vnd bald ein ander darauff erwischet wird; Wie in Melchioris Franken Quotlibeten; Vnd in den beyden Messanzen, Mirani a. 5. Vnd Nascela pena a. 6. zu ersehen. 44

D i e dritte Art, kurze Fragmente aus Liedanfängen oder überhaupt Bruchteile v o n Melodien und Texten aneinanderzureihen, enthält schon eine Florentiner H a n d schrift des dreizehnten Jahrhunderts. D o r t ist ein Lied aus den Anfangsversen einer Reihe anderer Lieder zusammengesetzt, die auf den vorangehenden Seiten stehen, es ist also gleichsam ein gesungenes Liederverzeichnis, wie das oben als Klangspiel eines Kindes zitierte. 45 Das musikalische Quodlibet entspricht letztlich unserm heutigen „Schlagerpotpourri", da wohl nur sehr bekannte Lieder dafür verwendet wurden, was es für die Volksliedforschung wichtig macht. In Frankreich nennt es sich F r i c a s s e , in Spanien Ε η s a 1 a d a und in Italien eben M i s t i c h a n z a oder Μ e s s a η ζ a.4® Im deutschen Sprachgebiet gibt Wolfgang Schmeltzl 1544 47 die erste Quodlibetliedersammlung heraus, in der zweiten Hälfte des gleichen Jahrhunderts folgen dann verschiedene andere. 48 Zur Charakterisierung dieser frühen musikalischen Quodlibets sei eines v o n Greitter geschildert: Der Diskant singt „Ach Elslein, liebstes Elslein mein, wie gern wär ich bei dir", der A l t „Es taget vor dem Walde", der Tenor „Wenn andre Leut schlafen" und der Baß „Greyner, Zanckcr, wie gefällt dir das". 49 In den Drucken treten die musikalischen Quodlibets zurück, da sie meist aus dem Stegreif gebildet wurden; verbreitet aber sind sie auf alle Fälle gewesen. Das beweisen nicht nur die Quodlibetkompositionen von Nicolaus Zangius, Melchior Franck und Hermann Schein, 50 sondern schließlich auch die Goldbergvariationen Johann Sebastian Bachs, deren Ende die Melodien der beiden Lieder 44 Michael Praetorius, Syntagma musicum, Wolfenbüttel 1614-20, III 17 f., zitiert nach der Faks. ed. v. Willibald Gurlitt, Kassel 1958-59. 45 Florentiner Hs. Laurenziana Plut. 29.1 Bl. 332; abgedruckt in Analecta hymnica X X 123. Ähnliches bei Karl Bartsch, Altfranzösische Romanzen und Pastourellen, Leipzig 1870, II Nr. 80, vgl. I 71. 46 niederländische Quodlibete: Geschiedenis I 279, 311. Quodlibetähnlich ist auch das Madrigal „The Cryes of London" von Orlando Gibbons oder das „Chanson des Cris de Paris" (abgedruckt bei Claude Roy, Tresor de la poesie populaire franjaise, Lausanne Guilde du Livre 1954, 288 ff.). 47 Bienenfeld aaO. 48 andere Sammlungen: Bienenfeld 123ff. Bekannter sind der „Musikalische Leutespiegel" von 1687 und das „Ohrenvergnügende und gemütergötzende Tafelconfect" Augsburg Lotter 1733-46 (ed. Hans Joachim Moser, Mainz 1942); vgl. auch Robert Eitner, Das deutsche Lied des 15. und 16. Jahrhunderts — In: Beilagen zu den Monatsheften für Musikgeschichte 8-10 (1873-78) I 1 ff.; A. Lübben, Beitrag zur Kenntnis älterer deutscher Volkslieder — In: ZfdPh 15 (1883) 48 ff.; Hoffmann von Fallersleben, Deutsche Volkslieder im Jahre 1620 — In: Weim Jb 3 (1855) 126 ff.; Karl Euling, Ein Quodlibet — In: ZfdPh 22 (1890) 312ff.; Hermann Kretzschmar, Das Notenbuch der Zeumerin — In: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 16 (1909) 57 ff.; Max Meier, Das Liederbuch Ludwig Iselins, Diss. Basel 1913, 50, 115 f. 49 Schmeltzl Liederbuch N r . 10: Bienenfeld 126. 50 Bienenfeld 123 f.

Die literarischen, gesellschafllichen und gelehrten Spiele

51

„Kraut und Rüben haben midi vertrieben" und „Ich bin so lang nidit bei dir gwest" miteinander verbindet. Wenn wir Johann Nikolaus Forkel trauen dürfen, ist die Spielerei in der Familie Badi sogar besonders geschätzt gewesen, erzählt er doch: Alle Mitglieder pflegten sich jährlich an einem bestimmten Tage zusammenzufinden. Da die Gesellschaft aus lauter Kantoren, Organisten und Stadtmusikanten bestand, die sämtlich mit der Kirche zu tun hatten, und es überhaupt damals noch die Gewohnheit war, alle Dinge mit Religion anzufangen, so wurde, wenn sie zusammen waren, zuerst ein Choral angestimmt. Von diesem andächtigen Anfang gingen sie zu Scherzen über, die häufig sehr gegen denselben abstachen. Sie sangen nämlich nur Volkslieder, teils von possierlichem, teils auch von schlüpfrigem Inhalt zugleich miteinander aus dem Stegreif, so daß zwar die verschiedenen extemporierten Stimmen eine Art von H a r monie ausmachten, die Texte aber in jeder Stimme andern Inhalts waren. Sie nannten diese Art von extemporierter Zusammenstellung Quodlibet und konnten nicht nur selbst recht von Herzen dabei lachen, sondern erregten auch ein herzliches und unwiderstehliches Lachen bei jedem, der sie hörte. 51 Das musikalische Quodlibet ist nicht ausgestorben; über das Volks- und Studentenlied 52 hat es sich v o m sechzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart erhalten 53 und lebt noch in den Scherzen des Kabaretts fort. Am häufigsten hat es das Altwiener Volkstheater verwendet. In fast jedem Stück Gleichs, Meisls, Bäuerles, Raimunds oder Nestroys wird ein Quodlibet aus aneinandergereihten bekannten Melodien gesungen. Raimund 5 4 und Nestroy legen zwar meist sinnvolle neue Texte unter — hie und da mit parodistischen Anspielungen auf Originale —, vor und neben ihnen aber werden die Texte noch fröhlich nach alter Art zusammengekoppelt. Das eindrücklichste dieser alten Art ist das Wahnsinnsquodlibet aus Meisls „Lustigem Fritz", das der Glanzpunkt v o n Raimunds Darstellungskunst gewesen sein soll. 50 D a es neben Liedfetzen audi andern Unsinn enthält und wir so annehmen müssen, daß es halb gesungen und halb gesprochen wurde, steht es am Übergang zum Quodlibet als Unsinns/)o«/e. Meisl liebt auch sonst sinnlose Texte und läßt etwa den Orpheus singen: Altes Eisen, Messing, Bley, Lumpen, Fetzen, Hahnengschrey. Galgenvögel, Rabenaas, Faule Äpfel, Ananas, Artischocken, Teufelskoth, 51

Joh. Nik. Forkel, Über Joh. Seb. Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke ed. Max F. Schneider, 2. Aufl. Basel o. J., 15. 52 Arthur Kopp, Deutsches Volks- und Studenten-Lied in vorklassischer Zeit, Berlin 1899, passim. 53 vgl. etwa f ü r aufeinanderfolgende Melodien und Texte: Commersbuch 622; für gleichzeitige: Quodlibet aus den Liedern „J'ai perdu le do de ma clarinette" und „L'inverno l'e passato" von S.W. Huber: Basler Singbuch, Basel 1937, 44; Unser Singbuch, Luzern 1959, 124; ebda. S. 137: „Auch die bekannten Kanons: .Himmel und Erde müssen vergehn', ,CAFFEE' und ,Es tönen die Lieder' können, jeder 3st., zum Scherz als Quodlibet zusammen gesungen werden"; „Kleines Quodlibet nach fünf Liedern": Schweizer Musikant 46 f. 54 vgl. etwa Raimund VI S. X X I X f. 55 DL Barocktradition im österreich.-bayr. Volkstheater ed. Otto Rommel, Leipzig 1935-39, IV 76 ff.

Die Gattungen

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der

Unsinnspoesie

Schwere Reiter, Butterbrot, Alte Weiber, Kohlendampf, Fliegengeist und Magenkrampf. Gliederreissen, Ohrenweh, Ranziges Fett und Märzenschnec. Postillion und Sesseltrager, Bäckerjodl, Ochsenschlager. Alte Katzen, schwarze Pudel, Leberknödel, Lungenstrudel, Das ist doch ein Quodlibet, Das gewiß zum Herzen geht. 56 Natürlich bedeutet Meisl nicht den Anfang, sondern beinahe das Ende der Geschichte des Quodlibets, aber er gibt uns doch einen Hinweis darauf, wie sich das Spiel nicht nur aus der quaestio quodlibetica, sondern auch aus dem musikalischen Quodlibet entwickelt haben könnte. Beides muß allerdings beigetragen haben, denn das poetische Quodlibet kuppelt nicht Lied- oder Gedichtfragmente, sondern Bruchstücke von Redensarten, Sprichwörtern, Banalitäten aller A r t zusammen, die möglichst in keiner Beziehung zueinander stehen. Ansätze zu solchem Mischmasch finden sich bei Marner, 6 7 wenn nicht schon früher. Freilich sind die Angaben der Literarhistoriker über Quodlibets der Frühzeit mit Vorsicht aufzunehmen, da sie oft Lügendichtungen meinen, weil diese, wie auch umgekehrt, Elemente des Quodlibets

enthalten. 6 8

Eigentliche Quodlibets kennen doch wohl erst das vierzehnte und fünfzehnte J a h r hundert, man nennt sie da „geplerr", „abentewrliche red" etc. 5 9 Als Beispiel diene der Anfang eines 146zeiligen „Spruchgedichts": Nun h6r wie gar ain tor ich bin Ich trunck durch die wodien win Für laster wiche wasser Von baden wirt man nasser Denn von kainer slachte ding Midi nimpt wunder wer die sint Die aller besten notten Schuller und och Schotten Die beliebent nit du lenge rieh Er ist ain tor sicherlich Der sine ayger wannet Liegen wart verbannet Hie vor in der alten Ε Mich nimpt wunder wer nu ge Der den iungsten sol begraben Man vint noch vil der tumben Knaben ebda. I I I 92 V. 19 ff. Der Marner ed. Philipp Strauch, Straßburg 1876, 10.1, 15.12. 5 8 so etwa die Uhlands: Schriften zur Geschichte der Dichtung und Sage, Stuttgart 1865-73, I I I 231. 5 9 geplerr: Euling Quodlibet aaO V. 161 (15. Jahrhundert); abentewrliche red: Hätzlerin 42. Literatur über die „Frühzeit" des Quodlibets bei Gustav Ehrismann, Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters, München 1918-35, II Schlußband 356. 56

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Die literarischen, gesellschaftlichen und gelehrten

Spiele

53

Die nit volgent wiser rat Ainer der vil guotez hat Der mag kofen daz er wil Snider die geliegent vil Und och die mertzler Welcher habk wilder w i r Der sol von recht zwu schellen tragen Wer äffen vach oder iagen Wöl, der sol sich warnen buntsdiuech Ze SchafFhusen ist manig fluoch Viel tieff in den loffen Welch man sieht buoben roffen Mit wasser ers begiessen sol Muser tuont dem hopt wol Und och der win gemischet Ain katz nit gern vischet Tieff in dem wag Ez ist noch manig vrag Du nit hat antwurt Wer stechen w61 der gurt Sinem rosz dester basz Syd lob bluot pluomen und grasz . . .G0 Der niederdeutsche „Koker" Hermann Botes v o m Ende des fünfzehnten/Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, ein „Köcher" voller Lebensweisheiten, d. h. Sprichwörtern, die nur durch den Reim zusammengehalten werden, bildet einen H ö h e punkt der Quodlibetliteratur, falls er nicht als Sprichwortsammlung gemeint und nur zum unfreiwilligen Quodlibet geworden ist. 61 Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert scheint das Spiel fast nur noch in der Musik und im Volkslied weiterzuleben, doch beginnt Abraham a Sancta Clara seine Totentanzstrophen im Quodlibetstil: Gickes gackes Bloder-Zung, Rede dennoch einmal bescheid, Sag, sterben müssen alt und jung Sterben müssen alle Leut Omnes quotquot morimur, Es sei gleich morgens oder heut, Sterben müssen alle Leut. 62 Erst in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts erlebt das Quodlibet (jetzt unter diesem N a m e n ) eine neue Blüte, und zwar wird es vor allem als Hochzeitscarmen, für Glückwünsche z u Magister- oder Doktorpromotionen, als „eine Zusammenfügung gereimten Unsinns zur Erheiterung harmloser Tischgesellschaften", 63 ββ

Reichsfreiherr von Lassberg, LiederSaal, St. Gallen-Konstanz 1846, I I I 248 S. 559 ff. Er enthält audi unmögliche Dinge und Banalitäten, vgl. Hermann Cordes, Hermann Bote und sein ,Köker' — In: Festschrift für Ludwig Wolff ed. Werner Schröder, Neumünster 1962, 287 ff., bes. 301 ff. Unmögliche Dinge audi in Hans Rudolf Manuels Weinspiel ed. Theodor Odinga, Halle 1892, V. 836 ff. 82 Abraham a Santa Clara II 18. 83 Uhl aaO 30. 61

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Die Gattungen

verwendet.

der

Unsinnspoesie

Zentrum einer eigentlichen Quodlibetmode ist Leipzig mit den vier

Pseudonymisten Menantes (Christian Friedrich Hunold), Philander von der Linde (Johann Burchard Mencke), Amaranthes (Gottlieb Siegmund Corvinus) und Picander (Christian Friedrich Henrici), die zum Teil von der Lieferung von Quodlibeten und anderer Gesellschaftspoesie leben. So dichtet etwa Picander: Auf die G. und E. Hochzeit, Johann Georgenstedt, den 26. Oct. Quodlibet

1733

Wer kauft mir meine Waaren ab? Zwey Junggesellen-Waden, Von forne krumm, von hinten schlapp, Nebst einem alten Schaden. Die Lerchen gehen häuffig ein, Das macht das warme "Wetter, Daß soviel Jungfer Muhmen seyn, Das macht der liebe Vetter. Herodes war ein feiner Mann Und aß nicht gerne Grütze, Wer keinen Taback rauchen kan, Ist auf der Welt nichts nütze. Ey! bist du denn schon wieder da? Was hast du hier zu suchen? Der Schuster in Calabria Bäckt gute Pfeffer-Kuchen. Steh stille, Wandersmann, und liß, Wo nicht, so setz Dich nieder; Hier liegt die schöne Margaris, Ein Abriß feiner Glieder, Sie hörte nicht, sie sähe nicht, Und lebte sechzig Jahre, Des Abends brauchte sie kein Licht, Sie hatte rothe Haare. J a ! freylich kömmt ein rother Bart Den Jungfern nicht zu passe, Drum streichet ihn fein offt und zart Mit weissen Cannifasse. Der Vogelsteller früh aufsteht, Ich muß der Köchin pochen, Daß sie mir, eh die Zeit vergeht, Kan meinen Coffe kochen . . In diesen Glüdcwunsdiquodlibeten verbergen sich gewiß zahlreiche Anspielungen auf das Brautpaar und die Festgäste, dodi hat Picander in seinen Gedichtsammlungen auf Erklärungen verzichtet und so selbst den Quodlibetcharakter hervorgehoben. Häufig werden noch Kataloge von allerlei unsinnigem H a u s r a t beigefügt. Bei Picander finden sich solche von 109 6 5 und 298°® Nummern. Einer davon beginnt: Picanders Ernst-schertzhaffte u. satyrische Gedichte, Leipzig 1727-51, I V 33 S. 253 ff. «5 ebda. I 41 S. 423 ff. «· ebda. I 452 ff. 44

Die literarischen, 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

gesellschaftlichen

und gelehrten

Spiele

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4 eingesaltzne Tobacks-Dosen, 6 eingemachte Pluder-Hosen E i n Messer, dem die Klinge fehlt, Citronen, die schon abgeschehlt. Ein Reiffen-Rock von 15 Ecken, E i n abgedür'rter Butterwecken Ein Carmesiner C a f f e e - T o p f f , E i n blanck geschliffner Hosen-Knopff, Ein dito, aber etwas kleiner, Noch einen dito, der viel feiner. Ein C a m m e r - T u c h , ein Finger-Huth, 3 Pusdiel-Mützen, so noch gut. Sechs Brillen, den die Scheiben mangeln . . , 6 7

D i e d r i t t e N u m m e r e r i n n e r t uns s o f o r t a n L i c h t e n b e r g s „ M e s s e r o h n e K l i n g e ,

an

w e l c h e m d e r Stil f e h l t " , die erste N u m m e r des Verzeichnisses „einer S a m m l u n g v o n G e r ä t s c h a f t e n , welche in d e m H a u s e des Sir H . S. k ü n f t i g e W o c h e öffentlich v e r a u k t i o n i e r t w e r d e n s o l l e n " . Tatsächlich ist dieses angeblich aus d e m Englischen b e a r b e i t e t e Verzeichnis ein u n g e r e i m t e r Q u o d l i b e t k a t a l o g . D a s z e i g t ein V e r g l e i c h d e r ersten acht N u m m e r n m i t d e n e n P i c a n d e r s : 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Ein Messer ohne Klinge, an welchem der Stiehl fehlt. Ein doppelter Kinderlöffel für Zwillinge. Eine Repetirsonnenuhr von Silber. Eine Sonnenuhr an einen Reisewagen zu schrauben. Eine ditto, welche Lieder spielt. Eine Schachtel voll kleiner, fein gearbeiteter Patronen mit Pulver gefüllt, hohle Zähne damit zu sprengen. 7. Eine Chaise per se (sollte vermutlich percie heißen). W e n n man sich gehörig draufsetzt, so wird ein Dusch mit Pauken und T r o m p e t e n gehört. E r schallt durch das ganze Haus. Ein Möbel für einen großen H e r r n . H a t 100 Guineen gekostet. 8. Eine große Sammlung von porcellanenen K a m m e r t ö p f e n , von zum T h e i l sehr lustigen Formen. — D i e beiden letzten Artikel können eine Stunde vor der Auction hinter einer spanischen W a n d , oder auch in einem Nebenzimmer, probirt werden . . . [im ganzen dreißig Nummern und zwölf aus dem N a c h l a ß ] . 6 8 D a ß L i c h t e n b e r g m i t seinem Sinn f ü r das S k u r r i l e m i t d e m Q u o d l i b e t spielt, v e r w u n d e r t uns nicht, e b e n s o w e n i g a b e r auch, d a ß G o t t s c h e d dieses g a n z v e r w e r f l i c h findet. Gleichwohl hat es Leute gegeben, die ein Vergnügen gefunden haben, ihre Vernunft so zu verläugnen; daß sie dergleichen Zeug gemacht; und andre, die nicht viel klüger gewesen, um sie mit Vergnügen zu lesen . . . Das soll nun spashaft seyn! Risum teneatis amici! 0 9 N i c h t alle L e u t e h a b e n freilich a u f G o t t s c h e d g e h ö r t , j a , das b e d e u t e n d s t e Q u o d l i b e t v e r d a n k e n w i r G o e t h e m i t seinem „ C o n c e r t o d r a m a t i c o " . 7 0 Schließlich sei n o c h e r ebda. I 4 2 7 . Vermischte Schriften, N e u e Ausgabe, Göttingen 1 8 4 4 - 5 3 , V I 162 ff., Zitat 164 f. ®9 Gottsched 7 9 6 ; er kennt auch ein satirisches Quodlibet als metrische Form in „dithyrambischen, d. i. ungebundenen, ungleich langen, bald jambischen, bald daktylischen Versen, ohne Ordnung und Verbindung" (ebda.); vgl. dazu Heusler Versgeschichte 1034 (Irrgebände, C a r m i n a vaga). 7 0 Der junge Goethe I I I 73 ff. 67

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Die Gattungen

der

Unsinnspoesie

wähnt, daß im Volks- und Gesellschaftslied sehr oft das Zusammenhanglose durch einen V o r w a n d zusammengehalten wird, es wird als Mittel gegen Podagra angepriesen oder (bis heute) als Folge der Trunkenheit dargestellt; 7 1 Fischarts Trunkenlitanei ist letztlich ein Riesenquodlibet. 11a Eine wichtige Rolle spielt das dramatische

Quodlibet im Volkstheater. Eine

meist zusammenhanglose Szenenreihe gestattet dem Ensemble, die einzelnen Schauspieler in ihren beliebtesten Rollen und die Stücke in ihren bekanntesten Szenen Revue passieren zu lassen. Vom amerikanischen Theater des neunzehnten J a h r hunderts 7 2 erzählt M a r k Twain in „Huckleberry Finns Abenteuern und Fahrten", wie ein Gaunerpaar in einem Landstädtchen ein Quodlibet aufführt, das sich aus der Balkonszene von Romeo und Julia, aus dem Schwertkampf Richards I I I . und dem Monolog Hamlets zusammensetzt. A n die Buntheit der Wiener Quodlibets reichen solche Szenenfolgen freilich nicht heran. Nestroys „Humoristische Eilwagenreise" 7 3 sieht so aus: Die Reihe beginnt mit der 1. Szene des 2. Aktes von Franz von Holbeins Schauspiel „Fridolin [oder der Gang nach dem Eisenhammer]" . . . , doch statt des Grafen erscheint der Barometermacher Quecksilber [aus Raimunds „Der Barometermacher auf der Zauberinsel"] im goldenen Kostüm und singt die große Quodlibet-Arie „Prinzessin, wie soll ich dich nennen?", macht der Gräfin von Savern eine Liebeserklärung, wird dafür auf Befehl des Grafen in den Feuerofen geworfen, um sich gleich darauf, ganz geschwärzt, aus dem Ofen hervorzuarbeiten. Gerührt bietet ihm der Graf ewige Freundschaft an, wofür sich Quecksilber durch zwei Strophen des Liedes „Im Arnstädterstadl, da gibt's schöne Madel" erkenntlich zeigt. Darauf Verwandlung. Zwei Szenen aus J . Kollmanns . . . vaterländischem Schauspiel „Karl von Österreich oder Die Wunder im Erzberg", die ausnahmsweise für sich stehen und ursprünglich durch Szenen aus Frederic-Castellis Drama „Die Waise und der Mörder" abgelöst werden sollten. Später wurden Schillers „Räuber" dafür eingelegt und eine Szene aus dem „Barbier von Sevilla" (oder eine Parodie darauf) ersetzte die ursprünglich hier stehenden Szenen aus „Nummer 777" von Karl Lebrun. Dann wird es ganz toll. PfefferRösel aus Charlotte Birch-PfeifTers . . . Schauspiel „Pfeffer-Rösel oder Die Frankfurter Messe im Jahre 1297" muß mit Bims aus Bäuerles „Aline oder Wien in einem anderen Weltteile" statt des Junkers von Sonnenberg vorliebnehmen und findet daher statt der verhängnisvollen Urkunden Versatzzettel; somit verschlägt es audi nichts mehr, wenn sie ihm das berühmte Duett „War's vielleicht um Eins?" singt, statt für die Rettung seines Lebens besorgt zu sein. Beide werden durch Günther von Nollingen verhaftet und (zuerst an König Philipp II. [Schillers „DonCarlos"]), später an Ezzelino, Tyrann von Padua [Laurids Kruses Trauerspiel „Ezzelino, der Tyrann von Padua"], ausgeliefert und haben viel Angst auszustehen, bis sie durch Winziwinzi, den Deus ex madiina aus Perinets „Belagerung von Ypsilon oder Evakathel und Schnudi" gerettet werden, den natürlich der riesige Nestroy zu spielen hatte. Darauf folgen die tragischen Schlußszenen aus Müllners „Schuld". Bevor aber Hugo und Elvira sich töten, erscheint der Alpenkönig [aus Raimunds „Alpenkönig und Menschenfeind"] als „Gutmacher" und läßt sie verschwinden. Dafür stehen Madame Punkt und Notar Joujou, zwei Karikaturen, vor uns, die Liebesworte wechseln und nach Vortrag eines 7 1 Mittel gegen Podagra: Liederhort 1099; gegen Trunkenheit: Das Ambraser Liederbuch vom Jahre 1582 ed. Joseph Bergmann, Stuttgart 1845, 254 f. (Prosa). 71 » vgl. audi Weckherlin I 508 ff. Nr. 235. 7 2 vgl. auch Carl Ritter, Amerikanisches Theater, Hamburg 1949, 43. 7» Nestroy I X 439 f.

