Sprache des Dramas - Drama der Sprache: Zur Poetik der Nelly Sachs [Reprint 2011 ed.] 3484651164, 9783484651166

In behutsamen Analysen ausgewählter dramatischer Szenen von Nelly Sachs (1891-1970) - "Abram im Salz", "B

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Sprache des Dramas - Drama der Sprache: Zur Poetik der Nelly Sachs [Reprint 2011 ed.]
 3484651164, 9783484651166

Table of contents :
Vorbemerkung
Vorwort
Kapitel I. Sprache des Dramas – Drama der Sprache
A. Einleitung
B. Szondis Theorie des Dramas
C. Benjamins Theorie des Dramas: Trauer der Sprache
D. Peter Szondi – Walter Benjamin – Nelly Sachs
Kapitel II. Nelly Sachs’ Dramen: Inszenierungen der Sprache
A. Einleitung
B. Abram im Salz. Ein Spiel fur Wort – Mimus – Musik
1. Zu den verschiedenen Fassungen des Dramas
2. Zu “Mitternachtsbriefen”
3. Totaltheater
C. Beryll sieht in der Nacht oder Das verlorene und wiedergefundene Alphabet. Einige Szenen aus der Leidensgeschichte der Erde
1. Inszenierung des Änigmas
2. Beryll – Zungenbaum – Sprache
D. Der magische Tänzer: Das Zwischen der Künste
E. Zusammenfassung
Kapitel III. Das Zwischen in Samuel Becketts dramatischen Szenen
Schlußbetrachtung
Literaturverzeichnis

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Conditio Judaica

16

Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben vonAlfred HansBodenheimer, Otto Horch Mark H. Gelber und Jakob Hessing in Verbindung mit

Dorothee Ostmeier

Sprache des Dramas Drama der Sprache Zur Poetik der Nelly Sachs

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ostmeier, Dorothee: Sprache des Dramas - Drama der Sprache : zur Poetik der Nelly Sachs / Dorothee Ostmeier. - Tübingen : Niemeyer, 1997 (Conditio Judaica ; 16) NE: Conditio Iudaica ISBN 3-484-65116-4

ISSN 0941-5866

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Hugo Nadele, Nehren

Inhalt

Vorbemerkung Vorwort

VII 1

Kapitel I Sprache des Dramas - Drama der Sprache A. Einleitung

5

B. Szondis Theorie des Dramas

6

C. Benjamins Theorie des Dramas: Trauer der Sprache

16

D. Peter Szondi - Walter Benjamin - Nelly Sachs

33

Kapitel II Nelly Sachs' Dramen: Inszenierungen der Sprache A.Einleitung

35

B. Abram im Salz. Ein Spiel für Wort - Mimus - Musik

40

1. Zu den verschiedenen Fassungen des Dramas 2. Zu "Mitternachtsbriefen" 3. Totaltheater C. Beryll sieht in der Nacht oder Das verlorene und wiedergefundene Alphabet. Einige Szenen aus der Leidensgeschichte der Erde 1. Inszenierung des Änigmas 2. Beryll - Zungenbaum - Sprache a. Beryll

60 63 65

74 74 82

VI

b. Zungenbaum c. Bei Jakob Böhme d. Jakob Böhme und Nelly Sachs D. Der magische Tänzer: Das Zwischen der Künste

89 91 96 99

E.Zusammenfassung

123

Kapitel III Das Zwischen in Samuel Becketts dramatischen Szenen

131

Schlußbetrachtung

150

Literaturverzeichnis

152

Vorbemerkung

Folgenden Personen und Institutionen schulde ich Dank: Rainer Nägele und Werner Hamacher (German Department der Johns Hopkins University), Liliane Weissberg (University of Pennsylvania) und Eleonore Frey für viele anregende Gespräche; den Bibliothekarinnen der Nelly SachsArchive der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, der Kunglia Biblioteket Stockholm und des Leo Baeck Instituts New York für ihre immer freundliche Unterstützung; Hans Magnus Enzensberger als Nachlaßverwalter von Nelly Sachs, dem Suhrkamp Verlag und dem Leo Baeck Institut New York für die Erlaubnis, bisher unveröffentlichtes Material einzusehen und es, soweit für meine Argumentation erforderlich, in Auszügen abzudrucken. Die Vorbereitung für den Druck dieser Arbeit wurde durch die Graduate School der University of Washington finanziert. Ich danke Hans Otto Horch (Ludwig Strauß-Professur für deutsch-jüdische Literaturgeschichte an der RWTH Aachen) für die Aufnahme der Studie in die Reihe "Conditio Judaica" und sein immer heiteres und aufmunterndes Interesse an ihrer Entstehung; sein Aachener Team hat wesentlich zur gelungenen Drucklegung beigetragen. Stephen Golledge hat durch seine Freundschaft mir gegenüber zu dieser Arbeit wesentlich mit beigetragen. Seattle, im September 1996

Dorothee Ostmeier

Vorwort

Die Figuren in den dramatischen Szenen der Nelly Sachs suchen vergeblich nach Heimat in einer Sprache, die nur durch Absenz präsent ist. Sie erfahren die ihnen aufgebürdete Distanz zur Sprache als Exilierung von ihr. Eingehende Analysen ausgewählter Szenen zeigen die komplexen und vielschichtigen Implikationen dieses Exils. In der neueren Forschung fehlt eine Studie, die sich intensivst den dramatischen Szenen der Nelly Sachs widmet.1 Die Dichterin verfaßte sie in ihrem schwedischen Exil neben der Arbeit an den Gedichten, für die sie vor allem bekannt geworden ist. Ein Teil ihrer Szenen wurde 1962 unter dem Titel Zeichen im Sand1 veröffentlicht. Die vorliegende Arbeit bezieht sich auch auf unveröffentlichte Schriften der Dichterin, die von den Nelly Sachs-Archiven in Dortmund und Stockholm zur Verfugung gestellt wurden. Ein Vergleich veröffentlichter mit bisher unveröffentlichten Fassungen der Szene "Abram im Salz" bietet die Möglichkeit, Traditionen und Genese von Nelly Sachs' dramatischer Rhetorik und die daran gebundenen Verschiebungen innerhalb ihrer Sprachauffassung herauszuarbeiten. Denn die ersten konventionellen dramatischen Versuche (wie zum Beispiel das zumeist besprochene Mysterienspiel Eli) lassen

1

2

Kurz, prägnant und informativ führt Erhard Bahrs Autorenbuch Nelly Sachs (München: Beck 1980) in das Werk und damit auch in die bisher wenig diskutierten dramatischen Szenen der Dichterin und die daran gebundenen Fragen und Probleme ein und bietet eine ausführliche Bibliographie zu diesem Werk. Diese Bibliographie ist durch M. Kesslers und J. Wertheimers Essaysammlung Nelly Sachs. Neue Interpretationen. (Tübingen: Stauffenburg, Narr 1994) wesentlich erweitert und durch einen ausführlichen Forschungsbericht ergänzt worden. In diesem Band ordnet die Nelly Sachs Biographin Gabriele Fritsch-Vivie Nelly Sachs' Szenen einem biographischen Kontext zu, wobei allerdings die Beziehung zwischen der künstlerischen Phantasie und den sogenannten Aspekten des Selbstes assoziativ und ungenau bleiben, wie die Autorin selbst eingesteht. Marianne Kesting bezieht Nelly Sachs Dramen in ihrem Überblickswerk Panorama des zeitgenössischen Theaters (München: Piper 1969, S. 275-277) in ihre Diskussion ein. In ihrer Dissertation Dichtungs- und Sprachreflexion im Werk von Nelly Sachs (Frankfurt a.M.: Lang 1977) analysiert. Christa Vaerst einzelne, aus dem Kontext der Szene herausgelöste Motive, und fügt sie mit Motiven aus der Lyrik zu Metaphernkomplexen zusammen, um so "Übereinstimmungen oder Divergenzen zwischen der in den Metaphern sich ausdrükkenden Sprachreflexion und dem sprachliche Verfahren"(S. 33) zu untersuchen. Sachs, Nelly: Zeichen im Sand. Die szenischen Dichtungen der Nelly Sachs. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1962.

2

Vorwort

noch nichts von der innovativ poetischen Bühnenkunst der Dichterin, die eigenwillig mit allen Theaterkonventionen bricht, erahnen. Eine kritische Lektüre von Walter Benjamins und Peter Szondis theoretischen Arbeiten zur Sprache und zum Drama fuhrt in die Probleme moderner Dramatik ein. (Kapitel I. A-C). Trotz unterschiedlicher methodischer Ansätze weisen beide Autoren darauf hin, daß die "Sprache des Dramas" letztlich immer auch ein "Drama der Sprache" impliziert.3 Die von diesen Konzeptionen dramatischen Sprechens aufgeworfenen theoretischen Fragen und Probleme werden durch Nelly Sachs' Dramen in Szene gesetzt. Für den Leser, der nur an den Hauptthesen dieses Kapitels und nicht an ihren jeweils textnahen und detaillierten Herleitungen interessiert ist, wird zu Beginn eine kurze Zusammenfassung des Argumentationsgangs skizziert. Anhand eingehender Analysen ausgewählter Szenen werden dann Nelly Sachs' theatralische Darstellungen sprachlicher Phänomene besprochen. (Kapitel II. A-E) In einer der ersten und einer der letzten Szenen der Nelly Sachs, die nach 1962 keine dramatischen Dichtungen mehr verfaßte, suchen die beiden Hauptfiguren eine Sprache, die sie hören und in deren Nähe sie streben, ohne sie jemals zu erreichen. Da diese Sprache nicht durch semantische Kategorien allein charakterisiert werden kann, treten vor allem auch semiotische Verweisungsformen des Textes ins Zentrum der Untersuchung. Biblische, jüdisch-legendarische, chassidische und kabbalistische Motive werden konventionellen Traditionen entrissen und zu neuen Funktionen koordiniert. Das Zusammenwirken dieser Traditionselemente inszeniert eine Vielfalt sprachlicher Prozesse, die vor allem die Probleme der Begrenzungen und Entgrenzungen der Worte aufzeigen. Als Beispiel dafür, wie narrativ entworfene Figuren aus ihren Kontexten isoliert, dramatisiert und als autonome Figuren in die dramatische Szene integriert werden, wird die Verschiebung eines Motivs bei Jakob Böhme zu einer Figur in Nelly Sachs' Drama genauer verfolgt. Neben diesen Dramen der Sprachinszenierung, die die Sprache selbst thematisieren, werden im vorletzten Abschnitt des zweiten Kapitels (II. D) die dramatischen Szenen besprochen, in denen Wortsprache durch Körpersprache ersetzt wird, sogenannte mimische Szenen.4 In Der magische Tänzer ist es eine 3

4

Szondis Theorie des Dramas geht von einer Theorie des Dialoges aus, deren sprachtheoretische Implikationen im ersten Teil des ersten Kapitels herausgearbeitet werden. Der zweite Teil fragt dann nach dem Verhältnis von Trauer, Sprache und Spiel, wie es Benjamins Begriff des Trauerspiels zugrundeliegt und bereits in dem frühen Aufsatz "Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie" aufgezeigt wird. Die Theorie zur Dramatik der Sprache arbeitet Benjamin im Trauerspielbuch weiter aus, wenn er das moderne Drama als Drama des Mysteriums bezeichnet. Dieser Begriff des Mysteriums stiftet Relationen, die für Nelly Sachs' Dramen wichtig werden, da er das Verhältnis der Hauptfiguren des Dramas zur Sprache und das Verhältnis dieser Sprache zum Tod der Figuren sich wechselseitig bedingen läßt. Bahr: Nelly Sachs (wie Anm. 1), S. 184.

Vorwort

3

Marionette, die die Hauptfigur David in eine ekstatische Tanzkunst einfuhrt. Doch auch diese Sprachsuche zieht letztlich nur die Erfahrung des Exiliertwerdens von jeglicher Sprache nach sich. Derjenige, der seine Exilerfahrung in der Sprache zu verwinden sucht, erfahrt sich von ihr selbst als ausgeschlossen. Kapitel III kontrastiert Nelly Sachs' Inszenierungen dieser Sprachproblematik mit Samuel Becketts. Nelly Sachs' dramatische Figuren sind von einer idealen Sprache ausgeschlossen, während Samuel Becketts Figuren sich von einer alltäglich konventionellen Sprache als allzu eingeschlossen erfahren. Von polaren Richtungen her nähern sich die Figuren beider Autoren Grenzen zwischen Sprachlichem und Außersprachlichem. Indem diese Grenzen in Relation zueinander gesetzt werden, be- und entgrenzen sie sich wechselseitig und differenzieren dadurch das von beiden Dramentypen umkreiste Außersprachliche. Da die Thematisierung der Sprache, wie sie durch die Szenen angelegt ist, äußerst komplexe Fragen aufwirft, organisiert sich die Arbeit über verschiedene Exkurse, die unterschiedliche Aspekte der Figurierung, Dramatisierung und Stilisierung dieser Thematik besprechen und auf ihre Relevanz für das Thema überprüfen. Abschnitte über Jakob Böhmes Sprachlehre, Nietzsches Konzept der Tragödie, Wagners Ideen zum Gesamtkunstwerk, Heinz Holligers musikalischer Bearbeitung einer Szene der Dichterin und Becketts späte Dramaturgie bieten den historischen, systematischen und thematischen Rahmen, in dem die Texte der Nelly Sachs analysiert werden. Diese Studie will nicht einen allgemeinen zeitlichen und thematischen Überblick über Nelly Sachs' szenisches Werk liefern, wie er bereits in Erhard Bahrs Autorenbuch vorliegt. Sie will vieleher durch eine exemplarische Lektüre einzelner Szenen zeigen, wie Nelly Sachs' Texte Probleme der Diaspora und des Exils poetisch bearbeiten und als Probleme identifizieren, die auch der Sprache eingeschrieben sind.5 So werden thematische, theatralische und linguistisch strukturelle Prinzipien der Texte in einen kritischen Diskurs miteinander gebracht.

5

Überlegungen zu den Grenzen sprachlicher Signifizierungsprozesse leiten auch viele der Essays des von M. Kessler und J. Wertheimer herausgegebenen Sammelbandes Nelly Sachs. Neue Interpretationen. Tübingen: Stauffenburg 1994. Die da im Hinblick auf die Lyrik diskutierten Fragestellungen finden nun in bezug auf das Drama neue Variationen und Modifikationen.

Kapitel I Sprache des Dramas - Drama der Sprache

A.

Einleitung

Im Schreiben über Sprachliches kommt man nicht umhin, nach dem Status des Sprachlichen selbst zu fragen. Für das Schreiben über das Drama und insbesondere über das "moderne Drama" haben Walter Benjamin und Peter Szondi hierin vorbildliche Pionierarbeit geleistet. Wenngleich die beiden zentralen Theorien zur modernen dramatischen Literatur, Walter Benjamins Trauerspielbuch und Peter Szondis Theorie des modernen Dramas1 und insbesondere des lyrischen Dramas des Fin de siecle1, Kategorien moderner Dramatik in einer jeweils sehr eigenen Art aufsuchen, so gehen sie doch von ähnlichen oder zumindest vergleichbaren Phänomenen aus. Beide Autoren distanzieren sich von der in der Tradition vielfach zitierten und autoritativ gesetzten aristotelisch systematischen Konzeption des Dramas. Sie applizieren die vorgegebene Lehre der Einheiten von Raum, Zeit und der durchgängigen Motivation nicht einfach von außen, sondern fragen nach der Möglichkeit einer Neu-Bestimmung des Dramatischen. Dieser Kritik konventioneller Dramentheorie korrespondieren Nelly Sachs1 poetische Reflexionen über das Genre des Dramas. Indem die vorliegende Arbeit diese Korrespondenzen aufzudecken versucht, zeigt sie, wie die theoretischen und poetischen Texte sich wechselseitig zu kommentieren und dramentheoretische und sprachphilosophische Fragen aneinander zu knüpfen vermögen. Peter Szondi modernisiert klassische Dramentheorien, indem er die Funktionen des Dialogs zum Kriterium der Unterscheidung zwischen dem klassischen und modernen Drama macht. Er thematisiert jedoch nicht alle Implikationen seiner Theorie, die im folgenden mit Bezug auf Karl Löwiths phänomenologische Studien herausgearbeitet werden. Nach Löwith sind dialogische Strukturen der Sprache selbst inhärent; die Sprecher benutzen Sprache nicht nur als Kommunikationsmittel, sondern werden selbst auch ihr Medium. Diese Umkehrung sprachlicher Funktionen findet im dialogischen Prozeß, zwischen den Wechselreden statt. 1

2

Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas. Schriften I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S. 11-146. (hinfort zitiert: Szondi: Mod. Drama) Szondi, Peter: Das lyrische Drama des Fin de sifecle. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975.

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Kapitel I

Hier setzt Walter Benjamins Sprachtheorie an, die, wenn sie auch historisch Szondis Arbeit vorausgeht,3 gerade die sprachlichen Spannungen als intrasprachliche thematisiert. Benjamins Begriff des Trauerspiels umschreibt die sprachliche Konfliktspannung zwischen Signifikat und Signifikant. Während seine früheren Schriften noch eine metaphysisch autonome Instanz gegenüber den Sprachzeichen anerkennen, fehlt im Trauerspielbuch die explizite Spekulation auf das Metaphyische. Die Trauer ist gerade der Ausdruck seines Verlustes. Benjamin stellt das Trauerspiel in die Tradition des Mysteriendramas, wobei er allerdings den Begriff des Mysteriums auch säkularisiert und ihn zur Bestimmung sprachlicher Änigmata stilisiert. Die Modifizierung von Szondis Theorie des modernen Dramas durch die kritische Analyse von Walter Benjamins Sprachtheorie fuhrt ein in Fragen und Probleme, die in bezug auf Nelly Sachs' Dramen weiterbesprochen werden. Denn ihre Texte erweisen sich als Dramatisierungen solcher sprachlichen Änigmata, die Benjamin in der Sprache diagnostiziert. Die Studie schließt mit Analysen einiger kurzer Stücke von Samuel Beckett, nicht nur um Parallelen zwischen den Werken beider Dichter aufzuzeigen, sondern auch um die theoretischen Überlegungen zur Sprach-Dramatik des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts an einem weiteren Werk zu überprüfen.

B.

Szondis Theorie des Dramas

Seit Aristoteles ist die Ästhetik an den Begriff der Mimesis gebunden. Szondi knüpft an diese Tradition an, wenn er in der Theorie des modernen Dramas von der "Wiedergabe des zwischenmenschlichen Bezuges", von dem Drama als einer "Werkwirklichkeit" und von dem Menschen, der sich in der "Werkwirklichkeit feststellen und spiegeln wollte", spricht. D a s Drama der Neuzeit entstand in der Renaissance. des nach dem Zerfall des mittelalterlichen Weltbilds schen, die Werkwirklichkeit, in der er sich feststellen Wiedergabe des zwischenmenschlichen Bezugs allein

Es war das geistige Wagnis zu sich gekommenen Menund spiegeln wollte, aus der aufzubauen. 4

In der Tradition Hegelscher Ästhetik wird die klassische Mimesistheorie in einen geschichtsphilosophischen Kontext versetzt, der durch gewisse phänomenologische Elemente angereichert ist: der "zu sich gekommene Mensch"

3

4

Die 1993 von Christoph König und Thomas Sparr bei Suhrkamp herausgegebene Auswahl von Szondis Briefen macht sehr deutlich, wie Szondi sich nicht nur thematisch auf Walter Benjamins philosophisch und literaturtheoretisches Werk stützte, sondern sich auch intensivst für seine Herausgabe einsetzte. Peter Szondi: Briefe. Hrsg. v. Christoph König und Thomas Sparr. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. Szondi: Mod. Drama, S. 16.

Sprache des Dramas - Drama der Sprache

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will sich in der "Werkwirklichkkeit" "feststellen und spiegeln". Die althergebrachte Spiegelmetaphorik knüpft an Traditionen der idealistisch-spekulativen Reflexionsphilosophie an: Im "Spiegeln" "stellt" sich der Mensch "fest" und erkennt sich in seinem Spiegelbild als sein Gegenüber. Nur durch diese Objektivierung im Bild findet sich das Subjekt selbst. Allerdings wird dieses Theater der Selbstbespiegelung und dialektischen Selbstfindung durch eine dramatische "Werkwirklichkeit" modifiziert, die nicht den zu sich gekommenen Menschen, sondern einen "zwischenmenschlichen Bezug" "wiedergibt", der nicht mehr so einfach gespiegelt werden kann. Denn dieser Bezug ist nicht unbedingt sichtbar und kann nicht wie eine Gestalt abgebildet werden, da er sich gerade "zwischen" den Menschen ereignet. Der Mensch "geht" in dieses Drama also nicht als "festumrissene Gestalt dieses zu sich gekommenen Menschen - jene muskulöse feste Figur, in der das Klischee ihn so gerne sieht"5 - "ein", sondern als Element einer dramatisch intersubjektiven Konstellation, die phänomenologisch zu analysieren ist. Der Mensch ging ins Drama gleichsam nur als Mitmensch ein. Die Sphäre des Zwischen schien ihm die Wesentlichste seines Daseins 6

Als Figur in diesem klassischen Drama kann das Ich seine Identität nicht durch Isolation und Selbstreflexion begründen, denn es nimmt immer schon die Rolle des "Mitmenschen" an und fungiert als "Du" für den anderen. Der Ort1, an dem er zu dramatischer Verwirklichung gelangte, war der Akt des Sich-Entschließens. Indem er sich zur Mitwelt entschloß, wurde sein Inneres offenbar und dramatische Gegenwart. 7

"Der Akt des Sich-Entschließens" eröffnet wie der Akt eines Dramas eine neue Szenenfolge, die das "Innere" inszeniert, indem es eine Beziehung zur "Mitwelt" aufnimmt. Diese Beziehung selbst führt dann Regie: jeder Mitspieler wird "Mitmensch" und ein "Du" für den anderen. Von dieser Wendung eines Ichs in ein Du, vom Menschen zum Mitmenschen spricht Szondi als von einem "geistigen Wagnis". Denn wie dieses Drama der Kommunikation beziehungsweise der Kommunikationsversuche ausgeht, ist ungewiß, da die Partner erst in wechselseitiger Bezugnahme aufeinander sich als Mit-menschen konstituieren. Diese wechselseitige Konstitution der Antagonisten beziehungsweise Protagonisten findet aufgrund spannungsreicher dialektischer Umschlagspunkte statt.

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6 7

Nägele, Rainer: Peter Szondi: Text, Geschichte und das kritische Subjekt. In: "Uneßbarer Schrift gleich". Text, Geschichte und Subjektivität in Hölderlins Dichtung. Stuttgart: Metzler 1985, S. 6. Szondi: Mod. Drama, S. 16. Ebd.

8

Kapitel / Sie [die Ganzheit des Dramas] entsteht nicht dank dem ins Werk hineinragenden epischen Ich, sondern durch die je und je geleistete und wieder ihrerseits zerstörte Aufhebung der zwischenmenschlichen Dialektik, die im Dialog Sprache wird. Auch in dieser letzten Hinsicht ist der Dialog Träger des Dramas.8

Aus der Spannung zwischen der 'Leistung' und 'Zerstörung' "der zwischenmenschlichen Dialektik", die den "Akt des sich Entschließens" im Einzelnen für jede Interaktion mit den Anderen voraussetzt, entsteht der Dialog, der immer um die Möglichkeit seiner eigenen Entstehung kreist. Er kreist wie um ein offenes Zentrum, das Zentrum seiner eigenen Dynamik, das nicht genauer fixiert werden kann und aus dem die Dialektik des Dialoges hervor- beziehungsweise heraus- und in das sie auch hineinbricht. Diese Offenheit in der Dialektik des Dialoges und damit auch in der Konstitution der Dialogpartner, der Position eines Ich und/oder eines Du, weist in bezug auf das klassische Drama keine Bruchstellen auf und wirkt nicht bedrohend auf seine "Einheit". Szondis Theorie des klassischen Dramas folgt so weit der Hegeischen Dialektik des Selbstbewußtseins. Denn "Aufhebung" wird bei Szondi im Hegeischen Sinne dreifach als Beenden oder Vernichten, Bewahren und Erheben gelesen. Das klassische Drama der Neuzeit präsentiert eine "Werkwirklichkeit", in der sich der Mensch, der Mensch als Mitmensch, "spiegeln und feststellen kann", in der die "zwischenmenschliche Dialektik" noch keine solchen Probleme (wie im modernen Drama) aufzuwerfen scheint. Auf diese "Werkwirklichkeit" ist die Theatermaschinerie mit Guckkastenbühne und Vorhang, der Zuschauer und Schauspieler trennt, und Rampenlicht, das das Schauspiel in sein eigenes autonomes Licht taucht, eingestellt.9 Sie entwirft einen einheitlich geschlossenen, absoluten Raum, in dem eine einheitliche Szenenfolge, die das Wirken des Zufalls ausschaltet, ablaufen kann. Die klassischen drei Einheiten zwingen das in letzter Instanz äußerst ambivalente dialogische Geschehen in die ihnen eigene Ordnungsstruktur, die erst in der Moderne durch die Autonomisierung des Dialogischen ihr gegenüber gesprengt wird. Die phänomenologischen Strukturen, die den Ereignischarakter des Dialogs ausmachen, treten in der modernen Dramatik in den Vordergrund. Über die dem Dialog eigenen dramatischen Transformationen der Positionen von Ich und Du und über die Kommunikation zwischen "Du" und "Du" in der "Sphäre des Zwischen" gibt eine phänomenologische, allerdings nicht direkt auf das Theater-Drama bezogene Studie von Karl Löwith genaueren Aufschluß. 10 Karl Löwith hat in seiner phänomenologischen "Strukturanalyse des

8 9 10

Ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 18. Werner Hamacher wies mich daraufhin, daß Peter Szondi ihm gegenüber von der Bedeutung von Karl Löwiths Essay Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen fllr seine Dramentheorie gesprochen hat.

Sprache des Dramas - Drama der Sprache

9

Miteinanderseins"11 die Funktion des 'Mit' in den die Philosophie der Intersubjektivität grundlegenden Begriffen 'Mitsein', 'Mitwelt' und 'Miteinandersein' genauer untersucht. Am ursprünglichsten "mit" einem andern ist einer dort, wo das bloß Mithafte des einen für den andern in einem ebenbürtig-einheitlichen Einander als einem ausschließlichen Verhältnis von mir zu "Dir", von "bin" und "bist", verschwindet. 1 2

Im Mitsein ist einer nicht nur für den anderen da, sondern das Für-Sein beider verschwindet in ein "ebenbürtig-einheitliches Einander", in dem die Sphäre des Einen und die des Andern im prä- oder postpersonalen Ein-ander kontaminieren. Erst in dieser besonderen, jeweils singulären Situation kann das Ich als Ich und das Du als Du und können die Seinsweisen des "bin" und "bist" sprachlich konstituiert werden. Denn alle denkbaren äußeren Faktoren, wie sie im klassischen Drama zum Beispiel durch einen deus ex machina, durch Standesbedingungen oder soziales Milieu das dramatische Geschehen beeinflussen könnten, sind hier von der Konstitution der dialogischen Situation ausgeschlossen. Als "Du" bist Du mir gegenüber nicht nur dadurch selbständig, daß du dich auf dich selbst zurückziehen und dich so für dich selbst als (anderes) Ich bestimmen kannst, sondern deine Selbständigkeit kannst du mir positiv nur dadurch erweisen, daß du als zweite Person dich zugleich in erster Person zur Geltung bringst... 1 3

Nur die 'Sphäre des Zwischen" ermöglicht die simultane Existenz des Einzelnen als "erste" und "zweite Person", als "Ich" und "Du". Die Kommunikation mit einem Partner spaltet das "Ich" in der Weise, daß es seine Aufmerksamkeit gleichzeitig in zwei Richtungen lenkt, sie nämlich einerseits sich selbst als 'Ich', andererseits seinem Partner, der es als "Du" adressiert, zuwendet. Geschieht dies absichtsvoll und nicht unwillkürlich durch Gestik, Mimik oder andere Äußerungen, wie sie in alltäglichen Situationen häufig, im Drama (außer einem Improvisationsdrama) allerdings immer nur sprachlich vermittelt das Geschehen beeinflussen können, dann geschieht es im Rahmen eines sprachlichen Dialogs, der 'zwischen' den Hörenden und den Sprechenden ein Drama inszeniert.14

11

12 13 14

Löwith, Karl: Strukturanalyse des Miteinanderseins. In: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Sämtliche Schriften 1. Mensch und Menschenwelt. Stuttgart: Metzler 1981, S. 9-197. (hinfort zitiert: Löwith: Strukturanalyse) Löwith: Strukturanalyse, S. 71. Ebd., S. 144. Löwith betont, daß der sprechende Mensch durch die jedem sprachlichen Ausdruck zugrundeliegende "unausdrtlckliche bzw. noch nicht zum eigentlichen Ausdruck gekommene Offenbarung" oder durch die "wortlose Sprache einer "sprechenden" Gebärde, eines "vielsagenden" Blicks, einer unwillkürlich "ausdrucksvoll" bewegten Stimme usw. "zumeist viel eindeutiger zum Ausdruck kommt als in dem, was er - indem er spricht - zum Ausdruck bringt." (ebd., S. 139) Die vorliegende Arbeit bezieht sich also nur auf einen

10

Kapitel 1 W a s d e n S p r e c h e n d e n mit d e m H ö r e n d e n v e r b i n d e t , ist z w a r z u m e i s t d a s ' T h e m a ' , w o r ü b e r sie m i t e i n a n d e r s p r e c h e n , a b e r nicht als t h e m a t i s i e r t e s , s o n d e r n als ' G e s p r ä c h s ' - t h e m a . A l s G e s p r ä c h s t h e m a ist es e i n e ' M i t t e i l u n g ' . U r s p r ü n g l i c h d a ist d a s M i t g e t e i l t e n u r im 'Mitteilen'. In d e r e t w a s m i t t e i l e n d e n M i t t e i l u n g teilt d e r E i n e , i n d e m er e t w a s mitteilt, z u g l e i c h sich selbst e i n e m a n d e r n m i t . D e r e i g e n t l i c h e Sinn d e s " m i t " d e r T e i l u n g liegt im E i n a n d e r . W a s sie e i n a n d e r m i t t e i l e n , w i r d n u r i n s o f e r n 'geteilt', als es j e w e i l s g a n z e i n e m a n d e r n m i t g e t e i l t w i r d . 1 5

D a s B e g r i f f s p a a r - S p r e c h e n u n d H ö r e n - w i r d h i e r d u r c h d a s e i n e V e r b "Mitt e i l e n " ersetzt. B e i d e G e s t e n , d a s s c h w e i g e n d e Z u h ö r e n a l s a u c h d a s S p r e c h e n , w e r d e n z u M o m e n t e n einer einzigen Geste d e s T e i l e n s und Tauschens, d e n n n i c h t nur d a s S p r e c h e n , a u c h d a s H ö r e n teilt e t w a s m i t , a u c h der H ö r e n d e s p r i c h t u n d d e r S p r e c h e n d e h ö r t . 1 6 W a s w i r d g e t e i l t ? "In d e r e t w a s m i t t e i l e n d e n M i t t e i l u n g teilt der E i n e [...] z u g l e i c h s i c h s e l b s t mit." I m S p r e c h e n w i e a u c h i m H ö r e n ist n e b e n d e m M i t t e i l u n g s o b j e k t a u c h d a s S u b j e k t präsent. E s k a n n nicht außerhalb der R e d e existieren. Grenzen, die außerhalb d e s D i a l o g e s d e n E i n e n v o n d e m A n d e r e n trennen, v e r w i s c h e n . I m M e d i u m d e r S p r a c h e s i n d s i e e i n a n d e r "ebenbürtig". D e n n i m M o m e n t d e s G e s p r ä c h s l e b t j e d e r r e d e n d u n d h ö r e n d i n d e r S p r a c h e u n d n i c h t a u f s i e h i n . 1 7 N u r i n ihr etabliert s i c h d a s I c h a l s D u u n d d a s D u a l s Ich. In d e r W e c h s e l s e i t i g k e i t d e s Z u e i n a n d e r s p r e c h e n s u n d A u f e i n a n d e r h ö r e n s v e r n i m m t d e r E i n e d e n a n d e r n im S i n n e ihres G e s p r ä c h s , u n d d a s besagt: ein j e d e r hört z u , u m z u e r w i d e r n , und hört in der ihm zu G e h ö r k o m m e n d e n E r w i d e r u n g d e s a n d e r n d e n E i n k l a n g seiner e i g e n e n R e d e w i e d e r ; ein j e d e r b e k o m m t sich selbst w i e d e r z u r ü c k in der E r w i d e r u n g des a n d e r n , d i e e r w i e d e r u m in d e r T e n denz auf Erwiderung anhört.18

15 16

17

18

Teil von Löwiths Argument, wenn sie nur nach dem unausdrücklichen Ausdruck, dem 'Zwischen', das durch den Dialog im Drama evoziert wird, fragt. Ebd., S. 125. Hier kann an Szondis formale Bestimmung des Dramas als 'Konstellation von Zugehörigkeiten' erinnert werden. "Das Adjektiv 'dramatisch' drückt im folgenden keine Qualität aus [...], sondern bedeutet lediglich 'zum Drama gehörig' (dramatischer Dialog = Dialog im Drama)." (Szondi: Mod. Drama, S. 15) Einer Sache zugehörig sein, heißt auch, ihr zugehören, angehören, zuhören und sie hören. Das in all diesen Verben anklingende Verb "hören" weist auf die Struktur des Dramas als die des Hörens. Doch was wird gehört? Szondi deutet auf den dramatischen Dialog als die Sphäre des Hörens und Sprechens. Kein Dialog würde stattfinden, wenn dem Sprechenden nicht auch zugehört würde. Diese beiden Funktionen der dialogischen Sprache, das Sprechen und Zuhören, evozieren eine Spannung, die von Szondi als Sphäre "des Zwischen" angesprochen wird. Da der vorliegende Text das Zwischen als ein allgemeines, den Dialog konstituierendes Prinzip ausweist, wird dieser Begriff im folgenden durch kursive Druckweise besonders hervorgehoben. Vgl. Waidenfels, Bernhard: Sprachlich vermittelter Umgang. In: Das Zwischenreich des Dialogs. Den Haag: Martinus Nijhoff 1971, S. 164. Löwith: Strukturanalyse, S. 132.

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Der Sprechende hört in der Erwiderung des Anderen seine eigenen Worte. Er spricht sozusagen im Hören noch einmal, diesmal allerdings nicht mit seinen eigenen, sondern mit den Worten seines Partners. Es findet eine Art simultaner Übersetzung statt. Der Zuhörer transformiert die zeitliche Folge von Rede und Antwort in die simultane Präsenz von zwei Reden. Die erinnerte eigene Rede wird in den Worten des jeweiligen Partners wiedergesucht. Natürlich sind es andere Worte, die gehört werden, das heißt, der Zuhörer hört durch die Worte hindurch hinblickend auf die von ihm zu erinnernde eigene Rede und stiftet ein Verhältnis zwischen diesen zwei Reden. Das mit jedem Dialog gegebene Zwischen verwandelt sich von einem intersubjektiven in ein intrasubjektives und konkretisiert sich als intrasprachliches Zwischen, in dem nach Löwith die Rede des Sprechenden und die ihr vorhergehende des Hörenden in "Einklang" gebracht werden. Doch diesem "Einklang" und dem ihm inhärenten "Sinn" wirkt die "Tendenz zur Erwiderung" entgegen; gerade aus dem Widerspruch dieser beiden Momente geht das Zwischen und der ihm eigene "Sinn" hervor. Worte affizieren neue Worte und lassen die Sprecher in dem Zwischen all der Worte, dem "ebenbürtig-einheitlichen Einander", "verschwinden", bis sie als "Du" oder "Ich" wieder aus ihm hervorgehen. Dieses Zwischen also, das sich als "einheitliches Einander" nicht in seine Funktionen einsehen läßt, konstituiert gewissermaßen im Verborgenen das jeweilige Ich und Du. Jetzt fungiert Sprache nicht mehr nur als Medium für Sprecher und Hörer, sondern im Gegenteil, diese beiden Figuren werden selbst Medium der Sprache. Sie spricht durch sie. Auf diese dominierende Funktion der gesprochenen Sprache im Dialog weist der ein allgemeines Sprichwort aufnehmende folgende Satz Löwiths: Und indem ein Wort das andere gibt, kommt eigentlich keiner [weder der Sprecher noch der Zuhörer] an ihm selbst zu Wort und zu Gehör. 1 9

Sprecher und Hörer werden, nachdem sie den Dialog in Gang gesetzt haben, selbst zu seinem Agenten. Löwith spricht von dem Sprechen und dem Hören als von den beiden Rollen, die die Sprache selbst vergibt. 20 Sie inszeniert den Dialog, der dem Sprachlichen, dem Zwischen einzelner Worte oder auch ganzer Redepartien, selbst eingeschrieben ist. Denn es ist diese Mobilität des Zwischen, die die Spannung zwischen Du und Ich, dem Sprechenden und dem Hörenden, zwischen einer Rede und einer anderen und letztlich zwischen einem Wort und einem anderen entwirft. Alle Reden kreisen um den "Sinn ihres Gesprächs", in dem sie ihn in immer neuen Variationen zu Gehör bringen, ohne ihn jemals selbst aussprechen zu können. Er ist nie direkt und unverhüllt präsent, sondern klingt nur zwischen seinen vielfachen Versprachlichungen an. Wenn Löwith von dem "Einklang" der Reden spricht, heißt das nicht, daß sie 19 20

Ebd. Vgl. ebd., S. 121.

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Kapitel I

identisch sind, sondern daß sich zwischen sie "Ein Klang", ein Zwischen schiebt. Diese Funktion des Zwischen soll im folgenden weiter an Szondis Theorie des dialogischen Dramas verfolgt werden. Das Phänomen des Dialoges ist der Ausgangspunkt für Szondis Ästhetik des dramatischen Dialoges, die auf einer Theorie des Mimetischen beruht. Szondi spricht von "der Wiedergabe des zwischenmenschlichen Bezuges" im klassischen Drama. Es kennt nur, "was in dieser Sphäre aufleuchtet". Das sprachliche Medium dieser zwischenmenschlichen Welt aber war der Dialog [...] Die Alleinherrschaft des Dialoges, das heißt der zwischenmenschlichen Aussage im Drama, spiegelt die Tatsache, daß es nur aus der Wiedergabe des zwischenmenschlichen Bezuges besteht, daß es nur kennt, was in dieser Sphäre aufleuchtet. 21

Im Rahmen dieser mimetischen Relation wird der Dialog, die zwischenmenschliche Aussage, der zwischenmenschliche Bezug und werden nicht Dialoge, Aussagen und Bezüge allgemein dargestellt. Alle einzelnen Momente des Dramas gehören zu dem dialogisch-dramatischen Diskurs, der Bühne und Figuren entwirft. Die sprachlich stilisierten Figuren, die den dialogischen Sprachwechsel führen, konstituieren sich zugleich auch durch ihn. Insofern fungieren sie als Personifikationen ihrer eigenen Rhetorik. Das dialogische Sprechen referiert nicht Geschichte, sondern produziert sie. Mimesis bezieht sich also nicht auf episch Inhaltliches, sondern auf Spannungsverhältnisse des sprachlichen Zwischen: auf die "zwischenmenschliche Aussage", die "zwischenmenschliche Welt" und den "zwischenmenschlichen Bezug", die als Appositionen zueinander gelesen werden müssen. Denn für das Drama existiert keine "Welt" und kein "Bezug" außerhalb seiner Sprachlichkeit. Die Genese der dramatisch dialogischen Sprache bedarf allerdings einer genaueren Analyse. Das oben schon Zitierte muß hier noch einmal hinzugezogen werden: Die Ganzheit des Dramas schließlich ist dialektischen Ursprungs. Sie entsteht nicht dank dem ins Werk hineinragenden epischen Ich, sondern durch die je und je geleistete und wieder ihrerseits zerstörte Aufhebung der zwischenmenschlichen Dialektik, die im Dialog Sprache wird. Auch in dieser Hinsicht also ist der Dialog Träger des Dramas. Von der Möglichkeit des Dialoges hängt die Möglichkeit des Dramas ab. 22

Das Drama entsteht, indem "im Dialog Sprache wird." So entwirft jeder Dialog ein Drama der Sprachentstehung, durch das Gemeinschaft evoziert, entfaltet und zerstört wird. Das einzig dynamische Prinzip in diesem Kontext ist das Sprachliche. Die Sprache "wird" und "herrscht", der Dialog "leistet", "hebt auf' und zerstört. Er evoziert Gemeinschaft, entfaltet und zerstört sie. Seine Dialek21 22

Szondi: Mod. Drama, S. 17. Ebd., S. 16f.

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tik, in der sich die zwischenmenschliche Dialektik konkretisiert, stößt an seine Grenzen, wenn es um die Entstehung, also um den "Akt der Entscheidung" oder um sein Scheitern geht. Diese Grenzen werden von Szondi allerdings nicht thematisiert. Welche Konsequenzen zieht das nach sich?23 In die Sprache des Zwischen drängt sich im Rhythmus des "je und je" ein anderes Zwischen, eben dieser "Akt des sich Entschließens" ein, in dem Nochnicht-Sprachliches zu Sprachlichem wird. Er eröffnet sozusagen erst den Sprachakt. Aus diesem kaum differenzierten und kaum zu definierenden Zwischen des "je und je" geht die dialogische Dialektik hervor. Sie gründet also in Nicht-Dialektischem, in einer Sphäre, die sich logisch ordnender und symmetrisierender Begrifflichkeit entzieht und eine Kluft aufreißt, die Szondi nur in bezug auf das moderne Drama thematisiert, wenn er von den "Klüfte[n] im Geschehen, aus denen sonst die Krise des Dramas spricht", redet.24 Im klassischen Drama scheinen diese Klüfte noch zu schweigen - Szondi erwähnt sie erst gar nicht - und der Dialog scheint über sie hinwegzutanzen. Erst im modernen Drama zerspalten sie plötzlich sein "ebenbürtig-einheitliches Einander", die äußerst sensible Sphäre des Zwischen, die Sprecher, Sprache und Zuhörer aufeinander hinorientiert. Obwohl in ihm die dramatische Dialogform aufrechterhalten wird, kehrt sie sich gegen sich selbst. Das Zerklüftende scheint also in dem "je und je" der Sprachgenese selbst verankert zu sein. Muß deswegen nicht die Formulierung "Krise des Dramas", wie sie von Szondi im Rahmen seines genetischen Arguments nur auf das moderne Drama Ibsens, Tschechows, Strindbergs, Maeterlincks und Hauptmanns bezogen wird, allgemeiner auf das "Zwischen" des Dialoges und der dialogischen Sprache selbst übertragen werden, so daß dann auch von einer 'Krise des Dialoges', einer 'Krise der dialogischen Sprache' und der Sprache selbst zu sprechen wäre? Jedem Zwischen scheint ein anderes aufzuliegen. Das bedeutet für das klassische Drama, daß man sein Konzept verstellt, wenn man von ihm als ungebrochener Einheit spricht. Seine krisenhaften Abgründe sind ihm durch seine Sprachlichkeit auf performativer Ebene immer schon mitgegeben. Alle Dramen sind davon betroffen, wenn die Struktur der ihnen zugrundeliegenden Sprache selbst zerklüftet ist. Szondi realisiert die durch seine eigenen sprachtheoretischen Überlegungen angedeutete Doppelbödigkeit des klassischen Dra-

23

Andrzej Warminski hat in anderem Zusammenhang, in seiner Lektüre von Szondis Interpretation des Hölderlin-Briefes an Böhlendorff, darauf aufmerksam gemacht, w i e Szondi in hegelscher Tradition die Beziehung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, w i e z.B. zwischen der eigenen und der griechischen Kultur, als historisch dialektische Vermittlung von Gegensätzen beschreibt. Auch in der Dramentheorie spricht Szondi von dem Zwischenmenschlichen als von einem dialektischen Verhältnis, das sich sprachlich selbst hervorbringt, aber auch zerstört. Hier allerdings bricht die Dialektik, ohne daß dies von Szondi bemerkt wird. Vgl.: Warminski, Andrzej: "Hölderlin in France". In: A. Warminski, Readings in Interpretation. Minneapolis: Minnesota Press 1987, S. 2 3 - 4 4 .

24

Szondi: Mod. Drama, S. 76.

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mas nicht. Er verfolgt die Krise nicht bis zu ihrem Ursprung im ambivalenten Phänomen des sprachlichen Zwischen, das den Moment markiert, in dem Noch-Nicht-Sprachliches zur Sprache wird. So laufen die in Szondis Text impliziten linguistisch rhetorischen Überlegungen seinem geschichtsdialektischen Argument entgegen.25 In der Theorie des lyrischen Dramas nehmen die Überlegungen zum Zwischen eine neue Wende. In diesem Drama wird jegliche kommunikative Funktion der Sprache aufgegeben. Szondi weist darauf hin, "daß das lyrische Drama zwischen Monolog und Dialog keinen Unterschied kennt." Von der Handlung unabhängig, vermag die lyrische Sprache die Klüfte im Geschehen zu verdekken, aus denen sonst die Krise des Dramas spricht.26 Die lyrische Sprache dominiert über Plot, Dialogie und die durch den Nebentext präsenten Theatersprachen wie Gestik und Pantomimik. Mit äußerster Autonomie setzt sie die ihr eigenen Sprachprinzipien gegen die konventionellen dramatischen Strukturen durch. Der Unterschied ihrer Sprache [Mallarmes Szene Herodiade] gegenüber der überlieferten besteht nicht in ihrem Reichtum an Bildern - alle Dichtung bedient sich der Metapher sondern darin, daß das metaphorische Prinzip selber, das Prinzip der Übertragung, zum Baugesetz des Gedichts wird. Werden die Eindrücke der Bilder notiert, so konkretisiert sich ihre Verwandtschaft in der assoziativen Nähe der Bilder, die ein Beziehungsnetz konstituieren, in dem eines das andere spiegelt, erhellt, hervorbringt.27 Eine Übertragung findet hier nicht wie im Dialog von der Rede des einen in die Rede des andern statt, wie es an Löwiths Text verfolgt wurde, sondern von einem Bild zum anderen, von einer Metapher zur andern, von einem Wort zum 25

26 27

Solange der Wechsel von 'Leistung und Aufhebung des Dialoges' symmetrisch aufeinander bezogen sind, spricht Szondi von dem klassischen Drama, sobald aber die radikale Aufhebung des Dialogischen im Dialog geschieht, nennt er es modernes Drama. In ihm entsteht keine Zwischen- und Mitmenschlichkeit mehr, obwohl in der Form der Wechselrede gesprochen wird. Diese beiden Dramentypen werden in eine klassisch hegelsche Geschichtsdialektik eingeordnet: Wenn im klassischen Drama Form und Inhalt des Dialoges noch dynamisch ineinandertlbergehen und ein Dialog stattfindet, in dem die Figuren eine gemeinsame Sprache entwickeln, so spalten und widersprechen sich Form und Inhalt im modernen Drama, in dem trotz dialogischer Komposition keine dialogische Verständigung durch Sprache stattfindet. Auch wenn noch die Form des Dialoges beibehalten wird, so sprechen doch die Figuren nicht mehr miteinander. Die Form widerspricht ihrem Inhalt, dem Geschehen in ihr. Seiner dialektischen Logik entsprechend wirft Szondi von hier aus einen Blick auf das den krisenhaften Formen folgende modernste Drama der "Formexperimente", in dem "die formal fungierenden Inhalte sich vollends zur Form niederschlagen und auf diese Weise die alte Form sprengen". Das geschichtliche Schema ist deutlich: einem einheitlich geschlossenen klassischen Stil folgt ein widersprüchlich gebrochener, der von einem widerspruchslosen neuen Stil abgelöst wird. Ebd., S. 72ff. Ebd., S. 75f. Szondi, Peter: Das lyrische Drama des Fin de sifecle. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975, S. 115. Szondi nennt das lyrische Drama auch "Szene" und "Gedicht".

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anderen. Die Begriffe "Verwandtschaft", "assoziative Nähe", "Beziehung", die die Übertragung gewährleisten, verdecken jedoch zugleich ein Zwischen, das, so wie es eine Rede von einer anderen, auch ein Wort bzw. ein Bild von einem anderen scheidet. Auch wenn die lyrische Sprache "Klüfte" im intersprachlichen Geschehen verdeckt28, so kann sie doch die intrasprachlichen nicht umgehen. 29 Diese Überlegungen beziehen sich auf den Aspekt von Szondis Argumentation, unter dem er mit linguistischem Interesse die Genese der Sprache und Sprechakte im Dialog verfolgt und dabei das Dramatische in die Sprache verlegt. Hierin liegt die Chance, das Konzept des Dramas aus historisch genetischen Schemata herauszulösen und es in der Struktur der es bedingenden Sprache selbst aufzusuchen. Diese Kohäsion von Sprach- und Dramentheorie rückt Szondis Ansatz in die Nähe von Benjamins Dramentheorie, die dieser sowohl in frühen sprachtheoretischen Schriften als auch im Trauerspielbuch durch die Kontrastierung von Trauerspiel und Tragödie entfaltet. Benjamin geht wie später auch Szondi von dem Tragischen als "einer Gesetzlichkeit der gesprochenen Rede zwischen Menschen"30 aus, also von der Dialog-Situation. Hiervon grenzt Benjamin aber radikal das "untragische Drama" ab, das Probleme der Sprache, nämlich den Status der Sprache als Drama selbst inszeniert. Überall wo ein untragisches Drama erscheint, ist es nicht ein Eigengesetz der Menschenrede, das sich urprünglich entfaltet, sondern es erscheint nur ein Gefühl oder eine Beziehung in einem sprachlichen Zusammenhang, einem sprachlichen Stadium. 31

Dieses "untragische Drama" entwirft einen "sprachlichen Zusammenhang", der auch unabhängig von menschlicher Rede als "Gefühl" oder "Beziehimg" existiert. Dies zwingt den Leser, von der konkreten menschlichen Rede zu abstra28 29

30

31

Vgl. Szondi: Mod. Drama, S. 76. Diese Frage knüpft Szondis Theorie des modernen Dramas an Theorien des Zwischen, die als Theorien des dramatischen Dialogs immer nach der Sprache, ihrer Genese und Struktur fragen. Das unterscheidet sie von der Philosophie des Dialogs, wie B. Waidenfels sie äußerst differenziert nach phänomenologischer Methode, aber als Kritik des transzendentalen Solipsismus Husserls, entfaltet. Waidenfels spricht zwar von 'der trinitarischen Struktur des Dialogs' und unterscheidet seine sozialkommunikativen Verhaltensrichtungen, ohne daß ftlr sie jedoch Sprache und Sprachlichkeit absolut relevant werden. Tatsächlich ist in Waldenfels' Untersuchungen die sprachliche Kommunikation nur eine der Vollzugsformen des Lebens, neben anderen Phänomenen wie Leib, Raum, Wahrnehmung, Empfindung, Bewegung usw. (vgl. Waldenfels, Bernhard: Das Zwischenreich des Dialoges. Den Haag: Martinus Nijhoff 1971, S. 62). Benjamin, Walter: Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie. In: Benjamin, Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd II. 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. (werkausgabe edition suhrkamp), S. 137. (hinfort zitiert: Benjamin: II.l.) Ebd.

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hieren und an die Sprache als eine vom Menschen unabhängige, autonome Gegebenheit, "ein Gefühl oder eine Beziehung", zu denken. Die Sprache dient hier vorrangig nicht als Kommunikationsmittel, sondern umgekehrt, sie bedient sich der menschlichen Sprache im Drama, um selbst zu erscheinen. Es handelt sich dann nicht mehr wie bei Aristoteles um das Drama als mimetische Gattung. Nach Benjamin sind das barocke Trauerspiel und in seiner Tradition auch alle modernen Dramen der Dramatik dieser sprachlichen Selbstinszenierung verpflichtet.

C.

Benjamins Theorie des Dramas: Trauer der Sprache

Benjamin situiert die "Gesetzlichkeit der gesprochenen Rede zwischen Menschen" 32 von vornherein in einen sprachtheoretischen Kontext. Die Gesetze konventioneller Etymologie ignorierend, definiert er die beiden Worte "Tragödie" und "Trauerspiel" anhand der wörtlichen Bedeutung ihrer sprachlich konstitutiven Elemente: "Trag" in Tragödie, "Trauer" und "Spiel" in Trauerspiel. Das Wort nach seiner reinen tragenden Bedeutung wirkend wird tragisch. Das Wort als reiner Träger seiner Bedeutung ist das reine Wort. 3 3 D a s Widerspiel zwischen Laut und Bedeutung bleibt dem Trauerspiel ein Geisterhaftes, Fürchterliches ,.. 3 4

Benjamin isoliert die Silbe "trag" von dem Wort "Tragödie" und bezieht sie auf das Verb "tragen". In der Trag-ödie trägt das Wort Bedeutung; im Trauer-spiel dagegen schiebt sich zwischen Laut und Bedeutung, zwischen "Bedeutendes und Bedeutetes" 35 ein 'geisterhaftes und fürchterliches Wider-spiel'. 36 Indem Trauerspiele sich als Wider-spiele sprachlicher Elemente ereignen, sind sie bereits innersprachlich antagonistisch angelegt und unterlegen diese innersprachliche Struktur der Pragmatik menschlicher Wechselreden auf der Bühne. Anstatt Bedeutung "rein" zu tragen, "verrät" und "hemmt" 37 das Wort des Trauerspiels das, was es in der Tragödie trägt, und hemmt dadurch auch den "Wechsel" der "Rede". In der Tragödie koexistierende Sprachelemente verschieben sich im Trauerspiel so gegeneinander, daß sie die Stabilität des in der Tragödie noch geschlossenen Sprachsystems zerbrechen. Aufeinander Einge32 33 34 35 36 37

Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

138. 139. 136. 139. 138.

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spieltes "widerspielt" sich jetzt. Benjamin wendet die statisch architektonische Metaphorik für die Sprache der Tragödie, ihre "Ordnung" und "Starre", in Fluß- und Fließmetaphern, wenn er über die Sprache im Trauerspiel spricht. Die Grenzen von Signifikat und Signifikant verfließen ineinander, so daß man die Funktionen von "Träger" und Getragenem kaum noch systematisch "rein" voneinander unterscheiden kann; indem sich ihre Grenzen überschneiden, durchkreuzen, voneinander ablösen oder ineinanderübergehen und manchmal sogar ihre abgrenzende Funktion vollkommen einbüßen, chaotisieren sie dynamische Prozesse innerhalb der Sprache und liefern die "ewige Starre des gesprochenen Wortes" dem "geisterhaften" und "fürchterlichen Widerspiel" aus. Dieses droht, niemals zum Ende zu kommen und zeitlich nicht begrenzt werden zu können. Die Auflösung ihrer "tragenden" Struktur, die Benjamin historisch am Übergang von der Tragödie zum Trauerspiel ausmacht, markiert den Anfang eines vielfältigen Formenspiels, das in all seinen Varianten zur Zeit der Abfassung des Trauerspielbuches selbst noch nicht voll entfaltet war. Benjamin spricht von der "noch offenen Zukunft dieser Form" als "einer Form des Mysteriums". Das Trauerspiel ist als Form der Heiligentragödie durch das Märtyrerdrama beglaubigt. Und wofern nur der Blick deren Züge unter mannigfaltigen Arten des Dramas von Calderon bis Strindberg zu erkennen sich schult, wird die noch offene Zukunft dieser Form, einer Form des Mysteriums, ihm evident werden müssen. 3 8

Durch diese Öffnung der Dramenform wie auch ihrer Zukunft wird der Begriff der Form selbst in gewisser Weise gesprengt. Da man zwischen Formendem, Form und Geformten nicht mehr deutlich unterscheiden kann, tritt die Frage danach, wie Form überhaupt entsteht, ins Zentrum. Benjamin hält für das barocke Trauerspiel den Begriff des mittelalterlichen Mysteriendramas aufrecht, allerdings revidiert er den Begriff des Mysteriums: im Zuge der Säkularisierung fällt das Mysterium aus dem Rahmen einer religiösen Ordnung heraus. Gebannt aber blieben und ohne Ausblick in reichen Apparates auf potheosen beschränkt. ma. 3 9

diese Versuche von vornherein in eine strenge Immanenz das Jenseits der Mysterien, in der Entfaltung ihres gewiß die Darstellung von Geistererscheinungen und HerrscheraIn dieser Beklemmung erwuchs das deutsche Barockdra-

Indem die Sprache nicht auf eine außer durch die Konkretisierungsbedingungen der Bühne gegebene, zum Beispiel religiöse Ordnung bezogen ist, bleibt sie auf ihre theatralische Darstellungsfunktion beschränkt. Da sie nicht mehr nur vorgegebene ideologische Zusammenhänge wiedergibt, kann sie viel eher

38 39

Benjamin: I.l, S. 292. Ebd., S. 259.

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Kapitell

nach eigenen immanenten Gesetzen operieren. Benjamin spricht von dem Trauerspiel sogar als "Stätte der eigentlichen Empfängnis des Wortes und der Rede in der Kunst."40 Nur die Kunst bietet die Möglichkeit für die Selbstdarstellung des Sprachlichen. Dadurch grenzt Benjamin seine Dramentheorie von klassischen Theorien ab, die Tragödie und Trauerspiel zusammenfassend als Ausdruck ethischer Probleme beschreiben, und lenkt ihre Konzentration auf das Wort selbst und die Dramatik seiner Struktur als Gegenstand des dramatischen Spiels. Denn als Trauer- oder Widerspiel findet das Spiel im Sprachlichen selbst statt: "Geisterhaftes und Fürchterliches" geschieht nicht außerhalb des sprachlichen Geschehens, zum Beispiel als geschichtliches Ereignis oder "dämonisches Schicksal", das - wie in der Tragödie - die Sprache nicht einmal berührt41, sondern ist immer schon in ihr und durch sie präsent. Hamlets Schweigen zum Beispiel entlarvt "das Wort der Weisheit als trügerisch". Der Rest ist Schweigen. Denn alles nicht Gelebte verfällt unrettbar in diesem Räume, in dem das Wort der Weisheit nur trügerisch geistert. 42

Indem der "Geist" des Wortes "geistert", und zwar "trügerisch geistert", ist ihm jede fixierende semantische Funktion entzogen. In unterschiedlichen Kontexten spielt Benjamin immer wieder auf die Konnotationen des Wortes "Geist" Geistererscheinung, Geisterbild, Geisterwelt - an und assoziiert das "Geistern des Wortes" im Trauerspiel mit den Szenen, in denen Geister- und Gespenster erscheinen wie zum Beispiel in Gryphius' Cardenio und Celinde. Indem das Sprachgeschehen sich in ihnen selbst als Geisterspiel präsentiert und Worte nicht nur gesprochen, sondern auch visuell als Bühnenfiguren, Visionen und Phantasmagorien vorgestellt werden, die nach jeder Aufführung immer wieder wie "Geister" und Gespenster ins Dunkel versinken, konkretisiert es im wörtlichen Sinn seine performative Funktion. Denn es verschiebt die ihm eigene Sprache, seine Schriftlichkeit beziehungsweise Klanglichkeit in visuelle Theatralik, in deren Rahmen sich dann sein Trug-Spiel als Spiel zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Bildlichkeit und Bildlosigkeit, fortsetzt. Benjamin beobachtet, daß die Handlungen barocker Trauerspiele sich gerade um die mitternächtliche Geisterstunde, in der Zeit, in der "je und je das gleiche Geisterbild" 43 erscheint, ereignen. Die Nacht spielt, wie aus Traumerscheinungen und aus Gespensterwirken zu entnehmen, eine große Rolle [...] Die Bindung des dramatischen Geschehens an die Nacht und insbesondere an die Mitternacht hat ihren guten Grund [...] Der Tages-

40 41 42 43

Benjamin: II. 1,S. 140. Benjamin: 1.1, S. 287,314. Ebd., S. 335. Ebd., S. 314.

