»Der kecke Griff nach der Bibel und die davongetragene Beute«: Studien zu Predigt und Theologie des Bremer Pfarrers Gottfried Menken (1768–1831) [1 ed.] 9783788734848, 9783788734824

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»Der kecke Griff nach der Bibel und die davongetragene Beute«: Studien zu Predigt und Theologie des Bremer Pfarrers Gottfried Menken (1768–1831) [1 ed.]
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Heinrich A. Meyer-Reichenau

FORSCHUNGEN ZUR REFORMIERTEN THEOLOGIE

»Der kecke Griff nach der Bibel und die davongetragene Beute« STUDIEN ZUR PREDIGT UND THEOLOGIE DES BREMER PFARRERS GOTTFRIED MENKEN (1768–1831)

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Forschungen zur Reformierten Theologie

Herausgegeben von Marco Hofheinz, Michael Weinrich und Georg Plasger Band 11

Heinrich A. Meyer-Reichenau

»Der kecke Griff nach der Bibel und die davongetragene Beute« Studien zu Predigt und Theologie des Bremer Pfarrers Gottfried Menken (1768–1831)

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.de abrufbar.  2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschþtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: 3w+p, Rimpar

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9287 ISBN 978-3-7887-3484-8

Porträt Gottfried Menken, Lithografie von Friedrich Adolph Dreyer, um 1830, Focke-Museum, Bremer Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte.

Geleitwort Es ist das unspezifische Etikett des Biblizismus, unter dem, wenn überhaupt, der Name des Bremer Pfarrers Gottfried Menken (1768–1831) in gegenwärtigen Theologiegeschichten begegnet. So charakterisiert etwa Wolf-Dieter Hauschild in seinem Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte Menken als den »bedeutendste[n] Vertreter« des Biblizismus, »der gegen Rationalismus und Orthodoxie die heilsgeschichtlichen Tatsachen der Bibel als unmittelbar-verpflichtende Glaubensnormen verstand«. Was bewegt einen 27-jährigen, politisch hellwachen Bremer Vikar 1968 (!) dazu, sein Vikariat zu unterbrechen, um sich in einer Dissertation mit diesem ganz im Schatten seines großen, wirkmächtigen Zeitgenossen Friedrich Schleiermacher (1768–1831) stehenden Aufklärungskritiker zu befassen? Vordergründig war es gewiss die gemeinsame Heimatstadt Bremen, mit der Heinrich Meyer, auch als er 1984 als Pfarrer in die Schweiz wechselte, bis heute verbunden geblieben ist. Den eigentlichen Anstoß gab der Abschnitt über Gottfried Menken in Karl Barths Vorlesung Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, der kräftige Spuren in der vorliegenden Dissertation hinterlassen hat. Barths MenkenPorträt verdankt sich auch das verwegene Titelzitat. Dass Heinrich Meyer aber Menken über ein halbes Jahrhundert die Treue gehalten hat und jene Arbeit, die über dem frühen Tod ihres Erstbetreuers, des Göttinger praktischen und systematischen Theologen Prof. Dr. Martin Doerne (1900–1970), und bald darauf auch des Zweitbetreuers, Prof. Dr. Ernst Wolf (1902–1971), in den Anfängen steckengeblieben war, 51 Jahre später, am 10. Dezember 2019, dem 51. Todestag Karl Barths, als 78-jähriger Pensionär an der Theologischen Fakultät der Universität Bern mit einem beeindruckenden Promotionskolloquium zum Abschluss brachte, verweist – bei aller Kritik an Menken, an der Meyer-Reichenau nicht spart – auf eine intrinsische theologische Verbundenheit. Und in der Tat verbindet die beiden Bremer Theologen so manches: die leidenschaftliche Lust am Predigen, die Wahrnehmung des Gemeindepfarramts als Ort von Theologie, das Interesse an der Bibel, insbes. am Ersten/Alten Testament, an einer dezidiert theologischen Schriftlektüre und einer gesamtbiblischen Theologie, die Suche nach Wegen aus der Krise des Schriftprinzips, das Beheimatetsein in reformierten Traditionen, das Engagement, den Glauben ins Leben zu ziehen, und womöglich auch eine gewisse Liebe zum »Sitzen zwischen allen Stühlen«, wie sie Menken in seiner doppelten Frontstellung zu Rationalismus und Orthodoxie eigen war. Immer wieder blitzen in dieser theologie- und rezeptionsgeschichtlichen Monographie zu Gottfried

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Geleitwort

Menken gegenwärtige theologische Interessen des Autors auf. Dies führt aber keineswegs dazu, dass das Abständige, das Fremde und Befremdliche des Aufklärungs- und Orthodoxie-Gegners Menken nivelliert oder gar verschwiegen wird. Heinrich Meyer-Reichenau kommt das Verdienst zu, mit seiner Dissertation die erste umfassende Monographie zur Theologie und zum Predigtwerk Gottfried Menkens vorzulegen. Mit Fug und Recht kann Meyer-Reichenau als der gegenwärtig profundeste Kenner des Menken’schen Œuvres, seiner »ascetischen«, dogmatischen und polemischen Schriften, über die Meyer-Reichenau seine Leser*innen in einem informativen Überblick (Kap. 4) orientiert, bezeichnet werden. Entsprechendes gilt für die Arbeiten über Menken, die hier – weit über den Forschungsbericht in Kap. 2 hinaus – referiert und diskutiert werden. Meyer-Reichenaus Menken-Monographie ist theologisch interdisziplinär, indem sie theologiegeschichtliche, biblisch-theologische, dogmatische, homiletisch-hermeneutische, kirchenpolitische und rezeptionsgeschichtliche Studien verknüpft. Auch poimenische Aspekte (die Anfechtung des Predigers) finden Berücksichtigung. Der systematisch-theologische Schwerpunkt liegt auf der kenotischen Christologie Menkens mit ihrer Kritik am Erbsünden-Dogma, eingebettet in die Darstellung der Menken’schen Versöhnungslehre (im Gegenüber zu Augustin und – vermeintlich? – zu Anselm) einerseits, auf der chiliastischen Real-Eschatologie mit ihrer Hochschätzung der eschatischen Leiblichkeit im Horizont der Geschichtstheologie Menkens andererseits. Homiletisch-hermeneutisch fokussiert Meyer-Reichenau auf Lehrpredigten zur Geschichte Israels und setzt sich dabei kritisch mit deren christologischer Typologie auseinander, entdeckt aber vor allem Menken als Erneuerer der alttestamentlichen Predigt im 19. Jahrhundert. Theologiegeschichtlich problematisiert Meyer-Reichenau von Anfang an die herkömmliche Charakterisierung Menkens als Erweckungstheologe und bietet eine umsichtige Erschließung seiner theologischen, frömmigkeits- und mentalitätsgeschichtlichen Prägungen und Wirkungen. Meyer-Reichenaus Promotionsschrift ist aber mehr als ein starkes Stück Theologiegeschichte, wurzelnd im reformierten Mutterboden Bremens. Sie ist auf ihre Weise auch ein Beitrag zur Dialektik der Aufklärung, an die Menken gerade in seinem heftigen Widerspruch gegen sie gebunden bleibt. Sie erinnert an einen weithin in Vergessenheit geratenen Pfarrer, der – wenn auch in seinen Predigten wohl nicht selten über die Köpfe und die Lebenswirklichkeit seiner Zuhörer*innen hinweg – sich zeitlebens an dem Versuch abgearbeitet hat, angesichts der aufkommenden historischen Bibelkritik die Bibel als ein kanonisch einheitliches Zeugnis einer göttlichen Heilsgeschichte theologisch zu lesen. Diesen Theologen jenseits der akademischen Institutionen gilt es wiederzuentdecken, um – herausgefordert von seinem Widerspruch gegen Aufklärung und Orthodoxie – heute nach Wegen zu suchen, die Bibel ins Gespräch zu bringen und mit Leidenschaft theologisch zu arbeiten.

Geleitwort

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Mich beeindruckt das von Meyer-Reichenau anschaulich vor Augen gestellte Dass des Engagements Menkens für eine theologische Lektüre der Bibel, für eine Wahrnehmung der Geschichte Israels, für die Predigt alttestamentlicher Texte, für eine unumstößliche Providenzgewissheit, für eine Christologie des heruntergekommenen Gottes, für die Einsicht in die aufrichtende Gerechtigkeit Gottes … – doch im Blick auf das Wie von alledem evozieren die Texte Menkens bei mir nicht selten Kopfschütteln und heftigen Widerspruch. Menken provozierte. Und an ebendiese Provokation erinnert Heinrich MeyerReichenau – gegen alle Vergleichgültigung. Mögen diese Menken-Studien neugierige, aufmerksame Leser*innen finden, die sich von ihnen verlocken lassen, zu den Texten des Bremer Pfarrers selbst zu greifen, und Forscher*innen, die auf dem hier gelegten Fundament – in Zustimmung und Abgrenzung – entschlossen weiterarbeiten. Karl Barth nannte in seinem Porträt Menken einen »Bremer Lokalheilige[n …], eine an ihrer Stelle notwendige Figur«. Könnte es nicht sein, dass heute vergleichbare Nöte der Wendung bedürfen? Bern, im August 2020

Magdalene L. Frettlöh

Vorwort Die vorliegende Monographie zur Predigt und Theologie des Bremer Pfarrers Gottfried Menken ist am 10. Dezember 2019 von der Theologischen Fakultät der Universität Bern als Inauguraldissertation angenommen worden. Für den Druck wurde das letzte Kapitel überarbeitet. Am Ende meines Theologiestudiums begonnen, brachte der frühe Tod meiner Göttinger Professoren Martin Doerne und Ernst Wolf, die meine Dissertation begleitet hatten, die Arbeit zum Stillstand. Während der jahrzehntelangen Zeit meines Wirkens als Gemeindepfarrer in Bremen und in der Schweiz ließ mich jedoch die Beschäftigung mit Gottfried Menken nicht los, und nach der Pensionierung dachte ich daran, ein Buch über Menken zu schreiben. Dann aber ermutigte mich Prof. Dr. Magdalene L. Frettlöh, die Dissertation doch wieder aufzunehmen und bei ihr zu beenden. Ihr verdanke ich den entscheidenden Impuls und die sehr hilfreiche Begleitung im Doktorat. Die Zusammenarbeit mit ihr und dem Korreferenten Prof. Dr. Peter Opitz in Zürich half mir, in den nach 50 Jahren deutlich veränderten akademischen Verhältnissen wieder Fuß zu fassen. Als sehr nützlich erlebte ich auch die Teilnahme am Ökumenischen Forschungskolloquium zur Systematischen Theologie unter der Leitung von Magdalene L. Frettlöh und Prof. Dr. Andreas Krebs, in dem wir das Werden unserer Dissertationen und Habilitationen gegenseitig solidarisch-kritisch verfolgen konnten. Ich danke allen, die mit mir unterwegs waren, für die Anteilnahme an meinem Projekt. Statt am Anfang meiner pfarramtlichen Tätigkeit steht die Dissertation nun an ihrem Ende. Natürlich spielte der biographische Aspekt dabei eine Rolle. Ich hatte etwas Wichtiges angefangen und wollte es zu Ende bringen. Meine eigene theologische Erfahrung und Entwicklung verliehen dem Dissertationsprojekt eine neue Aktualität. Viele theologische Diskurse während meiner Lebenszeit seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts betreffen zentrale Themen der Dissertation. Vor allem das Bemühen und der Streit um eine der Bibel angemessene Hermeneutik, die bis heute anhaltende Krise des reformatorischen Schriftprinzips und die Auseinandersetzung um die kanonische Geltung des Alten Testaments. Meine Liebe zum Alten Testament vertiefte sich durch die Begegnung mit dem lebendigen Judentum heute im christlich-jüdischen Dialog und durch die Lektüre jüdischer Auslegungen der Schrift. Dies führte mich zu einer Distanzierung von der pauschalen christologischen Hermeneutik des Alten Testaments und zu neuem Hören auf sein eigenes Wort. Die fortdauernde Praxis der historisch-kritischen Bibelauslegung hatte die negative Konsequenz, dass die Schrift in lauter Einzelteile zerfiel und ihre

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Vorwort

Einheit zum Problem wurde. So entstand in den letzten Jahrzehnten das anspruchsvolle Projekt einer Biblischen Theologie. Es war sich seiner Vorläufer bewusst. Zu ihnen zählt auch Gottfried Menken als Vertreter heilsgeschichtlicher Theologie, die im Ringen um eine Biblische Theologie ihr Pro und Contra fand. Als gegenwärtiges Pendant zur Theologie Menkens kann auch der neue Diskurs um die Versöhnungslehre, speziell um die Biblizität und Zeitgemäßheit der Lehre Anselms, genannt werden, der sich in einer reichhaltigen Literatur niederschlug. Schließlich fordern sich der homiletische Aufbruch zu einer hörer*innenorientierten Predigt nach dem zweiten Weltkrieg und Menkens schriftzentrierte Predigt zu gegenseitiger Kritik heraus. Das Studium der Predigtarbeit Menkens mit ihrer im Kampf gegen die Aufklärung forcierten Einseitigkeit kann so ein Gewinn für den Lernprozess heutigen Predigens sein. Karl Barth hat in seiner letzten Vorlesung Einführung in die evangelische Theologie als Motto für die theologische Arbeit formuliert: «Fortfahren heißt in der theologischen Wissenschaft immer: noch einmal mit dem Anfang anfangen.» Ungewollt ist mir dies ganz konkret mit meiner Dissertation widerfahren. Aber ich habe es auch im tieferen Sinne Barths erfahren. Viel zu danken habe ich der Erstbegleiterin Prof. Dr. Magdalene L. Frettlöh auch für ihr treffliches Geleitwort, und dem Zweitbegleiter Prof. Dr. Peter Opitz/Universität Zürich. Für die freundliche Atmosphäre im Kolloquium zur Dissertation danke ich außer diesen beiden dem Alttestamentler Prof. Dr. Andreas Wagner und dem Kirchengeschichtler Prof. Dr. Martin Sallmann. Gute technische Hilfe beim Korrekturlesen leisteten Andreas Frei und Matthias Käser. Ihnen sei ebenso herzlich gedankt wie Jonas Meier für die so überaus sorgfältige Korrekturlektüre der Druckfassung. Für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftreihe Forschungen zur Reformierten Theologie danke ich Prof. Dr. Georg Plasger und dem Herausgeberkreis, für kompetente Hilfe bei der Drucklegung der Lektorin Miriam Espenhain im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Schließlich danke ich meiner Frau Elisabeth Reichenau, die mit ihrer Geduld und manchen kritischen Gesprächen eine unschätzbare Begleiterin war. Druckkostenzuschüsse haben der Synodalrat der Evangelisch-Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn, der Kirchenausschuss der Bremischen Evangelischen Kirche und die Gesellschaft zu Mittellöwen Bern gesprochen. Auch dafür danke ich herzlich. Möge meine Arbeit ein neues Interesse an Gottfried Menken wecken und die vertiefte Beschäftigung mit seiner Predigt und Theologie – auch im notwendigen Widerspruch – die gegenwärtige theologische Arbeit fördern. Bern, im August 2020

Heinrich A. Meyer-Reichenau

Inhalt

1.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.

Forschungsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Biographische Arbeiten zu Gottfried Menken . . . . . . . . . 2.1.1 Die Biographie Carl Hermann Gildemeisters . . . . . 2.1.2 Der Aufsatz »Gottfried Menken (1768–1831). Einiges aus seinem Leben und Wirkungskreis« von Bodo Heyne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Porträtskizzen und Lexikonartikel . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die frühe Würdigung in der Schrift von Johann Ernst Osiander: »Zum Andenken Dr. Gottfried Menkens, weiland Pastor Primarius an St. Martini in Bremen« (1832) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 »Gottfried Menkens Homilien in Auswahl mit Einleitung von Dr. E. Chr. Achelis« (1888) . . . . . . . 2.2.3 Die Artikel von Max Goebel und E.F.K. Müller in der Realenzyklopädie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Zu weiteren Lexikonartikeln über Gottfried Menken . 2.3 Gottfried Menken in kirchengeschichtlichen Werken . . . . . 2.3.1 Menken als Wegbereiter der Bremer Erweckungsbewegung im Werk Otto Wenigs »Rationalismus und Erweckungsbewegung in Bremen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Ist Gottfried Menken ein exemplarischer Vertreter der Erweckungsbewegung? Die These von Kurt Dietrich Schmidt sowie die Einordnung bei Erich Beyreuther und Horst Weigelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27 27 27

3.

Der theologie- und geistesgeschichtliche Kontext Gottfried Menkens –frömmigkeitsgeschichtliche und theologische Prägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Gottfried Menken in Darstellungen der protestantischen Theologiegeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Hermann Cremer . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Martin Kähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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30 31 34 36 36

36

38

. . .

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. . . . . . . . .

42 42 43

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Inhalt

Die besondere Würdigung Gottfried Menkens bei Karl Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3.1 Die grundsätzliche Einstellung Barths zur Theologiegeschichte im 19. Jahrhundert . . . . 3.1.3.2 Respekt, Wertschätzung und Übereinstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3.3 Barths Kritik an Menken . . . . . . . . . . . . 3.1.3.4 »Irreguläre Dogmatik« oder unwissenschaftliche Theologie? . . . . . . . . 3.1.4 Distanzierung vom »Diastatiker« Menken – die Sicht Emanuel Hirschs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.5 Gottfried Menken im Werk Jan Rohls »Protestantische Theologie der Neuzeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.6 Offene Fragen der Forschung zu Gottfried Menken in der Kirchen- und Theologiegeschichte . . . . . . . . . Frömmigkeitsgeschichtliche und theologische Prägungen Menkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Bremer Mutterboden: die Föderaltheologie und der reformierte Pietismus – Johannes Coccejus, Friedrich Adolph Lampe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.1 Eine reformierte Landeskirche mit lutherischem Kirchenregiment des Staates . . 3.2.1.2 Spätpietismus und Aufklärung in Bremen . . . 3.2.1.3 Johannes Coccejus und der reformierte Pietismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.4 Gottfried Menken und Johannes Coccejus . . . 3.2.2 Das Studium in Jena und Duisburg – der Pietismus am Niederrhein: die Brüder Hasenkamp und Samuel Collenbusch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Das Studium in Jena und Duisburg . . . . . . 3.2.2.2 Der Eintritt in den Collenbusch-Kreis – die Brüder Hasenkamp . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.3 Menken wird ein begeisterter Schüler von Samuel Collenbusch . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Der Württembergische Pietismus – Johann Albrecht Bengel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Johann Gottfried Herder und Johann Georg Hamann – Enttäuschung und Begeisterung . . . . . . . . . . .

3.1.3

3.2

4.

45 45 47 51 53 54 58 59 60 60 61 64 66 70 73 73 76 78 92 99

Das Werk Gottfried Menkens im Überblick: »ascetische«, dogmatische und polemische Schriften (Grundlagen der Predigtund Werksanalysen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.1 Das Predigtwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 4.1.1 Die Predigtsammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

Inhalt

Einzeln veröffentlichte Predigten und eine öffentliche Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Schriftauslegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exegetisch-dogmatische Schriften . . . . . . . . . . . . . . . Dogmatische Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die polemischen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Briefsammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.1.2 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 5.

Predigen im Horizont der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Gottfried Menken in den Werken zur christlichen Predigtgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Die Problematik der christlichen Predigtgeschichten und ihr begrenzter Erkenntnisgewinn . . . . . . . . . 5.1.2 Gottfried Menken in den Darstellungen der christlichen Predigtgeschichten – ein zusammenfassender Überblick . . . . . . . . . . . . . 5.2 Aspekte der prinzipiellen Homiletik bei Gottfried Menken . . 5.2.1 Die Krise des Predigtamtes in der Aufklärung . . . . . 5.2.2 Die neue Homiletik der Neologie – das Beispiel Johann Joachim Spaldings . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Das Verständnis des Predigtamtes bei Gottfried Menken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4 Die angefochtene Existenz des Predigers im Kampf gegen die Aufklärung – Menkens Briefe an den Freund Henrich Nicolaus Achelis . . . . . . . . . . . . 5.3 Die Predigttexte Gottfried Menkens und Vorüberlegungen zur Predigt-Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Die Predigttexte Gottfried Menkens . . . . . . . . . . 5.3.2 Zur Methode der Predigtanalyse . . . . . . . . . . . . 5.4 Aspekte der formalen Homiletik im Predigtwerk Menkens . . 5.4.1 Die Bevorzugung der Predigtform der Homilie in ihren verschiedenen Gestalten . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Exkurs: Zur Praxis der homiletischen Predigtform in der christlichen Predigtgeschichte . . . . . . . . . . . 5.4.3 Die Predigtform der Homilie – zwei Beispiele . . . . . 5.4.4 Der narrative Predigtstil . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4.1 Erstes Beispiel: die Homilie über Johannes 11,1–16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4.2 Zweites Beispiel: die Homilie über 2Kön 5,1–12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.5 »Texthomiletik« und das Problem der applicatio . . . 5.4.6 Zur Sprache der Homilien Menkens . . . . . . . . . .

15 116 117 119 121 124 125 127 127 127 130 134 134 141 149 152 158 158 159 161 161 163 166 174 176 178 181 184

16 6.

7.

8.

Inhalt

Das reichsgeschichtliche Schriftverständnis Gottfried Menkens und das Problem des Biblizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die Herrlichkeit der Bibel, ihre Wahrheit und Göttlichkeit – und ihre Menschlichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Der Positivismus der Offenbarung und die Ablehnung einer natürlichen Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die geschichtliche Offenbarung – Heilsgeschichte als Reichsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Das Alte Testament als fundamentaler und konstitutiver Bestandteil der Heiligen Schrift – die Theokratie als Deutungskategorie der Geschichte Israels . . . . . . . . . . 6.4.1 Das Alte Testament in der Theologie der Aufklärung 6.4.2 Die Theokratie als Deutungskategorie der »heiligen Geschichte« Israels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Die Auslegung der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Die Auseinandersetzung mit der Hermeneutik der Aufklärung in der »Dämonologie« . . . . . . . . . . . . . . 6.7 Biblische Orthodoxie statt kirchliche Orthodoxie . . . . . . 6.8 Der Begriff und das Problem des Biblizismus . . . . . . . . Israel und seine »heilige Geschichte« – Homiletik des Alten Testaments im Predigtwerk Gottfried Menkens . . . . . . . . . . 7.1 Israels Erwählung, Verpflichtung und Bestimmung . . . . . 7.1.1 Drei Lehrpredigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Zur exegetischen und dogmatischen Analyse . . . . 7.2 Kerygmatische Erschließung von »heiliger Geschichte« – der Zyklus der Eliaspredigten als Paradigma . . . . . . . . 7.3 Individuelle Heilsgeschichte im Alten Testament – das Beispiel der 14 Homilien zur »Erklärung des elften Kapitels des Briefes an die Hebräer« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Christologische Typologie in der Schrift »Ueber die eherne Schlange und das symbolische Verhältniss derselben zu der Person und Geschichte Jesu Christi« (Num 21,4–9) . . . . . 7.5 Die Problematik der christologischen Interpretation des Alten Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Zur Bedeutung Menkens für die Erneuerung der alttestamentlichen Predigt im 19. Jahrhundert . . . . . . . .

. 186 . 186 . 192 . 197 . 201 . 202 . 205 . 210 . 213 . 219 . 226 . . . .

234 234 234 240

. 244 . 251 . 258 . 261 . 263

Die kenotische Christologie und die Versöhnungslehre Gottfried Menkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 8.1 Die ganze Heilsgeschichte in einer Predigt – eine Osterpredigt über Röm 14,9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 8.2 Anthropologische Voraussetzungen: die Prüfung Adams und das Unrechtleiden seiner Nachkommen . . . . . . . . . . . . 273

17

Inhalt

8.3 8.4 8.5

8.6 9.

Die kenotische Christologie Menkens – das Prüfungsleiden des zweiten Adam Jesus Christus und seine Erhöhung zum Alleinherrn und König des Reiches Gottes . . . . . . . . . . . Die Versöhnungslehre Menkens als Gegenentwurf zum »augustinisch-anselmischen System« . . . . . . . . . . . . . . Errettende anstatt strafender Gerechtigkeit – die Versöhnung Gottes im Zeugnis der ganzen Schrift . . . . . . . . . . . . . 8.5.1 Die Perikope von der bronzenen Schlange in Num 21,1–9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.2 Der Hebräerbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dogmatische Analyse und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . .

Die Frage nach der Kirche und der Einsatz für eine kirchliche Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Das Reformationsjubiläum 1817 und die unerledigten Aufgaben des Protestantismus – Menkens Predigt zum 31. Oktober 1817 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Wo ist die Kirche? Bibelverehrung und Antikonfessionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Die Bemühungen um die Bildung unierter Kirchgemeinden in Bremen und das Erfolgsbeispiel Vegesack . . . . . . . . .

275 278 283 283 285 287

. 293 . 293 . 298 . 302

10. Die chiliastische Realeschatologie und die Geschichtstheologie Gottfried Menkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Die chiliastische Realeschatologie . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.1 Zur Entstehungs- und Traditionsgeschichte und zur Begrifflichkeit des Chiliasmus . . . . . . . . . . . . . 10.1.2 Realeschatologie in der Zweifrontenstellung gegen die Aufklärung und die kirchliche Orthodoxie . . . . . . . 10.1.3 Leiblichkeit: »das Ende der Werke Gottes« – die Kontinuität der menschlichen Existenz in der neuen eschatischen Leiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.4 Hoffnung für Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Die Geschichtstheologie Gottfried Menkens . . . . . . . . . . 10.2.1 Prophetische Geschichtstheologie gegen den Fortschrittsglauben der Aufklärung – die menschliche Geschichte in der Providenz Gottes und in der Korrelation zum Reich Gottes . . . . . . . . . . . . . . 10.2.2 Naherwartung in napoleonischer Zeit – die Deutung des Monarchienbildes Daniel 2 . . . . . . . . . . . . . 10.2.3 Prophetische Schriftauslegung in der nachreformatorischen Zeit und ihre humanistische Transformation in der Aufklärung: Theologiegeschichte und Kritik . . . . . . . . . . . . .

306 306 306 309 316 322 326

326 333

337

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Inhalt

10.2.4 Die Welt ist angezündet! Angewandte Geschichtstheologie in der Flugschrift »Ueber Glück und Sieg der Gottlosen« . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 11. Zur Wirkungsgeschichte Gottfried Menkens . . . . . . . . . . . . . 11.1 Menkens Einfluss auf die Erweckungsbewegung . . . . . . . 11.1.1 Die Nachwirkung des Biblizismus und der Ablehnung der Bibelkritik der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . 11.1.2 Die konservative Ethik und die positivistische Staatsauffassung – die Linie von Gottfried Menken zu Friedrich Julius Stahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Gottfried Menken als Vorläufer und Wegbereiter der heilsgeschichtlichen Theologie des 19. Jahrhunderts – der Einfluss Menkens auf die Erlanger Schule, speziell auf Konrad von Hofmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2.1 Theologie des subjektiven Glaubensbewusstseins oder heilsgeschichtliche Theologie? . . . . . . . . . . . . . 11.2.2 Übereinstimmungen in der Christologie und in der Versöhnungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Zur Wirkungsgeschichte der kenotischen Christologie Menkens im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . 11.3.1 Die alte Kenotik des 17. Jahrhunderts und die moderne Kenotik des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . 11.3.2 Fleischwerdung und nicht nur Menschwerdung – die Rezeption der soteriologischen Kenotik Menkens bei Karl Barth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.4 Albrecht Ritschl – das Gottesbild ohne dunkle Seiten . . . . . 11.5 Martin Kähler – »Bibelverehrung« aber kein Biblizismus . . . 11.5.1 Die vielfältigen Einflüsse auf Kählers theologische Entwicklung und die Schwierigkeiten der Kählerdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.5.2 Die Entdeckung Menkens – Begeisterung, aber kritische Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.6 Karl Barth – die Entdeckung Menkens im Aufbruch zum Römerbrief und zur Kirchlichen Dogmatik . . . . . . . . . .

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12. Fazit – Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 12.1 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 12.2 Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 Literaturverzeichnisse . . . . . . . Schriften Gottfried Menkens . Literatur zu Gottfried Menken Weitere Literatur . . . . . . . .

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Die Zeit Gottfried Menkens – chronologische Übersicht . . . . . . 405 Ausgewählte Predigten Menkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Antrittspredigt in St. Martini vom 25. August 1811 über 2 Kor 1,24 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Letzte Predigt vom 6. Juni 1823 über Ps 103,14–17 . . . . . 3. Homilie vom 1. Mai 1796 über Joh 11,1–16 . . . . . . . . . 4. Homilie vom 24. Oktober 1819 über 2 Kön 5,1–12 . . . . . 5. Homilie vom 16. Juli 1797 über 2 Mose 19,3–6 . . . . . . . 6. Vorrede zu den »Christlichen Homilien über Stellen aus der Geschichte des Propheten Elias« vom 23. März 1803 . . . . 7. Homilie vom 21. März 1813 über Hebr 11,1.2 . . . . . . . . 8. Osterpredigt vom 28. März 1797 über Röm 14,9 . . . . . . . 9. Predigt am Reformationsfest 1817 über Hebr 10,2 . . . . .

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1. Einführung »Der kecke Griff nach der Bibel und die davongetragene Beute«: Der Titel dieser Studien zu Predigt und Theologie Gottfried Menkens ist ein Zitat und bedarf der Erklärung. Nach der Bibel griffen und greifen unzählige Menschen, solange es das Buch der Bücher gibt und es für alle zugänglich ist. Unzählige Menschen suchen darin Erbauung, Stärkung des Glaubens, Trost. Viele tun es täglich. Die Bibel ist die Ur-Kunde des christlichen Glaubens. Deshalb greifen nach der Bibel auch die Theologen und Theologinnen, um ihre Texte zu verstehen und zu erklären, um zu erfassen, was christlicher Glaube ist nach der Heiligen Schrift. Und dies von Generation zu Generation. Das Titelzitat dieser Arbeit stammt von Karl Barth; mit ihm charakterisiert Barth das Wirken des Bremer Pfarrers Gottfried Menken. Barth widmet Menken eine ausführliche Porträtskizze in seinem theologiegeschichtlichen Werk Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert1 und geht auch in seiner Kirchlichen Dogmatik auf Menken ein.2 Im Barth-Zitat »Der kecke Griff nach der Bibel und die davongetragene Beute« drückt sich eine kritische Würdigung Menkens aus.3 Gottfried Menken ist ein reformierter Theologe und Bremer Pfarrer, der in der Spätphase der Aufklärung gelebt und die Aufklärung entschieden abgelehnt hat. Bei Menken kommt es zu einer Erneuerung des altprotestantischen Schriftprinzips, aber in biblizistischer Form. »Der kecke Griff nach der Bibel« will eine Ambivalenz ausdrücken: das Positive und Hoffnungsvolle einer entschiedenen Hinwendung zur Bibel in ihrer Einheit aus Altem und Neuem Testament und zugleich ihre eigenmächtige Auslegung, ein »Bibel-Absolutismus«, der sich nicht mehr gebunden weiß an die kirchliche Dogmatik, der dadurch – unbewusst – unter 1 Barth, Die protestantische Theologie, 469–483. 2 Barth bezieht sich auf Menken in: KD I/1, 294; I/2, 168. 678 f. und KD III/4, 638. 3 Barth stellt in seiner Porträtskizze »das Verheißungsvolle des biblizistischen Prinzips am Inhaltlichen der Menkenschen Theologie und Predigt« heraus und urteilt: »Hier sind entscheidende Dinge in vorteilhaftem Gegensatz nicht nur zu der idealistischen Theologie, sondern auch zu der der Erweckung und zu der der alten Orthodoxie, ja weithin auch zu der der Reformatoren selbst, zunächst rein exegetisch wieder gesehen und dann auch kraftvoll wieder ausgesprochen und verkündigt worden. Menken sagt einmal sehr richtig: Es sei auffallend, dass man bloß einfältig und lebendig nach der Schrift von diesen Dingen zu reden brauche, um Alten und Jungen etwas Neues zu sagen […]. Christus realer Sieger, realer König und darum: Christus unsere reale Hoffnung, die zweite Bitte des Unser-Vaters real verstanden in einer Weise, wie sie (wegen allzu großer Vorsicht gegenüber dem ›Chiliasmus‹ selbst bei Luther nicht verstanden war – diese bei jenem kecken Griff nach der Bibel davongetragene Beute rechtfertigt offenbar jenen Griff bei aller Bedenklichkeit, von der der umgeben war.« Barth, Die protestantische Theologie, 477.480, Hervorhebung H. M.R..

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den Einfluss des verhassten Zeitgeistes, der Zeitphilosophie und theologischer Sonderlehren gerät, und dabei doch eine Beute davonträgt, die Vergessenes, Verdrängtes ans Licht bringt und es dem zukünftigen theologischen Diskurs vermittelt. Gottfried Menken wurde schon zu Lebzeiten durch die Veröffentlichung von Predigtsammlungen und Schriftauslegungen weit über seine Heimatstadt Bremen hinaus bekannt und in gleichgesinnten Kreisen hochgeschätzt. Die Verleihung des Ehrendoktortitels der (lutherischen!) Universität Dorpat im Baltikum im Jahr 1828 zeigt, wie weit sein Einfluss schon früh reichte. Obwohl seine Bedeutung und seine Wirkung immer wieder betont wurden, fehlt bis heute eine umfassende Untersuchung seiner Theologie und seines Predigtwerkes sowie eine Erforschung ihrer Wirkungsgeschichte. Das erkenntnisleitende Interesse dieser Arbeit hat zwei Schwerpunkte. Zum einen geht es um das Bibelverständnis Menkens, um seine Hermeneutik in der Auseinandersetzung mit der historischen Bibelkritik der Aufklärung und ihren Unterschieden zur altprotestantischen und zur reformatorischen Bibelhermeneutik. Barth spricht vom »eigentümlichen Verfahren des sog. Biblizismus« und bezeichnet es »als interessantes Randphänomen des Neuprotestantismus, für dessen Existenz und Wesen der in der Theologiegeschichte viel zu wenig beachtete Gottfried Menken (1768–1831) in Bremen vor Anderen bezeichnend ist.«4 Was kennzeichnet diesen Biblizismus? Wie ist er theologiegeschichtlich zu verorten? In welcher Tradition steht Menken mit diesem Bibelverständnis und diesem Bibelgebrauch? Von Haus aus ist Menken im reformierten Bremer Pietismus verwurzelt. Aber kann er der spätpietistischen Erweckungsbewegung zugeordnet werden, die sich dann im 19. Jahrhundert zu einer bedeutenden Form protestantischen Glaubens und evangelischer Frömmigkeit entwickelt? Die vorliegende Arbeit möchte den theologiegeschichtlichen Ort Menkens präziser erfassen. Das Spezifische der Bibeltheologie Menkens kann nicht der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts zugeordnet werden. Vielmehr lautet meine These: Menken ist vor allem ein Vorläufer und Wegbereiter der heilsgeschichtlichen Bibeltheologie des 19. Jahrhunderts, die ihre Wurzeln in der Föderaltheologie des Johannes Coccejus, im niederrheinischen Pietismus Samuel Collenbuschs und im Württemberger Pietismus Johann Albrecht Bengels und Friedrich Christoph Oetingers hat und ihre systematische Ausformung in der konservativen Theologie des 19. Jahrhunderts bei den Heilsgeschichtlern findet, vor allem bei Johann Christian Konrad von Hofmann, bei Johann Tobias Beck und Carl August Auberlen. Theologiegeschichtlich relevant sind neben dem Biblizismus Menkens besonders seine kenotische Christologie, seine Versöhnungslehre, die eine Alternative zur Satisfaktionstheorie der überkommenen kirchlichen Dogmatik bieten will, und seine chiliastische Eschatologie und Geschichtstheo4 Barth, KD I/2, 678.

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logie, hinter denen die Erfahrung der französischen Revolution und der sogenannten Koalitionskriege steht. Am Biblizismus Menkens, an seiner Christologie und Versöhnungslehre und an seiner Geschichtstheologie werden sein immer wieder beschworener weitreichender Einfluss in der Theologie- und Kirchengeschichte konkret erfassbar. Der Biblizismus Menkens, den dieser selbst im Gegensatz zum Zeitgeist der Aufklärung versteht und den Barth doch neben allem Positiven und Hoffnungsvollen, das er ihm abgewinnen kann, gerade für einen Ausdruck des absolutistischen Zeitgeistes der Aufklärung hält, ist durch die historischkritische Bibelexegese, die die Menschlichkeit der biblischen Texte ganz ernstnimmt und die sich mit Recht durchgesetzt hat, widerlegt. Menkens reichsgeschichtliche Bibelhermeneutik ist eine dogmatische Konstruktion und spiegelt den rationalistischen Geist der späten Aufklärung wider. Wie steht es aber mit dem reformatorischen Schriftprinzip selbst? Was heißt Bibeltreue heute, wenn sie nicht mit dem Biblizismus Menkens eingelöst werden kann? Das reformatorische Schriftprinzip ist heute nicht mehr unbestritten gültig.5 Seit Jahrzehnten ist von einer Krise des Schriftprinzips die Rede. Ursache dieser Krise ist vor allem die immer genauere Entdeckung der innerbiblischen Vielstimmigkeit durch die historisch-kritische Hermeneutik. Deshalb sind die hier vorgelegten Studien zu Predigt und Theologie Menkens – bei allem theologiegeschichtlichen Gewicht – zugleich von einem Gegenwartsinteresse geleitet. Auch das biblizistische Verfahren Menkens stellt uns – 500 Jahre nach dem Beginn der Reformation – vor die Frage, was heute schriftgemäß heißt, wie das reformatorische Schriftprinzip sola scriptura heute zu verstehen ist und was es für die Dogmatik und für die Predigt bedeutet. Gottfried Menken war kein Theologieprofessor, sondern ein reformierter Pfarrer. Seine Veröffentlichungen sind überwiegend Predigtsammlungen und Schriftauslegungen. Deshalb bildet die Untersuchung seines Predigtwerkes den zweiten Schwerpunkt dieser Arbeit. Menken predigte im Horizont der Aufklärung.6 In der Aufklärung geraten der Beruf des Pfarrers und sein Predigtauftrag in eine Krise. Man fragt nach der Nützlichkeit des Predigtamtes und findet sie in der Ausrichtung einer Lehre der Tugend und Moral, die man nach der Hermeneutik der Neologie in der Bibel findet. Menken musste sich seiner Identität als reformierter Pfarrer und Prediger vergewissern, das Verständnis der Predigt klären und eine Homiletik entwickeln, die seiner Bibel5 Vgl. dazu die Beiträge des Heidelberger Arbeitskreises: Jochum-Bortfeld/Kessler, Schriftgemäß. 6 Der pauschalisierende Begriff »die Aufklärung« entspricht dem Sprachgebrauch Menkens, der selbst nicht differenziert. Karl Aner unterscheidet in der Entwicklung der Aufklärung drei Perioden: den Wolffianismus, die Neologie und den Rationalismus, die vom jeweiligen Verhältnis von Vernunft und Offenbarung bestimmt sind. Die Bezeichnung der gesamten Aufklärung als Rationalismus ist nach Aner abzulehnen: »Unter Rationalismus im strengen Sinn kann nur die dritte Periode der Aufklärung – nach Wolffianismus und Neologie – verstanden werden.« Vgl. Aner, Lessingzeit, 357. Menken lebte und wirkte in der Spätphase der Aufklärung, die nur noch eine Religion der Vernunft kennt und nicht mehr von Offenbarung spricht.

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theologie entsprach und im bewussten Gegensatz zur Homiletik der Aufklärung stand. Menken hat mit seinen Predigten Aufsehen erregt und zunehmend Erfolg gehabt. Sein Kampf aber gegen die Aufklärung und sein Leiden unter dem von ihm verurteilten Zeitgeist hat auch seine persönliche Existenz als Pfarrer in dieser Zeit überschattet, bis sich der Zeitgeist im Laufe des 19. Jahrhunderts änderte. Davon zeugen Menkens Briefe. Als herausragender Prediger ist Menken vom frühen 19. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert in den Darstellungen der christlichen bzw. protestantischen Predigtgeschichte berücksichtigt worden. Diese Darstellungen beschränken sich auf generelle Kennzeichen der Predigten Menkens, die dann von Predigtgeschichte zu Predigtgeschichte weitergegeben werden. Es fehlt eine genauere Analyse der Predigten, die nach ihrer Schrifthermeneutik, nach ihrer Dogmatik und Homiletik fragt. Dies soll an ausgewählten Predigten, die im Anhang zugänglich sind, durchgeführt werden. Die so intendierte detailliertkonkrete Analyse alter Predigten verfolgt nicht nur einen historischen Zweck. Sie kann helfen bei der Frage, wie denn heute zu predigen ist oder wie heute nicht mehr gepredigt werden kann. Als Quellen stehen zur Verfügung: »Des Dr. theol. Gottfried Menken Schriften. Vollständige Ausgabe«. Diese »Vollständige Ausgabe«, 27 Jahre nach Menkens Tod von C. H. Gildemeister u. a. in Bremen herausgegeben, enthält in sieben Bänden alle von Menken selbst veröffentlichen Schriften. Gildemeister hatte selbst noch Zugang zu einem Großteil der Korrespondenz Menkens und hat daraus in seiner zweibändigen Menkenbiographie Leben und Wirken des Dr. Gottfried Menken weiland Pastor Primarius zu St. Martini in Bremen (1860) reichlich zitiert. Die Briefe Menkens an den Freund Henrich Nicolaus Achelis hat Gildemeister gesondert veröffentlicht (1859).7 Teile der Korrespondenz – Briefe von und an Menken – sind heute noch im Staatsarchiv Bremen, in der Gottfried Menken-Schule in Bremen und im Archiv Barmen (Briefe von Collenbusch an Menken) zugänglich. In der Landeskirchlichen Bibliothek Bremen befinden sich Predigtsammlungen und Einzelpredigten, die nach Menkens Tod von Freunden und Anhängern Menkens herausgegeben wurden, und Predigtnachschriften von Hörerinnen aus der Bremer Zeit.8 Da Menkens theologische Entwicklung bereits sehr früh abgeschlossen war und sein theologisches System wie auch seine Homiletik eine bemerkenswerte Kontinuität aufweisen, bietet die siebenbändige Gesamtausgabe der Schriften, deren Texte von Menken selbst veröffentlicht wurden, ausreichendes Material für die Studien dieser Arbeit. Das methodische Vorgehen dieser Studien steht vor dem Problem einer angemessenen wissenschaftlichen Analyse alter Predigten. Predigt ist zunächst mündliches Wort, das in einer bestimmten Zeit und Situation zu einer bestimmten Gruppe von Menschen gesprochen wird. Wenn Predigten ver7 Vgl. Menken, Briefe. 8 Vgl. dazu die Übersicht im Literaturverzeichnis 12.1.

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schriftlicht und als Lesepredigten veröffentlicht werden, verändern sich die für das Predigtgeschehen wesentlichen Faktoren. Es stellt sich die Frage nach einer unter diesen veränderten Bedingungen sinnvollen und angemessenen Methode der Predigtanalyse. Auf sie wird im fünften Kapitel dieser Arbeit, das die prinzipielle und formale Homiletik Menkens behandelt, eingegangen. Der Aufbau der Dissertation berücksichtigt, dass die Theologie Menkens im Dienst seiner Predigtarbeit steht: Zunächst werden die Arbeiten zur Erforschung Menkens erfasst (Kap. 2) und sein theologie- und geistesgeschichtlicher Kontext untersucht (Kap. 3), wobei auch die Rezeption Menkens in den Arbeiten zur protestantischen Theologiegeschichte berücksichtigt wird. Das 4. Kapitel gibt einen Überblick über das Ensemble seiner Predigtsammlungen und Schriftauslegungen. Ein erster Hauptteil ist dem Predigen im Horizont der Aufklärung (Kap. 5) gewidmet. Darin sind auch die Bezüge auf Menken in den Darstellungen der christlichen Predigtgeschichte aufgenommen. Gemäß der Unterscheidung einer prinzipiellen, formalen und inhaltlichen Homiletik, die nach Alexander Schweizer die wesentlichen Fragestellungen einer theologischen Homiletik ausmachen, werden zunächst die Aspekte der prinzipiellen und der formalen Homiletik behandelt. Die inhaltliche Homiletik kommt im zweiten Hauptteil der Dissertation zum Zuge (Kap. 7 bis 10). Hier soll die heilsgeschichtliche Schriftauslegung Menkens erfasst und analysiert werden, eine Schriftauslegung, die tief in die biblischen Texte eindringt, sie stets in ihren biblischen Kontexten sieht und eine oft »erstaunliche Beute« davonträgt, die aber zugleich durch eine feststehende Bibeldogmatik geprägt ist. In der Mitte der Arbeit stehen die Darstellung des Schriftverständnisses Menkens und die Untersuchung des BiblizismusVorwurfs (Kap. 6). Menkens Hermeneutik ist die Voraussetzung seiner homiletischen Arbeit, deren thematische Schwerpunkte dann in den folgenden Kapiteln erfasst und analysiert werden. Das Thema des 7. Kapitels ist die Homiletik des Alten Testaments. Im 8. Kapitel werden die kenotische Christologie Menkens und seine Versöhnungslehre dargestellt. Das 9. Kapitel ist ekklesiologischen Fragen gewidmet und das 10. Kapitel der Eschatologie und der Geschichtstheologie Menkens. Das 11. Kapitel verfolgt die Wirkungsgeschichte Menkens. Das 12. Kapitel schließt die Arbeit unter den Aspekten Fazit und Würdigung ab. Die Anhänge umfassen eine Chronologie, die die Biographie Menkens und seine Schriften in den Kontext der Geistesgeschichte und der politischen Geschichte seiner Zeit stellt, sowie den Abdruck der in dieser Arbeit behandelten Predigten Menkens. Gottfried Menken ist ein bedeutender Sohn der Freien und Hansestadt Bremen, in der der Verfasser dieser Studie selber geboren wurde und aufgewachsen ist. Eine Schule und eine Straße in Bremen, die nach Menken benannt sind, erinnern noch heute an den Pfarrer und Theologen, der mit seiner Leidenschaft zur Bibel eine starke Wirkung zu seinen Lebzeiten und weit

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danach bis ins 20. Jahrhundert ausgeübt hat. Der Anlass dieser Dissertation ist der 250. Geburtstag Gottfried Menkens am 29. Mai 2018. Sie möchte auch im 21. Jahrhundert wieder auf Gottfried Menken aufmerksam machen.

2. Forschungsbericht Fragt man nach der bisherigen Erforschung des Werkes von Gottfried Menken, so lassen sich ein biographisches, kirchengeschichtliches, homiletisches und theologiegeschichtliches Interesse feststellen. Dabei ist oft das biographische mit dem dogmatischen, dem theologiegeschichtlichen und homiletischen Interesse verbunden. So etwa in monographischen Schriften, in Einleitungen zu Predigtsammlungen oder in mehr oder weniger ausführlichen Lexikonartikeln, die über die Biographie Menkens informieren, seiner Theologie in ihren Besonderheiten und Abhängigkeiten nachgehen und auf sein Predigtwerk eingehen. Man kann dann von »Porträtskizzen« sprechen, die einen Überblick unter verschiedenen Perspektiven geben wollen.1 Das in Frage kommende Material wird im Folgenden nach drei naheliegenden Gesichtspunkten gegliedert. Es werden erstens die biographischen Arbeiten über Gottfried Menken vorgestellt. Zweitens sollen die Gesamtdarstellungen in den Porträtskizzen und in den Lexikonartikeln zusammengefasst werden. Drittens wird nach der Behandlung Menkens in den kirchengeschichtlichen Darstellungen gefragt. In den Werken zur christlichen Predigtgeschichte hat Menken von Anfang an einen festen Platz, ebenso in den Darstellungen der protestantischen Theologiegeschichte. Die Einordnung Menkens in die christliche Predigtgeschichte und auch seine Verortung in der protestantischen Theologiegeschichte setzt Forschungsarbeit unter den jeweiligen Perspektiven voraus. Auf die homiletische Forschungsarbeit in den Darstellungen der christlichen Predigtgeschichte wird am Beginn des Kapitels zur prinzipiellen und formalen Homiletik Menkens eingegangen (5.1), auf die theologiegeschichtliche Forschungsarbeit zu Beginn des Kapitels zum theologie- und geistesgeschichtlichen Kontext Menkens (3.1).

2.1 Biographische Arbeiten zu Gottfried Menken 2.1.1 Die Biographie Carl Hermann Gildemeisters Im Jahr 1858 erschien die vollständige Ausgabe der Schriften Menkens in sieben Bänden. Zum Herausgeberkreis gehörte auch Dr. Carl Hermann Gil1 Den Begriff der »Porträtskizze« verwendet Karl Kupisch zur Charakterisierung der einzelnen Paragraphen in der Geschichte der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert von Karl Barth: »Die literarische Kunstform war die Porträtskizze«. Kupisch, Karl Barth, 67.

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Forschungsbericht

demeister.2 Gildemeister legte dann 1860 die bereits im Vorwort der Gesamtausgabe angekündigte Biographie über Menken in zwei Bänden vor: Leben und Wirken des Dr. Gottfried Menken, weiland Pastor Primarius zu St. Martini in Bremen. Die Biographie Menkens ist von Gildemeister in großer, teilweise überschwänglicher Wertschätzung geschrieben worden und enthält sich jeglicher Kritik. Der erste Band umfasst Menkens Kindheit, Jugend, das Studium in Jena und Duisburg (1788–1791), die Zeit als Kandidat und Vikar in Uedem und Frankfurt am Main und die Jahre als reformierter Pfarrer in Wetzlar (1796–1802). Der zweite Band erinnert an Menkens Pfarrämter in Bremen, sein Wirken an den Kirchgemeinden von St. Pauli (1802–1811) und St. Martini (1811–1825), und die verbleibenden Jahre als Pastor Emeritus bis zu seinem Tod am 31. Mai 1831. Gildemeister standen große Teile des umfangreichen Briefwechsels Menkens zur Verfügung, und er hat aus den Briefen Menkens großzügig zitiert. Der erste Band enthält als Anlage poetische Texte Menkens. Der zweite Band bietet u.a. einen Brief Menkens an seinen Oheim Friedrich Christian Hoffmann in Düsseldorf mit hermeneutischen Gedanken über Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit der Bibel und Menkens Antwortschreiben an Prof. Dr. Sartorius nach der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Dorpat im Baltikum. Den Abschluss des zweiten Bandes bilden eine chronologische Übersicht der Predigten Menkens und eine Zusammenstellung seiner Predigttexte nach der Reihenfolge der biblischen Bücher. Gildemeister hat 1865 der siebenbändigen Gesamtausgabe der Schriften Menkens noch einen achten Band folgen lassen: Inhalts-, Sach- und Spruchregister zu Dr. Gottfried Menken’s Schriften, entworfen und bevorwortet von Dr. C.H. Gildemeister. Er hat sich mit seiner editorischen und biographischen Arbeit große Verdienste um die Kenntnis und Verbreitung der Schriften Menkens erworben und durch seine Übersichten und Register ihre Erforschung sehr erleichtert.

2 Der Bremer Carl Hermann Gildemeister (1801–1875) war ein Sohn des Kaufmanns Johann Gildemeister, der von 1788 bis 1837 im Rat der Stadt saß. Er studierte Jurisprudenz in Tübingen und Göttingen und wurde 1825 in Göttingen zum Doctor Iuris promoviert. Danach hat er sich als Notar in Bremen niedergelassen. Gildemeister ist Menken in den letzten Lebensjahren noch persönlich nahegestanden und hatte bei der Abfassung der Biographie die lebendige Persönlichkeit Menkens vor Augen. Er hat sich neben dem Einsatz für Menken besonders um die Kenntnis und das Verständnis der Schriften Johann Georg Hamanns verdient gemacht. In den Jahren von 1857 bis 1873 edierte Gildemeister eine Gesamtausgabe der Schriften und der Briefe Hamanns in sechs Bänden.

Biographische Arbeiten zu Gottfried Menken

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2.1.2 Der Aufsatz »Gottfried Menken (1768–1831). Einiges aus seinem Leben und Wirkungskreis« von Bodo Heyne Pastor Bodo Heyne (1893–1980) war nach dem zweiten Weltkrieg der Motor in der Erforschung der Bremer Kirchengeschichte.3 Auf seine Initiative hin wurde 1954 die Kommission für Bremische Kirchengeschichte gegründet, aus der 1970 die Vereinigung für Bremische Kirchengeschichte e.V. hervorging. Heyne gab auch dem Organ der Vereinigung den Namen: Hospitium ecclesiae. Fast dreihundert Jahre (1557–1839) stand über dem Stadttor an der Weserbrücke »Conserva Domine Hospitium Tuae Ecclesiae«. Der Ehrenname Hospitium Ecclesiae erinnert daran, dass Bremen oft ein Zufluchtsort für Menschen war, die um ihres Glaubens willen verfolgt wurden. Zum 200. Geburtstag Menkens 1968 veröffentlichte Heyne in der Schriftenreihe Hospitium Eccesiae den Aufsatz Gottfried Menken (1768–1831). Einiges aus seinem Leben und Wirkungskreis.4 Er zeichnet darin ein lebendiges, detailreiches Bild der Lebensgeschichte Menkens und der Entwicklung seiner Predigerpersönlichkeit bis zum Antritt seiner pfarramtlichen Tätigkeit in Bremen. Es ist auch ertragreich für die Forschung, denn Heyne zeigt auf, wie die »Bibel-Gläubigen«, die »Stillen im Lande«, Kontakte pflegten, sich im Glauben stärkten, die von ihnen geschätzte Literatur einander empfahlen und untereinander verbreiteten. So wird verständlich, dass die lutherische Universität Dorpat Menken 1828 den Ehrendoktor-Titel verlieh. Die Vermittlung erfolgte sehr wahrscheinlich durch Vertreter der preußischen Erweckungsbewegung, die Menkens Schriften lasen und schätzten.5 Heyne betont die »weit über Bremen hinausgehende Wirksamkeit Menkens«. Auch in der Schweiz sind Menkens Homilien wohlbekannt. Es erscheinen niederländische Übersetzungen.6 »Ebenfalls in Schweden sind 3 Die Haupttätigkeit Heynes war die Leitung der Inneren Mission, in deren Zuständigkeit auch die Gründung neuer Kirchgemeinden lag, die angesichts des Bevölkerungswachstums Bremens nach dem Krieg nötig wurde. 4 Heyne, Gottfried Menken, 7–40. 5 Vgl. dazu Heyne, Gottfried Menken, 14 f.: »In Schlesien ist Friderike Gräfin von Reden auf Gut Buchwald im Riesengebirge der Mittelpunkt eines großen Kreises adeliger und fürstlicher Persönlichkeiten, in dem Männer wie der Freiherr vom und zum Stein und Gneisenau verkehren. In dem nahegelegenen Fischbach halten sich alljährlich Mitglieder der preußischen Königsfamilie auf, darunter auch öfters Prinzessin Charlotte, die spätere Gemahlin des Zaren Nikolaus. Es bestehen enge Beziehungen zu Buchenwald. Die Gräfin, ›unsere Fritze‹ genannt, gibt die Hirschberger Bibel für die Evangelischen in der Diaspora in Böhmen heraus und sammelt eifrig die Predigten von Menken.« 6 1825 erschien in Enkhuyzen die holländische Übersetzung der »Erklärung des 11. Kapitels des Briefes an die Hebräer«: »De kracht en waarde des geloofs, in homliein over het XI hoofd stuk van de brief aan de Hebreer.« 1830 folgte in Groningen die Übersetzung der »Blicke in das Leben des Apostels Paulus und der ersten Christengemeinen«: »Beschouwing van den apostel Paulus en de eerste Christengemeenten«.

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Forschungsbericht

Übersetzungen erschienen, und in Dänemark sind Menkens Schriften nicht unbekannt.«7

2.2 Porträtskizzen und Lexikonartikel 2.2.1 Die frühe Würdigung in der Schrift von Johann Ernst Osiander: »Zum Andenken Dr. Gottfried Menkens, weiland Pastor Primarius an St. Martini in Bremen« (1832) Bereits ein Jahr nach Menkens Tod veröffentlichte Johann Ernst Osiander (1792–1870), Theologieprofessor im württembergischen Maulbronn, die Broschüre Zum Andenken Dr. Gottfried Menkens, weiland Pastor primarius an St. Martini in Bremen.8 Osianders ausführliche Porträtskizze ist in großer Wertschätzung verfasst und möchte der Nachwelt die Bedeutung des Theologen und Pfarrers Gottfried Menken vermitteln. Seine Schrift gibt im ersten Teil einen biographischen Überblick. Im zweiten Teil stellt Osiander Menkens Schriften nach Sachgruppen zusammen. Im dritten Teil zeichnet Osiander ein detailliertes »Bild des theologischen Systems Menkens wie seines homiletischen Geistes«. Die Zusammenfassung des theologischen Systems Menkens beginnt Osiander mit Menkens Apologie der Bibel als (einziger) göttlicher Offenbarungsurkunde. Im Aufweis der Bibel als eines »in der größten Mannigfaltigkeit ihrer Theile und ihrer durch Jahrhunderte und Jahrtausende geschiedenen Verfasser harmonisch zusammenhängenden und sich entwickelnden Ganzen« sieht Osiander »die wahrhaft rationale Begründung der Bibel als eines planvollen Ganzen durch sich selbst«. Neben diesem objektiven Beweis steht der subjektive, nämlich »der innere Erfahrungsbeweis von der Kraft der Schrift und des Christenthums«.9 In der Gotteslehre erkennt Osiander Einflüsse von Bengel, Collenbusch und Hamann. In der Darstellung der Christologie und der Versöhnungslehre weist 7 Heyne, Gottfried Menken, 14. Nach Auskunft der Königlichen Bibliothek Stockholm existieren keine schwedischen Übersetzungen der Schriften Menkens (Mitteilung per Mail vom 16. Juli 2018). Die Beziehung Menkens zu Dänemark bestätigt sein Kontakt mit dem dänischen Theologen Andreas Gottlob Rudelbach. Rudelbach war im Sommer 1823 in Bremen. Menken korrespondierte mit Rudelbach 1826 und 1828. Die Briefe sind in der Königlichen Bibliothek Kopenhagen archiviert. 8 Sie erschien 1832 bei Wilhelm Kaiser in Bremen und umfasst 60 Seiten. J.E. Osiander, geboren 1792 in Stuttgart, wurde nach seinem Theologiestudium in Tübingen Hauslehrer der Familie der Senatorswitwe Castendyk in Bremen. Er lernte dort Menken kennen und befreundete sich mit ihm. Osiander wurde 1824 zum zweiten Professor am evangelischen Predigerseminar Maulbronn berufen, 1831 zum ersten Professor, und 1840 zum Dekan ernannt. 1860 wurde ihm von der Tübinger Hochschule und der Universität Göttingen die Ehrendoktorwürde der Theologie verliehen. Osiander verstarb 1870 als Prälat in Göppingen; vgl. Schott, Osiander. 9 Osiander, Zum Andenken, 25.

Porträtskizzen und Lexikonartikel

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er hin auf die Problematik der die Orthodoxie verlassenden Anschauungen Menkens, würdigt aber auch das Bemühen um biblische Erkenntnis und ist überzeugt, dass Menkens Auffassungen in der Geschichte der Versöhnungslehre »und auch ihrer in der neuen Theologie wieder sehr lebhaften Erforschung eine ehrenvolle Stelle gebührt«.10 Im letzten Teil seiner Schrift würdigt Osiander die homiletischen Verdienste Menkens. Menken habe die Predigtform der Homilie erneuert und die Durchführung der homiletischen Form meisterhaft beherrscht. Die Sprache der Homilien wird – mit einem etwas einschränkenden Seitenblick auf Johann Albrecht Bengel – gerühmt: »Der inhaltsschweren Wortkargheit seines grossen homiletischen Originals, Bengels, bleibt er oft etwas zu ferne; und manchmal wird bei dem tiefen Gange schwerer Forschungen, durch den Reichthum, die Gründlichkeit, die Kombination der Ideen auch die Sprache schwer, die Perioden gedehnt und verwickelt; aber im Ganzen herrscht in der Sprache solche Klarheit und Fülle, Wahl und Kraft des Ausdrucks, eine so lebendige Symmetrie der Glieder, eine so volltönige Rundung der Perioden, […] daß sie, ein treuer Ausdruck des sancto sancte, […] dem Gediegensten auf diesem Gebiete gleichkömmt […].«11

2.2.2 »Gottfried Menkens Homilien in Auswahl mit Einleitung von Dr. E. Chr. Achelis« (1888) 1888 wurden in der Bibliothek theologischer Klassiker12 Gottfried Menkens Homilien in Auswahl mit Einleitung von Dr. E.Chr. Achelis13 in zwei Teilen herausgegeben. Siebenundfünzig Jahre nach seinem Tod gilt Menken bereits als »theologischer Klassiker«! Achelis möchte in seiner Einleitung Menkens »ehrwürdige Theologenge10 Ebd. 34 f. 11 Ebd. 56 f. 12 Als Zweck der Bibliothek theologischer Klassiker wird angegeben, sie solle die klassischen Werke der evangelischen Theologie, wissenschaftliche wie praktische, in neuen, billigen und einheitlich ausgestatteten Ausgaben weiteren Kreisen zugänglich machen. Dabei wird ausdrücklich auch an theologisch und kirchlich interessierte Laien gedacht. 13 Ernst Christian Achelis (1838–1912) stammt aus einer Bremer Familie. Er ist ein Großneffe von Henrich Nicolaus Achelis (1764–1834), einem engen Freund Menkens. E.C. Achelis studierte in Heidelberg (bei R. Rothe u.a.) und in Halle (bei F.A.C. Tholuck, J. Müller u.a.). Er war als Gemeindepfarrer tätig in Bremen (Arsten und Hastedt) und Unterbarmen. 1882 erhielt er den Dr. theol. der Universität Halle und wurde im gleichen Jahr als Professor für praktische Theologie und als Universitätsprediger an die Universität Marburg berufen, wo er bis zu seinem Tod (1912) lebte. Er hat sich in seinem Fach besonders verdient gemacht durch sein Lehrbuch der praktischen Theologie, das 1890/91 in erster Auflage erschien und 1912 in der dritten Auflage. Achelis zählt zu den bedeutendsten wissenschaftlichen Vertretern der praktischen Theologie in Deutschland. Vgl. Hollweg, Achelis, 29.

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Forschungsbericht

stalt geschichtlich verstehen«. Seit Menken habe sich das kirchliche Leben verändert, und »die Gegensätze, unter denen Menken litt und stritt«, sind andere geworden: »Nur das Urteil ist bei Freunden und Gegner dasselbe geblieben, daß in Menken einer der geistvollsten und konsequentesten Schrifttheologen, deren sich die evangelische Kirche seit der Reformation zu erfreuen hat, uns geschenkt ist; wie er selbst von der zweifellosen Überzeugung durchdrungen war, daß sein theologisches System in allen Ausführungen nur die Lehre der hl. Schrift reproduziere, so wollte er auch nichts in der evangelischen Kirche gelten lassen, dessen Schriftgrund nicht klar nachgewiesen werden könne. Vielleicht ist es keinem Prediger wie ihm gelungen, in den Kreisen seiner Zuhörer eine solche Schriftfreudigkeit und solch ein Suchen und Forschen in der Schrift hervorzurufen; in den Nachkommen der Schüler Menkens, namentlich in Bremen, ist diese Schriftfreudigkeit bis zum heutigen Tag noch nicht erloschen.«14

Für Achelis ist Gottfried Menken »eine höchst eigentümliche Erscheinung«, da er nicht aus einer theologischen Schule hervorgegangen sei, im schärfsten Widerspruch gegen die zeitgenössische Theologie sich gebildet habe und mit ungewöhnlicher Selbständigkeit seinen Weg zu gehen scheine. Grundsätzlich beklagt Achelis, dass Menken nicht streng wissenschaftlich gearbeitet habe: »Er schrieb nur für die Gemeinde, d.h. für die um ihn sich scharenden Gleichgesinnten. […] So treten Menkens Urteile nur in der Form von Behauptungen auf, deren Begründung er nicht versucht; es sind Gefühlsurteile in ungeschwächter Form.«15 Das besondere Rätsel beim Phänomen Menken besteht nach Achelis darin, dass keine nachweisbare theologische Entwicklung zu erkennen sei: »Er ist theoretisch fertig schon als Student, und alle Folgezeit bringt ihm wohl eine gründlichere Erkenntnis, neue Mittel der Argumentation, aber das Schema der Lehre steht von vornherein fest.«16 In Duisburg und am Niederrhein, wo Menken sein Studium nach drei Semestern in Jena fortsetzte und abschloss, fand er Anschluss an den Laientheologen Samuel Collenbusch und dessen Freundeskreis und wurde von ihm entscheidend geprägt. »Dieser ist die erste männliche Autorität, welcher Menken sich freudig unterordnet, […] und in Collenbusch, dem Haupt jenes frommen Kreises, findet Menken nur sich selber wieder.«17 Die spontane Affinität zum Collenbusch-Kreis erklärt Achelis damit, dass Menken hier eine Auffassung des Christentums vorfand, die der von Bremen mitgebrachten Gemeindeorthodoxie wahlverwandt war: 14 15 16 17

Achelis, Homilien in Auswahl, 1. Ebd. 10. Achelis, Homilien in Auswahl, 19. Ebd. 20.

Porträtskizzen und Lexikonartikel

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»Die Einflüsse dieser pietistischen Gemeindeorthodoxie, die sich […] an der heiligen Schrift nährte und aus der heiligen Schrift sich zu rechtfertigen suchte, sind an Menken durch sein ganzes Leben hin erkennbar. Daher stammt sein Ingrimm gegen das Dogma von der Prädestination, daher sein Widerwille gegen die reformierte orthodoxe Kirche überhaupt, als deren Zentraldogma er irrtümlicherweise jene Lehre ansah; daher auch der Mangel des Verständnisses für eine kirchliche, d. h. auf die Kirche bezügliche Wirksamkeit.«18

Achelis sieht die Bedeutung Menkens in der Geschichte der Theologie darin, dass er es ist, »welcher s.v.v. Laientheologie der Collenbuschianer in theologische Form brachte und sie theologisch begründete«.19 Im Blick auf »die religiösen Bewegungen am Niederrhein im 16., 17. und 18. Jahrhundert in ihrer bunten Mannigfaltigkeit und in ihrem wirren Durcheinander« verzichtet Achelis auf den Versuch, »die Quellen der Collenbusch-Menkenschen Theologie im einzelnen nachzuweisen«.20 Klar konstatierbar seien die sozinianischen Einflüsse, vor allem »der doktrinäre Zug, welcher Menkens Theologie ihr Gepräge giebt: auf die Erkenntnis wird fast ausschließlicher Wert gelegt, und die Erkenntnis Gottes ist die Erkenntnis seines Wortes (der Bibel), insbesondere seiner Verheissungen. Socinianischen Ursprungs ist auch die absolute Verwerfung der Prädestinationslehre und die Ablehnung einer strafenden Gerechtigkeit Gottes. Gottes Gerechtigkeit erbarmt sich des durch Adams Fall eingetretenen Unrechtleidens der Nachkommen Adams. Die Erbsünden-Lehre wird abgelehnt. Gott hebt selbst das von ihm zugelassene Unrecht auf, indem er die Menschen in seinem ewigen Königreich unter dem Haupte Jesus Christus schliesslich […] zu einer weit höheren Seligkeit und Herrlichkeit führt, als sie je ohne Sünde würden erlangt werden können.«21

Die Versöhnungslehre Menkens führt Achelis (über Collenbusch) auf Johann Konrad Dippel zurück. Die Abhängigkeit von Dippel werde klar erkennbar durch ein längeres Zitat aus Dippels Vera demonstratio evangelica. Menkens Versöhnungslehre orientiert sich ausschließlich am Hebräerbrief und nicht am Apostel Paulus: »Nicht in dem Tode Christi ist die Erlösung vollbracht – der Tod ist nur Mittel zum Zweck –, sondern in seinem Eingang in das himmlische Heiligthum durch den Tod. […] Die Angelpunkte der Soteriologie Menkens sind eben nicht so sehr Sünde und Gnade, als vielmehr Elend und Herrlichkeit.«22 Im zweiten Teil seiner Einleitung gibt Achelis eine Einführung in das Pre18 19 20 21 22

Ebd. 17 f. Ebd. 21. Ebd. 21 f. Ebd. 24. Achelis, Homilien in Auswahl, 26 f. u. 28.

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digtwerk Menkens. Er würdigt Menken als »Schöpfer und meisterliche[n] Verwender« der von ihm, Achelis, so genannten Kunsthomilie.23 Er kritisiert aber einen »Übelstand«, über den Menken nicht Herr werden konnte, weil er in seiner Grundauffassung der Predigt als Schrifterklärung liege: »Der erwähnte Übelstand besteht darin, daß der Grundcharakter aller Homilie, […] daß nämlich der Bruder zu den Brüdern, der Prediger als Glied der Gemeinde zu der Gemeinde redet, nicht aufkommen will; es fehlt der lebendige Rapport zwischen dem Redenden und den Hörenden, es fehlt die Beziehung zu dem wirklichen, täglichen Leben in Familie, Gemeinde Kirche, Staat, in Beruf und Verkehr; es fehlt mit andern Worten das, was man mit schlechtem, aber allgemein verständlichem Ausdruck die Popularität der Predigt nennt.«24

Nach Achelis sind Menkens Predigten aufgrund ihrer »Schriftfreudigkeit« »ein bleibendes Vermächtnis«25 für die Theologen und die Gemeinden. Das theologische System Menkens bezeichnet Achelis als »ein einheitlich geschlossenes, wirklich großartig entworfenes und bis ins Kleinste durchgeführtes System, das sich anschließend an die biblische Geschichte, beginnend mit der Uroffenbarung an die ersten Menschen, abschließend mit den fernsten Aussichten der Eschatologie, in massivem Realismus den Gnadenrat Gottes uns vor Augen zu stellen sucht«.26

2.2.3 Die Artikel von Max Goebel und E.F.K. Müller in der Realenzyklopädie Die breitangelegten Artikel über Gottfried Menken von Max Goebel und Ernst Friedrich Karl Müller in der Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche sind Beispiele früherer Erforschung Menkens, die u. a. ausführlich auf die Fragen nach der Entwicklung der Theologie Menkens und ihrer Wirkungsgeschichte eingehen.27 Wie die Schrift Osianders so ist auch der Artikel von Goebel in zeitlicher Nähe zur Wirkungszeit Menkens erschienen und reflektiert seine frühe Rezeption. Für Goebel ist Menken »zu seiner Zeit der bedeutendste und gesegnetste Theologe und Prediger aus der Bengel-Hasenkamp-Kollenbuschischen Schule gewesen und dadurch selber ihr Erneuerer in der Bildung einer eigenen 23 Ebd. 32. Eine »Kunsthomilie «zeichnet sich nach Achelis durch die Einheitlichkeit der Rede aus, »und so wenig drängen sich die Nebengedanken vor den Hauptgedanken hervor, dass mit nie fehlender Sicherheit die durchschlagenden Grundgedanken des Textes hervorgehoben und mit fester Hand durchgehalten werden«. 24 Ebd. 33. 25 Ebd. 36. 26 Ebd. 29. 27 Der Artikel von Max Goebel wurde bereits 1837 verfasst, wenige Jahre nach der Broschüre Osianders.

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noch jetzt bestehenden Menkenschen Richtung und Schule geworden«.28 Da Menken seine Anhängerinnen und Anhänger nicht an die eigene Person und Lehre, sondern nur an die Heilige Schrift binden wollte, war es nicht in seinem Sinn, eine regelrechte Menken-Partei in Bremen zu gründen. Dennoch erfuhr er eine zum Teil übertriebene Verehrung, aber auch – noch in seinen letzten Jahren – scharfe unverdiente Kritik.29 Auch der Artikel von E.F.K. Müller enthält einen biographischen Überblick, eine Darstellung des biblizistischen theologischen Systems Menkens mit seinen Besonderheiten und eine Charakterisierung seines homiletischen Werkes, seiner Predigtmethode und seines Predigtstils. Müller geht den Einflüssen nach, die Menken geprägt haben, und äussert sich auch zu seiner Wirkungsgeschichte. Sein Urteil, das in den folgenden Sätzen zusammengefasst ist, bedarf der Überprüfung: »Eigenartig ist M.s Theologie insofern nicht, als sich alle ihre einzelnen Hauptbestandteile vor ihm unschwer nachweisen lassen. Auch überraschend neue Kombinationen hat er nicht vollzogen, aber die konsequente biblische Energie, mit welcher er seine Gedanken bildete und vortrug, sicherte ihm eine weitreichende Wirksamkeit. Er ist es doch gewesen, der gewisse bis dahin mehr verborgene Stimmungen und Erkenntnisse in schriftforschenden Laienkreisen namentlich Nordwestdeutschlands für lange Zeit einbürgerte. Auch wo man die von ihm vertretenen Sonderlehren nicht acceptierte, empfing man von dem Manne, der ernsthaft und ohne ›erbauliche‹ Willkür, aber auch ohne das prunkende Flickwerk der Schulgelehrsamkeit die Bibel auslegte, gesegnete Anregungen zum tieferen Eindringen in die hl. Schrift. Und für die Geschichte der Entwickelung des 19. Jahrhunderts greift sein verborgener Einfluss viel weiter, als die geläufigen Darstellungen auch nur ahnen lassen: die gesamte Hofmannsche Theologie in allen ihren Hauptstücken und Grundbestimmungen ist ein umfassender, mit systematischer Gelehrsamkeit und darum gemässigter Vorsicht unternommener Ausbau des M.schen Entwurfs. Die Verbindungslinie führt über Krafft in Erlangen.«30

Menkens Predigten sind nach Müller nicht frei von Defiziten, beeindrucken aber inhaltlich durch die Bezeugung »des Historischen«, der Grosstaten der Liebe Gottes und durch ihre sprachliche Kraft.

28 Goebel, Gottfried Menken, 329. 29 Goebel bezieht sich auf den jungen reformierten Theologen Wilhelm Steiger aus Schaffhausen, der »als Mitarbeiter der Evangelischen Kirchenzeitung den Aufsatz veröffentlichte ›Versuch zur Scheidung zwischen Wahrheit und Irrthum in einer unter den Gläubigen verbreiteten Lehre vom Reiche Gottes‹, in dem er zwar in guter Meinung, aber mit roher Hand Menkens und seiner Schule Lehre und Schriften mit dem kalten und scharfen Messer der kirchlichen Dogmatik zu seciren und selbst persönlich zu entwürdigen versuchte«. Goebel, Gottfried Menken, 338. 30 Müller, Menken Gottfried, 583. Hervorhebung H.M.R.

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2.2.4 Zu weiteren Lexikonartikeln über Gottfried Menken Konträr sind die Angaben, die in der Theologischen Realenzyklopädie und im Lexikon für Theologie und Kirche zu Menkens Beziehung zur Erweckungsbewegung gemacht werden. Hartmut Hövelmann schreibt: »Obwohl Menken der Erweckungsbewegung nicht zuzurechnen ist, hat er ihr in Bremen den Weg bereitet und sie durch seinen Biblizismus und die Anleitung, das politische Geschehen zu deuten, maßgeblich geprägt.«31

Heiner Faulenbach dagegen bezeichnet Menken als »reformierten Erweckungsprediger«. Die inhaltliche Bestimmung des Biblizismus Menkens wird so zusammengefasst: »Er vertrat einen in der Reich-Gottes-Verwirklichung zentrierten, das Versöhnungswerk Christi betonenden, die Gegenwart aus der Schrift deutenden Biblizismus.«32

2.3 Gottfried Menken in kirchengeschichtlichen Werken 2.3.1 Menken als Wegbereiter der Bremer Erweckungsbewegung im Werk Otto Wenigs »Rationalismus und Erweckungsbewegung in Bremen« Noch in den letzten Lebensjahren Menkens kam es in Bremen zu Streitigkeiten zwischen Vertretern einer rationalistischen Theologie und Vertretern der sogenannten Erweckungsbewegung, die sich in mehreren Etappen von 1830 bis 1852 hinzogen. Menken war an diesen Streitigkeiten nicht mehr beteiligt, aber er spielte eine wichtige Rolle als theologische Instanz auf der Seite derer, die die Position der Erweckungsbewegung vertraten. Der Bremer Kirchenstreit dokumentiert so die früheste Nachwirkung Menkens in der Bremer Kirchengeschichte und gibt Aufschlüsse über Menkens (ungeklärte) Beziehung zur sogenannten Erweckungsbewegung. Die Geschichte des Bremer Kirchenstreits ist von Otto Wenig in seinem Werk Rationalismus und Erweckungsbewegung in Bremen. Vorgeschichte, Geschichte und theologischer Gehalt der Bremer Kirchenstreitigkeiten von 1830 bis 1852 (1966) dargestellt worden. Wenigs Buch bringt als Vorgeschichte des Bremer Kirchenstreits einen weit gespannten Überblick über die protestantische Kirchengeschichte Bremens von der Reformation bis zum Jahre 1830 31 Hövelmann, Menken, 443 f. 32 Faulenbach, Menken Gottfried, 101.

Gottfried Menken in kirchengeschichtlichen Werken

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und geht in diesem Zusammenhang ausführlich auch auf Gottfried Menken ein.33 Wenig entdeckt, »daß hier in Bremen, in gewisser Weise fern von den in diesem Jahrhundert bekannten religiösen Zentren Deutschlands, fortlaufend und energisch Auseinandersetzungen durchgestanden worden waren, die anderswo teils früher, teils später zur Sprache kamen, ja sich in mannigfachen Nuancierungen durch das ganze 19. Jahrhundert ziehen: die rationalistisch-pietistische Grunddebatte, vermehrt um die naturwissenschaftliche Frage und das Problem eines lichtfreundlich-sozialistischen Evangeliums. Gewiss tauchen diese drei Fragen überall auf, aber in Bremen standen sie gleichsam komprimiert in einem Jahrzehnt zur Debatte. Die Intensität und der persönliche Einsatz, mit dem diese Auseinandersetzungen ohne den Schutz einer Kirchenbehörde und unter den Augen einer sich neutral und z. T. nicht einmal gutwillig verhaltenden Obrigkeit von den positiven kirchlichen Kreisen und Personen durchgefochten wurden, verdienen hervorgehoben zu werden.«34

Der Bremer Kirchenstreit ist hier nicht im Einzelnen darzustellen.35 Es geht hier vielmehr um die Frage, in welcher Beziehung Menken zur Erweckungsbewegung steht und ob er selbst als ein klassischer Vertreter dieses kirchengeschichtlichen Phänomens verstanden werden kann. Wie schon gesagt, liegt Menkens Zeit vor dem Bremer Kirchenstreit. Er hat daran selbst nicht teilgenommen und nicht teilnehmen können. Menken ist – wie die Darstellung Wenigs deutlich macht – ein Vorläufer der Erweckungsbewegung in Bremen, und dies in einem einschränkenden Sinn: Menken hat kaum Nachfolger gehabt, die sein theologisches System und seinen Predigtstil ganz übernommen und weitervermittelt haben. Gewirkt haben auf die Erweckungsbewegung vor allem sein entschiedener Biblizismus, die Ablehnung des Rationalismus und seine konservative politische Einstellung. Wesentliche Kennzeichen des Menkenschen »Profils« sind nicht typisch für die Vertreter der Erweckungsbewegung.36 Nach Wenig liegen die Wurzeln der Erweckungsbewegung in Bremen auch nur teilweise bei Menken. Seine Forschungen ergeben, dass ihr Wurzelgeflecht vielfältiger ist: 33 Vgl. Wenig, Rationalismus und Erweckungsbewegung, 83–103. 34 Wenig, Rationalismus und Erweckungsbewegung, V. 35 Anlass des Bremer Kirchenstreits waren zwei Predigten, die Friedrich Wilhelm Krummacher am 12. und 19. Juli 1840 in der St. Ansgarii-Kirche in Vertretung seines Vaters Friedrich Adolf Krummacher, der seit 1824 die dritte Pfarrstelle an St. Ansgarii innehatte, hielt. Charakteristisch für Friedrich Wilhelm Krummacher ist – nach Wenig – eine fanatische Ablehnung des Rationalismus in jeder Ausprägung. Vgl. Wenig, Rationalismus und Erweckungsbewegung, 241. Krummachers Predigt über Gal 1,8 f. ging als »Verfluchungspredigt« in die Bremer Kirchengeschichte ein. Sie löste einen Broschüren-Krieg zwischen den Vertretern der Erweckungsbewegung und des Rationalismus aus. 36 Vgl. dazu die Auseinandersetzung mit der Auffassung von Kurt Dietrich Schmidt im folgenden Abschnitt.

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Forschungsbericht »Fassen wir zusammen, so ergibt sich, daß die bremische Erweckungsbewegung folgende Wurzeln hat: den niederländisch-niederrheinisch geprägten bremischen Pietismus, die Theologie Menkens, den Supranaturalismus der Tübinger Theologie mit seiner Bindung an den schwäbischen Pietismus[37] und die Erweckungsbewegung im Wuppertal.«38

2.3.2 Ist Gottfried Menken ein exemplarischer Vertreter der Erweckungsbewegung? Die These von Kurt Dietrich Schmidt sowie die Einordnung bei Erich Beyreuther und Horst Weigelt Kurt Dietrich Schmidt versteht die Erweckungsbewegung als Verbindung von Pietismus und Orthodoxie im Gegenüber zum Aufklärungschristentum, wobei der innerevangelische konfessionelle Gegensatz angesichts dieses gemeinsamen Gegners (zunächst) zurückgetreten sei. Schmidt sieht in den großen geschichtlichen Ereignissen um die Jahrhundertwende, in der französischen Revolution und den Befreiungskriegen, eine zeitgeschichtliche Vorbereitung. Er beklagt (1960!), dass die Erweckung in der historischen Forschung »geradezu peinlich schlecht behandelt39« worden sei. Eine kritische Gesamtdarstellung fehle völlig. Dabei sei das gesamte kirchliche Leben von heute ohne sie überhaupt nicht vorstellbar, auch weder die Innere noch die Äußere Mission und schon gar nicht der Kirchenkampf der nationalsozialistischen Zeit. Über die Abgrenzung der Erweckungsbewegung herrscht in der Forschung keine Einigkeit. Schmidt sieht nun offenbar Gottfried Menken am Beginn dieser Bewegung. Jedenfalls ist er der Überzeugung: »Das Wesen der Erweckung kann man sich (gegen Karl Barth) gut an dem Denken des Bremers Gottfried Menken vergegenwärtigen. Er wertete schon 1794/95 vom Boden eines ausgesprochenen Biblizismus her das siegreiche Vordringen der Franzosen am Rhein nicht als das Ja Gottes zu ihren Taten, sondern als ein Gericht Gottes über sie, in dem Gott nämlich ihre Gottlosigkeit durch Erfolg noch steigere, – womit die Zeitgenossen geradezu schockiert wurden. Verständlich, denn Menken traf mit diesem seinem Urteil a) den oberflächlichen Begriff der Aufklärung von der Gerechtigkeit Gottes, der äußeren Erfolg schon als einen Beweis der Gnade Gottes ansah; b) die falsche Hochschätzung des Menschen. Sie war ihm nur Selbstüberhebung, die Gott straft, indem er Menschen in solche Greueltaten fallen läßt, wie sie in Paris geschehen waren; c) damit gewann Menken zugleich ein Verständnis für den tiefen Ernst der Sünde und die zentrale Bedeutung der Buße zurück. […] In dem allen war aber die reformatorische Frage wieder brennend geworden: ›Wie kriege ich einen 37 Eine beachtliche Anzahl Bremer Theologen studierte in Tübingen. 38 Wenig, Rationalismus und Erweckungsbewegung, 604. 39 Schmidt, Grundriß, 453.

Gottfried Menken in kirchengeschichtlichen Werken

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gnädigen Gott?‹ Indem aber die Frage nach der Rechtfertigung wieder zentral wurde, gewannen die pietistischen Kreise am entscheidenden Punkt sachliche Fühlung mit der Orthodoxie. Auch deren Anhänger hatten inzwischen das Pochen auf die Einzelheiten des ausgebauten Systems aufgegeben und sich auf die Betonung der zentralen Heilslehren beschränkt. Die Inspiration der Bibel und die Gottheit Christi wurden zum eigentlichen Angelpunkt des Urteils. Beide Lehren teilte der Pietismus. Damit war die Bahn frei für eine echte Verschmelzung der beiden Richtungen, die sich im 17. und 18. Jahrhundert so leidenschaftlich bekämpft hatten. Wohl auf dieser Verschmelzung beruht die große Anziehungskraft, die die Erweckung noch heute ausübt.«40 Die Charakterisierung Menkens durch Schmidt trifft nur teilweise zu. Bei Menken ist nicht die Rechtfertigung, sondern die Heiligung zentral. Die existenzielle Sündernot Luthers ist ihm fremd. Von Luthers Theologie ist er mit der ganzen Tradition, die hinter ihm steht, weit entfernt. Seine Haltung zur kirchlichen Orthodoxie bleibt distanziert. Seine Versöhnungslehre ist antiorthodox. In seinen Predigten drängt Menken nicht auf die Bekehrung des Sünders und der Sünderin, sondern lehrt Schrifterkenntnis vom Reich Gottes. Die These, dass es in der Erweckungsbewegung zu einer Verschmelzung des Pietismus mit der Orthodoxie kommt, lässt sich am Phänomen Gottfried Menken nicht verifizieren. Eine differenziertere Sicht der Beziehung Menkens zur Erweckungsbewegung hat Erich Beyreuther. Beyreuther sieht den Platz Menkens in der Vorgeschichte der Erweckungsbewegung im 18. Jahrhundert in Deutschland. Menken wirkte mit seinen Schriften, vor allem mit seinen Beiträgen zur Dämonologie, seiner Broschüre Vom Glück und Sieg der Gottlosen und seinem Monarchienbild in der Richtung, »in der sich die Erweckungsbewegung im Lebensgefühl, im Ethos und in der kirchlichen Aktivität entwickelte«.41 Beyreuther unterscheidet dieselben drei Ausprägungen innerhalb der deutschen Erweckungsbewegung wie Schmidt: die biblizistische Gruppe, die emotionale, im strengeren Sinn erweckliche Erweckungsbewegung und die konfessionalistische bzw. konfessionelle Erweckung. Die biblizistische Gruppe habe ihre Wurzeln in der württembergischen Theologie der großen Biblizisten des 18. Jahrhunderts und in Gottfried Menken ihren ersten wirksamen Vertreter außerhalb Schwabens.42 Beyreuther betont die politisch konservative Wirkung des Biblizismus Menkens: »Die enge Verbindung von ›Thron und Altar‹, jene ›ehrwürdige sozialpolitische Nacht‹ des Kirchentums, war damit eingeleitet, die die Auswanderung 40 Schmidt, Grundriß, 456. Schmidt unterscheidet drei Sondergruppen innerhalb der Erweckungsbewegung: a) die biblizistische Gruppe mit Gottfried Menken als erstem Vertreter, b) »die emotionale, im engeren Sinn erweckliche Gruppe« mit Friedrich August Tholuck als typischem Vertreter und c) die sich zum Konfessionalismus hinwendende Gruppe. 41 Beyreuther, Die Erweckungsbewegung, R 27. 42 Ebd. R 29.

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Forschungsbericht der zum Proletariat absinkenden Handwerkerschicht aus dem kirchlichen Raum beschleunigte.«43

Während Erich Beyreuther noch 1963 bemerkte: »Eine kritische Gesamtdarstellung, welche die ganze Erweckungsbewegung erfaßt und sich nicht nur auf kontinentaleuropäische Vorgänge beschränkt, liegt noch in weiter Ferne«44, ist seit den neunziger Jahren ein großes Werk erschienen, das die Geschichte des Pietismus inklusive der Erweckungsbewegung vom 17. bis zum 20. Jahrhundert behandelt.45 Die Aufgabe einer solchen Gesamtdarstellung ist so umfassend, dass sie einen Einzelnen total überfordert und nur als Gemeinschaftsarbeit zu bewerkstelligen ist. Die Autoren dieser Gesamtdarstellung räumen jedoch ein: »Beim gegenwärtigen Forschungsstand sind weder die Fragen der Terminologie eindeutig geklärt, noch die Fragen der Periodisierung. […] Die Aufgabe, die es zu lösen gilt, steht jedoch fest: Zu klären ist, was entschieden fromme Christen, die sich an den Traditionen des älteren Pietismus orientierten, über die Welt des 19. und 20. Jahrhunderts dachten, wie sie ihren Glauben formulierten, wie sie in dieser Welt handelten und welchen Einfluß sie auf die Entwicklung der modernen Welt nahmen.«46

Es fällt sofort auf, dass diese neueste Gesamtgeschichte des Pietismus die sogenannte Erweckungsbewegung in ihrer Kontinuität mit dem Spätpietismus des 18. Jahrhunderts und der gesamten pietistischen Tradition sieht. Die Autoren sind sich dessen bewusst, »daß in der hier publizierten ›Geschichte des Pietismus‹ die Geschichte des 19. und des 20. Jahrhunderts als integraler Bestandteil der pietistischen Bewegung dargestellt wird«.47 Dabei werden aber auch die Veränderungen des Pietismus in der Erweckungsbewegung gesehen: Es bilden sich neue Zentren und neue Trägerkreise. Mit der Äusseren Mission und der Inneren Mission entstehen zentrale Aktivitäten, die von den Kirchen geduldet und geschätzt werden. Die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen haben einen grossen Einfluss auf diesen Wandel: »In dem Maße, in dem sich im 19. Jahrhundert die Aktivitäten des Pietismus wandelten, wurde dieser dann von neuen Gruppen geprägt und getragen.«48

43 Ebd. R 27. 44 Ebd. R 1. 45 Geschichte des Pietismus in vier Bänden. Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus herausgegeben von Brecht, et al., Bd. 1: Der Pietismus vom 17. bis zum frühen 18. Jahrhundert; Bd. 2: Der Pietismus im 18. Jahrhundert; Bd. 33: Der Pietismus im 19. und 20. Jahrhundert; Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. 46 Lehmann, Die neue Lage, 2. 47 Ebd. 7. 48 Lehmann, Die neue Lage, 6.

Gottfried Menken in kirchengeschichtlichen Werken

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Hartmut Lehmann unterscheidet vier verschiedene Phasen des Pietismus im 19. und 20. Jahrhunderts.49 Das Wirken Gottfried Menkens hat seinen Platz in der ersten Phase des neueren Pietismus der Erweckungsbewegung, die nach Lehmann etwa von 1800 bis 1840 reichte. Aber: »Ein Erweckungsprediger im eigentlichen Sinne war Menken nicht. Gleichwohl arbeitete er der Erweckung in die Hände, ohne noch zu den neuartigen missionierenden Maßnahmen zur Rückgewinnung der entfremdeten getauften Kirchenglieder ein Verhältnis zu finden.«50 Zur biographischen Erforschung Menkens und zur Bestimmung seines Ortes in der Kirchengeschichte ist zusammenfassend zu sagen: Die Arbeiten Gildemeisters und Heynes geben ausreichend Auskunft über den Lebenslauf Menkens und seine persönlichen Verbindungen. Die Einordnung Menkens in kirchengeschichtlichen Werken ist teilweise fragwürdig, bzw. falsch und bedarf der Präzisierung.

49 »Eine erste Phase, die etwa von 1800 bis 1840 reichte, war bestimmt durch das Nebeneinander und das Miteinander vom sogenannten Second Great wakening in den USA, von der Bewegung des Evangelicalism in Großbritannien, dem R veil unter den französischsprechenden Protestanten mit Schwerpunkt in der Schweiz und der Erweckungsbewegung mit ihren vielen einzelnen Ausgestaltungen im deutschsprachigen Mitteleuropa und in Skandinavien. Es schloß sich daran an eine zweite Phase, die etwa von 1840 bis 1880 reichte und die geprägt war von immer stärkeren Bemühungen auf dem Gebiet der Inneren Mission bzw. der Home Missions sowie auf dem Gebiet der Äußeren Mission bzw. der Foreign Missions. […] In einer dritten Phase, die etwa auf die Jahrzehnte von 1880 bis 1920 anzusetzen ist, wurden von den entschieden Frommen angesichts der fortschreitenden Säkularisierung und Dechristianisierung neue Wege zur Verteidigung und zur Verbreitung des christlichen Glaubens gesucht. […] Die vierte Phase, die etwa 1920 einsetzte und bis in die 1950er Jahre reicht, wurde in den USA durch die Fundamentalismusdebatte bestimmt und in Mitteleuropa zunächst von den Auseinandersetzungen um die Weimarer Republik und dann von den Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus. In der fünften und letzten Phase schließlich, die etwa 1960 einsetzte, kam es zu einer erneuten Sammlung der entschieden frommen Protestanten, die nun in der Neuen Welt als Evangelicals bezeichnet wurden und in Mitteleuropa als Evangelikale.« Lehmann, Die neue Lage, 4 f. 50 Benrath, Die Erweckung innerhalb der deutschen Landeskirchen, 249.

3. Der theologie- und geistesgeschichtliche Kontext Gottfried Menkens –frömmigkeitsgeschichtliche und theologische Prägungen 3.1 Gottfried Menken in Darstellungen der protestantischen Theologiegeschichte 3.1.1 Hermann Cremer Hermann Cremer (1834–1903) hat keine Theologiegeschichte verfasst. Er hat sich aber zu Menkens theologiegeschichtlicher Einordnung prononciert geäußert und soll deshalb in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden. Cremer studierte bei Friedrich August Tholuck und Julius Müller in Halle und bei Johann Tobias Beck in Tübingen. Er verband das Pfarramt mit wissenschaftlicher Arbeit. Als seine größte wissenschaftliche Leistung gilt Das biblischtheologische Wörterbuch der neutestamentlichen Graecität, das er bereits 1866 veröffentlichte und das bis 1915 zehn Auflagen erlebte. Es ist der Vorläufer des Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament von Gerhard Kittel (ab 1933). Cremer wurde 1870 nach Greifswald berufen in das Doppelamt als Hauptpastor an St. Marien und als Professor für Systematische Theologie. Er war ein konservativer Theologe, der das Denken der Aufklärung und den liberalen Kulturprotestantismus ablehnte. »Cremer ist Vertreter des neueren Biblizismus, einer theologischen Richtung, die sowohl die sprachliche Eigenart der Bibel wie deren besonderen Offenbarungsgehalt betonte. C. übte durch die Gewalt seiner Predigt eine große geistliche Wirkung aus, beeinflußte die Kirchen- und Universitätspolitik in Preußen im orthodox-positiven Sinne und wirkte in der Theologie seiner Zeit schulbildend.«1 Cremer machte sich verdient um die Kenntnis und Vermittlung der Theologie Collenbuschs, der selbst nichts drucken ließ. 1902, also hundert Jahre nach dem Tod Collenbuschs, veröffentlichte er den Band Aus dem Nachlass eines Gottesgelehrten. Aufsätze, Briefe und Tagebuchblätter von Dr. Samuel Collenbusch, weiland praktischer Arzt in Barmen. Im Vorwort dieses Bandes geht Cremer auf Gottfried Menken ein und behauptet die völlige Abhängigkeit Menkens von den theologischen Überzeugungen Collenbuschs: »Es gibt in der That keine Menken’sche Theologie, sondern nur eine Collenbusch’sche

1 Schrey, Cremer Hermann.

Gottfried Menken in Darstellungen der protestantischen Theologiegeschichte 43

Theologie.«2 Dieselbe These vertritt Cremer in seinem ausführlichen Artikel über Collenbusch in der Realenzyklopädie der protestantischen Theologie: »Es muß eine wunderbare Macht in dem einfachen Manne [Samuel Collenbusch, H. M.R.] gewohnt haben, welche ihm alle irgendwie hervorragenden Persönlichkeiten unter den damaligen ›Bibelverehrern‹, wenn sie in die dortige Gegend kamen, zuführte, eine Macht, […] die den hochbegabten Kandidaten Gottfried Menken so zu seinen Füßen zwang, daß derselbe von da ab kaum noch einen eigenen Gedanken ausgesprochen, sondern in seiner ganzen Wirksamkeit und all seinen Schriften nur C. sche Erkenntnisse in reicher Sprache, in einer von klassischer Durchbildung zeugenden Darstellung und mit edelstem Pathos vertreten hat. Es giebt keine Menkensche, sondern nur eine C.sche Theologie, die Menken lesbar gemacht hat.[…] In seiner ›Anleitung zum eigenen Unterricht in der hl. Schrift‹ giebt er seiner Abhängigkeit von C. freimütigen und dankbaren Ausdruck.«3

3.1.2 Martin Kähler Der Streit um die Geltung und Auslegung der Bibel wird zu gewissen Zeiten der Kirchengeschichte virulent. Das geschah auch am Anfang des 20. Jahrhunderts, als sich die religionsgeschichtliche Schule Geltung verschaffte und der Babel-Bibel-Streit die Gemüter erhitzte.4 In dieser Zeit wirkte in Halle Martin Kähler (1835–1912), der sich als biblischen Theologen verstand und in zahlreichen Schriften biblische Theologie betrieb. Kähler hat Menken hochgeschätzt. Das ist Kählers Aufsätzen zur Bibelfrage zu entnehmen, die der Enkel Ernst Kähler 1967 in einem Sammelband herausgegeben hat. Ernst Kähler schreibt dazu im Vorwort: »Mit diesen Vorträgen und Aufsätzen entfaltete Kähler in grundsätzlichen und historischen Ausführungen eines der großen Themen seiner wissenschaftlichen Lebensarbeit, das maßgebende Ansehen der Heiligen Schrift in der Kirche systematisch zu verstehen und zu erklären, Umfang und Grenze 2 Cremer, Nachlass, 22. Renfordt urteilt zu Recht: »Der Urenkel Friedrich Adolf Lampes hätte dann seine bisherigen theologischen Prägungen über Bord geworfen, um Collenbusch zu adaptieren; das ist eine gewagte These.« Renfordt, Samuel Collenbusch, 15. 3 Cremer, Collenbusch, 240. 4 Auslöser dieses Streites war ein öffentlicher Vortrag des Assyriologen Friedrich Delitzsch vor der Deutschen Orient-Gesellschaft in Berlin 1902. Er vertrat darin die These, dass die jüdische Religion und das Alte Testament babylonische Wurzeln haben. Babel habe als Erklärer und Illustrator der Bibel zu gelten. Auf scharfe Polemiken von konservativer jüdischer wie christlicher Seite reagierte er ein Jahr später in einem zweiten Vortrag mit der These von der kulturellen, sittlichen und auch der religiösen Überlegenheit der babylonisch-assyrischen Kultur über die alttestamentliche-israelitische und begann gegen einen traditionell kirchlichen Offenbarungsbegriff zu polemisieren. Vgl. Gebauer, Babel-Bibel-Streit.

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Der theologie- und geistesgeschichtliche Kontext Gottfried Menkens dieses Ansehens abzustecken und auch in Form historischer Betrachtung einen Beitrag zur Begründung des Ansehens der Heiligen Schrift zu geben.«5

Martin Kählers Schrift Unser Streit um die Bibel hat den Untertitel Vorläufiges zur Verständigung und Beruhigung für ›Bibelverehrer‹ von einem der ihrigen. Die Bezeichnung »Bibelverehrer« übernimmt Kähler von Gottfried Menken, wozu er sich ausdrücklich bekennt: »Gottfried Menken in Bremen, der reformierte Prediger, den eine lutherische Fakultät zum Doktor der Heiligen Schrift ernannt hat, war ein Führer, als es galt, von der ›geistlosesten Ketzerei‹, dem ›vulgären Rationalismus‹ zu einer selbständigeren und lebendigeren Christlichkeit zu gelangen. Manchen seiner Zeitgenossen schloss er den Sinn für den Reichtum der Bibel und für das selbständige Suchen in ihr auf, zugleich aber namentlich für die darin enthaltene Geschichte, in der Gott zu uns redet und zu uns kommt; so hat sein Wort weit gewirkt, auch auf führende Geister in der Theologie. Seine Stellung findet nun darin einen kennzeichnenden Ausdruck, dass er mit seinen Lesern gern unter dem Namen von ›Bibelverehrern‹ verhandelt. Von ihm entlehne ich die Bezeichnung für diejenigen Leser, die ich mir wünsche. […] Solche ›Bibelverehrer‹, die etwa wie ich in ihren Lehrjahren vornehmlich bei Bengel, Heinrich Rieger, Menken, Tholuck, Beck, Hofmann, Delitzsch, O. v. Gerlach ihre Gründung und Förderung gefunden haben, oder die von den unzähligen Sinnesgenossen und Schülern dieser Männer ihr Bestes empfingen – solche ›Bibelverehrer‹ sind es, für die ich die Feder ansetzte.«6

Kähler hat Menken auch in einem Kolleg über die Geschichte der protestantischen Dogmatik im 19. Jahrhundert bedacht.7 Menken erhält seinen Platz im dritten Abschnitt, der auf die positivistischen Dogmatiker des 19. Jahrhunderts eingeht und diese unterteilt in »die Biblizisten« und »die Konfessionellen«8. Er sieht Menken »an der Spitze des Biblizimus« seines, des 19. Jahrhunderts. Menken und Schleiermacher lebten fast zur selben Zeit. Kähler bringt sie in einen treffenden Vergleich: »Es ist interessant, sich klarzumachen, wie an der Wende des Jahrhunderts zwei für dieses Jahrhundert bezeichnende, ganz entgegengesetzt einsetzende Theologen stehen: der eine, der wie die Reformation ganz auf das Subjektive des Christentums zurückgeht, das Heilsbewusstsein, eben Schleiermacher – 5 Kähler, Bibelfrage, 15. 6 Ebd. 19 f. 7 Diese Vorlesung hielt Kähler in Halle zuerst 1890, wiederholte sie dann oft und ergänzte sie bis 1912. Sie wurde in einer studentischen Mitschrift, die Kähler selbst eingesehen hatte, an den Enkel Ernst Kähler vererbt, von diesem überarbeitet und schließlich publiziert. 8 Im ersten Abschnitt geht es um »den Begründer der neueren Dogmatik«, Friedrich Daniel Schleiermacher, im zweiten um die Vermittlung zwischen wissenschaftlicher Bildung und geschichtlichem Christentum, im letzten Abschnitt um »die Dogmatik der religiösen Erkenntnislehre«.

Gottfried Menken in Darstellungen der protestantischen Theologiegeschichte 45 der andere dagegen ganz auf die alleinige Autorität der Heiligen Schrift, wie sie die Reformation als Formalprinzip gewann, nicht als Realprinzip: Menken. Wir können sagen: Der eine konzentriert sich einseitig auf das Materialprinzip, der andere einseitig auf das Formalprinzip.«9

Kähler skizziert die besondere Entwicklung des Biblizismus Menkens in der Auseinandersetzung mit dem Rationalismus seiner Zeit, die Prägung durch Johann Albrecht Bengel und den Kreis um Samuel Collenbusch. Mit Nachdruck weist Kähler auf die weitreichende Wirkung Menkens hin. Menken habe zwar keine Dogmatik geschrieben, aber auf verschiedene Dogmatiker des 19. Jahrhunderts, z.B. auf Johann Christian Konrad von Hofmann in Erlangen, aber auch auf Albrecht Ritschl, großen Einfluss gehabt: »Hofmann in Erlangen soll gesagt haben, er habe sein ganzes Schriftverständnis aus Menkens ›Monarchienbild‹ gelernt. Ich [Martin Kähler, H.M.R.] erwähne das, um zu zeigen, daß Gottfried Menken in der Tat ein sehr einflußreicher Theologe war, mehr, als man gemeinhin denkt. Den Begriff der Heiligkeit, wie ihn Ludwig Diestel zuerst auf Anregung Ritschls ausgeführt hat und den Ritschl dann in seine Dogmatik aufnahm, hat Menken entwickelt. Dort findet sich dieselbe Polemik gegen die Annahme des Zornes Gottes wie bei Ritschl, und es ist kaum anzunehmen, daß hier keine Zusammenhänge bestehen sollten, da Menken auf manche zeitgenössischen Theologen eingewirkt hat.«10

Nach dem Urteil von Hans-Joachim Kraus ist der Einfluss Menkens auf Kähler selbst und seine Schule sehr beachtlich.11

3.1.3 Die besondere Würdigung Gottfried Menkens bei Karl Barth12 3.1.3.1 Die grundsätzliche Einstellung Barths zur Theologiegeschichte im 19. Jahrhundert Bevor Barth die Darstellung der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert in seinem 1946 in erster Auflage veröffentlichten Werk mit einem Kapitel über Schleiermacher beginnt, behandelt er ihre Vorgeschichte: die protestantische Theologie im 18. Jahrhundert. Er erarbeitet sich in diesem Teil die Kriterien, die dann bei der Beurteilung der Theologen des 19. Jahrhunderts im Einzelnen zur Anwendung kommen. Als Form der Darstellung wählt Barth die

9 10 11 12

Kähler, Geschichte der protestantischen Dogmatik, 157. Ebd. Dazu unten Kapitel 11.4: Kähler in der Wirkungsgeschichte Menkens. Der Einfluss Menkens auf die Theologie Karl Barths wird unten in Kapitel 11.5 behandelt.

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Der theologie- und geistesgeschichtliche Kontext Gottfried Menkens

Porträtskizze.13 In der Vorgeschichte der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts zeichnet Barth zunächst eine Skizze des Menschen im 18. Jahrhundert, bevor er im folgenden Paragraphen nach der Christlichkeit dieses Menschen fragt und sich anschliessend »der Gestalt der Theologie in der Welt dieses Menschen« zuwendet. Das wesentliche Kennzeichen des Menschen im 18. Jahrhundert entlehnt Barth der massgebenden politischen Ordnung dieser Zeit. Sie ist das Zeitalter des Absolutismus. Der Begriff des Absolutismus beschreibt mehr als die politische Ordnung der Zeit, denn »die politische Ordnung war doch zu allen Zeiten und so auch damals nur ein Exponent der Lebensordnung bzw. des Lebensideals überhaupt«.14 Barth versteht unter Absolutismus in diesem umfassenden Sinn »ein Lebenssystem, das gegründet ist auf die gläubige Voraussetzung der Allmacht des menschlichen Vermögens. Der Mensch, der seine eigene Kraft, sein Können, die in seiner Humanität, d. h. in seinem Menschsein als solchem schlummernde Potentialität entdeckt, der sie als Letztes, Eigentliches, Absolutes, will sagen: als ein Gelöstes, in sich selbst Berechtigtes und Bevollmächtigtes und Mächtiges versteht, der sie darum hemmungslos nach allen Seiten in Gang setzt, dieser Mensch ist der absolutistische Mensch.«15

Der Begriff des Absolutismus ermöglicht Barth eine erhellende, allerdings stark pauschalisierende Porträtskizze des Menschen im 18. Jahrhundert, indem er die äußere und innere Lebensgestalt des Menschen dieser Zeit zu beschreiben versucht. Es ist der Begriff des Strebens nach absoluter Formung, der die äußere Lebensgestalt dieser Zeit am besten charakterisiert. Barth verweist auf die Architektur, den Städtebau, die Gartengestaltung im 18. Jahrhundert. Er erinnert daran, »dass das 18. Jahrhundert auch in ausgesprochener Weise ein Jahrhundert der Pädagogik gewesen ist«: »Man glaubt jetzt an eine Erziehung zum Erzieher, und darum fallen in diese Zeit die Anfänge einer wirklichen Lehrerbildung, die ersten Lehrerseminare.«16 Der Absolutismus, mit dem der Mensch des 18. Jahrhunderts alle Probleme zu meistern sucht, ist auch die Haltung, mit der er dem Christentum gegenübertritt. Fragt man nach dem Erfolg dieses »Programms«, so lautet die Antwort Barths: Der Umgang des absolutistischen Menschen im 18. Jahrhundert mit dem Christentum oder das Programm einer »Humanisierung des theologischen Problems«17 ist nicht mit letzter Radikalität durchgeführt worden und es hat nicht zum Ziel geführt. Die biblisch bedingten Hemmungen der absolutistischen Lösung des theologischen Problems, die Wahrnehmung 13 Die Kapitel über Schleiermacher, Menken, Feuerbach und Strauss wurden bereits vorher veröffentlicht. 14 Barth, Die protestantische Theologie, 19. 15 Ebd. 16 Ebd. 41. 17 Barth, Die protestantische Theologie, 65.

Gottfried Menken in Darstellungen der protestantischen Theologiegeschichte 47

ihrer deutlichen inneren und äußeren Grenzen führen Barth zu dem Gesamturteil, »dass das theologische Problem auch in dieser Zeit nicht gelöst wurde, sondern offen blieb, dass seine Geschichte weitergehen konnte und weitergehen musste«.18 Was heißt das alles im Blick auf die Beurteilung Gottfried Menkens?

3.1.3.2 Respekt, Wertschätzung und Übereinstimmung Gottfried Menken wird nach Karl Barth unterschätzt als »ein Bremer Lokalheiliger ohne erkennbare Beziehung zu den großen Entscheidungen, die die Geschichte der Theologie des 19. Jahrhunderts zunächst geformt haben und wiederum ohne daß eine erkennbare Schule oder dergleichen sich an ihn angeschlossen hätte«.19 Menken sei in den ihm bekannten Darstellungen der Geschichte der neueren Theologie kaum anzutreffen. Ein Grund dafür sei wohl auch, dass Menken zeit seines Lebens »nur« Pfarrer gewesen sei, »wenn auch ein als Schriftsteller sehr fruchtbarer und viel gelesener Pfarrer.« Barth stellt ausdrücklich fest: »Aber wer hier übersieht, übersieht Wichtigstes. Menken ist eine an ihrer Stelle notwendige Figur.«20 Überzeugend markiert Barth Menkens theologiegeschichtliche Position: Menken vertritt im 19. Jahrhundert den Typus des sogenannten Biblizismus, und zwar in einer selbständigen Form ohne Verbindung mit anderen Typen, vor allem mit der Erweckung: »Die Erweckung hat sich alsbald mit diesem Typus legiert. Wenn man ihn in seiner Urgestalt kennen will, wenn man die relativ selbständige Stellung, die nachher auch ein Hofmann und Beck und später ein Cremer, ein Kähler, ein Schlatter gegenüber dem Pietismus eingenommen haben, innerlich verstehen will, dann muß man Menken kennen.«21

Sein Profil gewinnt dieser Biblizismus in einem Zweifrontenkrieg gegen die Aufklärung und gegen die Orthodoxie.22 Gegen die Aufklärung und die Orthodoxie kämpfte Menken sein ganzes Leben hindurch, ohne zu beachten, dass da inzwischen erhebliche Wandlungen eingetreten waren. Barth warnt aber davor, Menken deswegen weniger ernst zu nehmen: 18 19 20 21 22

Ebd. 114. Ebd. 469. Ebd. Ebd. Dies verbindet Menken nach Barth mit seinem großen Zeitgenossen Schleiermacher. Zu einer persönlichen Verbindung ist es aber nicht gekommen. Schleiermacher brachte Menken einen gewissen Respekt entgegen, Menken lehnte Schleiermacher ab. Auf eine Predigt Schleiermachers schrieb er: »Verrätst du den Menschensohn durch einen Kuss?« Vgl. Barth, Die protestantische Theologie, 470.

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Der theologie- und geistesgeschichtliche Kontext Gottfried Menkens »So war Menken einer von den Theologen, an denen man leicht darum vorbeigeht, weil man sie gerade auf dem Höhepunkt ihres Lebens mit den Gespenstern der lebendigen Antithesen ihrer Jugend- und Bildungsjahre sich unterhalten und herumschlagen sieht – Gespenstern, die dann wohl den jüngeren Zeitgenossen, die jene als Lebende nicht mehr gekannt haben, gelegentlich wie selbst zurechtgemachte Türkenköpfe des rüstigen Polemikers erscheinen mögen. […] Man kann doch nur davor warnen, einen Mann wegen dieser Eigentümlichkeit weniger ernst zu nehmen.«23

Menken verachtet und hasst die Aufklärung. Sie ist Ausdruck des Zeitgeistes, der nie deckungsgleich ist mit dem Christentum. Es »ekelt« ihn vor allem vor dem Moralismus der Aufklärung, »in dem er nichts sieht als die Kunst, mit Maß, nach Takt und Regel in Dreck und Kot herumzuwaten, ohne dem Dreck und Kot gram zu sein, ohne heraus zu verlangen – ohne Ekel an einer solchen Würmerexistenz«.24 Menken ruft den Aufklärern zu: »Was soll eure Moral dem Menschen, dem Ahnung der Ewigkeit die Brust erfüllt, der hungert und dürstet, schmachtet und darbt, bis er ein Ewiges findet, ein Unendliches – ewiges Leben, ewige Liebe – Gott!«25

Die Moralpredigt der Aufklärung ist Verdrängung des Evangeliums und als solche geradezu Gift. Deshalb bekennt Menken in einem Brief an seinen Freund H.N. Achelis: »Ich halte es für meine Pflicht, geradezu gegen die Moral zu predigen und davor zu warnen und immer deutlicher zu zeigen, dass Moral und Christentum zwei verschiedene Dinge sind.«26

Menkens trotziger Widerstand drückt sich auch aus in seiner Meinung über die Toleranz, die von den Rationalisten als die vornehmste Eigenschaft der christlichen Neuzeit gepriesen werde: »Verflucht sei die schändliche Toleranz, der es einerlei ist, ob ein Mensch Gott lästert oder seinen Namen heiligt! Ich will mich von nun an in der Intoleranz üben; ich will die schändliche Gutmütigkeit gegen Leute, die Gott verachten, aus meinem Herzen tilgen und es mit Hass, mit rechtem, ernstlichen Hass zu füllen versuchen gegen die, die Gott oder, welches eins ist – Gottes Wort hassen.«27

Barths Sympathie zu Menken wird in diesem Zusammenhang besonders deutlich und verständlich. Man hört den Barth des Römerbriefs von 1922, der in der Sprache des Expressionismus die Diastase zwischen dem Geist der Bibel 23 24 25 26 27

Ebd. 470. Ebd. 471. Ebd. Ebd. Ebd.

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und dem Geist des bürgerlichen Christentums aufreißt, wenn er über Menken sagt: »Ihm ist das Christentum teuer als eine fremdartige, isolierte Grösse in der Welt. Darum ekelt es ihn vor der Aufklärung, weil sie das nicht versteht, weil sie an dem wesensnotwendigen Kampf des Christentums gegen die Welt nicht beteiligt ist.«28 Und er zitiert Menken selbst: »Das Christenthum ist eine so originale, einzige Sache, der gewöhnlichen Denkart aller Menschen so zuwider, so unvereinbar, so heterogen gewissen Begriffen und Empfindungen, die wir mit der Muttermilch eingesogen haben, und die wir nicht fahren lassen wollen, dass immer ein geheimer Zweifel dagegen im Herzen ruht, dass wir immer fürchten, wir möchten dabei zu kurz kommen, es sei eine missliche Sache … Und so bauen wir denn ein Christenthum, ein Gebäude für die Ewigkeit auf lockerem Sandgrund.«29

Menken sah sich als Prediger in einer Kampfstellung gegen den Zeitgeist, den er in der Theologie und Predigt der Aufklärung erkannte und verachtete. Bei genauerem Hinsehen wird nun aber deutlich, dass dieser Zeitgeist durchaus auch Eingang in seine eigene Theologie gefunden hat. Barth weist in diesem Zusammenhang hin auf Menkens Versöhnungslehre, die ihn »in Gefolgschaft von Samuel Collenbusch« als »eifrigen Vertreter eines Theologumenons« zeigt, »das sich durch seine menschenfreundliche Milde von der Härte der katholisch-protestantischen Schultradition aufs vorteilhafteste abhob, das sachlich mit den humanen Tendenzen des Zeitalters merkwürdig übereinstimmte«.30 Menkens »Anschauung von einer nach Würde und Verdienst abgestuften Seligkeit« findet sich ebenso bei Wegscheider und »anderen massiven Vernunftgläubigen«. Menken lehrt »überhaupt ganz naiv und ausgesprochen jenen handfesten Semipelagianismus, der einem Goethe nicht weniger selbstverständlich war und blieb als einst einem Spalding und Jerusalem«.31 Diese theologischen Themen sind aber auch nicht der Hauptgrund für Menkens Kampfhaltung und Märtyrer-Stimmung (gegenüber der Aufklärung). Dieser ist vielmehr »ein ganz bestimmtes Formprinzip, das für die Erfassung seiner Predigtaufgabe von Anfang an massgebend gewesen ist«, nämlich der Biblizismus.32 Es kommt bei Menken am Ende des 18. Jahrhunderts zu einer »Erneuerung des altreformierten Schriftprinzips«33, ein Phänomen, dessen Bedeutsamkeit Barth unterstreicht: »Unter dem Vielen, was man sich am Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts ›entÞtiert‹ hat, war dieses, was Menken sich entÞtierte, 28 Ebd. 29 Barth, Die protestantische Theologie, 471 f. Das Menken-Zitat stammt aus einem Brief Menkens an den Freund Schlegtendal vom 5. Jan. 1793. Vgl. Gildemeister, Leben und Wirken I, 65. 30 Barth, Die protestantische Theologie, 472 f. 31 Alle Zitate in: Barth, Die protestantische Theologie, 472 f. 32 Ebd. 473. 33 Ebd. 477.

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Der theologie- und geistesgeschichtliche Kontext Gottfried Menkens vielleicht doch das Verheißungsvollste, näherte sich dieses am stärksten dem Punkte, wo alles Sich-entÞtieren ein Ende hat.«34

Obwohl Menken in keiner Weise konfessionell interessiert war, ist es nach Barth doch unverkennbar »ein Grundprinzip reformierter Tradition«35, dem sich Menken damit verpflichtet wusste. Das Formprinzip des Biblizismus hat wichtige homiletische Konsequenzen: Die Predigt hat nichts anderes als Schrifterklärung zu sein. Die ausschließliche Bindung der Predigt an das biblische Wort und die geschichtliche Offenbarung bedeutet »eine Verkürzung des üblichen Inhalts der Predigt«.36 Es gibt nämlich keine natürliche Theologie, die etwa als Voraussetzung und Grundlage der geoffenbarten in Betracht kommen könnte. Eine Erweiterung des üblichen Inhalts der Predigt sieht Barth in der »konstitutiven Bedeutung«, die das Alte Testament für Menken hat. Auch dies ein Erbe reformierter Tradition.37 Menken praktiziert in seiner Predigt (und Theologie) eine bewusste, erstaunlich bedenkenlose Freiheit gegenüber der Kirche und ihrer dogmatischen Tradition. Barth fasst seine positive Würdigung Menkens so zusammen: »Zweifellos: hier sind entscheidende Dinge in vorteilhaftem Gegensatz nicht nur zu der idealistischen Theologie, sondern auch zu der der Erweckung und zu der der alten Orthodoxie, ja weithin auch zu der der Reformatoren selbst, zunächst rein exegetisch wieder gesehen und dann auch kraftvoll wieder ausgesprochen und verkündet worden. Menken sagt einmal sehr richtig: es sei auffallend, dass man bloß einfältig und lebendig nach der Schrift von diesen Dingen zu reden brauche, um Alten und Jungen etwas Neues zu sagen. Christus realer Sieger, realer König und darum: Christus unsere reale Hoffnung, die zweite Bitte des Unservaters real verstanden in einer Weise, wie sie (wegen allzu großer Vorsicht gegenüber dem ›Chiliasmus‹) selbst bei Luther nicht verstanden war – diese bei jenem kecken Griff nach der Bibel davongetragene Beute rechtfertigt offenbar jenen Griff bei aller Bedenklichkeit, von der er umgeben war. […] Hier war sicher mehr als Repristination, wie bei Tholuck und Genossen; hier war selbständige Entdeckung bzw. selbständige Wiederentdeckung einer auch der Reformation gegenüber originellen und notwendigen biblischen Einsicht.«38

34 35 36 37 38

Ebd. Ebd. 474. Ebd. Ebd. Ebd. 480.

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3.1.3.3 Barths Kritik an Menken Neben der großen Würdigung Menkens steht die für Barth notwendige Kritik seiner biblizistischen Theologie, »die Kehrseite der Sache«.39 Barth erkennt auch in Menkens Biblizismus jenen Absolutismus wieder, der die Grundhaltung der Zeit der Aufklärung ausmacht. Indem Menken »das Ganze der Bibel durchaus auf eigene Faust feststellen und darstellen wollte«, habe er sich »einer Sicherung beraubt, deren seine an sich so vortreffliche Lehre vom realen Gottesreich und von der realen Hoffnung gar sehr bedürftig gewesen wäre«.40 Die Sicherung, die Barth meint, läge in einer ernsthaften Beachtung der kirchlichen Lehrtradition, wie sie z.B. im sächsischen oder pfälzischen Katechismus des 16. Jahrhunderts festgehalten ist. So sei Menken der eschatologische Charakter der in der Bibel entdeckten Realität des Gottesreiches entgangen. »Er hat ihre Verborgenheit und darum auch ihre prinzipielle Hoheit nicht gesehen.«41 Bei Menken beobachtet Barth die Gefahr, »dass der Biblizismus auf dieser Linie auch zum Schrittmacher des Historismus werden konnte, den er doch gerade bekämpfen wollte«.42 Weitere konkrete Kritikpunkte hängen mit dieser grundsätzlichen Kritik zusammen: Menken habe den Begriff der Heiligkeit »offenbar willkürlich – Ritschl vorwegnehmend – umgedeutet in den der herablassenden Liebe«. Im Volk Gottes auf Erden habe Menken »offenbar allzu schnell die allervortrefflichsten und allererhabensten unter allen Geschöpfen«, »die Hauptpersonen in der Welt« gefunden und deshalb in den Seligpreisungen der Bergpredigt den »Unterricht von den mancherlei besonderen Beschaffenheiten und Vortrefflichkeiten, die von Seiten des Menschen dazu erfordert werden, […] wenn er dieser Seligkeiten teilhaftig werden soll«.43 Allzu eindeutig konnte Menken sagen: »Glaube ist keine Gabe Gottes. Glaube ist schuldiges und höchstes Wohlverhalten des Menschen gegen Gott und einziges Mittel der Erkenntnis und Gemeinschaft Gottes.«44 Menken stehe an Wegscheiders Seite, wenn er erkläre, Gottes Gerechtigkeit bestehe »in der Unparteilichkeit seiner Liebe, vermöge derer er mit keinem Geschöpf aus willkürlicher Gunst oder Ungunst handle, keines aus Willkür erhebe oder erniedrige, so dass jedes gerade so viel Seligkeit und Herrlichkeit besitze, als es würdig sei, und an der Stelle stehe, wo es stehen müsse, wenn die höchste Seligkeit des Ganzen befördert werden solle«.45 Auch Christus unterstehe diesem Verständnis der Gerechtigkeit Gottes, denn Menken lehre, »dass er [Christus, H. M.R.] auf dem Wege der 39 40 41 42 43 44 45

Ebd. Ebd. Ebd. 481. Ebd. 480 f. Ebd. 481. Ebd. Ebd.

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Der theologie- und geistesgeschichtliche Kontext Gottfried Menkens

Prüfung durch seinen allervollkommensten Gehorsam als der Würdigste in ganzen Universum sich erwiesen und durch dieses sein Wohlverhalten, durch seine innere Vortrefflichkeit, eine Rechtfertigung über das ganze Geschlecht gebracht habe, die unter der Bedingung des Glaubens und der Heiligung die unsrige werde, während von einem stellvertretenden Tragen des Zornes Gottes durch ihn schlechterdings nicht die Rede sein soll«.46 Damit löst sich nach Barth die Rechtfertigung faktisch auf in die durch Christus inaugurierte, auf Erden zu vollendende Heiligung, und es stelle sich die Frage, wo nun eigentlich die Berechtigung zu jenem Protest gegen die Verwechslung von Christentum und Moral hingekommen sei.47 Barth fasst seine Kritik folgendermaßen zusammen: »In dem Allem werden offenbar Grenzen überrannt, die bei sorgfältiger Überlegung der von der kirchlichen Dogmatik geleisteten Arbeit, nicht zum Schaden der neuentdeckten Lehre vom Reich, nicht zum Schaden des wirklich biblischen Realismus besser gewahrt geblieben wären. Eschatologie ohne sorgfältiges Bedenken des Anselmischen quanti ponderis sit peccatum, Eschatologie ohne Rücksicht auf die reformatorische iustificatio impii ist eben keine Eschatologie, und wenn sie noch so real und lebenstrotzend sich gebärdete. Wie das ganze Prinzip des Biblizismus erst dann wuchtig und wahr wird, wenn es durch Respektierung des Dogmas aus der fatalen Nachbarschaft mit anderen modernen Titanismen entfernt wird. Die Kirche ist ganz unter der Schrift. Sie ist ganz nur im Hören der Schrift Kirche. Das hat Menken verstanden. Aber nur in der Kirche, nicht im leeren Raum eigenmächtigen Befindens kommt es zum Hören der Schrift. Das scheint Menken weithin nicht verstanden zu haben.«48

Abschließend betont Barth, dass »die Feststellung dieser Bedenklichkeiten der Menkenschen Theologie« uns nicht daran hindern dürfe, »die geradezu prophetische Bedeutsamkeit sowohl ihres Formprinzips wie ihres Sachgehalts in der Ehrerbietung, die Menkens ganze Gestalt unweigerlich erzwingt, anzuerkennen«.49 Es sei aber bedauerlich, dass sich in der offenbarungsgläubigen Theologie des 19. Jahrhunderts mehr die bedenklichen als die verheißungsvollen Aspekte ausgewirkt hätten.

46 Ebd. 47 Nach Barth hatte Menken kein Recht, »Schleiermacher geradezu des Judaskusses zu bezichtigen«, denn seine Gedanken seien hier gerade den Schleiermacherschen nur zu ähnlich, »so anders die Wege sind, auf denen er dazu gekommen ist«. Barth, Die protestantische Theologie, 482. 48 Ebd. 49 Ebd. 482 f.

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3.1.3.4 »Irreguläre Dogmatik« oder unwissenschaftliche Theologie? Wie ist die in den theologiegeschichtlichen Darstellungen erfasste und kommentierte dogmatische Arbeit des nicht wissenschaftlichen Theologen Menken zu beurteilen? Karl Barth zählt Gottfried Menken zu den irregulären Dogmatikern. Das Phänomen der irregulären Dogmatik im Unterschied zur regulären Dogmatik behandelt Barth in der Kirchlichen Dogmatik im ersten Kapitel (Das Wort Gottes als Kriterium der Dogmatik) in § 7.2 (Dogmatik als Wissenschaft). Zu dieser Unterscheidung und zur positiven Wertung der irregulären Dogmatik führt Barth aus: »Unter regulärer Dogmatik ist ein solches Fragen nach dem Dogma zu verstehen, bei dem es auf diejenige Vollständigkeit abgesehen ist, die der besonderen Aufgabe der Schule des theologischen Unterrichts, angemessen ist. […] Unter irregulärer Dogmatik ist demgegenüber ein solches Fragen nach dem Dogma zu verstehen, bei dem die Aufgabe der Schule zunächst nicht ins Auge gefaßt und bei dem es darum auf die bewußte Vollständigkeit zunächst nicht abgesehen ist. Dogmatik als freie Aussprache über die bei der kirchlichen Verkündigung sich ergebenden Probleme unter dem Gesichtspunkt der Frage nach dem Dogma kann und muss ja in der Kirche auch außerhalb der theologischen Schule und abgesehen von deren besonderer Aufgabe getrieben werden. Es gab solche freie Dogmatik, bevor es reguläre Schuldogmatik gab, und sie wird neben dieser immer wieder ihre Notwendigkeit und Möglichkeit haben. Sie wird sich von jener dadurch unterscheiden, dass sie nicht mit derselben Folgerichtigkeit aufs Ganze geht, weder hinsichtlich der kirchlichen Verkündigung selbst, noch hinsichtlich des entscheidenden biblischen Zeugnisses, noch hinsichtlich der Dogmengeschichte, noch hinsichtlich der Systematik in einzelnen, noch hinsichtlich der Strenge und Deutlichkeit der Methode. […] Sie wird vielleicht in bezug auf die explizite und implizite Deutlichkeit ihres Erkenntnisweges oder in mehreren oder in allen zugleich Bruchstück, Fragment sein oder sein wollen und als solches gewürdigt werden müssen.«50

Für Barth ist »die Hauptmasse« der aus der alten Kirche überlieferten dogmatischen Arbeit irreguläre Dogmatik. »Luther war im Unterschied zu Melanchthon und Calvin ein geradezu charakteristisch irregulärer Dogmatiker.«51 In der jüngeren Theologiegeschichte steht Menkens Name diesbezüglich neben denen von J.G. Hamann, H.Fr. Kohlbrügge und H. Kutter. Zur Beziehung von regulärer und irregulärer Dogmatik erklärt Barth: 50 Barth, KD I/1, 292. 239 f. 51 Barth, KD I/1, 294. Für Barth ist Luthers Theologie auch instruktiv »für die Gefahren, von denen eine irreguläre Dogmatik bedroht ist«. (KD I/1, 296)

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Der theologie- und geistesgeschichtliche Kontext Gottfried Menkens »Man wird im ganzen sagen müssen, dass die irreguläre Dogmatik wohl in allen Zeiten der Kirche ihrem Namen zuwider faktisch die Regel, die reguläre Dogmatik dagegen die Ausnahme bildete. Und man muss bemerken, dass die reguläre Dogmatik immer aus der irregulären hervorgegangen ist und ohne deren Anregung und Mitwirkung nie bestehen konnte.«52

Die Charakterisierung Menkens als irregulärer Dogmatiker ermöglicht Barth eine positivere Würdigung Menkens im Vergleich mit seiner Beurteilung durch Emanuel Hirsch in dessen Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, auf die nun einzugehen ist. Hirsch wertet Menken auch ab wegen seiner Unwissenschaftlichkeit, wenn er schreibt: »Eigentlich wissenschaftliche Überlegungen darf man von ihm nicht erwarten. Wir haben von ihm nur volkstümliche Schriften und bibelauslegende Predigten […]. Es bestätigt sich an ihm, dass ein außerwissenschaftliches, subjektiv-persönlich bedingtes Bibelverständnis niemals eine reine und unbefangene Erfassung der biblischen Aussagen darstellt.«53

3.1.4 Distanzierung vom »Diastatiker« Menken – die Sicht Emanuel Hirschs Hirschs Geschichte der neuern evangelischen Theologie wurde 1954 in erster Auflage in fünf Bänden veröffentlicht. Es handelt sich um ein opus magnum, dessen Umfang, Sorgfalt, Detailkenntnis und Darstellungskraft bis heute imponiert und Respekt gebietet. Hirsch schreibt über das gesamte Projekt: »Das Werk setzt sich kein andres Ziel als dies, den merkwürdigen Wandel, welcher seit dem siebzehnten Jahrhundert mit den Gedanken und Urteilen der geistig führenden protestantischen Völker auf dem Gebiet von Religion, Christentum und Theologie vor sich gegangen ist, in einem vollständigen Bilde darzustellen.«54

Das Verständnis dieses »merkwürdigen Wandels« mitsamt seiner Beurteilung ist ein völlig anderes als bei Barth. Es ist unkritisch und weitgehend positiv. Hirsch sieht die Theologie durch diesen Wandel zwingend in die Pflicht genommen. Max Geiger hat bereits 1953 eine kritische Analyse der Theologiegeschichte von Hirsch vorgelegt. Er schreibt zum Grundanliegen dieses großen Werkes: 52 Barth, KD I/1, 294. Zu Luthers irregulärer Dogmatik sagt Barth: »Es ist aber auch bezeichnend für ihr kirchliches Gewicht, daß sie es ertrug, in die Schultheologie Melanchthons und Calvins und ihrer Nachfolger einzugehen und alles, was sie bei diesem Prozeß vielleicht auch verloren haben mag, darf uns nicht hindern, anzuerkennen, daß dieser Prozeß um der Kirchlichkeit der Reformation willen ein notwendiger Prozeß war.« KD I/1, 296. 53 Hirsch, Geschichte, Bd. V, 92 f. 54 Hirsch, Geschichte, Bd. I, XI.

Gottfried Menken in Darstellungen der protestantischen Theologiegeschichte 55 »Das Generalthema, das von Hirsch in unzähligen Variationen durchmoduliert und durchgeführt wird, ist das eine: Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts sieht sich die Theologie in zunehmendem Maße neuen geistigen und politischen Potenzen gegenüber, die ihren Einfluss geltend machen und die nicht nur die allgemeine Lage, sondern auch die Stellung der Theologie von Grund auf verändern. Das neue, der christlichen Religion fragend gegenübertretende menschliche Bewusstsein ist eine ›Geschichtsmacht‹, an deren ›unwiderstehlichem Heraufziehen‹ keine theologische oder kirchliche Stellungnahme auf die Dauer etwas zu ändern vermag. Das menschliche Denken, das mehr und mehr zu sich selber kommt und der ihm innewohnenden Wahrheit bewusst wird, ist eine ›Wirklichkeitsmacht‹, die auch für theologisches Denken und Schaffen bestimmend wird.«55

Die von Hirsch durchgehend benannten – fast möchte man sagen – beschworenen »Geschichtsmächte« dieses neuen menschlichen Bewusstseins stellen die Theologie nach Hirsch »unentrinnlich« vor »Neudenkungsaufgaben«.56 Unter dem Druck der Vernunfteinsichten muss sich »der Begriff geoffenbarter Lehre allmählich einer völligen Umbildung unterziehen«.57 Angesichts der Geschichtsmächtigkeit des neuzeitlichen Denkens darf die Theologie nicht – zum Schaden ihres kostbarsten Erbes, der protestantischen Wahrhaftigkeit – darauf verzichten, »den Glauben mit der neuen geistigen Haltung innerlich zu verbinden«.58 Für die Darstellung der Theologie Menkens und ihre negative Beurteilung sind mit dem Grundansatz des Werkes Hirschs bereits die Weichen gestellt. Bei einer kritischen Analyse der Darstellung Hirschs treten auch theologische Prämissen zu Tage, die keine positive Würdigung ermöglichen. Hirsch bezeichnet Menken als »die in den ersten Anfängen der neupietistischen Bewegung führende theologische Persönlichkeit«.59 Kennzeichnend für alle Väter der neupietistischen Theologie ist es, dass sie biblisch-orthodox und nicht kirchlich-orthodox sein wollen. Hirsch beobachtet, dass die Loslösung von der kirchlichen Tradition zu neuen, nicht hinterfragten Abhängigkeiten im Bibelverständnis führt. Damit ist das grundsätzliche Problem des Biblizismus gestellt, auf das zurückzukommen ist.60 Hirsch weist hin auf den großen Einfluss, den vor allem Samuel Collenbusch, Johann Gerhard Hasenkamp, Johann Albrecht Bengel und Johann Konrad Dippel auf Menken hatten. Die Lösung von der kirchlichen Orthodoxie führte dazu, dass die Einflüsse der außerkirchlichen Theologie maßgebend wurden. Bei der Darstellung der Theologie Menkens unterscheidet Hirsch drei Ge55 56 57 58 59 60

Geiger, Geschichtsmächte oder Evangelium, 48. Hirsch, Geschichte, Bd. IV, 173. Hirsch, Geschichte, Bd. I, 280. Ebd. 160. Hirsch, Geschichte, Bd. V, 92. Vgl. dazu unten Kapitel 6.8.

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Der theologie- und geistesgeschichtliche Kontext Gottfried Menkens

dankenkreise: die Offenbarungslehre, die Reich-Gottes-Lehre und die Versöhnungslehre. Die Offenbarungslehre Menkens begründet seinen Biblizismus, den Hirsch in Aufnahme eines Schmähwortes Lessings nur »Bibliolatrie« nennen kann.61 Hirsch analysiert den Offenbarungspositivismus Menkens, der auf der Gültigkeit des Alten, Überlieferten insistiert, und erkennt darin die Ursache eines extremen Konservativismus: »Alle Revolutionen sind gegen das Reich Gottes. So mündet die Offenbarungslehre aus in eine Welt- und Geschichtsansicht, welche sowohl die politischen Ziele des werdenden westlichen Demokratismus wie den Humanitätsgedanken der deutschen Philosophie und Bildung und das damit gesetzte Streben zum Idealreiche hin als widergöttliche verneint. Alles das ist mit Bibelglauben unverträglich. Hier erzeugt die biblische Orthodoxie des Neupietismus aus sich heraus die konservative Welt- und Geschichtsansicht der preußisch-norddeutschen Restauration. Es gibt eine Linie von Menken zu Friedrich Julius Stahl.«62

Auch der Reich-Gottes-Lehre Menkens kann Hirsch nichts Gutes abgewinnen. Im Gegenteil. Nach einer korrekten Zusammenfassung der Gedanken Menkens folgt eine vernichtende Kritik. In dieser Kritik offenbart sich ein vehementer Antijudaismus: »Christlicher Glaube ist bei Menken in der Tat nichts als theokratischer Messianismus im Sinne spätjüdischer Schriftauslegung, ergänzt durch den Glauben, dass der Messias in Jesus von Nazareth schon gekommen ist. D. h. erstens, sämtliche Fäden, die christliches Denken mit der Bildung und Philosophie der indogermanischen Völker, es seien nun Griechen, Römer oder moderne Europäer, verbinden, sind zerschnitten. Es bleibt eine fremdartige Religion zurück, welche mit ihren derben Vorstellungen von Gottesreich und Ewigkeit einem an europäischer Geistigkeit Anteil habenden Menschen leicht als seiner unwürdig vorkommen kann. Zweitens aber, der historische Gegensatz Jesu wider die alttestamentlich-jüdische Gestaltung der Endhoffnung und die damit zusammenhängende antitheokratische, auf das wahrhaft ewige Reich der Freiheit und des Geistes gerichtete Art des Evangeliums sind hier preisgegeben. Wo findet sich in der Botschaft Jesu das ›heilige Recht‹ (ius divinum), gemäss welchem der von Gott bestellte Messias-König sein Regiment im Namen Gottes ausübt und das zu gleicher Zeit Regelung des Verhältnisses von Gott und Mensch wie Ordnung und Verfassung einer Universalmonarchie ist? Dies ist nicht Evangelium, sondern klares, reines Altes Testament.«63 61 Hirsch, Geschichte, Bd. V, 95. 62 Hirsch, Geschichte, Bd. V, 96 f. Hirsch bezieht sich hier auf Menken, Schriften VII, 95.128. 63 Ebd. 98 f.

Gottfried Menken in Darstellungen der protestantischen Theologiegeschichte 57

Ähnlich lautet auch das Urteil über die Versöhnungslehre Menkens: »Es ist somit in der Tat auch in diesem Gedankenkreis der eigentümliche Geist des Evangeliums unter die Gefangenschaft eines fremden Gedankens gelegt.«64 Hirsch kann hier aber würdigen, dass Menken alles getan habe, »um den Gott der Rache und der Vergeltung als eine unbiblische Wahnvorstellung zu erweisen und die Versöhnung von dem Gott der Liebe her zu denken«.65 Menken erkenne zu Recht: Gott ist Subjekt und nicht Objekt der Versöhnung. Hirsch akzeptiert aber nicht, dass nach Menken kein Unterschied der Gotteserkenntnis im Alten und im Neuen Testament besteht. Für ihn ist es »das Gottesbild der Psalmen, das Menken seiner Fassung der Versöhnungslehre zugrunde legt«.66 Hirsch spricht auch vom »edleren Teil des Alten Testaments«.67 In Menkens kenotischer Christologie erblickt Hirsch »die kraß mythologische Vorstellung, […] dass der ewige Gottessohn, das göttliche Ebenbild, sich in den richtigen, im sündlichen Fleisch lebenden und es unsündlich machenden Menschen Jesus, diesen großen Streiter wider den Teufel, richtig verwandelt habe, nicht viel anders, als im orientalischen Märchen eine Gottheit oder ein Geist sich in ein Tier verwandelt und dabei die Gefahren dieses Zustandes auf sich nehmen muß.«68

Das wichtigste Argument aber für die Ablehnung der Versöhnungslehre ist der Glaubensbegriff Menkens: »Die göttliche Liebe zeigt sich in der Bereitstellung einer Heilsmöglichkeit, deren Benützung Sache des rein aus sich selbst entscheidenden und handelnden freien Willens ist. […] Wie man sich auch ausdrücke, dieser Glaube ist ein Werk. Die Versöhnungs- und Rechtfertigungslehre ist bei Menken durch einen werkhaften Glaubensbegriff ins Moralistische und edlere Alttestamentliche zurückgebogen.«69

Das negative Gesamturteil Hirschs über Menkens Theologie nimmt einen Begriff auf, mit dem die dialektische Theologie des frühen Karl Barth – in kritischer Absicht – charakterisiert wurde: Diastase: »Menken ist mit seiner neupietistischen biblischen Orthodoxie wohl der erste bewußte Vertreter derjenigen theologischen Haltung wider alle aus aufgeklärter Bildung und Wissenschaft kommenden Gedanken und Antriebe gewesen, welche man im 20. Jahrhundert mit dem Schlagwort Diastase – d. h. Abstandnahme – gekennzeichnet hat.«70 64 65 66 67 68 69 70

Ebd. 102. Ebd. 99. Ebd. Ebd. 101. Ebd. Ebd. 101 f. Ebd. 102.

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Der theologie- und geistesgeschichtliche Kontext Gottfried Menkens

So endet die Darstellung Menkens in der Theologiegeschichte Hirschs mit der Abstandnahme vom »Diastatiker« Menken – fast im Ton der Empörung: »Ein religiöser Historiker, welcher doch wohl an die lebenerhaltende und lebeneinigende Macht der Wahrheit glaubt, wird ihm [Menken, H.M.R.] wie manchem andern Diastatiker gegenüber fragen müssen, ob hier nicht Abstandnahme von der Wahrheit geübt und gepflegt werde. Man gehe in Gedanken noch einmal durch, welche ungeheuerlichen philosophischen, dogmatischen und historischen Aussagen alle ein Mensch gläubig annehmen muß, welcher der göttlichen Autorität der Bibel, so wie Menken es versteht, sich beugen will. Welcher Unterrichtete und Gebildete kann das, ohne vielfach Abstand zu nehmen von dem, was ihm als Wahrheit vorm Gewissen steht? Können sich Religion und Kirche an die Leitung einer Theologie, die dies fordert und sogar vollbringt, wirklich hingeben, ohne Schaden zu nehmen?«71

3.1.5 Gottfried Menken im Werk Jan Rohls »Protestantische Theologie der Neuzeit« Das 1997 vorgelegte zweibändige Werk Protestantische Theologie der Neuzeit von Jan Rohls ist die bisher letzte Gesamtdarstellung der evangelischen Theologiegeschichte, die den Zeitraum von der Renaissance bis zur Gegenwart umfasst. Rohls grenzt sich ab von der Darstellung Barths, bei dem sich die Theologiegeschichte in Einzeldarstellungen bedeutender theologischer Lehrer auflöse. Da Barth die Theologiegeschichte »von seinem eigenen Standpunkt aus« beurteile, müsse sie sich »als eine reine Verfallsgeschichte darstellen, in der nach gemeinsamer Überzeugung der sogenannten dialektischen Theologie der Mensch auf Kosten Gottes immer mehr ins Zentrum rückte«.72 Dabei sei Barth selbst stark verwurzelt im 19. Jahrhundert: »Die Verflechtungen der Theologie Barths mit derjenigen des 19. Jahrhunderts sind so stark, dass der Bruch mit der Theologie der Väter mehr Postulat als Realität ist.«73 Rohls Darstellung ist »an der Betonung der Kontinuität der Theologie des 19. u. 20. Jahrhunderts gelegen« und Rohls fühlt sich dem Anliegen Hirschs verpflichtet, die außertheologischen Faktoren der Entwicklung der Theologie, vor allem die Philosophie, stärker als bei Barth zu berücksichtigen.74 71 72 73 74

Ebd. Rohls, Protestantische Theologie, Bd. I, XVIIII. Rohls, Protestantische Theologie, Bd. I, XVIIII. Im Unterschied zu Hirsch soll aber die außerdeutsche Entwicklung stärker integriert werden, und zwar so, »dass sie [die Darstellung Rohls’, H. M.R.] nacheinander die Entwicklung der protestantischen Theologie im Kontext der philosophischen und sonstigen geistigen Strömungen in Frankreich, Grossbritannien, den Vereinigten Staaten, den Niederlanden, Skandinavien und im deutsch-sprachigen Raum behandelt«. Rohls, Protestantische Theologie, Bd. I, XXIII. Rohls hat Teile seines Werkes im Wintersemester 1995/96 in Zürich vorgetragen und

Gottfried Menken in Darstellungen der protestantischen Theologiegeschichte 59

Auf Menken geht Rohls ein im dritten Kapitel seines Werkes, das sich auf die »Revolutionszeit und napoleonische Ära« bezieht, und zwar im Abschnitt »Supranaturalismus und Spätpietismus«. Als »außertheologischer Faktor« wird in diesem Kapitel neben der politischen auch die philosophische Entwicklung berücksichtigt: Kant und Fichte, Schelling und Hegel werden ausführlich behandelt. Menken wird also von Rohls als Vertreter des sogenannten Supranaturalismus und des Spätpietismus verstanden. Das Phänomen des biblischen Supranaturalismus demonstriert Rohls am Württemberger Theologen Gottlob Christian Storr (1746–1805), dem Begründer der älteren Tübinger Schule (Tübinger Orthodoxie), und an Frank Volkmar Reinhard (1753–1812), dem Hauptrepräsentanten des sächsischen Supranaturalismus. Das entscheidende Kennzeichen des Supranaturalismus ist die Ablehnung der Vernunft als Quelle oder Maßstab übersinnlicher Erkenntnis und die ausschließliche Geltung der Bibel als Zeugnis göttlicher Offenbarung: »Während der Rationalismus die Offenbarungsreligion entweder in die moralische Vernunftreligion auflöst oder als deren Veranschaulichung und Bestätigung faßt, ist es das Kennzeichen des reinen Supranaturalismus, daß er die Religion ausschliesslich in einer übernatürlichen Offenbarung gegründet sein läßt.«75

Damit ist exakt die Position Gottfried Menkens getroffen. Die Unzulänglichkeit der menschlichen Vernunft erkenne Menken auch beim Versuch, das politische Geschehen und die Weltgeschichte zu verstehen. Der bloßen Vernunft sei die Tiefendimension der Weltgeschichte unzugänglich. Diese erschließe sich nur durch die biblische Offenbarung.

3.1.6 Offene Fragen der Forschung zu Gottfried Menken in der Kirchenund Theologiegeschichte Der Überblick über die Forschung zum Werk Gottfried Menkens in kirchenund theologiegeschichtlichen Darstellungen zeigt ein kontinuierliches Interesse an Menken, das nicht an eine theologische Schule gebunden ist und sich in bestimmten Situationen der Kirchengeschichte, vor allem in Krisenzeiten, meldet. Welche Fragen und Unklarheiten sind im Laufe der Forschungsgeschichte aufgetaucht und bedürfen weiterer Klärung?76 bekennt: »Dem Geist der freien Theologie, wie er in der Schweiz am längsten lebendig war, fühlt sich das Werk verpflichtet.« Ebd. 75 Rohls, Protestantische Theologie, Bd. I, 305. 76 Auf die Defizite der predigtgeschichtlichen Werke und die Aufgabe konkreter Analysen der homiletischen Form und des heilsgeschichtlichen Inhalts der Predigten Menkens wird im 5. Kapitel eingegangen.

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Der theologie- und geistesgeschichtliche Kontext Gottfried Menkens

• Der theologiegeschichtliche Ort Menkens bedarf der Klärung. Kann Menken als Vertreter der Erweckungsbewegung verstanden werden oder ist er »nur« ein Wegbereiter? Welcher Tradition ist er primär zuzuordnen? • Die Bezeichnung Menkens als Biblizist bedarf der dogmatischen Klärung: Was ist kennzeichnend für diesen Biblizismus? Wie unterscheidet er sich vom »Biblizismus« der Reformatoren? Wie erklärt sich die theologiegeschichtliche Genese des Biblizismus Menkens? Ist der Begriff des Biblizismus heute noch brauchbar? • Ungeklärt ist die Frage nach den prägenden Einflüssen: Welchen Einfluss hatte der Bremer Coccejus und die im reformierten Pietismus weiterwirkende Föderaltheologie auf Menken? Ist Menken nur ein Schüler Collenbuschs oder hat er ein eigenes Profil und noch andere Einflüsse verarbeitet? Was hat er von Johann Albrecht Bengel und den anderen Württembergern übernommen, was verdankt er dem von ihm hochgeschätzten Johann Georg Hamann? • Auch die vielfach betonte Wirkungsgeschichte Menkens müsste genauer erhellt werden. Welche Aspekte der Theologie Menkens sind von der Erweckungsbewegung rezipiert worden? Wie ist der Einfluss Menkens auf die sogenannte Erlanger Schule und auf die weitergehende Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts (Albrecht Ritschl, Martin Kähler) und schließlich auf Karl Barth genauer zu bestimmen? Die folgenden Ausführungen wollen den theologie- und geistesgeschichtlichen Kontext Menkens erfassen und damit zur Klärung dieser Fragen beitragen.77

3.2 Frömmigkeitsgeschichtliche und theologische Prägungen Menkens 3.2.1 Bremer Mutterboden: die Föderaltheologie und der reformierte Pietismus – Johannes Coccejus, Friedrich Adolph Lampe Gottfried Menken wurde am 29. Mai 1768 in Bremen geboren. Sein Vater war Gootje Menken, der zunächst als Kaufmann tätig war und später VorstadtCapitain der Bürgerkompanie in Bremen wurde. Seine Mutter, Marie Sophie Eleonore Tiling, war eine Enkelin des berühmten Theologen Friedrich Adolph Lampe. Menken blieb seiner Heimat, der alten Hansestadt Bremen, stets aufs engste verbunden. Sein Aufwachsen im speziellen pietistisch geprägten Milieu 77 Die Problematik des Begriffs »Biblizismus« wird im 6. Kapitel diskutiert. Die Wirkungsgeschichte Menkens wird im 11. Kapitel behandelt.

Frömmigkeitsgeschichtliche und theologische Prägungen Menkens

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seines frühen Lebenskreises stellte die Weichen für seinen besonderen theologischen Weg. Menken hat schon als Gymnasiast gepredigt. Nach einer Predigt, die er in der Remberti-Kirche gehalten hatte, wurden seine Eltern zu ihrem Sohn beglückwünscht, »der in die Fusstapfen seines berühmten Urgrossvaters Friedrich Adolph Lampe zu treten verspreche«.78 Eine begeisterte Predigthörerin erinnert sich an den predigenden Gymnasiasten, als er eine Anstellung in Bremen fand und schreibt einer Freundin: »Ein Tadel, den ich vor achtzehn Jahren über ihn hörte, als er noch das hiesige Gymnasium frequentierte, machte mir ihn zuerst lieb und werth, nämlich, dass er sich entÞtiere sein Christenthum nur aus der Bibel schöpfen zu wollen.«79 Unter welchen Einflüssen ist es zu diesem »EntÞtieren« gekommen, an dem Menken dann sein ganzes Leben lang festhielt? Wie hat die Frömmigkeit seines Elternhauses, wie hat »bremische Theologie«, die verbunden ist mit den bedeutenden Namen eines Friedrich Adolph Lampe und eines Johannes Coccejus, seine Entwicklung beeinflusst? So kommt zunächst der Bremer Mutterboden Menkens in den Blick. Zum Verständnis der kirchlichen Situation Bremens zur Zeit Menkens ist ein Überblick über die besondere kirchliche Entwicklung der Stadtrepublik hilfreich.

3.2.1.1 Eine reformierte Landeskirche mit lutherischem Kirchenregiment des Staates Bremen hatte sich zunächst der lutherischen Reformation angeschlossen. Der Anlass war eher zufällig und zeigt die Wirkungskraft vollmächtiger Verkündigung: Als der niederländische Augustinermönch Heinrich von Zütphen auf seiner Durchreise nach Wittenberg in Bremen Station machte und am 9. November 1522 in der St. Ansgarii-Kirche als Anhänger Luthers predigte, fand er begeisterte Zustimmung. Das Luthertum aber hatte in Bremen keine Zukunft. Es vollzog sich unter starken Kämpfen, die sich vor allem auf die Abendmahlslehre bezogen, ein allmählicher Übergang zum Calvinismus.80 1581 kam Christoph Pezel nach Bremen und übernahm 1584 das Amt des Superintendenten. Pezel wurde vom Rat der Stadt berufen, um die konfessionellen Streitfälle zu bereinigen. Er stammte aus Plauen, hatte in Wittenberg studiert und war dort 1570 von der theologischen Fakultät promoviert worden. Pezel gehörte zur Wittenberger Bewegung des sogenannten Kryptocalvinismus, eines Überganges von Melanchthon-Schülern zum Calvinismus und zum deutsch-reformierten Kirchentum. Er pflegte engen Kontakt mit 78 Gildemeister, Leben und Wirken I, 10. 79 Gildemeister, Leben und Wirken II, 7. 80 Vgl. zu den Einzelheiten die Darstellung bei Wenig, Rationalismus und Erweckungsbewegung, 3–29.

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Der theologie- und geistesgeschichtliche Kontext Gottfried Menkens

Ursin und anderen reformierten Theologen und verfolgte die Idee einer Vollendung der lutherischen Reformation nach dem Genfer Modell Calvins. Jürgen Moltmann hat diesen Kryptocalvinismus beispielhaft untersucht an der Gestalt, am Lebensweg und am Wandel der Theologie Christoph Pezels.81 So kommt es in Bremen durch das Wirken Pezels zu einer zweiten Reformation.82 Mit dem Consensus Bremensis Ecclesiae schuf Pezel eine neue Kirchenordnung, auf die bis 1784 alle Geistlichen der Stadt verpflichtet wurden. Moltmann schreibt: »Erst in diesem ›reformierten‹ Reformwerk gewann die kleine Stadt an der Weser ihren unverhältnismäßig großen Ruhm als Hort des Evangeliums und der Glaubensfreiheit für die kommenden Jahrhunderte.«83 Der Übergang zum Calvinismus war natürlich auch eine politische Entscheidung und hatte politische, wirtschaftliche und kulturelle Folgen. Die reformierte Stadtrepublik Bremen war umgeben von lutherischen Landeskirchen und pflegte besonders engen Kontakt zu den Niederlanden und den deutsch-reformierten Gebieten, besonders am Niederrhein. Die Niederländer sahen in den Bremern Glaubensgeschwister und standen seit 1616 in einem Bündnis mit Bremen. Als der Rat der Stadt aber dann am 25. Juni 1618 eine Einladung zur Teilnahme an der Synode zu Dordrecht erhielt, die die Arminianer verurteilen sollte, war man eher verlegen als erfreut. Da man den Handel mit Holland und den anderen Hansestädten nicht aufs Spiel setzen wollte, entsandte man schließlich drei ausgesuchte Theologen an die Synode, nämlich Matthias Martinius, den Rektor des Gymnasiums Illustre und späteren Lehrers von Johannes Coccejus, sowie Heinrich Isselburg, von 1607 bis 1628 Pfarrer an Unser Lieben Frauen, und Ludwig Crocius, Pfarrer an St. Martini und von 1628 bis 1652 an Unser Lieben Frauen. Sie gingen mit der Ermahnung, »daß nicht die gelinde Lehre (moderata doctrina) […] mit neuen Redensarten der Ausländer schwerer gemacht werde«. Sie sollten vielmehr im Auge behalten, »daß unsere Vorfahren, sowohl im weltlichen, als im geistlichen Stande aus Melanchthons Schule entsprungen und die Augsburger Konfession mit der Apologie, corpus doctrinae und den Frankfurter Rezess von 1558 nebst heiliger Schrift für symbolische Bücher gehalten und diese von den ankommenden Predigern nebst dem Consensus Ministerii unterschrieben worden seien«.84 Die bremischen Theologen sollen tatkräftig mitgeholfen haben, dass sich der supralapsarische Standpunkt des Gomarus auf der Synode nicht durchgesetzt hat. 81 Es handelt sich um die Habilitationsschrift Jürgen Moltmanns. Vgl. Moltmann, Christoph Pezel. 82 Moltmann weist auf die ähnlichen Vorgänge hin, die sich seit 1560 in der Pfalz, seit 1578 in Nassau und um die Jahrhundertwende in Lippe und Hessen abspielten: »Die gleichen Elemente, die man bis dahin ›Kryptocalvinismus‹ nannte, kamen in der ›zweiten Reformation‹ zum Durchbruch«. Moltmann, Christoph Pezel, 14. 83 Moltmann, Christoph Pezel, 5. 84 Wenig, Rationalismus und Erweckungsbewegung, 30 f. Wenig bezieht sich auf die Bremer Staatsakten und die ausführliche Schilderung der Vorgänge bei Veeck, Geschichte der Reformierten, 67.

