Erzähldiskurs und Redepragmatik im Alten Testament: Unterwegs zu einer performativen Theologie der Bibel
 3161487729, 9783161487729, 9783161577819

Table of contents :
Cover
Titel
Vorwort
Inhalt
I. Einführung
0. Unterwegs zu einer performativen Theologie der Bibel
II. Erzählen – eine Basisform theologischer Reflexion in der hebräischen Bibel
1. Erzählen – Erzählung – Erzählgemeinschaft. Zur Rezeption von Abrahamserzählungen in der Exilsprophetie (1981)
2. Old Testament Exegesis and Linguistic Narrative Research (1986)
3. „Stark wie der Tod ist die Liebe“. Der Mensch und sein Tod in den Schriften des Alten Testaments (2001)
III. Zur erinnerungskulturellen Singulärgestalt der deuteronomistischen Tora
4. „Geschichten“ und „Geschichte“ in der hebräischen Bibel. Zur Tora-Form von Geschichtstheologie im kulturwissenschaftlichen Kontext (2005)
5. Das Schema‘ Jisra’el in Dtn 6,4 im Rahmen der Beziehungs-theologie der deuteronomistischen Tora (2000)
6. Die Weisheit der Tora (Dtn 4,5–8). Respekt und Loyalität gegenüber JHWH allein und die Befolgung seiner Gebote – ein performatives Lehren und Lernen (2003)
7. Wirtschaftliche Prosperität und Gottvergessenheit. Die theologische Dimension wirtschaftlicher Leistungskraft nach Dtn 8 (2004)
IV. Diskurspragmatik in Prophetie und Psalter
8. Jesajas Verkündigungsabsicht und Jahwes Verstockungsauftrag in Jes 6 (1981)
9. Verkündigung und Schrift bei Jesaja. Zur Entstehung der Schriftprophetie als Oppositionsliteratur im alten Israel (1983)
10. Die judäische Unheilsprophetie. Antwort auf einen Gesellschafts- und Normenwandel im Israel des 8. Jahrhunderts vor Christus (1983)
11. Die Propheten Micha und Jesaja im Spiegel von Jeremia 26 und II Regum 18–20. Zur Prophetie-Rezeption in der nachjoschijanischen Zeit (1991)
12. „Geschwiegen habe ich seit langem ... wie die Gebärende schreie ich jetzt“. Zur Komposition und Geschichtstheologie von Jes 42,14–44,23 (1989)
13. „Denn im Tod ist kein Gedenken an dich ...“ (Psalm 6,6). Der Tod des Menschen – Gottes Tod? (1988)
V. Systematische Ansatzpunkte einer performativen Theologie der Bibel
14. Systematische Elemente der Theo-logie in der Hebräischen Bibel. Das Loben Gottes – ein Kristallisationsmoment biblischer Theologie (1995)
15. Bible Reading AND Critical Thinking (2004)
16. New Relations between Systematic Theology and Exegesis and the Perspectives on Practical Theology and Ethics (2005)
Bibliographie der abgedruckten Aufsätze
Bibliographie
Namenregister
Hebräische Begriffe
Stellenregister
Sachregister

Citation preview

Forschungen zum Alten Testament Herausgegeben von Bernd Janowski (Tübingen) • Mark S. Smith (New York) Hermann Spieckermann (Göttingen)

46

Christof Hardmeier

Erzähldiskurs und Redepragmatik im Alten Testament Unterwegs zu einer performativen Theologie der Bibel

Mohr Siebeck

C H R I S T O F H A R D M E I E R , geboren 1942; Studium der Theologie, Philosophie und Literaturwissenschaft in Zürich, Tübingen und Mainz; Zweitstudium der Linguistik in Heidelberg; 1975 Promotion; 1988 Habilitation; seit 1993 Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Altes Testament in Greifswald.

ISBN 3-16-148772-9 ISSN 0940-4155 (Forschungen zum Alten Testament) Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

978-3-16-157781-9 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019 © 2005 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Guide-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Josef Spinner in Ottersweier gebunden.

Vorwort Unterwegs zu einer performativen Theologie der Bibel. Auf diesem Weg sind eine Reihe exegetischer Arbeiten entstanden, von denen hier nur ein Teil einem breiteren Publikum erneut zugänglich gemacht wird. Die Einzelstudien geben Einblick in die exegetische Praxis, von der meine Entwicklung von textempirischen und kommunikationspragmatischen Methoden stets ausgegangen und getragen war. In meinen jüngsten Veröffentlichungen dazu musste diese Praxis jedoch ganz im Hintergrund bleiben, auch wenn mir das methodische Bemühen stets nur Mittel zum Zweck gewesen war. Umso erfreulicher bietet der vorliegende Aufsatzband nun die Gelegenheit, auch diese historisch-exegetische und biblisch-theologische Seite meiner Forschungstätigkeit in ihrem inneren Zusammenhang zu präsentieren, zumal sich beide Horizonte in der hermeneutischen Grundfrage nach einem sachgemäßen Verstehen von biblischen Texten unlösbar verschränken. Bei den Aufsätzen musste eine klare Auswahl getroffen werden. Weitgehend ausgeklammert wurden Arbeiten zu Jeremia und zum deuteronomistischen Geschichtswerk. Die thematische Konzeption des Bandes wurde auf Anregung und im freundschaftlichen Gespräch mit den Herausgebern der FAT-Reihe entwickelt, insbesondere mit den Kollegen Bernd Janowski und Hermann Spieckermann, sowie mit dem Verlagslektor, Herrn Dr. Henning Ziebritzki. Ihnen gilt an dieser Stelle mein besonders herzlicher Dank. Der zentrale Fokus der Studien liegt auf dem systematisch-theologischen Aspekt der Gottesbeziehung, wie er im Reden von und im Gegenüber zu Gott in den Texten des Alten Testaments zur Sprache kommt. Nicht nur das Erzählen gehört zu diesen beziehungssprachlichen Grundformen. Auch die redepragmatische Spezifik der Mose-Tora im Deuteronomium ist ebenso konstitutiv für eine Diskurssystematik des Redens von Gott wie die Dialoge im Hiobbuch und die prophetischen Diskurse, die dem erkenntnispraktischen Realismus und einer situationsgerechten Einschätzung von Gegenwart und Zukunft coram deo verpflichtet sind. Zentral ist vor allem das Grundmodell der Dankpsalmen, in welchem der diskurssystematische Zusammenhang von Klage und Lobdank sowie von traditionsbezogenem Bekenntnis und erfahrungsgesättigter Verkündigung der Güte Gottes greifbar wird.

VI

Vorwort

Das erste Kapitel des Bandes führt in diese Grundaspekte einer performativen Theologie der Bibel ein, die in den Erzähldiskursen und der Redepragmatik der biblischen Wortüberlieferungen angelegt sind. Neben Grundproblemen menschlicher Erkenntnis- und Wahrnehmungs-Praxis kommen in den Studien stets auch geschichts- und kulturanthropologische oder wirtschafts- und gesellschaftsethische Konsequenzen in den Blick, die aus den Untersuchungen resultieren. Ausführliche Register beschließen den Band und ermöglichen es den geneigten Leserinnen und Lesern, sich auf eigene Faust im Netzwerk der einzelnen Studien und ihren Querverbindungen zu bewegen und auf diese Weise an den Suchbewegungen teilzunehmen, das biblische Denken Gottes in und an den Texten als Sprachlehre des Glaubens fassbar zu machen im Unterwegs zu einer performativen Theologie der Bibel. Ohne die Mithilfe von studentischen Hilfskräften und der Mitarbeiter an meinem Lehrstuhl wäre es nie zum Druck dieses Aufsatzbandes gekommen. Schon vor längerer Zeit begannen die Studentinnen Barbara Damaschke-Bösch, Michaela Fröhlich, Katrin Stückrath und Kathrin Weidenfelder, die eingescannten Aufsätze mit den Originalen zu vergleichen und in mühevoller Kleinarbeit zu berichtigen. Wenke Dönitz und Susanne Weise widmeten sich später mit besonderer Sorgfalt der Gesamtkorrektur und Homogenisierung der Aufatze, besorgten die Vereinheitlichung der Bibelstellen- und Literatur-Angaben und führten das Literaturverzeichnis zusammen, das von Jadwiga Mahling mit bibliothekarischer Sachkunde überprüft und vereinheitlicht wurde. Meine Sekretärin, Frau Sylke Lubs, hat den ganzen Drucklegungsprozess mit großer Umsicht koordiniert und mühte sich neben vielfältigen Schreibarbeiten vor allem mit der technischen Seite der Registererstellung mit großem Einsatz ab. Die Autoren-, Bibelstellen- und hebräischen Wortregister lagen ganz in der Verantwortung meines Assistenten, Dr. Uwe Weise, der mich auch in der zeitraubenden Erstellung des Sachwortregisters tatkräftig unterstützte. Allen meinen Hilfskräften, der Sekretärin und dem Wissenschaftlichen Mitarbeiter sowie meiner lieben Frau sei an dieser Stelle mein herzlichster Dank ausgesprochen für viel Geduld, für Ausdauer und mannigfaltige Unterstützung in beherzter Zusammenarbeit.

Greifswald im Oktober 2005

Christof Hardmeier

Inhalt Vorwort

V

I. Einführung

1

0.

Unterwegs zu einer performativen Theologie der Bibel

3

II. Erzählen - eine Basisform theologischer Reflexion in der hebräischen Bibel

33

1. Erzählen - Erzählung - Erzählgemeinschaft. Zur Rezeption von Abrahamserzählungen in der Exilsprophetie (1981) 35 2. Old Testament Exegesis and Linguistic Narrative Research (1986) ...57 3. „Stark wie der Tod ist die Liebe". Der Mensch und sein Tod in den Schriften des Alten Testaments (2001) 77

III. Zur erinnerungskulturellen Singulärgestalt der deuteronomistischen Tora „Geschichten" und „Geschichte" in der hebräischen Bibel. Zur Tora-Form von Geschichtstheologie im kulturwissenschaftlichen Kontext (2005) 5. Das Schema' Jisra 'el in Dtn 6,4 im Rahmen der Beziehungstheologie der deuteronomistischen Tora (2000) 6. Die Weisheit der Tora (Dtn 4,5-8). Respekt und Loyalität gegenüber JHWH allein und die Befolgung seiner Gebote ein performatives Lehren und Lernen (2003) 7. Wirtschaftliche Prosperität und Gottvergessenheit. Die theologische Dimension wirtschaftlicher Leistungskraft nach Dtn 8 (2004)

95

4.

IV. Diskurspragmatik in Prophetie und Psalter 8. Jesajas Verkündigungsabsicht und Jahwes Verstockungsauftrag in Jes 6 (1981) 9. Verkündigung und Schrift bei Jesaja. Zur Entstehung der Schriftprophetie als Oppositionsliteratur im alten Israel (1983)

97 123

155

185

209 211 229

Vili

Inhaltsverzeichnis

10. Die judäische Unheilsprophetie. Antwort auf einen Gesellschafts- und Normenwandel im Israel des 8. Jahrhunderts vor Christus (1983) 11. Die Propheten Micha und Jesaja im Spiegel von Jeremia 26 und II Regum 18-20. Zur Prophetie-Rezeption in der nachjoschijanischen Zeit (1991) 12. „Geschwiegen habe ich seit langem ... wie die Gebärende schreie ich jetzt". Zur Komposition und Geschichtstheologie von Jes 42,14-44,23 (1989) 13. „Denn im Tod ist kein Gedenken an dich ..." (Psalm 6,6). Der Tod des Menschen - Gottes Tod? (1988)

V. Systematische Ansatzpunkte einer performativen Theologie der Bibel

243

273

291 315

337

14. Systematische Elemente der Theo-logie in der Hebräischen Bibel. Das Loben Gottes - ein Kristallisationsmoment biblischer Theologie (1995) 15. Bible Reading AND Critical Thinking (2004) 16. New Relations between Systematic Theology and Exegesis and the Perspectives on Practical Theology and Ethics (2005)

371

Bibliographie der abgedruckten Aufsätze

383

Bibliographie

385

Namenregister

401

Hebräische Begriffe

403

Stellenregister

406

Sachregister

426

339 355

Kapitel I

Einführung

Unterwegs zu einer performativen Theologie der Bibel Einführung in den Aufsatzband Der vorliegende Aufsatzband vereinigt Arbeiten aus drei Jahrzehnten Forschungstätigkeit, die zum Teil nicht mehr oder nur schwer zugänglich sind. Sie einer geneigten Leserschaft erneut zugänglich zu machen, geht auf Anregungen der beiden Herausgeber der FAT-Reihe, Bernd Janowski und Hermann Spieckermann zurück, die mich freundschaftlich dazu ermutigt haben. Mit besonderem Dank, wenn auch mit ungebührlichen Verzögerungen, komme ich dieser Einladung nach. Aus der Gestalttheorie ist der Grundsatz bekannt, dass ein Ganzes mehr ist als die Summe seiner Teile. Eben dieses Ganze aber hat sich im Laufe meiner Forschungstätigkeit erst allmählich herausgebildet. Die Gesamtgestalt, die diese Teilarbeiten miteinander verbindet, lässt sich deshalb erst aus der Rückschau nachzeichnen, da ihr besonderes Mehr eine große Unbekannte war. Daran habe ich mich mit verschiedenen Studien über die Jahre herangetastet: unterwegs zu einer performativen Theologie der Bibel. Zur Einführung will ich das etwas erläutern.

Die Bibel als verschriftete Mündlichkeit und Basis einer performativen Theologie der Bibel Was sich mir an den verschiedensten Textbereichen der Hebräischen Bibel immer deutlicher gezeigt hat, ist etwas ganz Unscheinbares: etwas, was nicht ohne weiteres auf der Hand liegt, aber von umso größerer Tragweite zu sein scheint. Es ist der Umstand, dass die biblischen Texte - gegen alle modernen Lesegewohnheiten — trotz ihrer Schriftform ganz und gar auf Mündlichkeit angelegt sind, auf das laute Vorlesen und Gehört-Werden wie Musik. Die biblischen Schriften sind im wesentlichen verschriftete Mündlichkeit und gerade nicht das, was üblicherweise angenommen wird, die Ablösung der Mündlichkeit durch die Schrift, 1 die sich an ein Leserpublikum richtet. Vielmehr dient die Schriftlichkeit der biblischen Texte primär ihrer Wiederholung durch Vorlesen und Hören von Generation zu Generation, 1

Vgl. dazu die Differenzierungen von ASSMANN, A. UND J. 3 1998.

4

Kapitel I:

Einführung

was explizit schon aus dem Deuteronomium hervorgeht. Denn die ganze Tora des Mose wird in den Kapiteln 1-30 als Rede überliefert und nach Dtn 31,9 vornehmlich aufgeschrieben, um regelmäßig wiederholt und zu Gehör gebracht zu werden (31,10-13). In den Eröffnungen vieler Prophetenreden finden sich Höraufrufe, die ihre unmittelbare Funktion nur im Prozess des Vorlesens entfalten können, was das besonders einprägsame Beispiel von Jer 36 veranschaulicht. Auch der ganze Deuteronomismus wird nicht müde, das Hören auf die Stimme JHWHs einzuschärfen, das sich im tätigen Bewahren seiner Gebote als Segen eines gelingenden Lebens auswirkt. Dementsprechend wird für die Kehrseite des Verderbens, das die Geschichte Israels katastrophenreich durchzog, der notorische Mangel an Hörbereitschaft verantwortlich gemacht. Sind somit biblische Texte primär auf das Hören angelegt und liegt der tiefste Sinn ihrer schriftlichen Überlieferung darin, im Prozess des Hörens immer wiederholt und neu nachvollzogen zu werden, so berührt das ganz zentral auch die Art der Theologie, die in diesen Texten zur Sprache kommt. Einerseits ist sie im strengen Sinne als biblische Theologie zu bezeichnen. Andererseits ist sie aufgrund der verschrifteten Mündlichkeit der biblischen Texte von einem genuin performativen Grundzug gezeichnet. Denn diese Texte zeugen auf verschiedene Weise davon, wie sich die Menschen der Bibel in ihrer Zeit und Sprache performativ mit Gott ins Verhältnis gesetzt und coram deo ihr Leben verantwortet haben. Und sie sind aufgeschrieben und überliefert, um im hörenden Nachvollzug je neu zu einem verantwortlichen Leben vor Gott anzuleiten und in der Gewissheit seiner gütigen Zuwendung leben und sterben zu lernen. 2 Die wesentlichen beziehungssprachlichen Grundformen einer performativen Theologie finden sich in den folgenden Textbereichen der Bibel: im Gebetsvollzug der Psalmen, im Weisung gebenden Wort der Propheten und der Rechtskorpora, im narrativen Erinnern und Vergegenwärtigen der ambivalenten Geschichte mit Gott in den Geschichtswerken sowie im prophetischen und weisheitlichen Nachdenken, wie Gott in die Geschichte und in das Leben der Einzelnen hineinwirkt. In diesem Sinne ist von einer performativen Theologie der Bibel zu sprechen, die den biblischen Texten immanent ist. Als performative norma normans und maßgebende Sprachlehre des Glaubens sind diese Texte selbst der unmittelbare Ausdruck einer biblischen Beziehungstheologie coram deo. Deshalb bedarf es darüber hinaus keiner metaphysischen oder begriffsdogmatischen Metaebene, die sich auf die eine oder andere Weise Gottes Wesen und Wirken als solches zum Gegenstand macht. Denn dabei gerät Gott als primär aktuales Beziehungsgegenüber, wie es in den biblischen Texten reflektiert und angesprochen wird, vollends aus den Augen. 2

Vgl. dazu HARDMEIER 2003a, 158-161.

0. Unterwegs zu einer performativen

Theologie der Bibel

5

Stadien auf dem Weg zu einer performativen Theologie der Bibel Wort-Gottes-Theologie und Hermeneutik - die ersten Anstöße zu einer kommunikationspragmatischen Betrachtungsweise der Bibel In den vorliegenden Arbeiten sind verschiedene Stadien und Sondierungen auf dem Weg zu einer performativen Theologie der Bibel dokumentiert, der seine Anfange in meinem Theologiestudium genommen hat. Die stärksten Impulse gingen zum einen vom späten Dietrich Bonhoeffer aus: von seiner Kritik des barthianischen Offenbarungspositivismus und seinem Bemühen um eine nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe, die etsi deus non daretur - auch ohne Metaphysik auskommt. 3 Ebenso prägend wurden für mich die Wort-Gottes-Theologie Gerhard Ebelings und seine Arbeiten zum Stellenwert der Tradition und zur biblischen Hermeneutik. 4 Unbeantwortet blieb jedoch die Frage, wie und wo das stets beschworene Ereignis des Gotteswortes seine konkrete Gestalt gewinnt und wie das Sprachgeschehen des Glaubens in Forschung und Lehre konkret erfasst und vermittelt werden kann. Erste Antworten fanden sich in der Hermeneutik von Ernst Fuchs und seiner Definition von Theologie als Wissenschaft. „Theologie" nennt Fuchs „diejenige Tätigkeit, die alle auf Gottes Offenbarung bezogene menschliche Rede auf ihre Verständlichkeit prüft, indem sie zwar nicht die Wahrheit der Offenbarung selbst, wohl aber die Wahrheit der auf die Offenbarung Gottes bezogenen Aussagen oder Mitteilungen im Zusammenhang menschlichen Redens begrifflich kontrolliert und diskutiert." 5 Denn „der Inhalt von Gottes Offenbarung (will uns) in menschlicher Rede vermittelt werden", wobei „diese Vermittlung in der Bibel, zumal im Neuen Testament, in der Form historisch fassbarer Aussagen einen Ausdruck gefunden hat (biblische Grundlage des Glaubens)." 6 Deshalb „sieht sich" eine „theologische Lehre von der Offenbarung Gottes" zugleich „vor die systematische Frage nach der Mitteilbarkeit der Offenbarung und vor die historische Frage nach der ersten Mitteilung von der Offenbarung gestellt." 7 Im Blick auf diese zweite Frage, d.h. „auf die erste Mitteilung von 3 Vgl. hierzu BONHOEFFER 1998, 529-535, zugespitzt: „Der Gott, der uns in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott" (533 f.) und zur Kritik des „Offenbarungspositivismus" bei K. Barth a.a.O. 480 f. 4

EBELING

2

1 9 6 2 a , DERS.

2

1 9 6 2 b , DERS.

2

1 9 6 3 , DERS. 1 9 6 4 ; v g l . f e r n e r J Ü N G E L

1972

(=1969), 97-101 sowie zur konstitutiven Funktion und Aktualität des Traditionsprozesses HUBER 2 0 0 3 , 8 - 2 4 . 5

FUCHS

6

A.a.O., 99. A.a.O., 100, Hervorhebungen im Orig.

7

3

1963, 98.

6

Kapitel

I:

Einführung

der Offenbarung Gottes in Jesus Christus im Neuen Testament" muss dann aber „Theologie" nach Fuchs zwangsläufig „zur historischen Forschung werden". 8 Dabei hat eine „historisch forschende() Exegese" im Ergebnis eine „Sprachlehre über die Sprachbewegungen im Neuen Testament" zu erbringen, „die ... den Charakter der ganzen Hermeneutik als einer Sprachlehre des Glaubens ... bestätigen kann." 9 Ernst Fuchs' Hermeneutik hat den Weg zu einer performativen Theologie der Bibel in zweierlei Hinsicht vorbereitet. Zum einen ist es der Dynamis-Charakter der Glaubens- und Offenbarungssprache, der als Reden von Gott systematisch- wie historisch-theologisch reflektiert werden muss. Zum anderen sind es die primären biblischen Sprachzeugnisse - nach Fuchs die „Sprachbewegungen im Neuen Testament" - , die als norma normans und im Sinne des reformatorischen sola scriptum für eine Sprachlehre des Glaubens maßgebend sind. 10 Jedoch sind beide Hinsichten bei Fuchs - die normative Gebundenheit einer Sprachlehre des Glaubens an die biblischen Offenbarungszeugnisse und ihr Dynamis-Charakter - durch eine neutestamentliche und christologische Engführung bestimmt. 11 Hinzu kommen in sprachtheoretischer Hinsicht große Unscharfen, was einerseits die Kategorien und die Begrifflichkeit betrifft, in denen vom „Wort Gottes", von den „Sprachbewegungen im Neuen Testament", der Sprachlehre des Glaubens oder vom fVorlgeschehen gesprochen wird. Andererseits nimmt insbesondere Ernst Fuchs die biblischen Texte der Schrift als maßgebende Quelle und Basis einer biblisch-theologischen Hermeneutik in Anspruch, auch wenn er selbst die „Sprachbewegungen im Neuen Testament" primär an bestimmten neutestamentlichen Gattungen festmacht. 12 Neben diesen sprachtheoretischen Unscharfen weist auch das Verständnis der Verkündigung des Gottes Wortes in der Predigt „als Mitteilung von Offenbarung" 13 bei Fuchs auf sprechakttheoretische Defizite, die jedoch erst mit dem Bekannt-Werden

8

Ebd. A.a.O., 101 f., H e r v o r h e b u n g e n im Orig.; vgl. zur eigenen W e i t e r f ü h r u n g dieses hermeneutischen Ansatzes, HARDMEIER 2003a, 23-25. 10 Vgl. dazu EßELING 2 1962b, 342-347. 11 Die neutestamentliche E n g f ü h r u n g versteht sich natürlich auch daher, dass Ernst Fuchs seine H e r m e n e u t i k als N e u t e s t a m e n t i e r entwickelt hatte, Dabei war die evangelische N a c h k r i e g s - T h e o l o g i e der f ü n f z i g e r und sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts a u f g r u n d der vierten nota ecclesiae (solus Christus bzw. „was Christum treibet") auch in ihrer hermeneutischen A u f g e s c h l o s s e n h e i t ohnehin stark auf das N e u e Testament und die Christologie ausgerichtet, w ä h r e n d das Alte Testament k a u m eine Rolle spielte (vgl. exemplarisch die A u f s ä t z e in EßELING 2 1 9 6 2 b und das Stellenregister). 9

12

V g l . FUCHS 3 1 9 6 3 , 2 1 1 f f .

13

A.a.O., 99.