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zeit, wie jede tragische Verhandlung sie erfordert, tritt jene Geisterstunde in den Trauerspielen gegenüber.44 In der "Geisterstunde" werden die Wort-Geister Bild und Figur. Ihre Visualisierung für die Bühne findet im Dunkel statt, das gerade diesen Prozeß verbirgt und sich zwischen bereits gesprochene, visuell als Bild, dramatische Figur oder szenische Handlung ("Gespensterwirken") erscheinende Worte schiebt. Die Rätselhaftigkeit dieses Dunkels, an dem jeder sprachliche Prozeß mehr oder weniger bewußt teilnimmt, wird in den Gespensterszenen selbst noch einmal dargestellt, wenn in ihnen "die geschichtslose Geisterwelt"45 in das szenische Etablissement eindringt. Da den Trauerspielworten selbst GespensterEigenschaften, nämlich die Möglichkeit zwischen Erscheinen und Verschwinden, Sichtbar und Unsichtbar-Werden, nach eigenem Rhythmus hin- und herzugehen, zukommen, wird in ihnen ein Transformations- oder Transgressionsprozeß veranlagt, der dem Dunkel immer wieder neue Bilder und Laute abjagt. Im Trauerspielbuch spricht Benjamin nicht nur von "Dunkel", sondern häufig auch von "Tiefen", "Klüften" und "Hochspannung": Diese Dichtung [des Barocks] war in der Tat unfähig, den derart ins bedeutende Schriftbild gebannten Tiefsinn im beseelten Laut zu entbinden 4 6 Die Kluft zwischen bedeutendem Schriftbild und berauschendem Sprachlaut nötigt, wie das gefestete Massiv der Wortbedeutung in ihr aufgerissen wird, den Blick in die Sprachtiefe.47 Schrift und Laut stehen in hochgespannter Polarität einander gegenüber48 Während frühere Schriften Benjamins in bezug auf die Tragödie in der Bedeutung noch eine metaphysisch autonome Instanz gegenüber dem Laut anerkennen, büßt die Bedeutung in bezug auf das Trauerspiel diese Relation ein. Nicht mehr findet das Widerspiel zwischen Laut und Bedeutung statt, sondern es verschiebt sich zum unlösbaren Konflikt zwischen Schriftbild und Sprachlaut, zwischen Visualität und Akustik der Sprache. Die topographischen Metaphern "Kluft" und "Tiefe" intensivieren das Dunkel, indem sie es in die bedrohliche Ferne des Abgrunds verlegen, der sich zwischen die verschiedenen SprachZeichen schiebt. Die Konzentration auf die sinnlich materiellen Aspekte der Sprache ermöglicht es, ihre allegorische Struktur auch fur das Theater geltend zu machen.

44 45 46 47 48

Ebd., S. 313f. Ebd., S. 314. Ebd., S. 376. Ebd. Ebd.

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Und wie im Wort manifestiert das Allegorische sich auch im Figuralen und im Szenischen. 4 9

Indem der Sprachbegriff so auf eine Vielfalt der Zeichen übertragen wird, auf Schrift, Laut, Bild, Szene, Figur, erweitert sich ihr jeweiliges Relationsgefuge, und es bleibt zu fragen, wie ein jedes Zeichen vom anderen unterschieden ist, ob und wie das eine das zur Sprache bringen kann, was dem anderen entgeht. Doch diese Frage stellt Benjamin so nicht, denn er bleibt auf die Funktion jeweils eines Zeichens konzentriert. Wohl räumt die hochfahrende Ostentation, mit welcher der banale Gegenstand aus der Tiefe der Allegorie hervorzustoßen scheint, bald seinem trostlosen Alltagsantlitz den Platz 5 0 Als Stückwerk aber starren aus dem allegorischen Gebild die Dinge. 5 1

Die sensationelle Präsentation trivialer und fragmentarer Dinge kann für Momente die ihnen außerhalb des Theaters zugehörende Unscheinbarkeit verzerren, denn der theatralische Kontext löst sie aus konventionellen semantischen Fixierungen. Wie im Vexierbild verwischen sich die Grenzen zwischen Bekanntem und Unbekanntem. Durch diese entfremdende Umfunktionalisierung des Bekannten entwirft das Theater eine Sprache, die sich - wenn auch nur für Momente - Entzifferungsversuchen des Zuschauers verweigert und ihn gerade mit der ambivalenten Doppelgesichtigkeit der Dinge konfrontiert. Ihr "starrendes Antlitz" nimmt dann selbst "geisterhaft fürchterliche" Züge an. Diese Petrifikation des dichterischen Wortes hat Benjamin verschiedentlich thematisiert. Anstatt wie Nietzsche sogleich von der "Geburt" des Wortes in der Tragödie zu sprechen - Nietzsche unterscheidet nicht zwischen Tragödie und Trauerpiel - , negiert Benjamin jegliche ungebrochene Schwangerschaftsund Geburtsmetaphorik für das Aufkommen des Wortes im Trauerspiel. Bilder organischen Wachstums fehlen. Als "Stätte der eigentlichen Empfängnis des Wortes und der Rede in der Kunst"52 liefert das Trauerspiel das Wort jedoch zugleich "dem Fegefeuer der Sprache"53 aus. Der Moment der SprachKonstitution verweist sofort an Leid und Qual einer vom Tod geprägten Existenz. Die "Empfängnis" eröffnet das "Fegefeuer", das das Wort nicht absolut vernichtet, sondern - nimmt man das Motiv des Feuers wörtlich - es auf seinen materialen Aschen-Rest hin, seine Zeichenhaftigkeit, reduziert. Es gehört zu

49 50 51 52 53

Ebd., S. 367. Ebd., S. 361. Ebd., S. 362. Benjamin: II. 1» S. 140. Ebd., S. 138.

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den Trümmern, Bruchstücken, Ruinen und Fragmenten, die die Bühne der Trauerspiele füllen. In seiner früheren, "literarisch facettierten"54 Schrift Metaphysik der Jugend55 wird der dichterische Text zur Todgeburt, "der dicke Asche bis zum Halse emporsteht". Das in der Schrift Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie (1916) nur angedeutete sexuelle Vokabular zur Darstellung der Sprachkonstitution hat Benjamin hier im Gespräch des dichtenden Genies mit einer Dirne sehr viel expliziter verwendet. In der Komplexität dieser symbolisierenden Szene kommen sprachtheoretische, sozialphilosophische und kulturkritische Überlegungen zusammen. Benjamin ist hier nicht an der Prostitution als einem moralischen oder sozialen Problem der wilhelminischen Gesellschaft interessiert. Im Gegenteil: Er idealisiert die Prostituierte als Figur, die die von der Kultur vorgegebenen Zwänge zu sprengen vermag. In einem Brief an Herbert Belmont kritisiert er die ausschließlich männlichen Konzeptionen der Geschlechterrollen, wenn er schreibt: "Wir erlebten noch keine Kultur der Frau."56 Mit dem Text Metaphysik der Jugend, den Benjamin im Kontext seiner Arbeit für die von Gustav Wyneken begründete Jugendkulturbewegung und deren Zeitschrift "Der Anfang" verfaßt hat, scheint sich Benjamin zugleich von dieser Bewegung zu distanzieren. Denn Benjamin versuchte nicht, diesen Text zu veröffentlichen. Er ließ ihn unter seinen Freunden zirkulieren, um dadurch in die nach seinem Geschmack ein wenig erstarrten philosophischen Diskussionen neuen Wind zu bringen. In einem Brief an Carla Seligson schreibt er: Aber für viele wird eben auch Wyneken, auch der Sprechsaal, eine "Bewegung " sein, sie werden sich festgelegt haben, und den Geist nicht mehr sehen, w o er noch freier, abstrakter erscheint. 5 7

Mit diesem Wunsch nach spiritueller Unabhängigkeit traf er auf viel Unverständnis. Besonders sein Freund Belmore war nicht bereit, mit ihm über die Ideen zur Prostitution zu diskutieren. Benjamin vermied dann dieses Thema in seinen Briefen und entschied sich bald, nicht mehr für "Der Anfang" zu schreiben.58 Für den vorliegenden Zusammenhang ist vor allem der sprachphilosophische Aspekt dieser Überlegungen Benjamins von Bedeutung. 54 55 56

57 58

Vgl. Benjamin: II.3, S. 919. Anmerkungen der Herausgeber. Benjamin: II.l.S. 91-104. Benjamin, Walter: Briefe I. Hrsg. v. Gershom Scholem, Theodor W. Adorno. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S. 65. Ebd., S. 93. Für genauere Informationen zum biographischen Kontext vgl. Wolin, Richard: Walter Benjamin. An Aesthetic of Redemption. Berkeley/Los Angeles/London: California UP 1994, S. 4ff. Witte, Bernd: Geschichtsphilosophische Kritik als Ersatz gesellschaftlicher Praxis. Benjamin und die Jugendbewegung. In: Walter Benjamin. Der Intellektuelle als Kritiker. Stuttgart: Metzler 1976, S. 15ff. Laqueur, Walter Z.: Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie. Köln: Wissenschaft und Politik, 1962.

22

Kapitel /

Der Umgang des Dichters mit der Sprache wird - allen idealistischen Genievorstellungen entgegen - als Beischlaf und daraus resultierender Todgeburt thematisiert. Das "Genie" vergleicht die von ihm aufgesuchte "Dirne" mit seiner Mutter, die "tote Gedichte" geboren hat. Darauf nennt sich die DirneMutter selbst, wenn sie mit ihm "schläft", "die Todesmutigste", denn sie weiß, daß das Dichter-Genie den Tod in sich trägt. DIE DIRNE:

S o klagen alle, die bei mir schlafen. Wenn sie mit mir in ihr Leben blicken, scheint es ihnen w i e dicke A s c h e bis zum Halse emporzustehen. Niemand hat sie gezeugt und zu mir kommen sie, um nicht zu zeugen. DAS GENIE:

A l l e Frauen, zu denen ich komme, sind w i e du. Sie haben mich tot geboren und wollen von mir Totes empfangen. D I E DIRNE:

Aber ich bin die Todesmutigste. (Sie gehen schlafen.) 5 9

Es ist die Prostituierte, die die Todverfallenheit ihrer Kunden nachweisen kann, denn als Randfigur der Gesellschaft bietet sie ihnen die Möglichkeit, sich von ihrer Alltäglichkeit zu distanzieren. Durch die Versachlichung des Intimsten zu der als Ware gehandelten Sexualität hat die Prostituierte privates Gefühl, privaten Willen und Geist aufgegeben; sie ignoriert die Werte, an denen ihre Kunden festhalten und erstarren. Eine radikale Umwertung bourgeoiser Werte fordernd, stilisiert Benjamin die Prostituierte zur Figur der Menschlichkeit. Er schreibt an einen Freund: "Entweder sind alle Menschen Prostituierte oder keiner." 60 Doch weit von diesem Ideal entfernt, konfrontiert und vereinigt er in dem vorliegenden Dialog Dichter und Dirne, Typen des kulturell Erhabenen und Dekadenten. Nur die Ekstase des Beischlafs entlarvt Impotenz und Todverfallenheit des Dichters und seiner Dichtung. In Analogie zum sexuellen Akt erweist sich das Dichten als Lust am Toten. In dieser Satirisierung bourgeoiser Genieästhetik und ihrer Schöpfer- und Schöpfungsideen ist "das Genie" gerade aus der Schöpfung von Genialem als Lebendigem ausgeschlossen. Der Beischlaf schiebt sich zwischen die Geburt des einen und des anderen Gedichts, setzt sich gegen den Tod durch und markiert den Moment, der jeder Dichtung, jeder Geburt von Totem, jedem Erstarrungsprozeß vorausgeht. Nur dieser ekstatische Moment zerrt den Dichtenden aus seinen festgefahrenen Strukturen, ohne daß dieser Moment selbst direkt sprachlich darstellbar wäre. Er ist der Szene entzogen. Im Text heißt es: "Sie gehen schlafen." Dieser Rückzug aus dem szenischen Etablissement weist auf die Grenzen sprachlich szeni-

59 60

Ebd., S. 94. Ebd., S. 67.

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scher Kompetenz. Nur von außerhalb dieser Grenzen erfährt der Lebende den Bann des Todes über sein Leben und seine Dichtung. Benjamin markiert diese Position nicht als inter- oder intrasprachliches Zwischen, sondern verlegt sie radikal ins Außerhalb jeglicher Sprachrealität, ins Schweigen und in den "Schlaf. Vor dem Hintergrund der Reihe bildlicher Modifikationen, die in Benjamins früheren Schriften von der Sprache als "Empfängnis" und "Fegefeuer" sprechen und sie im "Dunkel", "Schlaf' und "Beischlaf", in der "Nacht", "Kluft" und "Tiefe" entstehen lassen, wird deutlich, daß religiöse Konnotationen des konventionellen Mysterienbegriffes radikal eliminiert werden. Trotzdem charakterisiert Benjamin das Trauerspiel und seine Sprache als "Form des Mysteriums". Wenn er auch das Sprachgeschehen in keiner Weise auf seine eigene Immanenz beschränkt, so zeigt er doch, wie es in rätselhaft Geheimnisvollem wurzelt, dem prinzipiell keine kulturell sanktionierte Lehre oder Initiationstechnik beikommen kann. Die antike Tragödie kennt den Einbruch eines solchen sprachlichen Änigmas nicht. Benjamin lokalisiert den Umbruch im Verhältnis der sprachlichen Strukturen zueinander, die Differenz zwischen dem unendlichen Widerspiel sprachlicher Strukturen im Trauerspiel und dem geschlossenen Sprachsystem der Tragödie, in der Figur des Sokrates, dessen Sprachverhalten er von dem der Helden in der antiken Tragödie unterscheidet. Sokrates thematisiert den Tod: wenn er sterben soll, postuliert er Unsterblichkeit und setzt auf dieses sprachliche Postulat gegenüber seiner leiblichen Vergänglichkeit. Im Gegensatz dazu versucht der "antike Held" im tragischen Ernstfall nicht, sich sprachlich gegen die Gesetze seiner Physis durchzusetzen, er schweigt. Aus der Destruktion der Tragödie durch das Sokratische leitet Benjamin die Evolution des Trauerspiels ab: Aus dem Sokratesdrama ist das Agonale herausgebrochen [...] und mit einem Schlage hat der Tod des Heros sich in das Sterben eines Märtyrers verwandelt. 61

Mit dem "Phänomen des Agonalen" hat Benjamin zuvor, Franz Rosenzweig zitierend, Stummheit und Schweigen assoziiert. Dies Schweigen übernimmt eine andere Funktion als zum Beispiel das Schweigen Hamlets im Trauerspiel. Der tragische Held hat nur eine Sprache, die ihm vollkommen entspricht: eben das Schweigen. So ist es von Anfang an. Das Tragische hat sich gerade deshalb die Kunstform des Dramas geschaffen, um das Schweigen darstellen zu können 62

61 62

Benjamin: 1.1, S. 292-293. Ebd., S. 286f. und Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung. Frankfurt a.M: Suhrkamp 1988, S. 83.

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Kapitel 1

Während der antike "Heros" über den Tod schweigt, akzeptiert Sokrates ihn nicht schweigend, doch kämpft er auch nicht gegen sein Todesurteil. Er distanziert sich von ihm, indem er Unsterblichkeit postuliert und so die sprachliche vor der physischen Existenz privilegiert. In bezug auf die Sprache spricht Benjamin von der "Lebenskraft der Rolle" im Trauerspiel, die ungemindert in der Geisterwelt auflebt.63 Diese im Trauerspiel geisternden Worte werden unabhängig von den Trauerspielfiguren, deren Tod dem Weitergeistern ihrer Worte nicht entgegensteht: das zur visuellen Bühnenfigur gewordene Wort liefert sich seiner Bildhaftigkeit nicht schweigend aus. Wenn die Tragödie mit Entscheidung - sei's auch der ungewissesten - sich endet, so liegt im Wesen des Trauerspiels, und seines Todes zumal, ein Appell, wie ihn denn Märtyrer auch formulieren. 64

Da, wo in der Tragödie der "antike Held" stirbt, da reicht das Trauerspiel noch über sich hinaus. Benjamin vergleicht das Spiel als ganzes mit der Rolle einer seiner eigenen Figuren; doch während der Märtyrer an eine zuvor entworfene eschatologische Ordnung appelliert, fehlt eine solche dem Trauerspiel. Durch die ihm inhärente appellative Struktur provoziert es seine eigene Fortsetzung. Gegen jedes inhaltlich vorgegebene Ende setzt sich das nicht begrenzbare 'Widerspiel zwischen Laut und Bild' durch, indem es nach immer neuen Variationen drängt. Da "die Wiederaufnahme im Trauerspiel angelegt ist", 65 wird jedes inhaltliche Ende selbst wieder nur als Täuschung entlarvt. Während in der antiken Tragödie in bezug auf den Tod letztlich die Stummheit der Figuren dominiert, setzt sich im Trauerspiel das Sprechen dieser Stummheit entgegen. Dadurch verläuft es doppelschichtig und setzt die Sprache des Akustischen gegen die des Visuell-Szenischen. In der Diskussion über den griechischen Agon zeigt Benjamin, wie es durch die unterschiedliche Adaptation des Sprachlichen zur Trennung von Trauerspiel und Tragödie kommt. Er fragt, welchen Status das Sprechen gegenüber dem tragischen Schweigen einnimmt, und er arbeitet die wechselseitigen Abhängigkeiten und Beziehungen zwischen Leiblichkeit und Sprachlichkeit heraus, wie sie den Übergang von einer dramatischen Form zur anderen bestimmen. Gerade an ihnen macht er die Kriterien einer philosophischen Literaturkritik fest, die klassische Dramentheorien aus dem Wege räumt. Benjamins Reflexion über den griechischen Agon knüpft an seinen Briefwechsel mit Florens Christian Rang an, dem einzelne Gedanken und auch Formulierungen entlehnt sind. Von dem Wort 'Prot-agonist' ausgehend, fragt Benjamin am 20. Januar 1924 bei seinem Freund, der sich als einziger seiner Freunde mit antiken

63 64 65

Benjamin: 1.1, S. 314. Ebd., S. 315. Ebd., S. 316.

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Tragödien näher beschäftigte 66 , an, "welche Belege für eine Herleitung der Tragödie aus dem Agon außer dem Worte Protagonist sich angeben ließen?" 67 Rang erläutert den Begriff 'Agon' als einen attischen Rechtsbegriff. Und zwar geht es im Agon nicht nur um ein positives, buchstäblich festgelegtes Recht, das argumentativ erstritten werden kann, sondern auch um ein älteres mythisches Recht, um das Ordal', das sich in dem Ausgang von Wettkämpfen, seien sie sportlicher oder auch geistiger Art, zeigt. Der Tagebuchartikel, den Rang Benjamin zuschickt, setzt mit dem Satz ein: Agon kommt vom Totenopfer. Der zu Opfernde darf entlaufen, wenn er schnell genug 6 8 Nach Rang entscheidet der Agon, eine Szene der "regulären Verzirkelung", "der Ordentlichkeit", "der unterdrückten Menschlichkeit", "der Waffen" und "der gebundenen Wortformeln" über Leben und Tod. Nur der schnellste Lauf oder die lebendigste Rede kann sich gegen ihn durchsetzen. Findet der Wettstreit als rhetorischer Kampf statt, dann hängt die Befreiung des Helden nicht von der logisch argumentativen, sondern von der "Überzeugungskraft der lebendigen Rede ab" 69 . Rang spricht mit dem Vokabular Nietzsches, das dann auch Benjamin übernimmt, von "dem trunkenen ekstatischen Wort, das die Verzirkelung des Agons durchbricht" 70 . Mit der Gleichsetzung von "Wettreden" und "Wettlaufen" 71 zitiert Benjamin Rangs Agon-Vorstellung, doch konzentriert er sie auf die sprachlichen Prozesse, die den Kampf lenken. Das Agonale äußert sich entweder als "wortlos" und "stumm" oder als "Entfaltung der Rede" 72 . Notwendigkeit, wie sie im Rahmen festgelegt erscheint, ist nicht kausale noch auch magische. Es ist die sprachlose des Trotzes, in welchem das Selbst seine Äußerungen zutage fördert. Wie Schnee vor dem Südwind würde sie unterm Hauche des Wortes dahinschmelzen. Aber eines ungekannten allein. Der heroische Trotz enthält, in sich verschlossen, dieses ungekannte73. Für athenisches Recht ist das Wichtige und Charakteristische der dionysische Durchschlag, daß nämlich das trunkene, ekstatische Wort die reguläre Verzirkelung des Agon durchbrechen durfte [...] Das Wort des Helden, wo es vereinzelt den starren Panzer des Selbst durchbricht, wird zum Schrei der Empörung.74 66

67 68 69 70 71 72 73 74

"Und fllr die Frage des griechischen Theaters bin und bleibe ich auf dich allein angewiesen". Benjamin: Briefe I, S. 335. Ebd., S. 332. Ebd., S. 333. Ebd., S. 338. Ebd. Ebd., S. 333. Benjamin: 1.1, S. 292. Ebd., S. 294. Ebd., S. 295.

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Kapitel I

Die Konstitution des antiken "Helden" folgt einem Schema: "sprachlos", "verschlossen", "trotzig in sich vergraben", und gebunden in den "starren Panzer des Selbst" gehören ihm schon die Eigenschaften des Todes an, gegen die er sich kämpfend zur Wehr setzt.75 Benjamin verschiebt den Agon des Todes in den Helden: das Selbst, das sich in sich selbst vergräbt, gräbt im wörtlichen Sinn des Wortes sein eigenes Grab, denn es liefert sich allein den Bedingungen und zeitlichen Begrenzungen seiner physischen Präsenz aus. Wenn es sich überhaupt sprachlich äußert, dann im tragischen Pathos des vereinzelten "Empörungsschreis". Sonst erkennt der einzelne Kämpfer, "daß er besser ist als seine Götter, aber diese Erkenntnis verschlägt ihm die Sprache, sie bleibt dumpf'. 76 Der Erkennende bleibt im wörtlichen Sinne "unmündig", "sprachlos" und "stumm". Doch dadurch, daß er sich der Sprache entzieht, erfahrt sein Publikum das "Erhabene des sprachlichen Ausdrucks". I m A n g e s i c h t d e s leidenden Helden lernt die G e m e i n d e den e h r f u r c h t i g e n D a n k f ü r d a s W o r t , mit d e m dessen T o d sie begabte [...] D a s tragische S c h w e i g e n weit m e h r noch als das tragische Pathos w u r d e z u m Hort einer E r f a h r u n g v o m Erhabn e n d e s sprachlichen A u s d r u c k s [...] 7 7

Das sprachlose Leiden und der Tod der "verschlossenen" singulären Existenz "begabt" die Zuschauer mit Respekt vor dem Unausdrücklichen in der Sprache. Diese Erfahrimg des Erhabenen konstituiert eine politische und kultische Sprachgemeinschaft, von der der einzelne Kämpfer aber ausgeschlossen bleibt. Diese Trennung von Sprachkompetenz auf der einen und Inkompetenz auf der anderen Seite macht Sokrates zunichte. Er ergibt sich der Todesdrohung nicht sprachlos, sondern bringt sich in die Sprache ein, indem er den Tod als "Fremdes erkennt", ihn übergeht, an seine Stelle "Unsterblichkeit" setzt und dadurch eine Sprachgemeinschaft mit seinen Dialogpartnern begründet, die sich letztlich bis in ihre Vertextung durch Piaton fortsetzt.

75

76 77

Vgl. Variationen des gleichen Motivs im Trauerspielbuch (ebd., S. 292-297) und in Rosenzweig: Stern der Erlösung, S. 229-282. In den Abschnitten über die antike und moderne Tragödie führt Rosenzweig die Unterscheidung des antiken Helden von dem modernen ein, die dann von Benjamin weitergeführt wird. Den antiken Helden charakterisiert Rosenzeig als "trotzig in sich vergrabenes Selbst", als "marmorstumme Gestalt", als "Block", und "in sich versenkter Willenstrotz", den modernen dagegen als "ganz lebendig", "voll von unverhehlter Scheu vor dem offenen Grab", und als denjenigen, "der an allen Gliedern vor lauter Sterblichkeit zittert". In der Beziehung zum Tod unterscheiden sich die beiden Helden: der eine ist schon sein eigenes Grab, der andere existiert durch die Distanz zu seiner Sterblichkeit. Benjamin: 1.1, S. 288. Ebd.

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Sokrates sieht dem Tode ins Auge wie ein Sterblicher [...] aber er erkennt ihn als ein Fremdes, jenseits dessen, in der Unsterblichkeit, er sich wiederzufinden erwartet. 78 Benjamin bezieht sich hier vor allem auf den Dialog Phaidon. Nur im Rahmen des dialogischen Diskurses kann Sokrates physische Gesetze ignorieren und von ihnen abstrahieren. Durch Negation der Sterblichkeit eröffnet er eine Erwartungsperspektive, die ohne äußere Referenten ausschließlich der Setzungsmacht der Sprache aufruht. Er bringt sich dadurch in die Sprache ein, daß er sich seiner eigenen Tragik wie der eines anderen als Zuschauer gegenüberstellt. Durch diese Distanzierung gegenüber dem Tod übernimmt er den Platz der Gemeinde und lernt die Sprache sprechen, von der sonst der "Heros" ausgeschlossen bleibt. Doch ist das dann noch dieselbe "erhabene" Sprache, die vorher die Gemeinde gesprochen hat? Sokrates wächst in seiner Lebenszeit nicht nur das Wort, sogar die Schar der Jünger, seiner jugendlichen Sprecher zu. 79 Da seine Sprache von jugendlichen Sprechern weitergesprochen wird, bleibt seine Präsenz als sprachliche gewährleistet. Nur durch die Etablierung dieser Sprache, die vorgegebene Sprachkonventionen sprengt, kann Sokrates für sich Unsterblichkeit beanspruchen. Ob ihr allerdings außersprachliche Referentialität zukommt, bleibt ungewiß. Sokrates integriert gerade diese Ungewißheit in sein Sprechen. In dem früheren Text Sokratesso, der sich vor allem auf das Symposion bezieht, polemisiert Benjamin gegen die Sokrates-Figur mit äußerster Schärfe. Einzelne seiner Formulierungen legen es nahe, Sokrates mit der Prostituierten in Die Metaphysik der Jugend zu vergleichen. Sokrates hat die Beziehung zum Erhabenen der Sprache verloren. Als "Kastrat", "Faun" und "Nicht-Menschlicher" unterliegt er der "Menschlichkeit" der Prostituierten, die sexuelle Kontakte pflegt, während Sokrates solche Momente des Schweigens systematisch umgeht und unbeirrt seine homoerotische Dialogie mit dem platonischen Kreis fortsetzt. Wie die Dichtungen des "Genius" bringen seine "Erektionen des Wissens" nur Totes hervor. Den Kampfplatz des Agons verlegt Benjamin also in das sprachliche Geschehen, an dem er dann Kriterien einer philosophischen Literaturkritik festmacht, die klassische Dramentheorien aus dem Wege räumt. Der antike Held vertraut sich der Sprache erst gar nicht an, sein Erkennen "verschlägt" ihm die Sprache; Sokrates hat ihre Autonomie gegenüber der Abgründigkeit von Tod, sexueller Ekstase und Schweigen beschworen; Hamlet beobachtet und erkennt das an 78 79 80

Ebd., S. 2 9 3 . Ebd. B e n j a m i n : I I . l . S . 131.

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Kapitel 1

ihre Autonomie gebundene trügerische Spiel, das jede Referentialität in Frage zieht und dadurch auch jedes Weisheitswort81, wie zum Beispiel das Wort "Unsterblichkeit", selbst als Maske entlarvt, von der man gerade nicht weiß, was sich hinter ihr verbirgt. Insofern erweist sich das trügerische Spiel der Sprache als die andere Seite ihrer Erhabenheit. Nur die Perspektive des Erhabenen eröffnet auch den Blick für das Trügerische. Diese spielerische Scheinhaftigkeit der Worte kann Hamlet erst aus der Distanz gegenüber den Sprechern und dem Gesprochenen wahrnehmen. Sein Schweigen ist nicht die Sprachlosigkeit des antiken Helden, sondern ist Ausdruck der Trauer, durch die allein er das trügerische Spiel der Worte wahrnimmt. Doch von welcher Position aus weiß die Trauer um diese Ambiguität der Sprache? Frühe Texte zu "Trauerspiel und Tragödie"82 erläutern die Trauer als das Medium, das die Perspektive auf die metaphysische Herkunft der Sprache noch offen hält. Der Trauerspiel-Sprache ist das Klagen über die Beschränkungen des Sprechens strukturell eingeschrieben, sie kann nicht anders, als ihre eigenen Bedingungen darzustellen und dadurch in immer neuen Variationen auf ihre Geschichte und deren Zentrum im Unsagbaren zu rekurrieren. Mit Bezug auf kabbalistische Ursprungstheorien und Nietzsches Tragödientheorie unterlegt Benjamin der Trauerspielsprache eine Geschichte der Entfremdung. Als Relikt innersprachlicher Beziehungen ist sie von einer metaphysisch "reinen Sprache" abgetrennt. Nur trauernd und klagend weiß das Entfremdete, wovon es entfremdet ist.83 Benjamin spricht von dem Wort als dem Laut, der das Trauerspiel, seine Sprache, Dramatik und Figurenkonstellation in Szene setzt. Es legt sich der Laut im Trauerspiel symphonisch auseinander, und dies ist zugleich das musikalische Prinzip seiner Sprache und das dramatische seiner Entzweiung und seiner Spaltung in Personen.® 4

Der Laut spaltet sich in ein musikalisches und dramatisches Prinzip. Während Nietzsche, dessen Vokabular hier ständig mitschwingt, Sprache und Dichtung

81 82 83

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Benjamin: I . l . S . 335. Benjamin: II. 1, S. 133-140. Die Geschichte der Sprache erläutert Benjamin in seiner Lektüre der ersten Genesiskapitel als eine triadische: die adamitische Namengebung begründet die menschliche Sprache, die durch Medialisierung und Abstrahierung zersplittert wieder der Restitution bedarf. Jegliche Geschichte basiert letztlich auf der Sprachgeschichte (vgl. Kaulen, Heinrich: Rettung und Destruktion. Tübingen: Max Niemeyer 1987, S. 46). Benjamins Sprachtheorie, die seiner Dramentheorie zugrundeliegt, weist Parallelen zu mystischen und kabbalistischen Traditionen auf, wie sie in der vorliegenden Arbeit im Kapitel über Jakob Böhmes Sprachtheorie genauer ausgeführt werden (vgl. Wolin, Richard: Walter Benjamin. An Aesthetic of Redemption. Berkeley/Los Angeles/London: California UP 1994, S. 37ff.). Benjamin: II. 1,S. 138.

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als scheiternde "Nachahmung der Musik"85 von der Musik selbst trennt, verankert Benjamin das Musikalische im Bereich des Sprachlichen. Benjamins Sprachbegriff ist daher sehr viel komplexer. Nach Nietzsche scheitert der Versuch der "Nachahmung" an der Inkompetenz der Sprachzeichen, den "tiefsten Sinn" der Musik zu erfassen. Dadurch etabliert sich die Sprache als isoliertes, autonomes System, das das Musische gerade nicht einholt. Obwohl Benjamin in seinen zum Trauerspielbuch hinfuhrenden Schriften die Unterscheidung zwischen Musik und Sprache von Nietzsche übernimmt, lokalisiert er das Unterschiedene doch im allgemein Sprachlichen. Nicht erst das Theaterstück - wie bei Nietzsche die antike dionysische Tragödie in der Tradition des antiken Chores - bewirkt ein "übermächtiges Einheitsgefühl"86, sondern solch ein Gefühl ist im Wort, im Laut der metaphysischen Sprache immer schon selbst präsent. "Es gibt ein reines Gefühlsleben des Wortes ,.."87 Wenn dieses allerdings im Rahmen der menschlichen Sprache nach Ausdrucksmöglichkeiten sucht, dann geht ihm "plötzlich eine neue Welt, die Welt der Bedeutung auf." 88 Bedeutung erweist sich also nur als Randphänomen, das erst aus der Spaltung des Lautes in Personen hervorgeht und der Sprache nicht von vornherein mitgegeben ist. Benjamin spricht in den frühen Schriften noch von dem "Doppelsinn des Wortes"89 und läßt es an beiden Sprachsystemen teilnehmen, an dem spekulativ transzendenten, in dem Signifikant und Signifikat als "reiner Laut" noch ungespalten sind, und an dem anderen radikal immanenten, in dem Laut - Bild - Person gespalten sind.90 Im Trauerspielbuch fehlt die Spekulation auf die metaphysische Sprache in der Art, daß sie positivistisch in Begriffen wie "reine Sprache" adressiert wird. Benjamin verkehrt sogar die Logik früherer Aussagen: An die Stelle des "Reinen" tritt "Dunkles". Das "Widerspiel" der Zeichen, das in dem einen Zeichen den Verlust des anderen beklagt, verweist immer wieder nur auf das "Dunkel", die "Tiefe" und die "Kluft", aus denen sie hervorgehen und in die sie wiederum versinken. Es ist gerade dieses Dunkel, das sich selbst radikal gegen Versuche, es zu entmachten oder zu ignorieren, zur Wehr setzt. Es behauptet sich in einem höchst theatralischen Kampf, den die allegorische Sprache gegen die symbolische führt. 85

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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. In: Werke I. Hrsg. v. Karl Schlechta. Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein 1984, S. 44. (hinfort zitiert: Nietzsche: Geburt der Tragödie). Ebd., S. 47. Benjamin: 11.1, S. 138. Ebd., S. 139. Ebd., S. 138. Insofern wird sprachlichen Strukturelementen Sprachgeschichtliches unterlegt. Winfried Menninghaus beschreibt "Form und Inhalt des Trauerspielbuches als spezifische Version eines praktizierten Strukturalismus." Vgl. Menninghaus, Winfried: "Der praktizierte 'Strukturalismus' des Trauerspielbuches." In: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie. Frankfurt a.M: Suhrkamp 1980, S. 127-134.

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Kapitel 1

Wo das Symbol den Menschen in sich zieht, schießt aus dem Seinsgrund Allegorisches der Intention auf ihrem Weg hinab entgegen und schlägt sie dergestalt vors Haupt.91 Nur der immer neue Mord an Intentionen, die das Sprachsystem zu einer harmonischen Ganzheit schließen wollen, hält den Blick auf das Dunkel offen. Das Trauerspiel ist der jeweilige Kampfplatz, auf dem die einander entferntesten sprachlichen Pole, die Intentionen symbolischen und allegorischen Sprechens, aufeinander treffen. Benjamin illustriert diese sprachtheoretischen Überlegungen zum Beispiel an der Figur des Intriganten im Trauerspiel. Denn es ist der Intrigant, der sich gerade diesen innersprachlichen Konflikt zunutze macht, wenn er alle festgelegten Ordnungen, Strukturen und Konzepte der anderen Figuren verwirrt, mit ihnen kalkulierend spielt und dadurch die Perspektive auf die Abgründigkeit und Täuschbarkeit einer jeden Handlung, auf den "Mutterboden traumhaft tiefer Erfahrungen" offenhält. [...] gerade der Figur des Intriganten dankt das so oft auf Stelzen schreitende Trauerspiel die Berührung mit dem Mutterboden traumhaft tiefer Erfahrungen.92 Mit der Unterscheidung von Trauerspiel und Tragödie modifiziert Benjamin Nietzsches Tragödientheorie. Während Nietzsche Hamlet zur Tragödienfigur stilisiert, sieht Benjamin in ihm eine Trauerspielfigur par excellence. Nach Nietzsche kompensiert Hamlet als "dionysischer Mensch" 93 seinen Ekel vor der Absurdität menschlicher Existenz durch Kunst, die im Griechischen zunächst der Satyrchor und später der Chor der Tragödie konkretisiert. Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, heilkundige Zauberin, die Kunst: sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben läßt [...] Der Satyrchor des Dithyrambus ist die rettende Tat der griechischen Kunst

Die Kunst greift in ein Geschehen außerhalb ihrer selbst ein, "biegt es um", "rettet" und bewertet es. Die Tragödie stellt erst den Kontext für dieses eigenwillige Eingreifen der Sprache her. Insofern wirkt die Kunst harmonisierend, sie arrangiert eine kathartisch "heilende" Ordnung da, wo sie zerstört ist. Im Gegensatz dazu betont Benjamin Hamlets Schweigen, das sich der Wortsprache entzieht und ihre Weisheit als Trug entlarvt. Es "rettet" nicht, zieht keine Katharsis nach sich, sondern zeigt die allegorische Gebrochenheit der Sprache. Gerade diese allegorische Struktur des Trauerspiels unterscheidet es

91 92 93 94

Benjamin: 1.1, S. 359. Ebd., S.305f. Nietzsche: Geburt der Tragödie, S. 48. Ebd., S. 49.

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von Nietzsches Ideal einer kathartischen Tragödie, die die ursprüngliche Einheit wiederherzustellen trachtet und "den Bann der Individuation zu zerbrechen" sucht.95 Das Trauerspiel, so wie Benjamin es beschreibt, versucht nicht den Riß der Sprache noch einmal zu "zerbrechen", um ihn dadurch wieder zu reparieren, sondern es akzeptiert die Fragmentierung der Sprache und stellt gerade diese in immer neuen Variationen dar. Mit ihrer Lektüre der Texte Nietzsches weist Carol Jacobs 96 über den Ästhetizismus hinaus, den Benjamin noch an Nietzsches Tragödientheorie beklagt.97 Dadurch knüpft sie Nietzsches Sprachtheorie näher an die Benjamins an, als dieser es je vermuten konnte. Sie weist darauf hin, daß Nietzsche von dem t/rwiderspruch zwischen dem Musischen und Sprachlichen als dem "Urschmerz im Herzen des Ur-einen"98 und dem daraus hervorgehenden Chor als t/rdrama spricht.99 Die Formen der Logik reichen nicht hin, die Beziehung dieser beiden ästhetischen Prinzipien zu begreifen. Carol Jacobs macht dies durch ihre Lektüre der der Geburt der Tragödie vorhergehenden Fragmente ganz deutlich, wenn sie die logisch objektive Struktur in Nietzsches Text als Maskierung entlarvt: we know, however, that any knowledge of these [the two aesthetic drives] is out of question - from the very beginning. [...] Nietzsche assumes the mask of objectivity, and we, the reader, must play the role of the philosopher. 1 0 0

Leiden wird zum Paradigma dieser beiden "Prinzipien", die sich letztlich nur als Mythos des Leidens, für den nach Nietzsche in der griechischen Tradition Dionysos, Ödipus und Prometheus und in der jüdisch-christlichen Adam und Eva einstehen, artikulieren. In Carol Jacobs' Text dominiert das Vokabular äußerst vitaler Geburtskrämpfe, wenn sie, Nietzsches Wortwahl aufnehmend, die Momente der "Geburt der Tragödie", die sich jeder Kenntnis entziehen, als "convulsion", "birth spasm", "fruitful birth pangs", "originary pain" offenlegt. Von der Spannung zwischen dem Dionysischen und Apollinischen kann nur als von mythischem Schmerz und Leid gesprochen werden.

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Ebd., S. 62. Jacobs, Carol: Nietzsche. The Stammering Text: The Fragmentary Studies Preliminary to The birth of Tragedy. In: Dies.: The Dissimulating Harmony. Baltimore, London: The Johns Hopkins UP 1978, S. 1-22. (hinfort zitiert: Jacobs: Nietzsche). Vgl. Benjamin: II.l.S. 280-283. Nietzsche: Geburt der Tragödie, S. 43f. Die Kursivsetzung der Silbe Ur soll auf Konnotationen der Silbe aufmerksam machen, die auffällige Parallelen zu Nellv Sachs' Text aufweisen. In Nelly Sachs' Szene Abram im Salz ist es Abram, der in Ur lebt. Der geographische Name bezeichnet dort auch die Stadt, von der Abram nicht nur auszieht, sondern in der er in einer neuen Sprache Heimat sucht. Diese Sprache bedeutet für ihn auch Urdrama, Urschmerz, Urwiderspruch. Jacobs: Nietzsche, S. 16.

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Kapitel / A s w e traced the trajectory o f the birth o f tragedy out o f music, w e often simply identified the term "myth" with the metaphorical. It is not such a simple matter. For in the tenth fragment w e found that the reversed trajectory, the trajectory o f interpreting the image through music, also brings us to the myth. One arrives at the myth whether starting at one point o f departure or the other, and in the myth the unending reversal o f both orientations takes place. 1 0 1

Wohin sich auch immer die "Interpretation" wendet, sie kann doch mythischem Leid, Ur-Leid, das ihr, jedem Wort, jeder Tragödie innewohnt, nicht entfliehen. 102 Diesen Überlegungen entsprechend wurzelt Nietzsches Theorie der Tragödie und des Chores also in einer Theorie der Sprache, die eine unüberbrückbare Kluft des Leidens zwischen der Sprache und ihrer Voraussetzung in der Musik aufdeckt. Das Ur-Drama und die Chöre, die es realisieren, gehen aus der Suche nach der t/r-Sprache hervor, einer Suche, die selbst immer nur als mythisches Ur-Leid präsent sein kann. Das agonistische, linguistische und theatralische Zwischen, das Benjamin bildlich als "Dunkel" und "Kluft" bezeichnet, identifiziert auch Samuel Weber als Wiederkehr einer mythischen Ambiguität 103 , die sich von Traditionen der Sage über die Tragödie bis in das Trauerspiel hineinverschiebt, um nun auch im christlichen Kontext ihre Stellung zu behaupten. Als die Instanz, die durch das jeweils neue Genre ausgemerzt werden sollte, beharrt sie und setzt sich unberührt von jeglichen Innovationen mit einer gewissen Eigendynamik gegen diese durch. Weber spricht, auf Kafka anspielend, von Verwandlungen, die eine bestimmte Form des Nicht-Seins in andere Formen verschieben und dadurch ständig den Mangel dieser Formen dokumentieren. Im Rahmen dieser Ambiguität allerdings arbeitet Benjamin, wie ich zu zeigen versucht habe, die besondere Eigenschaft dieser Verschiebungen heraus, die sich vor allem innerhalb der sprachlichen Ökonomie abspielt. Die Trauerspielsprache selbst wird zum agonalen Kampfplatz, auf dem sich der Kampf unendlich fortsetzt. Dieser zielt nicht nur darauf ab, den Sieger vom Besiegten zu unterscheiden, sondern richtet sich vielmehr auch darauf ein, die Unterlegenheit des Siegers nachzuweisen. Das Siegen wird besiegt, wie das Besiegt-Werden siegt. Insofern be-

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Ebd., S. 12. Carol Jacobs weicht mit dieser Terminologie von Paul de Man ab, der in seiner "Dekonstruktion der dionysischen Autorität" (De Man: Allegorien des Lesens, S. 140) die Relation zwischen dem Apollinischen und Dionysischen als Struktur einer blinden Metonymie offenlegt. Denn eine metaphorische Lektüre, die die Dionysos-Apollo-Relation als narratives Schema auf ein genealogisches übertrüge, würde gerade über die komplizierte, diese Relation konstituierende Reziprozität hinweggehen. (De Man, Paul: Genesis and genealogy. Allegories of Reading. New Haven and London: Yale UP 1979, S. 79102. Übersetzung: De Man, Paul: Genese und Genealogie. Allegorien des Lesens. Übers, von Wemer Hamacher und Peter Krumme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1988, S. 118-145). Samuel Weber: Genealogy of Modernity: History, Myth and Allegory in Benjamin's Origin of the German Mourning Play. In: MLN. 1991. Vol. 106. No.3, S. 497.

Sprache des Dramas - Drama der Sprache

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zeichnet dieser Kampf die paradoxale Dynamik, aus der der Sprachprozeß selbst hervorgeht und in der er begründet ist.

D.

Peter Szondi - Walter Benjamin - Nelly Sachs

Peter Szondis und Walter Benjamins Theorien des Dramas können strukturell miteinander verglichen werden, da die sprachtheoretischen Probleme, die sich aus Szondis Theorie des Dramas ergeben, bei Benjamin Zentrum der Überlegungen sind. Peter Szondis Konzept der "je und je geleisteten und wieder ihrerseits zerstörten Aufhebung der zwischenmenschlichen Dialektik" im Drama liegt ein nur schwer bestimmbares sprachliches "Zwischen" zugrunde, das von Walter Benjamin für unterschiedlichste dramatische Konstellationen immer wieder thematisiert wird. Dieses von beiden Autoren metaphorisch als "Kluft" angesprochene "Zwischen" markiert jeweils andersartig strukturierte Grenzbereiche, die die Sprache als Ausdrucksmedium von dem Sprecher oder Schreiber selbst distanzieren, die das Sprachzeichen von seiner Bedeutung abtrennen oder auch allgemein ein Zeichen beziehungsweise ein Sprachelement vom anderen isolieren. Doch diese Prozesse des Absonderns und Abteilens bewegen nicht nur kalkulierbare und systematisierbare Größen, vielmehr werden gerade diese Prozesse selbst wiederum von "Klüften" gespalten, deren jeweilige Dimensionen, seien sie subjektiver, sozialer, linguistischer, metaphysischer oder immanenter Art, jegliche Stabilität gefährden. Die Hauptfiguren in Nelly Sachs' Dramen suchen, sehnen sich oder jagen nach einer Sprache, die sich ihnen entzieht und von der sie getrennt sind. Auch wenn diese Sprache auf der Bühne fur kurze Zeit sichtbar oder hörbar wird, erweist sie sich doch als Instanz, die in keiner Weise er- oder begriffen werden kann. In dem endlos inszenierten Versuch, die Befremdung ihr gegenüber zu überwinden, stoßen die Figuren immer wieder auf Schwellen zwischen verschiedenen Sprachen, die sie nicht überwinden können. Da diese theatralischen Sprachen niemals koinzidieren, führt die Suche nach ihnen ständig in änigmatische Bereiche des theatralischen Zwischens. Themen und Motive - wie Stummheit, Schweigen und Tod - , die bereits von Walter Benjamin für das Trauerspiel als symptomatisch ausgewiesen worden sind, bestimmen so auch Nelly Sachs1 Szenen.104 Im wörtlichen Sinne der Worte 'dar- und vorstellen'105 konkretisie-

104

Einige der hier aufgeführten Überlegungen wurden 1995 in einem englischen Essay von mir vorgelegt. Vgl. Ostmeier, Dorothee: Approaches to a Theory o f Language: Walter Benjamin's Early Essays and Nelly Sachs's Dramatic Scenes. In: Jewish Writers, German Literature. The Uneasy Examples o f Nelly Sachs und Walter Benjamin. Hrsg. v. Bathi, Timothy, Sibley Fries, Marilyn. Ann Arbor: Michigan U P 1995, S. 121-138.

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Kapitel I

ren und präsentieren die Figuren auf der Bühne genau das "Suchen", "Jagen", "Sehnen" nach der Sprache, von dem sie auch sprechen. Durch ihre Abstraktheit und Selbstreferentialität distanzieren sich diese Szenen von realistischer und naturalistischer Dramatik und können eher als szenische Dichtung oder lyrische Dramen im Sinne Szondis bezeichnet werden.

Zu der epistemologischen und theatralischen Relevanz des Begriffs "Darstellung": Rainer Nägele: Theater, Theory, Speculation. Walter Benjamin and the Scenes of Modernity. Baltimore, London: Johns Hopkins UP 1991, S. XVff.

Kapitel II Nelly Sachs' Dramen: Inszenierungen der Sprache

A.

Einleitung

Nelly Sachs floh 1940 gemeinsam mit ihrer Mutter von Berlin nach Stockholm, nachdem sie im Mai 1940 beinahe gleichzeitig sowohl eine Einberufung zum Arbeitseinsatz wie auch eine Einreiseerlaubnis nach Schweden erhalten hatte, die von Selma Lagerlöf und Freunden in Deutschland, Schweden und Amerika erwirkt worden war. Trotz ihres kulturellen und sprachlichen Exils verfaßte sie ihre Dichtung weiterhin in Deutsch, obwohl sie auch Schwedisch lernte und schwedische Dichtung übersetzte.1 Nelly Sachs bestand seit ungefähr 1959 ausdrücklich darauf, daß nichts aus ihrer Berliner Zeit vor ihrem schwedischen Exil, also vor 1940, weder Biographisches, noch ungedruckte, teilweise von ihr selbst verbrannte Gedichte, noch die zwischen 1929 bis 1938 in verschiedenen Berliner Zeitungen und Zeitschriften erschienenen Gedichte, neu veröffentlicht werden sollten.2 Nur mit den Werken, die sie nach ihrer Flucht geschrieben hat, will sie ihren Namen verbunden sehen. In Briefen betont sie nachdrücklich: Meine Bücher enthalten alles, was vielleicht einer oder der andere wissen will über mein Leben. 3

Das Leben soll nur da begriffen werden, wo es die Grenzen der Subjektivität durchbricht und sich in Strukturen der Schriftsprache manifestiert. Nur als Text stellt es den Bezug der Dichterin zur Öffentlichkeit her. Doch auch diese Texte haben ihre Geschichte. Wir nach dem Martyrium unseres Volkes sind geschieden von allen früheren Aussagen durch eine tiefe Schlucht, nichts reicht mehr zu, kein Wort, kein Stab, kein

' Vollständige Bibliographie aller Übersetzungen vgl. Ruth Dinesen: "Obersetzungen aus dem Schwedischen von Nelly Sachs." In: Nelly Sachs. Eine Biographie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 370f. 2 Eine Einführung in das FrUhwerk der Dichterin, in der auch frühe Gedichte und Prosatexte neu veröffentlicht wurden, legte Ruth Dinesen 1987 vor. (Dinesen, Ruth: Und Leben hat immer wie Abschied geschmeckt. Stuttgart: Verlag Hans-Dieter Heinz 1987). 3 Briefe der Nelly Sachs. Hrsg. v. Ruth Dinesen und Helmut MUssener. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 217. (hinfort zitiert: Briefe der Nelly Sachs).

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Kapitel 11

T o n - ( s c h o n darum sind alle Vergleiche überholt) w a s tun, schrecklich arm w i e wir sind, wir müssen e s herausbringen, wir fahren z u w e i l e n über die Grenzen, verunglücken, aber wir w o l l e n j a dienen an Israel, wir w o l l e n d o c h keine schönen Gedichte nur m a c h e n . 4

Die "tiefe Schlucht", die durch das "Martyrium", das später von Nelly Sachs immer auch "das Schreckliche" genannt wurde, aufgerissen worden ist, trennt nicht nur Menschen, Tote und Lebende, den einen Emigranten vom anderen und nicht nur die Zeit vor und nach dem "Martyrium" voneinander, sondern auch die "früheren Aussagen" von den neu geforderten, für die die traditionellen Medien, "Wort" und "Ton", zu versagen scheinen. Der Intention des Schreibens, der Widmung an Israel, fugt sich die Sprache nicht problemlos, denn sie thematisiert das "Martyrium" nicht nur, sondern ist selbst dem ihr eigenen "Unglück" ausgeliefert. Diese an den sprachlichen Prozeß selbst gebundene Märtyrerfahrung tritt immer mehr in den Mittelpunkt von Nelly Sachs' Dichtung. Die Thematisierung des Exils evoziert also eine neue Sensibilität gegenüber den der Sprache inhärenten Gefahren. Ehrhard Bahrs hauptsächlich thematisch orientierte Periodisierung von Nelly Sachs' Lyrik widerspricht dieser Beobachtung nicht. In seinem Autorenbuch weist er nach, daß Nelly Sachs sich um 1949 von einer nationalistischen Israeldichtung distanziert und daß "Israel" für sie immer deutlicher zum religiösen Begriff wird, der 1957 in dem Gedichtband Und niemand weiß weiter zum letzten Mal auftaucht. Dieser Wandel des Israelverständnisses geht einher mit dem Einfluß der Kabbala auf Nelly Sachs' Werk seit 1950.5 Es sind gerade die kabbalistischen Texte, die die Aufmerksamkeit der Dichterin auf sprachliche Prozesse lenken und die Kontemplation über Sprachgrenzen weiter forcieren. Nelly Sachs verfaßte nicht nur Gedichte, sondern auch dramatische Szenen, die zum großen Teil 1962 im Sammelband Zeichen im Sand6 veröffentlicht wurden und bisher nur wenig Beachtung fanden.7 Ihre dramatische Arbeit beginnt 1940 4 5 6

7

Briefe der Nelly Sachs, S. 83f. Vgl. Bahr, Ehrhard: Nelly Sachs. München: Beck; edition text + kritik 1980, S. 106ff. Sachs, Nelly: Zeichen im Sand. Die szenischen Dichtungen der Nelly Sachs. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1962. (hinfort zitiert: Sachs: Zeichen im Sand). Zu den Szenen: 1. Bahr: Nelly Sachs (wie Anm. 5). Dieses Autorenbuch Bahrs gibt einen informationsreichen Überblick Uber Rezeptions- und Werkgeschichte von Nelly Sachs' Werk. Es führt mit außerordentlichen Quellen- und Faktenkenntnissen in die entscheidenden Fragen und Probleme der Dichtung ein, ohne diese allzu leichtfertig beantworten zu wollen. Bahr fordert: "Es ist Zeit, daß die Germanistik als Wissenschaft von der deutschen Sprache und Literatur ihre Verpflichtung gegenüber Nelly Sachs' Werk einlöst, indem sie sich gründliche Kenntnisse des Judentums und seiner Geistesgeschichte in Deutschland erwirbt und sie in Forschung und Lehre vermittelt, indem sie die Ansätze zu einer Nelly Sachs-'Forschung' aus den späten sechziger Jahren weiterführt und die Bedeutung ihres lyrischen und Spätwerks und ihrer szenischen Dichtungen kritisch erfaßt." Ebd., S. 24f.

Nelly Sachs' Dramen: Inszenierungen der Sprache

37

mit dem bisher unveröffentlichten märchenhaften Spiel von dem Zauberer Merlin und nimmt mit dem 1944/45 entstandenen konventionelleren Liturgie-8 und "Mysterienspiel" Eli. Ein Mysterienspiel vom Leiden Israel realistische und symbolische Züge an. Von den insgesamt 14 veröffentlichten Szenen zahlreiche unveröffentlichte wie auch fragmentarische Szenen liegen in den Nelly Sachs-Archiven in Dortmund und Stockholm vor - bespricht die vorliegende Arbeit die drei, die die paradoxe Suche der Figuren nach einer Sprache darstellen, die sich ihnen immer wieder entzieht. Auch wenn diese gesuchte Sprache - eine Sprache des Wortes, des Tanzes oder der Musik - für Momente auf der Bühne als Buchstabenzeichen sichtbar oder als Stimme hörbar wird, so erscheint sie doch als eine autonome Instanz, die sich immer wieder jedem Zugriff verweigert. Die unendlichen Versuche, die Entfremdung ihr gegenüber zu überwinden, riskieren immer wieder die Konfrontation der Figuren mit einer Sphäre, die sich zwischen die verschiedenen theatralischen Sprachen schiebt. Denn die Figuren streben danach, Unsichtbares zu hören und Unhörbares zu sehen. Da die unterschiedlichen theatralischen Sprachen nicht koinzidieren, drängt sich immer wieder ihr Zwischen ins Zentrum des Geschehens. Die Konfrontation mit diesem Zwischen ereignet sich in den drei zu besprechenden Szenen dadurch, daß Figuren erscheinen, verschwinden, sterben und wieder erscheinen. Ihre sprachlichen Grenzerfahrungen werden mit physischen assoziiert. Einerseits sprechen sie vom "Sehnen", "Suchen" und "Jagen" nach der Sprache, andererseits werden diese Prozesse mit theatralischen Mitteln dargestellt. Dadurch wird der zweite Aspekt des Plots vorgegeben: obwohl die Stükke die Suche nach einer Sprache darstellen, findet die Suche selbst doch auch immer sprachlich statt. Man möchte fragen, wie mittels der theatralischen Sprache die Suche nach einer anderen Sprache dargestellt werden kann? Wie bestimmen Nelly Sachs' Szenen das Andere, das Verlorene, Ersehnte, Gesuchte und wie positionieren sie es in bezug auf sich selbst? Dies ist wiederum die Frage nach einem Zwischen, das nicht nur wie bei Szondi als dialogisches, an die Wortsprache gebundenes, sondern auch wie bei Benjamin als theatralisches Zwischen, das unterschiedliche semiotische Systeme aneinander bindet und voneinander trennt, bezeichnet werden kann. Es bleibt zu fragen, in welches Verhältnis zueinander die verschiedenen Zwischenbereiche, die sich zwischen

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2. Vaerst, Christa: Dichtung- und Sprachreflexion im Werk von Nelly Sachs. Frankfurt a.M.: Lang 1977. Elisabeth Strengers Aufsatz Nelly Sachs and the Dance of Language erschien, nachdem das vorliegende Manuskript abgeschlossen war. In: Brücken über dem Abgrund. Hrsg. v. Amy Colin, Elisabeth Strenger. München: Wilhelm Fink 1994, S. 225236. 3. Forschungsbericht mit neuester umfassender Bibliographie von Michael Braun in: Michael Kessler, Jürgen Wertheimer (Hg.): Nelly Sachs. Tübingen: Stauffenburg 1994, S. 375ff. Vgl. Bahr: Nelly Sachs (wie Anm. 5), S. 165-171.