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Die reformierte Kirche in Bremen, die Christoph Pezel schuf, geriet nicht nach dem Vorbild Genfs. Ein Grund liegt wohl in der engen Berührung mit den Lutheranern, die aus dem Umland in die Stadt kamen. Sie hatte zur Folge, »dass Sitte und Ritus nicht streng nach reformiertem Vorbild ausgeprägt wurden«.85 Ein radikaler Konfessionalismus entsprach auch nicht der Mentalität und den Interessen einer offenen Hansestadt, der wirtschaftliche Beziehungen in alle Richtungen wichtig waren. Gottfried Mai stellt fest: »Auch der 1595 durchgeführte Consensus Bremensis blieb nur der Versuch einer reformierten Kirchenverfassung. Die presbyterial-synodale Ordnung der Kirche, wie sie in Schottland, den Niederlanden, Frankreich und am Niederrhein sowie in den reformierten Gemeinden der Diaspora in Lübeck, Danzig und anderswo durchgeführt war, bestand in Bremen nicht. […] Die vielen Religionsstreitigkeiten trugen zur Festigung der staatlichen Macht über die Kirche bei. Vollends unter dem theologisch geschulten Bürgermeister Daniel von Büren wurde der Plan des Pezelius, eine kirchliche Selbstregierung zu schaffen, zum frommen Wunschtraum. Trotzdem gelang es Pezelius, als geistliche Behörde ein Ministerium der bremischen Stadtprediger zu schaffen, das aber mit dem Rat, der keines seiner errungenen Rechte abtreten wollte, in ständiger Fehde lag.«86

Otto Wenig fasst die Entwicklung der Bremer Kirche seit der »zweiten Reformation« so zusammen: »Die Bremische Kirche war zur Magistratskirche geworden, die zwar eine reformierte Lehre vertrat, aber nicht einer reformierten Kirchenordnung Rechnung trug. Sie war eine reformierte Kirche mit lutherischem Kirchenregiment des Staates.«87

In einem kurzen Überblick über die Kirchengeschichte der zum Calvinismus übergetretenen Hansestadt Bremen darf ein Hinweis auf das Gymnasium Illustre, das schon im Zusammenhang mit dem nach Dordrecht entsandten Mathias Martinius erwähnt wurde, nicht fehlen. Im reformierten Bremen, das wie eine Insel von lutherischen Kirchen umgeben war, fehlte eine theologische Hochschule. Pezel ließ deshalb die 1539 im alten Katharinenkloster an der Sögestrasse errichtete Schola publica, eine Lateinschule, 1584 durch die Fächer Theologie, Philosophie, Jura und Medizin erweitern. Sie erhielt den Namen Gymnasium Illustre und hatte den Rang einer Universität. Die alte Lateinschule bestand weiter unter dem Namen Pädagogium. Der Übergang vom Pädagogium zum Gymnasium erfolgte mit dem 17. Lebensjahr. Oft aber zogen die Bremer es vor, an auswärtigen Universitäten zu studieren und wählten gern 85 Mai, Die niederdeutsche Reformbewegung, 60. 86 Mai, Die niederdeutsche Reformbewegung, 60, Anm. 8. 87 Wenig, Rationalismus und Erweckungsbewegung, 29 f.

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die Hochschulen am Niederrhein und in den Niederlanden. Es kamen aber auch Auswärtige zum Studium nach Bremen.88

3.2.1.2 Spätpietismus und Aufklärung in Bremen Als Gottfried Menken 1768 geboren wurde, ging die Epoche des Pietismus in der Bremer Kirchengeschichte, der durch bedeutende Pfarrer vertreten wurde und die Orthodoxie allmählich zurückgedrängt hatte, zu Ende. Inzwischen hatte die Aufklärung auch in der alten Hansestadt ihre Anhänger gefunden und begann die Kanzeln zu beherrschen.89 Menkens Familie und Lebenskreis gehörten zu jenen, die an der pietistischen Frömmigkeit und Bibeltreue festhielten und die Aufklärung entschieden ablehnten. Obwohl Menken sich selbst nicht als Pietist bezeichnet, ist doch seine frühe Prägung durch den reformierten Pietismus offensichtlich. Der Pietismus wird in der Regel als eine genuin lutherische Erneuerungsbewegung verstanden und sein Beginn mit der 1675 erschienenen programmatischen Schrift Pia desideria des Lutheraners Johann Jakob Spener verbunden. Das pietistische Anliegen, vor allem die Betonung des eigenen Bibelstudiums, der persönlichen lebendigen Frömmigkeit und eines Christentums der Bewährung im Alltag, wirkte aber schon bald in die reformierten Kirchen hinein. Besonders erfasst wurden davon die reformierten Kirchen in Nordwestdeutschland, am Niederrhein und in den Niederlanden, so dass man von einer »niederdeutschen Reformbewegung« sprechen kann.90 88 Zur Aufwertung des Gymnasiums Illustre unter Christoph Pezel und dem Bürgermeister von Büren schreibt Iken: »Unsere Stadt sollte damit aus einem calvinistischen Ketzernest zu einer weithin strahlenden Leuchte gemacht, dass Odium in ein Decus verwandelt werden. Von allen Seiten sollte die Jugend nach Bremen eilen, der Ruhm die Scheelsucht der Nachbarn überwinden. […] Bremen trat damit faktisch in die Reihe der Universitäten und hat seinen Ruf vor allem für die reformierte Kirche für lange Zeit mit Ehren behauptet.« Iken, Die Wirksamkeit, 30 f. 89 Der bedeutendste Vertreter des Rationalismus war der aus Zürich stammende Johann Jakob Stolz (geboren dort 1753 und dort gestorben 1821), der von 1784 bis 1811 an St. Martini wirkte. Weitere Rationalisten waren Nikolaus Tieling (1748–1809), von 1776 bis 1809 zweiter Prediger in der St. Martini–Gemeinde, Johann Caspar Häfeli, der von 1793 bis 1805 mit großem Zulauf an St. Ansgarii wirkte, Johann Ludwig Ewald, von 1796 bis 1805 an St. Stephani tätig als Vertreter eines gemäßigten Rationalismus, Christoph Georgius Meister von 1784 bis 1811 an Unser Lieben Frauen u.a. Menken nannte 1801 seine Vaterstadt, die seit Jahrhunderten den Ehrentitel Hospitium ecclesiae trug, eine »Herberge des Satans«: »Ach, unsere Vaterstadt ist so wenig mehr, was sie war, dass ich fast froh bin, nicht in ihr leben zu müssen, und gar kein Verlangen habe, zu ihr zurückzukehren. Sie nannte sich einst, und war es auch wohl in ihrem Maße: Hospitium Ecclesiae Domini. Jetzt kann man sie, und es ist zu fürchten, in immer weiterm Sinn: Hospitium Ecclesiae Satanae nennen. Schlechte Menschen haben in ihr die Oberhand und suchen mit intolerantem Sektengeist auf alle Art und Weise ihre Parthei zu verstärken.« Menken, Briefe, 138. 90 Vgl. Mai, Die niederdeutsche Reformbewegung.

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Der Pietismus hielt in Bremen Einzug mit der Berufung Theodor Undereycks (1635–1693) an St. Martini im Jahr 1670. Er gilt als »Vater des bremischen Pietismus«.91 Weitere bedeutende Vertreter des Pietismus in Bremen sind Joachim Neander (1650–1680), der Liederdichter des reformierten Pietismus, der 1679 ebenfalls an die St. Martini–Kirche berufen wurde und dort neben Undereyck nur ein Jahr bis zu seinem frühen Tod wirken konnte, und Friedrich Adolf Lampe (1683–1729), 1709 berufen in seine Vaterstadt an St. Stephani. Nach einer zehnjährigen Amtstätigkeit in der Stephani–Gemeinde übernahm Lampe eine Professur an der Universität Utrecht, kehrte aber 1727 nach Bremen zurück und wurde dritter Prediger an St. Ansgarii. Er verstarb dort 1729. Alle genannten Pietisten waren Coccejaner, am entschiedensten Lampe. Lampes Hauptwerk Geheimniss des Gnadenbundes, das während seiner Amtszeit an St. Stephani entstand, umfasst sechs Teile und zeigt die Aufnahme und Verarbeitung der coccejanischen Bundestheologie mit den Intentionen des Pietismus. Dazu Schrenk: »Lampe will in den Föderalismus eine Vertiefung hineintragen, er will sich nicht nur aufhalten bei den Haushaltungen des Gnadenbundes, sondern von seinem Geheimnis handeln. Dieser pietistische Föderalismus der zweiten Generation unterscheidet sich von dem ihres Urhebers nicht wenig. Man beachte vor allem die ausführliche Asketik und die Neigung, das ›Bundesgut‹ subjektiv zu verinnerlichen, die Redeweise von den Staffeln in der Heiligung, die Ausführlichkeit in der Schilderung der endlichen Herrlichkeit, die sich gegen die kargen Aussagen des Coccejus über das Herrlichkeitsreich auffallend abhebt. Die reichliche Verwendung der Typologie, der Siebenzahl der Vollkommenheit, usw. wird noch fast über den Meister hinaus mit dichterischer Phantasie betrieben. […] Wie stark aber auf der andern Seite das Grundschema des Lehrmeisters nachwirkt, das kann man bei den Ausführungen über den vorzeitlichen Vertrag und vor allem bei der ausgiebigen Behandlung der sieben Zeiten der Kirche des Neuen Testamentes nachprüfen«.92

Johannes Coccejus (1609–1669) erhält in Lampes Geheimniss des Gnadenbundes einen besonderen Platz in der geschichtstheologischen Konstruktion der sieben Zeiten des Neuen Testaments: Er wird als »grosser Apollos« der sechsten Periode hochgepriesen.93

91 So bezeichnet ihn Veeck, Geschichte der reformierten Kirche Bremens, 87. 92 Schrenk, Gottesreich und Bund, 304. 93 Ebd. 303.

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3.2.1.3 Johannes Coccejus und der reformierte Pietismus Johannes Coccejus hat als Hauptvertreter der Föderaltheologie und als Vorbereiter des reformierten Pietismus einen besonderen, wichtigen Platz in der Geschichte der protestantischen Theologie. Als Johannes Koch wurde er am 9. August 1603 in Bremen geboren. Über seine Herkunft schreibt Gottlob Schrenk: »Sein Elternhaus gehörte dem Patriziat an, sein Vater Tiemann Coch war Sekretär des Magistrats. In der Reihe der Ahnen und Verwandten prangt mancher Senatorenname. Es sind fast lauter Juristen und Leiter des Bremischen Staates, die uns da begegnen.«94

Wohl mit Recht weist Schrenk darauf hin, dass »die juristische Veranlagung in seiner Gedankenbildung« auch einen Zusammenhang hat mit dieser familiären Herkunft. Coccejus war in Bremen Schüler der Theologen Matthias Martini und Ludwig Crocius, die als Abgesandte des reformierten Bremen an der Dordrechter Synode eine »moderata doctrina« vertraten und entscheidend dazu beitrugen, dass der Supralapsarismus dort nicht zum Siege kam. Schrenk schreibt: »Dieser mildreformierte Martini übte als Rektor des Bremer Pädagogiums auf Coccejus’ Jugendjahre den entscheidenden Einfluß aus. Der nennt ihn seinen zweiten Vater und stellt ausdrücklich fest, dass er ihm seine Hauptfortschritte verdanke. […] So steht also bereits im Mittelpunkt des ersten Jugendunterrichtes nicht ein schroffer Dogmatismus, sondern ein mehr biblischer Geist, der […] von Heidelberg und Herborn seinen Ausgang nahm.«95

Durch seine Bremer Lehrer war Coccejus hervorragend geschult in der philologia sacra.96 1630 übernimmt er einen Lehrauftrag am Gymnasium Illustre. 1643 übersiedelt er in die Niederlande, wirkt zunächst als Professor der Theologie in Franeker und wird dann 1650 an die erste Universität des Landes nach Leiden berufen, wo er bis an sein Ende (1669) im Lehramt tätig ist. Die Arbeitsleistung des Coccejus ist gewaltig. In den Niederlanden entstehen seine dogmatischen und – zahlreicher noch – seine exegetischen Werke. Hauptwerke sind die Summa doctrinae de foedere et testamento Dei (1648)97 und die Summa theologiae (1662). Coccejus gehört nach Schrenk zu den pokucqav|tatoi seines Zeitalters.98 94 Ebd. 1. 95 Ebd. 3. 96 Nach Schrenk lernte er bereits auf dem Gymnasium Illustre neben Latein, Griechisch und Hebräisch auch Chaldäisch, Syrisch und Arabisch. Er vertiefte sich in den Talmud und ließ sich in Hamburg durch einen Juden im Verständnis der rabbinischen Quellen unterrichten.Vgl. Schrenk, Gottesreich und Bund, 3 f. 97 Dazu Mai, Die niederländische Reformbewegung, 67: »In der ›Summa doctrinae de foedere et

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Coccejus weiß sich ganz der reformatorischen Tradition verpflichtet, geht aber mit der Entwicklung einer heilsgeschichtlichen Bibeltheologie einen neuen Weg, der über das Schriftverständnis und den Schriftgebrauch der Reformatoren hinausführt, der seinerzeit als befreiend empfunden wurde und eine weitreichende Rezeption in allen konfessionellen Lagern erfuhr. Im theologiegeschichtlichen Rückblick wird dann aber auch die Problematik dieser neuen Bibeltheologie deutlich. Die neue Bibeltheologie des Coccejus ist als Föderaltheologie in die protestantische Theologiegeschichte eingegangen. Coccejus war nicht ihr Begründer. Ihr Ursprung liegt in Zürich bei Zwingli und Bullinger: »Von Zürich aus ist diese Richtung über Heidelberg, Marburg und Herborn nach Bremen gewandert und von dort nach Holland gekommen. […] Der erste Anfang wurde nicht in Wittenberg oder Genf, sondern in Zürich gemacht. Zwingli ist der eigentliche Erneuerer des biblischen Bundesgedankens für die reformierte Theologie, aber die Anregung dazu kam ihm wohl von täuferischer Seite. Bullinger gibt im Anschluß an ihn den ersten Entwurf.«99

Bei Coccejus aber hat sie – wie Barth formuliert – »ihre klassische und systematische Gestalt gewonnen«.100 Der befreiende Charakter dieser Theologie, ihre Faszination, ihr »Fortschritt« gegenüber der Tradition und die in ihr liegenden Perspektiven wirken durch Coccejus kräftig in die ihm folgende Theologiegeschichte hinein.101

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testamemto Dei‹ umreißt Coccejus in einem einheitlich klaren Entwurf die gesamte Heilsoffenbarung der Heiligen Schrift, durch welchen alle Bestandteile christlicher Lehre in dieses Gedankenbauwerk eingegliedert werden.« Schrenk, Gottesreich und Bund, 10. Schrenk, Gottesreich und Bund, 36. Anlass war die Auseinandersetzung mit der Täuferbewegung um die Kindertaufe in der Volkskirche und ihre theologische Begründung. Geht man den Ursprüngen der Föderaltheologie weiter nach, so ist schließlich auf Johannes Calvin zu verweisen. Karl Barth findet bereits »in den berühmten Kapiteln, in denen Calvin (Inst. II, 9–11) das Verhältnis zwischen dem Alten und dem Neuen Testament unter dem Begriff des einen Bundes zusammenzufassen versucht hat«, »etwas von der Geschichtsdynamik«, die das Neue, Besondere der Föderaltheologie ausmacht. Barth, KD IV/I, 58. Barth, KD IV/1, 57. Über die Vorgänger schreibt Barth: »Vor ihm haben – um nur die bekanntesten Namen zu nennen – seine Lehrer, die Theologen der Herborner Schule […]: Matthias Martini, Ludwig Crocius, Wilhelm Amesius, Johannes Cloppenburg, haben vor diesen die Basler Polanus und Wolleb und der Niederländer Gomarus, haben in Heidelberg Zacharias Olevian, haben in Marburg Andreas Hyperius, in Bern Wolfgang Musculus, in Frankreich Petrus Boquin, in Ungarn Stephan Szegedin, haben vor allem die Reformatoren selbst: Zwingli, Bullinger und Calvin den Begriff des foedus in allerlei Auffassungen, Auslegungen und Anwendungen mehr oder weniger betont zu Ehren gebracht.« KD IV/1, 58. Barth widmet der Föderaltheologie zu Beginn seiner Versöhnungslehre einen großen Exkurs, der ihre theologiegeschichtliche Bedeutung würdigt, sie aber insgesamt kritisch beurteilt. Vgl. KD IV/I, 57–70. Ihren Grundfehler sieht Barth in der Annahme und Voraussetzung eines ursprünglichen Werkbundes, der in einer Folge von fünf Abrogationen (Abschaffungen) außer Kraft gesetzt und stufenweise vom Gnadenbund abgelöst werde. Der Gnadenbund steht hier an zweiter Stelle. Die theologiegeschichtliche Bedeutung der coccejanischen Föderaltheologie

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Es geht hier nun nicht um eine Gesamtdarstellung der Föderaltheologie des Coccejus102, sondern um das Aufspüren der Vorläuferschaft des Coccejus für weite Bereiche des reformierten und lutherischen Pietismus, für die Entwürfe einer heilsgeschichtlichen Bibeltheologie im 18. und im 19. Jahrhundert und eben auch für Gottfried Menken. Sie sind alle nicht denkbar ohne diesen großen Theologen aus Bremen, dessen Hauptwerke in den Niederlanden entstanden und von dort das Gedankengut seiner föderalistischen Bibeltheologie verbreiteten. Um welche Motive geht es in dieser neuen Bibeltheologie? Die Bibel ist für Coccejus – gut reformatorisch – die einzige Quelle der göttlichen Offenbarung. Er steht aber der dogmatischen Tradition der Kirche kritisch gegenüber und fordert, dass die Theologie ihren Inhalt allein aus der Schrift zu schöpfen habe. Philosophische Begriffe seien durch eine biblische Terminologie abzulösen. Dazu Schrenk: »Das ist in der Tat die eigenartige Bedeutung dieses Schrifttheologen, dass er mit dynamischer Wucht und quellfrischer Ursprünglichkeit der biblischen Forschung durch die petrefakte theologia traditiva von neuem Bahn macht. […] Besonders klar hat er es in der Vorrede zur Summa ausgesprochen, dass der Kirche ein Fortschreiten verheißen sei. Es gebe kein Gebot des Inhalts, daß der Nachfolgende mit der Lehre der Alten sich zu begnügen habe. Gott wolle immer wieder eine neue Gabe schenken. Neubruch in der Schrift, so können wir seine Meinung kurz kennzeichnen, ist das Prinzip des Fortschritts in der Theologie. Das Wort selber reden lassen, das ist mehr als alle Tradition. Eine Erneuerung der Theologie kommt ihm nicht zustande ohne die Antithese: Schrift gegen scholastische Überlieferung.«103

Coccejus erhielt den Beinamen Scriptuarius. In einem Brief (an Friedrich. Spanheim) sagt er einmal, es sei »besser ohne die Sonne zu leben, als ohne steht für Barth außer Frage: »Die Föderaltheologie war der mittelalterlichen, aber auch der ihr vorangehenden und sie umgebenden protestantischen Scholastik gegenüber darin im Vorzug, dass sie das in der heiligen Schrift bezeugte Werk und Wort Gottes (wir befinden uns im Zeitalter des Barock!) dynamisch und nicht statisch, als ein Geschehen und nicht als ein System von objektiv in sich ruhenden Wahrheiten verstehen wollte. Liest man, auch wenn man von Polan, von Wolleb, von der Leidener Synopse herkommt – Coccejus, so steht man unter dem Eindruck, als wäre die ganze überlieferte Dogmatik auf einmal wie ein erstarrter Lavastrom in Fluss gekommen. […] Es geht in dieser Theologie um die kühne Schau einer von der Schöpfung bis zum jüngsten Gericht sich abrollenden Geschichte Gottes und des Menschen, und im Blick auf diese beiden Partner gesagt eben: um ihre (natürlich von Gott eröffnete, regierte und zu ihrem Ziel geführte) Bundesgeschichte (im 19. Jahrhundert sagt man dann: um die Heilsgeschichte).« KD IV/1, 58. 102 Gottlob Schrenk hat diese aufgrund des barocken Stils von Coccejus schwierige Aufgabe in seinem Werk Gottesreich und Bund im älteren Protestantismus vornehmlich bei Johannes Coccejus verdienstvoll gemeistert. 103 Schrenk, Gottesreich und Bund, 23.

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diese Schriften, in denen unser Heil beschlossen ist«.104 Er setzte sich entschieden dafür ein, dass die Kenntnis des Hebräischen und des Griechischen für den Dienst in der Kirche verlangt werden müssen. Der Theologe soll sein potens in scripturis.105 Unter den herkömmlichen proprietates der Heiligen Schrift sind die Vollkommenheit (perfectio) und die Klarheit (perspicuitas) für Coccejus die wichtigsten. Die Schrift ist eine Einheit, ein System, in dem nichts zu viel ist und nichts fehlt von dem, was für das Heil des Menschen notwendig ist: »Die Bibel ist ein organischer Leib, ein lebendiger Organismus. Wer auf das Alte Testament verzichtet, schädigt das Neue Testament und reißt das eine Auge aus. Ein System ist die Schrift, in der ein consensus des durch Mose verkündigten Wortes mit dem aller übrigen Gottesmänner, selbst Christi und der Apostel, wahrzunehmen ist. Gerade das macht sie zu einer unbezweifelbaren Wahrheit. Das Ganze ist eine große Symphonie, ein Bau von völliger Symmetrie, mit Analogie auf allen Seiten. In weisester Ordnung, ohne jede Verwirrung, erstrahlt alles, die Harmonie aller Teile macht die Durchsichtigkeit und Klarheit des Ganzen aus. […] Die Bücher legen sich gegenseitig aus, sie treiben eine Wahrheit und eine Lehre, der Heilige Geist ist in diesem unum systema totius prophetiae ubique sui similis.«106

Die Kerngedanken der Schrift, die sie zur Einheit und zu einem vollkommenen System zusammenschließen, sind der Bund und das Reich Gottes, das foedus und das regnum. Wenn Coccejus nur als Hauptvertreter der Föderaltheologie verstanden wird, so greift das zu kurz. Schrenk hat überzeugend herausgearbeitet, dass seine Theologie zwei Brennpunkte hat: den Bund und das Reich. Nach ihm ist die Reichslehre sogar »zweifellos die eigentlich originale Leistung«107 des Theologen Coccejus: »Der Bund mündet ein in das vollendete Reich.«108 Er ist »das Mittel zur Verwirklichung des Reiches«.109 Das Reich Gottes ist schon im alten Bund vorhanden und verwirklicht sich in der von Gott regierten Heilsgeschichte bis zu seiner Vollendung am Ende der Zeit. Schrenk spricht von einer »reichsgeschichtlichen Betrachtungsweise« bei Coccejus: »Sogar das Stichwort ›historia regni Dei‹ ist bei ihm nachzuweisen. Bei aller Betonung der Unterschiede der Testamente, der auch im Mittelpunkt seiner Gesamtausführungen über das Reich steht, zeigt er eine reichsgeschichtliche

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Ebd. 9. Ebd. 24 f. Ebd. 30 f. Ebd. 293. Ebd. 291. Ebd. 292.

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Der theologie- und geistesgeschichtliche Kontext Gottfried Menkens Betrachtungsweise, die ihm resultiert aus der im Grunde einheitlichen göttlichen Gnadenveranstaltung.«110

Angesichts der beiden Brennpunkte der coccejanischen Bibeltheologie und der großen Bedeutung des regnum Dei neben dem foedus gratiae stellt sich die Frage, warum Coccejus für die Systematik seiner Theologie den Bundesgedanken bevorzugte. Schrenk beantwortet sie so: »Die Ablösung verschiedener Bündnisse schien ihm heilsgeschichtlich entsprechender als die verschiedener Reiche, zumal gerade das Reich die Einheitlichkeit der Herrschaft Gottes zum Ausdruck bringen soll.«111

3.2.1.4 Gottfried Menken und Johannes Coccejus Die frömmigkeitsgeschichtliche Verortung Menkens im reformierten Pietismus Bremens, der auch in der Zeit, als der Rationalismus beherrschend wurde, seine Anhängerschaft behielt, ist offensichtlich. Ebenso die Nähe zu Coccejus, die Übereinstimmung mit wesentlichen Elementen seiner heilsgeschichtlichen Bibeltheologie. Auffallend ist aber nun, dass Menken sich nirgendwo positiv auf Coccejus bezieht. Die wenigen Bemerkungen zu Coccejus und seinem Urgroßvater, dem coccejanischen Pietisten Lampe, sind sogar kritisch und distanzierend. In einem Brief an seine Mutter vom 27. Dezember 1792 beklagt er sich über die Prediger seiner Zeit: »Sie sind seelenlose Echos – man hört nie sie selbst, immer nur den Professor, der sie gelehrt und verkehrt hat; war das ein Heide, so sind sie’s auch; war das ein Abergläubiger, der Menschenwort wie Gotteswort verehrte, so sind sie das auch, so beten sie Ihrem Großvater Lampe seine Wahrheiten und seine Irrthümer nach, wie der die letzteren, überwunden vom Geiste seiner Mitwelt, der Dordrechter Synode nachbetete.«112

In einem Brief an seinen Oheim, den Senator Dreier in Bremen, vom 12. März 1822, der Gedanken über Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit der Bibel mitteilen möchte, zielt die Kritik wieder auf die coccejanischen Prediger und ihren übertriebenen Gebrauch der Typologie: »Wenn ein coccejanischer Prediger überall im alten Testament Christum findet, freue ich mich, denn auch ich suche und finde ihn da überall, und kann es schön finden, wenn Augustinus sagt: Biblia sacra sunt legenda ac si sanguine Christi per totum scripta essent; wenn aber ein coccejanischer Prediger über den 119. Psalm predigend, quirlt und deutelt und nicht nachlässt, bis er in diesem Psalm ebenso viele Weissagungen von Christo gefunden hat, als 110 Ebd. 200. 111 Ebd. 201. 112 Gildemeister, Leben und Wirken I, 60.

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Buchstaben im hebräischen Alphabet sind, so bewundere und bedauere ich diese Geschmacklosigkeit und Albernheit.«113

In der Vorrede zur ersten Auflage seiner Anleitung setzt sich Menken mit dem möglichen Einwand mangelnder Einheitlichkeit und Systematik seiner Theologie auseinander. Er erwähnt dort Lampe, der die ganze Lehre der Schrift aus dem Begriff eines Gnadenbundes entwickelt habe. Lampe wie auch »der originelle Oetinger, Crusius und Lavater hätten etwas Besseres geben können, wenn sie nicht in die von ihnen erwählte Form und Methode verliebt gewesen wären, darauf zu sehr hingesehen und sich davon zu enge hätten einschränken lassen«.114 Die Frage nach einem direkten Einfluss von Coccejus auf Menken und auch auf die Bengelsche Schule und Samuel Collenbusch wird von Hermann Cremer negativ beantwortet: »Weder die Württemberger noch Collenbusch haben irgend welche Anregungen von Coccejus oder den Coccejanern her empfangen. Nicht einmal Gottfried Menken, Collenbuschs Schüler, der Urenkel Lampes und geschworner Feind der Dordrechter Beschlüsse, dem es bei seiner umfassenden Erkenntnis der theologischen Literatur doppelt nahe gelegen hätte, wenigstens an Coccejus zu erinnern, erwähnt ihn auch nur jemals. Die Foederaltheologie des Coccejus ist ganz anders geartet, als die Auffassung der Offenbarung als Geschichte seitens der Bengelschen Schule und Collenbuschs.«115

Wenn Cremer die »Entdeckung« der stufenweise sich entwickelnden biblischen Heilsgeschichte auf den schulischen Unterricht in biblischer Geschichte, auf ihre Behandlung als »Heilshistorie« zurückführt, so ist das nicht überzeugend. Überzeugend sind dagegen die Recherchen Schrenks zur »coccejanischen Gedankenwelt in ihren geschichtlichen Auswirkungen« am Ende seines Buches über Coccejus. Schrenk verfolgt diese Auswirkungen erstens in der »ersten stürmischen Aneignung coccejanischer Elemente durch die Separatisten« (Johann Wilhelm Petersen, Pierre Poiret u.a.), zweitens bei der »ruhigen kirchlichen Ausgestaltung coccejanischer Ideen« (Campegius Vitringa, Friedrich Adolph Lampe u.a.), drittens beim »Hinüberwirken der coccejanischen Einflüsse in die lutherische Kirche« (bei Ph. J. Spener und J.H. Majus, im Hallischen Pietismus, im württembergischen Pietismus (Bengel und Oetinger), bei Christian August Crusius in Leipzig. Im vierten Abschnitt wird »die Fortwirkung des Coccejus auf Vertreter des Pietismus, welche die konfessionelle Grenze außer acht lassen« behandelt und im fünften Abschnitt die Erlanger Heilsgeschichte. Auf Menken geht Schrenk im vierten Abschnitt ein und stellt ihn dort neben Samuel Collenbusch und Johann Gerhard Ha113 Gildemeister, Leben und Wirken II, 232. 114 Menken, Schriften VI, VII. 115 Cremer, Collenbusch, 293.

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senkamp. Eine direkte Beeinflussung dieser Männer durch Coccejus ist nicht nachzuweisen, und sie haben eigene Gedanken, die nicht coccejanisch sind. Doch Schrenk hält fest: »Auch Samuel Collenbusch, Johann Gerhard Hasenkamp und Gottfried Menken lassen sich trotz des energischen Einspruchs von Hermann Cremer nicht begreifen ohne die Beachtung des coccejanischen Erbes. Sie haben ihr Eigentümliches aufgebaut auf den Elementen, welche ihnen die coccejanische Theologie an die Hand gab.«116

Schrenk weist in diesem Zusammenhang hin auf das vermittelnde Phänomen des sogenannten Kanzelcoccejanismus.117 Trotz seiner distanzierenden Äußerungen zur coccejanischen Typologie und der Ablehnung der föderalen Systematik im Geheimniss des Gnadenbundes seines Urgroßvaters Lampe sei Menken nicht zu verstehen »ohne Berücksichtigung des Bremischen Mutterbodens, der von coccejanischen Einflüssen kräftig und tief durchpflügt war«.118 Menken sei der Repräsentant einer Richtung, die durchaus diesen »Wurzelstock« verrate, wobei alte Schematismen und Barockbiblizismen abgestoßen und die ethischen Tendenzen Collenbuschs und eschatologischen Besonderheiten Bengels und Roos’ auf den alten Stamm aufgepfropft worden seien. Die Hauptfront sei nicht mehr Rom, sondern die Aufklärung mit ihrer Verflüchtigung des Reiches in Lehre und Moral. Die Verschiedenheit der geschichtlichen Situation erkläre es, dass nicht so sehr die Geschichte der Kirche, als vielmehr die allgemeine Weltgeschichte und ihre Epochen in Beziehung zum Gottesreich gebracht werden. »Aber die alte Bremer Tradition ist trotz alledem so durchsichtig, dass unmöglich die Leitidee vom Königreich Gottes und die offenbarungsgeschichtliche Betrachtung der Bibel allein auf württembergische Einflüsse zurückgeführt werden können.«119 Die Fortwirkung des Coccejanismus in ihren pietistischen Weiterbildungen wird zu beachten sein, wenn nun nach der Bedeutung des Collenbusch-Kreises am Niederrhein und der Württemberger Pietisten, vor allem Bengels, für die theologischen Gedanken Gottfried Menkens gefragt wird.

116 Schrenk, Gottesreich und Bund, 318. 117 »In Bezug auf Collenbusch aber verkennt Cremer, wie nachher auch für Bremen bei Menken, die wirksame, durch Generationen nachwirkende Macht des Kanzelcoccejanismus. […] Sowohl im Wuppertal, […] als auch in Duisburg, […] wirkte auf der Kanzel und in der Erbauungsliteratur der Coccejanismus nach, der immer stark mit dem heilsgeschichtlichen Schema arbeitete. Insbesondere war Duisburg eine alte Stätte niederländischer Tradition.« Schrenk, Gottesreich und Bund, 319. 118 Ebd. 321 f. 119 Ebd.

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3.2.2 Das Studium in Jena und Duisburg – der Pietismus am Niederrhein: die Brüder Hasenkamp und Samuel Collenbusch 3.2.2.1 Das Studium in Jena und Duisburg Menken beginnt sein Theologiestudium im Herbst 1788 an der renommierten Universität von Jena und bleibt dort drei Semester. Die bergige Gegend um Jena gefällt ihm nicht. Er sehnt sich zurück nach dem flachen, weiten Bremer Land. Vor allem aber stößt ihn die rationalistische Bibelexegese ab, die in Jena praktiziert wird. So entscheidet er sich, die exegetischen Collegia ganz aufzugeben und die Bibel auf eigene Faust zu studieren. Der Freund C.H.G. Hasenkamp erzählt von dieser Krise in seiner Grabrede für Menken: »Einige Wochen hielt er aus; da indeß übermannte ihn Traurigkeit und Unmuth. Einsehend, dass er entweder allen Glauben und dessen Seligkeiten aufgeben, oder mit einem festern Standpunkt Alles gewinnen müsse, warf er sich unter heißen Thränen auf die Kniee und betete: ›Bist du, o Gott, und ist die Bibel dein Werk, so segne mein Forschen, dass ich deiner und deines Wortes gewiß werde. Wirst du mich erhören, so soll mein ganzes Leben dem Dienst deiner Wahrheit geheiligt seyn‹. Hiemit gab er alle Collegien dran, behielt nur die Stunden für die heiligen Sprachen bei und las und studirte mit den zu erlangenden Hülfsmitteln Tag und Nacht die Bibel. […] Von da an hat er die heilige Schrift, ihre einzelnen Bücher hin und her vergleichend, ihr einiges zusammenstimmendes Ganzes stets im Auge haltend, fort und fort so fleißig gebraucht, dass er fast häufiger einer neuen Bibel als neuer Kleider bedurfte.«120

Einer Freundin in Bremen beschreibt Menken dieses autodidaktische Bibelstudium: »Mit meiner Arbeit sieht es hier ganz eigenthümlich aus, ich sammele Bruchstücke, Fragmente, die einst, so Gott will, ein Ganzes, ich möchte sagen, ein Felsenwerk werden, nicht für die Welt, nur für mich, worauf ich unerschütterlich ruhe, wovon meine Seele sich nährt. Mein Lesen ist sehr eingeschränkt und doch sehr ausgedehnt; es fängt bei Moses an und hört bei Johannes auf. Die Bibel, und die ganz allein lese ich, studire ich. Um mit Gottes Hülfe immer tiefer in den Geist des großen, allmächtigen, allumfassenden Ganzen der Schrift einzudringen, immer vertrauter zu werden mit dem reinen, lebendigen Geist der Schönheit und Wahrheit, der in ihr lebt und webt.«121 120 Hasenkamp, Gebet und Rede, 12 f. 121 Gildemeister, Leben und Wirken I, 21 f.

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Menken hatte sich vor dem Studium in Bremen mit großem Interesse der christlichen Mystik zugewandt. Davon kehrt er sich nun ab, und er entdeckt die biblische Geschichte als Grundlage des Glaubens und die besondere Bedeutung des Alten Testaments. In seinen Bemerkungen zum Alten Testament in einem Brief nach Bremen lassen sich schon die Konturen seiner Bibeltheologie, wie sie sich nun zügig entwickelt, erkennen: »Wir leben in einer Zeit, wo uns das Alte Testament mit jedem Tage wichtiger und heiliger werden muß, eben um deßwillen, weil noch das mehrste, ja beinahe Alles noch unerfüllt ist. […] Die Geschichte der Israeliten ist unstreitig die Hauptsache der ganzen Bibel, der Typus der Erziehung des Menschengeschlechts, der allmählichen Entwickelung, des unaufhaltsamen Fortgangs und der endlichen Vollendung der göttlichen Erziehungs- und Beseligungsanstalt. Die Geschichte Israels ist die Geschichte des Universums, der Menschheit und des Individuums.«122

Seit April 1790 setzt Menken sein Theologiestudium in Duisburg fort. Die Entscheidung für die Universität Duisburg ist befremdlich, wenn man den damaligen Zustand Jenas mit Duisburg vergleicht: »Während Jena damals seinen Glanzpunkt erreicht hatte und von tausend Studenten jährlich besucht wurde, neigte sich die Universität Duisburg immer mehr ihrem Verfalle und Untergange zu.«123 Diese Entscheidung wird aber verständlich, wenn man die zahlreichen Beziehungen zwischen Bremen und Duisburg beachtet. Viele Bremer waren in Duisburg und am Niederrhein als Professoren oder Pfarrer tätig. Menkens Urgroßvater Friedrich Adolf Lampe wurde 1703 Prediger der Gemeinde Weeze bei Cleve. 1706 wählte ihn die Gemeinde Duisburg zu ihrem Pfarrer. 1709 folgte Lampe dann einer Berufung an die St. Stephani-Gemeinde in Bremen.124 Bei der Wahl Duisburgs spielte wohl auch eine Rolle, dass ein angesehener Bremer Theologe und Orientalist damals Professor der Theolo-

122 Gildemeister, Leben und Wirken I, 25. 123 Ebd. 27. 124 F.A. Lampe zeigt in seiner Biographie die enge Verbundenheit des reformierten Bremen mit den reformierten Niederlanden und den reformierten Gemeinden am Niederrhein: Lampe wurde 1683 in Detmold geboren. Sein Vater, reformierter Prediger in Detmold, stammte aus Bremen. 1791, nach dem Tod des Vaters, zog Lampe mit seiner Mutter zu seinem Onkel, dem Ratsherrn Wichelhausen, nach Bremen, begann sein Theologiestudium am Gymnasium Illustre, ging dann 1702 mit neunzehn Jahren nach Franeker und Utrecht und schloss sein Studium in den Niederlanden ab. Nach seinem Wirken als Prediger in Weeze und Duisburg am Niederrhein (1703–1709) und einer zehnjährigen Tätigkeit an der St. Stephani-Gemeinde in Bremen folgte er einer Berufung als Professor an die Universität Utrecht, wo er von 1719 bis 1727 lehrte und wo durch ihn die Partei der coccejanischen Schriftgelehrten eine bedeutende Stärkung erfuhr. 1727 zog es Lampe wieder nach Bremen, das für ihn immer die Heimatstadt geblieben war. Er wirkte dort als dritter Prediger an St. Ansgarii noch zwei Jahre bis zu seinem Tod 1729. Vgl. Mai, Die niederdeutsche Reformbewegung, 289.

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gie, der Kirchengeschichte und der orientalischen Sprachen an der Universität Duisburg war: Dr. Johann Peter Berg.125 Menken musste sich in Duisburg, um zum theologischen Examen zugelassen zu werden, der akademischen Disziplin unterziehen und Vorlesungen und Seminare besuchen. Das ist ihm schwergefallen. An seinen Bruder schreibt er: »Jetzt klirren die Fesseln der Dogmatik an meinem freien Geiste, und armselige Kleinigkeiten, die nichts nützen, verzehren meine Stunden und Tage wie Fliegen und Würmer, die noch den Rest verzehren, den Geier und Adler, die täglichen Collegia übrig gelassen haben.«126

Es rächte sich nun, dass er von Jena fast keine Testate nach Duisburg mitgebracht hatte. Doch das von den Professoren Möller, Grimm und Berg gemeinsam ausgestellte glänzende Zeugnis wurde von der Duisburger Synode für ausreichend befunden und die Zulassung zum Examen erteilt. Dieses absolvierte Menken im September 1791 mit großem Lob und wurde damit – wie sein Biograph Gildemeister sich ausdrückt – »für würdig erkannt zur Empfangnahme der Würden und Privilegien eines Candidaten der Theologie«.127 Das Universitätsstudium hat Menken wohl ein gutes theologisches Rüstzeug, aber nicht die entscheidenden theologischen Erkenntnisse vermittelt. In Duisburg aber und seiner engeren und weiteren Umgebung, in der Menken nach dem Examen als Kandidat bleibt, bis er von 1793 bis 1794 als Hilfsprediger in Uedem bei Cleve, von 1794 bis 1796 als Vikar in Frankfurt am Main und von 1796 bis 1802 als Prediger der reformierten Gemeinde in Wetzlar eine Anstellung erhält, finden jene entscheidenden Begegnungen statt, die dem suchenden Theologen die Richtung weisen, die ihn prägen und zur Ausbildung seiner besonderen heilsgeschichtlichen Schriftauffassung und Theologie führen. Schon wenige Jahre nach seinem Studium, bereits in den ersten 125 Berg wurde 1737 in Bremen geboren. Er besuchte das Bremer Pädagogium und das Gymnasium Illustre. Nach den Wünschen seiner Familie sollte er Prediger werden. Ihn zog es aber mehr zur biblischen Philologie und zu den orientalischen Sprachen. 1758 ging er zum Studium der alten Sprachen an die Universität Leiden, wechselte 1759 kurzzeitig nach Göttingen, wo er Michaelis hörte, kehrte aber unbefriedigt nach Leiden zurück. 1762 übernahm Berg die Professur der griechischen und morgenländischen Sprachen in Bremen. 1764 wurde er als Professor der Theologie und orientalischen Sprachen an die Universität Duisburg berufen. Auch seine Biographie zeigt die enge Verbindung zwischen Bremen, den Niederlanden und den reformierten Gebieten in Nordwestdeutschland. 126 Gildemeister, Leben und Wirken I, 43. Professor Grimm, den Menken schon bald nach seinem Examen in seiner Erstlingsschrift Die Dämonologie aufs schärfste angreifen wird, hat damals erwogen, »nötigenfalls eine ausdrückliche Dispensation von Berlin einzuholen, da man bei einem so ausgezeichneten jungen Mann nicht gezwungen sei, sich sklavisch an die bestehenden Vorschriften zu halten«. Ebd. 127 Ebd. 48.

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Amtsjahren hat Menken »seine« Theologie gefunden, die keine Entwicklung mehr haben und an der er sein ganzes weiteres Leben lang festhalten wird. Was sich Menken am Niederrhein zu eigen machte und zu seinem theologischen »System« ausgestaltete, harmonierte mit der coccejanisch geprägten pietistischen Frömmigkeit, die er aus Bremen mitbrachte. Dies ist wohl der Grund dafür, dass er sich in Duisburg und am Niederrhein jener besonderen pietistischen Richtung anschließt, die durch den Arzt und Laientheologen Samuel Collenbusch und seine Anhänger, vor allem den Brüdern Hasenkamp, vertreten wird. 3.2.2.2 Der Eintritt in den Collenbusch-Kreis – die Brüder Hasenkamp Menken predigte schon als Student in Duisburg. Durch seine Predigten an verschiedenen Orten am Niederrhein und im Bergischen Land, die dann während seiner Kandidatenzeit auch auf der Suche nach einer Anstellung gehalten wurden, wurde er bekannt und geschätzt vor allem bei denen, die den Zeitgeist der Aufklärung ablehnten. So entstand auch der Kontakt mit Friedrich Arnold Hasenkamp, dem Rektor des Duisburger Gymnasiums, in dessen Haus Menken als Kandidat Mittagsgast wurde. Hasenkamp berichtet über das erste Auftreten Menkens in der Duisburger Stadtkirche: »Ein Fremdling daselbst, betrat er mit blassem Angesichte die Kanzel, und statt der erwarteten gewöhnlichen Studentenphrasen hörte man eine gläubige, inhaltreiche, gewaltige Predigt.«128

Durch Friedrich Arnold Hasenkamp (1747–1795) wurde Menken mit den Anschauungen Samuel Collenbuschs bekannt. Er war sofort davon überzeugt und hat sie sich zu eigen gemacht, noch bevor er Collenbusch persönlich kennenlernte. Mit der Familie Hasenkamp blieb Menken eng verbunden. Der ältere Bruder Friedrich Adolfs, Johann Gerhard Hasenkamp (1736–1777), war bereits gestorben, als Menken nach Duisburg kam. Friedrich Arnold wurde sein Nachfolger als Rektor des Duisburger Gymnasiums, das Johann Gerhard Hasenkamp von 1766 bis 1777 leitete. Mit dem jüngeren Bruder, Johann Heinrich Hasenkamp (1750–1814), der 35 Jahre lang Prediger der kleinen Gemeinde Dahle im Sauerland war, schloss Menken schon bald eine enge Freundschaft. Ebenso mit Christoph Hermann Hasenkamp (1774–1834), einem Sohn von Johann Gerhard, der später auf Menkens Empfehlung als Pfarrer an die neu gegründete unierte Kirchgemeinde in Bremen–Vegesack berufen wurde. Friedrich Arnold und Johann Heinrich waren Halbbrüder von Johann Gerhard Hasenkamp und entstammten einer einfachen westfälischen Bau128 Gildemeister, Leben und Wirken I, 35.

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ernfamilie. Von ihnen war Johann Gerhard der bedeutendste.129 Über die Theologie Hasenkamps fällt Julius August Wagenmann ein kritisches Urteil: »Anstatt bei der einfachen Schriftwahrheit stehen zu bleiben, huldigte Hasenkamp theils in Folge seiner eigenen Originalitätssucht, theils unter dem Einfluss seiner Umgebungen, im Verkehr mit Tersteegen, Jung Stilling und besonders Collenbusch, im brieflichen Verkehr mit Lavater, Pfenninger u. a., auch unter Berufung auf angebliche Visionen und Revelationen einer christlichen Jungfrau Anna Dorothea Wuppermann aus Barmen, allerlei besonderen theologischen Lieblingsmeinungen, die am Maßstab der kirchlichen Orthodoxie gemessen als mehr oder minder bedenkliche Einseitigkeiten erscheinen mussten und ihn wiederholt mit der reformierten Provinzialsynode zu Cleve wie mit der Jülichschen Generalsynode in Conflict brachten. Insbesondere polemisirt er scharf gegen die kirchliche Genugthuungs– und Rechtfertigungslehre, während er im Gegensatz gegen diese eine eigenthümliche Theorie von einer ›proportionirten göttlichen Reichsgerechtigkeit‹ und von einer genau unterschiedenen ›Stufenordnung in der Heiligung‹ sich zurechtmacht.«130

Alle Brüder Hasenkamp sind Schüler Samuel Collenbuschs und wie dieser deutlich und bewusst beeinflusst von den Württemberger Pietisten, vor allem von Bengel und Oetinger. Sie teilen die religiöse Grundstimmung und die theologischen Grundgedanken. Als Menken kurz nach seinem Studium seine erste Schrift Beitrag zur Dämonologie verfasste, lässt er ausführlich Friedrich Arnold Hasenkamp zu Wort kommen mit einem Zitat aus dessen Briefe über Propheten und Weissagungen (erschienen in zwei Bänden 1791/1792). Es geht darin um den Realismus der biblischen Erwartung des Reiches Gottes, der als bewusster Gegensatz zur rationalistischen Bibelauslegung verstanden wird. 129 Er wurde schon als zehnjähriges Kind von einer in seiner Heimat verbreiteten pietistischschwärmerischen Erweckung ergriffen und studierte von 1753 bis 1755 an der reformierten Akademie zu Lingen Philosophie und Theologie. Schriften, die er 1759 veröffentlichte, brachten ihm großen Ärger ein. Er wurde wegen Heterodoxie und Aufruhrs 1761 verhaftet und von der reformierten Synode wegen Heterodoxie von der Kandidatur suspendiert. Aufgrund von enthusiastischen Visionen reiste er dem Preußenkönig Friedrich dem Großen ins Hauptquartier nach Breslau nach mit der erfolglosen Absicht, ihn zu bekehren. 1763 wurden seine Kandidatenrechte restituiert. Danach lebte er zeitweise in Berlin und wurde dort mit den Schriften Albrecht Bengels bekannt. Er war seitdem ein eifriger Anhänger der Bengelschen Schrifttheologie sowie der Theosophie Oetingers. 130 Wagenmann, Hasenkamp. Allen hier genannten »Ketzereien« werden wir bei Samuel Collenbusch und zum Teil bei dessen Meisterschüler Gottfried Menken wiederbegegnen. Johann Gerhard Hasenkamp hielt, obwohl er dessen mystischen Quietismus nicht teilte, die Grabrede bei der Beerdigung von Tersteegen 1773. Sein Sohn Christoph Hermann Hasenkamp hat in seiner Zeitschrift Wahrheit zur Gottseligkeit eine ausführliche Biographie des Vaters mit einer Zusammenstellung von dessen Schriften veröffentlicht. Christoph Hermann hat sich auch um seinen Onkel Johann Heinrich Hasenkamp verdient gemacht, und zwar durch die Sammlung und Veröffentlichung von dessen Christlichen Schriften.

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3.2.2.3 Menken wird ein begeisterter Schüler von Samuel Collenbusch Menken findet in Samuel Collenbusch, dem Zentrum des Collenbusch-Kreises, der Arzt, Laientheologe und Gegner der Aufklärung ist, seinen theologischen Meister. Samuel Collenbusch gilt mit und neben Tersteegen als »die bedeutendste Erscheinung in der Geschichte des westdeutschen bzw. niederrheinischen Pietismus« im 18. Jahrhundert.131 Menken bekennt sich offen und dankbar zum Schüler Collenbuschs. Er schreibt 1805 in der Vorrede zur ersten Auflage seiner Anleitung, nachdem Collenbusch 1803 verstorben war: »Wenn ich diese Schrift früher vollendet hätte, würde ich sie dem seligen Doctor Medicinae Samuel Collenbusch gewidmet haben – einem Manne, dem ich unter allen Menschen am meisten zu ewiger Dankbarkeit verbunden bin, und dessen Freundschaft ich für eine der allergrößten Wohlthaten in meinem Leben halte. Es macht mir Freude, dies hier öffentlich zu sagen; darum sage ich es, […] weil dieser Mann, in der Gewißheit und Freude, daß sein Name im Himmel geschrieben sei, es nie darauf anlegte, sich einen Namen zu machen auf Erden, und keine papierne Krone wollte und erhielt, weil er einer wahrhaftigen und bessern begehrte; – wie denn überhaupt das Verlangen nach dem Bessern das Charakteristische seiner Gesinnung und das primum Agens seines Lebens war.«132

Wer war Samuel Collenbusch, und was sind die wichtigsten Merkmale und Grundaussagen seiner Theologie?133 131 So urteilt Hermann Cremer (vgl. Cremer, Collenbusch, 234), und bemerkt weiter: »Collenbusch und Tersteegen sind die einzigen von den die pietistischen Kreise des bergischen Landes führenden Persönlichkeiten des vorigen Jahrhunderts [der Artikel ist am Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben, H. M.R.], die dort noch heute eine nicht geringe Zahl begeisterter dankbarer Jünger haben. Diejenigen Tersteegens sind in der Regel vereinzelte ›Stille im Lande‹ ohne engeren Zusammenschluss, wogegen die Anhänger Collenbuschs noch heute eine theologische Schule schriftforschender Laien bilden, die sich ganz nach Art der württembergischen ›Stunden‹ ohne irgendwelche separatistischen Absichten zu gemeinsamer Schriftforschung zusammenfinden.« In der großen vierbändigen Geschichte des Pietismus wird Gerhard Tersteegen ausführlich behandelt. Vgl. Brecht, Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert, 390–410. Samuel Collenbusch und sein Freundeskreis werden nur am Rande erwähnt. 132 Menken, Schriften VI, X. 133 Collenbusch selbst hat nichts veröffentlicht. Seine Schrifterklärungen, Tagebuchauszüge, Aufsätze und Briefe zirkulierten in seinem Freundeskreis und wurden nach seinem Tod gesammelt und herausgegeben. Die wichtigsten sind: Collenbusch, Erklärung biblischer Wahrheiten; Collenbusch, Neue Sammlung; Collenbusch, Goldene Äpfel in silbernen Schalen; Collenbusch, Auszüge aus dem Tagebuche; Collenbusch, Aus dem Nachlaß. An neuerer Literatur über Collenbusch ist zu nennen: Renfordt, Samuel Collenbusch; Faulenbach, Samuel Collenbusch. Das große vierbändige von Martin Brecht herausgegebene Werk zur Geschichte des Pietismus geht im 2. Bd. ausführlich auf Gerhard Tersteegen ein, erwähnt Collenbusch und die Brüder Hasenkamp aber nur am Rande.

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Samuel Collenbusch wurde am 1. September 1724 in Wichlinghausen bei Barmen (Herzogtum Berg) geboren als Sohn eines Fabrikanten und Kaufmanns. Er war ein kränkliches Kind und litt seit seinem achten Lebensjahr aufgrund einer Blatternerkrankung an einer Augenkrankheit, die zu einer Leseschwäche führte und schließlich zur völligen Erblindung in den letzten zehn Jahres seines 79-jährigen Lebens. Er hatte in seiner Jugend ein religiöses Erweckungserlebnis unter dem Einfluss des Wichlinghauser Pfarrers Johann Peter Wülfing, von dem er – wie er selbst schreibt – »in dem Geheimnis Christi für uns gut unterrichtet worden sei«.134 Collenbusch studierte Medizin in Duisburg und Straßburg. Als Student in Duisburg suchte er wegen seiner Glaubenszweifel den seelsorgerlichen Kontakt zu Tersteegen, der in Mühlheim an der Ruhr wohnte. In Straßburg hatte er Zugang zu einer reichen Sammlung mystischer und alchymistischer Schriften, die seine Neigung zur Naturwissenschaft der Chemie förderten, die damals noch Alchymie genannt wurde und theosophisch interessierte Christen und Theologen wie z. B. Oetinger anzog. Die chemischen Prozesse wurden damals zur Erklärung des Wirkens des göttlichen Geistes herangezogen: »Man glaubte auf diesem Wege einen Einblick in das verborgene Wirken und Walten des göttlichen Geistes und ein Verständnis für das naturhaft gedachte Wirken des heiligen Geistes in der nach Art eines Naturprozesses vorgestellten Wiedergeburt bis zum Werden der grossen Wiedergeburt der Welt, der Welterneuerung zu gewinnen.«135 Collenbusch versuchte zunächst, mit seinem chemischen Wissen und Können zu existieren. Er legte in der Nähe von Ruhrort einen Schmelzofen an, um aus Schlacken durch Schmelzen noch Erz zu gewinnen. Damit hatte er keinen Erfolg. Er ging dann nach Duisburg, wo seine elterliche Familie sich niedergelassen hatte und eröffnete dort eine ärztliche Praxis. Die Promotion holte er nach, als er bereits 65 Jahre alt war. Inzwischen hatte er sich von seiner Familie in Duisburg getrennt und war in seine Heimat nach Barmen zurückgegangen. Im nahegelegenen Schwelm befand sich ein Sauerbrunnen, den er sehr schätzte und an dem er als Brunnenarzt wirkte. Seine Dissertation trug den Titel Observationes medicae de utilitate et noxis aquae martialis Schwelmensis. Collenbusch war nicht verheiratet. Er fand seine Lebenserfüllung in seiner Tätigkeit als Brunnenarzt, die er unentgeltlich ausübte und vor allem als ein »Bibelverehrer« und »Schriftgelehrter«, der mit seiner Schrifterkenntnis als theologischer Laie zum Mittelpunkt eines Kreises Gleichgesinnter wurde und großen Einfluss gewann, weit in das 19. Jahrhundert hinein. Collenbusch wusste sich zu seinem theologischen Wirken berufen durch Aus der älteren Literatur über Collenbusch ist zu nennen: Rothscheidt, Collenbusch als Kritiker Kants; Cremer, Collenbusch Dr. Samuel; Cremer, Collenbusch, Menken, Hasenkamp; Ritschl, Geschichte des Pietismus I, 565–682. 134 Collenbusch, Erklärung biblischer Wahrheiten II, 161. 135 Cremer, Collenbusch, 235.

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seinen eigenen Glaubensweg, durch seine Erkenntnis vergessener biblischer Wahrheit und durch seine Ablehnung der in seiner Zeit herrschenden Aufklärung und des Rationalismus. Entscheidend für seinen Glaubensweg war die Entdeckung des »Geheimnisses Christi in uns«, die seiner Suche nach einem Wachsen im Glauben und seiner Vervollkommnung entgegenkam. Diese Entdeckung stand im Zusammenhang mit einem Impuls, den Collenbusch der Philosophie Leibniz’ entnahm. Die Philosophie Leibniz’, besonders seine Theodic e, fand damals großes Interesse bei den Pietisten am Niederrhein wie auch bei den Württembergern.136 Collenbusch äußert sich selbst zu der durch Leibniz angestoßenen Wende in seinem Glaubensleben folgendermaßen: »Weil ich unwissend war in Ansehung der grossen Hoffnung des Christenberufs, so war es nicht möglich, dass ich meine vielen geistlichen Bedürfnisse hätte erkennen können; folglich war der Inhalt meiner Bitten meiner Unwissenheit gemäss. […] Der Inhalt meiner Bitten war also nichts anderes, als um Vergebung der Sünden; diese glaubte ich und weiter nichts; endlich aber fand ich in Leibnitzens’ Theodicee etwas von der Herrlichkeit der Hoffnung des Christenberufs, welche Erkenntnis ich nicht bei diesem Philosophen gesucht hätte; da wurde ich begierig nach der vernünftigen lauteren Milch der göttlichen Verheissungen, das Geheimnis Christi in uns betreffend. Darüber haben mich nachher auch die Schriften Antons, Oetingers und Bengels immer mehr und mehr erleuchtet; ich habe Ursache Gott dafür zu danken und habe Gott oft für diese Männer gedankt. Die Erkenntnis des Geheimnisses Christi in uns ist vielleicht die unbekannteste Sache in der Christenheit, weil so wenig davon gelehrt und gepredigt wird; daher habe ich viele Jahre nach meiner Rechtfertigung aus Unwissenheit Gottes Gnade versäumt.«137

Collenbusch wundert sich in diesem persönlichen Bekenntnis über die Lesefrucht, die ihm bei der Lektüre der Theodic e des Philosophen Leibniz zufällt, denn er begegnet der Philosophie seiner Zeit kritisch und macht sich nicht von 136 Nach Uwe Renfordt wurde für Collenbusch in der Theodic e Leibniz’ besonders die Überzeugung bedeutsam, dass zu der besten aller Welten auch das Leiden und das Übel gehören. Dieser Gedanke habe ihm auch geholfen, die eigenen Leiden als Fügungen und Prüfungen Gottes anzunehmen. Vgl. Renfordt, Samuel Collenbusch, 30. Nach Heiner Faulenbach fühlte sich Collenbusch von Leibniz angezogen, »weil dieser zutreffend von der Weisheit Gottes im kosmischen Geschehen zu lehren weiß. Der von Leibniz entwickelte Gedanke einer prästabilierten Harmonie des Kosmos wird von Collenbusch anscheinend unbesehen mit dem biblischen Weltverständnis gleichgesetzt. Offenbar füllt er auch Leibniz’ Begriff der Weisheit sofort mit biblischen Aussagen auf. Wir sind hier auf Vermutungen angewiesen, da Collenbusch die Voraussetzungen und Folgerungen aus Leibniz’ Weltverständnis nicht bedenkt […]. Die Anziehungskraft der Leibnizschen Lehren wird, wie für viele damalige Theologen, auch für Collenbusch darin zu suchen sein, dass hier theologische Lehre in überraschender Weise in das kosmologisch-naturwissenschaftliche Denken der Zeit eingeflochten wird, dessen pantheistische Züge und Uminterpretationen von einem Collenbusch nicht deutlich gemacht werden.« Faulenbach, Samuel Collenbusch, 17. 137 Cremer, Collenbusch, 236.

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ihr abhängig. Absoluter Maßstab für sein Urteil und für die Gewinnung christlicher Glaubenserkenntnis ist die Heilige Schrift. Sie allein ist das uns gegebene Zeugnis der göttlichen Offenbarung. Durch sie allein erfahren wir, wer Gott ist und in welcher Beziehung der Mensch zu diesem Gott steht. Sie offenbart uns Gottes Heilsweg zur Rettung und »Verherrlichung« des Menschen. Sie lässt uns auch erkennen, welchen Plan Gott hat mit der Geschichte seiner Welt. Unsere persönliche Heilsgeschichte und die Heilsgeschichte der Welt sind die beiden aufs engste verbundenen Themen der Bibel. Mit seinem Schriftverständnis sieht sich Collenbusch im totalen Gegensatz zur Aufklärung. Er ist ein entschiedener Gegner der Aufklärung und betreibt seine Erforschung der Schrift in ständiger Auseinandersetzung mit deren Anliegen und Thesen. Die singuläre Bedeutung, die die Heilige Schrift für den christlichen Glauben hat, werde von der Theologie der Aufklärung nicht beachtet, ja verkannt und verleugnet. Der historisch-kritischen Bibelerklärung wirft Collenbusch Einseitigkeit vor: Die Texte werden dabei historisiert und ihr Glaubenszeugnis, auf das es letztlich ankomme, werde nicht erkannt. Die Abwertung des Alten Testaments aufgrund der historischen Einsichten in seine Entstehung und dessen Bindung an das Volk Israel, wie sie Semler, der Begründer und Hauptvertreter der Neologie vertritt, zerstöre die Einheit der Schrift. Semlers kritische Frage: »Was gehen uns die Familienhistorien der Juden an?« verkenne die Bedeutung, die diese Texte auch für den christlichen Glauben haben. In den Familiengeschichten der Erzväter und den Berichten über die Landnahme lägen uns Texte vor, die zeigen, »dass Gott sein Volk immer geprüft habe, um ihm Zeugnisse seiner Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu geben«.138 Collenbusch lehnt die historische Erklärung der biblischen Texte nicht generell ab, aber er gibt zu bedenken, dass wir durch sie »keine Vergebung der Sünden, keine übernatürlichen Kräfte zum göttlichen Leben und Wandel, kein […] Erbgut im Himmel erlangen«.139 So sei es nicht verwunderlich, dass den klugen und weisen Philosophen, aber auch den Zionswächtern, verborgen bleibe und in Vergessenheit gerate, was Gott den nach weltlichem Begriff Unmündigen offenbare, und der Umgang mit der Schrift zeige, dass die Wissenschaft zur Verachtung der Bibel durch die Neologie führe.140 Gottes Heilsplan bleibe den Aufklärern verborgen, weil sie Gottes Offenbarung den Maßstäben der menschlichen Vernunft unterwerfen. Die Vernunft aber könne Gott nicht erfassen oder auf irgendeine Weise zu ihm vordringen. Der Überschätzung der Vernunft hält Collenbusch entgegen: »Die Vernunft ist ein eingeschränktes Vermögen, Vernunft ist ganz gewiß ein endliches Vermögen.«141 138 Cremer, Nachlaß, 34. 139 Ebd. 35. 140 Ebd. 174; Collenbusch, Goldene Äpfel, 85; Collenbusch, Erklärung biblischer Wahrheiten, Teil 2, 192. 141 Cremer, Nachlaß, 336.

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In seiner Auseinandersetzung mit der Philosophie und Theologie der Aufklärung geht Collenbusch eklektisch vor. Wie Faulenbach beobachtet, »bemüht er sich nicht, die Lehre eines angegriffenen Theologen oder Philosophen in ihrem Gesamtzusammenhang zu sehen oder deren Motive aufzudecken, sondern durchgehend sind ihm einzelne Aussagen Anlaß zum Widerspruch«.142 Dies führe zu einer nivellierenden Beurteilung, die sich formal schon darin zeige, dass alle Gegner unterschiedslos als Aufklärer, Weltweise oder Naturalisten, einer beliebten abwertenden Bezeichnung für Deisten und ihre Nachfolger, abgestempelt werden können. Das Urteil über die Aufklärung ist pauschale Ablehnung. Collenbusch nimmt die Frage Kants auf: Was ist Aufklärung? Seine Antwort aber verkehrt die berühmte Antwort Kants ins Negative: »Aufklärung ist irdische Weisheit irdisch gesinnter Menschen, die auf das Sichtbare, auf das Zeitliche sehen. Das Christentum dagegen ist ein Sehen auf das Unsichtbare, auf das Ewige. Das Christentum ist Glaube an Gottes liebreiche Verheißungen.« Die Aufklärung müsse man daher eigentlich eine »Verdunkelung oder Trübmachung« nennen, die es fertiggebracht habe, dass selbst bei den Theologen, die doch Zionswächter sein sollten, die allererfreulichsten Mandate Gottes in Vergessenheit geraten seien.143 Nun muss man Collenbusch zugutehalten, dass er sich doch mit der Religionsphilosophie Kants intensiv auseinandergesetzt hat. Er hat sich im Sommer 1794 – schon fast erblindet – Kants Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft mehrere Male von Freunden vorlesen lassen und daraufhin mehrere Briefe an Kant geschrieben, in denen er das Gespräch mit Kant suchte144, aber alle Briefe Collenbuschs an Kant sind unbeantwortet geblieben.145 Am 23. Januar 1795 schrieb Collenbusch folgenden ersten Brief an Kant: »Mein lieber Herr Professor! Die Hoffnung erfreut das Herz! Ich verkaufe meine Hoffnung nicht für tausend Tonnen Goldes. Mein Glaube hofft erstaunlich viel Gutes von Gott. Ich bin ein alter, siebzigjähriger Mann, ich bin beinahe blind, als Arzt urteile ich, dass ich in kurzer Zeit völlig blind sein werde. Ich bin auch nicht reich, aber meine Hoffnung ist so gross, dass ich mit keinem Kaiser tauschen mag. Diese Hoffnung erfreut mein Herz! 142 Faulenbach, Samuel Collenbusch, 38 f. 143 Ebd. 39. 144 Renfordt hat diese briefliche Auseinandersetzung mit Kant unter dem Thema Die Provokationen durch die Aufklärung ausführlich dargestellt und gewürdigt. Renfordt, Samuel Collenbusch, 84–99. 145 Es gibt sieben Briefe von Collenbusch an Kant. Den Brief vom 23. Januar 1795 hat Walter Benjamin in seine Briefsammlung Deutsche Menschen (1936) aufgenommen. Vgl. Benjamin, Deutsche Menschen, 26–28. Benjamin war dies der liebste Brief in der ganzen Sammlung. So bezeugt es Adorno in seinem Nachwort zu Benjamin, Deutsche Menschen, 125.

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Ich habe mir diesen Sommer Ihre Moral und Religion ein paarmal vorlesen lassen, ich kann mich nicht überreden, dass es Ihnen ein Ernst sein sollte, was Sie da geschrieben haben. Ein von aller Hoffnung ganz reiner Glaube und eine von aller Liebe ganz reine Moral, das ist eine seltsame Erscheinung in der Republik der Gelehrten. Der Endzweck, so etwas zu schreiben, ist vielleicht eine Lust, sich zu ergötzen; über die Inklination solcher Menschen, welche die Gewohnheit haben, sich über alles zu verwundern, was seltsam ist. Ich halte es mit einem hoffnungsreichen Glauben, der durch die sich selbst und den Nächsten bessernde Liebe tätig ist. Im Christentum gelten keine Statuten, keine Beschneidung noch Vorhaut etwas, Gal. 5, keine Möncherei, keine Messen, keine Wallfahrten, kein Fischessen usw. Ich glaube, was Johannes schreibt, Joh. 4,16: Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm. Gott ist die seine vernünftige Kreaturen bessernde Liebe, wer in diesem Glauben an Gott und den Nächsten bessernden Liebe bleibet, der wird es von Gott in dieser Welt mit geistlichem Segen, Eph. 1, 3, 4, und in der zukünftigen Welt mit persönlicher Herrlichkeit und einem reichen Erbe wohl belohnt werden. Diesen hoffnungsreichen Glauben kann meine Vernunft und mein Wille unmöglich vertauschen mit einem von aller Hoffnung ganz reinen Glauben. Es tut mir leid, dass I. Kant nichts Gutes von Gott hofft, weder in dieser noch in der zukünftigen Welt, ich hoffe viel Gutes von Gott. Ich wünsche Ihnen eine gleiche Gesinnung und verharre mit Hochachtung und Liebe zu sein Ihr Freund und Diener Samuel Collenbusch Gemarke, den 23. Jan. 1795

Nachschrift: Die Heilige Schrift ist ein stufenweiser, aufsteigender, mit sich selbst übereinstimmender, zusammenhängender, vollständiger Plan der seine Kreaturen bessernden Liebe Gottes. Z.E.: Die Auferstehung der Toten halte ich für eine Ausübung der seine Kreaturen bessernden Liebe Gottes. Ich freue mich darauf.«

Man darf sich von der scheinbaren Naivität und der fast kindlichen Frömmigkeit, mit der der Laientheologe Collenbusch dem berühmten Professor Immanuel Kant in diesem und allen weiteren Briefen werbend begegnet und zugleich entschieden widerspricht, nicht irritieren lassen. Collenbusch steht hier mit seiner Kritik an der Seite Johann Georg Hamanns. Auch seine Kritik

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an Kant ist »Metakritik über den Purismus der Vernunft«.146 Collenbusch konfrontiert seinen Glauben, der sich auf das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift gründet, mit der vernünftigen Religion Kants, deren Gott ein Postulat der praktischen Vernunft ist, ein Gott, der den Menschen keine Verheißungen gibt, sodass aus dem Glauben eine große Hoffnung wird. Die von Kant und den Aufklärern hochgeschätzte menschliche Vernunft wird von Collenbusch nicht schlecht gemacht, geschweige denn verworfen. Er wendet sich aber gegen ihre maßlose Überschätzung in der Philosophie Kants. Sie wird eingeschränkt auf den Bereich, in dem sie für das menschliche Leben wichtig und unentbehrlich ist. Auf keinen Fall kann sie als höchste Instanz für die Religion gelten. Für die Erkenntnis Gottes und seines Plans zur Besserung, zur Erlösung des Menschen sind wir auf das biblische Zeugnis der Offenbarung Gottes angewiesen. Collenbusch bleibt nicht bei dieser Analyse stehen, sondern geht noch einen Schritt weiter. Das trügerische Pochen auf die menschliche Vernunft als letzter Instanz für die Religion und die Weigerung, das biblische Zeugnis anzunehmen, diagnostiziert Collenbusch als den menschlichen Hochmut, der sich von Gott nichts sagen lassen, der im Gebrauch seiner hochgepriesenen Vernunft autonom bleiben will. Collenbusch legt Einspruch ein gegen den menschlichen Hochmut, der die Vernunft und die Vernunftreligion über die Heilige Schrift stellt. Im Widerspruch und Gegensatz zum Hochmut der vernünftigen Religion Kants entwickelt Collenbusch eine Theologie der Demut. Es ist überzeugend, wenn Renfordt die Gedanken Collenbuschs unter diesem Titel darstellt: Theologie der Demut. Demut ist der rote Faden, der alle Loci dieser Theologie durchzieht, Demut, die das Gottesbild Collenbuschs bestimmt und der die Demut des Menschen in der Heiligung entspricht. Als Laientheologe beabsichtigt Collenbusch nicht, wissenschaftliche Dogmatik zu betreiben. Es geht ihm um die Erkenntnis und Verbreitung christlicher Wahrheit in einer Zeit, die nach seiner Überzeugung eine Zeit des Unglaubens und des Abfalls vom Christentum ist. Er sucht den Kontakt und das Glaubensgespräch vor allem mit einfachen, ungebildeten Menschen. Seine lebenslange Erforschung der Schrift führte aber zu einer theologischen Systematik, die man im Sinne Barths als »irreguläre Dogmatik« charakterisieren kann: Theologie der Demut im Horizont der Aufklärung, in der Auseinandersetzung und im Widerspruch zu ihr. Die Theologie Collenbuschs hat nur eine Quelle: die Heilige Schrift. Alles theologische Nachdenken ist an sie gebunden und ihr verpflichtet. Nur sie schenkt uns die wahre Erkenntnis Gottes und seines Planes mit uns Menschen. Sie ist göttlich. Dies erweist sich an dem Wunder, dass sie von vielen verschiedenen Menschen in einem langen Zeitraum geschrieben worden ist, und dennoch »ein stufenweise aufsteigendes, mit sich selbst übereinstimmendes, 146 »Metakritik über den Purismus der Vernunft« ist der Titel der letzten von Hamann veröffentlichten Schrift.

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zusammenhängendes, vollständiges Zeugnis von dem geoffenbarten Geheimnis Gottes und des Vaters und Christi« ist (Kol. 2,2).147 Ohne die Demut des sorgfältigen Hörens und Befragens der Heiligen Schrift ist keine wahre Erkenntnis Gottes und seines Plans und Wirkens zur Beseligung und Verherrlichung des Menschen möglich: »Gottes Macht, Weisheit und Güte kann wohl aus den Werken der Schöpfung erkannt werden, aber nicht Gottes Heiligkeit und Gerechtigkeit, Gottes Tugenden, das ist: Gottes sich selbst erniedrigende Liebe, und Gottes proportionirliche Liebe, können schlechterdings nicht anders erkannt werden, als aus der heiligen Schrift.«148

Schon die Schöpfung ist eine Offenbarung der Liebe Gottes, aber das tiefste Geheimnis dieser Liebe offenbart uns die Heilige Schrift. »Gott ist die Liebe. Gottes Liebe ist die Freude, allen vernünftigen Kreaturen Freude zu machen. Durch die Werke der Schöpfung macht Gottes Liebe allen vernünftigen Kreaturen Freude. Die Körperwelt ist eine Offenbarung der Liebe Gottes. Es ist aber dieses noch lange die beste Freude nicht, welche Gott den Menschen machen kann. Die beste Freude, welche Gott den Menschen machen kann und will, besteht darin, dass er die Menschen ewig selig und herrlich machen will. Liebe ist das Prinzip der Gerechtigkeit und Heiligkeit Ps. 145,17.«149

Die Liebe Gottes äußert sich in den beiden wesentlichen Tugenden Gottes: in seiner Heiligkeit und in seiner Gerechtigkeit. Gottes Heiligkeit versteht Collenbusch als Gottes sich selbst erniedrigende Liebe, seine Gerechtigkeit als Gottes proportionierliche Liebe. Collenbusch weiß, dass der biblische Begriff der Heiligkeit Gottes in der Regel anders verstanden wird, nämlich als Inbegriff der Majestät und der richterlichen Gewalt Gottes. Er räumt ein, dass die Sache schwer zu verstehen sei, ja selbst ein bewährter Theologe wie Thomas Wizenmann wisse gar nicht, was Heiligkeit bedeute.150 Aber Collenbusch besteht darauf: »Die Heiligkeit ist Gütigkeit […]. Gott ist heilig, das heißt nicht: Gott ist schrecklich, sondern das heißt: Gott ist gütig […].«151 In seiner Demut, in seiner sich selbst erniedrigenden Liebe, unterscheidet sich der Gott Israels und der Christen vom Gott der Weltweisen. Der Gott der hochmütigen Ver147 Collenbusch, Nachlaß, 32. 148 Collenbusch, Äpfel, 116. In einem Brief an die Pastorin Elbers schreibt Collenbusch: »Gottes Macht, Weisheit und Güte kann in aller Welt aus den Werken der Schöpfung erkannt werden, Ps. 104,24, aber Gottes Heiligkeit kann aus den Werken der Schöpfung gar nicht erkannt werden, sondern allein aus den Verheißungen.« Collenbusch, Nachlaß, 264. 149 Cremer, Collenbusch, 238 (Zitat aus einem ungedruckten Brief Collenbuschs im Besitz von Cremer). 150 Collenbusch, Nachlaß, 303. 151 Ebd. 55.

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nunft der Aufklärer ist ein unveränderlicher Götze, der keine Gebete hört und der nicht helfen kann: »Der Gott der Weltweisen ist ein weiser Gott ohne Demut, ohne Liebe. Darum ist das Gebet eine unnötige Sache für einen Weltweisen […]. Die allerdemütigste Liebe ist nicht so unveränderlich, dass sie nicht tun sollte, was die Gottesfürchtigen begehren; er hört ihr Schreien und hilft ihnen. Der Gott etlicher Philosophen ist ein stolzer, liebloser, unveränderlicher Götze; er tut nicht, was die Gottesfürchtigen begehren; er höret ihr Schreien nicht und hilft ihnen nicht. Darum ist das Gebet eine unnötige Sache für einen Weltweisen.«152

Die sich selbst erniedrigende Liebe Gottes, seine Demut offenbart sich vor allem durch Jesus Christus, wie Collenbusch es erfassen und bezeugen will in seiner kenotischen Christologie und in seiner die kirchliche Dogmatik ablehnenden Versöhnungslehre. Jesus Christus konnte der Christus für uns, die Ursache unserer Rechtfertigung und der Christus in uns, die Kraftquelle unserer Heiligung werden, weil er als Sohn des Vaters Mensch geworden und den Weg vollkommener Selbsterniedrigung bis zum Kreuz gegangen ist. Durch Christus offenbart Gott sein Wesen, das Liebe ist. Collenbusch vertritt eine kenotische Christologie, die die Aussage des Hymnus im Philipperbrief, dass sich Jesus Christus selbst entäußerte, mit der Aussage in Römer 8,3 interpretiert: »Gott sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündlichen Fleisches.« Damit ist nach Collenbusch nicht gemeint, dass Christus die paradiesische menschliche Natur angenommen habe, die Adam vor dem Fall hatte, sondern die Gestalt der durch Adams Sünde korrumpierten menschlichen Natur, um dadurch das durch Adam verlorene göttliche Leben wieder in die Menschheit zu bringen: »Der Sohn Gottes hat nicht die paradiesische menschliche Natur angenommen, welche Adam hatte vor dem Fall, sondern die Gestalt des sündlichen Fleisches; diese hat er Gott zu einem süßen Geruch aufgeopfert und hat uns dadurch erlöset von dem Fluch des Gesetzes. Demnach sind dieselben Begebenheiten, welche in Bezug auf den Herrn Jesum selbst eine Offenbarung der prüfenden Gerechtigkeit Gottes sind, in Bezug auf das gesamte Menschengeschlecht eine Offenbarung der errettenden Gerechtigkeit Gottes, und also ist Gott gerecht, wenn er den Gottlosen gerecht macht.«153

Die Annahme der menschlichen Natur in der Gestalt des sündlichen Fleisches bedeutet nicht, dass Jesus ein Sünder wurde wie wir. Sündlich ist nicht sündig. Gemeint ist, dass Jesus von Natur aus (der adamitischen Natur nach dem Fall) die Möglichkeit hatte zu sündigen. Er wurde dadurch prüfungsfähig: 152 Ebd. 308 f. (aus einem Brief an den sterbenskranken Wizenmann). 153 Collenbusch, Nachlaß, 261.

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»Er mußte aber den Brüdern gleich werden, ausgenommen die Sünde, auf daß er geprüfet werden könne allenthalben, wie wir, Hebr. 2,17. Denn wenn er sich der Herrlichkeit, die er hatte vor Grundlegung der Welt, nicht entäußert hätte, so hätte er nicht können geprüft werden, so hätte nicht können von ihm gesagt werden: ›das Kindlein wuchs und ward stark im Geist und nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen‹, d.i. er nahm zu an Herrlichkeit.«154

Jesus Christus hat in allen Prüfungen seines Glaubens, im schwersten Leiden und in der Gottverlassenheit am Kreuz standgehalten und so die korrumpierte menschliche Natur wieder »sündlos« gemacht. Seine Lebenshingabe am Kreuz ist die Vollendung der sich selbst erniedrigenden Liebe Gottes. Am Kreuz hat er die sündliche menschliche Natur geopfert, »aufgehoben«. Gottes Liebe in Christus wird auch als Gerechtigkeit offenbar. Diese Gerechtigkeit ist als »proportionirliche Liebe« eine prüfende und keine strafende Gerechtigkeit. Sie vergilt nach dem jeweiligen Wohlverhalten. Christus ist nicht am Kreuz für unsere Sünden gestorben. Die anselmische Satsifaktionslehre lehnt Collenbusch entschieden ab. Jesus Christus ist auf seinem Weg der Selbsterniedrigung im Glauben geprüft worden und hat dabei das größte Wohlverhalten bewiesen. Er ist zu Recht durch seine Auferstehung zum universalen König des Reiches Gottes erhöht worden. Gott versöhnt uns durch seine Liebe in Christus und schenkt uns durch ihn seine rechtfertigende Gnade. Collenbusch nimmt die paulinische Metapher vom ersten und zweiten Adam auf und deutet sie nach seinem Verständnis der Gerechtigkeit Gottes: Christus ist der neue Adam. Schon der ersten Adam musste im Glauben geprüft werden. Er hat diese Prüfung nicht bestanden. Durch seinen Ungehorsam im Paradies, durch das Essen der verbotenen Frucht, wurde die menschliche Natur korrumpiert und so an die Nachkommen Adams weitergegeben. Von einer Erbsünde kann keine Rede sein. Geerbt haben die Nachkommen Adams die Reizbarkeit der menschlichen Natur zur Sünde. Doch dieses ist ein Unrechtleiden, das die ursprünglichen Pläne Gottes mit seiner Schöpfung durchkreuzt. Gott hat sich dank seiner Gerechtigkeit des Unrechtleidens der adamitischen Menschheit erbarmt durch Jesus Christus. Collenbusch entdeckte, dass das versöhnende Handeln Gottes durch Jesus Christus mehr bedeutet als die uns durch Gottes Gnade im Glauben geschenkte Rechtfertigung. Er entdeckte das Geheimnis Christi in uns neben dem Geheimnis Christi für uns. Mit der Rechtfertigung verbunden ist die Heiligung. Sie ist das zentrale Anliegen der Demutstheologie Collenbuschs. Collenbusch fragt: »Was ist Heiligung?« Seine Antwort: »Die Heiligung ist Selbsterniedrigung, die Stufen der Heiligung sind Stufen der Selbsterniedrigung.«155 Der erhöhte Christus ermöglicht durch die Gabe seines in uns wir154 Ebd. 80. 155 Collenbusch, Nachlaß, 271 (Brief an Pastor Elbers).

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kenden Geistes neben der Rechtfertigung die Heiligung. Die Heiligung ist ein Weg der Demut in den Prüfungen Gottes. Er entspricht auf der menschlichen Seite der Demut Gottes auf dem Weg seiner Selbstentäußerung in Jesus Christus. Die Betonung des »Geheimnisses Christi in uns« und damit der Heiligung des gerechtfertigten Menschen hat ihren Grund im großen Interesse Collenbuschs an der Ethik des Glaubens, an der Verbesserung, an der Vervollkommnung des Menschen. Dieses Interesse teilt er mit der Aufklärung. Der große Unterschied liegt aber in der Bedingung der Möglichkeit dieser menschlichen Vervollkommnung und im Verständnis des Verhaltens, das zu diesem Ziel führt. Die Bedingung der Möglichkeit ist die Gabe des Geistes, deren Maß sich nach dem bewiesenen Wohlverhalten auf dem Wege der Heiligung richtet. Der Weg der Heiligung ist die immer radikalere Selbsterniedrigung. Collenbusch stellt seine Lehre von der Heiligung der vielgepriesenen Tugendlehre der Aufklärung gegenüber. Diese Lehre verkenne die wahre Lage des Menschen. Der Ethik, zu der die Aufklärer das Christentum verkürzen, fehle die Glaubensgrundlage, denn ohne sie komme es hier bloß zu einem fortwährenden Gerede vom Tun des Menschen.156 Die Tugend der Aufklärer belohne sich selbst, Christen aber erwarten Gottes Lohn, wenn sie nach seinem Willen leben. Christliches Leben in der Heiligung hat nach Collenbusch ein anderes, höheres Ziel als ein Leben nach den Tugenden der Aufklärung. Nicht bessere, sondern neue Menschen sollen und können wir werden. Faulenbach fasst die zahlreichen Aussagen Collenbuschs zu diesem Thema folgendermaßen zusammen: »Gott fordert von uns eine Besserung in göttlicher Natur, in der Gerechtigkeit und Heiligkeit. Das Bauen auf den eigenen Verstand ist ihm eine Narretei; das Streben nach Natürlichkeit, die keinen Heller wert ist, bleibt Menschlichkeit, durch die kein Weiser dieser Welt Christusähnlichkeit und Göttlichkeit, das Ziel des Menschen, auf das christliches Glauben und Handeln ausgerichtet ist, erlangt, ist es doch Gottes Wille, dass er in seiner Güte, der ich vertrauen darf, etwas Neues, nicht Natürliches, eine neue Kreatur aus uns macht, so dass Collenbusch das Christentum antithetisch zur Aufklärung als Berufung zur Übermenschlichkeit bezeichnen kann. Die ungläubigen Zeitgenossen werden erschrecken über all das Gute, das Gott an seinen Erwählten tun wird. Im Gegensatz zur stolzen Tugendlehre der Aufklärung ist die Selbsterniedrigung für Collenbusch der sicherste Weg, durch Gott und nicht durch das Lob der Welt erhöht zu werden. Dies verstehen und leben ist geistliche Weisheit und geistlicher Verstand gegenüber der Selbsterhöhung des Menschen, die eine Rebellion gegen Gottes Willen und daher fleischliche Dummheit ist.«157 156 Ebd. 280. 157 Faulenbach, Samuel Collenbusch, 32. Faulenbach zitiert in diesen Sätzen aus Collenbuschs Tagebuch, Duisburg 31931, 57.11.43.53.14.

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Der Weg der Heiligung führt immer wieder durch Prüfungen, in denen die Treue des Glaubens und das Wachsen in der Heiligung bewährt werden muss. So wird Heiligung zur Nachfolge Jesu Christi, der nach dem Hebräerbrief in allem auf gleiche Weise geprüft worden ist wie wir, der aber ohne Sünde blieb (Hebr 4,15). In der Heiligung geht der Christ oder die Christin von Gnade zu Gnade, von Kraft zu Kraft und kann schon zu Lebzeiten zur Vollkommenheit, nämlich zur Befreiung von der Sünde, kommen. Das Wachsen in der Heiligung vollzieht sich in sieben Stufen durch sieben Überwindungen, die Collenbusch den sieben Seligpreisungen der Bergpredigt, den sieben Stufen der Tugend des Glaubens nach 2Petr 1,5–7 und den sieben Sendschreiben der Offenbarung des Johannes entnimmt.158 Für die Möglichkeit der Vollendung der Heiligung beruft sich Collenbusch auf 2Kor 7,1: »Da wir nun diese Verheißungen haben, meine Geliebten, wollen wir uns reinigen von jeder Befleckung des Fleisches und des Geistes und auf unsere vollkommene Heiligkeit hinwirken in der Furcht Gottes.« Die sich in Stufen vollziehende Heiligung bringt Collenbusch in Verbindung mit der »Schriftlehre vom inwendigen Menschen«, mit der er sich auf 2Kor 5 beruft, und stellt sie sich als einen naturhaften Prozess vor. Mit dem »inwendigen Menschen« meine die Schrift eine der Seele eigene, von unserer körperlichen Leiblichkeit verschiedene unsichtbare Leiblichkeit. Dieser Seelenleib sei das Organ für das Empfangen der göttlichen Lebenskräfte, für das Teilhaftigwerden an der göttlichen Natur nach 2Petr 1 und für die Selbstmitteilung Christi an uns im heiligen Abendmahl. Der inwendige Mensch werde dann bekleidet mit dem Auferstehungsleib. Der Prozess der Heiligung kommt beim Sterben des Menschen an sein Ende und findet im Jenseits keine Fortsetzung. Dort gilt dann das Recht des Reiches Gottes: Der Mensch empfängt den Lohn gemäß seinem in den Glaubensprüfungen bewiesenen Wohlverhalten und seinen ihm angemessenen Platz im Universum des Reiches Gottes. Das Verständnis der Heiligung bei Collenbusch und seine Stufenlehre sind nicht wirklich biblisch begründet. Ihre Problematik besteht darin, dass Heiligung als radikale Selbsterniedrigung zum Aufgeben der eigenen Persön158 Collenbusch unterscheidet sieben Stufen der Heiligung bzw. der Selbsterniedrigung: »Die erste Stufe der Selbsterniedrigung ist die Buß und der Glaube […]. Nicht zürnen, nicht schelten, nicht Rache üben, wenn man Unrecht leidet, das ist die zweite Stufe der Selbsterniedrigung. Nicht schwören, wenn man widerrechtlich für einen Lügner erklärt wird, das ist die dritte Stufe der Selbsterniedrigung. Dem Übel widerstehen, wenn man Unrecht leidet, […] das ist die vierte Stufe der Selbsterniedrigung. Nicht hassen, wenn man ohne Ursache gehaßt wird, sondern lieber segnen den, der uns ohne Ursache flucht, […] das ist die fünfte Stufe der Selbsterniedrigung. Nicht eitle Ehre suchen, nicht Schätze sammeln, […], nicht richten, wenn man gerichtet wird, das ist die sechste Stufe der Selbsterniedrigung. Gütig sein über die Undankbaren und Boshaften, […] das ist die siebte Stufe der Selbsterniedrigung; diese sieben Stufen der Selbstüberwindung sind sieben Stufen der Reinigung und der Heiligung, welche der Herr Jesus Matth. 5 und 6 und 7 von einem jeden Christen fordert. Der Hochmütigste ist der Unheiligste; der Demütigste ist der Heiligste.« Collenbusch, Nachlaß, 271 f.

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lichkeit führen kann und das Streben nach einer in Stufen wachsenden göttlichen Natur zu einer Leistungsfrömmigkeit wird.159 Menken hat wohl das Verständnis der Heiligung von Collenbusch übernommen, aber nicht seine Stufenlehre.160 Die zusammenfassende Darstellung der Demutstheologie Collenbuschs ist konzentriert gewesen auf das Heil des einzelnen Menschen. Doch Collenbusch hat auch das Reich Gottes im Blick und trägt Gedanken dazu vor. Der Heilsplan Gottes betrifft das Individuum und das Universum, den einzelnen Menschen und die ganze Welt. Die Heilsgeschichte des Einzelnen ist eingefügt in die Heilsgeschichte des Ganzen. Faulenbach fasst Äusserungen Collenbuschs dazu aus dem Nachlass eines Gottesgelehrten zusammen: »Die größte Absicht Gottes, von der die Bibel berichtet, ist, dass alle Nationen durch den Samen Abrahams gesegnet werden sollen mit geistlichem Segen und himmlischen Gütern. Dies soll dadurch geschehen, dass alle Kreatur unter Christus in einer Universalmonarchie mit einer Reichsverfassung zusammengefasst wird. Christus ist Gottes Mittel, diesen Plan zu verwirklichen; zugleich ist er das Oberhaupt dieses Reiches, so dass aller Welt mittelbar durch Abraham und unmittelbar durch den Sohn das Heil Gottes zugewandt ist.«161

Collenbuschs Gedanken zum Reich Gottes sind fokussiert auf das gegenwärtige Reich Gottes. In diesem Punkt wird sich neben anderen herausstellen, 159 Renfordt unternimmt im Anschluss an seine Darstellung der Demutstheologie Collenbuschs eine theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Einordnung dieser Demutstheologie. Er stellt zusammenfassend fest: »Demut als imitatio der Demut Christi ist zwar gut neutestamentlich und auch Augustin gemäß, sie ist aber im Laufe der Zeit als annihilatio der eigenen Persönlichkeit wie auch im Sinne einer Leistungsfrömmigkeit pervertiert worden.« Bei Collenbusch stellt Renfordt »zwei Pole der Demutshaltung« fest: »Einerseits unterstellt er sich der Heiligen Schrift und will von dorther das Leben gestalten. Andererseits praktiziert er eine leistungsorientierte Demut. Dieser Hiatus hat Konsequenzen für die Wahrnehmung Collenbuschs. In seinem Freundeskreis ist offenbar der erstgenannte Pol (fast) ausschließlich zum Tragen gekommen. Wo es über den Freundeskreis hinausgeht, wird die Wahrnehmung anders. Die leistungsorientierte Demut, die durch die Stufenlehre impliziert wird, stellt die ganze evangelische Theologie Collenbuschs infrage.« Renfordt, Samuel Collenbusch, 150. 160 Menken fühlte sich in seiner Beziehung zu Collenbusch überhaupt frei von »tyrannischer Seelendespotie«, wie er es dem Freund Johann Heinrich Hasenkamp versichert: »Ich wollte noch von dem Doktor [Collenbusch, H. M.R] etwas sagen: daß ich nämlich ein großes Vertrauen zu ihm hege, auch um deßwillen, weil er bei so viel seltner Originalität, ohne allen Indifferentismus, frei ist von jener kleinlichen und tyrannischen Seelendespotie solcher Menschen, die keine Form der Menschheit gelten lassen wollen, als nur die ihrige, und denen man sich alsobald zum seeleneignen Knecht macht, wenn man sie um Rath fragt, oder ihnen Etwas zur Beurteilung übergibt. […] Von dem Doktor bin ich gewiß, daß er nicht verlangt, Jeder soll sprechen und schreiben wie er, und daß er die Macht, die ich ihm über mich einräume, wenn ich seiner Beurtheilung etwas unterwerfe, nie anders gebrauchen wird, als wie Paulus die seinige über seine lieben unverständigen Galater und Korinther gebrauchte – eQr oQjodolµm, ja· oqj eQr jaha¸qesim.« Menken, Schriften VII, 297 f. 161 Faulenbach, Samuel Collenbusch, 23.

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dass Gottfried Menken, der »Meisterschüler« Collenbuschs, die Theologie Collenbuschs nicht undifferenziert und unkritisch übernimmt. Bei Menken steht das kommende Reich Gottes im Fokus von dessen heilsgeschichtlicher Theologie.162 Collenbuschs Theologie der Demut ist das eindrucksvolle Ergebnis des unermüdlichen Ringens eines Laientheologen um ein Verständnis der Heiligen Schrift, das sie als Offenbarungszeugnis ernstnimmt und sich damit den Provokationen der Aufklärung stellt. Dazu hat sich Collenbusch Hilfe gesucht im Gespräch mit zeitgenössischen Theologen und in der Aufnahme älterer theologischer Tradition.163 Man muss Collenbusch zugestehen, dass er viele Anregungen und Einflüsse sehr eigenständig verarbeitet hat.164 Er selbst bekennt sich zu den Anregungen, die er der Philosophie Leibniz’ verdankt und der Theologie der großen Württemberger Pietisten. Bengel vermittelt ihm das offenbarungsgeschichtliche Schriftverständnis. Fricker, Oetinger und Hahn öffnen ihm den Blick für das vergessene »Geheimnis Christi in uns« und für die biblische »Lehre vom inneren Menschen«. Eine nicht geklärte und wohl auch nicht definitiv zu klärende Frage betrifft den Einfluss coccejanischer Ideen auf Collenbusch. Schrenk sieht die Eigentümlichkeiten Collenbuschs, die sich bei Coccejus nicht finden. Das organische reichsgeschichtliche Schriftverständnis Collenbuschs könne jedoch nicht allein auf Bengel zurückgeführt werden. Schrenk weist hin auf die wirksame, durch Generationen nachwirkende »Macht des Kanzelcoccejanismus«. So ist er überzeugt: »Auch Samuel Collenbusch, Johann Gerhard Hasenkamp und Gottfried Menken lassen sich trotz des energischen Einspruchs von Hermann Cremer nicht begreifen ohne die Beachtung des coccejanischen Erbes. Sie haben ihr 162 So urteilt auch Renfordt: »Während […] Collenbusch das Umsetzen des Wortes Gottes (wodurch Gott regiert) in der Gegenwart heraushob, hat Menken das kommende Reich Gottes in den Mittelpunkt gerückt. Damit ist auch dieses deutlich: Bei Collenbusch liegt der Schwerpunkt des Denkens auf dem Aspekt der Heiligung als eines demütigen Sich-Begebens unter die Schrift; er hat weniger (nicht: gar kein) Interesse an der futurischen Eschatologie.« Renfordt, Samuel Collenbusch, 137 f. 163 Renfordt geht darauf ausführlich ein. Er behandelt in Kap. IV seiner Dissertation »Das geistiggeistliche Umfeld« und unterscheidet dabei den »klassischen Pietismus« und »die Netzwerke der Frommen«. Zu den letzteren gehören: »der Anreger bzw. Vermittler«: Johann Ludwig Fricker; »die Väter«: Johann Albrecht Bengel, Friedrich Christoph Oetinger, Gerhard Tersteegen; »die Brüder«: Johann Gerhard Hasenkamp, Thomas Wizenmann, Gottfried Menken, Johann Heinrich Hasenkamp, Friedrich Christian Hoffmann; »die phantasierende Schwester«: Dorothea Wuppermann; »der Stiefbruder«: Johann Caspar Lavater. Renfordt, Samuel Collenbusch, 56–82. 164 Ein Beispiel ist Collenbuschs Aufnahme der Vorstellung von der Kenose Christi als Annahme unseres Fleisches, wie es durch Adams Fall geworden ist, von den Württembergern. Dazu Cremer: »Der Gedanke einer solchen Kenose war schon mehrfach angeschlagen von Oetinger, Hahn, und namentlich in einem anonymen Buche […], dogmatisch angedeutet von Joh. Jak. Urlsberger. Nirgends aber war diese Kenose so energisch betont und dogmatisch ausgeführt, als von Collenbusch.« Cremer, Collenbusch, 238.

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Der theologie- und geistesgeschichtliche Kontext Gottfried Menkens Eigentümliches aufgebaut auf den Elementen, welche ihnen die coccejanische Theologie an die Hand gab.«165

Collenbusch versuchte sein von Kränklichkeit und Behinderung belastetes Leben in der Nachfolge Christi, wie er sie verstand, zu leben. Die Aufrichtigkeit seines Eifers für Gottes Offenbarung in der Heiligen Schrift bleibt unbestritten. Seinen materialen Biblizismus müssen wir heute als Irrweg beurteilen. Collenbusch ist in der pauschalen Verteufelung der Theologen der Aufklärung zu weit gegangen. Die Vorurteile seiner eigenen Schriftauslegung sind ihm nicht bewusst geworden. Collenbusch hat das Positive und das Bedenkliche seiner Bibeltheologie an seinen Meisterschüler Gottfried Menken weitergegeben. 3.2.3 Der Württembergische Pietismus – Johann Albrecht Bengel Im Collenbusch-Kreis werden die Württemberger Pietisten hochgeschätzt. Ihre Schriften sind bald auch Menkens Lektüre. Der Vikar in Uedem besorgt sich Bengels Gnomon wie auch Hahns Predigten, die ihm Pastor Hasenkamp so sehr empfohlen hatte.166 Dem Hilfsprediger in Frankfurt fallen Bengels Reden über die Offenbarung in die Hände.167 Seine Begeisterung darüber teilt er dem Rektor F.A. Hasenkamp in Duisburg mit: »An denselben [Reden über die Offenbarung, H.M.R.] habe ich eine unbeschreibliche Freude und sehe es als eine besondere Gnade Gottes an, dass mir dieses Buch hat bekannt werden müssen zu einer Zeit, wo so wenige darauf achten, wo auch von den Besseren so viele mit den neuen Erbauungsschriften vorliebnehmen, die an Geist und Salbung so weit hinter den alten zurückstehn, als sie an ästhetischem Scheinwesen sich über sie erheben.«168

An den Freund Schlegtendal schreibt Menken einige Jahre später: »Von allen menschlichen Schriften, so viele mir bekannt geworden sind, halte ich diese beiden Bücher (den Gnomon und die Reden nämlich) bei weitem für die besten. Ueberhaupt unter den grossen Wohlthaten Gottes in meinem Leben achte ich für eine der größten, wofür ich dem himmlischen Vater auf 165 Schrenk, Gottesreich und Bund, 318. 166 Gildemeister, Leben und Wirken I, 91. Johann Michael Hahn (1758–1819) gilt als Theosoph. Er lehrte die »Wiederbringung aller Dinge«. Weil er wegen seiner Anschauungen von der Landeskirche verfolgt wurde, lebte er seit 1794 als Bauer. 167 Dem Freund Christoph Hermann Hasenkamp vertraut Menken an, dass er in Uedem in seiner Einsamkeit mit großer Freude zum ersten Mal die Predigten seines seligen Vaters Johann Gerhard Hasenkamp las, »so wie ich ewig die Tage zu den allerfreudenreichsten und heiligsten meines Erdenlebens zählen werde, als ich in Frankfurt in einer äusserlich sehr freudenlosen Lage unter mancherlei Leiden zum ersten Mal Bengel’s Reden las.« Gildemeister, Leben und Wirken I, 268 f. 168 Gildemeister, Leben und Wirken I, 115.

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ewig zu inniger Dankbarkeit verpflichtet bin, die Bekanntschaft mit Bengel’s Schriften. Keines Menschen Schriften haben mir so viel Freude gemacht und so vielen Nutzen gewaehrt, als Bengel’s, […]. Keines Menschen Schriften haben auch mir eine solche Hochachtung, eine solche tiefe Ehrfurcht gegen ihren Verfasser gewirkt, als dieses Mannes Schriften gegen ihn in mir hervorgebracht haben.«169

Menken begrüßt es in diesem Zusammenhang, dass ihm die Schriften Bengels relativ spät bekannt geworden sind: »Auch habe ich es als eine Weisheit und Treue Gottes zu preisen, dass mir Gott die Schriften dieses seines treuen und hocherleuchteten Knechtes nicht früher hat in die Hände kommen lassen, als es geschehen ist. Wären sie mir in Bremen oder in Jena oder auch im ersten Jahr zu Duisburg schon bekannt geworden, sie möchten schwerlich den Eindruck auf mich gemacht haben, den sie nachher auf mich machten.«170

Die Begeisterung für Bengel und die Beschäftigung mit seinen Schriften hielten an. In Bengels Schriftauslegung fand Menken auch persönliche Erbauung. So schreibt er noch kurz nach seiner Emeritierung an den Freund Hoffmann in Düsseldorf, dass er »durch des lieben, seligen Bengel’s sechzehnte Rede [aus den 60 Reden über die Offenbarung, H.M.R.] Osterfreude in seinem Herzen verspürt habe«.171 Was zog Menken an Bengel an? Was hat er von Bengel übernommen? Bengel hat sich selbst als Exegeten verstanden. Seine Domäne als Exeget war das Neue Testament. Mit seiner Textkritik des Neuen Testaments hat Bengel Großes geleistet.172 Gottfried Mälzer bezeichnet ihn als »den bedeutendsten Exegeten des Pietismus«.173 Menken hat Bengel vor allem als Exegeten geschätzt. Er ist ihm angesichts der exegetischen Literatur der Aufklärung, die den biblischen Text behandelt »als das leere Gefäss, das der Schriftsteller oder Prediger erst mit seiner Kritik reinigen, mit seiner Aesthetik und dann mit seinen Gedanken und Einfällen füllen müsse, ehe er es andern darreichen könne«174, ein hochgeschätztes Vorbild, denn der biblische Text werde dort auf seinen Sinn hin befragt und erklärt. Als Pastor Völker, der Bräutigam seiner Nichte, Menken um Literaturempfehlungen zum Studium der Heiligen Schrift bittet, steht Bengel an erster Stelle. Menken antwortet in einem Brief vom 31. Dezember 1827: »Das Buch aller Bücher in diesem Fache, wobei Sie eine Bibliothek von Commentaren entbehren können, ist J. A. Bengelii Gnomon N.T. in quo ex 169 170 171 172 173 174

Ebd. 115 f. Ebd. 116. Gildemeister, Leben und Wirken II, 13. Vgl. Mälzer, Bengel, 153–189. Ebd. 361. Gildemeister, Leben und Wirken II, 98.

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Der theologie- und geistesgeschichtliche Kontext Gottfried Menkens nativa verborum vi simplicitas, profunditas, concinnitas, salubritas sensuum coelestium indicatur in Quart. Wenn Sie, wie ich vermute, dies Buch nicht besitzen, so schreiben Sie es mir, ich will sehen, dass ich es Ihnen verschaffe, denn es ist im Buchhandel nicht mehr zu haben. Einer meiner hiesigen Freunde geht damit um, eine neue Auflage davon zu veranstalten, welches dann die vierte sein würde. Bengel’s Ordo Temporum, Apparatus criticus, Harmonie der Evangelisten, deutsche Übersetzung des Neuen Testaments können Ihnen ebenfalls treffliche Dienste leisten. Seine sechzig erbaulichen Reden über die Offenbarung Johannis sind ein homiletisch-ascetisches Meisterwerk und ein reiches Magazin christlicher Erkenntnisse, Empfindungen, Tröstungen u.s.w., dem ich kein gleiches an die Seite zu stellen weiss, wenn man auch, wie das bei mir zum Theil der Fall ist, über die Erklärung der Apokalypse mit Bengel gar nicht einverstanden ist.«175

Bengels Bibelkritik ist der alten critica sacra verpflichtet, die die Schrift als das inspirierte Zeugnis der Offenbarung verehrt und keine inhaltliche Kritik betreibt. Das Schriftverständnis Bengels ist in diesem Sinne unkritisch und unhistorisch. Das verbindet ihn mit Menken. Bengel wirkt in der frühen Phase der Aufklärung, Menken in ihrer rationalistischen Spätphase. Während aber die Aufklärung in Bengels theologischer Arbeit keine nennenswerte Rolle spielt, exegesiert und predigt Menken sehr bewusst im Horizont der Aufklärung und äußert direkt und in seinen »ascetischen« Schriften oft indirekt ihre entschiedene Ablehnung. Auf die berechtigten Anliegen und Anfragen der Bibelkritik der Aufklärer haben sich weder Bengel noch Menken eingelassen. Über die Exegese, und zwar über die Auslegung der Offenbarung des Johannes, ist Bengel zum heilsgeschichtlichen Theologen geworden. Das Buch der Offenbarung des Johannes hielt er für das wichtigste und das aktuellste biblische Buch. Die Erforschung der biblischen Heilsgeschichte steht im Zentrum seiner Theologie. Durch seine heilsgeschichtliche Bibelauslegung hat Bengel schon in seiner Zeit und weit darüber hinaus, bis ins 19. Jahrhundert hinein, eine große Wirkung ausgeübt bei all denen, die auf der konservativen Seite standen und die Bibelkritik der Aufklärung ablehnten. Bengel hat sich dezidiert als neutestamentlichen Exegeten verstanden. Als man ihm 1720 einen dogmatischen Lehrstuhl in Gießen anbot, hat er abgelehnt und zur Begründung u.a. geschrieben, »er habe die Dogmatik schon viele Jahre liegen gelassen«. Auch als man ihn nach der Abfassung des Gnomon aufforderte, ein theologisches Lehrbuch zu schreiben, hat er abgelehnt.176 Nun ist aber Bengels heilsgeschichtliche Exegese offensichtlich auch Dogmatik. Das heilsgeschichtliche System, das er in der Schrift des Alten und Neuen Testaments entdeckt, ist eine dogmatische Konstruktion, die weit über die Exegese hinausgeht, die sich auf spekulativem Gelände bewegt, die aber eben in ihrer 175 Ebd. 154. 176 Mälzer, Bengel, 353.

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Entdeckerfreude und Rationalität und in ihrer Erbaulichkeit auf viele Zeitgenossen einen großen Eindruck machte. Bengel hat seine heilsgeschichtliche Bibelauslegung nach vielen intensiven Vorarbeiten in drei großen Kommentaren zur Offenbarung des Johannes entfaltet und zusammengefasst. Der erste ist die Erklärte Offenbarung Johannis und vielmehr Jesu Christi (Stuttgart 1740). Der zweite ist integriert in den lateinischen Gnomon (1742). Der dritte Kommentar ist jenes von Menken hochgerühmte und weiterempfohlene Werk Johann Albrecht Bengels sechzig erbauliche Reden über die Offenbarung Johannis oder vielmehr JESU Christi , samt einer NACHLESE gleichen Inhalts: Beides zusammengeflochten, dass es entweder als ein zweyter Theil der Erklärten Offenbarung oder für sich als ein Bekräftigtes Zeugniss der Wahrheit anzusehen ist (Stuttgart 1747). Die Sechzig erbaulichen Reden stellen eine von Bengel überarbeitete Nachschrift von Erbauungsstunden dar, die in Herbrechtingen gehalten wurden. Bengel war 1741 als Prälat vom Württemberger Konsistorium nach Herbrechtingen berufen worden, nachdem er 27 Jahre als Leiter der Klosterschule in Denkendorf verbracht hatte. Der Begriff der »Nachlese« im Titel bezieht sich auf Passagen zwischen den einzelnen Reden, in denen sich Bengel mit Angriffen auf seine heilsgeschichtliche Theologie auseinandersetzt. Dazu Mälzer: »Auf diese Weise präsentiert auch dieses Buch Bengels jene eigenartige Mischung von erbaulicher und wissenschaftlicher Gestalt, die weithin für seine Schriften typisch ist.«177 In die Reihe der genannten Schriften gehört als zweites großes heilsgeschichtliches Werk, das kurz nach der Erklärten Offenbarung des Johannes erschien, der Ordo temporum (1741). Der komplette Buchtitel sagt, dass es hierbei nicht nur um den Aufriss der Heilsgeschichte von der Himmelfahrt bis zum Weltende geht, der aus der Exegese der Johannesoffenbarung gewonnen wird, sondern um die gesamte Chronologie der heiligen Geschichte vom Anfang der Welt bis zu deren Ende: Jo. Alberti Bengelii Ordo temporum a principio per periodos oeconomiae divinae historicas atque propheticas ad finem usque ita deductus ut tota series et quarumvis partium analogia sempiternae virtutis ac sapientiae cultoribus ex scriptura V. et N. T. tanquam uno revera documenta proponatur.178 Zu den Hauptschriften der heilsgeschichtlichen Theologie Bengels gehören schließlich noch Jo Alberti Bengelii Cyclus sive de anno magno solis, lunae, stellarum, consideratio ad incrementum doctrinae propheticae accomodata (Ulm 1745)179, und die Verteidigungsschrift Welt-Alter darin die schriftmässige Zeiten-Linie bewiesen und die Siebenzig 177 Ebd. 233. 178 Mälzer, Bengel, 234: Johann Albrecht Bengels Zeitenordnung. Vom Anfang an durch die Perioden der göttlichen Ökonomie, geschichtliche wie prophetische, bis zum Ende verfolgt; in der Weise, dass die ganze Zeiten-Kette ebenso wie die Entsprechung ihrer Glieder den Verehrern der ewigen Kraft und Weisheit aus der Schrift des Alten und Neuen Testamentes als einer einzigen, zuverlässigen Urkunde vorgelegt wird. 179 Cyclus oder Betrachtung über das grosse Jahr der Sonne, des Mondes, der Sterne. Zum Wachstum der prophetischen und astronomischen Lehre verfasst.

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Wochen samt andern wichtigen Texten und heilsamen Lehren erörtert werden, zum Preise des grossen Gottes und seines wahrhaftigen Wortes ans Licht gestellt von Johann Albrecht Bengel (Esslingen 1746). Die heilsgeschichtliche Theologie Bengels, die im Zentrum seines Schaffens steht und die er als seine besondere Berufung angesehen hat, ist für Menken neben und mit den Einflüssen des Collenbuschkreises eine Bestätigung und Vertiefung seiner Schriftauffassung gewesen, zu der bereits im Bremer Pietismus der Grund gelegt wurde. Für Bengel ist die Schrift das Zeugnis der göttlichen Ökonomie, der planmäßigen Heilsveranstaltung Gottes, die kein logisches System darstellt, sondern eine geschichtliche Offenbarung. Die Bibel ist kein Spruchbuch, sondern bildet »ein äußerst festes und wertvolles System göttlicher Zeugnisse«: »Nicht nur sind die einzelnen Teile Gottes würdig, sondern zusammengenommen bieten sie auch ein zusammenhängendes und vollständiges Gebilde dar, das weder unter irgendeinem Mangel, noch unter irgendeiner Übertreibung leidet.«180 Obwohl jedes biblische Buch ein Ganzes für sich ist und jeder Schriftsteller seine eigene Manier hat, so weht doch ein Geist durch alle und eine Idee durchdringt alle. Bengel erforscht die linea chronologica der göttlichen Heilsgeschichte mit mathematischer Genauigkeit. Er entdeckt die Zahl 666 als Schlüssel zum Verständnis der Apokalypse des Johannes und ihrer prophetischen Enthüllung der Geschichte des Reiches Gottes von der Himmelfahrt des Herrn bis zu seiner Vollendung. Seine Erforschung der oeconomia divina bezieht auch das Alte Testament ein und geht zurück bis zur Schöpfung der Welt. Bezeichnend ist für Bengels Erforschung der Schrift, dass dabei auch die Profangeschichte einbezogen wird. In seiner Schrift Cyclus bekommt dann der heilsgeschichtliche Entwurf kosmische Dimensionen. Bengel begibt sich darin auf das Feld astronomischer Spekulationen. Dazu Gottfried Mälzer: »Der gesamte von der Apokalypse her konstruierte heilsgeschichtliche Entwurf Bengels hatte wenigstens ein biblisches Fundament, gegeben durch einen exegetischen Befund, der zwar höchst fragwürdig ist, aber zu jener Zeit noch eben diskutabel erscheinen mochte. Die Ergebnisse des ›Cyclus‹ entstammen dem luftigen Reich der reinen Spekulation.«181

Es ist eine umstrittene Frage, ob und wie Bengel mit seiner heilsgeschichtlichen Schriftauffassung von Johannes Coccejus beeinflusst worden ist. Mälzer bestreitet eine direkte Abhängigkeit Bengels von Coccejus, sieht aber viel Gemeinsames.182 Bengel selbst beruft sich nicht auf Coccejus, sondern auf 180 Bengel, Gnomon, Bd. I, LIV. 181 Mälzer, Bengel, 331. 182 Die Frage nach einer unmittelbaren Abhängigkeit Bengels von Coccejus ist bereits von Albrecht Ritschl gestellt worden. Ritschl, Pietismus. 2. Bd., 393. Mälzer lehnt eine direkte Abhängigkeit Bengels von Coccejus ab und beobachtet eine »kühle, kritische Distanz zu Coccejus«: »Coccejus spielt in Bengels zahlreichen heilsgeschichtlichen Schriften keine Rolle; Bengel ist ganz entschieden kein Coccejaner.« Mälzer, Bengel, 243. Im Blick auf Bengels oeconomia

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Luther und Spener und Campegius Vitringa. Die sogenannte »Hoffnung besserer Zeiten«, die Spener in seiner Schrift Pia desideria proklamiert, ist für Bengel eine große Bestätigung seiner heilsgeschichtlichen Eschatologie: »Eine grosse Thüre ward durch den theuren Spener aufgethan, als welcher die von ihm und andern so genannte Hoffnung besserer Zeiten wieder hervorgebracht, alle particularien zwar auf das behutsamste, wie sichs bey einem solchen neuen Anfang geziemte, bey seit gesetzet, die Hauptsache aber mit grossem Ernst, Standhaftigkeit und Gewissheit, bis in den Tod vertheidiget hat. Von da an dringet die Wahrheit in diesem Stücke immer mächtiger, wiewol zwischen vielen Irrtümern hindurch.«183

Die Föderaltheologie war zu Bengels Zeit weit verbreitet und wurde an den Universitäten gelehrt. Bengel ist sicher durch seinen Lehrer Johann Wolfgang Jäger in Tübingen, einem Anhänger und Kenner der Föderaltheologie, damit in Kontakt gekommen. Nach dem Urteil Gottlob Schrenks ist die Bengelsche Theologie »Erbin eines fortentwickelten und geläuterten Coccejanismus«.184 Die Gründe Schrenks sind überzeugend: Beide Theologen teilen die Auffassung von der Einheit der Schrift als einem System mit Symmetrie und Zusammenklang. Beide erkennen in ihr einen »ordo temporum«, eine stufenmässige Entwicklung der Heilsgeschichte.185 Beide Theologen verstehen die göttliche Ökonomie auch universal.186 Beide Theologen sind »ausgesprochene Eschatologen«.187 Der Gedanke der Ökonomie, das bei Bengel »beherrschende und zusammenfassende« Prinzip der biblischen Offenbarungsgeschichte, ist nach Schrenk »dem coccejanischen Reichsbegriff gleichartig«.188 Bengel ist sich bewusst, dass er mit seiner heilsgeschichtlichen Bibeltheologie etwas Neues lehrt, dass aber der Chiliasmus in dieser oeconomia divina von der Confessio Augustana verworfen wird. Er ist davon überzeugt, dass er nur älteste christliche Lehre erneuert. Eine Generation später hat Gottfried Menken die gleiche Überzeugung vertreten.189 Die Erkenntnis der heilsgeschichtlichen Offenbarung Gottes im Zeugnis der Bibel, der linea chronolog-

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divina stellt Mälzer aber eine »geistige Verwandtschaft der Bengelschen Heilstheologie mit der Föderaltheologie des Coccejus« fest. Mälzer, Bengel, 328. Mälzer, Bengel, 244 f. Schrenk, Gottesreich und Bund, 311. »Weil beide die göttliche Wahrheit nicht als logisches System auffassen, sondern als geschichtliche Offenbarung, sind sie einig im Gegensatz gegen jene orthodoxe Scholastik, die durch menschliche Termini von den Schriftgedanken abbiegt und die Bibel nur gebraucht, um Beweisstellen für ein dogmatisches System zu suchen.« Schrenk, Gottesreich und Bund, 312. »Weil beide darin eins sind, daß die Schrift uns eine Erkenntnis der universalen Ökonomie vermittelt, uns den Einblick in den Weltlauf, in die Geschichte des Menschengeschlechts und der Kirche im Licht der Wege Gottes gewährt, sehen sie eine Hauptaufgabe der Auslegung darin, eine Theologie der Weltgeschichte aufzuzeigen.« Schrenk, Gottesreich und Bund, 314. Schrenk, Gottesreich und Bund, 314. Ebd. 313. Vgl. Menken, Schriften VII, 264 f. (»Etwas über Alt und Neu«).

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ica, hat Bengel als eine große Gnade verstanden und als seinen theologischen Auftrag: Hier glaubte er, über die »uralte Wahrheit« hinaus mit Gottes Hilfe wirklich etwas Neues, Weiterführendes vorlegen zu können. Hier schien die Begründung dafür vorzuliegen, dass er sich als der dritte Engel der Apokalypse neben Johann Arndt und Philipp Jakob Spener verstehen durfte (Apk 14,9), so wie es der Pietist Philipp Friedrich Rieger (1722–1782) gereimt hat: »Bedeutt den Arnd der Erste Engel So stellt der 2te Spenern vor, zum 3ten reimt sich selbst der Bengel drey Männer so Gott auserkohr; ein jeder hülfft in seinem Lauff: dem Glauben, Liebe, Hoffnung auf.«190

Die theologiegeschichtliche Linie, die von Coccejus zu Bengel führt, steht für Schrenk außer Zweifel. Offensichtlich ist nun aber auch die Linie, die von Bengel weiterführt zu Menken. Die Übereinstimmungen lassen sich so zusammenfassen: Beide teilen die orthodoxe Inspirationslehre. Ihr heilsgeschichtliches Bibelverständnis führt aber über die altprotestantische Orthodoxie hinaus. Die biblischen Texte sind nicht nur Quelle und Grund der christlichen Dogmatik. Die Schrift ist ein Organismus von vollkommener Harmonie, in dem alles wichtig und nichts entbehrlich ist. Das vollkommene Original ist (nach Bengel) verloren gegangen. Als einzige mögliche Kritik hat die Textkritik die Aufgabe, Differenzen und Fehler in der Überlieferung zu erkennen und zu bearbeiten. In der gläubigen Erforschung der Schrift erschließt sich die göttliche Ökonomie, die linea chronologica. Ihr Aufweis und ihre Erkenntnis sind der schlüssigste Beweis der Wahrheit und Authentizität der Bibel. Das Verständnis der Heilgeschichte ist individuell und universal. Beide Heilsgeschichtler zeigen die typische Verbindung von Soteriologie und Geschichtstheologie, wobei sich Geschichtstheologie auf den Verlauf und die Beziehung von Kirchengeschichte und Weltgeschichte bezieht.191 Beide Heilsgeschichtler sind betonte Eschatologen. Sie teilen die Naher190 Mälzer, Bengel, 313 f. 191 Bengel beginnt sein Buch Welt-Alter mit den Sätzen: »Die grosse Haupt-Absicht der heiligen Schrift ist, dass sie einen jeden unterweise zur Seligkeit durch den Glauben in Christo Jesu: und die unumgängliche Haupt-Sorge eines Menschen, der etwas auf die heilige Schrift hält, ist diese, dass er seines besondern Orts die Gnade Gottes in Christo Jesu, und das ewige Leben durch den Glauben ergreiffe. Dabey aber wird in der heiligen Schrift gezeiget die grosse Haushaltung Gottes, wie er sein Volk durch seine Worte und Werke führet, und wie Er seine Verheissungen gegeben und erfüllet hat und erfüllen wird, in Christo Jesu. Bey dieser letztern Betrachtung erkennet man erst, warum die heilige Schrift A. und N.T. in ihren Büchern so, und nicht anders, gestellet sey, als wie sie von Mose bis auf die Apostel nacheinander verfasset ist, und ein Systema oder eine ganze zusammenhängende Urkunde abgibt: ohne solche Betrachtung aber gehen viele mit der heiligen Schrift grossen Theils um, wie mit einem Spruchbüchlein.« Mälzer, Bengel, 366.

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wartung und vertreten den Chiliasmus in unterschiedlichem geschichtlichen Kontext: Bengel verbindet damit den Fall des Papsttums. Menken erkennt in der französischen Revolution, im Aufstieg Napoleons und vor allem im Gedankengut der Aufklärung die Zeichen der Endzeit. Auch in der Hermeneutik der Schrift bestehen wesentliche Übereinstimmungen: Sowohl Bengel wie auch Menken stehen in der hermeneutischen Tradition der Reformatoren. Sie beharren auf dem sensus literalis. Allegorische Auslegung wird abgelehnt. Typologische Auslegung wird vermieden oder (wie bei Menken) nur selten gebraucht. Es gilt die reformatorische Regel, dass sich die Schrift selbst auslegt. Die historisch-kritische Auslegung wird nicht beachtet (Bengel) oder dezidiert abgelehnt (Menken). Die biblischen Texte werden wörtlich verstanden und nicht symbolisch, auch ihre Zahlen nicht. Neben diesen Übereinstimmungen gibt es Unterschiede: Bengel ist neutestamentlicher Exeget. Seine Werke haben wissenschaftlichen Anspruch. Allerdings wird dieser ernste und fleißige wissenschaftliche Theologe in seinen Schriften oft erbaulich, vor allem in den 60 Reden zur Apokalypse, und er steht im Dienst seiner (lutherischen) württembergischen Landeskirche. Menken ist reformierter Pfarrer, der nicht nur predigt, sondern auch theologisch arbeitet und veröffentlicht, vor allem Schriftauslegungen. Menken hatte seinem Verwandten, Pastor Völker, geschrieben, dass er mit Bengels Auslegung der Apokalypse des Johannes gar nicht einverstanden sei. Vermutlich bezieht sich diese Kritik auf Bengels Berechnung der Wiederkunft des Herrn mithilfe der Zahlenangaben der Apokalypse exakt auf den 18. Juni 1836, und dies entgegen der ausdrücklichen Absage des Herrn an derartige Berechnungen (Mt 24,42). Menkens Geschichtstheologie orientiert sich biblisch am Danielbuch. Menken verdankt Bengel viel, aber nicht alles. Er setzt sich mit diesem heilsgeschichtlichen Meister und Bruder auch kritisch auseinander, und seine Theologie speist sich auch noch aus anderen Quellen, wie in den vorigen Abschnitten gezeigt wurde. 3.2.4 Johann Gottfried Herder und Johann Georg Hamann – Enttäuschung und Begeisterung Menken hat die theologischen Veröffentlichungen seiner Zeit, aber auch die klassische Literatur mit kritischem und unterschiedlichem Interesse zur Kenntnis genommen, studiert und verfolgt. In seinem Freundeskreis waren die theologischen und philosophischen Neuerscheinungen ein häufiges Gesprächsthema.192 192 Als er in Düsseldorf Schenk kennenlernt, berichtet er darüber seinem Freund Achelis: »Er [Schenk H.M.R.] las uns etwas vor aus Goethes (damals) letzter Schrift Reineke Fuchs, worin der leibhaftige Goethe lebte und webte mit all seinem Genie, mit all seinem entsetzlichen

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Sein Interesse als Christ und Theologe führte ihn zu jenen Schriftstellern, die wie er der Aufklärung fernstanden oder sie entschieden ablehnten. Dazu gehörten Johann Gottfried Herder (1744–1803) und Johann Georg Hamann (1730–1788). Die Beschäftigung mit Herder führte jedoch schon bald zu einer großen Enttäuschung. Gildemeister bemerkt dazu: »Auch Herder’s Bedeutung als Schriftsteller wusste er zu schätzen, um so mehr betrübte ihn sein späteres Verhalten und nachgiebiges Hinneigen zu einem Zeitgeiste, den er in seinen bessern Schriften selbst bekämpft hatte. Ueber Herder’s ›Maran Atha‹ äusserte er, es sei lieblich wie eine Frucht aus den Gärten der Hesperiden, doch sei er mit der Auslegung des Prophetischen nicht einverstanden.«193

Auf die Entwicklung Herders kommt Menken immer wieder in seinen Briefen an den Freund Achelis zu sprechen. Er teilt mit: »Ich habe die drei letzten neuesten Schriften von Herder mitgebracht und unterwegs gelesen; vielleicht bringe ich sie mit, weil ich vermuthe, dass Du sie noch nicht gelesen hast« (Uedem 1794).194 »Von Herder sagte S. [Schenk, H.M.R.], er sei jetzt ein völlig Ungläubiger, er sei ihm vorgekommen wie Milton’s Satan, an dem auch nach seinem Falle die Spuren der ehemaligen Lichtengelgestalt nicht zu verkennen waren.«195

Achelis hatte eine Rezension zu Herders Schrift Über Auferstehung geschrieben. Menken und Achelis sind sich darin einig, dass diese und eine weitere ungenannte Schrift Herders »ein Judaskuß auf der Wahrheit Mund« seien.196 In Herder erkennt Menken zunächst einen Bundesgenossen, der die historische Bibelkritik mit ihrer Hermeneutik der Vernunftwahrheiten ablehnt und einen eigenen positiven Zugang zur Bibel und besonders zum Alten Testament findet (Menken übernimmt z. B. von Herder die Bezeichnung der Genesis als »älteste Urkunde der Menschheit«) der aber zunehmend dem »Zeitgeist« huldigt und verfällt.197 In der Tat ist Herder schließlich zum »Aufklärer mit der Bibel in der Hand« geworden. Johann Georg Hamann hat

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Leichtsinn. Es wurde von Goethe, Claudius, Herder, Jakobi, Hamann, Kant viel gesprochen, viel Interessantes, dass mir die Stunden wie Minuten vergingen.« Brief an H.N. Achelis vom 3.3. 1795: Menken, Briefe, 28. Gildemeister, Leben und Wirken II, 222. Menken, Briefe, 20. Ebd. 28. Ebd. 28.73. Der Begriff des »Zeitgeistes« gilt als eine Wortschöpfung Herders. Er wurde nach der Französischen Revolution zu einem häufig gebrauchten und beliebten Modewort, das die maßgebenden Tendenzen einer Epoche bezeichnen soll. Herder verwendet ihn zuerst 1769 in seiner Schrift Kritische Wälder oder Betrachtungen, die Wissenschaft und Kunst des Schönen betreffend, nach Maßgabe neuerer Schriften. Vgl. Kempter, Herder.

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seinen Schüler und Freund Herder zeitlebens kritisch begleitet und diese Entwicklung deutlich gesehen.198 Herder gehört in Menkens Mitteilungen an Achelis zu jenen Christen, die das notwendige Ärgernis des christlichen Glaubens, »die Schmach Christi«199, nicht aushalten und die ihm ein anderes Ansehen geben möchten: »Sie waren mit der Hoffnung Christen geworden, dass das Christenthum (etwa auch durch sie) eine andere Gestalt gewinnen und seine Wahrheit und seine verborgene Herrlichkeit durch Zeichen und Wunder beweisen werde. Als sie sahen, daß das nicht erfolge und auch wohl durch sie und bei ihrem Leben durch Andere nicht erfolgen werde, hatte es in ihrem Auge seinen höchsten Reiz verloren, und ihr Herz wurde allmählich empfindlich über den Spott und Hohn und die Gleichgültigkeit der Welt, und so öffnete sich allmählich Ohr und Herz dem allgeliebten, allverehrten Irrthum des Zeitalters.«200

Als Beispiele solchen »Abfalls« vom (wahren) christlichen Glauben nennt Menken die Namen von Stolz, Herder und Häfeli.201 Die nach Menken negative Entwicklung dieser und anderer oft besonders begabter Zeitgenossen, ihre Verführung durch und Anpassung an den verachteten Geist der Zeit sind eine Warnung an jeden, der in diesen Zeiten Pfarrer werden will. Im Unterschied zu Herder ist Johann Georg Hamann für Menken ein großer zeitgenössischer Schriftsteller, dem er höchste Wertschätzung und bleibendes Interesse entgegenbringt. Hamanns Schriften hatte Menken bereits im Rheinland kennengelernt. In seinem Briefwechsel mit dem Freund Achelis ist immer wieder davon die Rede. Die Freunde empfehlen sich Schriften Hamanns, schreiben füreinander Texte ab, können den Postversand kaum abwarten und diskutieren darüber. Die Begeisterung ist groß. Menken berichtet Achelis am 21. Juli 1792 aus Duisburg: »Hamann’s Schriften, die Hoffmann in Düsseldorf mir geliehen hat, kann ich Dir auch jetzt nicht schicken, indeß ich habe Dir einmal, mit einem trivialen Gleichniss zu reden, den Mund wässerig gemacht, und so ist’s billig, daß ich auch Alles thue, was ich kann, den erregten Appetit zu befriedigen. Hamann’s 198 »Hamann hat Herder oft kritisiert – öffentlich (in Rezensionen) und auch brieflich. […] Der theologische Laie Hamann versucht also, den dem ›Zeitgeist opfernden‹ und damit den Prozeß der Aufklärung fördernden Theologen Herder meta-kritisch zu begleiten und an die christologische Wahrheit seiner Botschaft zu gemahnen.« Kemper, Hamann und Herder, 176. 199 Menken schreibt an den Freund Achelis: »Daß aber auch Menschen, von denen wir glaubten, daß sie das Christenthum in jener Ansicht kennten, daß die Schmach Christi an seiner ganzen Sache sie nicht befremden könnte, daß sie es wüßten, das Evangelium sei eine Thorheit Gottes, darauf berechnet und angelegt, daß es die Welt repugniere, […] – O! es thut mir wehe und ich begreiffe es nicht, daß auch diese Menschen abfallen und – Feinde des Kreuzes Christi werden konnten.« Menken, Briefe, 80. 200 Menken, Briefe, 80 f. 201 Ebd. 125.

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Der theologie- und geistesgeschichtliche Kontext Gottfried Menkens Golgatha und Scheblimini, das man für das vorzüglichste seiner Schriften hält, besitze ich jetzt selbst, und werde es Berkenkamp nebst den andern Büchern mitgeben. Ich habe aber auch einige Stellen aus seinen Kreuzzügen des Philologen ausgeschrieben, die ich diesem Briefe beilegen will, und die, wenn sie auch nur sehr unvollkommene Fragmente sind, Dir doch als Probe Hamann’scher Weisheit, als Hauch seines eigenthümlichen Geistes willkommen sein werden, und die auch, wie mich dünkt, hinlänglich sind, zu prüfen, woher dieser Geist wehet, und wohin er fährt. […] Denke aber nicht, daß ich alle die abgeschriebenen Stellen verstehe – […] ich habe abgeschrieben, was ich nicht verstand; hier und da ahnt mir ein schöner, lichter Sinn – die schöne, liebliche Gegend liegt noch in der Hülle des Morgennebels, und die große, weite Aussicht dämmert nur vor dem Blicke des Wanderers; wenn aber die Sonne aufgeht, wird sein Genuß vollkommen!«202

Am 3. März 1795 berichtet Menken aus Frankfurt dem Freund Achelis von einer Reise nach Düsseldorf, wo er den Herrn Schenk kennengelernt hatte, »dem Jakobi seine Briefe über die Lehre des Spinoza zugeeignet hat« und bei dem er einen sehr interessanten Abend verbrachte. Das negative Urteil Schenks über Herders Entwicklung bei dieser Gelegenheit wurde schon erwähnt. Einig ist man sich aber auch in der großen Wertschätzung Hamanns: »Von Hamann erzählte er [Schenk, H.M.R.] auch Vieles, wobei meine Seele sich freute. Dieser Mann ist ein entschieden Ungläubiger gewesen, aber das Lesen der Bibel hat ihn von ihrer Wahrheit und der Nichtigkeit aller Einwürfe dagegen überzeugt. Wenn er länger gelebt hätte, so würde er gegen die Neologen (um Alles mit einem Worte zu sagen) und besonders gegen die Kantische Philosophie geschrieben haben. Wirklich ist schon von ihm ein Werk unter der Presse gewesen, wovon aber jetzt nur einige Bogen gedruckt existieren. Herr S. [Schenk, H.M.R.] war so gütig, mir dieses zu versprechen, und ich denke, nächstens desfalls an Hoffman zu schreiben, da mir Alles von Hamann äusserst schätzbar ist. Sein Golgatha und Scheblimini ist mit Gold aufgewogen wohlfeil gekauft. Ich lese es mit immer neuer Freude, mit immer tieferer Bewunderung dieser Wahrheit der Ideen und dieser Wahrheit und Schönheit des Ausdrucks. Wenn die Seichtigkeit der Menschen mich grämlich und missmuthig macht, oder wenn ich mit dem lauen Wasser der Reden und Schriften im Geiste des Zeitalters den Magen meines inneren Menschen verderbt habe, so curiere ich ihn oft mit diesem ›wenig Weins‹.«203

Die Begeisterung und das Interesse für Hamann behält Menken bis in seine letzten Lebensjahre. Gildemeister zitiert aus einem Brief Menkens an den Oheim Hoffmann in Düsseldorf vom 27. März 1826: 202 Ebd. 9 f. 203 Menken, Briefe, 28 f.

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»Wir haben diesen Winter Abends nach Tische Vieles in Hamann gelesen und uns, wie es nicht anders sein kann, für diesen liebenswürdigen Menschen sehr interessiert. Könnten Sie mir ohne Mühe etwas darüber mittheilen, ob seine Frau und Kinder noch leben, oder was aus ihnen geworden ist, besonders aus dem Polyhistor Hans Michel […]?«204

In der Schlussbetrachtung seiner Biographie stellt Gildemeister die für Menken wichtigsten und beliebtesten Schriftsteller zusammen. Unter ihnen hat Hamann einen hervorragenden Platz: »Unter den Prosaikern fühlte er sich von Hamann’s mächtigem Genius vorzugsweise angezogen. Er hatte für dessen Eigenthümlichkeit einen ganz besonders einfühlenden Tact. Unter mehreren kleinen zusammengebundenen Schriften fand er einst die ihm bisher unbekannt gebliebenen ›Hierophantischen Briefe‹. Sofort erkannte er den Verfasser ungeachtet seiner Anonymität und schickte die kleine Schrift seinem Freunde Bürgermeister Tidemann […].«205

Welche Einflüsse Hamanns lassen sich nun bei Menken feststellen? Hamann gehört wie Menken zu den vehementen Kritikern der Aufklärung bei gleichzeitiger Distanz zur kirchlichen Orthodoxie. Zahlreiche Äußerungen Hamanns voll schneidender Ironie und beißendem Spott über die Vertreter der Aufklärung und ihr vernünftiges Christentum finden sich in ähnlicher Form auch bei Menken: »Die Bescheidenheit des Verfassers, […] nichts von dem Gott der Christen verlauten zu lassen, gehört zum hohen Geschmack des erleuchteten Jahrhunderts, wo die Verleugnung des christlichen Namens eine Bedingung ist, ohne die man zu dem Titel eines Weltweisen keine Ansprüche wagen darf.«206

So schreibt Hamann in einer Rezension »über einen namhaften Vertreter der Aufklärung und den von ihm repräsentierten Zeitgeist«.207 Menken stellt seiner 1816 veröffentlichten Schrift Das Glaubensbekenntniss der christlichen Kirche nebst der nöthigen Einleitung ein Motto voran, das er Hamanns Schrift Golgatha und Scheblimini entnimmt: »Nicht in Diensten, Opfern und Gelübden, die Gott von den Menschen fordert, besteht das Geheimniß der christlichen Gottseligkeit; sondern vielmehr in Verheißungen und Aufopferungen, die Gott zum Besten der Menschen gethan und geleistet: nicht im vornehmsten und grössten Gebot, das er aufgelegt; sondern im höchsten Gute, das er geschenkt: nicht in Gesetzgebung und Sittenlehre, die bloß menschliche Handlungen betreffen; sondern in 204 205 206 207

Gildemeister, Leben und Wirken II, 130. Ebd. 222. Baur, Die falschen Götzen, 80. Baur, Die falschen Götzen, 80. Zitiert nach Hamann, Sämtliche Werke, Bd. IV, 271 f.

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Der theologie- und geistesgeschichtliche Kontext Gottfried Menkens Ausführung göttlicher Rathschlüsse durch göttliche Thaten, Werke und Anstalten zum Heil der ganzen Welt.«208

Dieser Text aus einer der Hauptschriften Hamanns209 fasst den Gegensatz Hamanns (und Menkens) zum Zeitgeist der Aufklärung präzise zusammen. In dreifacher Gegenüberstellung wird der Anthropozentrismus der Aufklärer mit dem Handeln und Verheißen Gottes »zum Heil der ganzen Welt«210 konfrontiert, das allem menschlichen Tun vorausgeht, es trägt und begründet. Die Neologen kennen das Evangelium nicht mehr und setzen mit ihrer hochgepriesenen Sittenlehre an seine Stelle das Gesetz. Doch »das Geheimniß der christlichen Gottseligkeit«211 besteht nicht in Gesetzgebung und Sittenlehre, die bloß menschliche Gesinnungen und menschliche Handlungen betreffen, sondern in Ausführung göttlicher Ratschlüsse durch göttliche Taten, Werke und Anstalten zum Heil der ganzen Welt. Gottes Handeln zum Heil des Menschen, Gottes Plan zur Rettung der Welt wird in der Heiligen Schrift bezeugt, und zwar ausschließlich. Eine natürliche Religion lehnt Hamann wie Menken ab. Die Hochschätzung der Bibel und ihr intensiver persönlicher Gebrauch verbindet sie beide. Die persönliche Aneignung der Schrift und die Theologie Luthers haben Hamann in der Zeit der Aufklärung ein ganz neues Selbst- und Weltverständnis ermöglicht.212 Hinter dem befreienden Schriftverständnis Hamanns steht die Erfahrung der Befreiung aus einer tiefen persönlichen Lebenskrise, einer Lebensumkehr durch eine intensive Bibellektüre in London, bei der Hamann in den menschlichen Worten der Bibel Gottes Wort an sich selbst hörte, die »Höllenfahrt der Selbsterkenntnis«213 erfuhr, Gericht und Gnade. Diese unvergessliche Gotteserfahrung bei und mit der hungrigen Bibellektüre eines Orientierungslosen ist das »Urmotiv« des theologischen und philosophischen Nachdenkens Hamanns, des »Zeitge-

208 Hamann, Golgatha und Scheblimini, 139 f. 209 Die Spätschriften Golgatha und Scheblimini und die Metakritik über den Purismus der Vernunft – beides 1784 vier Jahre vor dem Tod Hamanns verfasst – zählen zu den bedeutendsten Werken Hamanns. Hamann verfasst Golgatha und Scheblimini als Antwort und Gegenschrift zu Moses Mendelssohns Kampfschrift Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, die 1783 erschien. Mendelssohns Anliegen als Vertreter der Berliner Aufklärung ist die bürgerliche Gleichstellung der Juden. Lothar Schreiner schreibt zur Argumentation Mendelssohns: »Mendelssohn beschränkt die sinaitische Offenbarung auf die göttliche Gesetzgebung und rechnet sie den ewigen Vernunftwahrheiten zu. […] Er will so erweisen, daß das Judentum sich sehr wohl mit der natürlichen Religion vereinen läßt, und hofft hiermit, die bürgerliche und religiöse Gleichberechtigung der Juden zu erreichen. […] Mendelssohn verschweigt völlig den messianischen und prophetischen Charakter des Judentums, seine Geschichte des Glaubens.« In der Einführung zu: Hamann, Golgatha und Scheblimini, 32. 210 Hamann, Golgatha und Scheblimini, 139 f. 211 Ebd. 139 f. 212 Hamanns Kenntnis Luthers und seine lebenslange Rezeption der Schriften Luthers ist in der Zeit der Aufklärung singulär. 213 Hamann, Sämtliche Werke II, 164,18.

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nossen im Widerspruch« und seiner ganz speziellen unvergleichlichen »Autorschaft«.214 Hamann bekennt in seinen Gedanken über meinen Lebenslauf, dass er mehrere Anläufe machte, um die Bibel zu verstehen und als eine persönliche Botschaft zu hören. Schließlich erfolgt der Durchbruch und wird mit Datumsangabe so beschrieben: »Ich erkannte meine eigenen Verbrechen in der Geschichte des jüdischen Volkes, ich las meinen eignen Lebenslauf und dankte Gott für seine Langmut mit diesem seinen Volk, weil nichts als ein solches Beispiel mich zu einer gleichen Hoffnung berechtigen konnte […]. Mit diesen Betrachtungen, die mir sehr geheimnisvoll vorkamen, las ich den 31. März des Abends das 5. Kapitel des 5. Buchs Mose, verfiel in ein tiefes Nachdenken, dachte an Abel, von dem Gott sagte: Die Erde hat ihren Mund aufgetan, um das Blut deines Bruders zu empfangen. […] Ich fühlte auf einmal mein Herz quillen, es ergoß sich in Thränen, und ich konnte es nicht länger meinem Gott verhehlen, dass ich der Brudermörder, der Brudermörder seines eingeborenen Sohnes war. Der Geist Gottes fuhr fort, ungeachtet meiner großen Schwachheit, ungeachtet des langen Widerstandes, den ich bislang gegen sein Zeugnis und seine Rührungen angewandt hatte, mir das Geheimnis der göttlichen Liebe und die Wohltat des Glaubens an unsern gnädigen und einzigen Heyland immer mehr und mehr zu offenbaren.«215

Die unvergleichliche rettende Bedeutung der Heiligen Schrift hat Hamann gern mit den elenden Lumpen verglichen, aus denen man ein Seil knüpfte, um damit den Propheten Jeremias aus der Zisterne zu ziehen (Jer 38,11–13). Er schreibt an den Philosophen Jacobi am 7. Jan. 1785: »Was Homer den alten Sophisten war, sind für mich die heiligen Bücher gewesen, aus deren Quelle ich bis zum Misbrauch vielleicht mich überrauscht eujaiqyr, ajaiqyr. Noch bis diesen heutigen Tag, wo ich stumpf, kalt und lau geworden bin, lese ich niemals ohne innigste Rührung das XXXVIII. Kap. des Jeremias und seine Rettung aus der tiefen Grube vermittelst zerrißener und vertragener alter Lumpen – Mein Aberglaube an diese Reliquien ist im Grunde herzlicher Dank für die Dienste, welche mir diese Bücher gethan und noch thun, trotz aller Kritik, die von der Bühne und nicht aus dem Loch der Gruben raisonniert.«216

In einer Zeit zunehmender und radikaler Kritik an der Bibel, in der die Schrift und vor allem das Alte Testament nur als geschichtlich bedingtes menschli214 Bayer, Zeitgenosse, 62–88. Der Hamann-Forscher Oswald Bayer behandelt im dritten Kapitel seines Hamann-Buches Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer das Thema »Urmotiv«. 215 Hamann, Londoner Schriften, 343 f. 216 Ebd. 449, Anm. 30.

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ches Wort gesehen wird, begegnen wir bei Hamann und Menken einer völlig unzeitgemäßen Wertschätzung und Verehrung der (ganzen!) Bibel. Hamanns Äußerungen über die Maßgeblichkeit der biblischen Begriffe für die christliche Glaubenssprache und die christlichen Lehrbegriffe decken sich mit entsprechenden Äußerungen Menkens. Sie finden sich auch bei Coccejus, Collenbusch und Bengel und markieren bei allen die kritische Distanz zur Orthodoxie: »Die heilige Schrift sollte unser Wörterbuch, unsere Sprachkunst sein, worauf alle Begriffe und Reden der Christen sich gründeten und aus welchen sie bestünden und zusammengesetzt würden.«217

Das Londoner Bekehrungserlebnis bei der hungrigen fortlaufenden Lektüre der Schrift, die Entdeckung der Bibel als lebendiges Gotteswort und ein intensives Studium der Schriften Luthers befähigten Hamann zu einer Metakritik der historisch-kritischen Exegese der Aufklärung und der neologischen Hermeneutik.218 In den Londoner Schriften skizziert Hamann ein theologisches Bibelverständnis, das der Bibelhermeneutik der Aufklärung die Legitimation entzieht und ihre Angriffe auf die Autorität der Schrift und speziell auf ihr anthropomorphes Reden von Gott zurückweist. Der Begriff der Kondeszendenz Gottes ist in Hamanns Bibelhermeneutik der entscheidende Begriff. Die Menschwerdung des Gottessohnes, die Inkarnation des logos ist nach paulinischem und johanneischem Vorbild (Phil 2,6–11; Joh 1,14) seit der Alten Kirche als das Geheimnis der Herablassung und Selbsterniedrigung Gottes angesehen worden. Hamann greift diesen Gedanken auf und bezieht ihn auch auf den ersten und den dritten Artikel. Die Kondeszendenz Gottes wird trinitarisch verstanden. Sie gilt nicht nur für den Sohn, sondern auch für den Vater und den Heiligen Geist: 217 Hamann, Sämtliche Werke, Bd. I, 2. 218 Ein gutes Beispiel dieser Metakritik ist Hamanns Rezension des Hebräerkommentars des Göttinger Orientalisten und Exegeten Johann David Michaelis (1717–1791). Wenn Michaelis strenge Unparteilichkeit des Auslegers in Fragen der Bibelhermeneutik fordert und deshalb eine typologische Auslegung ablehnt, hält Hamann dies eher für einen »Mangel des innern Sinns und feinen Gehörs« für das Verständnis biblischer Texte. Dazu Wolfgang-Dieter Baur: »Hamann, der sich hier kenntnisreich in die philologische und historische Fachdiskussion einmischt, warnt seine Leser davor, die Ergebnisse der kritischen Bibelphilologie eines Michaelis einfach für ›canonisch‹ zu halten, und fordert sie vielmehr zu genauer ›Prüfung des Wahren und des Neuen und der Tünche an diesem Werk‹ auf […]. Sie sollen dabei nach dem Vorbild des Rezensenten ›tiefer‹ vom Becher der Kritik ›trinken‹, als dies der gelehrte Göttinger Hofrat getan hat, ›um nüchtern zu werden‹. Diese selbstkritische Nüchternheit im Blick auf Möglichkeiten und Grenzen auch der kritischen Bibelhermeneutik vermisst Hamann bei Michaelis.« Baur, Die falschen Götzen, 84 f. Theologiegeschichte wiederholt sich. Hamanns Kritik an der in der Aufklärungszeit praktizierten historisch-kritischen Hermeneutik begegnet wieder in Barths Kritik an der Römerbriefexegese seiner Zeit und in seiner Forderung: »Kritischer müssten mir die Historisch-Kritischen sein!« Barth, Römerbrief 1922, 14.

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»Wie hat sich Gott der Vater gedemüthigt, da er einen Erdtenkloss nicht nur bildete, sondern auch durch seinen Othem beseelte! Wie hat sich Gott der Sohn gedemüthigt, er wurde ein Mensch, er wurde der geringste unter den Menschen, er nahm Knechtsgestalt an, […] er wurde für uns zur Sünde gemacht. Wie hat sich Gott der heil. Geist erniedrigt, da er ein Geschichtsschreiber der kleinsten, der verächtlichsten, der nichts bedeutendsten Begebenheiten auf der Erde geworden ist, um dem Menschen in seiner eigenen Sprache, in seiner eigenen Geschichte, in seinen eigenen Wege die Ratschlüsse, die Geheimnisse und die Wege der Gottheit zu offenbaren?«219

Der Gedanke der Kondeszendenz des Heiligen Geistes zu den ganz und gar menschlichen Worten und Geschichten der Heiligen Schrift begegnet wiederholt in den Biblischen Betrachtungen, wobei Hamann die geniale Formulierung gelingt, dass »Gott ein Schriftsteller« sei: »Gott ein Schriftsteller! – – (Der Schöpfer der Welt und Vater der Menschen ist geleugnet und getadelt worden, der Gott Mensch wurde gekreutzigt, und der Eingeber des göttlichen Wortes verspottet und gelästert.) Die Eingebung dieses Buchs ist eine ebenso große Erniedrigung und Herunterlassung Gottes als die Schöpfung des Vaters und die Menschwerdung des Sohnes. Die Demuth des Herzens ist daher die einzige Gemüthsverfassung, die zur Lesung der Bibel gehört, und die unentbehrlichste Vorbereitung zur selbigen.«220

Hamanns christologische Schrifttheologie ermöglichte eine überzeugende Kritik der neologischen Bibelhermeneutik und einen Ersatz für die unhaltbar gewordene orthodoxe Inspirationslehre. Hans-Joachim Kraus schreibt zur theologiegeschichtlichen Bedeutung dieser Schrifttheologie Hamanns: »Die zweifelhafte ›Überwindung‹ des orthodoxen Bibelverständnisses durch die Jünger der Aufklärung machte ihm [Hamann, H.M.R.] fortgesetzt zu schaffen. Es gelang dem eigenwilligen Theologen und Philosophen, die fragwürdige Inspirationstheorie unter leidenschaftlichem Rekurs auf das schon bei Luther maßgebende Inkarnationsverständnis der Heiligen Schrift außer Kraft zu setzen. Durch den Hinweis auf die Herabneigung Gottes ins ›Fleisch‹ der Heiligen Schrift vermochte es Hamann, die Menschlichkeit der Bibel oder, wie er zu sagen pflegte: ›die Knechtsgestalt der Heiligen Schrift‹ neu zu sehen – ohne vom anthropozentrischen Richtstuhl aus alles im orthodoxen Zeitalter Gelehrte zu zerschlagen. Wie bei Luther tritt an die Stelle der Inspirationslehre das Inkarnationsverständnis. […] Wie in Luthers Vorreden zum Alten Testament korrespondiert […] der Herabneigung und Inkarnation des Wortes die humilitas des Lesers und Hörers. Im Gegensatz zu der stolzen, alle geschichtlichen und irdischen Elemente des Alten Testamentes abstoßenden Kritik Semlers steht die ehrfürchtige Bereitschaft Ha219 Hamann, Londoner Schriften, 151 f. 220 Hamann, Londoner Schriften, 59.

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Der theologie- und geistesgeschichtliche Kontext Gottfried Menkens manns, die menschlichen und erdgebundenen Worte des Alten Bundes als die entscheidenden ›Orte‹ der Herablassung und Selbsterniedrigung Gottes anzusehen.«221

Kraus spricht von der »privilegierten Anthropomorphie« der Heiligen Schrift, die Hamann dem kritisierenden Anthropozentrismus entgegenstelle.222 Gottes Offenbarung ist Kondeszendenz. Das steht im Widerspruch zum Zeitgeist.223 Der Gedanke der »Erniedrigung und Herunterlassung Gottes«, der so sehr dem Hochmut des Zeitgeistes widerspricht, ist auch für Menken zentral und durch sein Studium der Schriften Hamanns vertieft worden. Er übernimmt von Collenbusch die Definition der »Heiligkeit« Gottes als »Gottes sich selbst erniedrigende Liebe« und versteht die biblische Geschichtsoffenbarung als das Zeugnis dieser Kondeszendenz Gottes. Menken hat den Kondeszendenzgedanken aber nicht wie Hamann auf die Schöpfung und auf die Heilige Schrift bezogen. Gottes Entäußerung und Erniedrigung wird nicht trinitarisch verstanden. Die entsprechenden Texte Hamanns, die Londoner Schriften, waren zunächst nicht zur Veröffentlichung bestimmt, und Menken hat sie wohl auch nicht gekannt. Vermutlich wäre aber auch Hamanns christologische Skriptologie für Menken zu radikal gewesen. Denn wenn der Heilige Geist sich selbst entäußert und der Schriftsteller der Bibel wird, dann ist ja die Schrift Gottes (verborgenes) Wort im ganz und gar menschlichen Wort. Dann stünde auch dieses menschliche Wort grundsätzlich der menschlichen Kritik mit all ihren Methoden offen. Das hat Menken nicht akzeptieren können. Sein Schriftverständnis ist vorkritisch (geblieben). Jesus Christus – wahrer Gott und wahrer Mensch. Die Heilige Schrift – beides zugleich, unvermischt und ungetrennt: Wort Gottes und Menschenwort – dieses Paradox ist nur im Glauben erkennbar. Gilt die Glaubenswahrheit und das Glaubensgeheimnis der Inkarnation auch für die Bibel, dann besteht die Gefahr, dass die Paradoxie einseitig aufgelöst werden kann, wie es in der Geschichte der kirchlichen Christologie schon früh eingetreten ist. In der Aufklärung lässt sich die eine Möglichkeit bei Herder feststellen. Herder begegnet der rationalistischen Bevormundung der Bibel und der Abwertung des Alten Testaments mit der Entdeckung und Würdigung des »hebräischen Humanismus«. »Jedoch« – so Hans-Joachim 221 Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung, 114 f. 222 Ebd. 115. 223 Hamann ist aber kein Verächter der Vernunft. Er ist kein Irrationalist. Sein philosophisches Bemühen gilt der Kritik des Vernunft-Absolutismus der Aufklärung. Hamann fragt nach den Bedingungen der Vernunft und kommt zur Einsicht: Vernunft ist Sprache. Oswald Bayer nennt ihn einen radikalen Aufklärer, der schon lange vor der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos die Dialektik der Aufklärung erkannte: »Hamann hat, in genauer Kenntnis der Traditionen menschlicher Vernunft, die Dialektik der Aufklärung so scharf erkannt, wie nach ihm vielleicht nur noch die Kritische Theorie Horkheimers und Adornos. Die ökologische Krise hat bis heute keine schärfere Anamnese und Diagnose gefunden als bei Hamann.« Bayer, Zeitgenosse, 87.

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Kraus – »wird man zur Kenntnis nehmen müssen, dass Herder zwar den hebräischen Humanismus Hamanns in sein Denken aufnimmt, die Integration dieser entscheidenden Idee in den Inkarnationsglauben aber nicht zur Geltung kommen lässt. […] Herder fügt in den vom Inkarnationsglauben gelösten Gedanken der ›Anthropomorphie‹ der Bibel die geistigen Elemente des Humanismus ein.«224 Das vorkritische Schriftverständnis Menkens löst die Paradoxie auf zugunsten der Göttlichkeit der Bibel. Ihre Menschlichkeit ist unfehlbar. Die historische Kritik wird zurückgewiesen und nicht beachtet. Man kann von einem doketischen Schriftverständnis sprechen.225 Die christologische Skriptologie des Laien-Theologen Hamann, die »Wiederholung des hohen Paradoxons«226 in der Schrift als Kondeszendenz des Heiligen Geistes – das wäre ein verheißungsvoller Ansatz gewesen für eine wirkungsvolle Metakritik der neologischen Bibelkritik. Doch diese Position Hamanns wurde zu seiner Zeit kaum gehört und blieb zunächst ohne Beachtung. Auf die Frage, woran das liege, gibt Hans-Joachim Kraus folgende Antwort: »Woran das liegt? Gewiss nicht nur an dem unsystematischen Charakter der chiffrenartigen Äußerungen [Hamanns, H.M.R.], sondern auch daran, dass die kritischen Beobachtungen und Forschungen so schnell von einer pauschalen Inkarnationstheorie umschlossen werden.«227

Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – bei Martin Kähler und Karl Barth228 – ist das an Luther anknüpfende christologische Schriftverständnis Hamanns aufgenommen und weitergeführt worden.