0. Unterwegs zu einer performativen

Theologie der Bibel

1

der Arbeiten von John L. Austin 14 präziser gefasst und überwunden werden konnten. In dieser Hinsicht weiter führten Anstöße aus der Christologie Vorlesung von Eberhard Jüngel und seiner Antrittsvorlesung im Sommersemester 1967 in Zürich. An den neutestamentlichen Christushymnen hat Jüngel den homologischen Charakter dieser Bekenntnisaussagen herausgearbeitet und machte damit die performative und kommunikationspragmatische Primärfunktion dieser Bekenntnisse deutlich, d.h. eine Textdimension, die völlig ausgeblendet bleibt, wenn man Christushymnen auf die bloße Mitteilung der Offenbarung Gottes in Jesus Christus als einer guten Nachricht reduziert. Über diese Vorlesung kam ich in Kontakt mit der Sprachphilosophie von Ludwig Wittgenstein und der Sprechakttheorie von John L. Austin, auf die sich Jüngel bezogen hatte. 15 Damit waren erste Anstöße zu einer kommunikationspragmatischen Betrachtungsweise biblischer Texte gegeben, die vorrangig das kommunikative Wie und den primären Handlungscharakter dieser Texte in den Blick nimmt. Die Hinwendung zur historischen Exegese des Alten

Testaments

Alles in allem war mein nachpropädeutisches Studium in Tübingen, Mainz und Zürich von diesen primär systematisch-theologischen und hermeneutischen Interessen an einer Theologie des Wortes Gottes geleitet, die nicht dem Offenbarungspositivismus verfallt. Angesichts der christologischen Engführung dieser Theologie konzentrierte sich mein Interesse in historisch-exegetischer Hinsicht zunächst ganz auf das Neue Testament, in welchem die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus primär zur Sprache kommt. Dabei blieb das Alte Testament als erster Teil der christlichen Bibel im Schatten und rückte für mich im Blick auf eine Theologie des Wortes Gottes erst durch die inspirierende Vorlesung und das Seminar zum Amosbuch von Hans Walter Wolff in Mainz ins Blickfeld. In den Botenworten schien mir damals einerseits die viva vox des Propheten und damit das Gotteswort am unmittelbarsten greifbar zu sein. Andererseits bestach die Möglichkeit, diese Prophetenworte in historischer und soziokultureller Hinsicht konkret auf bestimmte gesellschaftliche Konfliktsituationen („Sitz im Leben") zu beziehen und sie aus diesen nicht-sprachlichen Kontexten genauer zu verstehen. Aus der Begegnung mit Hans Walter Wolff erwuchs nach Abschluss meines Studiums das Promotionsvorhaben zu den prophetischen Weheworten, das im Herbst 1968 in Heidelberg seinen Anfang nahm. Mit der 14

AUSTIN 1962 (^deutsch 2 2002). Vgl. die erweiterte Fassung seiner Antrittsvorlesung in: JÜNGEL 1972 (=1969), 80104 und dort bes. die Auseinandersetzung mit van Buren, 85-93, der sich auf den „späten" Wittgenstein bezieht. 15

8

Kapitel I:

Einführung

Hinwendung zur historischen und literaturgeschichtlichen Erforschung der prophetischen Rede traten die systematisch-theologischen und hermeneutischen Interessen an einer Theologie des Gotteswortes ebenso in den Hintergrund wie die Beschäftigung mit dem Neuen Testament. In den Worten von Ernst Fuchs gesprochen, konzentrierte ich mich von nun an auf die „historische Frage nach den ersten Mitteilungen von der Offenbarung" 16 im Alten Testament und insbesondere in der Schriftprophetie. Damit verband sich die genuin wissenschaftliche Aufgabe, die historischen Offenbarungszeugnisse des Alten Testaments als Formen von menschlicher Rede „auf ihre Verständlichkeit" zu prüfen und „die Wahrheit" dieser „auf die Offenbarung Gottes bezogenen Aussagen oder Mitteilungen im Zusammenhang menschlichen Redens begrifflich" kontrollierbar und diskutierbar zu machen. 17 M.a.W. stand von nun an für meine ganze weitere Forschungstätigkeit das historisch-exegetische Interesse an den „Sprachbewegungen" im Alten Testament im Vordergrund. Damit verbunden blieb die theologische Frage nach den Primärformen des Wortes Gottes in der Schrift und den Wirkweisen des menschlichen Redens von Gott in seinen soziohistorischen und literaturgeschichtlichen Kontexten. 18 Die vorliegenden Studien dokumentieren verschiedene Aspekte und Ausschnitte dieser Forschungstätigkeit unterwegs zu einer biblischen Theologie, die zugleich eine systematische sein kann und muss, wie es bereits Johann Philipp Gabler vor mehr als zweihundert Jahren programmatisch formuliert hat. 19 Dass eine solche Wort-Gottes-Theologie eine performative sein muss, liegt in der Eigenart, dass sie sich primär an den „Sprachbewegungen" der beiden Testamente zu orientieren hat. Denn sie sind die maßgebenden, sprachlich fassbaren Formen, in welchen performativ zum Ausdruck kommt, wie sich die biblischen Menschen mit Gott in Beziehung gesetzt und ihr Leben und Sterben in dialogischer Verantwortung vor Gott gedeutet, ausgerichtet und bewältigt haben. Alle hier vorgelegten Studien stehen deshalb mittelbar oder unmittelbar in diesem biblisch-theologischen Gesamtrahmen. 16

FUCHS 3 1963, 100; Hervorhebung im Orig. Paraphrase in Aufnahme des Zitates ebd. 18 Vgl. dazu HARDMEIER 2004a (=1978), 13 f. In die gleiche Richtung weisend, hat auch WAGNER 1996, 25-46 die „Frage nach dem Gegenstand einer Theologie des Alten Testaments" (Zitat aus dem Titel des Beitrags) bereits 1970 wie folgt beantwortet: „Theologie des Alten Testaments sollte die ,Gottesrede' des Alten Testaments, das ,ZurSprache-Kommen Gottes' zur Darstellung bringen" (46), d.h. „aufgrund der alttestamentlichen Zeugnisse ... sagen" können, „was Gott sagt, was man von Gott sagt, was man zu Gott sagt und was man von Gott gesagt sagt" (41). 19 Vgl. dazu insg. NIEBUHR UND BÖTTRICH 2003, und die darin wieder abgedruckte Antrittsvorlesung J. P. Gablers vom 30. März 1787, a.a.O., 15-41. Vgl. zudem 17

WESTERMANN 1978, 11-21;PREUB

1991,25-30.

0. Unterwegs zu einer performativen

Methodologische

Fragen der

Theologie der Bibel

9

Gattungsforschung

Mit meinem Dissertationsvorhaben traten dann aber - gegenüber meiner hermeneutischen und systematisch-theologischen Schwerpunktbildung im Studium - verstärkt wissenschaftstheoretische und methodische Fragen in den Vordergrund. In den Worten von Ernst Fuchs ging es ja nun konzentriert um die Frage, wie „die Wahrheit der auf die Offenbarung Gottes bezogenen Aussagen oder Mitteilungen im Zusammenhang menschlichen Redens begrifflich kontrolliert und diskutiert" werden kann. Die Untersuchung der prophetischen Weheworte hatte zum Ziel, deren Gattungsspezifik und „Sitz im Leben" zu klären. Damit verbunden war die literaturgeschichtliche Frage, ob und auf welche Weise aus den Vorkommen dieser prophetischen Redeform sowohl bei Arnos als auch bei Micha und Jesaja auf eine literarische Direktbeziehung und spezifische Abhängigkeit innerhalb der judäischen Unheilsprophetie geschlossen werden kann, wie es die Arbeit von Reinhard Fey für Arnos und Jesaja nachzuweisen versucht hatte. 20 Allgemeiner formuliert, ging es um eine Fallstudie zu einer spezifischen prophetischen Redeform und damit um die Untersuchung einer bestimmten „Sprachbewegung" nicht im Neuen Testament, sondern in der alttestamentlichen Prophetie. Nicht nur Ernst Fuchs hat die sprachlichen Realisierungsformen der biblischen „Sprachbewegungen" primär in den Redeformen und Gattungen des Neuen Testaments gesucht. 21 Auch in der alttestamentlichen Exegese versprach in methodischer Hinsicht die Formgeschichte und Gattungsforschung seit Hermann Gunkel den inneralttestamentlichen „Sprachbewegungen" und ihrem „Sitz im Leben" auf die Spur zu kommen. Um die prophetischen Weheworte in einer begrifflich kontrollierten, intersubjektiv überprüfbaren und damit wissenschaftlich verantwortbaren Weise erfassen zu können, wandte ich mich zunächst dem literatur- und gattungsgeschichtlichen Ansatz von Hermann Gunkel 22 zu und konsultierte die formgeschichtlich orientierten Arbeiten zu den Weheworten. Wie in der Hermeneutik von Ernst Fuchs wurden mir alsbald auch bei diesem gattungsgeschichtlichen Ansatz große Unscharfen in der Kategorienbildung und der Begrifflichkeit deutlich, mit welcher alttestamentliche Gattungsphänomene erfasst und ihren Gebrauchskontexten („Sitz im Leben") zugeordnet wurden. Generell stach eine naive Kurzschlüssigkeit ins Auge, mit welcher von typischen sprachlichen Wendungen, wie z.B. den prophetischen Weherufen, auf eine Redegattung geschlossen und diese auf

20

FEY 1963; zur paradigmatischen Auseinandersetzung mit Fey vgl. HARDMEIER 1978, 20 f. Anm. 14. 21

V g l . FUCHS 3 1 9 6 3 , 101 f. u n d 2 1 1 f f .

22

GUNKEL 1929a, 1677-1680; DERS. 1929b, 234-239; sowie GUNKEL/BEGRICH 3 1975.

10

Kapitel I:

Einführung

einen typischen Gebrauchskontext als „Sitz im Leben" zurückgeführt wurde. Nicht nur mangelte es an einer klaren Unterscheidung von Sprachform und Gattung oder an der notwendigen Differenzierung zwischen der Textgestalt einzelner Gattungsexemplare und den gemeinsamen gattungsspezifischen Merkmalen und Strukturen, die diesen Texten zugrunde liegt. Auch das Sprach- und Textverständnis selbst blieb - wie generell in der Exegese - reichlich ungeklärt, weil dem exegetischen Handwerk im Umgang mit den biblischen Texten generell jede sprach- und literaturtheoretische Grundlage fehlte, die dem Primärgegenstand „Text" gerecht wird. Die Hinwendung zur Linguistik und Allgemeinen

Sprachwissenschaft

Auf die Idee, wie diesen Defiziten abgeholfen werden kann, brachten mich nicht nur die Hinweise von Eberhard Jüngel auf die Wittgensteinsche Sprachphilosophie und die Philosophie der normalen Sprache (ordinary language) mit ihrem Kern in der Theorie der Sprechakte. Vor allem die Lektüre von James Barrs Kritik an der etymologisierenden Wortsemantik und ihrer theologischen Überhöhung in den Artikeln des Kitteischen Theologischen Wörterbuchs 23 wies einen neuen Weg in eine ganz andere, interdisziplinäre Richtung. Barr legte den Wörterbuch-Theologen eindringlich nahe, in Sachen Wortsemantik bei den Linguisten in die Schule zu gehen, wobei er sich auf das damalige Standardwerk der Semantik von St.Ulimann bezog. 24 Umgehend erarbeitete ich mir dieses Einmaleins der linguistischen Wortsemantik und machte mich über einen Aufsatz von Manfred Bierwisch mit den Grundprinzipien des französischen Strukturalismus vertraut. 25 Daran wurde mir klar, dass das wissenschaftliche Instrumentarium, um die „Sprachbewegungen" in den biblischen Schriften sachgemäß erfassen zu können, in der Linguistik und Allgemeinen Sprachwissenschaft zu suchen ist. Damit begann Anfang der 70er Jahre ein langer Umweg in meinem Dissertationsvorhaben, der im Endeffekt einem Zweitstudium der Linguistik und der Allgemeinen Sprachwissenschaft gleich kam und mit einem Zertifikat des Funkkollegs Linguistik abgeschlossen werden konnte.

23

BARR 1 9 6 5 ( = e n g l .

1961).

24

ULLMANN 1957. Barrs bis heute berechtigte Kritik am Sprachverständnis der theologischen Forschung und insbesondere der Exegese (vgl. a.a.O. 289-292) endet mit der folgenden, nach wie vor aktuellen Erwartung: „Eine stärkere Beachtung der allgemeinen Semantik, der allgemeinen linguistischen Methode in allen ihren Aspekten, und die Anwendung solcher Erkenntnisse in der Auslegung der Bibel würde wahrscheinlich für die Theologie wertvolle und gewichtige Früchte bringen" (a.a.O. 292). Diese Erwartung wurde mir ab Ende 1969 zum Leithorizont meiner weiteren Forschungstätigkeit. 25

BIERWISCH

1971

(=1966).

0. Unterwegs zu einer performativen

Theologie der Bibel

11

Von nachhaltiger Wirkung waren in dieser Umwegphase die Impulse, die von den Oberseminaren und Doktorandenkolloquien des Heidelberger Sprachwissenschaftlers Klaus Heger ausgingen. Mit außerordentlicher begrifflicher Klarheit baute Heger in diesen Jahren von den kleinsten sprachlichen Einheiten, den Monemen, her eine Wort-, Satz- und Textsemantik auf. Ausgehend vom semantischen Beitrag der Minimaleinheiten in den Flexionsformen und Wortarten, bestimmte Heger auf immer höheren Rängen der semantischen Komplexität die Semantik von Wortverbindungen, von Satzteilen und prädikativen Satzeinheiten bis hin zur Semantik von Satzfolgen und Textteilen. Jeder höhere Rang schloss die semantischen Beiträge der niedrigeren Ränge mit ein, die eine höhere Komplexitätsstufe mit konstituieren. Im Hegerschen Modell baute die Bedeutung von Sätzen und Textteilen konsequent auf den semantischen Teilbeiträgen auf, die die Satzteile, die Wortverbindungen und letztlich die sprachlichen Minimaleinheiten zur Bedeutungskonstitution einer höherrangigen Satzfolge oder Teiltexteinheit leisten. Bestechend daran war die Stringenz, mit welcher die hoch komplexe Bedeutungskonstitution von Sätzen und Textteilen konsequent auf die sprachlichen Minimaleinheiten sowie ihre Morphologie und Syntax zurückgeführt wurde, aus denen diese Sätze und Satzfolgen bestehen. Nun ließ sich das Modell zwar nicht direkt auf die Methoden und Fragestellungen einer wissenschaftlich kontrollierbaren Erhebung der „Sprachbewegungen" in den biblischen Offenbarungszeugnissen anwenden. Doch war der aszendente Denkansatz einer Satz- und Textsemantik für die Methodenentwicklung einer textempirischen Exegese von größter Bedeutung. Denn dieser Ansatz geht - wie erwähnt - konsequent von den sprachlichen Minimaleinheiten und ihren morphosyntaktischen Verknüpfungen in Texten aus und durchdenkt die Bedeutungskonstitution von Texten von den semantischen Teilbeiträgen der sprachlichen Mittel her, die in einem Text eingesetzt werden und seine Gesamtbedeutung konstituieren. Die Tatsache, dass wir zu den biblischen Offenbarungszeugnissen und ihren „Sprachbewegungen" allein über die überlieferten Texte Zugang haben, macht die besondere Relevanz einer solchen Herangehensweise klar. Denn was wir an den biblischen Texten unmittelbar beobachten können, sind allein die Sprachzeichenfolgen und ihre Formierung zu Sätzen, Satzfolgen und (Teil)texteinheiten, aus denen ihre Funktion und Bedeutung empirisch zu erschließen ist. Deshalb zeigte sich die linguistische Präzisierung von sprachlichen Minimaleinheiten im Hegerschen Modell als unverzichtbare Grundlage der Textempirie. Für ein Textverstehen, das von der physisch wahrnehmbaren Sprachgestalt der Texte ausgeht und sich im Verstehensprozess konsequent von den textförmig angelegten Zeichensequenzen leiten lässt, ist die linguistische Analyse der eingesetzten Sprach-

12

Kapitel I:

Einführung

mittel unerlässlich. Dabei müssen diese linguistischen (Minimal-)Einheiten sowohl im Blick auf ihre syntaktische Verknüpfbarkeit zu komplexeren Wort- und Satzsequenzen als auch hinsichtlich ihres semantischen Beitrags zu höherrangigen Wort-, Satz- und Teiltexteinheiten bestimmt werden. Ganz unabhängig davon stellte sich die Frage nach der semantischen Funktion von eigentümlichen Wortverbindungen von Anbeginn meines Dissertationsvorhabens auch ganz konkret. Denn herkömmlich sind die prophetischen Weherufe, d.h. die Wortverbindung von 'in mit folgendem Partizip, stets als Drohrufe übersetzt und verstanden worden: „Wehe denen, die ...". Ja, schon die Septuaginta schließt die auf diese Weise Bedrohten im Dativ an den Weheruf an. Im Hebräischen jedoch fehlt das Dativ-Äquivalent der Präposition zwischen dem Weheruf 'in und dem folgenden Partizip. Deshalb sah ich mich zu einer umfangreichen semantischen Analyse dieser Wortverbindung genötigt, die sich dann in syntaktischer Hinsicht überraschend auch als sehr komplex erwies. 26 Dabei konnte ein klares und kategorial befriedigendes Ergebnis, das die traditionelle Droh-Interpretation zu widerlegen vermochte, nur auf der Basis des linguistischen Strukturalismus und der semasiologischen Denkschulung durch Klaus Heger und seine Arbeiten erreicht werden. 27 Textempirie

und ihre computergestützten

Werkzeuge

Bei der Untersuchung von 'in mit folgendem Partizip stellte sich jedoch auch ein weiteres Grundproblem einer sprachphänomenologischen Erforschung biblischer „Sprachbewegungen": Wie kann man aus dem Korpus der hebräischen Bibel alle Vorkommen einer eigentümlichen syntaktischen Struktur als Datenbasis der Analyse gewinnen? Zwar hielt sich der Aufwand in vertretbaren Grenzen, anhand der Wortkonkordanzen die syntaktische Umgebung des Weherufs systematisch zu erheben. 28 Jedoch stellte die allgemeinere Frage nach der Wortverbindung von Interjektionen mit folgendem Partizip oder Substantiv sowie mit oder ohne die Präposition als Verbindungsglied, vor Probleme, die mit den Wortkonkordanzen nur noch schwer zu bewältigen waren. Das brachte mich bereits damals auf die Idee, ein computergestütztes Instrument der Textanalyse zu entwickeln, das in der Lage ist, alle Vorkommen einer auffälligen syntaktischen Konfiguration oder phraseologischen Wortverbindung im Korpus der hebräischen Bibel aufzusuchen. Das Projekt 29 kam allerdings nicht über die Aneignung von Programmierkenntnissen in Schulungskursen des Deutschen Rechenzentrums in Darmstadt hinaus. Denn diese Schulung machte 26 27 28 29

Vgl. HARDMEIER 1978, 154-255, bes. 154-174. Vgl. vor allem HEGER 1971; DERS. 2 1976. Vgl. die Kreuzwerttabellen bei HARDMEIER 1978, im Anhang zur Texttheorie. V g l . HARDMEIER

1970.

0. Unterwegs zu einer performativen

Theologie der Bibel

13

schnell klar, wie weit angesichts des damaligen Standes der Programmiertechnik der Weg zu einem solchen Instrument sein würde und wie enorm der Aufwand gewesen wäre, allein eine morphologisch kodierte Datenbank der hebräischen Bibel als Grundlage eines solchen Instrumentes zu erstellen. Dennoch, die Verwirklichung dieses Analyse-Instruments blieb ein integraler Bestandteil der textempirischen Methodenentwicklung und wuchs sich seit den 80er Jahren zu einem aufwändigen Seitenstrang meiner Forschungstätigkeit aus, der als Hintergrund vieler der hier vorliegenden Aufsätze eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Denn bereits am Ende der 80er Jahre verfügte ich über zunächst noch selbst programmierte Prototypen dieses Instruments, die ich auf der Basis der morphologischen Datenbank von Eep Talstra und in enger Zusammenarbeit mit ihm entwickelt habe. 3 0 Alle sprachphänomenologischen Argumente in meinen Aufsätzen beruhen seither auf ausgedehnten computergestützten Analysen von signifikanten syntaktischen und phraseologischen Eigentümlichkeiten, ohne dass ich immer explizit darauf hingewiesen habe. Jedoch findet die Palette von Aufsätzen, die aus dieser begleitenden Forschungstätigkeit hervorgegangen ist, keine Aufnahme im vorliegenden Aufsatzband. Das Wichtigste dazu ist im Handbuch zur Stuttgarter Elektronischen Studienbibel nachzulesen, 3 1 die im vergangenen Jahr auf den Markt gekommen ist, sowie im Teil IV von „Textwelten der Bibel entdecken". 3 2 Das Zweitstudium der Linguistik und die besondere Schulung durch Klaus Heger bildeten am Ende dieses Umwegs eine wesentliche Basis, im Sommer 1975 meine Dissertation fertig zu stellen. Unter dem Titel „Kritik der Formgeschichte auf texttheoretischer Basis am Beispiel der prophetischen Weheworte" mit dem Untertitel „Die prophetischen Klagerufe als Stilform der Redeeröffnung im Rahmen einer unheilsprophetischen Trauermetaphorik" reichte ich die Arbeit zur erfolgreichen Promotion bei der Heidelberger Fakultät ein. 33 Wie der Untertitel deutlich macht, konnten die prophetischen Weherufe auf dem Hintergrund einer gattungstheoretischen Begriffs- und Kategorienklärung näher als rhetorische Stilform der Redeeröffnung bestimmt werden.

30

V g l . HARDMEIER/ TALSTRA

31

V g l . HARDMEIER/ TALSTRA/ SALZMANN 2 0 0 4 .

32

1989.