38

KapitellI

die gesuchte Sprache, die Wortsprache und die ausschließlich von ihr entworfenen theatralischen Sprachen schieben, gebracht werden. Die drei szenischen Dichtungen wurden 1944, 1955 und 1961 verfaßt und decken biographisch den Zeitraum ab, in dem Nelly Sachs überhaupt mit dem dramatischen Genre gearbeitet hat; denn nach 1962 schreibt sie nur noch Gedichte. Insofern nehmen die dramatischen Dichtungen im Gesamtwerk von Nelly Sachs selbst eine Zwischenstellung ein. In einem Brief von 1959 spricht die Dichterin von ihren Szenen als erweiterten Gedichten: Da wo das Gedicht nicht auszureichen schien und die Grenzen sich sprengten, kamen diese dramatischen Versuche zustande. 9

Der ungewöhnliche reflexive Gebrauch des Verbes "sprengen" weist auf eine gewisse sich selbst zersetzende Eigendynamik des Gedichts. Denn anstatt sich zu verdichten, bricht das Gedichtete auf, explodiert und wendet sich vom Lyrischen ins "Dramatische". Die Dichterin beschreibt hier einen feinen Übergang, dem brisanteste Konsequenzen folgen. Aus Anziehung wird Abstoßung, aus Kontraktion Explosion, aus Dichtung Sprengung. Auf diesen Umbruch an den Grenzen der Sprache weist der Untertitel für das Drama Abram im Salz. Ein Spiel für Wort - Mimus - Musik.10 In einem bis jetzt noch unveröffentlichten Brief vom 19. Juni 1961 kündet die Dichterin auch die Szene Beryll sieht in der Nacht als Szene für "Wort - Mimus - Musik - Farbe - Licht" an.11 Wenn "Wort - Mimus - Musik" spielen, dann fragt man nach den Spielregeln und danach, wie die einzelnen Spielelemente aufeinander bezogen sind. Die Präposition "für" im Untertitel weist entweder auf "Wort - Mimus - Musik" als Spielelemente oder aber darauf, daß das Spiel ihnen gewidmet ist, so wie Texte Freunden gewidmet sein können. Wie eine Widmung die Präsenz ihres Adressaten in der Sprache beschwört, so werden hier Wort, Mimus, Musik zu ihren Adressaten. Da sie aber gleichzeitig als die formalen Grundelemente dramatischen Geschehens überhaupt fungieren, übernehmen sie eine Doppelfunktion, indem sie sich auch selbst adressieren. Das Stück ist den Elementen gewidmet,

9 10

"

Briefe der Nelly Sachs, S. 240. Sachs, Nelly: Abram im Salz. Ein Spiel für Wort - Mimus - Musik. In: Dies.: Zeichen im Sand, S. 93-121. Die szenische Dichtung Abram im Salz wurde 1944 begonnen und 1952 abgeschlossen. Erst 1952 erhält sie ihren endgültigen Titel, 1946 hatte sie den Arbeitstitel "Mann aus Ur" und wurde später umbenannt in "Das Haar". Für ausführliche biographische Hinweise vgl. Ruth Dinesen: Nelly Sachs. Eine Biographie (wie Anm. 1). Arch. 185. Nelly Sachs Archiv der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund. Diese Angaben fehlen in der veröffentlichten Fassung. (Sachs: Zeichen im Sand, S. 187). Die Abbreviatur "Arch.+Nummer" verweist im folgenden auf die Dortmunder Archivnummern der bisher unveröffentlichten Texte von Nelly Sachs. Diese Texte wurden mir im Einverständnis mit Hans Magnus Enzensberger als Nachlaßverwalter von Nelly Sachs und mit dem Suhrkamp Verlag von dem Nelly Sachs-Archiv der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt.

Nelly Sachs' Dramen: Inszenierungen

der Sprache

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aus denen es selbst hervorgeht. Wie funktioniert diese Selbstreferentialität? Im Anhang erläutert Nelly Sachs: Versuch einer dramatischen Dichtung für Wort, Mimus, Musik. Das Wort ist hier nur Haltestelle für Mimus und Musik, die weiter fuhren s o l l e n . 1 2

Als "Haltestelle" bremst das Wort jegliche Bewegung und lenkt Mimus und Musik zunächst von den ihnen eigenen Intentionen ab, von ihrem Streben, über die Grenzen des Wortes hinauszufuhren. Mimus und Musik erstarren im Wort, um sich dann entweder wieder von ihm abzustoßen oder um es in ihren Bann zu ziehen, es "einsteigen" zu lassen. So bringt sich das Wort in die Dynamik des Theatralischen ein. Diese dynamischen Verhältnisse werden von Nelly Sachs nicht in einem philosophischen Essay abgehandelt, sondern in Szene gesetzt: Szenen zur phänomenalen Dynamik des Wortes, seines Entstehens und Vergehens und seiner Wirkung auf vor-, nach- und außersprachliche Gegebenheiten. Dem Problem der Grenzen, Begrenzungen und Entgrenzungen geht Nelly Sachs auch nach, wenn sie in ihren Überlegungen zur musikalischen Fassung von Abram im Salz, die sie in enttäuschten und ärgerlichen Briefen an Moses Pergament, einen Freund, der dieses Drama entgegen allen Intentionen der Dichterin als Opernlibretto bearbeitete, formuliert. In diesem Zusammenhang konzipiert Nelly Sachs ihre Ideen zum "Totaltheater", einem Theater "für Wort - Mimus - Musik", auf das nicht nur dieses Stück angelegt ist. Die Lektüre der verschiedenen Fassungen dieses dramatischen Textes zeigt, wie sich durch das ständige Umschreiben ein dramatischer Stil herauskristallisiert, der durch seine eigenwillige Verschränkung von thematischen und formalen Elementen sich ständig selbst referiert und sich dadurch auch jeglicher Möglichkeit einer Einordnung in festumrissene literarische Traditionen und Begriffe entzieht. Ehrhard Bahr weist darauf hin, daß die gängigen Vorstellungen vom expressionistischen oder 'poetischen' Theater nicht ausreichen, um einen Begriff von dem Neuen zu geben, das Nelly Sachs in ihren szenischen Dichtungen zu realisieren versucht. Nach der Meinung des schweizerischen Komponisten Heinz Holliger gibt es - mit Ausnahme von Samuel Beckett auf dem modernen Theater nichts, was "von ähnlicher Tragweite und Bedeutung für die Szene erdacht" worden ist."13

12 13

Sachs: Zeichen im Sand, S. 346. Bahr: Nelly Sachs (wie Anm. 5), S. 163. Ehrhard Bahr zitiert hier Heinz Holliger, der eine bisher unveröffentlichte Partitur zu Nelly Sachs' dramatischer Szene Der magische Tänzer verfaßt hat, deren Handschrift im Leo Baeck Institut New York vorliegt.

Kapitel II

40

Β.

Abram im Salz Ein Spiel für Wort - Mimus - Musik

Das Personenverzeichnis der szenischen Dichtung Abram im Salz fallt aus jeglichem konventionellen Rahmen heraus. Von sozialen und religiösen Roilenzuschreibungen wie Vater, Mutter, Wächter, Ausgräber, Hoherpriester heben sich apokryphe und biblische Namen wie Abram, Nimrod und Lilitu und märchenhafte Bezeichnungen wie Wasserorakelfrau ab. In einem bisher unveröffentlichten Kommentar gibt Nelly Sachs Herders Dichtungen aus der morgenländischen Sage als Inspirationsquelle fur ihre Dichtung an: Eine Legende erschienen im Schocken Verlag aus den Übersetzungen Johann Gottfried Herder's [sic] "Jüdischen Dichtungen" [...] vermittelte mir die Bekanntschaft mit der aus der jüdischen Tradition geschöpften Erzählung "Die Kindheit Abrahams". In dieser Erzählung wurde der Knabe Abram dem Tyrannen Nimrod gegenübergestellt. Mehr bedurfte es für mich nicht und die Gesichte fuhren mir mit wildem Glanz entgegen. 14

Die Dichterin reduziert hier die Erzählung, die Herder "nach dem Buche Eruvin"15 übersetzt hat, auf nur ein Motiv, die Konfrontation zwischen Abram und Nimrod, das sich aus dem von der Tradition vorgegebenen Kontext löst und mit einer gewissen Autonomie als 'wilder Glanz der Gesichte' eine ihm eigene Szene konzipiert. Auch die Figur der singenden und tanzenden Lilitu ist aus einer der von Herder übersetzten Legenden, der Legende Litis und Eva,16 als "Lilis" oder "Lilith" und aus Martin Bubers Chassidische Legenden17 bekannt. Da Nelly Sachs sich nur äußerst fragmentarisch auf ihre Quellen bezieht, einzelne Motive isoliert, reduziert und neu kombiniert, wird nach der Relation zwischen den verschiedensten Texten, den Quellentexten und den "Gesichten" ihrer Dramentexte, zwischen dem von ihr veröffentlichten Text und seinen unveröffentlichten Fassungen, die dieser Arbeit aus den Nelly Sachs-Archiven Dortmund und Stockholm vorliegen, zu fragen sein. Denn die Präsenz allgemein vertrauter Motive gibt eine Kontinuität poetisch-semantischer Traditionen vor, mit der dann die Szenen selbst brechen. Neben diesen im Personenverzeichnis genannten bereits entindividualisierten Einzelfiguren werden unterschiedliche Chöre eingeführt: neben dem Chor der Mütter und Jägerknechte der Chor der Dürstenden und Uralten, die sich im 14

15

16 17

Sachs, Nelly: Abram's Erwachen (sie) oder Sehnsucht aus Durst. Unveröffentlichte und nicht datierte Notiz. Ms., Nelly Sachs Archiv Stockholm. Herder, Johann Gottfried: Abrahams Kindheit. In: Herders Werke. 6. Teil: Morgenländische Literatur. Hrsg. v. Heinrich Düntzer. Berlin: Gustav Hempel o.J., S. 50f. Herder, Johann Gottfried: Lilis und Eva. In: Ebd., S. 40f. Buber, Martin: Die Erzählungen der Chassidim. Werke. 3. Bd. Heidelberg: Lambert und Schneider; München: Kösel 1963, S. 284.

Nelly Sachs' Dramen: Inszenierungen der Sprache

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Gegensatz zum Zick-Zack der Wahnbesessenen taumelnd, träumerisch und schlafwandlerisch bewegen. "Eine helle Stimme", die zunächst nur wortlos singt, löst sich vollkommen aus dem Rahmen sichtbarer und dadurch vorstellbarer Figuren. Schon die Überschrift des Personenverzeichnisses, "Personen und Stimmen", weist auf dieses Spektrum der Akteure, die sich durch ihr unterschiedliches Verhältnis zur Sprache voneinander unterscheiden. Anstelle von Personen treten chorische und einzelne Stimmen auf. Die Bewegungen der Chöre sind choreographisch festgelegt, so daß die einzelnen Chormitglieder ohne jede Eigenbedeutung als Statisten des Textes und der Bewegung fungieren. Diese Entindividualisierung der Stimmen zu Chorstimmen und Chorbewegungen oder - ein anderes Extrem - zur entfigurierten "Stimme" weist auf eine Abstraktion des Geschehens von jeglicher detaillierter Äußerlichkeit und Zeichenhaftigkeit der Sprache zu ihrer "eigentlichen Idealität" hin. Derridas Untersuchungen zum "Zeichen in der Philosophie Husserls"18 bestimmen gerade die Stimme als den Signifikanten, der sich dem Ausdrucksakt des Signifikats am unmittelbarsten assimiliert. Denn da der phänomenologische "Körper" des Signifikanten sich in dem Augenblick auszulöschen scheint, in dem er hervorgebracht wird" 19 , ist er seiner Idealität am nächsten. Derrida spricht hier von der "erscheinenden Transzendenz" der Stimme. Dieser Idealität scheint der zunächst sprachlose Gesang der Einzelstimme am nächsten zu kommen: wenn sie in der vierten Szene erklingt, unterbricht sie unerwartet ein Ritual, das Nimrod für den Mondgott Sin abhält. Unsichtbar und wortlos, reduziert allein auf ihren Klang, erwirkt sie die Peripetie des Geschehens. Sie ist am effektivsten da, wo sich keinerlei szenisch visuelle Vorstellungen an sie knüpfen. In der Reduktion der theatralischen Präsenz auf den Klang liegt ihre Stärke, mit der sie dann aber allerdings über ihre eigene Grenze hinauswirkt und auch die visuelle Szenerie beeinflußt. In den Regiebemerkungen heißt es: "Die Stimme erhebt sich wieder, aber nun mit einer Kraft, die das Dunkel durchbricht."20 Die Chöre sind immer auch szenisch visuell präsent, sie kommentieren und berichten oft in äußerst konkreten Bildern über das nicht sichtbare Geschehen und erweitern dadurch die Bildlichkeit der Szene. Durch diesen Bezug auf eine außerszenische Realität unterscheiden sie sich von der Stimme, die zunächst nur sich selbst präsentiert. Die simultane Präsenz aller Stimmen ist in eine Zeit verlegt, die an die aus der biblischen Genealogie vertrauten Namen Nimrod und Abram geknüpft ist. Die Namen und Figuren, die Genesis 1 chronologisch aufeinanderfolgen läßt, treten hier - parallel zur apokryphen Erzählung - im szenischen Geschehen gleichzeitig auf. Doch dieser Simultaneität wird das Problem zeitlicher Suk18

19 20

Derrida, Jacques: Die Stimme und das Phänomen. Übers, v. Jochen Hörisch. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979. Ebd., S. 133. Sachs, Nelly: Zeichen im Sand, S. 104.

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Kapitelll

Zession thematisch dadurch unterschoben, daß unterschiedliche Stimmen das Ende einer und den Beginn einer anderen Zeit verkünden. Es stellt sich also die Frage, in welches Verhältnis Simultaneität und Temporalität zu denken sind. Die Spannung zwischen diesen beiden Prinzipien wird auf unterschiedlichen Ebenen ausgetragen: in der ersten Szene zwischen Lilitu und den Salzgeistern, in den weiteren Szenen zwischen Abram, Nimrod und der Stimme. Die erste Szene ist auf sehr wenige Worte konzentriert: LILITU Salz - Salz - Salz Gerippe der Sintflut Ende SALZGEISTER Durst - Durst - Durst Anfang - 2 1

Die nominale Isolation und der Verzicht auf jegliche Verbalität kontrastieren "Ende" und "Anfang" und treiben dadurch mit dem impliziten genealogischen Schema ein riskantes Spiel. Die Vorstellung einer Sukzession wird durch Kontrastierung ihrer beiden Grenzmomente auf diese beiden selbst reduziert. Da ungesagt bleibt, was sich zwischen Ende und Anfang ereignet, ob sich überhaupt etwas ereignet oder ob der Anfang immer zugleich auch das Ende in sich trägt, wird das genealogische Schema, das die Folge des einen nach dem anderen bestimmen will, in Frage gestellt. Basiert es vielleicht auf einer Voraussetzung, die es selbst nicht begreift? Diese Frage betrifft das linear teleologische, jüdische wie auch christliche Geschichtsverständnis, das das Ende der Geschichte mit der Ankunft des Messias identifiziert.22 Die Aussagen Lilitus und ihres Geistergefolges verwirren Konzeptualisierungen der Temporalität. In Herders Legendenerzählung ist es das schöne Luftwesen Lilis/Lilith, das sich, energisch die Wünsche Adams abwehrend, gegen die Verwandlung in eine menschlich zeitliche Existenz sträubt. A u s Luft des Himmels ward ich gebildet und nicht aus niedriger Erde. Jahrtausende sind mein Leben [...]. Ich mag Dein niedriges Geschlecht der Staubgebornen mit dir nicht vermehren. 2 3

Während die elfenhafte "Lilis" der Apokryphen die Zeit der Luft und die des Staubes im Sinne von 'höher und niedriger' hierarchisch als zwei gleichzeitige und doch getrennte Sphären voneinander abgrenzt, entwerfen die Worte der

21 22

23

Sachs: Zeichen im Sand, S. 97. Vgl. Thompsen, Jane H.: The Theme of Rebirth in 5 Dramas of Nelly Sachs. Diss. North Carolina at Chapel Hill 1980, S. 1 lOff. Herder: Lilis und Eva. (wie Anm. 16), S. 41.

Nelly Sachs' Dramen: Inszenierungen der Sprache

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Lilitu nicht solche theologisch determinierte Zeitvorstellungen. Lilitu stellt sich selbst als "Durst auf eine neue Zeit"24 vor, wenn sie ein "Ende" und ihr Gefolge, die Salzgeister, einen "Anfang" postulieren. Durch Antizipation einer Zukunft und Abschluß mit einer Vergangenheit sind sie Figuren einer Zwischen-, Übergangs- oder Schwellenzeit. Die Szene umkreist und umschreibt diese kaum definierbare änigmatische Zeit durch Spannungen zwischen den Figuren und ihren Aussagen. Dadurch weist sie auf Korrespondenzen zwischen dem zeitlichen und sprachlichen Geschehen. Zunächst gleicht sie einer starren "Salzlandschaft nach der Sintflut", aus der sich der Durstgeist Lilitu und ihr Geistergefolge erheben und die kristalline Topographie sprachlich entwerfen, indem sie Worte wie Dinge nebeneinander stellen: Salz - Salz - Salz Durst - Durst - Durst -

Zwischen das in der Wiederholung hämmernde Staccato dieser kurzen einsilbigen Worte legt sich da, wo ihre Explikation zu erwarten wäre, Stille, so daß die syntaktische Isolation der Worte und die Reduktion auf ihre sprachliche Materialität zunächst alle konnotativen Assoziationsmöglichkeiten eliminiert. Selbst wie zu Salzsäulen erstarrt, behaupten sie monolithische Zeitlosigkeit, in deren Rahmen es gleichgültig zu sein scheint, ob vom Anfang beziehungsweise Durst oder vom Ende beziehungsweise Salz gesprochen wird. Doch ihrem formalen Nebeneinander steht eine gewisse semantische Relation der Nomen gegenüber: im Durst regt sich ein elementares physisches Bedürfnis, das als vitales Lebenszeichen die kristalline Todessphäre des Salzes aufzusprengen scheint. Stimuliert Salz nicht Durst, Todesstarre Lebensgier? Der Tod setzt also kein absolutes Ende. Es muß zwischen einer singulären oder epochal bestimmten und begrenzten Zeit, die dem genealogischen Prinzip entsprechend in Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und Ende unterteilt werden kann, und einer ganz anderen, in diese hineinragenden, sie überragenden oder ihr unterliegenden Zeit, die sich nicht so einfach in ein lineares Denkgefüge einordnen läßt, unterschieden werden. In der vorliegenden Szene korreliert dem Abbruch der Sukzession ein jedem Denkzugriff entzogener Umbruch der Todesstarre in eine elementare Lebenssucht. Im Nebentext heißt es: "Der Durstgeist Lilitu und ihr Geistergefolge erheben sich aus Salzsäulen." Nelly Sachs beschreibt die von Lilit zu Lilitu umbenannte Sagenfigur nicht negativ wie Martin Buber, mit dessen Erzählungen der Chassidim die Dichte-

24

Sachs: Zeichen im Sand, S. 112.

KapitellI

44

rin zutiefst vertraut war25, als "eine Dämonin, die die Männer zu verführen sucht" und von der die Sage als Adams erstem Weib erzählt.26 Nach Sachs verleiht Lilitus erotisch dürstende Vitalität dem "Gerippe der Sintflut", der Landschaft des Todes, ihre Stimme, die Stimme des Durstes und der Sehnsucht, die später in anderen Stimmen wie zum Beispiel in der Stimme des Chors der Dürstenden und in Abrams Worten weiterklingt.27 Allerdings spricht Lilitu als der Durstgeist nicht wie zu erwarten wäre vom Durst, sondern vom Salz, während sein "Geistergefolge", nämlich die "Salzgeister", vom Durst sprechen. Dies deutet auf eigenartige Inversionsverhältnisse zwischen Figur und Aussage: der "Geist" des Wortes führt sich durch sein Gegenprinzip ein - der Salzgeist als Durst, der Durstgeist als Salz - , so daß die aktuelle Aussage sich gegen die aussagende Instanz paradox verschiebt. Als "Geist" des Wortes benennen sich die Sprecher nicht selbst. Auf diese konträre Spannung zwischen "Geist" beziehungsweise Bedeutung des Wortes und seiner gegensätzlichen Repräsentation ist die Szene reduziert. Semantisch hieße das für die Zeitthematik: der Geist des Anfangs definiert sich durch "das Ende", "das Salz", die Todesstarre, die Geister des Endes durch den "Anfang", den "Durst", die Lebensgier und -sucht. Für diese Paradoxie des Zeitlichen prägt die prophetische Stimme, wenn sie von außerhalb des Raumes zum ersten Mal spricht, eine synekdochische Bildlichkeit, die in die Szene wie Fremdgut einfällt: Salz ist das Ende Knospe aus Salz - 2 8 Die Folge abstrakter Termini wie "Ende - Anfang - Ende" wird abgelöst durch dingliche Begriffe wie "Salz - Knospe - Salz", wobei diese Relation wiederum die Tradition genetischen Denkens verunsichert, denn der Wandel kristallinisch mineralischer in pflanzlich evolutionäre Prozesse wird durch die Präposition "aus" zwar gesetzt, kann im Sinne grammatischer Logik auch gedacht werden, entzieht sich aber sonst der spontanen Zugriffsmöglichkeit der Vorstellung, da für ein evolutionäres Denken sozusagen ein "missing link" fehlt. Die Synekdoche "Knospe" verschweigt, wie die Potenz zum Leben, zur Fruchtbarkeit, zur Befruchtung und Geburt im "Ende", im "Salz" und in der Sphäre des Todes überhaupt zu denken ist. Gerade denkerischen Konstruktionen scheint sich das Prinzip des Lebens zu entziehen. Mit ihrer synekdochischen Sprache setzt sich 25

Bereits in Briefen von 1945 erwähnt Nelly Sachs ihre Lektüre von Martin Bubers Chas-

sidischen Schriften. 26

27

28

Herder: Lilis und Eva. (wie Anm. 16), S. 40f.; Buber: Die Erzählungen der Chassidim (wieAnm. 17). Das Wort "Sehnsucht" und das ihm zugehörige Verb "sehnen" gehört zu den häufigsten Worten, die in diesen Szenen wiederholend variiert werden. Sachs: Zeichen im Sand, S. 105.

Nelly Sachs' Dramen: Inszenierungen der Sprache

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die Stimme über solche Denk- und Vorstellungstraditionen hinweg. Nur die von semantischer Logik distanzierte eigengesetzliche Grammatikalität der Sprache, hier die Präposition "aus", autonomisiert die Synekdoche gegenüber semantischen Traditionen und ermöglicht dadurch auch die synekdochische Präsenz der Stimme, die unberechenbar in das Geschehen einbricht und es radikal verunsichert.29 Diese Stimme spricht "aus Nacht"30, und die Salzgeister sprechen von der Stimme als dem "Mund in der Nacht".31 Dieses Nachtmotiv bindet Sprach- und Zeitthematik aneinander. Die Zeit des Dunklen, Unbestimmten und der Stille gewinnt Sprache, ohne selbst wie in Geister- und Gespensterszenen barocker Trauerspiele wiederum sichtbar zu werden. Obwohl sich alle Figuren irgendwie auf diese Stimme beziehen und nur aus der Beziehung zu ihr sprechen, entzieht sie sich ihnen, da sie keine sichtbaren Spuren hinterläßt. Gerade durch die Unberechenbarkeit ihrer Präsenz entgeht sie sowohl Nimrods wie Abrams Versuch, sie zu vereinnahmen. Diese äußerst eigenwillig komponierten biblischmythischen Figuren - deren Namen zwar auf ihren sagenhaft apokryphen Kontext verweisen und in der biblischen Tradition immer als Stellvertreter zweier voneinander geschiedener Kulturen genannt werden - sind hier vielfaltiger narrativer Deskription entzogen und auf das jeweils unterschiedliche Verhältnis zur Stimme reduziert. Während Nimrod mit den sich selbst inthronisierenden Worten "Ich bin der neuen Worte König"32 der Sprache der Nacht nachjagt und ihr Wort unter seine Kontrolle zu bringen versucht, räumt Abram ihrer Stimme selbst Macht über sich ein und versucht sich, ihr zu assimilieren. Deshalb ist er der Aggression Nimrods besonders ausgesetzt. Expositorische Redepartien machen deutlich, daß der fünfzehnjährige Abram mit hundertfunfzig anderen Knaben von Nimrod lebendig begraben worden war. Die Szene selbst konzentriert sich aber mit Anspielungen auf christliche Auferstehungsszenen auf den Abram, der aus der Grabhöhle "mit schleifenden Totenbändern heraustritt", der "Stimme aus der Nacht" lauscht und "seine lebende Form wiedererhält."33 Die Stimme bricht in den Tod, seine Starre und sein Schweigen ein. Dieser ist ihr nicht fremd, da sie selbst immer schon teil an ihm hat: sie erklingt im Verklingen und verklingt im Erklingen. So unterliegt der Dauer ihrer Präsenz ihre Absenz. Mit seiner Konzentration auf ihre Worte liefert sich Abram ganz dieser simultanen Dynamik aus. 29

30 31 32 33

Die vorliegende Studie modifiziert Jane H. Thompsons Deutung dieser wie auch weiterer Szenen von Nelly Sachs als Darstellung von Prozessen der Wiedergeburt und Regeneration und weist auf die in den Szenen angelegte komplexe Problematik dieser Prozesse. Vgl. Thompsen: The Theme of Rebirth in 5 Dramas of Nelly Sachs (wie Anm. 22). Sachs: Zeichen im Sand, S. 105. Ebd. Ebd., S. 109. Ebd., S. 107f.

Kapitel II

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O u hast mich gerufen, Abram, und ich sehne mich so nach dir! Sternenzähne durchbissen das Grab und ich sehne mich so nach dir! [...] W i e eine Schotenhülse rissest du den Tod auf und ich sehne mich so nach dir! 3 4

Abram weist die Stimme als die Instanz aus, die ihn mit seinem Namen identifiziert und dadurch den Tod, der von Nimrod vollstreckt worden ist, selbst tötet. Solch eine Kapazität des Eigennamens beschreibt Walter Benjamin in seiner Schrift Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in der er die Theorie des Eigennamens als "Theorie von der Grenze der endlichen gegen die unendliche Sprache"33 einfuhrt. In den Klängen des Namens stößt das Poetische der menschlichen Sprache auf das Wort Gottes. Indem Abram sich also auf seinen Namen besinnt, sucht er die in ihm präsente sprachliche Klang-Poesie auf und stilisiert sich selbst zur Figur dieser sprachlichen Poesie. 36 Nimrod bleibt dieser Stimme gegenüber taub, begreift ihre Idealität nicht und will sie in die Visualität zwingen. Er identifiziert sie zunächst mit dem mythischen Mondgott Sin. Ausgestattet mit Requisiten dionysisch kultischer Macht - blutiger Jagdbeute, rotem Fell, Priester mit Tiermasken und dem speziellen Dionysossymbol der Stierhörner auf dem Kopf 37 - , hält er auf das Flehen der Gejagten hin für den Mondgott "Sin" einen Kult ab, an dem alle anwesenden Figuren verwandelt in Schatten teilnehmen. Diese Szene, in der Nimrod aus der Mitte eines Kreises von blutiger Jagdbeute in eine Rauchwolke gehüllt aufsteigt, erinnert nicht nur an dionysische, sondern auch an archaisch mythi34 35

36

37

Ebd., S. 108. Benjamin, Walter: Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie. In: Benjamin, Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd II I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980 (werkausgabe edition suhrkamp), S. 149. (hinfort zitiert: Benjamin: II. 1.) Nelly Sachs' Szenen können nicht in die lange Reihe der Sterbedramen eingeordnet werden, da es in ihnen niemals um einen individuellen Tod, sondern allgemeiner um den Tod selbst als Phänomen des Auseinanderbrechens von allem Vertrauten geht. An der Beziehung zum Tod entscheidet sich nicht nur in dieser dramatischen Szene der Dichterin die Beziehung der Figuren zur "Stimme aus Nacht" und zu deren "neuem Wort". Alle Szenen beruhen in einer fUr sie jeweils spezifischen Perspektivierung auf änigmatischen Beziehungen zwischen Phänomenen der Sprache und des Todes: sie weisen Prozesse des Sterbens und Wiederauferstehens als Sprachprozesse aus. Probleme der Geschichtlichkeit, wie zum Beipiel des Wechsels einer Kultur in eine andere, werden nur im Rahmen dieser Beziehungen relevant. Nach Creuzer Requisit des Dionysos. Creuzer, Georg Friedrich: Symbolik und Mythologie der alten Völker, besonders der Griechen. Leipzig/Darmstadt: Heyer und Leske 1819, S. 28.

Nelly Sachs' Dramen: Inszenierungen der Sprache

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sehe Totenkulte. Nelly Sachs setzt die Kontamination unterschiedlichster Mythen fort, wenn sie diese Szene eigenwillig mit "Jagdszenen in Eiszeithöhlen"38 vergleicht. SCHATTENCHÖRE Unser Blut steigt auf zu Sin Unser Durst steigt auf zu Sin König mit dem Jägerblut nimm unser Blut - nimm unsern Durst auf zu Sin [...] HOHEPRIESTER Aus dem Schreien unseres Durstes steigt der Jäger auf zu Sin Zu Ende ist die Wasserzeit Die Feuerzeit beginnt König fange das Wild Feuer [...] 39

Mit der Penetranz der Imperative "nimm ... nimm ... fange" jagen die Schattenchöre den Jäger selbst. Der Jagende wird zum Gejagten ihres schreienden Durstes beziehungsweise blutenden Schreies. Jegliche Hoffnung auf Ruhe und Stillung des Durstes richtet sich auf eine Sphäre, die sprachlich nur durch die Beschwörung des Namens "Sin" präsent ist. Das Ritual setzt da ein, wo das gesprochene Wort machtlos ist. Die Suche nach ihm kann kaum mehr von körperlicher Gestik getrennt werden, denn fast alle Stimmen des Dramas, unter denen es sowieso nur wenige Einzelstimmen gibt, die Chöre der Uralten, der Jäger, der Salzgeister, die Stimme der Wasserorakelfrau und des Hohepriesters verschmelzen zu einer einzigen. Die einzelnen Figuren und Figurengruppen lösen sich aus ihrer Absonderung heraus und "werden zu Schatten mit erhobenen Armen zu Sin"40, dessen Riesenbildnis vom Mond beschienen wird. Wie Nietzsches urdramatische Chöre streben diese Chöre hier schreiend über ihr Sprechen und gestisch über ihre physische Gebundenheit hinaus. Nimrod forciert diese sprachliche und gestische Ekstase, wenn er die Tempeltreppe besteigt und "auf der höchsten Spitze des Tempelturmes"41 aufgerieben von den schreienden Schattenchören mit einem wilden, an Beischlafekstasen gemahnenden Ritual dem Mondgott Sin nachjagt. Aus Handbüchern geht hervor, daß der akkadische Mondgott Sin als der Gott der Zeit, der den Rhythmus der Nächte, also den lunaren Kalender be38 39 40

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Sachs: Zeichen im Sand, S. 102. Ebd., S. 102f. "Die Chöre werden zu Schatten mit erhobenen Armen zu Sin. Deutlich die Hände, die wie abgelöst spielen." (ebd). Ebd., S. 103.

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Kapitel II

herrscht, tatsächlich vor allem in Ur, dem mythischen Ort dieser Szene, verehrt wurde. 42 Hier in der dramatischen Szene verliert er jegliche Idealität, denn sein Standbild, das ironischer Weise vom Mond beschienen wird, stellt "einen Zahn, der das Dunkel kaut", dar.43 Das epigrammatische Sprichwort vom "Zahn der Zeit" wird zur kulissenhafiten Groteske des Stückes, die den kosmischen Rhythmus auf eine sich mechanisch wiederholende Kaubewegung reduziert, die das Dunkel nicht - wie die Tradition des Bildes vermuten ließe - zerkaut, sondern einzig der Monotonie mechanischer Repetition ausliefert. So wird Sin zum Gott der sturen Mechanik der Zeit stilisiert. Im Denkmodell linearer Zeitlichkeit zu unterscheidende Momente wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft können in dieser Kaubewegung nicht unterschieden werden. Die zur Geste chiffrierte Mondzeit wird zunächst nicht, wie in der Shakespeare-Tradition des Bildes vorgegeben44, mit einem anderen Zeitkonzept kontrastiert, sondern als isolierte Einzelgeste beherrscht sie die Kulisse bis Nimrod, der ihr zunächst mit seinem Kult huldigt, sie selbst, diesen Automatismus des Zeitverlaufs, "im Wahnsinn" vernichtet, so daß der Durstgeist Lilitu tatsächlich das Ende der kauenden Zeit ausrufen kann 45 Nimrod jagt diesem Mond-, Nacht- und Zeitgott nach, indem er ihn als eine Macht beschwört, die spricht, sich aber jedem physischen Kontakt entzieht. Er will deren "Zungen ergreifen" und im "Ergreifen" begreifen und beherrschen. Ziehe mich, ziehe mich in dein J a g e r e i c h S i n Ö f f n e dich Nacht d a ß ich d e i n e roten Z u n g e n ergreife - 4 6

Den intensiven Rhythmus seiner kultischen Wiederholungen aufnehmend kommentiert der Hohepriester: 42

In southern Babylonia Nanna's [Sumarian name of the Mesopotamian moon god; his Akkadian name is Sin] principle cultic place of worship was Ur [...] It is curious that both these cities are associated with traditions about the patriarch Abraham before he entered Canaan [...] Nanna's cosmic function intimately concerned mankind. The moon god lit up the night and measured time. Hence he was viewed as the controller of the night, the month, and the entire lunar calendar. [...] The enigmatic phenomenon of the constant' rising and setting of the moon found its echo in the Akkadian epithet o f the moon god as 'a fruit that arises from itself and produces itself." Eliade, Mircea (Hg.): The Encyclopedia of Religion. N e w York: Macmillian Publishing Company 1987, S. 310.

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Sachs: Zeichen im Sand, S. 98. Vgl. zum Beispiel Shakespeare: Measure for Measure. Akt 5, Szene 1: when it deserves with characters of brass a forted residence 'gainst the tooth of time and razure of oblivion In: Shakespeare, William: Measure for Measure. In: The Arden Edition of the Works of Shakespeare. Hrsg. v. J. W. Lewer. London, N e w York: Methuen 1986, S. 125f. Sachs: Zeichen im Sand, S. 111. Ebd., S. 103.

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der Sprache

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Wie er stößt - w i e er stößt Wie er die Nacht blutig stößt 4 7

Seine Such-Ekstase treibt ihn soweit, daß er, anstatt sich in die Sprache, das Jagereich der Nacht und sein Dunkel ziehen zu lassen, das, was er sucht, "blutig stößt". Die Metaphorik des Textes, die sich einer ersten Lektüre als scheinbar unauflösbares Bilderrätsel entgegenstellt, ist auffallend konsequent: im Moment der Bedrohung der Mondkultur durch den Klang einer bis dahin fremden Stimme ohne Worte48, sucht Nimrod die Sprache seiner Zeit, ihre Zungen und ihre Zungenrede selbst. Die biblische Metaphorik der Zungenrede wird äußerst buchstäblich genommen, wenn die Sprache im Sinne des pars pro toto als Sprach- und in assoziativer Fortführung als Geburtsorgan, das in einer Art sexuellem Akt zu erobern sei, vorgestellt wird. Nimrods hyperaktive Suche mißlingt, er ändert seine Strategie, drängt nicht mehr nach einer direkten physischen Kopulation, nach dem Hineingezogen-Werden in diese Sprache, sondern versucht sich ihrer indirekt durch Abbildung zu bemächtigen. Immer noch unter der Voraussetzung einer visuellen Präsenz der Sprache und der Möglichkeit ihrer Visualisierung setzt er Spiegel ein: NIMROD: Jäger, spiegelt die Nacht den unsichtbaren Mund zu fangen! J Ä G E R K N E C H T E mit blanken Wir spiegeln - wir spiegeln die N a c h t 4 9

Kupferspiegeln:

Der Zauberspiegel im Märchen50 läßt den Beschauer alles das sehen, was sonst wie in einer Nacht verborgen - sich weit entfernt von ihm ereignet, und rückt jegliche sichtbare Ferne in absolute Nähe. Doch Nimrods Jägerknechte spiegeln nur ihnen schon Vertrautes: JÄGERKNECHTE: [•··] aber kein Mund Blauer Totenzahn im Spiegel -

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Ebd. Im Nebentext heißt es, bevor die Stimme tatsächlich Worte spricht: "Eine helle Stimme singt" (ebd.), "Die helle Stimme singt" (ebd.) "Die Stimme erhebt sich wieder, aber nun mit einer Kraft die das Dunkel durchbricht." (ebd., S. 104) Ebd., S. 104. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd 9. Hrsg. v. Hoffmann-Krüger, Bächtold-Stäubli. Berlin: Walter De Gruyter 1941, S. 55lf.

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Kapitel II welk wird Sin Sie werfen die Spiegel schaudernd fort.51

Der Spiegel zeigt das vertraute und verehrte Götterbild im Zustand der Verwesung und Vergängnis. Über Nimrods Zeit, Kultur und Religion herrscht nun der Zahn der Zeit, der selbst der Dämonie des Todes zum Opfer fällt. Nimrod versucht, die ihm fremde Stimme in die Ordnungen und Strukturen seiner eigenen Zeit zu zwingen. Seine Technik zur Beherrschung der Zeit basiert auf der Voraussetzung: "Zeit ist was ich mit meinen Händen tue".52 Zeit ist machbar, handhabbar, manipulierbar, ergreifbar, gestaltbar und ist nicht a priori vorgegeben. Ohne eine gewisse Pragmatik existierte sie nicht; sie muß sozusagen selbst verfaßt und geschrieben werden. Als der "große Jäger" radikalisiert Nimrod diese Macht der Geste zu einer absolut despotischen: "Was gejagt wird, kann nicht König sein".53

Erjagt, um zu töten. Seine Trophäen, wie hier die blutige Jagdbeute, werden in der fünften Szene zu Himmelszeichen, die die kosmische Ordnung des Tierkreises kodifizieren: "Der blutige Tierkreis - Nimrods Jagdbeute - erhebt sich, schwebt, strahlt am Himmel."54 Der radikale gestische Despotismus Nimrods etabliert sich aber nicht nur dadurch, daß er Leichname und Schatten um sich schart, sondern auch "die Sprache aus Nacht" unter seinen Einfluß- und Machtbereich zwingen will. Doch ihr gegenüber scheitert er, er hört sie nicht und muß ihre Sprache erst mühsam im Sand entziffern. LILITU Was da im Sande liegt ist neu mit Feuer geschrieben NIMROD bückt sich und entziffert: Sehnsucht aus Durst!55

Da die Stimme sich Nimrod entzieht, weist sie ihn auf die Grenzen seines Despotismus, der auf den Tod als absolut begrenzende Macht setzt. Durch die Figur "Nimrod" werden also drei wesentliche Aspekte des Sprachlichen miteinander assoziiert: die Sprache ist für Nimrod nur zeichenhaft als Tote durch die Form ihrer Verschriftlichung wahrnehmbar; sie entzieht sich in dem Moment, in dem sie erklingt, jeglicher Manipulierbarkeit. Nur wenige Hörer können sie wahrnehmen. Diese Sprache gehört einer höchst abstrakten Idealität an, über

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Sachs: Zeichen im Sand, S. 104. Ebd., S. 112. Ebd., S. 109. Ebd., S. 107. Ebd., S. 113.

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die der Tod keine Macht hat. Obwohl sie als Ziel aller Handlungen in die Geschichte eingreift, läßt sie sich von ihr nicht begreifen. Nimrod zieht die letzte Konsequenz, wenn er zu den Pfeilen greift und auf das Standbild Sins, den beißenden und welkenden Todeszahn zielt, es trifft und dadurch die Zeit des Todes und das Prinzip der Zeitlichkeit selbst, das auf dem Phänomen des Todes basiert, auslöscht. Hiermit gesteht er ein, daß die Macht über den Tod keine absolute Macht bedeutet. Wenn der Tod also keine absolute Grenze setzt, dann ist zu fragen, welche Funktion ihm in dieser Szene zukommt, die ihn durch eine Vielzahl der Bilder und Figurierungen in immer neuen Variationen präsentiert. Der Chor der Wahnbesessenen beschreibt ihn mit dem Fruchtbarkeitssymbol des Eis,56 der Chor der Mütter spricht von dem Bienenstock des Todes und der Fremde, in der ihre von Nimrod lebendig begrabenen Söhne das neue Leben lernen. Diese Bilder konzipieren den Tod als Fruchthülse und nahrhaft embryonalen Entwicklungs- und Befruchtungsraum, der aufgebrochen oder "durchgebrochen" werden muß. Die Mütter entwerfen sogar paradiesische Fiktionen: "Honig speisen sie [...], Dattelwein trinken sie [~.]"57 Nimrods Gegenzeit beziehungsweise die Zeit der Stimme kündet sich zunächst als ein Klang an, der räumlich und zeichenhaft nicht fixierbar ist. Doch dann spricht sie als "Stimme aus der Nacht" von dem Tod als "Gebiß der Mitternacht". Somit weist sie sich als Stimme der Todessphäre aus: sie spricht als Todesstimme, die dadurch, daß sie spricht - im Gegensatz zu allen spätmittelalterlichen und barocken Traditionen der dramatischen Allegorie des Todes - aus dem Tod befreit. Noch bei Hofmannsthal zum Beispiel in Der Tor und der Tod, einer der moderneren Fassungen des Totentanzes, zwingt der personifizierte Tod Claudio durch seine Präsenz in den Tod, obwohl er ihm dadurch auch gleichzeitig die Chance bietet, im Sterben zu spüren, daß er ist. "Erst, da ich sterbe, spür ich, daß ich bin."58 In Nelly Sachs' dramatischer Szene löst das Sprechen des Todes, also der Nacht, zunächst aus der physischen Umklammerung des Todes, der durch das Grab auf der Bühne als Theaterraum präsent ist. Das Sprechen des Todes wirkt seiner physischen Präsenz entgegen. Deshalb kann man in Nelly Sachs' Drama, wie noch bei Hofmannsthal, keine allegorischen Figuren im klassischen Sinne finden, da niemals nur eine einzige Figur einen in sich geschlossenen begrifflichen Zusammenhang darstellt. Denn der Tod ist hier in äußerst antagonistischer Weise präsent: visuell räumlich und statisch als "Salzlandschaft", zeitlich im Moment des Tönens und Sprechens der Stimme. Er umfaßt "Ende" und "Anfang". Die Figuren auf seiner Bühne

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Ebd., S. 106. Ebd., S. 107. Hofmannsthal, Hugo von: Der Tor und der Tod. In: Gesammelte Werke. Gedichte und Dramen I. Hrsg. v. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a.M.: Fischer 1979, S. 297.

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Kapitel II

bewegen sich zwischen seinen Grenzpunkten hin und her. Doch selbst diese Grenzpunkte, Prozesse des Tötens und Verlebendigens, verschieben sich ineinander: Der Text assoziiert Abrams Befreiung aus der Todesstarre mit der brutalen Institutionalisierung dieser Starre durch Nimrod. D u ziehst mich aber an keinem Seil und ich sehne mich so nach dir! Du jagst mich aber mit keinem Pfeil und ich sehne mich so nach dir! D u hast mein Blut entzündet aber mit keinem Feuer Du hast mich hinter die Wand der Nacht gefuhrt aber mit keinem Finger und ich sehne mich so nach dir! In den Netzen und Gruben der Finsternis fingst du dein Wild und ich sehne mich so nach dir! 5 9

Der Antagonismus zwischen Nimrod und Abram ist der Spannung zwischen den wörtlichen und metaphorischen Konnotationen der Verben eingeschrieben. Die Stimme der Nacht "zieht", "jagt", "entzündet", "fuhrt", "fängt" ohne die im wörtlichen Sinn technischen Hilfsmittel, die Nimrod einsetzt. Die gleichen Verben bezeichnen das Töten und das Verlebendigen: im ersten Fall ist das Handeln sichtbar, im zweiten unsichtbar, nur hörbar. Doch das sichtbare Handeln unterliegt dem anderen unsichtbaren, da es Abram vor dem Seil, Pfeil, Feuer und Finger schützt. Die "Stimme aus Nacht" fuhrt "hinter die Wand der Nacht". Die Nacht als zeitliches Geschehen, als das Rufen und Sprechen, Jagen, Entzünden, Fangen setzt sich gegen die Nacht als Raum, Grab, Geburtshöhle und Gebiß durch. Man könnte hier soweit gehen, die antagonistische Zeit- und Raummetaphorik als Bildlichkeit für die zwei extremen Pole der Sprache zu lesen: das sprechende Bezeichnen wird dem starren, eingrenzenden Zeichen entgegengesetzt. Ganz deutlich wird diese Relation in der Ambivalenz des Nachtmotivs: wenn nämlich die "Stimme aus Nacht" "hinter die Wand der Nacht" fuhrt und dabei die ihr eigene räumliche Begrenzung überwindet. Noch scheint sich hier die Dynamik des Sprechens gegenüber der Statik des Zeichens durchzusetzen. Einmal gerufen gibt es für Abram keinen Stillstand mehr: Ich breche aus den Wänden aus den Dächern Ich breche aus dem grünumrandeten Schlaf

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Sachs: Zeichen im Sand, S. 111.

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Ich breche aus den Meeren aus den Feuern - 6 0

Nichts Äußeres kann ihn halten, auch die Präsenz der Eltern in der siebten Szene nicht. Am Schluß rufen nacheinander zuerst die Vater-, dann die Mutterstimme, dann Vater- und Mutterstimme und zuallerletzt "die Stimme" selbst seinen Namen. Auf alle Rufe antwortet Abram dasselbe "Ich komme". Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen den Rufern und den Stimmen, die absolute Autorität behauptet allein der gesprochene Name, gleichgültig, von wem er gerufen wird. Dieser Name fuhrt ihn nicht zurück in Bekanntes und Vertrautes, sondern treibt ihn immer weiter über dieses hinaus in eine ekstatische, allem entfliehende Sehnsucht. Selbst die "Stimme" büßt ihre Autorität ein, wenn sie banal Alltägliches fordert: Geh zu der Hütte geh zu der Herde geh zu Wiese und Feld geh in die Heimat Sie saugt an deinem Blut [...] Sitz unter den Zelten - sitz [...] 61

Sein vom Namen affiziertes "Sehnen" ignoriert diese Forderungen, die ihn von der ekstatischen Hörigkeit gegenüber der Stimme distanzieren wollen. Der Bezug zu dieser Sehnsucht kann sich nur durch Negation des sprachlichen Literalsinns ereignen. Das metaphorische Sprechen wird nicht von den semantischen Festschreibungen des Wörtlichen blockiert. Sobald die Stimme pragmatisch wörtliche Anweisungen gibt, wendet sich Abram von ihr ab, denn die Stimme, die er sucht, soll ihm selbst "Hütte", "Herde", "Wiese" und "Feld", "Heimat" werden und ihn nicht auf einen statischen Bezugspunkt außerhalb ihrer selbst verweisen. Würde diese dramatische Szene, wie ihre bisher unveröffentlichten anderen Fassungen, mit dieser flüchtenden Sehnsucht Abrams enden, dann könnten Nimrod und Abram tatsächlich als Figurationen antagonistischer Prinzipien der Sprache gelten. Nimrod würde die Prozesse, die zur Bezeichnung, Erstarrung, Verschriftlichung, Vertextung hinfuhren und an wörtliche Konnotationen gebunden sind, personifizieren und Abram die Prozesse, die vor dem Sprechen und dem Schreiben die Suche nach der Sprache bedingen, also der Sphäre des Noch-Nicht- oder des Nicht-Mehr-Textes angehören. Sie fuhren von Bezeichnung, Erstarrung und Verschriftlichung weg und können daher als metaphorisierende Prozesse bezeichnet werden. Insofern sind Abram und Nimrod Figuren des Zwischen, die sich nur in unterschiedliche Richtungen bewegen. Doch 60 61

Ebd., S. 118. Ebd.

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Kapitel II

Abram kommt nirgends an; wie der biblische Abraham nomadisiert er und gibt jegliche heimatliche Sicherheit auf, wie Hegel betont.62 Er personifiziert die Sehnsucht selbst, indem er sich durch die penetrante Wiederholung des einen Satzes "und ich sehne mich so nach dir" als Ich des Sehnens definiert, während Nimrod das Substantiv "Sehnsucht" überhaupt erst im Sand entziffern muß und es nur durch das Medium der Schrift kennenlernt. NIMROD bückt sich und entziffert: Sehnsucht aus Durst! 63

Während Nimrod dem Schriftbild der Sprache ausgeliefert ist, bleibt Abram der Stimme, dem Ruf und dem Klang seines Namens ergeben. Dadurch strebt er in eine Sphäre außerhalb der visuell zeichenhaft festgelegten Strukturen der Sprache. Er verschreibt sich ihren metaphorisierenden Zügen, die das im jeweils Präsenten immer noch Andere aktualisieren, ohne sich jemals einem außersprachlichen Referenzpunkt auszuliefern. Darin scheint die Analogie zur Stimme zu liegen: wie sie im Erklingen verklingt, löscht sich eine Metapher aus, indem sie auf eine andere verweist. Dieser Sprachvorstellung entsprechend referiert ein Bild nicht mehr auf einen nichtbildlichen, außersprachlichen Gegenstand, sondern solch ein Gegenstand würde selbst als sprachliches Bild ausgewiesen, so daß ein bildlicher Ausdruck immer wieder einen anderen nach sich zieht. Diese unendliche Verweisungspotenz innerhalb der Sprache könnte als Prinzip der Sehnsucht im Sprachlichen, als Sehnsucht des Sprachlichen selbst, identifiziert werden. Denn es ist charakteristisch für die Sehnsucht, einmal erreichte Grenzen zu sprengen und über sie hinauszustreben. Als Figur dieser sehnenden Suche und Sucht (Sehn-Sucht) aktiviert Abram durchgehend gerade den dunklen Bereich zwischen den Wort- beziehungsweise Bildgrenzen. In dieser Suche fallen die aristotelisch klassischen Grenzen weg, die Wort und Bild, philosophische und metaphorische Rede voneinander unterscheiden. Von philosophischer Perspektive ist hier Rodolphe Gasches Arbeit über Derrida relevant. Im Sinne Derridas beschreibt Gasche das Metaphorische als Phänomen, das über die philosophische Differenz zwischen Wort- und Bildgehalt der Sprache Rechenschaft gibt, da letztlich kein Bild auf seine theoretische Bedeutung reduziert werden kann.64 62

63 64

In Hegels Jugendschrift Abraham in Chaldäa geboren wird Abraham als der wandernde Nomade portraitiert, der sich aus allen heimischen Beziehungen befreit und um dieser Freiheit willen die Heimatlosigkeit und das Leben in der Fremde wählt. Die Funktion des Geistes, der ihn aus seiner Verwandtschaft wegführt, könnte mit der "Stimme aus Nacht" in Nelly Sachs' Szene verglichen werden. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Abraham, in Chaldäa geboren. In: Hegel's Theologische Jugendschriften. Hrsg. v. Hermann Nohl. Tübingen: Mohr 1907. Frankfurt a.M.: Minerva 1966. Sachs: Zeichen im Sand, S. 113. Gaschö, Rodolphe: The Tain of the Mirror. Derrida and the Philosophy of Reflection. Cambridge, Massachusetts, London: Harvard UP 1986, S. 293ff.

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Mit dem Antagonismus zwischen Abram und Nimrod enden andere unveröffentlichte Fassungen. Neben der Stimme der Nacht, die in der vierten Szene des einen Textes65 zunächst als Kinderstimme erklingt, "erscheint der Engel Metraton [sie] mit dem Weltauge auf der Stirn".66 In der letzten Szene prophezeit dieser Engel: Abram, Entdecker vom sternenthobenen Ort. Hinter allen Heimatnebeln hast du die Heimat gefunden 6 7

Abram siegt. Indem er "die Heimat" findet, erreicht er den Höhepunkt teleologisch ausgerichteter Geschichte. In einer anderen Fassung erwacht Abram aus einem Schlaf, und der Engel singt "hinter der Bühne" von dieser die Geschichte umstürzenden Bedeutung seines Erwachens. "O du der aus dem weinenden Sternbild Babylons / den Äon des lebenden Lebens hobst".68 Jede dieser unveröffentlichten Fassungen verehrt Abram als den Überwinder Nimrods und den Überwinder des Todes. Gerade diese Eindeutigkeit, die durch den jeweils ersten Titel dieser Fassungen "Abrams Erwachen" angedeutet ist, wird in der veröffentlichten Fassung äußerst ambivalent. In ihr wird die Stimme nicht im traditionellen Sinne allegorisiert, sie tritt nicht als Figur in Erscheinung und verbleibt in der Unsichtbarkeit. Anstatt Abrams Sehnsuchtsexistenz durch pathetisch hymnische Paraphrasen69 zu poetisieren, prophezeit sie:

65 66 67 68 69

Nelly Sachs Archiv Dortmund: Arch. 224. Nelly Sachs Archiv Dortmund: Arch. 224, S. 1 If. Nelly Sachs Archiv Dortmund: Arch. 224, S. 29. Nelly Sachs Archiv Dortmund: Arch. 226, S. 16. Wie zum Beispiel in den folgenden Versen: Erstling in der Nachtwandlerschaar der stummen Fische Sehnsuchtsschrei aus ihrer Wunde "GOTT"! (Nelly Sachs Archiv Dortmund: Arch. 224, S. 29). "O du aus Chaldäas Sterndeuterhafen unruhige Welle, die in unseren Adern noch immer sucht voll Tränen im Meer. Ο Abraham, die Uhren aller Zeiten, die sonnen- und monddurchleuchteten hast du auf Ewigkeit gestellt Ο dein wunderbrennender Äon den sie mit ihrer Sehnsucht ans Ende bringen müssen dort, wo alle Reife hinfällt -" (Nelly Sachs Archiv Dortmund: Arch. 226, S.17).

Kapitel II

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Ich will den Augenblick dir zeigen wo Er dich greifen wird Moriah heißt er da wird der Weg mit Flammen dir vom Leib gerissen werden Ein Blitz der alles Leiden schrieb in dieses Wort Hier ist der Sohn Hier ist der Strick Hier ist die Opferstätte Wo ist das Opfer? schreibt der Blitz Was weiter wird, bedeckt dein eigner Schatten dir Dies ist der höchste Leidensberg der Erde Du trägst schon sein Gewicht in dir70 Hier präsentiert sich die Stimme von einer ganz neuen Perspektive: Sie lenkt Abram von seinem eigenen Namen ab und verweist ihn auf den ihm eingeschriebenen "Moriah"-Kontext. Als dessen Leserin und Rezitatorin distanziert sie sich von der ihr eigenen Idealität und bindet ihr Sprechen zurück an das geschriebene Wort. Insofern verweist sie Abram an das zurück, wovor er flieht. Die Stimme prophezeit Abram nicht einfach nur eine Zukunft des Leidens, sondern sie verankert diese Zukunft in der Präsenz eines Wortes und des ihm eingeschriebenen Textes. Abram kann sich durch kein sehnsuchtsvolles Transzendieren der im Wort "Moriah" bereits vertexteten und vertextet werdenden Zukunft entziehen. Die prologhaft wiederholten Einsetzungsworte - "Hier ist... Hier ist... Hier ist..." - entwerfen eine Szenerie der Vernichtung. Diese Szene ist aus Genesis 22 bekannt, ihre legendarische Kommentierung im Midrasch ist von Herder unter dem Titel Die Stimme der Thränen übersetzt worden.71 Nach Genesis 22 prüft Gott Abrams Opferbereitschaft, indem er die Opferung seines einzigen spätgeborenen Sohnes fordert. Der Name der Opferstätte, "Morija", wird Abram zunächst durch die Stimme Gottes offenbart: Da sprach er: "Nimm doch deinen Sohn, den einzigen, den du lieb hast, den Jizhak, und geh in das Land der Weisung (Morija) und bringe ihn dort zum Hochopfer dar auf einem der Berge, den ich dir nennen werde.72

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Sachs: Zeichen im Sand, S. 119. Herder: Johann Gottfried: Blätter der Vorzeit. Dichtungen aus der morgenländischen Sage. Berlin: Schocken 1936, S. 39-41. (Diese Ausgabe befand sich in Nelly Sachs1 Bibliothek, die jetzt in der Kungl. Biblioteket, Stockholm, aufbewahrt wird.) "Bereschit 22, Vers: 2/3." Zit. nach: Die Heilige Schrift. Tora/Fünfbuch. Auf Veranlassung der jüdischen Gemeinde Berlin hrsg. v. Harry Torczyner. Frankfurt a.M.: J.Kauffinann 1934.