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Spiele

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Duettes aus „Othellerl" [von Klingsteiner und Meisl] abgehen. Darauf folgt eine Szenengruppe, in der ein bankrotter Theaterdirektor Sdirumpel eine Auseinandersetzung mit einem türkisdien Automafenbesitzer hat. Doch ist der Abschluß der Szene nicht zu erkennen, da das Manuskript hier eine Lücke auf weist; es fehlen die Seiten 81-85. Unvermittelt folgt also der Einzug der Sappho, die sich Sansquartier („Zwölf Mädchen in Uniform" [von Louis Angely, eigentlich sieben Mädchen, aber je nadi Ensemble auch zwölf usw.]) aus Olympia mitgebracht hat. Sie tötet ihn, da sie ihn mit Melitta (Gartenszene) überrascht und wird von den Furien davongejagt. Sansquartier geht in das Geisterreich ein, wo er alle renommierten Geister der Wiener Volksbühne trifft [u. a. audi Hamlet, Don Juan und die Ahnfrau], die sich dem Quodlibet zu Ehren wechselweise heiraten!' 4 Als halbliterarisches Spiel der Unsinnspoesie darf das begrifflich und in seinem Ursprung stark umstrittene Ρ r i a m e 1 betrachtet -werden. 75 Als poetische Form ist es seit Urzeiten in der Weltliteratur beheimatet, 16 als literarische Gattung tritt es in der deutschen Literatur des fünfzehnten Jahrhunderts auf und wird durch H a n s Rosenplüt bekannt. Als poetische Form ist es das Fundament der Stegreifdichtung des Volks; es reiht einzelne Tatsachen parallel zueinander auf und schließt sie mit einer (meist witzigen) Pointe zusammen: Ein Himmel ohne Sonn, Ein Garten ohne Bronn, Ein Baum ohne Frucht, Ein Mädchen ohne Zucht, Ein Süpplein ohne Brocken, Ein Turm ohne Glocken, Ein Soldat ohne Wehr, Sind alle nicht weit her.' 7 H i e und da wird in der Literatur zwischen dem V i e l s p r u c h , der in der Eingangszeile, und dem Priamel, das in der Schlußzeile die Synthese der Begriffe vornimmt, unterschieden. Als Form kann das Priamel nicht zur Unsinnspoesie gerechnet werden; wenn es jedoch dazu benützt wird, verschiedenartige Sachen zu häufen, etwa volkstümliche Redensarten mit möglichst heterogenem Bildgehalt in einem 71 ebda. I X 490 ff.; weitere Beispiele ebda. 435 ff., 482 ff.; Raimund I I I I f f . , 65 ff.; Rommel passim und im Stückeverzeichnis: J. A. Gleich Nr. 67, 69 f., 103, 205; Karl Meisl Nr. 35, 65, 85, 123; Adolf Bäuerle Nr. 38. Aus altertümlichen Kupfern, Spielkarten und Augsburger Goldpapier geklebte Quodlibete kennt Fritz von Herzmanovsky-Orlando, Der Gaulschreck im Rosennetz, München 1957, 111. 75 Literatur zum Priamel: Karl Euling, Das Priamel bis Hans Rosenplüt, Breslau 1905; Reallexikon II 723 ff. (Euling); Ehrismann aaO 341, 491 ff.; Verfasserlexikon III 1092 ff. Rosenplüt (H. Niewöhner); Gerhard Eis, Priamel-Studien — In: Festschrift für Franz Rolf Schröder ed. Wolfdietridi Rasdi, Heidelberg 1959, 178 ff. 76 Als Stilmittel auch in der griechisch-römischen Dichtung, vgl. Walter Kröhling, Die Priamel (Beispielreihung) in der griedi.-röm. Dichtung, Greifswald 1935; ähnlich audi Curtius' Summationsschema: Curtius 291 ff. Weit verbreitet in der deutschen Literatur, besonders des Barock, am häufigsten wohl bei Logau (etwa 1.10.11 S. 209), aber auch bei Harsdörffer, Abraham a Sancta Clara, Moscherosdi, Abele (Halm 65), Lessing (Sämtliche Schriften ed. Karl Lachmann 3. Aufl. v. Franz Muncker, Leipzig 1886-1924, X V 462), Rückert (VII 52: Sanskritweise, Priamelform) und bis zur Gegenwart, jetzt vorzugsweise in satirisch-humoristischen Werken. 77 Des Knaben Wunderhorn, Heidelberg 1806-08, I I I Anhang 78.

58

Die Gattungen der

Unsinnspoesie

gemeinsamen Sinn zusammenzufassen, um den Hörer durch die überraschende Pointe zu verblüffen, oder wenn die Beispielhäufung allzusehr anschwillt, die Freude an der unsinnigen Zusammenstellung größer wird als die am abschließenden Witz — wie das im Priamel als literarischer Gattung sehr oft geschieht — , so nähert es sich dem unsinnigen Quodlibet. 7 8 Von solchen Priameln führt kein weiter Schritt zu u n s i n n i g e n A u f z ä h l u n g e n , zu den zahlreichen Löffel- und Nasenliedern, in denen sämtliche Arten von Löffeln bzw. Nasen zusammengestellt werden. 19 Wie beim Priamel freuen wir uns bei R ä t s e l u n d S c h e r z f r a g e n nicht nur über den K a m p f um die Lösung, sondern auch darüber, daß es überhaupt möglich ist, aus etwas äußerst Ungereimtem, Unsinnigem auf allerlei Wegen und U m wegen einen Sinn herauszulesen. 80 O b es sich um Verrätselung mythischer Weisheit oder um Gaukelspiel zu Nutz und Frommen des Scharfsinns einer Tischgesellschaft, ob es sich um eine einfache Scherzfrage oder um den kompliziertesten Rebus handelt, überall steckt irgendwo dahinter die Freude an der unsinnigen Zusammenstellung.

b) Die eigentlichen literarischen und gelehrten Spiele Einst sah der junge Enweri in Tüs, wo er sich unter mancherlei Entbehrungen gelehrten Studien hingab, den Seldschukensultan mit aller Pracht des orientalischen Herrschertums durch die Straßen reiten. In dem glänzenden Gefolge fiel ihm besonders ein reich geputzter Reiter auf, der ihm auf sein Befragen als der Hofdichter bezeichnet wurde. D a besdiloß Enweri, die Wissenschaften an den Nagel zu hängen und auch Dichter zu werden. Noch in derselben Nacht dichtete er eine Kasside auf den Sultan, die ihm dessen Gunst erwarb. 1

Diese Anekdote über die „Berufung" des gefeiertsten aller persischen Panegyriker steht nicht zufällig am Beginn eines Kapitels über die literarischen und gelehrten Spiele. In der persischen Dichtung kann jeder, der eine gute Allgemeinbildung und Phantasie besitzt, sich in Stilistik, Poetik, Prosodie und Rhetorik auskennt, ein gefeierter und gutbezahlter Dichter werden wie ein anderer mit entsprechenden Kenntnissen Arzt oder Teppichwirker. Er braucht dabei vorab nicht etwa neue „eigene" Werke schaffen, sondern darf sich ruhig an die Jahrhunderte alte, festgefügte Tradition halten. Will er sich aber noch besonders auszeichnen, dann drängt ihn das Hauptgedicht, die Kasside (deren Inhalt als Herrscherlob feststeht), dazu, durch eine besonders reiche Bildsprache, wie sie der Orientale liebt, oder durch allerlei Wort- und Versvirtuositäten aufzufallen. Der Dichter wird zum scharfsinnigen Denker und Gelehrten, welcher der Sprache auf alle möglichen und un7 8 vgl. etwa K a r l Euling, Hundert noch ungedruckte Priameln des 15. Jahrhunderts, Paderborn-Münster 1887, 63. 7 9 Schmeltzl Liederbuch N r . 2-5, 16-18, 21 nach Bienenfeld 116 f.; sehr häufig auch bei Abraham a Sancta C l a r a ; Nasenlieder von Harsdörffer als Gesellschaftsspiel verwendet: Gespsp II 2 5 4 ff. Nicht Zitierbares häuft Molinet 7 2 9 ff., 732 ff. V. 92 ff. 8 0 unsinnige Rätsel u. Scherzfragen: Rochholz I 527 ff., II 3 6 6 ff.; Wossidlo I 417 a usw. 1 nach Paul H o r n , Geschichte der persischen Literatur, Leipzig 1901, 195 f.

Die literarischen, gesellschaftlichen und gelehrten

Spiele

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möglidien Arten neue Kunststücke abzugewinnen sucht. So u m f a ß t die persische Dichtung eine unerhörte Fülle literarischer und gelehrter Spiele. Überdies ist sie ausgesprochen gesellschaftlich; die spielerischste aller Gattungen, die M a k a m e , ist geradezu aus den Stegreifdarbietungen in witziger Gesellschaft herausgewachsen. 2 D i e persische Literatur darf als das Muster einer auf das Spiel hin tendierenden Dichtung gelten. Deshalb ist es nicht abwegig, auf einige wenige dieser Spiele hinzuweisen, zumal sie auffallend häufig mit denen der europäischen Literaturen übereinstimmen. 3 O b sie diese — vielleicht schon in der Spätantike — beeinflußt haben, wäre zu untersuchen. D a sind zunächst L a u t - und Buchstabenspiele. 4 Bei der „Umdrehung" w i r d ein W o r t umgekehrt, entweder werden seine Buchstaben teilweise versetzt, so d a ß ein neues W o r t entsteht (Anagramm), oder das W o r t wird völlig nach der R e i h e n folge der Buchstaben umgekehrt (Palindrom). 5 Aber auch ein ganzer Vers k a n n vor- und rückwärts gelesen werden. Gedichten können einzelne Buchstaben gänzlich fehlen (Lipogramm), 6 sie können mit oder ohne diakritische Punkte, mit oder ohne verbundene Buchstaben geschrieben werden. Ebenso können die W ö r t e r eines Gedichtes alle mit dem gleichen Buchstaben beginnen (Tautogramm). 7 Andere G e dichte wechseln regelmäßig zwischen je einem punktierten und einem unpunktierten Buchstaben. 8 Schließlich kann ein W e r k auch aus sämtlichen Buchstaben des A l p h a bets zusammengesetzt sein, ohne daß je einer wiederholt wird. 9 Bei den W o r t - und Versspielen wird ein W o r t auf mancherlei A r t im Vers wiederholt (Annominatio) ; 1 0 alle Wörter erscheinen in Verkleinerungsformen; 1 1 jeder H a l b v e r s oder Vers m u ß ein bestimmtes W o r t oder mehrere bestimmte W ö r t e r enthalten; 1 2 zwei und mehr W ö r t e r werden nebeneinandergestellt, die in Ausspradie und Schrift einander ähnlich, dem Sinne nach aber verschieden sind (eigentliches Wortspiel) ; 1 3 in Versen oder in Prosa werden Redeteile so gestellt, daß eine folgende Reihe einer vorhergehenden dem R e i m und dem M a ß nach Glied für Glied oder feldweise gegenübersteht und entspricht; das vollkommenste ist, wenn dabei kein W o r t wiederholt w i r d . 1 1 Bestimmte Zeilen eines Gedichts sind doppelt zu nehmen, als Nachsatz zum vorher- Reallexikon II 327 f. (P. Habermann); vgl. auch die Makamen des Hariri. Friedrich Rückert, Grammatik, Poetik und Rhetorik der Perser nach dem siebenten Bande des Heft Kolzum, neu ed. W. Pertsch, Gotha 1874. 4 Im folgenden wird zwischen Verszeile (Misra) und Doppelzeile (Beit) nicht unterschieden. 5 5. Anker des 1. Fahrzeuges im 4. Meer des Heft Kolzum nach Rückert-Pertsch (im folgenden abgekürzt: 5 A 1 F ) ; auch 23 A 1 F ; vgl. unten S. 70 ff., 103 ff. β 18 A 1 F, 19 A 1 F, 21 A 1 F, 22 A 1 F, 31 A 1 F, 32 A 1 F, 45 A 1 F, 46 A 1 F ; vgl. unten S. 90 ff. 7 20 A 1 F ; vgl. unten S. 94 ff. 8 28 A 1 F, 29 A 1 F. 9 24 A 1 F. 1 0 27 A 1 F ; vgl. unten S. 178 ff. 1 1 30 A 1 F. 1:2 9 A 1 F . 13 2 A 1 F. " 1 A 1 F. 3

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Die Gattungen

der

Unsinnspoesie

gehenden und als Vordersatz zum folgenden (Kettenreim), 15 oder mehrere Gegenstände werden zusammengefaßt, dann wird, was zu jedem einzelnen gehört, einzeln nachgesetzt (versus rapportati). 16 Reidi ist die Dichtung der Perser auch an metrischen und an Reimspielen; sie kennt mannigfache Arten des Allreims, 17 der Pause,18 des Binnen-, 19 Mittel- 20 und Schlagreims,21 meist wird statt eines neuen dasselbe Wort wiederholt, was oft den Eindruck des Kettenreims erweckt. Für den Endreim werden sukzessive alle Buchstaben, des Alphabets verwendet (Abecedarius). 22 Als metrisches Spiel lassen sich Gedichte nach zwei oder mehr Versmaßen lesen, wohl übertreibend werden in den Poetiken solche von sechs und sogar von dreißig Versmaßen gerühmt! 23 Das Akro-, Tele-, Meso- und Chronostich werden mit einer Virtuosität verwendet, wie sie keine europäische Literatur aufzuweisen hat. 24 Akrosticha geben nicht nur Namen, sondern auch neue Verse, oder die Anfangsbuchstaben von 64 Versen müssen als Zahlen in ein Schachbrett eingetragen und dann im Rösselsprung gelesen werden. Aus einer Verszeile lassen sich auch durch Versetzung der Satzglieder bis zu 68 neue Verse gewinnen (Proteusvers). 25 Verszeilen sind so gestellt, daß man jede Zeile mit jeder, unbeschadet der Richtigkeit des Reimes, des Maßes und des Sinnes, verbinden kann. 20 Eine oder zwei Verszeilen werden wörterweise oder in Wortpartien so in die verschiedenen Abschnitte eines Kreises verteilt, daß man, von welchem Abschnitt man will, zu lesen anfangen kann. 27 Vier Verse werden so eingerichtet, daß man ihre Wörtergruppen vierfelderweise auch von oben nach unten lesen kann; 28 dasselbe gibt es audi mit acht Feldern (Spaltverse). 29 Etwas vom reizvollsten sind die persischen Figurengedichte. Sie übertreffen ihre europäischen Artgenossen bei weitem an Zierlichkeit (schon durch das Schriftbild) und Raffinement des Aufbaus. Wir finden emblematische Figuren, Pentagramme, 30 Bäume, Palmen, Sonnenschirme oder Zeltdächer. 31 Als Beispiel sei ein Baum in der Beschreibung Rückens wiedergegeben, die uns die ganze Duftigkeit eines solchen Gebildes mitempfinden läßt:

15

23 A 1 F; vgl. unten S. 151 ff. 12 A 2 F; vgl. unten S. 158 ff. 17 nach Josef v. Hammer-Purgstall, Geschidite der schönen Redekünste Persiens, Wien 1818, 120 (Raschid W a t w a t ) ; vgl. unten S. 122 ff. is 6 A 1 F; vgl. unten S. 150 f. ]9 7 A 1 F; vgl. unten S. 126 ff. 20 32 A 1 F; vgl. unten S. 130 f. 21 10 A 1 F; vgl. unten S. 126 ff. 22 Lalanne 56; vgl. unten S. 82 ff. 23 11 A 1 F. 24 13 A 1 F, 43 A 1 F; vgl. unten S. 70 ff. 25 2 6 A 1 F; vgl. unten S. 160 ff. 20 2 5 A 1 F. 27 3 5 A 1 F, T a f e l V . 28 16 A 1 F. 29 17 A 1 F; vgl. unten S. 168 ff. 30 14 A 1 F. 31 15 A 1 F. 10

Die literarischen,

gesellschaftlichen

und gelehrten

Spiele

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Die Gattungen

62

der

Unsinnspoesie

Eine sinnige Spielerei, an der man weislich sein Wohlgefallen haben kann. Eine Figur, die einen Baum mit fünf Ästen rechts und fünf links vorstellt; mitten am Stamme hinauf steht ein Beit, in Einer Linie geschrieben; fünf Verspartien rechts und fünf links laufen schief als die Äste vom Stamme auswärts. Außen herum, wo die Äste enden, erscheinen rechts fünf Blumennamen, einer an der Spitze jedes Astes, doch in anderer Richtung, als die Verspartie des Astes; die Namen sind: Lilie, Jasmin, Veilchen, Rose und Tulpe 'Abher. Ebenso, gegenüber den Blumen, sitzen fünf Vogelnamen auf den Spitzen der fünf Äste links: Turteltaube, Sprosser, Nachtigall, Papagey und Taube. Beim Versuch, zu lesen (denn eine Anweisung ist nicht gegeben), entdeckt man nun zuerst, daß sowohl die Vögel als die Blumen für sich eine zweite oder Reimzeile von dem Maße des Stammverses (d. i. des am Stamm des Baumes hinaufgeschriebenen Distichons) ausmachen; sucht man nun die ersten Zeilen zu diesen zweiten, so entdeckt man sie in den Verspartien der beiden untersten Äste, rechts und links, doch so, daß den Zeilen am Anfange etwas fehlt. D a dieses Fehlende nirgends sich auftreiben läßt, weil die folgenden Versäste, von denen man etwas borgen möchte, selbst nichts übrig haben, vielmehr auch ihnen zur Vollständigkeit eines Verses, dessen Grundreim sie am Ende zeigen, am Anfang etwas fehlt; so kann man nicht anders, als an den Hauptstamm sich wenden, um aus ihm selbst, wie natürlich, die Unvollständigkeit seiner Äste zu vervollständigen. Und, aufs angenehmste beschäftigt, entdeckt man nach und nach folgende Organisation. Jeder der Versäste rechts und links geht in irgend einem Punkte vom Stamme aus, und was vom untersten Anfange des Stammes aufwärts bis zu jenem Punkte geschrieben ist, mit dem dort sich anschließenden Aste zusammengelesen, gibt ein vollständiges Distichon. Jeder Astvers wiederholt also an seinem Anfang etwas vom Stammvers; er wiederholt aber davon um so weniger, je tiefer, und um so mehr, je höher hinauf er vom Stamme sich trennt. Man kann nun rechts oder links, oder abwechselnd von rechts zu links, oder von links zu rechts, an den Ästen des Baumes hinauf oder auch herunter steigen. 32 D i e Sprachmischung ist der persischen Dichtung nicht u n b e k a n n t , je eine Verszeile Arabisch u n d Persisch können miteinander wechseln, 3 3 ein S a t z o d e r ein Vers k a n n in zwei 3 4 o d e r drei 3 5 Sprachen, ein Gedicht k a n n sogar v o r - u n d rückwärts je in einer a n d e r n Sprache gelesen werden. 3 ® Bei der N e i g u n g des Persers zu W o r t s p i e l e n k ö n n e n m e h r d e u t i g e W ö r t e r einen Dichter „ z u einem E i e r t a n z zwischen den v e r schiedenen Begriffen begeistern, bei denen der U b e r s e t z e r in Verzweiflung g e r ä t , der aber im O r i g i n a l höchst graziös ist". 3 7 E s gibt Gedichte, in denen m a n bei einem W o r t e nur die diakritischen P u n k t e o d e r die V o k a l b e w e g u n g ä n d e r n muß, d a m i t L o b o d e r Schmeichelei zu T a d e l und Schmähung w e r d e n . 3 8 D i e erste H ä l f t e eines Verses scheint einen T a d e l o d e r etwas nicht z u r E h r e des Gelobten Gereichendes zu enthalten, w a s d a n n die z w e i t e H ä l f t e aufhebt ( S p a l t v e r s ) . 3 9 Diese k u r z e Übersicht v e r m a g den Reichtum der persischen Spiele nur a n z u deuten. E i n e raffinierte Rätselkunst 4 0 m i t eigener Kunstsprache u n d einem S y s t e m v o n überkünstlichen Anspielungen, A n d e u t u n g e n und Beziehungen, nach denen die 32 33 34 35 38 37 38 39 40

Rückert-Pertsch S. 154 ff.; vgl. unten S. 190 ff. 3 6 A 1 F ; vgl. unten S. 205 ff. 48 A 1 F. 49 A 1 F. 50 A 1 F. Horn a a O 63. 3 7 A 1 F, 38 A 1 F ; vgl. oben S. 45 (Interpunktionsscherze). 39 A 1 F ; vgl. unten S. 168 ff. 42 A 1 F .