Vgl. HARDMEIER 2004a, 245-319. 1978 erschienen unter dem Titel „Texttheorie und biblische Exegese. Zur rhetorischen Funktion der Trauermetaphorik in der Prophetie" (=HARDMEIER 1978). 33

14

Kapitel I:

Einführung

Text- und kommunikationstheoretische Anstöße kommunikationspragmatisches Textverständnis und Lesehermeneutik der Behutsamkeit Ein zweiter fundamentaler Impuls, der zu diesem Abschluss führte, ging jedoch über Heger hinaus von der Texttheorie von Siegfried J. Schmidt und der aufkommenden Textlinguistik in den frühen 70er Jahren aus. 34 Vor allem Schmidts systematisch durchdachte Betrachtungsweise von Texten als Produkten von sprachlichen Handlungen wurde zum zentralen Fluchtpunkt einer texttheoretischen Fundierung der Exegese. 35 Nicht nur die Übertragung der Sprechakttheorie, die in der Satzsyntax befangen war, auf die Textebene überzeugte an diesem Ansatz. Auch in der texttheoretischen Kategorienbildung ging Schmidt gerade nicht, wie sonst üblich, vom Objekt Text und seiner Sprachlichkeit aus. Vielmehr setzt sein pragmatisches Textverständnis primär bei den kommunikativen Handlungszusammenhängen an, in denen es realiter allein zur Hervorbringung und Rezeption von Texten kommt. Denn um sich zu verständigen, erzeugen Menschen stets sprachförmige Zeichenketten als Texte in der Erwartung, dass diese Zeichensequenzen im Prozess der Rezeption entsprechend abgearbeitet werden. Genauer sind Texte deshalb als Kommunikationsangebote in Form von grammatisch strukturierten und sequenziell angelegten Sprachzeichenmengen zu verstehen. Diese Angebote werden im Rezeptionsprozess dadurch eingelöst, dass ein Rezipient satzweise den sprachförmigen Anweisungen folgt. Das heißt z.B., dass sich Rezipientinnen im linearen Prozess der Textrezeption auf genau jene textexternen Größen (Zeit, Ort, Personen, Gegenstände, Sachverhalte) beziehen und genau jene Verknüpfungen dieser Größen vornehmen, wozu sie durch die Wort- und Satzsequenzen schrittweise angeleitet werden. Oder ein Rezipient sieht sich ggf. performativen Forderungen gegenüber, die in einem Text als direkte Fragen, Bitten oder Befehle an die intendierte Adressatenschaft gerichtet sind, etc. etc. Daraus resultiert des weiteren, dass Texte als Partituren der Sinnbildung zu betrachten sind, die ihre Bedeutung, ihre Funktion und Wirkung nur im Prozess der rezeptiven Aneignung gewinnen, vergleichbar mit einer Notenpartitur, die nur durch die Aufführung zur Musik wird und Menschen bewegen kann. Unabhängig von solchen Rezeptionsprozessen haben Texte deshalb keine Bedeutung und repräsentieren als solche keine irgendwie gearteten Inhalte, die man direkt an ihnen ablesen könnte. Unter dem Aspekt ihrer Sprachförmigkeit sind Texte dementsprechend auch als Prozedu-

34

SCHMIDT 2 1976 (=1973). Siehe HARDMEIER 1978, 52-153, sowie DERS. 2004a, 24-120, insb. die Grafiken 51, 76 ff., 101, 114. 35

0. Unterwegs zu einer performativen

Theologie der Bibel

15

ren zu betrachten, die als sprachliche Anweisungssequenzen den Aufbau des Textsinns im Rezeptionsprozess steuern und schrittweise die kommunikativen Absichten des Autors zur Wirkung bringen. Deshalb ist für eine biblische Hermeneutik und Sprachlehre des Glaubens das behutsam nachvollziehende Lesen der überlieferten Textprozeduren von fundamentaler Bedeutung, wenn sie im Anschluss an Ernst Fuchs die „Sprachbewegungen" in den biblischen Texten und damit das textimmanente Sprachgeschehen der biblischen Offenbarungszeugnisse wissenschaftlich kontrollierbar zu erfassen sucht. Dabei haben die genaue Beobachtung und Beschreibung, wie die überlieferten Wort-, Satz- und Teiltextsequenzen angelegt sind, und die kommunikationspragmatische Reflexion der beobachteten Textgegebenheiten ineinander zu greifen, um den Sinn, die performative Funktion und Bedeutung der Texte auf eine intersubjektiv überprüfbare Weise zu erschließen. Dieses nachvollziehende Lesen kann als Lesehermeneutik der Behutsamkeit bezeichnet werden, wie ich sie aus der kommunikationspragmatischen Betrachtungsweise der biblischen Texte abgeleitet habe. 36 Durch dieses Verfahren kann sich die Offenbarung Gottes, der in den Texten als beziehungssprachliches Gegenüber betrachtet oder angesprochen wird, in den biblischen Reden und Erzählungen selbst zeigen: und zwar im Prozess des Wortgeschehens, das in der Kommunikationspragmatik der Texte angelegt ist und im Leseprozess performativ zur Entfaltung kommt. In diesem performativen und kommunikationspragmatischen Sinne kann deshalb von der Bibel als Offenbarungsschrift und Wort Gottes gesprochen werden.

36 Vgl. H A R D M E I E R 2003a, 36-46. Diese Betrachtungsweise entspricht dem „neue(n) grammatische(n) Denken", das D A L F E R T H 2003 im Anschluss an F. Rosenzweig ins Spiel bringt, um „Gottes einmalige Einheit und einzigartige Einmaligkeit" erfassen zu können (546, Hervorhebung i. O.). „Ein solches ... Denken konstruiert seine Gegenstände nicht in zeitlosen Begriffsrelationen und logischen Verhältnissen, sondern denkt in Zeit- und Adressatenbezügen in Diskurshorizonten. Es ... sagt nicht nur einen Satz, sondern verknüpft jeden Satz mit weiteren in Diskursverläufen, denkt das Singulare also, indem es dem Vorgang des Redens vom Singulären nachdenkt" (ebd., Hervorhebung i. O.). Für Dalferth ist es deshalb entscheidend, „wie von Gott geredet und weitergeredet und was von Gott gesagt und gedacht wird", denn „darauf vor allem heben die religiösen Traditionen des Judentums, des Christentums und des Islams ab" (a.a.O. 547). Dabei manifestieren sich für (reformatorische) Christen in den biblischen Texten als norma normans jene maßgebenden Denkformen, in denen die Singularität Gottes stets nur „metaphorisch oder narrativ zur Sprache komm(t) und bedacht werden" muss (a.a.O. 546). Eine Lesehermeneutik der Behutsamkeit auf kommunikationspragmatischer Basis eröffnet deshalb die Möglichkeit, dieses biblische Denken Gottes in und an den Texten selbst sichtbar zu machen und zu erfassen, so dass sie als Sprachlehre des Glaubens nachvollziehbar werden und stets aufs Neue vermittelt werden können.

16

Kapitel I:

Einführung

Ferner wird mit diesem Verfahren auch das hermeneutische Postulat einer historisch forschenden Exegese eingelöst, nicht etwa nur „die erste Mitteilung von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus im Neuen Testament", 3 7 sondern die ganze Vielfalt von „Sprachbewegungen" in begrifflich kontrollierter Weise zu erfassen, die in den biblischen Texten beider Testamente performativ angelegt sind. Denn diese Texte sind als solche die maßgebenden Partituren beziehungstheologischer Sinnbildung. Im Sinne einer Sprachlehre des Glaubens sind sie deshalb als performative Prozeduren zu lesen, in denen sich die biblischen Menschen mit Gott in Beziehung gesetzt, ihren Lobpreis und ihre Klage vor ihn gebracht und ihr Tun und Lassen vor ihm geregelt und verantwortet haben. Dazu gehört besonders auch die erzählende Rückschau auf Beziehungserfahrungen mit Gott in der Vergangenheit. Darin werden - wie vornehmlich in den biblischen Geschichtswerken - die segen- oder fluchbringenden Formen der Gottesbeziehung zwar im Spiegel der Vergangenheit, aber primär auf die eigene Gegenwart und Zukunft hin reflektiert. Die Texttheorie von Siegfried J. Schmidt ist jedoch noch in einer weiteren Hinsicht für eine historisch forschende Exegese von großer Bedeutung. Im Modell des kommunikativen Handlungsspiels umreißt Schmidt die vielfältigen textexternen Faktoren, die die Texterzeugung zu kommunikativen Zwecken mitbestimmen und sich z.T. auch in der Sprachgestalt der erzeugten Texte niederschlagen. Auf diese Weise können aus den überlieferten Texten der Bibel im Umkehrschluss zwar oft ganz unscheinbare, aber dennoch sehr aufschlussreiche Hinweise auf die situativen Gebrauchskontexte und soziokommunikativen Hintergründe gewonnen werden, d.h. auf den „Sitz im Leben", in den die Texte eingebettet waren. 3 8 Wie im Falle der Entwicklung von computergestützten Werkzeugen der Textanalyse sind in dem vorliegenden Aufsatzband auch alle Arbeiten ausgeklammert, die sich thematisch seit Abschluss meiner Dissertation mit text-, kommunikations- und methodentheoretischen oder bibelhermeneutischen Fragen thematisch beschäftigt haben. Dieser theoretische und hermeneutische Aspekt meiner weiteren Forschungstätigkeit ist nebst jüngsten Veröffentlichungen 3 9 insbesondere in den beiden Teilbänden von „Textwelten der Bibel entdecken" festgehalten. Der erste Teilband bringt als Einführung (= Teil I) den jüngsten Stand zur Darstellung, wie ich derzeit die „Grundlagen und Verfahren einer textpragmatischen Literaturwissenschaft" sehe. Der zweite Teilband umfasst zum einen die texttheoretischen Grundlagen (Teil II), die die text- und gattungstheoretischen Teile meiner Dissertation von 1978 wiedergeben, da sie - abgesehen von späte 37

FUCHS 3 1 9 6 3 ,

38

Vgl. dazu ausführlicher HARDMEIER 2003a, 155-158.

39

S i e h e HARDMEIER 2 0 0 2 , 4 2 6 - 4 2 9 .

100.

0. Unterwegs zu einer performativen

Theologie der Bibel

17

ren Modifikationen und Weiterführungen - ihre prinzipielle Aktualität nicht eingebüßt haben. Ein weiterer Teil (III) nimmt die erzählanalytischen Grundlagen aus meiner Habilitationsschrift von 1990 auf, wie ich sie in den 80er Jahren als methodische Basis einer Modellanalyse von II Reg 18 f. entwickelt habe. Der letzte Teil (IV) vereinigt die wichtigsten Arbeiten mit einem primär methodologischen und hermeneutischen Zuschnitt, was die Computerphilologie mit einschließt. Der Ansatz einer kommunikationspragmatischen

Narratologie

Der Entwicklung einer texttheoretisch fundierten Exegese in meiner Dissertation haftete insofern eine gewisse Einseitigkeit an, als sie - was das konkrete Untersuchungsmaterial betraf - allein an prophetischen Redetexten und Gattungen erprobt und bewährt wurde. Offen blieb die Frage, ob sich die kommunikationspragmatische Betrachtungsweise auch auf Erzähltexte anwenden lässt und ob Erzähltexte genauso als Textprodukte im Rahmen aktualer kommunikativer Handlungsspiele verstanden werden können wie Redetexte. Erste Anstöße zur Beantwortung dieser Frage gingen von den Aufsätzen von Elisabeth Gülich zur „kommunikationsorientierten Erzähltextanalyse" (1976), 40 von Fritz Schütze „Zur soziologischen und linguistischen Analyse von Erzählungen" (1975) 41 und von der Gemeinschaftsarbeit von E. Gülich und Wolfgang Raible zur „makrostrukturellen Textanalyse" einer Fabel von J. Thurber (1974= 2 1979) 42 aus. Femer stand die von H. Weinrich eingeführte Unterscheidung von Tempora der erzählten und der besprochenen Welt im Hintergrund. 43 Die genannten Aufsätze eröffneten mir einerseits eine Vorstellung, wie Erzähltexte und die darin entfaltete erzählte Welt als Textprodukte gegliedert und analysiert werden können. Andererseits gewann ich eine Ahnung, wie man narrative Texte als Kommunikationsangebote verstehen kann, die in der besprechenden Welt der Erzählsituation erzeugt worden sind und ihre kommunikative Funktion primär im Handlungsspiel der Erzählrezeption haben. Einen ersten Versuch, diese Anstöße exegetisch fruchtbar zu machen, unternahm ich in einer kleinen Studie zur Gliederung und zur kommunikationspragmatischen Funktion der sog. „Denkschrift" Jesajas in Jes 6-8. 44 Die dabei gewonnenen Einsichten sind in die beiden späteren in Teil III.7 und III.9 aufgenommenen Aufsätze eingegangen, weshalb auf den Abdruck dieser Pilotstudie aus Platzgründen verzichtet worden ist.

40

GÜLICH 1 9 7 6 , 2 2 4 - 2 5 6 .

41

SCHÜTZE 1 9 7 5 , 7 - 4 1 .

42

GÜLICH/ RAIBLE 2 1 9 7 9 , 7 3 - 1 2 6 .

43

WEINRICH

44

HARDMEIER 1 9 7 9 , 3 3 - 5 4 .

2

1971.

18

Kapitel I:

Einführung

Weiterführende Impulse empfing ich aus der freundschaftlichen Zusammenarbeit und aus gemeinsamen Seminaren mit Elisabeth Gülich seit Anfang der 80er Jahre in Bielefeld. In dieser Zusammenarbeit konnte ich mich alsbald in die Grundlagen der konversationeilen Erzählanalyse einarbeiten, die von E. Gülich und anderen als neue Forschungsrichtung begründet und vorangetrieben wurde. 4 5 Die Hinwendung zur Alltagspraxis des mündlichen Erzählens eröffnete ganz neue Möglichkeiten, die Pragmatik der Erzählkommunikation kategorial zu erfassen. Maßgebend wurden für mich u.a. die Studie von Uta M. Quasthoff zum „Erzählen in Gesprächen" und das Konzept der narrativen Zugzwänge, das Werner Kallmeyer und Fritz Schütze entwickelt haben. 4 6 Von besonderem Interesse waren die sprachlichen Strategien, die als narrative Zugzwänge im Erzählprozess beim textförmigen Aufbau einer erzählten Welt eingesetzt werden und sich deshalb auch an der Sprachgestalt von Erzähltexten und an deren Gliederung beobachten lassen. Denn über die szenische Gliederung und über die Art und Weise, wie die Zugzwänge zur Detaillierung oder Kondensierung und zur Gestaltschließung in einem Erzähltext gehandhabt werden, nimmt eine Erzählerin nicht nur emotional auf vielfaltigste Weise Einfluss auf ihre Zuhörer- oder Leserschaft. Vor allem vermittelt sie über die spezifische Handhabung der Gestaltungsverfahren auch ihre kommunikativen Ziele wie z.B. das tua res agitur. Nun lässt sich die Spezifik, wie diese Gestaltungsverfahren eingesetzt werden, problemlos auch an biblischen Erzählungen beobachten: insbesondere an der Art, wie diese Texte szenisch gegliedert sind, und an den sprachlichen Mitteln, die darin zur Detaillierung, zur Kondensierung und Gestaltschließung zur Anwendung kommen. Daran lässt sich textempirisch genau erkennen, wie ein biblischer Erzähler die narrativen Gestaltungsverfahren eingesetzt hat. Aus der Spezifik dieses Einsatzes und aus dem Relief der szenischen Gliederung können nun aber des weiteren auch die erzählpragmatischen Funktionen und kommunikativen Wirkabsichten erschlossen werden, die mit dem Text in der Erzählsituation verfolgt wurden. Damit eröffnet sich auch ein methodischer Weg, die „Sprachbewegungen" und das „Wortgeschehen" in biblischen Erzähltexten genauer zu erfassen und aus ihrer Sprachgestalt die erzählkommunikativen Funktionen zu erschließen, die die Texte in den Handlungszusammenhängen ihrer Entstehung und ihres Gebrauchs gehabt haben. In der Modellstudie zu II Reg 1820 und zu den Erzählungen in Jer 37-40 habe ich diese methodische Herangehensweise entwickelt 4 7 und im ersten Teilband von „Textwelten der 45

D a z u LUCIUS-HOENE/DEPPERMANN

4 6

QUASTHOFF 1 9 8 0 ; KALLMEYER/SCHÜTZE 1 9 7 7 ,

47

Vgl. ings. HARDMEIER 1990a und DERS. 2004a, 177-243.

2002. 159-274.

0. Unterwegs zu einer performativen

Theologie der Bibel

19

Bibel entdecken" in modifizierter Form weitergeführt. 48 Damit wurde auch die Frage nach der Fruchtbarkeit und den Möglichkeiten einer kommunikationspragmatischen Betrachtungsweise von Erzähltexten, die nach meiner Dissertation offen geblieben war, erfolgreich gelöst. 49 Die Wege und Umwege in der

Zusammenfassung

Mit dieser forschungsbiographischen Rückschau habe ich die Wege und Umwege nachgezeichnet, die mich auf eine kommunikationspragmatische Betrachtungsweise der biblischen Texte gebracht und zur Entwicklung von methodischen Grundlagen einer textpragmatischen Literaturwissenschaft der Bibel geführt haben. Ihren Ausgangspunkt nahmen diese Wege bei hermeneutischen und systematisch-theologischen Fragen nach der Dynamik des Gotteswortes, nach dem Sprachgeschehen des Glaubens und nach seinen maßgebenden Quellen. Zum Ende meines Studiums spitzten sich diese Fragen auf zwei zentrale Probleme einer „historisch forschenden Exegese" zu: Wie lässt sich zum einen die Eigenart der „Sprachbewegungen" in den normativen Quellen der Testamente näher bestimmen und wie kann man zum andern die sprachliche Dynamik des biblischen Redens von und in Beziehung zu Gott auf eine methodisch kontrollierbare Weise diskutieren und erschließen, die den Kriterien wissenschaftlicher Forschung genügt? Eine Lösung dieser Fragen konnte nur auf Umwegen gefunden werden, unter Einarbeitung in die linguistische Semantik, die kommunikationspragmatische Texttheorie und die konversationeile Erzählanalyse. Daraus sind zwei Erkenntnisse gewachsen: Zum einen sind die „Sprachbewegungen" in den biblischen Texten konkret an der Kommunikationspragmatik festzumachen und können sowohl an der Sprache von Rede- als auch von Erzähltexten konkret wahrgenommen werden. Das jüngste Konzept der Textur und der Texturkomponenten 5 0 zeigt einen Weg auf, wie sich die Kommunikationspragmatik an der Sprachgestalt von Texten auch methodisch erfassen lässt. Zum andern ist klar geworden, dass sich die Kommunikationspragmatik von Texten nur im Prozess des Lesens und Hörens wirksam entfaltet. M.a.W. ist die Kommunikationspragmatik die performative Dimension von Texten, die als Sprachbewegung nur im performa48

Vgl. bes. HARDMEIER 2003a, 61-77 und 103-111. Mich selbst überraschte im Zuge dieser erzählkommunikativen Studien, mit welcher Detailgenauigkeit die historische Tendenzerzählung von II Reg 18 f. mit den methodischen Schlüsseln einer kommunikationspragmatischen Narratologie als Pamphlet enthüllt werden konnte, das die vorsichtigen Lageeinschätzungen Jeremias und Ezechiels während der Belagerung Jerusalems durch die Babylonier um 588 als Feindpropaganda denunzierte. 50 Vgl. HARDMEIER 2003a, 78-135. 49

20

Kapitel I:

Einführung

tiven Nachvollzug der sprachlichen Textsequenzen zum Tragen kommt. Ihre dynamische Wirkung bleibt an den rezeptiven Akt des Lesens oder Hörens gebunden und kann durch eine Lesehermeneutik der Behutsamkeit methodisch kontrolliert werden. 5 1 Für eine performative Theologie der Bibel heißt das zum einen, dass die Art und Weise, wie die biblischen Menschen von Gott und in Beziehung zu ihm geredet haben, an der Kommunikationspragmatik der biblischen Texte festzumachen ist. Ein Zweites muss dabei jedoch klar bleiben: die vielfaltigen Formen, wie sich die biblischen Menschen im Bekenntnis, in der Klage oder im Lobpreis mit Gott in Beziehung gesetzt und vor ihm ihr Leben verantwortet haben oder wie sie sich von ihm angesprochen wussten und Erfahrungen mit ihm erinnert und vergegenwärtigt haben, - all diese Formen entfalten ihre kommunikativen Wirkungen nur im performativen Prozess des Lesens oder Hörens. Nur im rezeptiven Nachvollzug kommt die zurecht bringende und tröstende Wirkung, die Angst entlastende und gewiss machende Kraft oder die richtende und Orientierung gebende Funktion dieser Texte zum Tragen. Deshalb ist es eine der vornehmlichsten Aufgaben der biblischen Exegese, die Kommunikationspragmatik in diesen Texten aufzudecken und an ihrer Sprachgestalt sichtbar zu machen. Auf diese Weise kann zum einen die darin bezeugte Beziehung zu Gott im Nachvollzug auch zu einer Heil bringenden und vertrauensoffenen Lebensmöglichkeit vor Gott für heutige Menschen werden. Zum andern gewinnen die biblischen Texte damit ihre primäre Funktion zurück, in ihrem performativen Nachvollzug Sprachlehre des Glaubens zu sein. Denn schon die Tora in Dtn 1,6-30,20, die von Moses aufgeschrieben wurde, war eine Lehrrede, die regelmäßig vorzulesen und zu Gehör zu bringen war, damit nach 31,13 auch die kommenden Generationen aus dem Hören lernen, in der Respektbeziehung zu Gott ihr Leben segensreich zu gestalten. 52

Einführung in die gesammelten Aufsätze Was nun aber die Aufsätze betrifft, die in diesem Band gesammelt sind, widmen sich keineswegs alle Beiträge dem Thema einer performativen Theologie, wie ich sie einführend umrissen habe. Wohl aber machen sie alle deutlich, wie die kommunikationspragmatische Betrachtungsweise, die aus biblisch-theologischem Impetus entwickelt worden ist, auch für andere Fragestellungen einer historisch forschenden Exegese aufschlussreich sein 51

Vgl. a. a. O., 30-46. Vgl. zum Kernziel der Tora, aus dem Hören den Gottesrespekt zu „lernen", neben 31,12 f. schon 4,10 und 17,19. 52

0. Unterwegs zu einer performativen

Theologie der Bibel

21

kann. Alle Aufsätze gehen in methodischer Hinsicht von diesen Grundlagen aus, die ich in meiner Dissertation gelegt habe, oder von ihren Weiterentwicklungen. Unter der Frage nach dem Wie der Kommunikation, die in den Texten als Handlungspartituren angelegt ist, können einerseits aufschlussreiche Hinweise auf die literatursoziologischen Hintergründe des Textgebrauchs gewonnen werden: z.B. auf das Trägermilieu und die bearbeiteten Konfliktverhältnisse, wie ich das an den Erzählungen in II Reg 1820 und Jer 37-40 zeigen konnte. Neben der literatursoziologischen steht andererseits die literaturgeschichtliche Relevanz des Ansatzes. Unter kommunikationspragmatischen Gesichtspunkten lässt sich auch den innerbiblischen Prozessen der Neukontextualisierung, der relecture und des actus tradendi sowie der Intertextualität innerhalb und außerhalb des Kanons sehr viel genauer auf die Spur kommen. Deshalb steht die vorliegende Aufsatzsammlung als ganze unter dem allgemeineren Titel „Erzähldiskurs und Redepragmatik im Alten Testament". Die Aufsätze sind in Gruppen unter vier übergreifenden Gesichtspunkten zusammengefasst, auch wenn es sich stets um einzelne Fallstudien handelt, die aus unterschiedlichen Anlässen angestellt worden sind und nicht konsequent aufeinander aufbauen. Die ersten vier Aufsätze (Teil II) unter der Überschrift „Erzählen - eine Basisform theologischer Reflexion in der hebräischen Bibel" zeigen ganz unterschiedliche Aspekte und Funktionen alttestamentlicher Erzähldiskurse. In der zweiten, enger gefassten Gruppe (Teil III) sind vier Arbeiten aus den letzten Jahren zusammengefasst, die verschiedene Aspekte des Toradiskurses im Deuteronomium beleuchten. Die dritte Gruppe (Teil IV) hat wie die erste eher den Charakter einer Sammlung und vereinigt Arbeiten aus verschiedenen Forschungsphasen zur „Diskurspragmatik in Prophetie und Psalter". Dazu ist anzumerken, dass hier die ganze Palette von Aufsätzen zu Jeremia und zum Jeremiabuch 53 aus Platzgründen ausgeklammert bleibt. Gleiches gilt für Arbeiten zu den Königsbüchern im Rahmen des DtrG. 54 Sie sind einem eigenen Aufsatzband vorbehalten. Die letzte Gruppe (Teil V) bildet wieder einen engeren Kreis und kehrt zum Thema der Einführung zurück. Zum Abschluss dieser Einführung sind die einzelnen Fallstudien kurz im Rahmen ihrer Gruppe und bezogen auf das Gesamtthema des Aufsatzbandes vorzustellen.

53

HARDMEIER 1990b, 301-317; DERS. 1991b, 11-42; DERS. 1995, 187-214; DERS. 1996, 3-29; DERS. 1998, 308-342; DERS. 2001b, 121-144. 54 HARDMEIER 1990C, 165-184; DERS. 2000a, 81-145 (vgl. III.5.); DERS. 2000b, 81145; DERS. 2001b, 121-144; DERS. 2003b, 223-253 (vgl. III.6.); DERS. 2005b (vgl. III.4.).