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Hier in Nelly Sachs' Text ist allerdings dem Namen "Moriah" schon die gesamte Opfergeschichte eingeschrieben, denn der Text identifiziert den Namen mit den Konkreta "Sohn", "Strick" und "Opferstätte", so daß sich das Wort selbst als Opferungs-, Leidens- und Befreiungsszene erweist. Jizhak wird ja letztlich nicht getötet. Dies geschriebene Wort ist die Stätte, an der geopfert wird. Diese erneute Konfrontation mit der Schrift zwingt Abrams transzendierendes Sehnen wieder in die radikal begrenzte Immanenz des Todes und des an ihn gebundenen und ihm vorhergehenden Leidens. Dessen Brutalität, seinem "Greifen" und "reißen" kann er nicht entfliehen. Es scheint, daß die gesamte Szene wieder von vorne, mit dem Tod Abrams anfangen könnte. Moriah ist der erste geographische Ort, der in dieser "Salzlandschaft nach der Sintflut" genannt wird. Es ist kein Zufall, daß etymologische Forschungen zur Sprache neben Eigennamen zunächst von geographischen Bezeichnungen, von Länder-, Städte-, Berg- und Flußnamen ausgehen, da diese von den sich wandelnden historischen Bedingungen am wenigsten betroffen werden. Der Name hält der äußeren Geschichte stand, doch setzt er seine eigene Geschichte: ein Blitz "schrieb alles Leiden in dieses Wort". Dieses aus der blitzhaften Verschriftlichung hervorgehende Wort wird zum einzigen Orientierungspunkt Abrams. Zuvor inaugurierte Nimrod die Kulthandlung, die nun durch die Präsenz des Wortes "Moriah" gefordert wird. Tritt das Wort an die Stelle von Nimrods Tyrannei? Könnte man im nachherein Nimrods Handeln als Inszenierung des Wortes "Moriah" identifizieren? Das wäre zu voreilig, denn es muß zwischen Nimrod, der sich dem "neuen Wort" nur dadurch aussetzt, daß er es auszulöschen versucht, und Abram, der diesem Wort, der Stimme, hörig wird, unterschieden werden. Abram will das Wort gerade nicht als blockierende "Haltestelle" akzeptieren. Die Stimme setzt also beiden Figuren gegenüber ihre absolute Unabhängigkeit durch und läßt sich weder von Abram noch von Nimrod vereinnahmen. Da sie sich durch alle Sphären des sprachlichen Zwischen bewegt und sowohl die eine wie die andere Grenze setzen und überschreiten kann, wird sie Ziel und Ausgangspunkt des Geschehens. Die Komplexität ihrer Präsenz, als Tod und Leben, Dunkel und Helligkeit, entgrenzt im Begrenzen und begrenzt im Entgrenzen. Die Figuren Abram und Nimrod unterliegen dieser inversiven Dynamik, da beide von ihren jeweiligen Intentionen nicht ablassen können. Abram lebt "im Salz", im Tod. Der Tod bedeutet kein Ende, er ist immer schon als "Gewicht" im Leben präsent. Diese Implikation des Einen "im" Anderen, beziehungsweise der Ex-plikation des Anderen aus dem Einen, wird besonders deutlich durch die Einschreibung eines Wortes in ein anderes oder einer Szene in eine andere: Der Name Abram "trägt" bereits das "Gewicht" des Namens "Moriah" in sich, dem nicht nur bereits ein Text eingeschrieben ist,

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KapitellI

sondern auch noch eingeschrieben wird, so daß dieser also eine unendliche Vertextung, "Gewichtung" erfährt. Abrams Präsenz nimmt hier im Schluß die Position des ambivalenten intrasprachlichen Zwischen ein, der leidenden Sehnsucht zwischen dem bereits geschriebenen und dem noch nicht geschriebenen Wort, das sich als universelles Zwischen der Extreme zwischen Tod und Leben, Zeichen und Bezeichnetes schiebt. In diesem Sinne muß die Figur Abrams als Versuch der Figuration eines Nicht-Figurativen und auch nicht Figurierbaren gelesen werden. Sein Bühnenauftritt markiert nur den End- und Umschlagspunkt seines jeweiligen Erscheinens und Verschwindens, des in die Sichtbarkeit- und aus der Sichtbarkeit-Tretens. Das macht vor allem auch der Schluß der Szene deutlich. Mit der gleichförmigen Antwort "Ich komme", die vollkommen offen läßt, wohin er kommt, folgt Abram dem Ruf seines Namens und nicht denjenigen, die ihn rufen. Dieser Ruf erklingt zuletzt "aus weiter Ferne", der aporetischen Ferne, in die dieser Name, der sich nie einholen lassen wird, seinen "Träger" lockt. Denn alle Implikationen des Namens können im Rahmen der Sprache eines dramatischen Textes nicht untergebracht werden, so entflieht Abram zuletzt der Szene und dem dramatischen Text selbst. Nelly Sachs hat lange an diesem Drama der Sehnsucht gearbeitet, das sie zuerst seit 1944 "Abrams Erwachen oder Sehnsucht aus Durst"73 nannte und dem sie 1950 den neuen Titel Abram im Salz verlieh. In einem Brief vom 2. März 1950 heißt es: Und ich schreib nun an dem Drama, das plötzlich einen anderen Titel erhielt und dessen Zusammenhänge mir klar wurden. 7 4

Neue Fassungen setzen neue "Zusammenhänge", "Zusammenhänge" der "Zusammenhänge".75 Wie findet dieser Übergang von einem "Zusammenhang" 73

74 75

Nach Ehrhard Bahr war dieses Drama bis 1951 als ein Vorspiel zu dem großen "Totaltheater 'Das Haar'" geplant. "Erst 1952 sprach sie [Nelly Sachs] von 'Abram im Salz' als einem selbständigen Stück." (Vgl.: Bahr: Nelly Sachs (wie Anm. 5), S. 172). Ich halte es dagegen auch für möglich, daß Nelly Sachs lange Zeit mit beiden Möglichkeiten der Veröffentlichung, sowohl als selbständiger Text, als auch als Vorspiel zu Das Haar, gerechnet hat. Denn im Dortmunder Nelly Sachs Archiv liegen unterschiedliche Fassungen der dramatischen Szene mit den Titeln - "Abrahams Erwachen oder Sehnsucht aus Durst", "Abram's Erwachen oder Sehnsucht aus Durst" - vor, die teilweise mit handschriftlichen Korrekturen versehen sind. Es scheinen gerade diese Fassungen zu sein, auf die sich die Dichterin in Briefen seit 1946 bezieht. Denn in den Stockholmer Manuskripten des Dramas Das Haar. Ein Spiel rund um die Mitternacht, hat das Vorspiel, das viele Parallelen zu den Abram im Salz"Fassungen aufweist, den Titel: Die Wurzel. Dieser Titel wird in den mir zugänglichen Briefen kaum erwähnt. Briefe der Nelly Sachs, S. 113. Die Tatsache, daß die dramatische Szene ins Wort verlagert wird, so daß Leben und Tod zu Funktionen der Sprache werden, unterscheidet die veröffentlichte Fassung von den un-

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zum nächsten statt? Über ein Jahr nach dem oben zitierten Brief heißt es am 15. Juli 1951: Auch weiß ich nun besser mit meinem Drama umzugehn und werde es noch tüchtig mit der Gartenschere behandeln, damit die Rose stark und sichtbar blüht. 7 6

Nelly Sachs interessiert sich nicht mehr wie in ihren früheren Fassungen für eine pompös dekorative oder spielerische Ausziselierung des Geschehens, wie sie nach Benjamin 77 auch für barocke und romantische Dramen typisch ist. Vielmehr liegt der Schlüssel zur dichterischen Produktion in der Reduktion und Dekomposition. Schreiben und insbesondere Weiterschreiben heißt fur sie, Texte zu beschneiden und neu zu komponieren. Dabei radiert sie das jeweils Abgetrennte, den Text-Abfall, nicht einfach aus, sondern übernimmt ihn als Konstitutionselement für andere Texte. In einem Brief an ihren Förderer und Kritiker Walter Berendsohn78 heißt es: Sicherlich ist zuviel hinein geheimnißt. Und es kann manches hinaus und in die "Mitternachtsbriefe" hinein. Die sollen mit den Elegien und manchem anderen einmal ein [sic] Band für sich bilden. 7 9

Die Reduktion eines Textes fuhrt zur Konstitution eines anderen. Textelemente werden zerschnitten, verteilt, verschoben und umstrukturiert. In bezug auf Abrain im Salz gehen aus diesen Umstrukturierungen erstens verschiedene Fassungen des Dramas und zweitens die obengenannten "Mitternachtsbriefe" hervor. Diese Texte zeigen deutlich, aus welch vorsichtigen Umarbeitungen die endgültige Fassung resultiert. Daß in sie auch Überlegungen zur Theatralik eingehen, zeigt drittens Nelly Sachs' Begriff des Total- beziehungsweise Kulttheaters, den sie in Briefen ansatzweise entwickelt und der im folgenden in bezug auf Probleme des Gesamtkunstwerks und inbesondere auf die Debatte um Beziehungen zwischen Sprache und Musik erläutert werden soll.

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veröffentlichten Fassungen. Diese letzteren lassen sich noch nicht als "Dramen der Sprachreflexion" bezeichnen. Briefe der Nelly Sachs, S. 128f. Benjamin, Walter: Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie. In: Benjamin: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd 1.1. Frankfürt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 261. Genaueres Uber Walter Berendsohn, einen langjährigen Freund und Förderer der Dichtung von Nelly Sachs, dessen umfangreiche Dokumente über seine Freundschaft mit ihr im Nelly Sachs Archiv Dortmund aufbewahrt werden, in: Briefe der Nelly Sachs, S. 358. Walter Berendsohn ist auch der Verfasser einer Einführung in das Werk der Dichterin. Berendsohn, Walter: Nelly Sachs. Einführung in das Werk der Dichterin jüdischen Schicksals. Mit einem Prosatext "Leben unter Bedrohung", einer Auswahl von 30 Briefen aus den Jahren 1946-1958 und einem Bericht über die Nelly-Sachs-Sammlung in Dortmund. Darmstadt: Agora 1974. Dieser Brief ist unveröffentlicht und liegt im Nelly Sachs Archiv der Stadt- und Landesbibliothek Dormund vor. Arch. 115.

Kapitel II

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1. Zu den verschiedenen Fassungen des Dramas Die Ausgabe Zeichen im Sand datiert den Beginn der Arbeit an dem Drama Abram im Salz auf das Jahr 1944, Briefe erwähnen das Drama häufig in der Zeit zwischen dem 28. September 1946 und dem Jahr 1952. 80 Acht Jahre experimentiert Nelly Sachs mit diesem Drama. Viele Figuren, Motive und Themen von Abram im Salz sind schon in früheren Fassungen präsent. Während in den unveröffentlichten Fassungen81 noch das höchst symbolische Erscheinen des Engels Metraton [sie] zwischen Abram und dem ganz Anderen der Stimme vermittelt82, wird diese Figur des Engels in der veröffentlichten Fassung auf "Hände" reduziert, die plötzlich aus dem Unsichtbaren auftauchen. Während Abram zum ersten Mal spricht, "bedecken ihn Hände. Er wird unsichtbar"83 und vor Nimrods Pfeilen geschützt, ohne daß die ihn schützende Instanz, so wie in den früheren Fassungen, als Engel bekannt und sichtbar wäre. Mit dieser Figur des Engels wird ein Motiv aus Herders übertragener Legende zitiert. Der Name Metraton [recte: Metatron] knüpft an Vorstellungen der Merkaba-Mystik an. Gershom Scholem identifiziert ihn als den nach einem f r o m m e n Erdenwandel mit Gott zum höchsten aller Engel und Sar ha-panim, das heißt Fürsten des göttlichen Angesichts oder der göttlichen Gegenwart, erhobenen Henoch. 8 4

Solche hier nur beispielhaft angeführten, in der dramatischen Szene fragmentarisch zusammengestückelten Traditions- und Wissenselemente und bildlichen Vorstellungshilfen, die in die früheren unveröffentlichten Fassungen des Dra80

82

83 84

Im Zuge der Auseinandersetzung mit ihrem Komponisten-Freund Moses Pergament, dem sie den Dramentext zur musikalischen Bearbeitung überlassen hatte und der ohne Rücksicht auf die sprachlichen Intentionen der Dichterin das Drama als Libretto für eine Oper benutzte, distanzierte sich Nelly Sachs in Briefen des Jahres 1957 mit Entsetzen über die Entwürdigung ihres Textes zum Operntext. Der hier vorliegenden Analyse liegen 5 Fassungen aus den Nelly Sachs-Archiven der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund und der Kungl. Biblioteket Stockholm vor: zitiert werden im folgenden Archivnummem 224 und 226 (vom Nelly Sachs Archiv Dortmund), da die anderen Fassungen ihnen im großen und ganzen gleichen; handschriftliche Korrekturen, die in ihnen vorgenommen wurden, sind in diese letzteren (Arch 224 und 226) schon ins Manuskript Ubertragen. Genaueres zur Entstehungsgeschichte vgl. Bahr: Nelly Sachs (wie Anm. 5), S. 172. Arch. 224. S.5: Die Regieanweisung lautet: "Stimme aus der Nacht. Während sie spricht erscheint der Engel Metraton [sie] mit dem Weltauge auf der Stirn riesengroß auf seinem Gewand leuchtet der Tierkreis. Er hält seine Hände die von Stemenstraßen durchzogen sind vor dem Knaben." Sachs: Zeichen im Sand, S. 108. Scholem, Gershom: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. S. 72.

Nelly Sachs' Dramen: Inszenierungen der Sprache

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mas eingehen, sind aus der veröffentlichten Fassung gestrichen. Assoziative Applikationen vorgeprägten Wissens werden radikal unterbunden. An die Stelle kontextzitierender Motive tritt hier die von jeder Körperlichkeit abgelöste Einzelgeste, die kein religiös vorgegebenes Hierarchien- und Konnotationssystem impliziert, sondern im Gegenteil ihren Fragmentcharakter exponiert. Beispiele für diese chiffrenhafite Reduktion des Textes auf gewisse Verfremdungseffekte können nicht nur im Theatralisch-Gestischen aufgefunden werden, sondern vor allem auch in der Rhetorik des als gesprochen vorzustellenden Textes. In Arch. 226 durchziehen in immer neuen Kombinationen Wasser-, Meer-, Seetang-, Korallen- und Fischmotive den Text. Doch im Rahmen dieser Sintflutbilder überlagern sich mehrere semantische Bereiche. Zum Beispiel wird von der "Todesmuschel", der "Muschel aus Tod", dem "Muschelmund", der "sausenden Muschel des Gottesgeheimnisses", vom "Gerippe des Wassers" oder der "vertrockneten Sintflut" und gleichzeitig vom "Meerschrei" gesprochen, ohne daß ein Übergang vom Lautlosen zum Lautlichen stattfände. Beide Motive existieren nebeneinander. Im folgenden Wortwechsel zum Beispiel kann das Verhältnis zwischen "Sintflutleiche" und "neuem Wort" nicht deutlich bestimmt werden. Es wird einfach gesetzt. Nimrod: Lilitu:

Was ist das fur ein neues Wort... Wo ist die Stimme, die da spricht... Das ist die Sintflutleiche Ende vom Salz übrig gebliebenes Gerippe mit dem grünen Mantel der Verwesung angetan [...] 85

Nimrod sucht das Wort und "die Stimme, die da spricht" jenseits der Todesszenerie, auf die Lilitu ihn hinweist. Diese von ihr entworfene Szenerie ist nicht nur, wie in der veröffentlichten Fassung, auf die Figur des auferstehenden Abrain bezogen, sondern sie wird zu einer nachsintflutlichen Landschaft ausgeweitet, die in unterschiedlichsten Motiven - wie "Sterbeblau Silberfisch / Koralle aus Blut ... Seestern und Menschenhaar"86 - auch sonst immer wieder präsent ist. Welchen rhetorischen Status hat diese poetisch in gewisser Weise reizvolle Fusion von Abrams Stimme mit der Stimmwerdung der sonst schweigenden Landschaft? Führt sie ein neues Sprachkonzept ein, in dessen Rahmen die Bilder der Todeslandschaft nicht nur als metaphorisch illustrierende Szenerie für Abrams Sprachsuche gelten, sondern im Sinne der Andeutung einer Natursprachenphilosophie eine gewisse philosophische Eigenständigkeit be-

85 86

Arch. 226, S. 9. Arch. 226, S. 1.

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Kapitel II

haupten? Dann verschöbe sich ihre rhetorisch systematische Funktion. Lilitus "Sintflutleiche" fungierte als Metapher für das "neue Wort", für den unsichtbaren Abram "im Sterbehemd" - oder Lilitu spräche in verrätselnder Weise von dem Wort als dem Wort der nach der Sintflut "übriggebliebenen" Landschaft, als dem zeichenhaften Requisit der Sintflut, das als "Koralle", "Seestern", "Salz" von ihr zeugte? Dann entwürfe Lilitus Rede eine vom Abram-Kontext losgelöste Chiffre einer Sprach-, Ausdrucks- und Zeichentheorie, da die Sintflut als emblematische, kaum erläuterte Bildschicht fungierte und eine autonome bildliche und gedankliche Sphäre instituierte. Über den Status dieses textlichen Elements, zwischen seiner metaphorischen und chiffrenhaften Funktion, kann nicht entschieden werden. Erst andere Fassungen etablieren eine konsequentere Rhetorik. In Arch. 224 fehlt die durchgängige Sintflut-Bildlichkeit. Wassermotive sind nur vereinzelt vertreten. Ein gutes Beispiel bietet die an Abram gerichtete Schlußapostrophe des Engels Metraton. Abram, [...] Erstling in der Nachtwandlerschar der stummen Fische Sehnsuchtsschrei aus ihrer Wunde "Gott"!

Das Motiv "der stummen Fische" wird hier unvorbereitet eingeführt; grammatisch scheint es als doppelter Genetiv die "Nachtwandlerschar" und den "Sehnsuchtsschrei" genauer zu bestimmen. Abram wird appositionell als "Erstling" in das für die Fische paradoxale Verhältnis von "Stummheit" und "Schrei" eingeführt. Diese Assoziation von Abrams Beziehung zur Sprache mit dem Schrei der verwundeten Fische basiert auf der Parallelität äußerst ekstatischer und in der Ekstase änigmatischer Situationen, in denen das Leben sich nur noch als Schrei äußert. Das Fischmotiv fungiert hier wie auch in den "Mitternachtsbriefen" rhetorisch immer noch als ein Vergleich, wenn auch als ein in gewisser Weise hermetisch verschlüsselter Vergleich.87 Solche Rhetorik eines gedanklich vertiefenden ornatus, der Metapher oder des Vergleichs, fehlt in der veröffentlichten Fassung vollkommen. Die motivischen Differenzierungen der Sintflutszenerie sind gestrichen. Die Rhetorik des omatus wird auf das 'vitium des Zuwenig', auf die oratio inornata reduziert. Das zieht die Konsequenz einer radikalen Chiffrierung und materiellen Entleerung des Textes nach sich. Er wird kürzer und karger; jedes Motiv gewinnt seine Prägnanz durch Isolation von anderen Motiven und von jeglicher konventionellen Bedeutungsapplikation, nach der zum Beispiel dem Motiv des Engels biblisch religiöse Hierarchievorstellungen eingeschrieben sind. So wird Dieses Motiv ist in der später verfaßten dramatischen Szene Beryll sieht in der Nacht aus der figurativen Rhetorik herausgelöst und zur visuellen Szene umgestaltet. Vgl. Kapitel II,

Cl.

Nelly Sachs' Dramen: Inszenierungen der Sprache

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das einzelne Wort aus den ihm anhängenden konventionellen Perzeptionen herausgebrochen und vorgegebenen semantischen Konzeption entzogen. Dadurch riskiert der Text allerdings, daß ihm Unverstehbarkeit vorgeworfen wird. Die Folge der Bearbeitungen zeigt die allmähliche Annäherung an die Grenze, an der Signifikant und Signifikat auseinanderbrechen und die die Lektüre dieser Texte so schwierig macht, da sie selbst auch immer in das Paradox verstrickt sind, mit Worten um das 'Außerhalb der Worte' kreisen zu müssen. Dieses Problem der Lektüre ist in den frühen Fassungen noch nicht in demselben Maße gegeben wie in der veröffentlichten Fassung, da in ihnen die dramatische Szene noch nicht radikal ins Wort verlagert ist. Die unveröffentlichten Fassungen können nicht so ausschließlich wie Abram im Sah und die ungefähr siebzehn Jahre später verfaßte Szene Beryll sieht in der Nacht als Dramen, in denen die Sprache inszeniert wird, bezeichnet werden.

2. Zu "Mitternachtsbriefen" Die bis jetzt noch unveröffentlichten "Briefe aus der Nacht" 88 wurden zwischen 1950 und 1953 als eine Art Tagebuch verfaßt; sie sind an die im Jahr 1950 verstorbene Mutter der Dichterin gerichtet, die sie durch lange Krankheitszeiten, durch nächtliche Visions- und Traumphantasien hindurch begleitete und pflegte. Diese "Briefe aus der Nacht" können als Kommentar zum Drama, nicht so sehr zum Inhaltlichen, sondern eher zur Konstruktion des Dramas gelesen werden. Wo das Schreiben am Drama verzweifelt, da schreibt es die "Briefe aus der Nacht" weiter. Ich kann nicht das Drama der Sehnsucht schreiben. Immer wieder versucht, ich kann nicht. Die Sehnsucht reisst mir das Fleisch fort. 89

Das dem Abram Prophezeite - "da wird der Weg mit Flammen dir vom Leib gerissen werden" - ist bereits Wirklichkeit für die Autorin. Ihr "reisst die Sehnsucht das Fleisch fort". Sie kann diesem Massaker, das auch durch das Schreiben nicht gebändigt werden kann, nicht entgehen. In der Figur Abram konzipiert sie eine Alternative: Immer so leben, immer so atmen. Niemals stehn, immer eilen, niemals anderes als die Unruhe "Dahin". Das soll Abram dartun Immer fühlen, dass die Erdkruste dazu da ist, durchbrochen zu werden, immer die Sterne ansehn als den nächsten Wegweiser, der "Weiter" zeigt. Ein und aus tritt das Geheimnis, in die Gebärde, in den Augenaufschlag, in den Atemzug ein und aus und brennt heftiger. Darum kann sich nichts ründen, nichts im Gedicht ruhen, nichts im Drama sich vollenden, 88

89

Nelly Sachs Archiv der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund. Arch. 238. Der Text umfaßt 31 getippte Seiten. Arch. 238: Vom 9. Juni 1951. "Briefe aus der Nacht." S. 25.

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Kapitel II nichts sein, nur weiter, w e i t e r . . . Hier ist kein "Fertigwerden". D i e Steine der Unruhe pflastern den unendlichen W e g . 9 0

Sowie auch in diesen Briefen "sich nichts runden", "nichts ruhen", "nichts vollenden" soll, soll auch Abram nichts darstellen, "niemals stehn". Frühere Briefe behaupten noch das Gegenteil: D a s Abram-Spiel hat immer eine Mitte im Runden, steigt immer aus dem Grab. A u s dem Inneren, Auferstehung der Mitte. 9 1

Solchen klassisch anmutenden Vorstellungen des runden, symmetrischen, zentrierten Charakters des Dramas stehen Vermutungen und Ahnungen wie die vom Juni 1951 gegenüber, die gerade die Möglichkeit einer geschlossenen dramatischen Form bezweifeln.92 Die Frage, welche Form das "Drama der Sehnsucht" annehmen soll, wird immer dringlicher. In einem Brief an Walter Berendsohn formuliert Nelly Sachs diese Frage am 3. Juli 1951 folgendermaßen: Lorca hat wohl in unserer Zeit die herrlichsten richtigen Dramen geschrieben, aber sie sind "hiesig". Wie soll man den Anschluß an das "Andere" finden die Vieldeutigkeit aufweisen wollen ohne in ein D o g m a zu geraten ohne den Rahmen zu durchbrechen, den runden Kreis? [sie] 9 3

Das Schreiben will einen "Anschluß an das Andere finden" und "Vieldeutigkeit aufweisen". Insofern ist es selbst Ausdruck eines Paradoxes: es sucht, indem es bereits ein Ende der Suche, nämlich "das Andere" als semantisch aufzuweisende "Vieldeutigkeit", hypostasiert. Im Zuge der Mitternachtsbriefe wird deutlich, daß dieses "Andere" sich dem Schreiben entzieht und es selbst in Frage stellt. So wird die Produktion des Dramas selbst zum dramatischen Prozeß, der das "Andere" einzufangen versucht. Es soll so sein, dass ich nicht mehr tun darf, als schlimme Finger zu verbinden oder einem schreienden Kind einen Bonbon zu geben. Und das Andere, das Unendliche zieht in sein Randloses hin. 9 4

Autonom und unbeeinflußt vom dichterischen Prozeß ragt das "Andere" über Ränder der Deutbarkeit hinaus. Es ist in keine Grenzen, auch nicht in die von 90 91 92

93

94

Ebd., S.25f. Arch. 238: Vom 18. Februar 1951. "Briefe aus der Nacht." S. 17. Einige Formulierungen, vor allem diejenigen, die mit geometrisch symmetrischen Begriffen arbeiten, erinnern an Volker Klotz' theoretisch systematische Unterscheidung zwischen offener und geschlossener Dramenform, doch gehen sie weit über diese hinaus, wenn sie das Schreiben selbst als ein Drama identifizieren. Klotz, Volker: Geschlossene und offene Form des Dramas. München: Carl Hanser 1985. Dieser Brief ist unveröffentlicht und liegt unter der Archivnummer 115 im Nelly Sachs Archiv der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund vor. Arch. 238: Vom 18. Februar 1951. "Briefe aus der Nacht." S. 17.

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Text und Schrift bannbar. Auf die Vorstellung des Runden, Ge- und Beschlossenen kommt Nelly Sachs in den "Mitternachtsbriefen" immer wieder nur zurück, um das Zerbrechen und das Ausbrechen aus ihm zu erwägen. Alles ist im Runden beschlossen. Ausbrechen ist Sterben [...] Auch die Einsamkeit ist eine Welt, in der man sich dreht. Immer wieder sprachlos, dass man Notwendiges und Unnötiges tut auf einem Stern, der sich dreht und veiter wandert. Weiter, weiter wie alle Wesen [...] Bin so unruhig - wer reift in Ruhe? Ausbrechen aus dem Runden. 9 5

Nur die Sprachlosigkeit gewährt die Chance zum Ausbruch in das "Weiter", das Grenzen und Begrenzungen immer wieder zerbricht. Das gilt besonders für die Grenzen des Wortes. Nelly Sachs meditiert: Nie leicht machen, nie spielen, nie schöne Worte, lieber alle Worte zerreißen. 9 6 Sehnsucht, Totengräber des Leibes. Einziger Schlüssel der in der Nacht schliesst. Schmerzen überall, bis ins Wort. Darum Schweigen. Gräber liegen ganz außen am Rand [...] Alles zerbrochen. 97

Das Wort selbst wird zur turbulenten Szene des Leidens, Sterbens, und Begrabens. Nicht nur explodiert das lyrische Wort ins dramatische, wie in der Einleitung behauptet wurde, auch diese Explosionen geraten wiederum an Grenzen: das Zerreißen und Zerbrechen schlägt immer wieder in die gegensätzliche Dynamik um, in das Schweigen, das rundende Beschließen und Verdichten. Da diese Eruptionen und Kontraktionen zutiefst dem Sprachlichen selbst angehören, unterliegen sie den unterschiedlichen literarischen Genres, die aus ihnen hervorgehen, ohne deutlich der einen oder anderen Dynamik zugeordnet werden zu können. Diese verzweifelte Substituierung einer Aussageform durch eine andere weist über die jeweils individuellen Formen hinaus auf die Dynamik, die die jeweiligen Substituierungen bedingt und sich zwischen sie schiebt. Sie fungiert auch als Voraussetzung fur Nelly Sachs' Konzept des Totaltheaters.

3. Totaltheater Im Rahmen der dramatischen Dichtungen von Nelly Sachs wird Sprache nicht mehr nur thematisiert, sondern die Sprache der Worte wird äußerst konkret durch Evokation anderer Sprachen in den Regieanweisungen relativiert. Drama der Sprachinszenierung heißt für Nelly Sachs, daß neben Figurenrede auch

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Arch. 238: Vom 22. Januar 1951 und 22. Mai 1951. "Briefe aus der Nacht." S. 17 und 24.

96

Arch. 238: "Briefe aus der Nacht." S. 13. Arch. 238: V o m 22. Mai 1951. "Briefe aus der Nacht." S. 23.

97

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Kapitel II

Mimus, Musik, Farbe, Licht, Bild, Tanz und in späteren Szenen auch Pantomime und Marionette eingesetzt werden und mitsprechen. Diese Dramaturgie, in der jede einzelne Kunst ihre autonome Sprache sprechen soll, ist den Ideen des Gesamtkunstwerkes verpflichtet, die im neunzehnten Jahrhundert von Richard Wagner und im zwanzigsten Jahrhundert von Autoren wie Kandinsky, Artaud und Brecht äußerst divers vertreten werden, da ein jeder die Relationen zwischen Wort - Mimus - Musik anders bestimmt. Nelly Sachs' Position, über die theoretisch nur die kurzen, poetisch verfaßten Kommentare zu den dramatischen Szenen98 und einige wenige Briefe Aufschluß geben, ist von diesen abzugrenzen. Bedeutende Inszenierungen ihrer Szenen hat es bis jetzt noch nicht gegeben, nur die Briefe an Moses Pergament, dem Nelly Sachs ihre Dichtung zur musikalischen Bearbeitung anvertraut hat, deuten an, wie sie sich eine solche vorgestellt hat. Nelly Sachs rechnet mit der eigenen Sprache der theatralischen Mittel. Von Abram im Salz spricht sie als einer "Art Kulttheater, wo die Künste sich verbinden sollen, ohne daß die eine die andere auslöscht"99. Der lateinische Begriff "cultus" wird hier auf das Theater als den Ort der Verbindung der Künste bezogen. Doch die Künste werden nicht verbunden, sondern sie "verbinden sich" selbst. Die Reflexivform des Verbs weist auf die von den Künsten selbst intendierte Kommunikation miteinander. Jede Kunstform strebt also über ihre eigenen Grenzen hinaus. Doch wohin? "Wo" verbinden sich Stimmen, Reden, Bühnenbilder, Tänze, Pantomimen, Marionetten und Musik? Wie kommunizieren sie? Wenn sie "sich verbinden", dann muß es etwas Gemeinsames geben. "Wo" aber liegt diese Gemeinsamkeit des Unterschiedlichen? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Im folgenden werden unterschiedlichste Deutungen dieses Problems anhand der Spannungen zwischen Wort, Geste und Musik skizziert, um so Nelly Sachs' Perspektive historisch genauer einzugrenzen. In seinem theoretischen Werk Oper und Drama gründet Richard Wagner seine "Bühnenweihfestspiele" darauf, daß die unterschiedlichen Kunstarten sich gegenseitig ergänzen. [die Tonsprache des Instruments] spricht als reines Organ des Gefühls, gerade nur das aus, was der Wortsprache an sich unaussprechlich ist, und von unserem verstandesmenschlichen Standpunkte aus angesehen also schlechthin das Unaussprechliche [sie]. Daß dieses Unaussprechliche nicht ein an sich [sie] Unaussprechliches, sondern eben nur dem Organ unseres Verstandes unaussprechlich, somit also nicht nur ein Gedachtes, sondern ein Wirkliches ist, das thun ja eben ganz deutlich die Instrumente des Orchesters kund, von denen jedes für sich, un-

98 99

Vgl. Nelly Sachs: Anhang. Anmerkungen von Nelly Sachs. Zeichen im Sand, S. 343-354. Briefe der Nelly Sachs, S. 214.

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endlich mannigfaltiger aber im wechselvoll vereinten Wirken mit anderen Instrumenten, es klar und verständlich ausspricht. 1 0 0

Während Wagner hier noch fordert, daß die Musik durch Melodie und Harmonie das im Wort "Unaussprechliche" "ausspricht" und es dadurch aus der ihm eigenen Rationalität herauslöst und einer emotionalen Perzeption erschließt, geben andere Theoretiker solche traditionellen, noch an Aristoteles gebundenen mimetischen Vorstellungen auf. Nach Wagner ist das gesamte Bühnengeschehen den Intentionen des Wortes, das nicht für sich selbst stehen kann, gewidmet. Für Artaud dagegen übernimmt das Wort sowieso nur äußerst begrenzte und beschränkte Funktionen. Wie Nelly Sachs spricht er von dem Wort als "Haltestelle", doch fordert er, diese einfach zu umgehen. Denn meiner grundsätzlichen Annahme nach wollen die Wörter gar nicht alles sagen; infolge ihrer Beschaffenheit und auf Grund ihres festgesetzten, ein f u r allemal festgelegten Charakters halten sie das Denken an, und paralysieren es, anstatt seine Entwicklung zu ermöglichen und zu begünstigen.' 0 '

Wenn die "Haltestelle" bei Nelly Sachs noch die Möglichkeit für die Assoziation verschiedener theatralischer Sprachen offenhält, weist sie hier allein auf die stagnierenden und begrenzenden Einflüsse der Worte. Nur "Sprachen" jenseits des Wortes vermögen "die Sensibilität durch zuverlässige Mittel in den Stand vertiefter und verfeinerter Wahrnehmungsfähigkeit" zu versetzen. 102 Artaud privilegiert als solch ein Mittel das "präzise Gebärdenspiel", das als Bewegungs-, Tanz-, Pantomimen- und Maskenspiel im Raum dem dreidimensionalen Medium der Bühne entspricht. In der Tradition der Dullin-chule, aus der die moderne Pantomime Etienne Decroux', Marceaus und Barraults103, mit dem Nelly Sachs in einem ihrer Briefe nähere Zusammenarbeit erwägt 104 , hervorgegangen ist, geht Artaud soweit, daß er die gesprochene Sprache, wenn sie denn überhaupt vorhanden ist, im Gegensatz zu Wagner, dem das Orchester als Verstärker der Sprache dient 105 , als einen "Verstärker des bewegten Raumes" 106 100

Wagner, Richard: Oper und Drama. Leipzig: Verlagsbuchhandlung v. J.J. Weber 1869, S. 293. 101 Artaud, Antonin: Briefe über die Sprache. In: Das Theater und sein Double. Übers, v. Gert Henninger. Frankfurt a.M.: Fischer 1987, S. 119. 102 Artaud, Antonin. Das Theater der Grausamkeit. In: ebd., S. 97. 103 Kesting, Marianne: Panorama des zeitgenössischen Theaters. München: Piper 1969, S. 25. 104 Briefe der Nelly Sachs, S. 214. 105 Vgl. Kittler, Friedrich: Weltatem. In: Medien. Hrsg. v. F. A. Kittler, M. Schneider, S. Weber. Opladen: Westdeutscher Verlag 1987, S. 94-107. Kittler nimmt hier das Wort "Verstärker" wörtlich und argumentiert, daß Wagners Musikdramen schon im Sinne der späteren elektronischen Medientechnik funktionieren. Dabei trifft er allerdings allzu voreilige Analogien und versäumt, die unterschiedlichen Implikationen der angewandten Technologien genauer zu differenzieren. 106 Artaud, Antonin: Briefe über die Sprache. In: Das Theater und sein Double (wie Anm. 101), S. 116.

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Kapitel 11

bezeichnet. Damit kehrt Artaud das traditionelle Verhältnis von Wort und Gebärde um: nicht explizieren Gestik und Mimik das Wort, sondern das Wort expliziert die ihnen eigenen Intentionen. Hierdurch bestimmen die theatralischen Körper das Geschehen auf der Bühne; die Dinge treten an die Stelle der Wörter und zeigen das der Sprache fremde Sein. Nicht der Dichter, sondern der Regisseur wird Autor des Geschehens. Obwohl Nelly Sachs' Dramen, wie auch Becketts, Ionescos, Adamovs und Genets, nicht vollkommen - wie Artaud es fordert - aus der literarischen Tradition herausgelöst sind, so arbeiten sie doch mit den Bühnenmitteln, wie Artaud sie als Protest gegen die bürgerlichen Theatertradition fordert. Gegenüber Moses Pergament setzt sich Nelly Sachs energisch dafür ein, daß die Worte ihres Textes gesprochen und nicht gesungen werden. In dem Kulttheater, wie sie es sich vorstellt, soll die Musik oder auch das pantomimische Gestenspiel immer dort einsetzen, "wo das Wort verstummt (wie z.B. bei der fast stummen Rolle des Abram, die ja zumeist aus Mimik bestehen soll)"107. Das heißt, daß die eine Kunst die andere weder im Sinne Wagners, nach dem die Musik die begrifflich festgelegte, abstrakte Sprache aus ihrer Logik befreit, noch im Sinne Artauds, nach dem die körperliche Geste im Zentrum des Geschehens steht, expliziert. Musik und Geste sollen nicht eine dominierende, sondern eine gleichwertige Rolle einnehmen. Es ist ein Ideal Nelly Sachs', daß Textbearbeiter, Regisseur und Maler des Dekors innig zusammenarbeiten.108 Die nonverbale Kunst hat Möglichkeiten, die Sphäre der Verbalität, die da, wo sie verstummt und nur als Schweigen präsent wäre, weiter zu gestalten und zu differenzieren und die Erfahrung einer anderen Sprache, als die konventionellen Genres sie erlauben, zu ermöglichen - die Erfahrung einer Sprache jenseits aller notierbaren und bereits notierten Sprachsysteme. Theodor W. Adornos fragmentarische Analyse der Relationen zwischen Wort und Musik hilft, die Eigenart dieser beiden Kunstformen noch weiter zu differenzieren. Er scheidet Musik und Sprache dadurch voneinander, daß er die allgemeine Benennung der Musik als "Sinn- und Strukturzusammenhang" revidiert : Um Musik zu unterscheiden von der bloßen Sukzession sinnlicher Reize, hat man sie einen Sinn- oder Strukturzusammenhang genannt. [...] Aber der Zusammenhang ist keiner des Sinnes von der Art, wie der von der meinenden Sprache gestif-

107

108

Briefe der Nelly Sachs, S. 214. In einem anderen Brief des gleichen Jahres nennt sie Luigi Nonos Auschwitz-Oratorium 11 canto sospero, in dem die Musik als Hintergrund für Sprechstimmen eingesetzt ist, als Gegenbeispiel zu Moses Pergaments musikalischer Bearbeitung ihres Textes. Briefe der Nelly Sachs, S. 209. Vgl. Briefe der Nelly Sachs, S. 215.

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tete. Das Ganze realisiert sich gegen die Intentionen, integriert sie durch Negation einer jeden einzelnen, unfixierbaren. 109

Die Musik wird hier in gewisser Weise als Gegenkonzept zur Sprache eingeführt. Während die Sprache, auf jeden Fall die intentionale Sprache, meinend über sich auf einen semantischen Bereich, auf etwas anderes als sich selbst hinausweist, bleibt die Musik in sich und auf sich selbst bezogen. Sie fungiert nicht nur als Zeichen. Von musikalischer Intention kann nur im Hinblick auf die sprachliche gesprochen werden. Denn der sprachlichen Tendenz, Sinn zu isolieren und zu fixieren, widersteht gerade die Musik. Damit schickt sie sich zum "Anruf des Intentionslosen"110 an. Adorno endet sein Fragment mit folgender paradoxen Bestimmung der Musik: "Ihre Sprachähnlichkeit erfüllt sich, indem sie von der Sprache sich entfernt."111 Es wäre voreilig, von der Musik als Anti-Sprache zu sprechen. Adorno insistiert auf ihrer "Sprachähnlichkeit". Diese "Ähnlichkeit" kann nicht durch Analogien, sondern viel eher durch Differenzen angedeutet werden. Das durative Verb "sich entfernen" weist auf eine Distanzierungsbewegung, die zeitlich nicht begrenzt und ständig präsent ist. Die Relation Sprache - Musik muß also als ein äußerst dynamisches Negationsverhältnis gedacht werden, in dem die Musik sich von der Sprache dadurch entfernt, daß sie das, was die Sprache zu fixieren, aufzulösen strebt. So greift die Musik gerade da in das Sprachgeschehen ein, wo dieses selbst am verwundbarsten ist. Nur entfaltet ihre Vermittlung [Vermittlung der Musik] sich nach anderem Gesetz als dem der meinenden Sprache: nicht in den aufeinander verwiesenen Bedeutungen, sondern in deren tödlicher Absorption durch einen Zusammenhang, der erst die Bedeutung errettet, über die er in jeder einzelnen Bewegung hinwegträgt. 1 1 2

Das Verweisen der Bedeutungen aufeinander wird durch einen anderen Prozeß "absorbiert", der jegliche Fixierung zunichte macht. Bedeutung kann dann nur noch prozeßhaft gedacht werden, "hinwegtragend". Wenn also - wie in musikalischen Kompositionen sprachlicher Werke der Neuen Musik nach 1950, in denen kein einfaches Dominanzverhältnis mehr zwischen Musik und Sprache ausgemacht werden kann - sprachliche Elemente musikalisch aufgefaßt und gestaltet werden, so daß der klangliche Aspekt der Sprache sich zwischen ihre visuell zeichenhafte und semantische Präsenz schiebt, dann kollidiert das Intentionale der Sprache mit der ihm eigenen Negation.

109

110 111 112

Adorno, Theodor W.: Fragment Uber Sprache und Musik. In: Sprache Dichtung Musik. Hrsg. v. Jakob Knaus. Tübingen: Max Niemeyer 1973, S. 74. (hinfort zitiert: Adorno: Fragment). Adorno: Fragment, S. 74. Ebd., S. 75. Ebd., S. 74.

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Kapitelll

Nelly Sachs lobt in einem Brief an ihren Dichterfreund Johannes Edfelt Luigi Nonos II canto sospeso als Vorbild für eine Komposition ihrer Dichtungen und schreibt 1961 voller Begeisterung an Hans Magnus Enzensberger: Bengt schreibt, w i e sehr N o n o meine Dinge liebt. Das hat sicher Fred getan. Ο Mang [sie], wenn er die Musik dazu macht! Er schreibt, er wird mir bald ausfuhrlich schreiben!

Diese Begeisterung gilt dem Verhältnis von Wort und Musik. Nelly Sachs klagt über Moses Pergaments musikalische Fassung ihres Dramas Eli: Ich wußte nicht, daß man singen würde - M o s e s sprach immer von Sprechstimmen - ich hatte mir eine Hintergrundmusik gedacht, wenn überhaupt - so wie N o no, w o man Briefe des Konzentrationslagergefangenen im Vordergrund las, während weit fort eine Musik im Chor dann und wann wie ein stilles Licht aufleuchtet«"

Die Dichterin bestimmt das Verhältnis von Stimme, Sprache und Musik als ein räumliches, wenn sie die Musik in den "Hintergrund" der Bühne, "weit fort" und das Vorlesen der Briefe in den Vordergrund rückt. Sie beharrt auf der klaren Unterscheidung der akustischen Bühnenelemente voneinander und zieht dem Singen das Sprechen des Textes vor. Diese Privilegierung der einen Vortragsweise über die andere impliziert Probleme, die durch unterschiedliche Rezeptionen dieses Verhältnisses in Nonos Komposition aufgedeckt werden: denn das Ohr der Dichterin nimmt die Relationen zwischen Text und musikalischer Gestaltung zum Beispiel anders wahr als das des Musikers Karl Heinz Stockhausen und seines Kritikers Konrad Boehmer. Stockhausen schreibt: In manchen Stücken des "Canto" komponiert N o n o den Text aber so, als gälte es, dessen Sinn wieder zurückzuziehen aus der Öffentlichkeit, in die er nicht gehört. ... Er läßt die Texte nicht vortragen, sondern birgt sie in einer so rücksichtslos strengen und dichten musikalischen Form, daß man beim Anhören nahezu nichts mehr versteht. 1 1 5

Die "musikalische Form" "zieht" den Sinn des Textes "zurück", so daß er nur noch als verborgener präsent ist. Die Musik als Negation der sprachlichen Intention scheint sich der Sprache gegenüber durchzusetzen, denn die musikalische Bearbeitung des Akustisch-Phonetischen der Sprache isoliert gerade diese Klanglichkeit von all ihren anderen Momenten. Insofern wirkt der Komponist nach Stockhausen höchst politisch, wenn er die sinnnegierenden Aspekte der Sprache alle anderen intentionalen Aspekte verdrängen läßt. Als Kriterium für 113 114

Briefe der Nelly Sachs, S. 271. Briefe der Nelly Sachs, S. 209. Stockhausen, Karl Heinz: Sprache und Musik. In: Darmstädter Beiträge zur neuen Musik. 1 (1958), S. 66.

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diese Entscheidung fuhrt Stockhausen nicht die Texte selbst an, sondern die historischen Bedingungen, die sie entstehen ließen. Besonders bei der Vertonung derjenigen Briefstellen, bei denen man sich am besten darüber schämt, daß sie geschrieben werden mußten, nimmt der Musiker nur noch als Komponist Stellung zu sich selbst [...] er interpretiert nicht, er kommentiert nicht: er reduziert vielmehr die Sprache auf ihre Laute und macht mit diesen Musik. Lautpermutationen a, ä, e, i, o, u; serielle Struktur." 6

Als Dokumentation faschistischer Agitation, denn es werden Briefe politischer Gefangener verlesen, beschämt der Text den Leser. Wenn er auf seine einzelnen Laute reduziert wird, verweigert der Musiker sich gerade der gesamten semantischen, politisch historischen Dimension dieser Texte. Er löst den Text in seine sprachlichen Konstitutionselemente auf und gestaltet allein diese elementaren sprachlichen Voraussetzungen der Texte musikalisch. Die lautlichen Fragmente verweisen auf den Text als strukturelle Einheit, ohne ihn selbst vollständig zu präsentieren. Diese Reduktion der Sprache auf ihre Laute, ein Kompositionsprinzip, wie es in Lautgedichten dadaistischer Sprachexperimente spielerisch konkretisiert worden ist, greift über ihre Funktion als internes Sprachspiel hinaus, als sprach-politisches Medium entzieht es den Texten ihre Semantik und fordert die Eigenqualität des sprachlich Materiellen heraus. Durch diese musische Privelegierung des Lautlichen setzen sich die klanglichen Elemente des Textes gegen die sinntragenden durch. Konrad Boehmer kritisiert Stockhausens Rezeption des Verhältnisses zwischen Wort und Musik bei Luigo Nono: Der Eingriff der Musik in die Sprache dient bei Nono nicht im Geringsten dazu, dies zu verschlüsseln (wie Stockhausen dies falschlich im sechsten Heft der "Reihe" vermutet hat), sondern dazu, sie mit besonderer Intensität am musikalischen Vorgang teilnehmen zu lassen. 117

Diesen Prozeß der Integration der beiden Künste analysiert Boehmer genauer folgendermaßen: Die Aufteilung der Worte in ihre Silbenmomente und deren Verteilung auf verschiedene ineinandergreifende Stimmen hat in erster Linie musikalische Funktion. Indem aber diese - als das Bedürfnis, Sprache dem musikalischen Klang adäquat zu differenzieren - sich erfüllt, ergreift sie gleichzeitig die Semantik. Das in seine Bestandteile zerlegte und auf dem Niveau der musikalischen Struktur wieder komponierte Wort gewinnt eine neue Dimension hinzu [...] Das Wort fungiert nicht als irgend ein neuer Parameter, der zur Musik hinzugefügt würde, noch wird dem Text ein Parameter aufgedrängt, der ihm musikalische Form verliehe. Vielmehr ist es die musikalische Auflösung des Textes selber, die sich gleichzeitig nach den Ge116 117

Ebd., 66. Boehmer, Konrad: Über Luigo Nono. In: La fabbrica illuminata, für Stimme und Tonband. Texte von Giuliano Scabia und Cesare Pavese. Wergo WER 60 030, 196-?. Klappentext. 5

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Kapitelll gebenheiten richtet, die dem Sprachmaterial innewohnen und die bewirkt, daß die semantische Seite des Textes viel intensiver als je zuvor in den musikalischen Kontext gebettet wird. 1 1 8

Die "Aufteilung der Worte", ihre "Verteilung" und "Zerlegung" schlägt in eine "Auflösung des Textes" um. Diese De-komposition des Wortes wird aber gleichzeitig als seine musikalisch "adäquate" "Kom-position" bezeichnet. Das Wort wird zerlegt, um neu komponiert zu werden. Doch durchbricht die Differenzierung der einzelnen Silben durch unterschiedliche Stimmen nicht eine jede Vorstellung einer stimmlichen Einheit des Wortes? Boehmer setzt im Sinne Wagners ein dem Sprachmaterial Inneres ("innewohnen") voraus, das durch klanglich musikalische Gestaltung befreit und eben nicht - wie es seine Lektüre von Stockhausens Text nahelegt - "verschlüsselt" wird. Böhmer assoziiert Bedeutung mit dem Klang der Silben und eine Kontinuität dieser Bedeutung durch alle Silbenspiele hindurch, als wenn den einzelnen akustischen Elementen des Wortes von vornherein ein Sinn eigen wäre und als wenn dieser Sinn dem Sinn des Wortes in seinem syntaktischen und textlichen Zusammenhang entspräche. Es ist ja gerade Wagner, der die Musikalisierung der Sprache als Intensivierung ihrer Intentionen auffaßt. Im Rahmen von Wagners Psychologisierung der Künste muß die Wortsprache, die auf Verstandesfunktionen allein reduziert ist, durch die Sprache der Instrumente komplementiert werden, die über diese Grenzen der Wortsprache hinaus in die "Wirklichkeit" des Sprachlichen reichen, von der Boehmer als "Semantik" spricht. Wagner fordert, daß die Musik durch Melodie und Harmonie das im Wort "Unaussprechliche" "ausspricht" und es dadurch aus der Rationalität des Wortes herauslöst und einer emotionalen Perzeption erschließt. Das im Wort "Unausgesprochene" kann durch das gesamte Bühnengeschehen, in dem die verschiedenen Künste zusammenwirken, ausgesprochen, das heißt, dargestellt werden.119 Während nach Stockhausens Sprach- und Musiktheorie sprachliche Elemente durch musikalische Gestaltung jeglichen Intentionen gegenüber autonom werden, werden sie nach Wagners Theorie nur intensiver in die Intentionen eingebunden. Diese Diskrepanz zwischen den Analysen der musikalischen Interpretation der von Luigi Nono ausgewählten Texte deutet auf das Dilemma der Deutung von Musik, da die Kunstform der Musik sich, wie Adorno betont, semantischer Deutung entzieht. Die Relation zwischen Musik und Text wird schon allein deswegen äußerst konträr diskutiert: Entweder wird das Intentionale der Sprache ins Nicht-Intentionale gewendet oder - wie bei Wagner - wird der phonisch sinnlichen Seite der Sprache eine Eigenintention als Teil einer Gesamtintention zugesprochen. Entweder wird also die Sprache radikal auf das Phonische reduziert oder dem Musischen wird seine Intentionslosigkeit abgespro» » Ebd. 1,9 Vgl. auch die Überlegungen zu den Begriffen Gesamtkunstwerk, Kulttheater, Totalkunstwerk im Kapitel II.B.3.

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chen. 120 Diese unterschiedlichen Deutungen des Geschehens zwischen Text und Musik, zwischen dem Text und seiner musikalischen oder der Musik und ihrer textlichen Fassung, machen deutlich, daß sprachliche wie musikalische Kunst sich der einseitigen Analyse ihrer jeweiligen Intentionalität entzieht. Nelly Sachs spricht die Spannung in der Relation zwischen Wort und Musik und damit das Thema Gesamtkunstwerk - oder um mit ihrem wahrscheinlich von Barrault übernommenen Begriff "Totaltheater" zu sprechen - nicht nur theoretisch in Briefen an, sondern macht sie auch zum zentralen Motiv der Szene Abram im Salz. In der expositorischen zweiten Szene erzählt der zweite Wächter: Abram der Hirtenknabe ritt auf seinem Widder als ich ihn herunterriß Das Widdergehörn begann zu singen 0-0-O121

Und in den letzten beiden Szenen fordern die Regieanweisungen dreimal: "In der Ferne singt das Widderhorn"122. Die Ermordung Abrams fragmentiert die emblematisch geschlossene Hirtenszene: der Gesang ertönt erst während der Trennung als ein aus jedem Wortkontext isolierter Klang des Verlustes: "Ο - Ο - Ο". Später ist es auch der Klang des Widderhorns, der zusammmen mit den anderen Stimmen Abram in die Ferne lockt. Abram bleibt von dem, mit dem er vorher verbunden war, getrennt. Der Gesang des Horns erinnert an eine ursprüngliche Harmonie von Musik, Gesang, Wort und Leben. Erst die Trauer um den Verlust dieser mythischen Einheit der Künste macht es notwendig, daß sie trotz ihrer Isolation voneinander im "Kult-theater" wieder zusammenwirken. Bis hierhin ist deutlich, daß "Kult" in diesem Zusammenhang sich nicht wie in mittelalterlichen Ritual- und Liturgiespielen auf die Evokation religiös theologischer Gotteserfahrungen bezieht. An die Stelle einer Gotteserfahrung tritt eine äußerst differenzierte und in der Differenzierung problematische Spracherfahrung. Die religiöse Kulthandlung wird durch dramatische Texte ersetzt, die die Sprache aus ihren alltäglichen medialen Funktionen herauslösen und

120

121 122

Die komplexen Schwierigkeiten, die sich an dieses musikalische Zwischen knüpfen, das nie nur einseitig als das Intentionale oder das Intentionslose präsent ist, drücken sich vor allem in den vielfältigen Notationsformen der aleatorischen und graphisch gearbeiteten Musik aus, die den Musiker in unterschiedlichster Weise durch graphische und optische Relationen (Cage, Busotti) oder durch rein verbale Spielanweisungen (Stockhausen) an dem Kompositionsprozeß teilnehmen lassen. Im Gespräch mit Rudolf LUck wehren Michael Gielen und Aloys Kontarsky eine allzu voreilige Kodifizierung solcher neuen und weiter zu entwickelnden Notenschriften ab. Vgl. LUck, Rudolf: Werkstattgespräche mit Interpreten Neuer Musik. Köln:Musikverlage Hans Gerig 1971, S. 20, 78f. Sachs: Zeichen im Sand, S. 98. Ebd., S. 114, 116, 120. Das Widderhorn übernimmt eine rituelle Funktion, wenn es während des jüdischen Neujahrsfestes geblasen wird.

Kapitell!

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dadurch sie selbst zum Gegenstand ihrer Darstellung machen. Im Sinne von "cultura" pflegt das Kulttheater diese Meditation über seine theatralischen Grundelemente. Dies trifft besonders für die Szene mit dem dreiteiligen Titel Beryll sieht in der Nacht oder Das verlorene und wieder gerettete Alphabet. Einige Szenen aus der Leidensgeschichte der Erdex23 zu, deren mittlerer Titel fordert, diesen Text als einen Text über Sprache, Stimme, Schrift und Buchstaben zu lesen. In diesem Titel ist der aktionale Aspekt der Aussage unterdrückt, denn es heißt nicht, wie man es für ein szenisches Geschehen erwarten könnte: Das Verlieren und Wiederretten des Alphabets. Der passivische Titel weist auf die Szene viel eher als Inszenierung einer Spannung, die das Retten und das Verlieren des Alphabets immer schon bedingt und bedingt hat. Diese motivische Assoziation des Sprachthemas mit Fragen des Räumlichen und Temporalen, des Visuellen und Akustischen, wie sie durch die drei Titel vorgegeben werden, sind aus Abram im Salz vertraut und finden durch dieses Drama eine weitere Bearbeitung.

C.

Beryll sieht in der Nacht oder Das verlorene und wiedergefundene Alphabet Einige Szenen aus der Leidensgeschichte der Erde

1. Inszenierung des Änigmas 1961 verfaßte Nelly Sachs die dramatische Szene Beryll sieht in der Nacht, in die die "Stimme der Nacht" selbst einfuhrt. Durch diese sprachliche Aktion unterscheidet sie sich von ihrer 'Vorfahrin' in Abram im Salz, die zunächst durch ihre außersprachliche Präsenz Ausgangspunkt und Ziel aller nie erfüllten Sehnsüchte wird. Offen der Deckel der Finsternis für den B l i n d e n 1 2 4

Das Adjektiv "offen" beschreibt eine bereits vorgegebene Situation, die nicht erst durch ein Verb initiiert werden muß. Die "Stimme der Nacht" kommt der fur den Blinden bereits "offenen" Szene nach und eröffnet sie in der Sprache noch einmal. Sie zeitigt das, was sonst ohne sprachliche Benennung verborgen bliebe. Doch da der Blick in die Finsternis keine Orientierungs- und Haltepunkte findet, setzt sich die Nacht der Finsternis selbst aus. Durch diese Selbstkonfrontation bestimmt sie ihr eigenes Änigma, aus dem dann die szenische Fiktion der folgenden Verse hervorgeht. Diese Inszenierung der Finsternis radikali123 124

Ebd., S. 287-304. Sachs, Nelly: Zeichen im Sand, S. 289.

Nelly Sachs' Dramen: Inszenierungen der Sprache

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siert das althergebrachte Motiv des blinden Sehers: denn das hier SichtbarWerdende fügt sich in keine vorgegebenen Zeit-, Raum- und Erwartungsperspektiven. In komplexen Entwürfen der Phantasie visualisiert es Dunkelheit selbst, und zwar als die Dunkelheit, die Sprachprozessen inhäriert. Der Sprung in diese szenische Fiktion findet direkt nach den ersten beiden Versen statt: Der Zungenbaum singt mit seinen Blättern aus Meer Beryll liest im E r t r i n k e n - 1 2 5

Durch die szenische Figurierung der Prozesse des Singens und Lesens entfremdet die Stimme den Zuschauer bzw. Zuhörer von seinen eigenen Spracherfahrungen und setzt ihn der ihr eigenen Perspektive aus. Als bedeutendste Figuren dieser Szene, die wie Abram in die Suche nach der Sprache verwickelt sind, fuhrt sie den Zungenbaum und Beryll ein. Diese beiden Figuren werden im Figurenverzeichnis als Personen genannt. Sie fügen sich in keine traditionellen Vorstellungsmuster, und obwohl sie an gewisse religiöse, mystische und mythische Motivtraditionen erinnern, entwerfen sie doch eine äußerst eigenwillige Phantasie. Die durch ihre Suche markierte Zeitenwende wird hier nicht mehr an historisch mythische Figuren wie Abram und Nimrod gebunden, sondern allgemeiner ausschließlich an Bilder der Sintflut. Die Sprache ist durch die Sintflut verlorengegangen, so daß die Archebewohner sprachlos nur als "Schlafende", "Schnarchende" , "Lallende" und später als "umherwackelnde" "Halbwache", "Jammernde" und "Klagende" auftreten. Da beide Figuren die an den Gebrauch der Sprache gebundenen Prozesse, das Lesen und Singen, personifizieren, differenzieren sie sie auch. Denn der Zungenbaum existiert nur, indem er singt, und Beryll nur, indem er liest. Die Eigenart ihrer Sprachbeziehung liegt in ihrem Kontakt zum Wässerigen. Der Zungenbaum singt mit seinen Blättern aus Meer 126 , und Beryll sinkt ins Meer, um zu lesen. Beryll liest im Ertrinken 1 2 7 Beryll versinkt wieder tief im M e e r 1 2 8

125 126

127 128

Ebd. Die Charakterisierung der Stimme des Zungenbaums als "Blätter aus Meer" ist eigenartig, da sie sich zunächst jeder Denkgewohnheit entzieht und äußerst ambivalente und auf den ersten Blick kurios anmutende Assoziationen weckt. Geht es hier um eine prophetische oder pfingstliche Zungensprache oder um eine Pflanzen- bzw. Natursprache? Oder aber sind die Blätter des Baumes Papierbögen, auf denen Worte oder Schriften überliefert sind? Vgl. Kapitel II.C.2 a/b. Sachs: Zeichen im Sand, S. 289. Ebd., S. 291.