224 Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung, 116 f. Die Kritik an Herder ist bei Kraus eingeschlossen in eine ausdrückliche Würdigung der großen und umfassenden Lebensleistung Herders: »Unabsehbar ist die Bedeutung, die seinem Lebenswerk in der Geschichte der Erforschung des Alten Testamentes zukommt. […] Mit unvergleichlicher Weite des Wissens und schöpferischer Genialität tritt er aus allen Richtungen und Schulen seiner Zeit heraus und vereinigt in sich eine Universalität selbstständigen Denkens, die sich in den verschiedensten Richtungen im 19. Jahrhundert ausgewirkt hat.« Ebd. 114.116. In der Gegenwart ist ein neues starkes Interesse an Herder festzustellen. 1985 wurde die internationale HerderGesellschaft gegründet. 225 Vgl. dazu die Studie zur Schriftlehre Menkens in Kapitel 6. 226 Reichel, Wiederholung des hohen Paradoxons, 50–64. 227 Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung, 118. 228 Barth entwirft eine Zwei-Naturen-Skriptologie im Vortrag Das Schriftprinzip der Reformierten Kirche, auf den sich der oben (Anm. 226) genannte Aufsatz von Hanna Reichel bezieht. Vgl. Barth, Schriftprinzip.

4. Das Werk Gottfried Menkens im Überblick: »ascetische«, dogmatische und polemische Schriften (Grundlagen der Predigt- und Werksanalysen) Menkens Veröffentlichungen umfassen Predigtsammlungen, Schriftauslegungen, exegetisch-dogmatische und dogmatische Werke. Nur in zwei Schriften hat Menken die direkte Auseinandersetzung mit der den Zeitgeist und die Theologie beherrschenden Aufklärung geführt: in der Dämonologie und in der Flugschrift Über Glück und Sieg der Gottlosen. Es sind Kampfschriften, in Menkens Terminologie »polemische Literatur«.1 Menkens Schriften sind Arbeiten eines Pfarrers, der nicht mit der Attitüde eines Theologieprofessors schreibt und dessen Veröffentlichungen keinen wissenschaftlichen Anspruch erheben. Es sind aber Arbeiten eines Theologen, dessen Bibelauslegungen dogmatisch reflektiert und dessen Predigten homiletisch bewusst im Gegensatz zur Homiletik der Aufklärung konzipiert sind. Menkens »irreguläre Dogmatik«2 ist die Grundlage aller seiner homiletischen und dogmatischen Schriften. Mit Vorliebe verwendet Menken den zu seiner Zeit gebräuchlichen Ausdruck für erbauliche Schriften: Ascetik. Gemeint ist damit eine Literatur, die der Einübung in ein geistliches Leben dienen will.3 Menken versteht diese Ascetik aber auch als ein literarisches Ideal, das hohe Anforderungen an den Autor stellt und ihn zur völligen Hingabe an die Sache herausfordert. Ascetische Schriften sieht Menken im Gegensatz zu polemischen Schriften. Er ist sich aber darüber im Klaren, dass auch seine ascetischen Schriften eine (indirekte) polemische Wirkung haben werden und haben sollen. Bevor er sich entschließt, eine erste Sammlung von (1796 und 1797 in Wetzlar) gehaltenen Predigten unter dem Titel Christliche Homilien herauszugeben, macht er sich im Gespräch mit seinen Freunden viele ernsthafte Gedanken über den Anspruch und Sinn von ascetischen Schriften: »Nie hatte ich Lust, Predigten oder sonst eine ascetische Schrift herauszugeben, ich konnte mich nie zu der Verläugnung entschliessen, die eine solche Arbeit nach meinem Grundsatz forderte; ich sah vorher, dass ich in keinem 1 Auf die Dämonologie wird ausführlich eingegangen in Kapitel 6.6, auf die Flugschrift Über Glück und Sieg der Gottlosen in Kapitel 10.2.4. 2 Der Begriff »irreguläre Dogmatik« stammt von Karl Barth. Vgl. oben Kapitel 3.1.3.4. 3 Als ein Beispiel aus der Zeit Menkens wären Johann Caspar Lavaters Ascetische Schriften (21774) zu nennen. Es handelt sich dabei um ein Brevier, das biblische Impulse für den Ablauf eines ganzen Jahres bietet.

Das Werk Gottfried Menkens im Überblick

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anderen Fache der Schriftstellerei so ganz und gar gegen den Geist und Geschmack des Zeitalters anstossen müsste, als eben in diesem […].«4

In seiner Vorrede zu den Christlichen Homilien sagt Menken in aller Deutlichkeit, was die Leser und Leserinnen davon zu erwarten haben und was nicht: »Ich habe bei der Herausgabe dieser Homilien wenig zu erinnern. Was man in ihnen zu suchen habe, sagt schon der Titel. Man wird in christlichen Homilien keinen Deismus, keinen Atheismus, keine Moral, keine kantische Philosophie und dergl. erwarten können. Gegen solche Erwartungen und Forderungen ist das Buch durch seinen Titel verwahrt. Es wird sich niemand mit Recht wundern oder ärgern können, wenn er in einer Schrift unter diesem Titel nichts von dem Allen, sondern positive Lehren des Christenthums und was damit in Verbindung stehet und daraus herfliesset, Schriftlehren und Schriftbegriffe, vorgetragen findet. Würde sich aber jemand wundern, dass ich noch von positiven Lehren des Christenthums nicht nur rede, sondern auch eine ascetische Schrift herauszugeben wage, in der die Moral auch nicht einmal Nebensache ist, und würde er davon auf eine gänzliche, wundernswürdige Unbekanntheit mit dem Geiste der Zeit bei mir den Schluss machen, dem kann ich versichern, dass ich mit dem Geist der Zeit bekannt genug bin, vorher zu wissen, wie eine solche Schrift, von allen, die diesem Geiste unterthan sind, angesehn und behandelt werden wird. Ich kenne den herrschenden Geist dieser Zeit sehr wohl, aber ich bin so fern davon, ihm einigermassen zu huldigen, dass ich mich nicht scheue zu bekennen, dass ich ihn verachte und dass ich ihn hasse, und alles für verdienstlich halte, was ihm entgegen wirkt.«5

In einem Brief an Senator Dreyer, seinen Onkel in Bremen, der ihm (nach der Veröffentlichung der Dämonologie) geraten hatte, »einmal nichts Polemisches, sondern etwas Ascetisches« zu veröffentlichen, bekennt Menken seinen Respekt vor dem Ideal einer ascetischen Schrift, wie er sie versteht, und unterstreicht damit zugleich einige seiner wesentlichen homiletischen Grundsätze: »Das ascetische Fach ist das edelste und das schwerste; will man darin Schriftsteller sein zu eigner Ehre und eignem eiteln Gewinn, so muß man der Wahrheit untreu werden, oder doch sich mehr oder weniger dieser Welt gleichstellen, dem verdorbenen, bösen Geschmack der Welt und des Zeitalters dienen und dergleichen. […] Nach meiner Vorstellung von der Einfalt, dem Ernst, der Freimüthigkeit, der Gebundenheit an die Begriffe und Worte der Schrift, dem Wegsehn von Allem, was in der Welt gilt oder nicht gilt, womit ein ascetisches Werk geschrieben sein muss, von der totalen Heterogenität der 4 Aus einem Brief an den Freund Schlegtendal (zitiert nach Gildemeister, Leben und Wirken I, 195). 5 Menken, Schriften IV, 5.

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Das Werk Gottfried Menkens im Überblick Sprache, der Begriffe, der Ansichten von denen der Welt, die unverhohlen und gänzlich darin herrschen muss, sah ich wohl ein, daß ich in keinem Fache so sehr gegen den Geist und Geschmack der Zeit anstoßen würde, als in diesem, daß keine schriftstellerische Arbeit so viel Reinheit der Absichten und so viel Verzichtleistung auf dieses und jenes fordere, als eine solche.«6

4.1 Das Predigtwerk 4.1.1 Die Predigtsammlungen Die erste von Menken veröffentlichte Predigtsammlung trägt den Titel Christliche Homilien. Als Motto ist ihr ein Zitat aus Hebr 12,2 vorangestellt: Avoq_mter eQr t¹m t/f p_steyr !qwgc¹m ja· tekeuytµm IgsoIm, br AMTI TGS PQOJEILEMGS aqt_ WAQAS rpele·me sta»qom, aQsw¼mgr jatavqom¶sar. Sie enthält 16 Homilien über neutestamentliche Texte. Menkens Vorrede vom 30. November 1797 (Wetzlar) schließt mit der direkten Anrede an den christlichen Leser, dass er sich durch dieses Buch nicht vom Lesen der Heiligen Schrift abhalten solle: »Ich wünsche, daß dir durch dasselbe die heilige Schrift noch viel lieber, werther, heiliger, unentbehrlicher werden möge, als sie dir schon ist, und daß du über sie dieses Buch vergessen mögest.«7 Es folgte 1802 die in Frankfurt edierte Neue Sammlung christlicher Homilien. Menken begründet diese Veröffentlichung in seiner Vorrede (Wetzlar, 3. April 1801) mit dem Missverhältnis christlicher und antichristlicher Schriften in seiner Zeit, in der die Bibel nicht mehr als »das unvergleichbar vortreffliche, das vollkommene Zeugnis von der Wahrheit« geschätzt werde. Er will diese Neue Sammlung christlicher Homilien »den Verehrern biblischer Wahrheit« in die Hände geben, fürchtet aber, daß auch manche Christen diese ascetische Schrift »nicht süss, sondern bitter finden werden«. Das Bittere aber sei für uns Menschen oft gesunder als das Süße: »Zu dieser, mir in Rücksicht auf diese Schrift nicht unangenehmen Befürchtung leitet mich die traurige Beschaffenheit der Erkenntniß vieler Christen, ihr übermäßiges Hochhalten der (oft unheiligen) Empfindung und ihre so große Geringschätzung der so unentbehrlichen und so viel Freude gewährenden Erkenntnis, ihre bewegliche, durch manchen Irrthum gefälschte, mit Accommodationsgelüsten tingierte Gesinnung.«8 6 Brief an Senator Dreyer vom 27, August 1798 (zitiert nach Gildemeister, Leben und Wirken I, 199 f.). 7 Menken, Schriften IV, V. 8 Dies und die vorigen Zitate aus der Vorrede vom 3. 4. 1801. Menken, Schriften II, V–VIII.

Das Predigtwerk

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Die Neue Sammlung christlicher Homilien enthält 27 Homilien. Die Hälfte davon hat alttestamentliche Predigttexte. Außer zwei Psalmpredigten (zu Ps 103 und 126) und drei Predigten über Ex 19,3–6 sind dies acht Homilien über Stellen aus der Geschichte des Elias. Diese Eliashomilien gehören mit 15 weiteren zu einem Predigtzyklus, den Menken 1797 und 1798 in Wetzlar gehalten hat. Er hat alle 23 Eliashomilien 1804 separat herausgegeben unter dem Titel Christliche Homilien über Stellen aus der Geschichte des Propheten Elias. Die Widmung lautet: »Seinen ehemaligen Zuhörern aller Confessionen zu Wetzlar zum Denkmal seiner fortwährenden herzlichen Liebe gewidmet«.9 1822 entschloss sich Menken zu einer zweiten Auflage und fügte als Nummer 24 eine Homilie über Mal 4,5f hinzu, die ebenfalls 1798 in Wetzlar gehalten wurde. In der Vorrede zur ersten Auflage erklärt Menken, dass er mit diesen Homilien dazu beitragen möchte, »daß die Geschichte des alten Testaments gelesen, betrachtet, in ihrem eignen (ich möchte sagen, nativen) Lichte, in ihrer Wahrheit und Hoheit, in ihrer unvergleichbaren Gotteswürdigkeit und bleibenden Wichtigkeit für die Menschheit angesehen, erkannt und verstanden werde«. Er versteht die Eliashomilien als exemplarische Auslegung des in seiner Zeit so verkannten und missachteten Alten Testaments und wünscht: »[…], so sei damit gewissermassen die Geschichte des Alten Testaments überhaupt dem forschenden Bibelverehrer erleichtert und erhellet.«10 Den Betrachtungen über das Evangelium Matthäi, die in zwei Teilen erschienen (Vorrede zum 1. Teil 1808, zum 2. Teil 1821), liegen Predigten zugrunde. Der Bezug auf die Gemeinde tritt aber ganz zurück hinter der Konzentration auf das Verständnis der Schrift.11 Ursprünglich sollte das ganze Matthäusevangelium in einzelnen Betrachtungen ausgelegt werden. Ein dritter Teil mit Auslegungen ab Kap. 15 ist aber nicht mehr erschienen. Die Betrachtungen sollen der persönlichen (täglichen) Erbauung dienen, wobei Menken das Wort »erbaulich« eigentlich meiden möchte, weil manche darunter »nur Erweckung und Unterhaltung« verstehen, aber »nichts Auslegendes und Belehrendes«. 1821 veröffentlichte Menken die Erklärung des elften Kapitels des Briefes an die Hebräer. Vierzehn Homilien. In seiner Vorrede erkennt Menken an, dass sich der Geschmack der Zeit in Bezug auf religiöse Literatur geändert und teilweise gebessert habe: »Der Geschmack des Zeitalters in Betreff des Theologischen und Ascetischen hat sich seit ein Paar Jahrzehnten auffallend geändert. Der Ernst der Zeit, das Große der Weltbegebenheiten, des Vaterlandes Unterjochung und Befreiung, der Todeskeim schneller Vergänglichkeit, den eine flache, leichtsinnige, der 9 Der Zyklus der Eliahomilien findet sich in Menken, Schriften II, 1. Teil. 10 Alle Zitate aus der Vorrede zur 1. Auflage: Menken, Schriften II, XII–XIV. 11 Der erste Teil umfasst die Betrachtungen zu den Kapiteln 1 bis 7, der zweite Teil die zu den Kapiteln 8 bis 14. Beide Teile bilden den ersten Band der Schriften.

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Das Werk Gottfried Menkens im Überblick Mode fröhnende Lehre in sich selbst trug – der edlere Sinn, das tiefere Bedürfniß, die würdigere Weise, worin achtungswürdige Männer im Fache der Theologie, der Philosophie, der Ascetik und Moral gearbeitet, geredet und geschrieben haben, das alles zusammen genommen hat einen Geschmack hervorgebracht, vor dem der alte, unwerthe, fade Ungeschmack eines leichtsinnigen Unglaubens […] nicht bestehen konnte. Es mußte anders werden, und es ist in vielem auch anders und in manchem auch besser geworden.«12

Menken beklagt aber wieder die vielen »einzig auf Erweckung und Erbauung gerichteten Schriften«. Dabei gehe eine gewisse Klasse von Lesern leer aus: »die Schriftverehrer, die Verehrer des alten historischen Christenthums, und einer, die Schrift aus ihren eigenen Grundideen und aus dem Ganzen derselben erklärenden Auslegung, die den einfachen, wenn auch unscheinbaren Wortverstand derselben – das dürftigste und trockenste Nothwendige, jedem noch so genialen, ingeniösen, frommen, erbaulichen Willkührlichen, das mit einer Schriftstelle in Verbindung gebracht oder in dieselbe hinein gelegt oder daraus hergeleitet ist, unendlich weit vorziehen.«13

Ihnen seien diese Homilien verpflichtet. Außerdem möchte Menken mit ihnen seinen jüngeren Amtsbrüdern die homiletische Predigtform bekannt und lieb machen. Als sich Menken 1825 krankheitsbedingt emeritieren lassen muss, entspricht er dem Wunsch etlicher seiner vieljährigen Zuhörer, einen Teil der Predigten der letzten Jahre drucken zu lassen, und veröffentlicht den Band Predigten. Es handelt sich um 28 Predigten in homiletischer Form, davon 18 über alttestamentliche Texte.14 In der Vorrede geht Menken auf die Frage ein: Warum so viele Predigten über Texte aus dem Alten Testament? Er antwortet mit folgenden Gegenfragen: »Bedarf nicht das Alte Testament offenbar mehr der Erläuterung und Auslegung als das Neue? Soll denn das Alte Testament nur allein in den Hörsälen der Universitäten noch mit Fleiss und Wissenschaft behandelt werden? […] Warum wird im Kreise der Christengemeinen nicht mehr Fleiss und Arbeit an das Buch gewendet, das dem Sohne Gottes während seines Wandels auf Erden das Licht und Recht seines ganzen Lebens war?«15

Eine andere Frage betrifft das Fehlen von Lehrpredigten. Menkens Antwort: »Ich habe niemals über irgend eine besondre Lehre des Christenthums gepredigt, und bin bei meinem Predigen nie besonders darauf bedacht gewesen, 12 13 14 15

Menken, Schriften II, 306 f. Ebd. 307 f. Menken, Schriften V, 1. Teil. Menken, Schriften V, VI.

Das Predigtwerk

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die kirchliche Dogmatik als solche zu bestätigen und zu vertheidigen, oder sie anzufeinden und zu bestreiten. Nie berufen oder beauftragt über einen Katechismus oder über ein Kompendium der Dogmatik Predigten zu halten, habe ich es in meinem Berufe und meiner Bestimmung, Diener des göttlichen Wortes und als solcher Verkündiger und Ausleger der heiligen Schrift in der Gemeine zu sein, angemessener gehalten, jedesmal über einen größeren oder kleineren Abschnitt der heiligen Schrift zur Gemeine zu reden.«16

Blicke in das Leben des Apostels Paulus und der ersten Christengemeinen. Nach etlichen Kapiteln der Apostelgeschichte – unter diesem Titel veröffentlichte Menken 1828 seine Auslegung der Kapitel 15 bis 20 der Apostelgeschichte, über die er 1817 bis 1821 fortlaufend gepredigt hatte.17 Motiviert ist diese Veröffentlichung durch »das in den letzten Decennien wieder erwachte Interesse für die Kirche«. Dieses habe »natürlicherweise die Erneuerung alter Fragen, Untersuchungen, Zumuthungen, Anmaßungen, Aergernisse und Klagen zur Folge gehabt, die sich nicht auflösen, ablehnen und stillen lassen, wenn man nicht auf den Grund und Anfang zurücksiehe und zurückkehre.« So Menken in der Vorrede.18 Obgleich in der letzten Zeit »viele, in verschiedenem Geschmack und verschiedener Weise, diese Urkunde, ganz oder einzelne Theile derselben, bearbeitet haben«, hält Menken seine Schrift nicht für unnötig. Er beschränkt sich in seiner Auslegung auf die Kapitel 15 bis 20, »um ihrer lieblichen Mannigfaltigkeit willen in Hinsicht auf Personen, Lokalitäten, Situationen etc.« und weil sie weniger bekannt und weniger bearbeitet seien als die ersten Kapitel. Menken starb während des Abdrucks seiner Homilien über das neunte und zehnte Kapitel des Briefes an die Hebräer nebst einem Anhang etlicher Homilien über Stellen aus dem zwölften Kapitel. Sie wurden von Menkens Freund, dem Vegesacker Pfarrer C.H.G. Hasenkamp herausgegeben. Der Band enthält 13 Homilien über Hebr 9–10 und zehn Homilien über Hebr 12.19 Ebenfalls von C.H.G. Hasenkamp herausgegeben erschien fast vier Jahre nach Menkens Tod eine Predigtsammlung mit dem Titel Homiletische Blätter. Sie enthält 29 Homilien, überwiegend über neutestamentliche Texte – darunter acht über Phil 2–3. Hasenkamp teilt mit, dass sowohl die Auswahl der Predigten wie auch der Titel der Sammlung auf Menken selbst zurückgehen.20 Die Letzte Sammlung christlicher Predigten von Gottfried Menken erschien 1847 in Köln. Der Herausgeber, Pastor Küpper, teilt in seinem Vorwort mit, dass es sich um drei eigenständig von Menken geschriebene und um 29 in der 16 17 18 19

Ebd. VII. Aufgenommen in Menken, Schriften III, 1. Teil. Menken, Schriften III, VI. Aufgenommen in Menken, Schriften III, 2. Teil. In seiner Vorrede vom 10. Juli 1831 teilt Hasenkamp mit, dass ihn Menken gebeten habe, aus den nicht aufgeschriebenen, aber in Abschriften vorhandenen Predigten über Hebr 8 »die Goldkörner auszulesen« und in einer eigenen Abhandlung zu verarbeiten und herauszugeben. 20 Die Homiletischen Blätter sind aufgenommen in Menken, Schriften V, 2. Teil.

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Das Werk Gottfried Menkens im Überblick

Kirche nachgeschriebene Predigten handle, die auf Initiative von Freunden Menkens und im Einverständnis seiner Frau kurz vor ihrem Tod zu dieser Sammlung zusammengestellt wurden.21 Eine Jubiläumsausgabe zum hundertjährigen Geburtstage Dr. Gottfried Menkens dem 29. Mai 1868. So lautet der Untertitel der Festpredigten aus dem schriftlichen Nachlasse Gottfried Menkens, herausgegeben und mit einem ausführlichen Vorwort versehen von Dr. C.H. Gildemeister. Die Sammlung stellt 24 Predigten zu den Festtagen und Festzeiten des Kirchenjahrs zusammen. Gildemeister geht in seinem Vorwort auf die Kritik an Menkens Predigtweise bei »manchen neueren Theologen« ein. Man fordere jetzt vom Prediger, »dass er den ganzen Reichthum unserer Literatur an Gedanken, Phantasie und Formenschönheit bei seinen Reden sich zunutze mache und dadurch den Herzen derjenigen Zuhörer, welche an der Einfalt der biblischen Sprache Anstoss nehmen, reichlicheren Genuss verschaffe und sie für’s Christenthum gewinne«.22 Gildemeister begegnet dieser Forderung mit einer Apologie der streng an die Bibel gebundenen homiletischen Predigtweise Menkens unter häufiger Berufung auf Bengel und Hamann. Menkens Predigten wurden oft von begeisterten Predigthörerinnen zu Hause nachgeschrieben, miteinander verglichen und gegenseitig ergänzt. »Daraus entstand eine Sammlung nachgeschriebener Predigten, die wahre Goldkörner enthalten und noch jetzt in verschiedenen Abschriften zu Lehre und Erbauung dienen.«23 Bei den Biblischen Betrachtungen von Gottfried Menken, die 1879 in Bremen anonym herausgegeben wurden, handelt es sich offenbar um Fragmente nachgeschriebener Predigten zu etlichen alttestamentlichen und vielen neutestamentlichen Texten.

4.1.2 Einzeln veröffentlichte Predigten und eine öffentliche Rede Im Hafenort Vegesack nördlich von Bremen hatten sich Lutheraner und Reformierte zu einer evangelischen Gemeinde vereinigt und eine eigne Kirche erbauen lassen. Die Predigt bei der Einweihung der Kirche am 8. Juli 1821 hielt Menken über 1Kor 3,21–23.24 In der Zeit Menkens, im Zusammenhang der napoleonischen Eroberungen und der Befreiungskriege der alliierten Gegenmächte, kommt die politische Predigt auf. Menken hat sich mit politischen Äußerungen in seinen Predigten ganz zurückgehalten. Nur eine Predigt hat einen politischen Bezug: Am 21 Die Sammlung enthält u.a. sieben Predigten über Offb 2–3 und sieben Predigten zu Joh 4. Menkens eigenhändige Predigten sind nicht bezeichnet. 22 Festpredigten aus dem schriftlichen Nachlasse Gottfried Menkens, Bremen 1868. Im Sonderarchiv Gottfried Menken der Landeskirchlichen Bibliothek Bremen, Nr. 5. 23 So im Vorwort der Biblischen Betrachtungen, die sich in der Landeskirchlichen Bibliothek Bremen im Sonderarchiv Gottfried Menken unter der Nr. 4 befinden. 24 Aufgenommen in den Menken, Schriften VII, 307–317. Vgl. dazu das 9. Kapitel dieser Arbeit.

Die Schriftauslegungen

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18. Oktober 1819, sechs Jahre nach der Völkerschlacht bei Leipzig, predigte Menken über Jes 12,1 zum Gedenken an dieses welthistorische Ereignis.25 Menkens Kollege, Pastor Dr. Friedrich Mallet (1792–1865) hat diese Predigt, die Menken nicht in seine Schriften aufgenommen hatte, 1863 gesondert veröffentlicht, »zum Besten der Preussischen Veteranen«.26 Den gleichen politischen Bezug hat eine öffentliche Rede, die Menken am zweiten Jahrestag der Schlacht bei Leipzig, dem 18. Oktober 1815, auf dem Marktplatz in Bremen zu Füßen des Rolands hielt: die Rede bei der Einweihung der Fahne der Bremischen Wehrmänner.27

4.2 Die Schriftauslegungen Das Monarchienbild – so nannte Menken seine Auslegung des zweiten Kapitels des Danielbuches.28 Geschrieben 1801/1802 wurde sie von 1802 bis 1803 sukzessive in der Christlichen Monatsschrift Johann Ludwig Ewalds29 abgedruckt und damit für die Leser auseinandergerissen. Da unglücklicherweise auch noch der dritte Abschnitt vor dem zweiten gedruckt wurde, entschloss sich Menken 1809 zu einer neuen Auflage »für den mir bekannten Kreis von Verehrern biblischer Wahrheit«, wie er in der Vorrede schreibt.30 Im Monar25 Mallet schreibt im Vorwort: »Bei der Herausgabe gedenken wir der Preussischen Veteranen von 1813–15. Manche scheinen es vergessen zu haben, dass der Ehrenpreis und die Siegespalme der Befreiungskriege Preussen gehört. In seinem tapfern Heer, zu dem vom Königsschloss bis zur Strohhütte herab die Männer und Jünglinge unter Glockenklang, begleitet von dem Gebet der Ihrigen, gezogen waren […] hatte sich wirklich ein ganzes Volk für sein Dasein erhoben.« Menken, Predigt, 3. Die Schrift findet sich in der Landeskirchlichen Bibliothek Bremen, Sonderarchiv Gottfried Menken Nr. 7. 26 Menken, Predigt, 3. 27 Aufgenommen in Menken, Schriften VII, 301–306. 28 Ebd. 105–166. 29 Johann Ludwig Ewald (1748–1822) war von 1796 bis 1805 Pfarrer an der St. Stephani-Kirche in Bremen, vorher (ab 1781) Hofprediger und Generalsuperintendent in Lippe-Detmold. 1805 wurde er zum Theologieprofessor an der Universität Heidelberg berufen. Ewald gehört zum »Dreigestirn der Aufklärer Bremens (neben Johann Jacob Stolz und Johann Caspar Häfeli)«. Er wirkte als reformierter Theologe, als Pädagoge, der Pestalozzi nahestand, und als Schriftsteller. Menken stand ihm wegen seiner aufklärerischen Tendenzen kritisch gegenüber, verschloss sich aber nicht der Mitarbeit, als Ewald Texte für die von ihm gegründete Christliche Monatsschrift brauchte. Als Ewald Bremen verließ, übernahm Menken die Redaktion. Außer dem Monarchienbild veröffentlichte Menken noch zwei weitere Beiträge in der Christlichen Monatsschrift: Schriftstellen, die unsichtbare Welt und ihre Verbindung mit der sichtbaren Welt betreffend (1805) und Etwas über Tradition und Glauben (1805). Eine differenzierte Beurteilung Ewalds und seiner Beziehung zur Aufklärung ist das Anliegen von Hans-Martin Kirn in seiner Habilitationsschrift Rettung eines theologischen Zeitgenossen (vgl. Ewald, Rettung.) und in seiner Arbeit Deutsche Spätaufklärung und Pietismus: Ihr Verhältnis im Rahmen kirchlich-bürgerlicher Reform (vgl. Ewald, Spätaufklärung.). 30 Menken, Schriften VII, 107.

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Das Werk Gottfried Menkens im Überblick

chienbild entwickelt Menken anhand einer Auslegung des Traums Nebukadnezars von den vier Weltreichen seine biblisch begründete Geschichtstheologie.31 Es ist eine der wichtigsten Schriften Menkens mit bedeutender Wirkungsgeschichte. Der bereits erwähnte, 1805 in Ewalds Christlicher Monatsschrift abgedruckte Aufsatz Schriftstellen, die unsichtbare Welt und ihre Verbindung mit der sichtbaren betreffend will nachweisen, dass und wie Gott aus seiner unsichtbaren Welt das Geschehen der sichtbaren Welt leitet und sein Wirken zum Heil des Menschen verfolgt.32 Menken wählt dazu die Befragung von vier Schriftstellen aus dem ersten Buch Mose: Gen 3,1–5.14.15; 16,7–11.13.14; 18,1–16; 28,10–13. In diesem Text zeigt sich der biblische Supranaturalismus Menkens sehr klar: Der Schrift als der einzigen authentischen Urkunde der göttlichen Offenbarung entnimmt Menken den Unterricht von der Verbindung der unsichtbaren mit der sichtbaren Welt, der nicht menschlicher Neugier, sondern dem Glauben und der Hoffnung dienen soll. Die menschliche Vernunft kann Gottes Offenbarung nicht erkennen.33 Den Aufsatz Gedanken über Ephes. 2,3 hat Menken in Hasenkamps Zeitschrift Wahrheit zur Gottseligkeit veröffentlicht (Heft 3, 1829). Die Aussage des Epheserbriefes, dass wir (Heiden) unserem Wesen nach Kinder des Zorns waren, interpretiert Menken hier so, dass das Subjekt des Zorns nicht Gott ist, sondern wir Menschen und sieht darin keine Infragestellung, sondern eine Bestätigung seiner Versöhnungslehre, nach der die Versöhnung allein in der Liebe Gottes begründet ist.34 Die Reflexionen über das vierte Kapitel des Buches Daniel knüpfen an die Auslegung des zweiten Kapitels im Monarchienbild an. Verfasst vermutlich 1829, wurden sie nach Menkens Tod zuerst abgedruckt in Hasenkamps Zeitschrift Wahrheit zur Gottseligkeit (Heft 5, 1832).35 31 Siehe unten 10. Kapitel. 32 Der Text ist aufgenommen in Menken, Schriften VII, 206–234. 33 Das Phänomen des biblischen Supranaturalismus oder der supranaturalistischen Offenbarungstheologie wird in der Theologiegeschichte von Jan Rohls anhand der älteren Tübinger Schule (Gottlob Christian Storr), des sächsischen Supranaturalismus (Franz Volkmar Reinhard) und Gottfried Menkens dargestellt. Im Hintergrund dieses biblischen Supranaturalismus steht die Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants. Rohls beobachtet, welche Folgen der biblische Supranaturalismus für die christliche Dogmatik hat. Seine Analyse im Blick auf Storr trifft auch für Menken zu: »Auf dem Fundament der Schrift als autoritativer Offenbarungsurkunde entfaltet Storr nunmehr die materiale Dogmatik. Und zwar handelt es sich bei ihr um eine ausdrückliche biblische Dogmatik, die den dogmatischen Lehrgehalt der als alleiniger Autorität verstandenen Schrift und nicht länger dem konfessionellen Symbol entnimmt. Der supranaturalistische Biblizismus führt so zu einer Nivellierung der konfessionellen Lehrdifferenzen und zu einer Auflösung der altprotestantischen dogmatischen Bestimmungen vor allem in der Christologie und Versöhnungslehre. Er attackiert daher zwar den Rationalismus, stimmt aber mit diesem letztlich darin überein, dass er die orthodoxen Lehrbestimmungen auflöst.« Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. 1, 305 f. 34 Vgl. dazu unten Kap. 8.3–4. 35 Menken, Schriften VII, 169–205.

Exegetisch-dogmatische Schriften

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4.3 Exegetisch-dogmatische Schriften Exegese und Dogmatik rücken in heilsgeschichtlicher Theologie aufs engste zusammen, da ja die christliche Lehre nach dem heilsgeschichtlichen Biblizismus allein aus der Schrift zu erheben sei. Diese enge Verbindung zeigen besonders zwei Schriften Menkens, die als exegetisch-dogmatische Arbeiten bezeichnet werden können. Menkens umfangreicher Aufsatz Der Messias ist gekommen von 1809 hat den Untertitel Nach 1 Joh. 5,6–12. Nach Gildemeister ist diese Auslegung des Textes mit dem sogenannten Comma Johanneum »mehr eine Abhandlung dogmatischen als exegetischen Inhalts«.36 Menken entfaltet hier unter dem Thema der messianischen Erwartung sein Verständnis der heilsgeschichtlichen Beziehung des Alten und des Neuen Testaments und der Folgen dieses Verständnisses für die Beurteilung des Judentums nach der Kreuzigung Jesu. In einem ersten Teil geht Menken der Frage nach, wie Jesus als Messias ausgewiesen ist und antwortet mit den Begriffen aus 1Joh 5: Seine Insignien sind Wasser (die Taufe), Blut (die Versöhnung durch das Opfer am Kreuz) und Geist. Der Opferdienst und Kult im alten Israel vermittelte noch keine reale Versöhnung, sondern nur die Hoffnung darauf. Es waren nur »Bilder« und »Schatten«, die mit der Kreuzigung Jesu abgetan sind. Diese typologischchristologische Deutung des alttestamentlichen Kultus hat gravierende Folgen für das Verständnis des Judentums nach der Kreuzigung Jesu. Weil »die Hauptsache und Seele aller Religion« Opfer und Versöhnung sind, habe das Judentum nach der Kreuzigung Jesu »fast« aufgehört, Religion zu sein!37 Der zweite Teil hat als Thema das Zeugnis von Jesus und seiner Messianität und den weltweiten Siegeszug dieses Zeugnisses.38 Das Zeugnis vom Messias Jesus ist die Aufgabe des von Jesus gestifteten Predigtamtes, und es ist der Inhalt der von ihm eingesetzten Sakramente Taufe und Abendmahl. Es ist ein Wunder, dass dieses Zeugnis trotz aller Anfeindungen, trotz Verachtung, Verfolgung und Tod der Zeugen, nicht untergegangen, sondern in die ganze Welt verbreitet worden ist und Bestand hat. Der Grund liegt nicht nur in der göttlichen Stiftung dieses Zeugnisses, sondern auch in der geheimnisvollen Verbindung dieses irdischen Zeugnisses mit den göttlichen Zeugen im Himmel, dem Vater, dem Sohn und dem Geist. Das Comma Johanneum, das die Trinität des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes bekennt, wird von Menken beibehalten, aber als siebter Vers des fünften Kapitels dem achten Vers nachgeordnet.39 36 Gildemeister, Leben und Wirken II, 41. Zum Aufsatz: Menken, Schriften VI, 301–347. 37 Menken, Schriften VI, 312. 38 Es geht hier um den dritten Aspekt der Versöhnungslehre, wie er von Karl Barth in KD IV/3 behandelt wird, um jenen Aspekt, der das prophetische Amt Jesu Christi betrifft. 39 Menken kennt die Problematik des Comma Johanneum und seine schwache Bezeugung. Er hält aber daran fest, weil sonst »in Folge der Sachen und Begriffe eine Lücke sei« und nicht, weil hier

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Das Werk Gottfried Menkens im Überblick

Dem dreifachen Zeugnis des Geistes, des Wassers und des Blutes auf Erden entspreche so in einer »Coincidentia Correspondentiarum« das Zeugnis des Vaters, des Wortes und des Heiligen Geistes im Himmel.40 Diese exegetische Operation ermöglicht es Menken, den dogmatischen Topos vom prophetischen Amt Christi aufzunehmen (ohne diesen Ausdruck zu gebrauchen). Das irdische Zeugnis vom Messias steht in bleibender Verbindung mit dem himmlischen Zeugnis des dreieinigen Gottes. Der Grund für den stillen, duldenden und doch siegenden Gang dieses Zeugnisses durch die Welt liege nicht allein in seiner göttlichen Stiftung, sondern darin, dass es als göttlicher Auftrag fortwährend in Verbindung steht mit dem lebendigen Gott. Dieser Gedanke bedeute große Ermutigung, Stärkung und Trost für das angefochtene Predigtamt. Jedes irdische Zeugnis vom Messias Jesus aber – so betont der Biblizist Menken – bleibe gebunden an das Zeugnis der Heiligen Schrift: »Alles und jedes Zeugnis von Christus, auch das des Geistes, Wassers und Blutes, offenbaret sich und kann erkannt und anerkannt werden als göttlich nur in dem Maße seiner innigsten Übereinstimmung mit dem ewigbleibenden geschriebenen Worte und Zeugniß Gottes in der heiligen Schrift.«41

In Der Messias ist gekommen werden weitere wichtige dogmatische Themen behandelt wie die Schriftauffassung und das Verständnis des Glaubens. In starker Polemik verurteilt Menken die Prädestinationslehre Calvins und der (reformierten) Orthodoxie und grenzt sich ab von der Theologie Schleiermachers und seiner Schüler (ohne Namen zu nennen): Wo man alles aus dem eigenen Ich, dem Selbstbewusstsein oder dem christlich genannten Volksbewusstsein ableite und wo man bis zum Aberglauben gläubig sei an alles Menschliche, Kirchliche und Symbolische – gemeint sind die Bekenntnisschriften der reformatorischen Kirchen – dort werde das Prinzip Sola Scriptura außer Kraft gesetzt. Der viele wichtige theologische Themen berührende Aufsatz Der Messias ist gekommen wird in verschiedenen Zusammenhängen zu berücksichtigen sein. Der grosse Aufsatz Ueber die eherne Schlange und das symbolische Verhältniss derselben zu der Person und Geschichte Jesu Christi erschien 1812 in erster Auflage. Er bringt im ersten Teil eine Auslegung des alttestamentlichen Textes Num 21,4–9 und im zweiten Teil eine Auslegung zum korrespondierenden neutestamentlichen Text Joh 3,14 f.42 In dieser Schrift praktiziert im Neuen Testament ein Hauptbeleg für die später entwickelte Trinitätslehre wäre: »Die Schriftlehre von Vater, Sohn und Geist kann, insofern sie Schriftlehre ist, mit diesem einen Verse nicht stehen und fallen; sie ist vielmehr als solche durch die ganze Schrift verwebt, inseparabel durch alle ihre Theile verflochten, in ihren innersten Tiefen gegründet, ja sie enthält die Summe der Gotteslehre der ganzen Schrift.« Menken, Schriften VI, 324 f. Anm. 40 Menken, Schriften VI, 332. 41 Ebd. 336. 42 Aufgenommen in Schriften VI, 348–411. In der zweiten Auflage hat Menken »noch einige

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Menken eine typologische Exegese der alttestamentlichen Geschichte von der »ehernen Schlange«, indem er den Bezug Jesu auf diesen Text aufnimmt. Menkens Exegese dient ihm zu einer ausführlichen Bestätigung seiner heterodoxen Versöhnungslehre und einer entschiedenen Ablehnung der kirchlichen Anselmischen Satisfaktionstheorie.43

4.4 Dogmatische Schriften Menkens Versuch einer Anleitung zum eignen Unterricht in den Wahrheiten der heiligen Schrift erschien 1805 in erster Auflage im Druck. Der Titel gibt sich bescheiden und vermeidet den Begriff Dogmatik.44 Ein Versuch ist nichts Fertiges, und dann wird auch noch betont, dass es eine Anleitung zum eignen Unterricht sein soll. Die Anlage des Werkes aber, das mit der Schriftlehre beginnt und mit der Eschatologie aufhört, zeigt bereits, dass hier eine Dogmatik vorliegt, die heilsgeschichtliche Dogmatik des Biblizisten Menken, die klar erkennen lässt, welche dogmatischen Entscheidungen und Vorurteile seine Schriftauslegungen bestimmen und seine Hermeneutik inhaltlich ausrichten. Menken verdankt dem Pietisten Samuel Collenbusch seine wesentlichen theologischen Einsichten. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass er im Vorwort der ersten Auflage (4. April 1805) bekennt: »Wenn ich diese Schrift früher vollendet hätte, würde ich sie dem seligen Doctor Medicinae Samuel Collenbusch gewidmet haben – jenem Manne, dem ich unter allen Menschen am meisten zu ewiger Dankbarkeit verbunden bin, und dessen Freundschaft ich für eine der allergrößten Wohlthaten in meinem Leben halte.«45

Die Anleitung ist aus einem katechetischen Bedürfnis erwachsen. Dazu äußert sich Menken in der Vorrede zur 1. Auflage: »Schon lange wünschte ich mir ein Buch, das mir selbst bei dem letzten Unterricht erwachsener und gebildeter Kinder, oder bei der Vorbereitung derselben zur Ablegung ihres Glaubensbekenntnisses und zum ersten Genuß Zusätze mehrstentheils im Blick auf die gegenwärtige Zeit hinzugefügt«. »Eben diese aber werden« – so schreibt Menken an Prof. Sartorius in Dorpat – »manchem, (vielleicht auch Ew. Hochwürden selbst) mißfällig sein, da sie zum Theil gegen die orthodoxe Lehre der Kirche, insofern diese die Versöhnung, die durch Jesum Christum geschehen ist, aus dem Zorn Gottes, und nicht aus seiner Liebe herleitet, gerichtet sind«. Menkens Schreiben an Prof. Dr. Sartorius ist abgedruckt in: Gildemeister, Leben und Wirken II, 246–249. Menken hatte mit seinem Dankschreiben für die Verleihung der Doktorwürde der Universität Dorpat seine beiden Schriften Der Messias ist gekommen und die Eherne Schlange übersandt. 43 Siehe dazu unten Kap. 7.4 und in Kap. 8.4. 44 Siehe Menken, Schriften VI, 3–255. 45 Ebd. X.

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Das Werk Gottfried Menkens im Überblick des heiligen Abendmahls, zum Leitfaden dienen, und eben so auch wieder diesen Kindern zu ihrem künftigen Leben als Leitfaden brauchbar sein könnte, den genossenen Unterricht zu wiederholen […].«46

Die Anleitung erlebte noch zwei weitere Auflagen, die Menkens theologische Weiterarbeit dokumentieren. Die zweite Auflage – Menkens Vorwort datiert vom 27. Oktober 1824 – enthält ein neues Kapitel, das der Darstellung der alttestamentlichen Geschichte von Adam bis Christus gewidmet ist. Es ist das V. Kapitel: Das Wesentliche aus der Geschichte der Anstalt Gottes zur Seligkeit und Herrlichkeit der Menschen durch Jesum Christum, bis auf die Geburt Jesu. Dazu bemerkt Menken: »Die biblische Geschichte an und für sich, wie sie, in einem Sinne und Maße, worin das von keiner andern Geschichte gesagt werden kann, darstellt und bezeugt, was Gott gethan hat, sich selbst dem Menschengeschlecht in heiliger Liebe zu offenbaren, der in Finsterniss verirrten Welt Licht aufgehen zu lassen, und aus dem Unheil der Sünde und des Todes zur Gerechtigkeit und Leben zurück zu führen, und wie sie die Grundlage aller übrigen in der Schrift enthaltenen Erkenntniß ist, gehört wesentlich und vor Allem zu der Wahrheit selbst, die in der heiligen Schrift enthalten ist.«47

Da das VI. Kapitel, das die Versöhnungslehre behandelt, am meisten kritisiert worden war und man geklagt hatte, »der Vortrag sei zu fragmentarisch, zu wenig belehrend, man könne aus so kurzen Angaben über Ansichten, die von den gemeinen und gewohnten abweichen, sich nicht verständigen und überzeugen«, fügte Menken dem Kapitel drei Beilagen an, die anhand von Gal 4,4 die Heiligkeit Gottes erörtern und weiter auf die Lehre von der Versöhnung eingehen.48 Menken hat an der Anleitung bis zuletzt gearbeitet. Etliche Korrekturen und Verbesserungen und eine weitere Beilage zum V. Kapitel Von dem Glauben und der Lehre des ewigen Lebens im Alten Testamente konnte er noch vor seinem Tod vollenden. C. H. G. Hasenkamp hat dann die dritte Auflage herausgegeben (Vorwort vom 16. Nov. 1832). 46 Ebd. V. Das Problem eines geeigneten Lehrbuchs für den kirchlichen Unterricht begleitete Menken seit seiner Vikarszeit. Schon in Frankfurt befreit er sich von den Hilfsmitteln seiner Zeit und entschließt sich zu einem ganz und gar biblisch gebundenen Unterricht: »Ich entschloss mich, treu nach meinem Vermögen zu thun, was ich könne, mich der Wahrheit nicht zu schämen und, ohne rechts oder links zu schauen, das allein meinen Zweck sein zu lassen, den Kindern die Grundbegriffe des Alten und Neuen Testaments so einfältig wie möglich zu einem Ganzen vereinigt, und nicht als todte Wissenschaft, sondern als Wahrheit zur Gottseligkeit auf Hoffnung des ewigen Lebens, welches Gott verheissen hat als eine gute Beilage auf ihr zukünftiges Leben« – Brief an Achelis vom 3. März 1795, in: Menken, Briefe, 31 f. 47 Menken, Schriften VI, XI. 48 Beilage A: über Gal. 4,4; Beilage B: die Lehre von der Versöhnung betreffend; Beilage C: noch etwas über Jesaja 53,5, oder: Kann es, ungeachtet der Einwendungen, die Beilage B gegen die »Strafe« gemacht sind, bei dieser Uebersetzung in Jes. 53,5 bleiben?

Dogmatische Schriften

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Menkens Auslegung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses ist wie die »Anleitung« als katechetischer Leitfaden und Diktiertext entstanden, da Menken mit den vorhandenen Lehrbüchern nicht zufrieden war und das freie Unterrichten aus der Bibel eines Plans bedurfte. Das Glaubensbekenntniß der christlichen Kirche nebst der nöthigen Einleitung mit einem Motto aus Hamanns Golgatha und Scheblimini erlebte drei Auflagen. Die erste Auflage von 1816 und die zweite waren nur zum Gebrauch des Verfassers bestimmt und kamen nicht in den Buchhandel.49 Das Apostolicum wird von Menken besonders geschätzt, weil es allen Konfessionen »gemeinschaftlich« ist. Menkens »kleinem friedlichen Büchlein« liegt keiner »der bekannten landesherrlich veranstalteten oder eingeführten Katechismen«50 zu Grunde und will auch keinen neuen Katechismus aufstellen. Sein Anliegen ist die Überwindung des Konfessionalismus durch die ausschließliche Bindung an die Heilige Schrift. Selbstbewusst stellt Menken fest: »Auf großen und weiten Wirkungskreis macht es [dieses Büchlein, H.M.R.] keinen Anspruch; aber in seiner Schonung und Achtung des Kirchenthümlichen, bei der ihm eigenen Unabhängigkeit von dem orthodoxen System der Confessionen, und bei seiner gänzlichen Abhängigkeit von der heiligen Schrift, hat es Eigenthümlichkeit und Gehalt genug, auf eine Stelle unter jenen besseren Lehrbüchern Anspruch machen zu dürfen, denen eine Einsicht zu Grunde liegt, die das unbeweglich festhält, was Luther, im Sinne der wahren Kirche aller Zeiten, (in den Artikeln christlicher Lehre für das Concilium zu Mantua) festsetzte: ›Gottes Wort soll Artikel des Glaubens stellen, und sonst Niemand, auch kein Engel‹.«51

Das Glaubensbekenntniß der christlichen Kirche nebst der nöthigen Einleitung: Die »nöthige Einleitung« besteht aus einem heilsgeschichtlichen Abriss von Adam bis zur Zeit der Apostel, in dem Menken das altehrwürdige Apostolicum seiner heilsgeschichtlichen Hermeneutik unterstellt. Als dogmatische Abhandlungen zu verschiedenen Themen sind noch folgende Texte zu nennen: Etwas über Tradition und Glauben, das Fragment eines größeren Aufsatzes. Dieser Text entwickelt Menkens Offenbarungslehre und begründet seine Ablehnung einer sogenannten »natürlichen Religion«. Er wurde zuerst veröffentlicht 1805 in Ewalds Christlicher Monatsschrift.52 Vorrede zur Bibel. Menken verfasste diesen Text zur Bremer Neuausgabe der Lutherbibel, die 1822 erschien, und entwickelt darin Grundzüge seiner Schriftauffassung.53 49 Die Fassung der dritten Auflage ist mit dem Vorwort zur ersten Auflage aufgenommen in Menken, Schriften VI, 257–299. Nähere Angaben zur zweiten Auflage sind nicht vorhanden. 50 Menken, Schriften VI, 262. 51 Menken, Schriften VI, 262 (Vorwort zur dritten Auflage). 52 Menken, Schriften VII, 318–330. 53 Ebd. 281–291.

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Das Werk Gottfried Menkens im Überblick

Etwas über Alt und Neu in Betreff der christlichen Wahrheit und Lehre. Schreiben an einen Freund. Dieser wichtige, als Schreiben an einen wohl fingierten Freund verfasste Aufsatz, zuerst abgedruckt in Hasenkamps Zeitschrift Wahrheit zur Gottseligkeit (Heft 2, 1828), reagiert auf den »immer mehr hervortretenden und sich geltend machenden Symbolzwang«.54 Menken begründet in diesem Aufsatz seine Freiheit, die er gegenüber den kirchlichen Bekenntnisschriften in Anspruch nimmt. Als Motto setzt Menken dem Aufsatz einen Text von Seneca voran, der seinen Standpunkt zusammenfasst: »Quid ergo? Non ibo per priorum vestigia? Ego vero utar via veteri. Sed, si propriorem planioremque invenero, hanc muniam. Qui ante nos ista moverunt, non domini nostri, sed duces sunt. Patet omnibus veritas; nondum est occupata. Multum ex illa etiam futuris relictum est.«55

Da Menken in diesem Aufsatz die Freiheit seiner Schriftauslegung begründet und die Geltung der kirchlichen Bekenntnisschriften relativiert, wird dieser Text in der Behandlung seiner Schriftlehre und seiner Ekklesiologie besondere Beachtung finden.56 Herrlichkeit der Bibel. Dieser Text ist ein kurzer Auszug aus einem nicht näher bezeichneten Brief Menkens, der zuerst in Hasenkamps Zeitschrift Wahrheit zur Gottseligkeit abgedruckt (Heft 4, 1829) und von Gildemeister in Menkens Schriften aufgenommen wurde.57 Ein Schreiben an Johann Heinrich Hasenkamp. In diesem Brief, der am 18. Dezember 1799 in Wetzlar geschrieben und 1834 in Christoph Hermann Gottfried Hasenkamps Zeitschrift veröffentlicht wurde, entwickelt Menken im Gespräch mit seinem Freund seine homiletischen Grundsätze.58

4.5 Die polemischen Schriften Der Beitrag zur Dämonologie oder Widerlegung der exegetischen Aufsätze des Herrn Professors Grimm von einem Geistlichen ist Menkens Erstlingsschrift. Er veröffentlichte sie anonym kurz nach seinem theologischen Examen in Duisburg und widmete sie »den hochehrwürdigen Herren Predigern der vereinigten Länder Jülich, Cleve, Berg und Mark« unter dem Motto »Non quis? Non quomodo? Sed quid?« Es handelt sich um einen scharfen, höchst ironischen Angriff auf die rationalistische Exegese seines Lehrers Grimm an der Universität Duisburg. 54 Gildemeister, Leben und Wirken II, 163. 55 Menken, Schriften VII, 235. 56 Vgl. dazu Kapitel 6.7 (Biblische Orthodoxie statt kirchliche Orthodoxie) und Kapitel 9.1 (Wo ist die Kirche? Bibelverehrung und Antikonfessionalismus). 57 Menken, Schriften VII, 292–294. 58 Ebd. 295–300.

Eine Briefsammlung

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Heinrich Adolph Grimm (1747–1813) stammte aus Siegen im Fürstentum Nassau. Er studierte an der Hohen Schule zu Herborn und an der Universität Marburg Theologie und beschäftigte sich mit orientalischen Sprachen. Seit 1779 lehrte er an der Universität Duisburg, zunächst als Professor der evangelischen Theologie und 1800 (nach dem Tod von Johann Peter Berg) als Professor der Kirchengeschichte und der orientalischen Sprachen. Viermal war Grimm Rektor der Universität. Er bemühte sich um ihren Ausbau. Am 2. Nov. 1811 empfing Napoleon bei einem Besuch Duisburgs eine Delegation der Universität, die um eine Verbesserung ihrer Lage bat. Grimm gehörte dazu. Das Anliegen hatte keinen Erfolg. Die Universität wurde 1818 geschlossen. Grimm war ihr letzter Theologieprofessor.59 Die Dämonologie zeigt, dass die theologische Position des 25-Jährigen schon feststeht – sie wird sich kaum noch verändern. Sie ermöglicht es ihm, äußerst selbstsicher aufzutreten und mit ihr den verhassten Zeitgeist zu attackieren, ohne Rücksicht auf Personen.60 Die Anonymität der Schrift erwies sich als kluge Vorsichtsmaßnahme, denn sie fand natürlich nicht nur Zustimmung. In Duisburg wurde es gefährlich für Menken. Dazu Gildemeister: »Die Gesinnungsgenossen Menkens freuten sich der kühnen That; dagegen tobten seine Gegner wie Rasende. Sie ließen ihre Wuth an der Schrift aus, da sie den Verfasser nicht erreichen konnten. Sie wurde von ihnen zerfetzt und an den Schandpfahl genagelt. In den Zeitschriften wurde der Verfasser auf das tiefste in den Koth gerissen und geschmäht.«61

Ueber Glück und Sieg der Gottlosen. Eine politische Flugschrift aus dem Jahr 1795: Anlass dieser Schrift Menkens ist der Erfolg der französischen Revolutionstruppen in Deutschland, von dem Menken persönlich betroffen war. Menkens Flugschrift offenbart seine politische Einstellung, die in der französischen Revolution und in allen Revolutionen nur Manifestationen des Bösen und Angriffe auf das Reich Gottes erkennen kann und begründet sie mit seiner biblizistischen Reich-Gottes-Theologie.62

4.6 Eine Briefsammlung C.H. Gildemeister hat im Zusammenhang mit der Herausgabe der gesammelten Schriften Menkens (1858) auch Menkens Briefe an den Bremer Freund 59 Vgl. Schart, Grimm. 60 Die Dämonologie ist aufgenommen in Menken, Schriften VII, 1–76. Vgl. die ausführliche Analyse in Kapitel 6.5. 61 Gildemeister, Leben und Wirken I, 82 f. 62 Vgl. die ausführliche Behandlung dieser Flugschrift in Kapitel 10.2.4.

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Das Werk Gottfried Menkens im Überblick

Henrich Nicolaus Achelis in einem gesonderten Bändchen veröffentlicht (1859).63 Sie geben einen guten Einblick in das geistliche Kämpfen und theologische Ringen Menkens in seiner Zeit als Vikar im Rheinland und als junger Pfarrer in Hessen, bevor er 1802 seine erste Pfarrstelle in Bremen antreten konnte.64

63 Carl Hermann Gildemeister hatte noch Zugang zur Korrespondenz Menkens und verarbeitet viele Briefzitate in seiner zweibändigen Menken-Biographie. 64 Briefe des Dr. Gottfried Menken weiland Pastor prim. zu St. Martini in Bremen an Henr. Nic. Achelis weiland Pastor in Arsten. Mit den Silhouetten Beider. Zum Besten des Oberneulander Orgelfonds, Bremen, 1859. Siehe dazu unten Kap. 5.2.4: Die angefochtene Existenz des Predigers im Rationalismus.

5. Predigen im Horizont der Aufklärung Der mehrteilige Aufbau dieses Kapitels berücksichtigt zunächst die Forschungsarbeit zur Homiletik Menkens in den Werken zur christlichen Predigtgeschichte. Die dort nur sehr allgemein erfassten Charakteristika der Predigten Menkens werden anschließend in konkreten Predigtanalysen überprüft bzw. vertieft werden, und zwar unter den Fragestellungen der prinzipiellen und der formalen Homiletik. Der erste Teil möchte also die Charakterisierung und Beurteilung der Predigten Menkens in den Werken zur christlichen Predigtgeschichte erfassen. Im zweiten Teil folgen Aspekte der prinzipiellen Homiletik. Dabei geht es um das Predigtverständnis Menkens in der Abgrenzung von der Homiletik der Neologie. Der dritte Teil bringt eine Zusammenstellung der Predigttexte Menkens und Vorüberlegungen zur Predigtanalyse. Da die Bevorzugung der Homilie eine Konsequenz des Predigtverständnisses Menkens ist, schließt sich im vierten Teil die Behandlung der formalen Homiletik Menkens an. Die materiale Homiletik kommt in den Kapiteln 6 bis 10 zum Zuge, in denen die heilsgeschichtliche Theologie Menkens nach ihren Schwerpunkten entfaltet wird.

5.1 Gottfried Menken in den Werken zur christlichen Predigtgeschichte 5.1.1 Die Problematik der christlichen Predigtgeschichten und ihr begrenzter Erkenntnisgewinn Die wissenschaftliche Erforschung und Darstellung der christlichen Predigtgeschichte ist ein Kind der Aufklärungszeit. Obwohl es Vorarbeiten gab, kann der Württemberger Pfarrer Philipp Heinrich Schuler (1754–1814) als Begründer dieser Forschungsrichtung genannt werden. Schuler veröffentlichte von 1792 bis 1794 sein großes Werk Geschichte der Veränderungen des Geschmacks im Predigen insbesondere unter den Protestanten in Deutschland mit Actenstücken im Auszug belegt in drei Bänden, dem 1799 ein vierter Band folgte mit Auszügen aus Predigtsammlungen und homiletischen Lehrbüchern.1 1 Schuler weist in der Vorrede zum I. Teil seines Werkes auf die Schwierigkeiten dieses Unternehmens hin: »Alle Kenner der Materie dürften mit mir darin übereinstimmen, daß diese Arbeit ein unergründliches Chaos ist, daß es beynahe herkulische Mühe ist, so viele alte Predigten und

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Predigen im Horizont der Aufklärung

Die Predigt wird von Schuler und seinen zahlreichen Nachfolgern als Medium der Kirche angesehen und als solches der empirisch-historischen Kritik unterzogen. Die theologische Bedeutung der Predigt als Medium Gottes und ihre Einbettung in eine biblische Geschichtstheologie, wie sie in der Reformation und im Altprotestantismus noch gültig waren, sind in der Theologie der Aufklärung hinfällig geworden.2 Die Predigtgeschichte wurde immer in enger Verbindung mit der Kirchengeschichte gesehen. Seit Schuler aber wird sie »aus der allgemeinen Kirchengeschichte ausgegrenzt, weil sich die Überzeugung durchsetzt, dass sie zwar nicht unabhängig von der Kirchengeschichte und ihren allgemeinen Bewegungen ist und sich vollzieht, andererseits aber eben doch einen eigenen Auftrag hat, eigenen Gesetzen und Impulsen folgt«.3 Christian-Erdmann Schott beschreibt diesen eigenen Auftrag der Predigtgeschichte folgendermaßen: »Sie wird von jetzt ab als ein eigenständiger Forschungsgegenstand angesehen, dessen Besonderheit darin liegt, dass er zwischen der Kirchengeschichte und der Homiletik angesiedelt ist; dies hat zur Folge, dass die Arbeit an der Predigtgeschichte ein Doppelantlitz trägt. Sie muss die kirchengeschichtliche Forschung berücksichtigen, was dazu führt, dass sie sich hinsichtlich ihrer Arbeitsmethoden und Darstellungsschemata an ihr orientiert, also zum Beispiel ihre Epochen- und Periodeneinteilungen oder die Wertung grosser Persönlichkeiten übernimmt. Und sie muss die Interessen der Homiletik im Auge behalten und aus der Geschichte der Predigt möglichst viel für sie Nützliches herauszuholen suchen.«4

Die in den letzten beiden Jahrhunderten verfassten Geschichten der christlichen Predigt unterscheiden sich im grundsätzlichen Zugang zu ihrer komplexen Aufgabe: Am Anfang, so maßgeblich bei Philipp Heinrich Schuler, steht der kirchengeschichtliche Zugang.5 Hinzu kommt schon bald der biographische Zugang, der die Persönlichkeit des Predigers in den Vordergrund stellt und eine Konsequenz der sogenannten »Kanzelberedsamkeit« ist, die im

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Homiletiken aus dem Staube hervorzusuchen, zu lesen, zu vergleichen und zu sichten, und daß immer mehrere Hände und Augen dazu nötig sind, um ein solches Werk zu einer noch zweckmäßigern Vollständigkeit zu bringen.« Schott, Predigtgeschichte, 115. Schott stellt fest: »Die Geschichte der Predigt wird von jetzt ab, wie Geschichte und Kirchengeschichte auch, als empirisch-historischer Vorgang angesehen und als solcher dargestellt. Irgendwelche geschichtstheologischen Deutungskategorien gibt es nicht mehr. Sie würden den Rahmen der blossen Historie ins nicht mehr Überprüfbare, an das man sich halten will, überschreiten. Dieser Rückzug auf die Empirie brachte ganz offensichtlich vielen Theologen des ausgehenden 18. Jahrhunderts etwas Befreiendes.« Schott, Predigtgeschichte, 114. Ebd. Ebd. 114 f. Zu nennen sind u.a. die Werke von: Schenk, Kanzelberedsamkeit; Rothe, Geschichte der Predigt; von Zezschwitz, Zur Geschichte der Predigt; Schian, Geschichte; Niebergall, Geschichte; Schütz, Geschichte der christlichen Predigt.

Gottfried Menken in den Werken zur christlichen Predigtgeschichte

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19. Jahrhundert ihre Blüten treibt. Die biographisch orientierten Darstellungen der christlichen Predigtgeschichte6 sind zwar ein Ausdruck des Individualismus und des Persönlichkeitskultes des 19. Jahrhunderts, sie haben aber eine gewisse Berechtigung durch den Aufweis des persönlichen Anteils am komplexen Predigtgeschehen.7 Bevor auf die Forschungsarbeit zum Predigtwerk Menkens im Einzelnen eingegangen wird, ist der Erkenntnisgewinn zu relativieren. Die predigtgeschichtlichen Darstellungen bleiben im Allgemeinen. Viele Feststellungen, Charakterisierungen der homiletischen Methode und des Predigtstils wiederholen sich von Generation zu Generation. Angesichts der Fülle des Materials sind ausführliche und genaue homiletische Analysen von einzelnen Predigten nicht möglich. Präzise homiletische Analysemethoden wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg erarbeitet. So ist es nicht verwunderlich, dass nach der 1972 veröffentlichten Geschichte der christlichen Predigt von Werner Schütz keine weitere predigtgeschichtliche Arbeit erschienen ist. Schott hat sich 1986 in seinem Buch Predigtgeschichte als Zugang zur Predigt dem Problem einer sinnvollen und fruchtbaren Erschließung der christlichen Predigtgeschichte gestellt. Schott sagt einleitend: »Homiletisch und theologisch ist die Geschichte der Predigt weitgehend unerschlossen. Es gibt zwar einige Ansätze, sie zum Sprechen zu bringen und mit ihr zu arbeiten, aber aufs Ganze gesehen sind wir offensichtlich noch nicht in der Lage, diesen vielschichtigen Komplex so weit zu durchdringen, daß er für die Homiletik fruchtbar gemacht werden kann – das heisst, daß er Regeln und Gesetze, Hilfen für unsere Arbeit an der Predigt anbietet.«8

6 Zu nennen sind u.a. die Werke von: Sack, Mosheim bis auf die letzten Jahre; Hering, Geschichte; Doering, Kanzelredner; Brömel, Homiletische Charakterbilder; Nebe, Charakterbilder. 7 Schott sieht Vor- und Nachteile bei beiden Zugängen: »Der Vorteil dieses Verfahrens [des kirchengeschichtlichen, H.M.R.] liegt darin, dass die Durchschlagskraft der allgemeinen Kirchenund Theologiegeschichte bis in die Prägungen der Predigtgeschichte hinein besonders deutlich heraustritt. Es hat aber den Nachteil, daß das, was die Predigtgeschichte zu einer besonderen, gerade auch homiletisch interessanten Geschichte macht, zu wenig deutlich wird. […] Der Ertrag für die Kirchengeschichte ist bei dieser Darstellungsart darum letztlich auch grösser als der für das Verständnis der Predigt. […] Der Vorteil dieser Darstellungsart [der biographisch orientierten, H.M.R.] liegt im Reiz des Persönlichen, das durchaus Zugänge erschliessen kann. Der Nachteil liegt aber darin, daß die grossen Linien sehr weitgehend zurücktreten und die Predigtgeschichte in lauter Einzelporträts auseinanderfällt.« Schott, Predigtgeschichte, 62 f. 8 Schott, Predigtgeschichte, 7. Schott verweist auf Theologen wie Hermann Hering, Ernst Christian Achelis oder Martin Schian, die sich um die Predigtgeschichte bemühten. »Sie […], konnten damit aber für die Homiletik nicht viel gewinnen, sondern sind zuletzt in einem unfruchtbaren Historismus geendet.« Schott will mit seinem Buch der Resignation entgegenwirken, die die Predigtgeschichte einfach ungenutzt lässt, und einen Schritt in Richtung weiterer Möglichkeiten zu ihrer Erschliessung tun. Er erklärt zu diesem Erschliessungsversuch: »Seine Besonderheit besteht darin, dass hier nicht, wie das bisher immer geschehen ist, primär nach Inhalten, Theorien, Personen oder Epochen gefragt und von ihnen her in die Geschichte der Predigt eingedrungen wird, sondern dass hier von der Predigt selbst, also vom Medium her der Zugang

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Predigen im Horizont der Aufklärung

In der neueren Homiletik entdeckt Schott vier verschiedene Wege, die Geschichte der Predigt für die homiletische Arbeit der Gegenwart sinnvoll zu nutzen, und zwar durch allgemeine Traditionspflege, spezielle Vermächtnispflege, tendenzielle Inanspruchnahme und direkte Befragung.9 Unter den vier praktizierbaren Wegen einer sinnvollen Erschließung der Predigtgeschichte kommen für diese Arbeit die ersten beiden in Frage. Bei der allgemeinen Traditionspflege geht es um das Verständnis des Predigtamtes und der Predigt der jeweiligen Zeit. Die spezielle Vermächtnispflege fragt nach den Besonderheiten eines Predigers in Bezug auf den Inhalt und die Form seiner Predigten. Vermächtnispflege verdienen vor allem jene, die geholfen haben, Krisen in der Geschichte der Predigt zu überwinden, die etwas Neues zu sagen hatten, indem sie auf Altes zurückgriffen. Dazu gehört auch Gottfried Menken.10

5.1.2 Gottfried Menken in den Darstellungen der christlichen Predigtgeschichten – ein zusammenfassender Überblick Da sich die predigtgeschichtlichen Darstellungen in vielen Beschreibungen wiederholen, werden die homiletischen Porträts Menkens nicht nach ihren einzelnen Verfassern chronologisch erfasst, sondern nach den ihnen gemeinsamen Kernpunkten zusammengefasst. Die befragten Predigtgeschichten umfassen mehr als ein Jahrhundert, in dem sich das Predigtverständnis gemäss dem theologischen Wandel veränderte, und sie stammen von reformierten und lutherischen Autoren. Dennoch zeigen sie eine bleibende Wertschätzung des Predigers Menken und sind sich einig in wesentlichen Punkten. Im Blick auf die Beobachtungen zur Homiletik Menkens in den predigtgeschichtlichen Darstellungen stellen sich die Fragen: Wird Menkens Bedeutung in der christlichen Predigtgeschichte präzise erfasst? Wird das besondere Profil seiner Predigten in materialer und formaler Hinsicht zutreffend beschrieben? Welche Aspekte sind zukunftsweisend, relevant für die Aufgabe heutiger Predigt? Was können wir aus notwendiger Kritik an Menken lernen für die weitergehende homiletische Arbeit? versucht werden soll – ausgehend von der Beobachtung, dass die greifbarste Kontinuität, die die Geschichte der Predigt überhaupt aufzuweisen hat, die Konsistenz der Predigt selbst ist.« Ebd. 9 Ebd. 14–23. 10 Unter »tendenzieller Inanspruchnahme« versteht Schott die »konstruktiv-systematische Verwertung der Predigtgeschichte im Rahmen der homiletischen Theoriebildung«. Es ist ein eklektischer Gebrauch der Predigtgeschichte: »Jeder sucht sich aus der Predigtgeschichte das heraus, was ihm am besten ins Konzept passt.« Bei der »direkten Befragung« der Predigtgeschichte unterscheidet Schott zwei Wege: »Der eine Weg ist die exegetisch-homiletische Auswertung der Predigtgeschichte im Rahmen von Predigthilfen und –meditationen.« »Der andere Weg, der beschritten wird, […] besteht in der Erforschung der Geschichte der Predigt über einzelne Perikopen.« Schott, Predigtgeschichte, 14–23.

Gottfried Menken in den Werken zur christlichen Predigtgeschichte

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Die predigtgeschichtliche Erforschung Menkens lässt sich in folgenden Kernpunkten zusammenfassen: Menken vertritt in der Spätphase der Aufklärung, dem Rationalismus, ein neues Verständnis der Predigt, das in einer Radikalisierung des altprotestantischen Schriftprinzips begründet ist: Predigt ist Schriftauslegung, und zwar Auslegung der ganzen Schrift. Richard Rothe beobachtet, dass die seit 1770 beherrschend gewordene philosophisch-moralische Homiletik der Aufklärung im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend an Einfluss verliert. »Man fing an, sich wieder nach dem positiven Christenthum zurückzusehnen, um mit seinem concreten Gehalt die leeren Abstraktionen der Modeweisheit zu erfüllen.«11 Zu den »Hoffnungsträgern einer neuen homiletischen Entwicklung« gehört neben Franz Volkmar Reinhard (1752–1812), dem Berner David Müslin u.a. Gottfried Menken. In Menkens ausschliesslicher Bindung an die Heilige Schrift und in seinem freien Umgang mit ihr erkennt Rothe das Bedürfnis nach »einer christlichen Speculation«, das »die damalige, dem Christenthum entfremdete Philosophie« nicht befriedigen konnte: »Er war einer der ersten lebendigen Christen, die vom Standpunkt der neueren Geistesbildung aus auf dasjenige eingingen, was man jetzt tiefere Schrifterkenntnis zu nennen pflegt, und was früherhin nur unter der Form der Theosophie vorhanden gewesen war.«12 Eine differenziertere Sicht der Aufklärungspredigt vertritt Alfred Niebergall. Trotz aller notwendigen Kritik ist Niebergall nicht bereit, »sich das landläufige Verdikt über die Aufklärung« zu eigen zu machen, sondern sucht sie »bei allen Auflösungstendenzen und Zerfallserscheinungen als eine notwendige Bewegung zu verstehen«.13 In dieser Zeit werde zum ersten Mal das Problem erkannt, wie denn das »alte« Evangelium von Jesus Christus in seiner reformatorischen Ausprägung einer strukturell völlig veränderten Welt gegenüber zu verkündigen sei. Das sei aber im Grund auch das homiletische Problem seiner Zeit (1955!). Gottfried Menken hat seinen Platz im Zusammenhang der Erweckungsbewegung nach der Epoche der Aufklärung, wobei Niebergall einräumt, dass Menken »nur in einem begrenzten Sinne als Vorläufer und Vertreter der Erweckungsbewegung bezeichnet werden kann«.14 Der Lutheraner Albert Robert Brömel (1815–1885) stellt 40 Jahre nach Menkens Tod fest: »Freilich ist Menken dem jüngeren Geschlechte unbekannt, desto bekannter aber ist er den älteren gewesen, denen er ein Prediger war in der Wüste ihrer Zeit.«15 Trotz und mit aller gut begründeten Kritik an Menken hat er nach Brömel einen notwendigen und ehrenvollen Platz in der Geschichte der christlichen Predigt und haben seine Predigten einen bleibenden Wert: »In Menken ist viel Licht und Schatten; 11 12 13 14 15

Rothe, Geschichte der Predigt, 453. Ebd. 464 f. Niebergall, Geschichte, 306. Niebergall, Geschichte, 325. Brömel, Homiletische Charakterbilder, Bd. 2, 91.

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Predigen im Horizont der Aufklärung

seine Irrthümer sind aber ganz offenbar, er lehrt sie als Wahrheiten und will sie nirgends verdecken oder accommodieren. […] Vergessen soll es aber nicht werden, daß, als die historischen Kirchen schwiegen, Menken vielen den Glauben gestärkt hat durch sein tapferes Bekenntniß.«16 Auch Heinrich Hering würdigt die Bedeutung Menkens für den homiletischen Wandel in der Spätzeit der Aufklärung in seiner Geschichte der Predigt (1905): »Dadurch, daß die Menkensche Predigt von tiefer Zuversicht des Glaubens an das biblische Wort getragen wird und aus eingehendem Erkenntnistrieb des biblischen Forschens hervorging, hob sie sich als eine Größe für sich in jener an Glaubenszeugnissen verarmenden Zeit gegen die herrschende Predigtweise ab. In der folgenden Epoche der religiösen Erneuerung bildete das gehaltvolle Wort dieses religiösen Individualisten einen der tiefsten Grundlaute im Zusammenklang der sich verstärkenden evangelischen Verkündigung.«17

Das Alte Testament wird als unverzichtbarer, fundamentaler Bestandteil der einen Schrift verstanden und wieder, besonders mit seinen geschichtlichen und prophetischen Texten, gepredigt. Menken wird hier eine Pionierrolle zugewiesen. Menkens Bedeutung für die Wiedergewinnung der alttestamentlichen Predigt im 19. Jahrhundert hat in den predigtgeschichtlichen Werken nicht überall das gleiche Gewicht. Das hängt zusammen mit der unterschiedlichen theologischen Einstellung der Verfasser zur kanonischen Geltung des Alten Testaments. Als Pionier für die Erneuerung der alttestamentlichen Predigt wird Menken vom reformierten Pfarrer und Theologieprofessor Johann August Nebe (1826–1895) gewürdigt. Menken hatte die ganze Schrift im Blick, sie war für ihn eine Einheit. Deshalb schätzte er das Alte Testament hoch ein und widersetzte sich dem Perikopenzwang: »Man darf getrost sagen: Zu Anfang dieses Jahrhunderts gab es nur einen einzigen Prediger von hervorragender Bedeutung, den bekannten Gottfried Menken, […] welcher sich freier Texte bediente. Er ist auch der erste, welcher die Hallen des Alten Testaments der Predigt wieder öffnete.«18 Im 20. Jahrhundert hat Alfred Niebergall dieselbe Meinung vertreten: »Menken ist einer der ersten, die die alttestamentlichen Texte wieder zu Ehren bringen.«19

Menken wird als Erneuer der Predigtform der Homilie gewürdigt. So z.B. schon von Richard Rothe: »Vorzüglich durch Menken hat man in Deutschland wieder gelernt, die Homilie nach ihrem wahren Werth zu würdigen.«20 Und auch von H. Hering: »Die Hingebung an das biblische Wort und wohl auch Abneigung gegen einen Gebrauch der synthetischen Kunstform, welcher die Prediger verleite, neben 16 17 18 19 20

Ebd. Bd. II, 115. Hering, Geschichte, 207 f. Nebe, Geschichte, Bd. I, 393. Niebergall, Geschichte, 325. Rothe, Geschichte der Predigt, 465.

Gottfried Menken in den Werken zur christlichen Predigtgeschichte

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der Schrift eigene Wege zu gehen, ließ Menken die Homilien-Form entschieden bevorzugen.«21

Menkens Biblizismus und seine Freiheit gegenüber der kirchlichen Lehrtradition werden zur Kenntnis genommen und teilweise kritisiert. Sein unpolemischer Predigtstil und seine strikte Bindung an das biblische Wort werden geschätzt. Werner Schütz gibt Menken in der Zeit der Erneuerung der Predigt am Anfang des 19. Jahrhunderts einen wichtigen Platz. Der Biblizismus Menkens, der im Begriff des Reiches Gottes die Hauptsache der ganzen Bibel findet, wird herausgestellt und mit diesem Biblizismus die Frontstellung gegen den Rationalismus und die Orthodoxie. Als homiletische Konsequenz sind Menkens Predigten »nichts als Bibelauslegung«. Menkens Sonderlehren und seine theosophischen Neigungen treten in den Predigten zurück, ebenso alles Dogmatische.22 Albert Robert Brömel beurteilt den »Subjektivismus« Menkens bei grundsätzlicher Anerkennung seiner predigtgeschichtlichen Bedeutung kritisch: »Ein Correctiv, eine regula für seine subjektive Auffassung suchte er nirgends und concedierte sie niemandem. Zu seinem Lobe aber muß es hervorgehoben werden, daß er auf der Kanzel niemals gegen die Lehre irgend einer Kirche polemisiert hat. Er selbst aber lehrt auch gar nichts von der Lehre irgend einer Kirche. Alles ist subjektiv. […] Es ist ein Glück, daß er noch bei der allgemeinen und unsichtbaren Kirche geblieben ist, denn nach seiner ganzen Richtung und der ganz eigenthümlichen Lehrweise, die sich bei ihm findet, hätte er ebenso gut das Haupt einer ganz besonderen Secte werden können.«23

Die Sprache der Predigten wird durchgehend positiv gewürdigt als klar, einfach und warmherzig. Menken scheint hier einem Anliegen der Aufklärung zu entsprechen, der er ansonsten nur als entschiedener Gegner gegenübersteht. In der Sprachgestalt seiner Predigten erkennt man den Zeitgenossen der Weimarer Klassiker. Anstelle vieler Belege die Beschreibung Rothes: »Nirgends wird der Affect erregt, nirgends die Phantasie aufgeweckt, nirgends das Gefühl zu selbständiger Bewegung hervorgerufen. Wärme des Gefühls durchdringt allerdings alle diese Vorträge, aber es tritt immer nur als den Gedanken begleitendes Moment auf. Sie sind Betrachtungen und nicht Reden, mehr in der Form schriftlicher Mitteilung als in der mündlichen Ansprache, aber deshalb doch nicht im Abhandlungston und Abhandlungsstil. […] Sie sind daher in hohem Grade gehaltreich und belehrend, aber populär sind sie nicht. Die Sprache und die Darstellung ist vielmehr durchaus gebildet; dabei übrigens einfach, völlig ungekünstelt und sehr nervig.«24 21 22 23 24

Hering, Geschichte, 207. Schütz, Geschichte, 177. Brömel, Homiletische Charakterbilder, 101. Rothe, Geschichte der Predigt, 465.

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Bewundert werden der inklusiv-narrative Predigtstil und das Ausmalen des Gefühlslebens der biblischen Personen. August Nebe beschreibt treffend das Phänomen einer indirekten applicatio, auf das bei der Analyse der Predigten Menkens zurückzukommen ist: »Plastisch treten die Männer Gottes aus dem Hintergrund des Textes hervor, plastisch tritt auch die innere Welt aus ihrem Verborgensein in Erscheinung. Alles ist rund, knapp, klar, lebensfrisch und lebenswarm: nirgends ein Mißgriff, welcher die Zeichnung zu einer Carikatur macht. […] Er [Menken, H.M.R.] zeichnet voll heiligen Ernstes, er malt vor die Augen, um in seinem Gemälde uns ein Bild unserer Lebensverhältnisse, unserer Weltlage, unserer Gemütsverfassung, unseres inneren Lebens zu entwerfen. Er malt in der Absicht, uns in das Herz hineinzugreifen, uns zur Heiligung zu treiben.«25 Nebe räumt aber kritisch ein: »Zu leugnen ist freilich nicht, dass mehr auf Erkenntnis und Verständnis der heiligen Schrift, als auf das Herz und das Leben sein Absehen gerichtet ist.«26

Kritisiert wird der mangelnde Situationsbezug, das Fehlen eines konkreten Eingehens auf die Lebenswirklichkeit der Hörer und Hörerinnen und die Fokussierung der applicatio auf die Heiligung. Es wird nicht erkennbar, dass Menkens Predigten Gemeindepredigten sind, die in einem Gottesdienst einer Kirchgemeinde an einem bestimmten Ort gehalten wurden. Dazu Brömels Kritik: »Man fühlt es Menken nirgends ab, daß er als Pastor in der Gemeinde gestanden hat. Nicht der geringste Rapport ist wahrzunehmen zwischen dem Prediger und der Gemeinde. In allen Predigten redet er das Eine: die Heiligung des Individuums und zwar so, als ob der Mensch, wie er sonntags in der Kirche sitzt, die ganze Woche auf diesem Flecke zu sitzen hätte.«27 Die gleiche Kritik auch bei Schütz: »Diese Predigt ist mehr Betrachtung als Rede. Ihr Biblizismus führt dazu, daß auf Zeit- und Lebensverhältnisse kaum je einmal Bezug genommen wird. […] Die Tiefe der Auslegung macht diese Predigten noch immer lesenswert, ihre geschichtliche Bedeutung liegt in ihrem Biblizismus und der Wiederentdeckung der Homilie; diese Einseitigkeit aber bildet ihre Stärke und auch ihre Grenze.«28

5.2 Aspekte der prinzipiellen Homiletik bei Gottfried Menken 5.2.1 Die Krise des Predigtamtes in der Aufklärung Aufklärerisches Denken kommt in Europa im 17. Jahrhundert auf und wird zu einer geistigen Macht, die alle Lebensbereiche zu durchdringen beginnt. Am 25 26 27 28

Nebe, Charakterbilder, 395 f. Ebd. 396. Brömel, Homiletische Charakterbilder, 113 f. Schütz, Geschichte, 177.

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Ende des 18. Jahrhunderts beherrscht die Aufklärung in ihrem späten Stadium, dem Rationalismus, den Zeitgeist. Die Aufklärung entstand nicht als innerkirchliche Reformbewegung wie der Pietismus. Sie trat von außen als eine Herausforderung heran an die protestantischen Kirchen und ihre Theologie, die aus der Reformation hervorgegangen und sich zur konfessionellen Orthodoxie entwickelt hatten, und wurde schon bald zur Überforderung. Dazu Karl Barth: »Sie [die Theologie des 18. Jahrhunderts, H.M.R.] sieht sich in der Kirche bzw. in der christlichen Zeitgenossenschaft vor Tatsachen gestellt: vor neue Interessen, Bestrebungen und Einstellungen, vor offenkundige Veränderungen der Gesinnung, der Denkungsart und des Geschmacks, vor neue Überzeugungen und Lehren. Sie fühlt sich und die ihr von Amts wegen zu vertretende Sache diesem Neuen gegenüber isoliert und in dieser Isolierung bedroht. Sie möchte einerseits diese Isolierung durchbrechen, und sie anerkennt anderseits, dass an jenen ohne sie zustande gekommenen Veränderungen doch auch allerlei Gutes sei. Sie fühlt sich ihrem Gegenstand gegenüber befugt, ja verpflichtet, und sie fühlt sich auch technisch imstande, an entsprechende Veränderungen auf ihrem eigenen Gebiet heranzutreten, und so kommt es – etwas spät, aber es kommt zum theologischen Fortschritt.«29

Nach Barth ist die protestantische Theologie der Aufklärung »keine Theologie von ausgesprochen heroischem Charakter gewesen«. Zu kritisieren sei, dass sie im Bestreben, nun auch »modern« sein zu wollen, immer hinter ihrer Zeit herlief und keine führende Rolle spielte. Das war bei den Reformatoren anders: »Man kann gewiss auch von Luther und Calvin sagen, dass sie mit ihrer Botschaft auf die Bedürfnisse und Fragen der Kirche ihrer Zeit geantwortet haben und insofern ihrer Bewegung folgten. Aber es kann doch – man denke an ihre Stellung zu Humanismus und Täufertum – keine Frage sein, dass sie zugleich Führer dieser Zeitbewegung waren.«30 Barth fragt: »Hätte sie [die Theologie der Aufklärung, H. M.R.], um modern zu sein, nicht gänzlich darauf verzichten müssen, modern sein zu wollen? Wäre sie doch ebenso absolutistisch ihrem Thema nachgegangen, wie der Mensch ihrer Zeit dem seinigen!«31 Die Krise der protestantischen Theologie der Aufklärungszeit, in die sie gerät durch ein neues Denken über Gott, über die Welt und den Menschen, wird auch zu einer schweren Krise des Pfarramtes und der Predigt in den 29 Barth, Die protestantische Theologie, 115. 30 Barth, Die protestantische Theologie, 116. Das Charakterbild des Theologen der Aufklärung ist für Barth wenig erfreulich: »Der Theologe dieser Zeit ist […] zwar ein sehr ernster, fleissiger und gescheiter, aber auch ein offenkundig grämlicher, besorgter, um nicht zu sagen betrübter und verzagter Mann. Auch dann, wenn er sich, woran es freilich nicht gefehlt hat, sehr munter und selbstgewiss gibt. Man spürt es ihm überall an, dass er auf dem Rückzug ist, dass es ihn verdriesslich und traurig stimmt, dass dem so ist und dass er nichts daran ändern kann.« Ebd. 117. 31 Ebd. 118.

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protestantischen Kirchen, und für die Pfarrer wird sie zu einer existentiellen Bedrohung. Es musste ja an jedem Sonntag und oft auch noch in der Woche gepredigt werden. Das Institut der kirchlich praktizierten Predigt war obligatorisch. Aber im Andrang der kritischen Fragen der Aufklärung steht nun das Pfarramt selbst auf dem Prüfstand. Welchen Sinn hatte es denn noch? Was sollte denn nun noch gepredigt werden, und wie sollte den Anforderungen der Zeit gemäß gepredigt werden?32 Die Predigt der Orthodoxie war durch die reformatorischen Bekenntnisschriften geregelt und konfessionell geprägt. Die Bekenntnisschriften verlieren aber im Pietismus und dann in der Zeit der Aufklärung ihre für die Predigt normierende Bedeutung: »Zur eigentlichen Aushöhlung dieses altprotestantischen Regulierungssystems ist es aber erst in der Aufklärung gekommen, indem die Prediger sich jetzt von den historisch gewachsenen, konfessionelldogmatischen Vorgaben ihrer Landeskirchen so gut wie völlig lösten und sich den grammatisch-philologischen, vernünftig-moralischen und historischkritischen Zugängen zur Schrift öffneten.«33 Der Konfessionalismus war durch die Religionskriege diskreditiert. Schon im Pietismus trat er zurück. Für die Aufklärung war er obsolet geworden. Jene Pfarrer, die sich der Aufklärung anschlossen, fanden sich nun in einer Freiheit vor, der sie nicht gewachsen waren. »Das heisst: Mit der faktischen Lösung des Protestantismus von den Bekenntnisschriften entstand ein theologisch-normatives Vakuum, das aber tatsächlich kein Vakuum geblieben ist. Es wird vielmehr inoffiziell und das heisst hier: ohne eine theologisch-biblisch begründete Rechtskraft, aber dennoch sehr wirksam faktisch wieder aufgefüllt, indem Kräfte und Instanzen in Gesellschaft (Staat) und Kirche zu Mächten werden, die auf die Pastoren Einfluss nehmen und ihnen, fast immer in guter Absicht, klarzumachen suchten, was Sache ist und was gepredigt werden soll.«34

Für Schott liegt in der Freiheit, die die Theologie der Aufklärung für sich in Anspruch nimmt, zum guten Teil »die Begründung für den ja so auffälligen Tatbestand, dass sich die protestantische Predigt seit der Aufklärung so stark an die jeweilige geistige und politische Zeitströmung angelehnt hat und sich 32 Der Bremer Pastorensohn Johann Smidt (geboren 1773), der – seit 1821 Bürgermeister der Hansestadt – große Bedeutung für Bremen bekam, wird als Student in Jena zum Schüler des Philosophen Fichte. Er schreibt 1794 einen Aufsatz unter dem Einfluss des rationalistischen Theologen Paulus und des Philosophen Fichte und erwägt darin, »ob man das Predigtamt nicht abschaffen sollte«. Doch er verneint diese Frage, »da es in verwandelter Form der Förderung der Sittlichkeit dienen sollte.« Wenig, Rationalismus und Erweckungsbewegung, 76. Johann Smidt ließ sich 1797 in Zürich , beeindruckt von den in Bremen hoch angesehenen rationalistischen Predigern Häfeli und Stolz aus der Schweiz, zum Prediger ordinieren. 33 Schott, Predigtgeschichte, 42 f. Die folgenden Ausführungen verdanken der erhellenden Schrift Schotts wesentliche Erkenntnisse. 34 Schott, Predigtgeschichte, 45.

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von ihr den hermeneutischen Schlüssel zu den Texten der Bibel hat geben lassen«.35 Im Zuge dieser folgenschweren Entwicklung kommt es zum Ende des Altprotestantismus, unter dem die Orthodoxie, der Pietismus und in bestimmten Bezügen auch noch die frühe Aufklärung zusammengefasst werden können, und dem Anfang des Neuprotestantismus. Die protestantische Theologie ist bis heute beschäftigt mit diesem Bruch in der Theologiegeschichte. Sie muss die Aufklärung als Schicksal annehmen. Die Aufklärung ist ein Markstein in der europäischen Geschichte. Ihre positiven Errungenschaften gehören zum guten Erbe Europas. In der Theologie können wir nicht bruchlos anknüpfen an die altprotestantische Orthodoxie und auch nicht ohne kritische Weiterarbeit am reformatorischen Erbe. Verantwortliche protestantische Theologie wird sich heute zur historisch-kritischen Bibelexegese bekennen, die in der Aufklärung ausgebildet und seitdem vielfältig weiterentwickelt wurde. Der Bruch, der im 18. Jahrhundert den Altprotestantismus vom Neuprotestantismus trennt, tritt besonders klar zutage, wird konkret und fassbar, wenn wir ihn im Verlauf der ganzen über das Christentum hinausreichenden und bereits in Israel beginnenden Geschichte der Predigt zu verorten suchen. Das tut Christian-Erdmann Schott in seiner predigtgeschichtlichen Studie, die die homiletisch und theologisch weitgehend unerschlossene Geschichte der Predigt »von der Wahrnehmung der Konsistenz des Mediums Predigt« her für die gegenwärtige Arbeit an der Predigt besser erschließen und ertragreicher machen möchte. Schott gewinnt durch die Einbeziehung des Alten Testaments ein gesamtbiblisches Predigtverständnis, das sich nach seiner Meinung von Israel über die frühe Kirche bis zur Reformation und frühen Aufklärung durchhält, um dann auf der Höhe der Aufklärung durch ein neues, entscheidend verändertes abgelöst zu werden. Die Geschichte der Predigt beginnt bereits in Israel. Deshalb muss die Predigt »als ein über das Christentum hinausgehendes, als ein transchristliches und transekklesiologisches Medium begriffen werden«.36 Hinter dem Predigen von berufenen Menschen in Israel steht Gottes Eifer um sein Volk, steht Gottes Sorge, dass dieses von ihm befreite und geführte Volk »nun an seiner Undankbarkeit und Abtrünnigkeit, in die es sich immer wieder ver-

35 Schott, Predigtgeschichte, 43. Gottfried Menken kommt in seiner Analyse der theologiegeschichtlichen Entwicklung, die zum Eindringen der Aufklärung und zu ihrer beherrschenden Macht in der protestantischen Predigt führt, zu gleichem Urteil in seinem Aufsatz Etwas über Alt und Neu in Betreff der christlichen Wahrheit und Lehre. Vgl. dazu unten Kapitel 6.7. 36 Schott, Predigtgeschichte, 89. Hervorhebungen H.M.R. Schott will mit dieser Sicht aber nicht bestehende Unterschiede einebnen. Die christliche Predigt wurde zu einem Medium der Kirche. Sie wurde institutionalisiert und im sonntäglichen Gottesdienst zu einem ständigen Ritus. In Israel blieb die Predigt ein freies Medium.

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rennt, und an seinen Sünden stirbt«.37 Die so motivierte Predigt in Israel bezeichnet Schott als ein Kampfgeschehen, und er möchte mit diesem Begriff dann auch die im Neuen Testament begründete christliche Predigt bezeichnen. Die Predigtgeschichte bleibt so ein »Kampfgeschehen zwischen Gott und den Mächten, die sich ihm widersetzen, zwischen Gott und dem Teufel«, bis sich der Herrschaft Gottes alles unterworfen hat. Der Kirche ist nach diesem Verständnis »die Predigt zwar anvertraut, aber nicht in Besitz gegeben«, und »die Prediger müssen bei ihrer Predigt das Kampfgeschehen zwischen Gott und dem Teufel vom Anfang bis zum Endsieg ständig im Auge behalten. Nur so können sie die Weite von Gottes Atem von der Schöpfung über die Sendung Christi bis zum Jüngsten Tag in ihre Predigt einbringen«.38 Schott vermeidet den Begriff der Heilsgeschichte. Er spricht stattdessen von einer Geschichtstheologie, in die die Predigt des Altprotestantismus eingebettet war, im Unterschied zum Neuprotestantismus: »Das Unterscheidungsmerkmal liegt nämlich hier in der Tatsache, dass der Altprotestantismus die Predigt im Gesamtrahmen der Gott-Mensch-Beziehung und -Geschichte gesehen hat; also als Ausdruck des Ringens um die Wiedergewinnung und Heilung des Menschen, die, über die Geschichte Israels hinaus, in der frühen Menschheitsgeschichte (Adam, Noah) einsetzt und über Kreuz und Auferstehung Jesu Christi sich bis an das Ende der Zeit fortsetzt – damit freilich auch die kirchliche Predigtgeschichte umgreift, die vergangene wie die zukünftige, und sie unter ein anderes, nämlich ein geschichtstheologisches Vorzeichen stellt. Das heißt: Die kirchliche Predigtgeschichte wird hier nicht als Ausdruck des kirchlichen Verkündigungswillens gesehen […], sondern unter das Vorzeichen des auf alle Menschen gerichteten, universalen Heilswillen Gottes gestellt, der auch diesen kirchlichen Verkündigungswillen für seine großen Ziele braucht.«39

Schott sieht die Epochen des Altprotestantismus – Reformation, Orthodoxie, Pietismus und frühe Aufklärung – verbunden durch die oben beschriebene Geschichtstheologie. Sie sind aber unterschieden »in der Bestimmung der göttlichen Heilsziele selbst«. Für Luther ist Gottes Heilsziel »die Befreiung des Menschen, seine Erlösung aus den Machtbereichen des Todes, der Sünde und des Teufels und seine Unterstellung unter die Oberhoheit seines rechtmässigen Herrn, Gottes selbst«. Predigen heißt für Luther: kämpfen mit dem Wort Gottes für das Herrenrecht Gottes.40 37 38 39 40

Ebd. 92. Ebd. 94. Schott, Predigtgeschichte, 95. Schott, Predigtgeschichte, 96 f. Schott zitiert in diesem Zusammenhang eine Charakterisierung der Predigt Luthers von G. Wingren: »Nun aber heisst predigen, sich mitten in die gewaltige Reihe von Ereignissen hineinzustellen, die den Anfang der Schöpfung in der Urzeit mit der Auferstehung der Toten in der Ewigkeit verbindet; predigen heisst, Gottes Wort ergreifen, das Grund und Quelle des Lebens ist; und predigen heisst schliesslich, dieses Gotteswort den

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Dem Pietismus geht es um die Schaffung des neuen Menschen. »Nach der Devise ›Weltverwandlung durch Menschenverwandlung‹ wollte er das neue Leben sich auswirken lassen, ausleben und damit Gottes Plan mit dieser Welt zum Ziel führen helfen.«41 Das Ziel der Aufklärungspredigt ist die Vervollkommnung des Menschen, seine Ertüchtigung zur Tugend, zum moralischen Verhalten, durch das die Glückseligkeit erreicht werden kann. In Jesus Christus tritt uns dieses Ideal wahrer Humanität entgegen. »Christus ist der uns von Gott gesandte Offenbarer, der uns durch seine Hingabe an Gott und die Mitmenschen, durch sein bedingungsloses Eintreten für Recht und Wahrheit, durch seine tiefe Pflichtauffassung und durch die Überzeugung, mit der er schließlich in den Tod gegangen ist, gezeigt hat, welcher Entfaltung, Emporbildung, Vervollkommnung die in uns liegenden religiös-sittlichen Kräfte fähig sind, wenn sie nur richtig herausgefordert und auf das richtige Ziel hingeordnet werden«.42

Schott43 zitiert in diesem Zusammenhang den »erfolgreichsten Prediger dieser Zeit«, Franz Volkmar Reinhard (1753–1812): »Sinnesänderung, meine Zuhörer, wahre sittliche Besserung nach den Grundsätzen und Forderungen des Evangelii ist, wenn wir, die wir öffentlich zu euch reden, die Wahrheit gestehen sollen, der Endzweck aller unserer Bemühungen; und mithin auch der immerwährende, unablässig zu wiederholende Inhalt aller unserer Vorträge.«44

Verfolgt man die Heilsziele des Altprotestantismus von der Reformation bis zur Aufklärung, so ist zu erkennen, »daß […] eine Entdämonisierung der Lebenssicht und der Theologie bei gleichzeitiger Zunahme des anthropologischen Optimismus stattfindet. Am Anfang dieser Bewegung ist Gott der Retter des Menschen aus dem Feuer der Hölle und dem Rachen des Todes, im wahrsten Sinne sein Lebensretter, am Ende ist er die freundliche Macht, die weise und selbstlos seinen Aufstieg zur Vollkommenheit lenkt.«45

41 42 43 44 45

Menschen sagen, die sich selbst nicht aus den Fängen ihres Feindes befreien können. Wo das Wort ist, da ist Gott, da führt Gott gegen den Satan jenen Kampf, der seit den Tagen der Urgeschichte im Gange ist und der mit der Befreiung der Menschen enden wird. Die Einheit und der ungebrochene Zusammenhang in der Reihe von Ereignissen, welche die Bibel berichtet, liegen in der Predigt als jetzt im Gange befindliches Geschehen.« Wingren, Die Predigt, 57. Schott, Predigtgeschichte, 97. Ebd. 98. Ebd. 98 f. Reinhard, Predigten im Jahr 1807, 61. Schott, Predigtgeschichte, 99.

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Zeitlich ist die allgemeine Verbreitung dieses aufklärerischen Selbstbewusstseins nach Schott etwa von 1790 an zu konstatieren. Es ist jene Zeit, in der Gottfried Menken als Pfarrer zu wirken beginnt. Man ist jetzt aufgeklärt. Die aufgeklärten Deutschen verstehen noch im Unterschied zu den Franzosen und teilweise auch den Engländern die Mündigkeit, der sie sich rühmen, als Geschenk ihres gütigen Gottes. Doch nun stellt sich der evangelischen Predigt das Problem, »wie sie zu diesem in die Eigenverantwortlichkeit entlassenen, hoffnungsfroh einer freien Zukunft entgegengehenden Menschen noch sinnvoll von Gott reden soll. Welche Bedeutung soll Gott für diesen Menschen noch haben?«46 Mit dem Einsetzen des Neuprotestantismus auf dem Höhepunkt der Aufklärung verliert das Predigtamt seine Legitimationsbasis, die es in der altprotestantischen Geschichtstheologie hatte, trotz der aufgezeigten Unterschiede in den jeweiligen Predigtzielen. Es gerät dadurch in eine schwere Krise. Das Predigtamt ist nicht mehr durch göttliches Recht konstituiert, sondern wird als Funktion der Kirche begriffen. Es wird zu einem »Verbands- und Betreuungsinstrument, durch das speziell kirchliche (gemeindliche) oder allgemein religiös-erbauliche Bedürfnisse in Kirche und Gesellschaft befriedigt werden sollen«. Das Predigtamt ist nun »der Rechtfertigungspflicht vor dem Geist der Neuzeit« unterworfen und »zu dauernden praktischen Nachlegitimierungen gezwungen«.47 Die Preisgabe der altprotestantischen Geschichtstheologie und ihr Ersatz durch eine »natürliche« vernunftgemäße Theologie, die ihren Inhalt kaum noch aus der Bibel, sondern vor allem aus der populären Philosophie der Zeit schöpft, aus dem Wolffisch-Leibnizschen System, ist wohl der wichtigste Grund für die tiefe Krise, in die die Predigt der Aufklärung gerät. Ein weiterer Grund – eng damit zusammenhängend – besteht in der homiletischen Methode der Akkommodation. Die redlich gemeinte Anpassung an die Hörer und Hörerinnen blieb an der Oberfläche und entsprach aufgrund der optimistischen Anthropologie der Aufklärung nicht den tiefsten Bedürfnissen der Menschen. Ein dritter Grund ist in der wachsenden Medienvielfalt zu sehen, die nun aufkommt und die sonntägliche Predigt aus ihrer Monopolstellung als Form der öffentlichen Kommunikation verdrängt. Die Zeit der Aufklärung, in der man sich des »Ausgangs des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«48 rühmte, mit dem Immanuel Kant das große Projekt der Aufklärung auf den Begriff gebracht hatte, und in der man mit dem Gefühl lebte, an einem Höhepunkt der Menschheitsgeschichte 46 Schott, Predigtgeschichte, 100. 47 Alle Zitate Schott, Predigtgeschichte, 112. Die Richtigkeit dieser These haben z.B. wir Pfarrer und Pfarrerinnen in den 1970er und 1980er Jahren erfahren, als die globale Durchsetzung des neoliberalen Wirtschaftssystems begann. Nun wurden die Pfarrämter mit der Kosten-NutzenRelation konfrontiert. Wir mussten nachweisen, welchen Nutzen das jeweilige Pfarramt erbringt. Auffallend war dabei das Bemühen, die sozial-diakonische Arbeit hervorzuheben, die gesellschaftlich eine hohe Akzeptanz hat und auch eine Entlastung des Staates bedeutet. 48 Kant, Werke in sechs Bänden, Bd. VI, 162.

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zu stehen, bildet in der Geschichte der Predigt einen Tiefstand.49 Alfred Niebergall urteilt: »Sie [die evangelische Predigt, H. M.R.] hat weithin ihren evangelischen Charakter verloren«, und er sieht sein Urteil zum Beispiel bestätigt durch die entlarvenden Aussagen des Aufklärungstheologen Marezoll: »Wenn Johann Gottlieb Marezoll (gest. 1828 in Jena) in seiner Bestimmung des Kanzelredners (1793) als Inhalt nicht das angibt, was Christus gelehrt hat, sondern was Christus lehren würde, wenn er den Vorzug gehabt hätte, Genosse des erleuchteten Zeitalters zu sein, so zeigt dies schon zur Genüge, welcher Akkommodation das Evangelium in der Predigt dieser Zeit ausgesetzt ist.«50 Die Krise der Predigt wird in der späten Aufklärung im nachlassenden Besuch der Gottesdienste sichtbar: »Der tiefe Einbruch, den die bis dahin auch im evangelischen Teil unseres Volkes ungebrochene Kirchlichkeit ab 1790 erfahren hat, wirkt bis heute nach und erinnert auch daran, dass die Hörer die Anpassung der Predigt an ihre (vermeintlichen) Erwartungen nicht honoriert haben.«51 Das in der Predigtgeschichte einhellige negative Urteil über die Predigt der Aufklärung heißt aber nun nicht, dass das grundsätzliche Bemühen und die prinzipiellen Zielsetzungen der Homiletik der Aufklärung unbeachtet bleiben können und nicht als Aufgaben gesehen werden müssen, die der Arbeit an der Predigt bis in die Gegenwart gestellt sind. Dazu gehören vor allem das entschlossene Ernstnehmen der Hörer und Hörerinnen der Predigt, die Hinwendung zu ihrer Lebenswirklichkeit, das Beachten ihres konkreten Alltags und das Bemühen um eine Sprache, die nicht abgehoben ist, sondern wirklich verstanden wird. 5.2.2 Die neue Homiletik der Neologie – das Beispiel Johann Joachim Spaldings Die bisher skizzierte Ablösung des Altprotestantismus durch einen Neuprotestantismus auf der Höhe der Aufklärung manifestiert sich besonders klar in einem neuen Verständnis des traditionellen Predigtamtes und in einer neuen Homiletik. Um die Gegenposition Gottfried Menkens zu profilieren, ist es sinnvoll, auf die wesentlichen Veränderungen in der Hermeneutik der Aufklärung einzugehen. Dafür eignet sich in besonderer Weise die Lektüre des Buches Über die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung von Johann Joachim Spalding (Berlin 21773)52. Über dieses Werkes urteilt Albrecht 49 50 51 52

Niebergall, Geschichte, 310. Niebergall, Geschichte, 310, Zitat nach: Achelis, Lehrbuch, 112. Schott, Predigtgeschichte, 102. Johann Joachim Spalding (1714–1804) wirkte als Pfarrer in Vorpommern (1749–1764) und wurde dann ein preußischer Kirchenfürst, wie ihn Friedrich Schleiermacher beschrieben hat. Er wurde berufen zum Probst von Berlin mit Sitz an der lutherischen St. Nikolai-Kirche, zum Oberkonsistorialrat und Mitglied der staatlichen Kirchenleitung. 1748 publizierte Spalding,

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Beutel: »Spaldings Nutzbarkeit lässt sich als eine prinzipielle Homiletik in apologetischer Absicht klassifizieren: Sie will die neuzeitliche Legitimität des Predigtamtes erweisen (Teil 1) und zu dessen sach- und zeitgemäßer Ausübung anleiten (Teil 2).«53 Der Titel des Werkes ist symptomatisch. Das Predigtamt ist nicht mehr grundsätzlich legitimiert durch göttliches Recht und beständige Tradition. Seine Nützlichkeit ist in Frage gestellt und muss erst noch erwiesen werden. Spalding fasst im ersten Teil seiner Schrift seine theologische Grundlegung des Pfarrberufs zusammen. Die christlichen Prediger sind keine Priester. Das katholische Amtsverständnis ist abzulehnen. Gegen die Kirchenkritik der westeuropäischen Aufklärungsphilosophie und namentlich von David Hume ist aber an der Wertschätzung des Predigtamtes festzuhalten und sein bedeutender Nutzen herauszustellen. Die Prediger sind »gewissermassen das, was unter dem israelitischen Volke die Propheten, im niedrigern Verstande, und in dem Heidenthum die Philosophen waren, verordnete Ausleger und Erklärer des göttlichen Gesetzes, Lehrer der Weisheit und der Tugend«.54 Zu beachten sind die auffälligen Veränderungen in den jetzt geltenden Aufgaben des Predigtamtes. Es geht nicht um die Auslegung der (ganzen) Schrift, sondern um die Erklärung des göttlichen Gesetzes. Es geht nicht um die Verkündigung des Evangeliums, sondern um Weisheit und Tugendlehre. Die Tugend ist für Spalding das Mittel und der Weg zur wahren Glückseligkeit, die sich zu Lebzeiten in Gemütsruhe äußert und Kennzeichen des ewigen Lebens sein wird. Als Lehrer der Weisheit und der Tugend verdienen die Prediger eine hohe Wertschätzung:

zunächst anonym, jene Schrift, die seinen schriftstellerischen Ruhm begründete: Betrachtung über die Bestimmung des Menschen. Nach Beutel wurde mit dieser Schrift u.a. die Hauptphase der deutschen Aufklärungstheologie eröffnet. Die epochale Bedeutung dieser Schrift lasse sich mit Fug und Recht als ein neologisches Gründungsdokument ansprechen. Beutel, Spalding, 86. Beutel würdigt das Lebenswerk Spaldings mit folgenden Sätzen: »In der neuzeitlichen Umformungskrise des Protestantismus erwies er wie kaum ein anderer elastische und damit zukunftsfähige Identität. Als feinsinniger Schriftsteller und Stilist des Aufklärungszeitalters vermittelt er bis heute historisches Lese- und Bildungsvergnügen. Zugleich empfiehlt er sich in besonderer Weise als eine repräsentative Schlüsselfigur seiner Epoche.« Ebd. 307 f. Albrecht Beutel ist verantwortlicher Herausgeber der jüngst abgeschlossenen Kritischen Spalding-Ausgabe. In Beutels Buch über Spalding fehlt eine kritische Auseinandersetzung mit dem »Meistertheologen im Zeitalter der Aufklärung«, in der auch die bedenklichen Seiten der Umformung der Theologie und Predigt in der Neologie zur Sprache kommen müssten. 53 Beutel, Spalding, 226. Beutel erwähnt, dass Spaldings Nutzbarkeit noch hundert Jahre nach ihrem Erscheinen vom Historiker Hermann Petrich als »die Pia Desideria der Aufklärung« bezeichnet wurde. Biographisch gibt es Parallelen: Philipp Jakob Spener unterstand zuletzt wie später Johann Joachim Spalding die Probstei an der Kirche St. Nikolai in Berlin. Sowohl Spener wie auch Spalding wenden sich an ihre Amtskollegen mit ihren Besserungsvorschlägen und bitten um kritische Reaktionen. Spalding geht es aber nicht »um das kirchliche Leben insgesamt«, sondern »um dessen institutionelles Zentrum«. Ebd. 54 Spalding, Nutzbarkeit, 6.

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»Man schätze unpartheyisch das Verdienst, so viel zu der innerlichen Glückseligkeit der Menschen beyzutragen, ihr freundschaftlicher Wegweiser zur Gemütsruhe und zu großen freudigen Hoffnungen zu seyn, sie zu lehren, wie sie sich an der allgegenwärtigen Gottheit, an ihrem Beyfall und an ihren beständigen Wohltaten freuen, die Annehmlichkeiten des Lebens unter ihren Augen und aus ihren Händen mit Zufriedenheit geniessen, die Last desselben mit gelassenem und getrostem Mut in dem Vertrauen auf eine allgemeine väterliche Aufsicht ertragen und durch die Erwartung einer besseren Welt sich der Beschwerden der gegenwärtigen in einem hohen Maße erleichtern und versüßen können.«55

Als Lehrer der Tugend sind nun die Prediger auch von großem Nutzen für den Staat. Im Aufweis dieser »Nutzbarkeit« gipfeln die Ausführungen Spaldings im ersten Teil seiner Schrift. Da zum Besten des Staates Tugend nötig ist, kann Spalding fragen: »Wo wird so viel für die Erweckung von Tugend getan als in dem Amte und Geschäfte der so genannten Geistlichen. Diese sind noch immer die eigentlichen Depositärs der öffentlichen Moralität. Sonst ist noch auf keinerley Art in wirklichen verordneten Einrichtungen dafür gesorgt, dass die Menschen Tugend lernen und Tugend behalten. […] Lasset uns also die Prediger als bestellete Sittenlehrer ansehen, in so ferne sie auf die bürgerliche Gesellschaft eine eigene Beziehung haben.«56

Spalding ist fest davon überzeugt, »dass durch die beständige Einschärfung der Glaubenslehren und ihrer praktischen Folgen einer Menge von Missethaten gewehrt wird«, denn Religion beugt sittlicher Verrohung vor, zügelt die Leidenschaften und fördert die Tugenden. Die christliche Sittenlehre ist für Spalding identisch mit der reinen Vernunft und »der ursprünglich von Gott angelegten Natur«. Sie unterscheidet sich nur durch »grössere Bestimmtheit«, »leichtere Fasslichkeit« und »lebhafteren Eindruck für den allgemeinen Verstand«.57 Seine Ausführungen zur Begründung und zum Zweck des Pfarramtes fasst Spalding folgendermassen zusammen: Das Pfarramt ist eine Funktion der Kirche. »Eine Gesellschaft von Bekennern der Religion will jemand haben, der sie unterrichte und ermuntere, Gott zu gefallen, die Ruhe eines guten Gewissens zu genießen und zu einer glücklichen Ewigkeit geschickt zu werden.« Der Staat täte also gut daran, die christliche Religion zu fördern und zu erhalten. Und der Regent sollte es schätzen, »durch sie [die Prediger, H.M.R.] gute Verehrer Gottes zu haben, damit er desto bessere Bürger habe«.58 Im zweiten Teil seiner Schrift wendet sich Spalding den konkreten Aufgaben der Prediger zu. Das grundsätzliche Ziel der Predigt ist, »Weisheit zur 55 56 57 58

Spalding, Nutzbarkeit, 38 f. Ebd. 49 f. Alle Zitate ebd. 61. Ebd. 72.

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Seligkeit zu lehren«. Die Zuhörerinnen und Zuhörer »erwarten von ihnen [den Predigern, H.M.R.] ihr wesentliches Wohl, diesen sollen sie Erkenntnisse, Anweisungen, Ermunterungen geben, des Glücks im Herzen und des Glücks im Himmel fähig zu werden«.59 Die ganze christliche Religion kann nur dann den Menschen wichtig und nützlich werden, »als in so weit dadurch Richtigkeit der Gesinnung gewirkt und ein solcher Grund der Beruhigung, des Trostes und der Hoffnung gegeben wird, welcher wirklich den Bedürfnissen und Wünschen der menschlichen Seele ein Genüge thut«.60 Das meint das Neue Testament nach Spalding mit der Predigt der Buße und des Glaubens! Zur Glückseligkeit führt nur die Rechtschaffenheit des Herzens und des Lebens. Und solche Rechtschaffenheit bedeutet »Richtung des Willens nach erkannter moralischer Wahrheit«. In der »Verbindung zwischen Tugend und innerlichem Glück als Ursache und Wirkung« sieht Spalding eine »Einrichtung Gottes in unserer Natur«, die zum bleibenden Wesen des Menschen gehört. Der Weg der Tugend ist die »unumgängliche Bedingung, um Gott wohlgefällig zu sein und seiner gnädigen Belohnung theilhaftig zu werden«.61 Den Inhalt und das Wesen des Christentums fasst Spaldung so zusammen: »Ein Gott voll Erbarmung, ein Vater, der seine Kinder darum gerne tugendhaft und gut haben will, weil es ihr Glück ist, der ihnen eine jede Freude gönnt, wenn sie nur nicht schädlich ist, der durch die liebreichsten Verheissungen seiner Verzeihung auch dem Verschuldeten Muth und Freudigkeit zur Rückkehr gibt, der ihnen zu dem Ende einen Erlöser vom Himmel sendet, damit derselbe ihnen den Weg dahin, durch seine Lehre, durch seine Ermunterung, durch die Aufopferung seines Lebens selbst, heller, leichter und sicherer machen soll; das ist nach meiner besten Einsicht der eigentliche Inhalt, der Geist und das Wesen des Christenthums.«62

Die von Spalding verwendeten biblischen Begriffe und dogmatischen Termini der kirchlichen Lehre werden mit einem neuen Inhalt gefüllt, der der Anthropologie der Aufklärung entstammt. Oder deutlicher gesagt: Die vernünftigen Thesen der Aufklärung, der sich der Autor ganz und gar akkommodiert hat, werden in biblische und kirchliche Begriffe gefasst und sollen so legitimiert werden.63 59 60 61 62 63

Ebd. 94 f. Ebd. 97 f. Alle Zitate ebd. 99 ff. Ebd. 101 f. Die Uminterpretation zentraler biblischer Begriffe und kirchlich-dogmatischer Lehrinhalte beschreibt Reinhard Krause folgendermaßen: »Die Kernstücke des reformatorischen Verständnisses vom ›ordo salutis‹ – Sündenvergebung, Rechtfertigung, Wiedergeburt und Heilsgewissheit – haben in dieser von ethischen und pädagogischen Voraussetzungen her bestimmten Auffassung keinen Raum und werden ersetzt oder uminterpretiert in die Begriffe ›Besserung‹, ›Ruhe‹, ›Richtigkeit der Gesinnungen‹ und vor allem in das von der stoischen Philosophie beeinflusste Wort ›Glückseligkeit‹. […] Dogmatisch gesehen, enthalten diese bedeutsamen Sätze Spaldings eine Pelagianisierung der Rechtfertigungslehre und eine Abhän-

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Neben dieser Umdeutung von Begriffen der Bibel und der kirchlichen Lehrtradition steht die kritische Sichtung der christlichen Dogmatik und der Bekenntnisschriften und ihre rigorose Reduktion für den Gebrauch auf der Kanzel. Auf die Kanzel gehört nur das, was der Glückseligkeit der Menschen dient, was sie zu tugendhaften Gesinnungen und einem entsprechenden Leben anleitet. Da das Gemüt der Menschen einen größeren Einfluss auf ihr Handeln hat als der Verstand, muss mit ausgewählten Glaubenslehren das Gemüt angesprochen und gelenkt werden. »Unfruchtbare speculativische Lehrmeinungen« sind auszuscheiden, vor allem dogmatische Unterscheidungen, die konfessionsspezifisch sind.64 Als Beispiele von biblischen Inhalten, die für die Predigt nicht in Frage kommen, nennt Spalding apokalyptische Texte und Weissagungen und deren künftige Erfüllung. Es sind Texte, die Gottfried Menken besonders wichtig sind. Spalding legt hier Wert auf die Unterscheidung zwischen dem Ausleger der Bibel und dem Religionslehrer. Der Prediger ist Religionslehrer, und der »hauptsächliche Zweck der Religion« ist das Dringen auf Besserung und Gottseligkeit und nicht die Auslegung der Bibel und nicht die Behandlung der kirchlichen Dogmatik.65 Konkret heißt das nun: Das Reden von drei Personen in einem göttlichen Wesen, von zwei Naturen, die zu einer Person vereint sind, ist unverständliche Spekulation. »Arme Zuhörer, die, statt einer gebesserten Gesinnung, mit einem verwirrten Kopfe nach Hause geschickt werden!«66 Die Erlösung ist im Neuen Testament einfacher ausgedrückt als in der Satisfaktionslehre. Es genügt, wenn dem Einzelnen die Vergebung durch Christus zugesprochen wird. Es ist zu unterscheiden zwischen der »Befriedigung des Verstandes«, die eher einer Belästigung gleichkommt, und dem Einfluss auf das Gemüt. Erst mit dem Einfluss aufs Gemüt wird etwas »ein wesentliches Stück des Glaubens und des Christenthum«.67 Es gibt Lehrstücke, die mit besonderer Sorgfalt behandelt werden müssen, da sie eventuell zu Hindernissen auf dem Weg der Tugend zur Gottseligkeit werden können. Dazu gehören »die Lehre von der gottseligmachenden Kraft des Glaubens ohne Werke und von dem angeborenen Verderben«. Unter den Werken des Gesetzes sind nur die jüdischen Gesetzeswerke zu verstehen. Die sind abgetan, aber nicht »Gesinnungen und Handlungen der moralischen Rechtschaffenheit«.68

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gigmachung des Heils und der Heilsgewissheit von dem Grad der Besserung des Menschen.« Krause, Die Predigt der späten deutschen Aufklärung, 22 f. Spalding, Nutzbarkeit, 109. Die Unterscheidung von Religion und Theologie und die Zurückstellung der Theologie ist ein wichtiges Anliegen der Neologie, die Spalding als ihr Vertreter übernimmt. Vgl. Hirsch, Geschichte, Bd. IV, 53 f. Spalding, Nutzbarkeit, 126 f. Ebd. 143. Ebd. 154.

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Predigen im Horizont der Aufklärung

An die Stelle der reformatorischen Rechtfertigungsbotschaft tritt bei Spalding in voller Überzeugung eine neue Werkgerechtigkeit: »Das Maß der Güte, der Treue, der Redlichkeit in der Gesinnung des Menschen ist das Maß des göttlichen Wohlgefallens an ihm. So muss ich von Gott denken, oder es müßten sich erst alle meine Vorstellungen von seiner Allwissenheit, Wahrheit und Heiligkeit verwirren.«69

Rigoroser noch wird die Lehre vom angeborenen Verderben als Predigtthema zurückgewiesen. Diese Lehre sollte von den Kanzeln und Katechismuslehren entfernt werden, denn darin ist »kein begreiflicher Nutzen für das, was wirklich Religion ist«.70 Spalding weiß natürlich, dass die Lehre von der Erbsünde ein wichtiger Locus der orthodoxen Dogmatik ist. Wenn es dabei um die Demütigung des Menschen gehe, dann bestehe aber doch der Unterschied zwischen einer »Demütigung wegen Schuld« und einer »Demütigung wegen unverschuldeter Unvollkommenheit«: »So wenig es im eigentlichen Verstande eine Traurigkeit der Reue bey uns verursachen kann, daß wir so leiblich schwach geboren werden, da hiebey auf keinerlei Weise etwas in unserer Gewalt gewesen, eben so wenig kann irgend ein Mensch durch Wahrheit und richtige Vorstellungen dahin gebracht werden, sich wegen eigentlich angeborener und also unverschuldeter, moralischer Unvollkommenheit strafwürdig zu halten und eine wirkliche reuige Traurigkeit darüber zu empfinden.«71

Die Kehrseite der Lehre von der Erbsünde ist die These »von dem angeborenen gänzlichen Unvermögen zum Guten«. Sie sei ebenso abzulehnen, denn sie führe zur Passivität. Die praktischen Forderungen Spaldings betreffen vor allem die Sprache der Predigt und das sozialtethische Engagement der Pfarrer. Die Sprache der Predigt muss verständlich sein. Die Prediger sollen so reden, »wie es für den gemeinen Menschenverstand fasslich ist«.72 Keine gewollt schöne Sprache! Die 69 Ebd. 164 f. Spalding lehnt auch den Begriff der Rechtfertigung in der Predigt ab, da er nicht mehr verstanden werde. Ähnlich hat Immanuel Kant mit der Unterscheidung eines »guten Dieners« von einem »Favoriten« eine billige Gnade abgelehnt, die nicht zu einem tugendhaften Leben führt: »Der Mensch wendet sich gewöhnlicherweise unter allen göttlichen moralischen Eigenschaften, der Heiligkeit, der Gnade und der Gerechtigkeit, unmittelbar an die zweite, um so die abschreckende Bedingung, den Forderungen der ersteren gemäß zu sein, zu umgehen. Es ist mühsam, ein guter Diener zu sein, (man hört da immer nur von Pflichten sprechen); er möchte daher lieber ein Favorit sein, wo ihm vieles nachgesehen oder, wenn ja zu gröblich gegen Pflicht verstoßen worden, alles durch Vermittlung irgendeines im höchsten Grade Begünstigten wiederum gut gemacht wird, indessen daß er immer der lose Knecht bleibt, der er war.« Kant, Die Religion, 227. 70 Spalding, Nutzbarkeit, 170. 71 Ebd. 175. 72 Ebd. 234.

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gewünschte Reaktion beim Hörer sollte sein: Wie wahr ist das! Und nicht: Wie schön ist das gesagt! Großen Nachdruck erhält die sozialethische Aufgabe der Predigt. Das folgende Zitat zeigt an diesem Punkt die Nähe der Aufklärung zum Pietismus: »Wenn indessen unser Amt und Geschäft nicht bey dem allen noch immer einen großen Theil seiner Nutzbarkeit verlieren soll, so ist es nöthig, daß wir mit unserem Unterricht die Religion auch zu einer Führerin des wirklichen gewöhnlichen Lebens machen, daß wir sie gleichsam in die Häuser, in den Umgang, in das tägliche Gewerbe der Menschen herabbringen und diese lehren, ihr Christenthum mit den Pflichten ihres Berufs und ihrer verschiedenen Verbindungen auf Erden zusammen zu knüpfen.«73

Voraussetzung für das alles ist, dass die Prediger selbst ein Vorbild sind. Die eigene Besserung kommt zuerst. Erst dann kann man andere belehren und bessern wollen. In folgenden Punkten kann die neologische Homiletik Spaldings zusammengefasst werden: • Das Predigtamt ist keine selbstverständliche Institution mehr in einer christlichen Gesellschaft, das sich auf göttliches Recht berufen kann. Es steht theologisch ungeschützt im Raum und muss seinen Nutzen erst noch beweisen. • Zielsetzung der Predigt ist die Lehre der Sittlichkeit und Moral, denn tugendhaftes Verhalten führt zur Glückseligkeit des Menschen im irdischen Leben und zum Wohlgefallen Gottes, zum seligen Leben in der Ewigkeit. • Der Prediger ist Volkslehrer und Aufklärer, der den Zusammenhang von Tugend und Glückseligkeit schon in der natürlichen Religion findet. Sein Auftrag ist die Besserung der Gemeinde. Die Predigt wird zur Moralpredigt und bekommt einen gesetzlichen Charakter. • In seiner aufklärerischen Funktion ist der Prediger auch der Gesellschaft und dem Staat von großem Nutzen und hat seinen Lohn verdient. Sein Einsatz für Tugend und Moral fördert den Zusammenhalt der Menschen, mindert die Kriminalität und schafft Respekt und Gehorsam gegenüber der Obrigkeit.74

73 Ebd. 237. 74 Schott beschreibt die Neuorientierung des Predigtamtes so: »Die Folge ist, dass sie [die Predigt, H.M.R.] nun auch theologisch ungeschützt im Raum steht und sich einerseits die Prediger selbst auch von daher zu fragen beginnen, wozu sie eigentlich (noch) da sind und ob und wie sie sich und ihren Zeitgenossen den Sinn einer Weiterführung ihrer Predigttätigkeit überhaupt noch einsichtig machen können, aber andererseits nun auch ihre Patronatsherren (Adel, Fürsten, Magistrate) immer ungenierter das gleichsam herrenlos gewordene Predigtamt für ihre rein diesseitig-politische Machtausübung reklamieren. Die Prediger werden zu Staats- und Patronatsbeamten degradiert, sehr weitgehend schlecht besoldet und ihnen so rechtlich und wirtschaftlich die Lust zum freien Wort in einer freimütigen Verkündigung genommen. Die Predigt

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Predigen im Horizont der Aufklärung

• Die Bindung der Predigt an einen biblischen Text wird gelockert oder ganz eingestellt. In Spaldings Homiletik spielt sie keine Rolle.75 Die Aufgabe der Textbindung war möglich durch die Lockerung und die Aufhebung des kirchlichen Perikopenzwanges. Der tiefere Grund bestand natürlich in der Inakzeptanz der Bibel als Offenbarungszeugnis und der Hinwendung zu den Vernunftwahrheiten der natürlichen Religion. • Die kirchliche Dogmatik wird einem rigorosen Test auf ihre Brauchbarkeit für die Predigt und ihre ethisch-praktischen Ziele unterzogen mit dem Ergebnis ihrer Zurückweisung bzw. ihrer neuen Interpretation im aufklärerischen Geist. Grundsätzlich gehört Theologie in die Studierstuben und nur Religion auf die Kanzel. Eindrucksvoll ist Spaldings Bemühen um die Sprache der Predigt. Die biblischen Begriffe und die Termini der kirchlichen Lehrtradition werden vom Volk nicht mehr verstanden. Sie müssen übersetzt werden in die Sprache der Gegenwart. Die Predigt soll klar und verständlich sein.76 • Hervorzuheben ist schließlich die sozialethische Intention der Spaldingschen Homiletik. Es geht in der Predigt um eine praktische Frömmigkeit, in die das bürgerliche, häusliche und staatliche Leben einbezogen wird. Für das sozialethische Wirken von Pfarrern in der Aufklärung gibt es eindrucksvolle Beispiele.77 Menken erwähnt Spalding nicht. Die Darstellung der Homiletik der Neologie soll nicht nur der negative Kontrast zur positiven Position Menkens sein. Die verliert ihre Eigenständigkeit und ihre öffentliche Relevanz.« Schott, Predigtgeschichte, 103. Hervorhebung H.M.R. 75 Spalding zitiert nur Bibelstellen, die für die natürliche Religion reklamiert werden können. Die Pfarrer werden nicht zum Studium der biblischen Sprachen angehalten und zum intensiven Schriftstudium, wie es der respektablen Kultur der philologia sacra früherer Zeiten entspricht. Ihnen wird die Literatur der Aufklärung zum Studium empfohlen. Wenn der Predigt in traditioneller Weise ein biblischer Text vorangestellt wird, so wird er oft nur als Motto behandelt. Im Grunde geht es nur darum, einen Anknüpfungspunkt zu finden für die eigenen aufklärerischen Gedanken. Predigten ohne biblische Texte kommen in Mode. Als Beispiele seien genannt die Predigten über Naturtexte, die der reformierte Prediger und Professor Johann Ludwig Ewald (1747–1822) ab 1789 herausgab, und die Predigten über die Merkwürdigkeiten des 18. Jahrhunderts, die Johann Jakob Stolz (1753–1828) 1801 und 1802 veröffentlichte. 76 Auch anderen Theologen der Aufklärung ist dies ein wichtiges Anliegen. Die Übersetzung der alten Begriffe hat allerdings ihre Tücken. Das zeigt das seit 1772 von W.A. Teller herausgegebene Wörterbuch des Neuen Testaments zur Erklärung der christlichen Lehre. Einen anderen bekehren heißt nun: »ihn zu rechtschaffenen, gottgefälligen Gesinnungen zurückzubringen«. Sich bekehren heißt: »sich bessern«. Versöhnung ist: »Vereinigung der Juden mit andern Völkern, und also der Menschen untereinander zu einer Religion«. »Fleischlich« wird vor allem als »sinnlich« interpretiert. Krause sagt dazu: »Diese Beispiele zeigen deutlich, wie die Bibel als Nachschlagebuch vernünftiger Grundwahrheiten zur Beförderung von Rechtschaffenheit und Tugend verstanden und nach diesen Richtlinien exegesiert und verdolmetscht wird.« Krause, Die Predigt der späten deutschen Aufklärung, 46 f. 77 Ein besonders schönes Beispiel ist das Wirken des Pfarrers Jean Fr d ric Oberlin (1740–1826) im elsässischen Steintal.

Aspekte der prinzipiellen Homiletik bei Gottfried Menken

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Homiletik der Aufklärung enthält zukunftsweisende Aspekte, die für die heutige Arbeit an der Predigt wesentlich und unabdingbar sind. Dazu gehören das entschlossene Ernstnehmen des Hörers und der Hörerin und ihrer Lebenswirklichkeit und das Bemühen um die Sprache der Predigt. Gottfried Menken ist in mancher Beziehung vom Geist der Zeit und dem Denken der Aufklärung nicht so weit entfernt, wie er meinte. Seine homiletischen Ansichten aber sind aufs Ganze gesehen eine beachtliche und mutige Gegenposition, die Wirkung zeigte und mit dazu beitrug, dass es nach dem Tiefstand der protestantischen Predigt während der Aufklärung zu ihrer Erneuerung im 19. Jahrhundert kam.

5.2.3 Das Verständnis des Predigtamtes bei Gottfried Menken Mit seiner Wahl 1794 zum Adjunkt der deutsch-reformierten Gemeinde in Frankfurt wurde die kirchliche Ordination zum Pfarramt für Menken verpflichtend. Sie fand statt vor dem zuständigen Consistorium am 14. August 1794 in Hanau und war für Menken mehr als eine notwendige Zeremonie zur Erlangung eines Pfarramtes. Menken schreibt darüber an seinen Bruder Johann Hinrich: »Das war ein froher, heller Tag in meinem Leben, demüthigend wie keiner und ehrenvoll wie keiner. Wenn man mir die Krone eines Fürstenthums vor dem Altar auf mein Haupt gesetzt hätte, so hätte ich mich nicht den tausendsten Theil so geehrt gefühlt, als ich mich geehrt fühlte, ein Prediger des verachteten Evangeliums, ein Diener und Zeuge zu sein von dem gekreuzigten Jesus von Nazareth, dem König der Könige.«78

Menken drückt in diesen überschwänglichen Sätzen die große Würde des Pfarramtes aus, die er angesichts seiner Unwürdigkeit auch als demütigend empfindet, und zugleich seine schwere Bürde: Der Prediger ist Bote einer geringgeschätzten, ja verachteten Botschaft. Menken war sich dieser Ambivalenz bewusst, hat sie persönlich erfahren und erlitten. Und er hat versucht, sie theologisch zu verarbeiten. Sein Verständnis des Pfarramtes fasst er im VII. Kapitel seiner Anleitung, das den Titel Wie der Mensch an der göttlichen Anstalt Antheil erlange und dadurch selig und herrlich werde trägt, zusammen: Das Predigtamt ist eine der »drei Stiftungen (Institute, Anstalten), die von Ihm, dem Herrn selbst, ein78 Zitiert von Gildemeister, Leben und Wirken I, 107. Menken berichtet in ähnlichen Worten von dieser Ordination in einem Brief an seinen Freund H.N. Achelis und fügt hinzu: »Was sollten und könnten solche Handlungen sein, wenn wir mehr Leben des Geistes hätten! Aber man muss sich durch das Geistlose anderer Menschen nicht hindern lassen, nur auf die Sache zu sehen, sich die Sache ernst und heilig sein lassen, dann geht es doch nicht ganz leer ab.« Menken, Briefe, 41.

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gesetzt sind, nämlich das Predigtamt, die Taufe und das Abendmahl«.79 Die Aufgabe des Pfarrers ist die Verkündigung Jesu Christi »als des einzigen Mittlers zwischen Gott und den Menschen, als des einzigen Helfers und Heilandes der Menschen«.80 Die Verkündigung des Predigers will Menschen zum Glauben an Jesus Christus bringen. Dazu ist es nötig, »dass Kunde, Nachricht und Kenntnis von ihm zu den Menschen käme, da sie diese Kunde und Kenntnis, wie alles, was Thatsache und Geschichte ist, durch blossen Vernunftgebrauch und durch Spekulation nicht erhalten konnten«.81 Menken betont, dass das Predigtamt keine menschliche Erfindung und Einrichtung ist und auch nicht sein kann: »Das öffentliche Zeugnis von der Auferstehung des Gekreuzigten, Jesus von Nazareth, war mit solchen Schwierigkeiten verknüpft, und es war nach menschlicher Ansicht so unmöglich, die Welt zum Glauben an dies Zeugnis zu bewegen, daß Menschen es nicht darauf anlegen, ja wohl nicht einmal zu dem Gedanken kommen konnten, und wenn sie auch dazu kamen, doch alsobald die Unmöglichkeit der Sache gewahr werden mußten.«82

Das Zeugnis von Jesus Christus ist ein doppeltes: »ein urkundlich-schriftliches und ein mündliches«, »das ganze geschriebene Wort Gottes in der heiligen Schrift« und »das Zeugnis der christlichen Prediger und der Christen überhaupt«. Beide Formen des Zeugnisses stehen in einer klaren Zuordnung: »Das Zeugnis von Jesus Christus ist ein ursprünglich göttliches und ein menschliches; das erste ist die Quelle des letzten. Das letzte gilt nur in dem Maße, wie es sich auf das erste gründet, aus dem ersten hervorgeht, damit übereinstimmt und darauf zurückführt.«83 Den Zustand des Predigtamtes in seiner Zeit beschreibt Menken als weitgehenden Verfall: »Das Predigtamt, das von Jesus Christus gestiftet ist […], wird jetzt größtentheils gegen Jesus Christus gebraucht; mehr dazu gebraucht, die Menschen von Ihm ab, als sie zu Ihm hinzuführen; mehr, Seinen Namen in Vergessenheit zu bringen, als Seinen Namen zu verkündigen. Man braucht es zu ganz fremden Dingen, die an sich in ihrem Maße gut sein mögen, aber mit dem Christenthum nichts zu tun haben – Moral, Philosophie, Politik usw. zu lehren. Das ist ein Betrug; und solche Prediger sind, wie sich von selbst versteht, keine christlichen Prediger. Doch ist noch immer ein christliches Predigtamt in der Welt, das, wie es von Christus zur Verkündigung Christi gestiftet ist, auch zu diesem Zweck wirkt.«84 79 80 81 82 83 84

Menken, Schriften VI, 209. Ebd. Dies und die folgenden Zitate ebd. 209. Ebd. Ebd. 210. Ebd. 210 f. Die Zweckentfremdung des Predigtamtes in seiner Zeit, seine Usurpation durch den

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Menkens Verständnis des Predigtamtes steht in der Tradition reformatorischer und altprotestantischer Lehre. Die Confessio Augustana behandelt in ihrem ersten Teil Artikel des Glaubens und der Lehre. Nach den Artikeln Von Gott, Über die Erbsünde, Vom Sohn Gottes und Über die Rechtfertigung wird in Artikel 5 über das Predigtamt gelehrt: »Damit wir zu diesem Glauben kommen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, das Evangelium und die Sakramente gegeben. Durch diese Mittel gibt Gott den Heiligen Geist, der bei denen, die das Evangelium hören, den Glauben schafft, wo und wann er will. Das Evangelium lehrt, daß wir durch Christi Verdienst und nicht durch unsere Verdienste einen gnädigen Gott haben, wenn wir dieses glauben.«85

Das Zweite Helvetische Bekenntnis von 1566 als Beispiel aus der reformierten Tradition behandelt gleich im ersten Abschnitt die Lehre von der Heiligen Schrift und in diesem Zusammenhang die Predigt. Dabei wird erklärt: »Die Predigt des Wortes Gottes ist Wort Gottes.«86 Menken unterscheidet sich aber von der reformatorischen Tradition durch die von ihm geforderte ausschließliche Bindung der Predigt an einen biblischen Text oder, um Barths Begriff aufzunehmen, durch seinen materialen Biblizismus. Das reformatorische Schriftprinzip bedeutete für Luther keine exklusive Bindung der Predigt an einen biblischen Text. Luther betonte mit dem Röm 10,17, dass der Glaube aus der Verkündigung kommt, aus dem Hören des Wortes Gottes. In einer Predigt über 1Petr 1f (1523) versteht er das Evangevon der Aufklärung bestimmten Zeitgeist beklagt Menken auch in einer Predigt, die er in Vertretung für einen Kollegen am Sonntag nach Ostern 1805 in der Kirche Unser Lieben Frauen hielt. Die Predigt erregte Aufsehen und Widerspruch. Nach Gildemeister war sie »ein dem herrschenden Zeitgeist kühn hingeworfener Fehdehandschuh«. Leben und Wirken II, 11. Die Beschreibung des Zustandes des Predigtamtes in Menkens Zeit lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: »Es wird jetzt im Allgemeinen alles im Ueberfluss gepredigt, nur das nicht, nur das am allerwenigsten, was einzig und allein gepredigt werden sollte: Der Name des Herrn und seine Herrlichkeit und seine Liebe und sein Wort. Man scheint nunmehr auch mit all dem Willkürlichen ziemlich zu Ende gekommen zu sein, nachdem man über die ganze Moral, und alle Vierteljahr über die neueste Philosophie gepredigt hat, ist es bis zu Zeitungsartikeln heruntergekommen, und wird, wenn es so fortfährt, auch noch wohl zu wöchentlichen Nachrichten kommen. Möchte es auch noch dahin, und so weit wie möglich herabkommen, daß dieser arge Mißbrauch und diese überschwängliche Thorheit, das Erhabendste, das Erfreuendste, das Gehaltreichste gegen das Allergeringfügigste zu vertauschen, den Menschen endlich fühlbar gemacht und das dem Christenthum einzig gehörende, dem Christenthum entwendete Predigtamt, dem Christenthum wieder zurückgegeben würde!« Menken, Schriften IV, 281. 85 Das Augsburger Bekenntnis Deutsch, 41980, 25 (Art. 5). 86 Jacobs, Reformierte Bekenntnisschriften, 178. Ähnliche Äußerungen gibt es auch bei Martin Luther. Extrem und bedenklich sind Luthers Äußerungen in der Schrift Wider Hans Worst (1541): »Denn ein Prediger muss nicht das Vater Unser beten, noch Vergebung der Sünden suchen, wenn er gepredigt hat, (wo er ein rechter Prediger ist) […]. Denn es ist Gottes und nicht mein Wort.« WA 51,516,5–16.

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lium vor allem als »Predigt und Geschrei von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes«: »Evangelium aber heißt nichts anderes, denn eine Predigt von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes […] und ist eigentlich nicht das, das in Büchern steht und in Buchstaben verfaßt ist, sondern mehr eine mündliche Predigt und lebendiges Wort und eine Stimme, die da in die ganze Welt erschallt und öffentlich wird, daß man’s überall hört.«87

Neben Predigten über biblische Texte, hat Luther auch freie Predigten gehalten. Ein berühmtes Beispiel sind seine acht Invokavit-Predigten aus dem Jahr 1522 in Wittenberg. Wie kann man als Prediger mit solch einem theologischen Selbstverständnis im Zeitalter der Aufklärung bestehen, in dem die Nutzbarkeit des Predigtamtes in Frage gestellt ist, und der Nutzen dieses Amtes in der Lehre von Tugend und Sittlichkeit liegen soll, die den Menschen zur Glückseligkeit führen und die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zu Moralität und Gehorsam? 5.2.4 Die angefochtene Existenz des Predigers im Kampf gegen die Aufklärung – Menkens Briefe an den Freund Henrich Nicolaus Achelis Als Menken 1791 zur Feier seines eben überstandenen glänzenden Examens auch den Freund und Landsmann Henrich Nicolaus Achelis88 einlädt, ist dies der Beginn einer freundschaftlich-brüderlichen Beziehung, die in einem jahrelangen Briefwechsel und auch in persönlichen Begegnungen gepflegt wurde. Der Briefwechsel der beiden Theologen dauerte von 1791 bis zur Wahl Menkens im Jahr 1801 als Pfarrer an der Kirche St. Pauli in Bremen. Er ist ein eindrucksvolles Zeugnis theologischer Existenz am Ende des 18. Jahrhunderts, des Ringens um den eigenen Weg in einer schwierigen Zeit politischer Umwälzungen und Bedrängnisse, in der die Aufklärung in ihrer Spätphase als Rationalismus die Neologie ablöste. Er ist ein schönes Beispiel des mutuum 87 Luther, WA 12,259,8–13. 88 Henrich Nicolaus Achelis (1764–1834) stammte aus Bremen und war nach dem Theologiestudium von 1787 bis 1790 Hauslehrer in Zürich. Dort kam er in eine enge Verbindung u.a. mit Johann Caspar Lavater. 1791 wurde er Hilfsprediger in Uedem bei Cleve. Auf dieser Stelle löste ihn Menken 1793 als Vikar ab. Achelis übernahm danach die Hauslehrerstelle beim Grafen von der Lippe zu Cleve. Von 1795 bis 1801 wirkte er als Pastor in der reformierten Gemeinde in Göttingen und von 1801 bis 1829 in Arsten bei Bremen. Seine Amtszeit in Bremen ist also fast mit der von Menken identisch. Als bedeutender Nachfahre von Henrich Nicolaus Achelis verdient ein Grossneffe Erwähnung: Ernst Christian Achelis (1838–1912). Dieser war seit 1882 Professor für Praktische Theologie an der Universität in Marburg, wo er bis zu seinem Tod lebte. Er hat sich in seinem Fach sehr verdient gemacht durch sein Lehrbuch der praktischen Theologie, das 1890/91 in erster Auflage erschien und 1912 bereits in der sechsten Auflage.

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colloquium und der mutua consolatio fratrum89, die Luther in den Schmalkaldischen Artikeln als eins der Mittel Gottes nennt, durch das wir seine Gnade erfahren können.90 Leider sind die Briefe von Achelis verloren gegangen. Gildemeister hat die Briefe Menkens 1859 veröffentlicht, aber die Briefe Achelis’ weggelassen, vermutlich weil er die Stimme Menkens für bedeutender hielt als die Stimme seines Freundes Achelis. Die Korrespondenz der beiden Pfarrer war aber ein mutuum colloquium, und die erhaltenen Briefe Menkens sind so nur noch ein halbes Zeugnis eines theologischen Austausches und einer Seelsorge, deren Pfarrer (und Pfarrerinnen) bedürfen und die im Gespräch auf Augenhöhe unter ihresgleichen stattfinden kann.91 Menkens Briefe zeigen einen jungen Theologen, der sich ständig in Konfrontation sieht mit Theologie und Predigt der Aufklärung, der unter dem Zeitgeist leidet und die Überzeugung gewinnt: Es ist der Geist der absoluten Gottlosigkeit, mit dem sich die Endzeit ankündigt. Man möchte vor ihm fliehen wie Jona vor Ninive und kann es doch nicht: »Dieser Geist des Zeitalters! – o, das ist furchtbar, bis zum Erliegen und Verzagen furchtbar, daß man sich aufmachen und davon laufen möchte, wie Jona nach Ninive. – Wie soll man Furcht Gottes in die Menschen hineinpredigen, wenn Gottlosigkeit das allgemeine Sinnen ist?«92 […] »Übrigens, mein Lieber, wir mögen sein, wo wir wollen – wo wir sind, da ist die Hölle auch. Lasst uns pamopk_am toO HeoO (Col. 2.8) anlegen, sonst ist kein Bestehen. Der ist taub an Leib und Seele, dem jetzt nimmer ein ernstes Sursum Corda! In Ohr und Seele tönt. – – Wahrhaftig ja, uns muss schwarz vor den Augen werden, wenn wir nur auf das sehen, was jetzt in der Welt geschieht. Und – es ist erst der Noth Anfang; aber nun geht’s auch der Vollendung zu. Ich denke, die Hölle hat mit allen diesen Dingen nur sondiert, ob nicht jetzt etwas Grosses, Entscheidendes gegen das Reich Gottes zu unternehmen und auszuführen sei. […] Die Menschheit, die sich schon eine Zeitlang Gottes entwöhnt hat, fängt jetzt an, sich laut und frech von allem Gott los zu sagen. […] Der Geist des Zeitalters hat eine Macht, der ohne Gott nicht mehr zu widerstehen ist. […] Und wie jetzt die ganze Welt schreiet: Gott ist mit den Franzosen! so wird die Erde dem Thiere nachfolgen und die Gräuel des Teufels für Thaten Gottes halten.«93 89 Heute wäre bei mutua solatio fratrum zu ergänzen et sororum! 90 »Wir wollen nu wieder zum Evangelio kommen, welchs gibt nicht nur auf einerlei Weise Rat und Hulf wider die Sunde; denn Gott ist reich in seiner Gnade: erstlich durchs mundlich Wort, darin gepredigt wird Vergebung der Sunde in alle Welt, welchs ist das eigentliche Ampt des Evangelii, zum andern durch die Taufe, zum dritten durchs heilig Sakrament des Altars, zum vierden durch die Kraft der Schlussel und auch per mutuum colloquium et consolatium fratrum, Matth. 18: Ubi duo fuerint congregati etc.“ Die Schmalkaldischen Artikel, 449. 91 Vgl. zur Rezeption der Lutherschen Formel in der Seelsorgelehre und in der Systematischen Theologie (u. a. bei Karl Barth): Frettlöh, »Mutuum colloquium«, 13–33. 92 Menken, Briefe, 39. 93 Ebd. 46–48.

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Predigen im Horizont der Aufklärung

Die Freunde verfolgen das Wirken der namhaften, tonangebenden Theologen und Philosophen ihrer Zeit und kritisieren, dass sie sich weitgehend dem Zeitgeist akkommodiert haben: »Wie haben Lavater, Pfenninger, Häfeli, Stolz, Ewald, Jung – – – diesem Satan geräuchert!«94 […] »Ich erhalte von einem vornehmen Mann die Jenaer A. L. Z. Da finde ich Manches, worüber ich mich wundre und erschrecke. – Laß diese Grundsätze in Rücksicht der Bibel nur erst allgemein durch populäre Schriften (Stolz’ische Erläuterungen zum N.T. und dergleichen!!) unter das Volk kommen; laß die Idole: Humanität und Moral, nur erst in allen Schulen und Kirchen und Haushaltungen aufgestellt sein, und wir werden andere Dinge erleben.«95

Herders Schriften, die Menken genau studiert und die ihn zunehmend enttäuschen, sind »ein Judaskuß auf der Wahrheit Mund«.96 Mit seinem Lehrer Collenbusch teilt Menken die entschiedene Ablehnung der Kantischen Philosophie.97 Er liest Fichtes Appellation über die Beschuldigung des Atheismus und beschreibt dem Freund seinen Eindruck von dieser Lektüre: »Wirklich, mir ist beim Lesen dieser Schrift bei einigen Stellen nicht anders gewesen, als hörte ich Sololoquia des Satans, wenn er in der untersten, finstersten Tiefe des Abgrunds sich unendlich unselig fühlt und aus Trotz gegen Gott auf alle Seligkeit resigniert, die Zähne zusammen beißt und läugnet, dass es im ganzen Universo Seligkeit gebe, und dann wieder sich vordemonstrirt, er allein sei selig, denn er allein sei unabhängig von Gott. – Und das sind die Dinge, die jetzt die ganze Welt bewundert.«98

Ein Predigtamt, das im Kampf gegen den Zeitgeist der Aufklärung geführt wird, ist belastet und gefährdet und trostbedürftig. Es bedarf einer biblisch begründeten Glaubensüberzeugung, um standzuhalten und nicht abzufallen.99 Menken berichtet Achelis, dass einmal nach einer Predigt ein »vor94 95 96 97

Ebd. 48. Ebd. 71. Ebd. 73. »In Deutschland betet man noch keine Hure, aber doch einen Philosophen an. Man hat die Bibel noch nicht wie in Frankreich verbrennen lassen, aber man treibt ein fürchterliches Spiel damit. Mit Verwunderung (obgleich ich’ s längst erwartet hatte) habe ich […] gesehen, wie Kant’s antichristliche, philosophische Religionslehre schon gewurzelt hat! Wie man sich sonst auf das Wort Gottes beruft, so beruft man sich jetzt auf dieses Menschen Wort.« Menken, Briefe, 47 f. 98 Ebd. 113. 99 Als 1797 Johann Heinrich Dreyer, ein Cousin Menkens vorhat, Pfarrer zu werden, und sich um Rat an Menken wendet, rät ihm Menken von diesem Berufsziel ab und schildert ihm eindrücklich die Gefährdung eines Predigers, der die Aufklärung ablehnt und die Versuchung der Anpassung an den Geist der Zeit: »Du willst Prediger werden; – meinst Du etwa, ein Prediger sein, sei Lust und Freude? Ich sage Dir, es ist eine Last, und es ist eine Qual. Ich bin es nicht, wie man es sein soll, und wie Du werden mußt, wenn Du es je werden willst; aber das erkenne ich, wenn ich es ganz wäre, so wäre mein tägliches Leben das Leben eines Märtyrers.« Der Brief vom

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nehmer Mann« zu ihm kam und ihm wegen seines Predigens ernste Vorwürfe machte: »Man sei höchst unwillig darüber, dass ich fast alle Sonntage vor Unglauben warne und gegen Aufklärung und Geist der Zeit rede und dergl.; ich würde bald eine ganz leere Kirche haben.«100 Wie man Lavater »insinuiert habe«, er solle bei der Moral bleiben, werde es ihm hier (in Wetzlar) »auch immer deutlicher und derber insinuiert«, »aber Gott Lob! nur von solchen, die mir nichts zu befehlen haben, und ich halte es für meine Pflicht, geradezu gegen die Moral zu predigen und davor zu warnen, und immer deutlicher zu zeigen, dass Moral und Christenthum zwei verschiedene Dinge sind«.101 Als sich Menken 1798 zum ersten Mal entschließt, von ihm gehaltene Predigten zu publizieren, vermutet er, dass »die Unmoralität dieser Homilien, die gänzliche Heterogenität der Sprache, der Begriffe, der Ansichten, der Gesinnungen, die darin herrschet, von denen der Welt«102 der Welt ein Ärgernis sein werde. Aber er wolle das mit Ruhe erwarten und unter Gottes Trost und Hilfe mit Ruhe schweigend ertragen. Zu den Problemen eines Pfarrers, der sich mehr oder weniger als Einzelkämpfer gegen die Übermacht der Aufklärung auf verlorenem Posten sieht, kommen die Nöte und Gefahren durch das politische Geschehen der Zeit hinzu. In Wetzlar teilt Menken die Leiden der Bevölkerung durch die Truppen der Franzosen, die nach der Französischen Revolution in den Westen Deutschlands einfallen. In der Kirche ist kein Gottesdienst mehr möglich, denn sie wird zur Bäckerei umfunktioniert. Im Pfarrhaus hat Menken Einquartierung und muss um seine Schwester fürchten, die ihm den Haushalt führt: »Ich hatte einen Adjudanten des Generals Jourdain mit vier Husaren und sechs Pferden in Quartier, schreckliche Menschen! Keine Furcht Gottes vor ihren Augen. Die Noth hier in der Stadt, die sie durch die ungeheuersten Requisitionen aussogen, wurde täglich größer. Vor meiner Studierstube sah ich ein großes, herrliches Dorf, das auf Befehl eines Generals mit kaltem Blut angesteckt wurde, zwei Tage lang brennen. Weiber und Töchter auf allen Dörfern wurden geschändet […] und Alles, ohne Ausnahme Alles, genommen oder verderbt. […] O Lieber [Achelis, H.M.R.], ich glaube, Du bist noch nie unter den Gottlosen gewesen. Das ist ganz schrecklich, unter den Gottlosen sein zu müssen. […] Das Schlimmste ist aber, dass sie auch meinen 2. Jan. 1797 an Dreyer ist abgedruckt in: Gildemeister, Leben und Wirken I, 173 f. Dreyer ist trotz aller Bedenken Menkens Pfarrer geworden. 100 Menken, Briefe, 100. 101 Menken, Briefe, 106. Hervorhebung H.M.R. Menkens Beurteilung der Moralpredigt der Aufklärung als Grundschaden ist auch ein Ergebnis der predigtgeschichtlichen Untersuchung von Christian-Erdmann Schott. Schott stellt fest, dass »die Loslösung vom biblischen Christentum« in einem starkem Maße »gerade über die Ethik und die Ethisierung der Lebensanschauungen gegangen ist«. »Das hat die Entchristlichung dann bedeutend gefördert.« Schott, Predigtgeschichte, 100, Anm. 183. 102 Menken, Briefe, 102 (Hervorhebung H. M.R.).

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Predigen im Horizont der Aufklärung Garten vor dem Thore, wie alle Felder und Gärten, nachdem sie alles Wintergemüse herausgenommen hatten völlig verwüstet haben.«103

Menken betont, wie wichtig gerade in solchen Zeiten die Gemeinschaft der Gleichgesinnten ist: »Die Gemeinschaft der Heiligen ist etwas Köstliches.« Und er lässt den Freund Achelis in sein Herz schauen, lässt ihn teilhaben an seinen Zweifeln, Nöten, Ängsten, an seiner ganzen Menschlichkeit. Den geistlichen Kampf führt er nicht als stolzer Mensch, der es besser weiß als seine Zeitgenossen, sondern im Bewusstsein seiner geistlichen Armut und in Demut. In dieser Haltung weiß er sich seinem Herrn verbunden und möchte ihm auch im Leiden nachfolgen. Denn das Predigtamt ist in erster Linie diesem Herrn verpflichtet und nicht dem Beifall der Menschen: »So predigen wir denn nicht in der Menschen, sondern in Gottes Dienst und suchen als die Knechte Gottes nicht den Menschen zu gefallen, sondern Gott, der das Herz prüft. Will man es uns sauer machen, so wissen wir, daß man es unserm Herrn auch sauer gemacht hat; und wenn man uns schmäht, so wissen wir, daß auch Er die Schmach getragen hat. Die Schmach des Herrn soll mir lieber sein als alle Ehre der Welt und größerer Reichthum als alle Schätze Egypten‘s! […] Laß uns gedenken an den, der ein solches Widersprechen von den Sündern wider sich erduldet hat, daß wir nicht in unserm Muth matt werden und ablassen!«104

Es ist »die Ansicht des Christenthums nach 1. Cor. 1 u. 2«, in der der angefochtene Theologe und trostbedürftige Christ die notwendige Bestätigung seiner Überzeugung findet und eine »unaussprechliche Stärkung« und die er mit seinem Freund Achelis teilt: »Es gehört ein geöffnetes Auge dazu, um an ihr [der Anstalt Gottes, H. M.R.] Weisheit und Kraft und Herrlichkeit wahrzunehmen; das natürliche Auge siehet da keine Gestalt noch Schöne, keine Gestalt, die ihm gefallen könnte. Nein, man erblickt keinen strahlenden Heiligenschein um das Haupt der Heiligen auf Erden! Sie tragen eine Dornenkrone, und auch diese verbergen sie. […] Ja, Lieber, dieser himmlische Geist der Demuth, den die ganze Sache des Christenthums athmet, diese Demuth Gottes und Christi in der Herunterlassung zu den Menschen, dies stille, verborgene, heimliche Ausführen des großen Rathschlusses der Erlösung und Beseligung der Sünder, […] daß das ganze Christenthum aussieht (und gewissermassen so aussehen soll) als eine verlorene Sache, als ein Wahn und Traum; und sich doch dem einzelnen Menschen, der es vermag, sich dem Geist dieser Sache ohne Rückhalt ganz hinzugeben, als Anstalt Gottes voll Weisheit und Kraft, voll Liebe und Seligkeit aus der Höhe legitimiert und bewahrheitet – – kurz, die Ansicht des 103 Ebd. 65–67. 104 Ebd. 57.