22

Kapitel I: Einführung

Die Beiträge zum Erzählen als Basisform theologischer Reflexion (II. 1-3) Der erste Aufsatz (II.l) geht von den Bezugnahmen auf Abraham und Sara in den deuterojesajanischen Ermutigungsdiskursen aus. Dabei wird zum einen die prophetische Argumentation mit den Verheißungsträgern zum narrativen Wissen über die Ureltern ins Verhältnis gesetzt, das der Prophet bei seiner Zuhörerschaft voraussetzen konnte. Zum andern wird überlegt, auf welcher Basis und in welcher Weise dieses Wissen vom vorbildlichen Vertrauen der Ureltern in die Land- und Nachkommensverheißungen in den Exilsgemeinden präsent gewesen sein könnte. Die Vermutung lautet, dass dieses Wissen durch Verheißungserzählungen vermittelt war, die in den exilischen Siedlungsgemeinschaften im Umlauf waren, wobei diese Erzählungen nicht unbedingt identisch gewesen sein müssen mit den synchron oder sogar später entstandenen Versionen der Genesis. Doch gilt das weitere Interesse des Aufsatzes nicht diesem Fall von Intertextualität. Vielmehr werden anhand dieses Fallbeispiels die Eigenart und die kommunikativen Funktionen von Erzähldiskursen erörtert und in einem dritten Teil im Anschluss an Harald Weinrich 55 Grundfragen einer „narrativen Theologie" diskutiert. Der dritte und vierte Aufsatz verdanken sich besonderen Anlässen. Den dritten Beitrag (II.2) habe ich auf Einladung von Elisabeth Gülich und Uta Quasthoff geschrieben, die ein Themenheft zur Erzählanalyse in der internationalen Zeitschrift „Poetics" konzipierten. Anhand der Kurzerzählung von Am 7,10-17 werden die Möglichkeiten ausgelotet, ob und wie das Konzept der narrativen Zugzwänge von Kallmeyer und Schütze für die alttestamentliche Erzähltextanalyse fruchtbar gemacht werden kann. Es handelt sich um eine Pilotstudie einerseits zur Relevanz der konversationellen Erzählanalyse für literatursoziologische Fragestellungen der Exegese. Andererseits ging es um die Anwendbarkeit dieser Methoden auf biblische Erzählungen, von denen wir nur die Textgestalt ohne sonstige Kontextinformationen überliefert haben. Der vierte Aufsatz (II.3) wirkt von seinem Titel her befremdlich, was seine Zuordnung zur Gruppe der Erzähldiskurse betrifft. Er geht auf einen Beitrag zur Greifswalder Ringvorlesung „Der Mensch und sein Tod" zurück, die die Theologische Fakultät im Blick auf ein Fakultätsgutachten zur Sterbebegleitung im Wintersemester 1999/2000 veranstaltet hat. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die Erzählung von II Sam 12,15-25, wie David mit dem nahenden Tod seines ersten, mit Bathseba gezeugten Sohnes umgeht. An den Erzählsequenzen und den Rollen, die die dramatis personae in der Sterbephase einnehmen, wird das ganze Geflecht von Irritationen und eigentümlichen Verhaltensweisen sichtbar gemacht, die in der 55

WEINRICH 1 9 7 3 , 3 2 9 - 3 3 4 .

fí. Unterwegs zu einer performativen

Theologie der Bibel

23

Umgebung von Sterbenden bereits in biblischen Zeiten nicht unbekannt waren. Unter der allgemeineren Frage, wie Menschen in bedrohlichen Situationen mit Unbestimmtheiten umgehen und wie Entscheidungsdilemmata auch mit dem Risiko von Fehlentscheidungen verantwortlich gelöst werden sollten, greift der Beitrag auf Gen 3 zurück. Anschließend wird anhand von Ps 90 und Cant 8,6 das Verhältnis des Menschen zum Tod als Signatur des Unverfügbaren erörtert. Der Beitrag mündet in das Plädoyer für „einen pfleglichen Umgang mit Sterben und Tod ..., der wie die Liebe vor aller Instrumentalisierung und Manipulation geschützt werden muss." Die Beiträge zur erinnerungskulturellen deuteronomistischen Tora (III.4-7)

Singulärgestalt

der

Die folgende Gruppe von vier Aufsätzen (III) nimmt geschlossen verschiedene Aspekte der erinnerungskulturellen Singulärgestalt der deuteronomistischen Tora in den Blick. Allen Beiträgen gemeinsam ist die Grundeinsicht, dass die Tora im biblischen Selbstzeugnis allein im Deuteronomium explizit definiert wird. Diese Definition erfolgt jedoch nicht im klassischen Sinne als Begriffserklärung, sondern in Form einer performativ präsentierten Lehr-Rede, die in Dtn 1,5 als „diese Tora" eingeführt und nach Abschluss in 30,20 gemäß 31,9 aufgeschrieben wird. Unter Verweis auf besondere Aspekte und Details im etwas früheren Aufsatz (III.2) und der umfangreicheren Arbeit zu II Reg 22 f.56 wird dieser Redezusammenhang im ersten Beitrag (III. 1) in den Abschnitten 3 und 4 anhand einer Graphik im Anhang zusammengefasst und hinsichtlich der rhetorischen Gesamtanlage des Redevollzugs beleuchtet. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht in der Abgrenzung und Beachtung der fünf „Horeb-Reminiszenzen" innerhalb der Tora-Rede und ihrer Funktionen. Auch dazu liefert der erste Aufsatz in der Gruppe in den Abschnitten 2 und 4 mit entsprechenden Verweisen auf frühere Arbeiten einen Überblick. Im Einzelnen jedoch verfolgen die Aufsätze unterschiedliche Ziele. Der erste Beitrag (III.4) widmet sich sowohl verschiedenen Aspekten der geschichtstheologischen Argumentation als auch der pragmatischen Funktion des geschichtlichen Erinnerns innerhalb der Tora-Rede. Sie werden anhand der Sihon-Episode von Dtn 2,26-36 und ihrer argumentativen Aufnahme in Dtn 9,1-6, an der Josua-Instruktion in 3,21 f. sowie an der Art und Weise exegetisch erhoben, wie der Tora-Diskurs narrative „Begriffe" und Abstraktionen bildet. An diese deskriptiven Befunde schließen sich biblisch theologische Grundüberlegungen zum alttestamentlichen Geschichtsdenken und zum DtrG. als Geschichts-Tora an, die in Auseinan-

56

Vgl. HARDMEIER 2 0 0 0 b , 8 1 - 1 4 5 ( = e n g l . 2 0 0 5 ) .

24

Kapitel I:

Einführung

dersetzung mit Jan Assmann und Jörn Rüsen geschichtstheoretisch und kulturanthropologisch reflektiert werden. Im zweiten Aufsatz (III.5) stehen die performativen Grundzüge der ToraRede im Mittelpunkt. Unter der Frage, wie das Sch e ma' Jisra'el in Dtn 6,4 im Rahmen der Tora-Rede zu verstehen ist, werden zunächst der Lehr- und Erinnerungsvollzug im Redeprozess und die performative Aktualisierung des Horeb-Bundes in der Moab-Versammlung exegetisch beleuchtet. Der Aufweis der redepragmatischen Gesamtanlage der Mose-Tora bildet die Folie, auf der das Sch e ma' Jisra'el näher als Bekenntnis-Aufruf in der Eröffnung der Bundes-Instruktion bestimmt werden kann. Darin werden die Angesprochenen zum Loyalitätseid gegenüber JHWH allein aufgefordert, der gemäß den wechselseitigen Verpflichtungserklärungen in Dtn 26,17-19 im Bekenntnisvollzug performativ zu leisten ist. Der dritte Aufsatz (III.6) nimmt den performativen Aspekt dieser Lehre der respektvollen Loyalitäts-Beziehung zu JHWH unter dem Gesichtspunkt der Erinnerungspädagogik auf. Das hörende Erinnern und die lebenspraktische Umsetzung der Weisungen, die bereits am Horeb ergangen sind (vgl. Dtn 5,31), werden in der Lehreröffnung von Dtn 4,5-8 als besondere Weisheit Israels vor den Völkern hervorgehoben. Einleitend wird der Tora-Begriff erörtert und seine dtr. Entfaltung in Dtn 1-30 genauer definiert. Hauptgegenstand des Beitrags ist zum einen die kommunikationspragmatische Exegese der Lehreröffnung in Dtn 4,1-8. Zum andern wird das Ganze des Lehrvollzugs in Dtn 5-30 unter erinnerungspädagogischen Gesichtspunkten als Ausdruck der performativen Weisheit der Tora umrissen. Dabei geht der Beitrag ausführlicher auf die Beziehungsmetaphorik im performativen Vertragsschluss zwischen JHWH und seinem Volk ein, die in Dtn 5-30 zum Tragen kommt. Wie schon lange bekannt, steht diese Metaphorik in einer vielschichtigen Analogie zu den Loyalitätserweisen, die in den „Vassal Treaties of Esarhaddon" 57 gefordert werden. In Auseinandersetzung mit Eckart Otto und Jan Assmann wird eine kommunikationspragmatische Analogiebildung in Anschlag gebracht, die durch die jüngste Untersuchung zur Rhetorik der VTE von Hans Ulrich Steymans 58 eine komplementäre Bestätigung findet. Der Aufsatz geht auf einen Vortrag zurück, zu dem ich im Rahmen meiner Gastprofessur in Stellenbosch auf der Jahrestagung der Old Testament Society of South Africa im September 2002 eingeladen war. Der letzte Aufsatz in der Gruppe (III. 7) umfasst eine exegetische Studie zu Dtn 8, die sich angesichts aktueller Herausforderungen durch den marktgläubigen Neoliberalismus dem Verhältnis von Religion und Wirtschaft in biblischer Perspektive widmet. Dtn 8,7-18 thematisiert die Gefah57

Vgl. u.a. TUAT 1/2, 160-176.

58

S T E Y M A N S 1995.

0. Unterwegs

zu einer performativen

Theologie

25

der Bibel

ren für die lebensdienliche JHWH-Beziehung, die in der wirtschaftlichen Prosperität lauern. Dabei kann der materielle Segen, der aus eben dieser im Lebensalltag praktizierten Gottes-Beziehung resultiert, auch verwirkt werden. Der Beitrag ordnet den Abschnitt zunächst in seine literaturgeschichtlichen Kontexte ein. Er ist als Teil der Präambel von Dtn 6-8* zum joschijanischen Verfassungsstatut zu bestimmen, das der dtr. Tora zu Grunde liegt. Die weiteren Abschnitte wenden sich den erinnerungspädagogischen und performativ-theologischen Aspekten der Gottesbeziehung in Dtn 8 zu, die ins Verhältnis gesetzt wird zum erwartbaren wirtschaftlichen Segen. Ein theologischer Ausblick kehrt zu den Anfangsfragen zurück und plädiert für eine religionskritische Hinterfragung des neoliberalen Ökonomismus im Blick auf eine Ökonomie der Nachhaltigkeit in schöpfungstheologischer und weltwirtschaftlicher Perspektive. Die Beiträge zur Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

(IV.8-13)

Die dritte Gruppe (IV) umfasst eine Reihe von Aufsätzen zur Prophetie vor allem aus den 80er-Jahren, wobei die späteren Arbeiten zu Jeremia und zum Jeremiabuch aus Platzgründen ausgeklammert sind und einem weiteren Aufsatzband vorbehalten bleiben. 59 Die Gruppe schließt mit einem Aufsatz zur Todesthematik und zur performativen Gottesbeziehung in den Psalmen, die mit dem Tod des Menschen auf dem Spiel steht (IV. 14). Der erste Aufsatz der Gruppe (IV.8) widmet sich dem paradoxen Verstockungsauftrag in Jes 6,9 f. im Rahmen des Visionsberichts und der sog. Denkschrift Jesajas von Jes 6,1-8,18. Im Hintergrund steht die allgemeinere Frage nach der Wirkintention der schriftprophetischen Unheilsverkündigung. Der Beitrag ordnet den Visionsbericht zunächst in den Rahmen von Jes 6-8 ein in Auseinandersetzung mit Odil Hannes Steck und unter Rückgriff auf die hier nicht abgedruckte Analyse von 1979. 60 Die Aporien, die die Exegese im Verständnis des Verstockungsauftrags schon immer gesehen hat, werden unter kommunikationspragmatischen Gesichtspunkten dahin aufgelöst, dass es sich um einen fiktiven, ohnehin aus der Retrospektive formulierten Auftrag handeln muss. Im Rahmen des Visionsberichts erschließt sich Jesaja damit gegenüber seinen Anhängern die verstockende Wirkung, die seine divinatorische Expertentätigkeit, 61 zu der er sich berufen sah, von Anbeginn gehabt haben muss. Der zweite Aufsatz der Gruppe (IV.9) gilt der literatursoziologischen Frage, aus welchen Veranlassungen und in welchen Milieus der altjudäischen Gesellschaft die Unheilsprophetie sich der Schrift als Medium zu 59

Vgl. Anm. 54.

60

HARDMEIER 1 9 7 9 , 3 3 - 5 4 .

61

Zu dieser viel späteren Präzisierung dessen, was man als prophetisches „Amt" und als Funktion der Unheilsprophetie zu verstehen pflegt, vgl. HARDMEIER 2001b, 121-144.

26

Kapitel I:

Einführung

bedienen begann. Auch diese Frage wird am Textzusammenhang von Jes 6-8 erörtert, zumal in Jes 8,16-18 in textpragmatischer Hinsicht eine Abschluss-Notiz vorliegt. Sie dürfte als Kolophon zu interpretieren sein und verweist damit von sich aus auf die primär schriftliche Konzipierung des Ganzen. Von der Fragestellung her stand der Beitrag als Fallstudie in engem Zusammenhang mit den beiden Tagungen des Arbeitskreises „Archäologie der literarischen Kommunikation" am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, die ich zusammen mit Jan und Aleida Assmann in den Jahren 1979 und 1980 konzipiert und organisiert habe. 62 Methodisch wird das erzählpragmatische Axiom fruchtbar gemacht, dass es sich vor allem bei autobiographischen Erzählungen wie Jes 6-8* um Diskursformen der retrospektiven Erfahrungsverarbeitung handelt, die im Spiegel der Vergangenheit dem Verstehen der eigenen Gegenwart und der Orientierung für die Zukunft dienen. Allerdings ist der Begriff der Oppositionsliteratur revisionsbedürftig, zumal spätere Studien gezeigt haben, dass es sich bei der vorexilischen Schriftprophetie um eine sehr eigentümliche Literaturbildung handelt. Denn ihre literarischen Hinterlassenschaften dürften aus der divinatorischen Expertentätigkeit der Propheten hervorgegangen sein und im Milieu der altjudäischen Führungs- und Funktionseliten kontrovers zur Diskussion gestanden haben. Sie sind deshalb angemessener als Kontroversliteratur zu bezeichnen. 63 Zudem sind beide Aufsätze zur „Denkschrift" Jesajas erst seit einigen Jahren in der Forschung eingehender rezipiert und weiterführend diskutiert worden. 64 Der dritte Aufsatz in der Gruppe (IV. 10) stellt die judäische Unheilsprophetie in den größeren Rahmen eines Gesellschafts- und Normenwandels im 8. Jh. v. Chr. und wirft einen sozio-historischen Blick auf die prophetische Verkündigung. In der prophetischen Sozialkritik wird dieser Wandel symptomatisch von seinen negativen Auswirkungen her diagnostiziert. Dabei wenden sich die Propheten mit ihrer Kritik an die verantwortlichen Führungseliten in den Hauptstädten, indem sie deren gemeinschaftswidriges Verhalten am solidaritätsethischen Grundmaßstab von „Recht und Gerechtigkeit" messen. Aus ihrer Sicht wirkt sich die Missachtung dieser Grundnorm im praktischen Herrschaftsgebaren der Führungseliten katastrophenträchtig auf das ganze Volk aus, wobei Gott selbst im Rahmen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs in diesen Auswirkungen am Werke ist und damit die Normverletzung auf seine Weise ahndet. 62

Vgl. dazu ASSMANN, A. UND J. 3 1998. Vgl. dazu HARDMEIER 2001b, 121-144, bes. 130-137; sowie DERS. 1996. 64 Vgl. dazu BLUM 1996, 547-568, bes. 552 ff.; DERS, 1997, 12-29, bes. 22 ff. u. 28 f.; HARTENSTEIN 1997, 214-223; BARTHEL 1997, 66-117; Liss 2003 passim (unter Einbeziehung weiterer Arbeiten sowie vor allem von HARDMEIER 1978). 63

0. Unterwegs zu einer performativen

Theologie der Bibel

27

Der vierte Aufsatz (IV. 11) befasst sich mit Propheten-Erzählungen der nachjoschijanischen Zeit, insbesondere mit Jer 26 und mit der Erzählung von der assyrischen Bedrohung und der Befreiung Jerusalems in II Reg 18 f.*. 65 Die Studie fragt nach dem Trägermilieu, das hinter diesen Texten steht und erschließt es aus ihrer textintern erkennbaren Erzählpragmatik. Allerdings liegt der Zweck dieser literatursoziologischen Recherchen nicht in sich selbst. Vielmehr dienen sie der Beantwortung einer übergeordneten Doppelfrage in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht. Warum schweigt einerseits das DtrG. beharrlich von den Schriftpropheten mit Ausnahme Jesajas, an dessen Tätigkeit um 701 v. Chr. in II Reg 18 f.* erinnert wird? Und warum macht sich andererseits in diversen Anspielungen im Jeremiabuch eine breite Rezeption der älteren Schriftprophetie bemerkbar, von der die explizite Bezugnahme auf Micha in Jer 26 nur das deutlichste Beispiel ist? Der Beitrag führt diese Diskrepanz auf die tiefe Spaltung innerhalb der Jerusalemer Führungsschicht in der Zeit Zidkijas zurück und auf die scharfen Kontroversen, die um die kritischen Stellungnahmen Jeremias und Ezechiels zur politischen Lage geführt wurden. Dabei haben sich beide Seiten auf unterschiedliche Weise auf Jesaja bzw. Jeremia berufen. Allerdings ist das Prophetenschweigen im DtrG. nicht unmittelbar auf diese Fraktionsgegensätze zurückzuführen. Denn das Geschichtswerk ist vermutlich komplementär und in Korrelation zum exilischen Jeremiabuch von einer Trägergruppe konzipiert worden, die gemäß Jer 44,28 (vgl. 14) aus der ägyptischen Migrantenschaft nach Juda zurückgekehrt ist (vgl. Dtn 2,16 ff.). Für sie dürften diese Fraktionsgegensätze längst verblasst gewesen sein. 66 Der fünfte Aufsatz innerhalb der Gruppe (IV. 12) verlässt mit der Hinwendung zu Deuterojesaja nicht nur den Rahmen der vorexilischen Schriftprophetie. Zugleich wird erneut der Blick auf die Grundzüge einer performativen Theologie der Bibel zurückgelenkt, d.h. im Speziellen auf die rhetorischen und beziehungssprachlichen Primäraspekte der deuterojesajanischen Verkündigung. Wie in den Aufsätzen zur deuteronomistischen Tora (III.5-8) geht der Beitrag vom allgemein biblischen Phänomen der verschrifteten Mündlichkeit aus. Auch die deuterojesajanische Schrift ist wie die Tora auf das Hören im Vorleseprozess angelegt, was im ersten Teil des Aufsatzes näher ausgeführt wird. In Anknüpfung an die Kompositionshypothese von Hans Jürgen Hermisson, der die Kohärenz der Offenbarungsschrift primär in der thematischen Logik der Sachverhaltsentfaltung sieht, sucht der Aufsatz den inneren Zusammenhang in der Kommunika65

Vgl. ausführlich HARDMEIER 1990a. Vgl. detailliertere Hinweise zu dieser noch auszuarbeitenden Hypothese neben dem Beitrag I1I.4 (=HARDMEIER 2005b) HARDMEIER 2000b, 113 ff. (bes. Anm. 57 in Auseinandersetzung mit R. Albertz). 66

28

Kapitel I: Einführung

tionspragmatik. Der Blick wird primär auf die persuasiven Ziele und die rhetorische Logik der Argumentation gerichtet, mit der der Prophet zum einen seine Adressaten vom neuen Heilshandeln JHWHs im Wirken des Kyros zu überzeugen sucht. Zugleich will er die in Blindheit Befangenen mit seiner geschichtstheologischen Argumentation zu Zeugen gewinnen, die aus dem Sehen und Erkennen der historischen Heils-Chancen ihrerseits die Geschichtsmächtigkeit JHWHs neu bezeugen und im Gotteslob zum Ausdruck bringen. In der Rückkehr zum Zion sollen die Befreiten sich zu seiner universalen Königsherrschaft bekennen, die sie in der Vergangenheit schuldhaft verkannt und unter Missachtung des Prophetenwortes zuerst als Katastrophe in Erfahrung gebracht haben. Auch in diesem Fall hat die kommunikationspragmatische Betrachtungsweise der deuterojesajanischen Offenbarungsschrift erst jüngst eine eingehendere Rezeption erfahren. 6 7 Ferner hat die Studie einen besonderen Stellenwert im Blick auf eine performative Theologie der Bibel. Denn damit konnten im wesentlichen die gleichen beziehungssprachlichen Grundstrukturen auch im prophetischen Schrifttum aufgewiesen werden, wie ich sie im folgenden Aufsatz (IV. 14) an Ps 30 beobachtet und beschrieben habe. Insofern bilden beide Aufsätze die exegetische Basis für den Versuch im übernächsten Beitrag (V.15), im gesamtbiblischen Schrifttum beziehungstheologische Grundelemente namhaft zu machen, die eine bibelimmanente diskurspragmatische Systematik des auf Gott bezogenen Redens erkennen lassen. Wie erwähnt, liefert der letzte Aufsatz in der Gruppe (IV 13) die exegetischen Grundlagen für die Diskurssystematik einer performativen Theologie der Bibel. Neben Ps 88 wird auch in den Ps 6 und 30 der Extremfall thematisiert, dass der Tod eines Menschen die Kommunikation zwischen ihm und Gott zerstört. Sowohl das Eingedenken Gottes ("DT) im menschlichen Reden als auch die Vergegenwärtigung seines Heilswirkens kommen zum Verstummen. Dieser innerbiblisch absolute Grenzfall des Redens bzw. Nicht-mehr-Redens von und in Beziehung zu Gott reizte in zweifacher Hinsicht zur exegetischen Klärung. Einerseits spitzten sich darin die systematisch-theologische Frage nach der Seinsweise Gottes und die Möglichkeit ihrer Klärung aus dem biblischen Selbstverständnis besonders zu. Zum anderen erschien es besonders aufschlussreich, die diskurspragmatische Erforschung der „Sprachbewegungen" des Wortes Gottes in den Testamenten am innerbiblischen Grenzfall des Verstummens aller gottbezogenen Rede zu messen. Von der exegetischen Klärung dieses Grenzfalls war die Gewinnung von wesentlichen beziehungssprachlichen Kategorien einer performativen Theologie der Bibel zu erwarten.

67

V g l . ALBERTZ 2 0 0 3 ,

191-209.

0. Unterwegs zu einer performativen

Theologie der Bibel

29

Mit der systematisch-theologischen Fragestellung nach den Seinsweisen Gottes wurden erstmals wieder Fragen aufgegriffen, die mich - wie oben dargestellt - seit meinem Studium nicht mehr losgelassen hatten. Insbesondere in der Frage nach einem nicht- bzw. nachmetaphysischen Gottesverständnis und einem entsprechenden Reden von und in Beziehung zu Gott versprach die Studie exegetisch fundierte Antworten. Im Aufsatz selbst werden diese Fragen jedoch nur im Hintergrund thematisiert und nebst den darin gezogenen Konsequenzen hauptsächlich in den Anmerkungen diskutiert. 68 Im Mittelpunkt steht die kommunikationspragmatische Durchdringung der Toda, die sich am Gattungsexemplar von Ps 30 als ein überraschend facettenreiches Handlungsmodell des gottbezogenen Redens und der bibelimmanenten Beziehungssprache erwiesen hat. Das Modell der Toda erweist sich als systemische Konfiguration von diskurspragmatischen Grundformen, wie in der Bibel auch im Blick auf eine Sprachlehre des Glaubens von und in Beziehung zu Gott geredet wird. Deshalb bildet es die exegetische Basis für den systematischen Entwurf einer performativen Theologie der Bibel, der im nächsten Aufsatz skizziert wird. Die Beiträge zur Systematik (V. 14-16)

einer performativen

Theologie der Bibel

Damit kommt die letzte Gruppe von Arbeiten (V) in den Blick, die abschließend das Rahmen-Thema des ganzen Aufsatzbandes unter verschiedenen Aspekten einholt. Die Beiträge fußen auf exegetischen Studien, die ihrerseits zumeist in diesem Band versammelt sind. Das gilt nicht nur für den zuletzt genannten Fall (IV. 14), sondern vor allem auch für die dritte Gruppe von Aufsätzen zur deuteronomistischen Tora (III.5-8) und die Studie zu Deuterojesaja (IV. 13). Während jedoch dort die systematisch-theologischen und kulturanthropologischen Konsequenzen eher am Rande Thema sind, stehen sie hier im Mittelpunkt. Nur für die Argumentationen mit dem Buch Hiob bleiben die Arbeiten den exegetischen Nachweis schuldig, da die erzählpragmatische Gesamtanalyse des Buches zur Veröffentlichung noch ausgearbeitet werden muss. Der erste Aufsatz der Gruppe (V.14) versucht, wie erwähnt, die beziehungssprachlichen Handlungsaspekte des gottbezogenen Redens anhand des Toda-Modells zu bestimmen und in ihrer Wechselbeziehung zueinander systematisch zu erfassen. Dabei konzentriert sich der Beitrag auf den Lobdank, der in Ps 30 den Rahmen bildet, und stellt ihn als Kristallisationsmoment und kommunikationspragmatische Klammer einer performativen Theologie in den Mittelpunkt. Im Lichte der späteren Arbeiten zur deuteronomistischen Tora (Gruppe III) sind jedoch auch der narrative As-

68

Vgl. v.a. in diesem Aufsatz die Anmerkungen 5, 6 und ab Anm. 68.