Die literarischen, gesellschafllichen

und gelehrten

Spiele

63

Buchstaben sowohl bezeichnet als geraten werden können, 41 sei nur am Rande erwähnt. Für diese Dichtung ist audi der literarische Diebstahl bis zum Cento selbstverständlich und durchaus nicht anrüchig. 42 So wundert es uns nicht, daß ein Dichter behauptet, sein Gedicht habe hundertzwanzig offenbare und hundertachtzig verborgene Sinne. 43 Die Poetik hat allen Grund, auch zu lehren, wie man auf gute Art Belohnung fordert! 4 4 Übrigens steht die persische Dichtung im Orient mit diesen Spielen nicht allein, audi die arabische hat eine Weltgeschichte, die ganz in je nach Buchstabenpunkten mehrdeutigen Wörtern abgefaßt ist. 45 Geht man noch weiter nach Osten, so verblaßt die persische Poetik! Der Kävyastil der indischen höfischen Kunstdichtung 48 überbietet die persische Poetik in jeder Beziehung mit den mannigfachen Arten des Yamaka, des künstlichen Reims, 41 mit Palindromen, 4 8 Lipo- und Tautogrammen, 4 9 Spaltversen, 50 Gedichten, die im Zidizack, von oben nach unten oder von unten nach oben silbenweise zu lesen sind, mit Figurengedichten in Gestalt von Rädern, Schwertern, Keulen, Bogen, Lanzen, Dreizacken und Pflügen, 51 mit Schachbrettversen, die silbenweise auf ein Schachbrett geschrieben, im Rösselsprung, nach der Bewegung des Turmes oder des Elephanten gelesen werden müssen52 — einem Spiel, das übrigens im neunzehnten Jahrhundert in französischen Zeitungen auftaucht. 53 Die Krone des indischen Kunstspiels gebührt dem Epos, das mit Hilfe doppelsinniger Wörter zugleich zwei Epen erzählt! 5 4 So gibt das „Räghavapändaviya" oder „Dvisandhänakävya" (d. h. Gedicht mit doppelter Auslegung) 21 A 1 F. 40 A 1 F, 41 A 1 F, 46 A 2 F ; vgl. unten S. 214 ff. Der persisdie Scheich C u r cäni, der im elften Jahrhundert ein umfangreiches Werk über Wortspiel, Vergleich, Metapher usw. schreibt, unterscheidet vier Arten des literarisdien Diebstahls, in der U m schreibung des Übersetzers: Plagiat, Diebstahl, Entnahme, Zuhilfenahme; Curcäni, Die Geheimnisse der W o r t k u n s t . . . übers, v. Hellmut Rittler, Wiesbaden 1959, 365. 4 3 1. Segel 3 F. 4 4 24 A 1 F. 4 3 von Abdarrachman al Bistämi, nach Carl Brockelmann, Geschidite der arabischen Litteratur, 2. Aufl. Leipzig 1909, 209. 4 6 M. Winternitz, Geschichte der indischen Literatur, Leipzig 1908-20, I I I 3 f f . ; vgl. auch Helmuth v. Glasenapp, Die Literaturen Indiens, Stuttgart 1961, bes. 191 ff. 4 7 Winternitz a a O I I I 16. 48 ebda. I I I 66. 4 9 ebda. I I I 66 f. 5 0 ebda. I I I 16. 5 1 Hermann Jacobi, Über zwei ältere Erwähnungen des Schachspiels in der Sanskritliteratur — I n : Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 50 (1896) 2 2 7 f f . , Figurengedicht 2 2 8 ; vgl. auch ^Asiatic Researches 2 0 (1832) 135 ff. Türkische Figurengedichte: J . W . Redhouse, A Turkish Circle Ode by Shanin-Ghiray — I n : Journal of the Royal Asiatic Society 13 (1861) 4 0 0 ff.; Josef v. Hammer-Purgstall, Geschichte der Chane der Krim, Wien 1856, 2 5 I f f . 5 2 Jacobi aaO 228 ff. 5 3 Canel II 1 ff. ("-'Le Monde Illustre 2 0 / 2 7 juillet 1863). Etwas Ähnliches mit Versen kennen aber auch schon die niederländischen Kamers van Rhetorika in „schaeckbaerden", deren 64 Verszeilen so geschrieben werden, daß man 38 Balladenstrophen herauslesen kann, vgl. Geschiedenes II 223. 54 Winternitz a a O I I I 75 und Anm. 41

42

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Die Gattungen

der

Unsinnspoesie

von einem Dichter, der wahrscheinlich Mädhavabhatta hieß, aber unter dem Namen Kaviräja (Dichterkönig) besser bekannt ist (Ende zwölftes Jahrhundert), gleichzeitig die Geschichte der Pändavas (Mahäbhärata) und des Räma (Rämayana) wieder; das „Räghavanaisadhiya" des Haradattasüri die Räma- und die Nalageschichte; ja, es gibt sogar ein dreisinniges Epos: das „Rhäghavapändaväyadavtya" des Cidambara, das gleichzeitig den Inhalt des Rämayana, des Mahäbhärata und des Bhägavatapuräna erzählt. Vom indischen Kävyastil führen aber wiederum zahlreiche Parallelen in die chinesische und japanische Dichtung." Dort soll auch nach einer hübschen chinesischen Geschichte eine Dame Su Hui das hui wen, das Palindrom, erfunden haben, um ihren in die tatarische Steppe strafversetzten Gatten zu unterhalten. 58 Dieser Ausflug in die orientalische Literatur muß davor bewahren, solche Spiele, wenn sie in der europäischen und besonders in der deutschen Literatur auftreten, einfach als Aberwitz verächtlich abzutun. Jeder Kenner der orientalischen Literaturen wird versuchen, alle diese Erscheinungen zu verstehen, nicht aber der deutsche Literarhistoriker; mit wenigen Worten erledigt er alle diese Dinge als „Spielereien", falls sie nicht gerade bei Goethe vorkommen. Freilich hat sich unsere Auffassung der Dichtung und des Dichters so gewandelt, daß besonders seit Goethe und Schiller diese Spiele „den korrekten Zensoren der Normalklassik besonders verhaßt" sind.67 Ein Blick auf die orientalischen Literaturen genügt aber, um uns in der Überzeugung zu bestätigen, daß es für unsere Arbeit „keinen Unterschied zwischen vornehmen und verächtlichen Traditionselementen geben darf". „Man muß den ganzen Bestand zusammennehmen, erst dann greift man die Kontinuität der europäischen Literatur." 58 Trotz dem andern Weg, den die größten deutschen Diditer eingeschlagen haben, besitzt auch die deutsche Literatur eine höfische, gelehrte und gesellschaftliche Dichtung mit Spielen, in denen die Sprache auf alle Möglichkeiten hin abgetastet wird und ihr neue Wirkungen abgewonnen werden. Schon 1871 hat Gustav Gerber versucht, diese Spiele als „Sprachkunstwerke" von der Dichtung zu trennen und sie als selbständige, zwischen Ton- und Dichtkunst vermittelnde Kunstgattung herauszuheben.59 Er beruft sich mit Recht auf Lessing, der zwischen Versifikateur und Diditer zu unterscheiden wußte, ohne jenen lächerlich zu machen. Das Sprachkunstwerk der Laut- und Wortspiele, das Ornament am Sprachkörper, entfaltet nach Gerber den Lautkörper der Sprache, der Sinn tritt zurück: „Der Sinn ist, wenn er nicht geradezu fehlt, für es doch von ganz geringem Werte, oder er erscheint als bloß zufälliges, weil aus der Laune der Lautkombination hervorgehendes Ergebnis; oder es wendet sich das Spiel der Klänge und Rhythmen gegen ihn mit einem gewissen ironischen Verhalten der Sprache und

ebda. F r a n z Kuhn, Palindrom, Eine literarische Spielerei im alten China — I n : Weltwoche 21 (1953) N r . 1013 (10. 4. 1953) S. 5. « Curtius 395. 5 8 ebda. 5 9 Gustav Gerber, Die Sprache als Kunst, 2. Aufl. Berlin 1885. 53

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Die literarischen, gesellschaftlichen und gelehrten Spiele

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zerstört oder vernichtet ihn absichtlich." 60 Ernst Robert Curtius hat den ihn beschäftigenden Teil unserer Spiele unter dem Stichwort „formale Manierismen" zusammengefaßt, wobei Manierismus f ü r ihn den „Generalnenner f ü r alle literarisdien Tendenzen, die der Klassik entgegengesetzt sind", die „KomplementärErscheinung zur Klassik" bedeutet, 6 1 in der die künstliche „Manier" die klassische Form überwuchert. Gegen diese Bezeichnung wäre nichts einzuwenden, wenn sie nicht bei Curtius selbst doch eine abwertende Bedeutung erhielte, denn er sagt: „Der Manierist will die Dinge nicht normal, sondern anormal sagen. Er bevorzugt das Künstliche u n d Verkünstelte vor dem Natürlichen. Er will überraschen, in Erstaunen setzen, blenden. W ä h r e n d es nur eine Weise gibt, die Dinge natürlich zu sagen, gibt es tausend Weisen der Unnatur." 6 2 D a m i t m u ß implicite die Dichtung die Dinge „natürlich" sagen, es wird ein allgemein gültiger Dichtungsbegriff aufgestellt, u n d die orientalische Dichtung ist erledigt, weil sie ja alle Dinge mit U n n a t u r sagt. Aber nur unter einem ihr fremden Ideal betrachtet, nimmt sie sich wirklich als Fremdkörper aus. Wir haben uns vielmehr zu fragen: Gibt es eine Vorstellung vom Dichterberuf, die Spiel an der Grenze der Sprache u n d des Sinns, wenn nicht gerade verlangt, so doch beinahe selbstverständlich mit sich bringt? Die orientalischen Literaturen scheinen dies zu bezeugen; denn so viele Spiele können nicht einfach Wucherungen sein. Gehen wir von der gesellschaftlichen Stellung aus, so ist der persische Sprachvirtuose H ö f l i n g u n d Gelehrter, seine Dichtung bringt ihm einen angemessenen Lohn u n d einen angesehenen Platz an der Seite des Fürsten ein. Seine Stellung erlangt und behauptet er, indem er, da der I n h a l t der Dichtung gegeben ist, die Sprache zu den prächtigsten und unerhörtesten Kunststücken dressiert u n d sie einem feingebildeten Publikum von Kennern u n d Liebhabern in der Arena v o r f ü h r t . Wesentlich scheinen dabei besonders das höfische, das gelehrte Element u n d das Publikum der Kenner und Liebhaber zu sein. Sollte dies zutreffen, müßten wir in andern Literaturen unter gleichen Bedingungen einer ähnlichen Dichtung begegnen. Dies ist tatsächlich der Fall. Betrachten wir zuerst das höfische Element. Eine ausgesprochen höfische Dichtung besitzt die altnordische Literatur in der Skaldenpoesie. Wir brauchen nur die Charakteristik von J a n de Vries zu zitieren, um all die Elemente wieder beisammen zu haben, welche zum literarischen Spiel f ü h r e n : 60 ebda. II 342; die Unterscheidung von Versifikateur und Poet bei Lessing im 51. und 103. Literaturbrief (Sämtliche Schriften ed. Karl Lachmann, 3. Aufl. v. Franz Muncker, Leipzig 1886-1924, V I I I 139ff., 229ff.), er beruft sich dabei u . a . auf Diderot, dodi finden sich die Begriffe mit etwas andern Akzenten (versificateur = gewöhnlicher Reimer, poete = kunstvoller Reimer) bereits im Vorwort zu Ronsards Franciade der Oeuvres von 1587 (Oeuvres completes ed. Gustav Cohen, Paris Gallimard Ausgabe 1950, II 1018). 61 Curtius 277. 42 ebda. 286. Welche Konsequenzen man aus diesem Urteil zu ziehen vermag, zeigt Ludwig Binswanger, Drei Formen mißglückten Daseins: Verstiegenheit — Verschrobenheit — Manierismus, Tübingen 1956. Binswanger sammelt alle negativen Urteile über den Manierismus (117 ff.), benützt sie für seine psychopathologische Theorie und ordnet seine klinischen Fälle nach dem Katalog der Curtius'schen Manierismen (133 ff.).

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Die Gattungen der

Unsinnspoesie

Die Hofpoesie duldet keine persönlichen Einfalle des Diditers, denn sie ist gewissermaßen festgegliedertes Element der höfischen Etiquette: Hauptsache ist, daß dem Herrscher nach den althergebrachten Formeln der Tradition das ihm gebührende Lob gespendet wird, nicht, daß der Dichter eigener Phantasie und Gestaltungskraft frönen kann . . . Das skaldische Preislied war nicht eigentlich Dichtkunst nach der Vorstellung, die wir von Poesie haben, sondern ein Teil des höfischen Zeremoniells. Deshalb legte man mehr Gewicht auf die Kunstfertigkeit als auf den poetischen Gehalt. Der Fürst wird besonders gepriesen dadurch, daß das ihm gewidmete Preislied ein Prunkstück ist, das durch eine schillernde Sprache und eine prachtvolle metrische F o r m eine richtige Fürstengabe ist . . . Die Poesie der Hofskalden ist Virtuosentum und es war mehr ihre Absicht, durch neue Sprachbehandlung zu blenden als durch Ausdruck eines aufrichtigen Gefühls zu rühren . . . Als einmal im Preislied diese Feder der Phantasie [die Kenning] losgelassen wurde, mußte sie aus eigener Spannkraft bis zum äußersten Punkt in Schwingung geraten; der Wunsch, die Vorgänger zu übertrumpfen, konnte sich ja ausschließlich im Bilderreichtum der Sprache betätigen. 6 3

Jede Literatur kennt Epochen, in denen die Dichtung höfische Kunstpoesie ist. An den makedonischen und spätrömisdien Fürstenhöfen versucht der Dichter die Gunst des Herrschers und klingenden Lohn ebensosehr zu erhäschen wie am H o f e des Schah. Das typischste Beispiel eines Fürstendichters ist vielleicht Publilius Optatianus Porfyrius, wohl Karthager von Geburt, Günstling Konstantins, von dem J a c o b Burckhardt ironisch sagt: „Er war aus irgend einem Grunde in die Verbannung geschickt worden und legte es nun darauf an, durch ganz verzweifelte poetische Luftsprünge sich bei Constantin wieder zu Gnaden zu bringen, was ihm denn auch gelang." 6 4 Viele Spiele der mittellateinischen Dichtung sind — wenn wir vom gelehrten Element absehen — Arabesken einer Hofpoesie, an die Stelle des Fürsten tritt Gott, für den der Mönch als Höfling seine Spiele erfindet, dem er sie in Prachthandschriften widmet und auf dessen Belohnung er hofft; dabei werden die einzelnen Spiele mit allegorischem Gehalt gefüllt. Daneben fehlt dieser Epoche auch das reiche Lob auf weltliche Fürsten nicht; besonders seit der karolingischen Zeit bricht eine immer stärkere Freude am Gezierten und Verschnörkelten in die Klostermauern ein. Eine reine Hofpoesie kennt die deutsche Dichtung vielleicht nur deshalb nicht, weil die H ö f e zu wenig Interesse an der Dichtung zeigten. Immerhin gibt es Zeiten, in denen das höfische Element auch in ihr stark hervortritt. So sind die Reim- und Wortspiele des Minnesangs, besonders seiner Spätzeit, Ausdruck einer fürstlich-prächtigen Hofdichtung. Eindeutig ist dieser Zusammenhang für einen Teil der Barockpoesie. Schon Opitz wählt die Dichtung als einen ihm geeignet erscheinenden Weg, um — wie das Schlußkapitel der „Poeterey" deutlich sagt — Ruhm und die Gunst der Großen zu erlangen. Daneben schätzt er auch die Freude des Gelehrten am Studium der Werke, die des Dichtens halber gelesen werden müssen. Zahlreich sind die Dichter um fürstliche Gunst im siebzehnten Jahrhundert, von denen man, wie Tittmann von Birken, sagen könnte: „Er griff zu, wo sich nur Gelegenheit bot, etwas zu gewinnen." 6 5 Sie haben auch gelernt, wie die Perser auf Vries Anord Litgesch I 68 f., 7 6 f . ; vgl. auch Heusler Agerm Dichtung 138 f. Jacob Burckhardt, Die Zeit Konstantins des Großen: Gesammelte Werke, Basel 1955-59, I 217. 0 5 Julius Tittmann, Die Nürnberger Dichterschule, Göttingen 1847, 71. 63

64

Die literarischen,

gesellschaftlichen

und gelehrten

Spiele

67

schickliche Art Gaben zu fordern. Birken benützt das Dankschreiben für den Adelstitel dazu, seinen Gönner merken zu lassen, daß in der Lade noch für eine Kette Raum sei, und erhält sie prompt. Mit dem achtzehnten Jahrhundert übernehmen die Bürger die Rolle der Fürsten, die höfische Poesie sinkt hinunter zur Kunst, Hodizeits- und Leichencarmina zu verfertigen. Länger als das höfische hält sich das gelehrte Element in der deutsdien Dichtung. In den letzten Jahrhunderten vor Christus pflegte man im Museum von Alexandrien zahlreiche Spiele, die nur der Gelehrsamkeit des Dichters und seine Kenntnis der alten Autoren beweisen sollten. Das lateinische Mittelalter setzt diese Tradition fort, indem es in den schulmäßig überlieferten Formen weiterspielt. Die deutschen Humanisten übersehen die antiken Spiele nicht, Heinrich Bebel kennt etwa die versus reciproci, correlativi, serpentini, concatenati und den Cento. 66 Mit der Renaissancepoetik Scaligers von 1561 ist der Bann endgültig gebrochen, sie ist die unerschöpfliche Schatzkammer, in der Virtuosen immer noch etwas Ungebrauchtes finden.07 Sie beliefert alle Barockpoetiken mit Spielen, und jeder Poetikenschreiber ist bemüht, Beispiele für seine Aufzählungen zu dichten, um neben der Gelehrsamkeit auch die poetische Ader zur Schau zu stellen. 88 Das Musterbeispiel eines gelehrten Dichters der neueren Zeit ist Rückert mit seinen mannigfachen Nachahmungen orientalischer Formen. Aber noch in der Gegenwart versuchen kenntnisreiche Dichter, alte raffinierte Spiele nachzuahmen, auch wenn es nur auf Kosten des Sinns geht. Im gesellschaftlichen Element besitzt das literarische Spiel kein Ziel mehr. Es dient nicht mehr dazu, vom Fürsten klingenden Lohn zu erwerben oder die Kenntnis literarischer Raritäten zu beweisen, sondern ein Kreis von Dichtern, Kennern und Liebhabern schließt sich von der Menge ab, um sich gegenseitig mit den virtuosesten Kunststückchen zu erfreuen, wie andere literarische Gesellschaften zu ihrer Erholung Unsinn treiben. Die wohl ursprünglichste Art von Gesellschaftsdichtung, der Dichterwettkampf, steht der Hofpoesie noch sehr nahe. Wenn Homer und Hesiod 69 sich die kniffligsten Rätsel und schwierigsten Kunststückchen aufgeben, etwa die Einrenkung sinnloser Verse zu sinnvollen, 10 so ist König Panedes Schiedsrichter. Ein Fürst entscheidet auch den mittelalterlichen Sängerwettstreit. Aber im altnordischen „Mähnervergleich" 71 , im provenzalischen und altfranzösischen Wett6

21-

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Die literarischen, gesellschaftlichen Adam Samsone 5 in ir zidin Α

reimt auf

bouch wirde sünde

t Schein / Stroh / D a m p f / Berg / Flutt / G l u t t / Schaum / Frucht / Asch / Dach / Teich / Feld / Wiss / und B r o d : D e r Schütz / Mensch / Fleiß / M ü h / Kunst / Spil / Schiff / M u n d / P r i n t z / R a d i / Sorg / Geitz / T r e u / und G o t t / Zil / Schlaff / Preiß / Lob / Gunst / Z a n k / Port / K u ß / T h r o n / M o r d / Sarg / Geld / H o l d / Danksagen Was Gutt / stark / schwer / recht / lang / groß / weiß / eins / j a / Lufft / Feur / hoch / weit / genennt / Pflegt Bös / schwach / leidit / krum / breit / klein / schwartz / drei / Nein / E r d / F l u t t / tiff / nah / zumeiden / Λ κ ώ M u t t / lib I klug / W i t z / Geist / Seel / Freund / Lust / Zir / R u h m / F r i d / Schertz / L o b scheiden / Wo Furcht / H a ß / T r u g / Wein / Fleisch / Leib / Feind / W e h / Schmadi / Angst / Streit / Schmertz / H o h n jcfco» rennt. Alles wechselt; alles libet; alles scheinet was zu hassen: Wer nur disem nach wird denken j muß di Menschen Weißheit fassen. Auf

D i e s e m P r o t e u s v e r s f ü g t K u h l m a n n eine E r k l ä r u n g bei, die das „ G e d i c h t "