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Christenthums nach 1. Cor. 1 u. 2 erfreut mich und stärkt mich in meiner Überzeugung unaussprechlich.«105

Im Verlauf seines Briefwechsels mit Achelis erfahren wir schließlich auch, dass Menken sich kritisch mit seiner eigenen pfarramtlichen Arbeit auseinandersetzt. Er bekennt offen seine Probleme im Unterricht, beklagt den Mangel eines geeigneten Lehrbuchs und versucht selbst, Abhilfe zu schaffen. In Wetzlar erkennt er sein Talent zum Predigen, und der Freund C.H.G. Hasenkamp ermutigt ihn zur Veröffentlichung eines Bandes seiner Predigten. Eigentlich hätte er »lieber und leichter« »etwas Polemisches« publiziert, »oder wenn auch nicht das, doch etwas Anderes, Nichtascetisches«. Sein Ziel aber bleibt sich gleich: »Meine Hauptabsicht ist doch vornehmlich nur das Bekenntniß, und dreist und bestimmt gegen den Geist des Zeitalters zu zeugen.«106 Obwohl er Talent hat und Freude zum Predigen, macht es ihm große Mühe. Die Treue zum Text bleibt die oberste homiletische Regel. Doch Menken bemüht sich auch um Verständlichkeit für die Hörerinnen und Hörer: »In der Art und Weise meiner Predigten habe ich noch nichts geändert, nur daß ich immer mehr einfältig zu predigen suche und mich der biblischen Wahrheit auf keinen Fall auch nicht in Worten schämen will. […] Es ist aber für uns vielfältige Menschen unbeschreiblich schwer, einfältig zu werden, auch besonders in Rücksicht des Predigens.«107

Und Menken weiß auch, dass die Wirkung der Predigt nicht zuletzt abhängt von der Person des Predigers: »Ich rechne übrigens bei meinem Predigen sehr viel auf das lebendige Wort, auf das Sagen, und auf das Dastehen eines Menschen, dem man ansieht, daß er von dem Worte durchdrungen ist, und der das als Wahrheit bezeuget.«108

Die ganze inhaltsreiche Sammlung der Briefe Menkens an Achelis ist nicht zuletzt ein eindrückliches Zeugnis der kritischen Reflexion des Predigers über sich selbst als einen der wichtigen Faktoren in der homiletischen »Dreiecksbeziehung« zwischen Text, Prediger und Gemeinde.

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Ebd. 78–80. Ebd. 104. Ebd. 99. Menken, Briefe, 76.

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Predigen im Horizont der Aufklärung

5.3 Die Predigttexte Gottfried Menkens und Vorüberlegungen zur Predigt-Analyse 5.3.1 Die Predigttexte Gottfried Menkens Menken hat – wie es der reformierten Tradition entsprach – seine Predigttexte frei gewählt. Natürlich hat er dabei Rücksicht genommen auf das Kirchenjahr und sich an die vom Bremer Senat als oberste kirchliche Behörde für besondere Tage vorgeschriebenen Texte gehalten.109 Welche Texte hat Menken für seine Predigten gewählt? Welches sind seine bevorzugten Texte? Welche Teile der Bibel werden vernachlässigt? C.H. Gildemeister hat eine chronologische Übersicht der von Menken gewählten Predigttexte nach den Eintragungen seiner Kalender erstellt. Ferner hat er Menkens Predigttexte nach der Reihenfolge der biblischen Bücher erfasst.110 Die chronologischen Angaben sind lückenhaft, da nicht alle Kalender Menkens vollständig vorhanden waren.111 Mit dieser Einschränkung lassen sich aber doch aus den Statistiken Gildemeisters aufschlussreiche Schlüsse ziehen: Es sind 806 Predigten erfasst (aber nicht komplett erhalten), davon 155 Predigten, also etwa ein Fünftel, mit alttestamentlichen Texten. Die gepredigten alttestamentlichen Texte verteilen sich auf das erste, zweite, vierte und fünfte Buch Mose (23), die beiden Samuelisbücher (4), die Bücher der Könige (28), das erste und zweite Chronikbuch (6), die Bücher Esra (3) und Hiob (1), den Psalter (44), die Sprüche Salomos (1), das Buch des Predigers Salomo (3). Prophetische Texte sind wie folgt vertreten: Jesaja (13), Jeremia (4), Hesekiel (2), Daniel (15), Joel (1), Amos, Micha (1) Haggai (2), Maleachi (3). Auffällig und charakteristisch ist die Bevorzugung von Texten aus den Geschichtsbüchern, des Psalters und dem apokalyptischen Danielbuch. Texte aus den Büchern der Weisheit treten ganz zurück. Sie waren die am meisten geschätzten Texte in der Homiletik der Aufklärung, während man mit den geschichtlichen, den apokalyptischen, aber auch den prophetischen Texten wenig oder gar nichts anfangen konnte. Bezüglich der neutestamentlichen Texte zeigt sich folgendes Bild: Menken 109 Menken schreibt in der Vorrede zur 1825 herausgegebenen Sammlung Predigten: »Nur wenn zur Feier besonderer Feste, z. B. der Säcularfeier der Reformation, Texte vorgeschrieben waren, habe ich mich, wie sich von selbst versteht, dieser Verordnung gefügt, und zwar aufrichtig, so dass ich dem Sinne der Vorschrift gemäss, diesen Festen angemessen über diese Texte zu predigen suchte. Und so auch in den Tagen der Feste, die die ganze Christenheit feiert, Weihnachten, Ostern, Pfingsten u.s.w., für diesmal also gewissermassen mehr auf das Fest als auf den Text gerichtet.« Menken, Schriften V, 118. 110 Beide Übersichten in Gildemeister, Leben und Wirken II, 250–271. 111 Menkens Zeit in Wetzlar ist gut erfasst, ebenfalls die Amtszeit an St. Martini in Bremen von 1811 bis zur Demission 1823. Aus der Zeit an St. Pauli in Bremen (1801–1810) ist nur das Jahr 1809 vollständig belegt.

Predigttexte Gottfried Menkens und Vorüberlegungen zur Predigt-Analyse 159

predigte fast über das ganze Matthäusevangelium. Ähnlich stark vertreten sind Texte aus dem Lukas- und Johannesevangelium. Das Markusevangelium tritt demgegenüber zurück. Auffallend ist die große Anzahl von Predigten über die Apostelgeschichte. Bei den neutestamentlichen Briefen ist die Vorliebe Menkens für den Philipperbrief und den ersten Brief an die Thessalonicher deutlich. Aber auch Texte aus dem Römerbrief und den beiden Korintherbriefen sind gut vertreten. Die neutestamentliche Schrift, über die Menken außer den vier Evangelien am häufigsten predigte, ist jedoch der Hebräerbrief. Das hängt zusammen mit seiner Versöhnungslehre, die er anhand von Texten aus dem Hebräerbrief zu verifizieren suchte. Menken praktizierte oft den reformierten Brauch der praedicatio continua. Manchmal hielt er über einen Text mehrere Predigten.112 Oft predigte er während längerer Zeiträume über größere Textzusammenhänge. Über das elfte Kapitel des Hebräerbriefes hat er vierzehn Homilien gehalten, über die Elias- und Elisageschichten in 1–2Kön 24 Homilien. Dieser Praxis liegt seine Überzeugung von der Einheit der Schrift und der aus der hermeneutischen Tradition übernommene Grundsatz, dass sich die biblischen Texte nur aus ihrem biblischen Kontext verstehen lassen und dass sich die Heilige Schrift selbst erklärt, zugrunde.

5.3.2 Zur Methode der Predigtanalyse Da das Quellenmaterial dieser Studien vorwiegend aus den Predigten Menkens besteht, bedarf die Analyse der Predigten einer methodischen Verantwortung. Welches methodische Vorgehen ist der Analyse der Predigten Menkens angemessen und ermöglicht ein fruchtbares Erfassen ihrer formalen Strukturen und ihres Inhalts? Zur Bestimmung des analytischen Vorgehens bei den Predigten Menkens ist das Verständnis des Predigtgeschehens, wie es von Wilfried Engemann dargestellt wird, hilfreich. Engemann nennt sechs »Elemente und Perspektiven«, die für »das Predigtgeschehen als Verstehens- und Kommunikationsprozess« gleich wichtig sind: 1) Die Predigt wird von einer Person gehalten. Damit stellt sich die Frage nach dem Subjekt der Predigt. 2) Die Predigt ist (in der Regel) an einen biblischen Text gebunden. Damit stellt sich die Frage nach dem Traditionsbezug der Predigt. 3) Die Predigt hat eine Struktur. Damit ist die Frage nach der Gestalt der Predigt gestellt. 112 Über Ex 19,3–6 predigte er am 16. Juli 1797 in Wetzlar zum ersten Mal, am 23. Juli zum zweiten und am 6. August zum dritten Mal. Über die Naeman-Geschichte in 2Kön 5 hielt er im Oktober und November 1819 abschnittsweise fünf Predigten. Der große Zyklus der 24 Predigten über die Elias- und Elisageschichten wurde über mehrere Monate 1797 und 1798 gehalten.

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Predigen im Horizont der Aufklärung

4) Das Predigen geschieht zu den Bedingungen der Sprache. Daraus resultiert die Frage nach dem Medium der Predigt. 5) Das Predigen geschieht für einen Menschen und berechtigt zur Frage nach dem Situationsbezug der Predigt. 6) Predigen vollzieht sich (in der Regel) im Gottesdienst. So stellt sich schließlich die Frage nach dem liturgischen Bezug der Predigt.113 Bei schriftlichen, einer weiteren Öffentlichkeit übergebenen Predigten geschieht eine dreifache Reduktion bzw. Änderung bei den oben genannten Predigtelementen oder -perspektiven: Einmal tritt der Prediger oder die Predigerin als Subjekt der Predigt zurück und ist nicht mehr direkt, sondern nur noch indirekt in den Worten der Predigt gegenwärtig. Zum andern ändert sich der Situationsbezug der Predigt. Verschriftlichte und veröffentlichte Predigten werden nicht mehr in der Zeit gehört, in der sie gehalten wurden und nicht mehr von den Menschen aufgenommen, an die sie ursprünglich gerichtet waren. Schließlich entfällt nicht nur der Gemeindebezug, sondern auch der liturgische Bezug der Predigt, wenn sie nicht mehr in einem Gottesdienst gehört und stattdessen in einem privaten Rahmen gelesen wird. Wissenschaftliche Predigtanalysen sind erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt worden.114 Kennzeichnend für den homiletischen Aufbruch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist, dass die Frage nach dem Subjekt der Predigt ernstgenommen wird und der Frage nach ihrem Situationsbezug die Bedeutung zugemessen wird, die ihr zukommt. Was bedeutet dies für die Analyse der Predigten Menkens, die alt und nur in schriftlicher Form zugänglich sind? Wie bereits gesagt, ist die subjektive Bindung der Predigt bei Menken nur noch indirekt erfassbar. Sie wird mehr oder weniger konkret durch Menkens Biographie und seine persönlichen Äußerungen z.B. in den uns erhaltenen Briefen. Die Frage nach dem liturgischen Bezug entfällt, weil Predigten durch die Veröffentlichung ihren gottesdienstlichen Ort, ihren liturgischen Bezug verlieren.115 Die Frage nach dem Situationsbezug, der in der Neuorientierung der Homiletik nach dem Zweiten Weltkrieg eine besondere Bedeutung bekommt, hat im Blick auf Menkens Predigten eine eingeschränkte Relevanz. Menkens Predigten sind Schriftauslegungen, die ganz im Horizont der biblischen Texte bleiben, wie sie Menken nach seiner heilsgeschichtlichen Dogmatik versteht. Es sind Lehrpredigten, die nicht auf die Situation der jeweiligen Gemeinde und auf das konkrete alltägliche Leben der Predigthörerinnen und Predigthörer eingehen 113 Vgl. Engemann, Homiletik, 14–362. Die Punkte 1–7 nehmen die Unterteilung des 2. Kapitels in sieben Abschnitte auf. 114 Ebd. 363–365. 115 Predigten haben einen gottesdienstlichen Ort, aber keinen gottesdienstlichen Rahmen. Liturgie ist etwas anderes, ist mehr als ein Rahmen. In Menkens »ascetischen« Schriften sind kaum Gebete zu finden. Auf die Liturgie hat der reformierte Menken offenbar keinen großen Wert gelegt. Das Übergewicht, das die Predigt gewinnt, ist deutlich.

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und auch nicht eingehen wollen. Dieses Kennzeichen, das wir heute als ein schwerwiegendes Defizit empfinden, war für den Prediger Menken ein Zeugnis gegen die Homiletik der Aufklärung. Gegen die Einseitigkeit ihres ganz auf das Praktische, auf Moral und Tugend und die Lebensbewältigung gerichteten Bibelgebrauchs stellt Menken die Einseitigkeit seines ganz auf die biblischen Texte gerichteten Hörens und Verstehens. Menken lässt aber erkennen, dass hier ein Problem liegt. Es ist das in der Homiletik verhandelte Problem von explicatio und applicatio. Menken traut den biblischen Texten zu, dass sie gewissermaßen ihre applicatio (bei einer rechten explicatio) von selbst vollziehen. Natürlich ist durch Menkens Ablehnung der Aufklärung, durch seinen Protest gegen den (bösen) Zeitgeist, der sich für ihn nicht nur in der Bibelkritik der Rationalisten, sondern auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich manifestiert, ein Situationsbezug gegeben, der in fast all seinen Predigten sozusagen als generelle applicatio erkennbar ist. Es bleiben für die Analyse der Predigten Menkens drei Fragestellungen, die möglich und sinnvoll sind. Es sind die Fragen nach dem Traditionsbezug, nach der Gestalt und der Sprache der Predigten. Die Frage nach dem Traditionsbezug meint die Frage nach der Exegese, nach der Dogmatik und den theologiegeschichtlichen Zusammenhängen des jeweiligen Textes, die traditionell der inhaltlichen Homiletik zugeordnet werden. Den Fragen nach der Gestalt und Struktur der Predigt stellt sich die sogenannte formale Homiletik. Die Methode dieser Arbeit besteht vor allem im Referat der Texte Menkens, die auch im O-Ton und ihrer sprachlichen Besonderheit, Kraft und Prägnanz Raum haben sollen, und ihrer exegetischen, dogmatischen und theologiegeschichtlichen Analyse.116 Vor der materialen Analyse sollen die Fragen der formalen Homiletik behandelt werden.

5.4 Aspekte der formalen Homiletik im Predigtwerk Menkens 5.4.1 Die Bevorzugung der Predigtform der Homilie in ihren verschiedenen Gestalten Menkens Verständnis der Bibel als das schriftliche Zeugnis der Offenbarung, sein materialer Biblizismus, hat Konsequenzen für die Gestalt seiner Predigten. Der oberste Grundsatz ist strengste Bindung an den biblischen Text. 116 Die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erstmalig entwickelten wissenschaftlichen Methoden der Predigtanalyse werden von Engemann unterschieden in a) auf die Textgestalt der Predigt bezogene Formen der Analyse und b) auf die Interaktion zwischen Prediger und Hörer bezogene Formen der Analyse. Für eine Untersuchung der Predigten Menkens käme nur der Typus a) in Frage. Diese Arbeit verzichtet aber auf die Bindung an eine der vorgeschlagenen Analysemethoden, weil sie mit den Zielen dieser Arbeit nicht korrespondieren. Sie konzentriert sich auf die oben genannten Fragestellungen.

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Predigen im Horizont der Aufklärung

Deshalb ist Menken ein entschiedener Befürworter der Predigtform der Homilie. Im Horizont der Aufklärung ist diese Entscheidung für Menken eine deutliche Absage an die Instrumentalisierung biblischer Texte für eigene Gedanken und Vorstellungen und für hergesuchte Themen, wie sie sich in der Homiletik der Aufklärung und ihrer Hermeneutik einer vernunftgemäßen Religion etabliert hatten. Menkens homiletische Grundregeln finden sich kurz zusammengefasst in einem Schreiben an den älteren Freund Johann Heinrich Hasenkamp (1750–1814).117 Menken berichtet in diesem Schreiben von einer Predigtkritik Samuel Collenbuschs. Collenbusch hatte in einer Predigt Menkens über Matthäus 20,1–16 rigoros gestrichen und dazu geschrieben: »Es ist der Wahrheit nicht gemäß, in einen Text Etwas hinein zu legen. Es ist wider die Wahrheit, Etwas anzuknüpfen.«118 Menken akzeptiert dankbar diese Kritik und beschreibt Hasenkamp sein eigenes Ideal einer schriftgemäßen Predigt folgendermaßen: »Ich kann die Predigten nicht leiden, von denen ein verständiger Zuhörer sagen muss: Viel und vielerlei Gutes! nur das nicht, was dieser Text enthält, was über diesen Text hätte gesagt, was aus diesem Texte hätte entwickelt und dargestellt werden sollen. Ich halte dafür, dem Satan sei ein Hauptstreich gegen das Reich Gottes auf Erden gelungen, als es ihm gelang, die alte biblisch-analytische Methode (die man auch die homiletische, und sodann auch die Methode der ersten christlichen Kirche nennen kann) zu verdrängen, und die synthetische einzuführen. Da, als man anfing das Wort Gottes wie ein Spruchkästlein zu gebrauchen, den Text nichts als ein Motto sein liess, und anstatt dem Volke ein Wort Gottes auszulegen, über ein allgemeines, armes, in den Lüften schwebendes Thema redete, da war‘s um allen Nutzen der Predigten gethan. Predigen heisst, nach der Idee, die ich davon habe, nichts anders, als das Wort Gottes verkündigen und auslegen; oder: öffentlich weissagen, d. h. mit Erkenntniß und Weisheit zur Erbauung die Wahrheiten der heiligen Schrift vortragen. Und so muss sich eine gute Predigt an den Text in allen seinen Theilen anschließen wie ein gutes Kleid an den menschlichen Körper; sie muß nichts in den Text hineintragen, aber auch nichts was in ihm ist übergehn; sie muß, so viel es möglich ist, den Text erschöpfen.«119

Menken betont, dass es sich hierbei in der Tat um ein Ideal handelt, das schwer zu verwirklichen sei. Nichts in einem Text zu übergehen, erscheint ihm viel leichter zu sein, als nichts in einen Text hineinzutragen. Das Gebot, nichts 117 Das Schreiben an J.H. Hasenkamp vom 18. Dez. 1799, ist von Gildemeister aufgenommen worden in den 7. Band der Schriften Menkens, 301–306. Zwischen Menken und Hasenkamp gab es »oftmalige Unterhaltung« über die beste Methode zu predigen. 118 Menken, Schriften VII, 298. 119 Ebd. 298 f.

Aspekte der formalen Homiletik im Predigtwerk Menkens

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einzutragen, bezieht sich auf die entbehrlichen !kkºtqia, aber nicht auf die zur Erklärung einer Schriftstelle wichtigen »homogenen Wahrheiten der Schrift«: »Auch dünkt mich das bei einem nur einigermassen gesunden geistlichen Geschmack nicht sehr schwer, keine !kkºtqia hinein zu tragen; aber richtig bestimmen zu können, wie viel von den homogenen Wahrheiten der Schrift in die Erklärung und Behandlung einer einzelnen Schriftstelle aufgenommen werden darf, das dünkt mich sehr schwer.«120

Als Menken 1797 den ersten Band eigener Predigten veröffentlichte, gab er ihm den Titel Christliche Homilien, die letzte von ihm herausgegebene Predigtsammlung (1825) trägt aber den Titel Predigten. Menken schreibt dazu in der Vorrede: »Predigten habe ich sie diesmal lieber nennen wollen, als Homilien; denn ich darf wohl annehmen, daß, wie meine Leser bis dahin in meinen Homilien wahrhaftige Predigten gefunden haben, sie jetzt von selbst voraussetzen werden, in meinen Predigten wahrhaftige Homilien zu finden. Alle Homilien sind Predigten; aber nicht alle Predigten sind Homilien. Predigten in homiletischer Form sind Predigten in der besten Form, und verdienen also mehr wie jede andre Art schlechthin Predigten genannt zu werden.«121

Der Behauptung, dass die Homilie die älteste Predigtform der christlichen Kirche ist, muss hier nicht nachgegangen werden. Ein kurzer Blick in die Geschichte der homiletischen Predigtform ist jedoch erhellend.

5.4.2 Exkurs: Zur Praxis der homiletischen Predigtform in der christlichen Predigtgeschichte Aus der Zeit der alten Kirche ist uns zuerst von Origenes (ca. 185–254) eine große Anzahl von Predigten überliefert. Über ihre Bedeutung urteilt A. Niebergall: »Sicher ist Origenes nicht der Vater der christlichen Predigt, wie man bisweilen gemeint hat, aber er ist der erste namentlich genannte und individuell zu erfassende Prediger der Kirche. […] Der große bei Origenes erkennbare Fortschritt in der Geschichte der Predigt besteht darin, daß die Predigt im Gottesdienst ohne jeden Zweifel zu einer feststehenden Sitte geworden ist und daß er deutlich und konsequent die Rede im Ablauf des Gottesdienstes auf einen biblischen Text bezogen hat. […] Die Predigt geht nur selten auf den gesamten Zusammenhang des jeweiligen Textabschnittes ein. Unter Verzicht 120 Ebd. 299. 121 Menken, Schriften V, V.

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Predigen im Horizont der Aufklärung auf eine Gliederung bringt sie eine Erklärung der einzelnen Verse im Sinne einer Homilie.«122

Interessant ist die Entwicklung von Luthers Predigttätigkeit. Luther bevorzugte zunächst die Themapredigt, praktiziert aber ab 1520 immer mehr die Form der Homilie und verzichtet auf eine Einleitung für die Predigt (wie übrigens auch Origines). Dazu Niebergall: »Wider alle traditionellen Regeln eilt er so rasch wie möglich zum Text, denn es geht in der Predigt nicht um die Entfaltung einer blendenden Rhetorik, sondern allein darum, daß dem Text alle Ehre widerfährt, weil nur auf diese Weise das Ziel der Predigt erreicht wird: daß Gott durch die Predigt zu seiner Gemeinde spricht. Demzufolge zeigen die Predigten Luthers in ihrer weiteren Ausführung fast durchweg die Form der Homilie.«123

Das Gleiche gilt für Calvin: »Die Form der Predigt ist unstreitig die Homilie. Vers für Vers wird abgehandelt und erläutert. Weil in der Schrift der Wille Gottes sich unterschiedslos offenbart, darum muß die Predigt sich vor allem durch Treue gegenüber der Schrift auszeichnen. Aber Calvin beschränkt sich keineswegs auf eine reine Auslegung. Er verbindet sie sogleich – also nicht in einem weiteren Teil der Predigt – mit der Anwendung auf das Leben der Gemeinde wie auf das Leben des einzelnen.«124

Im zwanzigsten Jahrhundert ist zunächst Karl Barth als entschiedener Vertreter der Textpredigt in der Form der Homilie zu nennen. Barths homiletische Grundsätze sind mit denen Menkens identisch: Weil »alles vorgegeben ist, was gesagt werden soll«, fordert Barth, beim Predigen »den Gehorsam dem Text gegenüber zu wahren«: »Die Schrift soll alles von eigenen Meinungen, Wünschen und Gedanken säubern; es gilt in strenger Disziplin am Wort zu bleiben und nur das hören zu wollen, was das Wort sagt, nicht, was die grosse Öffentlichkeit, die engere Gemeinde oder das eigene Herz hören möchten. […] Ich habe nicht etwas zu sagen, sondern nur etwas nachzusagen. Wenn Gott allein in der Predigt sprechen will, so darf weder Thema noch Skopus dazwischentreten. […] Wir haben die dem Text eigentümliche Gedankenbewegung einfach mitzumachen.«125

Dietrich Bonhoeffer hielt homiletische Seminare und Vorlesungen in Finkenwalde. Eberhard Bethge hat sie aufgrund von Nachschriften verschiedener 122 123 124 125

Niebergall, Geschichte, 214 f. Ebd. 271 f. Niebergall, Geschichte, 287. Barth, Homiletik, 34 f.

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Kurse zusammengefasst und ediert. Wir erfahren, dass auch Bonhoeffer ein entschiedener Vertreter der Homilie ist: »Die Homilie ist die anspruchsvollste, aber auch die sachgemäßeste Auslegungsform für den Text. Man sollte die Gemeinde dazu erziehen, der Predigt mit der aufgeschlagenen Bibel zu folgen. Das bedeutet auch eine Erziehung für den Pfarrer. Grundsätzlich ist kein Unterschied zwischen Bibelstunde und Predigt aufzurichten. Die Themapredigt birgt die Gefahr in sich, daß das aufgestellte Problem und die gegebene Antwort zurückbleibt; die Apologetik kommt nach vorn und der Text wird vernachlässigt. […] Die strenge Textpredigt ist die echte Überwindung der Predigtnot. Das quälende Warten auf neue Gedanken schwindet unter der ernsthaften Textarbeit. Der Text hat übergenug Gedanken. Man braucht wirklich nur zu sagen, was drinsteht. […] Vor der Frage: was sage ich heute der Gemeinde? sind wir verloren. Mit der Frage: was sagt dieser Text der Gemeinde? sind wir getragen und mit allem Vertrauen ausgerüstet. Die Treue, mit der wir uns in den Text hineinleben, tut es.«126

Es ist auffallend, dass es Krisenzeiten der Kirche sind, in denen die Predigtform der Homilie wiederentdeckt, gepflegt und geschätzt wird. Dies geschieht – deutlich bei Menken und Bonhoeffer – in dem Bewusstsein, dass diese Predigtform besonders anspruchsvoll ist und erhebliche Gefahren in sich birgt. Deshalb ist Kritik und Ablehnung dieser Predigtform nicht ausgeblieben. Entschiedene Kritiker der Homilie sind z.B. der lutherische Theologe Claus Harms (1778–1855) und der reformierte Theologe Alexandre Vinet (1797–1847). Harms plädierte dafür, den Predigern die Fessel des Textes abzunehmen, dann stünde es weit besser in der Kirche und um die Kirche. Statt dass das Evangelium verkündigt würde, plagten sich die Prediger unnötig mit historischen Fragen herum. Die Homilie mache nicht satt, sondern voll.127 Harms spricht sogar vom »Textreiten«.128 Alexandre Vinet hält es für unverantwortlich, den Text so über die Predigt herrschen zu lassen, dass das Wort Gottes nicht mehr als lebendiges Zeugnis vernehmbar sei und erhebt den Vorwurf, dass sich im Text verbeißende Predigen gleiche oftmals einer »in aller Form vollzogenen Hinrichtung des Wortes Gottes«.129 Wenn man die Geschichte der christlichen Predigt mit dem plakativen Raster von Themapredigt und Homilie verfolgt, so ist eine gewisse Dialektik zu erkennen. Ganz deutlich ist sie im vorigen Jahrhundert. Auf die Hochschätzung der Textbindung und Privilegierung der Homilie bei Barth und Bonhoeffer folgte nach dem Zweiten Weltkrieg eine entschiedene Hinwendung 126 127 128 129

Bonhoeffer, DBW 14, 489. Harms, Der Prediger, 53.67 f. Ebd. 68. Vinet, Homiletik, 99.

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Predigen im Horizont der Aufklärung

zum Hörer und zur Hörerin der Predigt. Dafür steht vor allem der Name von Ernst Lange und sein Programm einer situationsbezogenen Predigt.130 Unter den drei konstituierenden Faktoren des Predigtgeschehens, nämlich der Subjektivität des Predigers/der Predigerin, dem biblischen Text und dem Hörer/der Hörerin, hat der Textbezug für die Homilie die klare Priorität. Das ist ihre Stärke. Ihre Schwäche, zumindest ihr Problem, ist vor allem die Kommunikation der Botschaft des Textes mit dem Hörer bzw. der Hörerin. Wenn Menken auf den Rat Collenbuschs hin seine eigenen Begriffe durch biblische ersetzen will, dann will er eine unmittelbare Auslegung praktizieren, die sich des geschichtlichen Abstandes zwischen den biblischen Autoren und den Hörern und Hörerinnen seiner Zeit nicht bewusst ist. Die biblische Wahrheit scheint so direkt übertragbar zu sein und nicht einer besonderen Vermittlung zu bedürfen. Im Folgenden sollen zwei Predigten Menkens auf die Form der Homilie hin analysiert werden, und zwar seine Antrittspredigt in der St. Martini Kirche und seine dort zuletzt gehaltene Predigt, die sein Abschied vom Predigtamt war. 5.4.3 Die Predigtform der Homilie – zwei Beispiele Menkens Antrittspredigt in St. Martini vom 25. August 1811 ist eine Festtagspredigt. Nach einer Einleitung, die die Bedeutung des Anlasses unterstreicht, die die ordnungsgemäße Wahl zum ersten Prediger der Gemeinde und »die Bestätigung Sr. Majestät unsers Kaisers und Königs« erwähnt, folgen ein Gebet und die Verlesung des Predigttextes 2Kor 1,24: »Nicht daß wir Herren seien über euern Glauben, sondern wir sind Gehülfen eurer Freude; denn ihr stehet im Glauben.« Menken möchte bei diesem besonderen Anlass seiner Gemeinde »einfach und wahr darstellen, wie er nach den heiligen Schriften von seinem Amte und dessen Bestimmung zu denken sich vor Gott verpflichtet halte«.131 Das Wesentliche ist für ihn im gewählten Predigttext aus 2Kor enthalten. Er fasst es gleich in vier Punkten zusammen und gibt damit der Gemeinde eine Gliederung der folgenden Predigt in vier Teilen: »1. Der gemeinschaftliche Glaube ist der Grund und der Zweck des Verhältnisses zwischen Prediger und Gemeine, oder das Verhältniß zwischen Prediger und Gemeine ist ein religiöses Verhältniß; es hat in der Religion seinen Grund, und Religion ist die große Angelegenheit, um deretwillen es da ist. 130 Lange, Aufgabe christlicher Rede, 78–94. In der Predigtlehre Rudolf Bohrens findet sich ein »kleines Lob der Homilie«, immerhin ein kleines Lob, wenn auch nicht ein leidenschaftliches Bekenntnis. Es beschränkt sich auch auf die Analyse einer Predigt Karl Barths über Ps 103,1–4, die als ein Schulbeispiel vorgeführt wird. Vgl. Bohren, Predigtlehre, 121–128. 131 Menken, Schriften IV, 336.

Aspekte der formalen Homiletik im Predigtwerk Menkens

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2. Der Prediger ist kein Herr des Glaubens oder der Religion der Kirche, deren Mitglied, und der Gemeine, deren Lehrer und Diener er ist. 3. Der Prediger soll durch die Lehre und durch das Leben des Glaubens seiner Gemeine ein Gehülfe der Freude werden. 4. Das kann er aber nur einer solchen Gemeine werden, die selbst Religion hat, oder im Glauben steht.«132

Im ersten Teil der Predigt grenzt sich Menken von allen Zweckentfremdungen der Predigt ab. Die Aufklärung wird nicht erwähnt, doch die Auseinandersetzung mit der Aufklärung steht im Hintergrund: »Wie keine christliche Gemeine auf Erden da ist, sich gesammelt, vereinigt, constituiert hat, um als solche gemeinschaftlich den Wissenschaften obzuliegen, oder Handlung zu treiben, oder irgend ein System der Philosophie als die Summe aller Weisheit anzuerkennen und auszubreiten, oder sich in politische Dinge zu mischen, oder durch Poesie, Deklamation, theatralische Darstellung und dergleichen von Zeit zu Zeit sich ein Vergnügen zu machen, oder nützliche Lehren menschlicher Weisheit und Klugheit von Zeit zu Zeit sich vorsagen zu lassen; so wählet, berufet, besoldet auch keine christliche Gemeine auf Erden einen Prediger zur Betreibung dieser oder ähnlicher Dinge […].«133

Statt der »Betreibung dieser oder ähnlicher Dinge« hat das Predigtamt einen klaren, biblisch begründeten Auftrag und Zweck: »Der christliche Prediger soll in der Christengemeine dastehen als das lebendige Organ, wodurch das Wort Gottes – ich meine die heilige Schrift – zu der ganzen Gemeinde redet, lehret, verheißt, rüget, warnet, tröstet, erfreuet. Er soll, wenn er redet, sich selbst vergessen, und die Gemeine vergißt ihn, indem sie ihn hört. Ihn will sie nicht hören, denn er in sich selbst ist nichts mehr und kann nichts mehr als die Gemeine selbst. […]; sie will nicht das Menschliche, sie will das Göttliche, will es durch den Dienst des Predigers; er dienet ihr, indem er Organ und Ausleger des Wortes Gottes ist.«134

Dieser Auftrag des Predigtamtes ist nicht begründet »in einem natürlichen, menschlichen, willkürlichen Übereinkommen«, sondern durch Christus: »Das nun seit achtzehnhundert Jahren in der Welt vorhandene christliche Predigtamt ist eben so völlig etwas Positives, in einer höheren Autorität, Stiftung, Erhaltung und Garantie Gegründetes, als das ganze Christenthum überhaupt und insbesondere die beiden Heiligthümer des Christenthums, die heilige Taufe und das heilige Abendmahl es sind. […] Wie aber so Christus 132 Ebd. 337. 133 Ebd. 337. 134 Menken, Schriften IV, 338 f.

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Predigen im Horizont der Aufklärung der Grund des christlichen Predigtamts ist, so ist er auch der einzige Zweck desselben.«135

Der erste Teil dieser Antrittspredigt ist Lehre über die göttliche Stiftung des Predigtamtes und seine ausschliessliche Bindung an die Heilige Schrift. Der paulinische Text bietet Menken dazu eine Brücke durch das Sätzchen »denn ihr stehet im Glauben«. Durch die Herausstellung des gemeinschaftlichen Glaubens als Grund und Zweck des Verhältnisses zwischen Prediger und Gemeinde gewinnt Menken einen Bezug zu seiner Zeit und kann sich abgrenzen von Fremdbestimmungen des Predigtamtes, die er offenbar auch 1811 noch nicht für überwunden hält. Im zweiten Teil seiner Predigt geht es um das Verhältnis des Predigers zur christlichen Lehre. Wenn der Prediger Diener und nicht Herr des Glaubens oder der Religion ist, so gilt: »Er hat über den Glauben der christlichen Kirche nichts zu bestimmen und zu gebieten, er darf und kann nichts daran ändern, darf und kann nichts davon scheiden, nichts hinzufügen. Denn er vermag nichts über das Göttliche, das des christlichen Glaubens Grund und Gegenstand ist. Das Göttliche ist da, und ist in seiner göttlichen Natur nach unveränderlich, keinem Wandel unterworfen, keiner Besserung bedürfend, keiner Vervollkommnung fähig.«136

Menken ist sich bei diesen Sätzen bewusst, dass er selbst der kirchlichen Dogmatik kritisch gegenübersteht und sich ausschließlich an die Heilige Schrift gebunden weiß. Dann aber besteht doch die Gefahr, dass nicht die alte göttliche Wahrheit gelehrt wird, sondern etwas Neues. Dem begegnet Menken mit der Versicherung: »Wenn denn der christliche Prediger auch etwas scheinbar Neues predigte, so würde sich doch bei einer genaueren Betrachtung ergeben, dass das für neu Gehaltene nur in der Form, in dem Vortrage, in der Behandlung; in der Sache selbst aber nie, denn nur in so weit gegründet sei, als demjenigen, der nur die Oberfläche der Wahrheit erkannt hat, jeder Blick in bisher nicht geahnete Tiefen der Wahrheit neue Ansicht gewähren, neue Erkenntniß verleihen, und ihm also gewissermassen neue Wahrheit erscheinen muß. Dem christlichen Prediger aber wird daran liegen seiner verständigen Christengemeine darzuthun, dass das, was er vorträgt, nicht das Neue ist, sondern das Alte, das Ewige, das Unveränderliche.«137

Die Form der Lehre muss also frei sein. Das zeigt bereits das Neue Testament, wenn es vier verschiedene Evangelien nebeneinanderstellt. Menken bekennt sich leidenschaftlich zur Freiheit der christlichen Lehre, die der Prediger als Diener seiner Gemeinde, nicht als Herr, ganz in Anspruch 135 Ebd. 339 f. 136 Ebd. 340 f. 137 Ebd. 341.

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nehmen darf, und ist davon überzeugt, dass die Heilige Schrift »in ihren Grundbegriffen und Hauptlehren« klar und nicht zweifelhaft ist: »Wer das [die Freiheit der Schriftauslegung, H. M.R.] für einen Fehler in der Verfassung dieser Kirche achtet, der muß doch erkennen, daß es der schönste Fehler war, den Menschen in der Behandlung des Göttlichen begehen konnten, […]. Der einzelne christliche Prediger, der die Wahrheit lieb hat, ist dabei eben so wenig in Verlegenheit, als die Gemeine selbst sein kann; denn das Wort Gottes in der heiligen Schrift ist bei seiner unergründlichen Tiefe doch klar und läßt, was seine Grundbegriffe und Hauptlehren betrifft, keinen Zweifel über sich. Man war auch vielleicht bei der größten Verschiedenheit der Bildung, der Denkungsart, des Bedürfens und Wollens, und vorzüglich des Vortrags, doch noch nie über den eigentlichen Inhalt der biblischen Schriften so einig, als in unsern Tagen. Und dieses größere Einssein ist nicht durch vorgeschriebene Formeln, die immer mehr trennen, als vereinen, es ist auf dem Wege der Untersuchung und des Widerspruchs, auf dem Wege kirchlicher Freiheit selbst herbeigeführt.«138

Ein »Gehülfe ihrer Freude« will Menken seiner Gemeinde sein wie Paulus den korinthischen Christinnen und Christen, und zwar »durch die Lehre und durch das Leben des Glaubens«. Das entfaltet Menken im dritten Teil seiner Predigt. Freude ist etwas anderes als Vergnügen: »Der christliche Prediger soll nicht vergnügen, wie die Welt vergnügt; er soll nicht der Eitelkeit dienen, das wäre eben so viel, als der Lüge dienen und dem Tode. Er dient aber der Wahrheit und dem Leben, und darum muß von seinem Amte Freude der Wahrheit und Freude des Lebens ausgehen. […], nur die Freude der Religion, nur die Freude in dem heiligen Geist ist es, die durch den Dienst des christlichen Predigers in der Christengemeine genähret und belebt werden soll.«139

Die Lehre des Glaubens als Quelle der Freude umreißt Menken kurz mit dem Hinweis auf die drei Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses und wendet sich dann dem »Leben des Glaubens« zu, das der Prediger führen muss, um wirklich für seine Gemeinde ein Helfer zur Freude zu sein: »Aber die Lehre muß auch das Leben des Lehrenden sein, oder der Prediger erbauet und erfreuet nur dann durch die Lehre des Glaubens, wenn er auch das Leben des Glaubens lebt; denn es ist ein geheimes, unsichtbares, aber wahrhaftiges Band zwischen Wort und Leben, und wer die Wahrheit nicht in sein Leben aufnimmt und mit seinem eignen Wesen vereinigt, dessen Rede und Lehre, ob sie auch ein Wunder fleischlicher Beredtsamkeit wäre, ist tö138 Ebd. 342 f. 139 Ebd. 344.

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Predigen im Horizont der Aufklärung nend Erz und klingende Schelle, des Geistes und Einflusses ermangelnd, der dem todten Worte die Kräfte des Lebens gibt.«140

Der rechte Prediger, dessen Bild Menken dann entwirft und mit dem er sein persönliches Ideal der Gemeinde vorstellt, ist ein gläubiger, frommer Mann, der selbst der Heiligung nachstrebt, der aber seine Frömmigkeit nicht zur Schau trägt, denn: »Wer wahrhaft fromm ist, kann Frömmelei entbehren und darf Frömmelei verachten. […] Auf der anderen Seite wird er es sich angelegen sein lassen, dass sein Wesen rein und frei bleibe von aller Profanität und Gemeinheit des sadducäischen Sinnes und Wesens, keinem Menschen einen Zweifel darüber lassend, dass Religion, Frömmigkeit, Heiligkeit, Andacht […] ihm Heiligthümer sind, wogegen seine ganze Seele mit der tiefsten Verehrung erfüllt ist, er stehe auf der Kanzel oder sitze beim fröhlichen Gastmahl.«141

Im vierten Teil seiner Antrittspredigt legt Menken seiner neuen Gemeinde die letzte Aussage des Paulus im Predigttext von 2Kor 1,24 aus, schlägt einen Bogen zurück zum ersten Teil der Predigt und vertieft den dritten Teil. Wenn Paulus sagt: »Wir sind Gehülfen eurer Freude; denn ihr stehet im Glauben«, so liegt darin auch eine Verpflichtung für die Gemeinde: »Es kommt nicht allein darauf an, wie der Prediger ist, es kommt eben so sehr auf die Beschaffenheit und das Verhalten der Gemeine an, und die Schuld, daß das christliche Predigtamt nicht überall und immer das wirkt, was es wirken kann und soll, wird nur mit Ungerechtigkeit dem Prediger beigemessen, sie liegt in eben so vollem Maße an den Gemeinen selbst. […] Die christliche Gemeine muß vielmehr mit ihrer eigenen Religion, mit ihrem eigenen Glauben dem christlichen Prediger zu Hülfe kommen, sie muß sich geben nicht als eine Gemeine, die nun erst zum christlichen Glauben gebracht, nun erst zu christlicher Gesinnung erhoben werden soll, sondern in deren Mitte dieser Glaube und diese Gesinnung leben, und wo also der Prediger nur das, was da ist, zu nähren, zu stärken, zu heben bemühet sein darf.«142

Dieser Gedanke ermöglicht Menken einen Übergang zu einer Reverenz gegenüber seinen nächsten beiden Vorgängern143 und zu einer captatio benevolentiae, gerichtet an die »hochzuverehrenden Herren Bauherren dieser Kirche« und an die »hochgeehrtesten Herren Diakonen dieser Gemeine«. Mit 140 141 142 143

Ebd. 345. Ebd. 346 f. Ebd. 347 f. Es sind dies Johann Nicolaus Tiling (zweiter Prediger an St. Martini von 1776 bis 1809), ein Verwandter Menkens mütterlicherseits, der ihn an St. Martini konfirmiert hatte, und der Zürcher Johann Jakob Stolz (1753–1821, an St. Martini von 1810 bis 1811). Beide waren der Aufklärung verpflichtet, werden aber außerordentlich wohlwollend gewürdigt.

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der Bitte um das Wohlwollen und die Liebe der Gemeinde schließt Menken diese Antrittspredigt. Ist dies nun wirklich eine Homilie und nicht eine Themapredigt anlässlich des Kasus des Antritts einer neuen Predigtstelle? Der Anspruch einer Homilie ist erfüllt: Der ganze (kurze) Text aus dem 2. Korintherbrief wird beachtet und in einer unmittelbaren Auslegung auf die Situation Menkens bezogen. Auf die Probleme des Apostels in Korinth wird nicht eingegangen. Eingefügt in die Auslegung wird eine Menge: die reformatorische Lehre vom Predigtamt und von der Predigt, zugleich aber Menkens Absage an die Autorität der kirchlichen Orthodoxie und sein (apologetisches) Bekenntnis zur freien Erforschung der Heiligen Schrift. Der paulinische Text gibt Menken ferner die Gelegenheit zu einer Standesethik des Predigers. Die für eine Homilie ungewöhnliche Gliederung gibt der Predigt einen klaren Aufbau. Sie ist ein gelungenes Beispiel einer auch heute noch inhaltlich aktuellen thematischen Homilie oder einer homiletischen Themapredigt. Das zweite Beispiel ist Menkens letzte Predigt, gehalten am 6. Juni 1823 über Ps 103,14–17144: »Denn er kennet, was für ein Gemächte wir sind; er gedenket daran, daß wir Staub sind. Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blühet wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr. Die Gnade aber des Herrn währet von Ewigkeit zu Ewigkeit.«

Menken beginnt seine Homilie, indem er gleich den im Text formulierten Gegensatz aufnimmt: »Das tiefste Sichbewusstsein der Nichtigkeit des menschlichen Wesens, und des Unzureichenden aller natürlichen, geistigen und körperlichen menschlichen Fähigkeiten und Kräfte, so wie, dem entgegen, auch der Herrlichkeit Gottes und der Allgenugsamkeit seiner Gnade in Christo Jesu.«145 Menken setzt dann bei der menschlichen Schwachheit ein und reflektiert, dass diese – obwohl ständige menschliche Erfahrung – Frommen und Nichtfrommen oft nicht bewusst ist. Fromme, die das vergessen, überfordern sich und haben zu wenig Geduld und Nachsicht mit sich. Dies ist der Natur nicht angemessen und führt früher oder später zu einer »trüben Verdrossenheit und einem ermatteten Ablassen«.146 Wer zu viel von sich selbst erwarte, verliere auch die Empfänglichkeit für Gottes Gnade und Hilfe. »Andere hingegen, denen Frömmigkeit und Gottesfurcht fremd ist, werden durch das Vergessen der menschlichen Nichtigkeit nur noch aufgeblasener und hochmüthiger; sie denken von der Kraft und Allgenugsamkeit der 144 Die Homilie ist aufgenommen in die Neue Sammlung christlicher Homilien: Menken, Schriften IV, 283–289. 145 Menken, Schriften IV, 284. 146 Ebd.

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Predigen im Horizont der Aufklärung menschlichen Natur, als ob es eine göttliche Natur wäre, und ihre Anschläge und Unternehmungen sind daher oft kleine, lächerliche oder traurige Nachbildungen jenes Thurmbaues, dessen Ziel der Himmel war und der so bald in schmählicher Verwirrung ein beschämendes Ende fand.«147

Der Psalmbeter (David) bekennt, dass Gott unsere Nichtigkeit kennt und daran denkt, dass wir Staub sind. Dies ist für Menken ein höchst erfreuliches »Zeugniß von der Heiligkeit Gottes, daß nämlich er, der in seinem ganzen Wesen ewig und unermeßlich über alle Schwachheit und Eingeschränktheit erhaben ist, nicht […] Auge und Herz von uns wendet, als seiner nicht werth; daß er vielmehr in einem unaufhörlichen heiligen Darangedenken, daß wir Staub sind, uns alle in unserm ganzen Leben mit langmüthiger, erbarmender Leutseligkeit trägt, leitet und behandelt.«148

Wer dies bedenkt, der muss mit seinen Mitmenschen auch barmherzig umgehen. Weil das Bewusstsein unserer Nichtigkeit so wichtig ist, hält uns der Psalm länger dabei fest und entfaltet es in einem Bilde: »Der Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blühet wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da und ihre Stätte kennet sie nicht mehr.« Die Schönheit der Blume des Feldes ist eine fragile Schönheit. Deshalb wird das menschliche Leben hier nicht mit einer Zeder des Libanon oder einer tausendjährigen Eiche verglichen: »[…] es ist doch nur das Blühen und Prangen einer zarten, bald welkenden Blume, nicht das lange, kräftige Leben einer den Stürmen trotzenden Ceder des Libanon, oder einer tausendjährigen, den Frost und die Hitze vieler Jahrhunderte überlebenden Eiche; es bedarf keines zerschmetternden Donners, keines allgewaltigen Sturmes, sie zu zerstören; ein Abendhauch, ein kalter Morgenduft nimmt sie hinweg […].«149

Menken freut sich an den Bildern des Psalms, scheut sich aber, sie in der Predigt auszuwalzen: »Schöne, und dabei in ihrem Sinne leicht fühlbare und verständliche Bilder wollen nicht weit und breit besprochen sein; darum enthalte ich mich weitläufiger Entwicklung, euch, Geliebte, zutrauend, daß ihr selbst das Schöne und Wahrhaftige dieses Bildes fühlt und versteht.«150

Hervorheben will Menken nur noch, dass »selbst die Stätte des Grases, und der Blume, wo sie geblühet, die Stelle, wo der Mensch gelebt, alles, was nach ihm 147 148 149 150

Ebd. 284 f. Ebd. 285. Ebd. 286. Ebd.

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bleibt, und Denkmal seines Lebens werden könnte, schwindet, in Vergangenheit«.151 Es führt den Menschen in eine große Bitterkeit, wenn er nichts anderes kennt und sucht als das Vergängliche, aber die Gnade Gottes, die allein wahre Unsterblichkeit geben kann, nicht kennt und nicht hat. Damit ist der Übergang markiert zur Auslegung des zweiten Teils des Psalmtextes, der die Nichtigkeit des Menschen der ewigen Gnade Gottes gegenüberstellt. »Hat der Psalm uns die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens fühlen lassen, so richtet er nun auch unser Gemüth in einer Weise, die keine Eitelkeit zulässt, und allen stolzen Selbstruhm ausschließt, auf eine Unsterblichkeit und Hoheit, die wir nicht in uns und aus uns selbst haben, aber die unser werden kann aus Gottes Gnade«.152 Die ewige Gnade Gottes ist für Menken in diesem Zusammenhang »der Grund und das gewisse Unterpfand des ewigen Lebens«: »Gottes Gnade währet von Ewigkeit zu Ewigkeit! kann doch nach allem Menschengefühl und Menschenverstand nicht heißen sollen: sie dauert nur so lange, als der Staub dauert; ihre Tage sind, wie die Tage des Grases; sie währet, so lange die Blume blüht, die der Wind verwehet. […] Nein, gewisser, bestimmter, befriedigender brauchte es dem frommen Israeliten des alten Testaments nicht gesagt zu werden, daß ein Leben nach diesem Leben sei, und eine festere Bürgschaft für sein eigenes, seliges Leben kannte und verlangte er nicht (wie es denn auch keine festere giebt) als diejenige, die ihm hier in der Gnade Gottes und in dem Namen Gottes gegeben wird: Die Gnade des Jehovah währet von Ewigkeit zu Ewigkeit!«153

Im Gottesnamen, den Gott Israel gegeben hat, ist verbürgt, dass Gott sein Wort hält, seine Verheißungen erfüllt und sein Werk vollendet: »O wie sollte uns dann bei dem Gefühl unserer irdisch-menschlichen Nichtigkeit, im Lichte des Evangeliums, in der Lebenskraft, in der Siegesmacht des Namens Jesu Christi, des Sohnes Gottes, unseres Heilandes, beides so viel gewisser sein und im Leben und Sterben die Seele mit Trost und mit Frieden füllen – diese Gnade Gottes sowohl, als auch das ewige Leben, das ihre Gabe ist.«154

Man wird diese letzte Predigt Menkens, hinter der die Emotionen eines älter gewordenen, in den Ruhestand gehenden Pfarrers zu spüren sind, als eine gelungene und eindrucksvolle Homilie bezeichnen dürfen, die den eigenen strengen Regeln Menkens entspricht. Der Text wird in seinen Worten und in seiner Struktur aufs Sorgfältigste beachtet. Der Prediger erhebt dabei nicht 151 152 153 154

Ebd. Ebd. 287. Hervorhebung H.M.R. Ebd. 288. Ebd. 289.

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Predigen im Horizont der Aufklärung

den Anspruch einer erschöpfenden Erklärung und Auslegung. Zur Textaussage über das »Aber« der ewigen Gnade Gottes bemerkt Menken: »Es ist kein Mensch auf Erden, der die Weite, Höhe und Tiefe desselben faßt, oder den Sinn desselben bis zum Boden ergründet, der es seinem ganzen Umfange nach versteht.«155 Liebe und Respekt vor dem biblischen Text bestimmen die ganze Homilie. Menken setzt im Predigttext dieser Homilie und im ganzen Alten Testament irrtümlicherweise den Jenseitsglauben voraus. Aber er bemerkt natürlich die Zurückhaltung, ja Enthaltung der Hebräischen Bibel in Bezug auf Aussagen über ein Weiterleben im Jenseits. Er erklärt sie sich aus der Ökonomie der Heilsgeschichte.156 Deutlich sieht Menken: Eine Unsterblichkeit der Seele kennt das Alte Testament nicht.

5.4.4 Der narrative Predigtstil Menken versteht es, in seinen Predigten spannend, anschaulich und einfühlsam zu erzählen, nachzuerzählen. Sein Predigtstil ist narrativ. Der Grund liegt im Charakter der biblischen Texte selbst. Die Bibel ist kein dogmatisches Lehrbuch. Sie ist ein Buch der Geschichte und der Geschichten. Was sie von Gott und den Menschen zu sagen hat, das geschieht in einem erzählenden Stil. Da gibt es die große Erzählung von Israels Auszug aus der Sklaverei, seinem Weg durch die Wüste und seinem Einzug in das Land der Väter. Da gibt es die Geschichten der Erzväter mit der Novelle von Josef und seinen Brüdern. Bei den Propheten stehen Sammlungen der Worte und Reden neben den Prophetengeschichten.157 Im Neuen Testament steht die große Erzählung vom Messias Jesus am Anfang, eine Erzählung auf vierfache, unterschiedliche Weise. Das Erzählen von Gott und Israel, von Jesus und seinen Schülern und Schülerinnen war nicht mit einem Versuch abgeschlossen. In einer verän155 Ebd. 287 f. 156 Das behandelt Menken ausführlich in der Beilage zu Kap. V seines Versuchs einer Anleitung zum eignen Unterricht in den Wahrheiten der heiligen Schrift mit dem Titel Von dem Glauben und der Lehre des ewigen Lebens im Alten Testamente, die er kurz vor seinem Tod fertigstellte. 157 Matthias Zeindler erkennt den »Geschichtsbezug des alttestamentlichen Gottes« neben den geschichtlichen Texten der Tora auch in der Prophetie: »Entgegen der volkstümlichen Auffassung ist der Prophet nicht in erster Linie mit der Zukunft, sondern mit seiner jeweiligen Gegenwart befasst. Das prophetische Amt besteht darin, im Namen Gottes dieser Gegenwart ihre – oft unbequeme –Wahrheit bekannt zu machen. Wieder erscheint hier Gott als derjenige, der auf die Geschichte bezogen ist und sie durch Gericht und Verheissung vorantreibt.« Dass die Erzählung »die privilegierte Sprachform des Alten Testamentes« ist, bestätigen nach Zeindler »im Übrigen auch viele nichtnarrative Sprachformen wie Rechtstexte, Psalmen oder prophetische Reden, die voll sind von Hinweisen auf die israelitische Erzähltradition. Das Alte Testament, so wird man deshalb sagen können, ist grundsätzlich narrativ strukturiert, und es ist dies in Entsprechung zu dem Gott, von dem es spricht.« Zeindler, Auf Erzählungen hören, 279.

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derten Zeit, in anderen politischen, wirtschaftlichen, sozialen Verhältnissen musste und konnte von Neuem erzählt werden. Das sich wiederholende Erzählen ist der charakteristische Stil biblischer Rede. Das Christentum ist – ebenso wie das Judentum – »nicht primär eine Argumentations- und Interpretationsgemeinschaft, sondern eine Erzählgemeinschaft«158. Und zu Recht urteilt Engemann: »Die homiletische Legitimität des Erzählens in der Predigt bzw. der Erzählpredigt ergibt sich elementar aus dem Charakter der biblischen Botschaft selbst.«159 Da westliches, europäisches Denken, angefangen mit der griechischen Philosophie, auf Abstraktion und Diskursivität zielendes Denken ist, betont Engemann, dass das erzählende »Denken« des Orients und natürlich auch der Bibel etwas anderes ist als Plauderei und Unterhaltung. Wenn Jesus vom Reich Gottes in Gleichnissen erzählt, so sind das »Sprechakte«, die etwas bewirken, verändern wollen. Engemann erinnert auch daran, dass die jüdisch-christlichen Erzählungen »subversiv« sind: »Wer biblisch predigt, indem er auf der Basis der Bibel erzählt, erinnert Geschichten der Befreiung und stiftet zur Veränderung bestehender Verhältnisse von innen her an, soweit diese mit Unterdrückung der Freiheit, Rücksichtslosigkeit und Unfrieden verbunden sind und Leben gefährden.«160 In Menkens Predigten werden biblische Geschichten nacherzählt, neu erzählt. Es geht dabei um die Korrespondenz zweier Zeiten: Das Nacherzählen scheint ganz in der Zeit des Erzählten zu bleiben und soll doch in der Gegenwart gehört werden. Fast nie hören wir Informationen aus dem politischen Geschehen der Zeit Menkens oder Erfahrungen aus seiner Gemeinde. Das homiletische Bemühen ist völlig konzentriert auf die Informationen des Textes, auf die biblische Geschichte. Die Sorgfalt und Genauigkeit, mit der Menken am erzählenden Text bleibt, hat auch mit seinem geschichtlichen Offenbarungsverständnis zu tun. Im Unterschied zur Aufklärung ist Menken gerade an den geschichtlichen Texten der Bibel interessiert, weil sich Gott in der Geschichte Israels und in der Geschichte des Juden Jesus offenbart hat. Wie gestaltet Menken nun das homiletische Nacherzählen einer biblischen Geschichte? Was ist kennzeichnend für seinen narrativen Predigtstil? Wesentlich ist dabei vor allem die Frage, wie der nacherzählte Text in Beziehung gebracht wird zu den Hörern und Hörerinnen, zu ihrem Glauben und Leben, ob und wie er zur persönlichen Anrede im Hier und Heute wird. Unter dieser Fragestellung sollen eine Homilie über einen neutestamentlichen Text und eine Homilie über einen alttestamentlichen Text analysiert werden.161

158 Engemann, Homiletik, 182. Der Begriff der »Erzählgemeinschaft« geht auf Walter Benjamin zurück. 159 Ebd. 160 Ebd. 161 Der Fokus der Analyse liegt hier auf der Erzählstruktur. Die grundsätzlichen Fragen der Hermeneutik und Homiletik alttestamentlicher Texte werden in Kap. 7 behandelt.

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5.4.4.1 Erstes Beispiel: die Homilie über Johannes 11,1–16 Vom Mai bis Juli 1796 hat Menken über die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus im 11. Kapitel des Johannesevangeliums in sechs Homilien abschnittsweise gepredigt.162 Alle fünf Homilien beginnen mit einer Einleitung, die zur Textverlesung führt bzw. an die vorangehende Homilie anknüpft. In der Einleitung zur ersten Homilie des Zyklus fasst Menken seine Motivation zu diesen Homilien und die wesentlichen Aspekte seiner Auslegung zusammen: »Die evangelische Geschichte unsers Herrn, th. Z., bleibt dem menschlichen Herzen, das ihren unschätzbaren Werth einmal erkannt hat, lebenslang das Liebste und Theuerste, eine unversiegliche Quelle der Erkenntnis und Freude, der Kraft und des Trostes. Wer sie wohl hundertmal gelesen hat, lieset sie hundertmal wieder, und sie wird seinem Verstande und Herzen nimmer alt; Verstand und Herz findet, bei jedem neuen Lesen, neue Nahrung, neuen Werth und neue Vortrefflichkeit […]. Nicht nur, daß die Geschichte einer solchen Person, die den Geist ohne Maß empfing, für uns der würdigste Gegenstand der Betrachtung und Bewunderung ist, […]. Diese Geschichte ist auch ein getreuer Spiegel der Welt und des menschlichen Lebens; die Menschheit erscheint darin, in allen ihren Gestalten, mit allen ihren Verhältnissen, mit allen ihren Bedürfnissen, mit allen ihren Lasten, wir werden in manchen Kreis höchst verschiedener Menschen, in das Innere so mancher Familie geführt, und finden das menschliche Leben mit allen seinen Freuden und Leiden, gerade so, wie wir es selbst erfahren, […].«163

In der ersten wie in allen anderen Homilien wird die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus ausgelegt als »ein getreuer Spiegel der Welt und des menschlichen Lebens« und als Verkündigung des Messias Jesus, der »den Geist ohne Maß empfing« und der deshalb an Lazarus das Wunder der Auferweckung vollbringen kann. Jesus wird in allen Homilien nicht wie in der späten Aufklärung als Lehrer der Weisheit und Tugend verstanden und gepriesen, sondern als Heiland verkündet, der sich des menschlichen Elends, der Sünde, der Krankheiten und der Todesnot annahm und noch heute annimmt.164 Menkens Auslegung versteht den Text als ein Glaubenszeugnis, das die Menschlichkeit und die Göttlichkeit Jesu bezeugt. Damit ist die Inkarna162 Menken nahm diesen Homilien-Zyklus auf in seinen ersten Band veröffentlichter Predigten (jetzt in: Menken, Schriften IV, 29–82). 163 Menken, Schriften IV, 29. 164 Jesus kann nach Menken auch heute noch Wunder tun. Im Blick auf seine Zeit rechnet Menken aber nicht mit »grossen Gottesthaten unmittelbarer Gesundmachung und Errettung«, »weil wir glauben, dass sein (Jesu) Plan über das Ganze es für die gegenwärtige Zeit nicht zulasse, sich einer ungläubigen Welt durch Zeichen und Wunder zu offenbaren.« Menken, Schriften IV, 30.

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tionstheologie des vierten Evangelisten aufgenommen. Sie wird bewusst dem reduzierten Jesus-Bild der Aufklärung entgegengestellt. Einfühlsam schildert Menken den Ort des Geschehens, die Familie des Lazarus, die Beziehungen zueinander und zum Freund Jesus, auf die dann die Krankheit des Lazarus als ein schwerer Schatten fällt. Die Fantasie wird bei Menken immer gezügelt durch die Bindung an das, was der Text sagt. Der Hinweis auf die Salbung Jesu durch Maria am Anfang des Textes (Joh 11,2), die erst in Kap. 12 erzählt wird, ermöglicht es Menken, ein Bild der besonderen Beziehung Marias zu Jesus zu zeichnen. Lazarus ist schwer krank, und Jesus ist nicht da. Als ihm ein Bote gesandt wird mit der Botschaft: »Herr, siehe, den du lieb hast, der liegt krank«, gehen Lazarus und die beiden Schwestern davon aus, dass Jesus sogleich kommen und den Bruder gesund machen werde. Doch Jesus hat einen anderen Plan, den die Geschwister zunächst nicht verstehen. Erst nach zwei Tagen kommt er nach Bethanien, als Lazarus bereits gestorben ist. Diese Enttäuschung »vermehrte ihr Leiden zehntausendfach, brachte ihnen zu dem Leiden über ihren Bruder ein neues, noch größeres. Ihr Herz kam dadurch in ein Gedränge, worin es noch nie gewesen war, sie zündeten damit selbst, […], das heißeste Prüfungs- und Läuterungsleiden für ihren Glauben an.«165 Menken trägt hier wie in allen Homilien sein eigenes Glaubensverständnis ein: Der menschliche Glaube untersteht der göttlichen Prüfung, und ihr dienen vor allem die den Glaubenden auferlegten Leiden. Maria und Martha erfahren »das heißeste Prüfungs- und Läuterungsleiden für ihren Glauben«166. Jesus musste seine Freundinnen in Bethanien leiden und den Freund sterben lassen, weil er etwas Größeres vollbringen wollte, als einen Menschen gesund zu machen. Das ist der Sinn seines Wortes (V. 4) »Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch geehrt werde.« Gerade Menschen, die der Herr liebt, erfahren Leiden und haben dadurch einen Gewinn. Menken fasst seine Auslegung zusammen 165 Menken, Schriften IV, 33. 166 Sein Glaubensverständnis entfaltet Menken ausführlich in der letzten Homilie über den Abschluss von Joh 11, wo die Folgen des Wunders Jesu erzählt werden: Nicht alle, die sahen, was Jesus tat, kamen zum Glauben an ihn. Menken hält eine Apologie der Wahrheit der Geschichte und begegnet dem Zweifel und Unglauben mit dieser Argumentation: »Man glaubt, alles gesagt zu haben, wenn man sagt: Ich kann nicht glauben! Und bei manchem ist es Wahrheit; er kann nicht glauben, aber nicht aus dem Grunde, weil ihm, wie er sagt, der Glaube nicht gegeben ist; nein, nicht einem einzigen Menschen wird der Glaube gegeben, aber er wird von allen, denen ein Wort Gottes, das sich an dem Verstande und Herzen eines jeden Wahrhaftigen als Wahrheit beweiset, überliefert wurde, als erste und heiligste Pflicht gefordert. Mancher kann nicht glauben, weil er erst nicht glauben wollte; er kann die Wahrheit nicht mehr als Wahrheit erkennen, weil sein Auge verdorben, weil er seine Wahrheitsliebe verloren […], den Wahrheitssinn in sich vernichtet und in einen Lügensinn verwandelt hat.« Menken, Schriften IV, 81. Menken hat sich mit diesem moralischen Verständnis des Glaubens gegen die reformatorische Grundeinsicht von der Unfreiheit des Willens in der Frage des Glaubens gestellt. Er vertritt hier den humanistischen Geist des Erasmus, der ein Vorläufer des Geistes der Aufklärung ist. Seine Überzeugung von der Beweisbarkeit und Bewiesenheit der Wahrheit des christlichen Glaubens kehrt den Erkenntnisweg Anselms um: Aus credo ut intelligam wird intelligo ut credam.

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mit den Worten: »Leiden und Trübsal ist die Veranlassung und Einleitung zu dieser über alle Erwartung erfreuenden That des Herrn. Die Menschheit erscheint in ihrer ganzen Niedrigkeit, Gebrechlichkeit und Hülflosigkeit, und er in seiner ganzen Größe, Erhabenheit und göttlichen Helferskraft ganz als Jesus, als Retter und Helfer, wo nichts und keiner mehr retten und helfen kann, und offenbaret, was die Menschheit an ihm hat.«167 Die erste Homilie über Joh 11 endet mit einer eindringlichen seelsorgerlichen applicatio in direkter Anrede an die Zuhörerinnen und Zuhörer: »Auch du, m. Z., darfst dein geistiges Elend, die sonst unheilbare Krankheit der menschlichen Natur, die wir Sünde nennen, so ansehen, als nicht zum Tode, sondern zum Leben, zur Ehre Gottes, daß der Sohn Gottes dadurch verherrlicht werde, wenn du an ihn glaubst, und seine Vorschriften und Lehren, Verheißungen und Anstalten, so annimmst und gebrauchst, wie ein um seine Genesung bekümmerter Kranker, die Vorschriften und Mittel seines Arztes, zu dem er Vertrauen hat […]. Aber in einem solchen heißern, schwerern, bängern und längern Leiden denke an das Wort dieser Geschichte: Als Jesus hörte, daß Lazarus krank war, blieb er zween Tage an dem Orte, da er war […]. Werde an dem Vaterherzen Gottes nicht irre, wenn er unväterlich hart mit dir zu verfahren scheint.«168

Es ist Menkens Heiligungslehre mit ihrem warnenden und verheißungsvollen, belohnenden Aspekt, die hier in den Text eingetragen wird: »Und wenn du dich wohl verhältst, im Stillesein, im Dulden, im Harren, im Bitten, im Ansehen der Belohnung, im Glauben, im Hoffen auf die Herrlichkeit dich wohlverhältst, wo wird er dich, nach dem Maße deiner Traurigkeit reichlich trösten, dich nach dem heißesten Kampfe am herrlichsten erquicken und dein bitterstes Leiden in die süßeste Seligkeit auflösen.«169

5.4.4.2 Zweites Beispiel: die Homilie über 2Kön 5,1–12 Menken hat von Oktober bis Dezember 1819 fünf Homilien zur Geschichte von der Heilung des Syrers Naeman in 2Kön 5 in fortlaufender Auslegung gehalten.170 Die erste dieser Homilien ist der Auslegung von 2Kön 5,1–12 gewidmet. In einer kurzen Einleitung stellt Menken auch diesen Text in den großen Zusammenhang der göttlichen Offenbarungsgeschichte in der Heiligen Schrift. Aber auch sonst biete diese Geschichte dem Nachdenken eine Fülle von Betrachtungen, denen weder Herz noch Verstand eine willige Teil167 168 169 170

Menken, Schriften IV, 38. Ebd. 39 Ebd. Menken nahm sie auf in seinen Band Predigten (jetzt in: Menken, Schriften V, 77–117).

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nahme versagen könne.171 Die interpretierende Neuerzählung wendet sich also diesmal dem Individuellen zu, das integriert ist in die universale Heilsgeschichte, der Heilung des vom Aussatz befallenen syrischen Feldherrn Naeman in Israel. Es gelingt Menken, die tiefe Menschlichkeit dieser Geschichte so nachzuempfinden, dass sie unmittelbar berührt: die Allgemeinheit des menschlichen Elends am Schicksal des Naeman, die wichtige Rolle einer unbedeutenden Sklavin, die bei einem Feldzug der Syrer aus Israel mitgebracht wurde und im Dienst der Frau des Naeman stand. Sie bringt die Geschichte ins Rollen. Sie hilft, alle Bedenklichkeiten zu überwinden. Die Hoffnung auf Heilung einer lebensbedrohenden Krankheit bahnt auch den Weg als Bittsteller in feindliches Land. Die israelitische Sklavin hatte Naeman auf den Propheten Elisa hingewiesen und ihm so Hoffnung auf Heilung gemacht. Aber natürlich kann der Feldherr des syrischen Königs nicht einfach zum Propheten Elisa reisen. Es bedarf der Vermittlung auf höchster Ebene und der Einhaltung des Protokolls. Menken zeichnet die einfühlsamen und humorvollen Details dieser wunderbaren Geschichte in einer spürbaren Freude am Text nach, so dass eine unmittelbare Auslegung entsteht, bei der die historische Fremdheit ganz zurücktritt. Menkens Auslegung steigert sich zum Ende hin, indem die Naemangeschichte für ihn zu einer Diagnose des Zeitgeistes (der Aufklärung) wird. Die Vergangenheit dieser Geschichte mit dem Verhalten ihres Protagonisten wird transparent für die Gegenwart und ermöglicht eine tiefere Sicht auf diese! Zwischen Naeman und der so nahen göttlichen Hilfe steht seine Meinung über das Göttliche, seine Überzeugung, »das Göttliche müsse sich anders geben, seines Handelns und Helfens Weise und Form müsse eine andere sein; wobei er auch gar nicht fragt: Hast du denn zu deiner Meinung Grund und Recht? oder: Ist diese Eigenthümlichkeit der Rede, der Handlung, der Hülfe, die dir an dem Göttlichen befremdend und zuwider ist, in sich unedel und unwürdig?«172 Die in den Fluss der Neuerzählung integrierte applicatio stellt den Grundschaden heraus, den Menken im Zeitgeist der Aufklärung erkennt. Und wenn auch einschränkend zu sagen ist, dass Menkens Urteil zu pauschal ist und berechtigte Anliegen der Aufklärung übersieht – mit dieser Kritik hat er das Kernproblem der theologischen Aufklärung getroffen: »Ohne Bedenken und ohne Untersuchung der Meinung als einem Orakel und Götterspruch vertrauend, also sich selbst als die untrügliche Erkenntniß verehrend, geht er [Naeman, H.M.R.] davon. Wie ist das alte Bild so treu und wahr! Und wie ist es so frisch und neu, als ob Menschen dieser Tage dazu gesessen hätten! Frage Tausende, die dem Menschlichen mit Bewunderung und Verehrung ergeben sind, und das Heilige und Göttliche mit Geringschätzung oder Verachtung liegen lassen: Warum also? Und sie werden nichts 171 Menken, Schriften V, 78. 172 Ebd. 85.

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Predigen im Horizont der Aufklärung anders antworten können, als dies Eine: Ich meinte – ich meinte, das müsse anders sein, reden, wollen und wirken; […] ich müßte meine Meinung verwerfen, wenn ich dies annehmen wollte, und die Meinung der Menge und der Zeit. […] Dies ›Ich meine‹ ist von allem Gewalttätigen auf Erden das Gewaltigste, und, wo nicht von allen Dingen das Aergste, doch von allem Unglückseligen das Unglückseligste. Dies ›Ich meine‹ hat die Sünde und das Elend und den Tod in die Welt gebracht, und dies ›Ich meine‹ hält die Erlösung von der Sünde und dem Elende und dem Tode bei Tausenden auf; und diese Tausende, wenn sie in der Meinung verstorben sind, werden das zukünftige Leben in einer andern Welt mit dem Gedanken beginnen: ich meinte –.«173

Die Analysen zum narrativen Predigtstil Menkens können in folgenden Punkten zusammengefasst werden: Bei erzählenden Texten praktiziert Menken einen narrativen Predigtstil und wendet ihn an auf Texte, die die Geschichte Israels und die Geschichte einzelner Personen betreffen. Neu erzählte Individualgeschichte ist immer integriert in die übergeordnete Universalgeschichte des Reiches Gottes. Menken praktiziert eine unmittelbare Auslegung, die der vorkritischen Hermeneutik des Altprotestantismus verpflichtet ist. Die Fantasie des Auslegers wird gezügelt durch die strenge Bindung an den Text, seinen unmittelbaren Kontext und seinen Ort im Ganzen der Schrift. Der Prediger erweist sich als guter Menschenkenner, der sich in die Gefühle und Beziehungen der handelnden Personen versetzt und seinen »treuen Zuhörern« den Eindruck vermittelt, als seien sie selbst dabei gewesen. Man kann von einem involvierenden Erzählen mit einer starken seelsorgerlichen Tendenz sprechen. Die homiletische Auslegung, die am Text entlanggeht und ihn immer wieder einblendet, wird gelegentlich durch einen Ausblick in die Gegenwart unterbrochen. Es geht ein Fenster auf zu den direkt angeredeten Hörern und Hörerinnen. Direkte applicatio findet sich mit einer deutlichen Zurückhaltung auch am Ende der Homilien. In die Neuerzählung der geschichtlichen Texte ist Menkens Widerspruch gegen den Zeitgeist der Aufklärung, gegen ihren Fortschrittsglauben und die Überschätzung der menschlichen Vernunft hineinerzählt. Er verteidigt die Bibel und hält es doch eigentlich gar nicht für nötig, denn sie verteidigt ja sich selbst. Die Auslegung wird nicht nur gelenkt und geprägt von Menkens Ablehnung der Aufklärung, sondern auch von seinen dogmatischen Vorurteilen, die zum Teil im Gegensatz zur kirchlichen Dogmatik stehen und Ausdruck seines Biblizismus sind, der sich von der Autorität der kirchlichen Bekenntnisse gelöst hat.

173 Ebd.

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5.4.5 »Texthomiletik« und das Problem der applicatio Menken kennt die formalen Prinzipien der Predigtgestaltung, wie sie nach der Reformation vor allem in der altprotestantischen Orthodoxie entwickelt wurden. Das Grundschema einer Predigtgliederung nach altprotestantischem Muster lautet: exordium – Textverlesung – partitio – explicatio – applicatio – conclusio. Menken hat dieses Schema gelegentlich übernommen.174 Er hat aber eine deutliche Zurückhaltung gegenüber einer gesondert angehängten applicatio geübt. Bei Menken geschieht eine Hineinnahme der applicatio in die explicatio, oder noch genauer gesagt: Menken sucht und entdeckt die applicatio in der explicatio.175 In seiner Homilie zu Esra 6,14f, die doch einen kargen, der Lebenswelt der Zuhörer- oder Leserschaft fernen Text auslegen will, fragt Menken am Ende seiner Erzählung vom nachexilischen Tempelbau: »Sollen wir nun zu dieser Betrachtung, wenn es auch weder nöthig noch nützlich wäre, noch einige sogenannte Nutzanwendungen hinzufügen?«176 Und er lässt dann doch drei »Nutzanwendungen« folgen. In seiner Homilie über Hebr 11,17–19 sagt Menken am Ende: »Zu besonderen erbaulichen Erweckungen, Ermahnungen lässt uns diese Schriftstelle keine Zeit. Das richtige Verstehen der Schriftstelle selbst ist die Hauptsache und ist das Erbaulichste.«177

In der 22. Homilie des Eliaszyklus (zu 2Chr 21,12–15) erklärt er am Ende: »Ich kann jetzt die Wahrheiten dieses Abschnittes der heiligen Geschichte nicht weiter entwickeln und in noch nähere Anwendung auf uns bringen; und ich halte es auch nicht für nöthig, da sie von der Art sind, daß sie sich selbst, jedem der sie betrachtet, zur Anwendung darbieten. Wer Gott fürchtet und zu dem Worte Gottes Lust und Freude hat, dem ist zur Erbauung und Anwendung genug gesagt.«178

Gelegentlich nennt Menken seine Zuhörer und Zuhörerinnen (humorvoll) »erbauungsbegierig« und gibt ihnen zur Erbauung noch eine kleine Collage aus Schriftzitaten, weil ja in den Texten selbst alle Erbauung liegt.179 174 Ein Beispiel ist die oben analysierte Predigt zur Einführung in St. Martini, Bremen. 175 Die problematische Unterscheidung von explicatio und applicatio ist aber unabdingbar. Ulrich Luz gebraucht dafür die treffende Formulierung der Zuordnung vom »Erklären« und »Verstehen« eines Textes: »Eine Erklärung fragt nach dem Sinn (meaning) eines Textes. Verstehen aber fragt nach seiner Bedeutung (significance), nämlich für mich als Leser oder für meine Interpretationsgemeinschaft.« Luz, Theologische Hermeneutik, 4. Luz ist überzeugt, »dass die Unterscheidung von Explikation und Applikation, von Sinn und Bedeutung von Texten um der Alterität der Texte willen unbedingt nötig ist«. Ebd. 311. 176 Menken, Schriften V, 142. 177 Menken, Schriften II, 353. 178 Ebd. 275. 179 So Menken, Schriften II, 364: »Ja, du erbauungsbegieriger Zuhörer! Denke auch bei dieser

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Predigen im Horizont der Aufklärung

Die Gründe für diese Zurückhaltung gegenüber einer gesonderten, der explicatio folgenden applicatio liegen auf der Hand. Menken demonstriert so seinen Protest gegen den Textverlust in der Homiletik der Aufklärung180, gegen die Manipulation der Texte in einer homiletischen Nutzbarmachung, die ihren eigentlichen Sinn außer Acht lässt. Predigt ist in der Aufklärungshomiletik primär »Dienst am Kunden«. Menken ist ein »Texthomiletiker«.181 Predigen ist für ihn das Hören und Verstehen eines biblischen Textes für die und mit den Hörern und Hörerinnen. Damit die Schrift sich öffnet und die Texte zur persönlichen Anrede werden, muss jemand zum Wort Gottes Lust und Freude haben. Der Prediger Menken hat persönlich ein großes Zutrauen zur Heiligen Schrift. Er hat hohe Erwartungen an die Schrift und tiefen Respekt vor ihr. Die explicatio eines Textes, die nach Menkens Verständnis in der Predigt, in ihrer homiletischen performance, zugleich applicatio wird, gründet bei ihm nicht in der historisch-kritischen Bibelexegese, die sich mit der Aufklärung durchgesetzt hat. Menken lehnt diese Methode ab, weil sie im Gegensatz steht zu seinem Verständnis der Bibel als zusammenhängendes Ganzes und als Offenbarung Gottes im schriftlich festgehaltenen Wort. Sie ermöglicht, die Alterität eines Textes präzise zu erfassen. Sie entfremdet aber nicht nur den einzelnen Text dem heutigen Verstehen, sondern stellt auch den Zusammenhang aller Texte in Frage, löst die Einheit der Bibel auf und problematisiert damit den biblischen Kanon. Menken pflegt eine unmittelbare Beziehung zur Bibel. Er bekennt:

Gelegenheit an das Allererbaulichste, das nicht veraltet, das seine die Seele erquickende, belebende, stärkende Kraft bei keiner recht gestimmten Seele je verliert, […]:« Es folgen die Schriftzitate Röm 8,31f und 2Tim 1,10. 180 Dieser Textverlust ist konkret zu konstatieren in textlosen Themenpredigten, die einer natürlichen Religion verpflichtet sind, in der Geringschätzung, ja Verachtung des Alten Testaments und in der Reduzierung von biblischen Texten zu Motti in der Predigtpraxis der Aufklärung. 181 Menkens homiletische Position hat eine auffallende Ähnlichkeit mit der Homiletik Hans Joachim Iwands im zwanzigsten Jahrhundert, die in den Göttinger Predigtmeditationen zur beispielhaften Anwendung kam. Auch H.J. Iwand ist ein »Texthomiletiker«, bei dem explicatio und applicatio in eins fallen. Dazu J. Henkys: »Der Prediger und die Hörer stellen für ihn [Iwand, H.M.R.] keine neben dem Schriftwort selbstständigen Probleme dar. Iwands Predigtmeditationen sind Hinwendungen zum Bibelwort in der Weise, daß Exegese, kirchliche Lehre, Auslegungsgeschichte und Gegenwartserfahrung, gerade auch die politische sich zusammenfinden zu einem einzigen Vorgang des Anklopfens, des dringlichen Lauschens und Wartens auf das lebendige Wort, das zur Predigt auf der Grundlage des geschriebenen Wortes ermächtigt.« Henkys, Ansätze des Predigtverständnisses, 48. Die Ineinssetzung von explicatio und applicatio wehrt der Einstellung, dass der Prediger oder die Predigerin die Anwendung des Textes nach seiner Exegese in der Hand habe und sie den Zuhörern und Zuhörerinnen vermitteln könne. Dazu Iwand selbst: »Die Richtung, in der das Wort Gottes uns trifft und anspricht, liegt bei ihm selbst; das Wort behält sich auch in der ›Anwendung‹ selbst in der Hand.« Iwand, Briefe, Vorträge, Predigtmeditationen, 490. Eindrucksvoll ist das starke Vertrauen zum biblischen Text selbst bei Menken und Iwand.

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»Mir gilt es […] ganz gleich, ob sich die Thatsachen und Geschichten, worauf sich das Christenthum gründet, vor neunzehn Jahrhunderten oder vor neunzehn Tagen zugetragen haben, ich setze mich alle Tage zu der Apostel Füßen und lasse mir von ihnen Alles erzählen und mich durch sie belehren.«182

Man kann einen solchen Umgang mit den alten Texten der Bibel ein »unmittelbares« Verstehen nennen, das in der heutigen Homiletik unter einem strengen Verdikt steht.183 Man sollte aber Folgendes bedenken: Die Bibel ist bis zur Aufklärung ausgelegt und gepredigt worden ohne historisch-kritische Exegese. Die Exegese der vorangehenden Epochen als Irrweg zu verstehen, wäre anachronistisch und entspräche jener Überheblichkeit der Späteren, die alles besser wissen als die, die vor ihnen waren. Es muss auch genauer gefragt werden, was in jenen früheren Zeiten »unmittelbare« Auslegung bedeutete und was sie bei Gottfried Menken bedeutet. Die Auslegung eines Textes, der in einem großen geschichtlichen Abstand zur Gegenwart des Auslegers steht, ist ohne »Vermittlung« gar nicht denkbar. Unmittelbare Auslegung ist nur scheinbar unmittelbar. Menkens erste hermeneutische Regel ist: zu fragen, was der Text sagt. Dazu sind nötig: sprachliche Kenntnisse, die Beachtung des Kontextes und ein dogmatisches Vorverständnis, das den Text als Glaubenszeugnis erschließt. Bei Menken geschieht Vermittlung des Textes nicht durch die kirchlich-orthodoxe Dogmatik, sondern durch seinen Kampf gegen die Aufklärung und seine eigene Dogmatik, seine heilsgeschichtliche Theologie mit ihrer Betonung der persönlichen Heiligung. Auslegung bei Menken ist keine naive Aneignung des Textes. Sie ist durchaus vermittelt, und zwar so, dass das Erklären den Homiletiker, der predigen soll und muss, zum Verstehen in der Gegenwart drängt und für ihn explicatio und applicatio zusammengehören. Menken predigt an gegen den Textverlust. Die Wiedergewinnung des Textes, die Lust am Wort und seiner Auslegung und der Respekt vor ihm – das vor allem macht die Bedeutung Menkens aus in seiner Zeit der Bibelvernachläs-

182 Das Zitat steht in einem Brief Menkens an den ältesten Sohn des Buchhändlers Friedrich Perthes, einen Enkel von Matthias Claudius. Gildemeister, Leben und Wirken II, 115. Menken stellte den jungen Perthes als Adjunkt ein am Ende seiner Amtszeit, die von gesundheitlichen Problemen überschattet war. 183 Engemann spricht von »der verführerischen Praxis einer unmittelbaren Auslegung«: »Unmittelbare Auslegung heißt, einen willkürlichen Bogen zu schlagen von dem, was dasteht, zu dem, was es heute bedeutet – ohne gefragt zu haben, was es wohl damals bedeutet haben könnte und was es heute zu sagen gilt. […] Unmittelbare Auslegung übersieht die Bedeutung der Situationsgebundenheit des Textes. Die Literaturwissenschaft verweist daher auf die Ungleichzeitigkeit der Situation von Autor und Leser, um klarzustellen, dass Texte immer eine übersetzende Vermittlung durchlaufen müssen, bevor man von einem Verstehen sprechen kann.« Engemann, Homiletik, 114 f.

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Predigen im Horizont der Aufklärung

sigung und Bibelverachtung. Und das verdient Beachtung in der Gegenwart, in der der Text eine neue homiletische Beachtung findet.184

5.4.6 Zur Sprache der Homilien Menkens Die Bedeutung und Wichtigkeit der Sprache als Medium der Predigt wird, wie dargestellt wurde, in der Homiletik der Neologie stark betont. Die Theologen und Prediger der Aufklärung arbeiten an einer Sprache, in der die biblische Botschaft klar und verständlich wird für die zeitgenössischen Hörer und Hörerinnen.185 Auch Menken schenkt der Sprache große Aufmerksamkeit. Sie steht bei ihm im Dienst der Biblizität der Predigt und nicht primär im Dienst der Hörer und Hörerinnen, die hören und verstehen sollen. Es ist erstaunlich und beachtlich, dass Menkens Predigten gerade so verstanden und beachtet wurden. Nach Karl Barth liegt das Geheimnis des »Erfolgs« von Menkens Predigten und der Tatsache, dass sie – im Unterschied zu vielen alten Predigten – bis heute nicht ganz veraltet wirken, in ihrer Biblizität, wie er unter Anspielung auf Ps 1 festhält: »Man kann an Menken studieren, wie das dem Biblizismus eigene Sinnen über dem Gesetz Tag und Nacht, der Gedankenführung, der Haltung, der Diktion und dem Ausdruck des Theologen eine Würze, eine Kraft, ein Geheimnis gibt, die man bei dem nicht in diesem Sinn EntÞtierten vergeblich suchen wird.«186 184 Interessant und bemerkenswert sind die Beobachtungen von Alexander Deeg: »Als man in der Homiletik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Hörerinnen und Hörer neu würdigte und gleichzeitig auch die Predigerinnen und Prediger mit ihren psychologischen Verfasstheiten und kommunikativen sowie rhetorischen Fähigkeiten neu entdeckte, geriet der Text als drittes Moment des seit Schleiermacher etablierten homiletischen Dreiecks nicht selten an den Rand homiletischer Aufmerksamkeit.« Deeg, Predigt und Derascha, 22. Deeg sieht bereits in Rudolf Bohrens Predigtlehre (zuerst 1971) einen »Versuch« »entgegenzusteuern«, denn im Nachwort zur vierten Auflage der Predigtlehre schreibe Bohren 1979: »Der Prediger muss neu lernen, die Bibel zu lesen. Würde ich die Predigtlehre heute schreiben, möchte ich der Bedeutung der Schrift und des Textes besondere Bedeutung zumessen.« Bohren, Predigtlehre, 4 1979, 558. Deeg stellt fest: »Inzwischen scheint Bohrens Wegweisung gehört worden zu sein. Der Text gewinnt neue homiletische Relevanz, wie sich überhaupt das Lesen neuer theologischer Würdigung erfreut.« Ebd. »Die neuerliche Wende zur Betonung der konstitutiven Bedeutung des Textes für die Predigt« wird für Deeg »auch daran ersichtlich, dass seit 1999 allein im deutschsprachigen Bereich mit den Werken von Hans-Ulrich Gehring, Georg Lämmlin und Jan Peter Grevel drei Monographien erschienen, die sich in unterschiedlicher Weise der homiletischen Texthermeneutik widmen.« Ebd. 23. Gemeint sind folgende Werke: Gehring, Schriftprinzip; Lämmlin, Die Lust am Wort; Grevel, Die Predigt und ihr Text. 185 Die Homiletik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg knüpft mit der Beachtung der Sprachlichkeit der Predigt und der Rhetorik des Predigers und der Predigerin an die homiletischen Bemühungen der Aufklärung an. 186 Barth, Die protestantische Theologie, 478.

Aspekte der formalen Homiletik im Predigtwerk Menkens

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Menken spricht nach Barth eine andere Sprache als die Aufklärung, der Idealismus, die Romantik, der Pietismus und auch die Orthodoxie. Es ist die Sprache einer »relativ selbständig an der Bibel orientierte[n] Frömmigkeit und Haltung«.187 Kurt Novak hebt die poetische Begabung Menkens hervor. Menken entwickle in der Auslegung des Alten und des Neuen Testaments eine »poetische Empathie«. In seinen Schriftauslegungen flössen Vergangenheit und Gegenwart zusammen. Damit beschreibt Novak sehr schön den narrativen Predigtstil Menkens und die Kunst seiner involvierenden Auslegung, wie sie oben analysiert wurde: »Menken entwickelte zur Bibel namentlich des Alten, doch auch des Neuen Testaments eine Art von poetischer Empathie. Man konnte glauben, er habe persönlich auf Davids Streitwagen gesessen oder sich unter den Augen- und Ohrenzeugen der Predigt Jesu vom Berge befunden. Das Geheimnis seiner nachhaltigen Wirkung im 19. Jahrhundert bestand darin, daß er den Geschichten der Bibel seinen poetischen Atem einblies. Sie schienen sich aus den Buchdeckeln zu erheben. In ähnlichem Stil bearbeitete und deutete er die Geschichte seiner Zeit. Er überspannte die Zeitereignisse mit einem Netz von biblischen Bezügen. König Nebukadnezar und der fromme David traten, wenn Menken es wollte, unter die Zeitgenossen. Vergangenheit und Gegenwart flossen zusammen. Sie erzeugten ein aktuoses ›Hier und Jetzt‹. Menken schuf quer durch die Zeiten eine eigene Zeit. ›Bibelpoetenzeit‹ könnte man sie nennen.«188

Die Predigtsprache Menkens hat sich gebildet in der »Sprachschule des Alten Testamentes«.189 Menken gebrauchte als deutsche Übersetzung die von ihm hochgeschätzte Lutherbibel.190 Seine Diktion ist zugleich geschult an der Sprache der Weimarer Klassik. Er spricht ein schönes, klares Deutsch, das aber keine literarischen Ansprüche erhebt, das sich ganz der biblischen Diktion anpassen will. Und es ist dabei nicht wie bei vielen anderen zur »Sprache Kanaans« geworden.

187 Ebd. 188 Novak, Die Welt ist angezündet, 257. 189 Den Ausdruck »Sprachschule des Alten Testaments« verwendet Engemann (vgl. Engemann, Homiletik, 151) mit Bezug auf Preuß, Das Alte Testament. 190 Als 1822 in Bremen eine revidierte Lutherbibel erschien, der die Hallesche Bibelausgabe zugrunde lag, verfasste Menken das Vorwort. Es ist abgedruckt in: Menken, Schriften VII, 281–291.

6. Das reichsgeschichtliche Schriftverständnis Gottfried Menkens und das Problem des Biblizismus1 6.1 Die Herrlichkeit der Bibel, ihre Wahrheit und Göttlichkeit – und ihre Menschlichkeit? Die zentrale Rolle, die die Bibel in Menkens Theologie und Predigtarbeit hat und die letztlich ein Erbe seiner Bremer Herkunft ist, kommt sprechend zum Ausdruck in einer Selbstbezeichnung, wie sie in seinen Schriften und Predigten immer wieder begegnet. Menken nennt sich selbst einen »Bibelverehrer«, und er redet seine Leser und Leserinnen ebenso an.2 Seine Bibelverehrung bezieht sich auf die ganze Bibel und schließt eine Hochschätzung auch des Alten Testaments ein. Die Wertschätzung der Bibel steigert sich bei Menken zu ihrer Verherrlichung, ja zu einer Apotheose. Hier schlägt das Herz des Theologen und Pfarrers Gottfried Menken. In einem Lied3 redet Menken die Bibel an und scheut sich nicht, dabei christologische Attribute aus dem Nicänischen Glaubensbekenntnis zu verwenden: An die Bibel Du Licht vom ewgen Lichte! Erleuchte und zernichte Den Irrthum und den Wahn! Führ’ mich auf eb’nen Wegen

1 Menken entfaltet seine Schriftlehre in der Einleitung seiner Anleitung (Menken, Schriften VI, 15–41). So ist es auch der Brauch in der altprotestantischen Dogmatik: Am Anfang steht der Locus De Scriptura Sacra. Berücksichtigt werden im Folgenden auch die Vorrede zur Bibel, die Menken 1822 für eine Bremer Ausgabe der Luther-Bibel verfasste (Menken, Schriften VII, 281–291), die Texte Herrlichkeit der Bibel. Aus einem Briefe (Menken, Schriften VII, 292–294.) und Etwas über Tradition und Glauben (Menken, Schriften VII, 318–330). 2 Menken schreibt z. B. in der Vorrede zur ersten Auflage seiner Anleitung: »Mir kommt es einzig darauf an, ob die Christen, die Bibelverehrer, dieses Buch für christlich, für schriftgemäss erkennen oder nicht.« Menken, Schriften VI, VIII. Die Bezeichnung Bibel- oder Schriftverehrer, gelegentlich auch Schriftforscher, begegnet passim in allen Schriften Menkens, besonders häufig im Monarchienbild. Vgl. Schriften VII, 107.139.144 u.ö. Es gehört zur weitreichenden Wirkungsgeschichte Menkens, dass sich am Ende des 19. Jahrhunderts der Theologe Martin Kähler diese Selbstbezeichnung zu eigen macht. Vgl. dazu Kapitel 11.5 dieser Arbeit. 3 Menken, Schriften VII, 334.

Die Herrlichkeit der Bibel, ihre Wahrheit und Göttlichkeit

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Dem grossen Ziel entgegen Zum Himmelreich hinan.

Mit seiner Bibelverehrung sieht sich Menken im totalen Gegensatz zu seinem »bibelscheuen und bibelfeindlichem Zeitalter«.4 Er fühlt sich berufen, der Bibelverachtung entgegenzutreten und denen Hilfe zu bieten, die die Bibel verstehen wollen und in ihr Wahrheit für ihr Leben suchen. Dies »um so mehr, da die Bibel überhaupt, und besonders das alte Testament, zumal der historische und prophetische Theil desselben, je länger je völliger ein fremdes, ungelesenes und unbekanntes Buch in der sogenannten Christenheit wird, und das immer mehr werden muß, da jetzt fast überall die christlichen Schulen durchaus auf heidnischen Fuß gesetzt werden […].«5

Die Bibel ist die authentische Urkunde der göttlichen Offenbarung.6 Ihre Wahrheit und Göttlichkeit ist darin begründet, dass sie göttlichen Ursprungs ist. Menken ist der Authentizität der biblischen Schriften gewiss und lehnt jede Kritik an den biblischen Angaben zu den Verfassern und der zeitlichen Ansetzung ihrer Texte ab. »Die Verfasser der biblischen Schriften sind glaubwürdig.«7 Mose ist der Verfasser der ersten fünf Bücher der Bibel. Das Prophetenbuch des Jesaja stammt von ein und demselben Verfasser und ist nicht auf verschiedene Entstehungszeiten aufzuteilen. Die Bibel enthält Wahrheit und keine Dichtung. Das macht Menken z.B. geltend gegenüber der Einschätzung des Prophetenbüchleins des Jona als »eine Fabel oder Parabel«.8 Gegenüber allen anderen Religionsschriften, »vor allen philosophischen Systemen« und überhaupt vor allen Büchern, »die menschlichen Ursprungs sind«, zeichnet sich die Bibel »durch die höchste Gotteswürdigkeit ihres gesamten Inhalts« aus.9 Menkens Verherrlichung der Bibel, sein Bekenntnis zu ihrer Einzigartigkeit äußert sich in superlativischen Sätzen: »Außer der Bibel gibt es keine in Schrift verfaßte Offenbarung. Überdies aber ist der gesamte Inhalt der Bibel so überschwänglich erfreulich für die Menschheit, daß sie nichts Höheres, Genügenderes und Beseligenderes wünschen kann […]. – Kein Gleiches, – kein Aehnliches findet sich irgendwo. Es ist unvergleichbar das Einige Grösste, das Beste, was die Menschheit hat […]. Alle darin enthaltenen Offenbarungen, Reden, Verheissungen, Gebote, Handlungen, Anstalten Gottes sind von der Art, dass sie des lebendigen Gottes, der die Liebe ist, […] unvergleichbar würdig sind. Die höchste Er4 Ebd. XI. 5 Menken, Schriften II, XII. 6 Vgl. dazu den folgenden Abschnitt »Die Schrift als Urkunde der Offenbarung und die Verneinung einer natürlichen Religion«. 7 Menken, Schriften VI, 24. 8 Ebd. 24 Anm. 9 Ebd. 27.

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Das reichsgeschichtliche Schriftverständnis Gottfried Menkens habenheit in der allertiefsten Demuth, in der allergütigsten Selbsterniedrigung, ist ihr Charakter.«10

»Die höchste Erhabenheit in der allertiefsten Demut, in der allergütigsten Selbsterniedrigung«: Hier deutet sich ein christologisches Schriftverständnis an, das die Göttlichkeit der Schrift in ihrer Menschlichkeit erkennt. Hier scheint Menken der Skriptologie Hamanns ganz nahe zu sein. Die Herrlichkeit der Bibel liegt nicht offen zu Tage und leuchtet nicht jedem und jeder unmittelbar ein. Die Göttlichkeit und Herrlichkeit der Heiligen Schrift ist verborgen und muss entdeckt werden. Da scheint vieles willkürlich und zufällig zu sein und »anscheinend gesetzlose Willkür« zu herrschen. Doch Menken schließt sich dem von ihm hoch geschätzten Hamann an, der gesagt hat: »In der Bibel ist dieselbe regelmässige Unordnung, wie in der Natur.«11 Und er fügt hinzu: »In und an der Bibel trägt, wo nicht Alles doch sehr Vieles, eben so den Charakter des Willkürlichen und Zufälligen, wie in der Natur. Und doch, wie hier in der Natur, alles in verhüllten Gesetzen der Weisheit und der ihr dienenden Macht gegründet, und in Zahl, Maß und Gewicht gefaßt und geordnet ist, so ist hier, in der Bibel, alles aus der Absicht und nach dem Plan und Rath der ewigen Liebe hervorgegangen, […] und diese scheinbar regellose Freiheit bei der festesten Nothwendigkeit, diese anscheinend gesetzlose Willkür bei verborgenen Gesetzen, Fügungen und Methoden ewiger Wahrheit und Weisheit, […] drückt, sobald die verborgene Liebe und Weisheit erblickt ist, dem Ganzen das Gepräge göttlicher Meisterschaft auf, und verwandelt sich in eine Glorie unaussprechlicher göttlicher Meisterschaft um das Wort Gottes her, in deren Licht und Glanz es langweilig und abgeschmackt sein würde, nach Beweisen des Göttlichen in diesem Buch zu fragen.«12

Göttliches kann nur durch Göttliches erkannt werden: »Das Göttliche, das außer dem Menschen in der Welt da ist, kann von ihm nur in dem Maße erkannt und angenommen werden, worin er sich selbst damit in Harmonie setzt und das Ungöttliche, das in ihm ist, verleugnet und besiegt.«13 Die Schrift öffnet sich nur dem Menschen in ihrer heilsamen Kraft, in ihrer Göttlichkeit und Herrlichkeit, der oder die »nach Leben und unvergänglichem Leben dürstet«. Ähnliches meinte Hamann, wenn er die Schrift aus seiner eigenen Erfahrung mit dem aus Lumpen geknüpften Seil verglich, mit dem der Prophet Jeremia aus der Grube gezogen wurde.14 Menken hat die Bibelkritik und Bibelverachtung der späten Aufklärung vor Augen, wenn er schreibt: 10 Ebd. 27 f. 11 Menken, Schriften VII, 292. 12 Das Zitat stammt aus einem Briefausschnitt Menkens, der unter dem Titel Herrlichkeit der Bibel in die vollständige Ausgabe der Schriften aufgenommen wurde. Menken, Schriften VII, 292 f. 13 Menken, Schriften VI, 19. 14 Vgl. dazu Kap. 3.2.4 dieser Arbeit.

Die Herrlichkeit der Bibel, ihre Wahrheit und Göttlichkeit

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»Sie [die Bibel, H.M.R.] ist nach Inhalt und Sprache so, dass sie dem eiteln, verkehrten Sinne des schlechten und stolzen Menschen mißfallen, dem geraden Auge aber des Wahrhaftigen als die Wahrheit erscheinen und der Seele, die unter dem Druck des Todes und der Vergänglichkeit nach Leben und unvergänglichem Leben dürstet, dem Tode die Macht benehmen, und Leben und unvergängliches Wesen ans Licht bringen, und ihr so offenbaren muß, woher sie sei. Sie ist Duft des Todes zum Tode, und Duft des Lebens zum Leben.«15

Die Schrift ist aber nun doch von Menschen geschrieben worden. Was bedeutet dies für Menken und sein emphatisches Bekenntnis zur Göttlichkeit der Schrift? »Gott hat durch Menschen zu den Menschen geredet.«16 Das weiß Menken oder räumt es zumindest ein. Dabei betont er sofort, dass diese Menschen, die Propheten und Apostel, durch Wunder und die Gabe der Weissagung ausgewiesen waren und es auch sein mussten. Menschlichkeit bedeutet für Menken hier nicht die Möglichkeit von Irrtum und Widerspruch, der sich doch durch die Vielfalt der biblischen Zeugen ergeben könnte. Menken weiß: »Die Bibel ist nicht ein einzelnes Buch und nicht das Werk Eines Menschen und Einer Zeit. Es ist eine Sammlung vieler nach Inhalt und Form sehr verschiedener Schriften, von mehr als dreissig in mannichfaltiger Rücksicht verschiedenen Verfassern, geschrieben während einer langen Reihe von Jahrhunderten […].«17

Diese Feststellung impliziert aber kein wirklich geschichtliches Bewusstsein. Menschlichkeit bedeutet für Menken nicht, dass die biblischen Autoren den Vorstellungen ihrer Zeit verhaftet waren oder gar Einflüsse von anderen Völkern und Kulturen aufgenommen hätten. Historisch-kritische Erforschung der Bibel hat sich in dem Maße durchgesetzt, in dem die volle Menschlichkeit der biblischen Texte wahrgenommen und anerkannt wurde.18 Volle Menschlichkeit heißt Irrtumsfähigkeit und geschichtliche Bedingtheit, zeitliche Gebundenheit. Menken hat kein Problem mit dem geschichtlichen 15 16 17 18

Menken, Schriften VI, 28. Ebd. Ebd. 31. Diese Tatsache wird sehr deutlich bei Hans-Joachim Kraus. Kraus stellt eindrücklich den langen, konfliktreichen Prozess der Durchsetzung der historisch-kritischen Bibelhermeneutik als allmähliches und unaufhaltsames Anerkennen der vollen Menschlichkeit der Bibel dar, das in Ansätzen schon bei den Reformatoren beginnt. Vgl. Kraus, Die historisch-kritische Erforschung. Die Anwendung neuer hermeneutischer Methoden in unserer Zeit, z. B. in der psychoanalytischen Auslegung, in der feministischen und in der sozialgeschichtlichen Exegese lassen sich als wichtige Vertiefungen und Erweiterungen der Einsicht in die Menschlichkeit der biblischen Texte verstehen. Die historisch-kritische Hermeneutik in ihrer akademischen Form bedarf dieser Ergänzungen.

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Das reichsgeschichtliche Schriftverständnis Gottfried Menkens

Abstand, der uns von den biblischen Büchern trennt. Der »garstige Graben« Lessings existiert für ihn nicht. Die Menschlichkeit der Schrift tritt also bei Menken ganz zurück hinter ihrer Göttlichkeit. Die Vielfalt der biblischen Bücher ist kein Problem für Menken, denn er sieht vor allem ihre Einheit und Ganzheit. Dieses Schriftverständnis Menkens hat hermeneutische Konsequenzen. Die wichtigste Regel für die Auslegung der Schrift ist, dass die Bibel gelesen werden muss wie jedes andere menschliche Buch auch. Jede sachliche Kritik aber ist bei der Bibel ausgeschlossen: »Ihr Inhalt kann nicht, wie der Inhalt eines menschlichen Buches gedeutet und behandelt werden; er kann nicht denselben Zweifeln und Einwürfen unterliegen; er kann kein solches eklektisches Verfahren zulassen, als man sich in Betreff des Inhalts menschlicher Bücher erlaubt (da man das, was Einem zusagt, was man vorher schon für wahr hielt, oder auch für wahr halten könnte, wenn die Bibel gar nicht da wäre, annimmt, Andres aber, was diesem Buche eigen, aber mit unsern und unserer Zeitgenossen Meinungen unvereinbar ist, ausscheidet und verwirft); er muss vielmehr angenommen, erklärt, behandelt werden als Inhalt eines Wortes und Zeugnisses Gottes, das in allen seinen Aussprüchen wahrhaftig und zuverlässig ist.«19

Man darf wohl vor aller notwendigen Kritik darüber staunen, wie hier ein Theologe und Pfarrer unbeeindruckt von der mächtig anwachsenden Bibelkritik seiner Zeit die ganze Bibel als Gottes Wort versteht, ihrer Klarheit nach seinem Verständnis gewiss ist und sich ihr als sich selbst erschließendes Wort Gottes anvertraut. Die Vorbehalte Menkens aufgrund seines eigenen Schriftverständnisses gegenüber der historisch-kritischen Bibelhermeneutik kommen sehr eindrucksvoll im folgenden Zitat zum Ausdruck, das uns noch heute vor die kritische Frage stellt, in welcher Haltung die historisch-kritische Exegese zu praktizieren ist, damit sie helfen kann, das Wort Gottes im Menschenwort der Schrift zu hören: »Viele gehen an das Studium der Bibel, so dass diese ihnen zurufen möchte: Ihr seid ausgegangen, als zu einem Mörder, mit Schwertern und mit Stangen, mich zu fangen. – Aber sie geht mitten durch die Bewaffneten hinweg; läßt ihnen kaum das Obergewand, und auch damit wissen sie nichts anzufangen, denn – es kann nicht zerschnitten werden; es ist ungenäht, von oben an gewirkt durch und durch. Andere dagegen, die ohne Krieg im Herzen und ohne Waffen in der Hand, dazu kommen, nicht mit dem secirenden Messer einer nur auf das Fleisch gerichteten Kritik oder chemisch-dogmatischen Tiegel noch exegetischem Mikroskop über einzelnen Stellen, Geschichten, Aussprüche und Wörter herfallen, aber auf Sinn und Ton, auf Richtung und Zweck im Allgemeinen achten und nach dem Ganzen forschen, werden bald 19 Menken, Schriften VI, 34.

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gewahr, daß da nicht nur ein Wahrhaftiges und ein Göttliches sei, bewundernswürdig in Liebe, Einfalt und Tiefe, in Erhabenheit und Demuth; sondern auch daß das ein Ganzes ist, wenngleich dies Ganze in der Erkenntniß zu überschauen, oder als ein solches in Ordnung und Harmonie darzustellen, sie noch vorerst eben so unmöglich dünkt, als die Wasser zu messen mit der Faust und den Himmel zu fassen mit der Spanne, und die Erde zu begreifen mit einem Dreiling, und die Berge zu wiegen mit einem Gewicht und die Hügel mit einer Wage.«20

Im Unterschied zur historisch-kritischen Bibelhermeneutik betont Menken unentwegt die Einheit und Ganzheit der Schrift. Er bemüht die Passionsgeschichte und vergleicht die »sezierenden« Operationen der historisch-kritischen Bibelhermeneutik mit den Schwertern und Stangen, mit denen Jesus in Gethsemane gefangen genommen wurde. Doch das Göttliche lässt sich so nicht fassen. Die Soldaten erfassen nicht einmal das Obergewand, und es kann nicht zerschnitten werden. Das Ganze der Schrift aber in der Erkenntnis zu überschauen oder als ein solches in Ordnung und Harmonie darzustellen, erscheint zunächst als ein fast unmögliches Unterfangen. Menken, der ganz mit den biblischen Bildern lebt, vergleicht es mit Hiob, den Gott vor die Wunder seiner Schöpfung stellt und fragt, wer denn den Himmel zu fassen vermag mit der Spanne und die Erde zu begreifen mit einem Dreiling und die Berge zu wiegen mit einem Gewicht und die Hügel mit einer Waage. Die Schriftlehre Menkens ist eng verbunden mit seinem geschichtlichen Offenbarungsbegriff (Kap. 6.2). Besondere Beachtung verdient die Hochschätzung des Alten Testaments als konstitutiver Bestandteil der einen Heiligen Schrift und die theokratische Deutung der Geschichte Israels (Kap. 6.3). Nach einer Übersicht über die hermeneutischen Regeln Menkens (Kap. 6.4) wird seine Auseinandersetzung mit der Hermeneutik des Rationalismus an Hand seiner Dämonologie dargestellt (Kap. 6.5) und seine Beziehung zum altreformierten Schriftprinzip genauer untersucht (Kap. 6.6). Die Problematik der Schriftauffassung Menkens konzentriert sich im Begriff des Biblizismus. Deshalb wird dieses Kapitel abgeschlossen mit dem Versuch einer Klärung dieses Begriffs und der damit bezeichneten Sache (Kap. 6.7).

20 Menken, Schriften VII, 293 f. (Herrlichkeit der Bibel. Aus einem Briefe). Das aus der Leidensgeschichte entnommene Bild zur Kritik an der historisch-kritischen Schriftauslegung begegnet wieder bei Martin Kähler in der Beschreibung der Suche nach dem historischen Jesus. Da auch auf die Gestaltung der synoptischen Evangelien »schriftstellerische Absicht, fromm umgestaltende Sage, unwillkürliche Entstellung« eingewirkt habe, bleibe nun nichts andres übrig: »man mußte auf die Suche nach dem historischen Jesus ausziehen, der hinter den urchristlichen Berichten, ja hinter dem Ur-Evangelium steht, undeutlich durchscheinend. Das ist nun eifrig getan; ›manchem aber will es scheinen: obwohl man mit Spießen und Stangen ausgezogen ist, er ging hinaus mitten durch sie hinstreichend‹. Wenn er aber unter sie tritt mit seinem ›ich bin’s‹, wer wird nicht erschüttert zusammenbrechen?!« Kähler, Der sogenannte historische Jesus, 18. Hervorhebung H.M.R.

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Das reichsgeschichtliche Schriftverständnis Gottfried Menkens

6.2 Der Positivismus der Offenbarung und die Ablehnung einer natürlichen Religion Wie in der altprotestantischen Orthodoxie und bereits bei den Reformatoren selbst ist die Autorität der Bibel auch für Menken primär dadurch begründet, dass sie die Ur-Kunde der göttlichen Offenbarung ist. Deshalb entwickelt Menken in der Einleitung seiner Anleitung zunächst seine Offenbarungslehre. Menken ist der Überzeugung, dass es keine natürliche Religion gibt: »Man hat nie ein Volk, ja nie einen einzelnen Menschen gefunden, der eine natürliche Religion gehabt hätte, d. h. eine solche, deren Begriffe, Wahrheiten, Gebote, Gebräuche und Hoffnungen ihm angeboren gewesen wären, oder der vor allem Unterricht, vor aller Erziehung und Umgang mit Menschen, ohne alle Lehre, Überlieferung und Geschichte, durch Nachdenken und Spekulation allein dazu gekommen wäre und seine Religion nicht als heilige Lehre eines göttlichen Ursprungs, sondern allein als das Resultat seiner Spekulation gegeben und so hätte angesehen haben wollen.«21

Die Religion aller Völker gründet sich auf mündliche oder schriftliche Überlieferung. Menken ist überzeugt, »daß die Erkenntniß Gottes nicht (wie sich auch von selbst versteht) von Menschen gefunden, sondern von Gott gegeben, von Gott zu den Menschen, vom Himmel zur Erde gekommen, aus Offenbarung des Unsichtbaren den Menschen zu Theil geworden sei«.22 Menken vertritt also einen Offenbarungspositivismus. Der Begriff des Positiven, der dann in den theologischen Frontenbildungen des 19. Jahrhunderts eine große Rolle spielen wird, ist bei Menken in seiner ursprünglichen Bedeutung gut zu fassen. »Die Geschichte der Menschheit zeigt, daß die Idee eines Gottes durch Tradition, durch Schrift und Sprache, Institute und Kultus zu allen Menschenstämmen gekommen ist.«23 Dies ist eine empirische Stütze seines Offenbarungspositivismus. Der tiefere Grund liegt in seiner »Erkenntnislehre« oder in seiner Begrenzung des Vermögens der menschlichen Vernunft. Menken ist Sensualist. Er bekennt: »Von einem reinen, unmittelbaren Erkennen, von einer Erkenntnis a priori habe ich gar keinen Begriff; all unser Erkennen ist mittelbar, durch das Medium der Sinne. Wir können aus uns selbst keine Begriffe entwickeln, wir müssen sie von außen in uns hinein erhalten. Was nicht in den Wirkungs- und Wahrnehmungskreis unserer Sinne gehört, das ist für uns nicht da, und nur was da ist, ist Gegenstand unserer Vernunft. Uns werden keine Begriffe angeboren; wir müssen sie uns selbst erwerben […]. So habe ich denn nicht nur 21 Menken, Schriften VI, 15. 22 Ebd. 16. 23 Menken, Schriften VII, 320 (Etwas über Tradition und Glauben).

Positivismus der Offenbarung und Ablehnung einer natürlichen Religion 193 gar keinen Begriff von einer Philosophie, die das Dasein Gottes aus reinen Vernunftbegriffen erweislich findet, sondern ich habe auch keinen Glauben daran, und halte das für etwas ganz anderes als Philosophie. Und so begriffe ich denn auch nicht, wie es eine ›Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft‹ geben könne […].«24

Die Beschränkung des Erkenntnisvermögens der menschlichen Vernunft steht in Auseinandersetzung mit der Aufklärung. In der Theologie der Aufklärung wird die Vernunft immer mächtiger und autonomer. Im Rationalismus bestimmt sie schließlich, was als Offenbarung zu gelten hat und was nicht. Mit der Bestreitung jeder natürlichen Religion steht Menken auch im Gegensatz zur altreformierten Dogmatik, die vor der Schriftlehre De scriptura sacra den Locus De theologia naturali et revelata behandelt.25 Menken bestreitet eine natürliche Gotteserkenntnis, die der menschlichen Vernunft immanent ist. Alle Erkenntnis Gottes, vor allem das Wissen um Gottes Heilsgeschichte mit den Menschen, ist positiv und kommt durch Offenbarung zu ihnen. Im Kampf gegen den theologischen Rationalismus scheut sich Menken nicht, der reformierten Lehrtradition (hier unausgesprochen) zu widersprechen. Es stellt sich ja tatsächlich die Frage, ob nicht das orthodoxe Lehrstück von der religio naturalis zu einem Einfallstor für den Humanismus der Aufklärungstheologie geworden ist. Gottes positive Offenbarung ist durch Tradition von Generation zu Generation weitergetragen worden. Wo aber ist ihr Ursprung? Dieser Frage widmet sich Menken im zweiten Teil seines wichtigen Fragments Etwas über Tradition und Glauben, nachdem er im ersten Teil die Existenz und Möglichkeit einer natürlichen Religion verworfen hat: »Wir müssen also nachforschen, wie zu unsern Vätern und zu allen Menschen die positive Lehre von Gott und unsichtbarer Welt gekommen ist. So kommen wir zur Geschichte.«26 Es kann nur eine geschichtliche Antwort geben, da alle Völker ihre Religion nicht als das »Resultat eigenen Nachdenkens« ansehen, sondern als »ererbtes Kleinod, als von den Vätern erhaltenes, unveräusserliches und unveränderliches Heiligthum«.27 Wer wie Menken »den heiligen Strom positiver Lehre und Erkenntnis 24 Menken, Schriften VII, 322. 25 Heppe-Bizer fassen die orthodoxen Lehraussagen zur theologia naturalis folgendermaßen zusammen: »Dem Menschen gehört das Bewußtsein, daß ein Gott ist, und daß ihm die Pflicht der Verehrung desselben obliegt, natürlich und wesentlich sei. Diese angeborene Gotteserkenntnis, die notitia Dei insita, gestaltet sich in dem Menschen durch seine Vernunft und sein Gewissen zur notitia acquisita. Daher gibt es eine religio naturalis. Die Vernunft läßt den Menschen die ihr immanente Idee Gottes erkennen und lehrt ihn, von der sichtbaren Welt, als dem Werke Gottes, einen Schluß auf ihren unsichtbaren Urheber und Regierer machen. […] Freilich ist diese natürliche Gotteserkenntnis zur Erlangung der ewigen Seligkeit ungenügend […] Die religio naturalis ist also nicht salutaris und vermag den Menschen, wenn er die Offenbarung nicht annimmt, nicht unentschuldbar zu machen.« Heppe-Bizer, Dogmatik, 1. 26 Menken, Schriften VII, 323. 27 Ebd. 325.

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durch alle Zeiten und Gegenden bis zu seiner reinen Quelle zu verfolgen wünscht«, der entdeckt: »Das Heil kommt von den Juden.«28 Diese Entdeckung Menkens ist sehr beachtlich und bemerkenswert. Die reine Quelle der göttlichen Offenbarung ist für ihn nicht das isolierte Neue Testament, sondern das Alte Testament, in dem das Neue verwurzelt ist. Im Blick auf die Missachtung des Alten Testaments in der Neologie und im Rationalismus wird an Menken deutlich, wie das heilsgeschichtliche Denken dem Alten Testament seine Bedeutung lässt und eine positive Sicht auf das Judentum (des Alten Testaments) ermöglicht. Menken widerspricht dem Geist seiner Zeit mit mutigen Sätzen, die ihre Bedeutung bis in unsere Gegenwart bewahrt haben: »Die Christen haben zwar ihre eignen heiligen Schriften, aber nicht zu gedenken, dass diese ganz und durchaus jüdisch sind, so ist doch offenbar, dass sie an sich genommen kein Ganzes ausmachen, dass sie allein, ohne im Zusammenhang mit älteren Nationalschriften gelesen, unverständlich und unerklärlich sind, überall andere heilige Schriften, frühere göttliche Offenbarungen und Anstalten voraussetzen. Und eben die ganze Sammlung der heiligen Schriften der Juden ist es, worauf sie als auf ihrem Fundamente ruhen, woraus sie als aus ihrer Wurzel hervorblühen, worauf sie überall zurückweisen, ohne welche sie nicht sind und auch nicht sein wollen […]. Aus der Hülle des Judenthums ging das Christentum hervor: und ohne Judenthum ist das Dasein und der Ursprung desselben unerklärlich«29.

Menken findet die Ur-Kunde der göttlichen Offenbarung »in den mosaischen Urkunden« und schon als paradiesische Offenbarung »im Garten Gottes«. Der zum Bilde Gottes erschaffene Mensch war von Anfang an nicht ohne von Gott selbst geschenkte Erkenntnis Gottes: »Die Quelle unserer und aller, wahrer und falscher Gotteserkenntnis und Gottesvorstellung entsprang nach der einzig wahren Urgeschichte, im Garten Gottes. Und wenn der Rath und Vorsatz Gottes über unser Geschlecht bestehen, wenn Menschen, vernünftige, freie, ihm ähnliche Wesen auf Erden sein sollten, so mußte die durch Offenbarung und Erfahrung erlangte Erkenntniß Gottes von dem ersten Menschen als höchstes Heiligthum, als köstliches Kleinod aus der verlorenen Königskrone, aus dem Paradiese mitgenommen, seinem Geschlecht gerettet, und als höchstes Gut der Menschheit überliefert werden. Mit keiner Leiter der Analogie konnte der Endliche von dem Endlichen zu dem Unendlichen, und von dem Sichtbaren zu dem Unsichtbaren hinaufsteigen […]. Vom Himmel herab ist die 28 Ebd. 29 Menken, Schriften VII, 323 f. Zu beachten ist, dass sich diese positive Wertung des Judentums auf das Israel des Alten Testaments bezieht. Das Judentum nach der Kreuzigung Jesu wird bei Menken wie in der gesamten abendländischen Theologie bis ins 20. Jahrhundert negativ bewertet. Vgl. dazu Kap. 7 dieser Arbeit.

Positivismus der Offenbarung und Ablehnung einer natürlichen Religion 195 Erkenntniß Gottes zur Erde gekommen, von Gott zu den Menschen […] so gab es nie eine Zeit, wo die Menschheit ohne die Idee eines Gottes gewesen wäre, wo sie den Unsichtbaren, Unendlichen aus der Natur allein, oder gar in den Labyrinthen ihrer Phantasie und Spekulation hätte suchen und finden müssen.«30

Die Verortung einer Ur-Offenbarung schon beim ersten Menschenpaar im Garten Gottes bedingt eine Historisierung der biblischen Urgeschichte. Menken gewinnt mit seiner Offenbarungslehre ein Geschichtsbild, das der Fortschrittsideologie der Aufklärung widerspricht. Diese diene nach seiner Meinung ja auch vor allem ihrer eigenen Glorifizierung: »Die Menschen sind nicht, sich selbst überlassen, vom Irrthum allmälig zur Wahrheit, – sondern, da sie sich selbst überlassen sein wollten, sind sie von der Wahrheit allmälig zum Irrthum gekommen.« Die Wahrheit war früher als der Irrtum. Die Urgeschichte des menschlichen Geschlechtes lehrt, »dass nicht Aberglauben, sondern Unglauben der allerälteste Irrthum der Menschen in Sachen der Religion gewesen ist«. Der Unglaube ging dem Aberglauben voran. »Die ungläubigsten Menschen waren immer die abergläubigsten, und sind es noch.«31 Menken hat bei diesen Sätzen seine Gegenwart vor Augen und sieht eine Zeit kommen, »wo Unglauben und Aberglauben sich freundschaftlich die Hände bieten und gemeinschaftlich gegen die Wahrheit und gegen Gott kämpfen werden.«32 Für die Bibel und vor allem das Alte Testament als wahrhaftige Offenbarung, als wahre Geschichte der Religion und ihre »treue Überlieferung göttlicher Aussprüche und göttlicher Anstalten« sprechen nach Menken rationale Gründe, die allen einsichtig sind: 1. Die Bibel ist »die Urkunde der Religion der gebildetsten Nationen des Erdbodens«. 2. Sie ist in mehr als fünfzig Sprachen übersetzt und wird von Menschen aller Nationen in allen Weltteilen gelesen. 3. Ihre Wirkung auf das Schicksal und die Kultur der Völker ist umfassender als die anderer Bücher. 4. Sie ist »den nüchternsten, unpartheiischen Untersuchungen zu Folge, unter allen Büchern zum Theil das älteste«. 5. Die Echtheit ihrer Schriften und die Glaubwürdigkeit ihrer Verfasser ist mehr gewährleistet als bei anderen Büchern. 6. Andere Heilige Schriften sind »beinahe alle das Werk eines Menschen und einer Zeit« und »grösstenteils liturgischen Inhalt[s]«. Das Bibel-Buch dagegen ist »völlig einzig, so dass bei der oberflächlichsten, wie bei der

30 Menken, Schriften VII, 328. 31 Alle Zitate in Menken, Schriften VII, 329 f. 32 Ebd. VII, 330.

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gründlichsten Vergleichung desselben mit den andern alle dagegen wegfallen, wie übergelungene Kopien gegen ein unerreichbares Original«.33 Wenn die Bibel hier noch das zum Teil älteste Buch genannt wird, besteht Menken an anderer Stelle darauf, dass sich in den mosaischen Urkunden »die älteste, glaubwürdigste, unwiderlegteste Urgeschichte des menschlichen Geschlechts« finde. Mose gilt ihm als »der königliche Saul unter den Geschichtsschreibern«, der »den ersten Vätern der Völker eine Reihe von Jahrhunderten näher stand als die Ältesten, die nach ihm von dem Ursprung menschlicher Erkenntnisse geschrieben haben«.34 In diesem Urteil sieht sich Menken sogar bestätigt vom Aufklärungstheologen Johann Gottfried Eichhorn, den er ansonsten »einen ihrer [der biblischen Schriften, H. M.R.] neuesten und ärgsten Feinde« nennt, »der so viel Altes und Neues hervorgesucht hat, ihren Werth zu verringern«. Auch er habe »ihre historische Ächtheit und Glaubwürdigkeit bewiesen«.35 Neben allen »vernünftigen Gründen« für die Authentizität und Glaubwürdigkeit der Bibel weiss Menken aber auch, dass ihre Wahrheit und Göttlichkeit den Menschen nicht andemonstriert werden kann. Göttliches kann nur durch göttliche Menschen erkannt werden. »Erst wenn sie [die Bibel, H.M.R.] nicht nur angenommen ist, sondern wenn der Mensch den in ihr ausgedrückten Willen Gottes annimmt, sich zu eigen macht, befolgt, wird ihm das Göttliche derselben immer mehr wahrnehmlich; […] Darum, wenn die Wahrheit und Göttlichkeit der Bibel so dargethan werden könnte, daß der Verstand aller verständigen Menschen davon überzeugt werden müsste, so wäre doch damit noch nicht die Wahrheit und Göttlichkeit der Sache des Christenthums selbst so dargetan, daß die Menschen sie damit schon hätten; es käme dann doch noch erst darauf an, ob sie Gebrauch und Anwendung davon machen, und den Lebendigen, von dem die Bibel Zeugniß giebt, auf dem Wege des Lebens selbst erfahren wollten.«36

33 Alle Zitate in Menken, Schriften VI, 17 f. 34 Menken, Schriften VII, 324. 35 Menken, Schriften VII, 324 f. Menken bezieht sich auf Eichhorns Einleitung in das Alte Testament. Über Eichhorn urteilt Hans-Joachim Kraus: »Er ist der bedeutendste alttestamentliche Gelehrte um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert […]. Wie in einem Brennpunkt vereinigen sich in seinem Lebenswerk die Strahlen, die von der Forschung im 18. Jahrhundert ausgesandt wurden.« Die Einleitung in das Alte Testament ist nach Kraus »Eichhorns bedeutendstes Werk«. »Eichhorn will sich von allen orthodoxen Kategorien lösen und dem Alten Testament seine Eigenständigkeit als Urkunde des Altertums zurückgewinnen […]. Semlers rationalistischer Hinweis auf die Zeit- und Ortsgebundenheit der alttestamentlichen Texte und Herders romantische Vertiefung in die Dokumente des Altertums – beide Forschungsintentionen kommen jetzt zur vollen Entfaltung.« Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung, 133 f. 36 Menken, Schriften VI, 20 ff.

Die geschichtliche Offenbarung – Heilsgeschichte als Reichsgeschichte

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6.3 Die geschichtliche Offenbarung – Heilsgeschichte als Reichsgeschichte Obwohl die Bibel eine Sammlung vieler verschiedener Schriften ist, die im Verlauf vieler Jahrhunderte geschrieben und gesammelt wurden, ist sie eine Einheit. »[…] alle diese vielen verschiedenen Schriften dieser vielen, verschiedene Jahrhunderte von einander lebenden Männer, machen zusammen genommen Ein einiges zusammenhangendes, mit sich selbst übereinstimmendes, allmählig sich entwickelndes, vollständiges Ganzes, dem kein Theil fehlt, und worin kein Stück überflüssig oder entbehrlich wäre.«37 Diese von Collenbusch übernommene Definition der Einheit der Bibel38 zeigt die über die Reformation und den Altprotestantismus hinausgehende Entwicklung des Schriftverständnisses. Die Bibel ist das Dokument einer geschichtlichen Entwicklung. Sie ist kein christliches Lehrbuch und keine Sammlung bloßer dicta probantia für die christliche Dogmatik. »Sie ist vielmehr ein geschichtliches, harmonisches Ganzes. Alles, was sie lehrt, lehrt sie uns entweder unmittelbar in Geschichte, oder es ruhet doch auf Geschichte, hat doch seinen Grund und sein Licht in der Geschichte.«39 Gemeint ist »die heilige Geschichte«, die Gott allein wirkt. Der Ausdruck begegnet bei Menken passim. Er entspricht dem, was später Heilsgeschichte heißen wird.40 Das Verständnis der heiligen Geschichte bringt Menkens Supranaturalismus deutlich zum Ausdruck: Die sichtbare Welt steht mit der unsichtbaren Welt in Verbindung. Aus dieser unsichtbaren Welt heraus wirkt Gott den unaufhaltsamen Prozess seines Heilsplans bis zu seiner Vollendung.41 Dieser Prozess ist das Kommen des

37 Menken, Schriften VI, 32. 38 Collenbusch beschreibt die innerbiblische Entwicklung folgendermaßen: »Die heilige Schrift ist ein stufenweises aufsteigendes, mit sich selbst übereinstimmendes, zusammenhängendes, vollständiges Zeugnis von dem geoffenbarten Geheimnis Gottes des Vaters und Christi, Kol. 2,2.« Cremer, Nachlaß, 32. 39 Menken, Schriften VII, 68 (Dämonologie). Menken verweist hier in einer Anmerkung auf den großen geschichtlichen Bogen, der mit Anfang und Ende der Bibel gesetzt ist: »Man nehme die drei ersten Kapitel der Genesis aus der Bibel, und man nimmt ihr den terminus a quo; man nehme die drei letzten Kapitel der Apokalypse hinweg, und man nimmt ihr den terminus ad quem.« 40 Der Ausdruck Heilsgeschichte wurde erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gebräuchlich, z. B. bei Johann Konrad Christian von Hofmann. »Bei dem Erlanger Theologen J. Chr. K. von Hofmannn, der als Gewährsmann für die Begriffsbildung um die Mitte des 19. Jh. genannt wird (Weth u. a.), dient der Begriff dazu, die Selbstständigkeit des theol. Gegenstandes zu begründen, freilich im Zusammenhang der eigentümlichen Hofmannschen Systematik […].« Mildenberger, Heilsgeschichte, 1584. Von Hofmann spricht z.B. von der »heilsgeschichtlichen Wirklichkeit«, die in den geschichtlichen Schriften des Neuen Testamentes bezeugt wird. In: Von Hofmann, Die heilige Schrift neuen Testaments, Teil 11, 16. 41 Menken hat wie alle Heilsgeschichtlicher ein duales Wirklichkeitsverständnis, das die sichtbare Welt von der unsichtbaren unterscheidet. Er begründet und entfaltet diesen Dualismus in

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Das reichsgeschichtliche Schriftverständnis Gottfried Menkens

Reiches Gottes. Heilsgeschichte ist Reichsgeschichte. Menken vertritt ein reichsgeschichtliches Schriftverständnis. Was versteht Menken nun unter dem Reich Gottes? Nachdem er in seiner Auslegung des Monarchienbildes in Dan 2 den Stein, der sich nicht durch Menschenhand löst und die Kolossalstatue aus verschiedenen Metallen zertrümmert, auf das kommende Reich Gottes gedeutet hat, gibt er folgende Erklärung: »Die wichtigste Stelle von dieser Sache [dem Königreich Gottes, H. M.R.] ist wohl ohne Zweifel Ephes. 1, wo Paulus unter andern großen, überschwänglichen Dingen sagt, Gott habe den Christen ›das Geheimniß seines Willens und Wohlgefallens von Ewigkeit her‹ geoffenbaret, und das sei dieses: Alle Dinge (das ganze Universum) unter ein Haupt zusammen zu verfassen in Christo, sowohl das in den Himmeln als das auf der Erde. Diese Zusammenfassung der ganzen vernünftigen Schöpfung in eine rechts- und reichsmäßige Staatsverfassung, in eine Universalmonarchie, ihre gerechteste Coordination und Subordination unter ein sichtbares Oberhaupt, unter einen Universalmonarchen, unter den göttlichen und menschlichen König Jesus Christus, das ist eigentlich der biblische Hauptbegriff von dem himmlischen Reiche oder von dem Königreiche Gottes.«42

Das Reich Gottes ist nach diesem sich auf Eph 1 beziehenden Verständnis das eschatische Reich Gottes, dessen vollendete Gestalt Menken im Millennium, im tausendjährigen Reich der Apokalypse des Johannes, findet. Das gegenwärtige Reich Gottes, das in der Verkündigung Jesu einen wichtigen Platz hat, tritt zurück. Der Grund dafür ist Menkens Verwurzelung in der heilsgeschichtlichen Theologie Bengels, die in der Auseinandersetzung mit der Aufklärung aktuell wird: Die Aufklärung kann mit dem kommenden Reich Gottes nichts anfangen. Sie ist fokussiert auf das gegenwärtige Reich Gottes, in dem die menschliche Vernunft und die menschlichen Tugenden herrschen. Vehement setzt sich Menken bereits in der Dämonologie ein für die jüdische messianische Erwartung, die sich in einem neuen Himmel und einer neuen Erde erfüllen wird. Deutlich ist aber auch, dass sich Menken das Eschaton bzw. das Millennium in der Analogie zu irdischen Staaten und Monarchien vorstellt. Er kennt keinen eschatologischen Vorbehalt. Ein »bloß geistiges Reich« ist für ihn »ein bloßer Unsinn, wobei sich kein Mensch etwas denken kann. Was nicht irgendwo ist, das ist nirgends und also ein Unding; wer kann sich aber ein Königreich denken, ohne dabei an einen Ort, wo dieses Reich ist, ohne einen König, ohne Unterthanen, ohne eine reichs- und rechtsmäßige Ordnung zu seinem Aufsatz Schriftstellen, die unsichtbare Welt und ihre Verbindung mit der sichtbaren betreffend (Menken, Schriften VII, 206–234). 42 Menken, Schriften VII, 158.

Die geschichtliche Offenbarung – Heilsgeschichte als Reichsgeschichte

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denken, nach der die Unterthanen sich einander koordinirt und subordinirt sind?«43

Integriert in Menkens Reich-Gottes-Lehre sind seine Gotteslehre und mit der Anthropologie auch die Christologie und die Versöhnungslehre.44 In der Offenbarung und Verwirklichung seines reichsgeschichtlichen Heilsplanes offenbart Gott, wer er ist: Gott ist Liebe. Diese Liebe Gottes äußert sich in den beiden Haupttugenden Gottes, in seiner Heiligkeit und in seiner Gerechtigkeit. Die Heiligkeit Gottes ist seine sich selbst erniedrigende Liebe. Gottes Gerechtigkeit ist seine unparteiliche, proportionale Liebe. Gottes Gerechtigkeit ist das »ius divinum«, »das Fundamentalgesetz des Reiches Gottes«: »Und dieses Gesetz ist das allervollkommenste Recht; es ist ein Nimmerhandeln nach Ansehen der Person, und ein Immerhandeln nach dem Verhalten der Person; es geht nie nach Willkür, es geht immer nach Recht; mit dem Maße, womit jeder misset, wird ihm wieder gemessen.«45

Menken ist überzeugt: »Die Schriftlehre von dem Reiche Gottes ist doch gewiß die Hauptsache der ganzen Bibel.«46 Das Reich Gottes ist das Eine, das alle Einzelheiten der Bibel zu einem Ganzen vereint. Das Reich Gottes ist das große Ziel aller göttlichen Offenbarungen, Verheißungen und Anstalten, Zweck und Ziel der Welterschaffung, und es ist auch der bestimmende Grundsatz der göttlichen Weltregierung. Die in der Schrift bezeugte heilige Geschichte, mit der Gott sein Reich baut und vollendet, steht im Zusammenhang mit der ganzen Weltgeschichte: »[…] [E]r [der historische Inhalt der Bibel H.M.R.] wird von der ganzen Weltgeschichte bestätigt und giebt dagegen der ganzen frühern Weltgeschichte Licht und Ordnung.«47 Die Entdeckung und der Aufweis, dass die von so vielen verschiedenen Autoren in einem langen Zeitraum verfassten biblischen Bücher durch den 43 Menken, Schriften VII, 57. 44 Dazu unten Kap. 8.5. 45 Menken, Schriften VII, 83: Dieses ius divinum ist offensichtlich ein perfektioniertes weltliches Recht. Es versteht sich, dass für ein derartiges Verständnis der Gerechtigkeit Gottes, das Menken mit der Aufklärung verbindet, die alte reformierte Prädestinationslehre obsolet sein muss. Sie wird rigoros abgelehnt und dem Islam zugewiesen: »Nach diesem mehr türkischen als christlichen Irrtum, – das bleibt er doch, mit welchem lauen und leichten Raisonnement, oder mit welchen erneuerten dialektischen Sophistereien vergangener Zeiten man ihn auch zu beschönigen und zu vertheidigen sucht, – brauchen wir überhaupt nicht weiter nach Gott und Wahrheit und Irrthum und gut und böse zu fragen. In solcher Finsternis steht aller Verstand still; alles ist zu Ende, und es bleibt nichts als ein verstandloses und unseliges: Sic erat in fatis.« Menken, Schriften VI, 344 (Der Messias ist gekommen). Das von Collenbusch übernommene Verständnis der biblischen Begriffe der Heiligkeit und der Gerechtigkeit Gottes begegnet wieder in der Theologie des 19. Jahrhunderts und ist auch durch Menken vermittelt worden. Vgl. dazu Kap. 11.3 dieser Arbeit. 46 Vgl. Menken, Schriften VII, 55 (Dämonologie). 47 Menken, Schriften VI, 26 f. Menkens Geschichtstheologie wird in Kap. 10.2 behandelt.

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Das reichsgeschichtliche Schriftverständnis Gottfried Menkens

»roten Faden« des Reiches Gottes eine Einheit bilden, dass sie »Ein einiges zusammenhangendes, mit sich selbst übereinstimmendes, allmählig sich entwickelndes, vollständiges Ganzes«48 ausmachen, ist für Menken »etwas Einziges, Unvergleichliches, das von keinem Buche auf Erden gesagt werden kann, und es ist bei der Bibel um so viel bewundernswürdiger, weil sie sich überall auf Begebenheiten und Thatsachen gründet […].« Wer diese Einheit in der Verschiedenheit erkennt, der findet darin »einen überzeugenden Beweis von der Wahrheit und Göttlichkeit der Bibel«. »Eines andern Beweises bedarf es nicht, und einen würdigeren, herrlicheren gibt es nicht.«49 Menken ist von der Biblizität seiner Reich-Gottes-Lehre überzeugt. Fragt man nach den theologischen Vermittlungen, so ist Samuel Collenbusch zu nennen. Collenbusch ist ohne Johann Albrecht Bengel nicht denkbar und Bengel nicht ohne Johannes Coccejus, der nicht nur seine berühmte Föderaltheologie, sondern im engsten Zusammenhang mit ihr eine Reichslehre entwickelte, die das geschichtliche Verständnis der Offenbarung förderten. Ein heilsökonomisches Schriftverständnis mit starker eschatologischer Ausrichtung findet Menken selbst in den Schriften Bengels und der Württemberger Pietisten.50 Was Menken von Collenbusch als »reine Bibellehre« übernahm, war aber nun auch – ohne dass es Menken bewusst wurde – von philosophischen Gedanken seiner Zeit beeinflusst. Es ist die Philosophie von Leibniz und besonders dessen Theodicee, mit der sich Collenbusch und auch die Württemberger Theologen nachweislich beschäftigt haben.51 Hermann Cremer bemerkt zum Einfluss von Leibniz: »Von Leibniz stammt die immer wiederholte Definition der Liebe und vor allem die Definition der Gerechtigkeit Gottes; auf Leibniz weist die energische Forderung der Vollkommenheit, ebenso der göttliche Zweck der ganzen Schöpfung, um durch sie den Menschen Freude zu machen.«52

Der Einfluss von Leibniz reicht noch weiter. Das Reich Gottes als Universalmonarchie, die den Kosmos zu einer vollkommenen Ordnung erneuert, in der die Weisheit und Gerechtigkeit Gottes regieren, in der jeder und jede ihren angemessenen Platz haben, erinnert an Leibniz’ Gedanken einer prästabilierten Harmonie des Kosmos und an seine Monaden-Lehre.53 Schließlich 48 49 50 51

Ebd. 32. Alle Zitate ebd. Vgl. dazu oben Kap. 3.2.3. Dazu bemerkt Cremer: »Wahrscheinlich ist die Bekanntschaft mit der Leibnitzschen Theodicee […] durch Fricker vermittelt worden, der als Schüler Oetingers und Freund Ph. Matth. Hahns eigentlich wie der ganze um Oetinger sich scharende Kreis in beständiger Auseinandersetzung mit der Leibnitz-Wolffschen Philosophie begriffen war, ohne sich ihrem Einfluss ganz entziehen zu können.« Cremer, Collenbusch, 236. 52 Vgl. Cremer, Collenbusch, 240. 53 Hinweis von Faulenbach, Samuel Collenbusch, 17.

Das Alte Testament als fundamentaler und konstitutiver Bestandteil

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zeigt auch die rationale Deutung des Bösen, das zur Prüfung und Bewährung der Gläubigen notwendig ist, den Einfluss der Leibnizschen Theodicee. Die Hoffnung auf das Reich Gottes, auf seine Verwirklichung und auf die Vollendung der individuellen Heiligung, auf die Seligkeit und Herrlichkeit in diesem Reich ist das zentrale Anliegen der Theologie Menkens. Diese Hoffnung unterscheidet ihn damit radikal von den Theologen der Aufklärung, denen er mit Collenbusch vorwirft, dass sie von Gott nichts erhoffen. Das Gottesbild der Aufklärung, vor allem in seiner deistischen Form, ist deshalb für den Collenbusch-Kreis traurig und nicht erfreulich. Collenbusch selbst hat das bereits in seinen Briefen an den Philosophen Kant beklagt.54 Die geschichtliche Offenbarung Gottes beginnt in Israel und ist ohne das Alte Testament wie ein Baum ohne Wurzeln.

6.4 Das Alte Testament als fundamentaler und konstitutiver Bestandteil der Heiligen Schrift – die Theokratie als Deutungskategorie der Geschichte Israels Das Alte Testament ist in Menkens heilsgeschichtlicher Bibeltheologie ein fundamentaler und konstitutiver Bestandteil der Heiligen Schrift. Unermüdlich betont Menken die Unmöglichkeit, das Neue Testament ohne seinen Zusammenhang mit dem Alten Testament zu verstehen. Der kanonische Rang des Alten Testaments ist auch dadurch begründet, dass es die Bibel Jesu war, die durch ihn den Christinnen und Christen autoritativ vermittelt wurde. Noch in der Vorrede zu seiner letzten Predigtsammlung (23. April 1825) bekennt sich Menken emphatisch zum bleibenden Wert des Alten Testaments und fordert seinen stärkeren Gebrauch in der Christenheit: »Warum wird im Kreise der Christengemeinen nicht mehr Fleiß und Arbeit an das Buch gewendet, das dem Sohne Gottes während seines Wandels auf Erden das Licht und Recht seines ganzen Lebens war? Ist doch das Neue Testament ohne das Alte wie ein Gebäude ohne Fundament; wie der fragmentarische einzelne zweite Theil einer Geschichte, deren erster Theil verloren gegangen, und die nun so weder in ihrer Tiefe noch in ihrer Höhe und nimmermehr in der ihr eignen Wahrheit erkannt und verstanden werden kann. Es ist wie der vom Vordersatz abgerissene schöne, volle Nachsatz einer Rede, welche die ganze Seele füllt – aber nicht stillt; zurücklassend ein Weh im brennenden Verlangen, den Vordersatz wieder zu finden, aus dem allein eine solche mehr göttliche als menschliche Rede hervorgehen konnte, die nun, 54 Vgl. dazu oben Kap. 3.2.2.

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Das reichsgeschichtliche Schriftverständnis Gottfried Menkens ach! nicht ganz überzeugt, nicht ganz befriedigt, weil sie zerrissen und unvollständig und so unverständlich ist.«55

Menkens Hermeneutik des Alten Testaments56 steht in der Front gegen die Behandlung des Alten Testaments in der Aufklärung.

6.4.1 Das Alte Testament in der Theologie der Aufklärung

Überblickt man die Hermeneutik und Homiletik des Alten Testaments von der Reformation bis zum Pietismus, so ist eine zunehmende Verengung in der Auslegung und eine deutliche Rückstellung und Vereinseitigung im homiletischen Gebrauch festzustellen. Das Alte Testament wurde immer weniger mit seinem eigenen Wort und Reichtum gehört. Die Fülle der Aspekte, die noch Luther wahrnahm57, fanden kaum mehr Beachtung. Die christologische Auslegung, vor allem im maßlosen Gebrauch der Typologie, nahm keine Rücksicht mehr auf den sensus literalis. Das Alte Testament wurde christlich vereinnahmt, was zumindest einen indirekten Antijudaismus bedeutete. Nur wenige Theologen suchten und pflegten in diesen Zeiten das Gespräch mit der Synagoge. Es sind vor allem reformierte Theologen, die dann auch erheblich von der jüdischen Exegese der alttestamentlichen Texte profitierten. Das Judentum und Israel blieben vor allem in der Föderaltheologie und bei den Heilsgeschichtlern Themen von großem Interesse. In den lutherischen Kirchen herrschte bis zur Aufklärung der Perikopenzwang. In den reformierten Kirchen war die freie Textwahl möglich und gebräuchlich. Die Aufhebung des Perikopenzwangs (in den lutherischen Kirchen) in der nun beginnenden Aufklärung führte aber nicht zu einer stärkeren Berücksichtigung alttestamentlicher Texte. In der Aufklärung setzt eine zunehmende Kritik am Alten Testament ein, die zur Geringschätzung des ersten Teils der Bibel und schließlich zu seiner Ablehnung führte. Die Folgen dieser Entwicklung wirken bis in die Gegenwart und die jüngste Infragestellung und Bestreitung der Kanonizität des Alten Testaments nach.58 Die massive Kritik der Aufklärung am Alten Testament stieß in den Kirchen und bei den Theologen auf schwachen Widerstand. Fragt man nach den Schubkräften dieser Kritik am Alten Testament, so ist Folgendes zu nennen: • die sich seit dem 17. Jahrhundert unaufhaltsam entwickelnde und durchsetzende historisch-kritische Erforschung der Bibel, 55 Menken, Schriften V, 7. 56 Die »heilige Geschichte« des Alten Testamens und ihr Verständnis behandelt Menken im fünften Kapitel der Anleitung. Zur Homiletik des Alten Testamentes vgl. unten Kap. 7. 57 Vgl. dazu Rupprecht, Die Predigt über alttestamentliche Texte, 50–89: »Die Fülle der Gesichtspunkte in Luthers alttestamentlichen Predigten«. 58 In der Gegenwart hat Notker Slenczka die kanonische Geltung des Alten Testaments in Frage gestellt in seinem Aufsatz Das Alte Testament in der Kirche.

Das Alte Testament als fundamentaler und konstitutiver Bestandteil

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• die Entdeckung des religionsgeschichtlichen Vergleichs, bei dem das Israel des Alten Testaments schlecht wegkommt, • der Einfluss der neuen Philosophie, die die menschliche Vernunft zum höchsten Maßstab setzt und ihr auch die Offenbarung unterwirft, • das gewandelte Gottesbild, das im Deismus keinen Gott mehr kennt, der in die Geschichte eingreift und Wunder tut, • die optimistische Anthropologie der Aufklärung, die die eigene Entwicklung des Menschen zum irdischen Glück und zur himmlischen Seligkeit durch Tugend und Moral proklamiert. In der Hermeneutik der Aufklärung kommt es zu einem Bruch mit der altprotestantischen und reformatorischen Tradition. Eine neue Hermeneutik wird ausgebildet, die in der Schrift des Neologen Johann Joachim Spalding Von der Nutzbarkeit des Predigtamtes ihr homiletisches Programm vorlegt.59 Der Offenbarungsanspruch der biblischen Schriften und besonders des Alten Testaments wird preisgegeben. Der Begründer der Neologie, Johann Joachim Semler, betreibt eine »freie Untersuchung des Kanons«. Dazu Hans-Joachim Kraus: »Diese freiere Untersuchung, die zwischen göttlichem Inhalt und menschlicher Form der Bibel unterscheidet, führt jetzt eine historische Betrachtungsweise ein, die sich nicht nur von dem biblischen Geschichtsverständnis löst, sondern die sich auch dem Kanon gegenüber kritisch durchsetzt. […] Bezeugten die Reformatoren das Ereignis der Gegenwart des Wortes Gottes aus der Heiligen Schrift, und suchten die orthodoxen Theologen diese Gegenwart des Wortes Gottes durch eine durchgehende Identifizierung mit der Heiligen Schrift zu einem unumstößlichen Faktum zu stempeln, so bringt jetzt die freiere historische Kritik des Kanons einen dritten Standort in die protestantische Theologie hinein. […] Der Kritiker greift unbefangen hinein in die geschichtlich gewordene Überlieferung des Kanons, die Richard Simon als erster gesehen hat, und fällt gültige Urteile.«60

Kraus zitiert Semler: »Wo er [der Kritiker, H. M.R.] nichts Göttliches oder dem höchsten Wesen Würdiges bemerken kann, da kann und soll er nicht, bloß um anderer willen, die hierin einer Gewißheit folgen, sich solche Schriften wider seine Erkenntnis so vorstellen, dass sie alle zusammen, ohne Unterschied, zu seiner Erbauung ihm ganz gewiß und recht sehr beförderlich seien.«61 Die Frage nach dem Maßstab der kritischen Wertung des Vergangenen führt zum Kern der neuen Hermeneutik der Neologie. Dazu wieder Kraus: »Geht man dieser Frage nach, so kann man schnell feststellen, dass das biblische Offenbarungszeugnis einem Allgemeinbegriff vernünftiger religiöser 59 Dazu oben Kap. 5.2.2. 60 Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung, 109. 61 Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Kanons, 1. Teil, 53 f.

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Das reichsgeschichtliche Schriftverständnis Gottfried Menkens Wahrheiten und Moralgesetze unterworfen wird. […] Ungehemmt kann sich jetzt die wertende Kritik des Vergangenen auswirken.«62

Zu diesen Auswirkungen der neuen Hermeneutik hat sich Semler unmissverständlich geäußert: »Da wir durch alle 24 Bücher des Alten Testaments nicht moralisch gebessert werden, so können wir uns auch von ihrer Göttlichkeit nicht überzeugen.«63 Der Kanon des Alten Testaments besteht »aus einer Sammlung grober jüdischer Vorurteile, welche dem Christentum gerade entgegen sind, und nur ein kleiner Teil dieses Kanons enthält für die Juden göttliche und eingegebene Schriften, worin auch nützliche und brauchbare Wahrheiten für Christen angetroffen werden«.64 Das Alte Testament erfährt nach dieser Hermeneutik der natürlichen Religion und der moralischen Besserung des Menschen eine deutliche Abwertung und wird dem Neuen Testament entgegengesetzt: »Das Neue Testament enthält nach Semlers Auffassung die universale, abgeklärte, ewige Religion, der gegenüber das Alte Testament eng, national jüdisch und zeitgebunden wirkt.«65 Zum praktischen Umgang mit dem Alten Testament gibt Semler folgenden Rat: »Ein gesunder Auszug aus den Büchern des Alten Testaments würde die christliche Lehre und Religion viel leichter und überzeugender durch Erfahrung empfehlen als die kalten Wiederholungen von Begebenheiten, die ganz und gar ausländisch, ganz fremd und unbekannt für uns und unseren Geschmack in der Erkenntnis und Moral sind und bleiben.«66 Hans-Joachim Kraus betont die Nachwirkung der neologischen Abwertung des Alten Testaments und ihrer Argumente bis in die Gegenwart. Wichtig ist ihm die Erkenntnis: »Der Durchbruch der historisch-kritischen Forschung in der alttestamentlichen Wissenschaft ist vom Katheder neologischer Lehraussagen eingeleitet worden.«67 In dieser Tatsache liegt der wesentliche Grund für die Ablehnung der historisch-kritischen Bibelauslegung vonseiten der konservativen Theologen. Leider hatten sie der neuen Hermeneutik der Neologie nur die alte unkritische Hermeneutik der Orthodoxie entgegenzusetzen. Die Akzeptanz der vollen Menschlichkeit und der totalen geschichtlichen Bedingtheit der Bibel und das Vertrauen, das uns gerade in dieser historischkritisch erforschbaren Bibel das Wort Gottes begegnet, bedurften einer anderen Theologie der Schrift, die in der Zeit der Aufklärung nur von einem großen Theologen – ansatzweise und kaum rezipiert – vertreten worden ist: von Johann Georg Hamann.

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Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung, 109. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Kanons, 3. Teil, 26. Ebd. 3. Teil, 28. So Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung, 110. Semler, Antwort auf die Göttingische Recension. Lebensbeschreibung, II. Teil, 70. Zitiert bei Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung, 110. 67 Ebd.