30

Kapitel I:

Einführung

pekt der Rückschau auf Not und Klage in V. 2b-4 und 7-12, der lehrhafte Aspekt der Neuvergewisserung von Glaubenswissen in Ps 30,5 f. und der Bezeugungsakt, in welchem neue Zeugenschaft entsteht, in ihrer diskurssystematischen Relevanz hervorgetreten. Die Affinitäten zum Toradiskurs und zur Erinnerungspädagogik sind ebenso überraschend wie zur Funktion der geschichtstheologischen Rückschau in der Prophetie und in den Geschichtswerken. Doch bleibt die weitere Präzisierung und systematische Durchdringung dieser Zusammenhänge der Zukunft vorbehalten, zumal der vorliegende Aufsatzband nur das Bisherige in diesem Unterwegs-Sein dokumentiert. Vor allem Bernd Janowski hat diesen performativ-theologischen Ansatz für die integrative Perspektive einer Theologie des Alten Testaments 69 ebenso fruchtbar gemacht wie das diskurspragmatische Toda-Modell für die Psalmen-Exegese. 70 Zudem kann die geneigte Leserschaft diese Zukunft anhand der vorgelegten Arbeiten ja auch selber weiterdenken und in die eigenen Hände nehmen. Das gilt vor allem fiir den Bogen, der von diesem Ansatz her auch zum Neuen Testament und zur Christologie geschlagen werden könnte. Denn es ist ja so, dass die Evangelien und die Paulusbriefe die historische Erscheinung Jesu, seine Wirksamkeit als Rabbi und seine Kreuzigung als politischer Hochverräter, wesentlich im Lichte der alttestamentlichen Schriften - vor allem Jesajas und der Psalmen - erinnert und gedeutet haben. 71 Der zweitletzte Aufsatz (V.15) geht von den exegetischen Arbeiten zur Tora aus. Er spürt der Frage nach, wie die biblischen Texte und insbesondere die Tora als performatives Medium angelegt sind, das im Rezeptionsprozess ein (selbst-)kritisches operatives Denken und Entscheiden coram deo konditioniert. Der Beitrag wurde für eine Tagung zum Thema „New Voices, New Views: Thinking about Bible Study in the Twenty-First Century" konzipiert, zu der die American Bible Society im Februar 2000 nach New York eingeladen hatte. 72 Der Beitrag behandelt von der MoseTora her die Problematik, dass sowohl missmutige Zukunftsangst als auch leichtfertige Risikobereitschaft zu gravierenden Fehleinschätzungen von Zukunfts-Chancen und entsprechenden Misserfolgen führen. Einerseits reflektiert die Kadesch-Barnea-Perikope von Dtn 1,19-46 diese Problematik als Selbsterfahrung des JHWH-Volkes in der narrativen Rückschau auf zwei gescheiterte Versuche, das Land der Väter wieder in Besitz zu nehmen, wobei diese Misserfolge ihren tiefsten Grund in der Fehlbeziehung zu JHWH haben. Andererseits bildet die Sihon-Perikope in Dtn 2,26-36 dazu 69 70 71 72

JANOWSKI 2003a, 315-350, sowie DERS. 1998, 381-420. Vgl. JANOWSKI 2003b, 201-243; DERS. 2003C, 267-312; sowie DERS. 2003d, 243 ff. Vgl. ZENGER 4 2001, 12-22 ; 27-35 u. 325 f. und weiter JANOWSKI 2003b, 397-413. Vgl. HARDMEIER 2004c, 3-56 (vgl. V.15.).

0. Unterwegs zu einer performativen

Theologie der Bibel

31

das paradigmatische Gegenstück einer narrativen Reflexion, wie auch Israels Feinde sich aufgrund von unangemessenen Fehlreaktionen in die Hand JHWHs ausgeliefert haben - ganz zum Vorteil Israels. Anhand dieser Paradigmen der Verstockung diskutiert die Mose-Tora in Dtn 9,1 ff. die beziehungstheologischen Voraussetzungen, unter denen die bevorstehende Land-In-Besitz-Nahme gelingen kann. Auf diese Weise konditioniert der performative Toradiskurs ein (selbst-)kritisch-operatives Denken, das sich durch ein hohes Maß an Zukunftsrealismus auszeichnet. In der konstitutiven Offenheit zu Gott bewahrt es vor latenter Selbstbefangenheit und Verblendung und befähigt sub specie dei dazu, Gefahren und Chancen sowie ihre Risiken und Nebenwirkungen situationsgerecht und realistisch einzuschätzen. Der letzte Aufsatz (V.16) lenkt auf der Basis einer performativen Theologie der Bibel den Blick auf das Verhältnis der biblisch-alttestamentlichen Exegese zu den anderen theologischen Disziplinen. Auch dieser Beitrag wurde für ein deutsch-amerikanisches Symposium zum Thema „Reconsidering the Bounderies Between Theological Disciplines" in Heidelberg im Herbst 2001 konzipiert. 73 Er geht von der performativen Selbstdefinition Gottes in Ex 3,14 und der Hypothese aus, dass sich in Gestalt des Tetragramm alle alttestamentlichen Textzeugnisse diesem unverfugbaren Beziehungs-Gegenüber konfrontiert sehen. Weiter umreißt der Beitrag im Blick auf die Systematische Theologie, wie in den Dialogen zwischen Hiob und seinen Freunden der Theodizee-Diskurs als unangemessenes Reden von Gott erzählerisch ad absurdum geführt wird. Ein dritter Teil befasst sich mit den beziehungstheologischen Grundlagen der Solidaritätsethik in der deuteronomistischen Tora und bezieht sich dabei auf die in der dritten Gruppe gesammelten Arbeiten. Mit diesem Überblick sind die Leserinnen und Leser eingeladen, das darin nur Angedeutete oder kurz Erwähnte in den folgenden Aufsätzen genauer nachzulesen und den Weg zu einer performativen Theologie der Bibel im kritischen und konstruktiven Gespräch gemeinsam weiterzugehen.

73

Vgl.

WELKER/SCHWEITZER

2005.

Kapitel II

Erzählen - eine Basisform theologischer Reflexion in der hebräischen Bibel

1. Erzählen - Erzählung - Erzählgemeinschaft Zur Rezeption von Abrahamserzählungen in der Exilsprophetie* (1981)

Auf Anhieb scheint es nahe zu liegen, den Zusammenhang von Erzählen Erzählung - Erzählgemeinschaft von Erzähltexten, etwa von den Abrahamserzählungen der Genesis her anzugehen. Im Text geronnenes Erzählen - ist dies nicht der unmittelbarste Reflex des Erzählvorganges selbst? Der Schein trügt. Allein schon der große Abstand zwischen einem unmittelbar erzählten mündlichen Text und den hoch verdichteten und mehrfach von späteren Generationen überarbeiteten literarischen Erzählungen der Genesis mahnt zur Vorsicht. Doch ist das eigentliche Problem nicht ein historisches Problem des Textschicksals, sondern ein grundsätzliches Problem, das Erzählungen selbst anhaftet. Erzählungen lassen uns ganz besonders im Stich, wenn wir nach der Gemeinschaft derer fragen, die sie erzählt, gehört, aufgeschrieben und überliefert haben, und wenn wir nach der Funktion fragen, die Erzählungen für die Erzählgemeinschaft - Erzähler, Hörer und Wieder-Erzähler - gehabt haben. Bezeichnenderweise teilen Erzählungen gerade nichts oder nur ganz spärlich unmittelbar etwas mit, an wen sie sich wenden und was der Erzähler mit seiner Geschichte eigentlich sagen will. Dieser Eigenart von Erzählungen und den Gründen dafür soll deshalb in unserem Beitrag von denen her nachgespürt werden, die vor rund 2500 Jahren schon Abrahamsgeschichten gehört, gekannt und sich erzählt haben. Deuterojesaja, der Heilsprophet aus der späten Exilszeit, diskutiert und argumentiert mit seinen hoffnungslosen Zeitgenossen über ihre gemeinsame Zukunft und über die neue Hoffnung, die er gesehen und verkündet hat 35 . Dabei hat der Prophet wie in anderer Weise auch Ezechiel (vgl. 33,24) auf Abraham Bezug genommen (Jes 41,8; 51,2). Von diesem Einstieg, nämlich von den selbst in Texten greifbaren Rezipien|ten von Abrahamsgeschichten her, sind für unsere Fragestellung wesentlich mehr Aufschlüsse zu erwarten. In einem zweiten Teil ist dann auf einige allge* Umgearbeiteter Vortrag, gehalten am 4. 3. 1980 an der Regionaltagung 1/80 der westfälischen Fachleiter für Evangelische Religionslehre in Haus Reineberg. 1 Sowenig die Abrahamserzählungen der Genesis gleichgesetzt werden können mit mündlichen Erzählungen, sowenig bildet die Textüberlieferung von Deuterojesaja unmittelbar mündliche Verkündigung ab. Wie immer das Verhältnis von verkündigtem und aufgezeichnetem Prophetenwort sein mag, auf alle Fälle - und darauf kommt es hier allein an - sind zumindest Kernaussagen in ihrer rhetorisch-argumentativen Grundstruktur auch noch im verschrifteten Wort greifbar.

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Reflexion

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meinere Gesichtspunkte der Eigenart des Erzählens und der Erzählung einzugehen, um in einem letzten Teil einige Konsequenzen aus der Narrativität als Mitteilungsform des Glaubens zu ziehen im Blick auf unseren Umgang mit Erzähltexten in der Exegese und im Religionsunterricht.

/ Während Abraham in Jes 41,8 als Jahwes Freund lediglich erwähnt wird, argumentiert Deuterojesaja in 51,2 f. explizit mit dem „Vater" Israels. (1) Hört auf mich, die ihr dem Heil nachjagt, die ihr Jahwe sucht!

(2)

(3)

Schaut auf den Felsen, aus dem ihr gehauen, auf die Brunnenhöhlung, aus der ihr herausgegraben seid! Schaut auf Abraham, euren Vater, und auf Sara, die euch hervorbringt! Denn als einzelnen habe ich ihn berufen, und will 2 ihn segnen und mehren. Denn Mitleid hat Jahwe mit Zion, Mitleid mit all ihren Trümmern. Er hat ihre Steppe wie Eden gemacht, und ihre Wüste wie den Garten Jahwes. Wonne und Freude wird sich in ihr finden, Dank und Liederklang.

(4) Merke auf mich, mein Volk, und schenke mir Gehör, meine Nation! Denn Weisung wird von mir ausgehen, und mein Recht wird zum Licht der Völker. (5) Im Nu ist mein Heil nahe, und meine Rettung geht aus, und meine Arme werden die Völker richten. Auf mich warten die Länder, auf meinen Arm harren sie. (6) Richtet eure Augen zum Himmel, und schaut auf die Erde drunten! Denn der Himmel löst sich auf wie Rauch, und die Erde wird lumpig wie das Kleid, und ihre Bewohner sterben wie die Heuschrecke; aber meine Rettung wird auf ewig bleiben, und mein Heil wird nicht zerbrechen, j (7) Hört auf mich, die ihr das Heil kennt, Volk, das meine Weisung in seinem Herzen trägt!

2 Wir folgen der masoretischen Punktation und lesen waw + PK gegen die alten Übersetzungen; vgl. dazu unten Anm. 5 und 6.

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1. Erzählen

- Erzählung

-

Erzählgemeinschaft

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Fürchtet euch nicht vor dem Hohn der Leute, und von ihrem Geläster laßt euch nicht mutlos machen! (8)

Denn wie das Kleid wird die Motte sie zerfressen, und wie die Wolle wird die Schabe sie zernagen; aber mein Heil wird auf ewig bleiben, und meine Rettung bis zum letzten Geschlecht.

Zunächst ist der argumentative und thematische Aufbau des Textes kurz zu erläutern. Auffallig wiederholen sich in fast beschwörender Weise verschiedene Forderungen zur Aufmerksamkeit („hören" V. 1.4.7 und „sehen" V. 6, vgl. lb). Stets werden diese Aufforderungen begründet (V. 3.4b.6b.8). Dieselbe Struktur weist auch V. lb.2 auf, gewissermaßen eingebettet in V. la.3. Während V. l a teilweise und V. 3 ganz von Jahwe in der dritten Person sprechen, sind V. 4-8 und lb.2 Gottesrede, was bei Deuterojesaja nicht ungewöhnlich ist 3 . - Thematisch stehen Heil und Rettung im Zentrum des Textes. Gleich zu Beginn werden die Adressaten das Gottesvolk (vgl. V. 1.4 und 7) im babylonischen Exil - darauf angesprochen (V. 1, vgl. 7), und in den Begründungen in V. 5.6b und 8 geht es immer wieder in neuen Bildern darum, daß das Heil nahe und ewig ist. Aber auch die Begründung in V. 3 spricht vom Heil, im Unterschied zu V. 5.6 und 8 jedoch ganz konkret von der Wiederherstellung der Gottesstadt Zion in paradiesischen Bildern. - Betrachtet man den Textabschnitt als ganzen, so wird von seinem Aufbau her folgendes deutlich: In wiederholten Aufrufen wirbt der Prophet um Vertrauen in Gottes neuen Heilswillen im Exil. Er beschwört seine Zuhörer, auf Jahwes neues, geschichtlich ganz konkret gedachtes Heilsschaffen (V. 3!) zu vertrauen; und dies trotz Spott, trotz Zweifel und Anfechtung (V. 7) 4 . Gegenüber den Abschnitten 4 f.6 und 7 f. zeigt der Eingangsteil nicht nur darin Besonderheiten, daß von Jahwe hier in dritter Person die Rede ist und | das Thema Heil konkret gedacht wird. Dieser Eingangsteil tritt auch dadurch hervor, daß hier mit derselben Argumentationsfigur (Aufmerk-

3 So findet sich z.B. in den Gottesreden Jes 41,14-16 und 17-20 ein vergleichbarer Wechsel; in V. 16 bzw. 20 spricht Jahwe von sich selbst in der dritten Person (vgl. auch 44,24-28 V. 25 f. im partizipialen Hymnenstil oder den Wechsel in 48,1 ff. ab V. 3). 4 WESTERMANNS Vorschlag, vor allem aus formgeschichtlichen Gründen Jes 51,1-8 seine Einheitlichkeit abzusprechen, überzeugt nicht. Abgesehen von der aufgewiesenen thematischen Einheitlichkeit, zwingt nichts dazu, V. 3 als „Fragment eines Lobliedes" zu isolieren (1976, 189), da die AK- und Narrativformen in V. 3a (vgl. PK in V. 3b!) der unbedingten Heilsgewißheit Ausdruck geben und das kl in V. 3a nicht in Konkurrenz zu V. 2b tritt, sondern sich wie in den folgenden Fällen (V. 4b.6a/? und 8) auf den Höraufruf in V. 1 bezieht (vgl. entsprechend V. 4.6 und 7), während V. lb.2 am Anfang ebenso wie V. 7b im Schlußteil der Einheit deren Grundstruktur (vier mit kl begründete Aufrufe) betont durchbrechen (vgl. dazu unten), was im Übersetzungstext durch entsprechendes Einrücken hervorgehoben wird.

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samkeitsforderung und Begründung, V. Ib.2) das besondere Verhältnis Jahwes zu den Adressaten eigens thematisiert wird. Um Vertrauen zu wekken, wird auf die Urahnen Israels, auf Abraham und Sara, sowie auf ihre Erwählung zurückgeblickt. Diesem zusätzlichen Element im Aufbau, das in den Mittelteilen V. 4 f. und 6 nicht begegnet, entspricht im Schlußteil (V. 7 f.) die Aufforderung zur Furchtlosigkeit (V. 7b), wobei das Verhältnis des Volkes zu Jahwe auch hier einleitend angesprochen wird (V. 7a, vgl. la!). Beide Zusatzelemente haben besonders den Beziehungsaspekt zwischen Gott und den Adressaten zum Thema und rühren an die emotionalen Grundlagen dieser Beziehung (Angstlösung in V. 7, Vertrauensweckung in V. Ib.2), wobei in V. 7b zudem konkrete Negativerfahrungen der Exulanten angesprochen werden. Betrachtet man V. Ib.2 näher, so tritt die Vertrauen stiftende Metaphorik ganz besonders hervor: Vater, starker unbeugsamer Fels uranfanglicher Abstammung; Mutter, bergende Höhlung, in Stein gehauener Mutterschoß, dem die Angesprochenen entsprungen sind. Zweimal fordert der Prophet in beschwörender Weise dazu auf, hinzuschauen, aufmerksam hinzusehen. Diese Aufforderung, auf die eigenen, sozusagen „felsenfesten" Ursprünge zu achten, wird noch einmal überboten durch den begründenden Hinweis auf Gottes große Verheißung an den Urvater Abraham in V 2b. Nicht nur sind die Urahnen der Exilsgeneration, Abraham und Sara, eine direkte Schöpfung Gottes, dem Vater des exilischen Israel ist auch gegenwärtig aktueller Segen verheißen und Mehrung zugesagt (waw + PK) 5 . Hinter der Betonung, daß Abraham als einer herausgerufen worden ist (hier AK!), steht die rhetorische Argumentationsfigur vom Kleinen zum Großen: ... um wieviel mehr also seid ihr, die Angesprochenen, die ihr viele seid, herausgerufen und als Söhne Abrahams die Erben der aktuellen Verheißung. Die Funktion der Bezugnahme speziell auf Abraham und Sara ist damit klar: Unter Verweis auf Gottes uranfängliches, am Vater Israels gewirktes Heil, ruft der Prophet zum Glauben und Vertrauen in Gottes jetziges, konkreten Segen wirkendes Heilshandeln. Im Geschick und in der uranfanglichen Geschichte von Abraham und Sara soll die Exilsgeneration ihre neue Hoffnung finden im Glauben an die aktuelle Geltung der dem Abraham gegebenen Verheißung 6 . |

5 Im masoretischen Text entgegen den Übersetzungen nicht als Narrativ punktiert; vgl. oben Anm. 2. 6 So dokumentiert gerade die lectio difficilior der Masoreten in V. 2b sehr viel genauer und klarer jenes ursprünglichere und für Oralkulturen typische Geschichtsbewußtsein, das Ursprung und Gegenwart ungeschieden zusammendenkt. Beachte auch die PK in V. laß. Andererseits wird in V. 3 das Erbarmen Jahwes mit Zion als gewisses Faktum konstatiert.

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Erzählgemeinschaft

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Im Blick auf unser Thema ist nun aber genauer nach den Voraussetzungen zu fragen, die gegeben sein müssen, daß Deuterojesajas Argumentation mit Abraham und Sara aussagekräftig und tragfähig ist gegenüber seinen Hörern und Zeitgenossen. Zwei Gesichtspunkte sind dabei wichtig: 1. Schon das doppelte „Schaut hin!" weist unmittelbar darauf, daß der Prophet auf Bekanntes verweist. Spannungsreich redet er zuerst metaphorisch vom Felsen und der Höhlung, aus der die Angesprochenen gehauen sind, und identifiziert diesen bildkräftigen Ursprung erst danach mit Abraham und Sara. Das ist nur verständlich, wenn die Adressaten wissen, wer Abraham und Sara sind und daß sie als Vater und Mutter der Exilsgeneration gelten, was sich von der eher beiläufigen Erwähnung in 41,8 her: „Israel ... Same Abrahams, meines Freundes" voll bestätigt. Dasselbe gilt für die Begründung seiner Aufforderung in V. 2b. Daß Abraham als einer berufen wurde, muß bekannt sein, wenn Deuterojesajas Begründung stichhaltig sein soll. Einen Beleg dafür haben wir bei Ezechiel, wo in einem ganz anderen Argumentationszusammenhang in 33,24 genauso auf die Berufung Abrahams als des Einen Bezug genommen wird. Auch mit der Segens- und Mehrungsverheißung an Abraham ruft Deuterojesaja nur Geläufiges in Erinnerung und braucht es in seinem Kontext als begründendes Argument. 2. Da nun aber weder Abraham noch Sara als Zeitgenossen der Exilsgenerationen bekannt waren, wird eine weitere Voraussetzung von Deuterojesajas Argumentationsweise deutlich: Abraham und Sara können nur als erzählte Gestalten bekannt gewesen sein, als Personen, die wohl in verschiedenen umlaufenden Erzählungen für die Zeitgenossen Deuterojesajas ihr ganz bestimmtes Profil gehabt haben 7 . |

7 Ist es für DUHM eine Selbstverständlichkeit, „daß Dtjes. den Jahwisten viel gelesen hat (Gen 12)" (1968, 383), so ist angesichts der jüngsten Diskussion um den „Jahwisten" Vorsicht am Platze (vgl. SCHMID 1976, bes. 119-153 und 163 sowie VAN SETERS 1975). Auch wenn den Abrahamserzählungen der Genesis z. T. vorexilische Erzählkerne zugrunde liegen können, muß ihre vorliegende, auf das Segens- und Verheißungsthema ausgerichtete ,jahwistische" Komposition keineswegs zwingend eine Vorlage für Deuterojesaja gewesen sein. Besonders van Seters weist wiederholt auf die große Nähe der „jahwistischen" Gestaltung der Abrahamsüberlieferung zu Deuterojesaja hin: „The promises to the fathers ... can best be understood as a response to the needs of the late exilic period. The whole orientation is similar to that of Deutero-Isaiah, and it was at this time that Abraham tradition was taken up and given its present basic shape as the fundamental unifying identity for the people of,Israel', on the treshold of the restoration" (a.a.O. 278, vgl. 264-269.275 f. und 311). Auch wenn diese Zusammenhänge noch keineswegs hinreichend geklärt sind, müssen wir damit rechnen, daß die uns vorliegende Komposition von Abrahamserzählungen in der Genesis durchaus gleichzeitig und gleichursprünglich mit Deuterojesajas Bezugnahme auf die Abrahamsgestalt ihre heutige Ausformung gewonnen hat, wenn nicht sogar | unter seinem Einfluß. Auf alle Fälle ist es weder zwingend noch

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Damit sind wir zum einen bei dem zentralen Unterschied zwischen einer argumentierenden Rede, wie sie uns bei Deuterojesaja vorliegt, und einer oder mehrerer Erzählungen über Abraham und Sara, die Deuterojesajas Argumentation voraussetzt. Zugleich aber markiert dieser Unterschied den unlösbaren, wenn auch indirekten Zusammenhang zwischen einer Erzählung - z.B. über Abraham oder Sara - und der Funktion einer solchen Erzählung für den Erzähler und seine Hörer 8 . Deuterojesaja greift in seiner Argumentation auf Erzähltes zurück und bringt die für ihn relevante Funktion dieser Erzählung(en) ins Gespräch. Von Abraham und Sara als den Urahnen Israels erzählen, heißt für den Propheten, dem hoffnungslosen Israel im Exil seine eigene, noch nicht eingelöste Verheißung und Zukunft zu erzählen. An diesem zuletzt genannten Zusammenhang zwischen Erzählung und ihrer Funktion für den Erzähler und seine Hörer bleibt zunächst hervorzuheben, daß es sich grundsätzlich um einen indirekten Zusammenhang handelt. Wir haben zwar jetzt bei Deuterojesaja skizzenhaft die Funktion der von ihm vorausgesetzten Abrahamsgeschichten kennen gelernt, aber wir kennen die Erzählungen im einzelnen nicht, auf die er sich bezieht. Bereits aus den in Anm. 7 genannten Gründen ist es wenig wahrscheinlich, daß Deuterojesaja auf Einzelerzählungen von Abraham in der Genesis zurückgreift, wie sie uns in ihrem Wortlaut überliefert sind. Denn gerade das Verheißungsthema, das in Jes 51,2 ganz im Vordergrund steht, ist kein integrales Thema der Genesiserzählungen; vielmehr gehört es „ganz überwiegend dem Stadium des Zusammenfügens der alten Erzählungen zu größeren Einheiten an 9 " und macht die spezifisch theologische Interpretation dieser Erzählungen aus 10 . Dabei fallt besonders auf, daß Deuterojesaja speziell die Verheißungsmotive des Segens | und der Mehrung mit Abraham verbindet, die in der Genesis - relativ betrachtet - ein überlieferungsgeschichtlich „spätes" Stadium darstellen und darüber hinaus gerade in dieser Verbindung von Segen und Mehrung besonders typisch sind für die priesterschriftliche Schicht (vgl. bes. Gen 28,3 11 ), die historisch jedoch selbstverständlich, daß Deuterojesaja auf einen Abraham Bezug genommen hat, wie er uns in Gen 12-25 als erzählte Gestalt überliefert ist. 8 Zur Funktion von Erzählungen vgl. SCHÜTZE 1976, bes. 12 und 22 sowie GÜLICH 1976, bes. 230-232. 9 So WESTERMANN 1964b, 33; nur in Gen 18 ist die Sohnesverheißung an Abraham (in Gen 16 an Hagar) integraler Bestandteil der Erzählung, während die Segens- und Mehrungsverheißungen nirgends in den Abrahamserzählungen ursprünglich verankert sind; vgl. a.a.O. 32 f. sowie RENDTORFF 1977, 37-40 und SCHMID 1976, 119 f. und 127 ff. 10

11

V g l . RENDTORFF 1 9 7 7 , 9 5 .