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Kapitel II

Für beide Figuren gilt das Meer als Medium der Sprache, und zwar der Sprache, die noch nicht oder nicht mehr zum Wort oder zur Schrift verfestigt ist, in die man 'sinken' und mit der man 'singen' kann. Der Eingangsmonolog eröffnet nicht nur die bildliche Szenerie der Sprachprozesse, er kommentiert sie zugleich. S o fließt das Wort in seinen Leib aus Stern Vorbedeutung schon mit dem Finger der Seher begriffen w i e Gesicht des Wassers mit dem die Zeit in Liebe v e r g e h t 1 2 9

Das Wort wird mit Wasser verglichen, das in ein Gefäß fließt. Wenn es sich auch wegen seiner ungeheuer geschmeidigen Assimilationsfähigkeit dem Gefäß, hier dem Stern, anpassen kann, so wird es doch nicht selbst zum Stern. Als das Fließende und das Flüssige bleibt es immer von jeder statischen Fixierung unterschieden. Es nimmt eine ihm fremde zeichenhafte Form an, ohne selbst zum Zeichen zu werden. Dadurch weist die Szene nach, daß die sich zeichenhaft präsentierende Sprache immer schon von sich selbst entfremdet ist. Der Zungenbaum und Beryll kommunizieren mit der Meeressprache, die sich noch nicht in einzelne Worte zergliedert hat und die die Bühne überflutet: "Umher atmen Meereswogen"130. Durch ihre elementare Eigenqualität existiert diese Sprache vollkommen unabhängig von diesen Figuren. Man könnte diese Szene als Bild für den Aspekt der Sprache lesen, den Benjamin als "reine Sprache" identifiziert. In den folgenden Zeilen wird sie als "Vorbedeutung" angesprochen, also als "Bedeutung" "vor" der "Bedeutung". Was heißt hier aber "vor"? Weist diese adverbiale Präposition auf ein zeitliches oder räumlich-szenisches Vorher? Präludiert die "Vorbedeutung" die "Bedeutung"? Um die konnotativen Implikationen dieser Präposition genauer bestimmen zu können, werden im folgenden die sie umschreibenden Bildlichkeiten genauer analysiert. Die Vorbedeutung wird mit einem Gesicht des Wassers verglichen, "mit dem die Zeit in Liebe vergeht".131 Im Vergehen lösen sich die Grenzen des Individuellen auf. 'Vergehen' heißt dann, in Anderes übergehen, 'sterben', 'zugrunde gehen'. Im Kontext der zitierten Verse 'vergeht' die Zeit mit dem Wasser. Als elementarisch fließendes und zugleich Raum erfüllendes Element kann 129 130 131

Ebd., S. 289. Ebd. Achten wir hier auf die Rhetorik des Textes. Ein Abstraktum wie "Zeit" durchbricht die bildliche Rede der Nacht. Der Text adaptiert äußerst allgemeine Philosopheme, hier aristotelische Kategorien wie Raum und Zeit, so daß abstrakte bzw. theoretische und bildliche Sprache sich ineinander schieben. So werden die traditionellen Grenzen zwischen philosophisch abstrakter und poetisch bildhafter Sprache nicht nur verwischt, sondern aufgehoben.

Nelly Sachs' Dramen: Inszenierungen

der

Sprache

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dieses Wasser als das Urgewässer gedacht werden, in dem Raum und Zeit noch nicht voneinander getrennt sind. Im Schöpfungsmythos Genesis 1 ist dieses Urgewässer außer der Sprache das Medium, mit dem Gott die Welt schafft. Gott sprach: Gewölb werde inmitten der Wasser und sei Scheide von Wasser und Wasser!132 Zur Schöpfung von Himmel und Erde wird das Wasser voneinander geschieden und getrennt. Das göttliche Sprechen strukturiert und formt Gegebenes. Dieser ursprüngliche Zusammenhang von Schöpfungs- und Sprachgeschichte wird hier in dem Eingangsmonolog der Nacht neu beschworen. Das Urgewässer scheint selbst von sprachlicher Qualität zu sein: stehen doch die zentralen Wort- und Bildelemente - "Wort", "Vorbedeutung" und "Gesicht des Wassers" - in appositioneller Beziehung zueinander und weisen das Urgewässer als sprachliches Element aus. Physisches und sprachliches Sein sind noch nicht getrennt. Dies wird vor allem auch aus dem Vergleich für die Entstehung des Wortes - "wie Gesicht des Wassers" - deutlich, der Bubers und Rosenzweigs Genesis-Übersetzung entlehnt sein kann. Dort heißt es: "Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser"133. Auf Gesichten und Visionen basieren Prophezeiungen, die die Zukunft evozieren. Vor-bedeutend scheinen solche dem Urgewässer einzuwohnen. Als diese rigoros spekulative, ursprachliche Einheit ist die Vorbedeutung fundamentaler als jegliche Bedeutung; ob sie überhaupt jemals durch Deutungen und Bedeutungen erfaßt werden kann, bleibt äußerst fraglich. Denn dann müßte die Sprache der Deutung selbst eine universale Einheit sein und nicht in die zwei Spannungsmomente von 'Zeichen' und 'Bezeichnetem' zerfallen. Das "fließende Wort" und das "zum Leib geformte Wort" existieren nebeneinander, das 'fließende Wort' allerdings ist die Voraussetzung für das geformte und zum konkreten Zeichen gewordene. Es ist seine Vor-Bedeutung, die nicht schon vor der Bedeutung bedeutet und selbst noch nicht zur Bedeutung geronnen ist. Durch die Umorganisation der Motive der Schöpfungsgeschichte schreibt der Eingangsmonolog diese Geschichte um und ordnet ihre Motive neu. Als Sprachgeschichte fungiert sie nicht mehr progressiv, sondern viel eher als ein sich ständig strukturierendes und umstrukturierendes Geschehen, das "Vorbedeutung" und "Leib aus Stern" aneinander bindet und auch wieder voneinander trennt. Die Vorbedeutung ist wie die platonischen Ideen an sich immer präsent, für denjenigen allerdings, der sie sucht, ist sie absent. Das Alphabet und das Wort können sie höchstens re-präsentieren, ohne daß sie sich jemals durch sie 132

133

Buber, Martin; Rosenzweig, Franz (Übers.): Das Buch Im Anfang. In: Die fünf Bücher der Weisung. Heidelberg: Lambert Schneider 1981, S. 9. Nelly Sachs besaß die Ausgabe von 1956. Ebd.

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Kapitel II

präsentiert. Wie der Titel sagt, gehört es zum Charakter des Alphabets, "verloren und wiedergerettet" zu sein. Wenn etwas verloren ist, ist es trotzdem, auch wenn es eine Zeitlang nicht sichtbar ist, präsent, nur nicht immer re-präsent. Das kopulative "und" weist hier auf die strukturell immer schon gegebene phänomenale Verknüpftheit dieser beiden Seinsweisen der Sprache, die, auch wenn sie sichtbar, das heißt gerettet ist, immer auch schon verloren ist. So entsteht die Frage, ob die nur fließende und noch nicht in Zeichen differenzierte Sprache überhaupt, wenn schon kaum vorstellbar, so doch zumindest denkbar ist. Die viel zitierte, von Lessing in seiner Laokoon-Abhandlung eingeführte Unterscheidung zwischen Raum- und Zeitkünsten, die Sprechen und Musik der Zeitlichkeit zuordnet, scheint hier nicht anwendbar zu sein, denn das Wort nimmt gerade nicht einseitig nur zeitliche, nämlich fließende, sondern als Leib und Gesicht auch räumliche Züge an. Das Wort ist eben dieses flexible Medium, das an den Gegensätzen von Raum und Zeit, Ruhe und Bewegung, Statik und Dynamik, Geformtem und Ungeformtem teilhat und zwischen ihnen vermittelt. Es fließt, so wie die Zeit fließt, und ruht, wie die ein Gesicht spiegelnde Fläche eines Sees. Doch die Bedingungen seiner Aktion entziehen sich weitgehendst jeglicher Systematisierbarkeit. Im folgenden Monolog nimmt die Nacht zur Beschreibung der Sprachentstehung die Wort-Wasser-Zeit-Motivik wieder auf. Nun "umarmt" das Wasser die Zeit. Das schlafende Wort hat sich in meiner Mitternacht gerührt Wasser die Zeit umarmt134 Was vorher Vergleich war ("wie Gesicht des Wassers"), das gilt später als faktisches Geschehen, denn auf das im Eingang durch einen Vergleich präsentisch dargebotene Geschehen blickt die Nacht in ihrem zweiten Monolog in imperfektischer Form berichtend zurück. Die Vergleichsrede und der Bericht im Modus der Nachträglichkeit komplementieren sich wechselseitig durch die Indirektheit ihrer Aussagen. Die Sprache dient hier nicht - wie Handbücher zur ästhetischen Rhetorik vorschlagen - als "ornatus" und "Luxus der Rede"135. Die unterschiedlichen Sprechweisen der Szene verweisen viel eher auf die konstituierenden Elemente der Sprache, die sich ihnen selbst immer wieder entzieht. Raum, Zeit und Wort bilden ein enges und wechselseitig verbindliches Konstitutionsgeflecht. Das Wort setzt die absolute Sphäre, in der Zeit und Raum nicht getrennt sind, eine Raumzeit oder einen Zeitraum, gleichzeitig aber wird es selbst auch von dieser

134 135

Sachs: Zeichen im Sand, S. 290. Vgl. Lausberg, Heinrich: Elemente der literarischen Rhetorik. München: Max Hueber 1979, S. 59.

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Sphäre konstituiert. Dies zeigen die unterschiedlichen Variationen eines Satzes, in dem die Zeit sowohl Subjekt- als auch Objektposition einnimmt. Das schlafende Wort hat sich in meiner Mitternacht gerührt Wasser die Zeit umarmt136 Umarmt das Wasser die Zeit oder die Zeit das Wasser? Dies kann im Rahmen der reziproken Beziehung nicht einseitig beantwortet werden: Raum, Zeit und Wort bedingen einander. Dies macht auch die Form- und Bildstruktur des Monologes deutlich. Thetisch wird ein Bild an das andere gereiht, doch werden die einzelnen Bildelemente nur durch Versumbrüche und nicht durch Interpunktionen voneinander abgesetzt. Selten markieren Kommata oder Punkte einen Satzteil oder Satz als abgeschlossen. Die Verseinteilungen übernehmen die Strukturierung syntaktischer und bildlicher Elemente, da die Syntax selbst nur an äußerst prägnanten Stellen durch Interpunktion begrenzt wird. Das Weiß der Buchseiten ringsherum fungiert wie 'das umarmende Wasser', wenn sie getrennteste, elliptisch verkürzte Bilder bzw. Bildelemente in monologisch strophenhaften Zusammenhang bringen. Allerdings gibt es keine Reime, vielmehr ist der Text wie der Hölderlinsche hart gefiigt, so daß jedes Wort vom anderen, jeder Satz vom anderen scharf abgegrenzt und dadurch pointiert wird. So wie das Verhältnis der Satzteile, so ist auch oft das Verhältnis der Sätze zueinander nicht festgelegt. Hierfür seien noch einmal die oben angeführten Verse Beispiel: Das schlafende Wort hat sich in meiner Mitternacht gerührt Wasser die Zeit umarmt137 Hier kann es um zwei unterschiedliche, aber simultane Ereignisse gehen oder aber - und das scheint das Entscheidende zu sein - um ein Ereignis, das durch das zweite Bild im Sinne einer Apposition genauer beschrieben, oder - besser gesagt - umgeschrieben wird. Das Wort ist Wasser, es fließt, verbindet, versöhnt, umarmt. Diese seine erotische Potenz wird durch die Konzeptions- und Geburtsmetaphern, die wie fragmentarisch immer wieder einzelne Motive durchdringen, weitergeführt. So assoziiert zum Beispiel die Formulierung "So fließt das Wort in seinen Leib aus Stern" - das religiöse Inkarnationsthema mit Spermienflüssen als Bedingungen jeglicher Konzeption. Andere Formulierungen wie 'das Vergehen in Liebe', 'die Zeugungen' und 'die Mütter, die mit dem Blut wissen' deuten Schwangerschafts- und Geburtsabläufe an. Ohne Schwierigkeiten könnte hier ein extensives Kapitel über diese Motiv- und Bild136 137

Sachs: Zeichen im Sand, S. 290. Ebd.

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Kapitel II

Schicht des Dramas eingefügt werden, das dann im Sinne von Johannes 1,1 — "Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott" - die Konzeption und Geburt des Universums als sprachliches Geschehen und umgekehrt das sprachliche Geschehen als universelles begriffe. Allerdings gilt dieser Anfang nicht als ein von einer äußeren Autorität autokratisch gesetztes Sein ("war"), als creatio ex nihilo, sondern als ein ständiges, ungeheures und kaum durchschaubares Energien Gewoge, als ein dauerndes 'Fließen, Begreifen, Liebendes Vergehen, Anvertrauen, blutendes Wissen und Ketten'. In diesem Sinn ist der Sprechende - oder der die Sprache Suchende - ständig in einen Geburtsprozeß eingespannt. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Bühnenanweisungen genauer liest. Denn wie im Barraultschen Konzept des "Totaltheaters"138 bricht die Bühne mit der konventionellen Funktion, nur den äußeren Rahmen für das theatralische Geschehen herzustellen, und nimmt - wie hier - dadurch, daß der Raum anthropomorphisiert wird und Teile des menschlichen Körpers abbildet, am dramatischen Geschehen teil. Man sieht: die Arche atmet wie eine schwarze Lunge aus Nacht geschnitten. Sie ist auf dem Sand gestrandet. Umher atmen die Meereswogen und der zur Bühne gewendete Teil öffnet und schließt seine Wand wie Augenlider. Immer beim Öffnen sieht man in den inneren Raum, wo Menschen und Tiere liegen, sitzen und schlafen. Schnarchen vereint sich mit dem schlagenden Rhythmus der Wogen an den Strand. 139

Mit dem heftigen Rhythmus des Atmens geht ein regelmäßiges Öffnen und Schließen eines geheimen Innenraumes einher. "Arche", "Area" - lateinisch "Verschluß" - gehört mit dem Adjektiv "arcanus" "geheim" zum Zeitwort "arcere" "einhegen".140 An das Öffnen und Schließen dieses archaisch hegenden, geheimen Raumes ist ein Wogen und Wehen verbunden. Der Text vergleicht die Arche mit menschlichen Organen, einer pulsierenden Lunge und sich öffnenden und schließenden Augenlidern, die einen "inneren Raum" aufschließen. Diese rhythmische lebenkonstituierende Dynamik mit ihren lauten Atemgeräuschen, dem Wogen und Schlagen erinnert an Geburtsprozesse, an den Uterus, der sich unter schwerem Atmen während einer Geburt im Rhythmus der Wehen öffnet und zusammenzieht. In einem ähnlichen, allerdings phallischen Rhythmus versinkt Beryll im Meer und taucht wieder aus ihm auf. Seine Sprachsuche findet im Rahmen physischer Geburts- oder Koitusekstasen statt. Nur so vermag sie zwischen den verschiedenen Präsenzformen der Sprache zu vermitteln. Vorbedeutung kann - wie oben geschehen - als Bedeutung vor der Bedeutung gelesen werden. Doch ist zu fragen, ob es denn im Rahmen der 138

Vgl. Barrault, Jean-Louis: The Concept of Total Theatre and Christopher Columbus. In: gambit. International Theatre Review. Vol.8. No.30. Great Britain, S. 11-23. 139 Sachs: Zeichen im Sand, S. 289. 140 v g l . Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin, New York: Walter de Gruyter 1975, S. 29.

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Sprache tatsächlich vor der Bedeutung die Möglichkeit für eine andere Bedeutung geben kann? Hat es überhaupt Sinn, von Bedeutung zu sprechen, wenn sie durch etwas anderes als sich selbst, nämlich durch eine Vor-bedeutung konstituiert wird? Die zeitlichen und räumlichen Implikationen der Präposition "vor" fuhren irre. Wenn von Vorbedeutung gesprochen wird, wird nicht automatisch auch von Bedeutung gesprochen. Gerade solch einer linearen Gedankenfolge widersetzt sich die Dichtung. Denn obwohl die gesamte Bewegung des Gedichts auf eine Bedeutung hinzustreben scheint, wird von ihr selbst eben nur als Vor-bedeutung gesprochen. Diese selbst konstituiert Sprache und Welt, Zeit und Raum und bedarf gar keiner Deutung oder Bedeutung. Darum soll "Vorbedeutung" hier als die erste oder die vorrangige Bedeutung gelesen werden. Das "vor" qualifiziert sie vor allen anderen Bedeutungen. Als Vorbedeutung ist sie absent und bedarf der Re-präsenz. Das Problem der Deutung wird von dem Text selbst angesprochen, indem er die althergebrachte Metapher, die taktiles und spirituelles Begreifen miteinander assoziiert, neu belebt. Der Eingangsmonolog sei daraufhin noch einmal vor Augen gebracht: So fließt das Wort in seinen Leib aus Stern Vorbedeutung schon mit dem Finger der Seher begriffen wie Gesicht des Wassers mit dem die Zeit in Liebe vergeht

Eine äußerst komplizierte und assoziationsreiche Metaphorik! Die Vorbedeutung kann nicht so leicht wie zum Beispiel ein Stein mit dem Finger berührt und mit der Hand begriffen werden. Anstatt mit Festem wird sie mit Flüssigem - mit dem fließenden Wort und dem Gesicht des Wassers - verglichen, und gerade dieses läßt sich niemals begreifen und umgreifen. Wird nicht sogar die ruhige Spiegelfläche eines Sees durch eine Berührung mit der Hand zerstört? Vielleicht gilt hier das Begreifen eher als Zerstören. Doch dieses Vielleicht hat eine Alternative: denn, was ein Seher begreift, das sind Gesichte, nämlich Visionen, Prophezeiungen und göttliche Offenbarungen. Das Gesicht des Wassers könnte als Vision gedeutet, verstanden und begriffen werden. Was es für den Seher enthüllt, das verhüllt es für andere. Vielleicht aber ist sein Enthüllen gleichzeitig ein Verhüllen oder sein Verhüllen ein Enthüllen. Hierüber kann nicht entschieden werden, denn die einzelnen metaphorischen Elemente ("Finger des Sehers" - "Gesicht des Wassers") bilden keinen geschlossenen Bildzusammenhang, viel eher verschieben sie sich so gegeneinander, daß Leerräume und Lücken entstehen, die jeden Deutungsversuch irritieren und relativieren. Dadurch entzieht sich die Sphäre der originären Vorbedeutung jeglichem Deuten und Bedeuten und rückt in eine allegorische Distanz. Im Sinne Walter Benjamins gilt ja die Allegorie als der Modus des

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Kapitelll

Sprechens oder Schreibens, der niemals das sagen und ausdrücken kann, was er als Intention seines Sagens vorgibt.

2. Beryll - Zungenbaum - Sprache a. Beryll Die beiden Hauptfiguren, Beryll und der Zungenbaum, suchen Kontakt zu der abwesenden Sprache. Ihre Beziehungen zu ihr unterscheiden sich durch die phonematische Spannung zwischen g und k, zwischen "singen" und "sinken" (versinken). Der Hinweis auf diese Affinität der Signifikanten entspricht der Sprachtheorie, die der Text selbst etabliert. Doch der Begriff "Sprachtheorie" umfaßt hier auch Sprachphilosophie, -theologie, -poesie und -theatralik. Denn die Szene bringt diese unterschiedlichen Disziplinen in einen ihr eigenen Zusammenhang, indem sie unterschiedliche Aspekte des Problems der Wort- und im besonderen der Buchstabensprache in Beziehung zueinander setzt. Diese Verbindung von theatralischen mit epistomologischen Konzepten ist bereits sprachlich durch gemeinsame Sprachwurzeln der Worte "Theorie" und "Theater" im Griechischen "theorein" wie auch in den deutschen Worten "darstellen" und "vorstellen" vorgegeben, und ist dadurch bereits im Sprachlichen selbst angelegt.141 Vielleicht ist das Singen auch ein Sinken oder das SinAen ein Singen. In diesem Fall stellt Beryll dar, was dem Singen inhäriert, und der Zungenbaum, was dem Lesen inhäriert. Jede Figur illustriert einen Aspekt, der in der Aktion der anderen verborgen ist. Das Lesen entfaltet das Singen und das Singen das Lesen. Die Nacht sagt: Der Zungenbaum singt mit seinen Blättern aus Meer 1 4 2

Hier werden die Baumblätter auch als beschriebene Blätter bzw. Seiten vorgestellt. Statt als eine Stimme fungiert ein Text als Medium des Gesangs. Singt Geschriebenes selbst? Was zeichnet den einzelnen Sprachakt aus? Was unterscheidet das Lesen von dem Singen? Worin liegt die Distinktion und spezifische Differenz von g und k? Es heißt: Beryll liest im Ertrinken

Beryll liest, indem er "ertrinkt" und "versinkt". Tatsächlich sehen wir ihn auf der Bühne "aus dem Meer [auftauchen" und "wieder tief im Meer" versin-

141

142

Rainer Nägele: Theater, Theory, Speculation. Walter Benjamin and the Scenes of Modernity. Baltimore, London: The Johns Hopkins UP 1991, S. 2. Sachs: Zeichen im Sand, S. 289.

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ken. 143 Der spirituelle, eigentlich unsichtbare Akt des Lesens wird zur tragischen Geste des Verschwindens. Die Stimme der Nacht und später der Zungenbaum singen über diesen Moment, in dem Berylls Lektüre kulminiert. Allerdings berichten sie darüber nicht im Sinne einer Teichoskopie im Präsens, sondern im Imperfekt, denn der aktuelle Moment des Sinkens und Verschwindens entzieht sich jeder Versprachlichung. Obwohl er im Zentrum der Handlung steht, ist er nur als Leerstelle, die differenziert, ohne selbst differenziert werden zu können, präsent. Nach ihm wird im folgenden in der Analyse des Verhältnisses der einzelnen Figuren zum Moment des Todes einerseits und zur Sprache andererseits gefragt. Vermittelt der Tod zwischen den Sprachprozessen, zwischen dem Singen und dem Lesen? Ist der Gebrauch der Sprache an die Fähigkeit des Sterbens gebunden? Nelly Sachs' Dichtung entwirft Berylls Leseakt als eine Selbstmordszene. Einer hat seine Adern geöffnet Blut füllt die Glorienkette des Alphabets144 Mit der ambivalenten Geste der Öffnung setzt schon der Eingangsmonolog ein: "Offen der Deckel der Finsternis". Beryll setzt sie radikal ins Leibliche fort. Märtyrerhaft sprengt er seine körperliche Enge und Abgeschlossenheit, damit das Alphabet erscheinen kann. Mit diesem Versuch der unmittelbaren Vergegenwärtigung und Aneignung der Sprache drängt Beryll nach Versprachlichung seiner selbst. Sein Blutopfer ist ein radikaleres Opfer, als es jemals in der Tora dargestellt wird. Zwar wird von Abraham die Ermordung seines Sohnes gefordert, doch diese Forderung wird im letzten Moment zurückgenommen und das Menschenopfer allgemein verboten. Das Thema der Opferung im Zusammenhang der Sprache, Opferung in, für oder durch die Sprache, bindet diesen Text thematisch an zwei zuvor besprochene: Während die "Stimme" in Abram im Salz im Moriah-Fluch ein physisches Opfer über Abram verhängt, wird solch ein Opfer hier wie auch in Benjamins Deutung der Sokrates-Figur selbst Zentrum des Geschehens. Wie Sokrates wird auch Beryll zum Märtyrer an der Sprache. Allerdings basiert Beryll sein Opfer radikal auf physischen Bedingungen. Während Sokrates sich über diese einfach hinwegsetzt und sich radikal dem Sprechen widmet, setzt Beryll auf die Möglichkeit, alle körperlichen Grenzen so zu sprengen, daß im Zuge dieser Ex-korporation eine In-korporation des Sprachlichen folgen kann. Ist diese Utilisierung des Körpers möglich? Der Versuch, durch Öffnung der Adern dem Wort eine Wohnstätte zu bieten, rechnet mit der Verwandlung des Körpers in einen Sprachkörper und sagt dabei der anti-physischen, metaphysischen Kompetenz sowohl der Sprache als auch des Leiblichen ab. 143 144

Ebd., S. 291. Ebd.

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KapitellI

Dem Opfer Berylls steht nichts entgegen - kein Gott spricht, und sogar die menschliche Sprache selbst ist "erschlagen", "vergessen" und "verloren". Ihr habt euer Alphabet erschlagen Eure Buchstaben vergessen Sintflutertrunken ist euer Wort145 Der Mythos der Sintflut wird als Mythos der verlorenen Sprache eingeführt. Die Regieanweisungen weisen darauf hin, daß die Arche auf Sand gelaufen ist und ihre Bewohner noch in Schlaf und Träume gebannt sind. Sie haben ihr Alphabet, ihre Sprache und dadurch auch ihre Zukunft als Sprechende vernichtet. Wenn sie sich im Beginn der Szene äußern, "lallen" und "schnarchen" sie. Aus dieser ihrer vorsprachlichen Existenz bricht Beryll aus. Er entflieht dem Exil von der Sprache, indem er ihr nachsinkt und, wie sie, "ertrinkt" - ertrinkt in der Sintflut, die das gesamte Leben auszulöschen vermag. Er riskiert die Suche nach der Sprache in einer Sphäre jenseits jeder Vernichtung und jeglichen Todes, in ihrer außerräumlichen und außerzeitlichen Absenz. Er ist nicht wie Abrain in Abram im Salz bereits von der Sprache berufen und gerufen, sondern, der utopischen Hoffnung auf eine Vereinigung mit ihr hingegeben, versucht er sie zu beschwören: Meine Adern leer - Raum für die Wohnstatt des Namens146 Daß die Sprache wohnen kann, ist ein Topos, der von Homer eingeführt worden ist 147 und der in Hölderlins Versen "dichterisch wohnet der Mensch auf dieser Erde" anklingt. Hier in Nelly Sachs' Text wird nichts dergleichen konstatiert, vielmehr ist ungewiß, ob sich die Sprache als die Sprache des Namens überhaupt manifestieren und sich vorgegebenen Formen einpassen, ob sie sich verleiblichen, sich niederlassen und Wohnung nehmen wird, wie Beryll es durch seinen märtyrerhaften Aderlaß zu erzwingen sucht. In einem umfassenderen Kontext geht es hier um das heikle Thema der Entgrenzung der persönlichen Existenz zur Existenz in und durch die Sprache, wie es auch in Nelly Sachs' Biographie eine entscheidende Rolle spielt. In zahlreichen Briefen zum Beispiel wehrt sie sich energisch gegen Walther Berendsohn, der entgegen ihrem ausdrücklichen Wunsch ihm anvertraute biographische Details veröffentlichte. Nelly Sachs betont, daß sie "hinter ihrem Werk verschwinden" will. Ihr sprachliches Werk soll an die Stelle ihres Ich treten. Sie schreibt:

145

Ebd., S. 2 9 0 . Ebd., S. 2 9 1 . 147 v g l . U d o f f , Alan: On Poetic Dwelling: Situating Celan and the Holocaust. In: Colin, A m y D.: Argumentum e Silentio. Berlin, N e w York: Walter de Gruyter 1987, S. 320-351. 146

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Du wirst ja auch nach meinem Brief u.a. vom 22.1.59 die von mir wiederholt ausgesprochene Bitte verstanden haben, daß ich hinter meinem Werk verschwinden will, daß ich anonym bleiben will [...] - ich aber will, daß man mich gänzlich ausschaltet [...]' 48

Durch Verwendung des Nazi-Worts "ausschalten" solidarisiert sie sich mit den von den Nationalsozialisten "Ausgeschalteten". Holocaustdichtung149 heißt in diesem Zusammenhang nicht nur Thematisierung von Klage, Schmerz, Vorwurf und Verdammnis, sondern, will man diesen äußerst problematischen Begriff überhaupt fur Nelly Sachs' Dichtung beanspruchen, dann weist er auf ein Sprach- und Dichtungskonzept, nach dem der Dichter sich durch seine eigene Dichtung "ausschaltet". In letzter Konsequenz sollen Sprache und Dichtung an die Stelle der persönlich-physischen Existenz der Dichterin treten. Durch diese Geste der Anonymisierung, die die Bedingungen des modernen Publikationswesens in Frage zieht, verweigert sich die Autorin jedem Trend einer biographisch fiktiven Darstellung ihrer Persönlichkeit. Dieses Drama radikalisiert den Versuch der Selbstausschaltung mit der Figur Berylls, der durch Selbstmord der Sprache Wohnung zu verschaffen sucht. Indem er sich auf die Namensprache bezieht, versucht er die Grenze der endlichen Sprache zu sprengen und auch über die Klangpoesie hinauszustreben, auf die Abram sich besinnt. Insofern versucht er die von Benjamin als unendlich ausgewiesene Sprache in die Endlichkeit zu zwingen. Seine Lektüre konkretisiert sich im Erlauschen. Der Zungenbaum singt: Einer hat die Muschel der Tiefe belauscht 150

Die Sprache wird also als Klang und nicht als visuelles Zeichen wahrgenommen. Beryll wendet sich ihrer Idealität zu; seine Versuche der Selbstvernichtung tragen Züge religiöser chassidischer Ekstasen, die im Außer-sich-Sein gipfeln. Einer hat seine Adern geöffnet 151 Einer ist außer sich geraten 152

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Briefe der Nelly Sachs, S. 217f. In der Sekundärliteratur wird auf Nelly Sachs' Dichtung häufig als Dichtung des Holocaust verwiesen. Marie Syrkins Essaytitel "Nelly Sachs - Poet of the Holocaust" ist ein Beispiel dafür. Syrkin, Marie: Nelly Sachs - Poet of the Holocaust. In: Midstream, 13 (1967), Nr 3, S. 13-23. Auf die Problematik dieses Begriffs weist Michael Krämer in seinem Essay "Wir wissen ja nicht, was gilt". In: Nelly Sachs. Neue Interpretationen. Hrsg. v. Michael Kessler und Jürgen Wertheimer. Tübingen: Stauffenburg 1994, S. 35ff. Sachs: Zeichen im Sand, S. 293. Ebd., S. 291. Ebd., S. 292.

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Kapitel II

Eine eigenartige Inversion findet statt: Beryll gerät außer sich, um die Sprache der "Tiefe" - oder - die "Tiefe" der Sprache zu erlauschen. Doch kann der Märtyrertod die Inkarnation der Sprache vermitteln? Können Absenz und Präsenz der Namen-Sprache mit der Absenz und Präsenz des Märtyrers invertieren? Gerade diese von Beryll postulierte Inversion findet nicht statt. Denn wenn die Sprache erscheint, dann adaptiert sie sich nicht der menschlichen Leiche, sondern erscheint in der eigengesetzlichen Form farbiger Lichtzeichen und stattet Beryll mit messianischen Insignien aus. Der Nebentext sagt: F i s c h e f l i e g e n in d e r L u f t , b i l d e n ü b e r s e i n e m H a u p t d i e G l o r i e d e s A l p h a b e t s 1 3 3

Wenn "die Fische in der Luft fliegen", wird die bisdahin verborgene Sprache sichtbar - allerdings nicht nur als Buchstabe, Wort und Satz, sondern als "Glorie des Alphabets", als Zeichen einer Magie- und Wundersphäre, die Beryll als Heiligen oder "einen der 36 Gerechten", wie Nelly Sachs ihn in ihrem Kommentar charakterisiert, auszeichnet.154 In zahlreichen biblischen Wundergeschichten spielt das Fischmotiv eine bedeutende Rolle. Wenn hier auch nicht die zahlreichen Aspekte des Fischsymbols in der jüdischen Tradition untersucht werden können, so sollen die folgenden Überlegungen doch auf die Traditionen155 verweisen, die durch die dramatische Szene in einen synkretistischen Zusammenhang gebracht werden. Fische bilden um das Haupt Berylls eine Gloriole. Diese Gloriole ist aber nicht nur ein farbiger Schein, sondern ist aus Buchstaben zusammengesetzt, die Beryll mit den Requisiten

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155

Ebd., S. 291. "Beryll ist einer der Sechsunddreißig, an deren Inbrunst im Leidenswerk die Welt immer wieder neu entsteht." Vgl: Sachs, Nelly: Zu Beryll in der Nacht. In: Sachs: Zeichen im Sand, S. 353. Nach Gershom Scholem hat die Legende von den 36 Gerechten bzw. Zaddikim eine lange und weitverzweigte talmudische Tradition, die im 18. Jahrhundert in der polnisch chassidischen B e w e g u n g neu belebt wurde. Im 20. Jahrhundert überträgt zunächst Martin Buber chassidische Schriften und Legenden ins Deutsche und weckt dadurch erneut das Interesse f ü r sie, obwohl er fUr die besondere interpretative Art seiner Übertragungen von Scholem stark kritisiert wurde. Scholem berichtet über seine Studien des Chassidismus folgendes: "Die chassidischen Autoren sprechen häufig von den zwei Kategorien von Zaddikim, solchen die verborgen sind und sich zu sich selber halten, und solchen, die ihren Mitmenschen bekannt sind [...]. Die verborgenen Zaddikim gehören einer höheren Ordnung an, weil sie der Versuchung der Eitelkeit, die von einer öffentlichen Laufbahn fast untrennbar ist, nicht unterliegen [...] Andere wiederum mögen nicht einmal dieser ihrer Natur bewußt sein und ihre Heiligkeit und Gerechtigkeit in verborgenen Taten ausstrahlen, ohne auch nur zu wissen, daß sie zu j e n e n erkorenen 36 gehören [...]. Nach manchen dieser Legenden ist einer der 36 Verborgenen der Messias." Scholem, Gershom: Die 36 verborgenen Gerechten in der j ü dischen Tradition. In: Ders.: Judaica I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963, S. 223. Informationsreiches Material bei I. Scheftelowitz: Das Fischsymbol in Judentum und Christentum. In: Archiv für Religionswissenschaft 14. Leipzig: Teubner 1911, S. 1-53.

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einer messianischen Zeit ausstatten. Wie der Prophet Jona wird er durch Fische vor dem Ertrinken gerettet, um seine Mission zu erfüllen, 156 und wie bei Tobias wirkt der Fisch als ein Heilmittel gegen Blindheit und Tod. 157 Hier ist die rettende Funktion der Fische an ihre 'Sprache', die sich als Sprache des Alphabets erweist, gebunden. Nach kabbalistischer Lehre sind es die Buchstaben, durch deren Kombination alles geschaffen ist. Sie gelten als Konfigurationen göttlicher Schöpfungskraft. So werden die Buchstaben zum Beispiel in Scholems Übersetzung Die Geheimnisse der Schöpfung. Ein Kapitel aus dem Sohar als autonom dynamische Lichtpartikel beschrieben: Und hier [im ersten Vers der Tora] ist das Geheimnis des zweiundvierzigbuchstabigen Gottesnamens eingezeichnet. Konsonanten und Vokale strahlen und leuchten in ihrer Bewegung allzumal, nach der geheimen Ordnung ihrer Bewegung auf verborgenen Bahnen. Aus diesem Ort (der geheimen Ursprünge der Sprache) hat alles sich entfaltet. 158

Dieser von Nelly Sachs intensiv studierte Sohartext159 deutet Genesis 1 als Entfaltung des Alphabets und der an sie gebundenen Weltschöpfung. Die "Einzeichnung" der Vokale und der Konsonanten des Gottesnamens in den ersten Vers der Tora, also ihre Vertextung, gilt als Veräußerlichung des ihnen eigentümlichen Geheimnisses, das sich in doppelter Weise als "geheime Ordnung" und als "Bewegung auf verborgenen Bahnen" jedem Zugriff entzieht und der Kommentierung, wie sie zum Beispiel der Talmud bietet, bedarf. Die Vokale, Konsonanten und Akzente des Gottesnamens werden als Kräfte und Energien gedacht, die in einer kompliziert-sensiblen Weise die Schöpfung initiieren. So fungieren die Ursprünge der Sprache als Ursprünge des gesamten Seins. Als das an sich Verborgene werden sie in der vorliegenden Szene für einen Moment offenbar: das Alphabet "strahlt" und "leuchtet". Beryll sucht durch seine Lektüre unmittelbaren Anschluß an diese göttliche Ursprache. Zwar rettet sein Lesen sie in der Form des Alphabets, doch gleichzeitig verliert er es auch. Es bietet ihm keine Heimat. An die Rettung ist der Verlust gebunden: in der Vereinigung mit der Sprache liegt schon die Entzweiung. Das Lesen erweist sich als ein Pendeln zwischen dem Versinken und Wieder-Auftauchen, dem Sterben in die Sprache und dem Leben in der Trennung von ihr. Als unendliche Pendelbewegung zwischen Tod und Leben kommt es zu keinem Ende. Durch das Opfer seiner Lektüre-Bemühungen ak-

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Luther, Martin: Der Prophet Jona 2. In: Ders.: Die Bibel. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1981, S. 990. Luther, Martin: Das Buch Tobias 6,8,9. In: ebd., S. 38-41. Scholem, Gershom: Die Geheimnisse der Schöpfung. Ein Kapitel aus dem Sohar. Berlin: Schocken 1935, S. 49ff. Vgl. Briefe der Nelly Sachs, S. 125, 127, 138,294. Briefe an Emilia Fogelklou-Norlind vom 6.11.1950, an Gudrun Dähnert vom 28.2.1951, an Jacob Picard vom 20.1.1952 und an Erik Lindegren vom 30.7.1963.

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Kapitelll

tiviert Beryll das sprachliche Geschehen. Denn die Sprache greift nur dadurch ein, daß sie ihn rettet. Paradoxerweise ist das Rettende das Gerettete. Beryll gibt den Anlaß zu dieser Selbstrettung und Selbstaktivierung der Sprache. Eigenartiger Weise ist sein Tod notwendig, ohne daß seine Leiche aber zum Medium der Inkarnation der Sprache wird. Sie eben in-carniert sich nicht. Wird Beryll "Messias" oder "Prophet" genannt, dann weist diese Benennung auf ihn als Medium der Selbstvermittlung der Sprache. Sie erscheint aus der Sphäre ihrer Absenz und stürzt in dem Moment, in dem sie unter höchst existentiellem Risiko provoziert wird, gegebene Naturordnungen um: die Fische fliegen. Während sie also als Verborgene vom Menschen unabhängig ist, ist sie als Erscheinende von ihm abhängig. Jedoch entzieht sie sich jeglicher Manipulation durch ihn. Nachdem sie Beryll als Messias ausgezeichnet hat, erscheint sie ihm paradoxerweise nur als "Stein", "Erdengesicht" und "Totenschädel".160 Wieder ist er von ihr getrennt, und vergebens versucht er, die Trennung von ihr zu überwinden. Er erfahrt seine Glorifizierung durch sie als nur einen Moment neben anderen. Ich hebe sie empor schwer ist der Stein der den heiligen Namen umschließt 161

Als "Stein" und "heiliger Name" ist die Sprache zugleich präsent und verborgen. Wenn Beryll den Stein ansieht, dann erscheint er ihm als "Erdengesicht" und "Totenschädel". Solange der Stein diese Sprache noch verbirgt und konserviert, scheint sie trotz ihrer Verborgenheit doch nahe zu sein. Als Emblem der Vergänglichkeit, erstarrt zum leblosen Zeichen, ist sie allerdings nur relikthaft präsent. Beryll sieht nur noch die Spur ihrer Präsenz, sie selbst rückt wiederum in eine mysterienhafte Absenz. Für Beryll heißt das, daß seine Sprachsuche beziehungsweise -lektüre nicht abgeschlossen werden kann. Er stößt immer wieder auf die von der Sprache selbst gesetzten Grenzen, ob er nun in märtyrerhaften, sexuellen oder Geburts - Ekstasen oder in melancholischer Lethargie über den Totenkopf grübelnd nach ihr sucht. Im vorliegenden Text charakterisiert die Apposition "Gesicht" Wort und Vorbedeutung. Die Sprache offenbart sich als "Gesicht des Wassers", als Stein mit "Erdengesicht"162 und als "Buchstabengesicht".163 Durch diese Epiphanie fordert sie die Sehnsucht und Opferbereitschaft des sie Suchenden immer wieder heraus. Birgit R. Erdle164 hat auf die Relevanz von Levinas' Philosophie des Anderen für das Verständnis der Lyrik der Nelly Sachs hingewiesen. Das 160 161 162 163 164

Sachs: Zeichen im Sand, S. 302f. Ebd., S. 302. Ebd. Ebd., S. 304. Erdle, Brigit R.: "sagen war verboten". Sprache, Gewalt und Alterität bei Nelly Sachs. In: Nelly Sachs. Neue Interpretationen (wie Anm. 149), S. 69fF.

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Motiv des Gesichtes, das in diesem Drama die Sprache als das unvereinnahmbar Andere auszeichnet und auf das sich die Sehnsucht aller Figuren richtet, scheint beinahe als Illustration flir Levinas' Konzept des Gesichts und Blicks des Anderen 165 gelesen werden zu können. Denn in diesem Gesicht präsentiert sich das anonyme Andere, das zum Zentrum alles Strebens wird, sich jedoch jedem Versuch einer Identifizierung mit ihm widersetzt. Das Problem der Identität wird hier jeglicher Idealisierung entrissen, indem es an physische Bedingungen gebunden und durch Prozesse der Inkorporation des Anderen überprüft wird. Denn als das Andere bricht die Sprache in Prozesse der Identitätformierung ein, unterbricht und destruiert sie. Der Körper wird zur Bühne, auf der dieses Drama des Anderen stattfindet. Die Relation zwischen Berylls opfernder Hingabe im Hör- und Leseakt und der Instanz des Zu-Hörenden und Zu-Lesenden wird weiter differenziert durch die emblematische Figur des Zungenbaums: einer hat die Muschel der Tiefe belauscht seine Adern geöffnet den Zungenbaum zum Blühen gebracht In meiner Krone rauscht das Alpha mit der Sternenschleppe 166

Durch Berylls Opfer wird der Zungenbaum zuerst affiziert: als Baum des Buchstabens "Alpha" blüht er, wird fruchtbar und regenerationsfahig. Er beginnt zu singen. Dieser Gesang kann jedoch nicht im Sinne einer Dialogie als direkte Antwort auf Berylls schweigende Lektüre gedeutet werden. Nicht ein Hörer antwortet, sondern das Zu-Hörende repräsentiert sich als autonome emblematische Figur, die als die andere, die Zu-Erlauschende und Zu-Hörende Seite der Sprache erscheint, spricht und singt.

b. Zungenbaum Eigenwillig fordert das Motiv des Zungenbaumes die Phantasie des Lesers heraus. Denn liest man zum Beispiel zunächst die Substantivkombination "Zungenbaum" in konkreter Analogie zu Apfel- oder Birnbaum usw, dann kann man sich einer gewissen Faszination durch die ungewöhnliche Plastizität dieses Bildes nicht entziehen. Es verbindet Polares: die vitale Kreatürlichkeit des Baummotivs der Spiritualität des Zunge- bzw. Sprachmotivs. Wenn sich auch schon an jedes einzelne Motiv zahlreiche Assoziationen knüpfen (Lebensbaum, Stammbaum, Sprachenbaum, Sephirotbaum, prophetische Zun-

165

166

Emmanuel Levinas: Philosophy And The Idea Of Infinity. In: Collected Philosophical Papers. Tr. Alphonso Lingis. Dordrecht, Boston, Lancaster: Martinus Nijhoff Publishers 1987, S. 48-60. Sachs: Zeichen im Sand, S. 293.

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Kapitell1

gensprache, pfingstliche Zungensprache der Jünger), so läßt doch ihre Kombination eine generelle Thematik deutlich werden. Sprache und Natur, Spirituelles und Kreatürliches, sind nicht mehr isolierte Prinzipien, sondern bestimmen sich wechselseitig: die Sprache der Natur erweist sich als Natur der Sprache. Die Philosophie der Natursprache ist im 17. Jahrhundert in der Fortführung paracelsischer Tradition von Jakob Böhme entworfen worden. Böhmes sprachphilosophische Überlegungen orientieren sich an Motiven des Zungenbaumes. Da diese - analog zum Motivkomplex in der dramatischen Szene von Nelly Sachs - im Kontext der biblischen Sintflut- und Babelmythen entwickelt werden, tragen sie zum Verständnis der Figur des Zungenbaums in Nelly Sachs' Szene bei. Nelly Sachs hat intensive Böhmestudien betrieben. Sie selbst weist eine zentrale Sentenz in der Abschlußrede des Zungenbaums als Böhmezitat aus. 167 In Briefen, die sie um 1961, also zur Entstehungszeit des Dramas, verfaßte, spricht sie von ihrer persönlichen Betroffenheit durch die Schriften Jakob Böhmes. Und nun will ich auch noch sagen, daß ich Jakob Böhme und den Baalschem und einige andere Mystiker las, um mich an ihnen aufzurichten, da ich schon fast hinüber war und das Leben jeden Augenblick eine Qual. Böhme haben sie in den Graben geworfen und bespuckt - so wie sie es mit mir taten und da dachte ich: Er hat sich wieder erhoben, ich versuche es. Von seinen Worten weiß ich nichts, als daß sie mich ergriffen und hoben. (An Erik Lindegren, Stockholm. Bromma, d. 14. Juli 1963) Erik - Lieber nun schreibe ich Dir ein bißchen über mein mystisches Erlebnis - denn Du brauchst wirklich nicht viel darüber zu lesen - wir haben es doch im Blute. Und die chassidische Mystik begegnet sich wieder mit aller Mystik. Als ich so tief zusammenbrach vor drei Jahren, habe ich auch viel Jakob Böhme in mich aufgenommen. (An Erik Lindgren, Stockholm; 30. Juli 1963) 1 6 8

Lesen heißt hier 'in sich aufnehmen', sich 'ergreifen' und 'heben' lassen. Als ein äußerst subjektiver Prozeß versucht es, den Text nicht nur zur inneren Erkenntnis, sondern auch zur psychischen und physischen Erfahrung werden zu lassen. Wie die dramatische Szene assoziieren diese Briefpassagen das Lesen mit Sterbensprozessen und Rettungsakten. Hier im biographischen Kontext erlöst es vom 'Hinübersein', von 'Qual' und 'Zusammenbruch'. Diese extremen Spannungen lenken auch die Rezeption einzelner Motive, wie zum Beispiel die Bearbeitung des Zungenbaummotivs. Wenn auch dieses Motiv wahrscheinlich durch Böhme angeregt worden ist, so evoziert es doch in Nelly Sachs' Kontext 167

168

"Das Böhmewort: 'Nichts ist die Sucht nach etwas' weiß um Auferstehung nach jedem Tod - Unverbrauchbarkeit der Schöpfungskraft." (Sachs: Zeichen im Sand. Anhang, S. 353). Briefe der Nelly Sachs, S. 293-295.

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auch ganz andere Konnotationen. Nelly Sachs' Revision dieses Motivs wird also vor dem Hintergrund seiner Konzeption durch Böhme erläutert.

c. Bei Jakob Böhme Das Motiv des Zungenbaums wird im 35. und 36. Kapitel von Jacob Böhmes Schrift Mysterium Magnum oder Erklärung über Das Erste Buch Mosis (1623) 169 vielfaltig variiert. Böhme unterscheidet den "Baum der einigen Zungen" 170 von dem "Baum der Viele der Zungen"171. Der Anfang von Kapitel 35 fuhrt in die gleichnishafte Funktion dieses Motivs ein: Ein jeglicher Baum wächst erstlich, nachdeme er aus seinem Korn entspringt, in einen Stamm, hernach in Äste und Zweige, und führet ferner heraus aus seinem Ente die Blüthe und Frucht: Allso auch imgleichen von dem menschlichen Baume zu verstehen nach seiner Kraft und Offenbarung seiner verborgenen Wunder der Göttlichen Weisheit [...].

Im Wachstumsprozeß eines Baumes werden vier Momente unterschieden Korn, Stamm, Äste und Zweige, Blüthe und Frucht - die Böhme anhand theologischer Allegorese auf das menschliche Leben überträgt. In weiteren Transformationen dieses Motivs spalten sich die vier Momente in zwei polare, nämlich in die von Korn und Stamm repräsentierte Einheit und in die von Ästen, Zweigen, Blüten und Früchten repräsentierte Vielheit, die dann die Spaltungen des Zungenmotivs nach sich ziehen. Also verstehen wir, was die Antichristliche Babylonische Hure am Menschen ist, welche aus den zertheilten Eigenschaften entstanden, als aus Adam, indeme die Eigenschaften aus der gleichen Concordanz auseinander gingen, eine j e d e in ihre eigene Begierde und Lust zur Selbheit, davon Adam irdisch und sterblich ward, daraus hernach der Baum der Viele der Zungen und Sprachen aus einer einigen Zungen entstund. 1 7 2

Böhme abbreviiert hier eine Kette mythischer Erzählungen: die biblische Paradieses- und Babelmythe fungieren als Voraussetzungen der apokalyptischen Vision der Hure Babylon. Für die vorliegende Fragestellung interessieren nicht alle mythischen Details, die von Böhme äußerst eigenwillig und nicht immer klar entfaltet werden, sondern eher die analogen Beziehungen zwischen ihnen,

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Böhme, Jacob: Mysterium Magnum, oder Erklärung über Das erste Buch Mosis (1623). In: Jacob Böhme: Sämtliche Schriften. 1730. Hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Bd7/8. Stuttgart: Fr. Frommann, Günther Holzboog 1958. (hinfort zitiert: Böhme: MM. Capitel, Paragraphennummer). Böhme: MM. Cap. 35, 12. Ebd., Cap. 36, 28. Ebd.

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Kapitelll

dem Zungen- und Baummotiv. In seinem Deutungsmodell wird diese Analogie zwischen Geschichtsmythos, Naturbild und Sprachauffassung durch ein allgemeines Prinzip gestiftet: es zerteilt sich, was vorher 'konkordierte'. indeme die Eigenschaften aus der gleichen Concordanz auseinander gingen, eine jede in ihre eigene Begierde und Lust zur Selbhei't [...]

Böhme verfolgt dieses Prinzip durch alle Erzählphasen von Genesis 1 und zögert nicht, sie durch eigene metaphorische Produkte, wie zum Beispiel die beiden Zungenbaummotive, zu erweitern. Das "Concordierende", also Harmonierende, wird bildhaft als 'einige Zunge' oder als "Stamm Adams" vorgestellt.173 Die Katastrophe des Sündenfalls, die in die Harmonie zwischen Gott und Menschen einbricht, zeigt sich im Bild des Baumes als Wachstumsumbruch: Aus dem Stamm entwickeln sich Zweige und Äste, seine Einheit spaltet sich, so daß seine eigene Lebenskraft geschwächt wird. Diese Schwächung wird durch die Sintflut weiter forciert: nun "gehet die gute Kraft in die Blüth und die Frucht."174 Die Kraft des Stammes bleibt nicht im Stamm zentriert. Dieses Bild des Baumes beschreibt das Wachstum nicht als metamorphotischen Wandel, wie er von der goetheschen Naturlehre her bekannt ist, sondern im Gegenteil, Wachstum und Evolution fuhren hier zur Degeneration. Dieser Widerspruch wird auch der biblischen Genealogie eingeschrieben: In der Verbannnung von der paradiesisch-außerzeitlichen Existenz degeneriert der Stamm Adams. Adam tauscht das Paradies gegen ein Bordell ein. So wird er zum Begründer apokalyptischer Dekadenz und - wie die Bildlichkeit des Textes nahelegt - zum Stammvater der babylonischen Hure. Ein Zeichen dieses Verfalls ist die Sprachverwirrung. In einer weiteren Transformierung des Baummotivs wird der Stammbaum der Familien und Völker auch zum Stammbaum der Sprachen: der Stamm der Ursprache verzweigt sich in die Vielfalt der einzelnen Völker- und Kultursprachen. Als die Kräfte in Einer Eigenschaft im Stamme dalagen, so verstunden die Menschen die Natur-sprache, denn es lagen alle Sprachen darinnen; als sich aber derselbe Baum der einigen Zungen in seinen Eigenschaften und Kräften zertheilete bey den Kindern Nimrot, so hörete die Natur-Sprache, daraus Adam allen Dingen Namen gegeben, einem jeden aus seiner Eigenschaft, auf und ward der Stamm der Natur wegen der zertheilten Eigenschaft im Worte des kräftigen Verstandes matt und schwach. 1 7 5

Diese Sprache, in der sich alle Lebenspotenzen konzentrieren, identifiziert Böhme in anderen Kontexten auch als adamitische oder sensualische Namenssprache, in der sich "die Natur" unmittelbar als Laut und Klang präsentiert. Das 173 174 175

Ebd., Cap. 35,6. Ebd., Cap. 35, 11. Ebd., Cap. 35, 12.

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der Sprache

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Wort bildet nicht entsprechend seiner eigenen Struktur das Seiende bzw. das Phänomen nach, sondern es spricht als "Sensum, als das Ens, wie der Wille [hier Gott] den Ens formete [...]".176 So findet die göttliche Schöpfungsintention direkten Ausdruck. Ein j e d e s Ding hat seinen Mund zur Offenbarung. Und das ist die Natursprache / daraus j e d e s Ding aus seiner Eigenschafft / und sich immer selbst offenbaret 1 7 7

Da die Natursprache sich jeder Verschriftlichung verweigert, wird hier nicht zwischen der Logik der Zeichen und der anderen, nicht beschreibbaren Logik des Bezeichneten unterschieden, sondern gerade diese Unterscheidung fehlt, da jedes Ding selbst spricht. Sprache fungiert weder nur als Instrument für Außersprachliches noch als ein autonomes in sich geschlossenes System. Böhme fordert von ihr im Paulinischen Sinne (2. Kor 3,6), daß sie, sobald sie wieder belebt wird, das "buchstabische Bild" töte.178 Ich soll sein Instrument und Saitenspiel seines ausgesprochenen Wortes und Halles seyn; und nicht alleine ich, sondern alle meine Mit=Glieder in dem herrlichen zugerichteten Instrument Gottes; wir sind alle Saiten in seinem Freudenspiel. 1 7 9

In seiner Rezeption der Sprachtheorie Böhmes betont Walter Benjamin, wie viel positiver dieses Sprachkonzept der freien, ursprünglichen Äußerung der Kreatur gegenüber dem allegorischen Schriftbild sei, das die Dinge in die exzentrischen Verschränkungen der Bedeutung versklavt.180 Ironischer Weise bedient sich natürlich auch Böhme der Schriftsprache, schreibend versucht er, den Sinn für die Natursprache in seinen Lesern wieder zu wecken. Dies tut er zum Beispiel - in kabbalistischer Tradition - durch onomatopoetische Meditationen über einzelne Laute alttestamentlicher Namen. Den Buchstaben Η in JEHOVAH erläutert er folgendermaßen: Es zeiget an wie sich der heilige Name GOttes in das Geschöpfe aushauche und offenbare. 1 8 1

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Der ganze Satz lautet: "Die einige Zunge war die Natur=Sprache, daraus redeten sie alle, denn sie hatten sie in einer Form, und verstunden in der Sprache den Sensum, als das Ens, wie der Wille den Ens formete, denn also war auch der Geist im Ente." Ebd., Cap. 35, 48. Böhme, Jacob: De Signatura Rerum oder von der Geburt und Bezeichnung aller Wesen. In: Jacob Böhme. Sämtliche Schriften. Bd 6. Hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Stuttgart: Fr. Frommann, Günther Holzboog 1957, S. 7. (hinfort zitiert: Böhme: De signatura rerum. Capitel, Paragraphennummer). Böhme: De signatura Rerum. Cap. 36, 65. Ebd., Cap. 12,13. Benjamin, Walter: Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie. In: Benjamin: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd 1.1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 377f. Böhme: M.M. Cap. 35, 50.

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Kapitel II

Hier wird sein analogisches Denken sehr deutlich: die Artikulation des Η "zeiget an wie" Gott sich durch sein Sprechen mitteilt und Leben schafft. Böhme lenkt die Aufmerksamkeit auf die Artikulationsbewegung, auf das "wie" der Lautentstehung und nicht auf den schon fixierten Laut als ein funktionales und arbiträres Element in einem Sprachsystem, das einer von den Dingen getrennten Eigenstruktur folgt und ohne Kontakt zum Bezeichneten bezeichnet. Die physischen Artikulationsbewegungen, die die Laute hervorbringen, bilden das göttliche Handeln ab. Es ist ja die besondere Eigenart des Sprechens und auch des Musizierens, daß der Laut nur solange erklingt, wie er vom Sprecher bzw. Musikanten gebildet wird.182 Der Laut hinterläßt keine äußeren, materiellen Spuren. Es geht um den speziellen Artikulationsakt selbst, der vielleicht vorher und nachher analysiert werden kann, im Moment seines Entstehens aber eben Akt, Bewegung, Schöpfung, also letzlich ein äußerst geheimnisvolles Koordinationsgeschehen - ein "Mysterium Magnum" - ist. In Nelly Sachs' Dramen spielen die entfigurierten Stimmen auf solch einen Akt an. Wolfgang Kayser 183 unterscheidet in der Natursprachenlehre Böhmes zwei Arten der Naturspachen. Die adamitische Sprache deutet er als "Weg von der Wesenserkenntnis zum Aussprechen damit verbundener Namen", die andere Art der Natursprache als Weg "vom Buchstaben, von der Silbe, vom Worte, vom Wortklang zu den sich darin spiegelnden Geheimnissen, zu den Bedeutungen". 184 Diese Trennung des Sprechens vom Erkennen entspricht modernen Erkenntnis- und Sprachtheorien, ignoriert aber vollkommen, daß sie ja gerade im Rahmen der Natursprache überhaupt nicht existiert, denn will man überhaupt in diesen Termini sprechen, dann übernimmt die Sprache auch die Funktion der Erkenntnis. Die Natursprache zeichnet sich gerade dadurch aus, daß Sprechen und Erkennen nicht voneinander getrennt sind. Die Sprache der Natur bzw. der Namen reflektiert sich nicht selbst, das tut erst die Sprache, die vom Verstand gelenkt wird und sich von der Bestimmung durch den Willen Gottes distanziert. Das deutet an die zertheilten Zungen, da sich iede Eigenschaft hat in eine Selbheit und eigen Verstand, aus der allgemeinen sensualischen Zungen eingefiihret, daß sie einander nicht mehr verstunden, da der Verstand gefasset, und in eine Eigenschaft geführet ward [...] 185

Die babylonische Sprachverwirrung beruht auf 'Fassung1, 'Einfassung', 'Einkerkerung' des Verstandes. Das den Satz einleitende Demonstrativpronomen "das" bezieht sich deutend auf die Turmbauerzählung. Denn der Turmbau gilt Böhme 182

183

184 185

Vgl. Derrida, Jacques: Die Stimme und das Phänomen. Übers, v. Jochen Hörisch. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979. Kayser, Wolfgang: Böhmes Natursprachenlehre und ihre Grundlagen. In: Euphorion 31 (1980), S. 521-562. Ebd., S. 524. Böhme: MM. Cap. 36, 6.