Das Alte Testament als fundamentaler und konstitutiver Bestandteil

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6.4.2 Die Theokratie als Deutungskategorie der »heiligen Geschichte« Israels Ein Brief, den Menken aus dem Studium in Jena (1788/89) an eine Freundin in Bremen schreibt, zeigt die frühe Hochschätzung des Alten Testaments, das er sogar zur »Hauptsache der ganzen Bibel« erklärt: »Wir leben in einer Zeit, wo uns das A. T. mit jedem Tage wichtiger und heiliger werden muß, eben um deßwillen, weil noch das mehrste, ja beinahe Alles noch unerfüllt ist. […] Die Geschichte der Israeliten ist unstreitig die Hauptsache der ganzen Bibel, der Typus der Erziehung des Menschengeschlechts, der allmählichen Entwickelung, des unaufhaltsamen Fortgangs und der endlichen Vollendung der göttlichen Erziehungs- und Beseligungsanstalt. Die Geschichte Israels ist die Geschichte des Universums, der Menschheit und des Individuums.«68

Schon in diesem frühen Bezug auf das Alte Testament sind wesentliche Aspekte des sich entwickelnden Schriftverständnisses festgehalten: Die Verheißungen Gottes im Alten Testament sind auch für uns Christinnen und Christen noch nicht völlig erfüllt. Ja, »beinahe alles« ist noch unerfüllt. Das Alte Testament enthält nicht nur die Geschichte Israels, die nach Meinung der Rationalisten uns nichts mehr angeht. In der Geschichte Israels geht es auch um »die Geschichte des Universums, der Menschheit und des Individuums«. Die reichsgeschichtliche Schriftauffassung ist deutlich im Blick, wenn Menken hier von der »allmählichen Entwicklung«, dem »unaufhaltsamen Fortgang und der endlichen Vollendung der göttlichen Erziehungs- und Beseligungsanstalt« in der Geschichte Israels spricht.69 Die Bedeutung, die das Alte Testament für Menken schon früh hat und behält, kommt in der Anlage seiner Anleitung zum Ausdruck. Menkens Dogmatik entspricht in ihrem Aufbau den Lehrbüchern der altprotestantischen Dogmatik, unterscheidet sich aber von ihnen durch die Einfügung eines Kapitels zur Geschichte Israels vor dem Kapitel über die Christologie und die Versöhnungslehre. Es hat den Titel: Das Wesentliche aus der Geschichte der Anstalt Gottes zur Seligkeit und Herrlichkeit der Menschen durch Jesum Christum, bis auf die Geburt Jesu. Menken möchte mit seinen Ausführungen eine Hilfe geben »zu richtiger Ansicht und Werthschätzung der in der Bibel enthaltenen Geschichte des großen Werkes Gottes, wovon Christus, und das Heil der Welt in ihm, Anfang, Mittelpunkt und Ende ist«.70 68 Gildemeister, Leben und Wirken I, 25. 69 Der Gedanke der Erziehung des Volkes Gottes, der in der ganzen heilsgeschichtlichen Tradition begegnet, geht auf Calvin zurück, der ihn in Inst. II, 11 zur Erläuterung des Unterschiedes zwischen dem Alten und Neuen Testament verwendet. 70 Menken Schriften, VI, XI. Das Kapitel zur Geschichte Israels ist für die zweite Auflage der Anleitung neu erarbeitet worden. Menken schreibt in der Vorrede zu dieser Auflage (1824): »Die biblische Geschichte an und für sich, wie sie, in einem Sinne und Maße, worin das von keiner

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Das reichsgeschichtliche Schriftverständnis Gottfried Menkens

Die »Geschichte der Anstalt Gottes zur Seligkeit und Herrlichkeit der Menschen durch Jesum Christum« beginnt bereits im Paradies mit der Uroffenbarung Gottes an die ersten Menschen. Zur Uroffenbarung gehört das sogenannte Protevangelium Gen 2,15, das erste Evangelium. Es enthält »die Verheissung, daß Einer aus den Nachkommen der Eva den Verführer und Feind der Menschen, den Satan, besiegen, und das wieder gut machen werde, was durch seine Lügen und ihren Unglauben verdorben war«.71 Wie die Urgeschichte in der Genesis zeigt, nahmen Erkenntnis und Furcht Gottes ständig ab durch Unglauben und Aberglauben. Als es nach der Sintflut kaum noch Erkenntnis und Verehrung Gottes in den Völkern gab »und beinahe das ganze menschliche Geschlecht in Aberglauben, in Götzenund Bilderdienst versunken war, erwählte Gott den Abraham, der von allen Menschen Gott am höchsten durch Glauben an seine Verheißungen ehrte, um seine Nachkommenschaft zu einem besondern Volke zu machen, bei diesem Volke die Erkenntniß der Wahrheit zu erhalten, und aus demselben sich eine königliche Priesterschaft, – die allervortrefflichsten Menschen, die dereinst im Reiche Gottes zur Erfüllung alles Willens Gottes, zur Beförderung der möglichhöchsten Freude der ganzen vernünftigen Schöpfung gebraucht werden könnten, zu bilden. Gott gab dem Abraham die Verheissung, dass durch seinen Samen alle Geschlechter der Erde sollten gesegnet werden.«72 »Gott hat das Israelitische Volk erwählet, nicht um des Volkes, sondern um Christi willen, d. h. um der Ausführung willen des Geheimnisses seines Willens und Wohlgefallens von Ewigkeit her durch Jesum Christum, zur Erlösung des Menschengeschlechtes von Sünde und Tod, zur Zusammenfassung aller Dinge unter Ein Oberhaupt, in Ein Königreich, und also zur Offenbarung seiner Heiligkeit.«73

Auffallend ist das Bemühen Menkens um vernünftige Erklärung des geschichtlichen Handelns Gottes. Gottes Vorsatz, Mensch zu werden und in Jesus Christus seine Liebe zu offenbaren, machte es nötig, dass »ein Geschlecht und eine Familie« »zum Organ und Mittel des Zeitlichen und Menschlichen bei diesem Göttlichen und Ewigen bestimmt war«.74 Das Volk, das Gott erwählte, musste jenes Volk sein, »woraus Christus herstammen sollte nach dem Fleisch«.75 Da es kein Volk auf der Erde mehr gab, in dem sich Erkenntnis und

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andern Geschichte gesagt werden kann, darstellt und bezeugt, was Gott gethan hat, sich selbst dem Menschengeschlechte in heiliger Liebe zu offenbaren, […] und wie sie die Grundlage aller übrigen in der Schrift erhaltenen Erkenntniß ist, gehört wesentlich und vor Allem zu der Wahrheit selbst, die in der heiligen Schrift enthalten ist.« Menken, Schriften VI, XI. Ebd. 76. Ebd. 79 f. Ebd. 80. Ebd. VI, 81. Ebd.

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Verehrung Gottes erhalten hatten, wählte Gott nicht ein Volk, sondern einen einzelnen Mann, »um in dessen Nachkommenschaft sich ein eignes Volk zum Werkzeug und Mittel der Absichten und Offenbarungen und Anstalten seiner Heiligkeit zu erziehen, und dieses Volk vom ersten Beginn an durch Worte und Thaten, durch Schicksale und Begebenheiten auszuzeichnen und von den Heiden zu sondern«.76 Menken spricht auch hier von einer notwendigen Erziehung des von Gott erwählten Volkes. Gott hätte auch irgendein anderes Volk erwählen können, doch – das sind weitere vernünftige Erklärungen Menkens – er wusste in seiner Präscienz, dass in Israel »die allervortrefflichsten Menschen« von den Patriarchen an bis zu den Aposteln leben würden und Palästina, das Land, in dem Israel lebte, war am besten geeignet für Gottes Absichten und Pläne.77 Israel wurde erwählt, um Depositeur der Uroffenbarung und aller weiteren Offenbarungen Gottes zu sein. Es war von Gott dazu bestimmt, »daß es die gesammte Wahrheit vom Urbeginn her erhalten und sie mit allen Erweiterungen und Vermehrungen, die sie in der Folge der Zeit durch göttliche Offenbarungen, Anstalten und Thatsachen noch erhalten konnte, dem Menschengeschlechte zum Lichte auf Tage der Zukunft bewahren mußte«.78 Aufgrund seiner besonderen Bestimmung wird Israels Geschichte zu einer Geschichte sui generis: Sie wird »eine Gottes- und Wundergeschichte, d. h. eine solche, worin der Ewige und Allmächtige durch Worte und Thaten und mancherlei Erweisungen seines Lebens, seiner Macht, seiner Liebe, gemäß dem Namen Jehovah, in dem Bezug, worin er sich selbst denselben beigelegt hatte, […] sich kund that, und worin also nicht, wie in andern Geschichten, Worte und Thaten u.s.w., in Verbindung mit einer göttlichen Verheißung, wie sie sich zu allen Zeiten, in allen Ländern, unter allen Völkern gezeigt hat; sondern Gott, und das, was Gott als der Heilige in Israel gethan hat, den eigentlichen Inhalt ausmacht«.79

Durch die göttliche Offenbarung, die Israel empfing, und durch die von Gott geleitete Geschichte dieses Volkes war Israel bestimmt, »durch alle Zeiten Zeuge des lebendigen Gottes auf Erden« zu sein.80 Es gibt nichts Vergleichbares unter den Völkern.81 76 Alle Zitate ebd. 77 Menken, Schriften VI, 80. »Palästina, das man den Mittelpunkt der alten Welt nennen kann, war in seiner Lage vor allen Ländern der Erde dazu geeignet, der Schauplatz dessen zu sein, was zur Kenntniß der ganzen Welt kommen, das ganze Menschengeschlecht interessiren, die Menschheit erleuchten und beseligen sollte.« Ebd. 83. 78 Menken, Schriften VI, 81 f. 79 Ebd. 91. 80 Ebd. 94 81 Der göttlichen Bestimmung Israels diente auch das am Sinai gegebene Gesetz. Zu seinem rechten Verständnis weist Menken hin auf die Bedeutung der Präambel des Dekalogs: »Gleich das erste Wort des göttlichen Gesetzes an Israel […] stellte in den rechten Gesichtspunkt, woraus das ganze Gesetz betrachtet werden müsse, indem es zurückführte auf das Werk, das

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Die Sonderstellung Israels unter den Völkern fasst Menken im Begriff der Theokratie zusammen. Die Theokratie in Israel begann mit der Befreiung der Hebräer aus der ägyptischen Sklaverei. In diesem Zusammenhang, als »alle Völker von dieser Befreiungstat des Gottes Israels hörten«, sagte Mose: »Jehovah wird königlich regieren immer und ewiglich!« (Ex 15,18). »Dies ist« – so entdeckt Menken – »die allererste Spur, die sich in der Bibel von dem himmlischen Königreiche findet, und diese große Begebenheit ist der Anfang der Theokratie.«82 Mose, den Gott dazu beauftragt, der Anführer dieser Befreiungsaktion zu sein, offenbart Gott am Sinai seinen Namen: Jehovah. Menken erkennt im Eigennamen Gottes eine Abbreviatur des heilsgeschichtlichen Planes Gottes: »War der göttliche Name Jehovah auch schon früherhin bei den Patriarchen in Gebrauch, so erhielt er doch jetzt eine Bestimmung und Bedeutung, die er früher nicht hatte und nicht haben konnte; er wurde der unendlichen Allgemeinheit der Bedeutung und Anwendung entnommen und durch eine eigene göttliche Erklärung zur Bezeichnung Eines gewissen Verhältnisses verordnet: sollte und konnte künftighin nur in Bezug auf Eine Geschichte, auf Eine Verheißung, auf Ein Werk gebraucht werden, wo die Erkenntniß und die Rede war von dem Heiligen in Israel und dem Werke seiner Heiligkeit, das er mit Abraham, Isaak und Jakob zum Segen und Heil aller begonnen hatte.«83

Die Theokratie ist die wichtigste Deutungskategorie zum Verständnis der Geschichte Israels. Dieser Begriff betont die Priorität Gottes in seinem Verhältnis zu Israel, schließt aber auch die Partnerschaft des Volkes Gottes ein. Gott offenbart sich in der Geschichte Israels in unzähligen Wundern und Rettungstaten, die begonnen haben mit der Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei. Gott lenkt und leitet die Geschichte Israels, erwartet aber von Israel ein Verhalten, das seiner theokratischen Beziehung zu diesem Gott entspricht. Doch das ist oft nicht der Fall. Israels Verhalten offenbart eine notorische Untreue, so dass die israelitische Verfassung als eine theokratische immer wieder in Gefahr ist und unterzugehen droht. Aber – das ist der Tenor von Menkens Erzählung der Geschichte Israels – »die menschliche Untreue konnte die göttliche Treue nicht aufheben«.84 Wenn Israel sich »untheokratisch« Gott zum Segen aller Völker mit dem Volke Israel begonnen, und auf das besondere Verhältniß, worin er, um dieses Werkes willen, mit diesem Volke getreten. An die Spitze des Gesetzes, und ehe noch ein Wort des Gebotes geredet war, stellte Gott die Verheißung aller Verheißungen: seinen Namen Jehovah. […] Damit andeutend, daß nicht das Gesetz als solches der Zweck, sondern nur Mittel zum Zweck; daß das eigentlich Beabsichtigte nicht das Gesetz, sondern die Erfüllung der Verheißung, oder die Ausführung des mit der Erlösung aus Aegypten begonnenen Werkes sei.« Menken, Schriften VI, 96 f. 82 Menken, Schriften VII, 159. 83 Menken, Schriften VI, 88. 84 Ebd. 110.

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verhält, dann droht Gott durch seine Propheten mit Strafen, und er verhängt sie auch. Der Untergang des Staates Juda, die Zerstörung Jerusalems mit dem Tempel und das babylonische Exil hätten die Theokratie vor aller Menschen Augen verbergen können, als wäre sie nie dagewesen. Doch das babylonische Exil war durch Weissagungen der Propheten vorausgesagt. Menken erkennt im Wirken der Propheten der Exilszeit, Jeremias und Hesekiels und auch Daniels, dessen Datierung in die Zeit des babylonischen Exils übernommen wird, »theokratische Fürsorge, die (Israels Bestimmung zum Segen aller Völker der Erde unverrückt im Auge behaltend) über das jüdische Volk auch im Zustande seines Elends und seiner Gefangenschaft im fremden heidnischen Lande waltete […]«.85 Auch das Wirken Esras und Nehemias »muß aus jüdischtheokratischem Gesichtspunkt angesehen und beurtheilt werden«.86 Nachdem Judäa eine Provinz Syriens geworden war und die Regierung unter Antiochus Epiphanes das Judentum bekämpfte und ausrotten wollte, war die Familie der Makkabäer »gewissermaßen die letzte in Israel, die, verherrlicht durch mannichfaltige göttliche Hülfe, noch etwas von dem Lichtglanz der alten Theokratie an sich trug«. Doch »unisraelitisch (und so denn auch nicht gemäss der Theokratie) schloss er [Judas Makkabäus, H.M.R.] ein Bündniß mit den Römern«.87 Am Ende der Geschichte Israels im Alten Testament hatte die Theokratie allen Glanz verloren und schien beendet zu sein. Doch gerade an diesem Tiefpunkt erfüllte sich die Verheißung des Messias: »Nach so vielen fortgehenden, durch mancherlei Mittel und Anstalten auf die eigentlichste, unmittelbarste Offenbarung seiner selbst in dem einzigen Ebenbilde und Sohne seines Wesens vorbereitenden Offenbarungen Gottes (Hebr. 1,1.2.); da das israelitische Volk so weit herunter gekommen war, dass es fast schien, die Theokratie und jedes besondere Verhältniß Gottes zu diesem Volke habe ganz aufgehört –; als von der Familie David nur noch wenige in Niedrigkeit und Dürftigkeit übrig waren: da sandte Gott seinen Sohn als den Mittler und Heiland der Menschen in die Welt. […], und mit seiner Erscheinung fing die eigentliche Erfüllung alles dessen an, was Gott durch den Mund aller seiner heiligen Propheten verheißen hat«.88

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Ebd. 120. Ebd. 126. Ebd. 132. Menken, Schriften VI, 133 f.

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6.5 Die Auslegung der Schrift89 Menkens Regeln für die Auslegung der Schrift sind übernommen aus der vorkritischen Hermeneutik der Reformation und des Altprotestantismus. Die Grundregel lautet: Die Bibel erklärt sich selbst. »Der Christ, der Bibelverehrer, der die Bibel für ein Wort und Zeugniß Gottes hält, das in allen seinen Aussprüchen wahrhaftig und zuverlässig ist, lernet aus der Bibel, aus dem Worte Gottes selbst, wie er die Bibel ansehen, was er von ihr halten, wie er sie achten und verehren und zugleich, wie er sie verstehen und deuten soll.«90

Das heißt: Dunkle Stellen sind von hellen her zu verstehen, Verborgenes ist aus Offenbarem zu erschließen. Vor allem aber ist die Auslegung alttestamentlicher Stellen, die uns in den Worten Jesu und der Apostel überliefert sind, absolut verbindlich: »Es ist nicht ohne göttliche Absicht und Fügung geschehen, daß wir über einen namhaften Teil der Bibel in den Reden des Herrn und in den Reden und Briefen seiner Apostel die zuverlässige, allein wahre Auslegung erhalten haben. Von dem Herrn selbst haben die Apostel gelernt, wie sie die heilige Schrift nehmen, verstehen und auslegen sollten, und was sie von ihm gelernt haben, das haben sie in ihren Reden und Briefen seiner Gemeinde gelehrt.«91

Die Bibel muss gelesen werden wie jedes andere menschliche Buch. Ihr Inhalt aber kann nicht wie der Inhalt eines menschlichen Buches gedeutet und behandelt werden, da es ein göttliches Buch ist. Es geht Menken darum, »ohne alle vorgefasste Meinung, ohne vorgängiges Urteil über wahr oder nicht wahr« an die Bibel heranzutreten und sorgfältig zu fragen, »was das Buch sagt«. Ist das geschehen, so gilt die Regel Bengels: »Was Gott uns sagt, das sollen wir uns lassen gesagt sein; wie er uns lehrt, so sollen wir uns von ihm lehren lassen.«92 Zulässig, ja gefordert, ist bei der Auslegung der Bibel also allein die critica 89 Menken behandelt seine Schrifthermeneutik am Ende der Einleitung der Anleitung in den Paragraphen 16 und 17. Wie stark ihn hermeneutische Fragen beschäftigten, zeigt auch ein Brief an seinen Freund Johann Heinrich Hasenkamp. In: Menken, Schriften VII, 295–300. 90 Menken, Schriften VI, 32 f. Dieser Grundsatz ist gut reformatorisch und zielt bei Luther auf die Abwehr schriftexterner Auslegungsinstanzen wie das Lehramt der römisch-katholischen Kirche. Vgl. dazu Luther in seiner Assertio omnium articulorum per bullam Leonis X: »Oportet enim scripturae iudice hic sententiam ferre, quod fieri non potest, nisi scripturae dederimus principem locum, in omnibus quae tribuuntur patribus, hoc est, ut sit ipsa per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans.« Martin Luther, WA 7, 97,23 f. 91 Menken, Schriften VI, 33. 92 Menken, Schriften VI, 34 f. Menken zitiert aus Bengels Abhandlung Von der rechten Weise mit göttlichen Dingen umzugehen, die dessen Übersetzung des NT in den ersten Auflagen beigefügt ist.

Die Auslegung der Schrift

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sacra, philologische Kritik, in der Menken als reformierter Theologe bestens geschult ist. Ausgeschlossen ist die critica profana, inhaltliche Kritik, die in der Aufklärung praktiziert wird. Da Sprache und Inhalt der Bibel jener »Eigentümlichkeit des Göttlichen«93 entsprechen, die sie auszeichnet und die für den Zeitgeist anstößig, ja abstoßend ist, bedarf es eines ständigen Umgangs mit diesem Buch, vor allem aber bedarf es des Glaubens daran, dass es sich dabei um »das heilige Wort und Zeugniß Gottes« handelt: »Wer die Bibel zwar lieset als ein menschliches Buch, aber ohne vorher an Gott gläubig geworden zu sein, d. h. ehe er zu dem Glauben gelangt ist, dass die Bibel das heilige Wort und Zeugniß Gottes ist, der wird mit der Oberfläche ihres Inhalts oberflächlich bekannt werden; aber von der Eigenthümlichkeit des Göttlichen in Lehre und Sprache in derselben wird er keinen Eindruck haben, seine Ansicht, noch viel weniger eine Einsicht.«94

Der Glaube an Gott ist für Menken hier identisch mit dem Glauben an die Bibel als göttliche Urkunde. Eine weitere hermeneutische Grundregel für Menken lautet: Es gibt keinen mehrfachen Schriftsinn. Menken insistiert (gut reformatorisch) auf den sensus literalis: »Je eigentlicher nach dem Buchstaben jemand die Bibel versteht, desto sicherer ist er sie recht oder so zu verstehen, wie Gott sie von uns will verstanden haben.«95

Allegorische, symbolische oder typische Deutungen sind nur statthaft, wenn sie in den biblischen Texten selbst enthalten sind. Auch hier gilt: Die Schrift deutet sich selbst. Vehement wehrt sich Menken besonders gegen die Postulierung eines geistlichen Sinnes, der dem buchstäblichen Sinn entgegengestellt wird und ihn abwertet: »Wenn man den geistlichen Sinn dem buchstäblichen Sinne in der heiligen Schrift entgegenstellt, so ist diese Gegeneinanderstellung ungerecht und unrichtig oder falsch; ungerecht, denn das ›geistlich‹ tönt höher und edler als das ›buchstäblich‹ und so wird durch diese Stellung schon ohne Weiteres auf das Buchstäbliche ein Schatten geworfen.«96 Geistlich und buchstäblich bilden für Menken »keinen natürlichen oder notwendigen Gegensatz«: »Wer die Worte Gottes buchstäblich nimmt, wer sie versteht, wie sie lauten […] der versteht sie geistlich […].«97 Hinter diesen hermeneutischen 93 94 95 96 97

Dies und das folgende Zitat in: Menken, Schriften VI, 35. Ebd. 35. Ebd. 36. Menken, Schriften VI, 37 f. Ebd. 39. Menken steht hier an der Seite Luthers. Luther setzte sich kritisch mit der traditionellen Lehre vom vierfachen Schriftsinn auseinander (sensus literalis oder historicus, sensus allegoricus, sensus moralis und sensus anagogicus) und betonte den Primat des sensus literalis. Dazu Otto Weber: »Er [Luther, H.M.R.] meint damit nicht, dass der sensus literalis einer Ergänzung durch eine geistliche Bedeutung bedarf, sondern dass er, da in ihm das Wort Gottes zu uns kommt und der Geist an uns wirkt, selbst schon ›geistlich‹ ist.« Weber, Grundlagen, Bd. 1, 360.

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Das reichsgeschichtliche Schriftverständnis Gottfried Menkens

Grundsätzen steht Menkens Auseinandersetzung mit der Bibelkritik des Rationalismus, die mit den geschichtlichen Texten nichts anzufangen wusste und den biblischen Realismus verachtete. Das Festhalten am buchstäblichen Sinn ist Menken vor allem wichtig für das Verständnis der Hauptsache der Bibel, des Reiches Gottes. Davon lehrt die Bibel »nicht bildlich«, sondern historisch und prophetisch – »wo sie die vergangne oder zukünftige Geschichte des Himmel und Erde, Zeit und Ewigkeit umfassenden Werkes Gottes, das ihren eigentlichen Inhalt ausmacht, in Weissagungen und Verheißungen, die damit in unauflöslicher Verbindung stehen, vorträgt – das was Israel betrifft, Kanaan, Jerusalem, Zion, die Theokratie bis zu ihrer allbeseligenden und herrlichen Allgemeinheit in dem Königreich dessen, dem Gott den Thron seines Vaters David gegeben, und ihn, wie zum Erben über Alles, also auch zum ewigregierenden König über das Haus Jakobs gesetzt hat.«98

Die ekklesiologische oder spiritualisierende Deutung dieser Texte verfehlt ihren eigentlichen Sinn: »Wo der native, israelitisch-theokratisch-buchstäbliche Sinn solcher Stellen gar nicht geglaubet, nicht beachtet oder als judaisierende Buchstäbelei verachtet, wo das Alles ohne weiteres von der sogenannten christlichen Kirche verstanden, oder gar von dem geistlichen Leben der Seele gedeutelt wird, da bleibt der eigentliche Inhalt des göttlichen Wortes Lehrern und Zuhörern, den Lesern wie den Schriftstellern ein verdecktes Geheimnis.«99

Menken spricht hier vom »eigentlichen Inhalt des göttlichen Wortes«. Es ist die »Hauptsache« der Schrift: das Reich Gottes, das in der geschichtlichen Offenbarung prophetisch angekündigt und so sukzessive seiner Vollendung zugeführt wird. Prophetische Ankündigungen, von deren Eintreffen die Bibel berichtet, sind eine Bestätigung der Wahrheit und Göttlichkeit der Bibel. Die biblische Prophezeiung bezieht sich auf »eine gewisse Sache«: »eine Reihe von Ereignissen und Begebenheiten durch Jahrhunderte und Jahrtausende, die endlich alle Einen vorher verkündeten Effekt hervorbringen, Einen vorher bekannt gemachten Plan realisiren, Ein großes, vor Jahrtausenden mit Einem Manne angefangenes Werk Gottes zum Segen Aller bringen sollen, das nach der Natur der freien Geschöpfe nicht anders, als auf diesem Wege zur Vollendung kommen konnte«.100

Unterscheidet man zwischen Regeln der formalen Hermeneutik und der materialen Hermeneutik, so ist hier in der Feststellung des Reiches Gottes als der Hauptsache der Bibel die materiale Hermeneutik Menkens zusammen98 Menken, Schriften VI, 40 f. 99 Ebd. 41. 100 Ebd. 30.

Die Auseinandersetzung mit der Hermeneutik der Aufklärung

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gefasst. In der materialen Hermeneutik mit dem Reich Gottes als Schlüssel der Schriftauslegung unterscheidet sich Menken von der kirchlichen Orthodoxie. Seine Schriftauslegung bindet sich nicht mehr an die material-hermeneutischen Vorgaben der reformatorischen Bekenntnisschriften. Für Luther ist Wort Gottes, Evangelium, das in der Schrift, »was Christum treibet«.101 Jesus Christus ist für Luther die Mitte der Schrift. »Was Christum treibet« ist für Luther inhaltlich zusammengefasst in der Rechtfertigungslehre, dem »articulus stantis et cadentis ecclesiae«. Durch dieses hermeneutische Kriterium sieht sich Luther berechtigt zur Freiheit gegenüber den biblischen Schriften, zur kritischen Einschätzung ihrer kanonischen Geltung. Bekanntlich hatte Luther große Vorbehalte gegenüber dem Jakobusbrief und gegenüber der Johannesapokalypse. Auch bei Menken ist Jesus Christus die Mitte der Schrift, aber nicht der Christus, der den Sünder gerecht spricht, sondern der Christus, der das Reich Gottes voranbringt, der durch die Kraft des Geistes die persönliche Heiligung ermöglicht und so die Priester und Könige des Reiches Gottes heranbildet. Eine Kritik einzelner Bücher ist bei Menken undenkbar. Aus dem reformatorischen Prinzip sola scriptura wird bei Menken (und in der ganzen heilsgeschichtlichen Theologie) das Prinzip tota scriptura. Die Verschiebung der materialen Hermeneutik von der Rechtfertigungslehre zur Reich-GottesLehre markiert bei den heilsgeschichtlichen Theologen die Abwendung von einer verengten individualistischen Soteriologie und die bewusste Hinwendung zum biblischen Universalismus. Menken profiliert sein Schriftverständnis in der Auseinandersetzung mit der Hermeneutik der Neologie und des Rationalismus und zugleich in der Abgrenzung von der kirchlichen Orthodoxie.

6.6 Die Auseinandersetzung mit der Hermeneutik der Aufklärung in der »Dämonologie« Menken widmete seine Erstlingsschrift, die Dämonologie oder Widerlegung der exegetischen Aufsätze des Herrn Professors Grimm102, »den hochehrwürdigen Herren Predigern der vereinigten Länder Jülich, Cleve, Berg und Mark«. In einer Vorrede an die »ehrwürdigen Väter und Brüder« deutet er seine Zeit als die in 2Tim 4,3f vorausgesagte Endzeit, in der die Menschen die gesunde 101 Der Ausdruck stammt aus Luthers Vorrede zum Jakobus-Brief (1522/1546) und bedeutet in heutigem Deutsch etwa: was Christus zeigt, was Christus lehrt, was Christus verkündigt. »[…] und darin stimmen alle rechtschaffenen Bücher überein das sie allsampt Christum predigen und treiben. Auch ist das der rechte Prüfstein alle Bücher zu tadeln, wenn man siehet, ob sie Christum treiben oder nicht. Sintemal alle Schrift Christum zeiget. Rom III.« In: WA DB VII, 25. 102 Vgl. zu Grimm die Ausführungen in Kap. 4.4.

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Das reichsgeschichtliche Schriftverständnis Gottfried Menkens

Lehre nicht mehr ertragen, der Wahrheit nicht mehr ihr Ohr leihen und sich den Mythen zuwenden. Er appelliert an die »Herren Prediger«, »Lichter zu sein in der Welt« und »von der Wahrheit Zeugnis zu geben unter den Menschen«, denn er konstatiert: »Es ist nun nicht mehr selten, es ist allgemein, und wird täglich allgemeiner, daß öffentliche Lehrer des Christenthums nicht bleiben bei den Worten dessen, der ihr Herr und Meister sein sollte, und mit einer bis dahin beispiellosen Unverschämtheit ihm und seinen Aposteln widersprechen, und statt durch heilsame Lehre die Glückseligkeit der Menschen zu befördern, durch eine Lehre, die heillos ist, diese Glückseligkeit untergraben.«103

Grimms Schrift Exegetische Aufsätze zur Aufklärung schwieriger Stellen der Schrift erschien 1793 in Duisburg. Der Autor praktiziert darin eine rationalistische Bibelauslegung, die den Aberglauben bekämpfen und ihn mit dem Licht der Vernunft auflösen will. Bibelstellen, die vom Teufel und von Dämonen reden, entsprechen nicht mehr dem Zeitgeist und bedürfen besonders der Erhellung durch die Vernunfthermeneutik der Aufklärung. Aber gerade auf diesem Gebiet erhebt sich der Protest der Gegner der Aufklärung. Man kann hier von einer Dialektik der Aufklärung sprechen. Denn die Aufklärung, vor allem der Rationalismus, hat mit seinen vernünftigen Erklärungen die Abgründigkeit des Menschen und der Welt verharmlost.104 Die exegetischen Aufsätze Grimms behandeln zwei Schriftstellen: Dan 12,1–3 und Mt 8,28–34. Menken beschränkt sich in seiner Kritik auf die zweite.105 Zunächst aber äußert er sich über den Sadducäismus seines Zeital-

103 Menken, Schriften VII, 9. 104 Emanuel Hirsch geht ausdrücklich auf »die Erneuerung des Teufels- und Dämonenglaubens« in der neupietistischen Theologie ein. Er erwähnt neben Menkens Dämonologie Heinrich Jungs Theorie der Geisterkunde von 1808 und das im 19. Jahrhundert wiederholt aufgelegte Werk Die Seherin von Prevorst des schwäbischen Arztes und Dichters Justinus Kerner von 1829. Obwohl Hirsch die neupietistische Theologie und ihren Supranaturalismus, der auch Menken zugeordnet wird, negativ beurteilt, weil sie für ihn »eine die Aufklärung ablehnende rückwärts gewandte theologische Neubildung [ist], der ein innres Verhältnis zu Bildung und Wissenschaft der Nation abgeht«, kann er die Erneuerung des Teufels- und Dämonenglaubens würdigen: »Die dämonologischen Gedanken und Erscheinungen gehören zur Überwindung des Rationalismus durch die neupietistische Theologie mit hinzu. Wohl stehn sie am Rand des Ganzen und sind nicht die entscheidenden Merkmale für Höhenstand und Geistesrichtung. Aber als blosse Verirrungen können sie nicht gelten.« Hirsch, Geschichte, Bd. V, 144. 105 Auf die Exegese Grimms zu Dan 12,1–3 geht Menken in einer langen Anmerkung ein. Er lehnt Grimms These ab, »dass die Auferstehung, von der in dieser Stelle (Dan. 12,3) geredet wird, ein Orientalismus sei, eine uneigentliche Redensart, die so viel beweise, als Ehre und Nachruhm erlangen«. Der polemische Ton Menkens ist typisch für die ganze Dämonologie: »Sonst kann der Leser noch allerlei Erbauliches aus diesem Aufsatz lernen, als – daß die Lehre von den Engeln ein Hauptstück der orientalischen Philosophie gewesen sei, – daß man sich Gott als einen orientalischen Regenten vorstellt, – daß man die Engel in Klassen getheilt und derglei-

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ters und über den Widerspruch gegen »die Schriftlehre von den Teufeln« als einem Beispiel dieses sadducäischen Geistes. Unter Sadducäismus versteht Menken die »Aversion gegen Alles, was nicht Fleisch ist, nicht sinnlich wahrgenommen und demonstriert werden kann«. Auch die Bibelexegese der Aufklärung ist für ihn geprägt von diesem Sadducäismus. So kommt Menken zu dem pauschalen Verdikt: »Wer die Schriften der neuern Theologen ohne Aberglauben gelesen hat, der muß es gefühlt haben, daß ihre Absicht ganz und gar nicht ist, eine treue Darstellung des Inhalts und Sinnes der biblischen Schriften zu geben, sondern, den inneren Gehalt dieser Schriften zu schwächen, die Wahrheiten, die von ihnen aus das Menschengeschlecht erleuchteten, aus ihnen wegzutilgen – ihre und ihrer Mitwelt kleine und unheilige Denkungsart dem großen und heiligen Sinne der Menschen Gottes zu unterschieben; mit einer Exegese des Satans mit jedem ihrer Worte den möglichst leersten Sinn zu verbinden, statt daß die Exegese der Wahrheitsliebe mit den Worten des Schriftstellers den möglichst reichsten und besten Sinn verbindet.«106

Der Autor der Dämonologie, der an die Existenz der Dämonen glaubt, verteufelt hier pauschal die Schriften »der neuern Theologen« und bezeichnet ihre Schriftauslegung als »Exegese des Satans«. Die ganze Bibel werde von diesen Exegeten in orientalischen Duft und Dunst aufgelöst, alles in ihr durch jedes arabische Sprüchelchen ungewiss gemacht. Die Bibel werde dadurch aller Realität beraubt und in »Redensarten, Träume, Imaginationen und Acommodationen aufgelöst«.107 Zwei Exegeten seiner Zeit provozieren in diesem Zusammenhang seinen besonderen Zorn: »Barth hat mit allen seinen gottlos-aufrichtigen Aeußerungen und Lästerungen wider das Christenthum nicht so viel geschadet, wie Eichhorn mit seiner hypokritischen Einleitung in das A.T.«108 Die »sadducäische« Bestreitung der Schriftlehre vom Satan »als einem persönlichen, vernünftigen, mächtigen Wesen, als einem Fürsten eines Reiches der Finsterniß, das dem Reiche des Lichtes und der Wahrheit entgegenwirkt«, ist keine Nebensache, sondern betrifft »eine der wiederholtesten Hauptlehren der Schrift«.109 Ohne sie ist die Ganzheit der Schrift zerstört. Jesus Christus hat diese Lehre nicht »als einen jüdischen Wahn angenommen«: »Wer könnte uns dann dafür stehn, dass er nicht aus Accommodation noch zehn andere Irrthümer des jüdischen Volks als Wahrheit gelehrt und verbreitet hat?«110 Grimm bringe in seinem Buch nichts Neues: »Alles, was früher

106 107 108 109 110

chen Kuriosa mehr, die schon so oft, bis zum Ekel, wiederholt sind, daß ein Schüler in Prima dabei gähnt.« Menken, Schriften VII, 18 f. Menken, Schriften VII, 12. Ebd. 13. Ebd. 13. Ebd. 16. Alle Zitate ebd. 15.

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oder später gegen die Schriftlehre vom Satan geschrieben ist, hat man in den letzten Dezennien unsers Jahrhunderts bis zum Ekel wiederholt. […] Wenn man sich nur an das erinnert, was von Semler, Farmer, Timmermann und andren, – ihre Zahl ist Legion – hierüber gesagt haben […]«.111 Menkens Gesamturteil über Grimms Schrift ist angriffig und total negativ: Grimms Buch »verspricht Aufklärung und giebt Dunkel. Es will schwierige Stellen der Schrift aufklären, und es verdunkelt deutliche Stellen der Schrift.«112 Grimms Aufsatz über die Geschichte der gadarenischen Besessenen zerfällt in zwei Teile, in »ein allgemeines Raisonnement über die Bedeutung der Worte: besessen sein, einen Teufel haben u. dergl.«113 und eine Auslegung des Textes aufgrund dieser Erläuterungen. In Menkens Replik auf den ersten Teil kommen bereits wesentliche Aspekte seiner biblischen Theologie zur Sprache. Die Erklärung außerordentlicher Krankheiten durch Dämonen ist aus der ganzen Antike bekannt. Das hätte Grimm nicht alles wieder auftischen müssen. Aber die entscheidende Frage wird von ihm nicht gestellt: Wie sind die Alten zu dieser Vorstellung ohne sinnliche Wahrnehmung gekommen? Wie sind die Juden zu den Begriffen von Dämonen gekommen, wenn doch nie ein Dämon existiert hat? Auf diese Fragen antwortet Menken mit seiner Offenbarungslehre. Das Wissen von übersinnlichen Dingen verdankt die Menschheit ausschließlich positiver Offenbarung und nicht der eigenen Vernunft. Bereits den ersten Menschen hat Gott dieses Wissen anvertraut, und so ist die Kunde davon zu allen Völkern gekommen. Vor allem aber wurde Israel erwählt, um die weitergehende Offenbarung der Pläne Gottes zu empfangen und zu bewahren. In den biblischen Texten ist Gottes Offenbarung aufgehoben. Menken erklärt, »dass dieses Dasein der Begriffe von übersinnlichen Dingen in der Menschheit völlig unerklärlich bleibe ohne die historischen Thatsachen der mosaischen Geschichte, die uns so wiederholt belehret, dass Engel den Menschen erschienen, dass Engel von Menschen belehret wurden, u. dergl. mehr.«114 Grimms Behauptung, dass die Juden in ihrer Angelologie vieles von fremden Völkern aufgenommen haben, weist Menken zurück. Durch die göttliche Vorsehung hat umgekehrt die Völkerwelt Kenntnis vom Glauben Israels erhalten, z.B. durch das Exil der Israeliten in Medien. In der Geschichte Daniels findet Menken ein leuchtendes Beispiel für die Wirkung des jüdischen Glaubens auf die Heiden. Prof. Grimm aber rede von diesem Daniel wie von einem Schulknaben, der in aller Weisheit der Chaldäer unterrichtet worden sei. Der heilsgeschichtliche Rang Israels gestattet es Menken nicht, religionsgeschichtliche Parallelen für biblische Zusammenhänge anzuerkennen.

111 112 113 114

Ebd. 17. Ebd. Ebd. 19. Ebd. 21 f.

Die Auseinandersetzung mit der Hermeneutik der Aufklärung

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Menken ist immer wieder empört darüber, dass rationalistische Exegeten wie Grimm die Bibel nicht sagen lassen, was sie sagt, dass sie es besser wissen. Er beobachtet genau, dass die Evangelien unterscheiden zwischen Menschen, die eine Krankheit haben und solchen, die von einem Dämon besessen sind. Für Grimm ist das Wunder einer Krankenheilung ebenso groß wie der Sieg über Dämonen. Doch Menken entgegnet: »Das muß doch ein jeder fühlen, daß die Evangelisten das Austreiben der Teufel als etwas sehr Großes, als etwas Charakteristisches des Sohnes Gottes angeben, der gekommen war, dem unbezwungenen Starken den Raub abzunehmen und seine Wirksamkeit aufzuheben.«115

Wenn Jesus in Wahrheit keine Teufel ausgetrieben, sondern Natürlichkranke geheilt hat, die auch durch andere Mittel hätten geheilt werden können, so stellt sich natürlich die Frage nach den Gründen für das Handeln und Reden Jesu. Hierauf antwortet Grimm mit der sogenannten Akkommodationstheorie, einem Kernstück der Hermeneutik der Aufklärer. Im Begriff der Akkommodation ist das homiletische Programm der Neologie und des Rationalismus präzise zusammengefasst. In der Praxis der Akkommodation sahen die Aufklärer den Jesus der Evangelien als Vorbild. Der Heiland der Sünder war in der theologischen Aufklärung nicht mehr gefragt. An seine Stelle trat der weise Volkslehrer, der sich den Möglichkeiten und Bedürfnissen seiner Zuhörer und Zuhörerinnen anpasst. So versteht auch Grimm den Dämonenglauben Jesu als Rücksicht auf die Vorurteile seiner Zeit. Nach Grimm war Jesus auch um sein Ansehen beim Volk besorgt und wollte nicht sadducäisch erscheinen. Für Menken ist es ein Widerspruch, wenn einer ein Lehrer und Erleuchter des Volks sein soll und zugleich die Vorurteile und Irrtümer des Volkes vertritt und bestätigt. Jesus akkommodierte sich nicht. Das zeigen die Evangelien auf jeder Seite. Sonst wäre es eine Lüge, er sei in die Welt gekommen, um der Wahrheit Zeugnis zu geben: »Die Schrift sagt: Ein jeder sei gesinnet, wie Jesus Christus auch war. Die Schriftgelehrten unserer Zeit sagen: Ein jeder sei gesinnet, wie wir gesinnet sind. Der Sohn Gottes muss gesinnet gewesen sein wie wir, wenn anders seine Gesinnungsart vernünftig und gut gewesen sein und sich bei der argen und ehebrecherischen Gesinnungsart des achtzehnten Jahrhunderts vertheidigen lassen soll.«116

Als ein Beispiel der Akkommodation des weisen Volkslehrers Jesu erwähnt Grimm die Verkündigung Jesu vom Reich Gottes. Menken zitiert aus Grimms Schrift: 115 Ebd. 39. 116 Ebd. 48.

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Das reichsgeschichtliche Schriftverständnis Gottfried Menkens »Wie nachsichtsvoll bewies sich Jesus gegen das herrschende Vorurtheil von der irdischen Glückseligkeit des messianischen Reichs? Wie sehr bequemte er sich auch hier nach den unrichtigen Begriffen seiner Nation und seiner Jünger? – Oft redete er selbst ganz in jüdischen Bildern von der Glückseligkeit seines Reiches, und doch war dieses ein Vorurtheil, das mit seinem ganzen Plane geradezu in Widerspruch stand.«117

Hier geht es um das Zentrum der heilsgeschichtlichen Bibeltheologie Menkens. Das Reich Gottes ist für Menken nicht nur ein geistliches Reich, unter dem sich niemand etwas vorstellen kann. Menkens Hoffnung auf das kommende Reich nimmt den Realismus des Alten Testaments und der jüdischen Reichshoffnung ernst. Und so ruft er aus: »Der Zweck der ganzen Veranstaltung Gottes, die wir Christenthum nennen, ein Vorurtheil? Die Hoffnung aller Christen ein Vorurtheil? […] Täuscht uns die Bibel in dem, was sie uns von dem Reiche Jesu Christi sagt, so betrügt sie uns in allem, was sie von ihm und von Gott sagt. Sollen wir allein für dieses Leben Christen sein, und nicht hoffen auf den neuen Himmel und die neue Erde, in welcher Gerechtigkeit wohnt, wo kein Tod, kein Leid, kein Geschrei mehr sein wird, so sind wir die elendesten aller Menschen. Lasst uns unser N.T. in’s Feuer werfen, Brüder! Prediger des Evangeliums eines Königreiches, das nirgend je existiert hat, als in den Vorurtheilen des jüdischen Pöbels und des judaisierenden Pöbels unter den Christen.«118

Und wieder konstatiert Menken das Grundübel der rationalistischen Bibelexegeten: »Sie bestimmen vorher, was sich für Gott und den Himmel schicke, was mit ihrer Philosophie bestehen könne; entscheiden erst nach Willkür a priori über Dinge, worüber allein aus Offenbarung etwas ausgemacht werden kann, und sagen dann: so muß es sein!«119

Im Widerspruch zu Grimms Auslegung des Textes fasst Menken seine Botschaft so zusammen: »Ich kann es auf keine Weise wahrscheinlich finden, dass die Evangelisten uns diese Geschichte als die Geschichte zweier Wahnsinnigen erzählen. Mir däucht’s vielmehr, sie erzählen dieses, wie vieles andre, zu dem Zwecke, dass wir glauben sollen: Jesus ist Messias, der Sohn Gottes, der Retter aus allem geistigen und leiblichen Elende. […] Daß Jesus ein Herr sei auch über die Teufel, daß auch Teufel sich vor ihm fürchten und seinem Winke gehorchen 117 Ebd. 54. 118 Ebd. 54 f. 119 Ebd. 58.

Biblische Orthodoxie statt kirchliche Orthodoxie

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müssen, das ist es doch wohl, was diese Geschichte uns lehren soll und kann.«120

Auf den letzten Seiten seiner Dämonologie gibt Menken ein Resümee seines Bibelverständnisses, in dem die Lehre vom Satan ein wesentlicher, unentbehrlicher Bestandteil ist. In der Bibel wird uns der Plan Gottes geoffenbart, »das ganze Universum, alle Geisterwelten in einer reichsmäßigen Verfassung, unter Einem Haupte, unter den einen göttlichen und menschlichen König Jesus Christus zu einem Ganzen zu vereinigen und so die möglichst höchste Glückseligkeit seiner vernünftigen Geschöpfe zu befördern. […] Da muss nun Satan selbst, ohne Wollen und Wissen, mit dazu wirken, daß gerade aus dem Geschlechte, das er durch kritisch-exegetische Künste, durch Verdrehung und falsche Auslegung eines Wortes Gottes um seine Unschuld und um seine Würde brachte, die allerreinsten, die allerschönsten, die allermächtigsten, die allerliebenswürdigsten Geister, die leuchtendsten, herrlichsten, gottvollsten Geschöpfe des ganzen Wesenreiches, die Könige und Priester des Reiches Gottes über alles, zur Freude und Seligkeit aller, die ihnen untergeordnet sind, gebildet werden.«121

Ohne Prüfungen kann der Wert und Rang der Gläubigen für das Reich Gottes nicht bestimmt werden. Aber »Satan kann den grossen Plan Gottes der Restitution und möglichst höchsten Erhebung der Menschheit nicht hindern, er muß ihn befördern.«122 Und Menken ist sich sicher: »Ein jeder kann ihm [dem Satan, H. M.R.] widerstehen, der an das Wort Gottes glaubt und sich diesem Glauben gemäß verhält.«123

6.7 Biblische Orthodoxie statt kirchliche Orthodoxie Menken hat sich mit seiner Schriftauffassung nie auf die orthodoxe Dogmatik berufen. Das hängt zusammen mit seinem reichsgeschichtlichen Schriftverständnis, das die Bibel nicht als Quelle dogmatischer Lehrsätze auffasst, sondern als ein »geschichtliches, harmonisches Ganzes«, wie Menken schon in seiner Dämonologie betont.124 Und es hängt zusammen mit seiner kritischen Einschätzung der kirchlichen Bekenntnisschriften. 120 121 122 123 124

Ebd. 67 f. Ebd. 72. Ebd. 73. Ebd. 75. »Die Bibel ist keine Dogmatik, keine nach Kapitel und Paragraphen zusammengereihte Darstellung verschiedener Lehren, deren jede allein und alle zusammen kein Ganzes bilden; – sie ist vielmehr ein geschichtliches, harmonisches Ganzes. Alles, was sie lehrt, lehrt sie uns entweder unmittelbar in Geschichte, oder es ruhet doch auf Geschichte, hat doch seinen Grund und sein Licht in der Geschichte.« Menken, Schriften VII, 68.

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Das reichsgeschichtliche Schriftverständnis Gottfried Menkens

Menken hat über sein Verhältnis zur kirchlichen Orthodoxie einen wichtigen Aufsatz geschrieben, den er 1828, also am Ende seines Lebens, in Hasenkamps Zeitschrift Wahrheit zur Gottseligkeit veröffentlichte. Der Aufsatz trägt den Titel Etwas über Alt und Neu in Betreff der christlichen Wahrheit und Lehre und ist verfasst als »Schreiben an einen [fingierten, H. M.R.] Freund«.125 Menken beginnt mit der Feststellung, dass der fingierte Freund, der wohl die Position kirchlich-orthodoxer Kritiker Menkens vertritt, einen Gesinnungswandel bei Menken vermutet: »Du bist unzufrieden mit mir, dass ich, der ich mehr als Einmal wider die Neologen zu Felde gezogen, nun endlich doch noch selbst ein Neologe werde; zwar ein gläubiger, ein christlicher, aber doch ein Neologe.«126 Menken bestreitet das sofort und versichert, dass ihn in früheren Jahren, als die Wörter Kirche und Konfession noch in einem hohen Ansehn für ihn standen, kein Tadel mehr getroffen hätte als dieser: »Was du sagst, ist neu; die Kirche kennt das nicht; ja, es ist ihrer Ansicht, Erklärung und Lehre zuwider.«127 Inzwischen habe er aber erkannt, dass diejenigen, die Bewahrer alter kirchlicher Tradition sein wollen, ja ihre eigene Konfession meinen: »Sie haben sich so gewöhnt, ihre Konfession und die Kirche als Eins und Dasselbe zu denken, daß sie es gar nicht wissen, oder, wenn sie es auch einmal wussten, längst vergessen haben, daß ihre Konfession nur ein, vielleicht noch sehr kleiner, abgerissener, und in seiner Abgerissenheit sehr junger, frischer Theil eines großen uralten Ganzen ist.«128 Wie steht es nun mit der protestantischen Kirche, um die es Menken geht? Sie »ist in ihrer Geschichte, Verfassung, Lehre und Liturgie und in ihrem bis auf den heutigen Tag fortdauernden, sich selbst zersplitternden Konfessionsund Sektenwesen zwar von Einer Seite betrachtet, ein Neues.« Sie wollte aber keine neue Kirche sein. »Sie wollte vielmehr älter als die griechische und die katholische Kirche angesehen werden, insofern sie, das neuere Menschliche in Lehre und Leben ausscheidend und verlassend, zu dem apostolischen Althertum zurückgekehrt sei, und nun die alte, ächte, erste, die apostolische Lehre und die Einfalt und Freiheit der ersten christlichen Kirche wieder darstelle.«129 Luthers Reformation war dem Prinzip sola scriptura verpflichtet: »Hehr, wie nichts Menschliches es ist, wie nur ein Gottesgesetz und Gotteswort es sein kann, aller Welt Herrlichkeit niederblendend und alles menschliche Einreden verstummen machend, überstrahlte die Schrift, wie er sie erfaßt hatte, und wie sie nun das Licht und Recht seines Verstandes und Lebens geworden war, alle Pracht und Glorie des gesammten Kirchenwesens, aller Fakultäten, Mönche und Priester Ansehen, aller Bischöfe Macht, des Kaisers Majestät und des Papstes Bann, die Beschlüsse aller Konzilien, wie die 125 126 127 128 129

Ebd. 235–266. Ebd. VII, 235. Ebd. Ebd. 238. Ebd. 239 f.

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Entscheidungen aller Väter und den Nimbus aller Heiligen. In ihrem Licht schwanden vor seinem Auge alle Jahrhunderte zwischen ihm und den Aposteln, und nur sie, nur Gottes und Christi Wort durch sie blieb ihm: das Eine allein Geltende und Alles Entscheidende.«130

Die Folgen, die das Prinzip sola scriptura für die Lehre und das Leben der Kirche im Einzelnen hat, wurden in den symbolischen Büchern festgehalten. Und – so lässt Menken den fingierten Adressaten seines Schreibens schließen – »so haben wir, die wir ihres Theils sind, nicht über eine entstellte Lehre, Verfassung und Liturgie in der Kirche zu klagen; und so sollte also Jeder von uns bei der Norm und Form der Lehre bleiben, wie sie damals in den symbolischen Büchern wieder hergestellt und angenommen ist. Wer davon abweicht, macht sich, da die Kirche nunmehr ja wieder im Besitz der Wahrheit ist, einer Neologie schuldig […].«131

Menkens Antwort führt ihn zum eigentlichen Anliegen seines Schreibens. Die Heilige Schrift auf der einen Seite und die symbolischen Bücher der Kirche auf der anderen sind strikt zu unterscheiden: »Das erste ist ganz und gar unabhängig von dem zweiten, das zweite ist ganz und gar abhängig von dem ersten. Die Bücher der heiligen Schrift sind das Göttliche, da der Mensch seinen menschlichen Maßstab nirgend anlegen kann. Wie es (als das Göttliche) keiner Prüfung bedarf, so kann es auch von vorn hier nicht geprüft werden; denn der Mensch hat nichts in sich selbst, und die Welt außer ihm hat nichts, woran oder wonach er dies Göttliche prüfen könnte, denn dieses würde das Höhere sein über das zu Prüfende – ein Göttlicheres, wovon dies Göttliche erst sein Zeugnis und Siegel nehmen müsste. […] Die symbolischen Bücher hingegen sind ein Menschliches, das, wenn es nicht ein Päpstliches sein und werden soll, nothwendig menschlicher Prüfung und Untersuchung unterworfen bleiben muss, schon allein um desswillen, weil der symbolische Werth dieser Bücher doch nur erst nach einer genauen Vergleichung derselben mit der heiligen Schrift, woraus sich die innigste Harmonie, ja die Identität derselben in Gedanken und Sprache mit der heiligen Schrift ergeben hat, mit Überzeugung erkannt werden kann.«132

Menken wendet sich dann den wichtigsten kirchlichen Symbolen zu und unterzieht sie einer historischen Kritik. Die drei altkirchlichen Glaubensbekenntnisse wurden von den Reformatoren mit Recht ausdrücklich beibehalten. Davon sei aber das Apostolikum wegen seiner Kürze und Biblizität zu bevorzugen. Darin weiß sich Menken mit Luther einig. Luther bevorzugte es in 130 Ebd. 241. 131 Ebd. 244. 132 Ebd. 244 f.

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Das reichsgeschichtliche Schriftverständnis Gottfried Menkens

der Konzeption seiner beiden Katechismen, und Menken verfasste selbst eine Erklärung des Apostolikums.133 In der Beurteilung der Augsburger Konfession, der dazugehörigen Apologie und der Schmalkaldischen Artikel betont Menken, dass diese Bekenntnisse nicht eine vollständige Darstellung der christlichen Lehre sein wollten, sondern eine Rechtfertigung der im Widerspruch zur katholischen Kirche stehenden reformatorischen Lehren. Am Heidelberger Katechismus, dem wichtigsten Glaubensbekenntnis seiner eigenen reformierten Kirche, kann Menken gar nichts Gutes finden. Dieser Katechismus erhob den Anspruch, das Ganze der kirchlichen Glaubenslehre zu erfassen und erweckte den Anschein, die Katechismen Luthers und Calvins zu überbieten. Doch Anspruch und Wirklichkeit stimmen hier für Menken nicht überein. Er stellt die überragende Geltung des Heidelbergers in den reformierten Kirchen Deutschlands in Frage. Seine Kritik umfasst folgende Punkte: Der Heidelberger war nach dem Erscheinen der Katechismen Luthers und Calvins entbehrlich und hatte auch nicht die Autorität der reformatorischen Führungsgestalten. Dieser Katechismus »ging gar nicht aus der Kirche, er ging aus dem Staat hervor, verdankte sein Dasein landeskirchlicher Machtvollkommenheit, dem Befehle des Kurfürsten und seinem Wunsch nach einheitlicher Lehre unter den Reformierten seines Landes«.134 Kurfürst Friedrich III. wählte als Verfasser zwei der jüngsten Theologen und Prediger seines Landes: »Ursinus und Olevianus, von denen der erste sein 28. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, der Andre noch nicht 26 Jahre alt war.« Zu Prüfung und Beurteilung wurden nicht Freiheit und Zeit gewährt. Sonst wäre wohl die Jugend der Verfasser, die »nothwendig unangenehm auffallen musste«, wie auch »manche übertriebene und vermessene dogmatische Bestimmung in dem Buche selbst« zur Sprache gekommen.135 Die kirchliche Orthodoxie des Luthertums und des Calvinismus kam lehrmäßig zu einem gewissen Abschluss in der Formula Concordiae des Jahres 1580 und auf reformierter Seite in den Beschlüssen der Synode von Dordrecht 1618. Das Anliegen dabei war vor allem die gegenseitige Abgrenzung und Verurteilung. Menkens Urteil über die Dordrechter Synode ist scharf. Es ging darum, »einen von allem Luthertum gereinigten, von aller allgemeinen Liebe Gottes gesäuberten, man möchte sagen, sich selbst übertreffenden Hyper-Calvinismus zu haben, im Jahre 1618 […]. Auch diese Synode mit ihren Beschlüssen 133 Das Glaubensbekenntnis der christlichen Kirche nebst der nöthigen Einleitung erschien in erster Auflage 1816. In dritter Auflage von 1828 in: Menken, Schriften VI, 257–299. 134 Menken, Schriften VII, 249. 135 Ebd. Menken spielt hier an auf die anselmische Satisfaktionslehre des Heidelberger Katechismus, die er entschieden ablehnt und bekämpft.

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mußte natürlich wieder sehr dazu beitragen, daß die Trennung der beiden Hauptparteien der protestantischen Kirche weiter auseinander gehalten und gegen jede mögliche Versöhnung und Vereinigung fester verwahrt würde.«136

Die erstarrte orthodoxe Dogmatik, die in den selbstgemachten symbolischen Büchern zur verpflichtenden Norm gemacht wurde, erweckte den Widerspruch derer, die »mit Ekel und Widerwillen von einer solchen weltlichkirchlich gebotenen, eingelernten und großentheils um Amtes und Brotes willen in aller Bequemlichkeit nachgesprochenen Lehre sich wegwendend«137, etwas Besseres suchten, nämlich das Wort Gottes selbst. Menken erinnert an die Mystiker des Mittelalters und an Lehrer und Schriftsteller der protestantischen Kirchen wie Valentin Weigel, Johann Arndt, Jakob Böhm, späterhin Peter Poiret, Gottfried Arnold und noch später Gerhard Tersteegen: »In den Niederlanden hatten die Remonstranten Freiheit der Lehre und Schriftauslegung mit Aufopferung ihrer Aemter und Güter, ja zum Theil ihres Lebens erkämpft und bildeten nun eine Gemeinde. In Deutschland und anderen Ländern […] da waren mehr oder weniger auch Mystiker und Separatisten. Und wer weiß, wohin es gekommen wäre, und wohin der Durst nach einer fördernden und belebenden Kirchengemeinschaft und nach einer labenden und erleuchtenden Lehre der Wahrheit, die Schmachtenden im Sande des dürren Dogmatismus getrieben hätte, wenn nicht Männer wie Spener, Franke und ihre Freunde ein neues Leben aufgeregt hätten, allermeist dadurch dass sie nicht so sehr zu den symbolischen Büchern und der darin enthaltenen und abgeschlossenen Lehre, sondern zu der heiligen Schrift selbst, als der eigentlichen lebendigen, jedem Christen angehörenden Quelle der Wahrheit und Lehre hinführten.«138

Neben all diesen heterodoxen Denkern, die der kirchlichen Orthodoxie ein Dorn im Auge waren und bekämpft und verfolgt wurden, entzog sich die Mehrheit ihr »auf anderem Wege«. Damit meint Menken den wachsenden Einfluss der Philosophie und Theologie der Aufklärung: »Die Menschen waren es müde geworden, eine abgeschlossene Dogmatik nach gewissen vorgeschriebenen Stellen der Bibel, oder auch nach vorgeschriebenen Stellen des heidelbergischen Katechismus sich Jahr aus Jahr ein in einer abgeschmackten Predigtweise kalt und amtsmäßig vortragen zu lassen. Was zu allen Zeiten zum Nachtheil der Kirche geschehen ist, geschah jetzt mehr als je: die Zeitphilosophie wurde von den Kathedern auf die Kanzel gebracht; um Dogmatik und Orthodoxie, um symbolische Bücher und um die Bibel bekümmerte man sich kaum noch; Philosophie, Moral, Pädagogik, 136 Menken, Schriften VII, 250 f. 137 Ebd. 251. 138 Alle Zitate ebd. 251 f.

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Das reichsgeschichtliche Schriftverständnis Gottfried Menkens Politik, kurz Alles, nur nicht das eigentlich Biblische und Christliche wurde gepredigt.«139

Auch in dieser Zeit traten einzelne Männer auf, die unter christlicher Wahrheit etwas anderes als die Lehrbestimmungen ihrer konfessionellen Katechismen verstanden. Menken nennt mit Respekt die Namen »der drei edeln Schweizer« Hess, Lavater und Pfenninger und würdigt besonders Hess: »Hess erwarb sich kein geringes Verdienst um die Kirche schon dadurch, daß er die Einsicht und den Muth hatte, ein Buch zu schreiben unter dem Titel: Vom Reiche Gottes. Denn wo, in welcher Kirche, in welchem Katechismus, in welchem symbolischen Buche, in welcher Dogmatik war doch noch die Rede vom Reiche Gottes? Dies war ein ganz Neues, und doch ein Uraltes.«140

Menkens kirchengeschichtlicher Abriss, der bis in seine Gegenwart führt, will die Geltung der kirchlichen Glaubensbekenntnisse durch historische Kritik relativieren, ja diskriminieren: Sie stehen nicht am Anfang der reformatorischen Erneuerung. Sie sind fragmentarisch. Die Umstände ihrer Entstehung sind fragwürdig. Sie führten zu den konfessionellen Abgrenzungen und Kämpfen. Im Übrigen stellt Menken fest: »Diese Bücher sind nicht mehr da, sie sind bei dem größten Theile der Protestanten aus dem Leben und aus dem Andenken der Menschen verschwunden; ihre Stimme ist in der Kirche schon längst verhallt, ihre kirchliche Auktorität und Wirksamkeit hat lange schon stillschweigend als von selbst aufgehört.«141

Ferner widersprechen die konfessionelle Annäherung und die Vereinigung beider Konfessionen in unierten Gemeinden, die in Menkens Zeit stattfindet und die er begrüßt, einer Wiederbelebung dieser alten Bekenntnisse. Das Ergebnis von Menkens historisch-kritischer Überprüfung der symbolischen Bücher lautet, dass sie nicht »von denjenigen, denen es weder um Altes noch Neues, weder um Vertheidigung noch Anfeindung eines menschlichen Systems, nicht um Harmonie mit der Dogmatik irgend einer Kirchenpartei, nicht um Orthodoxie noch Heterodoxie, sondern allein um ächte reine Bibellehre zu thun ist, als eine untrügliche, entscheidende, vollständige Norm und Form der christlichen Schriftauslegung verehrt werden können.«142 139 Ebd. 253. 140 Ebd. 254. 141 Menken, Schriften VII, 256. Menkens Feststellung ist bis heute gültig geblieben. Kaum wird sich heute noch ein Pfarrer oder eine Pfarrerin auf eine der altprotestantischen Bekenntnisschriften ordinieren lassen. Beachtlich ist aber, dass neuere Bekenntnisse wie z. B. das Barmer Bekenntnis nach dem Zweiten Weltkrieg als verpflichtendes Erbe der Bekennenden Kirche bei der Ordination übernommen wurden. 142 Ebd.

Biblische Orthodoxie statt kirchliche Orthodoxie

225

Und noch mehr gilt dies für die Schriften der Kirchenväter und die Beschlüsse der Konzilien. Am Ende seines »Schreibens an einen Freund« bekennt sich Menken eindrucksvoll zur Freiheit der Schriftauslegung in den protestantischen Kirchen. Hier wird aber auch die Problematik seiner Schriftauffassung deutlich. Menken preist die Hochschätzung der Bibel in der Reformation, ihre Übersetzung in die Landessprachen, ihre Verbreitung durch die Erfindung der Buchdruckerkunst und allgemeine Zugänglichkeit als »die schönste Seite und die edelste Frucht der Reformation«.143 Bei der Freigabe der Bibel an das Volk und der Ermahnung zum persönlichen Bibelgebrauch setzte man voraus, »dass die Schrift in einer treuen, wörtlichen Übersetzung ihrem Hauptinhalt nach von dem christlichen Volke ohne gelehrte Kenntnisse verstanden werden könne«.144 Es war dabei aber auch eine große Verschiedenheit in der Erklärung einzelner Stellen und »mancherlei Mißbrauch« zu erwarten. Doch dies war ja auch durch die symbolischen Bücher nicht verhindert worden. Im Gegenteil. So ist Menken ein entschiedener Befürworter der Freiheit der Schriftauslegung. Er bekennt sich zur Klarheit der Schrift, deren Anerkennung und Verehrung die Gläubigen aller Konfessionen zur una sancta ecclesia verbindet: »Die Verschiedenheiten, die Streitigkeiten, die Spaltungen gingen nicht aus der Bibel, sie gingen aus den Symbolen, aus der Dogmatik, aus den menschlichen Bestimmungen der christlichen Lehre hervor, und sie hätten sich vermindern und aufhören müssen in dem Masse, worin die Bibel, nicht dem Worte und Vorgeben nach, sondern in That und Wahrheit, als einzige Quelle der Erkenntniß und als einziges Normativ der Lehre angesehen und verehrt wäre. Wo sie so angesehen und verehrt wird, da bahnt sie still und sicher den Weg aus der Befangenheit und Abgeschlossenheit und dem Unfrieden der Konfessionen zu der Weite, Gemeinschaft und dem Frieden der Kirche; jener Einen wahren Kirche, von der glücklicher Weise in allen Konfessionen ein Laut und ein Zeugnis übrig geblieben ist […].«145

Menken kann die Klarheit der Schrift behaupten, ihrer normativen und Einheit stiftenden Kraft vertrauen, weil er angesichts ihrer Göttlichkeit jede historische Kritik, die er bei den symbolischen Büchern selbstverständlich praktiziert, zurückweist. Der historische Abstand von den biblischen Texten ist für Menken selbst und den »Bibelverehrer« seinesgleichen kein Problem: »Er kann das ganze Gewebe und Gewirre so vieler Jahrhunderte, Kirchen, Konfessionen, Sekten, Symbole, Systeme, Lehren und Meinungen, Wahrheiten und Irrthümer eine Zeitlang vor seiner Seele verschwinden lassen, als wäre es nicht dagewesen, und sich über das Werk und Reich Gottes, das den 143 Ebd. 259. 144 Ebd. 260. 145 Ebd. 261.

226

Das reichsgeschichtliche Schriftverständnis Gottfried Menkens Inhalt der Schrift ausmacht, aus der Schrift selbst, die sich selbst erklärt und aufschließt, unterweisen zu seiner eignen Seligkeit (2. Tim 3,15).«146

Nur wenn Freiheit in der Schrifterforschung und Schrifterklärung besteht, kann oft verborgene oder verdrängte Schriftwahrheit gefunden werden und der Erneuerung der Kirche dienen. So war es in der Reformation, als Luther das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben in der Schrift entdeckte. So verhält es sich auch mit der Schriftlehre vom Reich Gottes. Sie wird als etwas Neues verdächtigt, ist aber uralte biblische Lehre und etwas, »das schon das bessere, erleuchtete Israel des Alten Bundes aus Gottes Offenbarung erkannte«.147 Ohne Freiheit der Schrifterforschung, ohne Freiheit von den dogmatischen Vorschriften kirchlicher Orthodoxie wäre diese Lehre nicht ans Licht gekommen: »So hätte auch das Geheimniß Gottes, das er selbst evangelisiert hat seinen Knechten, den Propheten, – jene selige Vollendung seiner Wege und Anstalten, die noch auf Erden, sein Wort und Werk an dasselbe verherrlichend, erfolgen soll […], keines Menschen Seele mit der Hoffnung erfüllen dürfen, durch deren Licht und Kraft sie über den anscheinenden Sieg der Lüge und des Bösen nicht irre gemacht, vor allem Verzagen an der Sache der christlichen Wahrheit bewahrt blieb und mit heiliger Freude erquickt wurde – wenn diese Perle christlicher Erkenntnis darum für alle Zeiten als ein verborgener Schatz im Acker hätte liegen bleiben sollen, weil die symbolischen Bücher und Katechismen der Konfessionen sie nicht enthielten, oder als einen Irrthum verwarfen.«148

Wer etwas Neues in der Schrift entdeckt, soll sich aber nicht einbilden, dass er der Erste und Einzige sei, der diesen Fund gemacht habe. Viel Wahrheit in der Bibel wurde schon früher erkannt, vieles ging aber auch verloren oder wurde unterdrückt. Und dazu gehört auch die Schriftlehre vom Reich Gottes. Der Verdacht der Neologie ist unbegründet. Es handelt sich dabei vielmehr um »eine Paläologie«, »die auf die gesammte Kirchenlehre, wie sie seit Augustinus ausgebildet worden, ihres Alters und Adels sich bewußt, mit grosser Sicherheit und Freudigkeit hinsehen kann«.149

6.8 Der Begriff und das Problem des Biblizismus Menkens Bibeltheologie wird als Biblizismus bezeichnet. Karl Barth sieht in Menken einen frühen Vertreter dieses theologiegeschichtlichen Phänomens, 146 147 148 149

Ebd. 262. Ebd. 263. Ebd. Menken, Schriften VII, 266.

Der Begriff und das Problem des Biblizismus

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das im 19. Jahrhundert dann in mancherlei Variationen, vor allem in Verbindung mit der Erweckung begegne, bei Menken aber in bemerkenswerter Reinheit zutage trete: »Es gibt als interessantes Randphänomen des Neuprotestantismus das eigentümliche Verfahren des sog. Biblizismus, für dessen Existenz und Wesen der in der Theologiegeschichte viel zu wenig beachtete Gottfried Menken (1768–1831) in Bremen vor anderen bezeichnend ist.«150

Ähnlich wie Barth hat bereits Martin Kähler Menkens Rolle in der Theologiegeschichte beurteilt.151 Menken wird auch von Kähler als Begründer dieses Biblizismus gesehen und sein Einfluss auf die positive Dogmatik des 19. Jahrhunderts, z.B. auf Hofmann in Erlangen, wird herausgestellt: Man könne »also getrost sagen, dass Menken an der Spitze des Biblizismus unseres Jahrhunderts steht«.152 Nun ist aber festzustellen, dass der Begriff Biblizismus bzw. Biblizist weder bei Menken noch sonst als Selbstbezeichnung begegnet. Er tritt erst auf in der Mitte des 19. Jahrhunderts.153 Menken bezeichnet sich selbst als Bibel- oder Schriftverehrer, wie oben ausgeführt wurde. Weiter ist festzustellen, dass der Begriff des Biblizismus vieldeutig ist und Gegensätzliches umfasst. Er bedarf der Klärung. In neueren Lexikonartikeln wird die Unklarheit des Begriffs Biblizismus betont, so von E. Schott: »Bei der grossen Unsicherheit des Sprachgebrauchs […] fragt es sich, ob man vom Begriff Biblizismus heute überhaupt noch Gebrauch machen soll, zumal Biblizismus als Selbstbezeichnung offenbar nicht vorkommt.«154 G. Gloege urteilt: »Der theologiegeschichtliche Sachverhalt fordert die systematisch-theologische Klärung des Begriffes Biblizismus.« Aber sein Gesamturteil steht fest: »Der Ausdruck Biblizismus ist weder für die Dogmatik noch für die Ethik anders brauchbar als zur Bezeichnung eines Irrweges.«155 Welches sind die besonderen Kennzeichen einer Auffassung von der Bibel und eines Umgangs mit ihr, die als Biblizismus bezeichnet werden? Ich folge den Auskünften neuerer theologischer Lexika. Nach Wenzel Lohff bezeichnet Biblizismus »die isolierende und verabsolutierende Einschätzung des geschriebenen Bibelwortes als Quelle und Norm der verbindlichen Glaubens150 Barth, KD I/2, 678. Ähnlich Barth, Die protestantische Theologie, 469: »Wenn man ihn [den Biblizismus, H. M.R.] in seiner Urgestalt kennen will, wenn man die relativ selbständige Stellung, die nachher auch ein Hofmann und Beck und später ein Cremer, ein Kähler, ein Schlatter gegenüber dem Pietismus eingenommen haben, innerlich verstehen will, dann muss man Menken kennen.« 151 Vgl. dazu oben Kap. 3.1.2. 152 Kähler, Geschichte der protestantischen Dogmatik, 157. 153 »Das Wort ist zuerst 1843 in England bei Sterling belegt, hat sich dort aber wenig verbreitet. In Deutschland begegnet es erstmals 1854 bei Tholuck und bürgert sich seit dem Ende des 19. Jh. mehr und mehr ein.« Karpp, Biblizismus, 478. 154 Schott, Biblizismus 1., 1263. 155 Gloege, Biblizismus 2., 1263.

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Das reichsgeschichtliche Schriftverständnis Gottfried Menkens

aussagen«. Lohff bemerkt sogleich einen wesentlichen Unterschied zum reformatorischen Schriftgebrauch: »Im Gegensatz zur Anerkennung der Hl. Schrift als oberster Richtschnur der Lehrverkündigung, die einen Grundzug aller reformator. Glaubenslehre darstellt, wird im Biblizismus die Hl. Schrift unter Kritik bzw. Übergehung der kirchlichen Lehrüberlieferung unvermittelt als ›System‹ oder ›Organismus‹ der Glaubens- und Sittenlehre verstanden.«156

Nach G. Gloege meint Biblizismus »eine Gesamtauffassung der Bibel, die diese als in sich geschlossenes, in seinen Teilen grundsätzlich gleichwertiges Ganzes versteht und ihr für die jeweilige Gegenwart unmittelbar verpflichtende Geltung beimisst«.157 Gloege unterscheidet »drei auch als Mischformen auftretende Typen des Biblizismus«: »Die Bibel ist a) nach dem theoretisch-doktrinären Biblizismus: Kodex göttlicher Lehre; b) nach dem praktisch-programmatischen Biblizismus: Corpus religiös-sittlicher Vorschriften für das Leben des einzelnen wie der Gemeinschaft; c) nach dem heilsgeschichtlichen Biblizismus: Kompendium der die Menschheitsgeschichte gestaltenden Gotteshistorie.«158 Für Gloege sind alle drei Typen des Biblizismus »Ausformungen eines rationalistisch-gesetzlichen Bibelverständnisses«, und er hält sie »für die gegenwärtige Theologie grundsätzlich überwunden«.159 Ich setze daneben die Definition des Biblizismus, die Martin Kähler in seinen Aufsätzen zur Bibelfrage gegeben hat: »Biblizismus bezeichnet in der theologischen Terminologie eine einseitige Richtung. Sie erklärt die Bibel in ihrer vorliegenden Gestalt für die einzige und allumfassende Grundlage christlicher Erkenntnis, und es ist gemeint, im Leben wie in der Wissenschaft ausschliesslich den Inhalt der Schrift nur immer neu in Umschlag zu bringen.«160

Menken vertritt nach diesen Definitionen den heilsgeschichtlichen Typus des Biblizismus. Kennzeichnend sind dabei folgende Aspekte: Das reformatorische Schriftprinzip wird radikalisiert zum Prinzip sola tota scriptura. Die Bibel ist das Dokument der geschichtlichen Offenbarung Gottes, der Heilsgeschichte. Der hermeneutische Schlüssel der Schrift ist nicht »das, was Christum treibet«, womit konkret die reformatorische Rechtfertigungslehre gemeint ist, sondern das Reich Gottes, das zugleich das Reich Jesu Christi ist. 156 157 158 159 160

Lohff, Biblizismus, 451 f. Gloege, Biblizismus 2., 1263. Ebd. Ebd. Kähler, Aufsätze, 191 Anm. 10.

Der Begriff und das Problem des Biblizismus

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Die kirchliche Dogmatik ist nicht maßgebend für die Interpretation der Schrift, sondern die Schrift allein ist maßgebend und ermächtigt zur Kritik der kirchlichen Lehrtradition. Die christliche Dogmatik soll allein und direkt aus der Schrift erhoben werden. Auch die Sprache der Predigt soll der biblischen Sprache angeglichen werden. Das wesentliche Kennzeichen dieses und jedes Biblizismus ist ein ungeschichtliches Bibelverständnis. Biblizismus in jeder Form lehnt historische Kritik der Bibel ab, denn sie macht den unmittelbaren Gebrauch der Schrift in der Lehre und Ethik unmöglich. Die Biblizisten sind der Überzeugung, dass sie das reformatorische Schriftprinzip konsequent verwirklichen. In der Tat ist der Biblizismus ohne das sola scriptura der Reformation nicht denkbar. Er ist eine Revision dieses Schriftprinzips unter erneuerten Bedingungen, aber mit gravierenden Veränderungen. Karl Barth hat versucht, diese Veränderungen begrifflich zu erfassen und die wohl profundeste Analyse der Motive gegeben, die hinter dem biblizistischen Anliegen stehen: Barth unterscheidet den Biblizismus der Reformatoren vom Biblizismus des Neuprotestantismus, den er auch als modernen Biblizismus bezeichnet und als Epigonen-Biblizismus vom Biblizismus der (reformatorischen) Meister abgrenzt. Barth sieht die Entstehung dieses modernen Biblizismus in einem interessanten Zusammenhang mit der spätorthodoxen Lehre von der Verbalinspiration: »Was bedeutete sie [die Lehre von der Verbalinspiration, H.M.R.] faktisch Anderes als eine höchst wirksame Vergegenwärtigung der Fleischwerdung des Wortes, ihre sehr bequeme und übersichtliche Fixierung für den Besitz und die Verfügung des heute lebenden Menschen. Ungefähr gleichzeitig mit dieser letzten Zuspitzung des alten Systems, die doch vielmehr eher als einer der Anfänge des Neuen zu werten ist, setzt dann der pietistische Biblizismus ein, der sich von dem reformatorischen so unterscheidet, wie eben Ergreifen von Ergriffensein verschieden ist. Über den Ernst und den Eifer des Studiums, das man jetzt der Bibel ganz neu widmete, bedarf es keines Wortes; aber man muß auch beachten, wie dabei nicht sowohl der Mensch für die Bibel offen war, als vielmehr die Bibel für den Menschen um jeden Preis offen sein sollte, wie man da nicht sowohl die Bibel Meister sein ließ, als vielmehr der Bibel ganz bestimmte Weisungen, Kräfte, Seligkeiten entnehmen zu sollen und zu können meinte, kurz, wie auch und gerade dieser Biblizismus ein Akt jenes Vergegenwärtigungswillens war, ein Vorgang, der die spätere Bibelkritik bereits gefährlich genug in sich trug.«161 161 Barth, Die protestantische Theologie, 95. Barth verortet den Ursprung des »modernen« Biblizismus in seinem großen Exkurs über die Föderaltheologie des Johannes Coccejus in eben dieser Föderaltheologie in KD IV/1, 59: »Die Föderaltheologie war eine theologische Historik,

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Das reichsgeschichtliche Schriftverständnis Gottfried Menkens

Der Kernpunkt der Kritik Barths an diesem Biblizismus und also auch an Menkens Schriftauffassung ist dessen Antikonfessionalismus und Antitraditionalismus. Barth spricht von Bibelabsolutismus und fragt: »Ob solcher Bibelabsolutismus in seinem Wesen etwas Anderes ist als der sonstige Absolutismus, der das entscheidende Merkmal des Geistes und des Systems des in der Aufklärung gipfelnden 18. Jahrhunderts bildete und ob er in seinen Auswirkungen so ganz von diesem verschieden sein kann?«162

Es falle auf, dass sich derselbe Antikonfessionalismus auf der Seite der Aufklärung finde, die doch von einem Menken entschieden abgelehnt werde. Barth fasst seine Kritik zusammen im Bild eines kecken, eigenmächtigen Griffs nach der Offenbarung: »Man muß offenbar fragen: ob hier nicht mit derselben Souveränität, mit der in der Neuzeit Andere die Vernunft, das Gefühl, die Erfahrung, die Geschichte zum Prinzip der Theologie erhoben haben, nun die mit höchst eigenen Augen gelesene und höchst selbstherrlich verstandene und ausgelegte Bibel eingesetzt wird? Ob in diesem Zusammenhang nicht auch die Ausnahmebehandlung gerade der Bibel – sofern man ihr gegenüber den Relativismus, mit dem man die Kirche betrachtet, nun auf einmal nicht mehr gelten lässt – etwas eigentümlich Selbstherrliches bekommt? Ob wir es hier nicht mit einem frommen, aber in seiner Keckheit doch ebenfalls ausgesprochen modernen Sprung in die Unmittelbarkeit zu tun haben, mit einem Griff nach der Offenbarung, der, indem er mit einer solchen Abschüttelung der Väter verbunden ist, nun doch, obwohl und indem er sich als Griff nach der Bibel zu erkennen gibt, auch etwas sehr Anderes sein könnte, als der Glaubensgehorsam, der dann Ereignis wird, wenn die Offenbarung durch das Wort der Bibel nach uns gegriffen hat?«163

Wer auf die theologischen Väter nicht mehr höre, der höre dann auf andere Geister und sogar – unbewusst – auf den verachteten Geist der Zeit. Das gelte auch für Menken: »[…] man wird an den in der Sache sehr neuprotestantischen Absonderlichkeiten, die sich gerade Menken, aber auch J.T. Beck an zentralsten Stellen geleistet haben, studieren können, daß es auch dem ernstesten Schriftforscher nicht zu raten ist, an jenem sächsischen und pfälzischen Katechismus des 16. Jahrhunderts und auch an jenem Bischof von Hippon des 5. Jahrsofern sie sich durch ihr reformatorisches Erbe zunächst an die Schrift binden und auf das in der Schrift bezeugte Geschehen beschränken ließ. Aber war sie mit ihrer Analyse und Synthese der Schrift gegenüber nicht doch schon souveräner, als sie sich selbst zugeben wollte und als es – hier hat ja das, was man bis heute ›Biblizismus‹ nennt, seinen Ursprung – auch nach außen den Eindruck machte?«, Hervorhebung H.M.R. 162 Barth, KD I/2, 680. 163 Barth, KD I/2, 679 f.

Der Begriff und das Problem des Biblizismus

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hunderts so unbesorgt vorüberzugehen, sich der durch die Existenz von kirchlichen Vätern gegebenen Führung und Korrektur in der Weise zu entziehen, wie es nach dem Programm des Biblizismus zu geschehen hätte.«164

Die Veränderungen im Schriftverständnis, die im Biblizismus des Neuprotestantismus zutage treten, beschreibt Barth unter den Aspekten von Bibel und Offenbarung, Bibel und kirchliche Dogmatik, Bibel und Predigt, Bibel als Subjekt und Objekt. Barth urteilt zusammenfassend, dass die Bibel im Biblizismus der Reformatoren Subjekt ist, das nach dem Menschen greift, während der Biblizismus des Neuprotestantismus die Bibel zum Objekt macht und erkennt in diesem »kecken Griff nach der Bibel« jene absolutistische Haltung, die nach seiner Diagnose den Zeitgeist des Zeitalters der Aufklärung auf den Begriff bringt. Als Bibelabsolutismus äußere er sich im Schriftverständnis des Neuprotestantismus.165 Obwohl Barths Analyse der Entwicklung des reformatorischen Schriftverständnisses zum pietistischen Biblizismus im Wesentlichen zuzustimmen ist, fordert sie aber doch zur Kritik heraus: Der Begriff des Biblizismus, wie Barth ihn verwendet, ist neutral und meint eigentlich eine herausgehobene Bedeutung der Bibel und eine besondere Bindung an sie. Der »Biblizismus der Reformatoren« wird dann positiv bewertet, der moderne »Biblizismus des Neuprotestantismus« negativ. Rein sprachlich ist der Begriff wie viele der sogenannten Ismen negativ konnotiert. So ist zu fragen, ob es sinnvoll ist, vom Biblizismus der Reformatoren zu sprechen. Der Kernpunkt der Kritik Barths am Biblizismus Menkens, der sogenannte »Absolutismus« seiner Schriftauslegung, bezieht sich konkret auf die Ignoranz Menkens gegenüber den kirchlichen Bekenntnisschriften. In Barths Skriptologie wird die »Autorität in der Kirche«, die Beachtung der kirchlichen Lehrtradition der »Freiheit in der Kirche« deutlich vor- und übergeordnet.166 Die Gefahr dieser Konzeption ist, dass die vorgeordnete Bindung an die (reformatorischen) Bekenntnisschriften zu einer Engführung wird und zu einer Blockade neuer exegetischer Erkenntnisse in anderen Zeiten mit ihren Herausforderungen für die Theologie und die Kirche. Die Gefahr ist, dass jene Situation eintritt, aus der die reformatorische Schriftexegese herausführen wollte, dass kirchliche Lehre und kirchliches Handeln auf einer Tradition gegründet werden, die nun quasi an die Stelle des unwiderruflichen Lehramtes tritt.167 164 Barth, KD I/2, 680. 165 Vgl. zu den Differenzierungen Barths die Übersicht unten S. 233. 166 Barths Skriptologie (vgl. Barth, KD I/2, 505–531), behandelt in § 19 Gottes Wort für die Kirche, in § 20 Die Autorität in der Kirche, in § 21 Die Freiheit in der Kirche. 167 »Waren die reformatorischen Theolog_innen mit dem Ziel angetreten, kirchliches Handeln nicht mehr auf Traditionen zu gründen, sondern allein auf die Schrift, so wird mit dem festgelegten Auslegungsschlüssel wieder eine neue Tradition geschaffen. Es sind jetzt nicht mehr das kanonische Kirchenrecht und die Beschlüsse der Konzilien, gegen deren normative Geltung Luther sich wehrte. Vielmehr wird die Sammlung der lutherischen Bekenntnis-

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Das reichsgeschichtliche Schriftverständnis Gottfried Menkens

Barths eigener Respekt gegenüber den reformatorischen Bekenntnisschriften, ja gegenüber den Reformatoren Luther und Calvin schließt die Freiheit zur Kritik, zur Modifikation und auch zur Aufgabe bestimmter Lehraussagen ein.168 Menken beruft sich auf das Selbstverständnis der Bekenntnisschriften, die ihre Autorität der Schrift nach- und unterordnen, die norma normata sein wollen und nicht norma normans sind. Er verteidigt die von ihm in Anspruch genommene Freiheit der Schriftexegese ausdrücklich und eindrücklich. Die Entwicklung der protestantischen Schriftexegese nach Barth zeigt, dass diese Freiheit in eine kritische Beziehung zur kirchlichen Lehrtradition führen kann und zu großen Herausforderungen führt. In ihr liegt aber auch die Chance zu einer Weiterführung und Erneuerung kirchlicher Lehre, die nicht nur den Anforderungen des 16. und 17. Jahrhunderts, sondern der Gegenwart entspricht, denn ecclesia semper reformanda und theologia semper reformanda bedingen einander.169

schriften im Konkordienbuch zu dem Regelwerk, an dem sich das Auslegen der biblischen Schriften und die Auseinandersetzung mit der Bibel orientieren müssen. Das Regelwerk legt fest, wie Auslegung und Anwendung der Schrift zu vollziehen sind.« Jochum-Bortfeld/Kessler, Schriftgemäß, 15 f. 168 Hans Urs von Balthasar wählt Karl Barth zum Gesprächspartner, »weil in ihm zum erstenmal der echte Protestantismus eine – seine – völlig konsequente Gestalt gefunden hat. Diese Gestalt wurde nicht durch einen radikalen Rückgang zu den Quellen, zu Calvin und Luther, quer durch alle ›Entwicklungen‹, Verbildungen und Verblasenheiten des Neuprotestantismus hindurch, erreicht, sondern wesentlicher noch durch Reinigung und Radikalisierung dieser Quellen selbst. Nicht nur Luther – dies wäre für einen Reformierten verständlich – sondern auch Calvin wird an entscheidenden Punkten modifiziert oder ganz aufgegeben.« Balthasar, Karl Barth, 32. 169 Als Beispiel wäre die neue Paulusdeutung zu nennen, die angestoßen wurde durch Krister Stendahls Buch Der Jude Paulus und wir Heiden. Anfragen an das Abendländische Christentum (1976). Die Thesen der neuen Paulusexegese und der sozialgeschichtlichen Bibelauslegung sind aufgenommen worden im Projekt Die Reformation radikalisieren – provoziert von Bibel und Krise anlässlich des 500-jährigen Reformationsjubiläums. Die Ergebnisse dieses Projektes liegen vor in 5 Bänden hrsg. von Ulrich Duchrow (Heidelberg), Daniel Beros (Buenos Aires), Martin Hoffmann (San Jos , Costa Rica/Nürnberg) und Hans G. Ulrich (Erlangen), Berlin 2015. Die Autoren schreiben in der Einführung in diese Buchreihe: »Hier geht es um das Herzstück der Reformation: Rechtfertigung – Gesetz – Evangelium. Zentral ist dabei die kritische Perspektive der neuen Paulusdeutung gegen die individualistische Auslegung, die Gottes Gerechtigkeit und Befreiung auf das westliche Ich umdeutet und den kalkulatorischen Kapitalismus vorbereitet; gegen die Identifikation des tötenden Gesetzes mit der Tora statt mit dem Gesetz des römischen Imperiums; gegen die schroffe Entgegensetzung von Gesetz und Evangelium, die die Loslösung des NT vom AT bewirkt und Antijudaismus und Antisemitismus hervorruft.« Duchrow/Jochum-Bortfeld, Befreiung zur Gerechtigkeit,14.

Die Schrift will und kann als Zeugnis der Offenbarung Die Predigt ist formal extrem gebunden an die biblische in der Verkündigung der Kirche jeweils neu zum Wort Sprache und material an die vom Ausleger definierte Gottes werden. biblische Dogmatik. Die applicatio ad hominem wird zum besonderen Problem.

Bibel und Predigt

Bibel als Subjekt und Die Bibel greift nach dem Menschen. als Objekt

Bibel ist Quelle und Norm: Formaler Biblizismus Auslegung der Bibel ist gebunden an die kirchliche Lehrtradition, durch sie reguliert und relativ gefeit gegen individuelle Willkür

Bibel und kirchliche Dogmatik

Der Mensch greift nach der Bibel: Bibel-Absolutismus.

Das biblische »System« wird zur Dogmatik: Materialer Biblizismus Schriftauslegung verfällt der Subjektivität des Auslegers und wird anfällig für den Zeitgeist und die Zeitphilosophie.

Bibel ist geschriebenes Wort Gottes und vom geschehenen Wort Gottes zu unterscheiden. Bibel ist Zeugnis des Wortes, Zeugnis der Offenbarung.

Geschehenes und geschriebenes Wort Gottes rücken zusammen, werden identisch. Bibel ist Wort Gottes. Bibel ist die (deponierte) Offenbarung.

Biblizismus des Neuprotestantismus Moderner Biblizismus »Epigonen«-Biblizismus

Bibel und Offenbarung

Biblizismus der Reformatoren Biblizismus der reformatorischen Väter Biblizismus der Meister

Übersicht zum Begriff des Biblizismus bei Karl Barth

Der Begriff und das Problem des Biblizismus

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7. Israel und seine »heilige Geschichte« – Homiletik des Alten Testaments im Predigtwerk Gottfried Menkens Es geht in diesem Kapitel um die homiletischen Aspekte in Menkens Auslegungen des Alten Testaments. Wie predigt Menken jeweils über alttestamentliche Texte? Anhand ausgewählter Predigten und kurzen inhaltlichen Zusammenfassungen soll nach den exegetischen und dogmatischen Voraussetzungen gefragt werden. Dabei werden stets im Blick sein: die Beziehung zur Theologie der Aufklärung und zur kirchlichen Orthodoxie.

7.1 Israels Erwählung, Verpflichtung und Bestimmung 7.1.1 Drei Lehrpredigten Menken hielt an fünf aufeinanderfolgenden Sonntagen im Juli und August 1797 in Wetzlar Predigten über denselben Text, Ex 19,3–6, von denen er die ersten drei in die Neue Sammlung christlicher Homilien aufnahm.1 Es sind thematische Homilien, Lehrpredigten, die der Ordnung, die der Text selbst angibt, folgen wollen: Sie handeln erstens von der Erwählung, zweitens von der Verpflichtung, drittens von der Bestimmung des Volkes Gottes. Die Einleitung der ersten Predigt greift die Frage auf, ob die Parteinahme Gottes, die Erwählung einer Person oder eines Volkes, der universalen Liebe Gottes widerspricht und Ausdruck einer Parteilichkeit Gottes ist. Das bestreitet Menken. Vielmehr dient die partikulare Erwählung Israels dem Universalismus der Liebe Gottes: »Gott hat zur Erreichung des allerbesten Zweckes, zur Beförderung der allerhöchsten Glückseligkeit der vernünftigen Schöpfung, und also in seiner allgemeinen Güte gegen alle Menschen einem Theile des menschlichen Geschlechts einen sehr grossen Vorzug eingeräumt nach seiner Gerechtigkeit.«2 Der biblische Text berichtet von Gottes Auftrag an Mose, dem Haus Jakob und den Israeliten mitzuteilen, dass Gott sie zu seinem Eigentumsvolk erwählt habe, eine Erwählung, die eine Verpflichtung und eine Bestimmung einschließt. Israel soll für Gott »ein priesterliches Königreich« und »ein heiliges 1 Menken, Schriften IV, 452–495. 2 Ebd. 454.

Israels Erwählung, Verpflichtung und Bestimmung

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Volk« sein. Der Begriff des Königreiches Gottes ist nach Menken nicht irdisch und zeitlich zu verstehen, sondern auf das himmlische Königreich Gottes als das große Ziel aller göttlichen Offenbarungen, Verheißungen und Anstalten zu beziehen. Menken trägt hier sein Verständnis des eschatischen Reiches Gottes in den Text ein. Die Erwählung Israels wird heilsgeschichtlich begründet und eschatologisch ausgerichtet: »Der Herr der Herrlichkeit sagt: das himmlische Königreich sei denen, welche es ererben, bereitet vor Grundlegung der Welt; und die Schrift lehrt uns deutlich, daß dieses Königreich oder die Zusammenfassung unter ein sichtbares Haupt, die Ordnung der vernünftigen Schöpfung in die Verfassung eines Königreichs der Vorsatz des Willens und Wohlgefallens Gottes gewesen sei von Ewigkeit her (Matth. 25,34. Eph. 1,9.10), wie sie denn auch, wenn sie von der Erwählung des Volkes Gottes redet, sagt, Gott habe sein Volk erwählet vor Grundlegung der Welt (Eph. 1,4); so kommt die Sache aus der Ewigkeit her und reicht in die Ewigkeit hinein als Sache des Königreiches Gottes.«3

Die Erwählung Israels war also nach Gottes Willen nicht exklusiv, sondern inklusiv gemeint: »Es war von Anfang an Gottes Absicht, dass einst alle, die in den Glaubenssinn und Glaubenswandel Abrahams eintreten würden, als Abrahams Kinder angesehen werden daß alle diese gesegnet werden sollten mit dem gläubigen Abraham und durch den ihm verheissenen Segen (Gal. 3,7.9); […] daß die Heiden durch die gläubige Annahme des Evangeliums Miterben an dem Erbe Gottes, und Mitglieder an dem Leibe Christi, und Mitgenossen des heiligen Geistes der Verheißung mit dem Volke Israel werden sollten (Eph. 3,6).«4

Es gibt nur ein Volk Gottes, das aus dem gläubigen Israel und den hinzugekommenen Gläubigen aus den Völkern besteht. Die sogenannte Substitutionstheorie, die Ablösung Israels durch die Kirche, und eine Widerrufung der Erwählung Israels lehnt Menken entschieden ab: »Das Volk Gottes unter dem alten Testament und das Volk Gottes unter dem neuen Testament, oder Israel und die Christen sind also einander nicht entgegen gesetzt, verhalten sich also nicht zu einander wie Vorbild und Gegenbild, wie Schatten und Wirklichkeit. Es giebt nur ein Israel, nur ein Volk Gottes von jenem Tage der Erwählung Abrahams an bis in Ewigkeit. Die gläubigen Heiden sind nicht an Israels Stelle gekommen, Israel ist nicht zu den Heiden übergegangen, sondern die Heiden zu Israel; Israel erhält die Heiden zum Erbe. Abraham ist der Vater aller Gläubigen, die leiblich von ihm abstammen, und derer, die nicht leiblich von ihm abstammen. Ungläubige Israeliten gehören so wenig zu dem Israel Gottes, als ungläubige sogenannte 3 Menken, Schriften IV, 456 f. 4 Ebd. 457.

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Israel und seine »heilige Geschichte« Christen dazu gehören. Die gläubigen Israeliten nach dem Fleische machen die Grundlage der heiligen Gemeinde, des heiligen eigenthümlichen Volkes Gottes aus; dies vermehrt sich unaufhörlich und nimmt dereinst auch die gläubigen Nachkommen des ungläubig gewordenen und durch den Unglauben seines Bürgerrechts und Antheils an dem Volke Gottes verlustig gewordenen Theils Israels in seine Gemeinschaft wieder auf.«5

Israel verdankt seine Erwählung nicht eigenen Vorzügen, eigener Weisheit und Tugend, sondern ausschließlich der Liebe und Barmherzigkeit Gottes. Menken betont: »Die Erwählung des Volkes Gottes ist kein willkürlicher, veralteter Ausdruck einer alten Lehrform, sondern Thatsache, Thatsache, die sich auf Thatsachen, auf Geschichte gründet. Gott selbst beruft sich auf Thatsachen; er beruft sich gegen sein Volk auf das, was er an seinem Volke und für dasselbe gethan hat, mithin auf die eigene Erfahrung desselben von der zuvorkommenden Liebe und Erbarmung Gottes, wodurch es ein Volk Gottes geworden ist.«6

Menken geht dann auf zwei Einwände bzw. Fragen zum Begriff der Erwählung Gottes ein: Wie könne man noch von der Erwählung Israels reden, wenn Gott doch das israelitische Volk verworfen habe? Und: Wie könne man noch von Erwählung reden, wenn doch das Evangelium nach der Verwerfung Israels zu den Heiden gekommen sei und allen Menschen zugänglich gemacht werde und die Menschen schon durch die Geburt zum Christentum kämen? Mit der Antwort auf die erste Frage bezieht sich Menken auf die Israel-Kapitel im Römerbrief: Nach Paulus hat Gott die Erwählung Israels nicht zurückgenommen, geschweige sie von Israel auf die Kirche übertragen, »aber das Volk Israel hat sich durch den Unglauben der göttlichen Gnade und seiner Vorzüge beraubt; es kann und es wird sie aber wieder erhalten durch den Glauben«.7 Menkens Auslegung widerspricht hier der Angabe der Vorzüge Israels, die in Röm 9,4–5 im Präsenz stehen. Dies hat schwerwiegende Konsequenzen für die theologische Beurteilung des Judentums nach der Kreuzigung Jesu.8 Wenn Paulus in Röm 11,25f »als Geheimnis ankündige, dass Blindheit Israel zum Theil widerfahre so lange, bis die Fülle der Heiden eingegangen sei, und also das ganze Israel selig werde«, so versteht Menken dieses »bis« folgendermaßen: »[…] bis der Herr siehet und weiß, daß nun weiter aus ihnen keine Frucht für das Königreich Gottes kommt, daß sich nun weiter durch die göttliche Anstalt keine zum priesterlichen Königreiche, zum Segen der Völker, zum Volke des Eigenthums, das da verkünden soll die Herrlichkeit Gottes, erziehen und 5 6 7 8

Ebd. Ebd. 458. Ebd. 461. Vgl. dazu die Ausführungen unten in Kap. 7.4 und 7.5.

Israels Erwählung, Verpflichtung und Bestimmung

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bilden lassen […]. Von Abraham bis auf Christus war die Gemeine der Erstgebornen (Hebr. 12,23) aus diesem Volke gebildet und gesammelt; nun sollten diese, die Erstlinge der Kreaturen aus den übrigen Völkern der Erde gebildet und gesammelt werden, dazu kam das Christenthum an die Heiden; bis nun die Christen anfangen zu dem Heidentum zurückzukehren, und in Israel wieder ein Geschlecht aufkommen wird, das dem Himmelreiche Frucht tragen wird.«9

Immer wieder betont Menken das eschatische Ziel der Erwählung Gottes. In der Erwählung geht es Gott um die Auswahl und Heranbildung der Führungselite, der Priesterkönige des himmlischen Reiches. So ist »der eigentliche Zweck« des Christentums »nicht in dieser, sondern in jener Welt«: »Das Christentum ist vielen vieles, aber wenigen alles; viele werden und erlangen vieles dadurch, aber wenige werden und erlangen das alles dadurch, was sie dadurch erlangen und werden könnten. Viele werden bessere, weisere, edlere Menschen dadurch, aber wenige werden dadurch Erstlinge aller Kreaturen, Priesterkönige des himmlischen Reichs, wodurch Gott und Jesus Christus alle Völker der Erde segnen kann mit allerlei geistlichem Segen; viele werden dadurch glücklich und selig in dieser Welt; aber die Seligkeit mit ewiger Herrlichkeit erlangen dadurch nicht alle. Nicht um vieles, was gemein und gewöhnlich und gut ist, aber um weniges, das lauter, das vortrefflich, das das Allerbeste ist, ist es Gott zu thun; und so sind viele berufen, aber wenige auserwählet.«10

Menken unterscheidet ein äußeres, traditionelles und ein wirkliches Christentum. Gottes Berufung gilt allen, aber nicht alle nehmen diese Berufung an und leben nach der damit verbundenen Verpflichtung. So sind die Erwählten in der Christenheit dann doch nur die Priesterkönige des himmlischen Reiches, wenn sie sich für diese Aufgabe als würdig erwiesen haben. Die erste Predigt schließt mit der Aufforderung zur Heiligung: »Gott hat dir die Erwählung zur Auswahl zukommen lassen, er hat dich gerufen und dich eingeladen. Folge und gieb dich hin! […] Lass du es dir einen Ernst sein selig und herrlich zu werden, Gott ist es wahrlich ein Ernst, dich selig und herrlich zu machen. Wende du allen deinen Fleiß daran, deinen Beruf und deine Erwählung fest zu machen, so wird es dir gelingen.«11

Zur Erwählung des Volkes Gottes gehört auch seine Verpflichtung. Das ist das Thema der zweiten Predigt über Ex 19,3–6: »Und so liegen in dem Worte Ihr sollt mein Volk sein, ob es wohl die größte Verheissung ist, doch auch zugleich alle göttlichen Forderungen, oder eine Verpflichtung zum Gehorsam gegen 9 Menken, Schriften IV, 463. 10 Ebd. 464. 11 Ebd. 468.

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Israel und seine »heilige Geschichte«

alle an das Volk Gottes von Gott ergangenen Forderungen.«12 Ohne diesen Gehorsam kann die Bestimmung des Volkes Gottes zu Priestern und Königen im Reich Gottes nicht erreicht werden, »und die Verheissung Gottes soll auf diesem Wege des Wanderers Stecken und Stab sein, der ihn stütze, an den er sich halte, auf dem er sich forthelfe, dass er nicht ermatte, verzage, erliege, sondern gelange zum allererfreulichsten Ziele«.13 Menken stellt in dieser Homilie mit Nachdruck heraus, dass das Halten der Gebote Gottes nicht Zwang und Knechtschaft bedeutet, sondern dass es eine logische Konsequenz der erfahrenen Liebe Gottes ist: »Das Halten dieses Bundes soll eine Wonne sein, denn es ist ja seine [des Volkes Gottes, H. M.R.] höchste Seligkeit und Ehre, dass es mit Gott im Bunde steht, und es ist ja ein Bund der Liebe. Das Gehorchen der Stimme Gottes soll eine Freude sein: denn wenn es diese nicht hörte, so wäre es ja wie die Heiden, ohne Gott in der Welt.«14

Am Schluss dieser Homilie steht wieder der Aufruf zur Heiligung. Heiligung bedeutet ausschließliche Bindung an das Wort Gottes in der Heiligen Schrift, an das geschriebene Wort Gottes. Das Thema der dritten Homilie über Ex 19,3–6 ist die Bestimmung des Volkes Gottes. Menkens Auslegung bezieht sich dabei auf die Textaussage »Ihr sollt mir ein priesterliches Königreich und ein heiliges Volk sein«. In der Einleitung dieser Homilie erklärt Menken, dass der im irdischen Leben erreichte Grad der Heiligung für das Maß der Seligkeit und der Herrlichkeit im jenseitigen Leben entscheidend ist: »Wer aus der Welt geht, ohne einen Sieg erkämpft zu haben, ohne daß er im Glauben und in der Kraft Christi etwas namhaftes in sich und außer sich überwunden hätte, der gelangt zu nichts, zu keiner namhaften Seligkeit und Herrlichkeit, zu keiner Krone des Lebens, viel weniger zu einer Krone der Gerechtigkeit oder der Herrlichkeit, obgleich ihm um seines Glaubens und Bedürfnisses willen als einem Dürstenden Wasser des Lebens umsonst gegeben werden kann (Offenb. 21,6.7). Zu einer besonderen Stufe der Seligkeit wird erfordert, daß man eine besondere Stufe der Heiligung in diesem Leben erreicht habe. Zu besonderer Herrlichkeit wird ein besonderes Wohlverhalten, eine besondere, standhafte, siegende Treue erfordert.«15

Unter der Bedingung dieses Verständnisses von Heiligung muss Menken die Geltung der Erwählung Israels und des Volkes Gottes aus den Völkern einschränken: 12 13 14 15

Ebd. 469. Ebd. Ebd. 476. Ebd. 481.

Israels Erwählung, Verpflichtung und Bestimmung

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»Wie es nun damals zum dem israelitischen Volke hieß vor allen Völkern, so heißt es noch jetzt zu dem Christenvolke: Dies Volk ganz allein vor allen anderen Völkern des Erdbodens ist zu dem überschwänglichen Vorzug berufen, ein Eigenthum Gottes zu werden. Und so wenig damals dieses herrliche Ziel von allen Israeliten erreicht wurde, so gelangen unter den Christen auch nur diejenigen dazu, die der Heiligung mit ganzem Erst nachjagen, dem Herrn in der Wahrheit nachfolgen und ähnlich werden.«16

Die Bestimmung des Volkes Gottes zu einem priesterlichen Königtum wird nach 1Petr 2,9 dem »neutestamentlichen Israel« bestätigt: »Ihr seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priesterthum, das heilige Volk, das Volk des Eigenthums, dass ihr verkündigen sollt die Tugenden dessen, der euch berufen hat von der Finsterniß zu seinem wunderbaren Licht.« Die Wiederholung der Rede Gottes an Israel im Neuen Testament beweist nach Menken, »daß es kein irdischer und zeitlicher Zweck war, den Gott schon damals durch Mose offenbarte, sondern daß seine Absicht und Anstalt sein Volk betreffend fortgeht von einem Jahrhundert zum andern und erst in jener Welt ganz ausgeführt und vollendet am Ziel ist. […] Und da die Christen, zu denen dies gesagt wird, damals weder eine königliche noch eine priesterliche Würde bekleiden konnten, sondern die allerelendesten Menschen waren und für Auskehricht in der Welt geachtet wurden: so sehen wir, daß dies im Blick auf das Königreich Gottes und Christi in der zukünftigen Welt geredet ist. Da hat dies Wort seine wahrhaftige und buchstäbliche Erfüllung.«17

»Wahrhaftige und buchstäbliche Erfüllung« bedeutet für Menken die Übertragung irdischer Vorstellungen von Königtum und Priesterschaft in die Eschatologie, wobei diese Projektion mit einer Vervollkommnung der irdischen Verhältnisse verbunden ist. Menkens Vorstellung jener göttlichen Universalmonarchie des vollendeten Königreiches Gottes findet in dieser dritten Predigt über die Bestimmung des Volkes Gottes, verstanden als »schriftmässige Erkenntnis«, folgenden Ausdruck: »Da wird er die Besten unter den Seinigen, die Vortrefflichsten, die Weisesten, die Demüthigsten, die Liebevollsten, die ihm hienieden am ähnlichsten geworden sind, an seiner Herrlichkeit und Herrschaft über alles Theil nehmen lassen, und sie im eigentlichen, buchstäblichen Sinne zu Königen in seinem unermeßlichen Reiche machen. Sie werden, wenn auch allerdings geistlich, nicht fleischlich, nicht weltlich, d. h. nicht nach Leidenschaften und Empfindungen des Fleisches, nicht nach Grundsätzen des Rechts dieser Welt, doch eigentlich und wesentlich regieren, eigentlicher und wesentlicher als kein König auf Erden. […] Wo sie in der allweiten Schöpfung hinkommen, da wird 16 Ebd. 484 f. 17 Ebd. 488.

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Israel und seine »heilige Geschichte« man sie als bevollmächtigte Stellvertreter des Herrn der Herrlichkeit lieben und verehren, ihnen dienen und gehorchen. Sie werden die Erstlinge der Kreaturen, die Ersten und Vornehmsten in der ganzen vernünftigen Schöpfung sein. Sie sind die zukünftigen Weltrichter; wie die Schrift sagt: Wisset ihr nicht, daß die Heiligen die Welt richten werden? Wisset ihr nicht, daß die Heiligen die Engel richten werden? (1. Kor. 6,2.3).«18

Auch am Ende dieser Predigt steht der Aufruf zur Heiligung als Bedingung der persönlichen Teilnahme an der Bestimmung des Volkes Gottes zum priesterlichen Königtum.

7.1.2 Zur exegetischen und dogmatischen Analyse Ex 19,3–6 ist eine Kernstelle für Menkens Verständnis des göttlichen Heilsplans. In diesem Text wird die besondere Würde Israels als von Gott erwähltes und auf sein Wort verpflichtetes Volk mit dem Begriff eines »Königtums von Priestern« bezeichnet. Erwählung, Verpflichtung und Bestimmung erfassen zutreffend die Struktur dieses Textes. Exegetisch fragwürdig ist Menkens Verständnis der Bestimmung Israels (und auch des »neutestamentlichen Israels«) als ein priesterliches Königtum. Der alttestamentliche Text ist nicht eschatologisch gemeint. Er redet nicht von der Zukunft des erwählten Volkes im Eschaton, sondern von der Gegenwart und gewinnt dadurch seine Brisanz. Gott schließt seinen Bund mit dem ganzen Volk und nicht nur mit dem König. Die königliche Würde und die priesterliche Würde werden sozusagen demokratisiert. Das ist für den alten Orient revolutionär. Der Skopus des Textes wird meines Erachtens präzise erfasst von Jan Assmann durch einen religionsgeschichtlichen Vergleich mit der assyrischen Staatsideologie. Assmann sieht im Bundeschluss Gottes mit ganz Israel eine »Dekonstruktion des Königtums«, eine im alten Orient einmalige, geradezu revolutionäre Umdeutung der alten Königsideologie: »Dieses assyrische Vorbild haben nun die Autoren [des Textes von Ex 19, H.M.R.] in doppelter Weise übernommen und auf den Bund zwischen JHWH und dem Volk umgedeutet: Diesen Bund schließt Gott nicht mit dem König, der das Volk gegenüber den Göttern repräsentiert, sondern direkt mit dem Volk, und die Loyalitätsbestimmungen gelten nicht zwischen dem Volk und dem König, der die Götter gegenüber dem Volk repräsentiert, sondern direkt zwischen Volk und Gott. Die Stelle des Königs als vermittelnde und repräsentierende Instanz entfällt in dieser neuartigen Konzeption. Durch diese ›Umbuchung‹ der König-Gott-Beziehung wird aus dieser assyrischen Staatsideologie die israelitische Bundestheologie.«19 18 Ebd. 489 f. 19 Assmann, Exodus, 250.

Israels Erwählung, Verpflichtung und Bestimmung

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Die Begriffe König und Priester ergeben wörtlich verstanden und angewandt auf das ganze Volk in der Gegenwart keinen Sinn. Das hält Menken ausdrücklich fest. Statt aber eine symbolische, übertragene Deutung zu entwickeln, bleibt er bei der buchstäblichen Deutung und bezieht sie auf das Eschaton. Menken beachtet hier nicht die von den Reformatoren vertretene und in den reformatorischen Bekenntnisschriften festgehaltene These vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen.20 Die Vorstellung des Reiches Gottes als Universalmonarchie und der Erwählung und Berufung von Königen und Priestern dieses Reiches im alttestamentlichen und neutestamentlichen Gottesvolk hat Menken von Collenbusch, der seinerseits stark von Leibniz beeinflusst ist, übernommen. Collenbusch stellte dem der Aufklärung so wichtigen Anliegen der Entwicklung der natürlichen Anlagen des Menschen Gottes »Besserungs- und Verherrlichungsplan« gegenüber: »Nicht Entwicklung der Natur, sondern Verwandlung der Erwählten in Christus ist das Ziel des Handelns Gottes, Römer 8,29–34, in der Welt.«21 Neben die »Beseligung« des Menschen tritt als höhere Stufe die »Verherrlichung«. Der »Christus für uns« schenkt uns die Rechtfertigung durch die Vergebung der Sünden, der »Christus in uns« schenkt uns die Freiheit von Sünden durch die Kraft seines Geistes. Auf der Heiligung liegt der Akzent. Die Rechtfertigung tritt zurück. Gottes Gnade ermöglicht ein Leben in der Heiligung. Aber der Fortschritt der Heiligung entscheidet über den Platz, der den Erwählten und Berufenen in der Universalmonarchie des vollendeten Reiches Gottes zugewiesen wird. Im Gegensatz zum Rationalismus hält Menken an der Erwählung Israels, wie sie im Alten Testament bezeugt ist, fest. Sie ist »kein willkürlicher, veral20 Wie ein übertragenes, geistliches Verständnis der biblischen Bilder die durch den Glauben geschenkte Freiheit des Christen und der Christin im irdischen Leben auszusagen vermag, zeigt Martin Luther eindrucksvoll in seiner Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen: Nach alttestamentlichem Recht hatte der Erstgeborene zwei große Vorteile vor allen andern Kindern, »nemlich die hirschafft und priesterschaft odder künigreych und priesterthum« […]. Wie nu Christus die erstegepurtt hatt mit yhrer ehre und wirdickeyt alßo teilet er sie mit allenn seynen Christen das sie durch den glauben mussen auch alle künige und priester seyn mit Christo. Wie S. Petrus sagt 1. Petr. 2. Ihr seyd ein priesterlich künigreych un ein küniglich priesterthum. Und das geht also zu das ein Christen mensch durch den glauben ßo hoch erhaben wird ubir alle ding das er aller eyn her wirt geystlich denn es kann yhm kein ding schaden zur seligkeit. Ja es muß yhm alles unterthan seyn und helffen zur seligkeit wie S. Paulus leret Ro 8.« Luthers Werke in Auswahl, 2. Bd., 17. Heinrich Bullinger bekennt sich im Zweiten Helvetischen Bekenntnis zum Priestertum aller Gläubigen und unterscheidet dies vom kirchlichen Amt: »Die Apostel Christi nennen zwar Priester alle, die an Christus glauben; freilich nicht, weil sie ein Amt verwalten, sondern weil durch Christus alle Gläubigen zu Königen und Priestern gemacht sind und wir alle Gott geistliche Opfer darbringen können (2. Mose 19,6; 1. Petr. 2,9; Offb. 1,6). Sehr verschieden voneinander sind also das Priestertum und das kirchliche Amt. Jenes nämlich ist allen Christen eigen, […] dieses aber nicht. Wir haben aber das kirchliche Amt nicht aufgehoben, wenn wir das päpstliche Priesterum aus der Kirche verbannt haben.« Confessio Helvetica Posterior, 221. 21 Collenbusch, Erklärung biblischer Wahrheiten 1, 145 f. Vgl. auch Faulenbach, Samuel Collenbusch, 21.

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Israel und seine »heilige Geschichte«

teter Ausdruck einer alten Lehrform«, sie ist »auf Geschichte gegründet«, und mit ihr beginnt die allmähliche, stufenweise Verwirklichung des Reiches Gottes bis zu seiner endgültigen Durchsetzung. Israel wird nicht glorifiziert. Seine Erwählung ist eine Offenbarung der »Heiligkeit« Gottes, der »sich selbst erniedrigenden Liebe Gottes«. Ein bis heute virulentes antijudaistisches Klischee der Theologie der Aufklärung ist die Festschreibung der Religion Israels als Gesetzesreligion, die der christlichen Religion des Evangeliums gegenübergestellt wird. Dagegen finden sich deutliche Ausführungen in den Predigten Menkens: Am Anfang der Zehn Gebote steht die Erinnerung an die Rettung aus der ägyptischen Sklaverei. Das Leben nach den Geboten Gottes ist die logische Folge der erfahrenen unverdienten Zuwendung Gottes, seiner Gnade, ist Bundesverpflichtung. Das Evangelium geht dem Gesetz voraus. Menken lehnt die sogenannte Substitutionstheorie entschieden ab: Die Erwählung Gottes ist nach der Verwerfung des Messias Jesus durch die Mehrheit Israels nicht zur Kirche übergegangen: »Es gibt nur ein Israel, nur ein Volk Gottes von jenem Tag der Erwählung Abrahams an bis in Ewigkeit. Die gläubigen Heiden sind nicht an Israels Stelle gekommen, Israel ist nicht zu den Heiden übergegangen, sondern die Heiden zu Israel; Israel erhält die Heiden zum Erbe.«22

Menken bezieht sich mit dieser dem Antijudaismus wehrenden Israeltheologie auf das paulinische Nachdenken über Israel in Röm 9–11. Aber er entgeht selber dem Antijudaismus nicht und bleibt trotz der zunächst erfreulichen Gegenposition zur Aufklärung und zur kirchlichen Orthodoxie in ihm gefangen. Dies wird deutlich, wenn man sein Urteil über das jüdische Volk, das den Glauben an den Messias Jesus bis heute ablehnt, zur Kenntnis nimmt. Menken sieht das gegenwärtige Israel sogar unter dem Fluch Gottes und das Elend des jüdischen Volkes in seinem Unglauben begründet, doch schließlich wird Israel sich zum Messias Jesus bekehren und aufs Neue den Segen Gottes erfahren. »Alle Flüche, die Moses schon im Fall des zukünftigen Unglaubens über das Volk aussprach, sind über dasselbe gekommen, aber in überschwänglicher Fülle wird auch noch der Segen darüber kommen durch den Glauben, durch seine gläubige Zurückkehrung zu dem Gott und Heilande seiner Väter. Der gegenwärtige elende Zustand dieses Volkes durch den Unglauben ist von allen Propheten vorhergesagt, aber auch daß es nicht bis an’s Ende der Tage dauern, daß eine Zurückkehr und eine Wiederherstellung darauf folgen werde.«23

In seinem Ölbaumgleichnis spricht Paulus von Zweigen, die herausgebrochen wurden, und warnt die an ihrer Stelle eingepfropften Zweige – die Gläubigen 22 Menken, Schriften IV, 457. 23 Ebd. 461.

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aus den Heiden – vor Überheblichkeit. Nach Menkens Auslegung ist seit der Kreuzigung der ganze Baum ausgerissen. In seiner Schrift Der Messias ist gekommen führt Menken aus, dass der alttestamentliche Opferkult mit der Kreuzigung Jesu sein Ende fand. Der Vorhang vor dem Tempel zerriss. Der Opferkult im Tempel war nur ein Symbol, eine Verheißung des wahren Opfers Jesu am Kreuz. Nun aber wird dem Judentum jede Versöhnung (mit Gott) abgesprochen: »Der Jude, der sonst doch noch Bild und Schatten des Opfers und Blutes und eben damit Verheißung und Hoffnung der Versöhnung hatte, hat jetzt, in dem Zustande seiner Verblendung und Zerstreuung, kein Opfer, kein Blut der Versöhnung. Er, der Jude, von dem alle Völker auf Erden (denn das Heil kommt von den Juden) in Betreff der Sünde und Gerechtigkeit, des Opfers und der Versöhnung gelernt haben, er allein von allen Menschen, hat kein Opfer und keine Versöhnung und ist eben darum, wo er nicht in Heidensinn und Unglauben versunken ist, in sich bange, geschlagen, ohne Gewißheit und Zuversicht. Und das muß er um so mehr sein, je gewisser es ihm in der Wahrheit sein kann, daß seine Religion, wie sie sich auf Moses und die Propheten gründet, von Gott ist. Um so entsetzlicher muß es ihm sein, das die Hand Gottes den Baum seiner Religion mit den Wurzeln aus der Erde gerissen hat, dass er nun ein verdorrter Stamm ist, der nicht Schatten geben, vielweniger lebendige Früchte tragen kann [Hervorhebung H. M.R.]; dass seine Religion nun lange Jahrhunderte, bald zwei Jahrtausende hindurch in ihren innersten Kräften getödtet, fast vernichtet ist, fast aufgehört hat, Religion zu sein, weil ihr das fehlt, was die Hauptsache und Seele ist in Wahrheit und Lüge: Opfer und Versöhnung.«24

Es legt sich nahe, in diesem Zusammenhang nach einer Beziehung Menkens zum Judentum zu fragen. Von einem Kontakt Menkens zu einer jüdischen Gemeinde im Rheinland oder in Bremen ist nichts bekannt.25 Sein theologisches Urteil über das Judentum nach der Kreuzigung Jesu entspricht dem Mainstream christlicher Theologie bis ins 20. Jahrhundert, bis endlich durch und nach dem Holocaust das Bemühen um eine neue, nicht antijudaistische Israeltheologie einsetzte. 24 Menken, Schriften VI, 311 f. Zu diesem Antijudaismus der Israeltheologie Menkens vgl. unten Kap. 7.5. 25 Eine israelitische Gemeinde wurde in Bremen 1803 gegründet, als Menken seine erste Pfarrstelle in Bremen angetreten hatte. Sie bestand aus sogenannten Schutzjuden. 1819 versagte ihnen die Judenkommission des Bremer Rates eine Verlängerung des Aufenthaltsrechts. Nachdem es 1849 den Juden wieder erlaubt war, sich in Bremen niederzulassen, konnte 1856 eine erste Synagoge eingerichtet werden. Nach 1933 wurden die meisten Mitglieder der jüdischen Gemeinde von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet. Heute ist die jüdische Gemeinde Bremens mit fast 1100 Mitgliedern – vor allem durch den Zuzug aus den GUS–Staaten – eine der größeren jüdischen Gemeinden Deutschlands. Zur jüdischen Gemeinde im Lande Bremen: http://www. gemeinden.judentum.de/bremen/ (14. Juli 2018).

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Israel und seine »heilige Geschichte«

7.2 Kerygmatische Erschließung von »heiliger Geschichte« – der Zyklus der Eliaspredigten als Paradigma In den Jahren 1797 und 1798 hat Menken in Wetzlar einen Zyklus von 24 Homilien über die Geschichte des Propheten Elias gehalten, nach der reformierten Tradition von Reihenpredigten über Textzusammenhänge und ganze biblische Bücher. In jenen Jahren war auch Wetzlar betroffen vom Einmarsch französischer Truppen in Folge der Französischen Revolution. Menken veröffentlichte die Sammlung aller 24 Elia-Predigten 1804 in einem Buch, das er »seinen ehemaligen Zuhörern aller Confessionen zu Wetzlar zum Denkmal seiner fortwährenden herzlichen Liebe« widmete.26 In seiner Vorrede vom 23. März 1803 beklagt Menken, dass »die Bibel überhaupt, und besonders das alte Testament, zumal der historische und prophetische Theil desselben, je länger je völliger ein fremdes, ungelesenes und unbekanntes Buch in der sogenannten Christenheit werde.« Diese Situation motiviert ihn zur Veröffentlichung alttestamentlicher Predigten, und er begründet die Wahl der Eliasgeschichte mit der paradigmatischen Absicht seiner Homilien: »Ich glaubte, wenn diese so reiche, so vielseitige, ganz alttestamentliche, ganz theokratische, gottesvolle, wundervolle, und eben damit für uns fremde, dunkle, schwere Geschichte, einfältig angesehn, ohne Künstelei dargestellt, – ohne Zwang und Gewalt, gegen den Sinn des Schriftstellers, alles den herrschenden Zeitbegriffen und Zeitlügen gemäß so unnatürlich wie möglich, sogenannt natürlich zu erklären – sich selbst erkläre, sich selbst als Wahrheit und des alleinweisen lebendigen Gottes würdig darstelle, so sei damit gewissermaßen die Geschichte des alten Testaments überhaupt dem forschenden Bibelverehrer erleichtert und erhellet; er werde aus der Betrachtung dieser einzigen Geschichte die Standpunkte kennen lernen, von welchen angesehn, er in allen alttestamentlichen Geschichten nicht mehr das Dunkle, das Befremdende, das Unerklärliche antreffe; sie werde ihn zu Resultaten führen, die anwendbar auf alle, so verschiedene und doch unter einander so analoge und gleiche Geschichten des alten Testaments, angewendet, ihm bei der Betrachtung derselben zum leitenden und erleuchtenden Lichte werden,

26 Menken berücksichtigt die Texte 1Kön 17–19; 21,17–29; 2Kön 1,2–17 und 2,1–18. Die Texte in Kap. 20 (Ahabs Krieg gegen die Aramäer. Sein Bund mit König Ben-Hadad) und 21,1–16 (Naboths Weinberg) sind ausgelassen. Über 2Kön 5 (Die Heilung des Aramäers Naeman) hat Menken 1819 in Bremen fünf Homilien gehalten. Den Homilien über die Eliastexte in den Königsbüchern fügte Menken drei Homilien über weitere Texte, die einen Bezug auf Elia haben, hinzu, um so die große Bedeutung des Propheten im gesamtbiblischen Kontext aufzuzeigen. Zur Editionsgeschichte der Eliaspredigten vgl. Kapitel 4.1.1.

Kerygmatische Erschließung von »heiliger Geschichte«

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oder vielmehr ihm zeigen werden, dass die Schrift überall ihr eignes Licht habe, und sich selbst erkläre.«27

Deutlich bekennt sich Menken hier zu seiner Hermeneutik und Homiletik im Horizont und im Gegensatz zur Aufklärung. Das Bestreben der Aufklärer, möglichst alles (in der Schrift) natürlich zu erklären, bedeutet in seiner ironischen Umkehrung, »alles den herrschenden Zeitbegriffen und Zeitlügen gemäss so unnatürlich wie möglich […] zu erklären«. Die Schrift aber – so Menkens hermeneutische (reformatorische) Grundregel – erklärt sich selbst. Deutlich wird dabei auch die materiale Hermeneutik Menkens, wenn er die Eliasgeschichte u.a. eine »ganz theokratische« Geschichte nennt. Welches sind nun »die Standpunkte« der Auslegung, die auf die Eliasgeschichte angewendet, paradigmatische Geltung haben für alle alttestamentlichen Geschichten und »bei der Betrachtung derselben zum leitenden und erleuchtenden Lichte werden«?28 Die Eliasgeschichte ist ein Spiegel, in dem sich das Volk Gottes zu allen Zeiten wiedererkennen kann. Da es nur ein Volk Gottes gibt und die Geschichte dieses Volkes Gottes mit der Erwählung Israels beginnt, bleibt die Geschichte Israels »dem Volke Gottes durch alle Zeiten hindurch unvergleichbar nützlich zur Lehre und Erkenntniß, zur Ueberzeugung, zur Besserung, zur Anweisung in der Gerechtigkeit«. Denn: »Der Zustand und die Lage des Volkes Gottes, das nicht von dieser Welt ist, in dieser Welt, ist sich in vielen Dingen zu allen Zeiten gleich, und die Schicksale des Volkes Gottes zu gewissen besondern Zeiten haben ein grosse Aehnlichkeit miteinander. Da muss nun die frühere Zeit und ihre Geschichte der späteren, das frühere Geschlecht mit seinen Schicksalen, dem später lebenden Geschlechte in seinen ähnlichen Schicksalen zum Spiegel sein, und zur Belehrung, und zur Warnung, und zur Ermahnung, und zur Tröstung und Stärkung.«29

Als Spiegel für die Christen im Volk Gottes: So sei die frühere Geschichte Israels durch alle Jahrhunderte beim Volke Gottes gebraucht worden und so solle sie auch weiterhin gebraucht werden, vor allem in jenen kritischen Zeiten, in denen der Abfall vom Glauben und die Verführung der Gläubigen drohe. In einer solchen Zeit sieht der Prediger Menken sich und seine Gemeinde und sagt ihr deutlich, dass dies ein Grund für die Wahl seiner Predigttexte ist: Die Geschichte des israelitischen Volkes »kann immer fruchtbarer und mächtiger so gebraucht und benutzt werden, je bedrängter die Lage der 27 Menken, Schriften II, XIII f. 28 Die Zitate dieses Abschnitts stammen aus der Vorrede zu der 1804 in Frankfurt am Main erschienenen Predigtsammlung Christliche Homilien über Stellen aus der Geschichte des Propheten Elias in: Menken, Schriften II, XI–XV. 29 Beide Zitate in: Menken, Schriften II, 18.

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Israel und seine »heilige Geschichte« Christenheit in der Welt wird, je weiter es mit dem Abfall kommt, je mächtiger die Verführung und je furchtbarer der Haß des Unglaubens wird. Denn diese Geschichte ist ein ewig bleibendes Denkmal der Güte und des Ernstes Gottes, seiner Treue und seiner Macht, und warnet zugleich so ernst und mächtig vor allem Abtreten eines argen und ungläubigen Herzens von dem lebendigen Gott, vor allem leichtsinnigen Uebertreten in Heidengesinnung und Heidenverhalten, und zeiget zugleich so tröstend und so ermuthigend, daß der getreue, allmächtige Gott doch in keiner Nacht und Drangsal keinen, der an ihm festgehalten und seiner geharret hat, verlassen, sondern den Seinigen treu und mächtig hindurch geholfen, und es ihnen an Licht und Kraft, und an Schutz und Bewahrung nicht habe fehlen lassen.«30

Der Bezug auf den Zeitgeist der Aufklärung, den Menken pauschal als Unglauben brandmarkt, ist die generelle applicatio in allen Eliashomilien. Menken nimmt dabei kein Blatt vor den Mund: »Unsere Zeit hat eine grosse Aehnlichkeit mit der Zeit des Elias. Wie es damals unter den Israeliten aussah, so sieht es jetzt unter den Christen aus; […] wie unter jenen alle Israelitengesinnung erstorben war, so ist alle Christengesinnung unter diesen erloschen; wie jene der Heiden Weise annahmen, so sind auch diese in heidnische Gesinnung und heidnisches Wesen hineingetreten. Die Zeit des Propheten war eine Zeit eines Abfalls von dem Herrn, dem Gott Israels; die unsrige ist die Zeit des Abfalls, des von Anfang verkündigten, allgemeinen, allerbösesten und allerverderblichsten Abfalls von dem Herrn der Herrlichkeit, […]. Christen sind jetzt unter den Christen so selten, als damals Israeliten unter den Israeliten selten waren; derer zumal, die noch öffentlich für die Sache des Herrn stehen und aufkommen, werden immer weniger, und an vielen Orten können die wenigen Christen, die noch da sind und einander nicht kennen, leicht ein jeder sich für den noch Einzigen halten, wie Elias klagte: Ich bin allein übrig geblieben!«31

Den als Geist des Unglaubens und Abfalls vom christlichen Glauben verstandenen Zeitgeist macht Menken verantwortlich für die politischen Verhältnisse seiner Zeit, für die Französische Revolution und ihre Gräuel und für die darauffolgenden Kriege und das Elend, das sie anrichteten. Die sechste Homilie, die Elias Begegnung mit dem König Ahab behandelt (1Kön 18,16–20) und den Vorwurf Elias, dass nicht er Israel verwirre, sondern Ahab und sein Haus, weil sie Gottes Gebote verlassen haben, schließt mit einer entsprechenden Diagnose der schlimmen Zeit und der eindringlichen Warnung vor dem Abfall und der Verführung: »Die Lehre und Anwendung dieser Geschichte liegt uns, däucht mir, sehr nah. Wer kann sie lesen und hören, ohne nicht dabei an die Geschichte unserer Zeit 30 Alle Zitate aus der ersten Eliaspredigt in: Menken, Schriften II, 18. 31 Menken, Schriften II,177 (Dreizehnte Homilie zu 1Kön 19,15–18).

Kerygmatische Erschließung von »heiliger Geschichte«

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zu denken? […] Keine Wahrheit sollte unter den Menschen allgemeiner und gewisser sein als diese, daß die Verachtung Gottes und seines Wortes unausbleiblich Verfall und Verderben nach sich zieht; […]. In unserm deutschen Vaterlande, zumal in dem protestantischen Deutschland, geht die Verachtung unsers Herrn und seines Wortes in vollem Schwange, und protestantische Fürsten widersetzten sich der Gottlosigkeit des Unglaubens in ihren Ländern so wenig, als sich Ahab der Gottlosigkeit in Israel widersetzte. Darum sind wir, wenn es nun auch heisst: Es ist Friede, und hat keine Gefahr! doch der Gefahr und dem Verderben noch nicht entronnen.«32

Die Mehrheit in seiner bösen Zeit – so Menkens Diagnose – hat den wahren Glauben aufgegeben und ist der Verführung des Zeitgeistes erlegen. Nur wenige sind übrig und treu geblieben. Das war schon so zur Zeit Elias, und Menken demonstriert es an Ahabs Hofmeister Obadja, der den Herrn fürchtete und hundert Propheten in Höhlen versteckte, als Isebel begann, die Propheten in Israel auszurotten (1Kön 18,1–16). Menken weiß, wohin er gehört, und er ruft seinen »geliebten Zuhörern« zu: »O laßt uns nicht folgen der Menge zum Bösen, laßt uns nicht mit der Welt in das wüste, tolle, gottesvergessene Wesen des Leichtsinns und Unglaubens hineinrennen; laßt uns machen, daß wir in unsrer verderbten und bösen Zeit zu den wenigen Guten gehören, die im Verborgenen ein Salz der Erde, ein unerkannter Segen der Menschheit sind, die das durch alle Lande schauende Auge des Herrn mit Wohlgefallen bemerkt, und die hier und dort, nun und ewig, des ganzen überschwänglichen Segens und Lohnes wahrhaftiger Gottesfurcht theilhaftig werden!«33

Die gegenwärtige Situation der christlichen Gemeinde und sich selbst als Christ oder Christin im Spiegel der alttestamentlichen Texte zu erkennen, bedeutet eine kerygmatische Erschließung der »heiligen Geschichte« Israels. Die der Zeit Menkens so dunklen und fremden Geschichten des Alten Testaments können so nahe, verständliche, aktuelle Texte werden. In der Einzelauslegung ist die Theokratie als Deutungskategorie der heiligen Geschichte Israels der rote Faden, der sich homiletisch als fruchtbar erweist. Mit der Theokratie in Israel beginnt die Verwirklichung des Heilsplanes Gottes. Die Theokratie war immer wieder bedroht. Der Prophet Elias wird von Gott gesendet in einer Zeit ihrer höchsten Gefährdung. Elias plötzliches Auftreten ist strafend und rettend zugleich. Gottes Sorge um die Theokratie in Israel ist eine Konsequenz seiner heilsgeschichtlichen Providenz. Elias Wunder dienen der Bewahrung der Theokratie in Israel und der Verbreitung seines Gottesglaubens über Israel hinaus. Denn: 32 Ebd. 87 f. 33 Ebd. 79 (Fünfte Homilie zu 1Kön 18,1–16).

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Israel und seine »heilige Geschichte« »Wie würde es gegangen sein, wenn gar keine Wunder geschehen wären? Wenn sich der unsichtbare Gott nimmer so, in solchen Thaten und Offenbarungen erwiesen hätte? wenn er auch dieses Volk seine eigenen Wege hätte wandeln lassen? wenn er nicht auf so mannichfaltige Weise dafür gesorgt hätte, daß bei diesem Volke, zum künftigen Lichte und Segen aller Völker der Erde, Wahrheit und Gotteserkenntniß gerettet, bewahret und erhalten blieb?«34

Auf sein Gebet hin lässt Gott den verstorbenen einzigen Sohn der Witwe in Sarepta wieder lebendig werden. Elias bittet nur hier um solch ein Wunder, weil der Glaube an Jehovah, den Gott Israels, bei der Witwe und in jener Stadt bestärkt werden sollte. Das ganze Wirken Elias in Israel, die Dürre, die auf sein Gebet hin eintrat und viereinhalb Jahre anhielt, das Gottesgericht auf dem Karmel, der Regen, der auf sein Gebet hin wieder kam, »von dem, was zu Zarpath geschehen war, nicht zu reden«, war notwendig durch »die damalige Lage des israelitischen Volks und des menschlichen Geschlechts, zu welchem dereinst von diesem Volke das Licht und das Heil kommen sollte«: »Wären nie solche Menschen gewesen, hätte nie eine solche also erwiesene Gemeinschaft heiliger Menschen mit dem unsichtbaren Gott Statt gehabt, hätten nie Menschen in der Kraft Gottes solche Thaten gethan, nie Gott also sein Dasein, sein Leben und seine Macht erwiesen, das Menschengeschlecht wäre also bald wieder in den Zustand gerathen, in dem es vor der Sündfluth war, Unglauben und Götzendienst hätten alle Gotteserkenntniß erstickt, alle Wahrheit hinweggeschwemmt.«35

Die Theokratie war durch Israels Untreue und Abfall vom Glauben an seinen Gott immer wieder in Gefahr. Doch Gott blieb Israel treu und hielt an seinem Heilsplan fest. Mit Elias Handeln auf dem Karmel hat Menken kein Problem, weil es theokratisch notwendig war. Als Retter der Theokratie war Elias auch ein Bote und Vollstrecker des strafenden Gottes. Er kündigt dem König Ahasja, dem Nachfolger Ahabs, der nach einem Unfall bei Beelzebul, dem Gott von Ekron ein Orakel einholen lässt, den Tod an, er lässt Feuer vom Himmel fallen auf die Boten Ahasjas, die ihn an den Königshof in Samaria zitieren. Doch sind diese für die Zuhörer schwierigen oder unannehmbaren Texte dennoch begreiflich: »Wer die theokratische Verfassung Israels nur einigermaßen kennt, wer es einsieht, wie nothwendig zur Beschämung und Stürzung des Götzen – und Teufelsdienstes, und zur Erhaltung und Gründung der Erkenntniß und Verehrung des einigen lebendigen Gottes, solche Thaten Gottes und seiner Propheten waren; wer die ungeheure Gottlosigkeit und Gottesverachtung des 34 Ebd. 123 f. (Neunte Homilie zu 1Kön 18,30–40). 35 Ebd. 133.

Kerygmatische Erschließung von »heiliger Geschichte«

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Ahasjas verabscheut; wer eine wahrhaftige Liebe zu Gott und einen Eifer für die Heiligung des Namens Gottes auf Erden hat, den wird diese Handlung Gottes und seines Propheten nicht befremden.«36

Befremdet sind nach Menken bei solchen alttestamentlichen Texten viele Menschen in seiner Zeit, »die, selbst gleichgültig gegen Gott und sein Reich, auch gern alles Verhalten der Menschen gegen Gott als unbedeutend und gleichgültig angesehn haben möchten«.37 In der neunten Homilie, die das Gottesgericht auf dem Karmel behandelt, spricht Menken am Schluss von der Furcht Gottes, die dieser Text noch heute lehre. Aber: »Von dieser Furcht vor Gott und seinem Worte, […] von diesem unbeweglichen Halten an seinem Gebote, sind die Menschen jetzt weit entfernt; sie wollen es nicht wissen, daß der Herr zu fürchten ist, sie meinen, es müsse Gott im Himmel gleich viel sein, was sie auf Erden treiben, ob sie seinen Namen entheiligen, sein Gebot verlassen, seine Worte verdrehen und verlästern, oder nicht. Anstatt daß man sich vor solchen Worten Gottes fürchten sollte, so braucht man sie zum Hohne und Spott, stellt den Gott des A.T., den Vater unsers Herrn Jesu Christi, als einen blutrünstigen, grausamen Götzen dar, und seinen treuen Knecht Moses als einen Betrüger, den Herrn Jesum lobt man dagegen als einen sanften Lehrer der Duldung und Liebe, und der langmüthige Gott lässet das alles geschehen, als vernehme er es nicht.«38

Es ist nach Menken nicht richtig, die Sanftmut und Geduld Jesu, wie sie in der Geschichte von der Schonung der Samaritaner, die Jesus und den Jüngern kein Quartier gewähren wollten, zum Ausdruck kommt (Lk 9,51–57), gegen Elias auszuspielen, Denn: »Es war ein Unterschied unter dem Geiste Elias und Jesu […]. Die damalige Zeit und die Umstände, unter denen Elias lebte, erforderten gerade einen solchen Mann; […]. Er sollte den Gott Israels mehr in seiner grossen furchtbaren Herrlichkeit, in seiner unbeschränkten Macht und unwiderstehlichen Kraft, als in seiner väterlichen Milde und Güte offenbaren, darum hiess er Elias.«39 Heilsgeschichtliche Rationalität! Die Gestalt des Propheten Elias wird in Menkens Homilien als Idealbild eines Propheten gezeichnet und als Heiliger. Die Propheten waren anders als das Volk befähigt, Wunder zu tun. Die besondere Glaubenskraft Elias findet Menken im Neuen Testament bestätigt in Jak 5,27f. Wegen der außerordentlichen Heiligkeit der Propheten konnte Gott ihnen auch außerordentliche Gaben und Kräfte mitteilen. Die Heiligkeit der Propheten ist aber eine in Leid und Not geprüfte und bewährte Heiligkeit. Darin sind sie uns gleich und ein Vorbild. Der biblische Text erzählt nun aber in 1Kön 19 von einem Propheten, der – nach dem Gottesgericht auf dem Karmel und dem Gemetzel an den Baals36 37 38 39

Ebd. 216 f. Ebd. 217. Ebd. 125. Ebd. 219.

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Israel und seine »heilige Geschichte«

priestern durch Isebel mit dem Tod bedroht – die Flucht ergreift und sein Leben beenden will. Wie geht Menken mit dieser Schwachheit des Propheten um? Er schwächt sie ab und deutet sie um: Die Todessehnsucht des Elias hat nichts zu tun »mit dem unheiligen Unmuth unheiliger Menschen, die keinen über die Zeit und über die Erde hinausreichenden Zweck des Lebens haben, den unschätzbaren Werth der Lebenszeit auf Erden also auch gar nicht zu schätzen wissen, und des Lebens müde sind, weil sie ihren Willen nicht kriegen können, […]. Die Schwachheit heiliger Menschen ist edler und größer als die höchste Tugend und Vollkommenheit der Unheiligen.«40

Auch Elias Verzweiflung ist nach Menken theokratisch begründet. Es handelt sich um »eine heilige Wehmut und Traurigkeit, deren kein gemeiner Mensch fähig ist, die ihn damals erfüllte.«41 Elias kann seine Heiligung auf Erden vollenden. Er bestellt Elisa zu seinem Nachfolger und wird dann, da »es nun für ihn hienieden keine Uebungen und keine Proben des Glaubens, der Demuth, der Liebe mehr gab, wodurch er vortrefflicher hätte werden, an Seligkeit und Herrlichkeit hätte gewinnen können«42, wie kein anderer Prophet einer direkten Aufnahme in den Himmel gewürdigt. Im Zyklus der Eliashomilien werden die Texte der »heiligen Geschichte Israels« kerygmatisch erschlossen durch den Aufweis der theokratischen Führung des notorisch untreuen Israels. Gottes Treue kommt zum Ausdruck in seiner theokratischen Providenz. So wird den andächtigen Zuhörern Menkens und dann seinen Lesern und Leserinnen verkündet, dass Gott seinen Heilsplan durch alle Wirren der Geschichte weiterführt und sein Reich vollenden wird. Menken gibt einen Einblick in die universale Heilsgeschichte. Das geschieht warnend und tröstend im Blick auf die Gegenwart. Auffallend ist dabei die Rationalität der theokratischen Auslegung. Die »heilige Geschichte« wird transparent und einsichtig gemacht für die Gegenwart. Die vielen Wunder in den alttestamentlichen Texten, Elias grausames Verhalten auf dem Karmel, seine menschliche Schwachheit auf der Flucht vor Isebel: Alles ist zu erklären, wird verstehbar, ist theokratisch begründet. Die Auslegung der Eliasgeschichte legt den Akzent auf die universale Heilsgeschichte. Mit der universalen Heilsgeschichte ist aber bei Menken wie bei allen Heilsgeschichtlern die individuelle verbunden. Menken verfolgt sie im Zyklus der Eliashomilien vor allem an der Person des Propheten. Die individuelle Heilsgeschichte ist eingefügt in die Geschichte des Großen und Ganzen. Sie ist der Weg der Heiligung, der mit Seligkeit und Herrlichkeit nach Gottes Gerechtigkeit belohnt wird, wenn Gottes Heilsplan am Ziel ist. 40 Ebd. 140 f. 41 Ebd. 142. 42 Ebd. 223.

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7.3 Individuelle Heilsgeschichte im Alten Testament – das Beispiel der 14 Homilien zur »Erklärung des elften Kapitels des Briefes an die Hebräer« Menken hielt in den Jahren 1813 und 1814 mit Unterbrüchen 14 Homilien über Abschnitte aus dem elften Kapitel des Hebräerbriefes und veröffentlichte sie als fortlaufende Auslegung 1821.43 Die Wahl des biblischen Textes ist deutlich motiviert durch die damalige politische Situation: 1811 ließ Napoleon Bremen besetzen. Ein von den Franzosen eingesetzter Präfekt verwaltete die Hansestadt: Philipp Graf von Arberg. Erst 1814 nach der Niederlage Napoleons in den Befreiungskriegen verließen die französischen Truppen die Stadt. Als Menken mit seiner Auslegung von Hebr 11 begann, war das Schicksal Europas noch völlig ungewiss. Die Stimmung der Menschen in der einst stolzen unabhängigen Hansestadt, die unter den Einschränkungen, der politischen Ungewissheit und den wirtschaftlichen Problemen litten und mit dieser Stimmung in den Gottesdienst kamen, kann man sich gut vorstellen.44 Der große Zulauf der Predigten zeigte, dass die Menschen offen waren für das, was Menken ihnen zu sagen hatte. Und was war seine Botschaft? Menken folgt in seiner Auslegung von Hebr 11 der Struktur des Textes: »Erst sagt der Apostel, was Glauben ist, und dann zeigt er den unvergleichbaren Werth des Glaubens und den ihm eignen Sinn und Wandel, und wie er als eine göttliche Kraft und als ein göttlicher Trost je und je, in den verschiedensten Menschen in den mannichfaltigsten Situationen und Verhältnissen des Lebens, in großen Werken, in heldenmüthigen Thaten, in weltüberwindender Duldung, in unbesiegbarer Treue an Gott und Wahrheit sich bewiesen habe.«45

In seiner ersten Homilie entfaltet er sein Glaubensverständnis anhand von Hebr 11,1f, in den folgenden werden die im Text genannten Beispiele glaubender Menschen aus dem Alten Testament von der Schöpfung, von Abel, Henoch und Noah bis zu den Richtern, Königen und Propheten als Vorbilder des christlichen (!) Glaubens für die Gegenwart der Zuhörer und Zuhörerinnen dargestellt. Menken betont die Bedeutung dieses Kapitels aus dem Hebräerbrief. Es gehöre zu den wichtigsten der Heiligen Schrift und enthalte 43 Nach den kalendarischen Angaben Gildemeisters wurden die Homilien in den Monaten März, April, September, Oktober, Dezember 1813 und im November und Oktober 1814 in Bremen gehalten. 44 Die Stadtregierung sorgte in dieser schweren Zeit vorausschauend für die Zukunft Bremens: Schon 1813 wurde Bürgermeister Johann Smidt als diplomatischer Vertreter Bremens zum Hauptquartier der Alliierten zum Wiener Kongress entsandt. Er erreichte, dass Bremen als souveräner Staat in den Deutschen Bund mit seinen 41 Mitgliedstaaten aufgenommen wurde, so wie Frankfurt, Hamburg und Lübeck. 45 Menken, Schriften II, 311 f.

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Israel und seine »heilige Geschichte«

gewissermaßen »die Summe der ganzen heiligen Schrift des A. Testaments, das Wesentlichste, den innern tiefen Charakter, das Höchste und Heiligste der Religion und Geschichte Israels«. Sie laute: »Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott zu gefallen. Seine Augen schauen nach dem Glauben. Der Gerechte aus dem Glauben wird leben.«46 Menken übernimmt das Glaubensverständnis des Hebräerbriefes: Glaube ist Hoffnung auf das, was Gott in seinem Wort verheißen hat und was noch nicht endgültig erschienen ist. Die Erfüllung des Glaubens im Schauen lag bei den alttestamentlichen Glaubenszeugen jenseits ihres irdischen Lebens. Und das gilt auch für den christlichen Glauben in der Gegenwart. Die universale Heilsgeschichte, die Geschichte des Reiches Gottes ist seit dem Kommen des immer klarer und konkreter angesagten Messias auf ihrer Zielgeraden, aber noch nicht am Ziel. Und deshalb ist die individuelle Heilsgeschichte auch jetzt vom Glauben an die Verheißung, vom Vertrauen auf das Wort, von der Hoffnung bestimmt. Der eschatologische Glaubensbegriff des Hebräerbriefes ist kennzeichnend für die gesamte heilsgeschichtliche Theologie.47 Er bestimmt auch die Spiritualität Menkens.48 Die eschatische Ausrichtung des Glaubens wird besonders deutlich bei Abraham und allen Erzvätern: »Sie haben die Verheißung nicht empfangen; ihre Erfüllung nicht erlebt, das verheißene Land und Erbe während ihres irdischen Daseins nie zum Eigenthum erhalten sondern sie – die Erfüllung der Verheißung – von ferne gesehen, denn ihr Glaube war eine Darstellung dessen, das sie hofften, und ein Ueberwiesensein von dem Unsichtbaren, und so war sie der Trost und die Freude ihres Lebens, und eben diese göttliche Verheißung und ihr Glaube an dieselbe war es, was sie bewog zu bekennen, dass sie Gäste und Fremdlinge seien auf Erden.«49

Der Glaube der alttestamentlichen Glaubenszeugen ist im wörtlichen Sinne vorläufiger Christenglaube, denn die Verheißung, das Wort Gottes, an das sich 46 Ebd. 47 Das beobachtet Weth, Die Heilsgeschichte, 196 f.: »Der eigentliche Glaubensbegriff des Heilsgeschichtlers ist ein eschatologischer Glaubensbegriff, der an Hebräer 11 sein Urbild hat. Der Glaube ist Ewigkeitsglaube. […]. Mit der ganzen Geschichte des Heils streckt sich der Christ der Ewigkeit entgegen.« Weth zitiert J.T. Beck: »Wo Ewigkeitssinn ist und Ewigkeitsrichtung, da ist Glaube im generellen Sinn« und Baumgarten: »Der Glaube zieht die Fülle der Zukunft in die Armut der Gegenwart herein.« 48 Nicht – noch nicht sehen und doch glauben, vertrauen: diese religiöse Haltung hat Menken auch poetisch zum Ausdruck gebracht. Vgl. das auf der Reise von Frankfurt nach Wetzlar verfasste persönliche Bekenntnis in Kap. 11.5. 49 Menken, Schriften II, 349 f. Menken beobachtet in diesem Zusammenhang gut die besonderen Merkmale der »Religion« der Erzväter: »Ihr Glaube war den Menschen, unter denen sie umherzogen, unbekannt; ihre Religion war um so viel mehr ein Geheimniss, weil man bei ihnen keine Verehrung der Gestirne, kein Bild, kein Heiligthum und keine Priesterschaft fand, und sie sorgfältig darüber hielten, als eine geschlossene Familie unter sich zu bleiben.« Ebd. 359.

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der Glaube bindet, ist die sukzessive Ansage der »Anstalt Gottes zur Seligkeit und Herrlichkeit der Menschen durch Jesus Christus«. Dieser Prozess der Verheißungen beginnt im Paradies mit dem an die ersten Menschen gerichteten sogenannten Protevangelium. Am Anfang der Liste der alttestamentlichen Glaubenszeugen steht nicht Adam, sondern Abel, nachdem zunächst gesagt wird, dass die Schöpfung durch Gottes Wort nur durch Glauben erkannt wird. Menken vermutet den Grund dafür in der Verbindung Adams mit dem sogenannten Sündenfall. Der Text über den Glaubenszeugen Henoch (Hebr 11,5f.) wird getreu der gesamtbiblischen Hermeneutik Menkens interpretiert durch den Judasbrief (VV. 14–16). Henoch war ein Prophet, und zwar (nach dem Judasbrief) ein Gerichtsprophet. Er starb nicht, sondern wurde hinweggenommen. Dies ist wörtlich zu nehmen und bedeutet nicht, dass er nur eines leichten Todes gestorben sei, wie die Aufklärer behaupten. Henoch war der siebte in der Reihe nach Adam. Das hat eine tiefere Bedeutung: »Dem Ersten, Adam, wurde die erste Erscheinung und Zukunft des Herrn als des Helfers und Heilandes geoffenbart und verheißen, dem Siebenten von Adam, Henoch, wurde die letzte Zukunft desselben Herrn, Helfers und Heilandes als des Richters und Rächers geoffenbart, und er war der erste Prophet, der davon unter den Menschen lehrte und redet.«50

Menken versteht hier die Zahl sieben auch geschichtstheologisch als Hinweis auf das Ende der Zeit: »Die siebente Weltzeit ist das Reich Gottes auf Erden.«51 Menken übernimmt in diesen Homilien – selbstverständlich – die christologische Auslegung des Alten Testaments, wie sie Hebräer 11 und der ganze Hebräerbrief praktiziert. Die neutestamentliche Hermeneutik des Alten Testaments ist auch für die Reformatoren und für die altprotestantische Orthodoxie selbstverständlich. Bei Menken sind nun wichtige Veränderungen bzw. Verschiebungen in dieser gemeinsamen christologischen Hermeneutik festzustellen. Sie treten bei einer genaueren dogmatischen Analyse des dem Hebräerbrief entnommenen Glaubensbegriffs zutage. Menken schreibt in einer Art Zusammenfassung über den »Zweck« und das »Eigenthümliche« der biblischen Geschichte im Alten Testament: »Gott in Heiligkeit und der Mensch in Glauben und Unglauben, das heißt, in Verhältniß mit Gott und in Wohl- oder Uebelverhalten gegen Gott, das ist der biblischen Geschichte Zweck, und das ist ihr Eigenthümliches. Sie ist eine heilige, eine göttliche Geschichte, weil das Göttliche ihr einziges Augenmerk, weil Gott in Verhältniß zu den Menschen, der Mensch im Verhältniß zu Gott ihr einziger und ewiger Gesichtspunkt ist.«52 50 Ebd. 329. 51 Ebd. 330. 52 Ebd. 409.

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Der Glaube der in Hebr 11 genannten Glaubenszeugen zeichnet sich durch ein herausragendes »Wohlverhalten« gegenüber Gott aus. Dieser Glaube ist immer ein geprüfter Glaube und muss sich in seiner Treue und Beständigkeit, vor allem im Leiden erweisen. Im Leiden hat er auch teil »an der Schmach Christi«: »Die Sache des Judenthums, diese große, heilige und herrliche Sache Gottes, war von ihrem Anfang an, wo die Welt ihrer ansichtig wurde, im Auge der Welt etwas Verachtetes, eben so wie hernach das Christenthum (Judenthum in seiner Vollendung) dem einen Theile Welt Aergerniss und dem andern Thorheit war. […] Und so trug von Anbeginn her jeder, der sich in der Welt zu der Sache Gottes bekannte, und die Schmach, womit die Welt sie belegt hat, über sich ergehen ließ, Christi Schmach, wenn er auch von ihm nichts wußte oder keine klare Erkenntniss davon hatte, daß Christus Anfang und Ende, Leben und Herrlichkeit dieser ganzen Sache und die verborgene Ursache des Hasses und der Verachtung der Welt dagegen sei.«53

Die Hoffnung des Glaubens erweist sich im entsprechenden Wohlverhalten gegenüber Gott, das (nach Hebr 11,6) mit der göttlichen Belohnung rechnen darf. Hier geschieht nun dogmatisch eine Verschiebung von einem rechtfertigenden Glauben, der in der Freiheit zur Liebe gegenüber dem Nächsten lebt, zu einem werkhaften Glaubensbegriff, der der Belohnung des einst richtenden Gottes entgegensieht.54 Ist der Glaube eine Gabe, ein Geschenk Gottes, oder ist er ein Werk des Menschen? Oder ist er beides? Wenn er beides ist, dann bleibt die Frage nach der Zuordnung von göttlichem und menschlichem Handeln beim menschlichen Glauben. Menken beginnt seine Auslegung von Hebr 11,1f mit Gedanken über die allgemeine Bedeutung des Glaubens im menschlichen Leben. Diese fundamentalanthropologischen Überlegungen kommen zum Schluss: »Unvergleichbar das meiste von allem, was er [der Mensch, H.M.R.] in Betreff der Dinge dieser irdischen, sichtbaren Welt, wofür er doch den Gebrauch seiner Sinne hat, weiß, weiß er nur durch den Glauben; nur durch den Glauben giebt es für ihn eine Geographie, eine Länder– und Völkerkunde, eine Geschichte, eine Chronologie, eine Kenntniß alter und neuer fremder Sprachen usw. Tausendfältiges, Großes und Kleines, seines Thuns und Las53 Ebd. 377.379. 54 Emanuel Hirsch konstatiert bei Menken einen »werkhaften Glaubensbegriff«: »Die Versöhnungs- und Rechtfertigungslehre ist bei Menken durch einen werkhaften Glaubensbegriff ins Moralistische und edlere Alttestamentliche zurückgebogen. […] Diese Verschiebung des Glaubens ins Werkhafte wiederholt sich in der Geschichte der Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts überall da, wo aufgeklärte oder sonst bibel- oder dogmenkritische Gedankengänge durch Geltendmachen der Autorität von Bibel oder Dogma bekämpft werden.« Hirsch, Geschichte Bd. V, 101 f.