Sind bereits die vorpriesterlichen Verheißungen in den Patriarchenerzählungen „den Einzelerzählungen ... in der Regel redaktionell vorgeordnet, angefügt oder in sie

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jünger ist als Deuterojesaja, so daß eine direkte Bezugnahme auf die Abrahamüberlieferung der Genesis auch von daher an Wahrscheinlichkeit verliert. Dies bestätigt sich von der besonderen Hervorhebung Abrahams als des Einen und Einzelnen her, der von Jahwe herausgerufen und so reich gesegnet wurde, wie es in der exilischen Auseinandersetzung mit der nationalen Katastrophe Israels auch bei Ezechiel (33,14 f.) so wichtig gewesen sein muß - ein Zug des prophetischen Abrahambildes, der in den Genesiserzählungen überhaupt nicht begegnet, auch wenn er sich von Gen 12,1 ff. her indirekt herleiten ließe. Vollends bleibt die Metapher Abrahams als Fels und Saras als einer in Fels gehauenen Kaverne eine Schöpfung des Propheten 1 2 . | Nichts nötigt dazu, das Abrahambild der Genesiserzählungen in allen Einzelheiten ihrer Jetztgestalt für Deuterojesaja und seine Hörer vorauszusetzen. Wissen wir von Deuterojesaja konkret um die Erzählgemeinschaft, die von Abraham und Sara erzählt hat, um ihre Bedürfnisse und um die Releeingeschoben" (SCHMID 1976, 119 f.; vgl. oben Anm. 9), so zeigt die Konzentration der Segensverheißung bei Deuterojesaja auf das Thema der Mehrung (beachte die aktuell präsentische Formulierung und dazu oben Anm. 5 und 6) eine gewisse Affinität besonders zur priesterschriftlichen Profilierung der Verheißung, von der Deuterojesaja kaum abhängig sein kann. Allein schon terminologisch fallt das auch von P in signifikanter Weise bevorzugte Hif. von rbh auf (Jes 51,2; vgl. dazu HARTMANN 1976, bes. 724), während die Mehrungsverheißung als solche in den Genesistexten eine recht vielfältige Ausgestaltung erfahren hat (vgl. den Überblick bei RENDTORFF 1977, 45-48 und bei SCHMID 1976, 127 f.). Auch fallt ins Gewicht, daß innerhalb der Ausgestaltung des Verheißungsthemas die Mehrungsverheißung deutlich eine Weiterentwicklung der Sohnesverheißung und damit - relativ betrachtet - ein „spätes" Überlieferungsstadium darstellt (vgl. RENDTORFF 1977, 61-63, ähnlich SCHMID 1976, 128 ff.). So ist denn auch nach RENDTORFF „das eigentliche Thema" der „breit ausladenden Verheißungsrede" in Gen 17 „die Mehrungsverheißung" (1977, 53, vgl. 137-139), während andere Verheißungsthemen (Führung und Segensmittlerschaft) bei P ganz zurücktreten (a.a.O. 140). Allerdings bedarf es hier weit sorgfältigerer Untersuchungen, bis ein sicheres Urteil über das Verhältnis von Deuterojesaja zu den verschiedenen Stadien der Patriarchenüberlieferung auf solider Basis gefällt werden kann. 12 Natürlich heißt das nicht, daß jeder vom Propheten angeführte Vergleich - besonders wenn es sich um Bilder handelt - einen Anhalt in irgendwelchen Abrahamserzählungen gehabt haben muß, zumal Deuterojesaja wie jeder Rezipient das Bild des erzählten Abraham seinerseits durch die schöpferische Aufnahme mit- und umprägt. Sehr viel eher ist an eine erzählerische Ausgestaltung jenes Motivs zu denken, das Abraham als den Einen und Einzelnen heraushebt, der berufen worden ist, ein Motiv, das in Gen 12,1 ff. höchstens implizit begegnet. Vor allem im Zusammenhang mit unseren Erwägungen in Anm. 7 und 11 bleibt festzuhalten, daß Deuterojesaja wahrscheinlich auf eine erzählerisch noch stark im Fluß befindliche Abrahamsüberlieferung Bezug nimmt, deren aktuelle Gestalt wir nicht mehr kennen und die ihre in der Genesis j faßbare Ausformung parallel und z. T. sogar später als Deuterojesaja und Ezechiel erfahren hat. Darauf weist auch das Abraham-Schweigen in der vorexilischen Prophetie, im vorexilischen Psalter und generell in der vordeuteronomischen Literatur (vgl. SCHMID 1976, 163).

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vanz dieser Erzählungen für diese Gemeinschaft - ohne aber die Erzählungen im einzelnen in ihrem Wortlaut zu kennen, so geht es uns genau umgekehrt mit den Genesiserzählungen über Abraham. Hier kennen wir zwar sehr genau die uns überlieferte sprachliche Gestalt und Fassung verschiedener Erzählungen, umso weniger aber die konkrete Erzählgemeinschaft, die diese Erzählungen so erzählt und in der vorliegenden Fassung schriftlich überliefert hat; und ebensowenig kennen wir die konkrete lebenspraktische Relevanz, die diese Geschichten der Genesis für jene Erzählgemeinschaft gehabt haben. Auch wenn wir dieser Frage hier nicht weiter nachgehen können 1 3 , bleibt das grundsätzliche Problem: der aufgezeigte doppelte und gewissermaßen komplementäre Mangel beruht darauf, daß zwischen Erzählung und der Funktion, die eine Erzählung für die erzählende Gemeinschaft jeweils hat, eine prinzipiell nur indirekte Beziehung besteht. Daß uns in den Texten der Genesis die konkrete Situation, bei Deuterojesaja dagegen die im Wortlaut identifizierbare Erzählung fehlt, gehört - sich gegenseitig ausschließend - gerade zusammen. | Auf dieser Indirektheit beruht nun aber auch der weitere wichtige Sachverhalt, daß Erzählungen - selbst wenn sie in ihrem Wortlaut identisch bleiben - grundsätzlich mehrdeutig und für je verschiedene Erzähler und Hörer aus verschiedenen Erfahrungssituationen heraus von unterschiedlicher Relevanz sein können. Das macht ein kurzer Vergleich zwischen Deuterojesaja und Ezechiel deutlich. Für Deuterojesaja will die Erinnerung an Abraham als erzählte Gestalt Glauben an den Gott der Verheißung stiften und Hoffnung auf neuen konkreten Segen im Wiederaufbau wecken. Und Abraham als Vater war für Deuterojesaja zugleich die Gestalt, in der die Exilsgeneration besonders gut ihre Identität und Geborgenheit finden sollte. Denn im erzählten Geschick des mittel- und kinderlosen Auswan13

Keine Auslegung von Erzähltexten kommt aus, ohne deren Funktion und Relevanz auf einen wie auch immer angenommenen oder rekonstruierten historischen Problemund Erfahrungshorizont vermuteter Erzähler, Hörer oder Leser zu beziehen. So steckt z.B. KILIAN 1966 für die nach seiner Analyse vorjahwistischen Erzählschichten in Gen 13 und 16 jeweils bestimmte Problemhorizonte der vorstaatlichen Zeit ab (vgl. 32-34 und 92-94). WOLFF 1964 bezieht dieses Kerygma (bes. Gen 12,1-3) auf die davidisch-salomonische Ära (vgl. 348-350), das den Segen zum „Deutewort der großen Geschichte Israels von Abrahams Aufbruch bis zum davidischen Großreich" werden läßt (356), aber in der Gesamtkomposition den „Großgewordenen in Salomos Tagen" eindringlich vor Augen führt, „daß sie erst dann ihre Größe als Segen Jahwes gewinnen, wenn bei ihnen alle Völker Segen als Rettung freien, fruchtbaren Lebens gefunden haben." (369 f.). Demgegenüber bestreitet VAN SETERS mit beachtlichen Gründen jeden Bezug zu dieser Ära (vgl. 1975, bes. 148-153 und 271) und kommt in seiner Untersuchung zur Überzeugung, „that the unbreakable promises of the patriarchs are addressed" „to the despairing community of the exile", „and Abraham becomes the focus of corporate identity and the lifeline of their hope and destiny." (a.a.O., 311, vgl. zur Begründung bes. 264-269. 272 und 275-278).

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derers aus Ur in Chaldäa (Babylon!), dem Segen und Mehrung verheißen war, konnte sie ihr eigenes Geschick besonders erfahrungsnah mithören, wenn man einmal die Erzählmomente von Gen 15,7 (vgl. 11,31 ff.) als bekannte Züge des Abrahambildes voraussetzt 1 4 . Ganz anders liegt die Sache bei Ez 33,23 ff. Bei diesem begründeten Unheilswort mit der Begründung in V. 24-26 und der Unheilsankündigung in V. 27 ff. ist für uns nur von Interesse, wie von den Gegnern des Propheten mit Abraham argumentiert worden ist. Bevor Ezechiel zur Anklage übergeht (V. 25 f.), zitiert er seine Gegner in ihrem Selbstverständnis: (24) Menschensohn, die Bewohner dieser Trümmerstätten auf Israels Boden sagen: Ein Einzelner war Abraham, und er nahm das Land in Besitz; aber wir sind viele, uns ist das Land zum Besitz gegeben.

Hier sind es die im Lande Zurückgebliebenen, die sich auf die Verheißungen Abrahams berufen. Wieder begegnet das Argument vom Kleinen zum Großen. Aber hier wird die Verheißung besonders des Landes zur Verteidigung von Rechts- und Besitzansprüchen herangezogen: Abraham war doch nur einer und hat das Land in Besitz genommen, um wieviel mehr gehört uns, den Vielen, das Land als Besitz. Vergleichbare, vielleicht die gleichen Abrahamsgeschichten, haben bei den Gegnern Ezechiels das Bewußtsein gestiftet und gestärkt, daß sie trotz der nationalen Katastrophe die eigentlichen Herren und Besitzer des Landes sind und bleiben, wobei diese Leute offenbar auch jetzt noch nicht gelernt haben, daß Jahwes Verheißungen unwirksam bleiben, wenn sie in ihrem Alltagsverhalten beim Blutvergießen und anderen Greueltaten bleiben (V. 25 f.). Daran wird deutlich, daß mehr oder weniger dieselben Erzählungen in ganz verschiedener Weise in Anspruch genommen worden sind und auch heute genommen werden. Das liegt - wie gezeigt - zum einen in der grundsätzlichen Indirektheit zwischen Erzählung und ihrer situationsabhängigen | Funktion begründet. Es liegt aber zugleich auch in der Eigenart von Erzählungen selbst begründet. Jede Erzählung kann als in sich geschlossene Gesamtfigur von Erfahrung betrachtet werden, z.B. das Geschick des auswandernden Abraham, der in ein anderes, verheißenes Land zieht. Wenn ein Erzähler eine solche Gesamtfigur von Erfahrung erzählt, gibt er seinen Zuhörern an dieser Erfahrung teil. Was nun aber ein Hörer oder Leser im Teilnehmen am Erzählten von einer Erzählung mithört und abliest, hängt ganz entscheidend von seiner Erfahrung und Lage ab, in der er sich beim Zuhören befindet. 15 Deshalb sind Erzählungen für verschie14

15

V g l . VAN SETERS in d e n A n m . 13 g e n a n n t e n P a s s a g e n , b e s . 2 6 3 - 2 6 5 .

Vgl. dazu SCHÜTZE 1976, 12: ,Jede Geschichtenerzählung beinhaltet nicht nur eine Gesamtfigur vergangener Ereignisse, sondern zudem eine zumindest implizite Vermittlung dieser Ereignisse mit speziellen oder globaleren Problemkonstellationen zum Zeitpunkt der aktuellen Erzählsituation, die den Kommunikationspartnern für die Deutung

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dene Hörer zu verschiedenen Zeiten von je unterschiedlicher Relevanz und Bedeutung. Und damit hängt unmittelbar zusammen, daß sich etwa in der Auslegung der Abrahamserzählungen in der Forschung diesen Geschichten mehrere Erzählsituationen zuordnen lassen, in denen sie sinnstiftend und lebensrelevant erzählt worden sein könnten 16 . Damit sollte deutlich geworden sein, daß mit der grundsätzlichen Indirektheit zwischen Erzählungen und ihrer Funktion ebenso grundsätzlich ihre Mehrdeutigkeit verbunden ist, die nur durch die jeweilige Erzählsituation und abhängig von ihr Eindeutigkeit gewinnt.

II Von diesen, am Beispiel gewonnenen Einsichten her ist im Folgenden noch etwas ausführlicher auf die Eigenart von Erzählungen und die Eigenart des Erzählens als einer besonderen Form der sprachlichen Mitteilung einzugehen. Auch wenn wir in der Regel Erzählungen nur ohne ihre Erzählsituation überliefert haben und umgekehrt Texte, in denen auf bestimmte Erzählungen Bezug genommen wird, ohne daß wir die Erzählungen selbst mitüberliefert bekommen, so gehört beides trotzdem notwendig zusammen: die Erzählung und die Erzählsituation. Dabei müssen wir uns klar machen, daß das Erzählen in einer je bestimmten Situation eine ganz spezifische Weise der Kommunikation darstellt. | Das können wir uns zunächst am besten im Kontrast zu anderen Arten von Sprechhandlungen klar machen 17 . Wenn z.B. in einem Vortrag verschiedene Behauptungen aufgestellt und begründet werden, so wird der Inhalt dieser Behauptungen und Begründungen im Akt des Behauptens direkt mitgeteilt. Wer etwas gefragt wird, erfahrt im Fragevollzug zugleich, was er gefragt wird. Dasselbe gilt für Bitten, Versprechen, Aufforderungen etc. Alle diese Arten von Sprechhandlungen haben einen Informationsgehalt, der in der Sprechsituation direkt einsetzbar ist und eingesetzt wird und der unmittelbar handlungs- und situationsrelevant ist. Fragen oder Bitten können abgeschlagen, Versprechen nicht eingelöst werden. ihrer aktuellen Lebenssituation und die Bewältigung ihrer aktuellen Interaktionsprobleme relevant erscheinen". 16 Vgl. zur Illustration die in Anm. 13 exemplarisch genannten Autoren. Daß bei dieser Zuordnung mit prinzipiellen Mehrdeutigkeiten gerechnet werden muß, heißt nur, daß solche Zuordnungen allein im Blick auf die Datierung von Erzählüberlieferungen eine geringe Beweiskraft besitzen, wenn nicht andere Datierungskriterien hinzukommen. Vgl. dazu auch unten Abschnitt III. 17 Die folgenden Ausführungen orientieren sich am Konzept der von J. L. Austin und J. R. Searle begründeten Sprechakttheorie;-vgl. dazu HARDMEIER 1978, 54-64. Zum Erzählen als Sprechhandlung vgl. besonders GÜLICH 1976, 230-232.

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Behauptungen können bestritten oder bejaht, besser begründet oder falsifiziert werden, sie können erläutert werden, oder sie bleiben unklar. Stets stehen Inhalte im gegenseitigen Austausch zur Debatte, die hier und jetzt ihre Rolle spielen und als thematische Gegenstände dieser Debatte direkt benannt sind 18 . Dem steht in charakteristischer Weise das Erzählen gegenüber, was in fünf Punkten umrissen werden soll. 1. Erzählen braucht ganz elementar Zeit, ein Minimum an Erzählzeit, die es dem Erzähler erlaubt, den Spannungsbogen auch nur einer Kleinfigur von Erfahrung überhaupt zu entfalten, ohne unterbrochen zu werden 1 9 . Alltagserzählungen in der Familie, etwa wenn Kinder am Mittagstisch von ihrem täglichen Erleben berichten und nicht alle gleichzeitig zu Worte kommen können, machen dies besonders deutlich. 2. Grundsätzlich wird beim Erzählen im Kontrast zur Erzählzeit ein eigener Zeithorizont entfaltet. Jede erzählte Figur von Erfahrung - ob es nun um eigene Erfahrungen geht oder um die Erfahrung von anderen - bringt Inhalte zur Sprache, die im Unterschied zum Diskurs und anderen Sprechhandlungen gerade außerhalb der Rede-, d.h. der Erzählsituation liegen. Die erzählten Inhalte spielen ihre direkte und unmittelbare Rolle gerade nicht in | der Erzählsituation selbst, sondern im entfalteten Horizont einer eigens erzählten Zeit: heute morgen, in den Sommerferien, als ich ein Kind war, zur Zeit Jesu oder in einer fiktiven, erfundenen Zeit. Diesem Faktum entsprechen in vielen Sprachen die charakteristischen Tempora des Erzählens, die Tempora der „erzählten Welt" gegenüber den Tempora der „besprochenen Welt" 2 0 .

18 Sprechakttheoretisch handelt es sich dabei um die Unterscheidung zwischen dem illokutiven, d.h. im Sprechen vollzogenen Akt (z.B. behaupten, fragen, versprechen) und seinem propositionalen Gehalt, d.h. dem Sachverhalt, der illokutiv auf je verschiedene Weise verhandelt wird. 19 GÜLICH 1976, 227 weist auf die „kommunikativen Rollen" von „Sprecher und Hörer oder Autor und Leser" hin, die bei der „Sprechhandlung ,Erzählen' " „nicht gleichberechtigt sind. Damit einer von ihnen ... die Rolle des Erzählers übernehmen kann, muß der andere bzw. müssen die anderen bereit sein, selbst die des Hörers einzunehmen und für die Dauer des Erzählens weitgehend auf eigene Sprechhandlungen zu verzichten". 20 Vgl. dazu WEINRICH 1971. Für das Griechische verweist Weinrich auf „die Unterscheidung von Primärtempora (Präsens, Perfekt, Futur, Futur II) und Sekundärtempora (Imperfekt, Aorist, Plusquamperfekt)", die augmentierte Formen aufweisen und von ihm als „erzählende () Tempora" eingestuft werden (289). Zur Aufnahme dieses Ansatzes in der hebräischen Grammatik vgl. SCHNEIDER 1978, § 48.2. Allerdings wird man im Hebräischen wie in den süddeutschen und deutschschweizerischen Mundarten mit ihrem der Kindersprache entsprechenden „Und-da-Stil" (WEINRICH 1971, 286) an ein „synthetisches" Erzähltempus zu denken haben, das mit Adverbien und anderen Partikeln der Erzählfolge arbeitet (vgl. dazu a.a.O. 281-287) und im Hebräischen fortlaufend durch die Präfix-Partikel waw „und" signalisiert wird (vgl. a.a.O. 284), unabhängig davon, ob ein Satz in dieser Erzählfolge mit dem punktuellen Vorgang (waw + dages forte + PK) oder

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Kapitel II: Erzählen - Basisform theologischer

Reflexion

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3. Was die je erzählte Figur von Erfahrung selbst betrifft - in der aktuellen Erzählzeit entfaltet, aber in einer eigens erzählten Zeit spielend diese Gesamtfigur von Erfahrung zeigt stets Menschen in der Bewältigung von Komplikationen, im Zusammenspiel miteinander oder im Gegenspiel zueinander. Immer machen handelnde und leidende, kurz Erfahrung machende Menschen den wesentlichen Inhalt von Erzählungen aus. Damit wird ein weiteres Spezifikum des Erzählens deutlich. Der Erzähler gibt im Vorgang des Erzählens unmittelbar teil an den Erfahrungen der erzählten Personen; und der Hörer bzw. Leser kann analog zu seiner eigenen Erfahrungswelt an den Hoffnungen und Leiden, den Versäumnissen und Entscheidungen der erzählten Personen teilnehmen. Man braucht nur an Abraham zu denken, der aus Babylonien auswandert in das verheißene Land, und an die Exilsgenerationen, die diese Geschichten lesen oder hören. Deutlich wird daran, daß das Erzählen eine ganz spezifische Art der MitTeilung ist, und zwar insofern, als jede Erzählung, wenn sie erzählt wird, ein Identifikationsangebot für den Hörer eröffnet, sich mit den erzählten Figuren und ihren Erfahrungen zu identifizieren bzw. gegen sie Stellung zu beziehen. Auch diesen Aspekt kennen wir von den Kindern, die unmittelbar - etwa beim Hören von Märchen - z.B. mit Schneewittchen mitleiden und sich über die böse Königin empören. Erzählungen ermöglichen unmittelbare Teilnahme und können direkte Betroffenheit schaffen, obschon oder vielleicht sogar gerade weil die | erzählten Inhalte zeitlich von der unmittelbaren Erzählsituation abgehoben sind und eine eigene „Welt" bilden. Beim Erzählen handelt es sich um eine analoge Mitteilungsform im Unterschied etwa zur direkten z.B. nachrichtlichen Mitteilung von Information. 4. Was eine Erzählung als Gesamtfigur von Erfahrung erzählt und was der Hörer aus seiner Erfahrung heraus damit verbindet oder nicht, ist allerdings niemals eindeutig oder zwingend. Von daher eröffnet jede Erzählung als erzählte Figur von Erfahrung einen Spiel-Raum verschiedener, wenn auch nicht beliebiger Teilnahmemöglichkeiten. Deshalb kann man einerseits Erzählungen immer wieder neu hören, auch wenn man sie schon längst kennt, weil aus neuen eigenen Erfahrungen heraus eine Geschichte auch je und j e wieder neu und anders erlebt wird. Und andererseits werden aus diesem Grunde bekannte Erzählungen immer wieder neu erzählt, wobei in der mündlichen Erzähltradition der Erzähler seinerseits bei jedem neuen Erzählen eine Geschichte umerzählt und in der Verlagerung von Akzenten sowie in der Variation von Motiven und Charakterisierungen indirekt seine eigene Erlebnis- und Erfahrungswelt in die Erzählung miteinem Handlungsumstand oder Vorgangsbeteiligten (waw + entsprechender Satzteil + AK) beginnt oder ob ein Zustand bzw. ein Verlauf erzählend zur Darstellung kommt (waw + Nominalsatz). Vgl. dazu HARDMEIER 1978, 368 Anm. 181.