Nelly Sachs' Dramen: Inszenierungen der Sprache

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als Bild für den Menschen, der sich aus der gegebenen Harmonie mit Gott löst, einen "eigen Verstand" entwickelt und doch in der Trennung wieder nach einem Gott sucht. Dies allerdings ist dann der Gott seiner Eigenheit, seines eigenen Verstandes oder - wie im ersten Zitat gesagt - seiner eigenen 'Begierde und Lust', also der Gott seiner "Hurerei". Die Turmbauer negieren sozusagen den präsenten, in der Natur sprechenden und sich offenbarenden Gott und ersetzen ihn durch eine selbstentworfene Kunstfigur. der Thum ist sein eigen erwehleter Gott und Gottesdienst. Alle Vernunft=Gelehrte aus der Schule dieser Welt sind die Baumeister dieses Thurnes186 Die engagierte Rhetorik Böhmes geht weit über eine "Erklärung" des Textes hinaus und will in religiös-erbaulicher Tradition lehren und belehren und zwar hier als scharfe Kritik an dem aufkommenden naturwissenschaftlichen Denken, wie es sich zum Beispiel im Werk Francis Bacons zeigt, das Naturbeobachtungen und -experimente nach den Prinzipien von "Verstand" und "Vernunft" lenkt und dadurch gerade den Sinn für die Natursprache zerstört. Das Bild des "Thurnes" symbolisiert diese Sprache der Ratio, die sich gegenüber der pflanzenhaften Natursprache als architektonisch konstruiert, "gefasset", also als unflexibel und starr, eingeengt, eingezwängt und abgetötet durch ein System ausweist. 187 Böhme schreibt aus der eschatologischen Überzeugung, daß solche SprachTraditionen zerbrochen werden müssen, um den Sinn für die Natursprache neu auszubilden. Die alle Sprachbarrieran sprengende Zungenrede des Paulus zu Pfingsten führt er als normatives Beispiel an. Diese gefassete Zunge hat der Heilige Geist am Pfingsttage in S.Petri Predigt wieder eröffnet, da Petrus aus der eröffneten sensualischen Zungen in Einer Sprache alle Sprachen redete, und das war auch Adams Sprache, daraus er allen Kreaturen Namen gab.188

186 187

188

Ebd., Cap. 36, 8. Bacons Schrift Cogitata et visa, welche später zu dem Novum Organum scientiarum umgearbeitet wurde, erschien 1620, zu der Zeit, in der Böhme an seinen Hauptschriften De Signatura Kerum und Mysterium Magnum arbeitete. Wenn sich Böhme auch nicht explizit auf diese Strömungen beruft, so bedeutet das nicht, daß er mit ihnen nicht vertraut war. B. Gorceix korrigiert das vielfach rezipierte Bild von dem ungebildeten Schuhmacher Böhme, wenn er auf das intellektuelle Klima in Görlitz am Ende des Jahrhunderts der Reformation verweist. In dem Görlitzer Humanistenkreis, an seiner Spitze Bartholomaus Saultetus, der mit Tycho de Brahe, Kepler und dem Prager Rabbi Leb diskutierte, scheint Böhme vielfache Anregungen und Einführungen in jüdisch-christliche und naturwissenschaftliche Zusammenhänge erhalten haben. Vgl.: Gorceix, Bernard: Jacob Böhme. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Hrsg. v. Harald Steinhagen und Benno v. Wiese. Berlin: E.Schmidt 1984, S. 49-74. Böhme: MM. Cap. 36, 6.

KapUelll

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Hier ist das "wieder" interessant. Nicht nur vergleicht Böhme die Pfingstrede des Paulus mit der adamitischen Sprache, sondern er identifiziert sie als die Sprache, mit der Adam die Kreaturen benennt. Durch die Zungensprache also ist die Rückkehr in die paradiesische Urzeit ermöglicht. Das goldene Zeitalter beginnt für den, der Adams Sprache erlernt. Kann die Besonderheit der adamitischen Sprache noch genauer analysiert werden? Was ist eine "Sprache aus einer einigen Zungen"? Das oben Zitierte sei noch einmal vor Augen gefurt: Ich soll sein Instrument und Saitenspiel seines ausgesprochenen Wortes und Halles s e y n 1 8 9

Das Sprechen ist hier ein Musizieren, ein musizierendes Sprechen bzw. sprechendes Musizieren. Doch was ist seine Funktion? In einem Abschnitt des 35. Capitels klagt Böhme über den Sprachverfall in folgender Weise: Kein V o l k verstehet mehr die sensualische Sprache, und die V ö g e l in Lüften und die Thiere im Walde verstehen sie nach ihrer Eigenschaft. (Cap. 35, 59).

Ein Aspekt der Natursprache wird hier deutlicher: die Natursprache erlaubt, daß nicht nur alle Menschen, sondern auch alle Tiere und Menschen sprachlich miteinander kommunizieren. Für sie existiert keine Spaltung zwischen Natur und Kultur. Hier nun liegen zwei Charakteristika einer Ursprachenidee vor, die möglicherweise bis auf orphisch-pythagoreische Vorstellungen zurückgeht. Das hier beschworene Bild legt die Assoziation an Orpheus, die Figur des leierspielenden und tierbezaubernden Sängers, nahe, die, wie Eisler bemerkt190, oft zahlreichen Heiligenlegenden und Darstellungen der altchristlichen Kunst zugrundeliegt. Adam und Orpheus - der christlich-jüdische Stammvater und der Urpoet Altgriechenlands - verschmelzen zu der Paradiesesfigur, die allein durch Poesie und Dichtung spricht und handelt und im Sinne einer triadischen Geschichte ihren paradiesischen Anfang und paradiesisches Ende begründet.

d. Jakob Böhme und Nelly Sachs Böhme unterscheidet den Baum der einigen Zungen von dem Baum der Vielen der Zungen. An dieser Unterscheidung hängt das gesamte triadische Geschichtsmodell, wie es später zum Beispiel von Novalis wieder aufgegriffen wird. Der paradiesischen Vorzeit folgt die Epoche, die den allgemeinen har-

189

Böhme: De Signature Rerum. Cap. 12/13. 190 vgl.: "Orpheus-Adam." In: Robert Eisler: Orphisch-Dionysische Mysteriengedanken in der christlichen Antike. In: Vorträge der Bibliothek Warburg. 1922-1933. 2.Teil. Leipzig, Berlin: B.G.Teubner 1925.

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monischen Zusammenhang zerreißt, bis die alte Verbundenheit wiedergewonnen wird. Das Besondere aber der Böhmeschen Geschichtsphilosophie, das sie zum Beispiel für Novalis und sicherlich auch für Nelly Sachs interessant gemacht hat, liegt darin, daß sie vor allem eine Sprachphilosophie ist. Denn nach ihm gibt es eine Geschichte nur, weil es eine Geschichte der Sprache gibt. Nelly Sachs unterscheidet die beiden Bäume, den Baum der einigen Zungen und den Baum der Vielen der Zungen, nicht. Kontrahiert sie die beiden Motive zu einem, nämlich zum "Zungenbaum" - oder - spricht sie nur über einen der beiden Bäume? Vom Wort "Zungenbaum" her kann man nicht entscheiden, um welchen Baum es sich handelt. Schon bei Böhme ist das Bild des Baumes das tertium comparationis, das die unterschiedlichen biblischen Katastrophenerzählungen - den Fall Adams, die Sintfluterzählung und die Babelmythe - in ein analoges Verhältnis zueinander bringt. Denn es bindet Menschengeschichte an Sprachgeschichte und fungiert, wenn vom Baum der Zungen gesprochen wird, nicht mehr nur als Vergleich, sondern der Baum wird zur autonomen poetischen Figur, die sozusagen die gesamte biblisch mythische Sprach- und Menschheitsgeschichte und ihre eschatologische Perspektive impliziert: der Baum der einigen Zungen weist auf die paradiesische, vor- und nachgeschichtliche Harmonie, der Baum der Vielen Zungen auf die geschichtliche Disharmonie. Nelly Sachs' Text kontrahiert diese beiden Figuren zu einer Dramenfigur, die die Konturen einliniger symbolischer Bedeutung auflöst und sich als höchst komplexe, mehrfach in sich gebrochene Figur erweist. Die geschichtliche Utopie negierend, die Böhmes Motiv der "einigen Zungen" zugrundeliegt, deutet er das Sprachgeschehen als Geflecht synchronischer und nicht diachronischer Prozesse. Von dieser gespaltenen Struktur der Sprache singt der Zungenbaum in seinem letzten Gesang: Wir sind Alpha mit der Sternenschleppe Der Atem ist Wiege und Sterbebett 191

Er identifiziert die verschiedenen dramatischen Figuren - Archebewohner, Engelwesen, Beryll und sich selbst - also diejenigen, die die Sprache verraten und verlieren und diejenigen, die sie retten und im Retten wieder verlieren - als Figurierungen des Buchstaben-Sternes "Alpha". "Alpha", der "hinter dem Tod Leben gefangen hat", also wie der Gott der Offenbarung in einer universellen Geste selbst Omega in sich schließt, gewinnt eine poetisch hochverrätselte Eigenexistenz, die Elemente aus der symbolischen Bildsprache Böhmes, ihre Baum-, Wachstums- und Sprachmotive, zitiert und variiert. Dies wird aus dem Kontext deutlich, der Alpha als Blüte, Lichtkraft und Sternenschleppe sprechen, singen und rauschen läßt: 191

Sachs: Zeichen im Sand, S. 304.

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Kapitelll

Der Zungenbaum singt mit seinen Blättern aus Meer 192 Einer hat die Muschel der Tiefe belauscht seine Adern geöffnet den Zungenbaum zum Blühen gebracht In meiner Krone rauscht das Alpha mit der Sternenschleppe 193 Eine Nova entdeckt der Buchstabe Α in die hunderttausendste Lichtkraft geraten 194 A - der Atemriese hat hinter dem Tod wieder Leben eingefangen 195 Wir sind Alpha mit der Sternenschleppe Der Atem ist Wiege und Sterbebett196

Das Α nimmt an all den Prozessen teil, die die Szene selbst initiiert. Es hat keine stabil fixierte Einheit, sondern markiert Verwandlungen im Szenarischen, da wo Sprachliches seiner Eigengesetzlichkeit entsprechend als Bild und Klang Blühen, Rauschen, Singen - selbst erscheint. Nelly Sachs' Text überbietet ein jedes Bild durch ein anderes und realisiert dadurch genau das, worüber die Bilder selbst sprechen. Wie die Nova, der Stern, der kurzfristig durch innere Explosionen hell aufleuchtet, tauchen Bilder und szenische Elemente aus dem Unsichtbaren und Unhörbaren auf, um auch wieder darin zu versinken. Da "der Atem" als Hervorbringer des Α selbst "Wiege und Sterbebett ist", liefert er alle Bilder der Idealität des Stimmlichen aus, das sich im Hervorbringen selbst auslöscht. Das Aufkommen eines jeden Zeichens ist zwar durch die Lektüre Berylls, durch den unendlichen Rhythmus seines 'Auftauchens1 und 'Versinkens' bedingt, doch in seiner Form nicht von ihm abhängig. Die äußerst vielfältige Eigendynamik unterschiedlichster Zeichen setzt sich mit einer gewissen Selbständigkeit gegen seine Intentionen durch. Zwischen Beryll und die von ihm gesuchte Sprache schiebt sich wiederum ein Dunkel, das sich nur kurzfristig in der poetischen Vielfalt der Szene lichtet. Diese Vielzahl der Bilder deutet auf die vielfältigen Möglichkeiten sprachlicher, akustischer und optischer Präsenz: Der Zungenbaum blüht, singt und spricht, Alpha rauscht und erscheint als Lichtzeichen am dunklen Himmel. In dieser syn-ästhetischen Sprachszenerie kommentiert ein Bild das andere. Im Optischen illustrieren und überbieten sich die Bilder wechselseitig, so daß sie die Grenzen eines jeden markieren. Im 192 193 194 195 196

Ebd., S. 289. Ebd., S. 293. Ebd., S. 298. Ebd. Ebd., S. 304.

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Akustischen wendet Alpha das Sprechen und Singen des Zungenbaums ins "Rauschen" und destruiert dabei all seine semantischen Determinierungen, indem es ihnen vom Sinn abgelöstes Klangliches unterlegt. Zusammenfassend läßt sich sagen: Nelly Sachs isoliert aus Böhmes sehr klar strukturierter Zungenbaumsymbolik einzelne Motive und kombiniert sie neu, so daß sie sich nicht mehr in einen ungebrochenen Sinn-Kontext binden lassen. Obwohl das Thema "Sprache" die Texte beider Autoren aneinander bindet, so nimmt es doch unterschiedliche Konturen an. Während Jakob Böhme noch mit der spekulierenden Setzungsmacht des Sprachlichen rechnet, sagt Nelly Sachs gerade dieser ab. Ihre Szenen und Bilder entwerfen keine Vorstellung einer idealen Sprache, sondern negieren sogar die Möglichkeit einer solchen, da sie wechselseitig ihre jeweilige Begrenztheit nachweisen und dadurch auf ein Zwischen rekurrieren, das, obwohl es sich jeder Erscheinung - wie Schrift, Stimme, Metapher oder Szene - verweigert, trotzdem als Gegenseite zum Präsenten ständig präsent ist.197 Marianne Kesting 198 versäumt in ihrem Überblick über Dramen der sechziger Jahre, auf gerade diese sich selbst begrenzende und in der Begrenzung entgrenzende Funktion von Nelly Sachs' szenischen Metaphern hinzuweisen. Sie beschreibt treffend, daß die Metaphern fiir die Struktur der Sprache in den Bühnenraum hineinwachsen und sich zu bewegen anfangen, ohne jedoch diese Bewegungen selbst genauer zu analysieren.

D. Der Magische Tänzer Das Zwischen der Künste In den Dramatisierungen der Suche nach der Sprache verbleibt der eine Sucher, Abram, auch am Ende der Szene Abram im Salz, noch der Suche nach seinem Namen ausgeliefert; dem Ruf seines Namens folgend, läuft er in eine Zukunft, die ihm nur akustisch, als Klang des Namens bekannt ist. Denn die Stimmen, die ihn rufen, bleiben unsichtbar. Der andere Sucher, Beryll, begegnet der sichtbaren Sprache als momentanem spektakulärem Effekt, als "Glorie des Alphabets", als verbergender und verborgener Instanz, als "Stein, der den heiligen 197

198

Da, wo die Sprache sich selbst inszeniert, reicht sie Uber die Grenzen lyrischen Sprechens hinaus, da sie sich auch in klanglichen und szenisch visuellen Bildern zeigt und dadurch in der Sphäre des ihr Äußeren ihren Repräsentationscharakter plastisch vor Augen ftthrt. Solch ein Theater gehört zu den Theaterformen, die Fernando Arrabal vom absurden Theater und vom "Living Theatre" als das New "New Theatre", "the theatre of the imagination where the lyricism of the spoken word has exploded into new life", abgrenzt. Arrabal, Fernando: The "New" New Theatre. In: Gambit. International Theatre Review, Vol. 8. No. 30. Great Britain. S. 24-26, hier S. 25. Kesting, Marianne: Nelly Sachs. Zeichen des Unsichtbaren. In: Kesting, Marianne: Panorama des zeitgenössischen Theaters. München: Piper 1969, S. 275-277.

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Kapitel II

Namen umschließt" und als "Totenschädel", der Spur einer vergangenen Präsenz. Immer stößt er auf nur visuell Zeichenhaftes, das sich jedem Versuch, sich mit der Sprache zu vereinigen, entzieht. Jedes der beiden Dramen akzentuiert einen anderen Aspekt der Sprache, die weder wenn sie als akustisch klangliches noch als zeichenhaft visuelles Phänomen präsent ist, eingefangen werden kann. Von einer Szene zur andern verschieben sich die von der Sprache jeweilig gesetzten Barrieren, durch die sie sich der Suche der Figuren entzieht. Die Probleme der Barriere rücken ins Zentrum des Geschehens, wenn der Sucher statt mit äußeren Zeichen mit seiner eigenen Körperlichkeit konfrontiert wird. Ohne daß überhaupt von der Suche nach der abwesenden Sprache gesprochen wird, konzentriert sich die dramatische Szene Der magische Tänzer199, die nach Ehrhard Bahr 200 den Idealtypus der mimischen Szenen realisiert, allein auf die Darstellung der Probleme körperlicher Widerständigkeit. Obwohl die Figur des magischen Tänzers behauptet, "Die Haut ist keine Grenze" 201 , stellt die Szene insgesamt die Frage: Gibt es überhaupt die Möglichkeit, körperlicher Determination zu entrinnen? Wenn in dieser dramatischen Szene gesprochen wird, dann dient die Rede vor allem dazu, das Sprechen selbst überflüssig zu machen. Denn David sucht nicht wie Beryll oder Abram eine Sprache, die gesprochen, gehört oder entziffert werden kann, sondern strebt zunächst nur danach, seine eigenen "Grenzen" zu überwinden. Die Perspektive verschiebt sich gegenüber den bisher besprochenen Dramen: es ist nicht so sehr die Sprache, die unerreichbar ist, es ist viel eher der Körper, der den Kontakt zu ihr unterbindet. In dem Versuch, die Funktionen und Grenzen der Leiblichkeit zu sprengen, liegt die Hoffnung, der eigenen Gebundenheit in eine fixierte zeichenhafte Präsenz zu entfliehen. Die zwei Szenen Der magische Tänzer sind "für zwei Menschen und zwei Marionetten" komponiert. Die Marionette "der magische Tänzer" lehrt dem menschlichen Tänzer David die Choreographie tänzerischer Ekstase. Dieser Tänzer ist nach dem vor der Bundeslade tanzenden David des Alten Testaments202 benannt. Nelly Sachs' Gedicht "David" führt ihn auch als "Vater der Dichter"203 ein. Die religiös politisch motivierte Prozession Davids ist reduziert auf das Tanzmotiv: es ist nicht mehr ein Tanz, der den Sieg JHWHs als göttlichen Kämpfer über die kanaanitische Mythologie und seine neue Macht feiert, an die

199

200 201 202

203

Sachs, Nelly: Der magische Tänzer. In: Zeichen im Sand, S. 239-252. (hinfort zitiert: Sachs: Der magische Tänzer). Bahr: Nelly Sachs (wie Anm. 5), S. 185. Sachs: Der magische Tänzer, S. 245. 2 Samuel 2:11 mit parallelem Text 1 Chronik 13:1-14; 2 Samuel 6:12-19 mit parallelem Text 1 Chronik 16:4-43. Sachs, Nelly: David. In: Fahrt ins Staublose. Die Gedichte der Nelly Sachs. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1962, S. 104.

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das Schicksal Davids und Israels gebunden ist. 204 Der Tanz wird aus dem Kontext des Kultes isoliert, denn er findet nicht zu Ehren einer von außen gegebenen göttlichen Instanz statt. Er wird auch nicht wie in dem Tanzgedicht Die Tänzerin als Bewegung zur Musik eingeübt.205 Viel eher soll der Tanz in dieser Szene die Grenzen der Haut "sprengen". Der magische Tänzer fordert: David, David - die Haut ist keine Grenze sprenge sie - sprenge sie! 2 0 ^

Er lehrt keine Choreographie kunstvoller Bewegungen und Schritte, keine Ästhetik des Tanzes, sondern einen Tanz, der aus physischen Gesetzen befreien soll. Wenn dieser ekstatische Tanz die Haut sprengt, deren Funktion in dem Gedicht Vergessenheit äußerst ambivalent als Wickel und Sterbelaken207 bestimmt wird, dann sprengt er Strukturen des Lebens und des Todes, und eröffnet deren Jenseits, das allerdings vollkommen undeterminiert bleibt, da es sich gerade jeder Eingrenzung durch Vor- und Darstellungen entzieht. Er weist einen Weg aus dem Geformten, Strukturierten, Körperhaften in das ihm Entgegengesetzte, sich keiner Strukturierung Fügende. Doch ist ein Kontakt zum Jenseits des Körperlichen, zu einem Nicht-Körperlichen oder Anders-Körperlichen überhaupt möglich? Mit linguistischem Vokabular lautet diese Frage: Kann Signifikantes sich aus sich selbst befreien? Im Unterschied zum Sprachzeichen wird mit dem Tanz nicht von vornherein ein Signifikat assoziiert. Solange der Tänzer tanzt, schreibt er der Luft durch seine Bewegungen immer neue Figuren ein und verwandelt dadurch den ruhenden in einen bewegten Raum. Doch im Unterschied zur Schriftsprache autonomisiert sich diese Schrift nicht gegenüber ihrem Hervorbringungsprozeß, sie wird nicht fixiert und konserviert, da auch sie mit dem Ende des Tanzes vergeht. Der Tanz hinterläßt keine sichtbaren Spuren. Insofern fordert der magische Tänzer für den Tanz, was Derrida für die "erscheinende Transparenz" der Stimme beansprucht, nämlich, daß sich der Signifikant in dem Moment auslöscht, in dem er hervorgebracht wird. 208 Wenn der magische Tänzer zu tanzen beginnt, "raucht der Fußboden", und "er verschwindet in der Spiegelwand." Er erklärt: "So werden die Toten lebendig"209 und identifiziert seinen Tanz als die Dynamik, die die Grenzen zwischen Tod und Leben aufhebt und die Starre des Körperlichen überwindet. Im Rahmen dieser künstlerischen Ekstase wird der Begriff des 204

205 206 207 208

209

Über die unterschiedlichen Interpretationen dieses Textes vgl. Seow, Choon Leong: Myth, Drama, And The Politics of David's Dance. Harvard Semitic Monographs. Atlanta, Georgia: Scholars Press 1989. Sachs, Nelly: Die Tänzerin. In: Fahrt ins Staublose (wie Anm. 203), S. 37. Sachs: Der magische Tänzer, S. 245. Sachs, Nelly: Vergessenheit. In: Fahrt ins Staublose (wie Anm. 203), S. 191. Derrida, Jacques: Die Stimme und das Phänomen. Übers, v. Jochen Hörisch. Frankfurt a.M: Suhrkamp 1979, S. 133. Sachs: Der magische Tänzer, S. 249.

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Kapitel II

Lebens an die Aufhebung physischer Widerständigkeit gebunden. Da Nelly Sachs den magischen Tänzer als Marionette einführt, sollen im folgenden die philosophisch-ästhetischen Implikationen dieser Figur genauer untersucht werden. Die Marionette ist nicht in die Stille körperlich dinghafter Visualität gebannt: "ein eingebautes Tonband spricht aus ihr". Dieser Stimme fehlt die Originalität des Spontanen, des "Hier und Jetzt" 210 , um mit Benjamins Worten zu sprechen. 2 " Da das Tonband die Stimme von ihrem Sprecher distanziert, wird die Sprache Objekt der Reproduktion und dadurch höchst unpersönlich. Heinz Holliger setzt in seiner Komposition dieser Szene212 zwei bis drei Lautsprechergruppen ein, die im Zuschauer- und Bühnenraum verteilt werden und denen jeweils ein bestimmtes Chor-Ensemble zugeordnet wird. Die Stimmen der verschiedenen Ensembles ertönen von unterschiedlichen Positionen im Raum und trennen dadurch die körperliche Präsenz der Marionette von ihrer sprachlichen. Diesem Bruch mit der Tradition des Sprechens folgt die artifizielle Synthese von Akustischem mit Visuellem und läßt eine auf den ersten Blick vielleicht menschenähnliche Figur entstehen, die sich aber sehr bald als Konstrukt erweist. Das katachrestisch Monströse, Un-menschliche beziehungsweise Außermenschliche dieser Figur zeigt sich nicht nur darin, daß die konkrete Sprache der Marionette technischer Mechanik unterliegt, sondern vor allem auch darin, daß diese Mechanik der Sprache während des szenischen Geschehens in keiner Weise beeinflußt werden kann, sondern mit ihrer Präsenz dem gesamten Geschehen eine gewisse technische Perfektion unterlegt. Durch diese Auffuhrungstechniken grenzt sich das originale Sprechen der menschlichen Figuren, David und seiner Geliebten Marina, von dem technisch konservierten Sprechen der Marionetten scharf ab. Dieses Verhältnis von Originalität und Konserve bindet diese Figuren von vornherein an unterschiedliche Zeitkonzeptionen: Während David und Marina noch in die lineare Zeit eingebunden sind, sind die beiden Marionetten dieser durch ihre Konservierung entrissen. Die Szene konfrontiert die beinah grotesk anmutende Kunstfigur des magischen Tänzers - Marionette mit eingebautem Tonband - mit dem menschlichen Tänzer David, der bereits den artistischen Tanz aufgegeben hat und in den Marionettentanz eingeführt werden soll. Der Szene unterliegt die Frage, ob sich David dieser subjektlosen Kunstrealität einfügen kann.

210

211

212

Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Gesammelte Schriften. Bd 1.2, S. 475. Es ist im Kontext der Dramen von Nelly Sachs das erste Mal, daß elektronische Medien eingesetzt werden. In dem späteren Stück Beryll sieht in der Nacht ist der Femsehsprecher visuell durch die Schattenbilder eines Femsehers präsent. Holliger, Heinz: Der magische Tänzer. Ms. Leo Baeck Institute, New York.

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Das brutale Sprengen der Haut gehört in dem frühen Gedicht Die Tänzerin2,3 noch nicht zum Tanz: Deine FUsse wußten wenig von der Erde Sie wanderten auf einer Sarabande Bis zum Rande -

Der Tanz fügt sich hier noch schwerelos den rhythmischen Gesetzen der Sarabande. Körperliche Gesetze der Schwere stellen sich ihm nicht entgegen, viel eher ist der Tanz eingebunden in eine glatte und ununterbrochene metamorphotische Verwandlung, die ihrerseits in einer religiösen Ordnung, "in Gottes Hand", wie der Text sagt, aufgehoben ist. Im Gegensatz dazu tanzt die Tänzerin in dem späteren Gedicht Sie tanzt mit einem schweren Gewicht".214 Sie zieht ihren Geliebten aus der Tiefe, bis der Schlaf, im Gedicht eine Alternative zu Leben und Tod, sie überwältigt. Davids artistischer Tanz ist weder von einer unbeschwerten Leichte noch durch ein äußeres Gewicht bestimmt. Marina erzählt: Er war der Tänzer Sylphano, weltberühmt und an einem Abend voll Glanz als hätte der Himmel seine Edelsteine auf die Bühne gesenkt da stand er zuletzt - und stieß den Kopf an die Wand und stieß und stieß - denn er wollte heraus - heraus und heraus und dann und dann - 2 1 5

Dieser expositionellen Vorgeschichte geht im wörtlichen Sinn die Sprache aus: das zu Beschreibende entzieht sich der Beschreibbarkeit. Für den Tänzer Sylphano bedeutet das Ende des Tanzes nicht auch das Ende der Intention des Tanzes ("denn er wollte heraus"): diese für ihn tragische Diskrepanz zwischen den Intentionen und realen Bedingungen des Tanzes zieht seine brutale Selbstverstümmelung nach sich, bevor er einer starren Stille verfällt, aus der ihn erst der magische Tänzer wieder herausruft. Denn bevor der magische Tänzer überhaupt auftritt, hat David seine Tanzkunst aufgegeben und sich physischer Schwere, Trägheit und Passivität ausgeliefert. Vorn rechts David auf einem Stuhl sitzend, einen schwarzen Mantel um die Schultern. Die Ärmel hängen herab. Eindruck eines großen angeschossenen Vogels. Sein Kopf beugt sich tiefer und tiefer bis er zwischen den Knien herunterhängt. 2 1 6

213

Sachs: Fahrt ins Staublose (wie Anm. 207), S. 37. Ebd., S. 367. 21 ' Sachs: Der magische Tänzer, S. 243. 216 Ebd., S. 241. 2,4

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Kapitel II

Eine eindeutigere Figur der Trauer und Melancholie läßt sich kaum vorstellen. Ihre Depersonalisation reicht soweit, daß der Körper selbst zum befremdenden Ding wird, zu dem jegliche "natürliche und schaffende Beziehung" fehlt. Benjamins Theorie der Trauer beschreibt gerade solche Phänomene als "Chiffer einer rätselhaften Weisheit". An die Stelle der Gerätschaften des tätigen Lebens, die in Dürers Melencolia ungenutzt am Boden liegen,217 tritt hier in Nelly Sachs' dramatischer Szene die Apathie des menschlichen Körpers selbst. Nelly Sachs kommentiert ihre eigenen Regieanweisungen, wenn sie der Beschreibung von Davids Haltung in Klammern hinzufügt: "Haltung der äußersten Kontemplation der chassidischen Mystik."218 Im Zuge dieser Verkörperung der Kontemplation wendet sich David von einer Sprache einer anderen zu, sein Tanz geht über in sein Gegenteil, in bewegungslose Starre. Nelly Sachs überläßt es der Inszenierung, diese starre Körpersprache auf der Bühne zu konkretisieren. Durch Kommentierung ihrer eigenen Regieanweisungen fordert sie vom Regisseur, diese Szene theatralisch visuell auszugestalten. So integriert sie die Regie als eigenständiges Kunstmittel in ihre Komposition. Es bleibt offen, ob und wie das Visuelle das zur Sprache bringen kann, was der Sprache der Dichterin entgeht. Denn es ist gerade diese antitheatralische Apathie der Sprach- und Bewegungslosigkeit, die das Eingreifen des magischen Tänzers provoziert. Als Marionette fuhrt er die Nicht-Marionette David in den Marionettentanz ein. Er lehrt keine Choreographie kunstvoller Bewegungen und Schritte, keine konventionelle Ästhetik des Tanzes, sondern einen Tanz, der aus den physischen Gesetzen befreien soll. Gerade da, wo die Ausdrucksmöglichkeit konventioneller Tanzkunst nicht mehr zureicht, wo die Verzweiflung darüber ihren Höhepunkt erreicht und den Körper selbst zur Sache hin depersonalisiert, setzt die Lehre des magischen Tänzers ein. Mit seinen Anweisungen ("Heraus aus dem Gewirre") greift er Davids drängende Intention des "Heraus" auf und unterbricht Davids Unterbrechung des Tanzes noch einmal. Davids Zusammenbruch, Ausbruch und Abbruch des Tanzes ist die Voraussetzung fur den Auftritt des magischen Tänzers. Denn der artistische Bühnentanz "voll Glanz" entläßt den Tänzer zuletzt doch wieder nur in die Begrenzungen seiner Körperlichkeit und Alltäglichkeit, deren absurd mechanische Monotonie durch die zweite Marionette, die kleinbürgerlich gesinnte Mitbewohnerin, dargestellt wird. Dieser Konflikt zwischen der Banalität des Alltäglichen und der Exzentrik der Kunst ist wohl selten deutlicher als von Rilke in der Vierten Duineser Ele-

2,7

218

Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Gesammelte Schriften. Bd 1.1, S. 319. Sachs: Der magische Tänzer, S. 241.

Nelly Sachs' Dramen: Inszenierungen der Sprache

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gie 219 formuliert worden, in der der artistische Tänzer von der Puppen- und Marionettenbühne veijagt wird: [...] dann erst kam der Tänzer. Nicht der. Genug. Und wenn er auch so leicht tut, er ist verkleidet, und er wird ein Bürger und geht durch seine Küche in die Wohnung. 2 2 0

Solange Kunst-, Tanz- und Alltagsrealität nur durch Maskierungen vermittelbar sind, verweigert sich ihnen das Zuschauer-Ich. Mit der knappen Inteijektion "Genug" unterbricht es das Theatergeschehen und übernimmt selbst die Funktionen des Regisseurs, der dem Tänzer auf der Bühne aufkündigt und gegen eine Kunstfigur, "die Puppe", austauscht. Ich will nicht diese halbgefüllten Masken, lieber die Puppe. Die ist voll. Ich will den Balg aushalten und den Draht und ihr Gesicht aus Aussehn. 2 2 1

Der Tanz, der hier zur halbgefüllten Maske degradiert wird, verweist immer nur auf die der Maske eigene Halbheit: zwischen Maske und Gesicht klafft ein Abgrund, der Kunst- und Alltagsrealität unüberwindlich voneinander trennt. Nur das absolut Andere und Fremde, die "Maske", die "voll" ist, erlaubt dem Zuschauer, "völlig hinschauen" zu können. Mit der emphatischen Insistenz des "Ich will" wandelt er das rezeptive Schauen ins poetisch produktive. In Nelly Sachs' Szene fehlt die Kontinuität und Emphase eines ZuschauerIchs, das Kritik und Regie übernimmt. Davids Publikum bemerkt die Brüchigkeit der Kunstrealität überhaupt nicht. Der magische Tänzer wirft David vor: Hörst du den Beifall David? Nur Hände die klatschen waren deine Welt. 2 2 2

2,9

220

221 222

Aus Briefen ist bekannt, daß Nelly Sachs die Duineser Elegien Rilkes 1950 von ihrer Freundin Gudrun Dähnert zugesandt wurden. Sie bedankt sich dafür nachdrücklich am 16. September 1950: "Dank für die Elegien, tiefen Dank. Sie kamen gerade zu unserem Neujahrsfest, wo der Schofar geblasen wird, der die Welt erneuern soll." In: Briefe der Nelly Sachs, S. 121. In ihrer Stockholmer Bibliothek gibt es neben Die Aufieichnungen des Malte Laurids Brigge verschiedene Gedichtsammlungen Rilkes: Der ausgewählten Gedichte erster Teil, Duineser Elegien, Neue Gedichte, Das Stundenbuch und einzelne Werke der Sekundärliteratur, wie zum Beispiel Käte Hamburgers und Hans Egon Holthusens Rilkebücher. Rilke, Rainer Maria: Duineser Elegien. In: Sämtliche Werke. Erster Band. Frankfurt a.M.: Insel 1955, S. 697. (hinfort zitiert: Rilke: Elegien). Rilke: Elegien, S. 697f. Sachs, Nelly: Der magische Tänzer, S. 246.

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Kapitel 11

Voller Abscheu distanziert sich David von diesem bürgerlich trivialen Applaus und läßt sich von der Schwere in den Bann ziehen, die er sonst im Tanz zu überwinden sucht. Während die Ruhepausen sonst nur zur Rekreation der physischen Kräfte des Tänzers dienen, setzen sie sich nun gegen den Tanz durch. Sie unterbrechen den Tanz nicht nur, sondern blockieren ihn. Dadurch büßen sie ihre Funktion zur Ermöglichung des tänzerischen Ausdrucks ein und liefern den Tänzer einer höchst änigmatisch abgründigen Situation, nämlich seiner absoluten Funktionslosigkeit aus. Solch eine Unterbrechung des Tanzes, die hier radikal zu seinem Abbruch führt, wird von Paul de Man in seiner Lektüre des Marionettenaufsatzes von Kleist genauer analysiert. Der menschliche Tanz unterscheidet sich von dem Puppen- oder Marionettentanz gerade durch den physischen Pausenzwang. Diese physischen Bedingungen machen jede kontinuierliche Tanzbewegung unmöglich, sie binden den Tänzer in die Schwere und dadurch auch in die Trauer ein. Paul de Man schreibt: [...] ein menschlicher Tänzer - im Unterschied zu einer Puppe - muß seine Bewegungen beständig für kurze Augenblicke der Ruhe, die nicht Teile des Tanzes sind, unterbrechen. Sie sind wie die Parabasen des ironischen Bewußtseins, das seine Energie nach jedem Fehlschlag zurückgewinnen muß, indem es diesen Fehlschlag in den fortschreitenden Prozeß einer Dialektik einschreibt. Aber eine Dialektik, die von wiederholten Negationen zerstückelt wird, kann nie ein Tanz sein; bestenfalls ist sie ein Trauermarsch.223 Wie der physische Tanz sind auch die Prozesse des Denkens immer schon den Momenten der Diskontinuität, der Negation und Trauer ausgeliefert. In dieser Analogie zwischen Tanzbewegung und denkerischer Dialektik entspricht die sprachlose Verzweiflung, der Wahn und die Apathie, in die der Tanz mündet, den Fehlschlägen und Zerstückelungen, denen das dialektische Denken aufliegt. Das von De Man als Bewußtseinsgeschehen Analysierte wird in Nelly Sachs' Szene bis in seine körperlichen Konsequenzen verfolgt. Gerade diese Einbrüche in Kontinuitäten, seien es körperliche oder denkerische, eröffnen Abgründe, die in die Extreme der Trauer, in eine absolute Passivität oder Ekstase führen. Dieses Risiko wird durch Davids Grenz-Situation illustriert: die Unterbrechung des Tanzes führt zu seinem Abbruch, zu einer Szene sprachlosen Entsetzens und sprachloser Selbstverstümmelung. Das Ende des Tanzes liefert den Tänzer dem Wahnsinn und der Apathie aus. Doch gleichzeitig ist es genau diese Situation absoluter Bezugslosigkeit, Depersonalisierung und Desozialisierung, die das Auftreten des magischen Tänzers ermöglicht. Da wo der eine Tanz aussetzt, setzt der andere ein. Doch wie unterscheidet sich dieser Marionettentanz von dem artistischen Tanz Davids? 223

De Man, Paul: Ästhetische Formalisierung: Kleists "Über das Marionettentheater." In: Ders.: Allegorien des Lesens. Übers, v. Werner Hamacher, Peter Krumme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 229.

Nelly Sachs' Dramen: Inszenierungen der Sprache

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Es geht dem magischen Tänzer nicht darum, Davids vergangene Tanzkünste noch einmal zu stimulieren, sondern viel eher fordert er, die Ausdruckslosigkeit selbst zu konfrontieren. Das wirft zwei in sich paradoxe Fragekomplexe auf. Erstens: Wie kann Nicht-Darstellbares dargestellt werden, und wie kann die Negation des artistischen Tanzes anders als durch Apathie inszeniert werden? Zweitens: Welche Rolle kann die Sprache für diese Inszenierung übernehmen? Wie führt sie Regie über eine Instanz, die sich jeder Regie entzieht? In welcher Relation also stehen Apathie, Körper und Sprache zueinander? Der magische Tänzer reduziert den Tanz auf ein äußerst simples und mechanisches Bild, auf pirouettenhafte Drehbewegungen, die dem Ab- oder Aufwickeln einer Garnrolle gleichen. Tatsächlich spricht die Mitbewohnerin von David als einer Garnrolle: "spindeldürre Garnrolle, die er ist." 224 Und auch der magische Tänzer beschwört David in dieser dinghaften Funktion: Aufwickeln David - aufwickeln - heraus - heraus Dreh dich Garnrolle 225

Diese Reduktion des Tanzes auf die Grundbewegung der Drehung, das Aufwickeln und Herauswickeln des Inneren ins Äußere und des Äußeren ins Innere, zieht nach sich, daß letzlich kein absolut Inneres gedacht werden kann. Denn als Wickelbewegung, als Ein- und Auswickeln, zieht die Drehung eine radikale Veräußerlichung dadurch nach sich, daß das Innerste der Rolle ständig ins Äußerste gewendet werden kann und Verborgenes sich insofern ständig veräußerlicht. Das in der Szene dominante Bild der Garnrolle überträgt dem Tanz die Funktion, den Körper selbst in die Mechanik der Drehung einzuspannen. Doch was "wickelt" er "auf', und was "wickelt" er "heraus"? Verschiedene Drehmotive werden miteinander assoziiert: ob sich der Tänzer nun aus der Haut oder aus den Meridianen herausdreht und -tanzt, in beiden Fällen versucht er, räumliche Grenzen zu überwinden. Nur, indem er in ständiger Bewegung bleibt, verhindert er, daß sich wiederum Grenzen etablieren. So wird eine jede Formung einer sich neubildenden Figur von vornherein verhindert. Die anhaltende Drehung wirkt nach zwei Seiten hin: sie durchbricht und unterbricht vorgegebene Strukturen und verhindert, daß sich überhaupt neue festgefugte Formen herausbilden. Durch diese Dynamik verflüssigt sie sozusagen alle Grenzen. Diese Forderung des magischen Tänzers scheint sich bis in die Bühnenkonkretisation hinein zu realisieren: denn die alltägliche Wohnküche mit Waschfaß und ausgewrungenen Wäschestücken der ersten Szene wandelt sich in der zweiten Szene in einen Globus mit kristallenen durchsichtigen Wänden, je weiter David seinen somnambulen Tanz ausfuhrt. Die Wäschestücke werden in der Art einer Filmleinwand mit 224 225

Sachs: Der magische Tänzer, S. 242. Ebd., S. 247.

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Kapitel II

den Karten der einzelnen Länder bezeichnet - die Wäscheleinen werden Meridiane und Breitengrade. 2 2 6

Später beginnen die einzelnen Länder zu flattern, sobald sie genannt werden, die Meridiane und Breitengrade drehen sich und laufen. 2 2 7

Als Gegenbild zu dieser Szene eines universalisierenden Tanzes denkt man an Rilkes Tänzer, der nach dem Tanz in die Alltäglichkeit zurückkehrt, ("und geht durch seine Küche in die Wohnung"). Denn hier wird die kleinbürgerliche Enge des Alltäglichen für die Räume transparent, von denen sie sich normalerweise absondert. Mit der Drehung der Meridiane und Breitenkreise geraten auch die Abgrenzungen zwischen Erde und Kosmos in Bewegung. Der magische Tänzer ist jeglicher statischen Ordnung entwichen: globale und universale Ordnungs- und Strukturierungsgrenzen lockern sich. Durch die Autonomie seines Tanzes, die sich in keine vorgegebenen Strukturen fügt, zwingt er diese selbst in Bewegung. Denn normalerweise grenzt sich ein Tanz ja von der umgebenden Räumlichkeit ab und wirkt gerade dadurch gegenüber der Statik des Raumes als künstlerischer Ausdruck. Hier ist er radikalisiert: er zieht alles in seine Bewegung ein, denn der Raum wird nur noch aus der Perspektive des Tänzers, für den sich ja alles dreht, dargestellt. Solch ein universalisierender Tanz, der nur mit Hilfe der Theatermaschinerie in Szene gesetzt werden kann, kennt nicht die Unterbrechungen des menschlichen Tanzes. Deshalb wohl wird der magische Tänzer als Marionette eingeführt. Allerdings darf man sich unter ihm keine konventionelle Marionette, die durch das Spiel eines Marionettenspielers gelenkt wird, vorstellen. Denn ein Marionettenspieler fehlt; die beiden Tänzer sind einem äußeren "Gewirr" von Fäden, Wäscheleinen und Meridianen ausgeliefert, aus dem sie sich selbständig befreien müssen. Wie kann jedoch eine Marionette ohne Marionettenspieler gedacht werden? Wenn Heinz Holliger in seiner musikalischen Komposition dieser Szene die Figur der Marionette durch einen "klassischen, sehr virtuosen Tänzer" (Partitur, Leo Baeck Institute, New York) darstellen läßt, riskiert er, daß das absolut Befremdende, von physischen Gesetzen Abstrahierte der Marionettenphantasie eingebüßt wird. In der theatralischen Konkretisation des Textes könnte dieser Tänzer auch durch ein Automaton ersetzt werden, das den Tanz technisch perfektioniert, ihn von äußerer Fadenfuhrung unabhängig macht und dadurch eine von menschlichen Imperfektionen unabhängige Ästhetik darstellt. Eine solche Fiktion einer von physischen Gesetzen unabhängigen Figur entwirft der Operntänzer in Kleists Marionettenaufsatz:

226 227

Ebd., S. 245. Ebd., S. 247.

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daß wenn ihm ein Mechanikus, nach den Forderungen, die er an ihn zu machen dächte, eine Marionette bauen wollte, er vermittels derselben einen Tanz darstellen würde, den weder er, noch irgendein anderer geschickter Tänzer seiner Zeit, Vestris selbst nicht ausgenommen, zu erreichen imstande wäre. 228 Und er folgert, daß die durch eine Sonderanfertigung mögliche mechanische Perfektion einer Marionette "den Tanz gänzlich ins Reich mechanischer Kräfte hinüberspielen könne". 229 Je weniger der Mensch an diesem Tanz beteiligt ist und je mechanischer er abläuft, desto perfekter ist er. Denn die Mimesis, die den Marionettentanz bedingt - dieser Tanz kommt durch Koordination zweier Bewegungen, des Fingerspiels des Maschinisten und des Gliedertanzes der Marionette zustande 230 - wird ausgeklammert, da kein menschliches "Geschick" das technische einholen kann. In Nelly Sachs' Drama sind die beiden Funktionen des Puppen- und des Maschinisten-Tanzes kontrahiert zu einer Funktion idealer und puppenhafter Dynamik. Im Rahmen der dreifachen Verschiebung des Tanzmotivs vom Tanz des menschlichen Tänzers zum Tanz der Marionette und zum Tanz des Automatons wird der Tanz unabhängig von den physischen Gesetzen des menschlichen Körpers und die an sie gebundene Zeitlichkeit. Es ist gerade diese Unabhängigkeit, die der magische Tänzer lehrt. Doch ist sie nicht vollkommen neu, nicht ganz fremd und unvertraut: er lehrt sie, indem er mit der Drehbewegung zugleich Erinnerungen einübt. Zu Beginn der zweiten Szene tritt der magische Tänzer "vor einer sich öffnenden gläsernen Wand, spiegelnd wie Wasser" auf, in der er dann später tanzend wieder verschwindet. Während seines Auftrittes "nimmt er immer mehr die Gestalt des ganz jungen David an, zeigt in die Spiegel wand" und sagt: Dort trank ich deine Zeit Siehe wie sie ausfahrt - 2 3 1 Die Wechselrede zwischen David und Marionette verschiebt sich zur Rede zwischen dem "ganz jungen" und dem älteren David. Man kann kaum entscheiden, wer als "ich" spricht: der magische Tänzer oder seine Gestalt, die Gestalt des jungen David. Das "ich" scheint beide Figuren zusammenzufassen: der magische Tänzer, eine Figur der Kindheit, ruft den der Kindheit Entfremdeten, der Zeitlichkeit, Alltäglichkeit, Schwere und dem Wahn Ausgelieferten, in die Kindheit und die Unabhängigkeit von allen Bindungen, "Schnüren" und "Meridianen" zurück. Das "ich" spricht im Imperfekt: die Zeit vor der Kindheit "trank" die Zeit. Bevor Zeitlichkeit überhaupt einsetzt, ist sie schon von dem 228

Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater. In: Anekdoten. Kleine Schriften. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1964, (dtv Gesamtausgabe 5), S. 73. 229 Ebd. 230 Vgl. ebd., S. 72f. 23 ' Sachs: Der magische Tänzer, S. 246.

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Kapitel II

Vor-Zeitlichen vereinnahmt. Insofern erweist sich jegliche Zeitlichkeit - Vergangenheit und Zukunft - immer schon als nachträglich und überholt. Gewohnte Zeitkonzeptionen stürzen um, wenn die Vergangenheit durch die Zukunft eingeholt wird, so daß diese selbst nur noch als Vergangenheitsmoment fungiert. Wenn der magische Tänzer also das 'Abwickeln aller Schnüre' lehrt, dann übt er das Kindsein ein, die Lösung aus allen zeitlichen Bindungen, aus Vergangenheit und Zukunft, und in Davids konkretem Fall die Lösung aus allen Bindungen an Publikumserfolg, Alltäglichkeit und apathische Körperschwere. Theatralisch räumlich gesehen liegt die Zukunft für David in dem "Dort", dem Jenseits der Spiegelwand, in das der magische Tänzer wieder verschwindet und wo Vergangenheit und Zukunft, Jugend und Alter, Geburt und Tod zusammenfallen. Kann dieses "Dort" überhaupt zum "Hier" werden? Ist es nicht immer ein Abwesendes und ist David durch seine körperliche Präsenz nicht immer von diesem seinem zeitlichen Außerhalb, seiner Vergangenheit und Zukunft getrennt? Durch penetrant wiederholte Fragen - "Erinnerst du dich?" - ruft der magische Tänzer Erinnerungen auf, die nicht mehr nur in das "Hier", sondern bereits zum "Dort" gehören. Diese Er-innerungen reichen weit über Biographisches, alltäglich Vertrautes und deskriptiv Darstellbares hinaus. Sie sind nicht benennbar oder fixierbar, denn sie werden nur durch poetisch hoch verrätselte Bildelemente wachgerufen. Erinnern sollte deshalb hier nicht nur als das lateinische 'monere', sondern auch im Sinne des Mittelhochdeutschen "innaron", (er)innern, "machen, daß jem. etwas inne wird, bekannt machen mit" 232 aufgefaßt werden.233 Wessen soll David inne werden? Es ist auffällig, daß wenn auch in einer der Erinnerungen, die der magische Tänzer aufruft, Visualitätsszenen und in der anderen Klangszenen dominieren, diese häufig doch ineinandergreifen. Sie bedingen sich wechselseitig: die Erinnerungen richten sich gerade auf diesen Übergang des Visuellen ins Akustische und des Akustischen ins Visuelle. Deshalb wohl werden sie durch unterschiedlichste Medien, durch Sprechen, Gesang, Musik und Tanz stimuliert, da sie gerade aus dem Zwischen der Künste hervorgehen, der Sphäre, die nicht nur durch visuelle Szene, Gesang, Musik oder Tanz abgedeckt und auch in keiner Weise fixiert werden kann. Natürlich kann dieser Bereich des Zwischen, solange es um einen Text geht, nicht nur strukturell ausgewiesen werden, er ist immer auch semantisch an Themen wie Liebe, Tod, Leben, Stille, Klang gebunden. Daher läßt sich die folgende Lektüre von zwei Gesichtspunkten her leiten: Sie fragt einerseits nach der Relation der Ausdrucksmedien zueinander, andererseits danach, wie diese Relation thematisiert wird.

232

233

Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin, New York: Walter De Gruyter 1975, S. 172. Darum sind es wohl gerade diese Textpassagen, die Heinz Holliger in seiner Komposition der dramatischen Szene oft in ihre Silbenelemente auflöst, so daß sie sich selbst zum klanglichen Kontext werden. Worte und Wortsilben tanzen um sich selbst herum.

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In der Exotik der Erinnerungen verschmelzen Frauenfiguren mit geographisch-landschaftlichen Elementen. Erinnerst du dich? Es war in Chile! In den Anden - die Prinzessin im Eis -

[...] Es war im schmalen Halstuch der Anden - erinnerst du dich? Frisch aus der Eiszeit aufgegraben - erinnerst du dich? Liebe im Eis - im Eis - im Eis - 2 3 4

Die legendarischen Erzählungen vom "unverhofften Wiedersehen"235 werden neu gestaltet: Nicht durch eine konkrete physische Wiederbegegnung findet David die tote Schöne, sondern durch Worte, die Erinnerungsszenen wachrufen. Er sieht das, was die Eiszeit verborgen hält: den Eis-Körper der "Prinzessin", eine frisch aufgegrabene "Liebe". Im Sinne romantisch idealistischer Naturphilosophie liegt gerade im Leb- und Bewußtlosen die Potenz absoluter Lebenssteigerung ins Ästhetische. Man denke nur an Tiecks 'Augen der Steine und Mineralien', die im Märchen Der Runenberg236 zum Beispiel den Jäger Christian aus seiner Alltäglichkeit in eine den Märchengesetzen unterworfene Realität verfuhren. Hier fuhrt die Erinnerung eine emblematische Todesszene vor Augen: Das in der Eis-zeit, im Zeitlichen Verborgene, tritt in Erscheinung: eine Figur der Zeitlosigkeit, die in die kristalline Todessphäre, die keinen weiteren Verfall des Körperlichen zuläßt, gebunden bleibt. Was hier blitzhaft verkürzt als Erinnerungsbild aufleuchtet, hat Nelly Sachs in einem bisher unveröffentlichten Prosatext mit dem Titel Eisgrab oder Das Schweigen spricht237 ausführlicher gestaltet. Dort räumt sie ein: In diesem Zwischenreich zwischen Leben und Tod oder in einer schon woanders auferstandenen Dimension soll dieses Raummärchen ohne anderen Raum, als den die menschliche Phantasie einräumt - spielen -

Die Märchenrealität der Phantasie kann nur jenseits der Grenzen allzu vertrauter Konzepte, wie Tod und Leben, initiiert werden, denn sie geht gerade aus der

234 235

236

237

Sachs: Der magische Tänzer, S. 247. Frühere Bearbeitungen: Gotthilf Heinrich Schubert Das Bergwerk von Falun·, Johann Peter Hebel Unverhofftes Wiedersehen; E.T.A. Hoffmann Die Bergwerke zu Falun\ Hugo von Hofmannsthal Das Bergwerk zu Falun. In dem Prosatext Eisgrab oder Wo Schweigen spricht führt Nelly Sachs die Erzählung von dem "Eisgrab in Chile" auf "eine alte indianische Sage" zurück. (Ms. Kunglia Biblioteket, Stockholm). Tieck, Ludwig: Der Runenberg. In: Ders.: Werke, Bd II. Die Märchen, Aus dem Phantasus, Dramen. Hrsg. v. Marianne Thalmann. München: Winkler 1964, S. 61-82, hier: S. 65f., 78. Ms. Kunglia Biblioteket, Stockholm.

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Kapitel II

paradoxen Spannung zwischen diesen Konzepten als "Liebe im Eis", Leben im Tod, hervor. In dem Prosatext hackt ein Adler mit seinem Schnabel das Eis auf, bis das Schweigen ein Gesicht bekommen hat. N u n liest der Adler mit dem Adlerauge das Schweigen ab- und hält das Weltohr eine Feder - die ihm verliehen wurde an den Mund des Schweigens.

"Adlerauge" und "Weltohr", das Sehen und Hören, richten sich auf "Gesicht" und "Mund" des Schweigens. Dieses definiert sich selbst durch Visualitätsmetaphern: als "Kristall", der fur das Licht transparent wird. ich - Braut am ersten Kuß - hier bin ich nur durchsichtig Kristall der Hingabe an das erste Licht Und die Nacht antwortet: Fort von dir - eine Flügelmeile dem Schweigen voraus - hast du die Gestalt der Liebe erbaut

Es ist die Nacht, die sieht, was das Schweigen tut. Visualitätsmetaphem werden da eingesetzt, wo es um Grenzen des Akustischen, und akustische Metaphern da, wo es um Grenzen des Visuellen geht. In diesen Grenzzonen einer jeden Ausdrucksmöglichkeit steht die eine fur die andere ein. Allerdings kann sie das immer nur einschränkend tun: das Schweigen spricht von sich als "nur" Kristall, und die Nacht fuhrt die Aktivität des Schweigens in die ihm eigene Ferne. So distanziert sich eine jede Redeform in gewisser Weise von sich selbst. Diese kritische Einschränkung metaphorischer Kapazität fehlt im Text der dramatischen Szene, da dieser sehr viel radikaler mit Paradoxien selbst arbeitet. Der Umweg über den unveröffentlichten Prosatext macht die Strategie des Dramentextes deutlicher: durch die Form des Paradoxes werden Begrenzungen konventioneller Wort-Vorstellungen aufgebrochen, so daß neuartige Relationen zwischen verschiedenen paradoxen Elementen, wie zum Beispiel Liebe und Eis, evoziert werden können. "Liebe im Eis" kann auch als "Liebe im Schweigen" und 'Liebe in der Rede des Schweigens' gelesen werden. Wenn auch diese Assoziationen in der dramatischen Szene nicht expliziert werden, so werden sie doch durch die Erinnerungsanweisungen des magischen Tänzers angeregt. Mit der Reihung seiner sprachlichen Erinnerungsbilder eröffnet er die Perspektive auf die Phantasien, die den Paradoxien vor- oder zugrundeliegen. Es bleibt ein Thema konstant: alle Erinnerungen kreisen um eine weibliche Figur, um "die Prinzessin im Eis", "die kleine Schuhu", "Rahel", die Mutter und eine Geliebte, die leise sang. Während die eine Liebe in die starre Zeitlosigkeit des Eises gebunden bleibt, die andere jeder Nähe entflieht ("Schuhu floh in den Regenwald"), initiiert die mütterliche Liebe das Spiel mit Musik und Klang. A l s Rahel aufwachte deine Mutter aus ihrem Bett aus Stein

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singend: und jeder Stein war schon Musik geworden und du nahmst den Stein - den Stein - den Augenstein und spieltest so:

Summende

Musik,238

Roman Jakobson nennt das Vorsprachenstadium, in dem das Kind "alle denkbaren Laute zu erzeugen imstande ist", die "Lallperiode".239 Das Kind verliert die Möglichkeit fur dieses arbiträre und vielfaltige Spiel mit Klängen, sobald es versucht, "im Verlangen, am Gespräch teilzunehmen"240, sich die kommunikative Sprache anzueignen. Der magische Tänzer evoziert die Erinnerung an dieses vorsprachlich frühkindliche Klangspiel, indem er sein Sprechen in Singen und dann in "summende Musik" verwandelt. Für einen Moment wird die Erinnerung selbst Klang und piaziert sich außerhalb der Kompetenz gesprochener oder geschriebener Sprache. In diesem Außerhalb lokalisiert der Tänzer seine "Magie" durch die sich, wie in den orphischen Mysterien, Steine in Musik wandeln. Durch sprachliche Paradoxien also, die sich dann in Gesang und summende Musik auflösen, fuhrt der magische Tänzer Davids Erinnerungen auf die vorsprachliche Genesis von Klang und Musik zurück. In den Relationen zwischen Musik, Gesang und Sprache gründen die Erinnerungen an die Präsenz des Außer· oder Vorzeitlichen, das mit dem Namen "Rahel", hebräisch die Mutter, mit dem Klangspiel des Namens "Schuhu", mit den Paradoxien "Prinzessin im Eis" oder "der Liebe im Eis" und mit der Liebesszene "Sie sang so leise"241 assoziiert wird. Gerade diese vorspachliche Beziehung zum Klang (Klang der Mutter - Mutter des Klangs) entzieht sich jeder Konzeptualisierung, "leise" 'klingt sie wie Wind',242 vergessen, unfaßbar und unbegreifbar zwischen allen ihren Konzeptualisierungen. Bevor der magische Tänzer als "Gestalt des ganz jungen David" in die Spiegelwand und in die Sphäre der Erinnerungen zurückkehrt, nimmt er von der Leine einen frischgewaschenen Wäschesack und verabschiedet sich mit den folgenden Worten: Hier ist der Nullmeridian alle Schnüre hinein

238 239

240 241 242

Sachs: Der magische Tänzer, S. 248. Jakobson, Roman: Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969, S. 20ff. Ebd., S. 25. Sachs: Der magische Tänzer, S. 249. Ebd.