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sens, seines Handelns und Wandelns, seines Verkehrs und Treibens mit andern ruht auf Glauben und geschieht durch Glauben.«55

Menken parallelisiert und kontrastiert dann diesen menschlichen Glauben mit dem göttlichen Glauben, »der es mit göttlichen Zeugnissen zu thun hat, den die Offenbarung der ewigen Weisheit lehrt, und der in den Verheissungen der ewigen Liebe ruht«.56 Dieser göttliche Glaube vermittelt dem Menschen Kenntnis der übersinnlichen Welt Gottes: »Er wird eine andere, höhere und ewige Welt vor seinem Auge aufgehen lassen, er wird ihn finden lassen, was er vorher in dem Ueberdruss des sinnlichen Lebens, von dunkler, sich selbst nicht verstehender Ahnung getrieben, bei Himmel und Erde suchte und nicht fand: das Ewige und das Göttliche; er wird ihm die Mitternacht verwandeln zum hellen Tage, und ihm aus der Verwesung ein neues, schöneres Leben aufblühen lassen; er wird ihm alles geben, indem er ihm Erkenntniß Gottes giebt und ein Verhältniß knüpft zwischen Gott und ihm.«57

Dieser Glaube ist göttlich, weil er als Vertrauen auf Gottes Wort und Verheißung das Werk Gottes im Menschen ist. Menken zitiert in diesem Zusammenhang ein Wort Luthers aus der Vorrede Luthers zum Römerbrief, ohne es als solches kenntlich zu machen: »Ja, fürwahr, er [dieser Glaube, H. M.R.] muss sich an uns erweisen als ein göttlich Werk in uns, das uns wandelt und neu gebiert aus Gott, tödtend die alte Natur, aus uns macht andre Menschen von Herzen, Muth, Sinn und allen Kräften, den heiligen Geist in uns bringt, lebendig, geschäftig, thätig, mächtig, ihm unmöglich nicht ohne Unterlaß Gutes zu wirken.«58

Gott wirkt den Glauben im Menschen durch sein Wort, das mit seinem schöpferischen Geist verbunden ist. Gottes Wort bleibt nicht sich selbst überlassen, sondern: »Es steht vielmehr mit dem Geiste, aus dem es hervorgeflossen ist, in fortwährender Verbindung, also in bleibender Verbindung mit dem, der es gegeben hat, der die Liebe ist, und der die Absichten seiner Liebe ganz vorzüglich durch dies Wort des Lichts und Lebens erreicht haben will. So ist bei 55 56 57 58

Menken, Schriften II, 309. Ebd. Ebd. 309 f. Luther, WA DB Bd. 7, 6–15. Dass der Glaube Gottes Werk im Menschen ist – bei den Erwählten! –, gehört zum Konsens der altprotestantischen Dogmatik. Stimmen der reformierten Tradition erklären: »Gratuitum donum est fides, non tantum quod illam non promeriti simus, sed quod infundatur quoque nobis per Spiritum S.« (Wolleb). »Huius fidei causa efficiens princeps est Deus Pater in Filio per Spiritum sanctum, qui mentem illuminat et voluntatem alioquin a Deo aversam movet et flectit« (Leidener Synopse). »Fidem hanc iustificantem non tam actum quam habitum eumque supernaturalem et a Deo infusum definimus« (Heidegger). Heppe-Bizer, Dogmatik, 428 f.

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Israel und seine »heilige Geschichte« dem Zeugniß im Worte ein Zeugniß des Geistes. […] Hier liegt in der Sache des Glaubens ein göttliches Etwas, das sie noch mehr als das Vorherbemerkte aus der Reihe der natürlichen und menschlichen Sachen heraushebt; ein Geheimniß der Gottseligkeit voll göttlichen Lichts und göttlicher Kraft, das wie alles Göttliche nicht lang und breit beschrieben, begriffen, bewiesen, aber erfahren werden kann.«59

Menken nimmt hier die reformatorische Lehre vom testimonium spiritus sancti internum auf, wobei der Biblizist das Wirken des Geistes durch das (schriftliche) Wort betont.60 Im Widerspruch zu diesen dogmatischen Aussagen über den Glauben stehen Menkens Bestimmungen zum Glauben im siebten Kapitel der Anleitung: »Glauben ist die erste und vorzüglichste Forderung Gottes. Glauben ist die erste und heiligste Pflicht des Menschen; das allerunentbehrlichste Erforderniß, Gott zu gefallen. Ohne Glauben giebt es kein Wohlverhalten gegen Gott, wie es ohne Liebe kein Wohlverhalten gegen den Nächsten giebt.«61

Wie ist dieser Widerspruch zu verstehen? Oder ist es gar kein Widerspruch? Wird nicht auch im ersten Gebot des Dekalogs der Glaube gefordert? Hinter den pointierten Bestimmungen in der Anleitung steht die Auseinandersetzung mit der Prädestinationslehre der reformierten Orthodoxie, wonach Glaube oder Unglaube eines Menschen durch göttliches Dekret vorherbestimmt sind. Diese Lehre lehnt Menken ab und steht damit an der Seite der Aufklärung, die die Autonomie und Freiheit des Menschen hochhält. Menken ist überzeugt: Gott will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen (1 Tim 2,4). Gott kommt dem Menschen mit seiner providentia zuvor und will ihm den Glauben ermöglichen. Aber: »Bei dem Allen bleibt der Mensch frei; es ist bei dem Allen, was Gott so innerlich und äußerlich an ihm thut, kein Zwang. Der Mensch kann das Alles an seinem Verstande und Herzen abgleiten lassen, […]. Gott kommt ihm zuvor, aber seine Bekehrung und Errettung kann nicht geschehen ohne seinen Willen, ohne seine Zustimmung, ohne sein Zuthun. Er hat freie Wahl, und was er selbst wählet, das wird ihm; seine Freiheit wird nicht gekränkt, viel weniger aufgehoben.«62 59 Menken, Schriften II, 315. 60 Dazu Weber, Grundlagen, Bd. 1, 267: »Nicht nur im gehörten Wort, sondern auch darin, dass dies Wort bei uns Antwort findet, ist Gott im Heiligen Geist der Wirkende. Das letztere ist gemeint, wenn namentlich Calvin vom testimonium Spiritus Sancti internum (arcanum) die Rede ist.« Weber vermutet (unter Verweis auf WA 30 II, 688): »Der Ursprung der Lehre vom Geistzeugnis dürfte bei Luther zu suchen sein.« Weber, Grundlagen, Bd. I, 267 Anm. 1. 61 Menken, Schriften VI, 217. 62 Menken, Schriften VI, 215.

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Hier wird das Gegenteil von dem gelehrt, was Luther in seiner Schrift De servo arbitrio gegen Erasmus vertritt. Menken steht hier mit seinem Verständnis des Glaubens als von Gott ermöglichtes und gefordertes Werk des freien Menschen auf der Seite des Erasmus und nicht auf der Seite Luthers. Die Homilien zu Hebr 11 sind zehn Jahre nach der Anleitung gehalten und zwanzig Jahre danach veröffentlicht worden. Hier verkündet Menken mit ausdrücklichem Berufen auf Luther, dass der Glaube eine Gabe, ein Werk Gottes im Menschen ist. Der Widerspruch erklärt sich wohl durch Menkens theologische Entwicklung: Der späte Menken korrigiert den frühen Menken, ohne dies kenntlich zu machen. Allerdings liegt dann bei Menken alles Gewicht auf dem Handeln des von Gott ermöglichten und geschenkten Glaubens, auf dem »Wohlverhalten gegenüber Gott«, das vor allem im Leiden und den vielfältigen Prüfungen des Lebens zu beweisen ist, um die himmlische Belohnung zu erlangen.63 Nehmen wir zusammenfassend die Frage nach der Botschaft auf, die Menken mit dem Homilienzyklus über Hebr 11 seinen »andächtigen Zuhörern« vermitteln wollte. Das Zeugnis vom beharrlichen und in vielfachen Prüfungen bewährten Glauben der Patriarchen, Richter, Könige und Propheten, die im Glauben gestorben sind, ohne die Verheißungen erlangt zu haben, soll in der schwierigen Gegenwart mit ihren alltäglichen Belastungen und der großen Ungewissheit um die politische Zukunft zu eben diesem Glauben an die noch unerfüllten Verheißungen Gottes ermutigen und auffordern. Gott wird seinen Heilsplan mit seiner Schöpfung zur Vollendung führen, und das Heil ist seit dem Kommen des Messias viel nähergekommen. Mit seiner oder ihrer individuellen Heilsgeschichte ist der oder die Einzelne eingefügt in die universelle Heilsgeschichte Gottes. In keiner Homilie geht Menken auf das konkrete Leben seiner Predigtgemeinde und ihre politische Situation ein.64 Er entfaltet nur die biblischen Zusammenhänge und bleibt bei den biblischen Beispielen. Der Glaube, um den es ihm geht, nimmt die Verhältnisse, so wie sie sind, und scheint mehr an der jenseitigen Welt interessiert zu sein als an der gegen63 Insofern hat Hirsch recht, wenn er bei Menken »eine Verschiebung des Glaubens ins Werkhafte« feststellt: Hirsch, Geschichte, Bd. V, 102. 64 In der zehnten Homilie zu Hebr 11,28 f. setzt sich Menken mit der »natürlichen« Deutung des wunderbaren Durchzugs der Hebräer durch das rote Meer aufgrund einer Ebbe auseinander. Das sei unsinnig, da die Ebbe wohl den Ablauf eines Meeres oder Stromes, aber keine Teilung bewirke. Aber davon abgesehen: Auch in Naturphänomenen kann Gottes Hand im Spiel sein und Wunder wirken: »Warum haben wir denn nicht, als Gott der Herr die Dränger unsers Vaterlands bei Moskau durch starrenden Frost bei Tausenden vertilgt werden liess, jedem Eindruck dieses grossen Ereignisses auf unser Gemüth mit der altklugen, flachen Erklärung gewehrt: Ja, das war eine grosse Kälte! Warum haben wir in dieser da und so erfolgenden grossen Kälte die Hand des Allmächtigen, Uebermuth und Frevel beugend und schlagend, erkannt und verehrt?« Menken, Schriften II, 397. Die Zurückhaltung beim Eingehen auf die politischen Ereignisse erklärt sich natürlich auch durch die Gefahr, der sich ein Prediger in dieser Zeit der französischen Besatzung damit aussetzte.

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wärtigen. Und immer wieder wird dieser Glaube zum »Wohlverhalten gegen Gott« ermahnt, das entscheiden wird über die Zukunft des und der Einzelnen in der verheißenen Universalmonarchie des Reiches Gottes und des Königs Jesus Christus.

7.4 Christologische Typologie in der Schrift »Ueber die eherne Schlange und das symbolische Verhältniss derselben zu der Person und Geschichte Jesu Christi« (Num 21,4–9) Menkens 1812 veröffentlichte Schrift Ueber die eherne Schlange und das symbolische Verhältniss derselben zu der Person und Geschichte Jesu Christi ist eine große exegetische Arbeit und keine Predigt. Sie praktiziert eine typologische Auslegung der Geschichte von der ehernen Schlange in Num 21,4–9 und behandelt in ihrem zweiten Teil jenes Wort aus dem Johannesevangelium, mit dem sich Jesus auf den alttestamentlichen Text bezieht: Joh 3,14f. Typologische Auslegung des Alten Testaments ist nach Menken nur berechtigt, wenn sie im Neuen Testament selbst praktiziert wird, hier also in einem Wort Jesu. Typologie begegnet im Neuen Testament vor allem im Brief an die Hebräer. Mit dem typologischen Verständnis des alttestamentlichen Kultes als Abschattung, als Symbol des hohepriesterlichen Amtes Jesu Christi, das »das Wesen«, die wirkliche Versöhnung bringt, begründet der Hebräerbrief die Aufhebung des alten Bundes im neuen Bund.65 Menken beginnt seine Auslegung mit dem Eingeständnis der Fremdheit des Textes für die Gegenwart. Doch – dies ist im Horizont der Aufklärung gesagt –: Göttliche Reden und Handlungen erfolgen nach den Gesetzen einer höheren Weisheit und Liebe als die Weisheit und Regeln dieser Welt. Und ohne Belehrung aus der Heiligen Schrift bestimme der Mensch, was Gottes würdig sei und was nicht, und richte sich dabei nach den Maximen, Urteilen und Beispielen einer ungöttlichen Welt. Befremdlich am Text ist sein Widerspruch zum Bilderverbot, denn Tierdarstellungen konnten in der Antike auch Götterbilder sein für den dämonischen Gebrauch. Befremdlich ist ferner, dass zwischen dem Mittel und Zweck dieses Bildes von der ehernen Schlange kein Zusammenhang zu erkennen war. Ohne weitere Belehrung stünde dieses Zeichen da als »eine Anomalie der göttlichen Weisheit«.66 Die tiefste Befremdung aber besteht darin, dass die 65 Auf Menkens zahlreiche Homilien zum Hebräerbrief wird in Kap. 8.5 eingegangen. Der Hebräerbrief ist auch für Menken eine »Säule«, die die christologische Exegese des Alten Testaments trägt. Deutlich wird aber auch die fragwürdige Abwertung Israels durch diese christologische Exegese gerade in der Aufnahme der Typologien des Hebräerbriefes. Dazu die Analyse und Kritik unten in Kap. 8.6. 66 Menken, Schriften VI, 358.

Christologische Typologie in der Schrift »Ueber die eherne Schlange …« 259

Schlange sonst in der Bibel von der Genesis bis zur Apokalypse als ein Bild des Teufels erscheint, jedoch bei vielen Völkern der Erde als ein Symbol des Göttlichen begegnet, wie z. B. im Aeskulap-Kult im griechischen Pergamon. Nach Menkens Überzeugung geht es hier nun um mehr, als dass den Israeliten in der damaligen Plage Hilfe und Genesung widerfahren würde. Es geht vielmehr um eine typologische Vorausdarstellung der Erhöhung Jesu ans Kreuz und seiner Überwindung der Sünde und des Todes. Diese Deutung hängt am Verständnis des hebräischen Wortes AD. Menken übersetzt es mit »Heerzeichen, Panier«. Alle Stämme Israels hatten ihr eigenes Panier. Der wichtigste AD ist das Panier des Heiligtums oder des Gesalbten. An diesem Panier ließ Mose die kupferne Schlange aufhängen. Woher weiß Menken das? Nichts steht davon im Text. Er beruft sich auf die Kürze der biblischen Texte, die »Jahrhunderte älter« seien als »das, was sonst in der ausserbiblischen Welt das Allerälteste ist«, und auf den Unterschied alter und neuer Geschichte: »Einfalt und Kürze ist der Charakter der alten Geschichte.«67 Ferner gab es eine starke mündliche Tradition in Israel und viel Wissen bei den Priestern. Das Volk wusste – so weiß es Menken –, dass die an dem Panier erhöhte kupferne Schlange ein Symbol sei und hatte von Mose eine Erklärung und Belehrung gehört. Die neutestamentliche Bezugsstelle Joh 3,14f steht im Kontext des Gesprächs Jesu mit Nikodemus. Jesus bezieht die Erhöhung des Menschensohns auf die Erhöhung der Schlange durch Mose in der Wüste und verheißt in johanneischer Diktion: Wer an den am Kreuz Erhöhten glaube, werde nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben. Menken vermutet, dass die Paniere in der Wüste die Form eines Kreuzes hatten. Da sich sonst nirgendwo in der Schrift eine Andeutung des Kreuzes finde, wäre Num 21 die einzige Stelle im Alten Testament, wo der Israelit das Kreuz erblickte. Freilich habe Jesus selbst in der Schrift viele solcher Andeutungen gesehen, die andere nicht sehen konnten und hätten später die Kirchenväter ebenfalls viele Andeutungen des Kreuzes gefunden. Mit Joh 3,14f gibt Jesus zu verstehen, »dass jenes Symbol sich auf ihn, auf seine Person und Geschichte beziehe, in seiner Person und Geschichte erklärend aufgelöst und erfüllt werde«.68 Der Herr wollte Nikodemus mehr damit sagen, als dass er am Kreuz sterben werde, nämlich dass der Teufel und die Sünde einmal besiegt, gekreuzigt, getötet werden sollten. Die Schlange selbst konnte nicht Vorbild des Messias sein. Mit diesem Verständnis gibt Menken dem Symbol der ehernen Schlange einen wichtigen Platz in der Heilsökonomie Gottes, die durch göttliche Verheißungen in Worten, Symbolen und Anstalten immer klarer und deutlicher offenbart wird. Am Anfang steht das »Protevangelium« von Gen 3,15, in dem Gott Feindschaft zwischen dem Nachwuchs der Schlange und den Nachkommen Evas ankündigt. Zum Protevangelium wird diese Stelle durch die 67 Ebd. 370. 68 Ebd. 388 f.

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singularische Deutung der kollektivisch gemeinten Nachkommen Evas: Er, der Messias, werde der Schlange den Kopf zertreten, sie aber werde ihm nach der Ferse schnappen. Das Symbol der Schlange am Panier des Messias war nach Menken »ein deutender Wink zu jenem Worte Gottes in der Urgeschichte des Menschengeschlechts«: »Von diesem Worte im Paradiese an hatte die Menschheit allgemein die tröstende Hoffnung, daß der Schlange werde der Schädel zermalmet, und die Sünde und das Verderben aus der Schöpfung vertilgt werde; von da an wartete sie auf einen Heiland, Helfer und Sieger. Zu Abraham, dem Vater aller Gläubigen, redete Gott von dem großen Verheißenen und Erwarteten, als von dem Segen aller Geschlechter der Erde. Zu seinem Volke Israel hatte er in der Aufrichtung des symbolischen Heiligthums und des damit verbundenen aaronitischen Priesterthums, besonders in der Person des Hohenpriesters von ihm geredet als von dem wahrhaftigen und ewigen Hohenpriester im himmlischen Heiligthume […]. Von seinem Verhältnisse aber zu dem Satan, von ihm als dem Zertreter der alten Schlange, war seit jenem Worte im Paradiese nichts besonders offenbart worden. Das geschah nun hier.«69

Menken sieht in seiner typologischen Auslegung der Geschichte von der ehernen Schlange eine Widerlegung des »orthodoxen Systems [der Versöhnungslehre, H.M.R.] der christlichen Kirche seit Augustinus und Anselmus«.70 Diese stellt er kurz dar und entfaltet dann seine eigene Versöhnungslehre in der Aufnahme der zuvor dargestelltem exegetischen Erkenntnisse. Die kupferne Schlange in der Wüste kann kein Hinweis auf den Kreuzestod Jesu sein, so wie er in der kirchlichen Orthodoxie verstanden wird, denn nach orthodoxer Lehre trägt Christus am Kreuz den Zorn Gottes anstelle der sündigen Menschen: »[…] daran konnte unmöglich einem Einzigen von all‘ jenen Tausenden in jener Wüste ein Gedanke kommen, eben so wenig als einer, wenn er diesen finstern, verschrobenen Gedanken auch gehabt hätte, im Stande gewesen wäre, ihn deutend, die Sache erklärend in der Anstalt selbst nachzuweisen.«71

Die erhöhte Schlange am Panier des Messias in der Wüste ist vielmehr eine Veranstaltung der Liebe Gottes und seiner Hilfe für das leidende Volk und als solche ein typologischer Hinweis auf die Überwindung der Sünde und des Todes am Kreuz Christi.

69 Ebd. 373. 70 Ebd. 376. 71 Ebd. 378.

Die Problematik der christologischen Interpretation des Alten Testaments 261

Menken veröffentlichte seine Schrift Über die eherne Schlange 1812 und versah sie in der zweiten Auflage mit Zusätzen speziell zur Versöhnungslehre. Er wehrte sich damit gegen die Restauration der orthodoxen Lehranschauungen nach Napoleon und den Befreiungskriegen. Menkens typologische Auslegung von Num 21,4–9, die sorgfältig begründet und mit großem exegetischen Wissen ausgeführt wird, zeigt, wie anfällig die typologische Hermeneutik für die Spekulation ist, vor allem wenn sie im Rahmen dogmatischer Voraussetzungen, hier der Auffassung der Bibel als Offenbarungszeugnis von der Heilsökonomie Gottes, praktiziert wird.72

7.5 Die Problematik der christologischen Interpretation des Alten Testaments In der neutestamentlichen, christologischen Auslegung des Alten Testaments der Kirche hat von Anfang an die Typologie eine bedeutende Rolle gespielt. Mit dem Aufweis von typologischen Entsprechungen konnten der Zusammenhang und die Einheit der Testamente aufgewiesen werden. Die christologische Typologie diente dabei auch der Demonstration der Deutungshoheit der Kirche über das Alte Testament. Auch die Reformatoren und die Theologen der altprotestantischen Orthodoxie praktizierten die typologische Auslegung, allerdings in verschiedenem Maße und Martin Luther sehr zurückhaltend. Ihr maßloser Gebrauch in der Föderaltheologie, bei Coccejus selbst und den Coccejanern ist schon erwähnt worden, ebenso der Protest, den sie u.a. bei Gottfried Menken hervorrief. Die traditionelle christologische Interpretation des Alten Testaments einschließlich der typologischen Methode wird aber nun seit der Aufklärung konfrontiert mit den ernüchternden, ja schmerzlichen Ergebnissen der historisch-kritischen Schriftexegese:73 Das Alte Testament selbst enthält keinen zwingenden Hinweis auf Jesus als den Messias Israels. Viele »Beweise« und Stützpfeiler der christologischen Interpretation halten der historisch-kriti72 Menkens Auseinandersetzung mit der Anselmischen Versöhnungslehre und seine eigene Versöhnungslehre werden in Kapitel 8 dieser Arbeit ausführlich behandelt. 73 Die typologische Auslegung überstand die Aufklärung und hielt sich trotz der historischen Bibelkritik bis weit ins 19. Jahrhundert, ja bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Der Alttestamentler Gerhard von Rad stellte dann 1960 in seiner Theologie des Alten Testaments fest: »Die typologische Auslegung, so wie sie von der Zeit der Reformation bis hin zu F. Delitzsch von der evangelischen Bibelauslegung praktiziert wurde, lässt sich nicht mehr erneuern. Es sind zu viele ihrer Voraussetzungen, nicht zuletzt die heimlich tragenden geschichtsphilosophischen Voraussetzungen, hingefallen, und die Kluft zwischen ihr und uns ist so groß geworden, daß von einer Auseinandersetzung mit ihr wohl nicht viel Förderung für uns zu erwarten wäre.« Von Rad, Theologie des Alten Testaments, Bd. 2, 380. Von Rad setzt sich dann aber für eine neue typologische Auslegung des Alten Testaments ein im Bemühen um ein neues christliches Verständnis des Alten Testaments. Vgl. dazu unten Kap. 12.

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schen Exegese nicht stand. Gen 3,15 kann kein Protevangelium sein, denn der Ausdruck »dein Nachwuchs« ist kollektiv und nicht individuell zu verstehen. Die christologische Interpretation des Alten Testaments beruht auf einer bestimmten Wertung seiner Texte, die im christlichen Glauben an den Messias Jesus begründet und durch das Vorbild des Neuen Testaments berechtigt ist. Der Glaube an den Messias Jesus entdeckt und findet in den alttestamentlichen Glaubenszeugnissen einen verborgenen Sinn, der dem Literalsinn eine Tiefendimension gibt. Historisch-kritische Exegese kann erklären. Zum Verstehen gehört aber neben der Erklärung die Frage nach der Bedeutung eines Textes. Die christologische Exegese des Alten Testaments betrifft diese über die Erklärung hinausgehende Perspektive der Bedeutung. Akzeptieren wir, dass historisch-kritische Exegese nicht zwingend und ausschließlich zum christologischen Verständnis des Alten Testaments führt, so hat dies Konsequenzen für die Beziehung von Christen und Juden. Die Kirche muss dann akzeptieren, dass Juden in ihrer Mehrheit (bisher) das Alte Testament, das ihnen gehört, anders verstehen als Christen. Sie kann das Alte Testament nicht allein für sich reklamieren und muss sich auch den antijudaistischen Implikationen ihrer christologischen Exegese des Alten Testaments stellen.74 Die Zeit des kirchlichen Triumphalismus sollte vorbei sein. Historisch-kritische Exegese hat in einer imposanten Detailarbeit die einzelnen Texte und Teile des Alten und des Neuen Testaments nach verschiedenen Methoden erforscht. Nicht zu bezweifeln ist der große Gewinn für die Erklärung der einzelnen Texte und das Erfassen der unterschiedlichen »Theologien« biblischer Textkomplexe. Sie hat aber auf diesem Wege die Einheit der beiden Testamente für sich und ihren einheitlichen Zusammenhang zum großen Problem gemacht. Menkens heilsgeschichtliche Bibelauslegung hält den Analysen dieser Exegese nicht stand. Sie erweist sich als eine dogmatische Konstruktion. Die Einheit der Schrift, die für Menken gegeben war durch den progressiven Verlauf der Heilsgeschichte, die er als Schriftforscher voller Bewunderung rekonstruierte, existiert für uns so nicht mehr. Hinter der von Menken erfassten »heiligen Geschichte« steht das duale Weltbild des Supranaturalismus: Gott greift aus der unsichtbaren Welt in unsere sichtbare Welt ein mit seiner Erwählung Israels, mit seinen Taten, Wundern und Fügungen, die die heilige Geschichte als die besondere, abgehobene Geschichte seiner Offenbarung konstituieren, voranbringen und die in einem verborgenen Zusammenhang mit der Weltgeschichte stehen. Hier geschieht in der Tat ein »kecker Griff nach der Bibel«, weil hier der (gläubige) Schriftverehrer Gott in die Karten zu schauen meint, den bisherigen Prozess des Reiches Gottes erfassen und den zukünftigen Verlauf aus den apokalyptischen Texten erkennen will.

74 Auf die antijudaistischen Konsequenzen der Versöhnungslehre Menkens gehen die Ausführungen in Kap. 8.6 ein.

Zur Bedeutung Menkens für die Erneuerung der alttestamentlichen Predigt 263

7.6 Zur Bedeutung Menkens für die Erneuerung der alttestamentlichen Predigt im 19. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert kommt es zu einer Wiedergewinnung des Alten Testaments für die Predigt. Der Einsatz Menkens für die alttestamentliche Predigt und sein eigenes Predigtwerk haben dabei eine wichtige Rolle gespielt. Dies ist in der predigtgeschichtlichen Literatur von Anfang an betont und gewürdigt worden.75 Nach Johann August Nebe (1826–1895) steht Menken an der Spitze dieser Erneuerung der alttestamentlichen Predigt. Nebe schreibt in seinem 1879 veröffentlichten Werk Zur Geschichte der Predigt. Charakterbilder der bedeutendsten Kanzelredner in der evangelischen Kirche Deutschlands von Schleiermacher bis zur Gegenwart: »Man darf getrost sagen: zu Anfang dieses Jahrhunderts gab es nur einen einzigen Prediger von hervorragender Bedeutung, den bekannten Gottfried Menken, […] welcher sich freier Texte bediente. Er ist auch der erste, welcher die Hallen des Alten Testamentes der Predigt wieder öffnete.«76

Ebenso superlativisch ist das Urteil Ernst Bindemanns in seiner 1886 veröffentlichten Untersuchung Die Bedeutung des Alten Testaments für die Predigt: Menken war »der erste, welcher es mit Erfolg versucht hat, das Alte Testament geschichtlich zu verstehen und christlich zu gebrauchen. Deshalb ist er geradezu epochemachend in dieser Beziehung, und seine praktischen Auslegungen des Alten Testaments bezeichnen einen so großen Fortschritt, daß er heute noch in vielen Stücken als unerreichtes Muster dasteht und jedenfalls für die Alttestamentliche Predigt die allein richtigen Gesichtspunkte angegeben hat.«77

Menkens Wirkung beruhte auf seiner entschiedenen und eindringlichen Forderung nach Predigten über alttestamentliche Texte und auf dem Beispiel seiner eigenen Predigtpraxis, die den von der Kritik der Aufklärung am Alten Testament beeinflussten Kollegen hermeneutisch und homiletisch helfen wollten, einen sinnvollen, ja den »richtigen« Zugang zum unbekannt gewordenen und verachteten Alten Testament zu finden. Eindrücklich ist die Klage Menkens über die Zurückstellung und Geringschätzung des Alten Testaments bei den Predigern seiner Zeit in der Vorrede zu den 1797/98 gehaltenen und 1804 veröffentlichen Christlichen Homilien über Stellen aus der Geschichte des Propheten Elias. Etwa 30 Jahre nach den Eliashomilien lesen wir dieselbe Klage über die Vernachlässigung und Geringschätzung des Alten Testaments in Menkens Vorrede zur Predigtsammlung von 1825. Auf die Frage, warum darin 75 Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 5.1. 76 Nebe, Charakterbilder, 393. 77 Bindemann, Die Bedeutung des Alten Testaments, 125 f.

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so viele Predigten über Texte aus dem Alten Testament enthalten seien, antwortet er mit folgenden Gegenfragen und bekennt sich zur fundamentalen Bedeutung des Alten Testaments und zur Einheit der Schrift aus beiden Testamenten: »Bedarf nicht das Alte Testament offenbar mehr der Erläuterung und Auslegung als das Neue? Soll denn das Alte Testament nur allein in den Hörsälen der Universitäten noch mit Fleiß und Wissenschaft behandelt werden? Und wird nicht da Fleiß und Wissenschaft daran gewendet, damit die künftigen Diener des göttlichen Wortes in den Stand gesetzt werden, einst ihren Gemeinen zum Verstande und Genusse desselben behülflich sein zu können? Warum wird im Kreise der Christengemeinen nicht mehr Fleiß und Arbeit an das Buch gewendet, das dem Sohne Gottes während seines Wandels auf Erden das Licht und Recht seines ganzen Lebens war? Ist doch das Neue Testament ohne das Alte wie ein Gebäude ohne Fundament; wie der fragmentarische einzelne zweite Theil einer Geschichte, deren erster Theil verloren gegangen, und die nun so weder in ihrer Tiefe noch in ihrer Höhe und nimmermehr in der ihr eignen Wahrheit erkannt und verstanden werden kann. Es ist wie der vom Vordersatz abgerissene schöne, volle Nachsatz einer Rede, welche die ganze Seele füllt, – aber nicht stillt; zurücklassend ein Weh im brennenden Verlangen den Vordersatz wieder zu finden, aus dem allein eine solche mehr göttliche als menschliche Rede hervorgehen konnte, die nun, ach! nicht ganz überzeugt, nicht ganz befriedigt, weil sie zerrisssen und unvollständig und so unverständlich ist.«78

Die große Bedeutung Menkens für die Wiedergewinnung der alttestamentlichen Predigt im 19. Jahrhundert ist unbestritten. Die Erneuerung der alttestamentlichen Predigt ist aber nicht sein alleiniges Verdienst. Andere haben vor ihm und neben ihm wichtige Beiträge zu einer neuen Wertschätzung und zu einem neuen Verständnis des Alten Testaments geleistet. Dazu gehören vor allem Johann Gottfried Herder, Johann Georg Hamann und Volkmar Reinhard (1753–1812). Hamann war kein kirchlicher Prediger. Mit seiner besonderen »Autorschaft« war er aber doch »ein Prediger in der Wüste« und ein Promotor einer tief begründeten Geltung des Alten Testaments. Als solcher reicht Hamanns Bedeutung nach Rupprecht bis in die Gegenwart.79 Herders Verdienst wird von Rupprecht zu Recht darin gesehen, dass er die Menschlichkeit der Schrift positiv in den Mittelpunkt stellte: 78 Menken, Schriften V, VI. 79 »Ja, die Art und Weise, wie Hamann die Menschlichkeit der Bibel ernst nahm, ohne dem Fehler der Aufklärung zu verfallen und ihren göttlichen Charakter preiszugeben, kann auch noch dem Prediger von heute entscheidende Hilfen geben, ihm zeigen, dass die Ergebnisse der historischkritischen Arbeit am Alten Testament seinen Verkündigungscharakter nicht in Frage stellen, sondern geradezu zu ihm gehören.« Rupprecht, Predigt über alttestamentliche Texte, 124.

Zur Bedeutung Menkens für die Erneuerung der alttestamentlichen Predigt 265 »Sein ›hebräischer Humanismus‹ leitet an zu einer ästhetisch-romantischen Würdigung der Bibel, die ihr Ziel darin sieht, sich in die Welt der Bibel ›hineinzudenken und hineinzufühlen‹ und in dem Geist, der hinter der Natürlichkeit, Menschlichkeit und Unmittelbarkeit der alttestamentlichen Schriften steht, Gott selbst zu begegnen.«80

Herder leistete in den Jahren 1799 bis 1801 auch einen unmittelbaren Beitrag zur Erneuerung der alttestamentlichen Predigt durch die Aufstellung von drei Perikopenreihen, in denen alttestamentliche und apokryphe Texte stark vertreten waren. Der Lutheraner Franz Volkmar Reinhard, ein Vertreter des Supranaturalismus, hat sich um die Einbeziehung von alttestamentlichen Perikopen in die Predigtreihen der sächsischen Kirche und um den ersten Entwurf einer fast vollständig alttestamentlichen Predigtreihe (1811) bemüht.81 Hamanns grosse Wirkung auf Menken und seine Gesinnungsgenossen ist bereits behandelt worden, aber auch seine Vorbehalte gegenüber Herder. Fragt man nach den Ursachen des neuen Interesses am Alten Testament, so müssen auch die politischen Umwälzungen am Ende des 18. und am Beginn des 19. Jahrhunderts bedacht werden. Rupprecht weist hin auf das »religiöse Erlebnis der Befreiungskriege«: »Weiter starke Impulse empfing die Predigt über alttestamentliche Texte durch das religiöse Erlebnis der Befreiungskriege. Im Alten Testament begegnete man Gott, ›dem Lenker der Schlachten‹, dem Herrn der Geschichte. Man erkannte in den Schicksalen des Volkes Israel die eigenen völkischen Schicksale wieder: Schuld und Gericht, Buße und Gnade. In der Not der Unterdrückung und in dem Wunder der Befreiung entstand ein stark vom Alten Testament gespeister Gottesglaube.«82

Der entscheidende Grund für die Erneuerung der Predigt über alttestamentliche Texte und auch für die große Wirkung Menkens ist jedoch das heilsgeschichtliche Bibelverständnis, das sich schon vor Menken entwickelte, bis tief ins 19. Jahrhundert hinein vertreten wurde und in den Theologien Johann Tobias Becks, Johann Konrad von Hofmanns und Carl August Auberlens eine wissenschaftliche Form fand. Man hörte wieder in den alttestamentlichen Texten eine Botschaft Gottes und sah in ihnen nicht nur historische Zeugnisse, die mit ihrem überwundenen Gottesbild und ihrer Bindung an ein (antikes) Volk aus dem Vorderen Orient keine Bedeutung für die Gegenwart haben sollten. Die heilsgeschichtliche Theologie bot mit ihrer Einfügung der individuellen Heilsgeschichte in die universale Heilsgeschichte eine geistliche Orientierung, die in der Aufklärung nicht geleistet wurde und angesichts der 80 Ebd. 81 Rupprecht, Die Predigt über alttestamentliche Texte, 135. 82 Ebd. 127.

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Israel und seine »heilige Geschichte«

politischen Veränderungen und Verunsicherungen als ein großes Manko empfunden wurde. Es kommt im 19. Jahrhundert zur Aufstellung alttestamentlicher Predigtreihen in den lutherischen Kirchen nach dem Vorbild Franz Volkmar Reinhards.83 In der Predigtliteratur kommen nun die geschichtlichen Texte des Alten Testaments zum Zuge. Die heilsgeschichtliche Hermeneutik ermöglicht eine kerygmatische Erschließung der »heiligen Geschichte«. Neben der fortschreitenden Gottesoffenbarung wird die Glaubensgeschichte einzelner vorbildlicher Persönlichkeiten in den Texten gefunden und der Gemeinde in Predigten nahegebracht. Der letztere Aspekt beherrscht z. B. die Predigtbände des Pfarrers Friedrich Wilhelm Krummacher (1796–1868), einem Vertreter der niederrheinischen Erweckungsbewegung. Sie wurden in ganz Deutschland viel gelesen. Krummachers Sammlung Elias der Thisbiter in Predigten von 1828 ist direkt von Menken angeregt. In den Predigtgeschichten wird Krummacher attestiert, dass »viele mit dem Alten Testament wieder vertraut wurden und es liebgewannen«84. Kritisiert werden seine »Übertreibungen« und »Geschmacklosigkeiten in der Darstellung«, »seine geschichtslose Art, die Unterschiede zwischen Neuem und Alten Testament völlig zu verwischen, und die Neigung zur Allegorese«.85 Überblickt man nun das Schicksal des Alten Testaments in der protestantischen Predigt des 19. Jahrhunderts, so muss nüchtern geurteilt werden: Von einer wirklichen Wiedergewinnung der Predigt über alttestamentliche Texte kann nicht die Rede sein. Das Bemühen um eine stärkere Einbeziehung des Alten Testaments in die Predigtpraxis hatte keinen durchschlagenden Erfolg. Das Alte Testament wird auch im 19. Jahrhundert (in den lutherischen Gemeinden) kaum in den Sonntagsgottesdiensten gepredigt, sondern in den Nebengottesdiensten der Woche. Die meisten Pfarrer verwendeten alttestamentliche Predigttexte nur bei bestimmten Anlässen, d.h. an gewissen Festtagen, bei Kasualien und zur Behandlung völkisch-sozialer Probleme. Die Versuche, durch die Aufstellung alttestamentlicher Predigtreihen oder durch die Berücksichtigung beider Testamente in den Perikopenordnungen die

83 1846 entstehen die (von Carl Immanuel Nitzsch) ausgewählten Perikopen, die erstmalig einen vollständigen alttestamentlichen Jahrgang enthalten. Eine alttestamentliche Perikopenreihe hat auch der Erlanger Dogmatiker Gottfried Thomasius entworfen. Sie wurde aber keine offizielle Predigtreihe der Landeskirche, sondern blieb dem freien Gebrauch der Pfarrer empfohlen. Schließlich sei noch »die jüngste, aber zweifellos am meisten benützte alttestamentliche Predigtreihe des 19. Jahrhunderts« genannt, »die durch die Eisenacher Konferenz 1896 beschlossen und in einer Reihe von Landeskirchen dann empfohlen wurde«. Rupprecht, Predigt über alttestamentliche Texte, 149. 84 Rupprecht, Predigt über alttestamentliche Texte, 127. 85 Ebd. Weitere Predigtsammlungen Krummachers sind Salomo und Sulamith. 15 Predigten aus dem Hohenlied, 1827; David der König von Israel, 1876; Das Adventsbuch, 1847/31863.

Zur Bedeutung Menkens für die Erneuerung der alttestamentlichen Predigt 267

Pfarrerschaft stärker zu alttestamentlichen Predigttexten zu animieren, blieben kurzatmige Versuche. Die Renaissance der Predigt über das Alte Testament war nicht von Dauer. Der Hauptgrund dafür sind die Mängel der heilsgeschichtlichen Bibelauffassung und die Durchsetzung der historischen Bibelkritik. Das unkritische Verständnis des Alten Testaments als Urkunde der göttlichen Offenbarung und seine unmittelbare Auslegung hielten dieser Kritik nicht stand. Der historisierende Charakter der Predigt gemäss der heilsgeschichtlichen »Dogmatik« verfehlte auch das Bedürfnis nach einer stärkeren Lebensnähe angesichts der industriellen Entwicklung und der wachsenden sozialen Probleme im 19. Jahrhundert. Hans-Joachim Kraus beurteilt die Situation am Ende des 19. Jahrhunderts folgendermaßen: Es war um die Jahrhundertwende und zu Beginn des 20. Jahrhunderts »unmöglich, daß im Sinne des Johann Tobias Beck oder des großen Konrad von Hofmann die heilsgeschichtliche Konzeption einfach repristiniert werden konnte. Die religions-geschichtliche Forschung hatte nun einmal den mythischen Glanz des heilsgeschichtlichen Systems zerstört und das ganze Unternehmen einer offenbarungs-geschichtlichen Darstellung bis in die Fundamente hinein als problematisch erwiesen. Dieser Erkenntnis konnte sich kein Alttestamentler verschließen«.86

Im 19. Jahrhundert wurde in der wissenschaftlichen Bibelexegese ein enormer Fleiß an die historisch-kritische Erforschung des Alten Testaments gewendet. Doch die Ergebnisse und Erkenntnisse dieser Forschung kamen nicht der Homiletik des Alten Testaments zugute oder konnten nicht so verarbeitet werden, dass sie die alttestamentliche Predigt förderten. Im Gegenteil. Bei den liberalen Theologen bestärkten sie die ohnehin bestehende Entfremdung vom Alten Testament und seine homiletische Geringschätzung. Bei den konservativen Theologen wurden sie abgelehnt und als Angriff auf das Wort Gottes verstanden und in der Praxis nicht beachtet. Man verfuhr in der Predigtpraxis weiter wie bisher. Von großem Einfluss war auch die Einstellung des »Kirchenvaters des 19. Jahrhunderts«: Friedrich Daniel Schleiermacher. Mit der Ablehnung des Alten Testaments bei Schleiermacher wird ein Trend aufgenommen, der in der Hermeneutik der Aufklärung beginnt und – in der Philosophie des Idealismus bei Hegel und Fichte verstärkt – weiterwirkt bis ins 20. Jahrhundert. Deutlich mischen sich nun auch antisemitische Töne in diese Ablehnung. Am Anfang des 20. Jahrhunderts sind ihre liberalen Wortführer Adolf von Harnack und Emanuel Hirsch. Doch im 20. Jahrhundert kommt es zu einer neuen Renaissance der Wertschätzung des Alten Testaments und zu einer neuen Erneuerung der Predigt über alttestamentliche Texte – wenn auch unter der Begleitung von Störfeuern mit alter Munition. Der Antisemitismus der Nationalsozialisten zwingt die Kirchen zu einer Klärung ihrer Haltung 86 Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung, 344 f.

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Israel und seine »heilige Geschichte«

zum Judentum und der Bedeutung des Alten Testaments für die Kirchen. Nach der Schoa wird im Katholizismus und in den evangelischen Kirchen eine neue Israeltheologie erarbeitet, die eine Umkehr darstellt zu den bisherigen Positionen. Diese zweite Renaissance einer Wertschätzung des Alten Testaments in der Theologie und Predigt hat offenbar eine nachhaltigere Wirkung. Man darf sich freuen über den Fortschritt, der hier vorliegt angesichts einer jahrhundertelangen Vernachlässigung, Verdrängung und Ablehnung des Alten Testaments in den deutschen evangelischen Kirchen (und in der katholischen Kirche), wobei dieses Urteil mehr die lutherischen Kirchen als die reformierten trifft. Der Ruf Menkens hallt bis in unsere Zeit.

8. Die kenotische Christologie und die Versöhnungslehre Gottfried Menkens 8.1 Die ganze Heilsgeschichte in einer Predigt – eine Osterpredigt über Röm 14,9 Menken hielt zu Ostern 1796 seine letzte Predigt als Adjunkt der reformierten Kirchgemeinde in Frankfurt. Es ist die erste, die er drucken ließ.1 Er wählte als Predigttext Röm 14,9: »Dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, daß er über Todte und Lebendige Herr sei.«

In der Einleitung reflektiert Menken über die Bedeutung, die die christlichen Festtage für die Menschen seiner Zeit haben. Die christlichen Festtage wollen in uns eine neue Freude an Gott und an dem Herrn Jesus erwecken. Bei den christlichen Festtagen handele es sich um »die Sieges- und Ehrentage der Menschheit«.2 Und das Osterfest bezeichnet Menken als »das Fest der möglichst höchsten Verherrlichung der menschlichen Natur«3, denn: »In der Person ihres Hauptes und Herrn hat die Menschheit über Sünde und Tod gesiegt, sich aus ihrem Verfall nicht nur zu ihrer ursprünglichen Würde wieder hinaufgearbeitet, sondern sie ist in ihm zu der allererhabensten Herrlichkeit erhöhet.«4

In der Einleitung wird so der Inhalt der ganzen Predigt zusammengefasst. Es erstaunt dabei, wie unverhohlen hier Gottes Sieg über Sünde und Tod »der Menschheit« zugeschrieben wird und das Osterfest, an dem doch Gott seine Macht über Sünde und Tod durch die Auferweckung Jesu offenbart, als »das Fest der möglichst höchsten Verherrlichung der menschlichen Natur« bezeichnet wird. Menken zeigt hier den ihm nicht bewussten Einfluss des Zeitgeistes der Aufklärung. Der Predigttext veranlasst Menken zu einer zweiteiligen Homilie: »1. zur Betrachtung der Schriftlehre: Die Herrschaft über das ganze All der Schöpfung 1 Menken nahm diese Predigt auf in die Neue Sammlung christlicher Homilien (Menken, Schriften IV, 255–269). 2 Menken, Schriften IV, 256. 3 Ebd. 4 Ebd.

270 Die kenotische Christologie und die Versöhnungslehre Gottfried Menkens war der Zweck des Todes und der Auferstehung Jesu Christi, 2. zur Erwägung der Gesinnungen, Freuden und Hoffnungen, die das in uns erwecken soll.«5 Zum ersten Teil: Der zum Bilde Gottes geschaffene Mensch sollte »sichtbares Bild des unsichtbaren Gottes, Herr und König über die sichtbare Welt und seines Gottes und Schöpfers, Diener und Priester in dieser sichtbaren Welt«6 sein. Aber er hat sich dieser seiner Stellung und Aufgabe nicht als würdig bewährt. Adam wurde geprüft, damit das Recht seiner göttlichen Würde erwiesen und so bei der ganzen verständigen Schöpfung die Gerechtigkeit Gottes gerechtfertigt und verherrlicht werde. Adam »sollte kämpfen um seine Krone, dass er sie mit Ehren trüge, und der Heilige und Gerechte, der sie ihm aufgesetzt hatte, verherrlicht werde. Aber er bestand nicht in der Prüfung, er ließ sich durch Lügen und täuschende Vorstellungen zum Unglauben an ein Wort Gottes bewegen, das ihm zum Glauben gegeben war.«7 Die Verführung zum Unglauben erfolgte durch den Teufel, den Menken nach alter Mythologie als gefallenen Engel versteht. Durch seinen Fall in den Unglauben verlor der Mensch seine ursprüngliche Bestimmung und Glückseligkeit. Doch aus »unaussprechlicher Gnade und Erbarmung« beschloss Gott einen Plan zur Rettung des Menschen. Der sollte das durch Adam gefallene, elende Menschengeschlecht »nicht nur zu seiner ursprünglichen Bestimmung wieder zurückführen, sondern seinen Fall zu einem Weg zu noch grösserer Herrlichkeit machen«:8 »Dieser Rath seiner Erbarmung, dies Geheimniß seines Willens, woran er von Ewigkeit all‘ sein Wohlgefallen hatte, ist die Zusammenfassung der ganzen Schöpfung unter einen König, in Ein Reich der Gerechtigkeit und Liebe durch die Anstalt der Versöhnung. Das war sein Wohlgefallen, daß durch den, in welchem die ganze Fülle der Gottheit körperlich wohnt, durch den alles geschaffen ist, was in den Himmeln und auf der Erde ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, nun auch durch diesen alles versöhnt würde zu ihm selbst durch das Blut, das er an seinem Kreuze vergossen, und das ganze All der Schöpfung unter ihm in Ein Reich, zu Einem Ganzen verfaßt und geordnet würde; so daß die menschliche Natur der Gottheit so nahe gebracht und so gleich gemacht würde wie möglich, und vorzüglich aus einigen aus dem menschlichen Geschlechte etwas würde zu Lobe seiner herrlichen Gnade.«9

Der Menschheit sollte so geholfen werden, dass »allen Engeln und Teufeln Gottes innigste Erbarmung und Gottes lauterste Unpartheilichkeit offenbar würden. Die menschliche Natur sollte sich selbst von ihrem Verfalle wieder 5 6 7 8

Ebd. 257. Ebd. 257 f. Ebd. 258. Ebd. 259. Der Gedanke einer perfectio maior war Menken aus der coccejanischen Tradition vertraut. Er knüpft an paulinische Aussagen über die Überschwänglichkeit der Gnade gegenüber der Macht der Sünde, z. B. in Röm 5,20, an. 9 Menken, Schriften IV, 260.

Die ganze Heilsgeschichte in einer Predigt – Osterpredigt über Röm 14,9 271

hinaufarbeiten und zu der erhabensten Herrlichkeit den Weg bahnen, doch so, daß dabei aller Ruhm keineswegs den Menschen, sondern ganz und gar Gotte und dem Sohn Gottes gegeben werden müsse.«10 Da die Sünde und der Tod durch einen Menschen in die Welt gekommen waren, konnte »die menschliche Natur […] nach dem Rechte nicht anders wieder zu ihrer ursprünglichen Ehre und Würde gelangen als durch einen Menschen«11. Menken nimmt hier den paulinischen Adam-Christus-Vergleich auf (Röm 5,12–21). Die Nachkommen Adams sind durch Adams Versagen und ohne eigenes Verschulden in den Zustand der Sündlichkeit und Sterblichkeit gekommen: »Nun sollte es auch allen Nachkommen Adams möglich gemacht werden, ohne ihr Zuthun und ohne ihr eignes Verdienst von ihrer Sündlichkeit und Sterblichkeit erlöset zu werden durch die Anstalt der Versöhnung; und dann in Verhältniß mit ihrer Treue durch Mittheilung der Fülle der Gnade und Gabe zur Gerechtigkeit einer noch größeren als ihrer ursprünglichen in Adam verlornen, ja der allergrößten Herrlichkeit theilhaftig zu werden.«12

Jesus Christus, der Herr der Herrlichkeit selbst, entäußerte sich seiner göttlichen Herrlichkeit und erbarmte sich der Menschheit in ihrem Elend, in ihrer Verfallenheit an Sünde und Tod. Er wurde nicht nur Mensch, sondern nahm die durch den Unglauben Adams korrumpierte menschliche Natur an, um »unter unendlich schwereren Prüfungen, als die ersten Adam waren, ja unter den möglichst allerschwersten, zur Ehre der menschlichen Natur das heiligste Wohlverhalten zu beweisen, und eine Gerechtigkeit, die die Ungerechtigkeit aller Sünder aufwöge und erstatte«.13 Obwohl er der Sohn Gottes war, lebte er im Glauben und nicht im Schauen. Seinen vollkommenen Glauben und seine tadellose Gerechtigkeit setzte er dem Ungehorsam, der Ungerechtigkeit, dem Unglauben Adams und aller Menschen entgegen. Der Weg des Menschensohnes, der von tiefster Erniedrigung zur höchsten Erhöhung führte, ermöglichte es ihm, »die Menschen zu Mitgenossen seiner Gottesseligkeit und Gottesherrlichkeit zu erheben, aus ihnen Priester und Könige der grossen Reichsverfassung, wodurch die ganze vernünftige Schöpfung auf ’s gerechteste geordnet und auf ’s völligste beseligt werden soll, zu bilden«.14 Der Mensch Jesus Christus hat sich durch den Glauben und Gehorsam, durch Leiden und Tod den Menschen zu gute die königlichen Majestätsrechte der Herrschaft über das ganze All der Schöpfung erkämpft. Wenn Paulus sage: »Dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig ge10 11 12 13 14

Ebd. Ebd. Menken, Schriften IV, 261. Ebd., Hervorhebung H.M.R. Ebd. 262 f.

272 Die kenotische Christologie und die Versöhnungslehre Gottfried Menkens worden, daß er über Tote und Lebendige Herr sei«, dann bedeute das die Herrschaft über die ganze Schöpfung; denn die Schrift teile die Schöpfung in die dem Menschen sichtbare und die dem Menschen jetzt unsichtbare Welt: »Alles was im Sichtbaren und Unsichtbaren geschieht, geschieht auf ausdrücklichen Befehl oder durch die Zulassung, kurz durch Veranstaltungen der königlichen Regierung des Herrn Jesu Christi.«15 Der zweite Teil dieser Osterpredigt behandelt die Gesinnungen, Freuden und Hoffnungen, die die im ersten Teil entfaltete »Schriftlehre« in der Gemeinde erwecken soll. Es soll nicht bei der Kenntnisnahme einer Lehre bleiben, denn: »Das Christenthum vieler Christen scheint mehr die dankbar traurige Verehrung eines Gestorbenen, als die dankbare, in Liebe und Vertrauen freudige Verehrung eines Lebendigen zu sein; es scheint sich bei ihnen mehr auf Gebrauch und Lehre als auf eine lebendige Person zu beziehen.«16

Wo Erkenntnis des Evangeliums sei, gehe es um Vertrauen und Liebe zu Jesus Christus, dass man sich an ihn, den man nicht sieht, zu halten sucht, als sähe man ihn. Da sei das Christentum eine Sache des Lebens, die auf das Verborgenste des Herzens und auf alle Vorfälle des täglichen Lebenswandels ihren Einfluss habe. Menkens Osterpredigt über Römer 14,9 ist eine dogmatische Lehrpredigt und bietet der Gemeinde einen Gesamtentwurf des reichsgeschichtlichen Heilsplans Gottes. Angesichts der Nähe etlicher ihrer Motive zum verhassten Zeitgeist der Aufklärung erstaunt sein Zögern bezüglich einer Veröffentlichung und die Überzeugung, dass er damit den Zeitgeist herausfordern und sich seiner Feindschaft aussetzen werde.17 Vergleicht man die von Menken formulierte Schriftlehre, ihre anthropologischen und christologischen Aussagen mit der Anthropologie und Jesulogie der Neologie, so treten erstaunliche Übereinstimmungen zutage. Menken sah dies nicht. Deutlich ist: Wo Menkens Dogmatik die Tradition der kirchlichen Orthodoxie verlässt und den Thesen seines Lehrers Collenbusch folgt, gerät er auf die Bahn des Humanismus der Aufklärung, so beim Ersatz der Erbsündenlehre durch das Theologumenon von dem Unrecht eines Erbleidens, das sich durch Adams Unglauben auf alle Menschen übertragen hat. Manchmal wird dieser Humanismus eingeschränkt durch das biblische Wissen Menkens: Die 15 Ebd. 266. 16 Ebd. 267. 17 Menken teilte seine diesbezüglichen Empfindungen und Bedenken seinem Onkel Dreyer in Bremen mit: »Ich weiß alles, theuerster Oheim, was mir deßfalls gesagt werden könnte, habe mir selbst das Alles mit höchster Nüchternheit des Herzens und Verstandes gesagt; ja, ich kenne unsere Zeit, wie sie wenige Menschen kennen – und eben um deßwillen halte ich für das edelste aber bitterste, für das größte aber schwerste Werk und für das höchste Verdienst um die Welt und um die Menschheit: dem Geiste des Zeitalters entgegen zu zeugen und wirken; denn dieser Geist ist aus dem Abgrund und führt in das Verderben.« Gildemeister, Leben und Wirken I, 156 f.

Die Prüfung Adams und das Unrechtleiden seiner Nachkommen

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menschliche Natur sollte sich selbst aus ihrem Verfall wieder heraufarbeiten, doch so, dass dabei aller Ruhm nicht dem Menschen, sondern Gott und dem Sohne Gottes zukommt!

8.2 Anthropologische Voraussetzungen: die Prüfung Adams und das Unrechtleiden seiner Nachkommen Die Versöhnungslehre Menkens hat anthropologische Voraussetzungen, die die Weichen stellen. Die wichtigste ist der Grundsatz, dass alle Menschen geprüft werden müssen. In der Anleitung begründet Menken diese anthropologische Regel mit dem Recht in Gottes ewigem Heilsplan. »Die Ehre Gottes und die Zufriedenheit und Freude der vernünftigen Geschöpfe erfordern es, daß sie alle auf ’s vollkommenste von Gottes Gerechtigkeit, d. h. von Gottes unparteilicher Liebe, überzeugt werden und erkennen, daß Gott mit keinem einzigen Geschöpfe aus willkürlicher Gunst oder Ungunst gehandelt, keines aus Willkür erhöht und keines aus Willkür erniedrigt habe, daß jedes gerade so viel Seligkeit und Herrlichkeit besitze, als es würdig sei, und an der Stelle stehe, wo es stehen muß, wenn die höchste Seligkeit des Ganzen befördert werden soll.«18

Deutlich steht hinter dieser Betonung der Unparteilichkeit Gottes und des Rechts in seinem Wirken die Ablehnung der Prädestinationslehre und hinter der Betonung der weisen Koordination und Subordination im Reich Gottes die Philosophie Leibniz’. Die Notwendigkeit der Prüfung aller Menschen wird von Menken nicht exegetisch, sondern aus seinem Verständnis des Heilsplans Gottes und der göttlichen Gerechtigkeit begründet. Die Vorstellung ist dabei, dass zwar der allwissende Gott solcher Prüfung der Menschen nicht bedarf, die Geschöpfe aber, die Engel und auch der Teufel mit den bösen Geistern, die Gottes Gerechtigkeit in Frage stellen, so von der vollkommenen Unparteilichkeit Gottes überzeugt und die Harmonie und der Friede in der Universalmonarchie des Reiches Gottes gewährleistet werden. Schon die ersten Menschen mussten geprüft werden: »Aber sie bestanden nicht in der Prüfung, sie sündigten. Sie ließen sich zum Unglauben an ein ausdrückliches Wort Gottes und eben damit zum Ungehorsam verführen.[…] Die natürliche Folge ihrer Sünde (oder des Genusses der giftigen tödtlichen Frucht) war, dass sie sterblich und allerlei Elend unterworfen wurden.«19 18 Menken, Schriften VI, 180 f. 19 Ebd. 71 f.

274 Die kenotische Christologie und die Versöhnungslehre Gottfried Menkens Die Annahme, dass die verbotene Frucht des Paradieses vergiftet war, bzw. auf einem Giftbaum gewachsen war, hat Menken vermutlich von Collenbusch übernommen. Nach Emanuel Hirsch stammt sie vom Alttestamentler Johann David Michaelis.20 Typisch für die heilsgeschichtliche Bibelheologie, die wie bei Menken unter dem Einfluss der Württemberger Pietisten steht, ist das Interesse an der Leiblichkeit des Menschen und an den naturhaften Auswirkungen des Glaubens bzw. des Unglaubens. Das Verhalten der ersten Menschen führte zu einem natürlichen Verderben, von dem kein Mensch ausgeschlossen bleibt. Adam und Eva haben die durch ihr Fehlverhalten, durch Unglauben und Ungehorsam korrumpierte menschliche Natur an alle ihre Nachkommen weitergegeben. Alle Menschen werden sündlich und sterblich geboren. An dieser Sündlichkeit und Sterblichkeit tragen sie aber keine Schuld. Als »Folge des übeln Verhaltens ihres Stammvaters in der Prüfung« handelt es sich nämlich um ein »Unrechtleiden«.21 In Ps 103,6 findet Menken mit Collenbusch die Hoffnung ausgesprochen, dass sich Gott in seiner Gerechtigkeit dieses Unrechtleidens annehmen wird: »Er [Gott, H. M.R.] schafft Recht und Gerechtigkeit allen denen, die Unrecht leiden.« Das tragische Schicksal der Nachkommen Adams, »das natürliche Verderben«, wird allerdings »durch eigene Schuld gestärkt und vergrößert«.22 Offensichtlich ist bei diesen anthropologischen Grundsätzen der Gegensatz zur kirchlichen Dogmatik und ihre Nähe zum Humanismus der Aufklärung. Die Lehre von der Erbsünde ist preisgegeben. Das Elend der condition humaine ist zunächst ein Unrechtsleiden, das nach der Theodizee Gottes ruft. Der Gedanke der Prüfung, der alle Menschen unterworfen sind, setzt voraus, dass sie prüfungsfähig sind und einen freien Willen haben. Der Mensch bestimmt durch bewiesenes oder fehlendes Wohlverhalten sein ewiges Schicksal. Das Motiv der Prüfung ist in der Bibel an vielen Stellen nachweisbar.23 Aber es begegnet auch in der antiken Philosophie, bei Platon und in der Stoa: Im abschließenden Statement seiner Apologie sagt Sokrates (nach Platon): »Das ungeprüfte Leben ist nicht wert, gelebt zu werden.« In der Zeit der Aufklärung florierten die Freimaurerlogen. Wolfgang Amadeus Mozart, selbst ein Freimaurer, lässt die Protagonisten seiner Zauberflöte dreifache Prüfungen absolvieren zur Beförderung ihrer menschlichen Reife. Papageno ist ihnen aber – zur Freude des Publikums – nicht gewachsen. Das Motiv der Glaubensprüfung verbindet bei Menken Anthropologie mit Christologie. Es stellt seine an sich berechtigte Verurteilung des Moralismus der Aufklärung in ein Zwielicht und zeigt den Abstand seiner heilsgeschichtlichen Theologie von der zentralen Botschaft der Reformation. 20 21 22 23

Hirsch, Geschichte, Bd. V, 99. Menken, Schriften VI, 75 Ebd. Zu verweisen wäre u.a. auf Gen 22,1, die Rahmenerzählung im Hiobbuch Hi 1 f., Ps 139,23 und die neutestamentlichen Belege, die von der »Versuchung« der Christen reden wie z. B. die letzte Bitte im Vaterunser: Mt 6,13 f.

Die kenotische Christologie Menkens

275

8.3 Die kenotische Christologie Menkens – das Prüfungsleiden des zweiten Adam Jesus Christus und seine Erhöhung zum Alleinherrn und König des Reiches Gottes Jesus Christus wird in Menkens Ausführungen zur Trinitätslehre als »Ebenbild Gottes« bezeichnet.24 Jesus Christus, der Sohn und das Ebenbild Gottes, ist Mensch geworden und hat sich dabei seiner göttlichen Herrlichkeit entäußert.25 Er hat die menschliche Natur angenommen, nicht in ihrer ursprünglichen Form, sondern in ihrer korrumpierten Form, in die sie gekommen ist durch den Unglauben und Ungehorsam der ersten Menschen. Menken beruft sich mit seiner kenotischen Christologie auf den Christushymnus in Phil 2,6–8, auf Röm 8,3 und Hebr 2,14.17. Besonders wichtig ist ihm Röm 8,3: T¹ c±q !d¼matom toO mºlou 1m è Ash´mei di± t/r saqjºr, b he¹r t¹m 2autoO uR¹m p´lxar 1m bloi¾lati saqj¹r "laqt¸ar ja· peq· "laqt¸ar jat´jqimem tµm "laqt¸am 1m t0 saqj¸. Dass Gott seinen Sohn sandte »in der Gestalt des sündigen Fleisches« bezieht Menken auf die im Paradies vergiftete menschliche Natur, die sich zur Sünde reizen und tatsächlich alle Menschen sündigen lässt, bis auf den Einen, der vom Anfang bis zum Ende standhaft geblieben ist und dem Reiz zum Sündigen widerstand: Jesus! Jesus kam also nicht als vollkommener Mensch in die Welt: »Jesus brachte keine menschliche Vollkommenheit mit sich auf die Welt, sondern, so wie andere Menschenkinder, nur Anlage und Fähigkeit; die menschliche Natur mußte sich bei ihm, eben so wie in andern Menschenkindern allmählig entwickeln26; er bedurfte des Unterrichts, er mußte, wie ein anderes Kind, lernen, mußte den Glauben an das Wort Gottes anfangen, bewahren und vollenden.«27

Zu diesem Aspekt der Entwicklung gehört aber vor allem, dass Jesus wie alle Menschen prüfungsfähig war. Er hielt in allen Prüfungen stand, blieb ohne 24 Der Titel Ebenbild Gottes begegnet an verschiedenen Stellen im Neuen Testament: Röm 8,29; 2Kor 4,4; Kol 1,15; 3,10; Hebr 1,3. Der erste Paragraph der Anleitung handelt von Gott, der zweite »von dem Ebenbilde Gottes und von dem heiligen Geist«. 25 Menken bezieht diese Entäußerung in der Anleitung auf die göttliche Allwissenheit und »alles Unendliche, das die endliche menschliche Natur nicht fassen konnte, und das, wenn er es gehabt hätte, verhindert haben würde, daß er ein wahrer Mensch gewesen wäre«. »Ein allmächtiger Mensch z. B. und ein nothwendig unsterblicher Mensch ist kein Mensch wie alle anderen irdischen Menschen.« Menken, Schriften VI, 165. 26 Menken versteht auch die Erschaffung des Menschen zum Bilde Gottes nicht als »anerschaffene« Auszeichnung, sondern als Bestimmung, als Qualität, die der Mensch sich erst anzueignen habe. »›Erschaffen zum Bilde Gottes‹ ist also in einem solchen Sinne zu nehmen, dass der erste Mensch dies Alles nicht gleich wirklich hatte, aber erlangen konnte und sollte. Anerschaffen konnte ihm das nicht werden, aber bei einem guten Verhalten konnte er es erlangen.« Menken, Schriften VI, 71. 27 Menken, Schriften VI, 166.

276 Die kenotische Christologie und die Versöhnungslehre Gottfried Menkens Sünde, opferte sich selbst am Kreuz und stellte damit die menschliche Natur in ihrer ursprünglichen Reinheit wieder her: »Er hätte, wie alle Menschen, sündigen können; aber durch den ewigen Geist, den wir erst durch den Glauben an seinen Namen erlangen, und den er mit in das Fleisch brachte, hat er nicht nur sich selbst bewahrt, sondern sich selbst, sein unsündliches Menschliches, verleugnet, geopfert, getödtet.«28

Jesus wurde geprüft durch die Leiden, denen er ausgesetzt war, vor allem am Ende seines Lebens. Jesus litt freiwillig und unschuldig. »Es waren Züchtigungsleiden, d. h. solche Leiden, die ihn durch besondere Veranstaltungen Gottes, – ihm Gelegenheit zu geben, das allervollkommenste Wohlverhalten zu beweisen und also zur Offenbarung seiner innerlichen Vortrefflichkeit, – durch die Wirkung des Satans, entweder unmittelbar (wie in Gethsemane), oder mittelbar durch seine Werkzeuge (wie Kaiphas, Judas, Pilatus, die Juden) betrafen.«29

Jesus hat von allen Menschen am meisten gelitten, vor allem aufgrund seiner Gottverlassenheit am Kreuz, und er hat in diesen Leiden »das allervollkommenste Wohlverhalten«30 unter allen Menschen bewiesen. Deshalb ist er von Gott durch die Auferstehung von den Toten »von Rechtswegen«31 erhöht worden zum Herrn und König über das All. Er hat damit die göttliche Herrlichkeit, der er sich bei seiner Menschwerdung entäußert hatte, wieder angenommen: Durch den Weg von der Entäußerung seiner Gottheit bei der Annahme der sündlichen menschlichen Natur bis zu seiner Erhöhung zum Herrn und König des Reiches Gottes ist er der zweite Adam geworden, der die Nachkommen des ersten Adam von ihrem »Unrechtleiden« befreit und von der Sünde und dem Tod errettet. Durch sein Verdienst ist er der Mittler unseres Heils geworden. Durch ihn erfahren wir ohne unser Verdienst im Glauben die Rechtfertigung vor Gott, die Vergebung unserer Sünden, durch ihn empfangen wir die Gabe des Heiligen Geistes, der uns ermöglicht, die Sünde zu überwinden, so dass wir schließlich schon zu Lebzeiten ganz frei von der Sünde sein können.32 Dies ist die »Anstalt Gottes zur Seligkeit und Herrlichkeit der Menschen durch Jesus Christus«, wobei Menkens Begriff der »Anstalt« unserem heutigen Wort Veranstaltung entspricht. In dieser Veranstaltung zum Heil des Menschen offenbart Gott seine wichtigsten Tugenden: seine Heiligkeit und seine errettende Gerechtigkeit. 28 29 30 31 32

Ebd. Ebd. 174. Ebd. Ebd. 181 Menken lehrt in der Anleitung: »Die Heiligung kann auf Erden vollendet werden (2 Kor. 7,1), und geht also nicht ins Unendliche fort. Sie hat ihre Stufen (Matth. 5,3–9; 2 Petr. 1,5–7). Diese Dinge müssen allmählig, eins nach dem andern, gelernt werden.« Menken, Schriften VI, 223.

Die kenotische Christologie Menkens

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Menken übernimmt von seinem Lehrer Collenbusch eine im Pietismus entstandene Formel, die ein dreifaches Geheimnis Christi unterscheidet und damit Christologie und Soteriologie, Rechtfertigung und Heiligung des Menschen zusammenbindet: Es ist das Geheimnis Christi für ihn selbst, das Geheimnis Christi für uns und das Geheimnis Christi in uns.33 Menkens kenotische Christologie beruft sich auf die genannten Bibelstellen und kümmert sich nicht um die kirchliche Dogmatik. Die kenotische Christologie Collenbuschs und Menkens macht aus dem Christus der Evangelien einen Menschen, der höchsten moralischen Ansprüchen unterworfen wird, um die korrumpierte menschliche Natur wiederherzustellen. In ihm arbeitet sich die Menschheit (!) wieder zu ihrer ursprünglichen Höhe empor, ja darüber hinaus. Das Ablegen der göttlichen Natur bei der Menschwerdung und ihre erneute Annahme bei der Erhöhung Christi ist eine mythologische Vorstellung, die der Menschlichkeit Jesu eine Eigendynamik gibt, die mit dem Jesusbild der Aufklärung vergleichbar wird.34 Menken und Collenbusch haben die komplizierten Fragen der kirchlichen Zweinaturenlehre nicht bedacht. Es ging ihnen darum, die Kondeszendenz Gottes in Jesus Christus so tief und vollkommen wie möglich zu erfassen. So gewagt, dass Jesus Christus uns Menschen in unserer Sündenverfallenheit ganz solidarisch ist und beinahe selbst zum Sünder wird. Die Versöhnungslehre, die im Zentrum der christlichen Dogmatik steht, steht auch im Zentrum der Bibeltheologie Menkens, im Kontext seiner heilsgeschichtlichen Theologie. Menken hat sie vor allem in seiner Auslegung des Hebräerbriefes (Kap. 9–12) und der alttestamentlichen Geschichte von der ehernen Schlange mit scharfer Polemik gegen die anselmische Versöhnungslehre der kirchlichen Orthodoxie entwickelt. In diesen Auslegungen wird sie auch in den heilsgeschichtlichen Kontext integriert.

33 Collenbusch, Nachlass, 105–113 »Von der Gerechtmachung«; 113–122 »Von der Herrlichmachung«. Menken verwendet dies Schema öfter in seinen Predigten, z.B. in seiner Predigt über Offb 5 in: Schriften V, 505 f. 34 Das Anliegen der altkirchlichen Lehre von der An- bzw. Enhypostasie der menschlichen Natur Jesu findet im kritischen Blick auf die kenotische Christologie Menkens und Collenbuschs seine Berechtigung, wenn man sich auf die Begrifflichkeit und die Denkstruktur der altkirchlichen Theologie einlässt. Vgl. auch »die notwendige Ablehnung jedes abstrakten Jesus-Kultes, d. h. jeder Christologie oder christologischen Lehre oder Praxis, die die menschliche Natur, die geschichtlich–psychologische Erscheinung Jesu als solche zu ihrem Gegenstand machen möchte« bei Karl Barth, KD I/2, 168. Barth würdigt dann aber gerade Menken neben anderen Theologen des 19. Jahrhunderts, die in einer gewagten Aufnahme von Röm 8,3 eine kenotische Christologie entwickelt haben. Ebd. 168 f.

278 Die kenotische Christologie und die Versöhnungslehre Gottfried Menkens

8.4 Die Versöhnungslehre Menkens als Gegenentwurf zum »augustinisch-anselmischen System«35 Gott ist die Liebe. Im Gottesbild Menkens liegt der entscheidende Grund für seine von Collenbusch übernommene Versöhnungslehre, die durchgehend verbunden ist mit einer vehementen Ablehnung des von ihm so benannten »augustinisch-anselmischen Systems der kirchlichen Orthodoxie«: »Gott ist die Liebe; er ist es gewesen in Ewigkeit, ehe die Schöpfung war, und wird es sein in Ewigkeit, so lange die Schöpfung dauert, so unaufhörlich er selbst ist; er ist es im Blick auf das Ganze, und ist es im Blick auf jedes Einzelne; er ist es ganz und gar.«36

Von Anfang an ist Gott ein liebender und kein strafender Gott. So interpretiert Menken die für sein heilsgeschichtliches System wichtige Paradiesgeschichte, und immer wieder ist dabei im Visier die calvinisch-altprotestantische Lehre von einer doppelten Prädestination: »Wer Gott eine Vorherbestimmung zum Bösen oder zum Verderben beimisset, der kann ihn nicht erkennen und anbeten als den ›treuen Schöpfer‹ (1. Petr. 4,19).«37 Aus Liebe habe Gott den Missbrauch der Freiheit bei den vernünftigen Geschöpfen zugelassen, um zum Zwecke der Liebe eine vollkommenere und seligere Schöpfung werden zu lassen. Der Tod war nicht Strafe, sondern die natürliche Folge der Sünde. Gott hat sich nicht abgewendet von den gefallenen Menschen, sondern sich ihnen in Barmherzigkeit zugewendet. Das erkennt Menken vor allem im »Protevangelium«, in der ersten Verheißung, die Gott gab, als er zur Schlange im Paradies sagte: »Und Feindschaft setze ich zwischen dir und der Frau, zwischen deinem Nachwuchs und ihrem Nachwuchs« (Gen 3,15). Gott erließ ihnen die Schuld, aber es blieb das in sie hineingekommene Verderben der Sünde. Den alttestamentlichen Opferkult versteht Menken »als göttliches Institut symbolischer Lehre und Trostes zur Erhaltung des Glaubens an die Verheißung der Versöhnung der Sünde durch die Vernichtung der Sünde in der menschlichen Natur und der Stärkung im Kampf gegen die Sünde«.38 Da sich keine Strafandrohung in der Geschichte vom Fall der ersten Menschen findet, wobei Menken einräumt, dass man den Ausschluss vom Paradies als Strafe verstehen könnte, ist die augustinisch-anselmische Versöhnungs35 Die Versöhnungslehre Menkens wird in der Anleitung zusammengefasst, vor allem in der Beilage B zu Kap. VI: Die Lehre von der Versöhnung betreffend. In ihrem heilsgeschichtlichen Kontext wird sie behandelt in den Homilien über den Hebräerbrief Kap. 9.10.12 und in der exegetisch-dogmatischen Schrift Die eherne Schlange. Sie ist Menken so wichtig, dass er, entgegen seiner Absicht, in seinen Homilien nicht auf die kirchliche Dogmatik einzugehen, immer wieder darauf zu sprechen kommt. 36 Menken, Schriften VI, 189. 37 Ebd. 38 Ebd. 190 f.

Die Versöhnungslehre Menkens

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lehre in Bausch und Bogen abzulehnen, vor allem die Behauptung, die Strafe für die menschliche Sünde sei so groß, dass sie von keinem Menschen beglichen werden könne: »Es findet sich in dieser Geschichte kein Wort Gottes, das die Menschen hätte glauben machen können, das menschliche Verderben und Elend bestehe nur darin, daß der Mensch nicht stark genug sei, die verdiente Strafe ertragen zu können; Gott zürne unversöhnlich mit den Menschen, bis ein gewisses Quantum der Strafe, das alles menschliche Vermögen übersteige, erduldet sei; wenn nur einmal irgend Einer aus den Menschen stark genug sein würde, die verdiente und von Gott unwandelbar beschlossene Strafe ertragen zu können, wo würde damit die Schuld des Menschengeschlechts abgetragen, das Verderben der menschlichen Natur aufgehoben, die Welt mit Gott versöhnt und das Paradies wieder geöffnet sein. So zu denken hinderte sie das Evangelium von der Wiederherstellung; das Wort der Gnade ließ Gnade und Heil erwarten.«39

Schon die ersten Menschen wussten, dass ihre Schuld in Ungehorsam aus Unglauben bestand und mit nichts anderem bezahlt werden konnte als mit dem Gegenteil: Gehorsam und Glaube. Menken fragt: »Kann eine ewige, allweise, allmächtige, allgenugsame Liebe, die obwohl sie das ist, doch ewig strafen will, oder ewig strafen muß, gedacht werden?«40 Antwort: »Das Verderben kann ihr Ziel nicht sein; dann wäre sie nicht die Liebe. Will sie ewig strafen, ist das ihr Zweck; so ist sie nicht die Liebe. Muß sie ewig strafen, so fehlt es ihr an Mitteln, an Weisheit oder Macht, an Licht und Leben – sie ist eingeschränkt, sie kann nicht zu ihrem Ziel kommen.«41

Doch menschliche Gedanken sind in der Erkenntnis Gottes und im Verständnis der Versöhnung nicht maßgeblich. Entscheidend ist für Menken: »Was sagt die Schrift? Wie belehrt uns Gottes Wort über Gottes Anstalt zur Wiederherstellung und Seligkeit der Menschen?«42 Menkens Antwort ist eine exegetische Entdeckung, die er nicht oft genug betonen kann und die seine (und schon Collenbuschs) Versöhnungslehre trägt: »Die Schrift sagt: Gott hat die Welt mit ihm selber versöhnet durch Jesum Christum. Sie sagt nicht und niemals, dass Gott sich versöhnet habe mit der Welt, oder dass Jesus Christus Gott versöhnet habe mit uns; immer umgekehrt, dass er uns versöhnet habe mit Gott.«43 39 40 41 42 43

Ebd. 191. Ebd.192. Ebd. Ebd. Ebd.

280 Die kenotische Christologie und die Versöhnungslehre Gottfried Menkens Was Gott und Mensch trennt, liegt nicht in Gott, sondern im Menschen, und das ist die Sünde. Die Versöhnung des Menschen mit Gott musste darin bestehen, die Sünde aus der menschlichen Natur hinwegzunehmen, »die menschliche Natur in sich selbst unsündlich zu machen«.44 Das war keinem Menschen möglich. Das vollbrachte Jesus Christus, der andere Adam, den Gott den Menschen gab: »Der andere Adam war der im Paradies verheißene Weibessohn, der Sohn der Jungfrau Maria, Jesus Christus, der Herr vom Himmel. Dem hat, wie er selbst bezeuget, Gott den adamischen Leib zubereitet, und hat ihn in der Gestalt des sündlichen Fleisches in die Welt gesendet, damit er also das Sündopfer werde für die Sünde der Welt, wenn er selbst sich ohne allen Wandel Gott opfern würde durch den ewigen Geist; oder, unsere Sünde, die menschliche Sünde, in seinem angenommenen menschlichen Leibe opfern, tilgen, vernichten würde an seinem Kreuze.«45

Wenn die Schrift (in Röm 5,12–21) den ersten Adam und den anderen Adam einander gegenüberstelle, so bedeute dies in Bezug auf die Sünde und die Versöhnung der Sünde, »daß die Gerechtigkeit und der Gehorsam Christi die Ursache sei für die Rechtfertigung des Lebens, die seinetwegen über alle Menschen gekommen, nicht eine körperliche oder geistliche Stärke in Erduldung einer überschwänglichen Strafe«.46 Nirgendwo werde in der Schrift gesagt, dass Jesus Christus für die Sünden der Menschen gestraft sei und durch erduldete Strafe die Versöhnung bewirkt habe. Menken scheut sich deshalb nicht, die entsprechenden Aussagen des in der reformierten Kirche hoch angesehenen Heidelberger Katechismus in schärfster Form zu verurteilen: Man dürfe wohl sagen, »es sei vielleicht das Unbesonnenste, was je eine christliche Feder niedergeschrieben, was der Heidelb. Katechismus in dummdreister Vermessenheit auszusprechen wagte, dass unser Herr an Leib und Seele die ganze Zeit seines Lebens den Zorn Gottes getragen habe. Ja, dieser Katechismus hat an der widernatürlichen Anhäufung des Zornes Gottes und des Leidens Christi ein solches grausames Wohlgefallen, dass er das sogar gern, wenn’s möglich wäre, über Tod und Grab ausdehnen möchte, indem er das Biblische ›getödtet, ist er hingegangen zu den Geistern im Gefängniss‹ oder das Kirchliche ›abgestiegen zu der Hölle‹ von Leiden und Anfechtungen der Seele Jesu Christi, gegen den klaren Buchstaben der Schrift zu deuten wagt.«47 Menken übersieht natürlich nicht, dass die Bibel durchaus vom Zorn Gottes spricht. Gottes Zorn droht den Ungläubigen und den Gottlosen im Blick auf das Jüngste Gericht, wie es z. B. Johannes der Täufer bezeugte. Menken besteht 44 45 46 47

Ebd. 192 f. Ebd. 193. Ebd. 193 f. Ebd. 176.

Die Versöhnungslehre Menkens

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aber darauf, dass Zorn nicht »das Prinzip oder das primum Agens in Gott«48 bei der Versöhnung der Menschen in und durch Jesus Christus gewesen sei, sondern ausschließlich Gottes Liebe und Erbarmen. Eine »störende« Bibelstelle wie Eph 2,3, in der der Verfasser des Epheserbriefes – für Menken Paulus – von sich und seinen Christengemeinden bekennt: »Wir alle waren Kinder des Zorns von Natur gleich wie auch die Andern« weiß Menken in einer ausführlichen exegetischen Abhandlung49 so zu interpretieren, dass auch sie in sein System passt: »Kinder des Zorns von Natur« sei als genetivus subjectivus zu lesen und nicht auf den Zorn Gottes, sondern auf den Zorn der Menschen zu beziehen. Menken ist davon überzeugt, dass nirgendwo in der Heiligen Schrift die Rede sei von einer Strafe, die Jesus Christus als Mittler und Versöhner des Menschengeschlechts für die Sünde der Welt erduldet habe. Es gibt aber nun doch eine alttestamentliche Stelle, in der der Begriff der Strafe vorkommt – jedenfalls in den gängigen Übersetzungen – und die als Hauptbeleg der kirchlich-orthodoxen Versöhnungslehre fungiert: Jes 53,5! Damit setzt sich Menken ausführlich in der Anleitung auseinander.50 Es ist ihm unbegreiflich, dass diese eine Stelle in der kirchlichen Orthodoxie ein solches Gewicht bekommen habe, und er unterstellt der Orthodoxie, dass sie mehr die Schrift an ihr dogmatisches System angepasst als die Schrift wirklich ernst genommen habe: »In der ehrlichen Voraussetzung, daß die kirchliche Orthodoxie die eigentliche und die einzige sei, daß an ihr kein Fehler, kein Mangel, kein Zuviel und kein Zuwenig, und nichts Fremdartiges in Begriffen und Worten hafte, lag mehr daran, in unverletzter Gemeinschaft mit der Kirche, kirchlich orthodox, als in innigster Harmonie mit der Schrift, biblisch orthodox, zu sein und erfunden zu werden. Man sagte zwar, die heilige Schrift sei die höchste Instanz und Auktorität in Sachen der Lehre und Erkenntniß; in der That aber waren es die symbolischen Bücher der Kirche, oder das kirchlich-orthodoxe System. Denn die Auslegung der Schrift wurde so getrieben und gefaßt, daß es immer darauf ankam und darauf hinging, die Uebereinstimmung der Propheten und Apostel mit den symbolischen Büchern zu zeigen, wenn gleich dies in einer solchen Form geschah, daß man meinte und meinen machte, es sei nur darauf abgesehen, die Uebereinstimmung des kirchlich-orthodoxen Systems mit der Bibel darzulegen.«51

Menken beruft sich dann auf die alte hermeneutische Regel, dass eine einzige Bibelstelle nicht maßgebend sein kann, wenn eine Mehrzahl von Stellen da48 Menken, Schriften VII, 273. 49 Der Aufsatz Gedanken über Ephes. 2,3 mit einem Anhang über Joh. 3,36 ist aufgenommen in: Menken, Schriften VII, 267–280. 50 In Beilage B u. C zu Kap. VI der Anleitung: Menken, Schriften VI, 189–208. 51 Menken, Schriften VI, 194.

282 Die kenotische Christologie und die Versöhnungslehre Gottfried Menkens gegen spricht. Das sei hier der Fall: »Gegen diese durchgängige, allüberall in der Schrift ertönende Lehre [Menkens eigene Versöhnungslehre, H.M.R.] kann eine einzige Schriftstelle nichts ausrichten.« Menkens Argumente gegen den Gebrauch von Jes 53,5 als Hauptstütze der kirchlich-orthodoxen Versöhnungslehre sind folgende: Das mit »Strafe« übersetzte hebräische Wort LA9B bedeute in vielen Stellen – z. B. Weish 15,31f – nicht »Strafe« in politischer, gerichtlicher, noch weniger in religiöser Hinsicht – sondern »etwas Ethisches, Pädagogisches, Doktrinelles«, das »synonym« sei und »parallel« mit »Lehre, Anweisung, Zucht, Ueberweisung«.52 Diese Übersetzung ermöglicht es Menken, Jes 53,5 als Weissagung auf den Glaubens- und Heiligungsweg Jesu zu beziehen, auf das vollkommene Wohlverhalten, das er in seinen Prüfungsleiden bewiesen habe. Schließlich weist Menken darauf hin, dass Jes 53,5 kein göttlicher Ausspruch ist und auch nicht ein Wort des Propheten Jesaja. Es wird von uns unbekannten Juden gesprochen, die Menken zusammensieht mit den Juden, die Jesus ans Kreuz brachten: »Es ist ein Wort und Urtheil der Juden, die Jesum Christum verworfen und gekreuziget haben, und erschreckt und erschüttert durch die großen Dinge, die seinen Tod begleiteten, in Furcht geriethen und mit Reue erfüllt wurden.«53

Und Menken fragt rhetorisch und muss folglich das Nein gar nicht mehr aussprechen: »Kann das Urtheil dieser Juden bei Jesajas etwas gelten gegen den Ausspruch des Sohnes Gottes: ›Also hat Gott die Welt geliebet – ?‹ kann er etwas gelten gegen den Ausspruch des Apostels Johannes: ›Gott ist die Liebe. Daran ist erschienen die Liebe Gottes gegen uns, dass Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, dass wir durch ihn leben sollen. Darinnen steht die Liebe Gottes: nicht, das wir Gott geliebet haben, sondern dass er uns geliebet hat, und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden?‹«54

Auch Gal 3,13 ist nach Menkens Überzeugung kein Beleg für das Verständnis des Kreuzestodes Jesu als göttliche Strafe. Paulus sagt dort: »Christus hat uns freigekauft vom Fluch des Gesetzes, indem er für uns zum Fluch geworden ist« und bezieht sich auf eine Aussage im Buch Deuteronomium: »Es steht nämlich geschrieben: Verflucht ist jeder, der am Holze hängt« (Dtn 21,23). Wenn man genau hinschaue, entdecke man, dass Paulus in diesem alttestamentlichen Zitat die Worte »bei Gott« weggelassen habe. Und dies mit gutem Grund, denn Paulus habe ganz sicher nicht daran gedacht, dass Jesus Christus »ein Fluch und Abscheu« vor Gott gewesen sei und wollte auch keinen Menschen ver52 Menken, Schriften VI, 196. 53 Ebd. 199. 54 Ebd. 199.

Errettende anstatt strafender Gerechtigkeit

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anlassen, dies zu denken: »Er läßt die Worte bei Gott hinweg, und so bleibt der Fluch bei den Menschen allein übrig.«55

8.5 Errettende anstatt strafender Gerechtigkeit – die Versöhnung Gottes im Zeugnis der ganzen Schrift 8.5.1 Die Perikope von der bronzenen Schlange in Num 21,1–9 Die Versöhnung der Menschen durch Jesus Christus ist für Menken kein isoliert stehendes, unabhängiges Lehrstück. Sie ist integriert in die ganze Schrift. Sie ist das Zentrum des heilsgeschichtlichen Systems, im Alten Testament sukzessive und immer deutlicher angekündigt, im Neuen Testament als Wirklichkeit bezeugt. Wie dargelegt wurde, ist Menken davon überzeugt, dass die kirchlich-orthodoxe Versöhnungslehre keine biblische Begründung hat. Sie ist auch in der kirchlichen Dogmatik ein nicht integriertes, sondern ein isoliertes Lehrstück.56 Wenn die Versöhnungslehre biblisch sein will, dann muss sie in Verbindung stehen mit dem »geoffenbarten Geheimnis des Rats und der Werke Gottes, das den Inhalt der Schrift ausmacht«.57 Die biblische Vernetzung seiner Versöhnungslehre entdeckt Menken in der alttestamentlichen Geschichte von der ehernen Schlange (Num 21,4–9), und er findet sie bezeugt im Hebräerbrief des Neuen Testaments. Auf Menkens exegetisch-dogmatische Schrift Die eherne Schlange und das symbolische Verhältniss derselben zu der Person und der Geschichte Jesu Christi wurde bereits eingegangen im Zusammenhang seiner alttestamentlichen Hermeneutik.58 Die Exegese von Num 21,4–9 wird hier zur Dogmatik, nämlich zu einer breiten Entfaltung der Versöhnungslehre Menkens. 55 Ebd. 202. 56 Einen Bundesgenossen findet Menken in Johann Caspar Lavater und zitiert aus Lavaters Schrift Briefe über die Schriftlehre von unsrer Versöhnung mit Gott durch Christum. Auch Lavater lehnt den Gedanken, dass eine Sünde eine unendliche Beleidigung Gottes sei, ab und findet in der ganzen Schrift keine Begründung für die orthodoxe Versöhnungslehre: »Ich wende mich von diesem mir undenkbaren Gedanken und sage nur: Kein Wort davon steht in meiner Bibel, kein Wort in den Aeusserungen Jesu, kein Wort in der Apostelgeschichte, kein Wort in den apostolischen Briefen, obgleich darin von dem Tod Jesu für uns, um unsertwillen, und an unserer Statt so viel steht. Ueberall kein Wort von der Sünde, als einer Beleidigung Gottes, geschweige von der Unendlichkeit einer Beleidigung Gottes, […]. Nie spricht die Schrift von einem Zorn Gottes, der durch das Blut Christi gekühlt und gestillt werden sollte, oder mußte; nie von einem Zorn gegen den Mittler, als Stellvertreter, als repräsentativen Büßer der Sünden des Menschengeschlechts.« Zitiert in: Schriften VI, 401 Anm. 57 Menken, Schriften VI, 401 (Eherne Schlange). 58 Vgl. oben Kap. 7.4.

284 Die kenotische Christologie und die Versöhnungslehre Gottfried Menkens Gott lässt die eherne Schlange errichten aus Liebe und Mitleid. Deshalb ist dies alttestamentliche Symbol keine Vorankündigung der kirchlich-orthodoxen Versöhnungslehre, denn in diesem System siegt der Zorn über die Liebe, wie Menken in einer kurzen Zusammenfassung seines Verständnisses dieses Systems betont. Im Alten Testament findet sich nirgendwo die Andeutung des Kreuzestodes Jesu. Wenn die israelitischen Paniere in der Wüste die Form eines Kreuzes hatten, so wäre dies eine Andeutung, die keiner so gut verstehen konnte wie der schriftkundige Jesus. Ihm wurde von Gott damit mehr gesagt, als dass er gekreuzigt werden würde, und die Schlange, das Bild des Teufels, konnte nicht ein Symbol für Jesus sein. Ihm wurde damit gesagt: Moses habe die Sünde »in effigie, bildlich, symbolisch gekreuzigt, an ihm und durch ihn werde die Sünde effektuell, reell und wahrhaftig gekreuzigt, und so durch ihn die Schlange, als solche, getödtet […]; um Teufel und Sünde zu überwinden und zu zerstören, müsse er gekreuzigt werden«.59 Menken fragt: Wie ist das, was Moses symbolisch andeutete, durch Jesus Christus Wirklichkeit und Erfüllung geworden? Und antwortet mit einer kurzen Zusammenfassung seiner Soteriologie: »Dadurch, daß Er, in der Gestalt und Aehnlichkeit des sündlichen Fleisches in die Welt kommend, in einem Leibe des Fleisches in dieser Welt lebend, nicht nur sich selbst vor aller wirklichen Sünde bewahrt, von aller Sünde rein erhalten, sondern die Aehnlichkeit des sündlichen Fleisches seiner menschlichen Natur aufgehoben, vernichtet, die menschliche Natur in seiner Person unsündlich gemacht, und als ein Mensch, der sündigen, leiden, sterben konnte, unter den schrecklichsten Umständen, unter den heißesten Anfechtungen und Prüfungen, ohne besondere Hülfe von Gott, vielmehr im allerheißesten Kampfe von Gott verlassen, eine Gerechtigkeit, ein Wohlverhalten, eine Göttlichkeit der Gesinnung und des Wesens bewiesen hat, die vor Gott würdig erfunden wurde, aufzuwiegen und zu vergüten die menschliche Sünde überhaupt, die Ungerechtigkeit, die Schlechtheit, das Ungöttliche der menschlichen Natur und des menschlichen Wesens, und dem Menschengeschlechte ein neues Verhältniß mit Gott, Vergebung der Sünde, Mittheilung des göttlichen Geistes zu göttlichem Leben und Wandel, und Hoffnung und Anwartschaft zu den höchsten Herrlichkeiten des Reiches Gottes zu erwerben.«60

Auffallend ist im Vergleich mit der orthodoxen Versöhnungslehre, dass Menken die Versöhnung nicht auf die menschliche Schuld bezieht, sondern auf die Sünde. Menken knüpft hier an die Soteriologie der Alten Kirche an, die

59 Menken, Schriften VI, 389. 60 Ebd. 397 f.

Errettende anstatt strafender Gerechtigkeit

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in den Kirchen des Ostens lebendig blieb und sich von der Kirche des Westens unterschied.61 Dies wird noch deutlicher im letzten Teil der Ehernen Schlange, in dem sich Menken mit der Satisfaktionstheorie Anselms auseinandersetzt. Neben den bereits genannten Argumenten62 zu ihrer Ablehnung betont Menken, dass es in der Versöhnung Gottes mit uns Menschen nicht so sehr um die menschliche Schuld oder das Schuldbewusstsein gehe, sondern um die Sünde, die die menschliche Natur verdorben hat und weiter verdirbt: »Die Schuld ist das Geringere; die Sünde ist das Schwerere und Tiefere, Wurzel und Quelle aller Schuld. […] Mit der erlassenen Schuld ist der Schaden und das Verderben der Sünde nicht geheilt und hinweggenommen, die unheilvolle Quelle immer neuer Schuld nicht versiegen gemacht; wenn das Gesetz auch aufhörte zu verdammen, so würde die durch die Sünde verderbte Natur nicht aufhören, in sich selbst unselig zu sein, und nicht ablassen immer von neuem und in vergrößertem Masse unselig zu machen.«63

Die Überwindung des Teufels und der Sieg über den Tod werde im Neuen Testament verknüpft mit dem Tod des Herrn. Dieser werde im NT aber nirgendwo als Strafe dargestellt, wodurch der Zorn Gottes versöhnt und gestillt sei, vielmehr »als das Opfer, wodurch die Welt oder die Sünde der Welt versöhnt ist – die Erfüllung aller bildlichen Opfer von Weltbeginn her: Aufopferung, Vernichtung der Sünde der menschlichen Natur und des Menschengeschlechts in der Person seines Mittlers und Heilandes. […] Das gläubige Anschauen der ehernen Schlange in der Wüste gab irdisches Leben; das Schauen des Glaubens auf den gekreuzigten Christus giebt ewiges Leben. Sterbend für uns hat er uns vorgesiegt und für uns gesiegt; hat in seinem Tode und Siege die Welt der Sünde und des Todes überwunden, und unser Glaube ist auch der Sieg, der die Welt überwindet.«64

8.5.2 Der Hebräerbrief Der Hebräerbrief gehört mit den apokalyptischen Büchern des Alten und des Neuen Testaments zu den Lieblingstexten der heilsgeschichtlichen Theologen. Auf den Homilienzyklus über Hebräer 11 wurde bereits eingegangen. Am Ende seines Lebens hat Menken noch 13 Homilien über das neunte und zehnte Kapitel des Hebräerbriefes »nebst einem Anhang etlicher Homilien über 61 62 63 64

Vgl. dazu den folgenden Abschnitt Dogmatische Analyse und Kritik. Vgl. Kap. 8.4. Menken, Schriften VI, 400. Menken, Schriften VI, 406 u. 411.

286 Die kenotische Christologie und die Versöhnungslehre Gottfried Menkens Stellen des zwölften Kapitels« veröffentlicht.65 In zehn Homilien zu Hebr 9 und in drei Homilien zu Hebr 10 erklärt Menken seiner Gemeinde die Einrichtung des heiligen Zeltes, den priesterlichen Dienst und den Opferkult, wie er von Moses am Sinai angeordnet wurde, nach dem christologischen Verständnis des Hebräerbriefes. Und er findet in der typologischen Deutung des Opferkultes in Israel, die der vermutlich für Judenchristen bestimmte Hebräerbrief entfaltet, die biblische Begründung für seine im gesamtbiblischen Kontext verankerte Versöhnungslehre und Soteriologie. Durch all diese Homilien zieht sich die dem Hebräerbrief entlehnte Typologie der »Bilder und Schatten« (Altes Testament) und des »Wesens und der Wirklichkeit« (Neues Testament). Vorausgesetzt ist eine durchgehend christologische Auslegung der Schrift: »Jesus Christus, der eingeborene Sohn des Vaters, der im Anfang war, bei Gott und mit Gott, das ewige Ebenbild des einen, ewigen, unsichtbaren Gottes […] ist der Mittelpunkt der ganzen heiligen Schrift; zu ihm strebt alles hin, von ihm geht alles aus, auf ihn führt alles zurück, alles steht mit dem Unterricht und der Lehre von ihm in Verbindung; und so ist er überall, und die heiligen Schriften zusammen machen ein einiges göttliches Zeugniß von ihm aus.«66

Als Hohepriester ist Jesus Christus der Erfüller und Vollender dessen, was im alttestamentlichen Priestertum angekündigt und als Schatten kommender Wirklichkeit vorgebildet war. Im Hebräerbrief findet Menken auch eine Bestätigung seines dualen Weltbildes, das dem Supranaturalismus seiner heilsgeschichtlichen Theologie entspricht: Die irdische und die himmlische Welt sind getrennt und doch aufeinander bezogen. Das irdische Heiligtum Israels war »eine schwache Nachbildung« des »wahrhaftigen, wesentlichen Heiligthumes« Gottes im Himmel, »wovon Gott den Moses auf dem Berge Sinai ein Bild hatte sehen lassen«.67 Bei der Kreuzigung Jesu zerriss der Vorhang im Tempel zu Jerusalem, der das Heiligste vom Heiligen trennte. Das irdische Heiligtum hatte seine Funktion erfüllt und war nun sinnlos geworden. Jesus Christus hat sich selbst als Sündopfer gegeben und die sündige menschliche Natur durch seinen Kreuzestod vernichtet. Er ist als unser Hohepriester mit seinem vergossenen Blut in das himmlische Heiligtum eingegangen und hat dieses einmalige Opfer 65 Sie wurden überwiegend gehalten in den Jahren 1821 (Hebr 9), 1796, 1811, 1817, (Hebr 10) und 1821 bis 1823 (Hebr 12). Karl Hermann Gildemeister teilt in der Vorbemerkung mit, dass Menken starb während des Abdrucks und dass Christoph Hermann Hasenkamp Menken versprochen habe, aus den nicht aufgeschriebenen, aber in zahlreichen Nachschriften kursierenden Homilien über die acht ersten Kapitel des Hebräerbriefes »die Goldkörner auszulesen und sie nach freiem Gutdünken zu einer eigenen Abhandlung […] zu verarbeiten und herauszugeben«. Menken, Schriften III, 277 f. Zur Einlösung dieses Versprechens ist es nicht mehr gekommen. Hasenkamp starb 1835. 66 Menken, Schriften III, 327 (6. Homilie zu Hebr 9.13.14). 67 Menken, Schriften III, 322 f (5. Homilie zu Hebr 9,11.12).

Dogmatische Analyse und Kritik

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gebracht, das dem menschlichen Opferdienst ein Ende setzt. So nimmt Menken die kultische Vorstellungswelt des Hebräerbriefes auf und verwendet sie zur Darstellung seiner von Collenbusch übernommenen Versöhnungslehre. Das »dreifache Geheimnis Christi«, in dem diese Versöhnungslehre zusammengefasst wird, ist bereits im Alten Testament, und zwar im religiösen Kult Israels vorgebildet, wie es nicht nur im Hebräerbrief, sondern auch im Römerbrief verkündet wird: »So war wirklich die Summe der ganzen jüdischen Theologie keine andre als jene, die der Apostel im Briefe an die Römer als solche angiebt: Christus ist des Gesetzes Ende, Jedem der an ihn glaubt zur Gerechtigkeit. Das Gesetz des Heiligthums, der heilige Dienst des Priesterthums lehrte und predigte, prophezeihete und evangelisirte allüberall von Christus, stellte in mancherlei Symbolen und symbolischen Handlungen das ganze dreifache Geheimniss Christi dar: Christus in Absicht auf ihn selbst, wie er durch seine Erniedrigung zum Ueberwindungstode sich würdig machte erhöhet zu werden über alles; Christus für uns wie er in dem Werthe und der Gültigkeit seines Opfers uns Vergebung der Sünde erwarb; und Christus in uns, unsre Hoffnung der Herrlichkeit von wegen der Kraft seines Blutes zur Reinigung unsers Herzens und Gewissens von Werken der Sünde und des Todes.«68

8.6 Dogmatische Analyse und Kritik Es ist ein erstaunliches Phänomen, dass die Lehre Anselms von Canterbury (1033–1109) von der stellvertretenden Genugtuung Christi oder seine Satisfaktionstheorie, die er in der Schrift Cur deus homo (verfasst vermutlich zwischen 1093 und 1097) entfaltete, über Jahrhunderte, ja, inzwischen ein ganzes Jahrtausend lang in den offiziellen Bekenntnissen der Kirchen, in der christlichen Frömmigkeit und in der abendländischen Kultur zur beherrschenden Tradition geworden ist. Dies besonders deshalb, weil Anselms Lehre nur eine schmale Verankerung im Neuen Testament hat. Es gibt daneben noch andere Deutungen des Kreuzes Jesu als Heilsereignis. Anselms Lehre wurde beherrschend. Sie war aber nie ganz unbestritten. Mit dem Einsetzen der Neuzeit und dem Eindringen humanistischen Denkens in den Zeitgeist nahmen die Angriffe auf Anselm zu.69 68 Menken, Schriften III, 362. 69 Einen ausführlichen theologiegeschichtlichen Überblick gibt Wenz, Versöhnungslehre. Hilfreich ist auch Sauter, »Versöhnung« als Thema der Theologie. Am Anfang der scharfen Attacken auf Anselm steht Fausto Sozzini (1539–1604) und die Bewegung der Sozzinianer. Dazu Wenz, Versöhnungslehre, 100: »Wer sich mit der Geschichte der Versöhnungslehre beschäftigt, steht bald vor der Frage, was eigentlich Anselm wirklich gesagt und gewollt hat, und wie seine Lehre nach ihm rezipiert wurde.« In einer Reihe sorgfältiger

288 Die kenotische Christologie und die Versöhnungslehre Gottfried Menkens »Der kecke Griff nach der Bibel und die davongetragene Beute«: Barths zugespitzte Charakterisierung des biblizistischen Unternehmens Menkens lässt sich auch an seiner Versöhnungslehre verifizieren. Es geht um exegetische Entdeckungen, die für theologische Konzepte einer Versöhnungslehre bis heute verbindlich sind: Gott ist Liebe und von Anfang an kein Feind des Menschen. In Gott ist keine Feindschaft gegen die Menschen, die versöhnt werden musste. Die Sünde ist, was den Menschen von Gott trennt und ihn zum Feind Gottes macht. Und so ist Gott das Subjekt und nicht das Objekt der Versöhnung. Das primum agens im versöhnenden Handeln Gottes ist seine Liebe und nicht sein Zorn. Fragt man genau, wie sich das versöhnende Handeln Gottes vollzieht, so wird das leitende Interesse Menkens deutlich. Es geht um die Befreiung des Menschen von der durch Adams Unglauben und Ungehorsam korrumpierten menschlichen Natur. Die postlapsarische menschliche Natur ist sozusagen infiziert von der Neigung zur Sünde und schlieslich dem Tod verfallen. Dass der Verlust des Paradieses als Strafe angesehen werden kann, räumt Menken ein. Aber er sieht im Protevangelium bereits ein Wort der Vergebung an die ersten Menschen. Die Versöhnung des Menschen mit Gott ist also vor allem ein physisch-real verstandenes Geschehen. Es wird möglich durch die Menschwerdung Christi, durch die Sendung des Sohnes Gottes »in Gestalt des von der Sünde beherrschten Fleisches«, der ans Kreuz geht »als Sühnopfer«, um so »die menschliche Natur zu versöhnen, zu heiligen, sie in seiner Person wieder unsündlich vor Gott darzustellen, damit sie alsdann auch von Gott in seiner Person vor Engeln und Menschen unsterblich und herrlich dargestellt werde«.70 Menken nimmt mit dieser physisch-realen Tendenz seiner Versöhnungslehre das Hauptanliegen der altkirchlichen Soteriologie auf, die primär an der Erlösung des Menschen vom Todesschicksal interessiert ist und nicht an der Vergebung der Schuld, an Buße und Gnade. Menken beruft sich denn auch auf Irenäus und weiß sich in Übereinstimmung mit ihm.71 Analysen seiner Werke und besonders seines Hauptwerkes Cur deus homo? wird Anselm neu gewürdigt, und es werden Fehldeutungen seiner Theologie in ihrer mächtigen Wirkungsgeschichte herausgestellt. Vgl. die Aufsätze von Pesch, Anselm von Canterbury, 57–73; Greshake, Erlösung und Freiheit, 323–345 und Plasger, Die Notwendigkeit der Gerechtigkeit, 19. 70 Menken Schriften VI, 193. 71 In seiner Schrift Die eherne Schlange zitiert Menken mehrfach aus Adversus haeresis, u.a. die Erklärung des Irenäus zu Röm 8,3: »Et ipse (filius Dei) in similitudine carnis peccati factus est, uti condemnaret peccatum, et jam quasi condemnatum projeceret illud extra carnem, provocaret autem in similitudinem suam hominem.« Adv. Haer. lib. III, c. 22. Dazu bemerkt Menken: »Schon aus dieser einzigen Erklärung würde genugsam erhellen, dass diesem heiligen Manne, im zweiten Jahrhundert, jene Darstellung der Versöhnung, die durch Jesus Christum geschehen ist, die in den späteren Jahrhunderten die vulgäre und orthodoxe Vorstellung der Kirche wurde und noch ist, völlig fern und fremd gewesen sei; aber überall, wo er davon redet, herrscht in seinen Aesserungen eine ganz andere, im Wesentlichen mit der oben ausgesprochenen ganz übereinstimmende Ansicht – (zu deren charakteristischer Eigenthümlichkeit […] besonders

Dogmatische Analyse und Kritik

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Da nicht Gott mit dem Menschen, sondern der Mensch mit Gott versöhnt werden muss, verlagert sich der Prozess der Versöhnung auf die Seite des Menschen. Anthropozentrismus ist ein weiteres Kennzeichen der Versöhnungslehre Menkens. Durch die kenotische Christologie war es möglich, Jesus in die größtmögliche Solidarität mit den Menschen zu bringen, bis hin zur Teilhabe an der Reizbarkeit und Versuchung zur Sünde. Der Weg Jesu zum Kreuz konnte als Weg vollkommener menschlicher Entwicklung, als ein Weg des Glaubens, der sich auch in den größten Prüfungen, im heißesten Leiden bewährte, verstanden werden. So habe in der Person ihres Hauptes und Herrn die Menschheit über Sünde und Tod gesiegt, sich aus ihrem Verfall nicht nur zu ihrer ursprünglichen Würde wieder hinaufgearbeitet, sondern sei in ihm zur allererhabensten Herrlichkeit erhöht – wie Menken in seiner Osterpredigt über Röm 14,9 ohne Bedenken sagen und das Osterfest zur Feier der möglichst höchsten Verherrlichung der menschlichen Natur erklären kann. Die Anklänge an das humanistische Ideal der Aufklärung sind offensichtlich: Der Mensch soll seine Anlagen entwickeln zu vollkommener Menschlichkeit. Das tugendhafte Leben des Aufklärers, das belohnt wird durch Glückseligkeit auf Erden und im Himmel, entspricht dem Wohlverhalten bei Menken, das von Gott belohnt wird. Die Aufklärung hat kein Verständnis für die reformatorische Rechtfertigungslehre. Aber auch bei Menken tritt sie zurück. Die Schuld des Menschen ist das geringere Problem und das kleinere Übel. Die Sünde als Defekt der menschlichen Natur ist das Hauptproblem. Das eigentliche Interesse liegt nicht auf dem Christus für uns, sondern auf dem Christus in uns, auf der Heiligung, die möglich wird durch die Gabe des Geistes Gottes bis zur völligen Freiheit von der Sünde. Man kann die Antwort Anselms auf die Einwände seines Dialogpartners Boso in Cur deus homo? – bis in die Gegenwart zugunsten Anselms ins Feld geführt – auch Menken entgegenhalten: »Nondum considerasti, quanti ponderis peccatum.«72 Jesus ist der Anfänger und Vollender des Glaubens. Der Glaubensweg Jesu ist für die Christinnen und Christen das Vorbild auf dem Weg ihrer eigenen Heiligung: »Jesus Christus ist das allervollkommenste Vorbild der Menschen. Nach ihm allein sollen wir uns bilden. […] Wie wir Ihm hier auf Erden, in seiner die bei derselben zu Grunde liegende durchgängige und oft so stark hervorgehobene Rücksicht auf die Schlange, oder auf den Teufel und das durch die Sünde zwischen ihr und dem Menschengeschlecht eingetretene Verhältniß gehört).« Menken, Schriften VI, 398, Anm. Heiner Faulenbach entdeckt bereits in der Christologie Collenbuschs die Nähe zu Irenäus: »Älteste christliche Theologie, wie die eines Irenäus, wird hier (in der Kenosis-Lehre Collenbuschs und in der möglich gewordenen Erhebung und Verherrlichung des Menschen durch Christus) von Collenbusch vorgetragen.« Faulenbach, Samuel Collenbusch, 18. 72 Anselm von Canterbury, Cur Deus Homo, 74.

290 Die kenotische Christologie und die Versöhnungslehre Gottfried Menkens Sanftmuth, Demuth und Geduld ähnlich werden, so werden wir auch in der zukünftigen Welt an seiner Seligkeit und Herrlichkeit Antheil haben.«73

Der physisch-reale Aspekt der Versöhnung des Menschen steht bei Menken an erster Stelle. Aber er ist doch verbunden mit dem sittlich-ethischen Aspekt des heiligen Lebens. Die Verbindung der beiden Aspekte und das Übergewicht des physisch-realen Prozesses der Versöhnung beschreibt Gunther Wenz folgendermaßen: »Wenngleich in Menkens sogen. Versöhnungslehre durchaus sittlich-ethische Züge zur Geltung kommen, werden sie doch umgriffen von einer primär an einer physisch-realen Erlösungsvorstellung orientierten Perspektive. Das zeigt sich […] daran, dass die Zueignung der von Jesus Christus erworbenen Sündlosigkeit durch den Glauben in der Weise eines Erfülltwerdens des Menschen von einem Heiligkeit und Herrlichkeit schaffenden göttlichen Kraftstrom vorgestellt wird. Auch hier dominiert also der pysisch-reale Aspekt, der sich dann freilich sekundär mit der Vorstellung eines stufenweise sittlich-moralischen Fortschritts des erlösten Menschen und einem durchaus werkhaften Verständnis des Glaubens verbinden kann.«74

Der Anthropozentrismus in der Versöhnungslehre, wie er bei Menken erkennbar wird, kennzeichnet nach Wenz generell die Versuche der evangelischen Theologie der Neuzeit, die traditionelle, von Anselm bestimmte Lehre zu ersetzen. Wenz sieht den Beginn dieser Gegenentwürfe in der Frühaufklärung und beschreibt sie als »erste Versuche, die Versöhnung selbsttätig zu betreiben« (Die Sozinianer, Grotius und die Arminianer), in einem zweiten Abschnitt folgen der Pietismus und die Neologie. Dort gehe es um »das moralische Individuum als Subjekt der Versöhnung«.75 Die Versöhnungslehre Menkens bezieht sich auf das ganze biblische Zeugnis und setzt die christologische Hermeneutik des Alten Testaments voraus. An dieser Menken vorgegebenen hermeneutischen Tradition hielt er entgegen der neologischen Kritik fest. Dies aber hatte schwerwiegende Folgen für das theologische Verständnis des alttestamentlichen Israel und die Beurteilung des gegenwärtigen Judentums. Israel ist durch seine Auserwählung von Gott, durch das theokratische Verhältnis Gottes mit diesem Volk und die von 73 Menken, Schriften VI, 173 f. 74 Wenz, Versöhnungslehre, 447. 75 Wenz behandelt in § 12.5 seines Werkes den »Kritischen Biblizismus« innerhalb der Erweckungstheologie und ihres Umfeldes und geht zunächst auf Rudolf Stier (1800–1862) ein: Albrecht Ritschl habe Recht, wenn er in Stiers Versöhnungslehre eine Verwandtschaft mit den griechischen Kirchenvätern erkenne: »In der Tat gilt sein erstes Interesse der physisch-realen Erlösung des Menschen von der vhoq±, während der primär auf die willentlich-ethische Selbstverschuldung des Menschen bezogene Versöhnungsgedanke im Grunde eine abgeleitete Größe darstellt.« Wenz leitet dann zu Collenbusch, Hasenkamp und Menken über, bezeichnet sie als »Vorläufer der neupietistischen Bewegung« und spricht von einer »Seitenlinie erweckter Theologie«. Wenz, Versöhnungslehre, 437.

Dogmatische Analyse und Kritik

291

Gott gefügte wundervolle heilige Geschichte, Israel ist als »Depositär« der göttlichen Offenbarung in einem besonderen Maße von Gott ausgezeichnet worden. Israels Erwählung ist unwiderruflich. Aber das an Christus und die Versöhnung durch ihn gebundene Heil hatte Israel nur als Verheißung und Hoffnung, in seinem priesterlichen Kult als »Bild« und »Schatten« des Opfers des Messias. Das wahre Opfer, die wirkliche Versöhnung war den an den Messias Jesus Glaubenden aus Juden und Heiden vorbehalten. Der Großteil des jüdischen Volkes, das den Messias Jesus bis heute ablehnt, steht unter dem schon im Alten Testament angedrohten Fluch, der sich in seiner elenden Geschichte abzeichnet. Menken geht in seiner Schrift Der Messias ist gekommen. Nach 1. Joh. 5,6–12 auf die Situation Israels vor und nach dem Kommen des Messias Jesus ein und erkennt nicht, dass seine Sicht wesentliche biblische Aussagen (in Röm 9–11) außer Acht lässt und dass das Bekenntnis zur bleibenden Erwählung Israels im Widerspruch zur Annahme eines bis heute wirksamen Fluches steht. Menken fragt in seiner Auslegung zu 1Joh 5,6–12, was das Kommen Jesu »mit Wasser und Blut« für den Glauben Israels bedeute, und antwortet, dass vor Jesus keiner mit der »Signatur des Messias« mit Wasser und Blut gekommen sei: »Darum mußten, als er mit Wasser und Blut gekommen war, die Bilder und Schatten des Bluts und der Versöhnung von der Erde hinweg. In dem Augenblick, als er auf Golgatha am Kreuz hangend, sein Haupt neigte, als aus seiner eröffneten Seite Blut und Wasser rann, und er nun mit diesem seinem vergossenen Blute in das Heilige, das im Himmel ist, hineinging, riß der Vorhang vor dem bildlichen Allerheiligsten im Tempel, und von da an waltete seine allmächtige Hand zerstörend über dem ganzen Schattenwesen der alten Verfassung. Der Jude, der sonst noch Bild und Schatten des Opfers und Blutes und eben damit Verheißung und Hoffnung der Versöhnung hatte, hat jetzt in dem Zustande seiner Verblendung und Zerstreuung kein Opfer, kein Blut der Versöhnung. Er, der Jude, von dem alle Völker auf Erden (denn das Heil kommt von den Juden) in Betreff der Sünde und der Gerechtigkeit, des Opfers und der Versöhnung gelernt haben, er allein von allen Menschen auf Erden, hat kein Opfer und keine Versöhnung und ist eben darum, wo er nicht in Heidensinn und Unglauben versunken ist, in sich bange, geschlagen, ohne Gewißheit und Zuversicht.«76

Hier ist die Exegese antijudaistisch geworden, wie es vielleicht von der Typologie des Hebräerbriefes aus gerechtfertigt sein mag, aber nicht vom Nachdenken des Paulus aus über sein Volk Israel, soweit es Jesus als Messias ablehnt. Das Israel des alten Bundes hat in seinen Gottesdiensten, in seinem Glauben die versöhnende Gemeinschaft Gottes erfahren. Das Judentum der Synagoge, das bis heute den großen Versöhnungstag des Jom Kippur als hohen Feiertag begeht, erfährt sie auch heute. Und wenn christlicher Glaube die 76 Menken, Schriften VI, 311.

292 Die kenotische Christologie und die Versöhnungslehre Gottfried Menkens Versöhnung mit Gott ausschließlich für sich in Anspruch nimmt, muss er sich fragen lassen, warum denn dieser Glaube im Verhalten der Kirchen und der Christinnen und Christen gegenüber anderen Glaubenden, vor allem gegenüber Jüdinnen und Juden, so oft ohne praktische Konsequenzen und damit kein wirklicher, gelebter Glaube war.77

77 Menkens Israeltheologie, die als Konsequenz einer einseitigen, radikalen christologischen Interpretation des Alten Testaments dem alttestamentlichen Israel nur die Hoffnung auf das Heil zubilligt und das Judentum nach der Kreuzigung Jesu unter dem Fluch Gottes sieht, bis sich Israel zum Messias Jesus bekehrt, war common sense der protestantischen und katholischen Theologie bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Erst nach der Katastrophe der Schoa, als die Kirchen ihre Mitschuld am Antisemitismus mit seinen tödlichen Folgen erkannten und bekannten, setzten ein hoffnungsvolles Bemühen um ein neues Verhältnis des Christentums zum Judentum und eine kritische Auseinandersetzung mit der einseitigen christologischen Auslegung des Alten Testaments ein.

9. Die Frage nach der Kirche und der Einsatz für eine kirchliche Union 9.1 Das Reformationsjubiläum 1817 und die unerledigten Aufgaben des Protestantismus – Menkens Predigt zum 31. Oktober 1817 Reformationsjubiläen sind beeinflusst von den politischen Verhältnissen ihrer Zeit, von den Erfahrungen, Frustrationen, Hoffnungen und Sehnsüchten der Zeitgenossen und -genossinnen und prägen so das jeweilige Bild der Reformatoren und ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Das zeigt in bemerkenswerter Deutlichkeit das dreihundertjährige Reformationsjubiläum 1817. Die Feier dieses Jubiläums – vier Jahre nach der Völkerschlacht bei Leipzig – wurde an vielen Orten begangen im nationalen Hochgefühl, das sich nach den Befreiungskriegen entwickelte und das sich mit der Forderung nach nationaler Einigung und demokratischen Freiheitsrechten verband. Aus dem Reformator Luther im Jahre 1517 wurde ein ins Patriotische umgedeuteter Luther. Das Wartburgfest, das die Burschenschaften am 18. Oktober 1817 veranstalteten, zeigt eindrucksvoll diese Verbindung des religiösen Gedenkens mit dem patriotischen Aufbruch. Die Wartburg, auf der Martin Luther 1521/22 nach der Verhängung der Reichsacht in Worms Zuflucht fand und seine Bibelübersetzung ins Deutsche begann, galt als deutsches Nationalsymbol. Das Wartburgfest stand unter dem Wahlspruch »Ehre, Freiheit, Vaterland«. In den Reden wurde Luther als deutscher Freiheitsheld gefeiert und über die Verwirklichung der deutschen Einheit gesprochen. »Man sang den Choral Nun danket alle Gott, der seit der Schlacht von Leuthen 1757 als preußische Hymne galt. Nach dem Festessen kam es zu einer symbolischen Bücherverbrennung: auf dem benachbarten Wartenberg.«1 1 Von Studnitz, Wartburgfest. Heinrich Heine gehörte 1820/21 als Student in Bonn und Göttingen der jeweiligen Burschenschaft an, hatte aber nicht am Wartburgfest teilgenommen. In einem Rückblick gut 20 Jahre später fand er in seiner Schrift Ludwig Börne. Eine Denkschrift nur kritische Worte über das Wartburgfest im Vergleich mit dem Fest von Hambach (1832): »Dort, auf Hambach, jubelte die moderne Zeit ihre Sonnenaufgangslieder und mit der ganzen Menschheit ward Brüderschaft getrunken; hier aber auf der Wartburg krächzte die Vergangenheit ihren obskuren Rabengesang, und bei Fackellicht wurden Dummheiten gesagt und getan, die des blödsinnigsten Mittelalters würdig waren! […]; auf der Wartburg herrschte hingegen jener beschränkte Teutomanismus, der viel von Liebe und Glaube greinte, dessen Liebe aber nichts anderes war als Haß des Fremden und dessen Glaube nur in der Unvernunft bestand, und der in seiner Unwissenheit nichts Besseres zu erfinden wußte als Bücher zu verbrennen!« (Heine, Sämtliche Schriften Bd. 7, 88). Das Zitat Heines »Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen« ist keine Anspielung auf die Bücherver-

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Die von den Burschenschaften ersehnte und geforderte deutsche Einheit bezog sich auf die politische, wirtschaftliche und religiöse Einheit Deutschlands. Die politische Einheit ließ lange auf sich warten. Aber bereits am 27. September 1817 hatte König Friedrich Wilhelm III. in Preussen die Vereinigung der reformierten und lutherischen Kirchen zu einer unierten Kirche verordnet. In Bremen hielt Menken 1817 in der Kirche St. Martini die Predigt zum Reformationsjubiläum über den Text Hebr 10,23: »Lasset uns halten an dem Bekenntniß der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat.«2

Einleitend stellt Menken dankend fest, dass sich »die Sache der Reformation oder der protestantischen Kirche«3 durchgesetzt hat und weiter durchsetzen wird. Dies war am Anfang nicht sicher. Vielmehr war sie so umstritten und bekämpft wie das Christentum, als es zuerst in der Welt auftrat, vom Judentum »ausgestoßen, verfolgt und gehaßt wurde«.4 Doch die Weisheit Gamaliels, der damals dem Hohen Rat in Jerusalem zum Abwarten riet, hat sich auch hier als wahr erwiesen: »Ist der Rath oder das Werk aus den Menschen, so wird es untergehen; ist es aber aus Gott, so könnet ihr es nicht dämpfen.«5 (Apg 5,38f). Die Reformation hat Erfolg gehabt. Doch Menken will keiner »unerleuchteten Parteiname« das Wort reden: Den gegenwärtigen Protestanten gezieme es, auch über die eigene Kirche – der Wahrheit gemäß – freimütig zu urteilen, Göttliches und Menschliches zu erkennen und zu unterscheiden, damit uns nicht der Tadel der Nachwelt treffe, »auch durch unsere Schuld sei sie [die protestantische Kirche, H.M.R.] geworden zum stillstehenden, faulenden Wasser, das alle Lebenskräfte verloren, vielmehr uns das Lob werden möge: auch wir hätten gern gewollt, daß sie die alte frische Lebenskraft von neuem wieder erhalte und segnender als je auf Mitwelt und Nachwelt fortwirke.«6.

Im ersten Hauptteil stellt Menken die Frage: »Was ist vor dreihundert Jahren in der Kirche reformiret? Was ist da geändert, gebessert, der Vollkommenheit näher geführt?« Die Antwort lautet: nichts Göttliches, denn das Göttliche kann nicht geändert werden. Protestiert worden ist »gegen das, was menschlicher Dünkel, Uebermuth und Unwissenheit im Laufe der Jahrhunderte in die

2 3 4 5 6

brennung während des Wartburgfestes 1817. Es bezieht sich auf eine Verbrennung des Korans während der Eroberung des spanischen Granada durch christliche Ritter in Heines allegorischer Tragödie Almansor (1821). Heine, Sämtliche Schriften, Bd. 1, 284 f. Diese Predigt ist aufgenommen in die Neue Sammlung christlicher Homilien: Menken, Schriften IV, 364–374. Menken, Schriften IV, 366. Ebd. 365. Ebd. Ebd. 366.

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christliche Kirche hineingetragen und es eben so hoch, wo nicht noch höher, als das Göttliche gestellt und dies dadurch bedeckt und in Vergessenheit gebracht hatte«.7 Die Reformatoren hatten nicht die Absicht, eine neue Kirche zu gründen und neue Lehren zu verkünden. Sie hielten fest an den altkirchlichen Glaubensbekenntnissen, vor allem am Apostolikum. Menken betont, dass die Reformation ein menschliches und kein göttliches Werk war. Die Reformatoren können nicht den Propheten des Alten Testaments und den Aposteln des Neuen Testaments an die Seite gestellt werden. »Zu ihnen war nicht gesagt: Wer euch höret, der höret mich; wer euch verachtet, der verachtet mich. Ja, sie selbst wussten nicht, daß sie das wollten, daß dahin ihr Weg führen werde. Sie hatten keinen Plan, den sie mit Beharrlichkeit verfolgt hätten; die Umstände und das immer heller vor ihnen aufgehende Licht der Erkenntniß leiteten sie von Tag zu Tage weiter.«8 Als menschliches Werk, das freilich »unter Gottes Schutz Bestehen und Gedeihen fand«, weist die Reformation auch »Schatten, Schwachheit und Fehler« auf. Dies muss nicht lange gesucht werden. Das »Menschlichfehlerhafte« sieht Menken vor allem im Konfessionalismus der Protestanten, und es ist für ihn an der Zeit, den Parteigeist und die Spaltungen im Protestantismus zu überwinden. Wenn die Unterschiede der kirchlichen Bekenntnisse das Wesentliche ausmachen und ihnen »Eintracht, Liebe und brüderliches Beieinanderleben« geopfert werden, dann ist die Kirche nur noch »ein menschlich Wesen«. Nach drei Jahrhunderten sei es »hohe Zeit und unerläßliche Pflicht, […] nun das Getrennte, das nimmer hätte getrennt sein sollen, in Wahrheit und Liebe wieder zu vereinigen, […] alle besondere menschliche Formen der Lehre und des Bekenntnisses auf ihren Werth und Unwerth beruhen zu lassen, und dagegen bemühet zu halten die Einigkeit im Geiste durch das Band des Friedens der apostolischen Losung zu folgen: ›Ein Glaube und Ein Geist, einerlei Hoffnung des Berufs, Ein Herr, Ein Glaube, Eine Taufe (Ein Abendmahl und Evangelium) Ein Gott und Vater aller!‹ (Ephes. 4,4–6) und so einzustimmen in das alte, allgemeine, einfache Glaubensbekenntniß der ganzen christlichen Kirche, das viele Jahrhunderte vor der Reformation da war, und noch in allen Kirchen und Konfessionen, in allen Sprachen und Ländern wo Christen sind, da ist […].«9 Nachdem die Predigt im ersten Hauptteil auf das grundsätzliche Anliegen der Reformation, den Protest und Kampf »gegen das Menschliche und das Unwahre, das die Rechte und Würden der Wahrheit und des Göttlichen an sich gerissen hatte«, eingegangen ist und als »Schatten an dieser grossen, gesegneten Begebenheit« Parteiwesen und Parteigeist diagnostiziert hat, folgt im zweiten Hauptteil unter Aufnahme des Predigttextes die Aufforderung, dem 7 Ebd. 367. 8 Ebd. 368. 9 Ebd. 369.

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Konfessionalismus abzusagen, das Menschliche zurückzustellen und sich dem Göttlichen zuzuwenden. Dies aber ist das Wort Gottes in der Heiligen Schrift. Dass es durch die Reformatoren »in solcher Klarheit und Wahrheit treuer lebendiger Uebersetzung zu solcher Allgemeinheit gelangte«, hat ihnen die ganze Christenheit zu verdanken: Religion hat ihre Quelle nicht in der menschlichen Vernunft und einer natürlichen Offenbarung. »In Sachen der Religion war ihnen [den Reformatoren, H.M.R.] Gottes Wort und Zeugniß die einzige Quelle und der einzige Grund.«10 Glaube und Vernunft bilden aber keinen Gegensatz: »Der Vernunft ertheilten sie [die Reformatoren, H.M.R.] die edle Aufgabe, den Gründen des Glaubens mehr und mehr nachzuforschen, und das Göttliche wo es begriffen werden mag zu begreifen und begreiflich zu machen; aber sie machten die Göttlichkeit des Göttlichen nicht abhängig von dem Begriff, und entsetzten sich davor, da wo es den menschlichen Begriff übersteigt, es um deßwillen zu leugnen oder zu lästern.«11

Im Wort Gottes war den Reformatoren das Wichtigste »die Verheißung der Gnade Gottes und des ewigen Lebens durch Jesum Christum«.12 Dass der Mensch gerecht werde ohne die Werke des Gesetzes, allein durch den Glauben, dass aber dieser Glaube zur »fruchtbarsten Quelle guter Werke« werde, bezeugten die Reformatoren »mit unbeweglicher göttlicher Gewißheit und Freudigkeit«.13 Mit dem Wort Gottes und dem Glauben wurde der Kirche durch die Reformation ein drittes großes Gut zurückgegeben, das sie verloren hatte: die Freiheit. Für diese Freiheit hält Menken ein leidenschaftliches Plädoyer: »Wahrheit und Freiheit stehen in innigem, ewigem Bunde. Wer Wahrheit giebt und nicht auch Freiheit lässet dem Winke der Wahrheit zu folgen, der giebt nur halb […]. Die Wahrheit ist ein Unendliches, ihr eigentlichster Gegenstand ist Gott; was wir auf jeder Stelle des Lebens von ihr erkennen, ist das Geringere, das Größere bleibt immer noch unerkannt. Darum soll Freiheit sein bei der Wahrheit. Aber noch mehr: in der Freiheit erscheint jedes Leben am wahrhaftigsten, und bildet sich in ihr am schönsten und kräftigsten, auch das geistige Leben. […] In der Kirche sollte Freiheit der Vernunft und des Gewissens walten, Freiheit der Forschung und der Prüfung, Freiheit des Urtheils und der Mittheilung.«14

Menken räumt ein, »daß mit der Freiheit auch manchem Irrthum, Aergerniß und Zwietracht der Weg geöffnet werde«. Und er verweist auf die letzte Hälfte 10 11 12 13 14

Ebd. 371 Ebd. Ebd. 371 f. Ebd. 372. Ebd. 372 f.

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des 18. Jahrhunderts, wo die Freiheit ausartete, alle Bande der Einheit und Ordnung in der Kirche auflöste, das Heilige hinaustrug und das Profane an ihre Stelle setzte. »Aber dennoch: Man lasse die Wahrheit frei, […]. Sie macht am Ende auch von solcher zur Frechheit ausgearteten Freiheit frei, und führt zur wahren bescheidenen Freiheit wieder zurück. […] Wahn und Meinung tilget die Zeit; aber, wenn auch langsam und spät, unausbleiblich gewiß bestätiget und verherrlicht sie die Wahrheit.«15 Menkens Predigt schließt mit dem Aufruf zu ökumenischer Gesinnung und reicht am Ende auch den Katholiken brüderlich die Hand: »Laßt uns bei uns selbst beginnen dahin zu wirken, daß das nun beginnende neue Jahrhundert der protestantischen Kirche die Protestanten christlich gläubiger und mehr zu Liebe und Eintracht gestimmt und gebildet finde, als die vorigen Jahrhunderte sie kannten. Was noch von Trennung unter den Konfessionen dieser Kirche vorhanden ist, das lasset uns achten, als wäre es nicht mehr da, jeden Augenblick bereit die Hand zu bieten, daß das Getrennte in Wahrheit und Liebe sich wieder vereine. Gegen unsre Brüder in der katholischen Kirche laßt uns gesinnet sein, wie Christen gegen Mitchristen gesinnt sein sollen.«16

Bei der Analyse dieser eindrücklichen Predigt im Kontext ihrer Zeit ergeben sich die folgenden wesentlichen Aspekte: Das Reformationsjubiläum wird nicht in einer konfessionalistischen Hochstimmung begangen. Die Reformatoren werden nicht zu Glaubenshelden verklärt. Sie werden nicht einmal namentlich genannt. Eine Profilierung des reformierten Glaubens gegenüber dem lutherischen wäre für Menken völlig undenkbar, zumal am Gedenktag des Thesenanschlags Luthers. Die Reformatoren sind keine Apostel. Sie waren selbst suchende Menschen und wussten oft nicht weiter. Die Reformation ist ein menschliches Werk und hat deshalb Schatten und Fehler. Die Gegenwart muss sich dieser Schattenseite stellen. Aktuell betrifft dies vor allem die konfessionelle Spaltung der Protestanten, die überwunden werden muss und kann. Konfessionalismus meint die Verabsolutierung der eigenen Konfession und die Ablehnung aller anderen. Eine kirchliche Uniformität hat Menken nicht im Sinn, und er nennt ausdrücklich die Herrnhuter Brüdergemeinde als gutes Beispiel der Freiheit, die in der Kirche gelten und möglich sein muss. Menken instrumentalisiert das Reformationsjubiläum nicht zu politischen Zwecken. Nationalistische Töne fehlen. Der patriotische Aufbruch und Überschwang des Wartburgfestes und die Sehnsucht nach dem deutschen Einheitsstaat ist dem Bremer Hanseaten Menken fremd. In Bremen ist man auf Selbständigkeit und Unabhängigkeit bedacht, und dies sind die Ziele Bremens 15 Ebd. 373. 16 Ebd. 374.

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beim Wiener Kongress. Abgesehen davon betont der konservative Bremer Menken aber, dass die Reformation den Respekt vor der von Gott gegebenen Obrigkeit gefordert und gefördert habe. Mit Nachdruck stellt Menken die bleibende Bedeutung der Reformation für die Erneuerung der Kirche heraus. Als reformatorische Kernanliegen nennt Menken die Geltung der Heiligen Schrift als Zeugnis der Offenbarung und der einzigen Norm kirchlicher Lehre und ihre Übersetzung und Predigt in der Landessprache. Das Wort Gottes und die Predigt des Evangeliums wecken den Glauben, der der Gnade Gottes durch Jesus Christus gewiss wird. Die Gnade Gottes wird nicht durch gute Werke erworben, sondern dem Glauben geschenkt. Sola scriptura steht neben sola gratia. Der Glaube aber wird frei zur tätigen Nächstenliebe. Rechtfertigung und Heiligung gehören zusammen. Auffallend ist, wie sehr Menken für die Freiheit in der Kirche eintritt. Sein leidenschaftliches Plädoyer für die Freiheit bezieht sich primär auf die freie Erforschung der Schrift, auf die Freiheit kirchlicher Lehre, die nicht an die symbolischen Bücher, sondern an das Buch aller Bücher gebunden ist, auf die Freiheit der Verkündigung und reagiert damit auf einen neuen Konfessionalismus mit einer neuen Hochschätzung der kirchlichen Bekenntnisschriften. Auch die Aufklärung hat Freiheit in der Erforschung der Schrift gefordert und praktiziert. Sie verstand darunter die historisch-kritische Bibelexegese und verband sie mit einer Hermeneutik der menschlichen Vernunft. Diese Freiheit hat Menken nicht gemeint.

9.2 Wo ist die Kirche? Bibelverehrung und Antikonfessionalismus Bereits Barth stellt fest, dass Menken das Wort Kirche meidet: »Unverkennbar geht er schon dem Wort ›Kirche‹ aus dem Wege, wo er nur kann; um das ›Christentum‹, um die ›Wahrheit‹, um die ›Sache‹, um das ›Reich Gottes‹ geht es ihm, nicht um die Kirche!«17 In Menkens Anleitung fehlt ein Kapitel über die Kirche. Dort, wo man es vermuten sollte, im Kapitel, das der Christologie und der Versöhnungslehre folgt, geht es um die Frage, »wie der Mensch an der göttlichen Anstalt Antheil erlange, und dadurch selig und herrlich werde« (Kap. 7). Dazu – so führt Menkens dann aus – sollten »die drei Stiftungen dienen (Institute, Anstalten), die von Ihm, dem Herrn selbst eingesetzt sind, nämlich das Predigtamt, die Taufe und das Abendmahl«.18 Zwischen der Taufe (§ 6) und dem heiligen Abendmahl (§ 26) werden der Glaube (§§ 12–13) und in besonderer Ausführlichkeit die Heiligung behandelt (§§ 17–25). Am Ende 17 Barth, Die protestantische Theologie, 475. Barth fügt hinzu: Dies sei »eine Antithese, die für die ganze biblizistische Linie bis auf ihre Ausläufer wie etwa Johannes Müller und Hermann Kutter bezeichnend geworden ist«. 18 Menken, Schriften VI, 209.

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dieser Ausführungen zählt Menken die »Hülfsmittel« auf, die der Christ auf dem Wege seiner Heiligung und zum Ziel seiner Verherrlichung hat. Diese sind das Wort Gottes, das Gebet und »vornehmlich auch die Gemeinschaft der Heiligen«.19 Menken bezieht sich in der Anleitung auf das ökumenische Kirchenverständnis des Apostolikums. Kirche ist eine vom Heiligen Geist geschaffene Realität des Glaubens. In Menkens Worten: »Die Christen stehen in der innigsten Verwandtschaft, in der nahesten Verbindung, wenn sie es auch gleich nicht erkennen. Sie sind als Christen, was andere Menschen nicht sind, Kinder Gottes; unter den Kindern Eines Vaters ist, in der Sache selbst, die naheste Verbindung, sie mag erkannt und benutzt werden oder nicht. Alle Christen machen einen Leib aus, dessen Haupt Jesus Christus ist; […] Die innigste Verbindung ist da, braucht nicht erst bewirkt zu werden, und kann jetzt nicht erst, als ob sie noch nicht da wäre, von Menschen veranstaltet werden. Daß aber nun auch in dieser allerinnigsten Verbindung die allerinnigste, allerliebevollste Gemeinschaft da sei, das ist des Herrn Wille, und dazu müssen alle Christen das Ihrige beitragen.«20

»Gemeinschaft der Heiligen« – das ist für Menken »die eigentliche«, »die wahre« Kirche. Davon unterscheidet er »die äußerliche Kirche«, die aber »Hülle« und »Mittel« ist für die wahre Kirche: »Die äußerliche Kirche, die sogenannte Christenheit, ist also nicht die eigentliche, nicht die wahre, sondern sie dienet zur Hülle und zum Mittel, daß die wahre in der Welt da sein, sich erhalten und verbreiten kann. […] Die wahre Christenheit ist einig in Glauben, Hoffnung und Liebe. Die äußerliche Christenheit ist in Parteien, Sekten und Konfessionen getheilt.«21

Wie Menschen für sich allein, ohne Gemeinschaft mit anderen, nicht bestehen können, so gilt auch für Christen: »Für sich allein, ohne Gemeinschaft mit Christen, wird kein Christ, was er werden kann.«22 Die menschliche und christliche Gemeinschaft untereinander zu pflegen, entspricht dem guten Willen Gottes: »Gott bildet und hilft Menschen durch Menschen; Jesus Christus bildet und hilft und segnet Christen durch Christen.«23 In der Kirche als »Gemeinschaft der Heiligen« geschieht die mutua consolatio fratrum (et sororum), die Luther in den Schmalkaldischen Artikeln als eine Form des Evangeliums neben der Verkündigung und den Sakramenten versteht und die Menken selbst als Christ und Pfarrer vielfach erfahren hat.24 19 20 21 22 23 24

Ebd. 234. Ebd. Menken, Schriften VI, 242. Ebd. 235. Ebd. Vgl. dazu Menkens Briefwechsel mit Achelis in Kap. 5.2.4.

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Menken weiß, dass die kirchliche Realität von diesem Ideal weit entfernt ist und nennt die Ursachen: »Stolz, Argwohn, Eigensinn, Rechthaberei, Herrschsucht, Empfindlichkeit stehen der Gemeinschaft der Heiligen im Wege und sind wohl große Ursachen, daß es damit unter den Christen so schlecht bestellt ist.«25 Gemeinschaft der Heiligen bedeutet keine Uniformität. Sie gründet in der von Gott geschaffenen Verbindung. Sie besteht in der Einheit im Wesentlichen. Darüber hinaus aber lässt sie Mannigfaltigkeit zu und gewährt Freiheit. Das ökumenische Kirchenverständnis der Anleitung ist betont antikonfessionalistisch. In seinem Aufsatz Etwas über Alt und Neu in Betreff der christlichen Wahrheit und Lehre begründet Menken diesen Antikonfessionalismus mit einer historischen Kritik der Entstehung der Konfessionskirchen und ihrer »symbolischen Bücher«, der Bekenntnisschriften. »Wo ist die Kirche?«26 Menken zählt sie auf, die vielen verschiedenen christlichen Konfessionen im Morgen- und im Abendland und stellt ihr Selbstverständnis als wahre Kirche in Frage. Seine Antwort nach dem Ort der wahren Kirche lautet: »Weder in Rom noch in Moskau, weder in Wittenberg noch in Dortrecht, und nicht in Herrnhut und nicht in Pennsylvanien, und doch auch da, und überall, wo das Wort und Zeugniß Gottes, das Evangelium von Jesus Christus ist und, angenommen im wahrhaftigen Glauben, das Licht und das Leben der Menschen geworden ist.«27

Menken ist davon überzeugt, dass die Verschiedenheit der christlichen Konfessionen, ihre Streitigkeiten und Spaltungen nicht aus der Bibel hervorgingen, sondern »aus den Symbolen, aus der Dogmatik, aus den menschlichen Bestimmungen der christlichen Lehre und sie hätten sich vermindern und aufhören müssen in dem Maß, worin die Bibel, nicht dem Worte oder Vorgehen nach, sondern in That und Wahrheit, als einzige Quelle der Erkenntniß und als einziges Normativ der Lehre angesehen und verehrt wäre«.28 Die Heilige Schrift ist das, was alle Christinnen und Christen in der Welt zur Gemeinschaft der Heiligen, zur wahren ökumenischen Kirche verbindet. Der Schrift selbst traut Menken zu, dass sie Spaltungen überwindet und jene kirchliche Einheit schafft, zu der sich das Apostolikum bekennt: Wo die Heilige Schrift als einzige Quelle der Erkenntnis und als einziges Normativ der Lehre angesehen und verehrt wird, »da bahnt sie still und sicher den Weg aus der Befangenheit und Abgeschlossenheit und dem Unfrieden der Konfessionen zu der Weite, Gemeinschaft und dem Frieden der Kirche; jener Einen wahren Kirche, von der glücklicher Weise in allen Konfessionen ein Laut 25 26 27 28

Menken, Schriften VI, 235. Menken, Schriften VII, 238. Ebd. 261. Ebd.

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und ein Zeugniß übrig geblieben ist, insofern sie alle (und damit gewissermaß über sich selbst hinausgehend) den Glauben bekennen an den heiligen Geist, und damit zugleich den Glauben an das Vorhandensein einer heiligen allgemeinen Kirche«.29 Dass der biblische Kanon selbst in seiner Vielfalt und Verschiedenheit Ursache kirchlicher Gruppenbildungen und Spaltungen sein könnte, fürchtet Menken nicht, und er fordert die uneingeschränkte Freiheit in der Erforschung der Schrift. Sein Glaube an die Einheit und Klarheit der Schrift ist ungebrochen. Angesichts der Erkenntnisse und der Einsicht in die Verschiedenheit und Unterschiedlichkeit der biblischen Texte wird die Einheit der Schrift für uns zu einem schwierigen Problem. Historisch-kritische Schriftexegese dient nicht der Einheit der Kirche. Alle Auslegung der Bibel kann verabsolutiert werden und zu konfessionellen Spaltungen führen.30 Das Bekenntnis zur Einheit und Klarheit der Schrift ist heute ein angefochtenes und kein selbstverständliches Bekenntnis mehr. Eindrucksvoll aber und höchst aktuell ist bis heute das ökumenische Kirchenverständnis Menkens, sein Bekenntnis zum reformatorischen Schriftprinzip und zur ungehinderten Freiheit der Schriftauslegung. Die Freiheit muss sich nach Menkens Überzeugung keine Sorge um die Wahrheit machen: »Wenn Wahrheit und Freiheit zugleich bedroht und gefährdet sind, so soll man zuerst die Freiheit retten, der Wahrheit wird immer Rath, sie steht und fällt mit keinem Menschen.«31

29 Ebd. 30 Ernst Käsemann hat sich 1951 in einem Vortrag der Frage gestellt: Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche? Das Alte Testament ist bei diesem Thema nicht mehr im Blick. Käsemanns Antwort folgt bereits im ersten Satz seines Vortrags: »Die Frage, ob der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche begründe, muß um der Variabilität der Verkündigung im NT willen vom Historiker verneint werden.« Käsemann, Der neutestamentliche Kanon, 214. Nach Käsemann ist der Kanon nicht identisch mit dem Wort Gottes. »Das kann er nur werden und sein, wo man nicht Gott in ihm dingfest zu haben meint und damit den Kanon zum Ersatz des sprechenden und uns ansprechenden Gottes macht. […] Das heißt, daß der Kanon nicht einfach mit dem Evangelium identisch und Gottes Wort nur insofern ist, als er Evangelium ist und wird. Insofern begründet dann auch er Einheit der Kirche. Denn allein das Evangelium begründet die eine Kirche in allen Zeiten und Orten.« (Ebd. 223). Zu Frage nach der Einheit der Schrift und ihrer Bedeutung für die Einheit der Kirche in der heutigen Diskussion ist auch die radikale Position von Ulrich Luz zu vergleichen im Aufsatz Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein? Über die Aufgabe der Exegese in einer religiös-pluralistischen Gesellschaft. Vgl. Lutz, Bibel, 317–339. 31 Menken, Schriften VII, 264 Anm.

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9.3 Die Bemühungen um die Bildung unierter Kirchgemeinden in Bremen und das Erfolgsbeispiel Vegesack Menkens theologisch begründeter Antikonfessionalismus hatte die logische Konsequenz, dass er sich für die Bildung unierter Kirchgemeinden im konfessionell gespaltenen Protestantismus einsetzte. Er war dieser Einstellung bereits bei Samuel Collenbusch begegnet.32 Neben den Pietisten forderten auch die Rationalisten und Aufklärer die Überwindung des Konfessionalismus, motiviert durch ihr Toleranzideal, das Gleichgültigkeit bedeutete gegenüber dogmatischen Lehrdifferenzen und eine natürliche Religion propagierte. Schließlich hofften die Regierungen der Städte und Landgebiete, die es zunehmend mit konfessionell gemischten Untertanengebieten zu tun hatten, dass unierte Kirchen einfacher zu regieren seien als konfessionell getrennte Kirchen. Dazu gehörte auch der Bremer Senat und sein für Bremen höchst verdienstvoller Bürgermeister Johann Smidt (1773–1857).33 Die kirchlichen Verhältnisse in Bremen waren schwierig. Um 1800 gab es neben den 14000 Reformierten bereits 18000 Lutheraner. Bremen war im 16. Jahrhundert ein reformierter Stadtstaat geworden. Aber die Domgemeinde blieb lutherisch. Der Dom mit seinen Gebäuden und Grundstücken stand unter wechselnder ausländischer Jurisdiktion, die erst durch den Reichsdeputationshauptschluss aufgehoben wurde. 1804 endete die Exterritorialität der Domgemeinde. Der Dom kam zu Bremen. Um den Bedürfnissen der lutherischen Christen in der Stadt entgegenzukommen, hatte der Senat 1804 eine lutherische Pfarrstelle an der Kirche St. Ansgarii eingerichtet. Das führte zu Protesten des lutherischen Doms, der sich nicht nur in seiner Zuständigkeit, sondern auch in seinen Einkünften beschränkt fühlte. 32 »Der Kreis um Collenbusch weist auf ein neues Miteinander der Konfessionen hin. In diesem Netzwerk ging es weniger darum, den jeweiligen Bekenntnisstand zu verteidigen. Wichtigstes Anliegen war eine Besinnung auf das wesentlich Christliche. Für Collenbusch und dessen Kreis ging es in diesem Sinne um das rechte Bibelverständnis. Die Frage nach einem bibelgemäßen Leben war das Hauptthema dieser Menschen. […] Collenbusch war also einer der Pietisten, die Impulse für unionistische Gedanken gaben.« Renfordt, Samuel Collenbusch, 159. 33 Smidt war Sohn eines Pfarrers an St. Stephani. Er studierte Theologie in Jena und geriet unter den Einfluss des Philosophen Fichte. Smidt vertrat ein aufgeklärtes Christentum. Da er von den in Bremen hoch geschätzten Schweizer Rationalisten Häfeli und Stolz sehr beeindruckt war, ließ er sich 1794 in Zürich ordinieren. Sein Weg führte ihn aber in den Staatsdienst (Bürgermeister des Senats seit 1821). Smidt entwickelte sich zum bedeutendsten Staatsmann Bremens im 19. Jahrhundert, dessen außenpolitischem Geschick die Stadt ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit verdankte und der mit der Gründung der Stadt Bremerhaven an der Wesermündung einen aufblühenden Welthandel ermöglichte. Der Senat in Bremen war Inhaber der kirchlichen Episkopalrechte (bis zum Ende des ersten Weltkriegs 1918). Bürgermeister Smidt vertrat sie so, dass möglichst jede kirchliche Selbständigkeit verhindert wurde. Er schätzte Menken hoch. Seine Sympathie galt aber dem vom Rationalismus herkommenden Pfarrer Dräseke und den anderen Rationalisten in Bremen. Vgl. Wenig, Rationalismus und Erweckungsbewegung, 75–80.643–648.

Die Bemühungen um die Bildung unierter Kirchgemeinden in Bremen

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Menken wünschte die Union der getrennten protestantischen Konfessionen auch für Bremen. Der unermüdliche Promotor aber einer kirchlichen Union aber war Johann Heinrich Bernhard Dräseke (1774–1849).34 Dräseke hatte kein Verständnis für die in Bremen noch übliche Betonung der Konfessionsunterschiede. In seiner Predigt zum 31. Oktober 1817 legte er wie Menken ein begeistertes Bekenntnis ab zum Unionsgedanken und vertrat die Überzeugung, dass die symbolischen Bücher veralten wie alles Menschenwerk, dass sie zeitgebunden seien und nicht ewige Norm sein könnten. Am Ende dieser Predigt bat Dräseke um finanzielle Unterstützung für den Kirchenbau in Bremen-Vegesack, wo der Wille der reformierten und lutherischen Bevölkerung zur Bildung einer Unionsgemeinde stark war und auf Verwirklichung drängte. Dräseke animierte auch den Senat durch sein begeistertes öffentliches Auftreten, die Union in ganz Bremen durchzuführen. Aber das Bemühen des Senats scheiterte endgültig 1822 am vehementen Widerstand der lutherischen Pfarrer des Doms. Unierte Kirchgemeinden konnten nur in Bremen-Horn35 und in Bremen-Vegesack gebildet werden.36 Der Ort Vegesack an der Unterweser, wo in den Jahren 1619–1623 ein Hafen angelegt wurde, gehörte 1741–1802 zu Hannover und kam erst 1803 durch den Reichsdeputationshauptschluss zu Bremen. Vegesack blühte auf durch den Schiffsverkehr und die Ansiedlung von Werften für den Schiffbau. 1812 zählte der Ort 1379 Einwohner. Kirchlich gehörten die Reformierten zur Pfarrgemeinde Blumenthal. Die Lutheraner hatten das Recht zur kirchlichen Versorgung in der lutherischen Gemeinde Lesum. Die kirchlich-rechtliche Anbindung an das nähere Blumenthal führte zu erheblichen finanziellen Belastungen für die Vegesacker. Es entstand schon bald der Wunsch nach einer eigenen Kirche und nach einer selbständigen Kirchgemeinde. Der Geist der Zeit und die Unionsbestrebungen an anderen Orten, vor allem in Preußen, übten ihren Einfluss aus auch in Vegesack. Es war der um die Gemeinde äußerst verdienstvolle und hochgeschätzte Amtmann Dr. August Christian 34 Dräseke war Pfarrer in Mölln und Ratzeburg gewesen, bevor er nach Bremen kam. Er ging theologisch den Weg von der Neologie zu einem rationalen Supranaturalismus und Biblizismus und vertrat ein »biblisch-vereinfachtes Luthertum«. Im Laufe der Befreiungskriege war er zu einem prominenten patriotischen Prediger geworden. Dräseke wurde 1814 in das vom Senat eingerichtete lutherische Pfarramt an der Kirche St. Ansgarii berufen, als dritter Inhaber dieser Stelle. Er hatte sich schon vor seiner Bremer Zeit durch zahlreiche Predigtsammlungen einen Namen gemacht. Damit war er Menkens Kollege und erfuhr in anderen Kreisen der Stadt ebenfalls großen Zulauf und Wertschätzung. Dräseke wirkte in Bremen als Prediger der patriotischen Erweckung und als leidenschaftlicher Verfechter der kirchlichen Union. In seinen patriotischen Predigten nahm er kein Blatt vor den Mund und scheute sich nicht, in seinen Predigten »Christus an das Geschlecht dieser Zeit« von »ränkesüchtiger Staatskunst« und »auflauernder Polizei« zu sprechen, so dass er es selber mit der Polizei zu tun bekam. Die Karlsbader Beschlüsse waren auch für Bremen gültig (seit 1819), und Metternich verlangte entschiedenes Eintreten. 35 Bremen-Horn wurde 1824 eine evangelisch-unierte Kirchgemeinde. 36 Eine Konsequenz des Scheiterns des Senats war, dass er auch in den Kirchgemeinden St. Remberti und St. Pauli lutherische Pfarrstellen einrichtete.

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Die Frage nach der Kirche und der Einsatz für eine kirchliche Union

Wilmanns, der sich zielstrebig für das Projekt einer vereinigten evangelischen Kirchgemeinde und für eine gemeinsame Kirche einsetzte. Am dreihundertjährigen Gedenktag der Reformation, dem 30. Oktober 1817, beschlossen die Reformierten und Lutheraner Vegesacks in einer Kirchgemeindeversammlung einstimmig, sich zu einer evangelisch-christlichen Kirchgemeinde zu vereinigen.37 Das Vorgehen entsprach der Forderung des Bremer Senats, dass Unionsgemeinden nicht von oben her verordnet, sondern durch die Initiative der Gemeindemitglieder gebildet werden sollten. Bremen-Vegesack war damit die erste evangelisch-unierte Kirchgemeinde in ganz Norddeutschland. Bei der Grundsteinlegung und bei der Einweihung der Kirche spielten auch die Pfarrer Dräseke und Menken eine wichtige Rolle. Dräseke wurde engagiert als Festredner bei der Feier zur Grundsteinlegung am 13. Juni 1819. Die Predigt im Festgottesdienst zur Einweihung der Kirche am 8. Juli 1821 hielt Gottfried Menken. Er wählte als Predigttext 1Kor 3, 21–23: »Darum rühme sich niemand eines Menschen. Es ist alles euer: Es sei Paulus oder Apollo, es sei Kephas oder die Welt, es sei das Leben oder der Tod, es sei das Gegenwärthige oder das Zukünftige; alles ist euer. Ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes.«38

Anlässlich der anstehenden Wahl eines Geistlichen für die neue unierte Kirchgemeinde meldeten sich die unvermeidlichen Probleme. Reformierte und Lutheraner wünschten sich natürlich möglichst einen Pfarrer, der ihrer eigenen Konfession angehörte. Die Kirchgemeinde bat den Senat in einem Gesuch um die Ermöglichung einer Wahl durch ein von den Einwohnern zu erwählendes Wahlkollegium. Das wurde abgewiesen. Es wurde auch darauf hingewiesen, »daß es aber auch nicht ratsam sei, die Gemeinde, welche nach den Ausführungen der Bittsteller bereits in Parteien gespalten sei, das erstemal selbst wählen zu lassen, daß jedoch mit den Kirchen- und Ortsvorständen über die Wünsche der Eingesessenen hinsichtlich der Person des zu wählenden Predigers gesprochen werden könne«.39 Der Wahlaufsatz wurde unter Mitwirkung der Gemeinde aufgestellt. Er umfasste vier Kandidaten, und die Gemeinde durfte wählen.40 Einer der vier Kandidaten war ein enger Freund Gottfried Menkens: Christoph Hermann Gottfried Hasenkamp (1774–1834).41 37 38 39 40

Vgl. Steilen, Vegesack, 10–17. Menkens Festpredigt wurde aufgenommen in Menken, Schriften VII, 307–317. Steilen, Vegesack, 22. Steilens Schilderung der Vorgänge wirft auch ein Licht auf die sozialen Verhältnisse und den Bildungsstand der Bevölkerung: »Etliche Tage später erging an den Amtmann die Anfrage [von Seiten des Senats, H. M.R.], ob wohl alle Vegesacker imstande sein sollten, die Nummer des, den sie zu wählen wünschten, leserlich zu schreiben. Bezüglich der Bedingungen [wahlberechtigt waren alle protestantischen männlichen Einwohner Vegesacks, die den Bürger- oder Huldigungseid geleistet hatten, H. M.R.] machte Dr. Wilmanns in Bremen darauf aufmerksam, daß viele so arm seien, daß sie nicht die geringen Gebühren, welche bei der Ableistung des Huldigungseides zu entrichten waren, bezahlen könnten.« Steilen, Vegesack, 22 f. 41 Chrisoph Hermann Gottfried Hasenkamp war ein Sohn Johann Gerhard Hasenkamps, des

Die Bemühungen um die Bildung unierter Kirchgemeinden in Bremen

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Es ist zu vermuten, dass Menken bei der Kandidatur Hasenkamps eine vermittelnde Rolle spielte. Hasenkamp erwies sich als fähig, die Probleme, die sich aus dem Zusammenleben von Reformierten und Lutheranern in einer Kirchgemeinde ergaben, zu bewältigen. »Die Austeilung des Abendmahls wurde bereits 1821 in einer vom Senat genehmigten ›Allgemeinen Instruktion für den evangelischen Prediger in Vegesack‹ festgelegt […]; ältere Einwohner konnten das Abendmahl nach bisher gewohntem Ritus zu besonderer Zeit in der Kirche oder in der Wohnung empfangen. Neu Zuziehende mußten sich in den neuen Ritus einfügen.«42 Das nach den Befreiungskriegen starke Interesse an der Bildung von Unionsgemeinden verlor sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in Bremen und an anderen Orten. Das hat verschiedene Gründe. Wenig stellt fest: In Bremen habe sich infolge des Übergewichts der Lutheraner und des Vereinigungswillens der Reformierten die Union im alltäglichen kirchlichen Leben von selbst hergestellt. Der Gegensatz Erweckungsbewegung – Rationalismus bzw. biblische Orthodoxie – liberal-aufklärerische, denkgläubige Theologie wurde brennender als der der Konfessionen, und diese theologische Spaltung ging durch die Konfessionen hindurch.43 An anderen Orten, vor allem bei den Lutheranern, entwickelte sich ein neuer Konfessionalismus, dem die Ausbildung der konfessionellen Identität wichtiger war als das Projekt der vereinigten evangelischen Kirchgemeinde.44

Rektors des Gymnasiums in Duisburg. Hasenkamp war Pfarrer in Lienen (1816–1821), als ihn der Ruf nach Vegesack erreichte. Er gehörte wie sein Vater, sein Onkel Friedrich Arnold Hasenkamp und Menken zum Collenbusch-Kreis. 42 Wenig, Rationalismus und Erweckungsbewegung, 646. 43 Ebd. 647 f. 44 Hirsch datiert das Anwachsen dieses restaurativen Konfessionalismus auf das Ende der vierziger Jahre: »So zieht Ende der vierziger eine Zeit herauf, in welcher die Lehre von der Kirche der beliebteste Gegenstand theologischer Darlegungen und Auseinandersetzungen wird. Sowohl der Gegensatz von Luthertum und Union als auch der zwischen verschiedenen Spielarten des strengen Luthertums wird über ein Jahrzehnt lang mit Vorliebe an der Lehre von der Kirche ausgetragen.« Hirsch, Geschichte, Bd. V, 185. Friedrich Julius Stahl, seit 1840 Professor der Rechte in Berlin, vertritt in seinem Buch Die Kirchenverfassung nach Lehre und Recht der Protestanten (1840) die Auffassung der alten Orthodoxie, »Glaubensgemeinschaft gebe es nur auf dem Boden reiner bekenntnismäßiger Lehre«. Hirsch, Geschichte, Bd. V, 178. In seiner Schrift Die lutherische Kirche und die Union (1859) wird die Unionsfrage negativ beantwortet: »Nach dieser [Schrift, H. M.R.] steht die lutherische Kirche in einem so durchgreifenden Lehrgegensatz wider die reformierte, dass sie ohne Selbstpreisgabe eine echte, auf Lehre und Kultus sich erstreckende Union mit der reformierten nicht vollziehen kann.« Hirsch, Geschichte, Bd. V, 184.