über-

h a u p t erst v e r s t ä n d l i c h m a c h t : Himmels V e r ü b t e r ! diser Libes-kuß ist ein volständiger Wechselsatz / in den ersten zwölf Versen; derer idweder sich / wann du nur das erste und di letzten zwei W ö r t e r unverendert auf seiner Stelle behälst / in den andern dreizehen / sonder eintzige V e r letzung des Reimmaßes und Inbegriffes / auff die 6 ' 2 2 7 ' 0 2 0 ' 8 0 0 oder sechshundertzwei und zwantzig-tausendmahl tausend-sibenhundert-zwantzig-tausend-achthundertmahl versätzet werden. Zu welcher dem gemeinen P ö f e l unbegreifflicher Verwechselung der allerfertiste Sdireiber / der täglidi über tausend Verwechselungszeilen abschöbe / dodi über ein gantzes J a h r hundert sattsam würde zu schaffen haben. W a n n aber einer Beiiben hegte / aus dem ersten vir-verse in funffzig W ö r t e r n einen Wechselsatz zu volführen / so könten alle Menschen / wenn si solchen darzustellen gleich trachteten dises nicht ausmachen / weil es so vilmahl tausendmahl tausend verwechselt werden können / daß auch nur di Meer-sandkörner / welche dise Zahl beschlüsse / unser virgetheilter Kugelrund nicht begriffe. Denn funffzig W ö r t e r nach Kircherus' Ausrechnung / lassen sich Versätzen 1 ' 2 7 3 7 2 6 ' 8 3 8 ' 8 1 5 ' 4 2 0 ' 3 9 9 ' 8 5 1 ' 3 4 3 ' 083767Ό05 / 515'293'749'454795'473'408ΌΟΟΌΟΟΌΟΟΌΟΟ das ist . . . [nun folgt die

164

Die Gattungen der

Unsinnspoesie

Zahl in W a r t e n ; Kuhlmann schreibt noch alles in Tausendern, also statt einer Million „tausend-mahl-tausend", was natürlich bei der Größe seiner Zahl eine endlose Liste ergibt] . . . I m ersten Anblikke scheinet es unmöglich / was gesätzet; und so gewiß zweimahl drei sechs machet / so gewiß ist audi dises. Noch unmöglicher aber wird es vorkommen / wann ich mit den grösten Leuten anmerke / hir kürtzlich / anderswo ausführlicher / wi das gröste T h e i l der Menschen Weißheit in der Verwechselung verborgen. Kommet herzu ihr Weißkünstler! Was wollet ihr mit Verstandes leeren Gedanken ein nichtges Ansehen suchen? Forschet scharfsichtiger nach! Überleget das innere Wesen der Wunderversätzung! Glaubet / daß ihr werdet das Centrum aller Sprachen finden / und dasselbe / was die W e l t mit M ü h suchet / mit Schaden ermangelt / schertzend weisen. Ihr verwerfet die kostbahrsten Weißheit-perlen / und zanket euch um geringes Glaß / das zwar einen Pracht-Glantz gibet; doch wie es entstanden / also vergeht. Betrachtet nur di W o r t e / ihr Weltweisen / des Piatons / wann er in dem T i m ä u s heraus bricht: Verstehst du di Zahlen (nehmlich ihr innerliches Wesen) so verstehest du alles. I m übrigen / wi hart obgesäzter Libes-kuß den Ohren so üblich wird er den Gemüttern vorkommen. Es sind in demselben / wi in einem Klumpen / di Samkörndhen der Schluß-Red-Sitten-Weiß-Rechen-Erdmessungs-Thon-Stern-Artznei-Natur-Recht-Schrifft-weißheit / verborgen / und wirst du imehr antreffen / imehr du suchest. Gegenwärtiger O r t verbitet mehr davon zuvcrmcldcn / weil es di eigene G r ö ß e verhindert / und wil ich kühnlich andeuten / welches eine unwarhafftige W a r h e i t

ist / es würde ein großer Hauptband den Inbegriff unseres Libeskusses nicht umfassen / wann du dessen Vorhang wolltest abzihen / seine Schätze eröffnen und ihn zerglidern.

Auf solchen Grundsteine beruhet die gantze V ergleichungs-Kunst / und bemühet sich hirauf seine prächtige Sinnen-gebäude zuerbauen der Sinnreiche teutsche und durch den virgetheilten Weltkreis beruffene ATHANASIUS KIRCHERUS, wie ein genauer Leser in allen seinen Werken wird erfahren / und augenscheinlicher in dessen Lullischen Wissenskunst merken können. Wirst du Himmelsverlibter / mit Gunstaugen

dises beleuchten / und mein dir dinstergeben Gemütte wol annehmen / so werden wir auch ni unterlassen bei reiferen Urtheile / und vollkommenem! Alter hirvon k l a r e r e m Nachricht mitzutheilen / wo Göttliche Gnade Leben und Gelegenheit schenken wird. 2 2

Im „Lehrreichen Geschichtherold" kommt Kuhlmann nochmals ausführlich auf das Gedicht zu sprechen und nennt als Vorläufer: „Hieronymus Cardanus / Athanasius Kircherus / Johann Buteo / Nicolaus Tartalius / Thomas Lansius / Hieremias Drexelius / Daniel Schwenter / Christoph Clavius / George Henisch / Marin Mersenne / Hegias Olynthius I Hieronymus Jzqvierdo / u. v. a. welche aber alle den alten Fusstapffen nachgetreten." Inzwischen hat er auch ein Wechselrad erfunden, „durch das mein Reim / der in einem Jahrhunderte ni ausgewechselt [nämlich von einem Schreiber] / inner etlichen Tagen völlig ausgewechselt / und sähe mit höchster Bestürtzung / wi di Wandelung dreizehenfächtig auf einmal geschähe." E r ist überzeugt, „daß in diser Zusammenfügung des Wechselsatzes / der Anfang / Mittel und Ende aller Menschenweisheit verborgen". 2 3 2 2 Quirinus Kuhlmanns . . . Himmlische Libes-Küsse . . . J e n a Samuel Adolph Müller 1671, 53 ff. 2 3 Quirinus K u h l m a n n s . . . Lehrreicher G e s c h i d i t h e r o l d . . . J e n a J o h a n n Meuer 1673, d6vo ff. (Abschnitt 19 ff.).

Die literarischen,

gesellschaftlichen

und gelehrten

Spiele

165

Kuhlmanns Wechselsatz soll also eine Denkmaschine sein, die aus der Zusammenstellung der Hauptbegriffe durch mechanische Permutation das Wesen der Dinge begreift, wie das schon vor ihm Raimundus Lullus, Kirdier, Mersenne und die andern, auf die er sich beruft, versucht haben und wie es nach ihm ζ. B. Leibniz versuchen wird. 2 4 Noch bei Novalis spukt dieser Gedanke: „Vielleicht kann man mittelst eines dem Schachspiele ähnlichen Spiels Gedankenkonstruktionen zustande bringen", 2 5 dann könnte es „wohl kommen, daß man die Kunst erhielte Philosophien zu machen." 2 6 D a ß der Wechselsatz Kuhlmanns von einem oberflächlichen Betrachter als „alberne Spielerei" 2 7 abgetan wird, ist nicht weiter erstaunlich, wohl aber daß ein Kenner des Dichters, Johannes Hoffmeister, urteilt: „Das alles ist reinster Barock. N u r nahm Kuhlmann in seiner Vorliebe für das Absurde solche Bilder-, Vorstellungs- und Sachenhäufungen verwunderlicherweise schwer ernst, während sie bei den meisten Schwulstpoeten ein bewußtes fahriges Spiel blieben." 2 8 Gewiß ist es reinster Barock, aber nur als klarste, wenn auch undichterischste Ausprägung des Proteus-Baldanders-Gedankens „vom Wechsel Menschlicher Sachen". Die Darstellungsform ist lateinische Tradition, nicht barocke Bilderhäufung. 2 9 Es ist audi nicht verwunderlich, daß Kuhlmann den Wechselsatz ernst nimmt; eher ist man erstaunt, daß Harsdörffer und Winkelmann den Proteusvers wie so manches andere magisch-mystisdie Spiel nur als Gesellschaftsspiel benützen, obwohl sie von einer „lullianischen Kunst" sprechen. Der Wechselsatz durchbricht bei Kuhlmann die hauchdünne Scheidewand zwischen spielerischer Unsinnspoesie und mystischkabbalistischem Tiefsinn. Mit dem Barode erlischt der Proteusvers in der deutschen Dichtung. H i e und da klingt er zwar noch auf, so in Chamissos Das Das Das Das

ist ist ist ist

die schwere Zeit der N o t , die N o t der schweren Zeit, die schwere N o t der Zeit, die Zeit der schweren N o t , 3 0

schließlich bleibt aber nur der Witzblattvers 2 4 vgl. Richard M . M e y e r , Künstliche Sprachen — I n : I F 12 ( 1 9 0 1 ) 33 ff., 242 ff., Denkmaschinen 271 ff.; verhöhnt werden die Denkmaschinen in Swifts Gulliver's Travels I I I A Voyage to Laputa chap. 5. 2 5 Novalis Schriften ed. Richard Samuel und Paul Kluckhohn, Leipzig 1929, I I I 255 N r . 1006. 28

ebda. II 321 N r . 15.

27

Minor 492.

2 8 Johannes Hoffmeister, Quirinus Kuhlmann Zitat 604.



In:

Euphorion

31

(1930)

591 ff.,

2 9 ein Einfluß der französischen vers rapportes, den Welti 123 f. vermutet, ist unwahrscheinlich. 3 0 Brief an J . Hitzig Juni 1 8 1 3 : Werke ed. Friedrich Palm, 5. Aufl. Berlin 1864, V 3 8 3 ; später: vierzeiliger Kanon im Berliner Musenalmanach für 1830, paraphrasiert von F r . Weber.

166

Die Gattungen der

Unsinnspoesie

Wenn der Mops mit der Wurst über'n Spucknapf springt Und der Stordi in der Luft den Frosch verschlingt 31 mit seinen siebenhundertzwanzig Variationen. Erst in jüngster Zeit wird wieder eifrig permutiert. Ein „poeme perpetuel" v o n Tristan Tzara 32 ist auf Kreisscheiben gedruckt und nähert sich dem Wechselrad Kuhlmanns und den alten Kreiskanons. 33 In Raymonds Queneaus „Cent mille milliards de poemes" sind zehn Sonette auf zehn Blättern versweise in Streifen zerschnitten, so daß die Verse einzeln vertauscht werden können. Es werden also nur ganze Verse, nicht Einzelwörter permutiert. Trotzdem ergeben diese Wechselverse hunderttausend Milliarden Sonette, für die Queneau — w i e einst Kuhlmann für seinen Liebeskuß — stolz die Zeit ausrechnet, die man zum Lesen benötigen würde: rechne man für ein Sonett fünfundvierzig Sekunden, für das Wechseln der Streifen fünfzehn, dann habe man bei einem Achtstundentag und bei zweihundert Tagen im Jahr Lesestoff für mehr als eine Million Jahrhunderte; lese man 365 Tage im Jahr je vierundzwanzig Stunden lang, dann brauche man etwa 190 258 751 Jahre. 34 31

Lewalter-Schläger 491; vgl. Anm. dazu; Dunkel war's 108 ff., 141; Arthur Kopp, Rezension von E. Marriage, Volkslieder aus der badischen Pfalz — In: ZfVk 14 (1904) 347 ff., Mops 352. Nach Kopp aus den Fliegenden Blättern, nach Behaghel Humor 189 aus den Münchner Bilderbogen. „Wenn der H u n d mit de Wurst über'n Rinnstein springt" als Tanzlied für den Schottisch: A. Haas, Volkstümliche Tänze und Tanzlieder aus Pommern — In: Blätter f ü r Pommersche Volkskunde 5 (1896/97) 135. Ein parodistischpolemischer Wechselsatz etwa in Pfemferts Aktion 4 (1914) 583. 32 Tristan Tzara, La rose et le diien, Ales P. A.B. 1958; abgebildet in: Rene Lacote et Georges Haidas, Tristan Tzara, Nouvelle Edition entierement refondue, Paris Seghers 1960, bei S. 161. Einen Denk- und Reimring mit Scheiben hat schon Harsdörffer als Dichthilfe erfunden: Trichter III 82ff. 33 Kreiskanon vgl. unten S. 204. 34 Raymond Queneau, Cent mille milliards de poemes, Postface de Franjois Le Lionnais, Paris nrf Gallimard 1961, Zitat: Preface [3]. Das Nachwort bezeichnet Harsdörffer als Erfinder der Wechselsätze! Queneau versucht audi sonst, alte Spiele zu neuer Geltung zu bringen, etwa mit seinen formvirtuosen Exercices de style, Paris nrf Gallimard 1947, oder mit den von seinem Kreis inspirierten Heften: Bizarre (nouvelle serie) no. 4: Les Heteroclites et les fous litteraires (Paris J. J. Pauvert avril 1956) und Cahiers du College de 'Pataphysique, Dossier 17: Exercices de litterature potentielle (Paris College de 'Pataphysique 1961), die zahlreiche unserer Spiele enthalten. Einen besonderen Hang zu (unsystematischen) Permutationen wie zu den später besprochenen Annominationen, Sdiriftfiguren usw. besitzen die konkreten und grammatischen Poesien der Gegenwart; zur Übersicht können dienen: Movens ed. Franz. Mon, Wiesbaden 1960; Konkrete Poesie ed. Eugen Gomringer, Frauenfeld o.J., Heft 1 ff.; Kleine Antologie konkreter Poesie ed. Eugen Gomringer — In: Spirale 8 (Bern Okt. 1960) 37 ff.; im einzelnen besonders: Eugen Gomringer, 33 Konstellationen, St. Gallen 1960; Helmut Heissenbüttel, Textbuch I—III, Olten-Freiburg i. Br. 1960-62; derselbe, Kombinationen, Eßlingen 1954; derselbe, Topographien, Eßlingen 1956; Franz Mon, Artikulationen, Pfullingen 1959. Natürlich spielen auch in der Musik Permutationen eine nicht unwesentliche Rolle; bis zur Gegenwart überblickt das Gebiet in großen Zügen: Fred K. Prieberg, Musica ex machina, Berlin usw. 1960; für die musikalischen Würfelspiele des 18. Jahrhunderts, die zum Teil Haydn und Mozart zugeschrieben werden, vgl. Paul Löwenstein, Mozart-Kuriosa — In: ZfMusikwissenschaft 12 (1929/30) 342 ff.; Otto Erich Deutsch, Miszelle ebda. 595; für die Gegenwart etwa noch: Kommentare zur Neuen Musik 1, Köln 1960.

Die literarischen, Eine A r t Wechselreim

gesellschaftlichen

und gelehrten

Spiele

167

bietet die S e s t i η e , weil sie als Reime die Schluß-

wörter der Verse in bestimmter Reihenfolge wieder benützt: I. Strophe II. III. IV. V. VI.

123456 612345 561234 456123 345612 234561

oder noch schwieriger:

123456 615243 364125 532614 451362 246531

D a r a n schließt sich eine Halbstrophe an, ein dreizeiliges Geleit, das in der Mitte und am Schluß der Zeilen die sechs Wörter in der Reihenfolge der ersten Strophe enthält. 3 5 Als Erfinder gilt Arnaut Daniel3®, der einige provenzalische Nachahmer besitzt. 37 Dante führt das Spiel unter Berufung auf ihn als „den ersten Sänger der Liebe", in die italienische Dichtung ein. Er, P e t r a r c a und ihre Schüler verschaffen der F o r m einige Bedeutung. Wie er selbst mit Stolz betont, überbietet Dante in seiner Canzone „Amor, tu vedi ben che questa donna" die gewöhnliche Sestine nodi mit dem fälschlich oft Doppelsestine genannten Schema: I.Strophe 121131144155 II. 515525533544 III. 454414422433 usw., das auch einmal von Petrarca nachgeahmt wird. 3 8 Nach Frankreich kehrt die Sestine wieder durch Pontus de T y a r d zurück; Salomon Certon ist dort ihr hervorstechendster Liebhaber. 3 9 Die erste regelmäßige deutsche Sestine. 40 diditet Weckherlin 4 1 also (1) 2 (3) 4 (5) 6. Rene Lavaud, Les Poesies d'Arnaut Daniel — In: Annales du Midi 22 (1910) 17 ff., 162 ff., 300 ff., 446 ff.; 23 (1911) 5 ff., Sextine: 460 Nr. 18; vgl. allgemein: F. J . A. Davidson, The Origin of the Sestina — In: Modern Language Notes 25 (1910) 18 ff.; Ferdinand Comte de Gramont, Sextines precedes de l'histoire de la Sextine dans les langues derivees du latin, Paris Lemerre 1872; Canel II 326 ff. 37 Pons Fahre d'Uzes: Carl Appel, Provenzalische Inedita aus Pariser Handschriften, Leipzig 1892, 254 ff.; Bertolome Zorzi: E. Levy, Der Troubadour Bertolome Zorzi, Halle 1883, 68 Nr. 11; Guilhem de Saint-Gregoire: Sextine abgedruckt in Studi romanzi 13 (1917) 31. Eine sestinenähnliche Tirade eigener Prägung diditet Guiraut Riquier: acht Reimwörter kehren in fünf Strophen an derselben Stelle wieder und werden in der darauf folgenden Tornada von drei Versen in der gleichen Reihenfolge wiederholt; Guiraut Riquier, Las Cansos ed. Ulrich Mölk, Heidelberg 1962, Nr. 7, S. 44 ff. 3 8 Dante, La Vita Nuova e il Canzoniere ed. Michele Scherillo, 3. Auflage Milano Hoepli 1930, 329 ff., „Doppelsestine" 330 ff. Francesco Petrarca, Rime ed. Michele Mestica, Firenze Barbera 1896, 23 ff., 51 ff., 96 ff., 125 ff., 215 ff., 306 ff., 330 ff., 333 ff., „Doppelsestine": 468 ff.; vgl. audi Α. Jeanroy, La „Sestina doppia" de Dante et les origines de la Sextine — In: Romania 42 (1913) 481 ff.; *G. Mari, La sestina d'Arnaldo, la terzina di Dante, Milano 1899. 3 9 vgl. Canel II 326 ff.; Gramont aaO; auch Sebillet 193 f. 4 0 Minor 483 ff.; Heusler Versgeschichte 1019; Reallexikon III 236 (P. Habermann); C.Beyer, Deutsche Poetik, 4. Aufl. Berlin 1913, I 547ff.; Verse meist elfsilbig, im deutschen Barock Alexandriner oder vers communs. 41 Weckherlin z . B . I I 304 f. (Sonett Nr. 298); Weckherlin nennt die Sestine Sechster oder Stände ( = Stanze!). 35 39

168

Die Gattungen

der

Unsinnspoesie

und versucht sich auch in dem neuen Schema Dantes. 4 2 Später huldigen ihr Opitz, 4 3 Zesen, 44 Schottel, 45 Harsdörffer, 4 6 Kuhlmann, 4 7 Heinrich Mühlpfort, 4 8

Assmann

von Abschatz 4 9 und andere. Die Übersetzung romanischer Vorbilder erzeugt in der Romantik eine zweite Welle; Spätromantiker wie Zacharias Werner, Wilhelm von Schütz und Sophie Bernhardi verwenden sie im Drama, Fouque und Graf Loeben im Dialog. Natürlich läßt sich audi Rückert dieses Formkunststück nicht entgehen. 50 Für Minor ist die Sestine „ein geistreiches Spiel mit denselben Worten, die in immer neuer Umgebung, wechselnd und sich verschlingend wiederkehren . . . Sie erfordert mehr W i t z als metrische Kunst. Ohne Schädigung des Inhalts der Dichtung wird

es bei einem solchen Kunststück

überhaupt nicht

abgehen." 5 1

Borinski betont die N ä h e des Wechselsatzes: „Die Poetik wird zur Permutationslehre." 5 2 Beider Kritik trifft aber jedes echte Spiel gesellschaftlicher und gelehrter Poesie. c) Der Spaltvers Der Spaltvers spielt mit dem Vers-Sinn. Ein Teil jedes Verses eines Gedichts, der gewöhnlich durch einen Inreim zusammengehalten wird, ergibt von oben nach unten gelesen einen andern, meist entgegengesetzten Sinn als das Ganze oder als ein anderer Teil. In der lateinischen Dichtung werden bei diesem Spiel, über dessen Alter wir nichts wissen, 1 die Verse W o r t für W o r t senkrecht aufgespalten: Weckherlin II 301 ff. (Sonette Nr. 297). Opitz, Schäfferey Von der Nimfen Hercinie, Breslau David Müller 1630, 57 f. 4 4 Zesen Helikon S5 als „Sechsling oder besser Sechssatzgedicht"; ferner ebda. II C l v o Nr. 8. 4 5 Schottel Verskunst 246ff.; Hauptsprache 975 ff. 4 6 Harsdörffer Trichter I 42ff. (er schlägt audi „dreyinnen, vierinnen, fünfinnen" vor); ähnlich Gespsp V I I I 9 7 f . ; vgl. auch Diana, Von H. J . De Monte-Major . . . geteutschet . . . Durch G. Ρ. Η Nürnberg Michael Endter 1646, I 198 f.; I I I 154 f. 47 Quirinus Kuhlmann, Grabe-Schrifften, 2. Aufl. Jena Samuel Adolph Müller 1671, 46 ff. 4 8 Neukirchs Sammlung I I I 303 ff. 4 9 Hans Assmann Freiherr von Abschatz, Anemons und Adonis Blumen ed. Günther Müller, Halle 1929, 26 f. Nr. 44; ^Poetische Übersetzungen und Gedichte, Leipzig und Breslau Bauch 1704, I 270; I I I 129 nach Wegener 78; vgl. auch Enoch Hanmann, Anmerckungen In die Teutsche Prosodie (Frankfurt 1658) — In: Martini Opitii Opera Geist- und Weltlicher Gedichte, Breslau Jesajas Fellgibel 1689, II 77 ff., Sestine 207ff.; Morhof 727 f. 50 Rückert V 58 f.; Sestine von Eichendorff: Joseph und Wilhelm v. Eichendorffs Jugendgedichte ed. Raimund Pissin, Berlin 1906, 53 Nr. 71. 5 1 Minor 485. 52 Borinski 169; schon Gottsched zählt die Sestine zu der „gezwungenen Art von Liedern" (707 ff.). Englische Sestinen: J . Schipper, Englische Metrik, Bonn 1888, 576 f. mit Abarten. 1 Canel I 194 f. zitiert ein mit versus cancellati verbundenes Beispiel von 1592. Eine Sonderform, bei der das letzte Wort als Pointe den erwarteten Sinn des Verses ins Gegenteil verkehrt, führt Emanuele Tesauro vor; ein Gedicht auf Flavius Domitianus beginnt: 42

43

Die literarischen, gesellschaftlichen und gelehrten Spiele Dilige stultitiam, Justitiam vita

vitium fuge

cole, sanctos

turpia mitte

169

quaere, pudicos. 2

Als Stammbudiverse und Schulscherze halten sich lateinische Spaltverse beinahe bis zur Gegenwart. 3 Bei den französischen Rh£toriqueurs sind die oben erwähnten Proteusverse meistens audi vers brises, so etwa Jean Molinets „Sept rondeaux sur un rondeau": Souffrons a point, Bourgois loiaux, Barons em point, Souffrons a point Oindons'on point, Franchois sont faux, Souffrons a point, Bourgeois leaux,

soions bons, serviteurs, prosperons, soions bons, Conquerons, soions seurs, soions bons, serviteurs,

Bourguinons, de noblesse; besongnons, Bourguinons, esparnons; s'on nous blesse, Bourguinons, de noblesse.4

Seit dieser Zeit fristen sie in der französischen Dichtung ein bescheidenes Dasein; nur ein Spaltvers ist berühmt geworden: Par les plus grands forfaits Sur le tröne affermi, Dans la publique paix C'est le seul ennemi

j'ai vu troubler la terre. le roi sait tout dompter. l'amour seul fait guerre: qui soit k redouter,

denn um ihn spinnt sich in Voltaires „Zadig" 5 eine ganze Geschichte: Arimaz liest die eine Hälfte in Zadigs Garten auf und bringt sie dem König; erst kurz vor der Hinrichtung des angeblichen Majestätsbeleidigers wird die andere vom Papagei des Königs gefunden. Aus Spanien zitiert Pfandl ein Sonett aus der Comedia „Amor y celos" v o n Tirso de Molina, dessen Sinn ins Gegenteil umschlägt, w e n n man jeden Vers um die ersten drei Silben köpft: Mariscal amando estimad pues que no

si sois cuerdo en esta empresa, mucho vuestra dicha gana; los favores de mi hermana, dan digusto a la duquesa . .