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1. Erzählen - Erzählung -

Erzählgemeinschaft

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einbringt und seine Hörer indirekt daran teilnehmen läßt. Deshalb bewahrt die mündliche Erzähltradition niemals den identischen Wortlaut einer Erzählung, sondern nur das inhaltliche Gerüst einer Gesamtfigur von Erfahrung, wie z.B. die verschiedenen Erzählungen von der Gefahrdung der Ahnfrau in Gen 12; 20 und 26 zeigen. Weil aber jede Erzählung verschiedene Teilnahmemöglichkeiten eröffnet, lassen sich andererseits einer im Wortlaut fixierten Erzählung stets mehrere sinnvolle Interpretationsmöglichkeiten und Rezeptionssituationen zuordnen. 5. Ziehen wir das Erzählen als eine analoge Mitteilungsform von Erfahrung im Unterschied etwa zur nachrichtlichen Mitteilung von Information in Betracht, so wird der der Erzählung eigene und primäre Wahrheitswert besonders deutlich. Jede nachrichtlich mitgeteilte Information wird als tatsächlich und wahr behauptet. Die Wahrheit einer behaupteten Nachricht kann man überprüfen und gegebenenfalls bestreiten. Eine Erzählung dagegen kann man nicht bestreiten. Zwar läßt sich zu einer Erzählung sagen: „Das stimmt nicht, das war nicht so." Das läßt sich jedoch nur dann zu einer Erzählung sagen, wenn der Erzähler selbst die Voraussetzung machen will, z.B. einen Tatsachenbericht zu liefern. Dies gilt jedoch längst nicht für jede Erzählung, wie z.B. fiktive Erzählungen, etwa Gleichnisse, besonders deutlich machen. Vor allem aber trifft es kaum zu auf antike Erzählungen, auch wenn sie Historisches enthalten, und weitestgehend auch nicht auf biblische Erzählungen, so sehr es in ihnen - besonders im Alten Testament - um Geschichte geht. Das genannte, heute aufgrund eines popularisierten positivistischen Historismus tief verwurzelte Wahrheitskriterium („wie bzw. so war es wirklich") verstellt - wenn es an Erzählungen angelegt wird - total den Zugang zu dem einer Erzählung primär eigenen Wahrheitswert. Nicht die Tatsächlichkeit des Erzählten ist das Entscheidende, sondern die Art der | die Erzählung an der Subjektivität der handelnden Personen teil und lädt zur Identifikation ein in Korrespondenz zur eigenen Erlebens- und Erfahrungswelt. Das Mehr oder Weniger an Relevanz und Betroffenheit, das eine Erzählung bewirkt, ist die ihr eigene Wahrheit in Abhängigkeit von der Erfahrungswelt der jeweiligen Hörer. Zum Schluß dieses zweiten Teils soll das allgemein Gesagte auf unser Thema der Abrahamsgeschichten und ihrer Rezeption bei Deuterojesaja hin gebündelt werden. Dabei sind mir vier Momente wichtig: 1. Was die Hauptpersonen Sara und Abraham betrifft, so sind beide Gestalten als Urahnen Israels, nicht historische Einzelpersonen mit einem zufalligen Einzelverhalten und Schicksal, sondern sie sind Repräsentanten des ganzen Volkes Israel (vgl. Jes 41,8). Abrahams Einzelverhalten verkörpert für Deuterojesaja den Glauben an Gottes Verheißung, der seinen Zeitgenossen Hoffnung schenken soll. Das als Großfamilie gedachte Volk

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Kapitel II: Erzählen - Basisform theologischer Reflexion

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soll sich mit seinen Urahnen identifizieren. Deshalb: „Seht auf euren Vater 2. So kollektiv und allgemeintypisch die Figuren Abraham und Sara faktisch auch sind, so bleiben sie als erzählte Individualgestalten in ihrem Vertrauen auf die göttliche Verheißung zugleich anschaulich, konkret und für jeden Hörer in hohem Maße „teilnahmefahig". Würde Deuterojesaja einfach sagen: „Kopf hoch, habt Mut und Gottvertrauen, das Exil hat bald ein Ende!", so wäre dieser Appell zwar mehr oder weniger das, was er direkt sagen will, jedoch eine unanschauliche und in der faktischen Hoffnungslosigkeit nicht nachvollziehbare Forderung. 3. Deshalb greift der Prophet u.a. auch auf diese Weise zurück auf die Geschichte seines Volkes, d.h. auf immer wieder erzählte Volksgeschichten, in denen sich über Generationen kollektive Glaubens- und Geschichtserfahrungen - verkörpert in erzählten Einzelgestalten - aufbewahrt haben 2 1 . Die Vergegenwärtigung solcher Geschichten entführt die Hörer gewissermaßen aus der bedrückenden Jetzt-Zeit in ihre Vergangenheit, und sie läßt sie in ihrer eigenen Geschichte, z.B. auf dem Umweg über die an die Urahnen | ergangene Verheißung, eine Neuorientierung entdecken, die als direkte Forderung hart und nicht nachvollziehbar bleiben würde. So aber wird die eigene Gegenwart in der erzählten Vergangenheit transparent, wobei zugleich die in Abraham noch nicht abgegoltene Vergangenheit in jeder erzählenden Vergegenwärtigung aktuell und präsent wird. Beides, sowohl die konkrete Anschaulichkeit möglicher Hoffnung und neuen Vertrauens als auch die indirekt einladende Aufforderung, im teilnehmenden Hören diese Hoffnung und dieses Vertrauen für sich selbst zu übernehmen, kann sich eben am besten mit-teilen in einer Erzählung. 4. Dabei hing und hängt die Bedeutung und Wirkung dieser Abrahamsgeschichten weder damals noch heute von der Tatsächlichkeit des Erzählten im Sinne einer historisch nachprüfbaren Nachricht ab. Entscheidend war nur, wie weit diese Erzählungen zur Zeit von Deuterojesaja als Geschichten galten, die in überindividuell gültiger Weise das kollektive Selbstverständnis Israels im Exil repräsentiert haben, wie weit also Abraham und Sara sowie ihr erzähltes Geschick unter der Verheißung gültige Versionen der kollektiven Volksvergangenheit gewesen sind 22 . Daß dies 21

Zu den aufgenommenen Überlieferungen bei Deuterojesaja vgl. WESTERMANN

1976, 21-25. 22 Zur gesellschaftlichen Konstitution und Funktion symbolischer Sinnwelten vgl. BERGER/LUCKMANN 1980, 98 ff. In Gestalt von „Geschichte" hält die symbolische Sinnwelt einer Gesellschaft „für die Vergangenheit... ,Erinnerung' bereit, deren alle teilhaftig sein können, die zu der betreffenden Gesellschaft gehören. ... So verbindet die symbolische Sinnwelt die Menschen mit ihren Vorfahren ... zu einer sinnhaften Totalität, in der die Endlichkeit der individuellen Existenz transzendiert ... wird." Damit „können sich alle Mitglieder einer Gesellschaft als einer sinnhaften Welt zugehörig empfinden - einer

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1. Erzählen - Erzählung -

Erzählgemeinschaft

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der Fall gewesen sein muß, beweist Deuterojesajas Rückgriff auf Abraham und Sara in seiner Argumentation; und es bestätigt sich von Ezechiel her. D.h. aber, daß solche Erzählungen zum gemeinsamen Wissens- und Erinnerungsgut der Exilsgeneration gehört haben müssen und Israel im Exil in dem Sinne eine Erzählgemeinschaft gebildet hat, als diese Gemeinschaft ihre Identität in immer neu erzählten Geschichten ihrer gemeinsamen Vergangenheit bewahrt hat. So haben diese Geschichten als kollektiv erzählte und bewahrte gemeinsame Welt für Deuterojesaja einen aussagekräftigen Argumentationshintergrund abgeben können.

III Wiederholt ist in unseren bisherigen Ausführungen deutlich geworden, daß uns bei Erzählungen direkte Hinweise auf die Erzählsituation und die Erzähl|gemeinschaft aus Gründen fehlen, die in der besonderen Eigenart des Erzählens als einer eigenen Weise sprachlicher Kommunikation zu suchen und von grundsätzlicher Natur sind. Andererseits ist aus eben diesen Gründen der ursprüngliche Sinn von Erzählungen ohne ihre Erzähler und Hörer ebensowenig erschließbar, wie alle weiteren Sinnaspekte, die spätere Hörer und Leser - wir selber mit eingeschlossen - aus ihrer Situation und Lage heraus von einer bestimmten Geschichte abgelesen haben und ablesen. Das bestätigt sich in der Vielfalt der Forschungshypothesen zur Interpretation und historischen Einordnung etwa der Abrahamserzählungen, die jedoch alle das eine grundsätzlich gemeinsam haben, daß sie den Sinn, die Funktion und den jeweiligen Umfang von Abrahamserzählungen und Erzählsammlungen - in welcher Früh- oder Spätform, welcher Überlieferungsschicht oder redaktionellen Fassung auch immer - nur zu erschließen vermögen, wenn sie mehr oder weniger bewußt eine mögliche Erzählgemeinschaft in einer bestimmten historisch-sozialen Situation annehmen und wahrscheinlich machen 23 . Erschwerend kommt hinzu, daß Erzählungen stets mehrere sinnvolle und plausible Interpretationen zugeordnet werden können, wenn auch mit einem unterschiedlichen Grad an Wahrscheinlichkeit und - wie gesagt - je und je abhängig vom mitzubedenkenden Lebens- und Erfahrungshorizont von Erzähler und Hörer. Angesichts dieser Sachlage stellt sich nun aber besonders für Theologen, die um eine gültige und verbindliche Interpretation der biblischen Zeugnisse bemüht sein müssen, die Frage, wie denn überhaupt biblische Erzähltexte noch interpretiert werden können und welche von den vielfaltigen Interpretationen denn Welt, die da war, bevor sie geboren wurden, und da sein wird, nachdem sie gestorben sind." (110 f.). 23 Vgl. oben Anm. 13.

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Kapitel II: Erzählen - Basisform theologischer Reflexion

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letzten Endes die richtige und legitime sei. Dabei mag - besonders für den Praktiker - zusätzlich das Unbehagen mitschwingen, den jeweiligen Ergebnissen der Fachwissenschaft und ihren Schwankungen hilflos ausgeliefert zu sein. Die aufgeworfene Frage soll entlang von Anstößen angegangen werden, die der Linguist und Literaturwissenschaftler H. Weinrich im Jahre 1973 unter dem Stichwort „narrative Theologie" in die Debatte geworfen hat 24 . Was die Verbindlichkeit von Interpretationen betrifft, so lebt vor allem das zuletzt genannte Unbehagen von der Voraussetzung, daß das, was sich für die Wissenschaft als historisch richtig und wahrscheinlich erweist, nun auch für die Interpretation und den Sinn einer Erzählung verbindlich sein soll. Dieser verbreiteten Auffassung ist im Sinne Weinrichs entgegenzuhalten, daß die Wahrheit einer Erzählung keineswegs notwendig an ihrer Tatsächlichkeit hängt, wie allein schon der Blick auf Fabeln oder Gleichnisse deutlich werden läßt. Zu ergänzen wäre, daß die Wahrheit von Erzählungen auch keineswegs beschränkt bleibt auf ihren historisch rekonstruierten, ursprünglichen Sinn. In beiden Fällen wird die historische Faktizität zum Kriterium der | Wahrheit und verstellt objektivierend den Zugang zu der jeder Erzählung eigenen, ihr innewohnenden Wahrheit. Diese Wahrheit entfaltet sich nämlich - wie wir im zweiten Teil deutlich gemacht haben je im Erzählvorgang selbst, indem das Erzählen an der erzählten Gesamtfigur von Erfahrung unmittelbar teilgibt und diese Teilgabe beim teilnehmenden Hören oder Lesen ein Mehr oder Weniger an Relevanz gewinnt und Betroffenheit schafft. Das hieße nun aber streng genommen, daß man Erzählungen eigentlich nicht interpretieren kann, sondern nur wieder- und neuerzählen, weil Erzählen eine Mitteilungsweise eigener Art ist, die sich nicht in die Form des behauptenden und argumentierenden Diskurses umsetzen läßt, ohne ihre unmittelbar teilgebende Art der Mitteilung von Erfahrung zu verlieren. In der Tat macht jede Interpretation, die notwendigerweise behauptet und argumentiert, die interpretierte Erzählung zum Gegenstand und bringt sie so fast zwangsläufig zum Schweigen. Von dieser, letzten Endes sprach- und sprechakttheoretischen Einsicht her will Weinrich die Theologie zum einen darauf hinweisen, daß in ihr wie in allen anderen Wissenschaften längst eine diskursiv-argumentative Denkund Sprechweise vorherrschend geworden ist, wobei die Theologie zu vergessen droht, daß sich vor allem im Alten und Neuen Testament der Glaube weitgehend und primär in Erzählungen mitgeteilt hat bis hin zu den Glaubensbekenntnissen. Das kleine geschichtliche Credo im Alten Testament (Dtn 26,5-9) ist ebenso ein Beispiel dafür wie das letztlich erzäh2 4

WEINRICH

1973.

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1. Erzählen - Erzählung -

Erzählgemeinschaft

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lende Osterkerygma (mit seiner Entfaltung in der Passionsgeschichte) oder die altkirchlichen Bekenntnisse. So wie das exilische Israel als Erzählgemeinschaft seinen inneren Bestand gehabt hat, so ist letzten Endes auch die Christenheit nach Weinrich eine große Erzählgemeinschaft, die ihren Glauben, ihre Identität und ihre Erfahrung in einem Schatz von gemeinsamen Geschichten weitergibt, bewährt und im Horizont dieser Geschichten „diskutiert". Verliert sie diese Basis, so könnte sie sich selbst verlieren. Dabei bestreitet Weinrich nicht, daß ein diskursives Reden über den Glauben stets notwendig und legitim bleibt, zumal in der Moderne das Medium des Erzählens auch sonst seinen zentralen Stellenwert als Mitteilungsform von Erfahrung verloren hat. Weinrich meint nur, daß trotz unserer „post-narrativen Zeit 25 " die Narrativität nicht weiter zurückgedrängt werden darf oder, wie etwa in einem extrem verstandenen Entmythologisierungsprogramm, ersetzt werden kann, daß also bei der fortschreitenden Logisierung des Logos eine Rückbesinnung auf seine narrative Gestalt und deren adäquate Umsetzung einsetzen müßte. Denn gerade die Mitteilung des Glaubens bleibt genuin gebunden an ein letztlich erzählendes Teilgeben daran. Nicht von ungefähr bleibt schon der argumentierende Deuterojesaja auf die Hoffnungs|geschichten von Abraham angewiesen, wo er selber zum Glauben und zur Hoffnung ruft. Zum anderen weist Weinrich die Theologie darauf hin, daß sie sich im Umgang mit ihrer Erzähltradition insofern in einer Engführung befindet, als sie sich - wohl durch die apologetische Auseinandersetzung mit der Aufklärung - unkritisch selbst dem aufklärerischen Wahrheitskriterium der Faktizität unterworfen hat. Nach Weinrich ist die Theologie - und es wäre hinzuzufügen: gerade im evangelikal-biblizistischen Lager - in der „kaum hinterfragte(n) Meinung" befangen, „daß die biblischen Erzählungen" nur „dann als Erzählungen bestehen bleiben dürfen, wenn sie mit den anerkannten Methoden der Geschichtswissenschaft als wahre Geschichten ausgewiesen werden können" 26 . Er gibt in Anbetracht des eigenen Wahrheitswertes von Erzählungen zu bedenken, ob nicht die Theologie ihre „heilige oder unheilige Allianz" mit „den Wissenschaften, insbesondere der Geschichtswissenschaft", neu durchdenken müßte, ohne daß diese „Allianz" als solche rückgängig gemacht werden kann oder soll 27 . Wenn die Tatsächlichkeit und Historizität von Erzähltem nicht Wahrheitskriterium und Maßstab der Verbindlichkeit für Erzählungen sein kann und wenn das Spektrum dessen, woran Erzählungen teilgeben können, in einer Interpretation zwar explizit benannt, aber nicht außerhalb der Wiedererzählung unmittelbar als „Wahrheit" und „Sinn" vermittelt werden kann, so 25

WEINRICH 1 9 7 3 , 3 3 3 .

26

WEINRICH 1 9 7 3 , 3 3 2 .

27

WEINRICH 1 9 7 3 , 3 3 3 .

52

Kapitel II: Erzählen - Basisform

theologischer

[44/45]

Reflexion

drängt sich eine Neubesinnung auf die Narrativität als einer grundlegenden, nicht hintergehbaren und auch nicht voll umsetzbaren Mitteilungsform des Glaubens und des Evangeliums in folgenden Richtungen auf. 1. Im Blick auf die „Richtigkeit" und die Verbindlichkeit der Interpretation von Erzählungen gibt es aus Gründen, die der Erzählung als Medium selbst innewohnen, stets mehrere „richtige" Zugänge und mehrere legitime Aspekte der Sinnerschließung entsprechend der „Offenheit" von Erzählungen, die per se nicht-definitorisch reden, und entsprechend der produktiven Aufnahme einer Erzählung durch den Hörer oder Leser, in der er sich unwillkürlich mit seinem ganzen Lebens- und Erfahrungshorizont aktiv miteinbringt. 2. Die prinzipielle Offenheit und Mehrsinnigkeit von Erzählungen ist dennoch nicht ein Freibrief für Beliebigkeit und Willkür im interpretierenden Umgang mit Erzählungen. Herausgearbeitete Sinnaspekte sind einerseits festzumachen am Erzähltext selbst, an der Konstellation der handelnden Personen und der erzählten Handlungszüge, an deren Akzentuierung und szenischen Anordnung sowie an der Einbettung des erzählten Geschehens in vorausgesetzte oder angedeutete weitere Zusammenhänge. Alle diese Gesichtspunkte sind an der Sprachgestalt einer Erzählung mehr oder weniger | unmittelbar faßbar 2 8 . Andererseits und gleichgewichtig sind besonders historische Erzählinterpretationen auf eine anzunehmende oder wenn möglich - rekonstruierbare Erzähl- bzw. Lesergemeinschaft und deren Erfahrungswelt zu beziehen. Sowenig Erzähltexte selbst dafür unmittelbare Hinweise geben, keine Erzählinterpretation kommt ohne eine Erzähler-, bzw. Leser- und Hörerhypothese aus, die aber bewußt und explizit gemacht werden muß, wie gut oder schlecht die Quellenlage auch sein mag. In diesem doppelten Ausweisverfahren der Interpretation können Wahrscheinlichkeit und Plausibilität und damit die relative „Richtigkeit" einer Erzählinterpretation intersubjektiv diskutiert werden, wobei dieses Verfahren natürlich nicht außerhalb des hermeneutischen Zirkels steht, in welchem die Interpreten mit ihrem Vorverständnis und ihren Grundannahmen miteingeschlossen bleiben. In diesem Verfahren besteht denn auch eine der zentralen Aufgaben historischer Exegese. Sie hat Verstehens- und Interpretationshilfen an die Hand zu geben, indem sie historisch bereitgestellte und eingelöste Sinnaspekte überlieferter Erzählungen rezeptionsgeschichtlich aufhellt und herausarbeitet. Dazu sind historische Untersuchungen notwendig, die Nach-, Neu- und Wiedererzählungen alter Geschichten im Alten und Neuen Testament sowie in der Kirchengeschichte aufarbeiten und dabei nach den je vorauszusetzenden Erzählgemeinschaften und ihrem soziokulturellen Umfeld fragen. Diese Arbeit ist im Kontakt 28

Zum textbezogenen Analyseverfahren vgl.

1 9 7 6 u n d HARDMEIER

1979.

GÜLICH/RAIBLE

1974,

ferner

GÜLICH

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1. Erzählen - Erzählung -

Erzählgemeinschaft

53

mit benachbarten Literaturwissenschaften zu fundieren in einer Theorie der Narrativität. 3. Was nun aber die Verbindlichkeit von Erzählinterpretationen betrifft, so scheidet aus den bereits dargelegten Gründen die Faktizität als Wahrheitskriterium von Erzählungen aus 29 . Damit ist die historische Exegese zugleich von der ihr immer wieder fälschlich zugedachten Rolle befreit, krampfhaft festgehaltene historische Faktizität auch noch „wissenschaftlich" untermauern und „beweisen" zu müssen. Die Besinnung auf die Narrativität insbesondere der biblischen Überlieferung selbst stößt uns dann aber umso eindringlicher auf die alte reformatorische Einsicht, daß das Evangelium als traditum nicht im toten Buchstaben festgeschrieben ist, sondern im actus tradendi in eigener | Verantwortung j e neu gesagt und verkündigt werden muß und seinem Wesen nach zwar schriftbezogenes, aber als viva vox evangelii mündliches Wort ist, das aus der Verantwortlichkeit des Zeugen heraus unter der Wirkung des Heiligen Geistes seine aktuelle Vollmacht und Verbindlichkeit gewinnt 3 0 . Verantwortetes Um-, Weiter- und Neuerzählen biblischer Geschichten, begleitet von Erläuterungen und Anknüpfungsverweisen auf unsere alltägliche Erfahrungswelt, dürfte auch heute das der viva vox evangelii ganz besonders angemessene Medium bleiben, weil Erzählen nicht nötigt und festlegt, ohne sein Wesen zu verlieren und so der Wirkung des Geistes Raum läßt. Die Verantwortlichkeit des Zeugen kann sich dann nur daran bemessen, wie er sich unter den in Punkt 2 genannten Gesichtspunkten und darüber hinaus dogmatisch reflektiert auf das traditum einläßt, ohne daß seine Gewissenhaftigkeit, geschweige denn die „Richtigkeit" einer bestimmten Auslegung den Geist und die Vollmacht seiner Verkündigung zu garantieren vermag. 4. Das führt als letztes zu der praktischen Konsequenz, daß das Nach-, Wieder- und Neuerzählen selbst - trotz unserer post-narrativen Zeit - als narrative Praxis neu gelernt und eingeübt werden muß, wenn unser Glaube nicht völlig sprach- und damit zugleich erfahrungslos werden soll. Denn so schließt Weinrich seinen Aufsatz - „selbst die stimmigste Theorie der Narrativität muß daher notwendig als inadäquat gelten gegenüber einer einfachen vor- oder nacherzählten Geschichte, die im Hörer Betroffenheit erzeugt und ihn zum ,Täter des Wortes' werden läßt, so daß von ihm wiederum erzählt werden kann" 3 1 .

29

Die Ablehnung der Faktizität als Wahrheitskriterium besagt jedoch nicht, daß die Frage nach einem historischen Kern oder historischen Bezug einer Erzählung nicht in mancherlei Hinsicht von größter Wichtigkeit ist, besonders hinsichtlich ihrer Funktion und im Blick auf die vorauszusetzende Erzählgemeinschaft. 30 Vgl. dazu E B E L I N G 1966a, 101 f. und 140. 31

WEINRICH

1973,

333.

54

Kapitel II: Erzählen - Basisform theologischer

Reflexion

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Bezogen auf den Religionsunterricht, ließen sich folgende grobe Schritte denken in Richtung auf eine Neu- und Rückbesinnung auf die Narrativität. Als Einstimmung wäre anhand von alltagsweltlichem Erzählen im Lebensbereich der Schüler selbst (Urlaubserzählung, Familienerzählungen u.a.) Eigenart, Sinn und Funktion des Erzählens aufzuhellen, was anhand von zeitgenössischen Kurzgeschichten (Kalendergeschichten, Groschenromane oder Brecht-, Bloch-, Hebel-Geschichten) vertieft werden könnte. Auf diesem Wege würde das Erzählen als Medium der Erfahrungsweitergabe mit eigenem Wahrheitswert erschlossen, zumal es heute weitgehend sowohl an einer passiven als auch ganz besonders an einer aktiven „narrativen Kompetenz" fehlen wird. Auf dem Hintergrund einer solchen Vorbereitung ließe sich die biblische Erzählwelt von verschiedenen Ausgangspunkten her angehen: 1. Man könnte alt- oder neutestamentliche Geschichten in verschiedenen Fassungen und Rezeptionen zum Ausgangspunkt nehmen, z.B. die Abra|hamsgeschichten, die ja nicht nur in der exilischen Prophetie, sondern auch bei Paulus (z.B. Rom 4) oder im Hebräerbrief eine Rolle spielen. Der Einstieg von späteren Rezeptionen her, wie er in diesem Beitrag gewählt worden ist, könnte dabei geeigneter sein, weil auf diese Weise zuerst die jeweiligen Erzählgemeinschaften mit ihren Bedürfnissen in den Blick kommen, von denen her die Erzählungen j a immer verstanden werden müssen. In gleicher Weise könnten natürlich auch bestimmte biblische Erzählungen auslegungsgeschichtlich verfolgt werden, sei es im Horizont der ganzen Kirchengeschichte, einschließlich der Auslegungstradition im Medium der Malerei und der bildenden Kunst, sei es im engeren Horizont der Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts mit ihren politisch-gesellschaftlichen Implikationen. 2. Ein ganz anderer Einstieg könnte in dem Versuch genommen werden, die Schüler zu einer biblischen Geschichte frei assoziieren zu lassen, woran sie eine solche Geschichte spontan und aktuell teilnehmen läßt und woran nicht. Von diesem Ausgangspunkt her wären die resonanzlosen Seiten einer solchen Geschichte aufzuarbeiten, indem wechselweise die historische und die aktuelle Erfahrungswelt der Schüler bzw. der damaligen Adressaten durch Informationen, Erzählungen und Gespräche angereichert und erweitert werden müßte, so daß es zu einem immer weiteren Verstehen kommt. 3. Man könnte sich mit einer Schulklasse das praktische Lernziel setzen, z.B. für einen Schulgottesdienst eine alt- oder neutestamentliche Erzählung so neu-, nach- oder umzuerzählen, daß sie für die Schüler und Mitschüler im Horizont ihrer eigenen Erfahrungswelt in möglichst dichter Weise teilnahmefahig wird und gleichwohl ihre ursprüngliche Funktion bewahrt,

[47]

I. Erzählen - Erzählung -

Erzählgemeinschaft

55

z.B. Mut und Hoffnung zu stiften, Verzweiflung und Angst zu nehmen, an der Freiheit des Reiches Gottes teilzugeben oder Schuld zu vergeben. Dieses hohe Ziel wäre allerdings nur dann erreicht, wenn eine solche Erzählung - sie könnte auch als Theater gespielt werden - ohne Deutung oder „Moral" auskommen würde.