10. Die chiliastische Realeschatologie und die Geschichtstheologie Gottfried Menkens 10.1 Die chiliastische Realeschatologie Heilsgeschichtliche Theologie hat in der Eschatologie ihr großes vollendendes Finale. Auf das Kommen des Reiches Gottes zielt der göttliche Heilsplan, in dessen Mitte die Person und das Werk Jesu Christi stehen. Ist heilsgeschichtliche Eschatologie verbunden mit der Naherwartung der Parusie Christi, spürt man das Herzblut des Theologen, der in dieser Hoffnung lebt und schreibt. Das gilt auch für den Heilsgeschichtlicher Gottfried Menken. Menkens Eschatologie ist im letzten Kapitel der Anleitung unter dem Titel »Fortgang und Vollendung der göttlichen Absichten und Anstalten« zusammengefasst.1 Die konkrete Hoffnung dieser Eschatologie geht nicht konform mit den reformatorischen und altprotestantischen Lehrbestimmungen und versteht sich als Widerspruch zum Spiritualismus der Aufklärung und ihrer Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. Die Vollendung des Reiches Gottes beginnt mit dem Millennium, dem tausendjährigen Gottesreich auf der Erde. Mit der (biblischen) Vorstellung des Chiliasmus vertritt Menken eine Realeschatologie gegen eine Jenseits-Eschatologie, die das Irdische, Leibliche, Materielle der Vernichtung preisgibt. Zum Verständnis der eschatologischen Aussagen Menkens ist ein Überblick über die Geschichte und Begrifflichkeit des sogenannten Chiliasmus sinnvoll. Die dogmatische Analyse konzentriert sich dann auf die Fragen nach der Funktion des Chiliasmus, nach der Bedeutung der Leiblichkeit für die Kontinuität der menschlichen Existenz und nach der Hoffnung für Israel am Ende der Zeit.

10.1.1 Zur Entstehungs- und Traditionsgeschichte und zur Begrifflichkeit des Chiliasmus Die biblische Grundlage der Hoffnung auf ein endgeschichtliches, tausendjähriges messianisches Reich findet sich in Offb 20,1–6. Nach der dort beschriebenen Vision des Sehers der Offenbarung wird der Satan am Ende der Geschichte in Fesseln gelegt. Die Märtyrer und Blutzeugen werden von den Toten auferstehen. Sie werden Priester und Priesterinnen Gottes und Christi 1 Menken, Schriften VI, 246–252.

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sein und mit Christus tausend Jahre lang auf der Erde herrschen (Offb 20,6). In der Verkündigung Jesu findet sich dieser sogenannte Chiliasmus nicht. Chiliasmus ist die griechische Bezeichnung des tausendjährigen Reiches nach Offb 20, die lateinische lautet Millennarismus. In der europäischen Literatur wird das griechische Wort bevorzugt, in der angloamerikanischen das lateinische. Im allgemeinen Sprachgebrauch haben sich auch die Worte »Messianismus« und »messianisch« durchgesetzt.2 Aus dem amerikanischen Sprachgebrauch stammt auch die wichtige Unterscheidung zwischen dem Premillennarismus und dem Postmillennarismus, die in der Rezeptionsgeschichte des messianischen Reiches eine große Rolle spielt. Pre- und Postbeziehen sich auf die (zweite) Parusie Christi. Der Premillennarismus meint die Vorstellung, dass das tausendjährige Reich eine Periode in der Zukunft nach dem zweiten Kommen Christi, seinem Kommen in Herrlichkeit, sei. Der Postmillennarismus versteht das tausendjährige Reiche als eine Periode der Geschichte vor der Wiederkunft Christi. Der Begriff des Messianismus deutet bereits an, dass es sich dabei um eine jüdische Vorstellung handelt, die in der Offenbarung des Johannes übernommen wird. Sie begegnet in drei jüdischen Apokalypsen, die vor und nach der Zeitenwende, also relativ nahe der Entstehungszeit der Offenbarung des Johannes, verfasst wurden.3 Die jüdischen Wurzeln des Chiliasmus spielen in der christlichen Rezeptionsgeschichte dieser Vorstellung eine große Rolle.4 Die Traditionsgeschichte der chiliastischen Hoffnung lässt sich von der jüdischen Apokalyptik zurückverfolgen zur Prophetie Ezechiels.5 Die in den Begriffen Chiliasmus bzw. Millennium bezeichnete Frist dieser endgeschichtlichen Heilszeit erklärt sich wohl aus dem Versuch, die Weltgeschichte als Ablauf einer Woche zu verstehen. Wenn nach Ps 90,4 tausend Jahre für Gott wie ein Tag sind, dann hätte die Welt ein Gesamtalter von 7000 Jahren. Die letzten tausend Jahre wären dann als Weltensabbat jene messianische Zeit am Ende der Geschichte.6 2 Vgl. Moltmann, Das Kommen Gottes, 169. Moltmann selbst entscheidet sich für den amerikanischen Sprachgebrauch (neben dem Begriff des Messianismus), nicht nur aus internationalen Gründen, sondern weil die USA heute das Land des millennaristischen Denkens par excellence sind. 3 Es handelt sich um 1Henoch 91,12–17 (175–167 v. Chr.), 4Esra 7,26–30 (um 90 n. Chr.) und 2Baruch 27,1–15 (verfasst wohl 70–132 n. Chr.). Die zeitlichen Vorstellungen beim messianischen Königreich differieren. 4 Vgl. dazu den Abschnitt 10.1.4. 5 Otto Böcher verweist auf Ez 37–48 als »Hintergrund« der in Offb 20–22 vorliegenden »Schilderung des apokalyptischen Dramas«: »Der Unterschied zwischen Offb 20–22 und Ez 37–48 besteht vor allem darin, dass zufolge Offb 20 das messianische Reich befristet ist und daß ihm Totenauferstehung und Endgericht folgen, während Ez. 37,15–28 eine ewige Heilszeit verheißt (Ez 37,25 f).« Böcher, Chiliasmus I, 724. 6 Nach Mühling, Grundinformation Eschatologie, 220. Mühling weist auch auf die Verbindung hellenistisch-römischer Vorstellungen mit jüdischen hin: »Die Vorstellung einer Heilszeit am Ende der Geschichte verbindet dann hellenistisch-römische Vorstellungen eines goldenen Zeitalters mit der Vorstellung eines Weltensabbats, einer Heilszeit am Ende der Zeit.« Ebd. 200.

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Wichtiger als die literarkritischen und religionsgeschichtlichen Fragen ist die Frage nach dem Sinn und der Funktion des Chiliasmus in der jüdischen und christlichen Theologie. Einleuchtend ist die Antwort von Paul Althaus im Blick auf das Judentum: »Der Gedanke eines messianischen Zwischenreiches ist ein ursprünglich aus dem Parsismus stammendes Erbe der spätjüdischen Apokalyptik. Wir finden ihn zuerst in den Apokalypsen Henoch, Baruch und Esra. Er entsteht als Ausgleich der ›prophetischen‹ und der danielischen ›apokalyptischen‹ Eschatologie, d. h. der auf dem Boden der Geschichte bleibenden national-messianischen Hoffnung einerseits, der ins Transzendente greifenden überweltlich-universal-personalistischen andererseits. Was bisher unausgeglichen nebeneinander stand oder unklar ineinander lag, wird nun zu einem einfachen Nacheinander geordnet.«7 Warum wird in der Apokalypse des Johannes die Tradition vom tausendjährigen Reich aufgenommen und eigenständig ausformuliert? In seiner Auslegung der Johannesapokalypse stellt Klaus Wengst fest, dass der Verfasser des letzten Buches der Bibel zwar »das Konzept radikalen Abbruchs« vertrete, mit der Aufnahme des Chiliasmus aber zeigen wolle, dass er nicht dualistisch denke. Hier werde also ein antignostischer Akzent gesetzt: »Gott ist der Schöpfer; und so ist Johannes nicht bereit, auch nur diese vergehende Welt dem Teufel zu überlassen. Gewiss, sie vergeht – aber nicht ohne dass es vom Bösen befreites Leben auf ihr gegeben hätte. Das hält hartnäckig an der Hoffnung fest: Ein gutes Leben für alle, ein von Gewalt und Unterdrückung freies Leben ist möglich!«8

Die Erwartung und Vorstellung eines endgeschichtlichen messianischen Friedensreiches Christi auf der Erde hat in der Geschichte der Kirche und in der Geistesgeschichte des Abendlandes eine große Faszination ausgeübt. Sie ist aber nie zu einer offiziellen kirchlichen Lehre geworden. Sie wurde im Verlauf der Theologie- und Kirchengeschichte unterschiedlich rezipiert und interpretiert. Die Rezeption und das jeweilige Verständnis der chiliastischen Utopie stehen in auffallendem Konnex mit der jeweiligen Situation der Kirche und mit den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen Christen und Christinnen leben. Als ursprünglich religiöse Idee erfuhr sie seit der Aufklä7 Althaus, Die letzten Dinge, 51949, 297. 8 Wengst, Wie lange noch?, 218. Wengst sieht mit Wolfgang Schrage in der antignostischen Abzweckung des chiliastischen Gedankens »das berechtigte Moment dieser Hoffnung der Offenbarung«: »Dieses Moment ist die sichtbare Realisierung der Herrschaft Jesu Christi innerhalb dieser Welt, die nicht einfach als teuflisch den Dämonen und imperialen Helfershelfern des Drachen überlassen werden kann. Die Herrscherstellung Jesu Christi bedarf für den Seher auch der Manifestierung in diesem Äon; und das ist völlig legitim. Daß Jesus Christus, ›der Herr aller Herren und der König aller Könige‹ ist […], das ist eben nicht eine Aussage nur über das Jenseits, sondern das impliziert einen Anspruch auf alle Bereiche dieser Welt und ihre Herren und Könige.« Ebd.

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rung wirkungsmächtige Transformationen in zahlreichen säkularen geschichtsphilosophischen Entwürfen. 10.1.2 Realeschatologie in der Zweifrontenstellung gegen die Aufklärung und die kirchliche Orthodoxie Heilsgeschichtlicher Biblizismus führt zu einer endgeschichtlichen Eschatologie.9 So wird auch von Menken ein Gesamtbild des Ablaufs des Endes dieser Welt und des Beginns der neuen Welt Gottes nach den biblischen Angaben entworfen. Die bevorzugten Quellen sind wie bei allen Heilsgeschichtlern die Offenbarung des Johannes und das alttestamentliche Buch Daniel. Menkens »eschatologische Dramaturgie« umfasst folgende Ereignisse und Perioden: »Auftritt des Antichristus« – »Erscheinung der Zukunft des Herrn« und »Gefangenschaft des Satans auf tausend Jahre« – »Erste Auferstehung der Heiligen und Regierung der Heiligen im Himmel über die Erde« – »Allgemeine Theokratie oder vielmehr Christokratie auf Erden« – »Losbindung des Satans« und »allgemeine Ruchlosigkeit« – »Zukunft des Herrn« – »Allgemeine Auferstehung aller Menschen« – »Dann wird Jesus Christus, der Herr, sich zeigen als Richter der Lebendigen und Todten« und es wird »über alle ein Gericht gehalten werden« – Teilnahme der Heiligen und Herrlichen, die Jesus Christus am ähnlichsten geworden sind »wie an seiner ganzen könlichen und hohenpriesterlichen Herrlichkeit, so auch an der Weltrichterwürde, und dem Weltrichtergeschäfte«.10 Diese endgeschichtliche Dramaturgie unterscheidet sich deutlich von der traditionellen eschatologischen Lehre der Orthodoxie. Deren Themen handeln unter dem zusammenfassenden Titel De novissimis: de morte, de resurrectione mortuorum, de extremo iudicio, de consummatione mundi, de damnatione et vita aeterna.11 Die Chiliasmusutopie steht unter dem Verdikt der reformatorischen Bekenntnisschriften.12 Eine irdische Vollendung des 9 Menkens Eschatologie ist im letzten Kapitel der Anleitung zusammengefasst unter dem Titel Fortgang und Vollendung der göttlichen Absichten und Anstalten. Menken, Schriften VI, 246–252. 10 Diese Perioden werden in der Eschatologie der Anleitung in Menken, Schriften, VI, 247–250 behandelt. 11 Vgl. Kraus, Systematische Theologie, 535 Anm. 1. Heppe-Bizer, Dogmatik, 557–570, nennt als Loci der reformierten, orthodoxen Eschatologie (De glorificatione): Tod der Gläubigen und Ungläubigen, Wiederkunft Christi, Auferstehung aller Toten, Gericht, Ende dieser Welt, ewiges Leben und ewiger Tod. 12 Die Reformatoren lehnen den Chiliasmus ab. »Apok. 20 wird weiterhin nicht endgeschichtlich, sondern kirchengeschichtlich gedeutet: das Tausendjährige Reich liegt in der Vergangenheit, es endet mit dem Auftreten der Türken. […] Die Reformatoren sind unchiliastisch wie Jesu Gedanken und doch ebenso auf das Ende gespannt wie diese.« Althaus, Die letzten Dinge, 51949, 301. In der Confessio Augustana und in der Confessio Helvetica Posterior wird der Chiliasmus verdammt, weil es sich um jüdische Meinungen und Träume handle: »Damnant et alios, qui

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Reiches Gottes ist nicht vorgesehen.13 Deutlich und bewusst ist auch der Gegensatz zu den Vorstellungen der Aufklärung. Die neologische Eschatologie ist einseitig individualistisch und spiritualistisch. Sie ist beherrscht von der (unbiblischen) Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und weiß sich darin einig mit der Philosophie ihrer Zeit.14 Da die Neologen und Rationalisten das Alte Testament gering schätzen und den Messianismus, die eschatologische Verkündigung der alttestamentlichen Prophetie und Apokalyptik als die grobsinnliche Hoffnung des Judentums ablehnen, sind die Weichen zu einer unbiblischen individualistischen und spiritualistischen Eschatologie gestellt.15 Der Begriff der Realeschatologie will die Gegenposition Menkens zu dieser Eschatologie der Aufklärung markieren. Die Realeschatologie wird konkret in der Hoffnung auf das messianische Reich, im Chiliasmus. Zum messianischen Reich Jesu Christi am Ende der Geschichte führt Menken in der Anleitung aus: »Die allerweiseste und allergerechteste Vereinigung, Subordination und Coordination der vernünftigen Schöpfung unter Ein Oberhaupt zu Einem Staate, und damit die Beförderung der höchsten Freude aller vernünftigen Wesen, oder: das himmlische Königreich – ist zwar als die Summe aller göttlichen Absichten mit den vernünftigen Geschöpfen (Eph. 1,3–14) und als Zweck der Welterschaffung (Matth. 25,34) ganz und gar für die Ewigkeit […], aber innunc spargung iudaicas opiniones, quod ante resurrectionem mortuorum pii regnum mundi occupaturi sint, ubique oppressis impiis.« (CA XVII). »Damnamus praeterea somnia, quod ante iudicii aureum in terris futurum seculum, et pii regna mundi occupaturi, oppressis suis hostibus impiis.« (CHP XI). Der Vorwurf des Judaismus bezieht sich auf die Weltlichkeit der chiliastischen Vorstellungen, auf ihre Diesseitigkeit oder ihren Realismus. Die Reformatoren übernahmen die traditionellen Einwände gegen den Chiliasmus. In der altprotestantischen Orthodoxie unterschied man dann den Chiliasmus crassus vom Chiliasmus subtilis. Heike KrauterDierolf weist hin auf Johann Gerhard (1582–1637): »Quidam [sc de Chiliastarum tribu] enim chiliasmum subtilem in pace ecclesiae, perfecta iustitia quiete a tentationibus, fidei orthodoxae conformitate universali etc consistentem; quidam vero chiliasmum crassum in corporalibus deliciis ac voluptatibus fluitantem propugnant. (Loci, De consummatione seculi, c. VII, 79).« In: Krauter–Dierolf, Die Eschatologie Philipp Jakob Speners, 109. 13 Vgl. dazu die Kritik von Hans-Joachim Kraus: »Das traditionelle orthodoxe System weiß weder um das die Bibel durchdringende, auf Ziel und Ende hindrängende Kommen des Reiches Gottes noch um die ›eschatologische‹ Verkündigung alttestamentlicher Prophetie und neutestamentlich-apostolischer Botschaft. Unter dem Thema ›De novissimis‹ wird von den ›letzten Dingen‹ jenseits der Geschichte gehandelt.« Kraus, Systematische Theologie, 553. Kraus vertritt die Überzeugung: »Glaube und Hoffnung der Christen erwarten die Vollendung der Schöpfung, also ein sichtbares und greifbares Hervortreten des Reiches Gottes in der Welt.« Ebd. 561. 14 Für Immanuel Kant sind Gott, Freiheit und Unsterblichkeit der Seele die wesentlichen Postulate der praktischen Vernunft. Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 140–153. 15 Die Ablehnung des Messianismus mit ihren Folgen für die Eschatologie zieht sich von der Aufklärung an durch die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert. Emanuel Hirsch schrieb 1926: »Nicht umsonst empfinden wir Christen den ›Messianismus‹ als den uns fremdesten Zug der jüdischen Religion, so wie sie bis heute geblieben ist, als das eigentliche Verhängnis jüdischer Art […]. Der von Jesus in der Versuchungsgeschichte abgewiesene satanische Versucher ist der jüdische Messiasgedanke.« Hirsch, Jesus Christus, 27 f.

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sofern es auf Erden anfing und gegründet wurde, hat es auch auf Erden seine Geschichte, seinen Fortgang und seine Vollendung.«16

Ausdrücklich hält Menken hier die Diesseitigkeit des »himmlischen Königreiches« in seiner geschichtlichen Entwicklung und Vollendung fest. Den Anfang auf Erden sieht Menken in der »Erwählung und Berufung Abrahams und nachher noch eigentlicher mit der Erlösung Israels aus Aegypten«.17 »Das Ziel Gottes ist das Diesseits«: So wird Leonhard Ragaz gut hundert Jahre später ganz im Sinne Menkens sagen!18 Für eine Realeschatologie, die auf der Diesseitigkeit des Reiches Gottes in seiner Vollendung besteht, hat Menken schon in seiner ersten Schrift, der Dämonologie, gekämpft. Sein Duisburger Lehrer Grimm hatte die Akkommodationstheorie der Aufklärung übernommen und geschrieben: »Wie nachsichtsvoll bewies sich Jesus gegen das herrschende Vorurtheil von der irdischen Glückseligkeit des messianischen Reichs? Wie sehr bequemte er sich auch hier nach den unrichtigen Begriffen seiner Nation und seiner Jünger? – Oft redete er selbst ganz in jüdischen Bildern von der Glückseligkeit seines Reiches, und doch war dieses ein Vorurtheil, das mit seinem ganzen Plane geradezu im Widerspruch stand.«19 Wenn Professor Grimm von einem »bloß geistigen Reich« reden will, so antwortet Menken: »Ein bloß geistiges Reich – das wäre dann wohl ein ganz und gar unsinnliches Reich, ein Reich ohne Körper und ohne Sinne, die diese Körper wahrnehmen könnten? Die Schrift lehrt uns, daß wir nach dem Tode in einer andern Welt fortleben, und da wieder einen Körper haben werden. Soll dieser Körper gar keine Gegenstände um sich haben? Soll da eine ewige Nacht, das alte ›wüste und leer‹ des Chaos und die alte Finsterniß der Tiefe um uns gelagert sein? Ist sehen nicht besser als blind sein? hören nicht besser als taub sein? sprechen nicht angenehmer als stumm sein? Und wir sollten eine Welt erwarten, wo wir in ewiger Blindheit und Taubheit, in ununterbrochener, grausiger Grabesstille vor uns hin brüten müßten, wo kein Laut der Liebe und Freude durch unser Ohr zu unserem Herzen gelangte, unser Auge und unser Herz nie kindlich froh sich weiden könnte an der Schönheit und Herrlichkeit der Werke Gottes um uns her? O du kalter, trauriger Sadducäismus, ich mag deines bloß geistigen Himmels nicht!«20 16 Menken, Schriften VI, 246. 17 Ebd. 18 Vgl. Ragaz, Kampf, 47: »Die Erde ist die Stätte, wo Gottes Gedanken Wirklichkeit werden sollen. Das Wort des ›Antichrist‹: ›Bleibt mir der Erde treu, meine Brüder!‹ drückt im Grunde durchaus den Sinn Christi aus. Was Gott auch in anderen Sphären schaffen mag, er will alle Sphären erfüllen, und wir erwarten das Kommen seiner Herrschaft auf der Erde.« 19 Menken, Schriften VII, 54. 20 Menken, Schriften VI, 59. Menken zitiert dann in diesem Zusammenhang aus der Schrift Friedrich Arnold Hasenkamps Briefe über Propheten und Weissagungen und zeigt so seine Übereinstimmung mit den theologischen Ansichten des Collenbusch-Kreises: »Das Reich Christi ist so wenig moralisch und geistig allein, als es pysisch allein ist. Ein König ohne phy-

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Der Unterschied des messianischen Millenniums zur irdischen Geschichte des Reiches Gottes besteht darin, dass der Satan gefangen ist, dass das Reich Gottes nicht mehr im Kampf liegt mit der Macht des Bösen, dass Christus mit den Heiligen der ersten Auferstehung unbeschränkt herrschen wird. Das messianische Reich wird vorgestellt als eine ideale irdische Welt: Das verlorene Paradies wird wiederhergestellt. Die Geschichte des Reiches Gottes auf der Erde ermöglicht anthropologisch nicht nur Wiederherstellung, sondern sogar Steigerung, wie es der Gedanke einer durch die Heiligung möglichen perfectio maior ausdrückt. Menken betont in seinen eschatologischen Ausführungen: Die Geschichte des Reiches Gottes ist ein Werk Gottes. Auch ihre Vollendung im Millennium ist nicht bedingt durch menschliches Tun und kann nicht durch menschliche Aktivität herbeigeführt werden. Nach der oben skizzierten eschatologischen Dramaturgie beginnt das Millennium mit der Erscheinung der Zukunft des Herrn. An seinem Ende steht dann die Zukunft des Herrn. Den Ausdruck »Erscheinung der Zukunft des Herrn« entnimmt Menken der Schriftstelle 2Thess 2,8: »Dann wird der Gesetzesfeind offen hervortreten, aber der Herr wird ihn durch den Hauch seines Mundes und durch die Erscheinung seiner Wiederkunft zunichte machen.« Der in 2Thess 2 für das Ende der Zeit angekündigte »Feind des Gesetzes« ist der sogenannte Antichristus, dessen Wirken durch die »Erscheinung der Zukunft des Herrn« für tausend Jahre aufgehoben wird. Menken verweist außerdem auf die beiden Schriftstellen Dan 2,44f und Offb 19,11–21 und findet darin diese »Erscheinung der Zukunft des Herrn« angekündigt: »Beide Schriftstellen reden von einer Sache, von der Erscheinung der Zukunft Christi, womit das herrliche Reich des Herrn auf Erden, oder: die Herrlichkeit des Reiches Gottes auf Erden, den Anfang nimmt, und die der Zukunft des Herrn selbst zwei Jahrtausende vorhergeht.«21

Im Vergleich der »Zukunft des Herrn selbst« mit der »Erscheinung der Zukunft des Herrn« klingt das Erste wie eine Steigerung des Zweiten und das Zweite wie eine Vorstufe des Ersten. Menken erklärt den Unterschied nicht. Deutlich ist, dass seine Interpretation des Millenniums premillennaristisch ist. Wie bei allen premillennaristischen Konzepten so ist auch bei Menken mit der Erwartung des futurischen Millenniums eine pessimistische Erfahrung der Geschichte in der Gegenwart verbunden. Das Millennium ist genau genommen ein zweitausendjähriges Reich. Tausend Jahre wird Christus mit den Heiligen unbeschränkt auf der Erde sische Macht ist kein König. Ein an sich unsichtbares Reich eines sichtbaren Königs und sichtbarer Reichsgenossen ist ein Unding.« »Alle Anrufung Jesu ist Unsinn und Abgötterei, wenn Christus nicht buchstäblich herrscht, nicht politischen und physischen Einfluß hat. Er hat gar kein Reich, wenn er kein politisch-physisches hat.« Menken, Schriften VII, 60 f. 21 Menken, Schriften VI, 247.

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herrschen. Dann wird der Satan wieder losgelassen sein und wieder als »Verführer der Nationen« wirken. Nach dem Millennium beginnt das Eschaton. Gott schafft einen neuen Himmel und eine neue Erde. Im letzten Kapitel der Anleitung ist dies kein Thema mehr. Alles Interesse ist auf das Millennium gerichtet. Das folgende Zitat aus dem letzten Kapitel der Anleitung zeigt: Das tausendjährige Reich ist bei Menken der Inbegriff christlicher Hoffnung, denn das Gebet des Herrn wird dann in Erfüllung gegangen sein: »In dieser Zeit der tausend Jahre der Gefangenschaft des Satans und der tausend Jahre der Regierung der Genossen der ersten Auferstehung werden die drei ersten Bitten in dem Gebet des Herrn auf Erden erfüllt, so weit es auf der Erde und in der Zeit möglich ist. Diese Periode ist das Ziel der Weissagung, wo Gott erfüllen wird, was er durch den Mund seiner heiligen Propheten geredet und ihnen evangelisiret; – dann wird man auf Erden sehen (Hebr. 2,8), daß Jesus Christus Herr ist, und daß Ihm Alles unterthan sei; dann wird es im höchsten Sinne eine allgemeine Theokratie, oder vielmehr Christokratie auf Erden geben.«22

Im Millennium wird das Ziel des Heilsplanes Gotte erreicht sein, »so weit es auf der Erde und in der Zeit möglich ist«. Mit dieser Einschränkung deutet Menken an, dass nach dem (begrenzten) Millennium noch etwas Großes oder sogar Größeres kommt. Doch wie das genau zu verstehen ist, bleibt unklar. Man stößt damit auf jenes Problem, das sich allen Theologen stellt, die sich für den Chiliasmus eingesetzt haben und einsetzen. Die ursprüngliche Funktion des Chiliasmus, eine Verbindung der prophetischen und apokalyptischen Zukunftserwartung durch ein Periodenschema zu schaffen, führt in der Regel zu einem Übergewicht der prophetischen Erwartung (des Millenniums) und zu einem Verblassen der apokalyptischen Erwartung des regnum dei in aeternum.23 Menkens Realeschatologie in der Gestalt des Premillennarismus setzt die erstaunliche Rehabilitation des Chiliasmus in der nachreformatorischen Zeit voraus. »Mit Beginn der Neuzeit kam es zur Wiedergeburt messianischer und millennaristischer Hoffnung, allen Verurteilungen dieser Hoffnung in den lutherischen und reformierten Bekenntnisschriften zum Trotz.«24 Der Anstoß zur Renaissance des Chiliasmus in der premillennaristischen Interpretation ging von reformierter Seite aus.25 Dabei ist nach Schrenk die 22 Ebd. 248. 23 Zugespitzt sagt Kliefoth von den Chiliasten: »Weil ihre Christenhoffnung sich im 1000 jährigen Reich befriedigt, schweigen sie des regnum gloriae, weil sie keinen Inhalt für dasselbe behalten.« Zitiert nach Althaus, Die letzten Dinge, 51949, 315. 24 Moltmann, Das Kommen Gottes, 179. 25 »In Deutschland begann die Wiedergeburt des Chiliasmus in der Reformierten Hochschule Herborn durch Johann Heinrich Alsted, Diatribe de mille annis apokalypticis, Frankfurt 1627 […]. Von ihm sowie von der neuen ›prophetischen Theologie‹ der Holländer um Campegius Vitringa und der heilsgeschichtlichen Föderaltheologie von Johannes Coccejus übernahm

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Chiliastische Realeschatologie und Geschichtstheologie Menkens

besondere Bedeutung der Föderaltheologie des Johannes Coccejus hervorzuheben: »Coccejus ist in besonders charakteristischer Weise Eschatologe, weit stärker als Luther und Calvin. Er faßt Reformatorisches und Täuferisches in sich zusammen. Die Spannung auf die Endvollendung hin herrscht in einer Weise vor und durchdringt alles derart, daß hier Momente der im 16. Jahrhundert ausgeschiedenen täuferischen Gedankenwelt neu in das kirchliche Denken einströmen und für den erwachenden Pietismus Bedeutung gewinnen. […] Wenn bei Vitringa, Spener und Bengel ein gemäßigter Chiliasmus, der nicht in den Bekenntnisschriften vorgesehen ist, wieder durchbricht, so ist auch an dieser Stelle zu beachten, daß die coccejanische Theologie hier die Vorlage geboten hat.«26

Der Chiliasmus fand in der wissenschaftlichen Theologie nur wenig Zuspruch. Paul Althaus hat die endgeschichtliche Eschatologie und mit ihr den Chiliasmus einer ausführlichen Kritik unterzogen und sie abgelehnt.27 Von den etablierten evangelischen, der römisch-katholischen und den orthodoxen Kirchen wurde der Chiliasmus bis in die Gegenwart nicht als kirchliche Lehre angenommen. Er lebte aber außerhalb der akademischen Theologie und den offiziellen kirchlichen Lehrbestimmungen fort. Im 19. Jahrhundert fand er große Beachtung und Zuspruch in den sich bildenden Sekten und Freikirchen. Als Element einer endgeschichtlichen Eschatologie ist er trotz aller Kritik der historisch-kritischen Bibelexegese bis heute lebendig geblieben. Die chiliastische Utopie enthält trotz aller Bedenklichkeiten zwei Wahrheitsmomente, die im heutigen eschatologischen Diskurs zu beachten bleiben: Philipp Jakob Spener Ideen für sein einflußreiches Buch: Behauptung der Hoffnung künftiger besserer Zeiten, Frankfurt 1673. Ihm folgten Johann Albrecht Bengel, Erklärte Offenbarung Johannes und vielmehr Jesu Christi, Stuttgart 1740 und Friedrich Christoph Oetinger, Die Güldene Zeit oder Sammlung wichtiger Betrachtungen von etlichen Gelehrten zur Ermunterung in diesen bedenklichen Zeiten zusammengetragen, I Frankfurt/Leipzig 1759, II und III Frankfurt/Leipzig 1761.« Moltmann, Das Kommen Gottes, 180. 26 Schrenk, Gottesreich und Bund, 298. Zum Verständnis des Aufblühens der chiliastischen Utopie in der Neuzeit ab 1590 verweist Richard Bauckmann (Bauckmann, Chiliasmus, 737–347) auf zwei Faktoren: »Der erste war ein gewisser Optimismus hinsichtlich der Durchsetzung des Evangeliums innerhalb der Geschichte, vor dem Ende der Welt. Während der frühe Protestantismus gewöhnlich eine Zunahme der Verfolgung und die Vernichtung des päpstlichen Antichrist erst bei der Parusie erwartet hatte, rückte vor der Jahrhundertwende die Vorstellung von der Niederwerfung des Antichrist durch das Evangelium und die militärische Macht protestantischer Staaten in den Vordergrund, so daß ein goldenes Zeitalter der Kirche vor der Parusie denkbar wurde.« Der zweite Faktor war die Exegese: »Die übliche protestantische Auslegung der Apokalypse des Johannes als prophetische Voraussage des gesamten Ablaufes der Kirchengeschichte wurde mit zunehmender Genauigkeit und Gelehrsamkeit durchgeführt, wobei der Schluß unabweisbar wurde, daß die Prophezeiung auf keine tausendjährige Periode der Vergangenheit wirklich paßte und daß der Aufbau des Buches die Ansetzung des Millenniums am Ende der Kirchengeschichte erforderte.« 27 Althaus, Die letzten Dinge, 51949, 318.

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Einmal hält sie den Realismus, die Diesseitigkeit der christlichen Hoffnung fest. Ohne den Übergangszustand des Millenniums bricht die Welt- und damit auch die Heilsgeschichte ab. Aber der neue Himmel und die neue Erde, das Auferstehungsleben der Ewigkeit, muss doch eine Beziehung zur alten Erde, zum alten Himmel, zu unserer irdischen Geschichte, zu unserer Leiblichkeit und zur außermenschlichen Natur haben. Was heißt sonst Erlösung des Leibes und aller Kreatur? Zum anderen stellen der Verzicht auf die Übergangszeit des Millenniums und das Modell des radikalen Abbruchs schwerwiegende ethische Fragen. Karl Barth hat das ethische Problem, das sich mit der Ablehnung der Chiliasmusutopie stellt, in seinem vier Jahre nach dem ersten Weltkrieg gehaltenen Vortrag Das Problem der Ethik in der Gegenwart zur Sprache gebracht.28 Barth verteidigt die Chiliasmusutopie gegen ihre Diffamierung als Chiliasmus crassus und will sie nicht als Wunschobjekt, sondern als Aufgabe und Ziel des sittlichen Kampfes verstanden wissen. Am Ende des 20. Jahrhunderts hat sich Jürgen Moltmann mit der langen Traditionsgeschichte der chiliastischen Utopie in ihrer vielfältigen Rezeption und Transformation befasst29 und die Frage gestellt: »Ist chiliastische Eschatologie notwendig«? Moltmann unterscheidet einen historischen Chiliasmus, der die politische, kirchliche oder universalgeschichtliche Gegenwart chiliastisch deutet, vom eschatologischen Chiliasmus, den er als »Zukunftserwartung im eschatologischen Zusammenhang des Endes und der Neuschöpfung der Welt« versteht. Der historische Chiliasmus ist nach Moltmann eine »religiöse Legitimationstheorie politischer und kirchlicher Macht und den messianischen Gewalttätigkeiten und Enttäuschungen der Geschichte ausgeliefert«.30 Moltmann lehnt ihn ab und bekennt sich zum eschatologischen Chiliasmus. Denn: »Eschatologischer Chiliasmus ist demgegenüber ein notwendiges Bild der Hoffnung im Widerstand, im Leiden und in den Exilen dieser Welt. Chiliasmus muß fest in die Eschatologie eingebunden werden. Abgelöst und für sich genommen führt er in die Katastrophen der Geschichte. Eingebunden aber gibt er Kraft zum Überleben und Widerstehen.«31

28 »Ohne Chiliasmus, und wenn es nur ein Quentchen wäre, keine Ethik, so wenig wie ohne die Idee einer moralischen Persönlichkeit. Wer von dieser judaica opinio etwa frohgemut ganz frei sein sollte, von dem wäre zu sagen, daß er das ethische Problem wirklich noch nicht oder wirklich nicht mehr sieht.« Barth, Das Problem der Ethik, 139 f. Hervorhebung H.M.R. 29 Vgl. Moltmann, Das Kommen Gottes, 218. 30 Ebd. 31 Ebd.

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10.1.3 Leiblichkeit: »das Ende der Werke Gottes« – die Kontinuität der menschlichen Existenz in der neuen eschatischen Leiblichkeit Was biblische Realeschatologie bei Menken bedeutet, kommt bei der Frage nach der Leiblichkeit des Menschen im Eschaton, nach der Identität des dem Tod mit Leib und Seele verfallenden irdischen Menschen und dem auferweckten selben Menschen in der neuen Welt Gottes besonders zum Ausdruck. Menkens Äußerungen über die Auferstehung setzen seine anthropologischen Grundsätze voraus, die er im vierten Kapitel der Anleitung zusammenfasst: Der Mensch mit seinem befristeten irdischen Leben ist nicht geschaffen für diese Welt, sondern für ein unaufhörliches Leben in einer anderen Welt. Da es menschliches Leben nicht ohne einen Körper gibt, hat der Mensch von Anfang an für beide Welten einen Körper. Der Körper für das irdische Leben ist irdisch, sterblich, verweslich. Er wird im Tode abgelegt. »Zugleich mit diesem hat der Mensch einen andern, den Augen des irdischen Körpers unsichtbaren, himmlischen Körper, der ihm für jene andere Welt, in welche er, wenn er diese verläßt, hinübergeht, zum Organ des Daseins gegeben wurde, der, wie jene Welt, und alles, was sich in ihr befindet, eines himmlischen Wesens, unsterblich, unverweslich, nur für himmlische Dinge brauchbar und für diese Welt und ihre Dinge unbrauchbar ist. Auf diesen himmlischen Körper deutet die Bibel, wenn sie von dem inwendigen Menschen redet.«32 Menken bezieht sich hier auf den Begriff des inwendigen Menschen in Eph 3,16 und versteht diesen inwendigen Menschen als einen himmlischen unvergänglichen Körper, der (jedem) Menschen mit dem vergänglichen irdischen Körper gegeben ist. Der Tod des Menschen ist nicht die Befreiung der Seele vom vergänglichen Körper. Ausdrücklich besteht Menken darauf: Eine Unsterblichkeit der vom Körper befreiten Seele, von der die Aufklärer und Philosophen überzeugt sind und mit der sie ihre Hoffnung für das Jenseits füllen, gibt es in der Bibel nicht. Eine für sich existierende, nicht mit einem Körper verbundene Seele, ist für biblisches Denken unvorstellbar: »Sie [die Bibel, H. M.R.] gebraucht diesen Ausdruck: der inwendige Mensch, eben um falsche Vorstellungen von der Seele, und als ob die Seele ohne alles körperliche Organ des Lebens für sich bestehe und bestehen könne, und nach dem Tode des irdischen Körpers ganz körperlos fortleben könne, zu verhindern. Sie will mit diesem Ausdruck andeuten, daß der Mensch im Unsichtbaren […] eben so ein ganzer Mensch ist, wie der Mensch im Sichtbaren; daß der irdische Körper also die Hülle nicht nur eines Theils des unsterblichen Menschen, sondern die Hülle des ganzen Menschen wie er der Unsterblichkeit und einer andern Welt angehört, ist; oder: daß nicht nur ein Theil des menschlichen Wesens seiner Natur nach in dieser Welt unsichtbar 32 Menken, Schriften VI, 69 f.

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ist, sondern daß dasjenige, was von dem menschlichen Wesen unsichtbar ist, einen ganzen Menschen bildet, nicht eine sogenannte abgeschiedene, oder einst abscheidende Seele ohne Körper, sondern eine in der Verbindung mit einem unsterblichen Körper lebende Seele.«33

Der äußere, sichtbare und vergängliche Mensch ist nach diesen Vorstellungen nur die Hülle des inneren unsichtbaren Menschen, der als himmlischer Körper gedacht ist. Menkens Verständnis des heiligen Abendmahls setzt diese anthroposophische Interpretation des inwendigen Menschen als eines himmlischen Körpers in der Hülle des äußeren Körpers voraus. Zum heiligen Abendmahl führt Menken in der Anleitung aus: »So gewiß das Sichtbare und Körperliche, Brot und Wein, in dem heiligen Abendmahle da ist, so gewiß ist auch das Unsichtbare und Geistige, als eigentliche Gabe des Herrn, sein Fleisch und Blut, in demselben vorhanden; […]. Da aber der Herr das Fleisch für unnütz erklärt (Joh. 6,63), und der Apostel Paulus lehrt, daß Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht ererben, und das Verwesliche nicht erben könne die Unverweslichkeit (1.Kor. 15,50) so sehen wir, daß hier nicht vom Leibe des Herrn, als einem irdischen, sondern als einem himmlischen und ewigen die Rede ist.«34 Menken fragt, wie dieses geschehen könne, und antwortet mit dem Hinweis auf das geheimnisvolle Wirken des Heiligen Geistes, das mit dem Bild der alles erreichenden und durchdringenden Strahlen der Sonne verglichen werden kann: »Wie dieses geschehen könne? – das haben wir nicht zu untersuchen. Es kann uns nicht mehr unglaublich dünken, als jede Mittheilung des Göttlichen, als Alles, was die Schrift von dem heiligen Geiste lehrt – ja, es kann uns nicht mehr unglaublich dünken, als jede Mittheilung der Sonne an so viel tausend, so viele tausend Meilen von ihr entfernte Körper, die durch diese Mittheilung Leben erhalten, – eine Sache, die täglich vor unsern Augen vorgeht und uns durchaus unerklärlich ist.«35

Die Vereinigung der Christinnen und Christen mit ihrem Herrn vollzieht sich nach Menken auf eine doppelte Weise: geistlich (im Glauben) und körperlich (durch die Stärkung des inwendigen Menschen): »Durch den Genuß des heiligen Abendmahls aber erhält der Christ von dem Herrn etwas für seinen himmlischen Körper (inwendigen Menschen), und kommt so durch dasselbe mit Ihm in noch eine andere Vereinigung – er wird dadurch mit Ihm Ein Fleisch (Ephes. 5,29.30).«36 33 Ebd. 70. 34 Menken, Schriften VI, 238. Menken erläutert sein Verständnis des heiligen Abendmahls in der Anleitung am Ende von Kap. VII: »Wie der Mensch an der göttlichen Anstalt Antheil erlange und dadurch selig und herrlich werde«. 35 Menken, Schriften VI, 238 f. 36 Ebd. 239.

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Mit dem Eintrag seiner Lehre vom himmlischen Körper in das Abendmahlsverständnis wird bei Menken alte Kirchenvätertradition lebendig: Ignatius von Antiochien (gest. zwischen 107 und 110) nannte die Eucharistie v²qlajom !hamas¸ar, eine Arznei der Unsterblichkeit.37 Der unsichtbare himmlische Körper des Menschen steht nach Menkens Anthropologie in besonderem Maße unter dem Einfluss des Wohlverhaltens oder Übelverhaltens des Menschen. Er registriert, speichert sozusagen alles menschliche Handeln und wird davon beeinflusst zum Positiven oder zum Negativen, mehr als der irdische Körper des Menschen. Der himmlische Körper wird befleckt und geschwächt durch Sünde, aber gestärkt, wenn der irdische Körper geschwächt wird und abnimmt, z. B. in Leiden und Trübsal. Was geschieht beim Tod des Menschen und bei der Auferstehung mit dem himmlischen Körper? Menken antwortet: »Der Tod ist nichts anders als Entkleidung des inwendigen Menschen von dem auswendigen, oder Ablegung des groben irdischen Körpers; die Auferstehung aber ist Ueberkleidung des inwendigen Menschen mit einem geistlichen Leib aus dem Stoff des irdischen.«38 Diese im anthropologischen Kapitel der Anleitung gegebene Auskunft ergänzt Menken im eschatologischen Kapitel mit Erläuterungen, die die (allgemeine) Auferstehung selbst aufs engste mit dem Gericht Gottes verbinden, indem sie das Urteil des Weltenrichters Christus einzeichnen in die unendlich verschiedene Gestalt des geistlichen Auferstehungsleibes, der, allen sichtbar, ewig getragen wird. Die Auferstehung ist nach diesem Verständnis »die höchste Handlung der belohnenden und bestrafenden Gerechtigkeit Gottes«:39 »Die Schrift sagt, Jeder solle an seinem Auferstehungsleibe empfangen, wie er gehandelt, wie es sein gesammtes Verhalten werth gewesen ist. Der Auferstehungsleib, den der Mensch in Ewigkeit behält, wird das Allen sichtbare, nicht zu verbergende Resultat des in dem göttlichen Gerichte über den Menschen ergangenen Urtheils sein. Die Ehre oder Schande, deren der Mensch in dem göttlichen Gerichte würdig erfunden wird, soll an seinem Wesen selbst sein; er soll sie, und in ihr das Urtheil Gottes über seinen Werth oder Unwerth, 37 Ignatius schreibt in seinem Brief an die Epheser: »[…] daß ihr alle Mann für Mann, jeder einzelne ohne Ausnahme gemeinsam in Gnade zusammenkommt, in einem Glauben und in Jesus Christus, der dem Fleische nach aus Davids Geschlecht stammt, dem Menschensohn und Gottessohn, um den Bischof und dem Presbyterium zu gehorchen mit ungeteiltem Sinn, ein Brot berechend, das ist die Unsterblichkeitsarznei [v²qlajom !hamas¸ar, H.M.R.], Gegengift gegen den Tod [!mt_dotor to» !pohame:m, H.M.R.], Gabe, um immerfort in Jesus Christus zu leben.« Die Apostolischen Väter, 191. Der Brief an die Epheser ist neben sechs weitern Briefen auf dem Weg ins Martyrium in Rom während der Regierungszeit des Kaisers Traian um 110/117 verfasst worden. Vgl. Die Apostolischen Väter, 176. Die genauen Lebensdaten des Ignatius sind unbekannt. 38 Menken, Schriften VI, 70 f. 39 Gegen den Einwand, dass die Auferstehung der Toten nach der Schrift dem letzten allgemeinen Gericht vorhergehe, bemerkt Menken: »Das Resultat kann vorher angegeben werden, und wenn dann hernach auch die Prämissen mitgetheilt werden, so kann sich Jeder von der Richtigkeit und Wahrheit desselben überzeugen.« Schriften VI, 249.

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an sich selbst haben und sie, sichtbar dem Auge aller vernünftigen Wesen, mit sich umhertragen ewiglich. Jeder wird durch eine freie Handlung der Allmacht Gottes, die durch Gerechtigkeit bestimmt ist, einen Auferstehungsleib erhalten, gerade so schön, so stark, so herrlich, oder so häßlich, so schwach, so finster, als er es werth ist, in tausendfacher Modifikation und Abstufung.«40 Die Einzeichnung des Gerichtes in den Auferstehungsleib ist ein erstaunlicher Gedanke, der so biblisch nicht zu belegen ist. Menken hat ihn aus den angegebenen Bibelstellen (2Kor 5,10; 1Kor 15, 41f; Mt 13,43; Dan 12,2f; Jes 66,4) erschlossen oder vielleicht von Collenbusch und der Tradition der Württemberger Anthroposophie bzw. Theosophie übernommen.41 Festzuhalten ist die große Bedeutung der Leiblichkeit in der Eschatologie Menkens. Es ist nicht die unsterbliche Seele, die das Kontinuum der Person repräsentiert, sondern der unsterbliche himmlische Leib, der bei der Auferstehung mit »einem geistlichen Leib aus dem Stoff des irdischen« überkleidet wird und so in seiner jeweiligen Gestalt das letzte Urteil des Weltenrichters für immer öffentlich festschreibt. Betont ist damit gegen alle spiritualisierenden Tendenzen der unschätzbare Wert der geschöpflichen Leiblichkeit und die Verantwortung des Menschen für den Leib. Dem Biblizisten Menken geht es ausschließlich um das Erfassen der biblischen Gedanken, der biblischen »Lehre« und ihren unbeeinflussten »Transport« in die Gegenwart. Aber auch die eschatologischen Aussagen Menkens zeigen, dass eine solche ungeschichtliche, von allen Einflüssen abstrahierende autodidaktische Hermeneutik nicht möglich ist. Die Lehre vom himmlischen Körper, der dem Menschen in seinem äußeren Körper zu eigen ist, ist Menken durch seinen Lehrer Samuel Collenbusch vermittelt worden.42 Collenbusch verdankt diese Exegese der paulinischen Texte Friedrich Christoph Oetinger und der Württemberger anthroposophischen bzw. theosophischen Tradition. Oetinger gehört zum »geistig-geistlichen Umfeld« Collenbuschs. Collenbusch stand mit Oetinger im Briefwechsel.43 Die Beziehung von Geist und Leib ist ein 40 Ebd. 248 f. 41 Belege sind für mich nicht auffindbar. 42 Collenbusch schreibt in einem Aufsatz über den inneren Menschen: »Wenn es wahr ist, daß wir einen inneren Menschen in unserem äußeren haben, so ist es schicklich, vom Tode und von der Auferstehung so zu reden, wie der Apostel davon redet, daß nämlich der Tod darin bestehe, daß der innere Mensch von dem äußeren entkleidet werde; und daß die Auferstehung vom Tode darin bestehe, daß der innere Mensch aus dem Stoff des äußeren oder irdischen eine neue Überkleidung bekomme, welche der Apostel einen geistlichen Leib nennet.« Cremer, Nachlaß, 68. 43 Renfordt behandelt die Beziehung Collenbuschs zu Oetinger im Zusammenhang des »geistiggeistlichen Umfeldes«. Unter dem Titel Die Netzwerke der Frommen unterscheidet er den »Anreger bzw. Vermittler« Johann Ludwig Fricker, die »Väter« Johann Albrecht Bengel, Friedrich Christoph Oetinger, Gerhard Tersteegen, die »Brüder« Johann Gerhard Hasenkamp, Thomas Wizenmann, Gottfried Menken, Johann Heinrich Hasenkamp, Friedrich Christian Hoffmann, »die phantasierende Schwester« Dorothea Wuppermann und den »Stiefbruder« Johann Caspar Lavater. Vgl. Renfordt, Samuel Collenbusch, 59.

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zentrales Thema Oetingers. In seiner Schrift Biblisches und emblematisches Wörterbuch (Heilbronn 1776) möchte Oetinger eine Theologie entwerfen, die nach Martin Brecht »Geistliches verleiblicht und die Geistigkeit des Leiblichen erweist«.44 Dahinter stehe eine Konzeption von der Leiblichkeit des Geistes, die nach Oetingers Verständnis auch in der Sprache der Bibel gemeint sei. Das spezielle Denken Oetingers ist von Jakob Böhme (1575–1624) und der Kabbala beeinflusst und führte ihn weiter zur Alchemie.45 Oetinger kann sagen: »Geistlich ist auch leiblich, aber unbefleckt, unverweslich, unverwelklich […].«46 Und er findet eine Bestätigung dieser Aussage in der Heiligen Schrift: »Man meint zwar die unsichtbaren Dinge seyen mit keiner Leiblichkeit verbunden; aber dem ist zuwider, daß die ganze Schrift durchaus geistliche Dinge als Leiblichkeit habende vorstellt. […] Man sage mir, ob man einen Geist als ein ganz immaterielles Wesen denken kann? Keine einzige Stelle aus der Schrift kann man anführen. Die heilige Offenbarung zeigt uns den vollen Schauplatz unsichtbarer Dinge mit sichtbaren Figuren.«47 »Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes«: Das berühmte, bekannteste Wort Oetingers steht in seinem Biblischen und Emblematischen Wörterbuch.48 Im unmittelbaren Kontext dieses Satzes findet sich jene Vorstellung, dass jeder Mensch einen doppelten Leib habe, die Collenbusch von Oetinger übernommen und an Menken weitergegeben hat. Oetinger seinerseits beruft sich mit dieser anthroposophischen Ansicht auf den Philosophen Bernhard Nieeuwentyt aus den Niederlanden: »Wenige sehen so weit wie Nieuwentyt, der in jedem Menschen einen doppelten Leib nachweist, einen verborgenen siderischen oder aetherischen und einen offenbaren. Man schlage nach dessen Weltanschauung, S. 821. Er zeigt, daß der sichtbare Leib aus blutflüssigen und festen Theilen bestehe, welche nach gewisser Ordnung aus Brod und Wasser gezeuget werden, der ›eigene‹ Leib aber von ganz anderer Art sei. Die Grundbildung oder der Spiritus rector behält seine eigene Zugehör nicht in verweslichen Theilen, sondern in unverweslichen. Dieser ›eigene‹ Leib ist gleichwohl leiblich, und Leiblichkeit aus 44 Martin Brecht in: Geschichte des Pietismus, Bd. 2, 274. 45 Zur Attraktivität der Alchemie für Oetinger erklärt Brecht: »Er stand damit in seiner Zeit nicht allein. Noch war der Übergang von der Alchemie zur modernen Chemie nur ansatzweise vollzogen. Wonach Oetinger suchte, kann man an dem bekannten Melissenexperiment klarmachen. Aus der Melisse lässt sich ein Öl gewinnen, dessen Schlieren ähnliche Muster wie die Blätter der Melisse aufweisen. Das hielt man für die feinere Stofflichkeit, die Idee, die den Erdendingen innewohnt. Oetingers endzeitliche Hoffnung war, dass sich schließlich in den Dingen und vor allem im Menschen die feine Geistleiblichkeit herausbilden würde.« Brecht, Friedrich Christoph Oetinger, 246 f. 46 Oetinger, Biblisches und emblematisches Wörterbuch, 807. 47 Ebd. 784 f. 48 Ebd. 315. Zu beachten ist der Hinweis von Willy Schulze: »Die häufig zitierte Lesart ›Wege Gottes‹ ist deutlich sekundär, schon rein philologisch müßte, wenn der Urtext ›Werke‹ nicht nachweisbar wäre, die Lesart ›Werke‹ als die schwierigere Lesart vorgezogen werden.« Schulze, Leiblichkeit, 153, Anm. 55.

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dem Fleisch und Blut Jesu ist die höchste Vollkommenheit; sonst wohnte die Fülle Gottes nicht leibhaftig in Christo. Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes, wie aus der Stadt Gottes, Offenb. 20, klar erhellet.«49

Der Bezug Oetingers auf Offb 20, auf die Weissagung des messianischen Reiches, ist hier wohl als biblische Rechtfertigung gemeint und zielt auf die Diesseitigkeit des Reiches Gottes in seinem chiliastischen Übergang. Leiblichkeit ist bei Oetinger wie beim Apostel Paulus nicht nur ein Kennzeichen des irdischen vergänglichen Menschen. Sie umfasst auch die neue Leiblichkeit des Auferstehungslebens und kommt dort zu ihrem (herrlichen) Ende. Diese steht in der Kontinuität mit dem verborgenen, »eigenen« Leib, der dem Menschen neben dem verweslichen Leib aus Fleisch und Blut zu eigen ist. Menken und Collenbusch haben die theosophischen Implikationen ihrer eschatologischen Anthropologie nicht erkannt.50 Nur mit dieser Einschränkung kann von einer biblisch-realistischen Eschatologie gesprochen werden. Nirgendwo in der Schrift wird dem Menschen neben seinem irdischen vergänglichen ein unsichtbarer, himmlischer, unvergänglicher Körper zugeschrieben, der das Kontinuum der irdischen und der neuen eschatischen Existenz bildet. An die Stelle der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele tritt hier die Lehre von der Unsterblichkeit des himmlischen Körpers, den der Mensch schon zu seinen Lebzeiten auf der Erde besitzt. Kontinuität »zwischen den Welten« gibt es biblisch nicht ohne Abbruch und Verwandlung. Sie liegt nicht im Vermögen des Menschen, sondern im Vermögen des neuschöpferischen Handelns Gottes allein.51 Unter diesem Vorbehalt hat Hans-Joachim Kraus den (biblischen) 49 Ebd. 50 Zum intensiven Gebrauch des berühmten Wortes Oetingers bemerkt Schulze: »Dieses Wort wird oft von Theologen verwendet, die eine biblisch-realistische Eschatologie zum Ausdruck bringen wollen, die wenigsten wissen aber um den theosophischen Zusammenhang dieses Wortes.« Schulze, Leiblichkeit, 152 f. Zu beachten sind auch Barths kritische Bedenken gegen eine einseitige Betonung der Leiblichkeit: »Es geht schon in der Offenbarung als solcher zweifellos um den Geist: um seinetwillen, aber auch nur um seinetwillen dann auch um die Natur. Es bedeutet das bekannte Wort von Fr. Chr. Oetinger, daß das Ende der Wege Gottes die Leiblichkeit sei, eine historisch verständliche, aber sachlich bedenkliche Überspitzung, die nur dadurch erträglich wird, daß man ›auch die Leiblichkeit‹ zu lesen sich erlaubt.« Barth, KD II/1, 300. 51 Magdalene L. Frettlöh entwirft eine Eschatologie der memoria Dei, in der der gesamtbiblisch so wichtige Name des Menschen sein oder ihr Persongeheimnis repräsentiert. Wenn es im Nachdenken über die Kontinuität des unverwechselbaren einzelnen Menschen in dieser Welt und in der neuen Welt Gottes um die Identität geht, so gibt Frettlöh zu bedenken: »Theologisch betrachtet ist ›Identität‹ nichts, was wir abstrakt besitzen, sondern wird allein extern von Gott garantiert, der Menschen besser kennt als diese sich selbst.« Frettlöh, Antrittsvorlesung, 77. Zu ihrer eschatologischen Position erklärt Frettlöh: »Wie kann es eine Einheit der Person durch den radikalen Bruch hindurch, den der Tod darstellt, geben? Und zudem: Wie kommt es zu einem Wiedererkennen und Ansprechen auch der anderen auf ihr gelebtes Leben? […] Mit diesen Fragen ist eingeräumt, dass in meinem eschatologischen Entwurf der Eigenname jene Stelle einnimmt, die traditionell in – vor allem katholischen – Eschatologien der Unsterblichkeit der

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Primat der Leiblichkeit in der Eschatologie seiner Systematischen Theologie aufgenommen.52 10.1.4 Hoffnung für Israel Menken vertritt eine Eschatologie, in der es nicht um die Hoffnung der Kirche allein geht. Die christliche Hoffnung ist aufs engste mit der Hoffnung für Israel verbunden. Das eschatologische Interesse an Israel kennzeichnet die ganze Linie der heilsgeschichtlichen Theologie seit Coccejus. Wie aber ist die Erfüllung der Verheißungen für Israel, das sich in seiner Mehrheit dem Glauben an den Messias Jesus verschlossen hat, vorstellbar? Wann soll das geschehen? Die Heilsgeschichtler antworten: Im Millennium, im tausendjährigen Reich.53 Menken äußert sich über das eschatische Schicksal Israels, über die HoffSeele zukommt. Ist dort die unsterbliche Seele Trägerin von Identität durch den Tod des Leibes hindurch, so ist es in meiner Konzeption der bei Gott aufbewahrte Name. Die Differenz ist zugleich deutlich: Mit der Vorstellung einer unsterblichen Seele ist die Kontinuität auf Seiten des Geschöpfes lokalisiert, während sie in meiner namenstheologisch fokussierten Eschatologie allein in der memoria Dei gegeben ist.« Ebd. 80. Frettlöh räumt aber ein, dass die biblisch festgehaltene Leiblichkeit des Auferstehungslebens auch in dieser Konzeption zur Geltung kommen muss: »Auferweckung ist ebenso wie Auferstehung und Kommunikation der Auferstandenen mit Gott und untereinander nicht ohne leibliche Verfasstheit vorstellbar, kommunizieren wir doch leibhaftig und mit allen Sinnen. Insofern sind meine auf den namhaften Auferstehungsruf begrenzten Überlegungen angewiesen auf komplementäre Hoffnungsmotive zur Auferstehungsleiblichkeit.« Ebd. 78. Hervorhebung H.M.R. 52 »Es muß alles neu werden unter der schöpferischen Freiheit und dem schöpferischen Reichtum Gottes (1. Kor. 15,39 ff.) Aber die durch die Schöpfungsmacht Gottes bezeichnete Grenze und Diskontinuität hebt die Kontinuität des menschlichen Persongeheimnisses nicht auf. Bemerkenswerter Weise ist es nicht die Seele (›unsterbliche Seele‹), die das Kontinuum repräsentiert, sondern der Leib, die Persongestalt. Gesät wird ein soma psychikon, auferstehen wird ein soma pneumatikon (1. Kor. 15.44). Aber soma ist nicht sarx, sondern die Persongestalt, in der schon jetzt das pneuma hagion wie in einem Tempel Wohnung nehmen und als Geist der Freiheit, als Angeld des künftigen Reiches der Freiheit, regieren will (1. Kor. 6,19). Es geschieht Verwandlung (1. Kor. 15,51), also weder totaler Bruch noch irgendwie geartete Fortsetzung.« Kraus, Systematische Theologie, 561. 53 Paul Althaus sieht im Zusammenhang des Chiliasmus mit der eschatischen Hoffnung für Israel ein wesentliches Anliegen der heilsgeschichtlichen Theologie, das die ganze Tradition dieser Theologie seit Johannes Coccejus bestimmt: »Der Chiliasmus und die Erwartung für Israel gehören eng zusammen. […] Auch dieser Zug der endgeschichtlichen Eschatologie, die Erwartung von Israels herrlicher Zukunft und Bedeutung in dem irdischen Reiche Christi, geht über Bengel und seine Schule (Crusius, Roos, Oetinger, vgl. auch Hofmann und Baumgarten) auf Coccejus zurück.« Althaus, Die letzten Dinge, 31926, 109 Anm. 1. Althaus selbst lehnt als Lutheraner den Chiliasmus ab und setzt sich kritisch mit den prophetischen Verheißungen an Israel auseinander, die nach seiner Hermeneutik durch Christus beendet sind. Besonders die nationalen Hoffnungen Israels werden abgelehnt. Althaus zitiert in diesem Zusammenhang den Heilsgeschichtler Auberlen, der auch das Anstößige der Hoffnungen Israels für christliche Ohren zum Ausdruck bringt: »Wir zucken die Achseln über das Volk der Wahl, daher auch über den Chiliasmus.« Nach Althaus, Die letzten Dinge, 31926, 109 Anm. 1.

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nung des Volkes Gottes und ihren Zusammenhang mit der Hoffnung der Kirche im eschatologischen Kapitel der Anleitung: »Durch den Unglauben verlor das Israel nach dem Fleische Anrecht und Antheil an dem Reiche Gottes, und durch den Glauben (durch die Annahme des Evangeliums von Jesus Christus) gelangten die Heiden dazu. Wenn aber das Evangelium unter den heidnischen Nationen Alles gewirkt haben wird, was es darunter wirken kann, und Gott nach seiner Präscienz weiß, daß nun weiter keine Individua unter ihnen zu Priestern und Königen des Reiches Gottes im Himmel dadurch werden gebildet werden, so wird es allmählich unter ihnen wieder hinwegkommen, und Israel wird es wieder annehmen. Die Schrift sagt einen großen allgemeinen Abfall der ehemals heidnischen und christlich gewordenen Nationen von dem Christenthum vorher und weissagt die Zurückkehr Israels zum Glauben an den Jesus Messias, den seine Väter gekreuziget haben.«54

Menken nimmt hier Gedanken des Apostels Paulus aus den Israelkapiteln des Römerbriefes auf, die nach dem Sinn des jüdischen Nein zur Messianität Jesu und nach der eschatischen Hoffnung für Israel fragen. Er trägt aber eigene Gedanken und Elemente seiner Theologie ein. Die Beziehung zwischen Israel und den Völkern in Bezug auf den Glauben und das daran gebundene ewige Heil ist wie bei Paulus dialektisch gesehen: Israel verliert durch seinen Unglauben das Anrecht am Reich Gottes, während es die heidnischen Völker durch den Glauben gewinnen. Wenn das Evangelium unter den Völkern alles, was es wirken kann, gewirkt hat – das heißt nach Menkens Interpretation, dass, »wenn Gott nach seiner Präscienz weiß, daß nun weiter keine Individua unter ihnen zu Priestern und Königen des Reiches Gottes im Himmel dadurch werden gebildet werden« –, dann wird das Evangelium in den Völkern »hinwegkommen« und »Israel wird es wieder annehmen«. Paulus redet in Röm 11 weder von der Funktion des Evangeliums zur Ausbildung von Priestern und Königen im Reiche Gottes noch von »einem grossen Abfall der ehemals heidnischen und christlich gewordenen Nationen von dem Christenthum«. Dies ist Menken-Collenbusch’sche Theologie, die die Bezeichnung des Volkes Gottes als Priester und Könige (im Alten und im Neuen Testament) wörtlich nimmt und damit eschatologisch verstehen muss. Die zentrale Aussage Menkens über die Hoffnung für Israel im oben zitierten Paragraphen der Anleitung lautet: Die Schrift »weissagt die Zurückkehr Israels zum Glauben an den Jesus Messias, den seine Väter gekreuziget haben«. Damit bezieht sich Menken auf Röm 11,26: »Ganz Israel wird gerettet werden«. Hoffnung für Israel heißt bei Menken: Bekehrung Israels zum Glauben an den Messias Jesus. Menken teilt dies Verständnis mit allen Heilsgeschichtlern von Coccejus bis Hofmann und Auberlen. Er steht damit im mainstream der 54 Menken, Schriften VI, 247.

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Auslegung von Röm 11 in der christlichen Theologie bis heute. Dieses Verständnis entspricht der beherrschenden christologischen Bibelhermeneutik, die durch das solus Christus der reformatorischen Theologie so sehr in das Bewusstsein der Exegeten und Exegetinnen eingegangen ist, dass ein differenziertes Lesen und Verstehen erschwert, ja unmöglich wird, denn in Röm 11 ist von keiner Bekehrung zum Glauben an den Messias Jesus die Rede. Die »Rettung ganz Israels« wird von Paulus sicher als endgeschichtliches Geschehen verstanden. Dass sie im Zusammenhang mit der Parusie Christi steht, wird nicht deutlich gesagt, kann aber aus den alttestamentlichen Zitaten (Jes 59,20f; 27,9) erschlossen werden, die Paulus als biblische Begründung anfügt.55 Die Rettung ganz Israels wird von Paulus als ein »Geheimnis« angekündigt, das die Gemeinde in Rom davor bewahren will, »auf eigene Einsicht zu bauen« (Röm 11,25). Was eigene Einsicht anrichten kann, haben die Enterbung Israels durch die Kirche und die Israelvergessenheit in der christlichen Theologie lange genug gezeigt. Das Geheimnis, das Paulus ankündigt, ist und bleibt Gottes Geheimnis. Es sollte von der Kirche im Staunen über Gottes Barmherzigkeit für Christen und Juden respektiert, aber nicht vereinnahmt werden.56 Obschon auch Menken die christologische Exegese des von Paulus 55 Klaus Wengst weist in seiner Auslegung des Römerbriefs darauf hin, dass in diesen Bibelstellen von Gottes Kommen gesprochen wird und von seiner Barmherzigkeit an Israel. Wengst gibt auch zu bedenken, dass eine selbstverständliche unreflektierte christologische Auslegung nach der leidvollen Beziehungsgeschichte von Christen und Juden als Ausdruck christlichen Triumphalismus wirken kann. Die Formulierungen des Paulus seien viel offener und vorsichtiger als die eindeutigen Festlegungen vieler Exegeten: »Aber selbst wenn man meint, so habe sich Paulus das gedacht, kann und darf man das nachsprechen? Haben diese Andeutungen nicht einen eindeutig triumphalistischen Klang? Gab es nicht auch eine konkrete triumphalistische Geschichte der Kirche gegenüber Israel? Und muss man nicht andererseits auch wahrnehmen, dass es in dem Jesus ignorierenden Judentum die Erfahrung von Rechtfertigung und von Vergebung der Sünden gibt, die Erfahrung der Gnade und Barmherzigkeit Gottes?« Wengst, Freut euch, ihr Völker, 379. 56 Jürgen Moltmann beachtet die von Wengst betonten offenen und vorsichtigen Formulierungen im paulinischen Text, verbindet aber die Rettung von ganz Israel mit der Parusie Christi: »Der gemeinsame Brennpunkt der jüdischen und christlichen Hoffnungen ist die Ankunft des Messias in seinem messianischen Reich. Erst der Parusiechristus wird ›ganz Israel‹ selig machen (Röm. 11,26). Ganz Israels Annahme wird ›Leben aus den Toten‹ sein (Röm. 11,15 f). Darum muß der Messias Israels der Auferstandene sein.« Moltmann, Das Kommen Gottes, 223. Israels Rettung wird nach Moltmanns Interpretation nicht durch die Bekehrung zum christlichen Glauben, sondern durch »das Schauen« des Parusiechristus geschehen: »Wie der Rabbi Paulus durch das Schauen einer Christusvision zum Apostel Paulus wurde, so wird ganz Israel einmal durch das Schauen des Parusiechristus erlöst werden. Das heißt, ganz Israel wird nicht durch Glauben christlich, sondern durch Schauen erlöst werden.« Ebd. 223. Moltmann vertritt eine neue Israeltheologie, die Israel neben der Völkerkirche »einen bleibenden ›Heilsberuf‹« zuerkennt, weil Gott seiner Erwählung und seiner Verheißung treu bleibt: »Die Christenheit ist neben und Israel gegenüber die ›andere Hoffnungsgemeinschaft‹ Gottes. Sie ist neben dem Volk Gottes die missionarische und messianische Völkerkirche. Sie kann darum ihrer eigenen Hoffnung nur treu bleiben, wenn sie Israel als die ältere Hoffnungsgemeinschaft neben sich anerkennt. In ihrer Hoffnung für die Völker hütet die Kirche auch den ›Verheißungsüberschuß‹

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verkündeten Geheimnisses der endgültigen Rettung Israels vertritt, mindert dies nicht die Bedeutung der Präsenz Israels in seiner heilsgeschichtlichen Theologie. Jürgen Moltmann stellt fest, dass die Verdammung des Chiliasmus als jüdischer Traum in den reformatorischen Bekenntnisschriften »die einzigen Stellen in christlichen Bekenntnissen« sind, in denen Juden überhaupt erwähnt werden.57 Das eschatologische Vergessen oder Übersehen Israels ist bis in die Gegenwart zu beobachten.58 Moltmann sieht den Grund für die reformatorische Ablehnung des Chiliasmus nicht nur in den iudaicae opiniones, in den groben jüdischen Vorstellungen von diesem eschatischen Zwischenreich. Nach Moltmanns These liegt der eigentliche Grund tiefer: »Verworfen wird theologisch auch, daß die christliche Hoffnung eine Zukunft für die Juden als Juden einschließt.«59 Verständlich ist unter diesem Gesichtspunkt, dass die etablierte Kirche seit Augustin den Chiliasmus in der postmillennaristischen Form vertreten hat: Das tausendjährige Reich ist mit der Herrschaft der Kirche im christlichen Abendland bereits angebrochen. Die Hoffnungen Israels sind bereits geistlich erfüllt, und was geistlich nicht erfüllt werden kann, ist abgetan. Wenn aber das Reich Gottes mit dem ersten Kommen Christi und seiner Auferstehung erst geistlich angebrochen und doch noch im Widerstand der widergöttlichen Mächte steht, wenn die Kirche mit ihrer Macht und Geltung nicht dieses Reich Gottes ist, sondern auf seine endgültige Durchsetzung und sichtbare Realisierung wartet, dann steht die Kirche mit ihrer Hoffnung neben Israel: »Die eschatologische Hoffnung der Kirche und ihr Verhältnis zu Israel haben sich immer – es sei positiv oder negativ – entsprochen. Hofft die Kirche auf Größeres als sie selbst, dann kann sie Israel in ihre Hoffnung einschließen. Hält sich die Kirche selbst für die Erfüllung aller Hoffnungen, dann schließt sie Israel aus. Es ist bezeichnend, daß die chiliastische Hoffnung der Christen eine Zukunft für Israel als Israel vertreten hat. Das ist der wahre Grund dafür, daß der Chiliasmus von den Reformationskirchen als ›jüdischer Traum‹ verworfen wurde.«60

Moltmann folgert aus dieser Feststellung, dass die messianische Hoffnung auf das Reich – der Chiliasmus – unabdingbar ist für eine positive Beziehung der Kirche zu Israel:

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der Propheten Israels und wartet darum auch auf die Erfüllung der Hoffnungen Israels.« Ebd. 223. Moltmann, Das Kommen Gottes, 178. Weder in dem hilfreichen Werk von Mühling (Mühling, Grundinformation Eschatologie) noch in dem Buch der katholischen Theologin Johanna Rahner (Rahner, Christliche Eschatologie) ist von einer eschatologischen Hoffnung für Israel die Rede, von jener Hoffnung, die die Kirche mit Israel teilt. Moltmann, Das Kommen Gottes, 178. Moltmann, Das Kommen Gottes, 222. Hervorhebung H.M.R.

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Chiliastische Realeschatologie und Geschichtstheologie Menkens »Es gibt keine positive Gemeinschaft zwischen Kirche und Israel ohne die messianische Hoffnung auf das Reich. Es gibt darum keine zureichende christliche Eschatologie ohne Chiliasmus. Eschatologie ist mehr als Chiliasmus, aber der Chiliasmus ist ihre geschichtliche Relevanz. Erst die chiliastische Hoffnung in der christlichen Eschatologie entfaltet eine irdische und geschichtliche Zukunft der Kirche und Israels.«61

Eine heute notwendige neue Israeltheologie hätte die Aufgabe, Israels Hoffnung eschatologisch nicht in der Hoffnung der Kirche untergehen zu lassen, sondern das Anliegen Gottfried Menkens und der ganzen heilsgeschichtlichen Theologie aufzunehmen: ihr Raum zu geben mit und neben der Hoffnung der Kirche.

10.2 Die Geschichtstheologie Gottfried Menkens 10.2.1 Prophetische Geschichtstheologie gegen den Fortschrittsglauben der Aufklärung – die menschliche Geschichte in der Providenz Gottes und in der Korrelation zum Reich Gottes Jahrhundertwenden üben bis heute eine Faszination aus, führen zum Nachdenken über die Vergangenheit und die Zukunft und waren immer wieder verbunden mit apokalyptischen Erwartungen.62 Menken verfasst seine Auslegung des Monarchienbildes im Danielbuch in den Jahren 1801/02, in der Zeit der Etablierung der Macht Napoleons. Er hält den Abdruck dieser Schrift für zeitgemäß und widmet ihn den ihm bekannten Kreis von »Verehrern biblischer Wahrheiten«. Bereits in der Vorrede hält Menken als Motivation seines Schreibens den fundamentalen Gegensatz zur Geschichtsauffassung der Aufklärung fest: »Die Ahnung, die Erwartung, die Weissagung, daß es anders und besser werden solle auf Erden, ist so alt wie die Menschheit. […] Den Grund dieser Ahnung und Erwartung, das Wort Gottes, hat die Welt vergessen und verlassen, wie sie es überhaupt nicht geachtet hat, Gott in Erkenntniß zu haben. Sie selbst will es anders und besser machen. Da es aber nun, nach ihren unzähligen, sechstausendjährigen, vergeblichen Versuchen, immer noch nicht anders und nicht besser wird, so beginnt doch hier und dort ein Zweifel empor zu kommen, ob es auch wohl je auf dem Wege dieser Versuche besser werden sollte? und mancher, der daran verzagt und verzweifelt, richtet sein Auge zu dem Berge, von dem unsre Hülfe kommt und fängt an zu glauben, 61 Ebd. 222 f. 62 Kurt Novak hat »Endzeiterfahrung und Zukunftshoffnung um 1800 bei Gottfried Menken und Friedrich Schleiermacher« in seinem Aufsatz mit dem Titel Die Welt ist angezündet untersucht. Vgl. Novak, Die Welt ist angezündet, 253–276.

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daß die Hülfe und das Heil von Gott kommen müsse, es ungereimt und ungerathen findend zu erwarten, daß die Wahrheit aus der Lüge und der Segen aus dem Verderben, d. h. die Besserung und die Erlösung der Menschheit aus der Welt hervorgehn werde. Himmel und Erde warten auf eine Theodicee von der Hand dessen, der Himmel und Erde gemacht hat. Denn das tiefste, das heiligste, das seligste Leiden im Himmel und auf Erden ist das Leiden um Gotteswillen – oder unter der Schmach und Schande, die Gott von dieser Welt hat. Wie sollte eine Seele, in welcher die Liebe Gottes ausgegossen ist durch den heiligen Geist, sich zur Ruhe geben können, ehe sie Gott verherrlicht siehet in seiner Schöpfung und Gottes Schöpfung selig in Gott?«63

Bereits in diesem Text der Vorrede sind die wesentlichen Aspekte der Gegenposition Menkens, die dann in der Auslegung des Monarchienbildes biblisch begründet und entfaltet werden, zusammengefasst: Die Hoffnung auf eine neue, andere Welt ist der Menschheit durch das Wort Gottes gegeben. Menken denkt hier an die mit Abraham und der Erwählung Israels beginnende Heilsgeschichte und an das den ersten Menschen im Paradies zugesprochene »Protevangelium«, wodurch allen Menschen die Ahnung und Erwartung einer besseren Welt von Gott mitgeteilt wurde. Gottes Versprechen ist nicht nur vergessen worden. Es wird von der Welt missachtet und abgelehnt, weil die Menschen die Erneuerung der Welt allein und aus eigener Kraft bewerkstelligen wollen. Die erlösungsbedürftige Welt ist aber dazu nicht fähig. Das zeigen die unzähligen Versuche seit Beginn der Menschheitsgeschichte, eine bessere Welt als menschliches Projekt zu schaffen. Die Wahrheit kann nicht aus der Lüge und der Segen nicht aus dem Verderben hervorgehen. Die Enttäuschungen und Desillusionierungen der Ideologien und Projekte eines Reiches der Freiheit am Ende der Geschichte führen nicht nur in die Verzweiflung, sondern »mancher, der daran verzagt und verzweifelt, richtet sein Auge zu dem Berge, von dem unsre Hülfe kommt und fängt an zu glauben, dass die Hülfe und das Heil von Gott kommen müsse […]«.64 Hinter der Sehnsucht nach einer neuen anderen Welt steht nicht nur der Leidensdruck der gegenwärtigen alten Welt, sondern auch »das Leiden um Gotteswillen«, das Leiden »unter der Schmach und Schande, die Gott von dieser Welt hat«. Deshalb geht es im neuen Himmel und einer neuen Erde auch um »eine Theodicee von der Hand dessen, der Himmel und Erde gemacht hat«.65 Menkens Auslegung der Traumvision Nebukadnezars ist hermeneutisch 63 Menken, Schriften VII, 107 f. 64 Ebd. 108. Der Berg, von dem unsere Hilfe kommt, ist eine Anspielung auf Ps 121,1 und auf Dan 2,45. 65 Ebd.

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geleitet vom theokratischen Verständnis der Geschichte Israels. Mit Israels Erwählung und seiner von Gott gelenkten Geschichte beginnt die Verwirklichung des Heilsplans Gottes, beginnt das Kommen des Reiches Gottes auf der Erde. In Israel wird dieser Heilsplan sukzessive offenbart. Durch den Kontakt der Juden mit den sie umgebenden Völkern werden der Glaube Israels und seine Hoffnung auch diesen Völkern bekannt, und sogar ein babylonischer König bekehrt sich zum Gott Israels, lässt Daniel und seine Freunde zu hohen Staatsbeamten aufsteigen und schützt die in sein Reich deportierten Israeliten. Deutlich ist der Supranaturalismus, der hinter dieser theokratischen Deutung der Geschichte Israels steht: Gott lenkt die menschliche Geschichte so, dass trotz der Freiheit der handelnden Personen und aller Gegenkräfte die Geschichte des Reiches Gottes zu ihrem Ziel kommt. Der Prophet Daniel wird in Menkens Auslegung als ein Idealbild eines gläubigen Israeliten gezeichnet. Als Nebukadnezar auf der Höhe seiner Macht sich seiner und der Vergänglichkeit seiner Macht bewusst wird, bedient sich Gott dieser Stimmung, um ihn die Hoffnung Israels auf das Reich Gottes zu lehren und ihn zur Erkenntnis des Gottes Israels zu leiten. Er vergisst den von Gott geschickten Traum, damit er von seinen Traumdeutern nicht falsch, nämlich zu seinen Gunsten gedeutet wird, und Daniel, dem Gott aus der unsichtbaren Welt den Inhalt des Traumes mitteilt, als Traumdeuter ins Spiel kommt. Die Traumvision des Königs ist eine verschlüsselte Offenbarung des Werkes Gottes, »des Königreiches Gottes und seines Gesalbten auf Erden und im Himmel«. Dieses Königreich ist Zweck und Ziel der Welterschaffung. Alles in der Welt steht mit diesem Ziel in Beziehung, ist dafür oder dagegen, und dieses Reich ist »auch der Zielpunkt, das einzige Augenmerk, der einzige, alles bestimmende Grundsatz der göttlichen Weltregierung«.66 Der Widerstand gegen das Reich Gottes in der Welt ist gewaltig. Menken sieht die Erde in ihrem Verhältnis zu Gott »wie eine abgefallene, abtrünnige Provinz gegen ihren rechtmäßigen, aber nicht mehr anerkannten Oberherrn und König«.67 Es scheint, als ob das Reich Gottes wirklich nur ein seliger Traum der (wenigen) Bibelverehrer sei, »da die Welt, im Ganzen genommen, mit allem, was in den Weltvölkern geschieht, dem Königreiche Gottes entgegen ist, indem all ihr Bemühen, Thun und Lassen, wissentlich oder unwissentlich, darauf hingeht, das Reich Gottes, so weit es jetzt schon auf Erden da ist, aufzuhalten, zu unterdrücken und zu verdrängen und zu verhindern, daß es nie in jener Allgemeinheit, Größe und Herrlichkeit auf die Erde komme, worin es nach dem Verheißungsworte Gottes kommen und die ganze Erde einnehmen soll […].«68 66 Menken, Schriften VII, 125. 67 Ebd. 68 Ebd.

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Doch die Weltgeschichte wird zwar von Menschen gemacht, aber von Gott gelenkt. Er ist der Herr der Geschichte und lenkt sie in seiner providentia historica so, dass sie dem Kommen des Reiches Gottes nach seinem Plan dienen muss. Unerschütterlich und beeindruckend ist das Vertrauen Menkens auf diese providentia dei, wie er es in den folgenden Sätzen seiner Auslegung bekennt: »Er [Gott, H.M.R.] verkürzt und verlängert Menschen und menschlichen Dingen ihre Zeit, so wie die jedesmaligen Angelegenheiten seines Reiches es erfordern; bei seiner Zeitbestimmung hat es sein Verbleiben; nicht eine Sekunde länger, nicht um einen Athemzug kürzer. Die größesten, wichtigsten, weisesten, mächtigsten menschlichen Einrichtungen, Verfassungen, Anstalten können nicht einen Augenblick länger bestehen, als Gott ihre Zeit abgemessen und bestimmt hat, d. h. als das von der Welt nicht gesehene und als ein Unding verlachte Königreich Gottes auf Erden ihr Dasein und ihre Wirksamkeit erträgt. Wo etwas dem Reiche Gottes auf Erden Hinderliches und Feindliches zu verderblich und zu mächtig wird, da ist die Zeit, die Periode desselben bald gewesen; Gott macht ihm bald ein Ende; es giebt eine neue Periode in der Weltgeschichte, und dazu müssen die Revolutionen, die gewaltsamen Umwälzungen der Erdenreiche und Weltverfassungen das Ihrige beitragen.«69

Als Menken diese Sätze schrieb, waren gut zehn Jahre seit der Französischen Revolution mit ihren enormen Auswirkungen auf die Politik und Geistesgeschichte Europas vergangen. Die Veränderungen durch dieses epochale Ereignis in der neueren europäischen Geschichte und die ihm nachfolgende napoleonische Herrschaft waren nicht nur in Deutschland bis in den Alltag der Menschen spürbar. Das Thema Revolution lag – verstärkt noch durch die Repressalien der Restauration unter Metternich – sozusagen in der Luft. Menken hat zu diesem Thema als Zeitgenosse der Französischen Revolution im Rahmen seiner Geschichtstheologie dezidiert Stellung genommen. Revolutionen werden von ihm generell abgelehnt, verurteilt, denn Revolutionen in der Weltgeschichte kann er nur verstehen als Versuche der menschlichen Hybris gegenüber Gott, nämlich das erschaffen zu wollen, was Gott allein in seinem Reich verwirklichen kann: »eine vollkommene Staatsverfassung, ein Himmelreich der Gerechtigkeit und Liebe auf Erden«.70 Hinter allen Revolutionen der Weltgeschichte sieht Menken das religiöse Motiv der menschlichen Hybris, des Wunsches, selbst Gott und nicht von Gottes Geben abhängig zu sein: »Denn da die Menschen im allgemeinen Gott nicht unterwürfig, von Gott nicht abhängig sein und Heil und Seligkeit nicht mit Demuth und Dank aus 69 Menken, Schriften VII, 128. 70 Ebd. 128.

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Chiliastische Realeschatologie und Geschichtstheologie Menkens seiner Hand nehmen, sondern sich selbst schaffen und geben wollen, […] so wollen sie auch kein wahrhaft beseligendes Reich, das sie als Werk und Gabe Gottes anerkennen müßten; es soll, dem im Himmel und seiner Sache und seinem Werke zum Trotz und ihnen zu vergötterndem Lobe, ihr eigen Werk sein.«71

Im folgenden Text seiner Auslegung des Monarchienbildes bringt Menken seinen tiefen Geschichtspessimismus zum Ausdruck, der der optimistischen Anthropologie der Aufklärung widerspricht. Menken erkennt – zu Recht – in den Gedanken, Werten und Bestrebungen der Aufklärung den Wurzelboden für die Französische Revolution. Für ihn folgerichtig musste sie in Terror und Krieg enden: »Bis jetzt ist die Weltgeschichte noch nichts anderes als die Geschichte von Jammer und Elend, von Revolutionen und Kriegen. Zwar meinte man noch vor kaum zwanzig Jahren, oder vielmehr wollte gern meinen machen, es sei nun mit der Aufklärung des Menschengeschlechts so weit gediehen, daß ein vieljähriger Krieg unter die unmöglichen Dinge gehöre. Bei diesem süßen Schlafliede, das sie den Königen und Völkern sang, wirkte indeß die Aufklärung, ich meine die Vernichtung aller wahren Erkenntniß und Verehrung Gottes, ihr Werk fort, und in kurzem war die schrecklichste Revolution und der allgemeinste, verderblichste Krieg da. Alle Revolutionen sind gegen das Reich Gottes, sollen das Reich Gottes entbehrlich machen. Denn bei allen Revolutionen ist von menschlicher Seite eigentlich dies die Meinung: das zu realisieren, was der menschliche Verstand von Anbeginn für das Maximum alles Verstandes und aller Weisheit und für das Nöthigste zur Gründung einer wahren, dauernden Menschenglückseligkeit erkannt, gesucht, aber nicht gefunden hat; das zu realisieren, was das Ziel aller Worte und Anstalten Gottes ist, – eine vollkommene Staatsverfassung, ein Himmelreich der Gerechtigkeit und Liebe auf Erden.«72

Jede Revolution ist nach Menkens Geschichtstheologie Auflehnung gegen das Weltregiment Gottes. Revolutionen richten sich konkret gegen die jeweilige Obrigkeit, deren Ansehen »unverletzlich und heilig« sein sollte, »die als etwas von Gott gegebenes«, »von Gott geheiligtes« und »von Gott über alle menschliche Willkür erhöhtes« angesehen werden muss.73 Menken zeichnet seine Auffassung »von dem Verhältnisse des Christenthums und der Christen zu der Welt und zum Staate«74, die eine Auflehnung gegen die (von Gott 71 72 73 74

Ebd. 128 f. Ebd. 128. Ebd. 129. »Von dem Verhältnisse des Christenthums und der Christen zu der Welt und zum Staate« handelt das VIII. Kapitel der Anleitung. Menken vertritt darin eine aus seinem Biblizismus resultierende, die Zweireichelehre Luthers aufnehmende Staatsauffassung, die im 19. Jahrhundert den Konservativismus der Erweckungsbewegung prägen und als preußische Rechts-

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gegebene) staatliche Ordnung mit einer Auflehnung gegen Gott gleichsetzt und Christen, die sich daran beteiligen, vom Reich Gottes ausschließt75, in seine Geschichtstheologie ein. Revolutionen zerstören den Respekt vor der jeweiligen Obrigkeit, die nach Menken von Gott gegeben und unantastbar ist. Doch alle Revolutionen müssen nach der göttlichen Providenz dem Fortgang des Reiches Gottes dienen: »Jede Revolution macht die folgende leichter; jede schwächt das Ansehen der Obrigkeit, das unverletzlich und heilig sein sollte. Die Völker glauben endlich, was ihnen von Menschheit- und Volkssouveränität vorgelogen wird, und sehen ihre Obrigkeit nicht mehr als von Gott gegebenes, von Gott geheiligtes, von Gott über alle menschliche Willkür erhöhetes, sondern als ihr Werk an, als etwas, das ihrem Gutfinden sein Dasein verdankt, und das sie ändern und abschaffen können, wenn sie wollen. Eine solche selbstgeschaffene Obrigkeit hat denn auch gerade so viel wahres Ansehn, wie der selbstgeschaffene, selbstpostulierte Gott der neuen Philosophie, – gar keines, wenn das allgewaltige Postulat der Lüste und Leidenschaften dagegen auftritt. In diesem Gewirre und Getümmel, da Willkür und Zufall alles, und Gottes Regierung nichts zu sein scheint, muß denn doch alles den Angelegenheiten des Reiches Gottes dienen.«76

Dass Gott die Weltgeschichte lenkt, dass er Könige absetzt und Könige einsetzt, wie Daniel in seinem Dankgebet bekennt (Dan 2,21), ist aus der Weltgeschichte selbst nicht ersichtlich. Es bleibt der Weisheit der Welt verborgen. Gott allein kann Menschen diese Einsicht schenken, ihnen Anteil geben an seinem Wissen und an seiner Weisheit. Und das tut Gott in seinem Wort, in der Heiligen Schrift: »Zwar giebt die Weltgeschichte aller Zeiten und Nationen Beispiele genug von ab- und eingesetzten Königen; aber die biblische Geschichte hat auch hier den überschwänglichen Vorzug, daß sie den der bloß menschlichen Ansicht verborgenen Gang der Begebenheiten, die dabei stattfindende Konnexion der unsichtbaren Welt mit der sichtbaren, die Abhängigkeit solcher Begebenheiten von der königlichen Regierung im Himmel, ihren Erfolg nach dem Vorherwissen, nach der Fügung, nach der Zulassung dieser Regierung darstellt, was die Weltgeschichte nirgends thut und nirgends kann, und also zeigt nur sie, daß Gott es ist, der Könige absetzt und einsetzt.«77 philosophie von Friedrich Julius Stahl (1802–1861), Professor der Rechte in Berlin (seit 1840), verbreitet werden wird. Vgl. dazu Kap. 11.1.2. 75 »Das Wort Gottes […] zählt die Empörung gegen die Obrigkeit, Aufruhr und Meuterei zu den größten Schändlichkeiten, wodurch ein Christ aufhören würde, ein Christ zu sein, wodurch er seines Antheils an dem himmlischen Reiche verlustig würde.« Menken, Schriften VII, 245. 76 Ebd. 129. 77 Ebd. 130.

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Menkens Geschichtstheologie ist im Kern seine Lehre von der providentia dei historica und steht in Korrelation mit seiner reichsgeschichtlichen Bibelhermeneutik. Der Gott, der die Weltgeschichte nach den Erfordernissen seines Reiches lenkt, der den Tief- und Durchblick hat im Wirrsal der Weltgeschichte, öffnet den Schleier über der menschlichen Geschichte in seinem Wort, in der Bibel. Diese Theologie setzt ein bestimmtes Gottesbild voraus. Gott ist bei Menken (auch) ein Offenbarer des Verborgenen und ein Vorhersager des Zukünftigen, und er »beweist« seine Göttlichkeit durch seine Omniszienz: »Offenbarung des Verborgenen, Vorhersagung des Zukünftigen ist überall in der Schrift ein bezeichnendes Merkmal des lebendigen und wahren Gottes. Allermeist durch Wunder und durch Weissagung hat der lebendige Gott sein Dasein und die Erkenntniß seiner als des einzigen, lebendigen Gottes unter den Menschen gegründet und erhalten.«78 Die Geschichtstheologie Menkens wirft auch ein Licht auf sein Schriftverständnis, das die Bibel als Schlüssel zur menschlichen Geschichte versteht (durch kundige Auslegung). »In Israel wußte man durch Gottes Offenbarung die größten und wichtigsten Begebenheiten und Veränderungen der Welt Jahrtausende und Jahrhunderte lang vorher, ehe sie sich zutrugen.«79 Dies wird in der Bibel bezeugt und beschämt allen Unglauben an die Bibel, denn Menken erkennt in der biblischen Vorhersagung des Zukünftigen einen unwiderleglichen Beweis der Wahrheit und Göttlichkeit des Wortes Gottes: »Darum ist das Wort Gottes so eingerichtet, daß es einen in allen Zeiten sich erneuernden, unwiderleglichen Beweis seiner Wahrheit und Göttlichkeit mit sich führt; denn die in demselben enthaltenden Vorhersagen des Zukünftigen begreift alle Jahrhunderte und alle Zeitalter; auf die immer fortgehende Erfüllung dieser Vorhersagen sollen die Bibelverehrer merken und darin zu allen Zeiten einen neuen Halt ihres Glaubens haben. Noch hat man zu keiner Zeit sagen können: Nun ist das prophetische Wort der Schrift ganz erfüllt; es ist nun nichts mehr in demselben, auf dessen Erfüllung man noch warten müßte. Im Gegentheil sind die meisten und größten Dinge, wovon das Wort der Weissagung redet, noch unerfüllt zurück.«80

Dieses Schriftverständnis, das die Bibel als einen theologischen Unterricht über den Verlauf der Heils- und Weltgeschichte liest, entspricht in der Aufklärung dem Glauben an die Vernunft, die sich ermächtigt weiß, alle Bereiche des menschlichen Lebens zu durchforschen und zu begreifen. Wie die Natur so wird dann auch die Bibel zu einem Objekt der analytischen Vernunft. Man kann diese Einstellung schon hundert Jahre vor Menken bei seinem Urgroßvater Friedrich Adolf Lampe, dem reformierten Pietisten in coccejanischer 78 Ebd. 136. 79 Ebd. 137. 80 Ebd. 139.

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Tradition, finden. Lampe schreibt in seinem Hauptwerk Geheimniss des Gnadenbundes: »Da man täglich in der Natur neue Entdeckungen tut (durch Ferngläser), was ist wunder, daß auch durch zunehmenden Fleiß in der Durchforschung des göttlichen Wortes neue Entdeckungen geschehen und das versprochene Wachstum in der Erkenntnis der letzten Zeiten (Dan. 12,4; Ez. 47,4) immer mehr anhebt, erfüllt zu werden.«81

10.2.2 Naherwartung in napoleonischer Zeit – die Deutung des Monarchienbildes Daniel 2 Die Erzählung vom vergessenen Traum Nebukadnezars und dem erfolgreichen Auftreten Daniels am Königshof nutzt Menken im ersten Teil seiner Auslegung von Daniel 2 zu einer narrativen Darstellung seiner Geschichtstheologie. Im zweiten Teil folgt dann die Deutung des Monarchienbildes selbst, die bis in Menkens Zeit führt und in ein Bekenntnis zur Naherwartung des Messias Jesus und seines Reiches mündet. Das kolossale Standbild, das Nebukadnezar in seiner Traumvision schaute, war aus verschiedenen Metallen zusammengesetzt: Der Kopf war aus gediegenem Gold, Brust und Arme aus Silber, der Bauch und die Lenden aus Bronze, die Schenkel aus Eisen, die Füße teils aus Eisen und teils aus Ton. Daniel deutet nach dem Text in Dan 2,38 nur das goldene Haupt der Vision, und zwar als Symbol der chaldäisch-babylonischen Monarchie unter Nebukadnezar. Es blieb eine Frage der Auslegung, welchen Reichen die unteren Teile der Kollossalstatue, die aus weniger wertvollen Metallen und Ton bestehen, zuzuordnen sind. Menken weiß sich »mit allen guten Auslegern« darin einig, dass das Silber am Metallkoloss »die von Cyrus und Darius gestiftete, medischpersische Monarchie« meine.82 Das Kupfer symbolisiere das dritte Reich, »wie es unter Alexander dem Großen und hernach bis zu seiner Auflösung war«. Das Eisen beziehe sich auf das vierte, das römische Reich, »und zwar dieses nicht nur so, wie es zu der Zeit war, als es das griechische verdrängte, sondern in allen seinen Veränderungen und Successionen«.83 Menkens Berufung auf »alle guten Ausleger« ist sehr weit zu fassen. Die Deutung der Eisenpartie des Kolosses auf das römische Weltreich beginnt schon in der jüdischen Exegese des ersten Jahrhunderts n. Chr. Nach historisch-kritischer Exegese können mit den vier aufeinanderfolgenden Weltreichen das chaldäisch-babylonische, das medische, das persische und das griechische Weltreich gemeint sein.84 Der 81 Lampe, Geheimnis, 124 (zitiert nach Moltmann, Das Kommen Gottes, 165 Anm. 36). Moltmann gibt mit G. Lampe einen falschen Vornamen an. 82 Menken, Schriften VII, 141. 83 Ebd. 84 Vgl. Koch, Daniel, 200: »Nach den (jüngeren) hebräischen Danielkapiteln, deren Sicht wahr-

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von Menken übernommene Bezug des vierten Weltreiches auf Rom ist seit der Aufnahme des Danielbuches in den Kanon der prophetischen Schriften im ersten Jahrhundert n. Chr. gängige Exegese. Der Sinn und Zweck der Traumvision Nebukadnezars war es, den König mit dem Gott Israels bekannt zu machen und mit seinem Werk, »dessen Ende und Ziel die Herrlichkeit des alle Weltreiche zermalmenden Königreichs Gottes auf Erden ist«.85 Doch hat diese Traumvision im biblischen Buch Daniel den viel weiter reichenden Sinn einer Deutung der menschlichen Geschichte in ihrem Zusammenhang mit dem Reich Gottes für die »Bibelverehrer« aller Zeiten: Der noch wichtigere Zweck der Traumvision war und ist es, »nicht so sehr dem Nebukadnezar, als vielmehr Daniel und den Israeliten und Bibelverehrern der damaligen Zeit und jeder folgenden die wichtigsten, allgemeinen Perioden und Zeichen der Zeit, das Königreich Gottes auf Erden betreffend, zu offenbaren. […] Das Königreich Gottes ist, so wie der ganzen heiligen Schrift, so wie des ganzen Buches Daniel, so auch dieser Stelle, des Kerns der ganzen Weissagung Daniels, Ende und Zielpunkt. […] Das Königreich Gottes ist die unsichtbare Wurzel, die Weltreiche hält und trägt, und die unsichtbare Kraft, die Weltreiche schlägt und zermalmt. Die nähere oder fernere Verbindung mit dem Königreich Gottes bestimmt die Dauer, die Wichtigkeit, die Bemerkenswürdigkeit der Weltreiche.«86

scheinlich schon Kap. 2 zugrunde liegt, wird die Macht der Perser (also des dritten Reiches von V. 39) abgelöst durch einen König aus dem Westen, der von Jawan=Jonien heranstürmt, was der hebräischen Bezeichnung für Hellas entspricht; dessen Reich zerbricht jedoch bald in vier Teilbereiche, von denen sich zwei als Großmächte auf Dauer behaupten, nämlich das Reich des Südens (die Ptolemäer) und das Reich des Nordens (die Seleukiden); […] Die aus reinem Eisen gebildeten Beine stellen demnach die Einheit unter Alexander dem Großen dar, die zusammengesetzten Füße hingegen die Staaten der Diadochen.« 85 Menken, Schriften VII, 143. Klaus Koch vermutet, dass der Rombezug der Grund gewesen sein kann für die Einreihung des jungen Danielbuches in die prophetischen Schriften des Tanach: »Erst nach dem Scheitern beider Aufstände gegen Rom haben die Rabbinen ihm den prophetischen Rang abgesprochen und es in den dritten Teil des Kanons, die Ketubim, versetzt. Ab dem 2. Jh. n. Chr. wird die auf Rom gemünzte Deutung von Dan. 2 (und verwandten Danieltexten) nicht nur bei den Rabbinen, sondern auch in der griechischen und lateinischen Großkirche zu einer selbstverständlichen Übung.« In der Wirkungsgeschichte des Textes geschieht dann aber um die Wende vom 3. zum 4. Jh. n. Chr. »eine bedeutsame Umwertung«: »Die vierte Weltmacht erscheint nicht mehr als die schlechteste in der Weltreiche-Ära, sondern erlangt positive Attribute. Der eiserne Charakter wird nicht mehr als schrecklich empfunden, und die alles zermalmende Wirkung wird überlesen.« Koch, Daniel, 210. Koch setzt sich in seinem Danielkommentar mit der »Ursprungsfixiertheit« jener Exegeten auseinander, die unbedingt am Bezug der eisernen Epoche auf das zeitgenössische hellenistische Seleukidenreich beim Erstverfasser festhalten wollen. Koch gibt zu bedenken, dass erst die kanonisch rezipierte Auffassung von Dan 2 dessen jahrhundertelange Wirkungsgeschichte hervorgerufen habe und fragt: »Darf eine sich als historisch verstehende Exegese davon absehen?« Koch, Daniel, 213. 86 Menken, Schriften VII, 144.

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Es geht also nicht um ein Erfassen und Verstehen der menschlichen Universalgeschichte – die Traumvision Nebukadnezars lässt viele Weltreiche aus – es soll nicht die allgemein nach der Zukunft fragende Neugier befriedigt werden. Vielmehr sollen die nach dem Kommen des Reiches Gottes fragenden Bibelverehrer auf ein langes Warten eingestellt, belehrt und getröstet werden, denn: »Nun konnte kein Bibelverehrer seine Hoffnung um des langen Verzuges willen fahren lassen, denn die Bibel sagte ihm diesen Verzug selbst vorher. Ja, die Bibelverehrer aller Zeiten konnten nun mit Gewißheit erkennen, in welcher Periode des Reiches Gottes oder Werkes Gotte sie leben, wie viel von dem großen Werk das Gott thut, und das er sanft und still, aber unaufhaltsam der Vollendung entgegen führt, schon gethan, wie viel davon noch zurück sei, […].«87

Menken bezieht das vierte, das eiserne Weltreich wie die ihm vorgegebene Auslegungstradition auf das römische Reich. Aus Eisen sind die Schenkel des Metallkolosses, seine zehn Füße zum Teil aus Eisen und aus Ton. Diese Details, die ursprünglich das Reich Alexanders des Großen und die ihm folgenden Diadochenreiche symbolisieren, prophezeien nach Menken das Schicksal der römischen Macht. Die Mischung von Eisen und Ton an den Füßen bedeutet, dass das vierte Reich in der zweiten Periode geteilt und geschwächt wird. Diese Mischung des Eisens geschah in der Völkerwanderung. Das vierte Weltreich wurde und wird nicht von einem fünften abgelöst, aber es zerteilte sich. Kennzeichen seines Fortbestehens sind für Menken das römische Recht und das römische Kirchenrecht, das in fast allen christlichen Ländern Europas gelte, und die Tatsache, dass alle christlichen Monarchen und Fürsten Europas durch Heiraten verwandt sind. Bereits in Dan 2,44 werden die zehn Füße des Monarchienbildes allegorisch als Königreiche gedeutet. In der Tiervision Daniel 7,23f wird von zehn Königreichen gesprochen. Menken schreibt seine Auslegung am Ende des Jahres 1801 und hält in einer Anmerkung fest, dass es gegen Ende des 18. Jahrhunderts im vierten, dem römischen Weltreich, zehn Königreiche gab. Das vierte Weltreich ist nach Menkens Auslegung das wichtigste für ihn und seine Zeitgenossen, denn ihre Lebenszeit ist nach Gottes Fügung in die Tage dieses Reiches gefallen. Das wichtigste ist es aber auch, weil der Messias Jesus am Anfang dieses Reiches in die Welt gekommen ist und ihm und aller weltlichen Macht mit der »Erscheinung seiner Zukunft« ein Ende bereiten wird. Menkens Auslegung endet mit der Naherwartung des Reiches Gottes, das sich für ihn deutlich ankündigt in den politischen Umwälzungen der Gegenwart: »Die zehn Königreiche (Dan. 2,44) und die zehn Könige (Kap. 7,23.24) sind also nicht nur längst dagewesen, sondern es kann auch nicht übersehen werden, daß eben um die Zeit, als man in dem vierten Weltreiche nicht mehr 87 Ebd. 146.

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Chiliastische Realeschatologie und Geschichtstheologie Menkens und nicht weniger als zehn Königreiche mit ihren zehn verschiedenen Königen zählen konnte, alles in allgemeiner, furchtbarer Gährung war, daß eben damals die ganze Lage der Dinge sich in einem Zustand befand, der so nicht bleiben konnte; daß Veränderungen begonnen hatten, die alles zu wandeln und zu zerstören droheten; daß man eben damals, so allgemein wie es seit Jahrhunderten nicht geschehen war, auch ohne Hinsicht auf das prophetische Wort Gottes, merkte und fühlte, daß es jetzt anders werde in der Welt.«88

Das vom König Nebukadnezar geträumte Monarchienbild wird von einem ohne Hände herabgerissenen Stein an seinen Füßen getroffen und fällt in sich zusammen. »Der Stein aber, der das Bild schlug, ward ein großer Berg, daß er die ganze Welt erfüllete« (Dan 2,35). Der bereits im Danielbuch auf das die Weltreiche beendende ewige Königreich Gottes gedeutete Stein gibt Menken die Gelegenheit, am Ende seiner Schrift die eigene Gottesreichtheologie zu entfalten, sein Verständnis des Reiches Gottes nach seiner Exegese von Eph 1 und die Geschichte der immer präziseren Ankündigung und des sukzessiven Kommens des Reiches Gottes nach dem Zeugnis der biblischen Offenbarung. Der Messias ist gekommen. Aber noch sind nicht alle Verheißungen erfüllt. Noch ist das Reich Gottes im Kampf mit den Mächten, die ihm entgegenstehen. Es scheint sogar so, als habe es in diesem Kampf keine Chance und stünde auf der Verliererseite. Menken diagnostiziert in seiner Gegenwart einen »allgemeinen Abfall von dem Christenthum«, in dem »der uralte, nur gedämpfte, nie erstickte, nie vertilgte Haß der Welt gegen Christenthum und die Christen verfolgend und mordend wieder hervortritt […]«.89 Seine Zeitdiagnose ist düster und führt ihn zur baldigen Erwartung des in der Schrift angekündigten Antichristen, der vor der »Erscheinung der Zukunft des Herrn« kommen soll. Die »Erscheinung der Zukunft des Herrn« aber ist der Stein, der das Monarchienbild auf einen Schlag zertrümmert und selbst zu einem Felsen wird, der die ganze Erde bedeckt. Nach tausend Jahren, in denen Jesus Christus mit den Angehörigen der ersten Auferstehung herrschen und die Christokratie sich über alle Nationen ausbreiten wird, wird dem Satan aber wieder Macht gegeben zur Verführung der Menschen: »[..] so wird alsdann bei einem Theile des menschlichen Geschlechts der allerärgste Unglaube, die allerärgste Verruchtheit folgen, gleich jener in den Tagen vor der Sündfluth, und dieser wird der Herr ein Ende machen durch seine Zukunft selbst an seinem großen und schrecklichen Tage.Wenn dann die sichtbare Welt, wo wie sie jetzt ist, zu sein aufhört, so geht das große Werk Gottes in der unsichtbaren Welt seinen Gang fort. Bis der Wille und das Wohlgefallen Gottes zur allgemeinsten und höchsten Wirklichkeit gebracht ist, Alles, das ganze Universum, unter ein sichtbares Oberhaupt, unter Jesus Christus, in eine Universalmonarchie geeinigt und nach Gerechtigkeit ge88 Menken, Schriften VII, 154, Anm. 89 Ebd. 164.

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ordnet ist, bis endlich alle den Sohn ehren wie den Vater, endlich, nach langen Ewigkeiten, auch der allerärgste Feind, der Tod, aufgehoben ist, Jesus Christus alle richterliche Gewalt niederlegt, Gott in Christo Jesu Alles in Allem ist, und es frohlockend in allen Himmeln heißt: Heilig, heilig, heilig, gnädig, gnädig, gnädig ist Jehovah Zebaoth, alle Welten, alle Lande seines großen Reichs, alle Planeten, alle Höhen und Tiefen der Schöpfung sind seiner Herrlichkeit voll!«90

Menkens Deutung des Monarchienbildes hielt der historisch-kritischen Exegese, die im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr an Terrain gewann, nicht stand: »Im protestantischen Bereich setzte sich […] ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch bei konservativen Exegeten die Meinung durch, dass das Danielbuch erst im 2. Jahrhundert v. Chr. entstanden und auf die Religionsverfolgung unter Antiochus IV bezogen sei. Das vierte Reich war in den Visionen das griechische und mit dessen zehn Hörnern Diadochenkönige gemeint. Damit entfiel jeder Bezug der Weissagungen auf die Geschichte Europas oder die politische Gegenwartslage.«91

10.2.3 Prophetische Schriftauslegung in der nachreformatorischen Zeit und ihre humanistische Transformation in der Aufklärung: Theologiegeschichte und Kritik Menken steht mit seinem geschichtstheologischen Interesse in der Tradition der nachreformatorischen prophetischen Theologie, die im 17. Jahrhundert einsetzt und dann im Württemberger Pietismus mit großem Eifer betrieben wird. »Die prophetische Theologie begann im Protestantismus der nachreformatorischen Zeit in Holland, England und Norddeutschland.«92 Moltmann weist darauf hin, dass mit dem Aufkommen der »prophetischen Theologie« wesentliche Änderungen im Schriftverständnis verbunden sind, die in die Richtung eines Biblizismus führen, der mit dem reformatorischen Prinzip sola scriptura nicht gemeint war: »Wie für die katholische Theologie Schrift und Tradition zusammengehörten, so sollten für die prophetische Theologie Bibel und Weltgeschichte einander entsprechen. Aus dem reformatorischen Grundsatz ›sola scriptura‹ wurde der biblizistisch-heilsgeschichtliche Grundsatz ›tota scriptura‹.«93 90 Menken, Schriften VII, 166. 91 Koch, Europabewusstsein, 360. Koch weist hin auf den Artikel Chiliasmus von Franz Delitzsch (vgl. Delitzsch, Chiliasmus) und auf die deutschsprachigen protestantischen Kommentare seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. 92 Moltmann, Das Kommen Gottes, 166. 93 Ebd.

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In der prophetischen Theologie kommt es zu einer Änderung der Werteskala der biblischen Bücher. Während für die Reformatoren die paulinischen Briefe an die Römer und an die Galater den Kanon im Kanon bildeten und die Offenbarung des Johannes an den Rand gestellt wird, gilt nun diese Offenbarung als »Fürstin unter den neutestamentlichen Schriften« – so Bengel – und wird zum hermeneutischen Schlüssel einer Geschichtstheologie, die auch den Termin der Wiederkunft des Herrn zu berechnen wagt. Neben der Offenbarung des Johannes wird das Buch Daniel eine beliebte Quelle geschichtstheologischer Forschung und Erkenntnis. Die skriptologischen Veränderungen, die in der Entwicklung einer »prophetischen Theologie« vom reformatorischen Schriftverständnis zum Biblizismus führen, machen aus der Bibel als »Buch der göttlichen Verheißung« »das Buch der göttlichen Vorsehung«. Aus diesem Bibelverständnis resultiert »eine spekulative Theologie der Universalgeschichte und des göttlichen Heilsplans«.94 Moltmann trifft mit dieser Unterscheidung das Kernproblem des heilsgeschichtlichen Biblizismus: »Die Bibel ist das Buch der göttlichen Verheißung, nicht der göttlichen Vorsehung. Aus ihr folgt eine geschichtliche Theologie in Zeugnis, Anfechtung, Kampf und Leiden, nicht eine spekulative Theologie der Universalgeschichte und des göttlichen Heilsplans. Die Theologie der Hoffnung ist keine universalgeschichtliche Theorie und auch keine apokalyptische Prognose. Sie ist eine Theologie der Kämpfenden, nicht der Zuschauenden.«95 Die nachreformatorische prophetische Theologie hat reformatorische und vorreformatorische Vorläufer gehabt. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang besonders auf Philipp Melanchthon. Moltmann sieht eine Linie, die von der philippistischen Geschichtswissenschaft zum apokalyptischen System des Coccejus führt, und erkennt die humanistischen Tendenzen in dieser theologiegeschichtlichen Entwicklung. Die prophetische Theologie mit dem Gewicht, das sie der chiliastischen Eschatologie beimaß und ihrem großen Interesse an der Geschichtstheologie wurde von angesehenen akademischen Theologen wie Coccejus und Bengel vertreten. Sie war aber nicht kirchlichorthodox. Die weitreichende Akzeptanz, die der prophetischen Theologie von Anfang an zuteil wird, erklärt sich aus ihrer Aktualität in geschichtlichen Krisenzeiten. Sie hat Antworten parat auf die Fragen: Wie geht die Geschichte weiter, was kommt in der Zukunft? Für Christinnen und Christen sind es die Fragen: Wann kommt der Herr? Wann ist die Macht des Bösen und des Todes für immer beendet und die Bitte des Unser-Vater-Gebetes: »Dein Reich komme!« erfüllt? Über den Gründervater der prophetischen Theologie und den ersten großen Reichstheologen der nachreformatorischen Zeit, Johannes Coccejus, sagt Gottlob Schrenk:

94 Moltmann, Das Kommen Gottes, 166. 95 Ebd.

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»Das aktuelle Moment seiner Reichsbetrachtung läßt verstehen, warum Coccejus so mächtig auf seine Zeit gewirkt hat. […] Die Theologie wird zu einer Deutung der aktuellen Ereignisse. Er zieht seine Zeit ganz und gar in die Schrift hinein, so daß sie empfindet: um unsere Sache handelt es sich hier. Indem er in der Bibel erfüllte Zeitgeschichte, im Fluß befindliche Zeitgeschichte, zu erwartende Zeitgeschichte nachzuweisen sucht, kommt Leben in die Schriftbetrachtung an Stelle der Starrheit, die in ihr bloß ruhende dogmatische Wahrheiten erblickt. Die Offenbarungsgeschichte ist ihm nicht eine abgeschlossene Größe, so daß wir im wesentlichen in einer Zeit stehen, die unlebendig ist hinsichtlich des göttlichen Geschehens, sondern alles ist im Fluß befindliche, zielstrebige Offenbarungsgeschichte, in der wir selber stehen. Das ist das Große seiner Reichsauffassung, daß er in den Fluß des göttlichen Geschehens hineinstellt, in die auch für seine Zeit gültige Aktualität.«96

Unsere heutige Kritik an dieser Theologie darf nicht übersehen, wie bedeutungsvoll und wirkmächtig diese Theologie in ihren philosophischen und politischen Transformationen war. Sie setzen in der Aufklärung ein, und in ihnen artikuliert und formiert sich das optimistische Selbstbewusstsein der vernunft- und fortschrittsgläubigen Aufklärung. Diese Transformationen kennen keinen überweltlichen Gott mehr, der die Geschichte lenkt und zu Gunsten seines Reiches zum messianischen Ende führt. Es sind nun die Menschen, die dazu befähigt und berufen sind, kraft ihrer Vernunft und ihrer Erziehung zur vollendeten Humanität, das Reich der Freiheit herbeizuführen. Kant war sich des Zusammenhangs des Humanitätsideals der Aufklärung mit der heilsgeschichtlichen Theologie bewusst. »Kant war sich dessen bewußt, daß die Grundgedanken der teleologischen Geschichtsphilosophie wie Entwicklung, Fortschritt und Ziel aus der heilsgeschichtlichen Theologie des Chiliasmus stammen und Übersetzungen von Heilsplan, Heilsökonomie, Weltzeitalter und dem Reich Christi als Vollendung der Geschichte sind. […] Das Reich Gottes kommt, aber es wird nicht das Ergebnis einer von Gott veranstalteten apokalyptischen Revolution sein, sondern der menschlichen Revolution von Vernunft und Sittlichkeit.«97

Kant nannte 1793 Lessings Weltentwicklungsidee »philosophischen Chiliasmus« und stellte fest: »Man sieht: die Philosophie könne auch ihren Chiliasmus haben; […].«98 Der Fortschrittsglaube der deutschen Aufklärung hat seine Wurzeln in der prophetischen Theologie der nachreformatorischen Zeit. Es handelt sich in der Tat um einen neuen Glauben, denn dieser Fortschrittsglaube wurde zur Religion des modernen Bürgertums und blieb wirksam bis zur Proklamation des Endes der Geschichte durch Francis Fu96 Schrenk, Gottesreich und Bund, 298 f. 97 Moltmann, Das Kommen Gottes, 214. 98 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, 156.

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kuyama nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.99 Deshalb ist es sinnvoller, nicht von Säkularisierung, sondern von Transformation zu sprechen. Die von Kant apostrophierte »Weltentwicklungsidee« Lessings bezieht sich auf Lessings Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts, die Grundlagenschrift der deutschen Aufklärung: »Die Wiederkehr des theologischen Chiliasmus im 17. Jahrhundert durch die Prophetische Theologie und den pietistischen Messianismus ist nachweislich die Quelle des Fortschrittsglaubens und der Humanitätsideale der deutschen Aufklärung. […] Gotthold Ephraim Lessings Schrift ›Die Erziehung des Menschengeschlechts‹ (1770) gilt als Grundlagenschrift der deutschen Aufklärung und als gelungene Übersetzung der prophetischen Reichstheologie in den Humanitäts- und Fortschrittsglauben der modernen Welt. An die Stelle des ›göttlichen Heilsplans‹ tritt die erziehende Vorsehung, die aus der geistigmoralischen Entwicklung des Menschengeschlechts erkannt werden kann.«100

Menkens Geschichtstheologie setzt die Tradition der prophetischen Theologie fort, die mit Johannes Coccejus beginnt. Sie ist eine exakte Gegenposition zur Transformation dieser prophetischen Theologie in der Geschichtsphilosophie der Aufklärung.

10.2.4 Die Welt ist angezündet! Angewandte Geschichtstheologie in der Flugschrift »Ueber Glück und Sieg der Gottlosen« Die Auslegung des Monarchienbildes in Dan 2 gab Menken die Gelegenheit, seine Geschichtstheologie darzustellen und damit die politischen Umwälzungen seiner Zeit theologisch zu deuten. Diese Deutung stellt die Französische Revolution und ihre Folgen in einen apokalyptischen Horizont. Menken war sich aber bewusst, dass die Mehrheit seiner Zeitgenossen diese negative 99 Fukuyama, End of History. 100 Moltmann, Das Kommen Gottes, 212. Markus Mühling erkennt im Blick auf Lessings Schrift »fünf Kennzeichen der Aufklärung«, die als der »gemeinsame Nenner der scheinbar unterschiedlichsten aufklärerischen Ideologien und Geschichtsbilder« gelten können: Der Mensch ist von Natur aus nicht schlecht. Sittlich befindet er sich zunächst auf unteren Stufen. Das sittlich Gute ist allgemein einsehbar. Der Mensch ist daher sittlich perfektibel. Die perfekte menschliche Sozialgestalt wird in Zukunft innergeschichtlich verwirklicht werden. »Deutlich sein dürfte, dass in diesen Kennzeichen die scheinbar unterschiedlichsten aufklärerischen Ideologien und Geschichtsbilder – sei es die französische Revolution, sei es Hegels (gest. 1831) und Ferdinand Christian Baurs (gest. 1860) dialektisch rekonstruierter Geschichtsverlauf, der im Preußischen Staat gipfelt, sei es die marxistische futurisierte Rede von der klassenlosen Gesellschaft, sowie Ernst Blochs (gest. 1977) Utopie der Hoffnung oder auch jüngst anfangs der 1990er Jahre Francis Fukayamas Rede vom Ende der Geschichte angesichts des Endes des ›Kalten Krieges‹ – ihren gemeinsamen Nenner finden. Deutlich ist dabei auch, dass die ersten Kennzeichen auf das letzte zielen und das letzte Kennzeichen die ersten vier voraussetzen und diese somit zusammenfasst.« Mühling, Grundinformation Eschatologie, 205.

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Einstellung nicht teilte, sondern die spektakulären Ereignisse in Frankreich heimlich oder offen guthießen. Diese Erfahrung bewog ihn noch sechs Jahre vor der Auslegung des Monarchienbildes zu einer scharfen Attacke auf den »Zeitgeist« mit der 1795 anonym veröffentlichten Flugschrift Ueber Glück und Sieg der Gottlosen.101 Der unmittelbare Anlass sind die sogenannten Koalitionskriege, die 1792 begannen, in denen sich die europäischen Mächte der Armee des neuen Frankreich entgegenstellten, um zu verhindern, dass die Französische Revolution auf ihre Staaten übergriff.102 Das Kriegsglück lag aber vor allem auf der französischen Seite. Am Ende des Krieges gegen die erste Koalition annektierte Frankreich das linke Rheinufer. Menken beobachtete, dass viele seiner Zeitgenossen die französischen Ereignisse bejubelten »und sich« – wie er seinem Bruder schreibt – »über jeden Sieg der Gottlosen laut oder heimlich freuten«.103 Und er entschloss sich, »in einer kleinen Piece zu zeigen, daß Gott es nicht mit den Franzosen halte, weil er zuläßt, daß sie unterstützt werden«104. Er verfasst als Adjunkt in Frankfurt Ueber Glück und Sieg der Gottlosen. Eine politische Flugschrift aus dem Jahre 1795 und stellt ihr das Motto voran: »Richtet nicht nach dem Ansehen, sondern richtet ein rechtes Gericht!« Diese Schrift musste anonym erscheinen, da Menken beim Antritt seiner Stelle in Frankfurt erfuhr, dass er nichts drucken lassen dürfe. In einem Brief an einen Freund bezeichnet er sie als »eine Kleinigkeit«, »doch – so fügt er hinzu – »soll’s ein kleines Harz- und Pechküchlein sein, dem Drachen des Zeitaltes in’s Maul geworfen, wovon er zwar nicht, wie jener Drache von den Daniel’schen Küchlein erbersten, aber doch ein Grimmen in seinen Eingeweiden empfinden mag«.105 Die Flugschrift fand einen reißenden Absatz. Sie beginnt mit einer pauschalen, schonungslosen Zeitdiagnose. Hinter allem Negativen und Bösen, hinter der »Gott- und Zuchtlosigkeit« seiner Zeit sieht Menken den Geist des Zeitalters, der »ein Geist des Irrthums« ist, »ein Schwindelgeist«, der verführt und betrunken macht. Die Französische Revolution und die ihr folgende Schreckensherrschaft der Jakobiner sind ein Ausdruck dieses Zeitgeistes und zeigen, wohin er führt:

101 Aufgenommen in: Menken, Schriften VII, 77–104. 102 Die erste Koalition dauerte von 1792 bis 1797. Der Krieg begann mit der Kriegserklärung Frankreichs am 20. April 1792. Zur Koalition gehörten Österreich und Preußen, das Königreich Sardinien-Piemont, das Königreich Großbritannien (nach der Hinrichtung Ludwig XVI.), Spanien und das Königreich Neapel. Den Niederlanden wurde wegen der Unterstützung Großbritanniens der Krieg erklärt. Der Frieden von Campo Formio zwischen Frankreich und dem militärisch unterlegenen Österreich beendete 1797 den ersten Koalitionskrieg. Menken war von der Studienzeit am Niederrhein bis zu den Amtsjahren in Wetzlar durch die Nähe zu Frankreich besonders betroffen von den der Französischen Revolution folgenden politischen Ereignissen. 103 Gildemeister, Leben und Wirken I, 126. 104 Ebd. 128. 105 Gildemeister, Leben und Wirken I, 132.

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Chiliastische Realeschatologie und Geschichtstheologie Menkens »Ein Geist des Irrthums bemächtigt sich eines solchen Zeitalters; es wird der Hölle Macht gelassen, mit aller ihr eigenthümlichen Schalkheit und Täuscherei den Irrthum allgemein zu machen und die Wahrheit zu verdrängen. […] Es ist ein Schwindelgeist über sie ausgegossen; sie sind trunken, aber nicht von Wein; sie taumeln, aber nicht vom Rausch. […] Diese Verblendung, diese Unwissenheit in dem, was das Wissenswürdigste ist, dieser furchtbare Unwille gegen alles, was zu Gott und der Hoffnung des ewigen Lebens führt, diese Gott- und Zuchtlosigkeit heißt dann Geist des Zeitalters, den alle anbeten, dem alle gehorchen.«106

Menkens Urteil über das revolutionäre Frankreich und den Erfolg seiner Kriege drückt das blanke Entsetzen aus. Das französische Volk hat in seinem Frevel ein Feuer entfacht und damit die Welt angezündet: »Glücklich wäre dieses Volk gewesen, wenn das Feuer, das es in seinem Frevel anzündete, gleich hätte gedämpft werden können. Jetzt, da es die Welt angezündet hat, wird es nicht wieder verlöschen, bis es auch die verzehrt hat, die es anlegten.«107 Zugleich äußert Menken die Verwunderung über den Beifall und die Bewunderung, die das siegreiche Frankreich bei vielen »sonst guten, aber schwachen Menschen« findet: »Die Siege eines Volkes, das mit Blut und mit Sünden beladen ist, das alle Bande der Wahrheit und Ordnung zerrissen, alle göttlichen und menschlichen Gesetze mit Füßen getreten, alle göttlichen und menschlichen Heiligthümer entweihet, jedes menschliche Gefühl geschändet und aus sich weggetilgt hat, das zu einer fast beispiellosen Tiefe Menschheit schändender Greuel und viehischer Unmenschlichkeit herabgesunken ist, das alle Sünden und Schanden des abscheulichsten Götzendienstes in seiner Mitte erneuert hat, die Siege dieses Heidenvolkes gegen alle wider sie verbündeten christlichen Mächte, das Glück seiner Sache, der Sache der Gottlosigkeit, sein unaufhaltsames Vordringen, das laute Triumpfgeschrei seines Himmel trotzenden Stolzes, das heftet jetzt aller Menschen Augen und Herzen auf sich, das erfüllet tausend Herzen mit banger Verlegenheit, das hat tausende Herzen gleichgültig gemacht gegen Wahrheit und Recht; ja, das hat auch sonst gute, aber schwache Menschen bewogen, dieses abscheuliche Volk zu entschuldigen und Gott einen Wohlgefallen an ihrer abscheulichen Sache anzudichten.«108

Das ganze französische Volk wird in diesem Urteil der Gottlosigkeit bezichtigt, zum Heidenvolk erklärt und der Allianz der »verbündeten christlichen Mächte« gegenübergestellt, die ihre Kriege dagegen zurecht führen. Revolutionen sind ja nach Menken nur ein Ausbruch menschlicher Leidenschaft, 106 Menken, Schriften VII, 79. 107 Ebd. 89, Hervorhebung H.M.R. 108 Menken, Schriften VII, 85 f.

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Auflehnung gegen die von Gott gegebene Obrigkeit und als solche gegen das Reich Gottes gerichtet. Die sozialen Gründe und Ursachen der Französischen Revolution finden bei Menken keine Beachtung. Nirgendwo kommen sie in den Blick. Recht hat Menken mit der Feststellung, dass die Französische Revolution ihren Motivationsschub durch die Ideen und Forderungen der Aufklärung bekam. Doch da er diese Ideen und Forderungen ablehnt, kann er in dieser Revolution mit der ihr folgenden jakobinischen Schreckensherrschaft und den Verwüstungen der Revolutionsarmee in den Koalitionskriegen nur Auswirkungen des gottlosen Zeitgeistes sehen, der eine verführerische Kraft hat und sich wie eine Seuche ausbreitet: »Furchtbar hat sich in dem allgemeinen Wohlgefallen an dem Sinn und Werke dieses Volkes die Verdorbenheit des gesammten Zeitalters geoffenbart! Eben weil das Werk dieses Volkes im Geiste und Sinne des Zeitalters war, weil es mit seinem Thun die verborgne oder verschleierte Gesinnung des Zeitalters ausdrückte, das scheußliche Ideal des Illuminatismus realisirte, fand es diesen Beifall, diese allgemeine Entschuldigung. […] und nun schreien die Verführer und die Verführten: Sehet da! Gott hält es mit den Franzosen! – und, was das Traurigste ist, mancher bessere Mensch stimmt in die Lästerung mit ein und wiederholt: Gott hält es mit den Franzosen!«109

Der allgemeine Beifall, den die Franzosen bei so vielen, auch »sonst guten, aber schwachen Menschen« finden, erklärt sich nach Menkens Analyse mit der »verborgenen oder verschleierten Gesinnung des Zeitaltes«, von der die meisten Menschen »angesteckt« sind, die für sie zum Maßstab ihrer Urteile geworden ist. Menken spricht in diesem Zusammenhang vom »scheußlichen Ideal des Illuminatismus«. Der Begriff des Illuminatismus bezeichnet das den Zielen der Aufklärung verpflichtete Programm des Illuminatenordens, der vom Philosophen und Kirchenrechtler Adam Weishaupt 1776 in Ingolstadt gegründet wurde und bis zu seinem Verbot 1785 im Kurfürstentum Bayern bestand.110 Er wurde schon vor der Französischen Revolution beendet, beschäftigte jedoch stark die Fantasie der Zeitgenossen und gab Anlass zu zahlreichen Verschwörungstheorien. Menkens Erklärung für den Beifall, den die Französische Revolution bei so vielen gefunden hat, findet ihren letzten Grund in einem pessimistischen Menschenbild. Denn nach seiner Beurteilung der menschlichen Geschichte stand das Gute von Anfang an auf der Verliererseite, wie es die Bibel aufzeige, wie es die Geschichte selbst lehre und in der Gegenwart auch am Erfolg der Philosophie Kants abzulesen sei: 109 Ebd. 88. 110 Es handelt sich dabei um einen »radikalaufklärerischen Geheimbund« mit dem Ziel der »Verbesserung und Vervollkommnung der Welt und seiner Mitglieder (daher auch der alte Name Perfectiblisten)«. Die Illuminaten waren der erste bekannte politische Geheimbund der Neuzeit. Vgl. Schröder, Der Illuminatenorden.

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Chiliastische Realeschatologie und Geschichtstheologie Menkens »Wäre das Gute von der Welt, so hätte die Welt das Ihrige lieb, nun aber, da das Böse von dieser Welt des Argen ist, wird das Gute gedrückt und gehaßt, und das Böse findet überall Raum. So ist es ja von Anbeginn gegangen, und so, die fortdauernde Geschichte, die Bibel sagt‘s, wird es gehen bis ans Ende. […] Wie allgemein wurde Wahrheit und Gottesfurcht verdrängt, und wie wäre sie so ganz erstickt, hätte Gott nicht Abraham und seinen Samen erwählt! Wie schnell, wie glücklich, wie siegend drangen die Waffen Mahomeds durch und verdrängten neben sich Judenthum und Christenthum? Wie schnell und siegend ist die antichristliche Lehre Kant’s in Deutschland ausgebreitet! […] Was Wunder denn, wenn die Welt auch nun, nachdem sie schon lange die Lüste und Gesinnungen des Heidenthums angenommen und die Theorie des Illuminatismus gebilligt hat, an der französischen Revolution, diesem praktischen Illuminatismus en gros, ihr Wohlgefallen bezeugt!«111

Der zweite Teil der Flugschrift Menkens hat das Ziel, die Meinung, Gott halte es mit den Franzosen, zu widerlegen. Wohlergehen in der Welt bedeutet nicht eo ipso das Wohlgefallen Gottes, vor allem nicht dann, wenn es sich um das Wohlergehen der Gottlosen handelt. Aus der vielfältigen Behandlung dieses Themas in der Bibel gewinnt Menken die Argumente für seine Gegenthese: Gott hält es nicht mit den Franzosen! Die Argumente mit ihren Beispielen aus der biblischen Geschichte führen jeweils zur Aufforderung »Richtet nicht nach dem Ansehn, sondern richtet ein gerechtes Gericht«, dem Motto der Schrift, das refrainartig wiederkehrt: Gott will nicht den Tod des Gottlosen. Darum lässt er Zeit und Raum zur Buße, zur Demütigung. Als biblisches Beispiel nennt Menken Gottes Geduld mit der Menschheit vor der Sintflut. Ihre »Philosophie«, ihre Denkungsart identifiziert Menken dabei in einem krassen Anachronismus mit »der Philosophie des gegenwärtigen Zeitalters«:112 Gott duldet die Gottlosen auch und schweigt zu ihrem Tun »zur Offenbarung der Gottlosigkeit der Gottlosen und also auch seiner Gerechtigkeit«.113 Dafür gibt Menken ein Beispiel aus den Koalitionskriegen: »Wäre damals, als die deutschen Heere in der Champagne mit allen Hindernissen der Witterung zu kämpfen hatten, ihr Feldzug geglückt, wären sie mit ihrem gerechten Unwillen damals über dies Volk hergefallen, wie viele hätten dann nimmer die ganze Versunkenheit dieses Volkes (die sich vorzüglich erst nachher offenbart hat), und die Gerechtigkeit der Rache erkannt!«114

»Gott gebraucht die Bösen, wozu er die Guten nicht gebrauchen kann. Die Bosheit der Bösen muß den Guten zum Besten dienen. Die Guten würden immer nur gut bleiben, wie würden nie die Besten, die Vortrefflichsten, die 111 112 113 114

Menken, Schriften VII, 89 f. Ebd. 91. Ebd. Ebd.

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Göttlichsten werden, wenn sie nicht unter den Gottlosen in dieser Welt des Argen lebten.«115 »Aber nicht nur zur Prüfung, auch zur Züchtigung gebraucht Gott die Gottlosen.«116 Zu dieser These verweist Menken auf Beispiele aus der alttestamentlichen Geschichte und aus der Religions- und der Kirchengeschichte: Gott züchtigte sein Volk Israel immer, wenn es abtrünnig wurde und seine Gebote fahren ließ: »Es sollte ein Volk des Eigenthums, ein heiliges Volk sein; sein Gott entzog sich ihm, sobald es sich seinem Gott entzog.«117 Als markantes Beispiel gibt Menken die Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch Nebukadnezar und die Deportation nach Babylon an: »Waren aber die Heiden dem höchsten Gott deßwegen lieber, hielt er es mit ihnen, weil er sie für diese Zeit gegen die Israeliten unterstützte? Keineswegs. Nach 70 Jahren, als Israel gedemüthigt war, und Daniel und seine Freunde beteten, erlöste er sie und gab die Babylonier in die Gewalt der Perser.«118

Im siebten Jahrhundert n. Chr. trat der Prophet Mohammed auf »mit seinen Lügen«, die er »mit Feuer und Schwert predigte«. Es begann damals »das saracenische Blutvergießen, das größte, von dem die Geschichte weiß«. Die noch von den Aposteln gegründeten Gemeinden in Asien wurden zerstört und »der ganze Orient mit Mahomeds Lügen erfüllt«. »Geschah das, weil Gott es mit den Sarazenen hielt, weil er der Sache des Lügenpropheten als seiner Sache Raum machen und das Christenthum als nicht seine Sache erdrücken wollte? Oder war vielmehr dieses Volk damals, wie die Assyrer ehemals, seines Zornes Ruthe und seines Grimms Stecken gegen ein Heuchelvolk?«119 Angesichts der päpstlichen Machtentfaltung und des päpstlichen Machtmissbrauchs, angesichts der Verfolgung der Waldenser und des Umgangs mit der christlichen Kirche in Böhmen fragt Menken ironisch: »Sollen wir dann den Schluß machen: Gott habe es um deswillen den Päpsten so gelingen lassen, weil er es mit ihnen hielt und an ihrer Sache ein Wohlgefallen hatte, […]?«120 Und zur Geschichte der Reformierten in Frankreich stellt Menken dieselbe Frage: »Wenn wir sehen, […] wie man diesen Menschen, die damals die Besten dieses Landes waren, das Leben verbittert, sie kränkt und verfolgt; wie man mit himmelschreiender Treulosigkeit an ihnen handelt, mit verfluchter Falschheit ihnen brüderlich die Hand reicht, heilige Verbindungen mit ihnen eingeht und dann im Namen Gottes alle Eide bricht und die Messer wetzt, womit man sie schlachten will, – wenn das alles gelingt, und Katharina von 115 116 117 118 119 120

Ebd. Ebd. 92. Ebd. 94. Ebd. Ebd 95. Ebd. 96.

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Chiliastische Realeschatologie und Geschichtstheologie Menkens Medici mit der Freude und dem Hohnlachen eines Teufels den Kopf des edlen Coligny betrachtet und ihn wohl einbalsamirt zur allerunheiligsten Augenweide dem heiligen Vater nach Rom schickt, – sagen wir dazu: So war es recht! denn so bewies Gott sein Mißfallen an der Lehre dieser Leute, […] an der Sache also, die seinem heiligen Willen, daß allen geholfen werde durch die Erkenntniß der Wahrheit, geradezu entgegen ist, indem sie alle Wahrheit vernichtet?«121

Das letzte Beispiel eines falschen Urteils über das Wohlgefallen Gottes, das aus den geschichtlichen Fakten, aus Erfolg oder Misserfolg abgeleitet wird, ist das Schicksal des jüdischen Volkes nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels 70 n. Chr. Hier hebt sich Menkens Ansicht erfreulich ab von der in der Kirchengeschichte immer wieder vertretenen Überzeugung, dass das den jüdischen Gemeinden Europas (von den Christen!) angetane Böse und ihr himmelschreiendes Elend ein Zeichen ihrer Verwerfung durch Gott sei: »Wenn wir die Geschichte der Israeliten nach der Zerstörung Jerusalems betrachten und sehen, wie dies Volk immer und überall das verachtetste, gedrückteste, elendeste Volk der Erde ist, geachtet wie Auswurf, geachtet wie Schlachtschafe; wie man es mit kalter Unmenschlichkeit bei Hunderten und Tausenden tödtete und meinte, man thue Gott einen Gefallen, oder sie durch unsinnige Forderungen im Geiste Antiochus’ Epiphanes zur Verzweiflung reizte, daß sie sich selbst tödteten, und wenn wir sehen, wie diese Verachtung noch immer anhält; dann können wir nur bei einer schändlichen Unwissenheit in allem, was lernens- und wissenswerth ist, den Schluß machen, dies Volk müsse wohl Gott weniger lieb sein als alle andere; denn sonst müssen wir wissen, daß dies Volk seinem Gott das liebste ist von allen Völkern der Erde. Wäre das nicht, die blinde, tolle Welt hätte es lange in ihrer Wuth zertreten und vernichtet. Aber gepriesen sei der Herr, der Erlöser, der Heilige, der treue Gott Israels! die gesammte Welt hat das Würmlein Jakob nicht zertreten können bis auf den heutigen Tag.«122

Menken betont in diesem eindrucksvollen Text, dass Gott Israel die Treue hält, dass er es durch diese Treue erhält und vor der Vernichtung bewahrt. Israel wird eine große Zukunft haben, so fährt dieser Text allerdings fort, wenn es – »sich demüthigt und bußfertig abläßt von der Sünde der Väter, an der es bis diesen Tag mit furchtbarer Halsstarrigkeit festhängt und das Blut des Gekreuzigten zur Versöhnung über sich herabflehet […]«.123 Bei aller Empathie für das Elend der Juden, das ihnen der Antijudaismus der Christen antut, und dem Bekenntnis zur bleibenden Treue Gottes für Israel, wird dieses Elend dennoch als göttliche Züchtigung verstanden, die die Juden zur Annahme des Glaubens an den Messias Jesus führen will: 121 Ebd. 122 Ebd. 96 f. 123 Ebd. 97.

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»Und wenn die Stunde kommt, daß sich dieses Volk demüthigt und bußfertig abläßt von der Sünde seiner Väter, an der es bis diesen Tag mit furchtbarer Halsstarrigkeit festhängt und das Blut des Gekreuzigten zur Versöhnung über sich herabflehet, dann wird die Welt staunen ob der Wunder, die Gott thut! die er an diesem Volke thut! Und die hohnsprechenden Philister werden dann wie Koth auf der Gasse und wie das verdorrte Heu auf den Dächern. Dann wird er dieses Volk sammeln aus allen Nationen und es zurückbringen nach Kanaan. O Israel, wer ist dir gleich? Wohl dem Volke, dem der Herr sein Gott ist!«124

Menken wendet sich schließlich wieder dem gegenwärtigen Frankreich zu. Er vergleicht es in seinem Siegestaumel mit der Macht der Assyrer im Alten Orient und zieht die Völkersprüche der Propheten Jesaja und Habakuk heran, um das Glück der Gewalttätigen als ihr Unglück zu entlarven. Gott lenkt die Geschichte und benutzt die Gewalttätigen für seine Zwecke. Die Schrift lehrt, dass Gott ganze Völker dahingibt, Böses zu tun. »Doch der Ruchlosen Glück bringt sie um« (Spr 1,32): »Er [Gott, H. M.R.] ließ es zu, daß die Macht der Assyrer immer größer, furchtbarer, unwiderstehlicher anwuchs; aber eben dies unaufhaltsame Anwachsen ihrer Macht, dieses beständige Siegen war ihr Verderben; es machte sie trunken und toll, daß sie sich zuletzt in ihrem Stolze nicht scheueten, den lebendigen Gott Israels zu achten wie einen todten Götzen. Da hieß es denn: Wen hast du geschmähet und gelästert? Ueber wen hast du die Stimme erhoben? Da kam das Verderben über dies Volk, wie eine Verwüstung von dem Allmächtigen. Lange vorher, eh die Assyrer daran dachten, Jerusalem zu belagern, sagte Gott: O wehe dem Assur, der meines Zornes Ruthe, und ihre Hand meines Grimmes Stecken ist! Ich will ihn senden wider ein Heuchelvolk.«125

Aus den zahlreichen alttestamentlichen Beispielen der prophetischen Hinterfragung und Eingrenzung imperialer Macht durch die beherrschende Macht Gottes in der Weltgeschichte zieht Menken das geschichtstheologische Fazit: »Wenn die Missethaten eines gottlosen Volkes alle sind, wenn es sein Maß erfüllet, wenn es dem Rathe Gottes gegen seinen Willen und ohne sein Wissen gedienet hat, daß alle dadurch geprüfet und gezüchtiget werden sollten, dann rechtet Gott mit einem solchen Volke; dann zeigt er, daß er demüthigen könne den Stolzen und Gnade und Hülfe senden dem Demüthigen.«126

Am Ende seiner Flugschrift bestreitet Menken, dass es sich beim Krieg gegen die Franzosen um einen gewöhnlichen Krieg handle, der durch »einen gewöhnlichen Frieden« ein Ende finden könne. Nein, es gehe bei diesem Krieg um »die Sache des Christenthums im Kampfe gegen Irrthum und Lüge«: 124 Ebd. 125 Ebd. 99 f. 126 Ebd. 102.

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Chiliastische Realeschatologie und Geschichtstheologie Menkens »Wer daher diesem Kriege durch einen gewöhnlichen Frieden ein baldiges Ende wünscht, der hat die Zeichen seiner Zeit nicht geprüft, der kennt die Wahrheit und die Folgen des siegenden Unglaubens nicht, kennt nicht das Interesse der Menschheit, ist gleichgültig gegen die Ehre Gottes und Christi. Wenn dieses geschähe, (wer beten kann, bete, daß es nicht geschehe!), daß die französische Rebellion gegen Gott und Ordnung und Wahrheit als rechtmäßig anerkannt würde, und es nun der schon getäuschten Menge in ihrem verkehrten Sinn gleichsam vom Himmel herab dokumentirt würde, sie dürfe nur aufstehn gegen Gott und Obrigkeit und Wahrheit und Recht, – werden wir dann Frieden haben? Ja, Frieden und Freuden der Hölle!«127

Der Krieg, den Menken ins Apokalyptische ausweitet und als Kampf und Widerstand der Welt versteht, den sie von Anfang an gegen das Reich Gottes richtet, ist für ihn schon längst entschieden: »Mag die Welt (und mit ihr die Hölle) sich sperren, wie sie will: ihre Sache ist entschieden. In diesem Prozeß ist längst vor 1800 Jahren eine Sentenz128 gesprochen, bei der es bleibt. Und seitdem ist alles gethan, was Gottes Liebe und Gerechtigkeit thun konnte; er hat mit großer Güte und furchtbarer Strenge gehandelt. Nun geht’s zur endlichen und gänzlichen Exekution. Die Zeit naht heran und ist schon da, daß vollendet werde (der Anfang wurde gemacht, als Johannes der Täufer auftrat und rief: Thuet Buße, denn das Königreich der Himmel ist nahe herbei gekommen!), das Geheimniß Gottes, wie er es evangelisirt hat seinen Knechten, den Propheten, daß das gesammte Reich der Welt unsers Herrn und seines Christus werde, und er regiere von Ewigkeit zu Ewigkeit.«129

Wenn die bestehende politische Ordnung mit Wahrheit und Recht, ja mit Gott selbst identifiziert wird, wie bei Menken in diesem leidenschaftlichen Text, dann stellen sich kritische Fragen: Was ist das für ein Gott, der zum Inbegriff der politischen (Un-)Ordnung wird? Ist es der Gott Israels und Jesu Christi, der mit der Tora sein Volk zur Autonomie und Egalität bestimmt? Ist sein Reich nur in passivem Dulden und Ertragen der bestehenden Verhältnisse zu erwarten? Menken hat diese kritischen Fragen nicht gestellt. Die politische Restauration aber und die Befestigung der Allianz von Thron und Altar im 19. Jahrhundert fand in seiner jeden Ruf nach demokratischen Reformen und jeden politischen Widerstand ablehnenden Geschichtstheologie eine fragwürdige Bestätigung.130

127 Ebd. 103. 128 Mit dieser Sentenz ist Joh 12,31 gemeint: »Jetzt ergeht das Gericht über diese Welt, jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden.« 129 Menken, Schriften VII, 104. 130 Vgl. dazu Kapitel 11 zur Wirkungsgeschichte Gottfried Menkens.

11. Zur Wirkungsgeschichte Gottfried Menkens In der Literatur über Gottfried Menken wird immer wieder sein weit ins 19. Jahrhundert reichender und bisher unerforschter Einfluss festgestellt. Hingewiesen wird dabei vor allem auf die sogenannte Erweckungsbewegung, die Theologie der Erlanger Schule, dabei besonders auf Johann Konrad von Hofmann, auf Albrecht Ritschl und Martin Kähler. Menken hat keine theologische Schule gebildet. Am umfassendsten ist sein Einfluss auf die Erweckungsbewegung und die wissenschaftlichen Gesamtentwürfe einer heilsgeschichtlichen Theologie in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ansonsten hat Menken durch einzelne Aspekte und Positionen seiner irregulären Dogmatik nachhaltig gewirkt, und zwar bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bei Karl Barth.

11.1 Menkens Einfluss auf die Erweckungsbewegung Der Einfluss Menkens auf die Erweckungsbewegung hat zwei Schwerpunkte. Zum einen wirkte stark Menkens Bibelverehrung und Hochschätzung des Alten Testaments mit seiner kompromisslosen Ablehnung der historischen Bibelkritik der Aufklärung und der neologischen Bibelhermeneutik, eine Ablehnung, die sich bis zur Verteufelung der Gegner steigerte. Zum anderen hat Menken stark auf die konservative Ethik und die positivistische Staatsauffassung der Erweckungsbewegung eingewirkt. 11.1.1 Die Nachwirkung des Biblizismus und der Ablehnung der Bibelkritik der Aufklärung Die Vertreter der Erweckungsbewegung sahen in Menken einen Gesinnungsgenossen, der sie bestätigte und bestärkte in ihrer Frontstellung gegen den Rationalismus der (späten) Aufklärung. Das wird schon in Bremen deutlich, wo Menkens Anhänger in den Bremer Kirchenstreitigkeiten von 1830 bis 1852 auf der Seite der Erweckungsbewegung standen. Einer der wirksamsten Anhänger Menkens war Friedrich Ludwig Mallet (1797–1865).1 Mallet kam 1815 nach Bremen, wurde »Gehülfsprediger« an St. Michaelis 1 Wenig urteilt: »Theologisch ist Mallet von Menken beeinflußt und durch diesen von Bengel und Collenbusch.« Wenig, Rationalismus und Erweckungsbewegung, 144.

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Zur Wirkungsgeschichte Gottfried Menkens

und im Jahre 1827 dritter Prediger der St. Stephani-Gemeinde. 1817 hatte er Anna Achelis geheiratet, die Tochter des mit Menken eng befreundeten Pfarrers Henricus Nicolaus Achelis in Arsten. 1863 gab Mallet Menkens Predigt vom 18. Oktober 1819, die sechs Jahre nach der Schlacht bei Leipzig gehalten wurde, in einem Einzeldruck heraus. Er schreibt in der Vorrede, man könne aus dieser Predigt sehen, »daß das ewige Wort des lebendigen Gottes nicht nur das Licht unserer Seele und die Leuchte auf unserem Wege ist, sondern daß es auch das Licht der Weltgeschichte ist, und daß es nothwendig da dunkel werden muß, wo dieses Licht nicht leuchtet«.2 Man darf wohl auch Karl Hermann Gildemeister (1801–1875) und den Herausgeberkreis der vollständigen Ausgabe der Schriften Menkens (1858) den Kreisen der Erweckungsbewegung in Bremen zuzählen. Am intensiven Wirken Mallets und auch an der Tätigkeit des Pfarrers Georg Gottfried Treviranus (1788–1868), der von 1814 an Menkens Kollege war, wird deutlich, dass sich diese frühen Vertreter der Erweckungsbewegung in Bremen auf anderen Gebieten als Menken profilierten und äußerst wirksam wurden. Treviranus war der Begründer der kirchlichen Vereinsbewegung und der christlichen Liebestätigkeit in Bremen. Von 1814 bis 1848 hat er 15 kirchliche Vereine und Anstalten der Inneren Mission gegründet.3 Er war mit Johann Hinrich Wichern befreundet. Mallet entfaltete eine aktive Tätigkeit auf dem Gebiet der kirchlichen Publizistik. Seit 1832 gab er den Bremer Kirchenboten heraus, zuerst als Monatsschrift, später als Wochenschrift bzw. als Sonntagsblatt. Auf den Bremer Kirchenboten folgten von 1848 bis 1850 der heftig gegen die Revolution opponierende Bremer Schlüssel und 1857 bis 1860 die Bremer Post. Der Einfluss Menkens auf die Erweckungsbewegung greift weit über Bremen hinaus und ist nachzuweisen im Blick auf die Erweckung innerhalb der deutschen Landeskirchen und im angrenzenden Ausland, in Holland und Dänemark. Eine persönliche Verbindung mit Württemberg war gegeben durch den Württemberger Johann Ernst Osiander, der Menken als Hauslehrer in Bremen kennengelernt hatte und die erste ausführliche Würdigung der Theologie und Homiletik Menkens verfasste.4 Es war Geist vom Geist Bengels 2 Menken, Predigt, 3. Mallet offenbart dabei auch seine patriotische Gesinnung. Er möchte mit der Herausgabe dieser Predigt der preußischen Veteranen von 1813–1815 gedenken, denn: »Manche scheinen es vergessen zu haben, daß der Ehrenpreis und die Siegespalme der Befreiungskriege Preußen gebührt.« Die Predigt findet sich im Sonderarchiv der Landeskirchlichen Bibliothek in Bremen unter Gottfried Menken Nr. 7. 3 Dazu gehörten 1814 der Kleine Frauenverein, 1815 die Bibelgesellschaft, 1816 der Große Frauenverein, 1819 der Missionsverein, 1821 der Traktatverein, 1833/34 der Jünglingsverein, 1834/35 die Sonntagsschule, 1835 der Verein zur Pflege armer Wöchnerinnen, 1837 der Verein für entlassene Gefangene, 1839/40 der Evangelische Verein für deutsche Protestanten in Nordamerika, 1840/41 der Männer-Krankenverein, 1841 das Haus Concordia, 1846/47 der Ellener Hof, 1849 der Verein für Innere Mission. Bemerkenswert ist – nach Wenig – »die führende Mitarbeit von Nichttheologen in diesen Werken«. In: Rationalismus und Erweckungsbewegung, 130. 4 Zu Osiander vgl. oben Kap. 2.1.