Imperator, Caesar, Augustus, Pontifex Maximus, Patriae Pestis, Clarissimo Genitori similis, ut Soli Lutum ... und endet: Maximum sui desiderium Romanis reliquit canibus. Emanuele Tesauro, II Cannocchiale Aristotelico . . . zitiert nach der 5. Auflage Torino Bartolome Zavatta 1670, 480 f. 2 Gerber II 367; weitere Beispiele: Canel I 194f.; Weis Bella Bulla 95f.; Weis Jocosa 75 f. 3 Keil Stammbücher 122 N r . 503; 222 Nr. 1244. 4 Molinet 878; vgl. auch Langlois 100 f., 229; Lote II 163; Guy 153. 5 Voltaire Zadig chap. 4. Weitere französische Beispiele: Tabourot 127ff. (vers couppez); Lalanne 59 ff.; Canel I 197 ff. Dasselbe Spiel in Prosa als lettres έ double sens: Court 280 ff. • Pfandl 236.

170

Die Gattungen

der

Unsinnspoesie

A u s der deutschen Dichtung sind uns nur w e n i g e S p a l t v e r s e b e k a n n t . Zesen bes c h r e i b t ein e i g e n e s „ I r r - o d e r V e r f ü h r u n g s g e d i d i t " : F a s t auf diesen schlag [nämlich der versus r a p p o r t a t i ] ist a u d i in meinem Für-schmakkc der Dichterischen Rosen-wälder ein irr- oder verführungs-gedichte zu finden / welches die Schönheit lobet / w a n m a n die eine reihe Zeilen ehrst nach einander herunter lieset / u n d dan die andere gegen-üher; selbige aber wieder verspridit u n d häßlidi ausmacht / w a n m a n den ehrsten reim der ehrsten reihe mit dem der andern gegenüber stehenden / und so f o r t in einer zeile zusammen lieset. 7 D i e Verse selbst lauten: D i e Schönheit ist ein Blitz / der Reinligkeiten Sitz, E i n Z u n d e r z u den Günsten; Reitzt an mit Liebes-künsten D e r J u g e n d schönste Zier / und zihet mit manier Gedancken Sinn und hertzen mit bitter-süßen schmertzen / Auff stetig wohl-ergehn: muß auch zu dienste stehn den Armen wie den Reichen / mit jhr kann sich vergleichen / mit nichten / wie m a n spricht / der Hellen G l u t h und Licht /

die Schönheit m a d i t zu nidite ein böß' und falsch Gerüchte / so feind der T u g e n d - Z i e r : Z u r üppigen Begier / z u r Geilheit die beweget nicht einen / sondern pfleget g a n t z zu vergeistern n u r Sie zeiget keine spur der hoffart schmach und schände / Sie legt an jhre b ä n d e List / T r u g und Heucheley / ist ohne falsche T r e u / Ihr z w e g der ist genießen u n d seine Lust wohl büßen. 8

M e n a n t e s ( C h r i s t i a n F r i e d r i c h H u n o l d ) d i c h t e t a m A n f a n g des a c h t z e h n t e n J a h r hunderts: T r e u und Liebe soll midi krönen A b e r nur b e y Lisimenen, Meine Seele w i r d entzücket, S o sie jenes Bild erblicket, Die

Wortspaltungen

lateinischer

Doris lebenslang bey dir. G e b ich falsches Sdimäucheln f ü r . Wenn ich täglich bey dir bin; Sterb ich b a l d vor G r a u e n hin. 9

Sdiulsdierze

(„magis

ter")10

und

deutscher

S d i u l k a n o n s ( „ E i d u sau — beres M ä g d l e i n " ) 1 1 h a b e n w i r schon bei der T m e s i s erwähnt. d) Versus

concordantes

S e l t e n u n d b e i n a h e n u r in d e r l a t e i n i s c h e n D i c h t u n g z u H a u s e s i n d d i e v e r s u s c o n c o r d a n t e s . S i e z i e h e n a l s S c h r i f t s p i e l 1 z w e i V e r s z e i l e n in i h r e n g l e i c h l a u t e n d e n Zesen H e l i k o n T 7 f . Zesen, ''"Poetischer R o s e n w ä l d e r Vorschmack . . ., H a m b u r g 1632, 36 zitiert nach D L Barocklyrik ed. H . C y s a r z , L e i p z i g 1937, I I 88; vgl. auch oben S. 131 f. G e o r g N e u m a r k s „Pindarisches Klinggedicht". 9 zitiert v o n Gottsched 793, der d a z u erklärt: „ A b e r auch ohne mein Erinnern sieht m a n , w a s dergleichen L a b y r i n t h e wert sind." Deutsche S p a l t v e r s e als Stammbuchverse: K e i l Stammbücher 248 N r . 1349; 317 N r . 1779; 325 N r . 1830; 327 N r . 1843 (verbunden mit versus concordantes). 1 0 Weis Bella B u l l a 78 f. 1 1 Commersbuch 483. 1 o f t vielleicht auch nur Schreibabkürzungen, vgl. C B 32. Beispiele: Emanuele Tesauro, II Cannocchiale Aristotelico . . . 5. A u f l a g e T o r i n o B a r t o l o m e Z a v a t t a 1670, 21; L a l a n n e 6 1 ; C a n e l I 2 0 7 ; Weis Bella B u l l a 97 f . ; Weis C u r i o s a 74 f. 7

8

Die literarischen, gesellschaftlichen und gelehrten Spiele

171

Bestandteilen zu einer einzigen zusammen, sei es silbenweise wie im Stammbuchvers Qui

pit ca

Qui

oder wortweise

wie in

orem, ux

ret

pit ca

ore,

ret

tem Ii

do atque

te

einer Handschrift

do

des

rem lo re 2

dreizehnten

Jahrhunderts

von

St. Omer: Eva Virgo _ .° Prima Sancta

parens

pietate non rprole . sed amore sed feile

carens

fert tristia dat saudia ° ... mortem dedit tulit abditam

m u n d o

orbi 3

Noch komplizierter wagen es die Verse einer Bamberger Handschrift, wenn sie die gleichen Silben innerhalb der Verse zusammenziehen, so d a ß aus: Nuper percussus suscepi pila latenter Doctor torquetur turba baccante tenetur

wird: Nupercussuscepilatenter Doctorqueturbaccantenetur. 4

In der deutschen Dichtung verwendet sie anscheinend nur ein Madrigal J o h a n n J a k o b Rambachs: Verwundrungs-werther Blick! Der Teufel a u f d e m T h r o n . Herodes Der Engel in d e m K e r k e r Johannes usw. 5

Doch meint Vossler, das Gedicht könnte auch für die K o m p o s i t i o n in mehrstimmigem Gesang so eingerichtet sein. e) Aufgegebene R e i m e und Ähnliches Bei den meisten bisher besprochenen Spielen f u ß t der Dichter entweder fest auf einer bestimmten literarischen Tradition aus älterer oder neuerer Zeit, die er nach freiem Ermessen und seinen Neigungen entsprechend aufnimmt und weiterführt, um sozusagen zu beweisen, daß auch er als Virtuose mit dieser F o r m fertig wird, oder er will durch ein neues unerhörtes Spiel sein K ö n n e n zur Schau stellen. In beiden Fällen gibt er sich selbst die Aufgabe, die er lösen will. Doch kann er sich 2 Keil Stammbücher 335 N r . 1279; vgl. audi 73 N r . 175; 82 N r . 2 5 0 ; 221 Nr. 1237; 231 Nr. 1256; 235 N r . 1279; 327 N r . 1843 (deutscher Spaltvers). 3 Notices et extraits des manuscrits de la Bibliotheque Nationale et autres bibliotheques X X X I . l (1884) 53. 4

Karl Langosch, Hymnen und Vagantenlieder, Basel 1954, 293.

5

^'Geistliche Poesien, Halle 1720, Madrigal 13 nach Vossler Madrigal 82.

172

Die Gattungen

der

Unsinnspoesie

diese auch v o n d e r Gesellschaft, v o n seinem F ü r s t e n , v o n seinem P u b l i k u m stellen lassen. B e s t e h t sie b l o ß aus d e m T h e m a , das die D i c h t e r im W e t t b e w e r b gestalten, so e n t s t e h t

der

urtümliche,

in

allen

Ländern

bekannte

Sängerwettstreit.

Hier

interessiert es uns v o r a l l e m , w e n n die Gesellschaft e i n z e l n e T e i l e eines Gedichts —

e t w a die E n d r e i m e o d e r die erste Z e i l e — gibt, die der D i c h t e r z u einem sinn-

v o l l e n G a n z e n z u s a m m e n s c h m i e d e n m u ß . D i e B o u t s - r i m e s , die a u f g e g e b e n e n E n d r e i m e , sind eine ausgesprochen gesellschaftliche G a t t u n g . A u s der ältesten Z e i t ist d e r w u n d e r b a r e D i c h t e r w e t t s t r e i t zwischen H o m e r u n d H e s i o d z u nennen. beiden

Dichter

treffen

nach

einem

zur

Zeit

Hadrians

aufgezeichneten

Die

„Leben

H o m e r s " bei W e t t s p i e l e n in C h a l k i s a u f e i n a n d e r u n d b e g i n n e n einen W e t t k a m p f , w o b e i H e s i o d d e m H o m e r auch die A u f g a b e stellt, k u n s t v o l l ausgedachten U n s i n n in Sinn z u v e r w a n d e l n : E r sprach eine Reihe von Versen, die sich närrisch ausnahmen und verlangte, daß H o m e r stets so einfallen sollte, daß etwas Verständiges daraus wurde. Hesiod: Rindfleisch gab es zum Mahl und die dampfenden Hälse der Pferde — H o m e r : Lösten sich unter dem J o c h ; sie hatten sich müde gestritten. Hes.: Keiner ist so voll Eifers an Bord wie der Phryger, der Faulpelz — Horn.: Ruft man die Mannen am Strande zur Nacht das Essen zu fassen. Hes.: D e r war tapfer vor allen im K a m p f und immer in Ängsten — Horn.: Bangte die Mutter um ihn; ist Krieg doch hart für die Frauen. Hes.: Artemis, da sie in Liebe zu Zeus, ihrem Vater, verfallen — Horn.: Ihre Kallisto sah, so schoß sie die Treulose nieder. Hes.: Sie aber schmausten von früh bis spät, und hatten doch gar nichts — Horn.: Mitgebracht; Agamemnon gewährte es ihnen in Fülle. Hes.: Als sie nun wacker geschmaust und gezecht, so lasen sie sorgsam Hom.: Hes.: Horn.: Hes.: Horn.: Hes.: Horn.: Hes.: Horn.: Hes.: Horn.: Hes.:

Horn.:

U n t e r der Asche das bleiche Gebein des getöteten Gottes-Sohns Sarpedon, des Helden, den Zeus der Olympier zeugte. Sitzen wir nutzlos hier am Strand, so verlassen wir lieber Unsere Schiffe und gehn den W e g um die Schulter geschlungen — Wehrgehäng, und Schwert und Spieß in den kräftigen Händen. Rüstig packten sie an mit der H a n d des brandenden Meeres — Ohngeachtet das Schiff aufs Land ans Trockne zu bergen. Iason führte die Kolcherin heim und den grausen Aietes — Floh er, dieweil er gesehn, er verachtete Recht und Gesetze. Als sie nun aber gespendet und ausgetrunken die Salzflut — Abermals zu befahren bereit mit gebordeten Sdliffen, R i e f Agamemnon laut zu den Göttern allen: Verderbt uns — Nicht auf dem Meer! So betete er, und wieder begann er: L a ß t euchs schmecken ihr Männer und trinkt! Nicht einer der Unsern Soll das ersehnte Gestade der Heimaterde erreichen — W u n d und siech, nein, heil und gesund kehrt jeder nach Hause! 1

E i n solches E i n r e n k e n unsinniger V e r s e ist das v i r t u o s e s t e aller b o u t s - r i n ^ s - ä h n lichen S p i e l e u n d l ä ß t sich m i t S c h a d e w a l d t n u r e r k l ä r e n aus der „ m ü h e l o s e n B e herrschung der D i c h t e r s p r a c h e , die das G e d i c h t aus d e m S c h a t z e der h e r k ö m m l i c h e n 1 Schadewaldt Legende von H o m e r 38 f. (Übersetzung nach der Ausgabe von U . v. W i lamowitz, Berlin 1916, unter Auslassung des unübersetzbaren 3. und 4. Verspaars); vgl. audi K o n r a d H e ß , D e r Agon zwischen H o m e r und Hesiod, Winterthur 1960.

Die literarischen, gesellschaftlichen und gelehrten

Spiele

173

Verse, Versteile, M o t i v e so bildet wie die Sprache, die wir alle sprechen, aus W ö r tern und Wendungen den S a t z . " 2 E i n e Geschidite der Bouts-rimes können w i r nicht schreiben, weil wir wohl den größten Teil v o n ihr nicht kennen; wir beschränken uns hier auf wenige Fälle. V o r liebe für aufgegebene R e i m e zeigen alle Epochen, in denen der Dichtung noch eine gesellschaftliche R o l l e zugedacht ist. S o werden etwa die Sestinen Arnaut Daniels unter Beibehaltung ihrer E n d w ö r t e r von verschiedenen provenzalischen T r o u b a dours nachgeahmt; R e i m k l ä n g e von Vorbildern beizubehalten, ist in der provenzalischen Dichtung sogar beinahe die Regel. 3 Seit dem siebzehnten Jahrhundert ist dann Frankreich eine Hochburg der Bouts-rimes. 4 U m 1 6 4 8 soll der Poet D u l o t sich beklagt haben, es seien ihm dreihundert Sonette gestohlen worden, wobei es sich herausstellte, daß er darunter die schon aufgeschriebenen R e i m w ö r t e r

verstand.

Daraus sei die M o d e der Bouts-rimes entstanden. 4 3 1 6 8 2 forderte Mignon, M a i t r e de musique de l'Eglise de Paris, alle Dichter des Königreichs auf, ein Lobgedicht auf den K ö n i g zu schreiben mit den aufgegebenen E n d r e i m e n : „Pan, guenuche, Satan, peluche, F a n , ruche, Lan, autruche, hoc, troc, niche, par, friche, c a r " . U m den ausgesetzten Preis — eine Medaille mit dem Bildnis Ludwigs X I V . — bewarben sich 192 Dichter vor der J u r y der Herzöge von Nevers und V i v o n n e . 5 D i e Dichtergesellsdiaft der „Lanternistes de Toulouse" veranstaltete jährlich Preisaufgaben von Bouts-rimes. Boileau benützte das Spiel in einem Gedicht gegen einen Feind R a c i nes; unter Ludwig X V I . und im Empire ergötzte man sich daran, und noch 1806 setzte ein Sonderling in den Pariser Zeitungen zwei Preise für ein Gedicht mit sehr schwierigen aufgegebenen Endreimen aus. 6 2 Schadewaldt Legende von Homer 87. Das Spiel scheint in den „Kotzäkia"-Liedern auf Naxos weiterzuleben, bei denen ein Gegensänger jeweils zwei improvisierte Verse eines Sängers zu beantworten hat: nach Johannes Gaitanides, Das Brautbett des Dionysos — In: Der Monat 142 (12. Jg. Juli 1960) 42 ff., Kotzakia 49. 3 Frank passim. 4 Canel I 166 f.; Lalanne 48 ff.; D'Israeli 107; Mönch 28, 45, 166 f., 288 f. 4 a Die Geschichte ist vor allem bekannt durch das „heroische" Gedicht von Jean-Fran901s Sarasin „Dulot ou la defaite des Bouts-rimez: Oeuvres [ed. Gilles Menage], Paris Sebastien Marbre-Cramoisy 1696, 459 ff.; von Dulot selbst ist nichts erhalten. 1649 erscheint audi eine Anthologie „L'Eslite des bouts-rimes de ce temps" von einem M. de Saint-Julien (Pseudonym?). 5 Canel I 168 f. 6 Canel I 170; vgl. audi die Rolle der Bouts-rimes-Sonette im Streit um Racines Phedre: Felix Deltour, Les Ennemis de Racine au X V I I e siecle, 6. Aufl. Paris Hachette 1898, 294 f.; ferner etwa Bouts-rimes beim Abbe Louis de Court (92 ff., 224, 226, 233 ff.) oder im Recueil dit de Maurepas, Leyde 1865, etwa II 220 ff. und sonst. Für eine Boutsrin^s-Wette reimt Stanislas de Bouffiers „ne fut one le" und „donc le" auf „oncle": Oeuvres, Paris Briand 1813, I 59, vgl. audi II 367. Noch 1864/65 veranstaltet Alexandre Dumas pere im „Petit Journal" einen Bouts-rimes-Wettbewerb, vgl. Henri Clouard, Alexandre Dumas, Paris Albin Michel 1955, 421. Ablehnung der Bouts-rimes-Mode durch Moliere: Mönch 288 f. Anm. 182. Allgemein vgl. auch die italienischen Sonetti di riposta, Antwortsonette mit gleichen Reimwörtern, z.B. Tenzone fra Gonnella, Antelminelli, Bonagiunta e Bonodico: Rimatori siculo-toscani del Dugento I ed. Guido Zaccagnini e Arnos Parducci, Bari Laterza 1915, 91 ff.