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Kapitelll

Abwickeln, abwickeln [...] So werden die Toten lebendig 243

Dann "tut er Wäschestücke und Leine in den Sack" und "verschwindet in der Spiegelwand". Der "junge David" befreit sozusagen den älteren David aus dem "Gewirre" seines Alltags, aus Haut, Meridianen, Schnüren und Erinnerungen, die ihn in Schwere, Traurigkeit und Melancholie binden. Als Automat, eine Marionette, die sich bereits aus der Abhängigkeit von ihrer Fadenfuhrung befreit hat, demonstriert der "junge David" der Nicht-Marionette, dem älteren David, ihre marionettenhafte Abhängigkeit und versucht sie daraus zu lösen. Im Rahmen dieser chiastischen Vertauschung - die Figur der Marionette erweist sich als Nicht-Marionette, die Figur der Nicht-Marionette erweist sich als Marionette - greifen zwei Zeitkonzeptionen ineinander: die zum Automaton emanzipierte Marionette demonstriert der Nicht-Marionette ihre marionettenhafte Abhängigkeit von der Zeitlichkeit physischer Existenz. Als moderner deus ex machina, Figur der Erinnerung, der Kindheit, des Klangs, tritt der magische Tänzer hier nicht nur auf, um Knoten zu lösen, sondern vor allem auch, um dadurch wieder neue aufzugeben. Denn durch die Trennung von ihm erfährt David noch einmal die Trennung von seiner Kindheit. David kann nicht länger in seinem vorsprachlichen und transzendentalisierenden Bezug zur physischen Gegebenheit verbleiben. Eine Inversion findet statt: Ein Schrei zerreißt den Körper. Diese Todesszene wird als Zergliederung visueller und körperlicher Strukturen und Austilgung jeglicher Transzendenz inszeniert. Der magische Tänzer liefert David noch einmal der Trennung von den Klängen der Kindheit aus. Davids Tanz, der weiterhin in die Diskontinuität eingebunden bleibt, befreit ihn nicht. Im Gegensatz zu dem "weltberühmten" Tanz und seinem "Abend voll Glanz" 244 chaotisiert er zunächst die kleinbürgerliche Ordnung Marinas. David wirft die Wäsche von den Schnüren herunter, springt in den Bottich und planscht. 245 Dieser Tanz, der von der Nachbarin als kriminell und verrückt246 und von Marina als ekstatische Kult- und Ritualform gedeutet wird 247 , spitzt 243 244

245 246 247

Ebd. Ebd., S. 243. Später wirft der magische Tänzer David vor: "Hörst du den Beifall David? Nur Hände, die klatschen waren deine Welt." (Ebd., S. 246). Ebd., S. 242. Ebd., S. 243. Da sehen Sie, so sitzt er und betet heißt doch David wie der König der vor der Bundeslade tanzte - [...] Ja der tanzte und zog den Mond an seinen Schnüren herunter. (Ebd., S. 242).

Nelly Sachs' Dramen: Inszenierungen der Sprache

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sich zur Absurdität zu: Mit ihrer letzten Kraft hilft Marina bei der Drehung, bis sie "fast bewußtlos" zusammensinkt. Ich wickle dich aus - wickle dich aus aus allen Banden Flieg Schmetterling - flieg 2 4 8

Marina, durch Assonanz eine Maria-Figur, versucht verzweifelt, ihn in die Leichte des Fluges, in den Tanz und Klang hineinzudrehen. Doch letztlich kollabieren beide Figuren, der physischen Schwere ausgeliefert. David tanzt um den leblosen Körper Marinas, "stößt einen herzzerreißenden Schrei aus, reißt den Trikot herunter, reißt sein Herz heraus und sinkt über Marinas leblosen Körper hin." 249 Worte werden zum Schrei, der das Herz zerrreißt. Die konventionelle Metapher "herzzerreißender Schrei" wird wörtlich inszeniert, wenn David "sein Herz herausreißt" und dadurch jegliche metaphysischen und psychischen Konnotationen der Herzmetapher zunichte macht. Als Gegenklang zur "summenden Musik" inszeniert der Schrei eine brutale Selbstverstümmelungsszene, durch die auch die letzte Illusion einer verborgenen Innerlichkeit, die die metaphorische Sprache bereit hält, den Gesetzen der Physis ausgeliefert wird. "Summende Musik" und "herzzerreißender Schrei" markieren die Grenzen, Anfang und Ende von Davids physischer Existenz, seines Tanzes und seiner Sprache. Sie weisen jeweils über diese Grenzen hinaus in ein Zwischen, das sich eben nicht durch endgültige Grenzen darstellen läßt. Da Tanz und Sprache sich der starren Kontinuität körperlicher Präsenz entgegensetzen und sich von ihr nicht vereinnahmen lassen, wird hier die ihnen eigene Diskontinuität bis ins Physische fortgesetzt. Dieses Zerbrechen kann, da es immer schon alles Darstellbare bedroht, kaum auf der Bühne dargestellt werden. Die dem Tanz und der Sprache zugrundeliegende Diskontinuität macht jede Darstellung, die "stellt", unmöglich: sie wird zur Darstellung, die zerreißt. Insofern negiert dieser Text jegliche idealistische Interpretation, die dieses Drama zum Beispiel ausschließlich als Dramatisierung des Themas der Wiedergeburt zu lesen versucht.250 Im Rahmen dieser Lektüre blieb bis jetzt allerdings eine kurze Szene unerwähnt. Nach Marinas mit letzter Kraft hingeröchelten Worten: - da - da - da Flieg - flieg - flieg - 2 5 1

248 249 250

251

Ebd., S. 251. Ebd., S. 252. Thompsen, Jane Hegge: The Theme of Rebirth in 5 Dramas of Nelly Sachs. Diss. North Carolina at Chapel Hill 1980. Sachs: Der magische Tänzer, S. 252.

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Kapitelll

wandelt sich die äußere Szenerie für einen Moment in eine höchst allegorische, bevor David seinen Tanz um den leblosen Körper Marinas fortsetzt und bevor dieser Tanz dann selbst zum "herzzerreißenden Schrei" ausbricht: David bewegt sich immer weiter von Marina fort, steht plötzlich still im Hintergrund, leuchtend w i e ein Cherub [...] 2 5 2

Diese Engelallegorie zitiert biblische Bildtraditionen, wie sie aus Verkündigungsszenen bekannt sind. Doch da diese Poetisierung Davids zur Engelfigur nur für einen Moment anhält, scheint es, daß gerade auch diese Poetisierung, die sich über die Widerstände der Physis einfach hinwegsetzt, mitzerbrochen würde. Die in diesem Text angelegte Ästhetik der Destruktion schreibt die Rilkesche Ästhetik um, die durch motivische Zitate aus der Vierten Elegie, durch die Figur des Tänzers, seinen Rückfall in die Küchenbürgerlichkeit und seine Substitution durch Puppe und Engel, präsent ist. Liest man Nelly Sachs' Szene als Dramatisierung der Rilkeschen Puppenphantasie253 - wie es intertextuelle Verweisungen nahelegen - , so geht diese Dramatisierung weit über motivische Parallelen hinaus. In Rilkes Text inszeniert die Figur des Zuschauers den Prozeß poetischer Produktion. Einzelne aus diesem Prozeß hervorgegangene poetische Figuren werden in Nelly Sachs' Szene autonom. Sie unterziehen Rilkes Konzept poetischer Produktion einer Re-vision. Das "Aushalten", "Warten", "Hinschauen", "Schauen" des Zuschauers inszeniert sich in der Vierten Duineser Elegie in radikaler Weise, wenn es als Figur auf dem Theater ein "Gesicht aus Aussehn" konstruiert: das Schauen schaut in dieses "Gesicht aus Aussehn" und entwirft ein "Schauspiel." [...] Wenn mir zumut ist, zu warten vor der Puppenbühne, nein, s o v ö l l i g hinzuschauen, daß, um mein Schauen am End aufzuwiegen, dort als Spieler ein Engel hinmuß, der die Bälge hochreißt. Engel und Puppe: dann ist endlich Schauspiel. 2 5 4

Der in die Puppe erstarrten, exzentrischen Schau-szene fehlt zum "Schau-spiel" noch das vom Engel gelenkte Spiel. Die Elegien evozieren diesen Engel als

252 253

254

Ebd. Rilkes Vierte Duineser Elegie ist wiederum eine Bearbeitung von Kleists Essay: Über das Marionettentheater. Rilkes Beschäftigung mit Kleist ist vielfältig belegt: Vgl. dazu: Steiner, Jacob: Das Motiv der Puppe. In: Ders.: Rilke. Vorträge und Aufsätze. Karlsruhe: von Loeper 1986, S. 105ff. Rilke: Elegien, S. 698f.

Nelly Sachs' Dramen: Inszenierungen der Sprache

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Instanz abseits jeglicher Humanität und als Figur "menschenferner, unmenschlicher Monumentalität".255 Szondi schreibt: An die Stelle des in sich zweifachen, gespaltenen Tänzer-Bürgers, der zunächst den Menschen dargestellt hat, tritt so die deutlich getrennte, aber aufeinander bezogene Zweiheit von Engel und Puppe, der eine unendlich über dem Menschen, der andere unendlich unter dem Menschen stehend: beide aber in sich rein, nur sie selber, ohne Vorwand, ohne Täuschung. 2 5 6

Die ungespaltene Einheit der Figuren, ihr In-Sich-Sein, zeichnet sie vor der menschlichen Gespaltenheit aus. Szondi sieht in Engel und Puppe die beiden Prinzipien des menschlichen Daseins, die wir vielleicht mit den bekannteren Gegensatzpaaren, Geist und Materie, Seele und Körper, Transzendenz und Immanenz annähern dürfen. 2 5 7

Ein Problem liegt darin, daß man hier zwar allgemein von Prinzipien menschlichen Daseins sprechen kann, sich dadurch aber den Sinn fur die Radikalität der Ersatzszene zu verstellen droht, da das Spiel von Puppe und Engel gerade als das Spiel vorgestellt wird, das einerseits vom Ich initiert wird, sich andererseits aber durch größte Distanz vom Menschlichen absetzt. Es fungiert gerade nicht mehr als autonomes "Spiel des Herzens", da das Herz nicht mehr als Einheit gedacht wird. Wenn sich auch sein Vorhang öffnet, dann doch nicht für sein spontanes, sondern fur ein ihm gegenüber fremdes Spiel, in dem das Schauen selbst die szenische Realität beschwört. [...] daß, um mein Schauen am Ende aufzuwiegen, dort als Spieler ein Engel hinmuß [...]

Das Schauen schaut sich im "Aussehn" der Puppe selbst. Diese Reflexion verbleibt aber nicht in sich selbst, sondern reicht auch über sich hinaus: letztlich füllt sich für das insistente Schauen die "Leere" der Bühne mit Bewegung. Aus dem "Aushalten" dieser "Leere" geht der dichterische Text und sein Szenarium, die Figurierung der Leere hervor. Diese Inszenierung der Leere ist ein langwieriger Prozeß: die Reihe durativer Verben "aushalten", "bleiben", "zuschaun", "warten", "schauen" gipfelt in der Konzentration auf die Intensität des Blicks. [...] Wenn mir zumut ist, zu warten vor der Puppenbühne, nein,

255

256 257

Szondi, Peter: Das lyrische Drama des Fin de sifccle. Frankfurt a.M: Suhrkamp 1975, S. 390. (hinfort zitiert: Szondi: Lyrisches Drama). Ebd., S. 423. Ebd.

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Kapitel II

s o völlig h i n z u s c h a u n , d a ß um mein Schauen a m E n d e a u f z u w i e g e n [...]

Die demonstrative Partikel "hin" dirigiert nicht nur die Blickrichtung, sie transportiert das Schauen beziehungsweise die Schau vom Sprecher hinweg auf die Bühne. Durch diese poetische Produktion der Phantasie wird ZuvorUnsichtbares sichtbar.258 Erst das Auftreten des Engels als Marionettenspieler ermöglicht, daß die Puppe die totenhafte Schwere und Starrheit eines Fremdkörpers - wie Rilke die Puppen in dem Puppenessay von 1914259 beschreibt ablegt. Der Engel reißt die Bälge hoch und spielt mit der durch den Text gewonnenen ästhetischen Autonomie seiner Figur über den Menschen hinüber. Erst durch dieses Spiel ästhetischer Elemente, durch den Wandel der unbeweglichen, noch in die Einzelteile wie Balg, Draht und Gesicht zerlegten Puppe in eine Marionette, die gespielt werden kann, gewinnt das Ästhetische seine eigene Realität. In dieser katachrestischen Szene treiben der Engel als Marionettenspieler und die starre Puppe als Marionette ihr sehr eigenes Spiel, für das es außerhalb der Elegie kein Äquivalent gibt. Paul de Man fuhrt die Rhetorik der Katachrese auf "die der Sprache innewohnende Setzungsmacht" zurück, die sie fähig macht, "die fantastischsten Wesenheiten zu erfinden." 260 Die Destruktion der unmittelbaren Herzensbühne, auf der der Tänzer auftritt, provoziert ein Bühnengeschehen, das allein dem Prozeß der dichterischen "Schau" verpflichtet ist. Um mit dem Vokabular des Puppenessays zu sprechen, heißt das, daß das Phantasielose der Puppe durch den Engel seine Phantasie gewinnt. E s k ö n n t e ein Dichter unter die H e r r s c h a f t einer M a r i o n e t t e geraten, denn die M a rionette hat nichts als Phantasie. Die P u p p e hat keine u n d ist genau u m so viel w e n i g e r als ein D i n g , als die M a r i o n e t t e m e h r ist. 2 6 1

Die Sphäre der Phantasie, Poesie und Ästhetik, für die die Marionette als Chiffre fungiert, wird in der Vierten Elegie nur allmählich entworfen. Nur in den Schlußversen heißt es: D a n n k o m m t z u s a m m e n , was w i r i m m e r f o r t e n t z w e i e n , indem w i r da sind. Dann entsteht a u s unsern Jahreszeiten erst der U m k r e i s d e s ganzen W a n d e i n s . Über uns hinüber 258

Jakob Steiner weist in seiner Besprechung der Vierten Elegie auf die "schöpferische" Qualität des Hinschauens, auf die "Folge, das Gesetz nämlich, das den Engel herbeizwingt". (Steiner, Jacob: Rilkes Duineser Elegien. Bern, München: Francke 1962, S. 88). 259 Rilke, Rainer Maria: Puppen. In: Sämtliche Werke. Sechster Band. Frankfurt a.M.: Insel 1966, S. 1069. 260 De Man, Paul: Epistemologie der Metapher. Übers, v. Werner Hamacher. Theorie der Metapher. Hrsg. v. Anselm Haverkamp. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, S. 414-437, hier: S. 424. 261 Rilke: Puppen (wie Anm. 259), S. 1069.

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spielt dann der Engel.262 Die Innerlichkeit, die Guckkastenbühne des Herzens, wird aufgelöst und zum Umkreis menschlicher Existenz ausgeweitet. Mit der Elegie schreibt sich diese Existenz sozusagen in den universalen Raum des Spiels ein. Dieses Marionettentheater ist nicht mehr Teil menschlichen Lebens und fugt sich in keine konventionelle Theaterkonzeption mehr. Jeglicher spontaner und mimetischer Kontakt ist unterbrochen. Szondi hat recht: In Engel und Puppe sind generell Prinzipien menschlichen Daseins, "Transzendenz und Immanenz"263 präsent, allerdings sind diese auch Prinzipien, die nicht unbedingt nur an das menschliche Dasein gebunden sein müssen. Sie markieren gerade die Grenzen des Menschseins, die Grenzen, die auch durch Geburt und Tod gegeben sind. Allerdings werden diese hier durch den sprachlich elegischen Prozeß in ein rein ästhetisches Spiel miteinander gebracht. Zuerst müssen vorgegebene Bild- und Szenenformen ausgelöscht werden, bevor aus dem Schauen in eine Leere neue Bilder hervorgehen können, die durch Begründung in dieser Leere von vornherein vom menschlichen Dasein abstrahiert sind. Als ästhetische verbinden sich transzendente und immanente Prinzipien in der Sphäre der Phantasie zu launisch eigenwilligen Bildern und Szenen. Die naturalistische Szene des bürgerlichen Tänzers wird durch die abstrakte und zugleich unbegriffliche wie unbegreifbare Puppen- und Engelszene ersetzt.264 Neben einzelnen motivischen Elementen - alltägliche Bürgerlichkeit, Puppe und Engel - spielt gerade die von Rilke entworfene poetische Autonomie der Marionettenphantasie in Nelly Sachs' Konzeption der Marionette in der Weise hinein, daß ihre Absolutheit relativiert wird. Denn Nelly Sachs' Phantasie endet nicht mit einem Spiel, sondern im Gegenteil: Davids Tanz wird zum Totentanz. Die Tanzszene wird durch die Engelvision zwar kurz unterbrochen, doch löst diese Vision den Tanz nicht ab, da sie sich ihrem Gesetztsein entzieht. Die katachrestische Setzungsmacht der Sprache wird relativiert: während die leere Bühne in Rilkes Elegie wieder zur Spielbühne wird, entlarvt sich Spiel und Tanz in Nelly Sachs' Szene letztlich als Exaltation des Todes. Dies wird ganz deutlich durch Nelly Sachs' Bearbeitung der Engelszene Rilkes: während Rilkes Schauspiel durch die Figur des Engels vollkommen neu inszeniert wird, wird die Engelfigur in Nelly Sachs' Text als Fragment gerade einer solchen katachrestischen Ästhetik blitzartig eingeschoben. Die bei Rilke autonome

262

Rilke: Elegien, S. 699. Szondi: Lyrisches Drama, S. 423. 264 v g l . Blumenberg, Hans: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit. Schiffbruch mit Zuschauer. Frankfurt a.M: Suhrkamp 1988, S. 77-93. 263

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poetische Phantasie, die sich von der dichterischen Schau und vom Sprecher löst, wird hier nur zitiert, um ihre Fragilität anzuzeigen.265 Damit konzentriert Nelly Sachs ihre Szene auf ein Thema, das bereits in Rilkes Elegie angesprochen wird; dort heißt es über Schauspiel von Engel und Puppe: Dann kommt zusammen, was wir immerfort entzwein, indem wir da sind.

In das Zusammenkommen greift sogleich ein Entzwein ein. Nelly Sachs1 Szene ist von vornherein eine Szene des Entzweins, Zerbrechens und Fragmentierens. Sie zieht gerade das "Zusammenkommen" in Frage. In einem Brief an Johannes Edfelt ist Nelly Sachs sich bewußt, wie radikal ihre Dichtung sich von der Rilkes absondert. Sie weiß, daß ihre Dichtung dem Zerbrechen allein gewidmet ist. In Deutschland lehnt man bei fast allen Verlegern Dichtung ab, die noch über Rilke hinaus eine Form für diese unsere zerbrochene Welt sucht. Es soll glatt und harmonisch im früheren Sinne sein. 2 6 6

Wie schon der Satz "Die Haut ist keine Grenze", der im Anfang als Kernsatz für die Proverbstruktur der Szene zitiert wurde, anzeigt, gibt es keine Kontinuität, die durch Grenzen markiert werden könnte. Körper, Tanz, Worte, Musik alle künstlerischen Darstellungsformen weisen immer schon über ihre eigenen Grenzen hinaus. Ob es überhaupt jemals ein 'Zusammenkommen' geben kann, ist die Frage. Nelly Sachs selbst hat im Motto zu dieser dramatischen Szene die beiden Worte "Tod" und "Leben" in eine rhythmisch-metrische Struktur eingebunden und dadurch eine gewisse Musikalisierung des Textes vorweggenommen. Hingeworfen in des Blitzes Syntax lang - kurz lang - kurz Leben - Tod -

265

Diese Analyse der Szene weicht radikal von der sehr viel harmonischeren Ehrhard Bahrs ab. Bahr liest die Engelallegorie nicht als Zitat und kritische Revision der Rilkeschen Engelvorstellung, sondern spricht von dem Schluß als einer Verklärung Davids durch den Engel. Er schreibt: "Marina folgt dem Geliebten, der am Ende als Cherub verklärt erscheint, in den Tod." Bahr: Nelly Sachs (wie Anm. 5), S. 185. Abgesehen von Verstellungen der Handlung - nicht Marina folgt dem Geliebten, sondern er folgt ihr; anstatt mit der Verklärung endet die Szene mit Davids körperlicher Destruktion - thematisiert Bahr das höchst destruktive Verhalten Davids nicht. Dadurch unterliegt seine Analyse der Gefahr der Simplifizierung des Textes, der dann gerade dem Vorwurf des sentimental Religiösen in seiner Aussage und des Reaktionären seiner Theatralik schwerlich entkommen könnte.

266

Briefe der Nelly Sachs, S. 147.

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In dieser konkreten Poesie übernehmen die Worte "lang", "kurz", "Tod" und "Leben" Versfuß-Funktion; Hebung und Senkung sind durch Pausen voneinander abgegrenzt. Das, was sich am häufigsten wiederholt, sind die durch Linien markierten Pausen, die die Wertlosigkeit des rhythmischen Wechsels anzeigen. Es ist gerade diese Wertlosigkeit, die diesen bestimmten Rhythmus, durch den die Sprachlosigkeit in Sprachlichkeit übergeht, bestimmt. Sprachliche Elemente können sich ihm einfügen. Er vermittelt zwischen dem Sprachlichen und dem Nicht-Sprachlichen. Nicht nur einzelne Worte, sondern das Gedicht, der dramatische Text und seine Syntax selbst scheinen aus diesem Rhythmus hervorzugehen. Von ihm kann natürlich nicht anders als metaphorisch gesprochen werden: die Blitzmetapher fuhrt ihn als plötzlich und unberechenbar ein. Dieser Rhythmus, der die Sprachwerdung bedingt, kann in keiner Weise kalkuliert werden. Er greift über jegliche sprachlichen Manifestationen hinaus und bedingt deshalb das Sprachgeschehen selbst. Heinz Holligers Partitur kann in dem hier vorliegenden Kontext der Argumentation als eine Art schriftlicher Regiefuhrung des dramatischen Textes gelesen werden, die sich dadurch auszeichnet, daß sie mit der Wörtlichkeit des Textes, mit dem Text als Wort-, Klang- und Rhythmusmaterial, und nicht mit semantisch musikalischen Spekulationen über den Text arbeitet. Wörtlichkeit heißt in diesem Zusammenhang, daß der Komponist Sätze, Worte, Silben oder einzelne Klänge als klanglich rhythmische Phänomene in eine neue Beziehung zueinander setzt. Wie im dadaistischen Lautgedicht werden einzelne Worte manchmal vielfach wiederholt oder in Silben aufgelöst, so daß sie sich selbst zum klanglichen Kontext werden. Durch diese Musikalisierung jagt die eine Negation die andere, so daß sich jegliche Fixierungstendenz auflöst. Dies wird besonders deutlich in den drei Erinnerungsszenen, die der magische Tänzer mit der selben Frage einleitet: "Erinnerst du dich?". Im Text wird diese Frage als Initiation in die Erinnerung dreimal wiederholt267; in der Komposition Holligers wird diese Wiederholung der Worte durch gewisse musikalische Verschiebungen modifiziert: nicht nur werden einzelne Wortsilben und Buchstaben von unterschiedlichen Stimmen kanonhaft ineinander gemurmelt, geflüstert und gehaucht, sondern während der letzten Frage ist das Erinnerte requisitenhaft selbst präsent. Von der Zeile "Der Elch trug das kleine Goldei der Sonne auf dem Geweih" werden nur die die Erinnerung markierenden Substantive - Gold, Sonne, auf dem Geweih - von Sopran- und Alt-Soli gesungen, während Tenor und Baß die Frage "Erinnerst du dich?" sprechend wiederholen.268 Durch diese Präsenz des Erinnerten in dem Erinnerungsprozeß wird dieser für seine Vielschichtigkeit transparent: in Nelly Sachs' Text folgt die konkrete Erinnerung ihrem Aufruf, in Heinz Holligers Komposition ist sie in ihm schon präsent. Das Verhältnis von Frage und Antwort wird aus einem 267 268

Sachs: Der magische Tänzer, S. 247-249. Holliger: Der magische Tänzer (wie Anm. 212), S. 82.

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zeitlich sukzessiven in ein simultanes Verhältnis von Sprech- und Singstimmen übertragen. Wie das musikalisch klangliche Element dem sprachlichen inhärent ist, so liegt hier in der Frage nach der Erinnerung schon das Erinnerte selbst bereit. In der Frage nach der Erinnerung bleibt die grammatische Syntax aufrechterhalten, während die Erinnerung sich musikalisch reduziert auf die an oei-Vokalen klangreichen Substantive "Goldei, Sonne auf dem Geweih" präsentiert. So konkretisiert die Komposition die im Text selbst als Gesang und Klang ausgewiesene Erinnerung tatsächlich als Gesang und Klang. Sie sang so leise in dein Ohr es klang wie Wind Der Elch trug das kleine Goldei der Sonne auf dem G e w e i h 2 6 9

In der Elchphantasie wird diese Erinnerung an Gesang und Klang zu einer traumhaft visuellen Imagination, der in Holligers Komposition der Sinn für ihre Herkunft aus dem Musikalischen zurückgegeben wird, wenn sie gerade nicht gesprochen, sondern gesungen wird. Statt der sprachlich syntaktischen Ordnungen der Bild-Sprache bestimmen den Gesang die aus diesen Ordnungen isolierten klanglichen Momente. Der Frage "Erinnerst du dich" wird durch klingende Wortfragmente schon die Dynamik der Erinnerung, die sprachlich durch visuelle Vorstellungen präsent ist, unterschoben.270. So verweist die visuelle Bildlichkeit auf das ihr zugrundeliegende Klangliche, wie dieses wiederum nur durch Visualitätsmetaphern sprachlich werden kann. Mit den für das synästhetische Sprechen typischen Wendungen des Visuellen ins Akustische und des Akustischen ins Visuelle stimuliert der magische Tänzer Davids Erinnerungen. Erinnerungen woran? Wie bereits ausgeführt wurde, weist die Erinnerung an die Mutter auf die Genese des Sprachlichen im Vorsprachlichen, auf die Übertragung des Visuellen ins Klangliche. Hier wird der Prozeß der Sprachentstehung als ein synästhetischer etabliert. Der Erinnerungsprozeß selbst geht aus diesen komplexen Beziehungen zwischen den sinnlichen Perzeptionen, zwischen gesprochenen und gesungenen Klang- und Sprachelementen, Musik, Tanz und visueller Szenerie hervor. Die Magie des Tänzers liegt darin, daß er durch Stimulierung der ästhetischen Grundelemente das zwischen ihnen liegende Zwischen vibrieren läßt. In diesem Zwischen wurzelt jegliche Figur, die durch Sprache, Körper und Tanz sichtbar werden kann. Diese Frage nach den Relationen der Künste unterliegt Nelly Sachs' Dichtungen, denn der Klang summender Musik oder wortloser Stimmen wird als außersprachlicher Bezugspunkt vom Sprechen und Tanzen in den Szenen selbst immer wieder thematisiert.

269 270

Sachs: Der magische Tänzer, S. 249. Holliger: Der magische Tänzer (wie Anm. 212), S. 82.

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E.

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Zusammenfassung

Abram in Abram im Salz verfolgt die Stimmen, die er hört; Beryll in Beryll sieht in der Nacht erfahrt, daß die Sprache, nach der er sucht, sich nicht einfangen läßt. Für David in Der magische Tänzer ist jegliche Sprache verloren. Selbst die Suche nach ihr gibt sich dem Tod preis. Der Tod wird zwecklos, denn er hat keine idealistisch zu bestimmende Funktion mehr: seine einzige Konsequenz liegt in der Konkretisierung des Abgrundes, den er markiert, des Zwischen, das alle theatralischen Ausdrucksformen voneinander trennt. Während Sokrates, so wie Benjamin ihn portraitiert, seine physische von seiner sprachlichen Existenz unterscheidet, um sich der letzteren anzuvertrauen, unterhöhlen Nelly Sachs' Figuren solch ein Vertrauen. Das Sprechen, das sie von physischen Gesetzen zu befreien scheint, liefert sie ihnen selbst wieder aus. Dies wird auf verschiedenen Ebenen des dramatischen Geschehens gezeigt: 1. Thematisch in dem Mißlingen der Sprachsuche: Je intensiver die Figuren suchen, desto weiter entzieht sich ihnen die Sprache. Jede Szene wird von einer Dynamik geprägt, die das Postulieren einer solchen Sprachexistenz in die Negation überführt, so daß die Szenen letztlich ambiguos enden: Abram verschwindet von der Bühne und setzt seine Suche im Unsichtbaren und in der Stille fort, da, wo die Sprache sich nicht mehr zeigt und offenbart. Beryll lauscht einem Totenkopf, einer Figur der sterbenden Nacht und ihres "dunklen Gesanges". Beryll, der Blinde, der nur in der Nacht sehen kann, verliert nun auch diese Lichtquelle. Sein Zusammentreffen mit der Nacht blendet ihn noch einmal. 2. In der mißlingenden Inszenierung dieser Suche: Nelly Sachs' dramatische Kompositionen zeigen den Prozeß des Dichtens und Schreibens als Prozesse ständiger Grenzverschiebungen: poetische Formen werden zu einem theatralischen Kontext erweitert, in dem gestische, szenische, bildlich visuelle und akustische Elemente sich so aneinander abarbeiten, daß sie niemals koinzidieren. Dissonanz trennt sie. 3. In der Destruktion rhetorischer Formen: a. Synästhesie In Beryll sieht in der Nacht eröffnet die Nacht nicht nur die Sicht für den Blinden, sondern auch die Möglichkeit, ihre Stimme zu hören. Die akustische Szene evoziert im synästhetischen Sinn die optische, doch nicht, um sich dadurch intensiver zu präsentieren, sondern letztlich nur, um die Unmöglichkeit dieser synästhetischen Relation anzuzeigen: Die Rhetorik der Synästhesie expandiert zu einer theatralischen Szene, die akustische und visuelle Momente aneinander bindet, während sie sie jedoch zu gleicher Zeit trennt. Der poetische Ausdruck wird also theatralisch als Spannung zwischen zwei szenischen Momenten in-

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szeniert; diese Spannung zieht dadurch die Funktion des poetischen Ausdrucks selbst in Frage. Auf dieser Ebene der Handlung findet die Suche nach der Sprache in theatralischen Sprachen statt, die rhetorische Konventionen zerstören. b. Absage an metaphorisch bildliche Traditionen Davids bewegungslos zeichenhafte Erstarrung ist Voraussetzung für die radikale Gegendynamik, die der magische Tänzer fordert: der ekstatische Tanz soll aus den körperlichen Fesseln, der "Haut", befreien und die zeichenhafte Starre, die den Körper von seiner Umwelt abtrennt, auflösen. Doch kann die Existenz einer Figur im Drama ohne Abgrenzung gegenüber ihrem Außen gedacht werden? Widerspricht nicht jegliche Figurierung, sei es Bühnenfigur, sprachlichrhetorische Figur oder Schriftzeichen, von vornherein den Prozessen der Entgrenzung? Heißt Figurierung nicht Eingrenzung, Begrenzung, Abgrenzung? Das Sprengen einer Grenze etabliert immer wieder nur neue Grenzen. Kann ein absolutes "Heraus" überhaupt gedacht werden? Die Szene unterscheidet zwei Versuche voneinander, sich diesen physischen Grenzen zu entziehen: den Tanz des magischen Tänzers und den Tanz Davids. Während der magische Tänzer sich aus den in Meridiane wandelnden Wäscheleinen so herauswickelt, daß er von ihnen unabhängig wird und sie kurz vor seinem Abtreten sogar souverän im Sack verstauen kann, schnürt David sich bei seinen Versuchen, sich aus dem Faden- und Garngewirre zu befreien, nur weiter ein. Im Gegensatz zum magischen Tänzer gewinnt er keine Kontrolle über diese Grenzen, viel eher wird er immer mehr von ihnen kontrolliert, wie es seine "Bewegungen des Aufschnürens als ob er ersticken müßte"271 zeigen. Diese Bewegungen des "als ob" täuschen Fäden vor, die visuell nicht präsent sind. David setzt seine Drehbewegungen auch fort, nachdem bereits alle Leinen verschwunden sind. Insofern finden seine Bewegungen losgelöst vom konkreten theatralischen Kontext statt. Hier liegt eine gewisse Inkongruenz zwischen metaphorischen Bildern und visueller Ausstattung der Szene vor. Mitbewohnerin und magischer Tänzer adressieren David als sich drehende "Garnrolle", die sich ab- und aufwickeln, und als "Gewirre", aus dem er sich herauswickeln soll. Mit diesen Bildern assoziiert die Szene zunächst die durch die Wäscheleinen markierte alltägliche Enge, die von dem magischen Tänzer zur kosmischen Raumvorstellung erweitert wird, mit der er aber auch bricht, wenn er alle Leinen, Schnüre und Abgrenzungen einsammelt und wegnimmt. Während diese fur ihn sich als konkret handhabbare Gegenstände darstellen, scheint David mit ihnen in ganz anderer Weise zu ringen. Er dreht sich noch, nachdem sie als visuelle Hindernisse aus dem Weg geschafft sind. Da wo der magische Tänzer Grenzen überwindet, bleibt David in sie eingespannt. Durch die Präsenz der Fäden auf der Bühne werden die hoch metaphysisch belasteten Vorstellungen von Lebens-, Schicksalsfaden und -knoten ihrer Me271

Sachs, Nelly: Der magische Tänzer, S. 246.

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taphysik entbunden, da die Fäden nicht mehr nur im metaphorischen, sondern auch im wörtlich konkreten Sinne des Wortes als Wäscheleinen in der Küche oder als Meridiane des Planetensystems zu sichtbaren Requisiten der Bühne werden. Der magische Tänzer kontrolliert die Fäden und entmachtet dadurch die an sie geknüpften metaphysischen Vorstellungen, während David ihnen unterliegt; seine Gesten des "als ob" zeigen, daß er metaphorisch nimmt, was wörtlich konkret gemeint ist. Er läßt sich von der Faden-Metapher vollkommen in den Bann ziehen. Diese Szene demonstriert die Schwierigkeiten, die an das konventionelle dramatische Vokabular, das eine abstrakte Bedeutung metaphorisch konkretisiert, gebunden sind: Während sich für den magischen Tänzer das "Schicksal" bzw. "Leben" konkret als Fadengewirre darstellt, aus dem man sich ge-schickt herauslösen kann, sind die Fäden fur David Metaphern für Nicht-Sinnliches, Nicht-Visuelles, demgegenüber sich kein Geschick durchsetzten kann. Im ersten Fall verselbständigt sich also das Konkrete im Wort "Schicksalsfaden" gegenüber dem Abstrakten, im zweiten das Abstrakte gegenüber dem Konkreten. Man kann sich also auf der Bühne weder nur ein virtuoses Spiel mit Fäden noch nur die Konfrontation der Figuren mit einem metaphysisch abstrakten Schicksal vorstellen, wie es die Kontamination von "Schicksal" und "Faden" im Wort "Schicksalsfaden" nahelegen würde. Beide Figuren verhalten sich gegenüber dem "Faden" unterschiedlich. Dies ist natürlich auch durch ihre Konstitution bedingt. Denn als Marionette ist der magische Tänzer bereits von jeglichem psychischen Animismus befreit, und durch Autonomisierung gegenüber der Fadenfuhrung strebt er eine radikale technische Perfektion an. Diese ist daran gebunden, Zeitlichkeit selbst zu überwinden. Den Forderungen des "Heraus", die an David ergehen, kommt der magische Tänzer selbst nach. Er fuhrt sich mit den Worten ein: Befühle mich - ganz aus Magie gemacht. Direkt aus den Meridianen herausgewickelt. Larve, P u p p e , S c h m e t t e r l i n g . 2 7 2

Ohne jegliche syntaktische Verbindungen sind die Schmetterlingsstadien einfach substantivisch nebeneinandergesetzt. Die unterschiedlichen Zeitpunkte metamorphotischen Wandels - "Larve, Puppe, Schmetterling" - sind alle gleichzeitig präsent.273 Diese Simultaneität verlangt, von den Verwandlungs272 273

Ebd., S. 245. Eine Differenzierung zwischen einem nur biologischen, nur mechanischen oder nur puppenhaften Marionettenkonzept ist nicht möglich. Im Unterschied hierzu bleiben in Nelly Sachs' Gedicht Die Tänzerin - erschienen 1947 in der Sammlung In den Wohnungen des Todes - die Zeitkonnotationen der Raupen-Puppen-Schmetterlingsmotivik in doppelter Weise aufrechterhalten, wenn der Schmetterling als "der Verwandlung sichtbarstes Zeichen" gedeutet und die Tänzerin als die den Schmetterling und dadurch auch die Ver-

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formen als Momenten des Wandels zu abstrahieren. Was bleibt, das sind die jeweiligen Endpunkte einer Entwicklung: in diesem Sinn muß der magische Tänzer als Figur außerhalb geschichtlichen Wandels gedacht werden. Man denkt an Kleists Identifizierung von Gliedermann und Gott als utopische Figuren für das geschichtslose Dasein am Ende der Bewußtseinsgeschichte. so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein, so daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem G o t t . 2 7 4

Die von Kleist mit logischer Konsequenz seines Erkenntnisskeptizismus entwickelten figurativen Alternativen für das Ende der Bewußtseinsgeschichte zeichnen sich dadurch aus, daß das Bewußtsein körperliche Funktionen in keiner Weise mehr beeinträchtigen kann. Insofern scheint der Unterschied zwischen "Gliedermann" und "Gott" dahinzuschwinden. Beide Figuren verschmelzen in Nelly Sachs' Text zu einer Figur. Denn in der Figur des magischen Tänzers sind die beiden Funktionen des Marionettenspielers und -tänzers kontrahiert: sie wird nicht mehr von Fäden gezogen, sie hat sich aus den Fäden/Meridianen herausgewickelt und sich von ihnen befreit. 275 Denn vor seinem Abtritt fangt der magische Tänzer selbst an zu tanzen, bis "der Fußboden raucht", dann wickelt er alle Schnüre ab und steckt sie in einen Wäschesack.276 Er kommt aus dem Unsichtbaren und verschwindet in ihm, das Konkrete wird für ihn durchsichtig und transparent, während es sich David als Hindernis des eigenen Körpers entgegenstellt. Er bleibt dem Konkreten, Figuralen und Sichtbaren ausgeliefert. In bezug auf ihn erweist sich die Lehre des magischen Tänzers als eine nicht zu lehrende. Fäden sind in zwei verschiedenen Formen auf der Bühne visuell präsent: Wenn die einlinigen Wäscheleinen zu "flattern" beginnen, sind sie nicht mehr eindeutig festlegbar. Sie markieren einen sinnlichen Zwischenraum, so daß sie

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275

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Wandlung "Erreichende" vorgestellt wird. Das Schmetterlingsmotiv trägt das Prinzip des Wandels in das Gedicht hinein. Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater. In: Anekdoten. Kleine Schriften. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1964, (dtv Gesamtausgabe 5), S. 77f. In der dramatischen Szene Abram im Salz werden Nimrod und die von ihm Beherrschten an den "weißen Schnüren Sins" gezogen. Es klingt die Drohung durch das Drama: "Wehe wer deine weißen Schnüre losläßt". Es ist Abram, der sich von der Führung durch die Schnüre befreit. Insofern kann dieses Drama auch als Konflikt zwischen einer Marionetten· und einer Nicht-Marionettenexistenz gelesen werden. An die Stelle der Marionettenexistenz tritt der Ruf des Namens Abram, der die Suche nach der Namensprache veranlaßt. Wollte man diesen Konflikt skizzierend formalisieren, dann könnte man soweit gehen, das Drama als Konflikt zwischen der Anziehungskraft der Fäden und der Sprache, zwischen der visuellen und der akustischen Szenerie, lesen. Denn es ist Abram, der die Schnüre Sins losgelassen und sich aus der Marionettenexistenz befreit hat und der sprachlichen nachjagt. (Sachs, Nelly: Abram im Salz. In: Zeichen im Sand, S. 93-122). Sachs: Zeichen im Sand, S. 249.

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als Raum und Faden zugleich oder als keines von beiden wahrgenommen werden können. So wird die in dem Bild-Wort-"Faden" angelegte Einlinigkeit und Eindeutigkeit relativiert. Die visuelle Inszenierung verweist die metaphorische an eine wörtliche Bedeutung, die im Rahmen der Szene weiter differenziert wird. Insofern reflektieren und kommentieren sich visuelle und sprachliche Elemente untereinander. Die Inszenierung schafft für das Wort "Faden" Gleitzonen, die seine Wörtlichkeit und Bildlichkeit entgrenzen, ohne diese Momente so aufeinanderzuzubewegen, daß sie miteinander kontaminieren könnten. Ihre jeweilige Entgrenzung geht jedoch auch nicht in eine wechselseitige Begrenzung über. Insofern wird die in dem Wort "Faden" angelegte Determination des "Schicksals" gelockert: der Faden erweist seine Fadenscheinigkeit. Da diese Szene die Metapher "Faden" wörtlich nimmt, autonomisiert sie sie gegenüber ihrer abstrakten Bedeutung. Ohne die Eindeutigkeit und Einlinigkeit des Fadens bleibt auch das Schicksal undeterminiert. Dadurch büßt nicht nur das Wort "Schicksal", sondern auch die Dramatik des "Schicksals", wie sie die lange Tradition der Schicksalstragödie ausmacht, jegliche idealistische Aussagemöglichkeit ein. So wird dem Schicksalsbegriff ein Änigma eingeschrieben, dem die Sprache selbst unterliegt. Sie selbst nimmt unendlich viele Grenzverschiebungen vor, ohne jemals alle Grenzen aufheben noch fixieren zu können. Einige meiner Punkte fugen sich noch in einen übergeordneten Zusammenhang: Die Figuren in Nelly Sachs' Szenen - Abram, Beryll und David - fungieren als Märtyrerfiguren im modernen Trauerspiel, so wie Benjamin es beschreibt. Die Figuren streben danach, durch Transformation und Expansion ihrer eigenen Figuralität sich mit einer ihnen jeweils fremden Sprache zu vereinen. In dem Versuch, ihre eigenen Grenzen zu überwinden, erfahren sie sie erst recht. Verschiedene Sprachkonzepte scheinen hier miteinander im Konflikt zu liegen: Das in den Trauerspielen realisierte sokratische Konzept, in dem das Zeichen (der Körper des Philosophen) zu einem unwirksamen Medium reduziert ist, und ein kabbalistisches, nach dem das Zeichen der absolute Träger seiner Wirkungen ist. Wie oben bereits erwähnt, studierte Nelly Sachs ausgiebig Scholems Übersetzung eines Kapitels aus dem Sohar, in dem nach Genesis 1 die Weltschöpfung als Entfaltung des Alphabets gedeutet wird. Auch wenn die Figuren ihrer Dramen momentan solche einzigartigen Zeichen einer absolut fremden Sprache erfahren, erfahren sie sich doch auch immer wieder als getrennt von ihr. Als Figuren dieser Trennungen, Abgründe und Dunkelheiten, die Benjamin in der Sprache der Trauerspiele auffindet, geistern sie wie die Gespenster in barocken Stücken durch ihre unendliche Suche. In diesen Entgrenzungsversuchen sprengen die Figuren psychische Konventionen, sprachliche Setzungen, physische Formen, Institutionen und Konventionen bürgerlicher Ästhetik. Die vorliegende Untersuchung verweist auf die Sphäre des intra- und intersprachlichen Zwischen als gemeinsamen Flucht-

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Kapitelll

punkt aller dramatischen Stücke der Nelly Sachs und zeigt, daß Nelly Sachs mit ihren dramatischen Szenen um die Bedingung jeglichen Sprachaktes, jeglicher ästhetischer, philosophischer und geschichtlicher Performanz, ringt. Die Dichterin thematisiert die den sprachlichen Prozeß bedingende Abgründigkeit als "Vorbedeutung" und dramatisiert die Konfrontation mit ihr als Prozesse des Fliehens, des Ertrinkens und der Tanzekstase. Werner Hamacher führt in seiner Deutung von Walter Benjamins Text Zur Kritik der Gewalt277, der sich nach Hamacher nur im Kontext von Benjamins frühen sprachphilosophischen Texte erschließt, für diese Sphäre den Begriff "Afformanz" ein, Benjamin spricht von ihr auch als "reine Sprache" oder "reine Gewalt". Hamacher erklärt: "afformance 'is' the event of forming, itself formless, to which all forms and all performative acts remain exposed" 278 Aus dieser Sphäre brechen all die sprachlichen, historischen und politischen Prozesse hervor, die nicht nur der Konservierung bereits etablierter Formen dienen. Walter Benjamins wie Nelly Sachs' Texte lenken die Aufmerksamkeit auf diese unter den Konventionen des philosophischen und historischen Denkens und Handelns verborgene Potenz. 279 Sie begnügen sich nicht nur mit der Kritik pragmatisch geschichtlicher Konstellationen, sondern spüren tiefer nach den Möglichkeiten ihres Umbruchs. Während Benjamin in Zur Kritik der Gewalt in dieser Sphäre der Afformanz auch die Möglichkeit zur Begründung eines "neuen geschichtlichen Zeitalters" 280 sieht, aktualisieren Nelly Sachs' Szenen die komplexen und höchst diffizilen Spannungen, die die Übergänge von Afformanz zur Performanz ausmachen. Nelly Sachs' Verwendung kabbalistischer und chassidischer Motive und die in Briefen verschiedentlich geäußerte Motivierung des Schreibens als Dienst an

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Hamacher, Werner: Afformative, Strike: Benjamin's 'Critique of Violence'. In: Walter Benjamin's Philosophy. Destruction and Experience. Hrsg. v. Andrew Benjamin, Peter Osbom. London, New York: Routledge 1994, S. 110-138. Ebd., S. 128. Endnote 12. Während in der Nelly Sachs-Forschung bis jetzt Nelly Sachs' Texte oft entweder als Thematisierung der Grenzen zwischen Poesie, Philosophie und Theologie oder der Grenzen zwischen Poesie und Geschichte, insbesondere der des faschistischen Genozids interpretiert wurden, identifiziert die hier vorliegende Untersuchung die in Nelly Sachs' Dramen in immer neuen Variationen aufgewiesene Sphäre des sprachlichen Zwischen als Fluchtpunkt historisch-philosophischer, theologischer und sprachphilosophischer Spekulationen: zwei zum Beipiel auch in M. Kesslers und J. Wertheimers Essaysammlung zumeist getrennte Themenbereiche. Die Texte von K.J. Kuschel, M. Kessler, M. Krämer, J. Anderegg und B. Oehler analysieren vor allem die Spannungsverhältnisse zwischen Poesie, Philosophie und Theologie, und die Texte von E. Bahr, M. Pazi, M.H. Gelber und B.R. Erdle konzentrieren sich vor allem auf die Spannung zwischen Poesie und Geschichte. (M. Kessler, J. Wertheimer: Nelly Sachs. Tübingen: Stauffenberg Colloquium 1994). Benjamin, Walter. Zur Kritik der Gewalt. In: Gesammelte Schriften. Bd II.l, S. 179-203, hier S. 202.

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der Sprache

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Israel281 könnte die Frage nahelegen, ob Nelly Sachs in ihrem schwedischen Exil sich einer Theatertradition verpflichtete, wie sie zwischen 1933 und 1939 in ihrer Heimatstadt Berlin von dem "Kulturbund deutscher Juden" wenn auch nicht begründet, so doch unter dem Stichwort "Jüdisches Theater", das in den Überschriften der jüdischen Zeitschriften dieser Zeit, vor allem in "Der Jude", "Der Morgen" 282 und den Monatsblättern des jüdischen Kulturbundes immer wieder auftaucht, zu etablieren versucht wurde. Dr. Kurt Singer reagierte mit der politisch äußerst zweischneidigen Gründung des Kulturbundes - denn sie bot für die Nationalsozialisten eine ideale Gelegenheit zur Kontrolle und weiteren öffentlichen Isolierung der Juden und ihrer kulturellen Bestrebungen - auf die sozialen Nöte, die fur die bisdahin noch nicht emigrierten Juden, vor allem die Künstler, durch den von den Nationalsozialisten verordneten Boykott deutscher Juden entstanden waren. Über das jüdische Kulturbundtheater, das bis 1938 vor allem Stücke aufführte, die entweder von Juden verfaßt waren oder aber jüdische Themen behandelten, schreibt er 1938, dem Jahr der Nürnberger Rassegesetze, in einer Art Rückblick: Das Gebot der Stunde glaubten wir erkannt zu haben: Juden aus der Lethargie herauszureissen, Juden ketten an die großen Menschen - Worte, die, aus der Welt östlicher, hebräischer, all-jüdischer Gedanken stammend, einmal Besitz von uns ergreifen sollten [...] Wir glaubten zu wissen, daß nicht Autor und Stoff, nicht Thema und Gesinnung, nicht Form und Gestaltung das Wesen einer spezifischen jüdischen Kunst ausmacht, sondern das in der Sprache verankerte Heimatsgefühl [sie]. Eine jüdische Kunst in diesem strengen Sinne haben wir nur in der synagogalen Musik, dem chassidischen Volkslied, im ostjüdischen und hebräischen Theater [...] N e b e n dem Tempel der Religion haben wir den Tempel der Bühne, der Musik, des bildnishaften Erlebens gebaut [—] 2 8 3

Diese sehr globale Darstellung eines Programms läßt ein klares Konzept dessen, was jüdisches Theater bedeuten könnte, vermissen, deutet aber im Zuge des Versuches einer neuen Identitätsfindung für die vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten vollkommen assimilierten Juden eine Verschränkung von Motiven an, die für den vorliegenden Nelly Sachs-Zusammenhang wesentliche Aufschlüsse gibt. Denn nicht nur in Texten von Singer, sondern auch 281

282

283

In Briefen sagt sie z.B.: "Da es [Radiosendung mit ihren Werken in Schweden] geschieht, um Israels Stimme Gehör zu verschaffen, bin ich glücklich." "Selbst habe ich wieder einen Band 'Gesänge' immer am Dienst Israels fertig [...]", "aber wir wollen ja dienen an Israel". Briefe der Nelly Sachs, S. 72, 82, 84. Aus Briefen geht hervor, daß Nelly Sachs mit der Zeitschrift "Der Morgen" vertraut war. Gedichte von ihr wurden 1936 und 1937 in "Der Morgen", Zeitschrift des Jüdischen Kulturbundes, veröffentlicht. Auch in der Wochen-Zeitung des jüdischen Zentralvereins "C.-V.-Zeitung" erschienen Gedichte. Zwischen 1936 und 1938 liest Erna Feld-Leonhard Gedichte und Prosa von Nelly Sachs auf Veranstaltungen des Jüdischen Kulturbundes, Berlin. In: Briefe der Nelly Sachs. Anmerkungen, S. 330. Singer, Kurt: Jüdisches Kulturbundtheater. Unveröffentlichtes Manuskript im Archiv des Leo Baeck Instituts, New York.

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Kapitel II

in Texten von Max Nußbaum 284 und Leo Baeck wird immer wieder von der durch Sprache geleisteten Zusammenfuhrung von Religion und Kultur gesprochen. Allerdings unterscheiden sich die Sprachkonzepte. Während Singer traditionelle ostjüdische und orthodoxe Sprach- und Texttraditionen zitiert, spricht Leo Baeck toleranter von der Kunst, die "im eigentlichen ein Religiöses" ist. Alle Kunst [...] bedeutet im Ersten und Tiefsten ein Entdecken, ein Erfahren eines Verborgenen. In ihr wird eine Offenbarung des Einen zuteil [...] Sie ringt darum, das erfaßbar zu machen, was als Geheimnis Gottes in dem allen lebt [...] 2 8 5

Kunst wird hier nicht an bestimmte Stoffe und Motive gebunden, sondern als religiöse Haltung, als "Entdecken" und "Erfahren" charakterisiert. Das heißt jedoch nicht, daß das künstlerische Tun das Gebet ersetzten könnte. Religion und Kunst stimulieren sich wechselseitig. Da Nelly Sachs in ihren Dramen die Sprachgenese zum zentralen Thema macht, gestaltet sie die Probleme des "Erfahrens", "Entdeckens" und "Erfassens" selbst und schafft damit ein Kunstwerk, das diese Voraussetzung einer jeden Kunst und eines jeden Rituals inszeniert. Nelly Sachs weiß: Ein Dichter Israels im nationalen Sinne kann ich niemals werden. Das ist die Mission, die den einheimischen Stimmen vorbehalten sein soll [...] 2 8 6

Sie distanziert sich von religiösen Institutionen und Lehren, wissend, daß ihre Dichtung erst da anfängt, wo Religion und Religionsforschung an Grenzen stoßen. Aber ich weiss nichts und verstehe immer weniger. Leide und liebe und sehne mich. Zu welcher Religion gehört das? Religion, dieses menschliche Gebäude um einen Glutkern [...] Die einzelne Seele beginnt ihren leidenden Glaubensweg grade an der Grenze, wenn der Religionsforscher die Tür zumacht, den Riegel vorschiebt.287

284 "Kultur und Religion - für uns Juden nur ein Pleonasmus. Religion ist für uns Kultur und unsere Kultur ist religiös bestimmt." Nußbaum, Max. Zitat nach: Seilenthin, H. G.: In der Menora Lichterbaum. In: Katalog zur Foto- und Dokumentar-Ausstellung: Jüdische Kunst im Feuerofen. Jüdisches Kulturleben von Bühne und Film in Deutschland bis 1942. 27. September bis 31. Oktober 1961. Jüdische Gemeinde Berlin. Berlin 1961, S. 14. (Archiv des Leo Baeck Instituts). 2 "5 Baeck, Leo: Kunst und Religion. In: Monatsblätter, Kulturbund Deutscher Juden. Heft 1. Berlin 1933, S. 3f. (Leo Baeck Institut Bibliothek). 286 Briefe der Nelly Sachs, S. 175. 287 Sachs, Nelly: Briefe aus der Nacht. Nelly Sachs Archiv, Stadt- und Landesbibliothek Dortmund. Arch. 238, S. 22.

Kapitel III Das Zwischen in Samuel Becketts dramatischen Szenen

Wie bei Nelly Sachs suchen auch die Figuren in Samuel Becketts Szenen die jeweilige sprachliche Begrenzung ihrer Existenz zu durchbrechen. Bei Beckett finden sich die Sprecher als Gefangene ihrer Sprache vor; bei Nelly Sachs suchen sie nach einer Sprache, die sich ihnen ständig entzieht. Sie erfahren sich als ausgeschlossen, während die Beckettschen Figuren sich durch eine Sprache, deren Kerker sie zu sprengen hoffen, als allzu eingeschlossen erfahren. Sprache ist für die letzteren nicht das absolut Ferne und Unerreichbare, sondern viel eher ist sie ihnen allzu nahe, sie können sich von ihr nicht distanzieren. Im Rahmen der Analyse des widersprüchlichen Verhältnisses der Figuren zur Sprache nehmen die beiden Dramentypen eine wechselseitige Kommentarfunktion ein. In beiden Fällen werden Grenzen markiert, einerseits eine Grenze, die die gesprochene Sprache ihren Sprechern auferlegt, also eine materiell immanente, andererseits eine transzendente Grenze, durch die die Sprache von vornherein den sie Suchenden entzogen ist. Wie werden diese Grenzen gezogen? Wie verhalten sie sich zueinander? Es ist die Rolle des Todes, die hier einer genaueren Bestimmimg bedarf. Sowohl die Beengung durch die konventionelle Sprache wie auch die Suche nach einer abwesenden, von den Konventionen unabhängigen Sprache zwingt die Figuren in den Dramen beider Autoren in die Nähe des Todes, der sich zwischen Gesuchtes und Verlorenes schiebt. Es ist zu fragen, wie sich dieses Zwischen in Becketts Dramen von dem theatralischen Zwischen in Nelly Sachs' Szenen unterscheidet. Einige wenige Briefe bezeugen Nelly Sachs' Sympathie zu Samuel Beckett, ihrem "einzigartigen Bruder im Leid"1'. Ich hörte, daß Beckett den nächsten Nobelpreis bekommt. Sonst sieht die Welt schlimm aus.2 Die Jungen müssen doch Mut bekommen. Beckett ist Ausländer, u. ich hoffe auf den Nobelpreis für ihn, den Bruder.3

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3

Dinesen, Ruth: Nelly Sachs. Briefregister. Stuttgart: Akademischer Verlag 1989, S. 106. Briefe der Nelly Sachs. Hrsg. v. Ruth Dinesen und Helmut Mtlssener. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 313f. (hinfort zitiert: Briefe der Nelly Sachs). Briefe der Nelly Sachs, S. 317.