Menkens Einfluss auf die Erweckungsbewegung

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und Oetingers, der in den Schriften Menkens wehte, dessen Schriftauslegung die Gedanken der großen Württemberger Pietisten aufnahm. Die reformierten Kirchgemeinden des Rheinlandes hatten schon sehr früh enge Kontakte zu Bremen. Menkens Studium in Duisburg, seine Kandidatenzeit und ersten Jahre im Pfarramt in Frankfurt und Wetzlar führten zu einer bleibenden Wertschätzung Menkens in den gleichgesinnten Kreisen. Der Einfluss Menkens hier wird persönlich deutlich an der Familie Krummacher. An der Spitze der erweckten Prediger stand Gottfried Daniel Krummacher (1774–1837) in Elberfeld. Sein Bruder Friedrich Adolf Krummacher (1767–1845) wurde bereits im Zusammenhang der Bremer Kirchenstreitigkeiten erwähnt. Friedrich Adolf Krummacher kam 1824 als dritter Prediger an St. Ansgarii nach Bremen. Sein Sohn Friedrich Wilhelm Krummacher (1791–1868) löste mit seiner »Verfluchungspredigt« gegen den Rationalismus am 19. Juli 1840 den ersten Bremer Kirchenstreit aus. Menken war für Friedrich Wilhelm Krummacher auch ein großes homiletisches Vorbild, wie dessen alttestamentlichen Predigtzyklen zeigen.5 Friedrich Wilhelm Krummacher machte kirchliche Karriere. Nach Pfarrstellen in Frankfurt/Main, Ruhrort, Barmen-Gemarke und Elberfeld ging er nach Berlin, wo er an der Dreifaltigkeitskirche die Nachfolge Marheinekes antrat. 1853 wurde er als Hofprediger an die Garnisonkirche in Potsdam berufen. Auf sein Wirken in der Berliner und preußischen Erweckungsbewegung wird zurückzukommen sein.6 Im Blick auf den religiösen Austausch, gegenseitige Beeinflussung von Anhängern und Anhängerinnen derselben reformierten Konfession, gab es immer einen lebhaften »Grenzverkehr« zwischen der Niederrheinregion und den Niederlanden. Die Beziehung von Menken zur Erweckungsbewegung in den Niederlanden wird greifbar durch Übersetzungen einiger seiner Werke ins Holländische, die schon zu seinen Lebzeiten 1825 erschienen.7 »Menkens Einfluß auf die Erweckungsfrömmigkeit im norddeutschen Raum war erheblich.«8 Zu diesem Urteil kommt Kurt Nowak in seinem Aufsatz Die Welt ist angezündet. Endzeiterfahrung und Zukunftshoffnung bei Gottfried Menken und Friedrich Schleiermacher. Mit dem Beginn der Erweckung in Hamburg ist der Name des Pastors Johann Wilhelm Rautenberg (1791–1865) verbunden. 5 Vgl. oben Kap. 7.5. 6 Vgl. dazu unten Abschnitt 11.1.2. 7 Vgl. dazu oben Kap. 2 Anm. 9. Als Menkens Übersetzungen in Holland erschienen, hatte gerade Isaak da Costa, der als Advokat in Amsterdam lebte, sein Pamphlet Einreden wider den Zeitgeist veröffentlicht (1823), in dem er sich schonungslos mit Politik, Kultur und Religion auseinandersetzt. »Überall fände sich dasselbe Bild. Von Frankreich ausgehend habe sich Gottlosigkeit breitgemacht. […] Zeit seines Lebens hat Da Costa an der Verbindung von Volk und Religion festgehalten. Deshalb wandte er sich gegen alles, was sie ihm zu gefährden schien: Aufklärung, Revolution, Emanzipation, Liberalismus. Erneuerung müsse aus der wiedergewonnenen Religiosität des Volkes kommen.« Gäbler, Geschichte des Pietismus, 69. 8 Nowak, Die Welt ist angezündet, 275, Anm. 49.

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Bei Rautenberg steht neben der erwecklichen Predigt der soziale Einsatz gegen die Verarmung der unteren Schichten. Der Kreis der erweckten Freunde um Rautenberg vermittelte Wichern wichtige Impulse für sein großes Projekt einer Inneren Mission. Wichern hatte 1833 das Rauhe Haus gegründet. Seine Ideen, die er in einer zündenden Rede auf dem Wittenberger Kirchentag 1848 entwickelte, fanden begeisterte Zustimmung und nach und nach eine Realisierung in vielen Einrichtungen und Aktivitäten der Inneren Mission. Eine »führende Gestalt der Hamburger Erweckungsbewegung und eifrige Bibelexegetin« war Amalie Sieveking (1794–1859). Sie »wurde durch Rautenberg zu einem vertieften Glauben an den Erlöser angeleitet, den sie als Lehrerin, Krankenpflegerin und verantwortliche Leiterin des ›Weiblichen Vereins für Armen- und Krankenpflege‹ (1831) zur Tat werden ließ«.9 Amalie Sieveking hatte exegetische Betrachtungen über die Sendschreiben der Apokalypse verfasst und wandte sich 1826 an Menken, um seinen Rat wegen einer Veröffentlichung einzuholen.10 Dass Menken in Hamburg in den Kreisen der Erweckten und den ihnen nahestehenden Christinnen und Christen bekannt und geschätzt war, zeigt auch die Tatsache, dass der von ihm eingestellte Hilfsprediger in seinen letzten Amtsjahren der junge Hamburger Theologe und Enkel von Matthias Claudius war: Johann Matthias Perthes. Während in Bremen und Hamburg die Vertreter und Vertreterinnen der Erweckungsbewegung neben einem Teil der Pfarrerschaft aus dem Bürgertum und Patriziat stammten, schlossen sich in Berlin und Pommern Adelige und Gutsbesitzer der Erweckungsbewegung an und wurden zu ihren führenden 9 Amalie Sieveking gilt als »die Hauptgestalt der evangelischen weiblichen Diakonie Deutschlands im 19. Jahrhundert«. Postel, Sieveking, 233–242. Nach einer von Schicksalsschlägen getrübten Kindheit und Jugend fand sie unter dem Einfluss der zeitgenössischen Erweckungsbewegung zum Glauben und begann ein intensives Bibelstudium. Sie veröffentlichte ihre Betrachtungen über einzelne Abschnitte der Heiligen Schrift (1823, 1827, 1855). Seit ihrem 18. Lebensjahr befasste sie sich mit dem Plan der Stiftung eines Ordens barmherziger Schwestern in der protestantischen Kirche. Das soziale Motiv war dabei mit dem Wunsch verbunden, Frauen, vor allem unverheirateten, Betätigungsmöglichkeiten zu öffnen und sich dabei über konfessionelle Schranken hinwegzusetzen. Dieser Lebenstraum wurde 1832 mit der Gründung eines weiblichen Vereins für Armen- und Krankenpflege Wirklichkeit. »Amalie Sieveking war die erste bürgerliche Frau, die sich der sozialen Probleme in dieser Weise planmäßig annahm«. Ebd., 238. Obwohl sie unpolitisch sein wollte, scheute sie sich nicht, »soziale Mißstände zu kritisieren, während der dreißiger und vierziger Jahre insbesondere die unzureichenden Löhne und Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeiter«. Ebd. Ihre Gesamthaltung war konservativ und unterschied sich deutlich von der emanzipatorischen liberalen Frauenbewegung um die Jahrhundertmitte. Ihr Verein hatte schon bald Nachfolger in vielen deutschen und ausländischen Städten. Trotz zahlreicher Angebote blieb Amalie Sieveking in Hamburg und fand für ihre sozialen Projekte zunehmend die Unterstützung der Stadt und ihrer reichen Kaufleute. Mit ihrer großen sozialen Arbeit hat sie auch »den Weg für eine veränderte, selbständige Stellung der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft gebahnt, – obgleich oder gerade weil nicht dies ihr Hauptanliegen war. Sie hatte der Frau eine neue Aufgabe zugewiesen und ihr mit dem Erfolg auch eine neue Anerkennung verschafft.« Postel, Amalie Sieveking, 241. 10 Nowak, Die Welt ist angezündet, 275, Anm. 49.

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und einflussreichen Vertretern. Baron Ernst von Kottwitz11 (1757–1843) und Adolf von Thadden-Trieglaff (1796–1882)12 waren mit den Gedanken Menkens vertraut und haben sie den Berlinern vermittelt.13 Die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Menken durch die (lutherische!) Universität Dorpat im Jahre 1828 zeigt, dass die Kenntnis Menkens und sein Einfluss bereits am Ende seines Lebens bis ins Baltikum reichten.14 11.1.2 Die konservative Ethik und die positivistische Staatsauffassung – die Linie von Gottfried Menken zu Friedrich Julius Stahl Eng verbunden mit dem Biblizismus Menkens haben seine konservative politische Einstellung, seine Verurteilung der Französischen Revolution und aller Auflehnung gegen die gegebene Staatsgewalt großen Einfluss auf die 11 Hans Ernst von Kottwitz war ein Abkömmling des Adelsgeschlechtes der Kottwitz in Schlesien. 1757 geboren kam er mit 13 Jahren als Page an den Hof Friedrich II. in Potsdam. Durch Kontakte mit der Herrnhuter Brüdergemeine entschloss er sich 1788, sein Leben der Verwirklichung eines tätigen Christentums zu widmen und Arbeitskraft und Vermögen für die Armen einzusetzen. 1806 übersiedelte Kottwitz nach Berlin. Er gehörte dort zum Kreis der Erweckungsbewegung, die zunächst im Adel verwurzelt war. Am Wirken des »Barons«, wie er von seinen erweckten Freunden genannt wurde, wird die für die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts bezeichnende Verknüpfung von Mission und Diakonie besonders anschaulich: »Die vielfältige Aktivität des Barons schuf sich Arbeitsfelder auf allen für die Erweckungsbewegung typischen Gebieten der Diakonie, der Mission, der Bibelverbreitung usw. […] Alle, die sonst unter den Erweckten Autorität und Stimme hatten, anerkannten ihn als Vereinigungspunkt und ›Patriarch‹ (Tholuck) der Erweckungsbewegung in Berlin, die der Brennpunkt der Erweckung in Brandenburg, Pommern, Schlesien war und darüberhinaus an vielen Orten das ausstrahlte, was sie von Kottwitz empfangen hatten.« Kantzenbach, von Kottwitz, 75 f. Von Kottwitz gründete viele soziale Einrichtungen, die das Elend der Armen und der Arbeiter im beginnenden Industriealter zu lindern suchten. Zahlreiche junge Theologen wie Wichern, Ewald Rudolf Stier, Ernst Wilhelm Hengstenberg, August Tholuck, Richard Rothe und Claus Harms konnte er im Sinne einer Erweckungsfrömmigkeit prägen. »Er war einer der größten Anwälte des allgemeinen Priestertums der Gläubigen in der Kirchengeschichte.« Kantzenbach, von Kottwitz, 86. 12 Adolf von Thadden-Trieglaff war preußischer Gutsbesitzer, konservativer Politiker und Mittelpunkt der pietistischen-protestantischen Erweckungsbewegung in Pommern. Zur weitverzweigten Adelsfamilie der von Thadden gehörten und gehören bis heute viele bekannte Familienmitglieder, unter ihnen viele hohe Offiziere, Politiker, Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Historiker u.a. Vgl. Berner, Thadden, Adolf von. 13 Fischer, Der deutsche Protestantismus, 482. 14 Der Kontakt der Universität Dorpat zu Menken erfolgte durch Ernst Wilhelm Sartorius (1797–1859). Sartorius war »ein langjähriger Mitarbeiter der Evangelischen Kirchenzeitung Hengstenbergs, der als Professor in Dorpat seine ›Beiträge zur evangelischen Rechtgläubigkeit‹ verfaßt (1925 f.) und im Jubiläumsjahr 1830 in seiner Festrede ›Die Herrlichkeit der Augsburgischen Confession‹ gepriesen hatte.« Gustav Adolf Benrath, Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, 174. Die Vermittlung erfolgte über die Erweckungsbewegung in Berlin, in Pommern und Schlesien. In Schlesien ist Friederike Gräfin von Reden auf Gut Buchwald der Mittelpunkt adliger und fürstlicher Persönlichkeiten. Sie gibt die Hirschberger Bibel für die Evangelischen in der Diaspora in Böhmen heraus und sammelt eifrig die Predigten von Menken. Vgl. den Hinweis auf die Forschung Bodo Heynes in Kap. 2.1.2.

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Erweckungsbewegung gehabt. Deutlich ist in Menkens Theologie der logische Zusammenhang einer Bibelauffassung und einer politischen Einstellung, der das Bestehende als von Gott gegeben und als nicht hinterfragbar annimmt, nämlich den überlieferten Bibeltext und die herrschende politische Ordnung. Am stärksten ist dieser Einfluss auf die politische Einstellung erkennbar in Preußen. Hier waren es der Adel, die Großgrundbesitzer und die Beamtenschaft, die sich der Erweckungsbewegung anschlossen und deren politische Haltung ohnehin von Loyalität, von Treue zum Staat und zum König geprägt war.15 Hier werden nun Lehrstühle und kirchliche Führungsstellen mit Männern besetzt, »die als Pietisten gelten und die zugleich Gewähr bieten, dem reaktionären Kurs die Bahn zu brechen, wie die Hofprediger Strauß und Eylert, von Neander und Hengstenberg in Berlin, von Tholuck in Halle.« Dem reaktionären Kurs ist die 1827 von Hengstenberg gegründete Evangelische Kirchenzeitung verpflichtet. »Ihre Bedeutung erschöpft sich nicht im kirchlichen Bereich, sie ist vor Gründung der Kreuzzeitung eine politische Macht.«16 Menkens Schriften sind den führenden Köpfen der Berliner Erweckung, Kottwitz und von Thadden bekannt und werden durch sie weitervermittelt.17 Menkens politische Einstellung begegnet wieder, sicher nicht ohne dessen direkten Einfluss, bei dem inzwischen zum Hofprediger avancierten Friedrich Wilhelm Krummacher, der sich in der Revolution von 1848 mit den Orthodoxen und Pietisten auf die Seite der Königstreue stellt, voller Misstrauen ist gegen den Ruf nach »Emanzipation, Selbständigkeit der Vernunft, unveräu-

15 Fritz Fischer bezeichnet den Eingang der Erweckungsbewegung in Berlin als ihre »folgenreichste geschichtliche Entwicklung«: »Zur folgenreichsten geschichtlichen Entwicklung gelangt die Erweckung in dem Augenblick, als sie in Berlin Eingang findet und hier eine Verbindung eingeht mit dem christlich-germanischen Kreis junger, von der Romantik ergriffener Adeliger. Obwohl sich beide Gefühls- und Gedankenbereiche keinesfalls völlig decken, wird doch die Personalunion, die sie in Männern wie den Gerlachs, Senfft-Pilsach, Gröben, Stolberg u. a., eingehen, von eminenter Bedeutung dadurch, daß der Kronprinz sich ihnen anschließt. Damit gewinnen sie auf die Staatsverwaltung, vor allem im kirchlichen und kulturellen Sektor, einen weit über das Maß der hinter ihnen stehenden Kräfte hinausgehenden Einfluß, […].« Fischer, Der deutsche Protestantismus, 481. 16 Fischer, Der deutsche Protestantismus, 482. »Die Neue Preußische Zeitung – in der Öffentlichkeit allgemein als Kreuzzeitung bekannt, wobei das Eiserne Kreuz in der Vignette namensgebend wirkte – erschien von 1848 bis 1939 und galt als Haus- und Hoforgan der altpreußischen Eliten aus Adel, Großgrundbesitz und Offizierskorps. […] Die Kreuzzeitung entstand in den Tagen der Märzrevolution von 1848 […]. Zu den Gründern gehörten maßgeblich die Gebrüder Gerlach, der strenggläubige Jurist Ernst von Gerlach und dessen Bruder Leopold, der als Adjutant des Königs zum inneren Kreis bei Hofe zählte. […] Zeitweise gehörte Otto von Bismarck zu den freien Mitarbeitern. […] Die Kreuzzeitung war antidemokratisch, antisemitisch und monarchistisch ausgerichtet, vertrat ein orthodoxes protestantisches Christentum und betrieb Lobby für die Landwirtschaft.« Neue Preußische Zeitung. 17 Fischer, Der deutsche Protestantismus, 482.

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ßerlichen Menschenrechten« und der das christlich-konservative Preußen preist als »stärksten Damm« gegen diese Flut.18 Menken hatte als reformierter Pfarrer der Hansestadt Bremen kein dem preußischen Adel und dem stark dem Hof verbundenen Kreis der Erweckung vergleichbares Standesinteresse. Seine Verurteilung der Französischen Revolution als Werk des Satans, so urteilt Fischer zu Recht, und seine positivistische Staatsauffassung folgen aus seiner biblizistischen Theologie und sind »unabhängig von den Klasseninteressen des ostelbischen Adels«. Fischer erkennt in Menkens Theologie »die bewußte Absage an die Aufklärung, an Kant und den Idealismus« und verortet hier »die religiösen Wurzeln des christlichen Konservativismus«.19 Außerdem weist Fischer auch zu Recht auf den Zusammenhang der Gedanken Menkens mit denen Luthers hin. Luthers Konservativismus und seine Zwei-Reiche-Lehre gewinnen in der preußischen Erweckungsbewegung eine starke Attraktivität. Die Erweckungsbewegung wird konfessionalistisch. Das landesherrliche Kirchenregiment, das in der Zeit der Reformation etabliert wurde, um die Ordnung in den lutherischen Kirchengebieten aufrechtzuerhalten, wird in Preußen zum Staatskirchentum und die Kirche zum Instrument der staatlichen Autorität. Die antirevolutionäre, positivistische Staatsauffassung ist schon bei den ersten Vertretern der preußischen Erweckungsbewegung, bei Kottwitz, von Thadden und den Brüdern von Gerlach deutlich. Sie gewinnt ihr theoretisches Fundament in der Staatslehre eines Mannes, der einer bayrischen jüdischen Familie entstammte, der sich mit 17 Jahren taufen ließ und zur evangelischlutherischen Kirche übertrat und dann in Bayern und Preußen eine erstaunliche Karriere machte: Friedrich Julius Stahl (1802–1861). Die Taufe erfolgte am 6. November 1819 in der Neustädter Kirche in Erlangen. Stahl begann das Studium der Rechtswissenschaft in Würzburg 1819/20, setzte es 1821 in Heidelberg und 1822/23 in Erlangen fort. In Erlangen wurde Stahl 1832 zum außerordentlichen Professor ernannt, wurde aber zunächst nach Würzburg versetzt und kehrte 1834 an die Erlanger Universität zurück. Er lehrte Kirchenrecht, Staatsrecht und Rechtsphilosophie. In Erlangen gerät Stahl unter den Einfluss von Christian Krafft, der aus Duisburg stammend den Erlangern die Gedanken des Collenbuschkreises vermittelt und so eine wichtige Bedeutung für die sogenannte Erlanger Schule und besonders für die heilsgeschichtliche Theologie von Hofmanns gewinnt. Unter dem Einfluss Christian Kraffts und der Erlanger Theologie entwickelte sich Stahl endgültig zu einem typischen Vertreter der lutherischen Orthodoxie. Der Ruf Stahls als leidenschaftlicher Bekämpfer der naturrechtlichen Staatsauffassung und jeglicher Revolution war längst nach Berlin gelangt. So erklärt sich, dass er 1840 als Professor der Rechtsphilosophie, des Staatsrechts

18 Ebd 485 f. 19 Alle Zitate ebd. 482 f.

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Zur Wirkungsgeschichte Gottfried Menkens

und des Kirchenrechts an die Berliner Universität berufen wurde.20 Schon längst ist die große Nähe, ja Übereinstimmung der Gedanken Menkens mit den Überzeugungen Stahls wahrgenommen worden. Fritz Fischer stellt fest: »Im Keime ist bei Menken schon die Konzeption vorweggenommen, die nachher bei Friedrich Julius Stahl (der 1841 aus dem lutherischen Erlangen nach Berlin kam) ihre gedankliche rechtsphilosophische Entfaltung findet.«21 Emanuel Hirsch urteilt über die Geschichtstheologie Menkens und ihre Wirkungsgeschichte: »Hier erzeugt die biblische Orthodoxie des Neupietismus aus sich heraus die konservative Welt- und Geschichtsansicht der preußisch-norddeutschen Restauration. Es gibt eine Linie von Menken zu Friedrich Julius Stahl.«22 Die Übereinstimmungen treten überaus deutlich zutage in einem Vortrag, den Stahl am 8. März 1852 auf einer Veranstaltung des Vereins für kirchliche Zwecke gehalten hat. Das Thema lautete: »Was ist die Revolution?«23 Stahl stimmt ein in »das christliche Zeugniß wider die Revolution, wie es in Preußen abgelegt worden [ist] seit dem März 1848 von den Kanzeln der gläubigen Prediger, in den Zeitschriften des kirchlichen Glaubens, auf dem Kirchentage zu Wittenberg 1848, in den Kammern zu Berlin und Erfurt. Es ist das christliche Programm: ›mit der Revolution zu brechen!‹«24 Und er erinnert daran: »Auch unsere Regierung hat sich feierlich zu diesem Programm bekannt.«25 Wichtig ist ihm der Unterschied zwischen Empörung und Revolution: »Die Revolution ist nicht ein einmaliger Akt; sie ist ein fortdauernder Zustand, eine neue Ordnung der Dinge. Empörung, Vertreibung der Dynastie, Umsturz der Verfassung hat es zu allen Zeiten gegeben. Die Revolution aber ist

20 Stahl beschränkte sich nicht auf seine Tätigkeit innerhalb der Universität, sondern wurde auch politisch tätig und versuchte so, seine konservativen Ansichten durchzusetzen. 1848 veranlasste ihn eine Petition der außerordentlichen Professoren und Privatdozenten der Berliner Universität, die seine Absetzung forderten, zur Flucht aus Berlin. Er kam jedoch bald zurück, »um zusammen mit Ernst Ludwig von Gerlach die Gründung einer konservativen Zeitung und die Organisation der späteren Conservativen Partei voranzutreiben. Stahl gehörte zu den Aktionären und den Mitarbeitern der Mitte 1848 gegründeten ›Neuen Preußischen Zeitung‹ – auf Grund eines großen Eisernen Kreuzes auf dem Titel auch ›Kreuzzeitung‹ genannt. […] Sein im Februar und März 1849 verfasster Entwurf für eine conservative Partei, in dem er die Leitlinien einer künftigen konservativen Partei umriss, wurde Grundlage für das schließlich gedruckte Programm der Konservativen. Allerdings konnte Stahl nicht die gesamte konservative Partei auf dieses Programm festlegen; so wurde er – wiederum an der Seite Ludwig von Gerlachs – zum Wortführer nur der äußersten parlamentarischen Rechten (mitunter bezeichnet als ›Fraktion Gerlach-Stahl‹).« Bußmann, Friedrich Julius Stahl, 325–343. Stahl machte weiterhin Karriere in Berlin: Er wurde 1854 eines der vom König auf Lebenszeit ernannten Mitglieder des Herrenhauses und damit der Hauptführer der Reaktion. Vgl. Bußmann, Friedrich Julius Stahl, 325–343. 21 Fischer, Der deutsche Protestantismus, 483. 22 Hirsch, Geschichte, Bd. V, 96 f. 23 Vgl. Stahl, Was ist die Revolution? 24 Stahl, Was ist die Revolution?, 1. 25 Ebd.

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die eigenthümliche weltgeschichtliche Signatur unseres Zeitalters.«26 Sie »bedeutet die bestimmte politische Lehre, welche seit 1789 als eine weltbewegende Macht die Denkart der Völker erfüllt und die Einrichtungen des öffentlichen Lebens bestimmt«.27 Und so definiert Stahl diese neue politische Lehre: »Revolution ist die Gründung des ganzen öffentlichen Zustandes auf den Willen des Menschen statt auf Gottes Ordnung und Fügung: daß alle Obrigkeit und Gewalt nicht von Gott, sondern von den Menschen, vom Volke; und daß der ganze gesellschaftliche Zustand zu seinem Ziele nicht die Handhabung der heiligen Gebote Gottes und die Erfüllung seines Weltplanes habe, sondern allein die Befriedigung und das willkürliche Gebahren der Menschen.«28 Als »innerste Triebfeder« der revolutionären Forderungen sieht Stahl die Aufhebung der Standesunterschiede zwischen den Menschen. Deutlich ist Stahl dabei von der lutherischen Berufsethik geprägt. »Die innerste Triebfeder« lässt die Anhänger und Anhängerinnen der Revolution in ihren Herzen sprechen: »Wir unterwerfen uns nicht Gottes Weltplan, nach welchem einem Jeden von uns eine gliedliche Stellung zugewiesen ist und damit verschiedener Beruf und verschiedenes Recht, sondern stabiliren über Gottes Weltplan das absolute Menschenrecht als einen Felsen von Erz. Nach diesem sind alle einander gleich, und dürfen nicht besondere Rechte und nicht besondere Bande unter ihnen bestehen.«29 Dies ist für Stahl »der Kern in allen Forderungen der Revolution« und »ihr letzter Schritt ist deshalb nothwendig die Aufhebung des Eigenthums, der Kommunismus«. Stahl fragt: »Was ist die Heiligkeit des Eigenthums anders, als die Scheu und Unterwerfung gegen Gottes Fügung?«30 Wieder wird deutlich: Das Gegebene ist anzunehmen und zu respektieren, denn es ist von Gott gewollt. Wie es geworden ist und ob es rechtmäßig zustande gekommen ist, ist nicht zu hinterfragen. Weil die Revolution »die grundsätzliche Aufhebung von Gottes Ordnung« bedeutet, ist sie »die äußerste Sünde auf dem politischen Gebiet«. Wie bei Menken wird bei Stahl die Revolution mit denselben theologischen Begriffen diagnostiziert und verurteilt. Politisch wird Sünde nur auf der unteren Ebene erkannt. Entlarvend ist der Satz Stahls: »Sie [die Revolution, H.M.R.] läßt den ganzen Sündenschlamm der Volksleidenschaft, den die obrigkeitliche Macht in der Tiefe niederhalten soll, emporsteigen zur Höhe der Gesellschaft.«31 Die Revolution hat nach Stahl als politische Umwälzung ihren »Ursprung« 26 27 28 29 30 31

Ebd. 1 f. Ebd. 2. Ebd. Ebd. 3 f. Ebd. 4, Hervorhebung H. M.R Es ist ein pauschales und überspitztes Urteil, wenn Fritz Fischer feststellt, »daß für die westliche Welt die sündliche Möglichkeit im Mißbrauch der Macht liegt, während für die deutsch-lutherische Welt die sündhafte Möglichkeit des Menschen in der Auflehnung gegen die Macht liegt.« Fischer, Der deutsche Protestantismus, 475. Im Vergleich aber der deutschen mit der französischen Geschichte ist damit ein wesentlicher Unterschied getroffen.

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in einer »Umwälzung« des menschlichen Denkens, in einer Aufkündigung seiner Gottesbeziehung: »Der Ursprung der Revolution ist in jener Denkungsart, welche man jetzt durch den Ausdruck Rationalismus bezeichnet. […] Rationalismus ist die Emancipation des Menschen von Gott; das Heraustreten des Menschen aus Gottes Hand, um auf sich selbst zu stehen und Gott nicht zu bedürfen, und nicht zu beachten; daß der Mensch nicht der Offenbarung bedürfe, weil seine Vernunft weise genug ist, und nicht des Gnadenbeistandes, weil sein Wille stark genug ist, und daß er es verschmäht, von Gott zu empfangen, weil das seiner Würde entgegen ist.«32

Der so verstandene Rationalismus ist »die Selbstvergötterung des Menschen«. Es klingt wie eine neue Beschreibung des Sündenfalls, wenn Stahl erklärt: »Der Mensch stößt in seinem Herzen Gott vom Throne und setzt sich selbst auf seinen Stuhl. Das ist die Urumwälzung«.33 Wie bei Menken bekommt die Analyse des geistigen bzw. religiösen Ursprungs der Revolution schließlich dämonisierende Züge und führt zu apokalyptischen Erwartungen: In der immer wiederkehrenden Revolution manifestiert sich das Ur-Böse: »Sie [Rationalismus und Revolution, H.M.R.] sind die reine scharfe Herausstellung des bösen Prinzips. Sie treten darum im bestimmten Momente in die Weltgeschichte ein, bilden eine bestimmte, vielleicht die letzte, Stufe in der Entwickelung des Kampfes zwischen den Geistern des Lichts und den Geistern der Finsterniß. Sie sind vielleicht der Anfang des Endes, die Zeichen des Eintritts in die apokalyptische Zeit.«34 Aus der Dämonisierung der Revolution folgt, dass sie mit menschlichen Mitteln nicht zu besiegen und zu beenden ist: »Die Franzosen sind von 1789 bis 1852 damit beschäftigt, KonstitutionsUrkunden zu geben und die Revolution ließ sich den gähnenden Rachen nicht schließen durch den papiernen Maulkorb. […] Der Bonapartismus ist nur eine andere Phase der Revolution. […] Der Grundzug der Revolution ist Menschenanbetung, Menschenvergötterung; in der Republik war es die Anbetung des Volkes, im Kaiserreiche die Anbetung seines gewaltigen Herrschers. Der Divus Imperator ist das Zurücktreten in das antike Heidentum Aber wenn ein christliches Volk ins Heidenthum zurücksinkt, da hat es nicht mehr die Unschuld der bloß natürlichen Mächte, da sind finstrere Mächte mit im Spiel.«35

Es gibt für Stahl nur eine einzige Macht, die – wie er sich ausdrückt – die Revolution »schließen« kann: »Dies ist das Christenthum. Das Christenthum 32 33 34 35

Stahl, Was ist die Revolution?, 7. Ebd. Ebd. 7 f. Ebd.8 f.

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ist der äußerste Gegensatz gegen die Sünde der Revolution. Denn es gründet das ganze Menschenleben auf Gottes Ordnung und Fügung. Das Christenthum ist aber zugleich die tiefste Befriedigung der Impulse der Religion.«36 »Nur das Christenthum vermag die Revolution zu schließen.«37 Vertieft man sich in die Rede Stahls zum Thema »Was ist die Revolution?«, so hört man – 50 Jahre später – die Stimme Menkens. Nirgendwo beruft sich Stahl auf Menken, und doch ist der Einfluss Menkens offensichtlich. Vermutlich ist Stahl bereits in Erlangen durch Christian Krafft mit Menkens Schriften bekannt geworden, und er wird den Gedanken Menkens wieder begegnet sein im Kreis der Berliner Erweckungsbewegung, in dem man Menken schon früh als einen auch politisch Gleichgesinnten erkannte. Die Wirkung Stahls in Wort und Tat, in Theorie und Praxis kann kaum überschätzt werden. Seine Konzeption des »christlichen Staates« wurde von den konservativen Theologen und Pfarrern verinnerlicht. Der christliche Glaube wurde identisch mit der Annahme der bestehenden politischen Verhältnisse, mit der Treue zum Staat; ja Christentum wurde beinahe mit Royalismus gleichgesetzt. Man berief sich auf Luther und bemerkte nicht, dass die Intentionen der Zwei-Reiche-Lehre Luthers nicht auf die Beherrschung der Kirche durch den Staat und nicht auf die Instrumentalisierung der Kirche für staatliche Zwecke zielte. »Thron und Altar« wurden die Säulen, die die Ordnung des Staates und der Gesellschaft in Preußen trugen. »Die kirchliche Autorität wird eingesetzt gegen die innenpolitischen Gegner, gegen die ›Ungläubigen und Vaterlandslosen‹, gegen die Feinde von ›Thron und Altar‹«.38 Die Linie Menken–Stahl ist weitergegangen durch das ganze 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg und bis zum Scheitern der Weimarer Republik.39

36 37 38 39

Ebd. 9. Ebd. 11. Fischer, Der deutsche Protestantismus, 497. Fischer zitiert als »eindrucksvolles Dokument für die auch über den Staatsumbruch hinaus sich erhaltende Kontinuität dieser konservativ-dynastischen Gesinnung der maßgebenden Kreise die Ansprache des Vorsitzenden des ersten Deutschen Evangelischen Kirchentages nach dem Umsturz im September 1919, in der die schmerzliche Bewegung über das Geschehen noch nachzittert: ›Die Herrlichkeit des deutschen Kaiserreiches, der Traum unserer Väter, der Stolz jedes Deutschen ist dahin. Mit ihr der hohe Träger der deutschen Macht, der Herrscher und das Herrscherhaus, was wir als Bannerträger deutscher Größe so innig liebten und verehrten. In diesen Zusammenbruch ist die evangelische Kirche der deutschen Reformation tief hineingezogen. Wir können nicht anders, als in tiefem Schmerz feierlich zu bezeugen, wie die Kirchen unseres Vaterlandes ihren fürstlichen Schirmherren, mit ihren Geschlechtern vielfach durch eine vielhundertjährige Geschichte verwachsen, tiefen Dank schulden, und wie dieser tiefempfundene Dank im evangelischen Volke unvergeßlich fortleben wird.‹ Fischer, Der deutsche Protestantismus, 502, Hervorhebung H.M.R.

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11.2 Gottfried Menken als Vorläufer und Wegbereiter der heilsgeschichtlichen Theologie des 19. Jahrhunderts – der Einfluss Menkens auf die Erlanger Schule, speziell auf Konrad von Hofmann Theologiegeschichtlich hat Menken seinen Ort in der »aufkommenden Geschichtstheologie seit Bengel«, die einen besonderen eigenen Platz zwischen der Aufklärung und der Orthodoxie hat. Johann Albrecht Bengel und seine Schule stehen am Anfang. Dazu gehören Friedrich Christian Oetinger (1702–1782), der »Magus des Südens«, und Philipp Matthias Hahn (1739–1790).40 Ein weiterer Württemberger ist Magnus Friedrich Roos (1727–1803), »der in seiner ›Einleitung in die biblische Geschichte‹ (1727) zum ersten Male seit Bengel die biblische Geschichte zu einer Gesamtdarstellung zusammenfaßt, ohne schon ein heilsgeschichtliches System zu entwerfen«.41 Zu den heilsgeschichtlichen Denkern außerhalb Württembergs zählt Weth Johann Georg Hamann (1733–1788), Christian August Crusius (1715–1775), den Schweizer Johann Jakob Heß, den Theologen und Philosophen Thomas Wizenmann (1759–1787) und den »Kreis, der sich in Duisburg um Samuel Collenbusch sammelte«.42 Alle diese genannten Theologen und Philosophen markieren »die Frühgeschichte der offenbarungsgeschichtlichen Betrachtungsweise«, die nach Weth bis 1831 reicht. Sie sind Wegbereiter der systematischen heilsgeschichtlichen Theologie, die ihren Höhepunkt und Abschluss in der Mitte des 19. Jahrhunderts bei Johann Tobias Beck, Johann Christian Konrad von Hofmann und Carl August Auberlen findet. Gottfried Menken hat als Schüler Collenbuschs seinen wichtigen eigenen Platz in dieser Frühgeschichte der Geschichtstheologie. Deutlich ist nun besonders die Linie, die von Menken zur heilsgeschichtlichen Theologie Konrad von Hofmanns führt. Beide sind offenbarungsgeschichtliche Theologen: Gott offenbart sich nicht in Lehrsätzen, sondern geschichtlich. Die Bibel ist die Urkunde der geschichtlichen Offenbarung, oder – wie Hofmann sagt – »das literarische Denkmal« der heiligen Geschichte, »deren gesetzmäßigen Verlauf sie in getreuer Wiedergabe nachbildet«.43 In diesem gesetzmäßigen Verlauf, der sich in der Struktur von Weissagung und Erfüllung zu immer größerer Klarheit vollzieht und sich im Bibelstudium erfassen lässt, erweist sich die göttliche Inspiriertheit der Schrift, so dass die Inspirationslehre der altprotestantischen Orthodoxie überflüssig wird. »Der ›Anfang der Vollendung‹ ist mit der Erscheinung Jesu Christi erreicht, auf welchen alle frühere Geschichte in Tatsache, Gestalt und Wort hinzielte, von 40 Hahn wagt schon den bedeutsamen »Entwurf einer historischen Dogmatik«. Weth, Heilsgeschichte, 22. 41 Weth, Heilsgeschichte, 23. 42 Ebd. 24. 43 Ebd. 87.

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welchem alle weitere Geschichte ausgeht. Er selbst ist als ewiger Gott und als geschichtlich wirksame Macht schon vor seiner Menschwerdung selber Zentrum der Heilsgeschichte, sodaß sich seine alttestamentliche Vorausdarstellung zugleich als eine Selbstdarstellung bezeichnen läßt.«44 Auch in der Christologie und Versöhnungslehre45 und in der Eschatologie – Hofmann lehrt mit Beck und Auberlen den Chiliasmus wie Menken – stimmen die Gedanken überein. Die vollständige Kongruenz der Grundgedanken ist bereits von E.F.K. Müller in seiner Porträtskizze über Menken46 konstatiert worden. Müller formuliert die These: »Für die Geschichte der theologischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts greift sein [Menkens, H. M.R.]) verborgener Einfluss viel weiter, als die geläufigen Darstellungen auch nur ahnen lassen: die gesamte Hofmannsche Theologie in allen ihren Hauptstücken und Grundbestimmungen ist ein umfassender, mit systematischer Gelehrsamkeit und darum gemäßigter Vorsicht unternommener Ausbau des M.schen Entwurfs. Die Verbindungslinie führt über Krafft in Erlangen.«47 Was ist von dieser These zu halten? Ist sie trotz der vielfältigen Einflüsse, die von Hofmann aufgenommen und verarbeitet hat, überzeugend zu begründen?

11.2.1 Theologie des subjektiven Glaubensbewusstseins oder heilsgeschichtliche Theologie? Johann Christian Konrad von Hofmann (1810–1877) zählt für Karl Barth zu den eindrucksvollsten Gestalten der Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts.48 Superlativisch fällt auch das Urteil von Uwe Swarat aus: »Er war zweifellos der größte lutherische Theologe des 19. Jahrhunderts und gehört dem wissenschaftlichen Rang nach mit Schleiermacher, Baur und Ritschl zusammen.«49 Von Hofmanns theologische Bildung und seine Karriere in Erlangen, die ihn zur führenden Gestalt der theologischen Fakultät und im Gesamtleben der Erlanger Hochschule werden ließen, erfolgten in den Jahren und Jahrzehnten nach Menkens Tod 1831. Von Hofmann ist im Unterschied zu Menken von der Erweckungsbewegung geprägt worden. Seine persönliche Bekehrung erfolgte 44 45 46 47 48

Ebd. 86. Darauf wird unten im Abschnitt 11.2.2 eingegangen. Müller, Menken Gottfried, 583. Ebd. Barth, Die protestantische Theologie, 554. Nach Barth ist vor allem von Hofmann neben Thomasius, Zezschwitz, H. Schmid, Theodosius Harnack und Frank in Erlangen der große Aufschwung zu verdanken, »dessen sich die dortige Fakultät als Hort einer Schleiermacher, Erweckungstheologie, Konfessionalismus und Biblizismus mild und doch kräftig in sich vereinigenden Theologie unter dem Namen der ›Erlanger Schule‹ auf viele Jahrzehnte erfreuen konnte.« Ebd. 553. 49 Uwe Swarat, Die heilsgeschichtliche Konzeption, 211.

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unter dem Einfluss Christian Kraffts. Er ist mit der Philosophie des deutschen Idealismus, vor allem Schellings, vertraut. Die aufblühende Geschichtswissenschaft unter ihrem Leitstern Leopold von Ranke begeistert ihn. Von Hofmann hat sich – nach anfänglichem Zögern – dem Einfluss Schleiermachers ausgesetzt. Das Glaubensbewusstsein, die persönlich erfahrene Wirklichkeit der Wiedergeburt, des göttlichen Heils, werden zentral in einer akademischen Theologie, die auf der Höhe der Zeit sein möchte. Von Hofmanns Theologie will bewusst ausgehen von der persönlichen Glaubenserfahrung der Wiedergeburt. Hinzu kommen als weitere Bereiche der Theologie, die auf ihre Kongruenz mit dieser ersten untersucht werden müssen, die Kirche mit ihrer tradierten Glaubenslehre und die Heilige Schrift. Im zweiten Hauptwerk, dem Schriftbeweise50, versucht Hofmann das Lehrganze des christlichen Glaubens aus der persönlichen Wiedergeburtserfahrung abzuleiten. Berühmt ist seine These: »Freie Wissenschaft ist die Theologie nur dann, wenn eben das, was den Christen zum Christen macht, sein ihm selbständiges Verhältniß zu Gott, in wissenschaftlicher Selbsterkenntniß und Selbstaussage den Theologen zum Theologen macht, wenn ich der Christ mir dem Theologen eigenster Stoff meiner Wissenschaft bin.«51 Die Gewichtung der Bereiche, die für von Hofmanns Theologie in ihrer Unterschiedenheit und in ihrem Zusammenhang zentral sind, wird in der einschlägigen Literatur verschieden beurteilt. Gunther Wenz vertritt die Überzeugung: »Das dreieinige Ganze von persönlicher Wiedergeburt im Glauben, der der Kirche in ihrer Geschichte und Gegenwart sowie der Schrift, durch welches Hofmann die Theologie bestimmt sein lässt, steht […] eindeutig unter der Ägide des ersten Moments.«52

Demgegenüber steht die Auffassung, dass von Hofmann primär als heilsgeschichtlicher Theologe zu verstehen ist. Gustav Weth sieht in ihm den »speziell 50 Hofmann hat seine Theologie in drei großen Werken vorgelegt. Zunächst erschien Weissagung und Erfüllung im alten und im neuen Testamente (Nördlingen 1841/45), dann in drei Bänden Der Schriftbeweis (Nördlingen 1851–1855, 21857–1860), schließlich das umfassend angelegte Werk Die heilige Schrift neuen Testaments zusammenhängend untersucht. Die ersten 13 Bände dieses Werkes (Teil I–VIII) konnte Hofmann noch selbst herausgeben von 1862 bis 1876. Die Teile VIII bis XI wurden von seinem Schüler W. Volck aus Bruchstücken des Nachlasses zusammengestellt (1878–1886). 51 Hofmann, Der Schriftbeweis Bd. I, 10. Barth bemerkt dazu kritisch: »Das Bedenken ist banal, aber es ist nicht zu umgehen, ob hier nicht vorher geschehen ist, was programmgemäß erst nachher geschehen sollte, ob Hofmann der Christ, der das Alles zu wissen behauptet, nicht durchaus schon Hofmann der Theologe, der Kenner der Bibel und der Kirchengeschichte, ja Hofmann der Kulturmensch und Politiker des modernen Deutschland ist, dessen Schriftbeweis nun doch wohl nichts Anderes sein kann als die ausführliche Wiederholung und Entfaltung dessen, was er wohl selber, aber eben nicht aus sich selber, sondern zunächst als Rohmaterial in primitiven Umrissen, aber doch schon sehr bestimmt aus dem Buch der Geschichte, das eigentlich erst nachher aufgeschlagen werden sollte, geschöpft hat.« Barth, Die protestantische Theologie, 559. 52 Wenz, Versöhnungslehre, Bd. 1, 39.

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heilsgeschichtlichen Theologen«. Seine theologische Gestalt erhalte dadurch ihren eigenartigen Charakter, »daß er die von der früheren offenbarungsgeschichtlichen Theologie vertretenen und von der Geschichtsphilosophie neubelebten Grundanliegen mit denen persönlicher Erfahrung und lutherischer Glaubensart vereint. Damit hängt es wohl auch zusammen, dass er der speziell heilsgeschichtliche Theologe geworden ist, d. h. derjenige, der am bewusstesten auf den Heilsinhalt der Offenbarungsgeschichte gerichtet ist und ihr als Hauptbezeichnung den Namen eben einer Heilsgeschichte gibt, welcher sich sonst kaum findet. […] Hofmann kennt Bengel, Oetinger, Collenbusch und Menken und setzt im Anschluss an Krafft und Beck die biblische, an Typologie und Weissagung interessierte Theologie fort. […] Der Verlauf und Sinn der universalen Heilsgeschichte bewegt Hofmanns Denken fast ausschließlich. Aber das geschieht doch nicht so, dass darüber die persönliche Heilserfahrung, die Schrift und die Kirche in ihrer Besonderheit vergessen würden.«53

Die Betonung des subjektiven Glaubensbewusstseins bei von Hofmann kann als Reverenz gegenüber den Einflüssen der Frömmigkeit und Theologie der Erweckungsbewegung als auch der Theologie Schleiermachers verstanden werden. Dass sie ein Kernanliegen von Hofmanns ist, wird von Barth bestritten. Barths Meinung über das Kernanliegen des theologischen »Programms« von Hofmanns entspricht der Auffassung Weths. Barths Urteil über dieses theologische Programm entspricht in Würdigung und Kritik seiner Beurteilung der Leistung und Bedeutung Gottfried Menkens: »Dieses Programm war […] das biblizistische: die Erhebung, Darstellung und Entwicklung derjenigen Theologie, die er in der Bibel gefunden zu haben meinte. Also gerade nicht in seiner eigenen Erfahrung. Die Berufung auf seine eigene Erfahrung ist die apologetische Maske, in der sich der moderne Biblizist vor dem Zeitgeist rechtfertigt. Und zugleich das Eingeständnis, dass sein Biblizismus die hohe Verfügungsgewalt und die kühne Eigenmächtigkeit des modernen Denkens nicht aus-, sondern einschließt, dass es sich bei diesem Biblizismus um ein bewußtes und kräftiges, durchaus zeitgemäßes Meistern der Bibel handelt. Immerhin: der Bibel also gilt das Interesse dieses Theologen und nicht seiner wiedergeborenen Existenz, wie es nach seinen eigenen Erklärungen eigentlich der Fall sein müsste: der Bibel, die durch jene Erklärungen zum vornherein als seine Bibel charakterisiert ist, aber der Bibel. Daß Hofmann, seine programmatischen Erklärungen durch sein wirkliches Programm durchbrechend, diesem Interesse gelebt hat, das ist trotz der Schranken, in denen das geschehen ist, seine sachliche Bedeutung in der Geschichte der neueren Theologie.«54 53 Weth, Heilsgeschichte, 81–83. 54 Barth, Die protestantische Theologie, 558, Hervorhebung H.M.R.

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11.2.2 Übereinstimmungen in der Christologie und in der Versöhnungslehre Zu den wissenschaftlich verantworteten Entwürfen heilsgeschichtlicher Theologie bei von Hofmann, Beck und Auberlen gehören als zentrale Elemente eine kenotische Christologie und eine Versöhnungslehre, die Gottes Versöhnung mit den Menschen nicht wie bei Anselm aus der strafenden, sondern aus der rettenden Gerechtigkeit Gottes ableitet. Die Übereinstimmungen zwischen von Hofmann und Menken sind dabei so offensichtlich, dass hier die These Müllers eine weitere Bestätigung findet. An die Stelle der Satisfaktionstheorie Anselms, der Lehre des von Christus stellvertretend erlittenen Strafleidens und Sterbens, tritt der »willige Berufsgehorsam« Jesu, »die aktive Leistung seines alle Sünde und alles Übel tragenden Heilandsberufs«, die ihn zum zweiten Adam macht und zum Vermittler der Versöhnung in einer neuen Gottesbeziehung seiner Gläubigen, seiner Gemeinde: »Kam von dem ersten Adam der Tod, so kommt durch den zweiten das wahre Leben. Ein neues Verhalten Gottes gegen die Menschheit sowohl wie ein neues Verhalten der Menschheit gegen Gott wird in seiner menschgewordenen Person zur Tatsache. Das geschieht, indem er in die tiefe Erniedrigung der sündig bedingten Menschennatur eintritt und hier im willigen Berufsgehorsam eine persönliche Gemeinschaft mit Gott darstellt, die sich im Kampf gegen das böse Prinzip bis zum völligen Auskosten desselben in Leiden und Tod bewährt. Dieser Bewährung folgt die Auferstehung, welche den Menschen Jesus in eine auch hinsichtlich seiner Natur unbedingte Gemeinschaft mit Gott dem Vater bringt, seine Vollkommenheit wahrhaft vollendet macht. In diesem erniedrigten und erhöhten Menschen Jesus, als der einzigen Verwirklichung des idealen Gottesverhältnisses ist das Heil, sofern er der Gemeinde seiner Gläubigen die unbedingte persönliche Gottesgemeinschaft mitten in aller Sündigkeit der menschlichen Natur vermittelt und ihr in seiner vollendeten Gestalt das Angelt einer zukünftig auch nach der Naturseite vollkommenen Gottesgemeinschaft ist. Diese wird schliesslich durch den Eingang der stufenweisen sich der Vollendung nähernden Endgeschichte in die Ewigkeit erreicht.«55

Wenn auch die Übereinstimmungen eklatant sind – so sind doch auch im Einzelnen deutliche Unterschiede, vielleicht auch bewusste Korrekturen festzustellen: Die Versöhnung Gottes mit der Welt zielt bei Menken über die Rechtfertigung hinaus auf die Heiligung des Menschen, die als durch den Geist Gottes ermöglichte kontinuierliche Entsündigung der menschlichen Natur verstanden wird. Von Hofmann aber sagt:

55 So die Zusammenfassung der Gedanken von Hofmanns bei Weth, Die Heilsgeschichte, 86 f.

Menken als Vorläufer und Wegbereiter der heilsgeschichtlichen Theologie 365 »In Christo sehen wir die menschliche Natur […] zur Endschaft gekommen, darum aber nicht auch in der Gemeinde; denn die Erscheinung Christi hat vorerst nur den Glauben möglich gemacht, welcher rechtfertigt und der Vergebung der Sünder vergewissert. Nur erst persönlich, nicht der Natur nach steht der Gläubige in Gottes des Vaters beseligender Gemeinschaft.«56

Von Hofmann, »der eine theologische Scheidung der Vergebungsgegenwart und der Erneuerungszukunft des Christus zu unternehmen versucht«57, unterscheidet sich hier auch von Beck und Auberlen: »Ihnen kommt es vielleicht noch mehr als Hofmann auf die Herbeiführung geistleiblicher Neuschöpfung, auf den Anteil der menschlichen Natur an der göttlichen Natur an. Jedenfalls behaupten sie diese schon als Glaubenswirklichkeit des gegenwärtigen Christenlebens, während Hofmann sie mit Betonung in die Eschatologie verweist.«58

Menkens großer Einfluss auf die Erlanger Schule und speziell auf von Hofmann lässt sich kaum an namentlichen Erwähnungen und Bezügen festmachen und ist doch offensichtlich. Deutlich fassbar aber ist die Vermittlung der Theologie Menkens und des ganzen Collenbuschkreises an von Hofmann und die Erlanger durch den Erweckungstheologen Christian Krafft.59 Menken kann hier allerdings in seiner Wirkungsgeschichte nicht isoliert gesehen werden. Gottlob Schrenk verortet die Theologie von Hofmanns in jener Tra56 Von Hofmann, Weissagung und Erfüllung I, 37. 57 Weth, Heilsgeschichte, 135. 58 Ebd. 132. Von Hofmann vertritt mit seinem eschatologischen Vorbehalt lutherische Theologie, denn für Luther bleibt ein Christenmensch in seiner irdischen Existenz simul iustus et peccator. 59 Christian Krafft kam 1784 in Duisburg zur Welt, wo sein Vater Elias Christoph Krafft ein von der Frömmigkeit Tersteegens geprägter reformierter Prediger war. Ab 1793 war Krafft Schüler des akademischen Gymnasiums in Duisburg und erlebte als Rektor Friedrich Arnold Hasenkamp und den rationalistisch geprägten Johann Gottfried Christian Nonne. 1803 begann Krafft das Studium der Theologie an der reformierten Fakultät der Universität Duisburg, die ihrem Ende entgegensah. Einer seiner Lehrer war Professor Grimm, dessen rationalistische Hermeneutik Menken in seiner Dämonologie bekämpft hatte. Nach dem 1806 abgelegten Examen wirkte Krafft von 1808 bis 1817 als Pfarrer der reformierten Gemeinde Weeze bei Kleve. 1817 wurde er Prediger an der reformierten Gemeinde in Erlangen und bereits 1817 ausserordentlicher Professor an der dortigen Universität. Hier in Erlangen vollzog sich Kraffts »theologische Wende zum Supranaturalismus« und seine Bekehrung, die Krafft selbst auf das Jahr 1821 datierte. 1820 hatte Krafft Collenbuschs »Erklärungen biblischer Wahrheiten. Neue Sammlung« in Erlangen drucken lassen – ein Indiz seiner nachwirkenden Beeinflussung durch den Collenbuschkreis in Duisburg. Er gewann in Erlangen vor allem durch seine Predigtarbeit grossen Einfluss auf jene Theologen, die zu Vertretern der sogenannten Erlanger Schule wurden, vor allem auf Johann Christian Konrad von Hofmann. Angaben nach Wesseling, Christian Krafft, 582–584. Der Vermittlerrolle Kraffts geht Gottlob Schrenk genauer nach, um »diesen bis dahin in der Theologiegeschichte immer wieder als undefinierbare Nebelgestalt auftauchenden Pietisten endlich einmal deutlicher zu erfassen«. Schrenk entdeckt in der Dissertation Kraffts De servo arbitrio Bezüge auf F.A. Lampes Geheimniss des Gnadenbundes und G. Menkens Anleitung: »Auf letzteren macht er auch sonst aufmerksam, besonders auf sein Monarchienbild.« Schrenk, Gottesreich und Bund, 323.

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ditionslinie, die über Krafft, Menken und Bengel auf Johannes Coccejus zurückführt, und Karl Barth schließt sich ihm an in der Verwunderung über den Einfluss, den reformierte Theologie in der Theologiegeschichte auf das Luthertum haben konnte: »Die Vermutung ist geäussert worden, daß die Hofmannsche Konzeption als eine auf dem Wege über Vitringa, Bengel, Menken, Krafft übernommene Erbschaft keines Anderen als des für die Geschichte der reformierten Theologie so kritisch bedeutsamen Johannes Coccejus zuzusprechen sei. Diese Vermutung läßt sich historisch schwer von der Hand weisen. Es wäre dann eine weitere mit dem Namen Hofmanns als eines der prominentesten Väter des modernen Luthertums verknüpfte Denkwürdigkeit, daß die lutherische Theologie durch ihn ausgerechnet mit diesem fragwürdigsten Ergebnis der altreformierten Lehrentwicklung, nämlich mit der Lehre von der Affinität zwischen dem Prädestinations- und Providenzgedanken zu einer christlichen Geschichtsphilosophie gesegnet und ausgestattet worden wäre.«60

11.3 Zur Wirkungsgeschichte der kenotischen Christologie Menkens im 19. und 20. Jahrhundert Das Projekt einer kenotischen Christologie tritt im 19. Jahrhundert auch ohne Verbindung mit einer heilsgeschichtlichen Dogmatik auf. Dabei stellt sich in unserem Zusammenhang die Frage, ob in der Geschichte der kenotischen Vorstellungen ein weitergehender Einfluss Menkens erkennbar ist. 11.3.1 Die alte Kenotik des 17. Jahrhunderts und die moderne Kenotik des 19. Jahrhunderts Die Kenosis-Christologie wird von Breidert zur »einflußreichsten christologischen Bildung zwischen Schleiermacher und Ritschl« erklärt.61 Dabei ist zu beachten, dass bereits in der lutherischen Orthodoxie des 16. und 17. Jahrhunderts eine Kenosis-Lehre entwickelt wurde.62 Theologiegeschichtlich wird 60 Barth, Die protestantische Theologie, 560. 61 Breidert, Kenotische Christologie, 52. 62 Die Vorstellung einer Entäußerung der göttlichen Eigenschaften des inkarnierten Gottessohnes war ein Versuch der lutherischen Theologen, den Schwierigkeiten der sogenannten Idiomenkommunikation der Zwei-Naturen-Lehre aus dem Wege zu gehen. Dabei gab es zwei Theorien. Die eine, vertreten von Tübinger Theologen unter der Führung von J. Brenz, nahm an, dass Christus zwar von Geburt an im Besitz der göttlichen Eigenschaften der Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart auch seiner Menschheit nach gewesen sei, diese aber in der Öffentlichkeit verborgen habe. Der Gießener Theologe Martin Chemnitz dagegen vertrat die Theorie von

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unterschieden zwischen der alten Kenotik der lutherischen Orthodoxie des 17. Jahrhunderts und der modernen Kenotik des 19. Jahrhunderts. Der Unterschied besteht darin, ob die Entäußerung auf den logos asarkos oder auf den logos ensarkos bezogen wird.63 Neu auftretende oder wieder aufgenommene theologische Projekte haben in der Regel Anlässe, geschichtliche Bedingungen. 1835 gab David Friedrich Strauß sein Buch Das Leben Jesu heraus, das »die Welt in Schrecken versetzte, weil man in diesem Werk den totalen Angriff auf das Christentum sah«.64 Die mythische Deutung des Lebens Jesu forderte die Frage nach dem historischen Jesus heraus. Da Strauß auch auf eine Destruktion der kirchlichen Christologie zielte, war die Geltung der dogmatischen Zwei-Naturen-Lehre in Frage gestellt. Die Anfänge der modernen Kenotik werden Ernst Wilhelm Christian Sartorius (1797–1859), einem »Wegbereiter des von der Erweckung herkommenden konfessionellen Luthertums«65, zugeschrieben:

einem teilweisen Verzicht auf die Ausübung der göttlichen Majestätseigenschaften während des Lebens Jesu. Das Interesse, das hinter diesen Bemühungen steht, bringt W. Pannenberg auf den Punkt: »Trotz der Mitteilung göttlicher Majestätseigenschaften an die Menschheit Jesu sollte Raum geschaffen werden für ein konkret menschliches Leben.« Pannenberg, Grundzüge der Christologie, 319. 63 Zu dieser Unterscheidung erklärt Breidert: »Die modernen Kenotiker des 19. Jahrhunderts behaupten nicht bloß eine Kenosis des Gebrauchs für den Menschgewordenen, sondern eine Entäußerung auch des Besitzes für den Logos selber als Voraussetzung dafür, dass er überhaupt Mensch werden konnte. […] Will man die moderne Kenotik des 19. Jahrhunderts gegenüber anderen zeitgenössischen Christologien definieren, dann ist es wesentlich, ob die Entäußerung vom logos asarkos oder vom logos ensarkos behauptet wird. Nur im ersteren Fall wird man von der modernen Kenotik […] reden dürfen. Zugleich scheiden damit alle jene Christologien aus, die die Präexistenz bestreiten.« Breidert, Kenotische Christologie, 23. Breidert weist darauf hin, dass die moderne Kenotik des 19. Jahrhunderts kein einheitliches theologisches Projekt ist: »Wer die Kenotik des 19. Jahrhunderts darstellen möchte, wird bald feststellen, dass er es nicht mit einem fest umrissenen theologischen Programm oder gar der Kenosis-Lehre überhaupt zu tun hat, sondern dass ihre Vertreter aus sehr unterschiedlichen Richtungen kommen und sehr unterschiedliche Interessen mit ihr verbinden.« Ebd. 18. 64 Ebd. 24. 65 Ebd. 30. Ernst Sartorius wurde 1797 in Darmstadt geboren. Er studierte seit 1815 an der Theologischen Fakultät Göttingen und wurde 1818 zum Dr. der Philosophie promoviert. 1819 wurde er Repetent der Theologie in Göttingen, 1821 folgte er dem Ruf als außerordentlicher Professor der Theologie in Marburg. 1823 wurde er Ordinarius. 1824 folgte die Berufung an die Universität Dorpat, wo ihm der Doktortitel verliehen wurde. »Was seine schriftstellerische Thätigkeit neben der akademischen Lehrwirksamkeit betrifft, so setzte er in Dorpat seine schon in Marburg begonnenen ›Beiträge zur evangelischen Rechtgläubigkeit‹ 1825 und 1826 fort. In ihnen bekämpfte er hauptsächlich den damals von Röhr und Bretschneider vertretenen Rationalismus.« (Erdmann, Sartorius) Auf Veranlassung von Friedrich Wilhelm III. wurde Ernst Satorisus gegen die Einwendungen des Ministers Altenstein zum Generalsuperintendenten der Provinz Preußen berufen und predigte als erster Hofprediger anlässlich seiner Einführung am 5. November 1835 in der Schlosskirche Königsberg. In diesem Amt wirkte er bis zu seinem Tod. Er veröffentlichte zahlreiche Schriften in der Evangelischen Kirchenzeitung von Ernst Wilhelm Hengstenberg. Angaben und Zitat nach Erdmann, Sartorius.

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Zur Wirkungsgeschichte Gottfried Menkens »Für sie [die Erneuerung der Kenosislehre im 19. Jahrhundert, H.M.R.] ist es nicht der Gottmensch, der sich erniedrigt, nicht der Fleischgewordene, sondern der göttliche Logos selbst. Die Inkarnation als solche ist der Akt der Erniedrigung. Damit knüpfte man an die in der altkirchlichen Exegese überwiegend befolgte Auslegung von Phil. 2,7 an. Aber man verstand die Selbstentäußerung des Logos bei der Inkarnation nun nicht im bloß moralischen Sinne eines demütigen Sichherabneigens zur Menschheit, der die Einigung mit Gott zuteil werden sollte. Vielmehr dachte man an eine physische Selbstbeschränkung des Logos in seiner Gottheit. Durch diesen Gedanken sollte das alte christologische Dogma mit dem neuzeitlichen, historischen Bilde des Lebens Jesu in seiner bloßen Menschlichkeit ausgeglichen werden. Diese Konzeption ist zuerst 1831 von Sartorius vorgetragen worden.«66

Ernst Sartorius hatte als zuständiger Theologe in Dorpat 1828 die Verleihung der Ehrendoktorwürde anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Universität an Gottfried Menken vermittelt. Das geht aus dem Brief hervor, den Menken am 24. März an Prof. Sartorius schrieb.67 Menkens Schriften sind also längst Professor Sartorius und der ganzen theologischen Fakultät Dorpats bekannt. Und es ist mehr als wahrscheinlich, dass sich Sartorius von der kenotischen Christologie Menkens hat anregen lassen. Hauptvertreter der neuen Kenotik wurde im 19. Jahrhundert Gottfried Thomasius (1802–1875): »Ihre volle Ausbildung erhielt sie durch Thomasius, der die Selbstbeschränkung des Logos bei der Inkarnation seit 1845 vertrat. Durch Thomasius wurde die Kenosislehre zum Bestandteil der neulutherischen Erlanger Theologie. Sie erscheint in abgewandelter Form bei v. Hofmann, Frank und Geß.«68 Bei diesem Urteil Pannenbergs wird der große Einfluss Menkens und Collenbuschs und der vorlaufenden offenbarungsgeschichtlichen Tradition auf die Erlanger Theologie und speziell auf Hofmann nicht bedacht.69 Menkens kenotische Christologie, die die Inkarnation als Annahme der Menschennatur versteht, »wie sie nach dem Fall in Adam war und in allen seinen Nachkommen ist«70, begegnet im 19. Jahrhundert auch außerhalb der Erlanger Schule und des konfessionellen Luthertums. Sie wurde bereits 1827 66 Pannenberg, Grundzüge, 320. 67 Dieser Brief ist aufgenommen als Anlage D in den 2. Band der Biographie Menkens von Gildemeister, Leben und Wirken II, 246–249. 68 Pannenberg, Grundzüge, 320. Vgl. auch Breidert, Die kenotische Christologie, 52: »Der zur Erlanger Schule gehörende Gottfried Thomasius (1802–1875) hat der Kenosis-Christologie zu jenem Ansehen verholfen, das sie zur einflußreichsten christologischen Bildung zwischen Schleiermacher und Ritschl machte.« 69 Der Grund ist wohl, dass »irreguläre Theologie« von Laien wie Collenbusch und Pfarrern wie Menken im Unterschied zu regulärer Theologie als zweitrangig und weniger bedeutend angesehen wird. 70 Menken, Schriften III, 332 f.

Zur Wirkungsgeschichte der kenotischen Christologie Menkens

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von dem schottischen Theologen Edward Irving vertreten, von Hermann Friedrich Kohlbrügge (1803–1875), von Eduard Böhl und von Hermann Bezzel (1861–1917).

11.3.2 Fleischwerdung und nicht nur Menschwerdung – die Rezeption der soteriologischen Kenotik Menkens bei Karl Barth Im 20. Jahrhundert hat sich noch Karl Barth zum biblisch begründeten, soteriologischen Motiv der kenotischen Christologie Menkens bekannt. Barth wendet sich gegen »jede Verschönerung der Fleischwerdung zur bloßen Menschwerdung und wohl gar zu einer Heroswerdung Gottes«71, die in der älteren Theologie und Kirche manchmal zu beobachten sei. »Man ist in der älteren Kirche und Theologie manchmal in bester Absicht zu weit gegangen in dem Bemühen, jene Sätze [›Er hat ihn für uns zur Sünde gemacht‹ – 2Kor 5,21 und ›Er ward zum Fluch für uns‹ – Gal. 3,13, H.M.R.] auszugleichen mit denen über die Sündlosigkeit Jesu. Die heilsame Wahrheit darf aber nicht abgeschwächt und verdunkelt werden, daß die Natur, die Gott in Christus angenommen hat, identisch ist mit unserer Natur unter Voraussetzung des Sündenfalls. Wäre es anders, wie wäre Christus dann wirklich unseresgleichen? Was ginge er uns dann an? So, im Zeichen des Sündenfalls stehen wir vor Gott. Gottes Sohn nahm nicht nur unser Wesen an, sondern trat ein in die konkrete Gestalt unseres Wesens, in der wir selbst vor Gott stehen, nämlich als die Verdammten und Verlorenen. Daß er diese Gestalt im Unterschied von uns allen nicht selbst hervorbrachte und bestätigte, dass er unschuldig schuldig wurde, dass er ohne Sünde zur Sünde wurde, das darf nicht zum Anlass werden, an seiner vollen Solidarität mit uns nun doch wieder Abstriche zu machen und ihn damit von uns zu entfernen.«72

Für Barth bedeutet volle Menschlichkeit Christi die Annahme der natura corrupta des Menschen nach dem Sündenfall. Dies sei gegen die Zurückhaltung der Alten Kirche und auch der Reformatoren zur Geltung zu bringen. Von der neueren Theologie sei aufgrund »ihres eigentümlichen Moralismus« diesbezüglich kein Wandel zu erwarten gewesen. Dennoch sei es aus ihrer Mitte zu Durchbrüchen in diese Richtung gekommen: »Zu erwähnen ist hier vor allem Gottfried Menken, der aus Röm. 3 ›fahrend lassend alle Bestimmungen menschlicher Lehre über die Person Christi‹ folgerte: ›Der Sohn Gottes nahm also, als er in die Welt kam, nicht eine Menschennatur an wie diese Natur war, als sie aus der Hand Gottes kam, vor dem Falle, ehe sie in Adam […] sündlich und sterblich geworden war; viel71 Barth, KD I/2, 167. 72 Ebd.

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Zur Wirkungsgeschichte Gottfried Menkens mehr eine solche Menschennatur, wie sie nach dem Fall in Adam war und in allen seinen Nachkommen ist.‹ (Homilie üb. Hebr. 9,13 f, Schriften Bd. 3, 332 f; vgl. ›Über die eherne Schlange‹ 1812, Schriften Bd. 6, 391 f.).«73

11.4 Albrecht Ritschl – das Gottesbild ohne dunkle Seiten Menken hat nicht nur großen Einfluss auf die Erweckungsbewegung und die (lutherische) konservative Theologie des 19. Jahrhunderts gehabt. Seine Wirkungsgeschichte ist auch in der liberalen Theologie des Jahrhunderts zu verfolgen. Deutlich wird dies bei Albrecht Ritschl (1822–1889). Den weitergehenden Einfluss der Versöhnungslehre Menkens bestätigt Gunther Wenz. Nach Wenz gehört »Hofmanns Versuch auf neue Weise die alte Wahrheit der Versöhnung zu lehren« zu einer weit verbreiteten Richtung der Dogmatik, wie sie sich seit Schleiermacher gestaltet habe.74 Dabei sei der Einfluss von Collenbusch und Menken auf von Hofmann in besonderer Weise wirksam geworden und dieser Einfluss sei weitergegangen: »Die Collenbusch-Hasenkamp-Menkensche Tradition lässt sich schließlich über Hofmann bis zu Ritschl und über ihn hinaus verfolgen.«75 Albrecht Ritschl war »als theologischer Kantianer« »ein Wegbereiter der liberalen Theologie und des Kulturprotestantismus«76. Barth bezeichnet ihn als »Urtyp des nationalliberalen deutschen Bürgers im Zeitalter Bismarcks«, der in unerhörter Eindeutigkeit und Sicherheit (wirklich mit beiden Füßen!) auf dem Boden seines »Lebensideals« stehe.77 Ritschl hat zwei große Werke vorgelegt, die seine Kenntnis der Collenbusch-Menkenschen Tradition und ihren Einfluss auf seine Theologie belegen. Dies sind Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung (drei Bände, Bonn 1870–1874) und Geschichte des Pietismus (drei Bände, Bonn 1880–1886). In der Geschichte des Pietismus widmet Ritschl Samuel Collenbusch und seiner Schule ein ganzes Kapitel.78 Im reformierten Pietismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist Collenbusch nach Ritschl »eine eigentümlich unregelmäßige Erscheinung«.79 Seine Gesamtansicht vom Christentum 73 74 75 76

Barth, KD 1/II, 168. Wenz, Versöhnungslehre II, 61 Ebd. So charakterisiert ihn Renfordt, Samuel Collenbusch, 10. Renfordt berücksichtigt Ritschl am Anfang seiner Dissertation über Collenbusch im Kapitel II Stationen der Forschung. Der Einfluss des Collenbuschkreises auf Ritschl besonders in seiner Versöhnungslehre berechtigt die Einbeziehung Ritschls in die Wirkungsgeschichte Collenbuschs und Menkens. 77 Barth, Die protestantische Theologie, 599. 78 Ritschl, Pietismus I, 565–582. Der erste Band der Geschichte des Pietismus behandelt den reformierten Pietismus, Band 2 und 3 den Pietismus der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts. 79 Ebd. 565.

Albrecht Ritschl – das Gottesbild ohne dunkle Seiten

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stelle die dritte Spielart des reformierten Pietismus dar neben der orthodoxen Form Lampes und dem Quietismus Tersteegens. Er habe, selbst Lutheraner, tief hineingewirkt in die reformierte Kirche, und er konnte das, weil hier wie z. B. bei Tersteegen die calvinische Erwählungslehre zurücktrat und man ohnehin weniger konfessionalistisch dachte. Bei der Darstellung der »neuen theologischen Gesamtanschauung« wird deutlich, wo Ritschl mit dessen Anschauungen konform geht und wo er sich kritisch distanziert. Dabei wird auch Menken berücksichtigt. Ritschl steht an der Seite Collenbuschs und Menkens, wenn er es ablehnt, »die Erlösung durch Christus nach dem Maßstab einer allgemeinen Erkenntniß von dem Verhältniß zwischen Gott und dem Menschen zu ordnen«: »Der Angelpunkt, um den sich seine [Collenbuschs, H.M.R.] neue theologische Gesamtanschauung dreht, ist in dem unscheinbaren Satz enthalten: Adam ist geprüft worden, nicht ob er bleiben würde in dem Gesetz der Werke, sondern im Gesetz des Glaubens; denn es gibt zweierlei Gesetze nach Röm. 3,27.«80

Die Beziehung zwischen Gott und Mensch besteht nicht in einer »vorgeblich von Gott eingerichteten Gegenseitigkeit von Rechten«. Ritschl erwähnt in diesem Zusammenhang Coccejus, der die ursprüngliche Weltordnung als Bund der Werke verstand. Ritschl urteilt, dass damit das christliche Leben »einem Grundsatz jüdischer und heidnischer Vernunft unterworfen werde«. Die Sünde Adams ist nicht der »Verstoß gegen einen bloß erdichteten Bund der Werke«, sondern muss nach CA II als »Mangel an Ehrfurcht und Vertrauen gegen Gott« verstanden werden. Auch Christus ist wie Adam auf die Standhaftigkeit seines Glaubens geprüft worden und hat diese Prüfung zu unseren Gunsten bestanden: »Diese Standhaftigkeit hat nun Christus bewährt, und hat den vollkommensten Gehorsam bis ans Kreuz geleistet, […]. Die Prüfungsleiden Christi aber sind keine Strafe für ihn, auch nicht im Sinne der Vertretung der Sünder. […] Nirgendwo bietet die heilige Schrift den Satz dar, dass Gott Christus gestraft habe, vielmehr hat er den Tod freiwillig auf sich genommen; nirgendwo werden seine Leiden vom Zorn Gottes abgeleitet; mit Vorbedacht hat Paulus sich gehütet, Christus zu bezeichnen als von Gott verflucht; Höllenstrafen konnten den nicht treffen, welcher der Allerheiligste ist.«81

Ritschl beobachtet die Nähe der Gedanken Collenbuschs zum Socinianismus und moniert hier wie dort, dass die von Christus persönlich gewonnene Überwindung der Sünde isoliert bleibe und ihre Vermittlung zu seiner Gemeinde problematisch sei. Das sei auch durch Gottfried Menken »nicht wirklich verbessert« worden: 80 Ebd. 567. 81 Ebd. 568.

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Zur Wirkungsgeschichte Gottfried Menkens »Denn daß in der Vollendung des Gehorsams Christi die menschliche Natur sündlos dargestellt worden ist, geht nur die Person Christus an, aber effektiv keine andere Person. Wenn man nicht das königliche Amt auch in der irdischen Lebensführung Christi nachweist, so kann man nicht den Gehorsam im Tode für die Versöhnung der Gemeinde verwerthen. Aber eben diese Erkenntniß fehlt der Schule von Collenbusch wie den Socinianern, indem beide Parteien Christus nur als individuelle Person kennen, bevor sie ihm seit der Auferweckung die Ehre und Herrschaft beilegen.«82

Ritschl lehnt deshalb die »Theorie der Kenose« der Collenbusch-Schule und das Verständnis der Inkarnation gemäß Röm 8,3 ab, betont aber mit Recht, dass nach diesem Verständnis die Sündlosigkeit Jesu nicht in Frage gestellt werde. Collenbusch habe sich vielmehr an Hebr 4,16 orientiert, wo es heiße, »daß Christus geprüft oder versucht worden sei (nicht wie Adam, sondern) wie wir!«83 Deutlich wird an der Darstellung Collenbuschs und seiner Schule in Ritschls Werk über den Pietismus die selektive Aufnahme der Gedanken Collenbuschs (und Menkens). Grundsätzliche Übereinstimmung besteht in der Überzeugung, dass das Versöhnungshandeln Gottes nicht nach dem Maßstab rechtlicher Vergeltung zu verstehen sei. Anselms Theorie ist obsolet. Nicht der Zorn Gottes, sondern seine Liebe motiviert Gott zur Versöhnung mit dem Menschen. Ritschl lehrt: »Gott ist die Liebe, d. h. er hat den berechtigten Selbstzweck des Menschen zu seinem eigenen Selbstzweck nicht erst gemacht, sondern – er ist die Liebe, er hat ihn ursprünglich zu seinem eigenen Selbstzweck.«84 Die Vorstellung von einem Zorne Gottes, die eine Negation seiner Liebe und damit des Selbstzwecks des Menschen bedeuten würde, betrachtet Ritschl als »eine Vorstellung, die schon im Alten Testament im Verschwinden begriffen ist, im Neuen Testament aber nur eschatologisch, d. h. nur als Beschreibung des Verhaltens Gottes gegen die Unfrommen zu erhalten ist«.85 Nicht Gott ist das Objekt der Versöhnung, sondern der Mensch. Es ist der Beruf Jesu, diesen Gott, der die Liebe ist, zu offenbaren und durch seinen vollendeten Berufsgehorsam bis zum Tod am Kreuz die Versöhnung Gottes mit den Menschen zu verwirklichen. Ritschl hat ein gewisses Verständnis für Collenbuschs Grundsatz, »nur schriftgemäß zu verfahren und keine Möglichkeit natürlicher Religion zuzulassen«86, denn die orthodoxen Lehrsysteme litten unter der Vermischung der christlichen Religion mit »rein theoretischen Erkenntnissen«. Deshalb hat er auch Verständnis für Gottfried Menken:

82 83 84 85 86

Ebd. 570 f. Ebd. 571. Ritschl, Die christliche Lehre, 259. Ebd. 140. Ritschl, Pietismus I, 580.

Albrecht Ritschl – das Gottesbild ohne dunkle Seiten

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»Menken’s ›Anleitung‹ ist und bleibt ein sehr merkwürdiger Versuch reiner Offenbarungstheologie. Ein solcher Entwurf von religiöser Erkenntniß musste erst gemacht werden, wenn es deutlich werden sollte, wie viel rein theoretische Erkenntniß der Dinge in den orthodoxen Systemen mit der christlichen Religion verquickt worden war. An diesem unklaren Vermischen verschiedener Erkenntnißmethoden war schließlich die Glaubwürdigkeit der orthodoxen Lehrsysteme gescheitert. Um also die Geltung des positiven Christenthums unter den aufgeklärten Menschen wieder herzustellen, war es nothwendig, sich der Erkenntniß der Offenbarung in der heiligen Schrift zu versichern.«87

Einen materialen Biblizismus, wie ihn der Collenbusch-Schüler Friedrich Arnold Hasenkamp vertritt, lehnt Ritschl entschieden ab. In Hasenkamps Deutung der Offenbarung erkennt er den Fehler der Orthodoxie wieder: Wenn Hasenkamp in der Bibel »ein Magazin aller Art« finde, so folge daraus, »dass dieser Anhänger Collenbuschs die Verschiedenheit zwischen dem religiösen und dem theoretischen Erkennen eben so wenig begriffen hat wie die orthodoxen Schultheologen«.88 Das dreibändige Werk Ritschls über den reformierten und lutherischen Pietismus ist kein Beweis großer Sympathie für dieses theologische Paradigma der Kirchengeschichte. Im Gegenteil: Barth bezeichnet Ritschl als »grimmigen Gegner des Pietismus«89, und Thielicke fasst die Gründe dafür so zusammen: »Der beherrschende ethische Akzent seiner Theologie ließ die geistige Beherrschung der Welt, das Durchdringen der Welt mit christlichem Geiste geradezu ein Motto seines Denkens werden. Eben deshalb mußte ihm der damalige Pietismus wegen seiner ›Kulturfeindlichkeit‹ und seines esoterischen Konventikelwesens als Degeneration des Christentums erscheinen.«90

Das Christentum ist im theologischen System Ritschls einer Ellipse mit zwei Brennpunkten vergleichbar: Der eine ist die Rechtfertigung und die Versöhnung, der andere das Reich Gottes. Rechtfertigung und Versöhnung, die dem/ der Einzelnen in der Gemeinde vermittelt werden, zielen auf die Arbeit im Reiche Gottes. Nach Barth muss man, um Ritschl zu verstehen, im Titel seines Hauptwerkes Rechtfertigung und Versöhnung den Nachdruck auf das zweite Wort legen. Versöhnung heiße aber bei Ritschl »das verwirklichte menschliche Lebensideal«. Das Reich Gottes meine das gemeinsame Leben in vollkommener Sittlichkeit. »Es darf […] kein Denken und kein Tun geben, das nicht direkt, vollkommen oder unvollkommen, Betätigung im Reiche Gottes und

87 88 89 90

Ebd. 580. Ebd. 581. Barth, Die protestantische Theologie, 602. Thielicke, Glauben und Denken, 358.

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Zur Wirkungsgeschichte Gottfried Menkens

also Betätigung im Berufe und Tugendbildung wäre, kein an dieser Tätigkeit vorbei auf Gott gerichtetes Tun.«91 Nach dieser Akzentuierung eines tätigen Christentums erstaunt es nicht, dass die Betonung der aktiven Heiligung und die Absage an einen quietistischen Glauben beim »Pietisten« Collenbusch und seinen Schülern die volle Sympathie Ritschls finden. Collenbuschs Lehre von den Stufen der Heiligung, die sich bis ins jenseitige Leben erstrecken, die nicht nur biblisch begründet, sondern auch aus den Visionen der Somnambulen Dorothea Wuppermann erschlossen werden, hat sich aber Ritschl wie auch schon Menken nicht zu eigen gemacht.

11.5 Martin Kähler – »Bibelverehrung« aber kein Biblizismus Auf die Behandlung Menkens in Martin Kählers Geschichte der protestantischen Dogmatik im 19. Jahrhundert ist bereits eingegangen worden.92 Wirkungsgeschichtlich wird die Beziehung Kählers zu Gottfried Menken besonders von Hans-Joachim Kraus betont: »Theologiegeschichtlich hat die Kähler-Schule ihre Vorläufer in Gottfried Menken, Ernst Tholuck und Johann Tobias Beck. Nicht zu überschätzen ist vor allem der Einfluß von Menken, weniger bedeutsam der Anteil der ›heilsgeschichtlichen Schule‹ v. Hofmanns.«93

Zur Überprüfung dieser These ist ein Blick in das große Werk des Hallenser Theologen mit der Frage nach deutlichen Bezügen und Aufnahmen theologischer Gedanken Menkens und dem Stellenwert, den die heilsgeschichtliche Tradition für die Genese der Theologie Kählers hat, nötig.

11.5.1 Die vielfältigen Einflüsse auf Kählers theologische Entwicklung und die Schwierigkeiten der Kählerdeutung Martin Kähler hat die ganze von starken Unterschieden und Gegensätzen gezeichnete Entwicklung der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts zur Kenntnis genommen und sich mit ihr auf der Suche nach einer eigenen theologischen Position auseinandergesetzt. Die jüngste zum Werk Kählers erschienene Arbeit nennt als »theologische Lehrer Martin Kählers und ihre Einflüsse auf seine theologische Entwicklung« Richard Rothe und das Bild 91 Barth, Die protestantische Theologie, 601. 92 Vgl. oben Abschnitt 3.1.2. 93 Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung, 386. Kraus verweist besonders auf Menkens Anleitung.

Martin Kähler – »Bibelverehrung« aber kein Biblizismus

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Jesu in den Evangelien, Johann Christian Konrad von Hofmanns Schriftbeweis, Friedrich August Gottreu Tholucks Lehre von der Sünde und dem Versöhner, Julius Müllers Lehre von der Sünde und Johann Tobias Becks real genetische Methode.94 Bereits Johannes Wirsching spricht in seinen »Studien zur theologiegeschichtlichen Stellung und systematischen Grundlegung der Theologie Martin Kählers: Gott in der Geschichte« von den Schwierigkeiten der Kählerdeutung. Wirsching stellt fünf »Teildeutungen« Kählers »im Urteil der heutigen Theologie« (1963) auf den Prüfstand: a) Kähler, der klassische Geschichtstheologe? b) Kähler, ein Kerygmatheologe? c) Lutherischer Rechtfertigungtheologe? d) Heilsgeschichtlicher Biblizismus? e) Wegbereiter der dialektischen Theologie? Wirsching stellte 1979 zum Stand der Kählerforschung fest, »dass ein umfassendes systematisches Verständnis des Kählerschen Lehrganzen noch immer in den Anfängen steckt«.95 Ein Kennzeichen der Theologie Kählers, das in seiner theologischen Entwicklung immer klarer als das zentrale heraustritt, scheint in der Kählerforschung unumstritten zu sein: »Kähler wollte Bibeltheologe sein, und es kann nicht bezweifelt werden, daß in diesem Anspruch Kählers Selbständigkeit gegenüber den erwähnten Lehrern und Gewährsmännern hervortritt. Auch Tholuck berief sich ja auf die Schrift; sein reiches exegetisches Werk beweist, wie ernstlich das gemeint war. Bei Kähler indessen wird die biblische Fundierung zum systematischen Programm; evangelische Theologie ist Schrifttheologie, oder sie ist nicht evangelisch.«96 Kähler sagt, dass ihn die Bibel in ihrem heilsgeschichtlichen Verständnis und »die reformatorische Orthodoxie« über die Bewusstseinstheologie Schleiermachers und über den philosophischen Evolutionismus Hegels hinausführten: »So kam ich für mich über Schleiermachers Subjektivismus und Hegels Evolutionismus hinaus durch die Bibel wie sich seit Bengel ihr Verständnis erschlossen hat, durch ihr Zeugnis von den magnalia dei und durch die reformatorische Orthodoxie.«97 Anna Kähler schreibt 1937, dass es Martin Kähler einst als seine Aufgabe angesehen habe, »die süddeutsche Theologie eines Bengel, Oetinger, Beck, Hofmann ins Norddeutsche zu übersetzen«.98 Nicht zufällig sei er dabei auf den Geistesverwandten G. Menken gestoßen und lernte von ihm »das Verständnis für den Glauben und seine Geschichte in der Menschheit und in jedem Menschen«.99

Zimmermann, Martin Kählers biblische Theologie, 52–112. Das Zitat Wirschings nach Zimmermann, Martin Kählers biblische Theologie, 19. Wirsching, Gott in der Geschichte, 117. In Kählers Aufsatz Subjektivismus und Historicismus gegenüber dem Christentum, in: Dogmatische Zeitfragen III. Band, 164. 98 Kähler, Der Lebendige, 182. Kähler studierte in Tübingen bei Johann Tobias Beck. Er lernte in Basel auch Auberlen und in Erlangen von Hofmann persönlich kennen. In Bad Boll begegnete er Blumhardt. 99 Kähler, Der Lebendige,179.

94 95 96 97

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Zur Wirkungsgeschichte Gottfried Menkens

11.5.2 Die Entdeckung Menkens – Begeisterung, aber kritische Rezeption Kähler berichtet in seiner Biographie Theologe und Christ. Erinnerungen und Bekenntnisse über seine Entdeckung der Schriften Menkens, die ihm auf einer Badereise nach Heringsdorf nach dem Studium in Tübingen durch seinen Freund Krüger vermittelt wurde: »Krüger hatte Menken mit auf die Reise genommen, auf den uns Beck hingewiesen hatte. Wir wurden nicht überdrüssig, im Sande liegend, beim leisen Rauschen der See, uns seine biblische Theologie vorzulesen. Das ›Monarchienbild‹, von dem Hofmann gesagt haben soll, er verdanke ihm die Gesichtspunkte für seinen Biblizismus, entzückte uns. Gewand und Inhalt befriedigte gleichmäßig; man war noch nicht zu weit von dem Behagen an der Wortfülle unserer literarischen Periode entfernt. Wir beide kamen in diesen Wochen erst dazu, das zu verarbeiten, was wir aus Tübingen mitbrachten. Zunächst hat Menken mir die erziehende Offenbarung anschaulich gemacht, das zweckvolle Umgehen Gottes mit den Menschen; dazu gehört dann das Verständnis für den Glauben und seine Geschichte in der Menschheit und in jedem Menschen. Sodann seine klarbewußte Stellung zu jener klassischen Zeitbildung, die doch der Mutterboden auch meiner Entwicklung war. Wenn Menken es liebt, die echten Christen als ›Bibelverehrer‹ zu bezeichnen, so lag diese scharfe Betonung des sogenannten ›formalen Prinzipes‹, des Ansehens der Heiligen Schrift, ganz auf der Linie, in welcher sich Becks Einfluß geltend machte. Im Grunde war das indes das Gemeinsame aller damaligen Richtungen, die zum Geschichtlichen stärker einbogen als Schleiermacher, und doch nicht geneigt waren, sich vornehmlich auf das Ansehen der Kirche zu stützen. […] Überdem hat diese Stellung bei Menken noch das Besondere, daß er gewissermaßen der bewunderten und herrschenden internationalen Literatur als bestimmender Geistesmacht die Literatur des Heiligen Geistes entgegenstellt, eine andere Geistesheimat, in der man wurzeln und in der man gedeihen kann. Neben dem Monarchienbilde und dem ›Traktat von der erhöhten Schlange‹ haben namentlich die ersten Homilien über Hebr. 11 unverwischbare Eindrücke auf mich hinterlassen.«100

Gottfried Menken ein Geistesverwandter Martin Kählers? Wie sehr er es war, zeigt am schönsten, dass sich Kähler ausdrücklich Menkens Selbstbezeichnung als »Bibel- oder Schriftverehrer« zu eigen macht und mit seinen Werken wie Menken vor allem die »Bibelverehrer« und »Bibelverehrerinnen« unter seinen Lesern und Leserinnen erreichen will.101 Der Bibelfrage galt auch das primäre Interesse Kählers. Zahlreiche Schriften bezeugen das Bemühen, in der seit der Aufklärung anhaltenden Krise des reformatorischen Schriftprinzips 100 Kähler, Theologe und Christ, 178 f. 101 Vgl. die Behandlung Kählers oben in Abschnitt 3.1.1.

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das Ansehen der Schrift als »Urkunde der kirchengründenden Predigt« zu begründen.102 Wie am Anfang des 19. Jahrhunderts zur Zeit Menkens ist auch am Ende dieses Jahrhunderts die kanonische Geltung des Alten Testaments ein umstrittenes Thema. Dem ist Kählers Schrift Jesus und das Alte Testament (1896) gewidmet. Kähler argumentiert hier auf den Spuren Menkens: Das Alte Testament hat in der Kirche bleibende Autorität und Geltung, weil es die Bibel Jesu war und die Sendung und Botschaft Jesu nur aus dem Alten Testament begreiflich sind. Mit großer Intensität hat sich Kähler der »Frage nach der geschichtlichen Gestalt der Offenbarung« gestellt: »Die dogmatische Arbeit Martin Kählers hat – stärker als diejenige Ritschls – die Schrift wieder zum Kernproblem gemacht und damit zugleich, in einer seit Lessings Tagen unerhörten Dringlichkeit, das Problem ›Glaube und Geschichte‹ in die Mitte gestellt.«103 Vertieft man sich in Kählers skriptologische Arbeiten, werden bei allen Übereinstimmungen mit Menken eine kritische Rezeption seines heilsgeschichtlichen Biblizismus und ein Darüberhinausgehen erkennbar. Dazu sagt Kraus: »Kähler war Bibeltheologe, jedoch kein ›Biblizist‹. Für den Biblizisten wäre die Autorität der Schrift apriorischer Grundsatz christlicher Erkenntnis. Für den Biblizisten gibt es nach Feststellung dieses Apriori nur Probleme, die die Bibel stellt und beantwortet. Gegenüber einer solch’ starren Prinzipiensetzung kann nach Kählers Auffassung die Lehre von der Geltung der Schrift nur im Zusammenhang des Systems christlicher Lehre entfaltet werden. Das Inspirationsdogma ist aufzugeben. Die historisch-kritische Forschung hat unerbittlich das Vorurteil zerstreut, daß ein inspirierter ›Wunderbuchstabe‹ für die Offenbarung bürgt. Offenbarungsansehen und Autorität gewinnt die Bibel durch das kirchengründende, lebendige Wort Gottes in der Verkündigung der biblischen Zeugen.«104

Kraus beobachtet auch, dass Kähler den Ausdruck »Heilsgeschichte« vermeidet, weil der den Irrtum nahelegt, dass innerhalb der Weltgeschichte eine besondere Geschichte zu verfolgen sei, in der die Offenbarung Gottes erfasst werden könne. Statt von »Heilsgeschichte« spricht Kähler von »Übergeschichte«. Kähler zeige damit auch eine kritische Rezeption des sonst von ihm hoch geschätzten von Hofmann: 102 Kähler selbst hat diese skriptologischen Arbeiten im 1. Band seiner Dogmatischen Zeitfragen herausgegeben. Eine Auswahl in: Kähler, Aufsätze zur Bibelfrage. 103 Weber, Grundlagen I, 167. 104 Kraus, Kähler Martin, 511 f. Kähler sagt selbst im Vorwort zum 1. Band seiner Dogmatischen Zeitfragen (1898) und den dort veröffentlichten Vorträgen: »So dürfte hier wohl Ausweis genug vorliegen, um mich fortan für einen Bibeltheologen gelten zu lassen. Dabei will ich nicht leugnen, daß es zu einem biblicistischen Puristen, dem alle kirchliche Dogmatik ein Greuel ist, oder zu einem Vollblutpositivisten bei mir doch nicht reicht.« Kähler, Dogmatische Zeitfragen, 1. Band, VIII.

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Zur Wirkungsgeschichte Gottfried Menkens »Gott selbst ist in unser Menschsein, in unsere Zeit und Geschichte hineingekommen. Der Begriff der ›Übergeschichte‹ signalisiert dieses Geschehen: die ›Offenbarung des Unfindbaren und Unerfindbaren‹ – die Geschichte, in der Gott zu uns redet und zu uns kommt. Doch kann nicht von ›Heilsgeschichte‹ gesprochen werden. Denn obwohl Kähler dem theologischen Werk J. von Hofmanns viel verdankt, negiert er doch die Möglichkeit, eine ›Heilsgeschichte‹ als eine Sondergeschichte mit mythologisierender Deutlichkeit aus der Weltgeschichte abzuheben und darzustellen. Angemessen wäre darum die Bezeichnung ›verkündigende Geschichte‹ oder ›Verkündigungsgeschichte‹.«105

Kähler hat die historisch-kritische Forschung nicht wie Menken in Bausch und Bogen abgelehnt. Er hat aber ihren den christlichen Glauben beherrschenden Wahrheitsanspruch kritisch geprüft und ist in seiner grundlegenden Schrift Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus106 zur befreienden Erkenntnis gekommen, dass eine historische Verifizierung dem verkündigenden Charakter der biblischen Texte nicht gerecht wird und dass der christliche Glaube nicht von den schwankenden, unsicheren Ergebnissen der historisch-kritischen Forschung abhängen kann. Kähler hat sich für die wissenschaftliche Verantwortung des christlichen Glaubens auf das formale und materiale Prinzip der Reformation bezogen: auf das Schriftprinzip sola scriptura und auf die Rechtfertigungsbotschaft als den articulus stantis et cadentis ecclesiae, wobei die Rechtfertigung begründet ist in der Versöhnung Gottes mit den Menschen. Sowohl in der Schriftlehre als auch in der Versöhnungslehre hat Kähler von Menken gelernt. In beiden Bereichen war dieses Lernen eine kritische Auseinandersetzung. Die Kenntnis der Versöhnungslehre Menkens bezeugt der zweite Band von Kählers Dogmatischen Zeitfragen, der der Lehre von der Versöhnung gewidmet ist. Kähler beginnt in dieser Arbeit mit einem theologiegeschichtlichen Abriss unter dem Titel »Das Wort Versöhnung im Sprachgebrauch der kirchlichen Lehre«107. Menkens Bedeutung erkennt Kähler darin, dass Menken »gründlicher« als manche andere »seine wirksam gewordene Verwahrung gegen die orthodoxe Versöhnungslehre« an die Heilige Schrift angeschlossen habe: »Zwar bleibt er [Menken, H.M.R.] noch bei dem alten Sprachgebrauch. Er knüpft nach dem Hebr. die Versöhnung an das Opfer und denkt also an die Sühne; sie ist vornehmlich in Jesu Tod geschehen und stammt aus der errettenden Gerechtigkeit Gottes. Sie bedingt die Rechtfertigung und mit ihr 105 Kraus, Kähler Martin, 512. 106 Diese von Kähler 1892 in erster Auflage veröffentlichte Schrift geht auf einen Vortrag zurück, den Kähler 1892 auf der Wuppertaler Pastoralkonferenz gehalten hat. 107 Es folgen dann die beiden Hauptteile »Das Schriftzeugnis von der Versöhnung« und »Die Versöhnung durch Jesum, den Christ, der Grund für Glauben, Leben und Wandel der Christen«.

Martin Kähler – »Bibelverehrung« aber kein Biblizismus

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zusammen Heiligung und Herrlichkeit der Menschen. Bei genauerer Auseinanderlegung findet er aber die ›Versöhnung der Sünde‹ durch die Vernichtung der Sünde in der menschlichen Natur vollzogen, und darauf bezog sich das Opfer. Dann aber folgt mit starker Betonung die Verwahrung gegen die kirchliche Lehre. Die Schrift sagt: ›Gott hat die Welt mit ihm selber versöhnet, niemals daß Gott sich oder Jesus Christus Gott versöhnet habe.‹ Röm. 5,12 f. stehen einander Sünde und Versöhnung gegenüber. Von einer Strafe, die Christus erduldet habe, ist nirgend in der Bibel die Rede; die beiden Stellen Jesaja 53,5 und Gal. 3,13 sind anders zu verstehen, die erste auch anders zu übersetzen. – Man wird nicht verkennen können, wie sich hier aus tiefem Verständnisse des Biblischen heraus ein Sinn dafür entwickelt hat, daß in der Fassung von der placatio dei etwas beiden Testamenten Fremdes in das Verständnis der Schrift hineingekommen war.«108

Kähler schreibt dann in der auf den theologiegeschichtlichen Abriss folgenden »Einleitung« seiner Schrift zur Versöhnungslehre, dass er nichts darzubieten habe, was er nicht in der Schule seiner Vor- und Mitarbeiter gelernt habe, und erwähnt dabei Gottfried Menken: »Zu diesen Theologen gehören allerdings etliche Männer der Vermittlungstheologie und der confessionellen Richtung aus der Mitte unseres Jahrhunderts. Doch nicht diese allein. Die Bekanntschaft mit der Schule Bengels und mit Menken, aber auch ein eindringenderes Verständnis Luthers und unsrer Bekenntnisschriften sind für mich entscheidend geworden.«109 Die von Kähler selbst bezeugte Rezeption Menkens schließt deutliche Kritik ein. Kähler beharrt gegen den beherrschenden Trend der Bewusstseinstheologie seiner Zeit darauf, dass die christliche Erkenntnis auf zwei Prinzipien beruhe, einem subjektiven und einem objektiven: »Und am richtigsten würde es scheinen, wenn man sagte: die Schrift ist Princip des evangelischen Christentums, weil sie das Glauben zeugende Wort der Offenbarung ist, der rechtfertigende Glaube ist es, weil er die Religiosität ist, welche sich die Offenbarung aneignet. Wir hätten dann Offenbarungsprincip und religiöses Princip in ihrer unauflöslichen Zusammengehörigkeit.«110 Kommt nur eines dieser beiden Prinzipien in der Dogmatik zur Geltung, dann sind Irrtümer unvermeidlich. Als Beispiele nennt Kähler »die Irrtümer in der Versöhnungslehre«, »welche sich bei den gleichzeitigen großen Theologen, bei Schleiermacher und bei Menken finden, die beach108 Kähler, Dogmatische Zeitfragen, 2. Band, 25 f. Kähler fügt in einer Anmerkung hinzu: »J. Chr. K. von Hofmann soll nicht verhehlt haben, daß Menkens Schriften für ihn von entscheidender Bedeutung gewesen sind.« Ebd. 26. 109 Kähler, Dogmatische Zeitfragen, 2. Band, 40 Anm., Hervorhebung H.M.R. 110 Kähler, Dogmatische Zeitfragen, 2. Band, 54. An einer anderen Stelle drückt Kähler diese Differenzierung bildlich aus: »Wäre in diesen Verhandlungen etwas mit bildlichem gethan, so dürfte man die Schrift die Quelle, die erfahrene Rechtfertigung das Siegel und den Schlüssel der Glaubenserkenntnis nennen.«

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Zur Wirkungsgeschichte Gottfried Menkens tenswerter Weise, je eines der Principien vertreten. Dort bei allem Streben nach Objektivität eine Wandlung in einen bloßen Bewußtseinsprozeß, hier ein Historicismus, der das Erlösungsbewußtsein tief verletzt. […] Menkens Biblicismus bietet seinen ›Bibelverehrern‹ aber im Grunde in der Schrift nur die Lehre, nicht das lebendige Evangelium.«111

Kähler hat sich in seiner ausgeführten Versöhnungslehre nicht an Menken angeschlossen, sondern an die kirchliche Orthodoxie, an Luther und die reformatorischen Bekenntnisschriften. Kähler übernimmt auch nicht das Verständnis der Inkarnation als Annahme der sündlichen menschlichen Natur (wie von Hofmann). So kann Kähler im Sinne der kirchlichen Orthodoxie von der Strafe sprechen, die Christus mit seinem Sterben am Kreuz an unserer Stelle erlitten hat: »Um den Tod als Folge der Sünde, als ihr Ergebnis, mit dem sie ihren Söldner ablöst, als Vollzug des Verdammungsurteils über die ihr Hingegebenen handelt es sich also hier. […] Er ist von Gotteswegen gestorben, wie wir Sünder sterben; und der Grundzug dieses Sterbens ist eben, um der Sünde willen zu sterben; von Gotteswegen die Folgen der Sünde im Sterben zu erdulden. ›Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten‹.«112

Ein wichtiger Aspekt seiner Versöhnungslehre ist Kähler aber wohl besonders durch Menken zu eigen geworden: Die Schrift lehrt uns, dass Gott die Welt mit sich versöhnt hat, dass Gott das Subjekt und nicht das Objekt der Versöhnung ist. Die Weiterwirkung der Bibeltheologie Kählers in seinem Schüler- und Freundeskreis ist kaum zu überschätzen. Damit ist auch die Wertschätzung Menkens weitergegangen. Kählers Freund Hermann Cremer (1834–1903) war allerdings der Meinung, dass Menken nur Gedanken seines Lehrers Collenbusch wiederholt und systematisiert habe. Cremer veröffentlichte 1902 Aufsätze, Briefe und Tagebuchblätter von Dr. Samuel Collenbusch unter dem Titel Aus dem Nachlaß eines Gottesgelehrten und ist selbst tief von Collenbusch beeinflusst, besonders in seiner kenotischen Christologie.113 So ist der Einfluss Menkens und Collenbuschs durch Kähler und Cremer bis ins 20. Jahrhundert gekommen. Ernst Kähler, ein Enkel Martin Kählers, hat darauf hingewiesen, »dass beinahe alle Verantwortlichen der älteren Generation der ›Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche, Barmen 1934‹ Schüler Martin 111 Kähler, Dogmatische Zeitfragen, 2. Band, 62. 112 Kähler, Dogmatische Zeitfragen 2. Band, 393.397, im Abschnitt »Der Vollzug der Versöhnung. Sühne, Opfer, Strafe, Vertretung«. Auf die Versöhnungslehre Kählers, wie er sie in seiner Dogmatik, der Wissenschaft der christlichen Lehre und in der bedeutenden Spätschrift Das Kreuz, Grund und Maß der Christologie (1911) konzentriert, ist hier nicht weiter einzugehen. 113 Uwe Renfordt spricht von einer Begeisterung Cremers für Collenbusch und einer großen Sympathie für dieessen Kenotik. Durch Cremer seien die Gedanken Collenbuschs in die »Greifswalder Schule« aufgenommen worden. Siehe Renfordt, Samuel Collenbusch, 178.

Karl Barth – die Entdeckung Menkens im Aufbruch zum Römerbrief

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Kählers und Hermann Cremers waren«.114 Im 20. Jahrhundert hat auch Karl Barth Gottfried Menken entdeckt.

11.6 Karl Barth – die Entdeckung Menkens im Aufbruch zum Römerbrief und zur Kirchlichen Dogmatik Die Entdeckung Menkens durch Barth lässt sich genau datieren. Barth las im Juli 1917 Gildemeisters Menkenbiographie Leben und Wirken des Dr. Gottfried Menken, weiland Pastor Primarius zu St. Martini in Bremen, zwei Teile in einem Band, und war davon sehr beeindruckt. Er schrieb in einem Brief an Eduard Thurneysen (18. Juli 1917): »Was für eine erfreuliche Gestalt dieser Menken«.115 Barths Predigt am 22. Juli 1917 über Jer 1,17–19 steht unter dem Eindruck dieser Lektüre.116 Barth zitiert in ihr Verse, die Menken auf dem Weg von Frankfurt nach Wetzlar schrieb, »wo er«, wie Gildemeister berichtet117, »eine Probepredigt zu halten sich schweren Herzens entschlossen hatte«118: »Ich will mich halten wie Moses, als ob ich dich sehe, Den ich nicht sehe. Laß das Gefühl deiner Nähe Tröstend und stärkend die ganze Seele mir füllen Und im Drange der Not die leichtbewegliche stillen.«119

114 Kraus, Kähler Martin, 514. Kraus bezieht sich auf einen »noch unveröffentlichten Vortrag«, den Ernst Kähler 1984 hielt. 115 Karl Barth – Eduard Thurneysen, Briefwechsel, Band 1, 218. Der Name Gottfried Menken begegnet öfter im Briefwechsel zwischen Barth und Thurneysen: Barths Begeisterung für Menken veranlasst Thurneysen dessen gesammelte Werke zu bestellen. Brief an Barth vom 6. Sept. 1917, ebd. 228. Barth liest Tertullian und findet »neben Sonderbarem alle guten Geister« wieder: »Oetingers Realismus, Menkens Widerstand gegen den Zeitgeist, Kierkegaards Protest gegen die Weltkirchlichkeit, Blumhardts Wiederkunfts- und Geistesgedanken«. Brief an Thurneysen vom 28. Juni 1918, ebd. 336, Hervorhebung H.M.R. 116 Hermann Schmidt bemerkt dazu: »Eine gewisse Analogie zu Jeremia kann man darin sehen, daß Menken mehrfach der Berufung in eine Pfarrstelle gegen den Wunsch des eigenen Herzens folgte, weil er eine göttliche Leitung zu erkennen meinte.« Barth, Predigten 1917, 243 Anm. 2. 117 Gildemeister, Leben und Wirken I, 148 f. 118 Barth, Predigten 1917, 245 Anm. 4. 119 Das ganze Gedicht lautet: »Folgen will ich, wohin mich die Vaterhand leitet, Die mir Freuden und Leiden so gütig bereitet, Folgen mit Demuth, mit kindlichem, frohen Vertraun Kann auch mein Auge die leitende Rechte nicht schaun. Ich will mich halten wie Moses, als ob ich Dich sähe, Den ich nicht sehe. Laß das Gefühl Deiner Nähe Tröstend und stärkend die ganze Seele mir füllen Und im Drange der Noth die leichtbewegliche stillen. Ruf‘ ich zu Dir – so sei mir gnädig und höre!

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Zur Wirkungsgeschichte Gottfried Menkens

Barth sieht diese Haltung Menkens in Analogie zur Situation Jeremias nach seiner prophetischen Berufung. Er war 1917 neben der laufenden Gemeindearbeit in Safenwil intensiv beschäftigt mit seiner Auslegung des Römerbriefs.120 Am 1. Februar 1915 war er in die Sozialdemokratische Partei der Schweiz eingetreten und hatte sich seitdem zugunsten der Arbeitnehmer in die wirtschaftlichen und sozialen Probleme Safenwils eingemischt.121 Barth ist Menken begegnet, als er im Ersten Weltkrieg erkannte, dass die Theologie seiner liberalen Lehrer den Aufgaben und der Not seiner Zeit nicht gewachsen war. Er stieß bei Menken auf ein Ernstnehmen der Bibel als Zeugnis der Offenbarung Gottes, das ihn bestätigte auf der Suche nach einem neuen Paradigma der Theologie. Menkens Ablehnung einer natürlichen Theologie, seine Hochschätzung des Alten Testaments, sein Eintreten für die Textpredigt und für die Predigtform der Homilie – alles dies teilt Barth mit Menken und noch mehr: Barth übernimmt ausdrücklich von Menken das Verständnis der Inkarnation als Annahme des sündlichen Fleisches nach Röm 8,3 und ist beeindruckt von Menkens »realer« Eschatologie: »Zweifellos, hier sind entscheidende Dinge in vorteilhaftem Gegensatz nicht nur zu der idealistischen Theologie, sondern auch zu der der Erweckung und zu der der alten Orthodoxie, ja weithin zu der der Reformatoren selbst, zunächst rein exegetisch wieder gesehen und dann auch kraftvoll wieder ausgesprochen und verkündigt worden. […] Christus realer Sieger, realer König und darum: Christus unsere reale Hoffnung, die zweite Bitte des Unservaters real verstanden in einer Weise, wie sie (wegen allzu großer Vorsicht gegenüber dem ›Chiliasmus‹!) selbst bei Luther nicht verstanden war – diese bei jenem kecken Griff nach der Bibel davongetragene Beute rechtfertigt offenbar jenen Griff bei aller Bedenklichkeit, von der der umgeben war.«122

Dass die Rezeption Menkens bei Barth nicht unkritisch erfolgte, klingt in diesem Zitat an und ist bei Barths theologiegeschichtlicher Darstellung Menkens beachtet worden.123 Die Entdeckung Menkens war für Karl Barth – so wird man sagen dürfen – ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer neuen Theologie, die dann in der

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Suchet mein Antlitz, sprachst Du erbarmend, o, kehre Wenn ich es suche, nimmer Dein Antlitz von mir.« Gildemeister, Leben und Wirken, I, 148 f. Barth schrieb am 24.12.1917: »Römer 7 ist fertig.« Karl Barth – Eduard Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 1, 254. Barth sah deshalb seiner Wiederwahl als Pfarrer am 24. Juni 1917 mit Besorgnis entgegen. Aber es ging gut aus. Er schrieb mit seiner Frau Nelly am 27. Juni 1917 an zwei »liebe Freunde«: »Gestern war meine Wiederwahl. 277 Stimmende, 189 Ja, 49 Nein, 36 leer, 3 ungültig. Das ist ein erfreuliches Resultat in Anbetracht von allem, was in den 6 Jahren [der regulären Amtszeit, H.M.R.] passiert ist. […] Die Kirchenpflege hatte auf 100 Nein gerechnet!« Karl Barth – Eduard Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 1, 208. Barth, Die protestantische Theologie, 480. Vgl. oben Kap. 3.1.3.3: Barths Kritik an Menken.

Karl Barth – die Entdeckung Menkens im Aufbruch zum Römerbrief

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Kirchlichen Dogmatik Gestalt annahm. Die bisherige Wirkungsgeschichte Menkens lässt sich also gut hundert Jahre lang bis zum bedeutendsten protestantischen Theologen des 20. Jahrhunderts verfolgen.

12. Fazit – Würdigung 12.1 Fazit Die vorliegenden Studien zum Predigtwerk und zur Theologie Gottfried Menkens bieten eine Klärung differierender Wertungen und offener Fragen der Forschung zu Gottfried Menken. Der Klärung bedurfte der theologiegeschichtliche Ort Menkens, speziell Menkens Beziehung zur sogenannten Erweckungsbewegung und die Überprüfung der Aussagefähigkeit und Brauchbarkeit der Etikette des »Biblizismus«. Theologiegeschichtlich waren auch die Einflüsse zu untersuchen, die Menken prägten. Hier musste die These überprüft werden, dass die gesamte Theologie Menkens auf Collenbusch zurückzuführen sei. Schließlich hatte sich diese Arbeit vorgenommen, dem immer wieder behaupteten weitreichenden Einfluss Menkens auf die protestantische Theologie des 19. Jahrhunderts nachzugehen, um ihn gegebenenfalls zu verifizieren. Gottfried Menken kann nicht als typischer Vertreter der sogenannten Erweckungsbewegung bezeichnet werden. Er wurde geprägt durch den Pietismus in Bremen, den Pietismus am Niederrhein und in Württemberg. Er wirkte in der Zeit, in der sich der Pietismus zur Erweckungsbewegung weiterentwickelte. Innerhalb des Spätpietismus steht Menken in der Tradition der offenbarungsgeschichtlichen Theologie, die ihr eigenes Profil hat und sich z. B. vom Individualismus der Herrnhuter stark unterscheidet. Weth spricht vom »eigentümlichen Verhältnis (der Geschichtstheologen) zum Pietismus«: »Diese Männer sind ja selber fast alle Vertreter des älteren Pietismus oder der beginnenden Erweckungsbewegung. […] Aber soweit sie selber zum Pietismus zu rechnen sind, haben die Offenbarungsgeschichtler doch in ihm ihren besonderen Platz.«1 Dieser besondere Platz der Geschichtstheologen ist vor allem gekennzeichnet durch ihre Ablehnung der Aufklärung und ihre Distanz zur Orthodoxie: »Die Geschichtstheologie schiebt sich mitten zwischen Aufklärung und Orthodoxie hinein und erobert sich, nach beiden Seiten fechtend, ihren Platz.«2 Die spezifische Rolle, die Menken in der sich entwickelnden Geschichtstheologie des Spätpietismus spielt, besteht darin, dass er einen radikalen Biblizismus vertritt, der sich von der Autorität der kirchlichen Bekenntnisschriften befreit und Dogmatik nur als Biblische Theologie verstehen kann. Der Biblizismus lässt sich grundsätzlich definieren als ein ungeschichtliches Bibelverständnis, das die Geltung biblischer Texte (vermeint1 Weth, Heilsgeschichte 39 f. 2 Weth, Heilsgeschichte, 41.

Fazit

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lich) ohne Vermittlung in die Gegenwart überträgt.3 Konkret äußert sich der Biblizismus in verschiedenen Ausprägungen. Die Position Menkens lässt sich präzise als heilsgeschichtlicher Biblizismus beschreiben. Menken ist der Meisterschüler Samuel Collenbuschs, aber nicht nur sein Sprachrohr. Collenbusch bestärkte seinen aus dem Bremer Pietismus mitgebrachten Biblizismus. Von Collenbusch hat er das Verständnis der Liebe Gottes als Heiligkeit und Gerechtigkeit, die besondere kenotische Christologie und Versöhnungslehre übernommen. Bei ihm entdeckte er »das Geheimnis Christi in uns«, das zu einer starken Betonung der Heiligung des Menschen und zu einem Zurücktreten seiner Rechtfertigung führt. Menken ist aber im Unterschied zu Collenbusch dezidierter Geschichtstheologe und in dieser Beziehung stark von J.A. Bengel beeinflusst. Menken betreibt wie Bengel prophetische Theologie, deutet seine Zeit nach den apokalyptischen Texten der Schrift als Endzeit, wagt aber nicht wie Bengel eine genaue Berechnung der Wiederkunft des Herrn. Nicht übernommen hat Menken die Lehre Collenbuschs von den sieben Stufen der Heiligung, wenn er auch wie sein Meister der Auffassung war, dass die Heiligung im irdischen Leben vollendet werden kann. Die Wirkungsgeschichte Menkens ist in der Tat, wie in der Literatur vermutet und behauptet wird, weitreichend und beachtlich. Das konnte in den Studien dieser Arbeit verifiziert werden. Menken hat als Pfarrer mit seinem heilsgeschichtlichen System keine Schule gebildet. Sein heilsgeschichtlicher Biblizismus in toto ist als Vorstufe der systematischen heilsgeschichtlichen Theologie des 19. Jahrhunderts anzusehen und hat am stärksten auf den Erlanger Heilsgeschichtler J.Chr.K. von Hofmann eingewirkt, obwohl von Hofmann auch die Bewusstheitstheologie Schleiermachers rezipierte. In nuce ist bei Menken schon das ganze heilsgeschichtliche System von Hofmanns vorbereitet.4 Für die Erweckungsbewegung ist Menken mit seiner die historische Kritik der Aufklärung ablehnenden Bibelverehrung und seiner Hochschätzung des Alten Testaments ein wichtiger Wegbereiter gewesen. Die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts hat verschiedene Gesichter und lässt sich mit ihren regionalen Unterschieden theologisch und frömmigkeitsgeschichtlich nicht auf einen Nenner bringen. Sie zeigt eine deutliche Entwicklung zum Konfessionalismus, der keine Beziehung mehr zu Gottfried Menken hat. Menkens Biblizismus mit seinem Offenbarungspositivismus korreliert mit einer konservativen Ethik und einer positivistischen Staatsauffassung, die einen starken Einfluss auf die gesamte Erweckungsbewegung hatte. Als die Erweckungsbewegung betont konfessionell wurde, erinnerte sich das neu aufgestellte 3 Vgl. oben Kap. 6.8: Der Begriff und das Problem des Biblizismus. 4 Bereits Gottfried Thomasius und Albrecht Ritschl vertreten die These, dass die Versöhnungslehre von Hofmanns von Menken herzuleiten ist. Vgl. Thomasius, Christi Person und Werk, 138 f.; Ritschl, Pietismus I, 614. Bei Schrenk, Gottesreich und Bund, 322–332, wird die theologiegeschichtliche Linie, die von von Hofmann über Menken, den Collenbuschkreis und Bengel auf Coccejus zurückführt, überzeugend aufgezeigt.

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Fazit – Würdigung

Luthertum an Luthers Obrigkeitstreue, die Menken (scheinbar) aufs Neue als reformierter Theologe in den politischen Wirren seiner Zeit begründet hatte.5 Wie nachgewiesen wurde, haben Aspekte der Theologie Menkens einen starken Einfluss auf Albrecht Ritschl als Vertreter einer liberalen Theologie gehabt, und zwar vor allem das Gottesbild ohne dunkle Seiten und das spezielle Verständnis des biblischen Begriffs der Heiligkeit Gottes. Die Rezeption Menkens bei Martin Kähler ist interessant, weil sich hier eine große Wertschätzung mit einer kritischen Auseinandersetzung verbindet. Kähler ist der bedeutendste konservative Bibeltheologe am Ende des 19. Jahrhunderts, der die Autorität und Geltung der ganzen Bibel in den Auseinandersetzungen seiner Zeit, vor allem in der Konfrontation mit der historischen Bibelkritik, wissenschaftlich erweisen will. Kähler ist kein Biblizist wie Menken. Er lehnt die historisch-kritische Bibelauslegung nicht ab. Aber er relativiert ihren Anspruch: Der Glaube an den »geschichtlich, biblischen Christus« ist nicht abhängig von den jeweiligen zweifelhaften Ergebnissen der Erforschung des historischen Jesus. Kähler lehrt auch keinen Offenbarungspositivismus. Die Bibel ist für ihn nicht die Urkunde der göttlichen Offenbarung, denn Gottes Offenbarung ist nicht in einer heiligen Geschichte göttlicher Taten, wie sie der Bibel entnommen werden kann, greifbar und einsehbar. Die Bibel ist nach Kähler »die Urkunde der Kirche gründenden Predigt«. Die Bibel ist selbst bereits Verkündigung. Am Ende der bisherigen Wirkungsgeschichte Gottfried Menkens steht Karl Barth. Barth entdeckt Menken im Ersten Weltkrieg, während er seinen Römerbrief verfasst und erkennt in ihm einen Bundesgenossen in der Ablehnung jeder natürlichen Theologie und in der Erfahrung der Fremdheit des biblischen Zeugnisses der göttlichen Offenbarung. Barth übernimmt von Menken das Verständnis der Menschwerdung Jesu Christi als Fleischwerdung des Gottessohnes, verbindet mit seiner Wertschätzung jedoch auch deutliche Kritik.

12.2 Würdigung Die Theologie und Predigtarbeit Gottfried Menkens kann nur im Kontext seiner Zeit beurteilt und gewürdigt werden. Es ist die Zeit der späten Aufklärung. Das Denken der Aufklärung beherrscht den Zeitgeist und führt die kirchliche Orthoxie in eine tiefe Krise. Es ist vor allem eine Krise des pro5 Die Pfarrer und Theologieprofessoren standen im 19. Jahrhundert in der Mehrheit auf der rechten Seite. Sie waren in der Regel staatstreu und ihrem König bzw. Kaiser untertan. Sie sahen wohl die Probleme, die Armut und Not der arbeitenden Bevölkerung, die die erste industrielle Revolution brachte, konnten sich aber nur einen karitativen Einsatz vorstellen zur Linderung dieser Not. Die kirchliche Wohltätigkeit, die durch Wichern mit der Inneren Mission eine effektive, segensreiche Organisation bekam, wurde als Gegenmittel der Kirche zur Bekämpfung aller revolutionären Bestrebungen verstanden und war damit der Obrigkeit sehr willkommen.

Würdigung

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testantischen Schriftprinzips. Mit dem Schriftverständnis und der Schriftauslegung gerät auch das Predigtamt und die Predigt in die Krise. Das Predigtamt ist nicht mehr eine in der Schrift begründete göttliche Stiftung und durch göttliches Recht konstituiert, sondern es wird als Funktion der Kirche begriffen. Es ist nun der Rechtfertigungspflicht vor dem Geist der Neuzeit unterworfen und sieht sich zur dauernden praktischen Nachlegitimierung gezwungen. Die historisch-kritische Bibelauslegung der Aufklärer entdeckt mehr und mehr die volle Menschlichkeit der biblischen Texte und stellt ihren Anspruch, göttliche Offenbarung zu sein, in Frage. Der hermeneutische Führer ist nicht mehr der Glaube, der sich an die inspirierte Schrift hält, sondern die Vernunft, die in der Schrift finden will, was sie für vernunftgemäß hält: nämlich Moral und Tugendlehre. Das Alte Testament wird in der Aufklärung weitgehend negativ beurteilt. Mit seiner Bindung an ein einziges Volk und seiner anthropomorphen Rede von Gott entspricht es nicht mehr dem Geschmack der Zeit und wird kaum noch gepredigt. Das Denken der Aufklärung erfaßt die Mehrheit der Zeitgenossen. Man begrüßt die Aufklärung mit Begeisterung und in der Überzeugung, teilzuhaben an einer Sternstunde der Geschichte. Doch die Kirchen lehren sich. Die Anpassung der Bibel und der kirchlichen Verkündigung an den Zeitgeist wird nicht mit einem gesteigerten Predigtbesuch belohnt. In der Aufklärung beginnt die Loslösung vieler vom traditionellen Christentum. Die Bibel wird als ein Buch aus alter Zeit angesehen, und man kennt es immer weniger. Menken hasst die Aufklärung. Er leidet unter der Umdeutung der biblischen Botschaft in Tugendlehre, der Anpassung der Bibelauslegung an das aufklärerische Denken. Eine Würdigung Menkens im Kontext seiner Zeit muss zuallererst seinen Widerspruch gegen diese Anpassung, gegen die Verharmlosung und Verkennung der Fremdheit des christlichen Glaubens hervorheben: »Das Christenthum ist eine so originale, einzige Sache, der gewöhnlichen Denkungsart aller Menschen so zuwider, so unvereinbar, so heterogen gewissen Begriffen und Empfindungen, die wir mit der Muttermilch eingesogen haben, und die wir nicht fahren lassen wollen, daß immer ein geheimer Zweifel dagegen im Herzen ruht, daß wir immer fürchten, wir möchten dabei zu kurz kommen, es sei ein mißliche Sache […]. Und so bauen wir denn ein Christenthum, ein Gebäude für die Ewigkeit auf lockerem Sandgrund.«6 Menkens eigene Bibelfrömmigkeit in der frühen Prägung durch den Pietismus seiner Heimatstadt war zutiefst in Frage gestellt. Mit seinem Entschluß, Pfarrer zu werden, sah er sich persönlich, existentiell in einer Krise. Wie sollte er in dieser Zeit, in der die Autorität und Klarheit der Bibel zweifelhaft geworden waren, ein Verständnis der Bibel finden, das ihn befähigte, das Predigtamt verantwortungsvoll und in Freude an der Heiligen Schrift auszuüben? Ausgelöst und befördert wurde die Krise durch die anwachsende Macht und 6 Gildemeister, Leben und Wirken I, 65 (Auszug aus einem Brief Menkens an den Freund Schlegtendal vom 5.1.).

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Fazit – Würdigung

Geltung der historischen Bibelkritik. Menken hat sich ihrem Anliegen und Anspruch total verschlossen und ihr keinerlei Recht eingeräumt. Bereits in seiner ersten Schrift, der Dämonologie, entlädt sich sein Zorn auf die natürlichen Erklärungen der Rationalisten, die die Botschaft der Wunder Jesu nicht begreifen und Jesus zum Volkslehrer machen, der sich dem Fassungsvermögen des Volkes akkommodiert. Semler diskreditiert das Alte Testament, wertet es ab. Alttestamentliche Predigten treten ganz zurück. Aber auch neutestamentliche Texte fungieren oft nur als Motto und sind dann Anlaß für weltliche praktische Themen. Die neologische Hermeneutik unterwirft die biblischen Texte einer Hermeneutik der Vernunft. Nur was angesichts der Maßstäbe der menschlichen Vernunft besteht, ist recht und hat Gültigkeit. Die Verbindung der historisch-kritischen Bibelauslegung mit der Vernunfthermeneutik der Neologie und des Rationalismus hat es Menken unmöglich gemacht, diese Auslegungsmethode zu akzeptieren. Sie widersprach seiner Auffassung von der Göttlichkeit der Heiligen Schrift: Die Bibel ist Urkunde der göttlichen Offenbarung. Sie ist nicht gegen die menschliche Vernunft, aber diese ist ihr unter- und nachgeordnet. Menken konnte die Aufklärung, die er in ihrer neologischen und rationalistischen Gestalt erlebte, nur als bösen Angriff auf das Wort Gottes, auf die in der Bibel für alle Zeiten dokumentierte Offenbarung Gottes verstehen. Eine »Geschichtsmacht«, an deren »unwiderstehlichem Heraufziehen« keine theologische oder kirchliche Stellungnahme auf die Dauer etwas zu ändern vermag – so Hirsch7 – war die Aufklärung für Menken nicht. Die von Anfang an schroffe, kompromisslose Ablehnung der Aufklärung ist im Blick auf ihre offensichtlichen Verirrungen wie vor allem die Überschätzung der menschlichen Vernunft und das einseitig positive Menschenbild verständlich. Sie ist aber auch bedingt durch das Schriftverständnis Menkens, dem Fundament seines persönlichen Glaubens, das sie aufs Empfindlichste traf und zerstörte. Wenn Karl Barth betont, dass es bei Gottfried Menken in der Aufklärung zu einer Erneuerung des reformatorischen Schriftprinzips kommt, so muss dies Urteil differenziert werden. Das sogenannte Schriftprinzip Luthers sola scriptura erfuhr in der nachfolgenden Zeit der altprotestantischen Orthodoxie und des Pietismus schwerwiegende Veränderungen, die bis heute nachwirken und korrigiert werden müssen. Im Bemühen, die Autorität und Geltung, Effizienz und Suffizienz der Bibel abzusichern, erfuhr sie eine Vergöttlichung, die sie selbst zum Wort Gottes werden ließ, zu einem depositum der göttlichen Offenbarung. Die nicht zu leugnende Menschlichkeit der biblischen Autoren war vom Heiligen Geist inspirierte Menschlichkeit und damit der Attribute wahrer Menschlichkeit entkleidet: der geschichtlichen Bedingtheit, der Irrtumsfähigkeit. Das Wort Gottes war nun zwischen zwei Buchdeckeln eingeklemmt und jederzeit für jede und jeden greifbar. So hatte Luther es nicht gemeint. Scriptura ist der biblische Text aus dem Alten 7 Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie II, 205.

Würdigung

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oder Neuen Testament, der »Christum treibt«. Scriptura ist jener kanonische Text, der das Evangelium kommuniziert und in der Verkündigung – ubi et quando Deo visum est – zum persönlichen Wort Gottes werden kann und werden soll. In der Kurzformel des reformatorischen Schriftprinzips meint scriptura nicht tota scriptura, sondern jene scriptura, die der Verkündigung des Evangeliums dient. Scriptura ist Schrift für den Gebrauch im Gottesdienst, in der Liturgie, in der Predigt, in der Seelsorge. Aus sola scriptura wird tota scriptura dann vor allem durch den Druck und die Massenverbreitung der Bibel, die in der Reformationszeit beginnt. Menken steht in dieser Tradition, in der die Bibel zur tota scriptura und das Christentum zu einer Buchreligion wird, das es ursprünglich nicht war.8 Angesichts der historischen Bibelkritik der Aufklärung, die zur progressiven Aufdeckung der vollen Menschlichkeit der biblischen Texte führt, hält Menken grundsätzlich am Bibelglauben der altprotestantischen Orthodoxie fest, schließt sich aber einer Weiterentwicklung dieses Bibelglaubens an, die mit Johannes Coccejus begann, die dann im reformierten und im lutherischen Pietismus begeistert aufgenommen wurde und als heilsgeschichtliche Bibelauslegung ihre Vertreter noch in der Erweckungsbewegung und in der konfessionellen Theologie des 19. Jahrhunderts fand. Wenn die tota scriptura, wenn die Bibel in Gänze das Wort Gottes ist, wenn alles in ihr wichtig und unentbehrlich ist, so stellt sich der Theologie die Aufgabe, die Einheit dieses so differenzierten und differenten Ganzen zu verstehen, und zwar besonders den Zusammenhang von Altem und Neuem Testament. So ist es verständlich, dass Menken in seinem Studium primär das Ziel verfolgte, die Bibel als Einheit von Altem und Neuem Testament zu begreifen, ihren roten Faden zu entdecken, ihrer so als Zeugnis der göttlichen Offenbarung gewiss zu werden und damit die notwendigen Voraussetzungen für den Predigtdienst zu gewinnen. Da seine Professoren in Jena die Theologie der Aufklärung vertraten, entschied er sich für ein autodidaktisches Studium. Und dabei ist es auch, so weit es möglich war, in Duisburg geblieben. Er beharrte auf einem vorkritischen Schriftverständnis. In der scharfen Frontstellung gegen die Aufklärung entwickelte sich der radikale Biblizismus Menkens. Kennzeichnend ist dabei die Distanzierung von der kirchlichen Dogmatik, die Abkehr von allem Konfessionalismus und das Bestehen auf einer ausschließlich biblisch begründeten Theologie und christlichen Lehre. Das Materialprinzip des Menkenschen Biblizismus ist nicht mehr die reformatorische Rechtfertigungslehre, sondern ein heilsge8 Vgl. Dalferth, Wirkendes Wort, 122 f: »Christliche Kiche ohne die Schrift ist also undenkbar. Aber das gilt nicht auch für die Bibel. Das Christentum ist keine Buchreligion und die Kirche keine ›Lesegemeinschaft‹. Zwar gibt es keine Kirche ohne die Schrift, die Kirche entsteht aber nicht aus der Schrift, sondern durch Gottes Wort, das Glauben weckt, und dieses Wort ist weder identisch mit der Schrift noch mit der Bibel.« Dalferth spricht von der »Gutenberg-Falle, in die der Protestantismus seit dem 17. Jahrhundert geraten ist«. Ebd. 105.

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schichtliches bzw. reichsgeschichtliches Schriftverständnis, das Menken durch Samuel Collenbusch und Johann Albrecht Bengel vermittelt wird. Auch dieses Materialprinzip ist christologisch bestimmt, will aber die Intention der den Einzelnen oder die Einzelne betreffenden Rechtfertigung und Heiligung mit der universalen Ausrichtung des versöhnenden und erlösenden Handelns Gottes in seiner heiligen Geschichte verbinden. Menken war dankbar dafür, dass er auf der Suche nach einem Gesamtverständnis der Bibel Samuel Collenbusch begegnete und bald danach Johann Albrecht Bengel entdeckte. Sie lieferten ihm die wesentlichen Bausteine seiner heilsgeschichtlichen Theologie. Er hatte gefunden, was er suchte. Und die Begeisterung für die so verstandene Bibel hielt an und beflügelte ihn auch im Predigtamt. In der ausschließlichen Konzentration auf die biblischen Texte kamen diese anders, tiefer zur Sprache als in den Predigten der Aufklärer. In einer Zeit großer politischer Veränderungen und Unsicherheiten, der Französischen Revolution, des Aufstiegs und der Machtentfaltung Napoleons war die Verkündigung Menkens vom unaufhaltsamen Kommen des Reiches Gottes für Menkens zahlreiche Predigthörer und Predigthörerinnen hoffnungsvoll und tröstlich. Zweifellos: Der »kecke Griff« Menkens nach der Bibel hatte sich gelohnt für ihn selbst und für seine Gemeinde, die seine Predigten hörte und seine Schriften las. Ihm hatte sich ein Gesamtverständnis der Heiligen Schrift erschlossen, das nicht nur Exegese, sondern auch Dogmatik war und das allein der Schrift die wesentlichen dogmatischen Lehren des christlichen Glaubens entnehmen wollte. Menken hatte sich mit seiner heilsgeschichtlichen und offenbarungsgeschichtlichen Theologie eine respektable Stellung gegenüber der Macht der Aufkärung erarbeitet. Seine Wirkungsgeschichte zeigt, dass dieser Biblizismus in Teilaspekten bis in das 20. Jahrhundert nicht nur von konservativen Theologen der Erweckungsbewegung, sondern auch von Vertretern anderer theologischer Positionen wie Albrecht Ritschl, Martin Kähler und Karl Barth rezipiert wurde wurde. Zweihundert Jahre Theologie- und Kirchengeschichte trennen uns von Menken. Mit ihm und seiner Zeit verbindet uns aber die Krise des reformatorischen Schriftprinzips, die damals begann und die bis heute anhält. Die Bibelkritik der Aufklärung ließ sich nicht mit einem radikalen Biblizismus bekämpfen, der den altprotestantischen Bibelglauben in einer heilsgeschichlichen Form »modernisieren« und retten wollte. Unaufhaltsam erfaßte die historisch-kritische Exegese die theologische Wissenschaft. Im Bemühen, den Eigensinn der biblischen Texte zu ermitteln, ohne dogmatisches Vorurteil, tat sich der historische Graben auf, der uns von der Welt und Zeit der biblischen Texte trennt. Die Entdeckung einer von Gott gefügten »heiligen Geschichte« in der Bibel erwies sich unter den unbestechlichen Augen der historischen Kritik als eine dogmatische Konstruktion. Die Multipluralität der Texte und ihrer theologi-

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schen Aussagen zerstörte den Glauben an die Einheit der Schrift und erschütterte die Lehre von ihrer Klarheit. 1962 veröffentlichte Wolfhart Pannenbert einen Aufsatz mit dem Titel »Die Krise des Schriftprinzips«. Da die historisch-kritische Erforschung der Bibel die Einheit der Testamente für sich und die Einheit von Altem und Neuem Testament in Frage stellte, entstand der Wunsch, das Gemeinsame im innerbiblischen Pluralismus zu finden und stärker zu gewichten als das Trennende. So gewann das alte Projekt einer Biblischen Theologie eine neue Bedeutung.9 Es war der Alttestamentler Gerhard von Rad, von dem in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der kräftigste und wirkungsreichste Anstoß dazu ausging.10 Der Anstoß von Rads hat eine große Wirkung gehabt. Das Projekt einer »Biblischen Theologie« wurde von zahlreichen Theologen in Angriff genommen und vorangetrieben, führte aber bisher aufgrund der immensen Schwierigkeiten nicht zu Ergebnissen, die einen wissenschaftlichen Konsens ermöglichten. Die verschiedenen Voraussetzungen, exegetischen und dogmatischen Vorurteile stehen dem entgegen.11 Auch im 21. Jahrhundert hält die Krise des reformatorischen Schriftprinzips an. Nachdem die theologische Hermeneutik im vorigen Jahrhundert einen 9 Als »Biblische Theologie« begegnen zunächst Zusammenstellungen biblischer dicta probantia zu den einzelnen Loci der (reformatorischen) kirchlichen Dogmatik. Das ursprüngliche Ziel verkehrte sich aber bald in sein Gegenteil, wie es Gerhard Ebeling beschrieben hat: »Aus einer bloßen Hilfsdisziplin der Dogmatik wurde die ›Biblische Theologie‹ zu einer Konkurrenz der herrschenden Dogmatik, freilich selber auch nichts anderes als Dogmatik, aber eben biblische Dogmatik und nicht scholastische Dogmatik, eine Dogmatik also, die sich entsprechend dem Ideal der Einfalt biblischer Lehre, von dem Ballast dogmatischer Tradition befreite, zur Darlegung der christlichen Lehre auch auf die reformatorischen Bekenntnisschriften verzichten konnte und sich allein aus den rein biblischen Aussagen aufbaute.« Ebeling, Biblische Theologie, 78. 10 Von Rad beschliesst seine Theologie des Alten Testamentes im dritten Hauptteil des zweiten Bandes mit tastenden Überlegungen zu einem neuen Verständnis der Einheit von Altem und Neuem Testament, mit Bausteinen zu seiner theologischen Begründung. In der vierten Auflage des zweiten Bandes seiner Theologie des Alten Testamentes hat von Rad dem dritten Hauptteil den Abschnitt »Rückblick und Ausblick« hinzugefügt. Im Rückblick auf seine Überlegungen zum Zusammenhang der beiden Testamente schreibt von Rad: »Damit zeichnet sich aber ein noch ferneres Ziel unseres Bemühens ab, nämlich das einer ›Biblischen Theologie‹, in der der Dualismus je einer sich eigensinnig abgrenzenden Theologie des Alten und des Neuen Testamentes überwunden wäre. Wie sich eine solche Biblische Theologie dann dazustellen hätte, ist noch schwer vorstellbar. Es ist aber ermutigend, daß sie heute immer lauter gefordert wird.« 11 Die verschiedenen Entwürfe Biblischer Theologie sind von Manfred Oeming zusammengestellt und verglichen worden in seinem Buch Gesamtbiblische Theologien der Gegenwart. Das Verhältnis von ATund NT in der hermeneutischen Diskussion seit Gerhard von Rad (1985). Eine gute Übersicht gibt auch: Henning Graf Reventloh: Hauptprobleme der Biblischen Theologie im 20. Jahrhundert (1983). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein jüdisch-christliches Symposion, das vom 6. bis 12. Januar 1985 an der Uni Bern unter der Leitung von Martin Klopfenstein, Ulrich Luz, Shemaryahu Talmon und Emanuel Tov stattfand. Die Beiträge wurden unter dem Titel »Mitte der Schrift« 1987 in der Schriftreihe »Judaica et Christiana« veröffentlicht (Bd. II).

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regelrechten Boom erlebte und verschiedene neue Methoden der biblischen Exegese entstanden, ertönt heute der Ruf nach einer neuen Schriftlehre, die sich der »Unklarheit über die Klarheit der Schrift«12 stellt und die grundlegenden Fragen des Schriftverständnisses klärt.13 Menkens theologische und homiletische Leistung hat zu seiner Zeit vielen Menschen zu einer neuen Wertschätzung der Bibel geholfen. Seine heilsgeschichtliche Auslegung der biblischen Texte, besonders des verachteten Alten Testaments wurde als Glaubensstärkung in schwieriger Zeit erfahren. Die Kritik seines Biblizismus geschieht im Wissen darum, dass auch unser theologisches Bemühen unvollkommen, unfertig und fehlbar ist: theologia viatorum.

12 »Unklarheit über die Klarheit der Schrift« ist der Titel eines Aufsatzes von Rochus Leonhardt. Untertitel: »Skeptische Überlegungen zum protestantischen Schriftprinzip«. In: Berliner Theologische Zeitschrift (BThZ) Heft 2/1999. 13 Sehr eindrücklich fordert Ingolf Dalferth heute »eine Neubesinnung auf die Aufgaben einer theologischen Lehre von der Schrift«. In: Dalferth, Wirkendes Wort XVI.

Literaturverzeichnisse Die Literatur wird in den Anmerkungen unter Angabe des Autors/der Autorin, eines Kurztitels oder Kürzels (im Literaturverzeichnis kursiv) und der Seitenzahl(en) zitiert. Die Abkürzungen folgen dem Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie (TRE), hg. von Siegried Schwertner, Berlin/ New York 1994.

Schriften Gottfried Menkens Die mit * bezeichnete Literatur befindet sich im Archiv der Landeskirchlichen Bibliothek Bremen. Menken, Gottfried, Dr. theol. weil. Pastor prim. zu St. Martini in Bremen, Schriften, Vollständige Ausgabe, Bremen 1858.

Betrachtungen über das Evangelium Matthäi 1. 2. Homilien über die Geschichte des Propheten Elias Erklärung des elften Kapitels des Briefes an die Hebräer Bd. III Blicke in das Leben des Apostels Paulus und der ersten Christengemeinen Homilien über Hebräer Bd. IV Christliche Homilien. Neue Sammlung christlicher Homilien Bd. V Predigten. Homiletische Blätter Bd. VI 1. Versuch einer Anleitung zum eignen Unterricht in der Heiligen Schrift 2. Das Glaubensbekenntnis der christlichen Kirche 3. Der Messias ist gekommen (Nach 1 Joh. 5,6–12) 4. Ueber die eherne Schlange und das symbolische Verhältniß derselben zu der Person und Geschichte Jesu Christi Bd. VII 1. Dämonologie 2. Ueber Glück und Sieg der Gottlosen 3. Monarchienbild 4. Kleinere Schriften, Briefe und Lieder Bd. VIII Inhalts-, Sach- und Spruch-Verzeichniß zu Dr. Gottfried Menken‘s Schriften, entworfen und bevorwortet von Dr. C.H. Gildemeister, Bremen 1865. Bd. I Bd. II

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Literaturverzeichnisse

Menken, Gottfried, Briefe des Dr. Gottfried Menken an Henr. Nic. Achelis, hg. von Dr. C.H. Gildemeister, Bremen 1859. *Menken, Gottfried, Predigten über den Brief Pauli an die Philipper, 1812. *Menken, Gottfried, Eine Predigt, gehalten am 18. Oktober 1819 zum Besten der preussischen Veteranen 1813, hg. von Friedrich Mallet, Bremen 1863. *Menken, Gottfried, Letzte Sammlung christlicher Predigten, Köln 1847. *Menken, Gottfried, Fest-Predigten aus dem schriftlichen Nachlasse Gottfried Menken‘s: eine Jubiläumsausgabe zum hundert jährigen Geburtstage Gottfr. Menken‘s, dem 29. Mai 1868, Bremen 1868. *Menken, Gottfried, Biblische Betrachtungen, Bremen 1879. *Menken, Gottfried, Predigt über Lucas 24, 13–35. *Menken, Gottfried, Predigten Menkens

Bd. I Bd. II Bd. III Bd. IV

Predigten Menkens über verschiedene Texte Osterpredigten Adventspredigten Bei besondern Veranlassungen und an Festtag gehaltene Predigten Menkens.

*Menken, Gottfried, Predigten Menkens, zum Theil Abschriften nachgeschriebener, zum Theil Abschriften nach seinen eigenhändigen Manuskripten. *Menken, Gottfried, Vier Vorbereitungspredigten. *Menken, Gottfried, Über das Historische des Buchs Daniel: Fragmente aus 10 Predigten. *Menken, Gottfried, Predigten über den Brief des Paulus an die Thessalonicher. *Menken, Gottfried, Predigt-Fragmente. *Menken, Gottfried, Hebräer-Predigten. *Menken, Gottfried, Erinnerungen aus Menkens Predigten, gehalten in den Jahren 1811 bis 1815. *Menken, Gottfried, Fragmentarische Erinnerungen aus Menkens Predigten über die Leidensgeschichte unsers Herrn, gehalten im Jahr 1809.

Literatur zu Gottfried Menken Achelis, Ernst Christian, Gottfried Menkens Homilien in Auswahl mit Einleitung von Dr. E.Chr. Achelis, zwei Teile, in: Bibliothek theologischer Klassiker, Bd. XIII, Gotha 1888. Besch, G nter, Gottfried Menken in der Beurteilung Karl Barths, in: Hospitium Ecclesiae. Forschungen zur Bremischen Kirchen-Geschichte, Bd. XII, Bremen 1979, 169–174. Faulenbach, Heiner, Menken Gottfried in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. VII, 1998, 101. Gildemeister, Dr. Carl Hermann, Leben und Wirken des Dr. Gottfried Menken weil. Pastor Primarius zu St. Martini in Bremen, 2 Bd., Bremen 1860. Goebel, Max, Gottfried Menken, in: RE 9, 328–338.

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Literaturverzeichnisse

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Anhang Die Zeit Gottfried Menkens – chronologische Übersicht Zeiträume Biographische Daten und Schriften (kursiv) 1768–1791 29. Mai 1768 Geburt in Bremen, Vater: der Kaufmann Gootje Menken, Mutter: Wilhelmine Marie geb. Tiling, Enkelin von Friedrich Adolph Lampe Enge Beziehung Gottfrieds zum 1766 geborenen Bruder Johann Hinrich, der als »Maler Menken« bekannt wird.

Theologie- und Geistes- Politische Geschichte geschichte 1771–1775 J.S. Semler: Abhandlung von freier Untersuchung des Kanon

1772 Erste polnische Teilung

1773 J.J. Spalding: Über die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung

1774 Kindheit und Jugend in Goethe: Die Leiden des Bremen jungen Werthers Besuch des Gymnasiums Illustre 1774–1778 G.E. Lessing: Fragmente eines Ungenannten (Wolfenbütteler Fragmente) 1777 Tod J.G. Hasenkamps 1780–1783 J.G. Eichhorn: Historisch-kritische Einleitung in das Alte Testament 1781 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft

1774 Ludwig XVI. König von Frankreich

1780 Gründung der Deutschen Christentumsgesellschaft in Basel (durch Jakob Urls-Perger)

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Anhang

(Fortsetzung) Zeiträume Biographische Daten und Schriften (kursiv)

Theologie- und Geistes- Politische Geschichte geschichte 1781 Tod Gotthold Ephraim Lessings (geb. 1729) 1782/83 J.G. Herder: Vom Geist der Ebräischen Poesie 1784 Christian Krafft geboren in Duisburg 1784 J.G. Hamann: Golgatha und Scheblimini

1788 Theologiestudium in Jena

1790 Theologiestudium an der Universität Duisburg 1791 Examen – Menken als Kandidat weiter in Duisburg – Predigten im Wuppertal u. am Niederrhein

1781 Toleranzedikt Josephs II. 1783 Bremer Kaufleute beginnen mit einem direkten Transatlantikhandel mit den USA

1786 Tod Friedrichs des Großen

1788 Tod J. G. Hamanns 14. Juli 1789 Sturm auf die Bastille. Beginn der Französischen Revolution 26. August 1789 Erklärung der Menschenund Bürgerrechte durch die französische Nationalversammlung

1792–1794 Schreckensherrschaft der Jakobiner 1792–1797 Erster Koalitionskrieg

Die Zeit Gottfried Menkens – chronologische Übersicht

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(Fortsetzung) Zeiträume Biographische Daten und Schriften (kursiv)

Theologie- und Geistes- Politische Geschichte geschichte

1793–1802 1793 Vikar in Uedem bei Kleve

1793 I. Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 1793 1793 Beitrag zur Dämonolo- Die von Friedrich Nicogie oder Widerlegung der lai seit 1765 herausgegebene Rezensionszeitexegetischen Aufsätze schrift Allgemeine des Herrn Professors Grimm von einem Geist- deutsche Bibliothek erscheint unter dem Titel lichen Neue allgemeine deut1793–1796 Hilfsprediger der refor- sche Bibliothek (bis mierten Kirchgemeinde 1806). Die ADB galt als Sprachrohr der Berliner zu Frankfurt/M. Aufklärung. 1795 1795 Ueber Glück und Sieg der Tod F. A. Hasenkamps Gottlosen. Eine politische Flugschrift aus dem Jahre 1795 1797 Christliche Homilien 1799 J.G. Fichte: Atheismusstreit

1802–1831 1802 Zweiter Prediger der Gemeinde St. Pauli in Bremen-Neustadt 1802 Neue Sammlung christlicher Homilien 1802/1803 Das Monarchieenbild

1802–1861 Friedrich Julius Stahl 1802–1869 Ernst Wilhelm Hengstenberg 1803 S. Collenbuschs Tod J.G. Herders Tod

1793 Hinrichtung Ludwig XVI.

1795 Eroberung Hollands durch die Franzosen

9. November 1799 (18. Brumaire VIII) General Napoleon Bonaparte durch Staatsstreich Alleinherrscher

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Anhang

(Fortsetzung) Zeiträume Biographische Daten und Schriften (kursiv) 1804 Christliche Homilien über die Geschichte des Propheten Elias 1805/1824/1832 Versuch einer Anleitung zum eignen Unterricht in den Wahrheiten der Heiligen Schrift 1805 Etwas über Tradition und Glauben. Fragment eines grösseren Aufsatzes 1806 Heirat mit Marie Siebel aus Barmen. Trennung der Eheleute nach einigen Jahren 1811 Pastor Primarius an St. Martini – Menken gehört zu 30 einflußreichen Bürgern Bremens, die für die Ruhe in der Stadt einzustehen haben. 1813 Menken muss mit seinem Kopf für die Sicherheit des französischen Präfekten Philipp Karl Graf von Arberg haften. 18. Oktober 1815 Rede bei der Einweihung der Fahne der Bremer Wehrmänner auf dem Bremer Marktplatz am Jahrestag der Schlacht bei Leipzig

Theologie- und Geistes- Politische Geschichte geschichte 1804–1878 Johann Tobias Beck

1810–1877 Johann Christian Konrad von Hofmann

Ab 1814 Georg Gottfried Treviranus (1788–1868) zweiter Prediger an St. Martini. Treviranus gründet viele christliche Vereine und fördert die christliche Liebestätigkeit.

18. Mai 1804 Krönung Napoleons zum Kaiser der Franzosen

1811–1814 Bremen wird als Hauptstadt des D partement des Bouches du Weser integriert in den französischen Staat. 1812 Rußlandfeldzug Napoleons 1813 Völkerschlacht bei Leipzig

1814/15 Wiener Kongreß – Bürgermeister Johann Smidt erreicht, dass Bremen als souveräner Staat in den Deutschen Bund aufgenommen wird.

Die Zeit Gottfried Menkens – chronologische Übersicht

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(Fortsetzung) Zeiträume Biographische Daten und Schriften (kursiv)

1816/1826 Das Glaubensbekenntniß der christlichen Kirche nebst der nöthigen Einleitung

Theologie- und Geistes- Politische Geschichte geschichte 1814 J.H. Hasenkamps Tod 1814 Johann Gottlieb Fichtes Tod (geb. 1762) 1814 Johann Heinrich Bernhard Dräseke (1774–1849) wird dritter Prediger an St. Ansgarii bis 1832. Als Prediger der patriotischen Erweckung u. Befürworter einer kirchlichen Union ist er Menkens bedeutendster Kollege in Bremen. 1817 Christian Krafft Prediger u. Professor in Erlangen (gest. 1845 in Erlangen)

8. Juli 1821 Predigt im Festgottesdienst zur Einweihung der neu erbauten Kirche der unierten Gemeinde zu Bremen-Vegesack 1821 Erklärung des elften Kapitels des Briefes an die Hebräer 1823 Unterstützung durch den Vikaren Perthes aus 1824–1864 gesundheitlichen Carl August Auberlen Gründen 1825 Emeritierung 1825 Predigten

18. Juni 1815 Schlacht von Waterloo 1816/17 Herstellung des ersten in Deutschland von Deutschen gebauten Dampfschiffs in Bremen 1817 Wartburgfest der Burschenschaften 1819 Attentat auf August von Kotzebue durch den Burschenschaftler Karl Ludwig v. Sand 20. Sept.1819 Karlsbader Beschlüsse vom Bundestag in Frankfurt bestätigt 5. Mai 1821 Tod Napoleons auf St. Helena

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Anhang

(Fortsetzung) Zeiträume Biographische Daten und Schriften (kursiv)

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1827 Hengstenberg begründet die Evangelische Kirchenzeitung. Seit 1827 1828 Friedrich Ludwig Mallet Ehrendoktor der luth. dritter Prediger an St. Universität Dorpat Ste-phani. Mallet ist der 1828 Blicke in das Leben des führende Vertreter der Apostel Paulus und der Erweckungsbewegung ersten Christengemeinen in Bremen. 1828 Etwas über Alt und Neu in Betreff der christlichen Wahrheit und Lehre. Schreiben an einen Freund 1830 1. Juni 1831 Angriff auf Menkens Menkens Tod »Anleitung« in der Ber1831 liner Evangelischen KirHomilien über das chenzeitung neunte und zehnte Ka1831 pitel des Briefes an die Hegels Tod Hebräer nebst einem 1832 Anhang etlicher Homili- Goethes Tod en über Stellen aus dem zwölften Kapitel (Hrg. C.H. G. Hasenkamp) 1832–1880 1834 Homiletische Blätter (Hrg. C.H.G. Hasenkamp) 1858 Menkens Schriften in vollständiger Ausgabe. 7 Bde. Registerband 1865 1868

1834 Schleiermachers Tod 1854 Tod Friedrich Wilhelm Joseph Schellings (geb. 1775)

1827 Gründung Bremerhavens, nachdem Bremen vom Königreich Hannover ein Gelände an der Wesermündung erworben hatte. Wegen der fortschreitenden Versandung der Weser blieb so der Zugang zum Welthandel erhalten.

Die Zeit Gottfried Menkens – chronologische Übersicht (Fortsetzung) Zeiträume Biographische Daten und Schriften (kursiv) Briefe des Dr. Gottfried Menken an H.N. Achelis 1868 Festpredigten aus dem Nachlaß 1879 Biblische Betrachtungen

Theologie- und Geistes- Politische Geschichte geschichte

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Ausgewählte Predigten Menkens 1. Antrittspredigt in St.Martini vom 25.August 1811 über 2Kor1,24

Antrittspredigt in St. Martini vom 25. August 1811 über 2 Kor 1,24

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Ausgewählte Predigten Menkens

Antrittspredigt in St. Martini vom 25. August 1811 über 2 Kor 1,24

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Ausgewählte Predigten Menkens

Antrittspredigt in St. Martini vom 25. August 1811 über 2 Kor 1,24

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Ausgewählte Predigten Menkens

Antrittspredigt in St. Martini vom 25. August 1811 über 2 Kor 1,24

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Ausgewählte Predigten Menkens

Antrittspredigt in St. Martini vom 25. August 1811 über 2 Kor 1,24

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Ausgewählte Predigten Menkens

Antrittspredigt in St. Martini vom 25. August 1811 über 2 Kor 1,24

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Ausgewählte Predigten Menkens

Antrittspredigt in St. Martini vom 25. August 1811 über 2 Kor 1,24

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Ausgewählte Predigten Menkens

Antrittspredigt in St. Martini vom 25. August 1811 über 2 Kor 1,24

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Ausgewählte Predigten Menkens

Antrittspredigt in St. Martini vom 25. August 1811 über 2 Kor 1,24

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Ausgewählte Predigten Menkens

2. Letzte Predigt vom 6. Juni 1823 über Ps 103,14–17

Letzte Predigt vom 6. Juni 1823 über Ps 103,14–17

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Ausgewählte Predigten Menkens

Letzte Predigt vom 6. Juni 1823 über Ps 103,14–17

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Ausgewählte Predigten Menkens

Letzte Predigt vom 6. Juni 1823 über Ps 103,14–17

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Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 1. Mai 1796 über Joh 11,1–16

3. Homilie vom 1. Mai 1796 über Joh 11,1–16

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Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 1. Mai 1796 über Joh 11,1–16

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Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 1. Mai 1796 über Joh 11,1–16

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Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 1. Mai 1796 über Joh 11,1–16

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Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 1. Mai 1796 über Joh 11,1–16

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Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 1. Mai 1796 über Joh 11,1–16

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Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 24. Oktober 1819 über 2 Kön 5,1–12

4. Homilie vom 24. Oktober 1819 über 2 Kön 5,1–12

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Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 24. Oktober 1819 über 2 Kön 5,1–12

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Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 24. Oktober 1819 über 2 Kön 5,1–12

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Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 24. Oktober 1819 über 2 Kön 5,1–12

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Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 24. Oktober 1819 über 2 Kön 5,1–12

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Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 16. Juli 1797 über 2 Mose 19,3–6

5. Homilie vom 16. Juli 1797 über 2 Mose 19,3–6

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Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 16. Juli 1797 über 2 Mose 19,3–6

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Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 16. Juli 1797 über 2 Mose 19,3–6

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Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 16. Juli 1797 über 2 Mose 19,3–6

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Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 16. Juli 1797 über 2 Mose 19,3–6

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Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 16. Juli 1797 über 2 Mose 19,3–6

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470

Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 16. Juli 1797 über 2 Mose 19,3–6

471

472

Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 16. Juli 1797 über 2 Mose 19,3–6

473

474

Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 16. Juli 1797 über 2 Mose 19,3–6

475

476

Ausgewählte Predigten Menkens

6. Vorrede zu den »Christlichen Homilien über Stellen aus der Geschichte des Propheten Elias« vom 23. März 1803

Vorrede zu »Christlichen Homilien aus der Geschichte des Propheten Elias«477

478

Ausgewählte Predigten Menkens

Vorrede zu »Christlichen Homilien aus der Geschichte des Propheten Elias«479

480

Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 21. März 1813 über Hebr 11,1.2

7. Homilie vom 21. März 1813 über Hebr 11,1.2

481

482

Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 21. März 1813 über Hebr 11,1.2

483

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Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 21. März 1813 über Hebr 11,1.2

485

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Ausgewählte Predigten Menkens

Homilie vom 21. März 1813 über Hebr 11,1.2

487

488

Ausgewählte Predigten Menkens

Osterpredigt vom 28. März 1797 über Röm 14,9

8. Osterpredigt vom 28. März 1797 über Röm 14,9

489

490

Ausgewählte Predigten Menkens

Osterpredigt vom 28. März 1797 über Röm 14,9

491

492

Ausgewählte Predigten Menkens

Osterpredigt vom 28. März 1797 über Röm 14,9

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Ausgewählte Predigten Menkens

Osterpredigt vom 28. März 1797 über Röm 14,9

495

496

Ausgewählte Predigten Menkens

Osterpredigt vom 28. März 1797 über Röm 14,9

497

498

Ausgewählte Predigten Menkens

Osterpredigt vom 28. März 1797 über Röm 14,9

499

500

Ausgewählte Predigten Menkens

Osterpredigt vom 28. März 1797 über Röm 14,9

501

502

Ausgewählte Predigten Menkens

Osterpredigt vom 28. März 1797 über Röm 14,9

503

504

Ausgewählte Predigten Menkens

9. Predigt am Reformationsfest 1817 über Hebr 10,2

Predigt am Reformationsfest 1817 über Hebr 10,2

505

506

Ausgewählte Predigten Menkens

Predigt am Reformationsfest 1817 über Hebr 10,2

507

508

Ausgewählte Predigten Menkens

Predigt am Reformationsfest 1817 über Hebr 10,2

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Ausgewählte Predigten Menkens

Predigt am Reformationsfest 1817 über Hebr 10,2

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Ausgewählte Predigten Menkens

Predigt am Reformationsfest 1817 über Hebr 10,2

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Ausgewählte Predigten Menkens