174

Die Gattungen der Unsinnspoesie

In der deutschen Dichtung verbreitet sich die Gattung im Barock. Der A r t Hesiods nähern sich die Nürnberger. Durch irgendwelche Umstände ist ein Gedicht Strefon-Harsdörffers mit dem Titel „Einsamkeit" in der Mitte bei der Zäsur senkrecht entzwei gerissen worden. Klajus-Klaj findet die vordere (linke) Hälfte, Floridan-Birken die hintere (rechte). Beide ergänzen die ihnen fehlenden Teile durch eigene Erfindung, so daß wir am Schluß drei verschiedene Gedichte besitzen. 7 Eine besondere Mode ist die — wie Anderes — mit „Satz"

und „Gegensatz"

be-

zeichnete A r t . Ein zweites Gedicht sagt unter Beibehaltung der gleichen Endreime das Gegenteil eines „ S a t z " genannten Gedichts aus. 8 So läßt Nathanael Schlott dem Satz „Der T o d ist kein T a n z " den Gegensatz „Der T o d ist ein T a n z " folgen, 9 Assmann von Abschatz der „Beschwer über den B a r t " ein „Lob des Bartes" usw. 1 0 Birken verwendet die Reime eines „ζweygereimten Blumensonnets" in umgekehrter Reihenfolge zu einem „Distelsonnet". 1 1 Diese A r t klingt noch in Eichendorffs „Marmorbild" nach, wenn das Lied Fortunatos auf dem Fest in seiner zweiten Hälfte die erste, heidnische ins Geistliche parodiert. 1 2 Sie erinnert zugleich an die geistliche

Kontrafaktur,

die geistliche Umdichtung eines weltlichen

Lieds, die in Deutschland vom dreizehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert verbreitet ist und noch heute in den Liedern der Heilsarmee fortlebt. Die Umdichtung kann von der bloßen Übernahme der Melodie bis zur Verwendung des ursprünglichen Texts mit sparsamsten Änderungen gehen. 13 Das bekannteste Beispiel ist 7 Pegnesis I 103 ff.; mit direkter Anspielung auf die Antike: ebda. 53 f. Bouts-rimesSpiele Harsdörffers: Gespsp V 478 ff., 485 ff.; V I I 303 ff.; 326 ff.; V I I I 337 ff. und sonst; vgl. audi * Johann Georg Hamann, Poetisches Lexicon, Aurich Luschky 1765, 87 § 39 nach Mönch 288 Anm. 182. 8 allgemein: Hübsdier Barock 787. • Christian Friedrich Weichmann, Poesie der Nieder-Sachsen . . . , Hamburg Joh. Christoph Kißner 1725-38, I 243 ff. (Schluß des Lübeckischen Totentanzes). 1 0 *Poetische Ubersetzungen und Gedichte, Leipzig-Breslau 1704, I 270 nach Wegener 78. 1 1 ^Fortsetzung der Pegnitz-Schäferey . . . durch Floridan und Klajus, Nürnberg Endter 1645, Zuschrift: nach Welti 112. Sonett mit gleichen Reimen als Antwort auf ein anderes: Pegnesis I 500 f. Harsdörffer dichtet in Gespsp V I Zugabe 49 ff. ein Gedicht „Der Spiegel" „nach der spanischen Reimart", in dem alle drei Strophen die gleichen Reimwörter aufweisen, Satz und Gegensatz in der gleichen, Nachsatz in freier Reihenfolge, ebenso am (unpaginierten) Schluß der Vorrede zum 7. Teil „Über das Bildnis der Falschheit"; im Reimgespräch von dem Frieden zwischen Donau und Rhein, Gespsp V I I I 462 ff., verwenden die beiden Ströme in ihren Strophen jeweils die gleichen Reime; Harsdörffer bekennt selbst: „Diese Gesprächreimen sind etwas gezwungen / weil die letzten Reimwort unverändert behalten / der Inhalt aber geändert werden muß" (466); vgl. auch Trichter II 34 ff., 43 f., 104 ff.; Magnus Daniel Omeis, Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst, 2. Auflage Nürnberg Wolfgang Michahelles 1712, 101 ff. (Parodie). Die sehr häufigen thematischen (nicht formalen) Satz-Gegensatzspiele, die sich fast bei jedem barocken Dichter finden, wachsen sich sogar zu ganzen Werken aus wie zu Ernst Stockmanns Lob des Landlebens (Jena 1681) und Lob des Stadtlebens (Jena 1683) und dringen selbst in Briefsteller wie den Teutschen Secretarius (Ausgabe Nürnberg Endter 1656, 97 ff.).

Eichendorff N G I I 311 ff. allgemein: Reallexikon I I 129f. (P.Beyer), 2. Aufl. II 882f. (G. Reichert) und die dort angegebene Literatur; besonders: Kurt Hennig, Die geistliche Kontrafaktur im 12

13

Die literarischen, gesellschaftlichen und gelehrten

Spiele

175

Heinrich Knausts „ O W e l t , ich muß dich lassen" 1 4 als Umdichtung des Innsbrucklieds. 1 5 Noch Birken dichtet ein Zotenlied „ L a ß ab, l a ß ab, mein C a v a l i e r " in ein „Gebet-lied" um und nennt dies „Parodia, Gefolglied". 1 ® Aber auch eigentliche Bouts-rimes fehlen im Barock nicht, K u h l m a n n verwendet im 13. und 2 9 . Liebeskuß die R e i m e von Opitzens 2 0 . Sonett „Was will ich über Püsch . . . " , Assmann von Abschatz 1 7 und andere 1 8 benützen von Freunden „ v o r gegebene" Endreime. I m achtzehnten Jahrhundert bringt auch Gottscheds abschätziges Urteil — „Es ist eine elende Beschäftigung, wenn man seine Gedanken auf die F o l t e r spannen muß, um die eigensinnigen Schlußtöne anzubringen" 1 9 — das Spiel nicht um. 2 0 Das in wenigen Augenblicken nach aufgegebenen Reimen zusammengestellte Gedicht gehört zu den Virtuosenstücken der Karschin. 2 1 Goethe beginnt nach dem Tagebuch „Den 15. Junius 1775. Donnerstags morgen aufm Zürchersee" ein Gedicht: Ohne Wein kan's uns auf Erden Nimmer wie dreyhundert werden Ohne Wein und ohne Weiber Hohl der Teufel unsre Leiber

und schreibt einem Begleiter die R e i m e „Affen, geschaffen, Laus, Schmaus" für die Fortsetzung vor. Dieser ergänzt zu den Versen: Wozu sind wohl Apollos Affen Als wie bouts rimes geschaffen Sie halten oft gleich einer Laus In Clios H a a r u. Pomade Schmaus.

E r verlangt nun seinerseits vom nächsten Teilnehmer die R e i m e „ H o r n , Pinsel, D o r n , Gewinsel" usw. 2 2 Bekannt ist der poetische Wettstreit zwischen einem O b e r förster, einem Bibliothekar und einem Freiherrn, über den bei G o t t f r i e d August Bürger und andern ein Gutachten eingeholt wird. 2 3 Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts werden die aufgegebenen Endreime ausgesprochen beliebt. August Wilhelm Schlegel dichtet zwei Sonette mit gleichen Reimen „ U n k u n d e und ZuverJahrhundert der Reformation, Halle 1909; Luise Berthold, Beiträge zur hochdeutschen geistlichen Kontrafaktur vor 1500, Diss. Marburg 1920; ferner: Bernhard Kippenberg, Der Rhythmus im Minnesang, München 1962, 152 ff. 1 4 Wackernagel Kirchenlied IV 1162. 1 5 Liederhort 734 a. 1 6 Borinski 2 2 7 ; vgl. Harsdörffer Trichter I 98 ff. 17 »Poetische Übersetzungen und Gedichte, Leipzig-Breslau 1704, I 270 nach Wegener 78. 1 8 zwei anonyme Arien auf vorgegebene Endreime: Neukirchs Sammlung I I I 74 ff. 1 9 Gottsched 793; Spott in Addisons Spectator N r . 6 (9. 5. 1711). 2 0 vgl. etwa Weimjb 3 (1855) 449. 2 1 Gedichte nach vorgeschriebenen Endreimen: Gedichte der Anna Louisa Karschin geb. Dürbach . . . ed. C. L. v. Klenke, 2. Aufl. Berlin Friedrich Maurer 1797, 309 ff. 2 2 Goethe W A I I I . l 1 f. 2 3 Aktenstücke über einen poetischen Wettstreit, Berlin 1793: Bürgers sämtliche Werke ed. Wolfgang v. Wurzbach, Leipzig o. J., I I I 71 ff.

176

Die Gattungen

der

Unsinnspoesie

sieht", 24 Eichendorff „In das Stammbuch der Μ. H., eine Sonett mit [Verfasser-] Akrostichon und aufgegebenen Endreimen", 25 und der antiromantische „Karfunkeloder Klingelklingelalmanach" besteht aus lauter Sonetten bouts-rimes.2® Besonders schwierige Endreime gibt man Rückert auf, aber er meistert sie: Auf dem Berg ein Baum steht astlos, Auf dem Meere ein Schiff geht mastlos. Zwischen Berg und Meere lieget Ein verlass'nes Gasthaus gastlos. Zwischen Gasthaus, Meer und Berge Schweift ein irrer Wandrer rastlos. Baum des Lebens, deine Krone Welke! denn dein Stamm ist bastlos. Ei, wenn du der Lust verlustig Gingest, bist du auch der Last los.27 Erzählungen und Schauspiele werden aus Stichworten geschrieben, so v o n Kotzebue „Die Geschichte meines Vaters" 28 und die auf Grund einer Wette in sechsunddreißig Stunden verfertigten „Stricknadeln", 29 v o n Theodor Körner „Die Reise nach Wörlitz", 3 0 von Ε. T. A. H o f f m a n n „Die Folgen eines Sauschwanzes" 31 und von Clauren „Das Pfänderspiel". 32 Jean Paul wollte ursprünglich „Abc-bilder als bouts-rimes zu einer Geschichte" machen, aus diesem Plan ist das „Leben Fibels" herausgewachsen. 33 Der Lipogramm-Roman „Die Zwillinge" von Franz Rittler schlingt sich um sechzig aufgegebene schwierige Wörter wie „Stockhaus, Mennonit, Golkanda, Schafsgesicht, Hagebusch, Hyäne, Melancholie, Chaos, Maulaffe, Salmiak"; in der zweiten Auflage lädt der Verfasser die Subskribenten der Fortsetzung „Emma und Gustav von Falkenau" ein, ihm fünfzig von sechzig 24

August Wilhelm Schlegel I 359 f. Joseph und Wilhelm v. Eichendorff, Jugendgedichte ed. Raimund Pissin, Berlin 1906, 1 Nr. 2. 26 nach einem ungedruckten Brief von J. H . Voß an Conrector Wolff vom 23.7. 1814 sind die Scherzsonette von Baggesen, Aloys Schreiber, Martens und Voß in acht Tagen zusammengeleimt worden, das Honorar wurde dem bedürftigen Baggesen überlassen: Wilhelm Herbst, Joh. Heinr. Voß, Leipzig 1872-76, II.2 315; vgl. auch Bouts-rimesSonette von Eugen Vaerst und dessen Freunden (u.a. Karl Witte) in: Deutsche Blätter für Poesie, Litteratur, Kunst und Theater 1823, 16, 88. 27 Aufgegebene Reime: Rückert II 582. ,s Reval und Leipzig 1788 (2. Aufl. 1792): Kotzebue, Kleine ges. Schriften, Reval und Leipzig 1787-91, III 131 ff.; Kotzebue bemerkt dazu: „So viel scheint mir indes gewiß, daß diese Beschäftigung des Witzes jungen, angehenden Schriftstellern sehr nützlich werden könnte, denn sie lehrt Ideen aneinander knüpfen, Verbindungen, Wahrscheinlichkeiten erschaffen und Dinge zusammenfügen, die beym ersten Anblick durch Berge und Thäler von einander getrennt schienen." 29 Die Stricknadeln, Schauspiel in 4 Acten, Leipzig 1805. 30 Theodor Körner, Werke, Berlin Hempel o. J., IV Anhang 297 ff. 31 Ε. T. A. Hoffmann, Sämtliche Werke in 15 Bänden ed. Eduard Grisebach, Leipzig o. J., XV 202 ff. (nicht in den Ausgaben von Ellinger, Maaßen und Harich). 32 Das Pfänderspiel, Dresden 1820, 2. Aufl. 1825. 33 Jean Paul 1.13 S. X C I I I ; sonst lehnt Jean Paul Bouts-rimes-Romane ab: z.B. 1.16 422 Z. 23 ff. 25

Die literarischen,

gesellsAafllichen

und gelehrten

177

Spiele

W ö r t e r n aufzugeben. 3 3 ' I n einer Frankfurter Gesellschaft erhält Ignaz F r a n z Castelli von fünfzig Gästen je zwei Endreime vorgeschrieben und hat nach einer halben Stunde eine Apologie auf die Gesellschaft fertig. Castellis Memoiren lassen erkennen, welche bedeutende R o l l e diesem Spiel im gesellschaftlichen Leben der gebildeten Schichten seiner Zeit zukommt. 3 4 Heute sind eigentliche Bouts-rin^s nur noch bei den immer seltener werdenden Improvisatoren auf der Varietebühne zu finden, die vom Publikum zugeworfene Wörter spielend zu Gedichten verarbeiten. I m „ C a d a vre exquis" hat z w a r der Surrealismus eine A b a r t zu einem Pfeiler seiner K u n s t gemacht, doch m u ß nun hier das Spiel des Zufalls die alte Kunstfertigkeit ersetzen. Eine bestimmte A r t aufgegebener Verse lebt als unliterarische volkstümliche G a t tung bis in die jüngste Z e i t : der L e b e r r e i m ,

2 5

ein Gesellschaftspiel bei M a h l -

zeiten. J e d e r Tischgenosse hat, wenn ihm die Schüssel mit der Fischleber angeboten wird, schnell einen Zweizeiler zu dichten und muß dabei mit „ D i e Leber ist v o n einem Hecht und nicht von . . . " beginnen. „Ich begreife es nicht, wie die Lebern der Hechte zu der Ehre gekommen sind, daß sie bereimet werden müssen, ehe man sie verzehret", schreibt Gottsched. 3 6 Tatsächlich ist der Ursprung dunkel; vielleicht stecken magische Vorstellungen hinter diesen Reimen — man denke etwa an die heilsame Fischleber in der Geschichte des Tobias oder an die antike Auffassung der Leber als Quelle des Bluts. 3 7 D i e ältesten Leberreime finden sich in Johannes J u n i o r s „ R h y t h m i mensales" von 1601 ; 38 doch scheinen sie schon im sechzehnten J a h r h u n dert verbreitet gewesen zu sein; ihre große Zeit ist das siebzehnte. 3 9 Gegen E n d e des Jahrhunderts wird das Spiel heftig angegriffen — so in Frischs Schulspiel von 1 7 0 0 — und gilt als Muster eines schlechten Reims. 4 0 Doch erzählt man sich LeberreimAnekdoten von Geliert und Schiller; Hüffer berichtet von scherzhaften

Streite-

Franz Rittler, Die Zwillinge, Leipzig 1813, 2. Aufl. Wien 1815; 3. Aufl. Wien 1820; derselbe, Emma und Gustav von Falkenau, Wien 1820. 34 Castelli II 204; Bouts-rimes ebda. I 60, 104 und sonst. Nach Ernst Schulz-Besser, Deutsche Dichtungen ohne den Buchstaben R — In: ZfBfr N F 1 (1909/10) 385 ff., beteiligte sich Castelli audi an der Auswahl der aufgegebenen Wörter für Rittlers zweiten Roman (387). Für weitere Bouts-rimes-Spiele vgl. etwa Johann Diederich Gries, Endreime: Gedichte und poetische Ubersetzungen, Stuttgart 1829 (*2. Aufl. 1859), II 24; die „Schattenkönige" der Bonner Maikäfer (Gottfried Kinkel, Selbstbiographie 1838-48 ed. Richard Sander, Bonn 1931, 165 und sonst) oder die Wettbewerbe in der Münchner Gesellschaft der Zwanglosen (Joh. Andreas Sdimeller, Tagebücher 1801-52 ed. Paul Ruf, München 1954-57, bes. II 263 ff.). 35 allgemein: Herman Brandes, Zur Geschichte der Leberreime — In: Niederdeutsches Jahrbuch 14 (1888) 92 ff.; Frisch Sdiulspiel 56 ff.; Dunkel war's 64 ff. und Anm. 135; Heusler Versgeschichte 1010f. (Versmaß: Alexandriner); Reallexikon IV 57f. (H. Meyer). 38 Gottsched 791. 37 HwbddA V 978 f.; Leberreime oft an Hochzeitsfesten mit Anspielung auf Liebesleben und Fruchtbarkeit; in Mecklenburg beliebt bei Zotenreißern. 38 Johannes Junior, Rhythmi mensales, o. O. 1601 — Auswahl in: Niederdeutsches Jahrbuch 10 (1884) 59 ff. (Ad. Hofmeister). 39 bekannt sind Georg Grefflingers „Jungfer Euphrosinen von Sittenbach, Züchtige Tisch- und Leber-Reime, An ihre Gespielinnen": *Ethica complementoria . . . Amsterdam 1665, 179 ff.; vgl. Liederhort 1750. 40 Frisch Schulspiel 26 f.

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Die Gattungen

der

Unsinnspoesie

reien in Leberreimen zwischen Clemens und Annette Droste, wenn diese zu spät zu Tische kam und zur Strafe ein Gedicht fabrizieren mußte. 41 In Norddeutsdiland scheint der Leberreim noch heute zu leben.42 Fontane schildert in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg den Besuch in einem Gasthaus im Spreewald, beginnt das Spreewalds-Mahl des Hechts mit: Die Leber ist von einem Hecht und nicht von einer Schleie, Der Fisdi will trinken, gebt ihm was, daß er vor Durst nicht schreie.

und endet es: Die Leber ist von einem Hecht und nicht von einem Störe, Es lebe Lehrer Klingenstein, der Kantor der Kantöre. 43

Groos kennt Herzreime, 44 und Fontane berichtet in „Cicile" von Reimen auf die Schmerle.45 Als Improvisation können solche Reime nicht gerade vor Weisheit strahlen. Meist entstehen Toaste, gereimte Alltagsweisheiten und eine Menge freiwilligen und unfreiwilligen Unsinns. Selbst ein Zesen kann nur reimen: Die Leber ist vom Hecht, doch wäre sie vom Schwan So sollte Mohre sie viel lieber nehmen an. 46

So fällt es Frisch leicht zu parodieren: Die Schul ist zu Berlin und nicht in Friedrichswerder, Ich reim' zwar dißmahl grob, doch mach' ichs künfitig zarter. 47

Immerhin sagt Lichtenberg zu diesem Gesellschaftsspiel par excellence: „Ich glaube, daß sich Leberreime schreiben lassen, die, ohne den Regeln dieser erhabenen Dichtungs Art im geringsten zu nahe zu tretten, den weisen selbst so viel Vergnügen machen könten, als eine Stelle aus dem Homer." 4 8 f) Annominatio im Vers Ein verhältnismäßig häufiges, angeblich barockes Spiel wiederholt so oft wie möglich dasselbe Wort, meist einmal in jedem Vers, aber audi mehrmals. Die griechisch-lateinisdie Poetik zählt es unter die Annominatio (Parechesis, Paranomasia, auch Polyptoton und — bei Umspringen des wiederholten Worts in andere Bedeutung — Antanaklasis), zu der auch der grammatische Reim zu rechnen ist. Die 41

Hermann Hüffer, Annette von Droste-Hülshoff und ihre Werke, Gotha 1887, 99. nach Dunkel war's 66 um 1900 politisch-satirische Leberreime in der „Jugend". 43 Wanderungen durch die Mark Brandenburg IV Spreeland: In dem Spreewalde Nr. 3: Die Leber ist von einem Hechte; Wohlf. Ausgabe 9.-10. Aufl. Stuttgart-Berlin 1910, 9 f. 44 Groos 237. 45 Fontane 1.4 345 ff. 46 *Filip Zesens Dichterische Jugend-Flammen, Hamburg 1651, 180. 47 Frisch Schulspiel 27. 48 G. Chr. Lichtenberg, Vermischte Schriften, Neue Ausgabe Göttingen 1844-53, II 21; Aphorismen ed. Albert Leitzmann, Berlin 1902-08, Ε 257 (III 75 f.). 42

Die literarischen,

gesellschaßlichen

und gelehrten

Spiele

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Annominatio geht als Häufung desselben Worts in verschiedenen Flexionsformen und Ableitungen natürlich sehr oft ins Wortspiel über — etwa wenn Paul Fleming dichtet: „Wer eh' stirbt, als er stirbt, der stirbt nicht, wenn er stirbt" 1 — , so daß ein erweiterter Begriff der Annominatio audi dieses umfaßt; im folgenden wird aber der Akzent auf der Annominatio im engern Sinn liegen. Als rhetorische Figur ist sie in diskreter Anwendung wohl bei allen Dichtern zu belegen; 2 ein Spiel wird sie erst bei bewußter Häufung. Das ist bei Sidonius Apollinaris 3 oder bei Alanus 4 der Fall. Walther von Chätillon dichtet: Tanto viro locuturi studeamus esse puri, set et loqui sobrie, carum care venerari et ut simus caro cari, careamus carie. 5 In den mittellateinischen Poetiken, z . B . von Matthaeusvon Vendöme und Eberhard Alemannus, wird nachdrücklich auf die Gattung hingewiesen. 6 Ob von hier Wege zur altnordischen Dichtung führen, muß von berufenerer Seite entschieden werden; dort wird sie jedenfalls im Strophenverzeichnis der jüngern Edda als „eindringliche Weise" (klifat) gesondert aufgeführt; 7 man begegnet ihr auf Schritt und Tritt, wofür die folgende hübsche Geschichte aus Snorris Königsbuch zeugen möge: König Olaf schenkt seinem isländischen Skald ein Schwert; Hallfred aber möchte auch das Gehänge dazu haben. „Dann dichte ein Gesätze mit dem Wort Schwert in jedem der acht Verse", sagt der König, und Hallfred legt los: eine Hoftonstrophe im funkelnden Reimschmuck und mit drei kühnen sprachlichen Neubildungen: Ward durchs Schwert der Schwerter Schwertreich ohne gleichen. Schwerterschlags-Njörden8 Schwerter in Fülle werden. Meinem Schwertschlag schwer ist's, Schwertherr, auch zu wehren, Wird die Scheide beschert mir: Schwerter drei ich wert bin. Paul Fleming, Deutsche Gedichte ed. J. M. Lappenberg, Stuttgart 1865, I 56. Ernst Robert Curtius, Neue Dante-Studien I — In: Roman. Forschungen 60 (1947) 237 ff.; Curtius, Europäische Literatur . . . 282 ff. 3 Sidonius Apollinaris, carmen II V. 3 ff., ed. Luetjohann 174. 4 Thomas Wright, The Anglo-Latin Satirical Poets and Epigrammatists of the Twelfth Century, London 1872, II 278 f. 5 Walter von Chätillon, Moralisch-satirische Gedichte ed. Karl Strecker, Heidelberg 1929, 2 Nr. 1. • Matthaeus von Vendöme: Faral 171; weitere Beispiele ebda. 52, 93 ff. 7 Snorra Edda Strophenverzeichnis 48. 8 Kriegern (eigtl. Schwertgöttern). 1

2

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Die Gattungen

der

Unsinnspoesie

Aber dem König entgeht nicht, daß die eine Zeile kein Schwert enthält. „Dafür steht das Wort zweimal in einer andern", sagt der Isländer. 9 In der lateinischen Literatur pflanzt sich die Annominatio fort mit zahlreichen Schulscherzen wie Certe malum non est magnum malus male mala, at ego mala tarnen malo mala mala malo. tu fortasse malis malum malis malam malis. 10 und in Klosterweisheiten wie „Mors mortis morti mortem, mors, morte resolvit", einer Kasusfolge, die den Grundgedanken des Christentums enthalten soll: Der T o d des Todes (Christus) hat dem Tod zum T r o t z den Tod, ο Tod, durch seinen T o d besiegt. 11 Über das Alter soldier Sätze läßt sich meist nichts sagen. Einige sind schon in mittelalterlichen Handsdiriften aufgezeichnet und etwa dem Primas zugeschrieben. 1 2 Aus der lateinischen Dichtung dringt die Annominatio zuerst in die provenzalische ein, w o sie ziemlich häufig verwendet und als cobla refrancha, replicativa usw. in den Leys d'Amors zum Beispiel mit folgenden Mustern belegt wird: Verges, vergiers verdejans vergenals, Dona donans donam dos divinals. Rogiers rugish ravial ravios . . . 1 3 Restauramens, restauram, restaurans Los peccadors per peccatz pecz peccans. 14 Corta y est cortz de tota cortezia. Quar de cortes descortes fas tot dia . . . 1 5 Von da gelangt sie in die altitalienische Dichtung, w o sie bis zu Dante fortwirkt, 1 6 und in die altfranzösische, w o sie neben vereinzeltem Auftreten bei Chretien de Troyes besonders Gautier de Coinci pflegt. U m die Wende zum vierzehnten J a h r hundert bringt Baudoin de C o n d i in den zwölf Versen des „Dis de la pomme" acht9 die Geschichte zitiert nach Heusler Agerm Dichtung 101, das Gedicht nach der Ubersetzung Felix Niedners: Snorris Königsbuch, Jena 1922-23 (Sammlung Thüle 14-16), I 287; beides aus: Snorri Sturluson, Heimskringla . . . ed. Finnur J0nsson, Kopenhagen 1893-1900,1405 ff. Altgermanische Beispiele allgemein: Meyer Agerm Poesie 227 ff., 299 ff., 327ff; Neckel 15ff.; Friedrich Kluge, Zur Geschichte des Reims im Altgermanischen — In: PBB 9 (1884) 422 ff., Annominatio 426. 10

Weis Jocosa 51, Text verbessert nach einem Vorschlag von Harald Fuchs.