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Kapitel III

1967 berichtet die Dichterin von einem Vortrag an der Stockholmer Universität, in dem ihre Szenen mit Becketts Werken verglichen wurden.4 In diesem Bericht fällt auf, daß die Dichterin nur einen Aspekt wiedergibt. Denn der Vortragende Helmut Geißner argumentiert gegen das Vorurteil, daß Nelly Sachs' Dramen nicht spielbar seien, damit, daß er die Herausforderungen ihrer Szenen an die moderne Dramaturgie mit denen von Strindbergs Traumspiel, Peter Weiß' Marat und Becketts Das letzte Band vergleicht.5 Nelly Sachs erkennt nur den Vergleich ihrer eigenen dichterischen Intentionen mit Becketts Dichtungen an und isoliert aus diesem Kontext seinen Namen. Ihre eigene Sammlung der in den sechziger Jahren erschienenen Werke Becketts und auch einiger Werke der Sekundärliteratur zu Beckett läßt auf ihre Vertrautheit mit ihnen schließen.6 In der Sammelausgabe Aus aufgegebenen Werken veröffent-

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Nelly Sachs berichtet am 16. Februar 1967: Vor zwei Tagen war wieder vom Goethe-Institut und der Stockholmer Universität Germanistisches Seminar ein großer Abend mit einigen meiner kurzen dramatischen Szenen. Mit jungen Schauspielern las man "Was ist ein Opfer", "Der magische Tänzer", "Verzauberung" und eine "Scheidelinie". Ein deutscher Literaturhistoriker war auch eingeladen, über mein geträumtes Theater der Zukunft zu sprechen. Er zeigte den Weg, der von "Eli" aus den Anfang nahm und nun weiter auf einer inneren BUhne sich fortsetzt ganz von Sprache und Mimus ausgehend. Trotz aller Verschiedenheit, betonte auch er, ist die Verwandtschaft mit Beckett da. (Briefe der Nelly Sachs, S. 308). Geißner, Helmut: Sprache und Tanz. (Versuch über szenische Dichtungen der Nelly Sachs). In: Das Buch der Nelly Sachs. Hrsg. v. Bengt Holmqvist. Frankfürt a.M: Suhrkamp 1968, S. 363-380, hier S. 364. GeiOner führt in der Einleitung seines Vortrages die dramaturgischen Möglichkeiten modemer Dramatik an, in deren Kontext er Nelly Sachs' Szenen besprechen will. Er wendet sich gegen das Vorurteil, daß Nelly Sachs' szenische Dichtungen nicht spielbar seien. Nelly Sachs bezieht sich in dem obigen Zitat auf Geißners Satz: "Ein 'Albtraum' [Untertitel zu Nelly Sachs' Nachtwache] ist nicht weniger spielbar als Strindbergs 'Traurnspiel'; ein Spiel für 'Wort-Mimus-Musik' [Untertitel zu Abram im Salz] ist auch der 'Marat' von Peter Weiß; ein 'Delirium aus Einsamkeit' [Untertitel zu Nelly Sachs' Versteckspiel mit Emanuel] ist auch Becketts 'Das letzte Band'." Nelly Sachs' Bibliothek enthält eine erstaunliche Menge der in den sechziger Jahren erschienenen Beckett-Texte und -Sekundärliteratur. Die Dramen, Erzählungen, Gedichte liegen zum großen Teil in deutscher Übersetzung, Becketts Proust-Text in einer schwedischen Übersetzung von 1964 vor. Der Katalog (in der Königlichen Bibliothek der Stadt Stockholm) zur Bibliothek der Dichterin zählt die folgenden Werke auf: Beckett, Samuel: Aus einem aufgegebenen Werk und kurze Spiele. Übers, v. Erika und Elmar Tophoven. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1966; ders.: Dramatische Dichtungen. Französische Originalfassungen. Deutsche Übers, v. Elmar Tophoven. Englische Übers, v. Samuel Beckett; ders.: Endspiel. Fin de partie. Deutsch und Französisch. Deutsch von Elmar Tophoven. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1960; ders.: Erzählungen und Texte um Nichts. Nouvelles et Textes pour rien. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1962; ders.: Gedichte. Übers, aus dem Englischen von Eva Hesse, aus dem Französischen von Elmar Tophoven. Wiesbaden: n.p. 1959; ders.: Murphy. Übers. Elmar Tophoven. Hamburg: rororo 1959; ders.: Proust. Schwedisch von Erik Sandin. Stockholm: Bonnier 1964; ders.: Slutspel. Schwedisch von Uli-Inger, Göran O. Eriksson. Stockholm: Bonnier 1958; ders.: Warten auf Godot. Deutsch von Elmar Tophoven. Berlin: n.p. I960; ders.: Warten auf Godot.

Das Zwischen in Samuel Becketts dramatischen Szenen

133

lichte der Suhrkamp Verlag 1968 eine ihrer Szenen zusammen mit Texten von Beckett, Krolow, Koeppen, Weiss u.a. Nelly Sachs weiß, daß der Titel dieses Sammelbandes ein Wort Becketts zitiert,7 und akzeptiert ihn als Überschrift, unter der auch ihre "niemals fertig werdende Szene"8 Nur eine Weltminute herausgegeben wird.9 Wenn Nelly Sachs in ihrem Brief von 1967 über Beckett spricht, sind ihre dramatischen Werke bereits geschrieben und veröffentlicht. 10 Dennoch werden Becketts späte Szenen hier als Kontext hinzugezogen. Dem liegt kein biographisch chronologisches Interesse, sondern viel eher ein systematisches zugrunde, denn in den Werken beider Autoren wird das Theater zum Ort, der die ihm eigenen Voraussetzungen der Sprachlichkeit ins Bühnengeschehen verwandelnd thematisiert. Die dramatische Form ist in den Stücken beider Autoren, die für die hier vorliegenden Überlegungen ausgewählt wurden, auf die Kurzform einer Szene reduziert. Die Figuren sprechen kaum miteinander; Dialoge, wie sie nach Szondi naturalistische und subjektivistische Dramen prägen, fehlen. In Bekketts Szenen werden die beiden an den Sprachakt gebundenen Momente, das Sprechen und Hören, nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt: sie werden voneinander getrennt. In Play realisieren Sprechende, nicht gehört zu werden, und in Krapp's Last Tape und Rockaby hören Hörende auf zu sprechen. Die eine Aktivität schließt die andere aus.11 Auf den ersten Blick scheinen Becketts höchst alltägliche Sprachformen nichts mit Nelly Sachs' hermetisch lyrischen gemein zu haben. Becketts Text akzentuiert nur in wenigen, ganz bestimmten Momenten bildliche Qualitäten der Sprache, seine Texte basieren vielmehr auf Formen der Analogie und Repetition.12 In den kurzen Szenen Play, Krapps Last Tape, Rockabay13 manifestieren sich die Erinnerungen, durch die sich die Sprecher zunächst als Subjekte

Deutsch von Elmar Tophoven. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963; Aus aufgegebenen Werken. Hrsg. v. Samuel Beckett, Nelly Sachs. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968. Werke der Sekundärliteratur zu Beckett von John Fletcher, Wolfgang Hildesheimer, JeanJacques Mayoux und ein Materialienband zu Becketts Endspiel. 7 Briefe der Nelly Sachs, S. 314. 8 Ebd. 9 In ihrer Bibliothek besitzt Nelly Sachs Samuel Becketts Aus einem aufgegebenen Werk und kurze Spiele, ein Band, der 1966, also zwei Jahre vor dem Sammelband, im Suhrkamp Verlag erschienen ist. 10 Die Sammlung Zeichen im Sand wird bereits 1962 herausgegeben. 11 Einige der hier ausgeführten Überlegungen wurden 1996 in einem englischen Essay von mir vorgelegt. Vgl. Dorothee Ostmeier: Dramatizing Silence: Beckett's Shorter Plays. In: Beckett On and On. Hrsg. v. Lois Oppenheim und Marius Buning. Madison, Teaneck: Farleigh Dickinson UP. London: Associated UP 1996, S. 187-198. 12 Über Fin de partie sagt er: "Everything is based on analogy and repetition." Vgl. Bair, Deidre: Samuel Beckett. New York: Summit Books 1990, S. 467. 13 Beckett, Samuel: Play, Krapp's Last Tape, Rockabay. In: Ders.: The Collected Shorter Plays of Samuel Beckett. New York: Grove Weidenfeld 1984, S. 145-160, 53-63, 271283. (hinfort zitiert: Beckett: Play, Beckett: Krapp's Last Tape, Beckett: Rockabay).

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Kapitel III

mit einer scheinbar subjektiven Geschichte auszeichnen, in der Rhetorik von Variation und Inversion. Dadurch erweist sich ihre "persönliche" Geschichte als eine Geschichte mit der Sprache. Obwohl Gesichter und Stimmen der Sprecher in dem Stück Play ständig wechseln, können die Phrasen einer Figur auch als die einer anderen gelten. Es stellt sich die Frage nach der Beziehung zwischen Sprecher und Rede: Ist die Rede Ausdruck des Sprechers oder ist der Sprecher Ausdruck seiner Rede? Zwei weibliche Stimmen - W1 und W2 - und eine männliche Stimme - Ml - geben aus je unterschiedlicher Perspektive Erinnerungen an ihr konfliktreiches Verhältnis zueinander wieder: der scheiternde Versuch des Mannes (Ml), seine Partnerschaft mit beiden Frauen (Wl, W2) gleichzeitig aufrecht zu erhalten, wird nicht wie in anderen theatralischen Bearbeitungen einer ähnlichen Konfliktsituation - Goethes Stella kann als ein Beispiel gelten - als ein aktueller ausgetragen, sondern durch wortwörtliche Erinnerungen an vergangene Konflikte evoziert. Wl: [,..]What he could have found in her when he had me- [Spot from Wl to W2.] W2: [...]He went on about why he had to tell her. Too risky and so on. That meant he had gone back to her. Back to that! [Spot from Wl to W2.] Wl: Pudding face, puffy, spots, blubber mouth, jowls, no neck, dugs you could[Spot from Wl to W2.] W2: He went on and on[...] Wl: Calves like a flunkey-14 Die Regieanweisungen fuhren die beiden Stimmen nur mit dem Buchstaben W ein und unterscheiden sie minimalistisch durch die Zahlen eins und zwei voneinander. Der durch Scheinwerfer hervorgebrachte Stimmen- und Gesichtswechsel trennt zwar die Reden von Wl und W2 voneinander, jedoch nicht unbedingt das Gesprochene. Die Sätze fließen ineinander: Wis polemische Portraitierung ihrer Konkurrentin kann auch als Übergang von W2s Klage über ihren Liebhaber zur Verunglimpfung seiner anderen Geliebten gelesen werden. Diese Kontamination beider Reden entsubjektiviert das Geschehen. Beide Ws etablieren sich durch wechselseitige Diffamierung, sie spotten über die jeweils andere in Metonymien, die die andere auf das Demonstrativpronomen "that" oder auf verhöhnte Körperteile reduzieren: "Pudding face, puffy, spots, blubber mouth, jowls, no neck." Auch wenn beide Ws unterschiedliche Themen angehen, werden solche Unterschiede doch durch die Art ihrer Rede verdrängt. Wie schon von Ruby Cohn betont wurde, fungiert Play als Modell repetitiver Rhetorik: als einziges Stück, in dem nicht nur einzelne Sätze, Phrasen und Handlungen wiederholt werden, wird es am Ende als gesamtes Stück noch 14

Ebd., S. 150.

Das Zwischen in Samuel Becketts dramatischen

Szenen

135

einmal wiederholt und dadurch selbst als unendlich wiederholbarer Prozeß vorgestellt. Beckett räumt zwar in seinen Regiebemerkungen Variationsmöglichkeiten in der Sprechfolge und Stimmstärke ein, betont dadurch aber eher die Willkürlichkeit in der Anordnung der Wiederholungen, die keinem strengen Ordnungsprinzip unterliegen.15 Ruby Cohns Analyse der Wiederholungsformen in Becketts Stücken und vor allem in Play zeigt die vielfaltigen Variationen dieser fur Beckett so typischen dramatischen Rhetorik, deutet sie aber letzlich inhaltlich als eine Art Lebensphilosophie. In Play Beckett uses his habitual doublets and triplets, but conceals them by variation or distance. Calling marked attention to itself, however, is the repetition o f the whole play, with its intimation not only that life is repetitive play, but so is any conceivable afterlife. 1 6

Die vorliegende Arbeit zieht diese äußerst allgemeinen Aussagen in Frage, indem sie das sprachliche Geschehen nicht nur als eine Analogie zum außersprachlichen betrachtet, sondern die Sprachformen als autonome Instanz ernst nimmt, die sich sogar gegen das wendet, was von Ruby Cohn leichthin "life" genannt wird. 17 Diese Kritik an einer mimetischen Lektüre hat sich gerade in den letzten Jahren durchgesetzt. Anna McMullans Titel Mimicking Mimesis18 weist in diese Richtung: Becketts Stücke widersetzen sich interpretativen Strategien, die dem Theater repräsentative Funktionen zuschreiben. Steven Connor liest Becketts späte Stücke als Auseinandersetzung mit der oppositionellen Spannung zwischen Schriftzeichen und Sprechakten, wie sie zuerst von Jacques Derrida thematisiert und analysiert worden sind.19 Karen Laughlin20 und Paul Lawley konzentrieren sich auf theatralische Strukturen. P. Lawley deutet sie als Parodien theatralischer Grundelemente: Dialoge werden zu einem

15 16

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19

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Ebd., S. 160. Cohn, Ruby: The Churn of Stale Words: Repetitions. In: Ders.: Just Play: Beckett's Theatre. Princeton: Princeton UP 1980, S. 96-139, hier S. 127. Es prägt den Kontext für die gesamte Szene, in der letztlich auch die Sprache, aus der sie hervorgeht, ihr eigenes Ende, ihr Abbrechen, Auslöschen und ihr Still-Werden hypostasiert, ohne daß sie, gebannt in den Wiederholungszwang, dieses jemals vollziehen und konkretisieren kann. Indem die Figuren weitersprechen, inszenieren sie einen unauflösbaren Konflikt zwischen einzelnen semantischen Projektionen und der Unmöglichkeit ihrer außersprachlichen Realisierung. McMullan, Anna: Mimicking Mimesis. In: Dies.: Theater on Trial. Samuel Beckett's Later Drama. New York, London: Routledge 1993. Connor, Steven: Samuel Beckett. Repetition, Theory, and Text. New York: Blackwell 1988, S. 126ff. Connor konzentriert sich hier vor allem auf Krapp's Last Tape, Ohio Impromptu, Rockaby, That Time. Laughlin, Karen L.: Seeing is Perceiving: Beckett's Later Plays and the Theory of Audience Response. In: "Make sense who may": Essays On Samuel Beckett's Later works. Hrsg. v. R. J. Davis und L. Butler. Gerrards Cross: Colin Smythe 1988, S. 20-29.

136

Kapitel

III

Austausch zwischen körperlosen Stimmen und Requisiten der Bühne enthumanisiert.21 A. McMullan, S. Connor, Κ. L. Laughlin und P. Lawley lesen Becketts Stücke als Provokation ihrer eigenen Interpretationsstrategien, da diese Stücke die Modi theatralischer Produktion, Präsentation, Repräsentation und Rezeption selbst untersuchen und analysieren. Connor, Lawley und McMullan analysieren die Relationen zwischen visuellen und akkustischen Elementen und erläutern deren Implikationen für die sensuelle und rationale Rezeption der Stükke. Die vorliegende Untersuchung lenkt die Aufmerksamkeit auf die Art, wie die theatralischen Prozesse das ihnen eigene Zwischen, das in akustischen Begriffen "Stille" und in visuellen "Unsichtbarkeit" genannt werden kann, offenlegen. In ungefähr der Mitte der Szene Play brechen die Erinnerungen ab, das Sprechen wiederholt jetzt nicht mehr nur, sondern besinnt sich in gewisser Weise monologisch auf sich selbst. Präsentische Sätze treten an die Stelle der imperfektischen, bis das Stück zum Schluß mit der Zitation des zuvor Zitierten noch einmal erneut einsetzt.22 Im Rahmen dieser triadischen Struktur - rückblickende Wiederholung des Vergangenen, Reflexion der aktuellen Situation, Wiederholung des gesamten Prozesses - konstituiert die Wiederholung das Verhältnis von Sprechen und Erinnerung. Stagnierende erotische Beziehungen der Figuren werden in dieser Szene durch Repetitionen und neue Kombinationen sprachlicher Erinnerungsfragmente substituiert. Die erinnerten Worte werden nicht mehr in originaler Redeweise, sondern höchst mechanisch, ohne persönliches Engagement und individuellen Atem- und Sprechrhythmus vorgetragen. Faces impassive throughout. Voices toneless except where an expression is indicated. Rapid tempo throughout. 23

Theatralische Gestik und Bewegung sind auf akzelerierte Artikulationsbewegungen der Münder reduziert, die technisch mechanische Töne produzieren und die Rede einer Art automatischer Produktion und Reproduktion aussetzen. W2 thematisiert diesen Mechanismus der Rede, wenn sie M's Rede mit den Geräuschen eines Rasenmähers vergleicht und die gesamte Sprech-Situation als rotierende Walze begreift: He went on and on. I could hear a mower. An old hand mower. I stopped him and said [,..] 24 21

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Lawley, Paul: Beckett's Dramatic Counterpoint: A Reading of'Play.' In: Journal of Bekkett Studies 9 (1984), S. 25-41. Ruby Cohn gliedert das Stück in "Chorus, Narration, and Meditation". Cohn: Just Play (wie Anm. 16), S. 125. Beckett: Play, S. 147.

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Like dragging a great roller, on a scorching day. The strain [...] to get it moving, momentum coming

W2 kontrahiert zwei Motive, die für Μ nebeneinanderhergehen, wenn er über den Versöhnungsversuch mit seiner Frau berichtet. When I saw her again she knew. She was looking - [Hicup.] - wretched. Pardon. Some fool was cutting grass. A little rush, then another. The problem was how to convince her that no [...] revival of intimacy was involved [...p 6

Während Μ noch zwischen der Gesprächssituation und dem Rhythmus des Mähens im Hintergrund unterscheidet, mischen sich für W2 beide Geräusche zu einer Geräuschkulisse. Seine Rede nimmt sie nur noch als störenden Lärm wahr. Mit ihren tonlosen Stimmen, akzelerierten Tempi und Wiederholungen konkretisieren alle Sprecher das, was sie beschreibt. Worte, Phrasen und Sätze verlieren im Verlaufe des Stückes allmählich ihre signifizierenden Potenzen. Dies ist vor allem deutlich, wenn W1 zum Beispiel in der Zeile "Pudding yäce, puffy, spots, blubber mouth" die Wortfolge nach dem Spiel ihrer Verschlußund Reibelaute (p,b,f) richtet. Besessen vom Fluß der Rede, können die Figuren diese nicht unterbrechen. Darin liegt ihr tragisches Paradox: Obwohl sie sich vom Sprechen zurückzuziehen versuchen, werden sie immer wieder hineingezogen. Schon am Anfang, wenn die Stimmen noch im Chor zusammenklingen, sind sie alle schwach und in der Wiederholung von Anfang an "atemlos". In Wis und Ms Zeilen hört man die Sehnsucht nach einem Ende, nach "all still", "all over", "all wiped out", "all out", obwohl die Stille gerade nicht einkehrt. Thematisch versuchen die Figuren ihre Obsession mit der Vergangenheit27 durch die Wendung ins Imaginäre zu kompensieren. Religiöse Vorstellungen wie "the time will come", "peace", "so help me God", "mercy", "thank God", "truth" - werden mit juristischen - "proof", "denying", "accusing", "unjustly", "confess", "judge" - assoziiert. Doch widersprechen diese teleologischen Illusionen des Textes seinen sprachlichen Wiederholungszwängen, denen sich die Figuren nicht entziehen können. Μ baut sich für Momente eine sprachliche

24 25 26 27

Ebd., S. 150. Ebd., S. 155. Ebd., S. 151. Mit Bezug auf eine Diskussion mit Beckett unterteilt Martin Esslin diesen Text in drei Teile: Chorus, Erzählung, Meditation. Esslin, Martin: Samuel Beckett and the Art of Broadcasting. In: Encounter. September 1975, S. 44. Doch A. McMullan weist deutlich darauf hin, daß es im Diskurs der Figuren keine chronologische Ordnung gibt und daß die Texte zeitlich vor- und rtlckverweisen und es dadurch sehr schwer machen, überhaupt eine zeitliche Kontinuität zu konstruieren. McMullan: Mimicking Mimesis (wie Anm. 18), S. 22.

Kapitel III

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Traum- und Phantasiewelt, um seinen Wunsch nach "peace"28 zu realisieren. Darin gleicht er Krapp in Krapp's Last Tape: Während Krapp sich allerdings im Schluß von seiner Traumphantasie einfangen läßt, entlarvt Μ sie als 'NurPhantasie'. A little dinghy, on the river, I resting on my oars, they lolling on air pillows in the stern [...] sheets. Drifting. Such fantasies. 2 9

Μ bemerkt den Abgrund, der ihn als Sprecher von seinen sprachlichen Imaginationen trennt. Die phantasierende und manchmal auch mit einem "vielleicht"30 spekulierende Rede erlaubt dem Sprecher nicht, sich in sie zu verlieren: durch die Distanz der Reflexion auf ihre Sprachlichkeit bleibt er von ihr ausgeschlossen und exiliert. Dem Dilemma, in das sein Zugriff auf die Sprache ihn stößt, kann er nicht entkommen: obwohl sie ihn als das einzig Aktive im Leben hält, erlaubt sie weder, daß er sich ihren illusionären Imaginationen ausliefert, noch daß er sich von ihr radikal distanziert. Insofern setzt sich die Wiederholung wie in Wis Lautspiel mit den Aspiranten Ρ und Β auf der Signifikantenebene als murmelndes Klang- und Kombinationsspiel fort. Die paradoxe Tragik dieses Spiels besteht darin, daß es von den Sprechern nicht beabsichtigt ist. Je intensiver sie dem Sprechen und dem Gesprochenen selbst zu entfliehen versuchen, desto intensiver bleiben sie der Sprechmotorik verhaftet. Die Mittel negieren ihren Zweck: sobald das Sprechen außerhalb eines aktiven sozialen Kontextes, in monologischer Isolation, stattfindet und fehlende soziale Beziehungen kompensiert, kann es sich nicht von sich selbst distanzieren, ablösen und abtrennen. Der von erotischer Frustration stimulierte Sprechdrang jagt über Inhalte hinweg, läßt den Sprecher nicht einhalten und bannt ihn in ein Sprechen, das sich durch anhaltende Repetition seines eigenen Sinnes entleert. Gestaute Energien entladen sich in der automatischen Penetranz des Sprechens, ohne daß aber orgastisch körperliche Entspannungen eintreten. Die Gesichter der Figuren bleiben starr. Der Abgrund zwischen semantischen und motorisch-akustischen Momenten der Sprache bringt Spaltungen zwischen verschiedenen theatralischen Elementen mit sich: zwischen der visuellen Präsenz der Sprecher-Gesichter, den von rapidem Tempo getriebenen Artikulationsbewegungen ihrer Münder und ihrer Sprache. Die Stimmen gehören Schauspieler/innen-Köpfen an, die drei ein Meter hohen Urnen aufgesetzt sind. From each a head protrudes, the neck held fast in the urn's mouth [...] Faces so lost to age and aspect as to seem almost parts of urns. But no masks. 3 1

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Vgl. Beckett: Play, S. 152. Ebd., S. 156. Vgl. ebd., S. 153. Ebd., S. 147.

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Diesen Gesichtern ist ein Paradox eingeschrieben: Todesstarre einerseits, extrem schnelle Artikulationsbewegungen andererseits.32 Das Todesschweigen der Urnen gewinnt Sprache, die als mechanisierte und automatisierte Rede von der Eigeninitiative der Figuren unabhängig ist. Eine Verkehrung findet statt: nicht der Sprecher kontrolliert das Sprechen, sondern die Sprache selbst kontrolliert die Funktionen seiner/ihrer Sprachwerkzeuge. Die unbeweglichen und "teilnahmslosen Gesichter"33 werden nur von dem Motor der Rede bewegt, der allerdings selbst wiederum von einem Scheinwerferlicht abhängig ist. Their speech is provoked by a spotlight projected on faces alone. The transfer of light from one face to another is immediate. 3 4

Das Scheinwerferlicht unterbricht eine Rede und provoziert eine andere. Es isoliert einzelne Situationsfragmente und filtriert mit dem Zeigegestus des epischen Theaters einzelne Ausschnitte der Reden heraus, grenzt sie voneinander ab und fugt sie übergangslos zusammen. Ohne Unterbrechung durch den Scheinwerfer würden die Figuren niemals aufhören zu sprechen. Denn die Stimmen setzen niemals selbständig ein oder aus, als Motoren, die durch sich selbst unbegrenzte Laut-, Wort- und Satzketten generieren, produzieren sie eine relikthafte Sprache, deren physisch materielle Präsenz alle semantischen Referenzen überwältigend zurückdrängt. Freud assoziiert den Zwang zur Wiederholung mit dem Todestrieb und mit dem "allgemeinsten Streben alles Lebenden, zur Ruhe der anorganischen Welt zurückzukehren."35 In Becketts Play prägen die Wiederholungsstrukturen das Sprechen, das in sich selbst kreist. Die Sprecher bleiben in ihm gefangen, ohne daß sie jemals zur Durcharbeitung des Erinnerten gelangen, wie eine jede analytische Behandlung es erfordern würde.36 Insofern folgt das Sprechen hier zwar einem Drang zur Wiederherstellung eines Früheren, einer "Ruhe", wie Freud ihn nennt, und in Becketts Worten einem Drang nach "mercy", "truth", "silence", "darkness", ohne sich jemals seinen eigenen Grenzen entziehen zu können. Obwohl das Sprechen sich semantisch von sich selbst zu distanzieren vermag, bleibt es doch an seine physisch motorische Realität gebunden. Inso32

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Der Kontext der Inszenierung bestätigt diese zwanghafte Rhetorik der Wiederholung als Todesform der Sprache. Der Tod ist nicht wie in der Tradition der Jedermann-Spiele als eine zusätzliche allegorische Figur, als Geiger oder Gerippe wie im memento mori oder im Rahmen einer Sterbeszene, wie sie häufig die Dramen abschließt, präsent, sondern im Sprechen der Gesichter, Münder, Stimmen, die vom menschlichen Leben, von "Ton", "Teilnahme" und "Alter" abgelöst sind. Ebd. Ebd. Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips. In: Ders.: Psychologie des Unbewußten. Studienausgabe. Bd 3. Frankfurt a.M.: Fischer 1975, S. 213-272, hier S. 270. Vgl. Freud, Sigmund: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. In: Ders.: Schriften zur Behandlungstechnik. Studienausgabe. Ergänzungsband. Frankfurt a.M.: Fischer 1975, S. 205-215.

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Kapitel III

fern setzt sich die Gebundenheit in die Sprache gegen eine "Rückkehr" zur "Ruhe" durch. Ohne Illusionen, da wo Μ die Nichtigkeit alles Sprechens und jeder Rede bemerkt, lenkt er seine Aufmerksamkeit auf das Jenseits der Rede: den schweigenden Blick des Scheinwerfers, der ihr laut zu werden erlaubt, und von dem er abhängig ist. And now, that you are ... mere eye. Just looking. At my face. On and off. [...] Looking for something. In my face. Some truth. In my eyes. Not even. [...] Mere eye. No mind. Opening and shutting on me. Am I as much- [Spot off M. Blackout. Three seconds. Spot on M.] Am I as much as ... being seen?37 Die monologischen Reden kommen nicht ohne Wendung ins Dialogische aus, das allerdings dadurch begrenzt ist, daß das "Du" selbst der Sprache nicht mächtig ist. Die Sprecher etablieren den Kontakt zu ihm, ohne jemals auf sprachliche Resonanz zu stoßen; insofern sind sie in eine Dialogsituation eingespannt, in der sich kein Dialog ereignet. Der anonyme bühnentechnische Apparat, der sichtbar und hörbar macht, ohne selbst hörbar zu sein, tritt an die Stelle des "Du". Theaterrequisiten, Urnen und Scheinwerfer, verbleiben nicht in ihrer anonymen Hintergrundsfunktion, sondern nehmen als aktive Charaktere am Spiel teil, ohne aber vom sprachlichen Geschehen afifiziert zu sein. Da die Reden selbst vom Scheinwerferlicht abhängig sind, werden sie zu machtlosen manövrierbaren Ausstattungsmitteln der Bühne.38 Eine Verkehrung findet statt: Anonyme Bühnenmittel kontrollieren das Sprachgeschehen und drängen es in die ihnen sonst eigene Anonymität. Insofern autonomisiert sich in diesem Stück theatralisch Visuelles gegenüber Akustischem. Die beiden Sprachen komplementieren sich wechselseitig nicht. Beckett nennt den Scheinwerfer "Inquisitor", Μ spricht ihn als "bloßes Auge" an. Wie kann das Verhältnis zwischen dem Sprechen der Figuren und seine Abhängigkeit von der Belichtung als ein inquisitorischer Prozeß gedacht werden? Da den Figuren jegliche Antwort, die sich der Sprache bedient, versagt bleibt, kehrt sich das Sprechen isoliert auf sich selbst zurück. Das wird besonders deutlich durch die Eingangs-

37 38

Beckett: Play, S. 157. Bert O. States' sehr allgemeine Charakterisierung von Becketts "Voice Plays" als eine visuelle Metapher für die Bedingung des Solipsismus oder ftlr die Idee sei, daß alles eine Projektion des 'Ich bin', die die Pronomen du, er, sie einschließt, muß hier ein wenig weiter differenziert werden. Ich und Du fungieren hier als rein sprachliche Kategorien. Der Scheinwerfer, der die Reden kontrolliert, wird durch sie in keiner Weise manipuliert. Er greift von Außen in das Sprachgeschehen ein. Das Problem des Solipsismus oder des 'Ich bin' kann nicht nur auf der philosophisch-psychologischen Ebene abgehandelt, sondern muß unbedingt auch als ein Problem der Sprache und des Sprechens reflektiert werden. Vgl. States, Bert O.: Beckett's Voice Plays. In: Theatre Journal. December 1988. Baltimore: The Johns Hopkins UP 1988, S. 453-467.

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und die Schlußszene, in der alle drei Stimmen gleichzeitig ihren je eigenen Text sprechen; sie sind zum Nicht-Ruhig- und Still-Sein-Können verurteilt. Das penetrante Sprechen bietet eine letzte Sicherheit vor dem Abgrund der Stille und seiner schweigenden Leere. Doch diese Sicherheit ist eine äußerst makabre. Denn das Scheinwerferlicht entlarvt das Sprechen als akrobatische Leistung der Sprechwerkzeuge, die die Rhetorik der Repetition in die akzelerierte Motorik der Sprachorgane übersetzt. Im Zuge der Autonomisierung dieses physisch motorischen Phänomens verdrängt das Sprechen das Ich der Sprecherfigur und schafft den ihr eigenen Atem- und Sprechrhythmus aus dem Wege, so daß das Ich nur als sprachliche Vorgabe ohne außersprachliche Referenz fungiert. Als rein physische Motorik entsagt das Sprechen jeder Diskursivität, allen semantisch idealistischen Funktionszuschreibungen, der Sinn-, Identitätsoder Wahrheitsaussage, der benennenden wie der kommunikativen Funktion. Wenn auch die Sprache vollkommen entmachtet und auf mechanische Körperfunktionen reduziert wird, so kann sie doch die Sprecher nicht vollkommen ausschalten. Sie sind immer noch als Beobachter ihres eigenen Verfalls in die Körperlichkeit präsent. In dem ausweglosen Konflikt zwischen der physischen Motorik des Sprechens und den in ihm immer wieder angelegten semantischen Projektionen setzen die Figuren immer wieder neu an, über die Zukunft, über eine ihnen neue Sprache, eine Sprache der Wahrheit und des Sinns zu spekulieren, nur um immer wieder - im Zuge der unendlichen Möglichkeit, in rasender Geschwindigkeit eine Wahrheit durch eine andere zu ersetzen - auf das Fatale dieser Versuche gewiesen zu werden; denn das Sprechen verweigert sich auch seiner eigenen Intention zur Selbstdestruktion. Μ und W versuchen vergebens, die Sprachwerkzeuge selbst zu transformieren und zu zerstören. Das Sprechen ist, versklavt in sich selbst, auch sich selbst gegenüber machtlos. Ein unaufhörlicher Schluckauf unterbricht die automatisierte Rede Ms und übertönt seine Stimme mit inspiratorischen Körpergeräuschen. We were not long together when she smelt that rat. Give up that whore, she said, or I'll cut my throat - [Hiccup.] pardon - so help me God. I knew she could have no proof. So I told her I did not know what she was talking about.39 Die Kehle gehorcht seinem Willen nicht und revoltiert gegen die ihr eigene Sprechfunktion. Wie bei einer Krankheit ist eine Balance gestört, die in einer antagonistischen Körperökonomie darauf angewiesen ist, daß sprachlich stimmliche Funktionen körperliche und umgekehrt körperliche sprachlich stimmliche Funktionen zurückdrängen. Daß gerade die Kehle als Sprach-, Stimm- und Verdauungsorgan von dieser Störung betroffen ist, macht ihre chiffrenhafte Funktion in dieser Szene deutlich. Denn es ist die Kehle, die die Sprechstimme kontrolliert oder aber wie beim Schluckauf unwillkürliche Kör-

39

Beckett: Play, S. 148.

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pergeräusche produziert und den Sprecher so weit entmachtet, daß das zwanghafte Sprechen selbst zum körperlichen Symptom entartet. Why not keep on glaring at me without ceasing? I might start to rave and [Hiccup] - bring it up for you 4 0

Nur wenn die Rede nicht ständig unterbrochen würde, böte sie die Möglichkeit, daß sie sich selbst entgrenzte, irr-redete und über das bereits Gesagte nur zu Wiederholende hinausreichte. Als wenn das Reden sich selbst ein Ende setzen könnte, indem es "mit etwas herausrückte". Die Definitionen fur "rave" in The Oxford English Dictionary umfassen die Extreme von euphorischem Enthusiasmus und pathologischem Wahnsinn und legen die Verschiebung beider Extreme ineinander nahe. Nur in Traum und Delirium verschieben sich körperliche, stimmliche und sprachliche Grenzen ineinander. Die klangliche Kombination von "hiccup" und "bring up" assoziiert Erbrechen mit Sprechen. Μ spekuliert auf Entgrenzung sprachlich körperlicher Restriktionen, in der Hoffnung auf ein unbestimmtes und unbestimmbares "es", das seiner symptomatischen Existenz ein Ende setzt. Allerdings sind die Voraussetzungen für diese Änderung nicht im Sprechen selbst gegeben; Μ fordert Bedingungen, die nur vom Du, von dem ganz Anderen, ihm Äußeren, gesetzt werden können. Insofern situiert er sein Sprechen in ein Geflecht anonymer Bedingungen, denen es nicht entkommen kann. W1 weiß, nur durch Kastration der Sprachorgane kann sie der Gebundenheit in die Sprache entfliehen. W l : Mercy, mercy tongue still hanging out for mercy. It will come. You haven't seen me. But you will... 41 W l : Is it something I should do with my face, other than utter? Weep? [...] Bite off my tongue and swallow it? Spit it out? Would that placate you? How the mind works still to be sure! 42

Die lechzende Zunge drängt vergeblich nach einer Befriedigung. Zum Organ absoluter Funktionslosigkeit entartet, taugt sie noch nicht einmal zur Destruktion. Wl kann "nur" sprechen; jede andere theatralische Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeit ist ihr im Rahmen von Becketts minimalistischer Dramaturgie versagt. Das Gesprochene ist eben nur als physische Artikulation präsent. Auch wenn die Figuren keine Zukunft in ihrem Sprechen sehen und ein Ende ihrer Situation antizipieren, so setzt sich doch, beinahe zwangsmäßig, das Sprechen gegen diese Hoffnung durch. W2 weiß, ihr Sprechen rechnet mit einer Wirklichkeit außerhalb seiner selbst, der die außersprachliche Realität nicht 40 41 42

Ebd., S. 156. Ebd., S. 152. Ebd., S. 154.

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nachkommt. Das Sprechen geht aus traumatischen Körpererlebnissen hervor denn es ist der an Μ haftende Körpergeruch, der seiner Frau seine Geliebte verrät - und wird selbst wiederum zum Trauma, da es als motorische Körperfunktion sich selbst nicht kontrollieren kann. In dieser Isolation distanziert es sich von Ideologisierungen und Idealisierungen seiner eigenen Diskursivität. Doch kann es sich der eigenen Zeichenhaftigkeit nicht entledigen. Die Stimmen zerstören die Totenstille der Urnen und Scheinwerfer und verwehren dieser Stille gleichzeitig den Zugang zu sich. Allein die akustische Präsenz des Sprechens negiert die Möglichkeit seiner Absenz. Als klanglicher Restbestand einer Vergangenheit, der sich gegen jede Innovation stemmt, jagt die Rede über Pausen, Abbräche und Umbrüche, die die Stille markieren könnten, hinweg. Im Gegensatz zu dieser Negation der Stille üben die Figuren in Krapp's Last Tape und Rockaby das Schweigen. Analog zu der Mechanik des Sprechens in Play wird die Dramaturgie der Wiederholung, Variation und Inversion in diesen beiden Stücken soweit technisiert, daß die Hauptfiguren nicht nur sprechen, sondern auch zu Zuhörern der Tonbandaufnahmen ihrer eigenen Stimmen werden. Da die Erinnerung nicht mehr von ihnen selbst sprachlich akustisch hervorgebracht werden muß - sie ist auf die gesprochenen Texte, die technisch konserviert vorliegen, beschränkt - , üben die Figuren das Schweigen und letztlich die Stille. Insofern setzen sie sich mit der Seite der Sprache auseinander, die den Figuren in Play entzogen ist. Diese Szenen grenzen den Aspekt der Sprache ein, der in Play ausgegrenzt ist. Die Figuren hören Tonbandaufnahmen ihrer eigenen Stimmen solange zu, bis sie das Tonband auslaufen lassen und sich der Stille ausliefern; insofern werden sie selbst Figuren der Stille und der ihr eigenen starren Körperlichkeit. Mit diesem Übergang des Schweigens zur Stille, durch den jegliches Sprechen ausgeschaltet wird, grenzen die Szenen das eine Schweigen von dem anderen ab. Es ist die Frage, wie diese Grenze gezogen wird und welche Relevanz sie hat. Alte Tonbandaufnahmen sollen Krapp zu neuen stimulieren; allerdings läuft sein neuer Aufnahmeversuch nur darauf hinaus, daß er sich eine alte Aufnahme immer wieder noch einmal vorspielt. Am Schluß der Szene erstarrt Krapp: "KRAPP motionless starring before him. The tape runs on in silence."43 Der schon zuvor beinah sprachlose "wearish old man",44 dessen starrer regungsloser Blick sich zu Beginn ins Leere richtet, liefert sich hier im Schluß der Abwesenheit der gesprochenen Sprache aus. Weder beginnt er wie vorher mit nervöser Unruhe selbst wieder zu sprechen, noch spult er das Tonband noch einmal zurück; er ergibt sich der Sprach-Stille, indem er sie nicht mehr unterbricht. 43 44

Beckett: Krapp's Last Tape, S. 63. Ebd., S. 55.

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In Rockaby hält die alte Frau im Schaukelstuhl ihre mechanische Schaukelbewegung, die dem Sprechrhythmus der Tonbandstimme folgt, drei Mal kurz an, um durch ihr flehentliches "more" die Tonbandstimme, eine Reproduktion ihrer eigenen, zum wiederholenden Weitersprechen anzuregen, sobald das Echo ihrer Stimme zu verklingen droht. Nur im Schluß unterbricht sie die immer leiser werdende Tonbandstimme nicht mehr und überläßt sich der Sprachstille, die auch die den Sprechrhythmus begleitende Schaukelmechanik einhält. Wie in Krapp's Last Tape resultiert aus dem Zuhören, daß die Figur jede hör- oder sichtbare sprachliche Eigenaktivität aufgibt. Man könnte hier vielleicht von einer Sterbesituation sprechen. Das Sterben oder der Übergang in die absolute Stille und Bewegungslosigkeit hängt hier jedoch zunächst nicht von physischen Konstitutionen der Figuren, sondern vor allem von ihrem Verhältnis zur Sprache ab. Während die Schauspieler in Play die Erinnerungen an sprachliche Phrasen auf der Bühne aktualisieren, wird die Erinnerung in den anderen beiden Stükken technisch reproduziert, so daß die Figuren von vornherein in eine Zuhörerrolle gedrängt werden. In beiden Szenen beherrscht einmal Gesprochenes die Figuren: sie werden entweder selbst zu Sprechmotoren der Erinnerung oder aber sie haften mit der Faszination des Zuhörers an der bereits konservierten Erinnerung. Die Szenen sind auf die Konfrontation der Figuren mit ihrer eigenen sprachlichen Vergangenheit reduziert. Die einmal gesprochene Sprache erweist sich als Barriere, die produktives Weitersprechen, "Durcharbeiten" im Sinne Freuds, blockiert und die Figuren solange in Kontakt mit ihrer sprachlichen Vergangenheit bringt, bis sie schweigen, sich ihr schweigend stellen oder ausweichen. Wie können die Funktionen dieses Schweigens genauer bestimmt werden? Krapps Sprechen setzt aus, nachdem er sich zum dritten Mal einen bestimmten Tonband-Ausschnitt angehört hat. In der Einführung dieser Hörszene zitiert er einen Satz, der bereits aus dem zuvor Gehörten bekannt ist. Das, was vorher imperfektisch erzählte Erinnerung war, wird jetzt aktueller Imperativ. Krapp transformiert den Satz "I lay down across her" in "Lie down across her". Anstatt aber auf diesen Imperativ pragmatisch so zu reagieren, daß er sein Zimmer verläßt, seine Freundin besucht und dadurch seinen Diskurs ausweitet, verbleibt er innerhalb des bereits etablierten Sprachsystems, wendet sich wieder dem Tonband zu, spult es zurück und spielt sich seinen Erinnerungsbericht noch einmal vor. KRAPP:

...Be again, be again. [Pause.] All that old misery. [Pause] One wasn't enough for you. [Pause.] Lie down across her.

[Long pause. He suddenly bends over machine, switches off, wrenches off tape, throws it away, puts on the other, winds it forward to the passage he wants, switches on, listens staring front.]

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TAPE:

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...I asked her to look at me and after a few moments -{Pause.)- after a few moments she did, but the eyes just slits, because of the glare. I bent over to get them in the shadow and they opened. (Pause. Low) Let me in. (Pause) We drifted in among the flags and stuck. The way they went down, sighing, before the stem! (Pause.) I lay down across her with my face in her breasts and my hand on her. We lay there without moving. But under us all moved, and moved us, gently, up and down, and from side to side. [Pause. Krapp's lips move. N o sound.] Past midnight. Never knew such silence. The earth might be uninhabited. 4 5

Zwei Verstummungsszenen werden hier übereinandergelegt: die poetische Imagination einer Schweigeszene aus der Perspektive des Sprechers und die gleiche Imagination aus der Perspektive des Zuhörers, der die Zuhörfunktion dadurch ins Extreme steigert, daß er nicht mehr zu sprechen beginnt und ganz dem Schweigen verfallt. Er spricht die Sätze seiner früheren Rede lautlos nach, als wenn er sie nicht mehr durch den Klang seiner aktuellen Stimme stören wolle. Zunächst machen seine Lippen noch pantomimisch die Artikulationsbewegungen des Sprechens mit, bis auch sie erstarren. Er verstummt im Zuhören. Darauf verweisen die Regieanweisungen: "Krapp motionless staring before him. The tape runs on in silence."46 Der Zuhörer Krapp hört sein eigenes Schweigen. Diese Aktivität, die sich mit einer eigenen Qualität zwischen sprachliche Produktion (Sprechen) und Rezeption (Zuhören) schiebt, ist nur schwer zu bestimmen. Was geschieht, wenn sich die rezipierende Beziehung zur Sprache, das Schweigen des Zuhörers in eine das eigene Sprechen negierende, in das Schweigen über das Schweigen, verschiebt? Die beiden simultanen Schweigeszenen substituieren einander nicht: über das Schweigen, das sexueller Ekstase folgt, wird immer noch gesprochen; während über das Schweigen, das dieser sprachlich präsentierten Schweigeszene lauscht, nicht mehr gesprochen werden kann. Die Rezeption schlägt nicht mehr in sprachliche Produktion um, sondern durch ihr fortgesetztes Schweigen fuhrt sie über Grenzen hinaus, in die die Rede über das Schweigen immer gebunden bleibt. Denn wenn das Sprechen auch das Schweigen thematisieren kann, so kann es doch die Erfahrung der Stille niemals einholen, da es sie ja doch immer wieder unterbricht. Seine akustische Präsenz widerspricht per se seiner theoretisch postulierten Absenz. Nur im Schluß ergibt sich Krapp diesem Schweigen, das die Sprache in bezug auf sich selbst als funktionslos entlarvt. "Never knew such silence. The earth might be uninhabited."47

45 46 47

Ebd., S. 63. Ebd. Ebd., S. 61.

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Bedeutet dieses Verstummen, daß der Bezug zur Sprache und den durch sie etablierten zivilisatorischen Bedingungen aufgegeben wird? Der Übergang von einem Schweigen zum anderen wird durch einen autoerotischen Prozeß markiert: "Krapp's lips move. No sound."48 Der Schluß läßt offen, ob Krapp jemals wieder sprechen wird. Hält sein Schweigen den Kontakt zur Sprache aufrecht oder entreißt es sich ihr? Wie bestimmt Krapp selbst sein Sprechen? Als Paradox, als Sprechen, das nichts zu sagen hat. "Nothing to say, not a squeak." Es ergibt sich aus Krapps enthusiastischem Spiel mit dem Wort "spool." Ah![....] Box...thrree...spool...five [...] Spool! (Pause) Spooool! (Happy smile. Pause. He bends over table, starts peering and poking at the boxes.) Box... thrree...thrree...four...two...(with surprise) nine! good God!...seven...ah! the little rascal! [...] Spool...(he peers at ledger)...five...(he peers at spools)...five... five...ah! the little scoundrel! [...jSpool five[...] Box thrree, Spool five.[...] Box thrree, spool five.[...] Spooool!... 49

Dieses kuriose Spiel mit den Klängen der Sprache führt Krapp als Sprecher in die Szene ein und inspiriert, wie er später gesteht, letztlich die gesamte Szene. Denn es sind die Tonbandspulen, die die Erinnerung für ihn bereit halten. Krapp weiß, daß seine Rückschau auf den Spaß an dem Spiel mit den sprachlichen Signifikanten zurückzufuhren ist - im Gegensatz zu den Figuren in Play, auf denen der Zwang in die Sprache wie ein Todesbann liegt. Dieses kombinatorische Sprachspiel inszeniert die Szene: idealistisch befrachtete Konzeptionen der Zeitlichkeit werden nur angeführt, um sie zu Spielelementen, zum Spiel mit Signifikant und Signifikat umzufunktionieren. Nothing to say, not a squeak. What's a year now? The sour cud and the iron stool. (Pause) Revelled in the word spool. (With relish) Spooool! Happiest moment of the past half million. 50

Die Verschiebung theoretischer Reflektionen auf Assoziationen, die durch Binnenreime stimuliert sind, entzieht den Worten ihre konventionellen semantischen Konnotationen und etabliert eine eigenwillig spielerische Klanglogik, die sich zunächst am Signifikanten orientiert. Doch die Szene läßt diese dadaistisch anmutende Klangpoesie nicht nur als exotischen nonsense stehen, sie nimmt sie insoweit ernst, als sie das assonantisch Assoziierte technisch durch das Hinund Herspulen des Tonbandes auf der Bühne konkretisiert und es semantisch neu auflädt, indem sie - den zufälligen Assonanzen der Worte "stool", "spool" entsprechend - Erinnerungs- und Verdauungsprozeß miteinander assoziiert. So untergräbt diese vom Zufall bestimmte Klanglogik die Grenzen zwischen Sprach- und Körperfunktionen, Erinnerungs-, Verdauungs-, Sprech- und Hörs48 49 50

Ebd., S. 63. Ebd., S. 56. Ebd., S. 62.

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zenen und unterlegt ihnen eine nur im Rahmen der Sprache gegebene spielerische Leichte. Von ihr spricht Krapp als "happiest moment." Diese Erfahrung mit dem Reim kann gerade nicht thematisert werden; die von ihm entworfene poetische Logik beruht auf dem Spaß am Akustischen, dem Musischen der Sprache. Das Tonband isoliert das Gesprochene vom Sprecher und damit von allen außerklanglichen Bedingungen jeder Rede. Es entsubjektiviert und enthumanisiert das Gesagte und reduziert es auf magnetisch gespeicherte Daten, die von menschlichen Sinnes- und Bewußtseinsformen unabhängig sind. Insofern abstrahiert das Tonband technisch von all den Sprachelementen, denen Krapp selbst zu entkommen sucht, von all dem, was etwas sagen will, und präsentiert das, was Krapp in der Sprache sucht: Klang. Doch das Tonband hat an sich selbst noch eine weitere Qualität: es ist an sich sprachlos und klanglos. Es hat wirklich nichts zu sagen, "not a squeak." Seiner Speicherung akustischer Phänomene liegt eine technisch produzierte Stille zugrunde. Insofern konfrontiert es Krapp, wenn es still vor sich hinläuft, mit einer außermenschlichen und außersprachlichen Stille und erlaubt ihm, sich in ihr zu verlieren. Während seine vorherigen Sprachpausen ihn immer wieder nur auf Sprachliches zurückfuhren, konzentriert er sich nun auf ein Medium, das gerade die Reproduktion der Sprache erst bedingt, auf eine technisch produzierte neutrale Stille, die die menschliche Stille zwar reproduzieren kann, selbst aber einer anderen Stille angehört. Insofern können hier zwei Formen des Schweigens unterschieden werden: die Zäsur, die einen sprachlichen Ausdruck von einem anderen trennt, und die an sich intentionslose, technisch produzierte Stille, die jeder Datenspeicherung zugrundeliegt. Wie der Scheinwerfer in Play fungiert das Tonband nicht mehr nur als anonymes Requisit im Hintergrund. Es ist von Anfang an Zentrum der Handlung. Die rotierenden Tonbänder konkretisieren visuell auf der Bühne das Wort, an dem Krapp die Sinnbeladenheit der Sprache vergißt: nicht nur wird dieses Wort wörtlich durch die sich drehenden Spulen präsentiert, sondern auch die runden graphischen Formen seiner Vokale Ο in "spool" finden ihre Abbildung. Das der Sprache inhärente Prinzip wechselseitiger Repräsentation akustischer und sprachlicher Zeichen wird hier auch auf die technische Apparatur ausgeweitet. Das neue Medium gewinnt der Sprache etwas hinzu, das sich sowohl von der visuellen Starre des Schriftzeichens wie auch von der akustischen Dynamik ihrer Klänge abgrenzt. Wenn das Tonband zum Schluß in der Stille weiterläuft, präsentiert es ein Schweigen, das nicht mehr von sich aus ins Sprechen umschlägt und umschlagen kann, denn das Tonband ist nicht auf Aufnahme eingestellt. Doch diese Stille bedeutet nicht Stillstand. Die Tonbänder laufen weiter und garantieren die Kontinuität der Stille. Krapp schweigt ihr gegenüber. Doch der Kontext für dieses Schweigen unterscheidet sich radikal von den vorhergehenden Schweigemomenten, die sich immer voller Anspannung zwischen den Drang zum Sprechen, Produktion, Selbstkonfrontation und Erinnerung schieben. Hier geht die Stille aus

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Entspannung hervor, aus dem Spiel sprachlicher O-Laute und der Leichte mechanischer Drehung. Doch transzendiert dieses Stück nicht nur den Drang zum Sprechen durch Visualitätsszenen, wie M. Esslin in bezug auf Beckett's Stücke allgemein behauptet51, sondern es transzendiert die visuelle Szene selbst durch das Fokussieren auf das Schweigen, das der Stille lauscht. Dies fungiert als eine Zwischensphäre, aus der das Theater der Worte und Bilder hervorgeht und in das es wieder einbricht. In Play entartet die Rede zum Bühnenrequisit, vergleichbar mit Elementen ostentativer Repräsentation in barocken Trauerspielen, und stellt Stille durch ihr Gegenteil, nämlich durch mechanisierte Rede, dar. Solange diese Figurierung des Schweigens stattfindet, bleibt es noch an sprachliche Ausdrucksfunktionen gebunden. In Krapp's Last Tape und Rockaby ist die Stimme der jeweiligen Hauptfigur in eine aktuelle und konservierte gespalten. Diese beiden Stimmen treffen im Schluß aufeinander: in der Kulmination aller Pausen und Unterbrechungen: die letzte Schweigepause endet nicht. In dieser Stille sind das Hören und Sprechen in der einen Sprache, die allen abwesenden Sprachen vor-oder zugrundeliegt, neu aneinander gebunden. Doch während dieser Übergang zum Schweigen in Rockaby die gesamte Handlung erstarren läßt, setzt Krapp sich ihm mit gespannter Konzentration aus. Das rotierende Tonband auf der Bühne konfrontiert ihn mit einer anonym technischen, vom Menschlichen abstrahierten Präsenz der Stille. Als zentrale Bühnenfigur einerseits und technisches Produkt andererseits nimmt das Tonband hier eine prekäre Zwischenposition ein: einerseits präsentiert es die Anonymität gegenständlicher Realität, andererseits das Familiäre der Erinnerung. Doch, wenn es dann ohne Ton weiterläuft, wendet es Familiäres in anonym Dinghaftes. In letzter Konsequenz zeigt es, daß das Gesprochene einer anonymen Stille aufliegt und Zeichen von etwas ist, das selbst nichts ist. In Rockaby ist der Schaukelstuhl der Sterbenden identisch mit dem Schaukelstuhl ihrer Mutter. Die Stimme sagt: d o w n the steep stair let d o w n the blend and down right d o w n into the old rocker mother rocker where mother r o c k e d 5 2

Mit der Übernahme der mütterlichen Position wird oft die Rückkehr in den Mutterleib assoziiert. S. Connor verweist auf die Identitätsverschmelzung von 51

52

Esslin, Martin: Telling It How It Is: Beckett and the Mass Media. In: The World of Samuel Beckett. Hrsg. v. Joseph H. Smith. Baltimore, London: The Johns Hopkins UP 1991, S. 212. Beckett: Rockaby, S. 280.

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Mutter und Tochter, denn mit dem Anhalten der Schaukelbewegung und der Ausblendung der Szene zieht sich die Stimme von der akustischen und letztlich von der visuellen Präsenz in die Verborgenheit zurück.53 Inspiriert von Heideggers Seins- und Sprachphilosophie versucht L. Oppenheim Beckett's Texte von jeglichem geschlechtsspezifischen Diskurs zu distanzieren, da diese Stücke gerade eine von politischen und ideologischen Funktionen freie Sprache einzukreisen versuchen.54 Diese Theorie stimmt, soweit sie die durch Abwesenheit indirekt präsente Sprache beschreibt, doch stößt sie auf Grenzen, indem sie die theatralischen Aktionen und Bilder der Bühne ignoriert. Die Stimme in Rockaby weiß, daß sie die verborgene reine Sprache nur wiedererwerben kann, wenn sie die mütterliche Position zurückgewinnt. Krapp in Krapp's Last Tape kann sich nur durch das Medium seiner sexuellen Phantasien aus den Fesseln sprachlicher Zwänge befreien. Nur in der intensiven Konfrontation mit den psychologischen, sozialen und ideologischen Zwängen der Sprache liegt die Hoffnung, ihren Zeichencharakter zu durchbrechen. Das geschieht in Play, wo der spannungsreich vibrierende Dialog der Vergangenheit in die monotone Rede degradiert, in Krapp's Last Tape, wo die maskuline monologische Artistik durch den Verfall an die eigenen poetischen Imaginationen von der eigenen Produktion abgelenkt wird, und in Rockaby, wo sich die weibliche Figur in die Sphäre der Toten und Ungeborenen hineinschaukelt.

53 54

Connor, Steven: Samuel Beckett (wie Anm. 19), S. 134. Oppenheim, Lois: Anonymity and Individuation. In: "Make Sense Who May." Essays On Samuel Beckett's Later Works. Hrsg. v. R. J. Davis, L. St. J. Butler. Gerrards Cross 1988, S. 45.

Schlußbetrachtung

Was sind die Konsequenzen für das Theatralische in den Werken von Nelly Sachs und Samuel Beckett? Bei beiden Autoren findet kein Dialog mehr statt. Wie Szondi und Benjamin richtig ausführen, wird die Sprache selbst Gegenstand theatralischer Darstellung. Das intersubjektive dialogische Zwischen verschiebt sich zum intra- und intersprachlichen Zwischen, das in Nelly Sachs' Dramen durch die Abgründe, die sich zwischen verschiedene theatralische Medien schieben, eingekreist wird. Der Einsatz des elektronischen Mediums bei Beckett macht das in akustischen wie optischen Theaterszenerien Fehlende und nicht Wahrnehmbare wahrnehmbar. Das Sprechen wird nicht nur durch Nicht-Sprechen (Gestik, Pantomimik usw.), sondern durch technisch produziertes Schweigen negiert. Im Rahmen dieser doppelten Negation gewinnt das Schweigen eine in gewisser Weise abstrakte, auf der Bühne vom Menschen autonome Funktion. Nelly Sachs spricht hier von "Vorbedeutung" und zeigt die Suche nach ihr durch Szenen des Verschwindens, Sinkens und der physischen Selbstdestruktion. Doch diese Suche verweist immer auf Abwesendes oder nur momentan Präsentes: kreisend um die Grenzen physischer Repräsentation negiert sich das Präsente, das theatralisch Sicht- und Hörbare, immer selbst. Dies ist anders in Becketts Krapp's Last Tape: Das rotierende Tonband macht das sonst nicht Wahrnehmbare wahrnehmbar. Beckett weitet den SprachbegrifF auf die magnetisch elektronische Tonproduktion aus und setzt sie - mit und ohne Reproduktionsfunktion - als autonomes Medium ein. Auch Nelly Sachs sucht in der Technik eine Alternative zur konventionellen Sprache, wenn sie den Versuch zur Inszenierung eines Automaton-Tanzes auf die Bühne bringt. Doch die Herausforderungen dieses Tanzes gehen über die menschliche Kapazität hinaus, ruinieren und fragmentieren den menschlichen Körper. Der Tod wird funktionslos. Während also Nelly Sachs das Sprachgeschehen immer wieder an die menschliche Physis zurückzubinden versucht, ersetzt Beckett diese in Krapp's Last Tape durch eine künstliche. Die sich leise drehenden Bänder des Tonbands präsentieren das Schweigen, das vom Menschen nur in Absehung von sich selbst und seiner Sprache, nämlich technisch produziert werden kann. Dieses Schweigen eröffnet eine Perspektive auf die Präsenz eines ganz Anderen nicht Sicht- und Hör-, aber trotzdem Erfahrbaren, das sich Nelly Sachs' Figuren immer wieder durch Absenz entzieht. Dagegen bringt Becketts Theater höchst spekulativ Abstraktes in die Immanenz des

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Alltäglichen, ohne auf religiös esoterische Motive und den Tod wie in Der magische Tänzer als eine endgültige Grenze zurückzugreifen. Insofern geht es in Beckett über den Umweg der Negation um die Affirmation änigmatischer Präsenz. Das Vertraute - in Krapp's Last Tape die Tonbandtechnik - ist zugleich das Fremde und Andere. Dieser der Sprache wie den Dingen inhärenten Schizophrenie kann man nicht entfliehen. Samuel Becketts Szenen akzeptieren da, wo Nelly Sachs' Szenen revoltieren. Nelly Sachs versucht mit den Texten, die dieser Studie zugrunde liegen, nicht, ihre Holocaust-Erfahrungen unmittelbar zu repräsentieren. Viel eher zeigen ihre Szenen, wie das Ringen um die Möglichkeit sprachlicher Aussagen immer wieder die Erfahrung des Exiliertwerdens vom Sprachlichen nach sich zieht. Damit allerdings vollzieht sie poetisch-sprachlich die Ursituation des Exils nach, wie sie für die jüdische Gemeinschaft existenzbestimmend wurde, und der poetologisch-sprachphilosophische Bezug auf kabbalistische Theoreme zeigt ihre Bindung an Israel auf eine ganz persönliche Weise.

Literaturverzeichnis

Α.

Primärquellen

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Ε.

Unveröffentlichte Texte und Materialien

Aus Sammlungen des Nelly Sachs-Archivs der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, der Kungl. Biblioteket Stockholm und des Leo Baeck Instituts, New York.