11

ebda. 28 f.

12

Werner 78 Nr. 163; vgl. auch Keil Stammbücher 22 Nr. 1051.

13

Leys d'Amors I I I 57; allgemein I I I 53 ff.

14

ebda.

Leys d'Amors I 250; vgl. auch ebda. I 288, 292; Frank I I 62 ff. 1 6 Häufig ist sie schon bei Jacopone da Todi (besonders mit „amore"); vgl. etwa Laudi, Trattato e Detti ed. Franco Ageno, Firenze Feiice Le Monnier 1953, Laude Nr. 90 V. 243 ff. und sonst; allgemein: Curtius, Neue Dante-Studien I aaO 275 ff. 15

Die literarischen,

gesellschaftlichen

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Spiele

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zehnmal „mor" unter. 17 Von ihm hat dann wohl Rutebeuf die Annominatio übernommen. Im „Dit des Cordeliers" heißt es etwa: E n la corde s'encordent cordee a trois cordons; A l'acorde s'acordent dont nos descorde sons; L a descordance acordent des m a x que recordons; En lor lit se detordent, por ce que nos tortons. 1 8

Audi die deutschen Minnesinger bemächtigen sich der Form. In Gottfrieds von Straßburg Folgen von „leben — tot — bröt" am Schluß des Prologs, wo die Figur auf die Wichtigkeit dieses Abschlusses aufmerksam machen soll, sprengt die Annominatio dank ihrer allegorisch-symbolischen Verwendung das bloße Wortund Versspiel. 19 Rein spielerisch dagegen dichtet angeblich Heinrich von Rugge — wohl nach dem Vorbild Heinrichs von Veldeke, der ebenfalls minne zusammen mit min usw. häuft 20 : Minne minnet staeten man. ob er üf minne minnen wil, so sol im minnen Ion geschehen, ich minne minne als ichs began, die minne ich gerne minne vil. der minne minne ich han verjehen. die minne erzeige ich mit der minne, daz ich üf minne minne minne. die minne meine ich an ein wip. ich minne, wan ich minnen sol dur minne ir minneclichen Up. 2 1

Später spielen Reinmar von Zweter, 2 2 Ulrich von Singenberg, 23 Heinrich von Tettingen, 24 Konrad der Schenk von Landegg, 25 Johannes von Rinkenberg 26 und der Litschauer 27 mit dieser Form. Eine systematische Annominatio innerhalb des Verses bietet Hug von Werbenwag: 1 7 Dits et Contes de Baudouin de Conde et de son fils J e a n de Conde ed. Auguste Scheler, Paris D e v a u x 1866/67, I 181. 1 8 Oeuvres completes ed. E d m o n d F a r a l et J u l i a Bastin, Paris P i c a r d 1 9 5 9 - 6 0 , I 231 ff. V . 17 ff.; vgl. auch Rutebeuf, Le Miracle de Theophile ed. G r a c e Frank, 2. A u f l . Paris Champion 1949, V . 4 0 4 f. 1 9 Tristan 228 ff.; vgl. dazu Helmut de Boor, D i e Grundauffassung von Gottfrieds T r i stan — I n : D V j s 18 (1940) 262 ff., Annominatio 272. 2 0 M F 61, 3 3 ; 64, 34. 2 1 M F 100, 3 4 ; in den neuesten Auflagen Heinrich von Rugge abgesprochen. 2 2 Die Gedichte Reinmars von Zweter ed. Gustav Roethe, Leipzig 1887, 524 N r . 2 3 0 : in zwölf Versen 21mal wunder und Ableitungen davon (nach R o e t h e Verfasserschaft zweifelhaft). 2 3 Schweizer Minnesänger 16 f. N r . 5 V . 22 ff.: in sechs Versen vierzehnmal minne und Ableitungen davon. 2 4 ebda. 163 N r . 1 V . 1 ff. in sedis Versen vierzehnmal liep usw. 2 5 ebda. 207 ff. N r . 1 V . 65 ff. in sechzehn Versen 28mal liebe usw. 2 8 ebda. 371 ff. N r . 29 V . 170 ff., 188 ff., 196 ff. 2 7 M S H I I I 46 f . ; ferner e t w a : R u m s l a n d : Wackernagel Kirchenlied I I 285, 2 8 8 ; Liederdichter 282 (Namenlos n).

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der

Unsinnspoesie

Der sumer sumerbernde kumt mit wunne wunnecliche, des loubes loubet manic wait, die bluomen blüment velt, diu zit enzit an fröiden frumt mit blüender blüete riche, die süezen doene doenent vogel, ir singent sanges gelt. Mit schoener grüene grüenet tal, ύζ roete rot da glestet, in bruner brüne purpervar der meie sich nu gestet, hie gelwer gel, dert bliwer bli, da wize wizer liljen schin: got verwet var hie vil der werlt, die werlt baz anderswi. 28 Von der Rhetorique 2 9 und vom Meistersang 3 0 ließen sich zahlreiche Beispiele zitieren. Im fünfzehnten Jahrhundert tritt zum erstenmal der Sprudi vom Manchermann auf, mit dem das Spiel in die volkstümliche Sphäre übergeht: Manchman meint, er sig oudi ein man. Wen aber manchman kumet, do manchman ist, Manchman weisset nüt, wer manchman ist, Wist manchman, wer manchman were, Manchman det manchman ere. Manchman wennet manchman sin Und trittet her mit großem schin. Und manchman kumet, do manchman ist, So endowet mandiman mitt einem fist.31 I m sechzehnten Jahrhundert fällt der häufige Gebrauch der Annominatio bei Fischart auf. 3 2 Ob dem Barock die deutschen Vorläufer bekannt waren, wissen wir nicht; überraschend kommen jedodi K o n r a d der Schenk von Landegg und Tsdierning zu ähnlichen Formulierungen: Swä liep 11t bi liebe, lieplich siu sich liebent. liep kan sich lieber machen gein liebe in lieben Sachen: diu liebe birt daz liep mit liebe lieber wirt. diu lieb ir herze ir liep mit liebe git: si hat ir liebes dur liebe alle zit. wan sol nach liebe ersterben aid liep mit liebe erwerben: Liederdichter 184 Nr. 5; vgl. Kommentar ebda. II 243 f. » z . B . Molinet 228 V. 105ff.; 266 V. 29ff.; 339; 396; 407; 518; 729ff.; 732ff.; 824 V. 1 ff. 3 0 Frauenlob ed. Ludwig Ettmüller, Quedlinburg-Leipzig 1843, Sprüche 42; Meisterlieder Nr. 2, 9, 21, 49, 122 usw. 3 1 Adolf Spamer, Wenn mancher Mann wüßte, wer mancher Mann w a r . . . ? — In: ZfVk 46 (1938) 134ff., Zitat 137 nach St. Galler Handschrift; in Zürcher Handschrift sinnvollerer Schluß: „Do endauw manchman nitt ein fist"; weitere Fassungen ebda. 138 ff. 3 2 Galle 55 ff. 28

2

Die literarischen,

gesellschaftlichen

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Spiele

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diu liebe ist guot, liep liebet liebe lieben muot. 33 Liebet / die jhr sollet lieben / Liebe wer nur lieben kan, Wer zum lieben wird getrieben / Nehme sich des lieben an. Wird das lieben nicht getrieben / Wer wil leben ohne lieben? 34 Hofmannswaldau geht nodi weiter und systematisiert die Reihe zur Konjugation: Ich liebe, du liebest, er liebet das lieben, Was liebet, wird alles vom lieben getrieben, Wir lieben, ihr liebet, sie lieben zusammen, Drum kommet ihr Nympfen, und kühlet die

flammen.35

Paul Fleming benützt die oben zitierte Mors-Folge in seinem Vers „Dein T o d hat meinen Tod, du Todes Todt, getödtet" 3 6 und webt fast in jede Zeile seiner „Gedanken über die Zeit" das Stichwort ein. Das Gedicht endet: Die Zeit ist, was ihr seid, und ihr seid, was die Zeit, nur daß ihr wenger noch, als was die Zeit ist, seid. Ach daß doch jene Zeit, die ohne Zeit ist, käme und uns aus dieser Zeit in ihre Zeiten nähme, und aus uns selbsten uns, daß wir gleich könten sein wie der itzt jener Zeit, die keine Zeit geht ein! 37 Offenbar ist das Spiel unter französischem Einfluß neu belebt worden, denn ein Sonett Joachim D u Beilays, dessen Reime zwischen „vie" und „ m o r t " wechseln: Dieu, qui changeant avec' obscure mort T a bienheureuse et immortelle vie, Fusaux pedieurs prodigue de ta vie, Pour les tirer de l'eternelle mort . . , 38 steckt hinter Weckherlins „Die Lieb ist Leben und T o d " ,

das jeden Vers auf

Leben oder T o d reimt und überdies meist das nichtreimende W o r t im Versinnern enthält. 3 9

Aber nicht nur in Frankreich, 4 0

audi in Italien 4 1 und Spanien

— hier am sichtbarsten in Gongoras Romanze „ P o r una negra senora" mit ihrer Schweizer Minnesänger 207 ff. Nr. 1 V. 65 ff., 75 ff. Deutscher Getichte Früling, Ausgabe Rostock Richel 1646, 24. 3 5 Neukirchs Sammlung I V 129; vgl. Ibel 432ff., 442; Wilhelm Schuster, Metrische Untersuchungen zu Chr. Hofmann von Hofmannswaldau, Diss. Kiel 1913, 72 ff. 3 6 Paul Fleming, Deutsche Gedichte ed. J . M. Lappenberg, Stuttgart 1865, 444. 37 ebda. 30. 3 8 Joachim Du Beilay, Oeuvres poetiques ed. Henri Chamard, Paris Comely 1908, I 119 f. 39 Weckherlin I I 342 Nr. 317. 4 0 vgl. auch Canel II 243 ff.; Hermann Fehse, Estienne Jodelle's Lyrik, Diss. Leipzig 1880, 29. 4 1 vgl. Welti 70, 77; im 16. Jahrhundert bes. bei Luigi Groto. 33 34

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Die Gattungen

der

Unsinnspoesie

zweiunddreißigfachen Wiederholung von negro in zweiunddreißig Versen 42 und bei Quevedo 43 — hat die Annominatio im Vers eine Wiederbelebung erfahren, so daß Einflüsse von da wahrscheinlicher sind als solche aus dem deutschen Mittelalter. In der Barockdichtung ist die Annominatio in Einzelformen wie „flammbeflammtes Herz" und als Versspiel so häufig, daß man die verbreitete Meinung versteht, es handle sich um ein typisch barockes Spiel. Berühmt ist der sich in jeder Beziehung an den Grenzen der Sprache bewegende Sonettzyklus „Krieg und Sieg Christi" von Diederich von dem Werder mit seinen dem Titel nach hundert, in Wirklichkeit sogar hundertzwei Sonetten, in denen jeder Vers die Worte Krieg und Sieg enthält. 44 Trotz der Ungunst der Zeit mußte das Buch nach zwei Jahren neu aufgelegt werden. Von den Nürnbergern dichtet Harsdörffer ein Sonett „An den Spielliebenden Leser", 45 in dem er in jedem Vers das Wort Spiel anwendet, Birken ahmt Diederich von dem Werder mit einer Krieg-Sieg-Folge nach. 46 Zu den Anhängern dieser Mode gehören neben Tscherning und Hofmannswaldau audi Zesen,4T Catharina von Greiffenberg, 48 Andreas Scultetus 49 und ein Heer kleiner und kleinster Geister, dichtender Schulmeister und Professoren. 50 Quirinus Kuhlmann imitiert Diederich von dem Werders Sonett auf den Gekrönten (Opitz) 5 1 und versucht, es noch zu überbieten; er wendet die Annominatio mit „Krone" einmal auf Kaiser Leopold, 52 das andere Mal auf ein religiöses Thema an; Spiel und Religion überschneiden sich und heben sich bei ihm oft gegenseitig auf. Die „Ewige Lebens-Krone" ist kein ekstatisches Pfingstgelalle, sondern raffiniertes Spiel: Den dort die Krone sol der Lebens-krone krönen / Mit derer K r ö n umkrönt di Gottgekrönte Schaar / Di hir di K r ö n umkrönt / so K r ö n - und Thron-reich w a r / Der muß di Kronen-kron / di Beten krönt / entlehnen / Pfandl 235. Leo Spitzer, Zur Kunst Quevedos in seinem „Busc0n" — In: Archivum Romanicum 11 (1927) 5 1 1 ff., Annominatio 572. 4 4 *Krieg und Sieg Christi / Gesungen / In 100 Sonnetten/Da in jedem und jeglichem Verse die bey- / den W ö r t e r K R I E G und SIEG auffs / wenigste einmahl, befindlich seyn. / Wittenberg 1 6 3 1 ; 2. A u f l . Hall in Sachsen 1633; vgl. Georg Witkowski, Diederich v o n dem Werder, Leipzig 1887, bes. 1 1 7 ff.; einzelne Sonette abgedruckt ebda. 119 und in DL Barocklyrik ed. H. Cysarz, Leipzig 1937, I 178 f. 4 5 Harsdörffer Gespsp V I I I v o r Vorrede (unpag.); vgl. auch die Spiele mit dem W o r t „Spiel" in den Ehren- und Lobgediditen f ü r Harsdörffer, z . B . Gespsp III 468 (Schottel); I V am A n f a n g Nr. 7 (Rist) und 433 ff.; V am A n f a n g Nr. 11 (Zesen); V I am A n f a n g N r . 2 (Martin Milagius); V I I am A n f a n g Nr. 2. 4 6 Guelfis oder NiderSädisischer Lorbeerhayn, Nürnberg Joh. Hoffmann 1669, 1 0 f. (Über den Teutschen Krieg); vgl. auch Pegnesis I 203. 4 7 Rudolf Ibel, Die Lyrik Philipp von Zesens, Diss. Kiel 1922, 38. 48 *£) er Teutschen Uranie . . . K u n s t - K l a n g . . . Nürnberg 1662, Sonett 49 nach Welti 1 2 1 . 4 ' K a r l Schindler, Der schlesische Barockdichter Andreas Scultetus, Breslau 1930, 1 1 2 ff. 5 0 Welti 76 ff.; Witkowski aaO 1 2 1 ; Manheimer 116. 5 1 Ober des gekrönten Krone der Seligkeit: Witkowski aaO 44 N r . 18; abgedruckt in Schottels Hauptsprache 1 1 7 4 ff. 5 2 Quirinus Kuhlmann, Lehrreicher Geschichtherold, Jena Joh. Meuer 1673, 499 (An die Gekrönten Österreichs), 29 (Das Lobwürdige Almosen). 42

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Die literarischen,

gesellschaftlichen

und gelehrten

Spiele

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Der muß di Kronen-kron der Kronen-weit verhöhnen: Wann dise Krön ihn krönt / krönt ihn zur Krön di Baar / Di Krön entkrönt sein Haupt / und krönt mit Kron-gefahr / Di Kron-treu krönt / bekrönt; kan Thron und Krön beschönen. Du krönst / ο Kronen-printz / mit deiner Kronen-kron Di Krön und Sonn entkrönt. Gekrönte Treu krönt Prangen / Der Kronen-preiß krönt si mit Thron- und Kronen-Lohn. Hir dise Kron-sucht krönt. Dis Lebens Kron-verlangen Bekrönt entkrönte selbst: ja krönt mit Krön und Thron: Hir krön einst Thron und Krön / den Krön und Thron gefangen. 53 Interessanterweise schimmert auch in Gryphius' „Uber die geburt J e s u " 5 4 in der Wiederholung von „Nacht" der spielerische Ursprung der Annominatio durch. Mit dem Ende der Barockzeit verschwindet diese aus der deutschen Dichtung; an ihre Stelle tritt die Wortwiederholung als stilistisches Kunstmittel, 5 5 die uns hier nicht weiter beschäftigt. N u r im Altwiener Volkstheater bleibt die Tradition so lebendig und vermischt sich mit volkstümlichen Elementen, daß auch die Annominatio als Spielform erhalten bleibt. Bei Nestroy etwa wird zu einem Diener namens Grund gesagt: Er erinnert midi zu stark an den Tod meiner Frau. Sie ist zu Grund gegangen, jetzt ruht sie in tiefem Grund, ihr Tod ist der Grund meines Unglücks, ein Unglück war der Grund ihres Todes, das Schiff meiner Freuden ist in den Grund gebohrt, ist das nicht Grund genug, dem Namen Grund von Grund aus feind zu sein? Grund (für sich): Er ist ein Narr im Grund. 56 Was sonst noch an Annominationen zu nennen wäre, etwa Julius Langenbehns, des Rembrandtdeutschen, Gedicht „Der Spielmann", das beginnt: Ein Spielmann bin ich, Spielmannskind Und Spielmannsvater auch; Und Spielmannsbruder nennt man mich nach altem Spielmannsbrauch. Ein Spielmann will ich sein und euch den Spielmannsdienst versehn; Aus Spielmannsliedern lernt ihr leicht den Spielmannsmuth verstehn . . , 67 gehört schon in das Gebiet des unfreiwilligen Humors. Höchstens bei Rilke vereinigen sich wieder beide Wiederholungsarten, Annominatio und Wortwiederholung als stilistisches Mittel. In seinem „Herbst" verschwinden die Grenzen von W o r t magie, Wortspiel und formvirtuosem Kunststück: 5 3 Quirinus Kuhlmann, Himmlische Libes-Küsse, Jena Samuel Adolph Müller 1671, 51 f. (40. Liebeskuss); Motto: Joh. Apokal. 2 V. 10. 5 4 Andreas Gryphius, Lyrische Gedichte ed. Hermann Palm, Tübingen 1884, 99 Nr. 3. 5 5 vgl. Luise Thon, Wortwiederholung als Kunstmittel — In: GRM 19 (1931) 249 ff. 5 6 Nestroy I 115f. Z. 29if.; vgl. auch etwa I 493 Z. 25ff.; II 2 4 4 f . ; I I I 105 Z. 16ff. und sonst; Joseph Kurz, Prinzessin Pumphia 11.10 V. 813 ff., Neudruck Wien 1883, 47. 57 40 Lieder von einem Deutschen, Dresden 1891 [Bl. 44].

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Die Gattungen

der

Unsinnspoesie

Die Blätter fallen, fallen wie von weit, als welkten in den Himmeln ferne Gärten; sie fallen mit verneinender Gebärde. U n d in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit. Wir alle fallen. Diese H a n d da fällt. U n d sieh die andre an: es ist in allen. U n d doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält. 58

Zu ähnlichen Wirkungen wie die Annominatio im Vers führt der reiche Gebrauch der A n a p h e r am Versanfang, obwohl dieser stärker rhetorischen Motiven entspringt.59 Audi bei der Anapher wäre nach vereinzelten spätantiken Ansätzen60 mit der mittellateinischen Dichtung zu beginnen, die besonders sakrale Namen und Begriffe wie Christus, Lux usw. in dieser Stellung verwendet,61 während in der altnordischen Dichtung die Neigung zur Anapher eher zu den Urformen der Zeilenverknüpfung gehört.62 Nach der provenzalischen cobla capdenal63 oder direkt nach lateinischem Vorbild tritt die Anapher später im deutschen Minneund Meistersang auf; erwähnt seien nur Seifried Helbling, Freidank, Hugo von Trimberg, Reinmar von Zweter und Marner.64 Der „Vergier d'honneur" des ΙΙΙιέtoriqueursAnd^deLa Vigne mit seinen dreihundertachtzig Versen, die alle mit „chacun" beginnen,65 Christine de Pisan66 und Villon 67 lassen auch eine gewisse Beliebtheit in Frankreich erkennen. Im Barock aller europäischen Länder geht der Gebrauch weit über die rhetorische Funktion hinaus und wird zum Spiel, in Deutschland schon bei Opitz und seiner Schule,68 dann bei den Nürnbergern,69 bei Scultetus,70 58

Rilke, Sämtliche Werke ed. Rilke-Archiv, Insel 1955 ff., I 400; f ü r die Gegenwart vgl. oben S. 166 Anm. 34. 59 vgl. Reallexikon I 43 f. (P. Beyer). Carl Weyman, Beiträge zur Geschichte der christlich-lateinischen Poesie, München 1926, 146 Anm. 2. 61 Dracontius, De laudibus Dei I 199 ff.; Theodulf: Poetae I 576 V. 89 ff.; Ekkehart I V usw.: vgl. Curtius, Neue Dante-Studien I aaO 280; Matthaeus von Vendome: Faral 168; ferner etwa Werner 28 f. N r . 67. Allgemein: Eduard Norden, Die antike Kunstprosa vom VI. Jahrhundert bis in die Zeit der Renaissance, Leipzig 1898 u. ö. 62 Neckel 3 ff., 15 ff.; Meyer Agerm Poesie 227 ff., 315 f f . 83 Leys d'Amors I 282. 64 Euling Priamel 440 ff., 469 ff., 478 ff.; Meisterlieder passim. 65 Guy 143; ebda.: Jean Bouchet, Le Labyrinthe de Fortune, Paris-Poitiers Marnef 1567, mit 52mal peril. 66 Christine de Pisan, Oeuvres poetiques ed. Maurice Roy, Paris SATF 1886-96, I 12. 67 Villon, Je coignois bien moudies en let; vgl. auch Lote I I 92. 88 Manheimer 8 ff. 89 vgl. etwa Pegnesis I 51 ff. (Klaj); Harsdörffer Trichter I 74; Gespsp I C3, 2. Aufl. 27 ff.; Teutscher S e c r e t a r i u s . . . Nürnberg Wolfgang Endter Ausgabe 1656, 131 f., 401. 70 Schindler aaO 85.

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und gelehrten

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vor allem aber bei Kuhlmann 71 und Hofmannswaldau. Von diesem sei wenigstens ein Beispiel zitiert: Au ff den Mund Mund! Mund! Mund! Mund! Mund! Mund! Mund! Mund! Mund! Mund! E.

der die Seelen kan durch lust zusammen hetzen, der viel süßer ist als stardker himmels-wein, der du alikant des Lebens schenckest ein, den idi vorziehn muß der Juden reichen schätzen, dessen baisam uns kan stärcken und verletzen, der vergnügter blüht, als aller rosen schein, welchem kein rubin kan gleich und ähnlich seyn, den die Gratien mit ihren quellen netzen; Ach corallen-mund, mein eintziges ergetzen! laß mich einen kuß auff deinen purpur setzen.72

EINZELNE GRÖSSERE SPIELE

Sdion das letzte der eben besprochenen Spiele ist nidit mehr auf den Vers beschränkt, sondern greift ebensosehr in die Prosa über. D a aber von den Dichtern, besonders im Barode, immer wieder betont wird, das gleiche Wort komme in jedem Vers vor, durften wir es nodi zu den Versfigurenspielen rechnen. Die nun folgenden Arten jedoch spielen mit einem größern Sinnzusammenhang. Selbst das Figurengedicht, das auf den ersten Blick als Ausnahme erscheint, läßt nicht so sehr die Länge der Verse von dem zu formenden Bild bestimmen, sondern trägt meist von außen eine Figur an das fertige Gedicht heran. Zuerst seien kurz einzelne Erscheinungen gestreift, die sich nicht zu eigentlichen Gattungen ausgewachsen haben, aber dennoch bei den Formvirtuosen eine bedeutende Rolle spielen. Schon das W o r t s p i e l würde eine eigene Monographie erfordern, die bis heute noch nicht geschrieben ist. 1 Annominatio, Schüttelreim, rührender und grammatischer Reim gehören als gattungshafte Abarten in seine Sphäre, das Palindrom kann als Epanodos in es hinüber greifen („Mein Hund war für die Katze, meine Katze war auf den Hund gekommen") wie überhaupt alle Gattungen, sobald das bloße Formspiel auch zu einem Spiel mit der Bedeutung, die Formakrobatik auch zur Sinnakrobatik wird. Wenn statt der Silben und Reime die Bedeutungen tanzen, entsteht ein sprachliches Kunstwerk eigener Prägung (falls es nicht im Kalauer erstickt), so etwa im Barock 2 oder — fast bis zur Zerstörung der Sprache — 71 vgl. etwa 6., 10., 23., 38. Liebeskuß und die „Triumf"-Gedichte des Kühlspalters, ζ. Β. 15. Kühlpsalm. 7 2 Neukirchs Sammlung I 39, vgl. Ibel 455 f.; Josef Ettlinger, Hofmannswaldau, Diss. Heidelberg 1891, 85 f. 1 allgemein: Reallexikon III 505 ff. (P.Beyer); Julius Schultz, Psychologie des Wortspiels — In: ZfÄsth. u. allg. Kunstwiss. 21 (1927) 16 ff.; Eduard Eckhardt, Ober Wortspiele — In: GRM 1 (1909) 674 ff.; Franz Heinrich Mautner, Das Wortspiel und seine Bedeutung — In: DVjs 9 (1931) 679ff.; Eduard Wölfflin, Das Wortspiel im Lateinischen — In: SB d. Bayer. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Kl. 1887, II 187ff. 2 vgl. etwa Harsdörffer Trichter III 39 ff.; Gespsp III 142 ff. Ein eigentlicher Meister des Wortspiels im 18. Jahrhundert ist der Marquis de Bievre, der in „Vercingentorixe" (Paris 1770, Neudruck Paris J. J. Pauvert 1961) eine Tragödie durch Kalauer ad absurdum führt.

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Die Gattungen der

Unsinnspoesie

in Brentanos „Ponce de Leon". In jedem Wortspiel — mit allen Abstufungen der Qualität — schwingt die Freude des Virtuosen mit, etwas Unsinniges zu einem Sinn einzurenken. Die gleiche Freude steckt auch hinter einer Reihe anderer Figuren, etwa hinter dem Paradoxon und dem Oxymoron. W i r haben am Anfang unserer Arbeit anhand des P a r a d o x o n s darauf hingewiesen, daß die äußere unsinnige Form noch nicht über Wesen und Wert einer Aussage zu urteilen gestattet, indem die gleichen Figuren für reinen Unsinn und höchsten Tiefsinn benützt werden können. Nun behaupten wir, daß jedes Paradoxon, auch das tiefsinnigste, das Unsagbares erreichen soll, immer auch ein Spiel, und zwar ein Spiel mit dem Gedanken durch die Formulierung bedeutet. Etwas Unsagbares kann überspitzt formuliert werden, in die Weisheit kann sich der geistreiche Witz einschleichen, so oft bei Angelus Silesius. Noch deutlicher wirkt die Spielfreude beim O x y m o r o n mit, an dem immer der Genuß der überraschenden Gegenüberstellung gegensätzlicher Begriffe, das witzige Operieren mit dem Sprachgut beteiligt ist. Schon die Poetik der jüngern Edda stellt in der Strophe refhvörf (Fuchsschliche) paarweise Wörter zusammen, die so bedeutungsungleich wie nur möglich sind, etwa „Seeglut" für Gold. 3 Audi die mittel-, die neulateinische 4 und die mittelhochdeutsche 5 Dichtung kennen diesen Kunstgriff. Das muß uns davor bewahren, diese Form im siebzehnten Jahrhundert allzusehr als Ausdruck des antithetischen barocken Lebensgefühls zu betrachten. 6 Von Clement Marots Rondeau „par contradictions": En esperant, espoir me desespere, T a n t que la mort m'est vie tresprospere, Me tourmentant de ce qui me contente, Me contentant de ce qui me tourmente, Pour la douleur du soulas que j'espere, Amour hayneuse en aigreur me tempere; Puis temperance, aspre comme vipere, Me refroidist soubz chaleur vehemente, En esperant. L'enfant aussi qui surmonte le pere Bende ses yeulx pour veoir mon impropere; De moy s'enfuyt et jamais ne s'absente; Mais sans bouger va en obscure sente Cacher mon dueil affin que mieulx appere, En esperant. 7 Snorra E d d a Strophenverzeidinis 17 ff. etwa bei Jakob Balde: Anton Henrich, Die lyrischen Dichtungen Jakob Baldes, Strassburg 1915, 192. 5 z . B . Gottfried von Strassburg Tristan V. 6 0 f f . ; vgl. Emil Dickhoff, Das zweigliedrige Wortasyndeton in der älteren deutschen Sprache, Berlin 1906, 119. 6 so Hübscher Barock 791. F ü r barocke „Zwiderworte" vgl. Borinski 2 2 8 ; Josef E t t linger, Hofmannswaldau, Diss. Heidelberg 1891, 55, 76 f.; M a x Jellinek, Hofmannswaldaus Heldenbriefe — In: VjsfLitgs 4 (1891) 11 ff., bes. 3 6 ; für Fischart: Eberhard Goldemann, Der Barockstil bei Fischart, Diss. Tübingen 1934, 19 ff. 3

4

7 Marot V 141 f. (29. Rondeau); vgl. audi Molinet 800 V. 52ff.; Dupire 297 f.; vers par contradiction (predicatz contraires) auch bei Fabri I I 124.

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gesellschaftlichen

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f ü h r t kein w e i t e r W e g z u b a r o c k e n V e r s e n w i e E i n Feuer / sonder Feuer / ein lebendiger T o d t / Ein Zorn / doch ohne Gall / ein angenehme N o h t / Ein Klagen außer Angst / ein uberwundncr Sieg / E i n unbehertzter M u h t / ein Frewden-voller Krieg.; Ein Feder-leichtes Joch / ein nimmerkranckes Leid / Ein zweiffel-haffter T r o s t / und süße Bitterkeit / Ein unvergifftes Gifft / und kluge N a r r e t h e y / J a kürtzlidi: Liebe ist nur bloße Phantasey. 8 aber audi zu Caroline v o n

Günderrodes:

Ο reiche Armuth! Gebend, seliges E m p f a n g e n ! In Zagheit M u t h ! in Freiheit doch gefangen. In Stummheit Spradie, Schüchtern bei T a g e , Siegend mit zaghaftem Bangen. Lebendiger T o d , im Einen sel'ges Leben Schwelgend in N o t h , im Widerstand ergeben, Genießend schmachten, N i e satt betrachten Leben im T r a u m und doppelt Leben. 9 E b e n s o w e n i g d a r f uns d i e geniale V e r w e n d u n g der W o r t h ä u f u n g ,

des m e h r -

gliedrigen A s y n d e t o n s , bei G r y p h i u s — e t w a in den Schreien d e r H ö l l e n v i s i o n 1 0



d a r ü b e r h i n w e g t ä u s c h e n , d a ß doch in den m e i s t e n F ä l l e n m i t W ö r t e r n — m i t den W ö r t e r n selbst u n d nicht m i t i h r e r B e d e u t u n g — gespielt w i r d , z u m T e i l in l a u t malerischer Absicht, z u m T e i l a b e r in eigentlichem Spiel m i t d e r H ä u f u n g . 1 1

Am

deutlichsten spüren w i r dies bei F i s c h a r t , doch lassen sich A n z e i c h e n schon in d e r mittellateinischen L i t e r a t u r , e t w a bei D r a c o n t i u s 1 2 u n d in d e r F i g u r der F r e q u e n t a t i o , 1 3 bei H u g o v o n T r i m b e r g , 1 4 in den A u f z ä h l u n g e n B o p p e s 1 5 u n d R o s e n p l ü t s , 1 6 in d e r D i c h t u n g des sechzehnten J a h r h u n d e r t s , den N a s e n - , L ö f f e l - u s w . - L i e d e r n 1 '

8 von Ernst Christoph Homburg, zitiert nach Moscherosch Philander I 1 5 9 ; vgl. etwa audi Pegnesis I 366 (Feuer im Schneeballen). Harsdörffer zitiert ein solches Gedicht irrtümlich als Beispiel für den C o q - ä - l ' ä n e (oder wie er es nennt: Reim dich Bundschuh): Trichter I I 61 ff.; Gespsp V I I I 2 0 / f . (vgl. unten S. 261). 9 Karoline von Günderode, Gesammelte Dichtungen ed. Elisabeth Salomon, München 1923, 7 7 ; vgl. Hübscher Barock 531. 1 0 Gryphius, Lyrische Gedichte ed. Hermann P a l m , Tübingen 1884, 156 f. N r . 48 (Die Hölle). 1 1 als „typisch" barock bei Hans Pliester, Die W o r t h ä u f u n g im Barock, Diss. Bonn 1930, vgl. Curtius 2 9 0 . 1 2 Dracontius, D e laudibus Dei I 6 ff., 13 ff., vgl. Curtius 289. 1 3 Faral 67. 1 4 D e r Renner ed. Gustav Ehrismann, Tübingen 1 9 0 8 - 1 1 , V . 6 7 5 9 ff., ähnlich V. 285 ff. u. ö. 1 5 M S H I I 377 ff. 1 6 Euling Priamel 4 9 2 ff. F ü r die Rhetoriqueurs etwa Molinet 129 V . 4 9 ff.; 142 V . 6 5 f f . ; 191 V . 321 ff. usw.; G u y 147. 1 7 vgl. oben Anm. 79 zu S. 86.

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Die Gattungen der

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erkennen. Der Wortrausch Fischarts bedeutet den Höhepunkt, ein audi von seinen Nachfolgern, Johann Beer, Matthias Abele, 18 Abraham a Santa Clara und — Arno Holz, 1 9 nicht mehr erreichtes Auftürmen von Worten ohne Sinn und Begrenzung. Andere Spielfiguren wie die Bilder- und Metaphernhäufung, die Scherzkatachrese, die im Wippchen immerhin so etwas wie eine Gattung bildet, 20 seien übergangen. a) Das Figurengedicht „Es ist ein Zeichen überreizter Zivilisation, in Kunst und Natur den Dingen gerade in dem Reize abgewinnen zu wollen, was nicht in ihrem Wesen liegt — Reize der äußerlichen Form etwa auf Kosten des Inhalts", beginnt Max Zobel von Zabeltitz einen Aufsatz über das Figurengedicht 1 und verurteilt so die antike bukolische Poesie, einen großen Teil der Dichtung des Mittelalters und des Barock. Liebe zum Ornament und zur kunstvollen äußern Form ist keine Zerfallserscheinung, selbst das einfache Volk ergötzt sidi am Spiel mit der Schrift. Überdies vergewaltigen — wenn wir von den versus cancellati absehen — die wenigsten Figurengedichte wirklich den Inhalt; denn sie verdanken ihre Formen nur selten der Kunst des Dichters, sondern meist derjenigen des Kalligraphen und später des Setzers. Der Altphilologe nennt gewöhnlich nicht nur die eigentlichen Figurengedichte carmina figurata, sondern audi alle versus cancellati. Wir haben vorgezogen, diese beim Akro-, Meso- und Telestidi zu erwähnen, da die meisten einfädle Linien, höchstens noch das Monogramm Christi oder einzelne Wörter wie „Jesus" malen. Nur die wenigen, die eine Figur in den Text hineinweben, werden hier zur Sprache kommen. 2 Wenn wir von den in einem spätem Kapitel berührten möglichen magischen Hintergründen absehen, dürfen wir den Ursprung der Gattung wohl in jenen meist nach unten spitz zulaufenden Figuren suchen, die zu allen Zeiten gern als Abschluß eines Kapitels oder eines Buches verwendet werden. Es muß die Dichter gereizt haben, einmal einem ganzen Gedicht als kunstvollen Schmuck eine dem Inhalt entsprechende äußere Form zu geben. Die ersten uns bekannten FigurenH a l m 79 ff. H o l z Phantasus passim. 20 zum Wippchen vgl. Wippchens sämtliche Berichte ed. Julius Stettenheim, Berlin 1 8 7 8 - 1 9 0 5 u. ö. — in Auswahl: Julius Stettenheim, Wippchens scharmante Scharmützel ed. Siegfried Lenz und Egon Schramm, Hamburg 1960; Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 3. verm. Aufl. Leipzig 1923, II 497 ff. 18 19

1 M a x Zobel von Zabeltitz, Figurengedichte — I n : Z f B f r N F 18 (1926) 21 ff., Zitat 21. Ferner allgemein: M a x Zobel von Zabeltitz, Über Figurengedichte — In: Gutenberg-Festschrift ed. A. Ruppel, Mainz 1925, 182 ff.; Frisch Schulspiel 61 ff.; Gerber II 368 ff.; Lalanne 16 ff.; Canel II 81 ff.; Hellmut Rosenfeld, Das deutsche Bildgedicht [ d . h . Bilderklärungsgedicht], Leipzig 1935, 87 ff.; Michel Seuphor, Histoire sommaire du tableaupoeme — In: X X e siecle, nouvelle serie no. 3, juin 1952, 21 ff. 2 Das Zusammenwerfen von versus cancellati und carmina figurata führt immer wieder zu Irrtümern; so dichtet etwa Gustav Chmiel, Untersuchungen zu Publilius Optatianus Porfyrius, Diss. Würzburg 1930, den Bukolikern versus cancellati an (5).

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Die literarischen, gesellschaftlichen und gelehrten Spiele C A S T A I i l D E S I) (, Μ I Χ ο V Ι I I i ν τ ν Μ Τ Κ Α Ι Μ Τ ΐ ; ΐ » Λ 0 Ο Ν S TAN

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3. PUBLILIUS OPTATIANUS PORFYRIUS, CARMEN CANCELLATUM

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Die Gattungen

der

Unsinnspoesie

gedichte stammen aus der griechischen Hirtendichtung des dritten Jahrhunderts. Mit ihren dunkeln Bildern und seltenen Wörtern 3 sind diese carmina figurata sicher für literarische Kenner und Feinschmecker bestimmt. Die ältesten geben sich als Aufschriften auf den Gegenständen, nach denen sie heißen, möglicherweise waren sie das zuerst sogar unter Nachahmung der archaischen Inschriften, mit denen die Votivgaben bis auf die letzte Ecke ausgefüllt wurden. 4 Unter dem Namen des Simias von Rhodos, des Dosiadas von Kreta und des Theokrit sind uns Schalmeien, (Doppel-)Äxte, Flügel, Altäre und (Nachtigallen-)Eier überliefert. 5 Die Lektüre ist nicht nur wegen der dunkeln Bilder und seltenen Wörter schwer, die Gedidite wurden durch die Anordnung der Verse noch rätselhafter gemacht. So ist etwa im Nachtigallen-Ei des Simias nach dem ersten Vers der letzte, dann der zweite, der zweitletzte usw. zu lesen, damit sich ein Sinn ergibt.® In der lateinischen Dichtung scheint erst Publilius Optatianus Porfyrius auf das Spiel gestoßen zu sein. Eigentliche Figurengedichte dichtet er zwar nur drei, einen Altar, eine Schalmei und eine (für die Musikgeschichte interessante) Orgel, 7 doch webt er in seine versus cancellati auch Figuren, eine Palme und sogar ein Schiff mit Rudern und dem Monogramm Christi als Mast ein. 8 Damit begründet er die neue Gattung des Figurengedichts als carmen cancellatum. 9 Später malen in dieser Abart Venantius Fortunatas, 10 Bonifatius 11 und Alkuin 1 2 Kreuze, Josephus Scottus eine Kirche im Aufriß; 1 3 Theodulf von Orleans 14 und Gozbert von St. Gallen 15 begnügen sich mit Kreuz oder einfachem Ornament. Das bedeutendste Werk mittelalterlicher Figurenkunst ist „De

3 gegen Ende des 4. Jahrhunderts besonderer Sinn f ü r Sprachkunststücke: Wilhelm v o n Christ, Geschichte der griechischen Literatur, 6. A u f l . ed. Otto Stählin und Wilhelm Schmid, München 1920/24, II.l 1 1 6 § 408. 4 Pauly-Wissowa II.9 103 f. (Paul Maas, Technopaignia); Ulrich von WilamowitzMöllendorff, Textgeschichte der griechischen Bukoliker, Berlin 1906, 3 4 3 f f . ; Dornseiff 65 ff., 178. 6 Christ a a O II.l 1 2 4 § 1 1 4 ; Carolus Haeberlin, Carmina Figurata Graeca, 2. A u f l . Hannover 1887, 67 ff. mit Abdruck einzelner Gedichte; Carolus Haeberlin, Epilegomena ad Figurata Carmina Graeca — In: Philologus 49 (1890) 271 ff., 649 ff. β Erklärung des Bomos von Dosiadas und des S y r i n x v o n Theokrit: Ohlert 197 ff., 202 ff.; vgl. auch Boissonade I 388 ff.; Canel II 81 ff. 7 Optatianus P o r f y r i u s 26 f., 30. Zu Leben und Nachleben vgl. Elsa Kluge, Studien zu Publilius Optatianus Porfyrius — In: Münchner Museum f ü r Philologie des Mittelalters und der Renaissance 4 (1924) 323 ff., und (mir unzugänglich) Optatianus Porfyrius Carmina ed. Elsa Kluge, Leipzig 1926. 8 Optatianus P o r f y r i u s 9, 19; Sarkophaginschrift des 6. Jahrhunderts: Rudolf Egger, Ein Carmen figuratum aus Salona — In: Charisma, Festgabe zur 25jährigen Stiftungsfeier des Vereins klass. Philologen in Wien, Wien 1924, 12 ff. 9 Schon Ennodius hatte in seiner Jugend Freude an „quadratischen Gedichten", wohl einem cancellatischen Spiel: Manitius Poesie 362. 10 Wilhelm Meyer, Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus, Berlin 1 9 0 1 , 87. 1 1 Bonifatius: Poetae I 16 f. Nr. 2. 1 2 Alkuin: Poetae I 224 ff. Nr. 6 f. 1 3 Josephus Scottus: Poetae I 1 5 2 f f . N r . 3 - 5 ; Kirche: 6. 14 Theodulf von Orleans: Poetae I 4 8 0 f f . N r . 23. 1 5 Gozbert: Poetae I 6 2 0 f f .

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Die literarischen, gesellschaftlichen und gelehrten Spiele 1» R O D E N Τ V U Μ 1 Ν 1 Ο C Α Ii

Ε S Τ I Α Ν I G Ν Λ I, Κ (4 Ε Χ Τ I

V. ο Ν S Τ Α Ν Τ I Ν Ε I) Κ Ε Ι· Ε C 1' Ο Ι{ Ε V Ε Κ S Ε Γ Χ Α Μ