2. Old Testament Exegesis and Linguistic Narrative Research (1986) This paper first mentions the contexts in which Old Testament narrative texts are dealt with, and in part one gives a sketch of the basic questions of a historical-exegetical narrative analysis. The main problem is how the manifold historical and pragmatical text backgrounds asked about are reflected in the text surface. More reliable and more conclusive observation criteria are to be expected from linguistic research efforts which illuminate generalizable correlations between the surface structure of narrative texts and the narrative strategies and structuring devices that are effective in the process of text production. In part two some of the individual problems of interpretation are going to be illuminated exemplarily by using the text Amos 7:10-17. Part three explains the cardinal methodological question concerning the correlation between text surface and narrative function(s) and discusses linguistic treatments of empirical narrative research, allowing conclusions from significant text surface phenomena to the communicative goals of the author and their socio-historical embodiment. Part four gives a closing sketch of interpretation of the text Amos 7:10-17 according to the methodological viewpoints developed in part three. The paper is an attempt to apply basic insights of empirical linguistic narrative research to historical-exegetical narrative analysis.

1. Basic questions of a historical-exegetical

narrative

analysis

Theologians have to deal with storytelling and narrative texts both in the academic and practical realms of their work. Stories are told in pastoral counseling, and narratives have long since been employed in elementary religious instruction, in children's services, and in sermons. The rediscovery of storytelling as a form of communication sui generis in theology has led to the propagation of the 'narrative sermon' under the label of 'narrative theology' (Weinrich 1973, cf. Hardmeier 1981) as well as to successful attempts at a 'narrative exegesis' (Hollenweger 1978). 1 This revival of interest in 'narrativics' is last but not least motivated by the churches' fundamental book, the Bible itself, which consists to a large extent of single narratives and larger narrating compositions. In all churches, especially those in the tradition of the Reformation having the sola scriptura as a constitutive principle, these biblical narratives are in a permanent process of text reception - being continuously restudied, rein-

1

C f . SCHROER 1 9 8 2 lit.!, BAUDLER

1982, and WACKER

1977 for the discussion

of

narratives in the theology which is primarily interested in practical theological problems.

58

Kapitel

II: Erzahlen

- Basisform

theologischer

Reflexion

[90]

terpreted, and reapplied, above all in view of preaching and religious instruction. On the background of these actual tasks and interests the questions in part arise, under which Old Testament research also investigates the narrative corpora of the Old Testament. The scope of this article, however, has to be restricted to a sketch of the basic questions of a historical-exegetical narrative analysis. The principle of the Reformation, to consider the Holy Scriptures as a norma normans for every present-day orientation towards life and the world, is a particular challenge for the historical-critical Old Testament exegesis to interpret the texts of the Bible also by taking into account the historically specific socio-cultural conditions of their origin. In the face of the considerable historical difference between the Iron Age culture of Ancient Israel and modern times the efforts of Old Testament exegesis present themselves as an extreme case of non-participant observation in diachronical respect which, nevertheless, is methodologically quite similar to the problem of non-participant observation in the social sciences. In the light of the peculiarity of the data at his disposal the Old Testament scholar has, however, to face considerably more complex difficulties in his undertaking. (1) The text corpus in itself cannot be increased, apart from the more or less accidental archeological text finds. (2) Narratives as they were told in Ancient Israel have been preserved, of course, only in written narrative texts which have been handed down, but not as a communicative process. (3) These texts are handed down primarily in the Old Hebrew language, the text grammatical aspects of which have hardly been researched. (4) Above all, however, these narrative texts have as a rule been handed down neither under the name of definite authors, nor have they titles nor immediately recognizable beginnings or endings which would mark them out as well-defined units. 2 This delimitation problematic is closely related to the special character of the Old Testament as a collection of canonical holy scriptures finalized about 100 A.D. The most complex difficulty, however, lies in the development process of the Old Testament which began and lasted centuries before canonization - the process of becoming a book comprising a people's library which contains the most varied historical-religious texts spanning over a period of about 1,000 years. The documents of this literary history, a number of which are very disparate in themselves, are only accessible to us in the result of having been revised many times, commented 2 T h e division into sections and the stating of titles in m o d e r n t r a n s l a t i o n s of the Bible - not taking into a c c o u n t the s u b d i v i s i o n into ' b o o k s ' - are not part of the original text and are the o f t e n distorting w o r k of the r e s p e c t i v e p u b l i s h e r s . F u r t h e r m o r e , p s e u d o - e p i g r a p h i c attributions are to b e t a k e n into a c c o u n t in bible writings.

[90/91]

2. Old Testament

Exegesis

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on and/or integrated into new | compositions (cf. Hardmeier 1978: 78 ff.), so that Old Testament exegesis has been trying for more than a hundred years to shed light on this history of literature which, as a whole, must still be considered practically unexplained (cf. Rendtorff 1983: ix, 131-139). The difficulties in reliably delimiting partial texts of the Old Testament as compositional or as simple or primary units corresponds on a categorial level to working with a text concept which is to a large extent unclarified or unreflected. This also holds true mutatis mutandis for the 'narrative'. As a rule one contents himself with listing and characterizing different genres (Gattungen) of narratives like the saga, the legend, or the apophthegm. 3 Fundamentally the clarification of the literary history of the Old Testament is of central significance because a partial text can only be adequately understood if it can be reliably categorized historically and consequently if it can be explained on the basis of its own historicalness and its own sociohistorical background. To be sure, our knowledge of the occurrence and social history of Ancient Israel - disregarding the results of archeological research - is almost exclusively mediated only by just these same documents of the Old Testament, which makes the urgency of a methodologically reliable dealing with the text all the more obvious (cf. Rendtorff 1983: 1-3). Therewith the biblical texts acquire an extraordinary eye-of-a-needlefunction in a twofold regard: on the one hand, they are the basis of the normative orientation towards life and the world of Jews and Christians in the present, and, on the other hand, they are as sources the basic criterion by which the Ancient Israelite-Jewish and Early Christian literary, social, and occurrence history is genuinely known. This eye-of-a-needle-character indicates the absolutely central significance of the text surface of these writings, from which all argumentations and investigations - whatever kind of formulating the question they might be and with whatever goals they might have - must proceed and on which they must prove themselves. 4 This surface orientation mirrors itself also in the historical development and differentiation of methodological approaches in the exegetical sciences since Enlightenment (cf. Richter 1971: 20 f., and the survey in Rogerson and Diebner 1980). But thereby the real methodological core question concerning the suitability and the evidential value of the text sur-

3

C f . e . g . R E N D T O R F F 1 9 8 3 : 8 8 - 9 2 ; S C H R O E R 1 9 8 2 : 2 2 7 f. m e n t i o n s a n u m b e r o f i m -

portant definition viewpoints and then lists several 'main forms'. For the attempt to define an adequate text concept, but on the basis of an insufficient approach cf. KOCH 1976: 21 ff.; cf. f u r t h e r HARDMEIER 1 9 7 8 : 5 2 - 1 5 3 . 4

K O C H 1 9 7 6 : 1 6 , H E L L H O L M 1 9 8 0 : 7 6 f . , a n d S C H W E I Z E R 1 9 8 1 : 7 f. a l s o

this point.

emphasize

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face observations, although they are constantly pointed out, found little attention. In many areas research even today is still marked by a naive formalism: the repeated occurrence of specific 'fixed expressions' and motives is frequently considered | without further reflection to be proof for genre structures (Gattungsstrukturen). 5 Or the frequent occurrence of certain expressions in different texts is repeatedly passed on as author-specific language use without having in many cases at least a sufficient occurrence basis, much less that restrictions in the available vocabulary or the thematic peculiarity of the texts are taken into account (cf. Hardmeier 1978: 138). Generally 'discrepancies in the working' - whatever this might mean in individual cases - are taken as indices of the incoherence of texts which one then tries to explain on the different levels of literary historical questions (cf. e.g. Barth and Steck 1980: 34 f.). This deficit in the necessarily primary argumentation with surface observations goes back mainly to the serious obscurities about how the manifold historical and pragmatical text backgrounds asked about are reflected in the text surface. Related to the analysis of narrative texts important impulses in this central problem field are to be expected above all from linguistic research efforts which illuminate generalizable correlations between the surface structure {Oberflachengestalt) of narrative texts and the narrative strategies and structuring devices (Gestaltungsmittel) that are effective in the process of text production and that the narrator employs in realizing a specific communicative effecting purpose (Wirkabsicht). Such research efforts move objectively in the framework of a text concept which defines surface texts in the sense of a language sign sequence as components or action substrata of communicative actions respectively (cf. Schmidt 1980: 70-79, Hardmeier 1978: 129 ff.). Only in having more exact knowledge of the generalizable constitutive conditions and structuring principles (Gestaltungsprinzipien) of narrative texts and in knowing about the manner of their representation on the text surface can it be expected that more reliable and more conclusive observation criteria in the sense of refining the methodological equipment could be found for working on and solving the mentioned literary and socio-historical questions. 6

5

C f . e.g. KOCH 1 9 8 1 : 6, a n d f o r t h e p r o b l e m cf. HARDMEIER 1 9 7 8 : 2 5 6 - 2 6 9 as w e l l as

HELLHOLM 1 9 8 2 : 1 6 3 ff. 6 Cf. KOCH 1976: 6 for this expectation. For the relationship between linguistics, literary science, and Old Testament exegesis cf. the literature survey by PREUSS 1982.

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2. Problems in interpreting Amos 7:10-17 In the following some of the individual problems of interpretation are going to be illuminated exemplarily by using the especially controversial text Amos 7:10-17 in order to give the needed vividness to the outlined basic methodological problematic of Old Testament narrative and text analysis. Concerning Amos 7:10-17 exegetes agree solely on the fact that it clearly stands out from its literary context. It is inserted between the third and the | fourth vision reports (Amos 7:7-8 and 8:1-2, extended by 7:9 and 8:3 respectively; cf. e.g. Tucker 1973: 425, Wolff 1975: 340 f.), a cycle of reports on appearances of God that are rendered by Amos in the first person and close with direct speeches of God. In contrast to that 7:10-17 narrates about Amos in the third person, how he responds (vv. 14-17) to the speaking ban of the chief priest of Bethel and his command to leave the state sanctuary (vv. 12 ff.). (v. 10) And sent Amaziah, the priest of Bethel, to Jeroboam, the king of Israel, saying: 'Amos has conspired against you in the midst of the house Israel. Not able is the land to bear all his words', (v. 11) For thus Amos has said: 'By the sword will die Jeroboam, and Israel will be led away, led away from its arable soil', (v. 12) And said Amaziah to Amos: 'Seer, go, flee away to the land of Judah, and eat there bread, and prophesy there! (v. 13) Bethel - you will not prophesy anymore because it is a sanctuary of the king, and it is a temple of the kingdom', (v. 14) And answered Amos and said to Amaziah: 'No prophet I am, nor a prophet's disciple I am, but a herdsman I am and a dressor of sycamore figs', (v. 15) And took me Yahweh from behind the flock, and said to me Yahweh: 'Go, prophesy to my people Israel!' (v. 16) And now, hear the word of Yahweh, you who are saying: 'Do not prophesy against Israel, and do not go driveling against the house of Isaac', (v. 17) Therefore thus says Yahweh: 'Your wife will be whoring in the city, and your sons and your daughters by the sword will fall, and your arable soil will be parceled out by line, and you - on unclean soil you will die, and Israel will be led away, led away from its arable soil'.

The given translation follows the sentence structure and the word order of the original text as closely as possible. In order to understand this text some framework information is necessary: Amos came from Tekoa which belonged to the Kingdom of Judah. Around 760 B.C. he appeared as a radical prophet of doom in different centers of the neighboring state Israel, the so-called Northern Kingdom, and proclamed death, destruction, and deportation for the land and the people because of the glaring conditions of injustice which he had diagnosed. 7 Especially in the Northern Kingdom groups of prophets and their school leaders had at times a substantial influence on politics (cf. e.g. 2 Kgs 9). Therefore they constantly presented a considerable factor of political instability to which fact Amaziah seems to 7 Besides Amos 7:11 and 17 cf. e.g. Amos 3:9-15, 4:1-3, 5:1 f., 10-12, 16-27, and ch. 6. For the whole Markert 1978 and Wolff 1975 :105-108.

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allude in 7:11. According to Jer. 20:1 f. and 29:26 f. these prophets were placed under the supervision of the chief priests of the state sanctuaries and possibly even received a certain compensation for their activities. In 7:14 Amos seems to deny membership in one of these groups as insinuated by Amaziah. Although Amos 7:10-17 proves itself on the basis of its literary context without any doubt to be an interpolation, it is nevertheless controversial in research whether this interpolation itself has to be understood as a fragment | out of a larger context because a beginning or an ending are alledgedly missing, or whether it is as a self-contained text unit sufficient within itself, or whether it is so heterogeneous in itself that it is in need of a thorough explanation. The older research which held the text ending to be unsatisfactory (discussed in Weiser 1929: 261 f. and Rudolph 1971: 252) missed above all that the text is silent about the further fate of Amos. Apparently modern reader expectations are here brought into the text, being interested in historical-biographical information (so also Weiser 1929: 261 f.). At first, however, it must be examined on the basis of text immanent criteria if the text section really has the function to provide historical-biographical information in the form of a report. Methodologically the historical source and index value of Old Testament narrative texts can only be reliably determined if beforehand their function is more exactly clarified. But even then, if a historical-biographical reporting intention could be assumed, the further problem of not being able to go behind the mediation of complex historical-social constellations in the perspective of the presupposed reporter or narrator would remain. In any case, the highly complex transitional conditions between occurrence, cognitive story, and actually narrated version (cf. e.g. Quasthoff 1980: 46 ff.) in the production process of a narrative must be considered. Representatives of the fragment hypothesis who miss an appropriate beginning of the narrative (e.g. Robinson and Horst 1964: 99, Ackroyd 1977: 81 f.) refer in part to the surface observation that v. 10 begins with a type of sentence that is not expected in absolute narrative beginnings: 'And sent Amaziah, the priest of Bethel, to ...' (cf. Bjorndalen 1980: 239, for the grammatical problem Groß 1981: 63 f.). This leads Ackroyd to the attempt to reconstruct hypothetically the possible narrative beginning out of analogous conflict stories (cf. also Bjorndalen 1980). Methodologically the matter in question is what conditions narrative beginnings must suffice. Are there minimal requirements in thematic terms for an initial orientation which appear in my intuitive judgement as sufficient in the case at stake? Can conditions for the beginnings of narratives be established at all on a sentence grammatical or text syntactical level and, if yes, how? Or can a

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narrative, at least relatively, begin with 'and', especially if it is a literarily embedded text like Amos 7:10-17? (For the multifunctionality of the 'connecting signal' 'and' cf. Quasthoff 1980: 213 ff..) In the most recent research not only the incompleteness of Amos 7:1017 is being debated, but also the internal unity of the text section. Bach (1981: 205) thus roundly denies that the text section has the character of a narrative and interprets the vv. 14-17 completely isolated from the preceding text, as if it were - with the exception of the first half of v. 16 - a matter of 'first of all spoken words' (1981: 213) in the sense of a closed rhetorical unit. But still these verses are explicitly introduced as an answer to the Amaziah speech, | which Bach is only able to restylize into an absolute speech beginning at the cost of mistaken sentence grammatical interpretation of the vv. 14 f. This view, however, will not be discussed here in detail. For his isolated way of viewing Bach above all appeals to Wurthwein (1970) and to Wolff's genre definition (Gattungsbestimmung) of the section as an apophthegm (memorabile), 'in which a historical instance is only presented in order to make the growing forth of a well-aimed prophetic saying understandable and to explain the saying in this way' (Wolff 1975: 354). With this genre definition, however, a function attribution is simultaneously put into effect which is in no way obvious and which is not further verified by Wolff. Also here again the central desideratum of a function analysis based on text theory, which relies on criteria immanent in the texts, becomes apparent. But even if the claimed narrating and structuring intention could be assumed, the next question would arise: can one without further do conclude from this that the saying because of which the framework forming story has supposedly been told is an oral logion which remains unchanged in its word stock and is analyzable in itself, as Wurthwein and Bach explicitly presuppose? The matter in question herein is a text understanding that conceives of the production of texts as a compilation of fixed word chains, sentence sequences, and text segments which can be cleanly differentiated afterwards by the analyzing exegete according to there word volume and can be explained diachronically as testimonies of the different 'growth stages' of the text. This text understanding, which is subliminally widely spread in exegetical research, urgently needs a fundamental text theoretical revision (cf. Hardmeier 1978: 69, 112). In particular, the significance and function of direct speech in narrative texts would have to be taken into consideration more precisely. As a structuring device (Gestaltungsmittel) of the narrator direct speech cannot be considered uncritically as quasi ossified quotation out of the narrated situation or without thorough investigation out of a corpus of saying.

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The positions in Old Testament exegesis which have been presented so far call the textual coherence of Amos 7:10-17 into question in different ways. It becomes clear that the various assumptions of incoherence are probably motivated by inappropriate reader expectations and by function attributions which have been made uncritically into the presupposition of analysis. As far as Bach and Wurthwein are concerned a mechanical-additive text understanding plays a role beyond that. But even for those exegetes who view and interpret Amos 7:10-17 without additional hypotheses as a unit which is complete in itself the question concerning the function of this short narrative stands in the center of attention. The variety of interpretations and their arbitrariness here also indicate the unresolved problem concerning the correlations between narrative function(s) and text surface. The question whether the narrative Amos 7:10-17 is either an Amaziah or more an Amos story is the one which is especially discussed, unless one views | this alternative as a falsely asked question as Rudolph does (1971: 252). According to Wolff (1975: 354) 'Amaziah is the real theme of this segment'. But Wolff does not further substantiate positively this antithesis to a biographical interpretation which is mainly interested in Amos (cf. Weiser 1929). Wolff sees this segment as a whole standing under the question of 'who is the real rebel?' (1975: 365) with the result that 'Amaziah, the priest, with his easy inclination to compromise is in truth unmasked as the rebell'. Bjorndalen accordingly sees the reader of the book of Amos as being warned (1980: 250) not '(to) succumb to the temptation of taking on Amaziah's attitude towards Amos and his Lord'. He distances himself critically from those interpreters, such as Tucker among others, who see the legitimation of Amos and his message as the crucial thematic point of this section (1973: 433). For Tucker v. 15 is thereby a particularly crucial point: ' Yahweh called him (sc. Amos) and commissioned him to prophesy' (1973: 433). According to Bjorndalen, however, who points to the semantically unnecessary renominalization of Yahweh's name in the second part of the verse, this emphasizes in particular that 'in contrast to v. 14 v. 15 puts not the prophet, but Yahweh in the foreground' (1980: 242, fn. 16). Thus not the legitimacy of Amos and his prophesy, but the confrontation of ' Y a h w e h ' s will against Amaziah's will' would stand in the foreground (1980: 243, 250). Furthermore, the role that Amaziah plays over against Amos is controversial. The starting point of this debate is the immediate transition from the Amaziah-Jeroboam-scene in vv. 10 f. to the Amaziah-Amos-scene in vv. 12-17. What did not appear to the narrator at that time as being worthy of being narrated to his addressees has all the more inspired the reader expectations of the exegetes: 'Naturally it would have served clarity if the narrator had explicitly stated that the priest's intervention was based on the

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king's consent or order', as Rudolph (1971: 254 f.) thinks he knows and portrays Amaziah as a loyal executioner whose words in vv. 12 f. testify to nothing other than 'ironical condescension ... towards a straying starving wretch'. 8 In contrast to this view Wolff suspects that the priest Amaziah did not even wait at all for the arrival of the royal order and interprets the Amaziah speech in vv. 12 f. as benevolent advice for Amos to leave the country, in order to protect him from persecution by the king. Here originates the picture of an official of the sanctuary who is ready to compromise and who is caught in the conflict between his inclination and his duty: 'He does not risk forbidding proclamation, but neither does he want to wait for the king's order, so he advises crossing the border'. 9 | This debate just presented deals methodologically with the question of how (apparently) abrupt transitions from one scene to another, which are perceived as information gaps, can be categorized and evaluated in the light of author intention. It is particularly striking how virtually contradictory lines of interpretation are founded by appealing to exactly the same text phenomena. But here, too, certain phenomena on the text surface are related to the function of the narrative text, and here again we encounter the fundamental methodological problem of the correlation between text surface and narrative function(s).

3. Methodological

approach

In order to take on this basic problem, first of all, several initial points have to be registered. When interpreting Old Testament narrative texts one must proceed at first from the fact that the units of discourse involved are constituted in writing. Thereby one must principly bear in mind that the situation of text production through a generally unknown author differs from the situation of text reception through readers or - in the case of communicating by reading aloud (cf. e.g. Jer. 36:4-6, 10) - through listeners. Therefore it can only be immediately inferred from a narrative text constituted in writing what the author wanted to effect with his narrative and what addressees he had in mind, but not what his intended and, all the more, unintended readers might have gathered and actually did gather from the text according to their expectations (cf. Ehlich 1983 and Schmidt 1980: 58 ff.).

8

RUDOLPH 1971: 255; for further representatives of this line of interpretation cf.

BJ0RNDALEN 1 9 8 0 : 2 4 1 , f n . 10. 9

WOLFF 1975. For similar portrays cf. the authors named by RUDOLPH 1971: 254 and

BJ0RNDALEN 1 9 8 0 : 2 4 1 , f n . 11.

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Even narrating constituted in writing has generally to be understood as intentional communicative action that was an event determined by a specific situation in the process of text production and that has or will become a new event bound to a certain situation in all acts of receptive appropriation. The constitution of narrative texts in writing is also particularly derived from interactional oral narrating to the extent that an author conceptualizes his text in view of readers imagined by himself and includes by way of his addressee hypothesis (Hardmeier 1978: 97 f.) possible reactions of his readers (e.g. question for further information, confirmation, contradiction, boredom, or curiosity) in the process of text constitution (cf. Quasthoff 1981, 1980: 45 ff. as well as Kallmeyer 1981: 419 f.). While the first two points mentioned above hold true for every kind of written communication, we see the specific quality of narrative communication - also of that constituted in writing - in the reference to past, at the time of narrating already terminated event and action connections which are bound to specific event agents and which are localizable in terms of both time and place. As far as these narrated connections belong to the everyday world every narrative is retroperspective and necessitates the fundamental differentiation | between the narrating situation at the time of text production and the narrated situation at the time of the presented events and actions. The ensemble of these events and actions might be designated as 'cognitive story' to which a narrator refers himself with his narrative text over against his addressees (cf. Quasthoff 1981: 289). A further specific quality of narrative communication is that the narrated story appears to be reportable; that means that it, in whatever way imaginable, carries within itself on the part of the author, for example, a tension, a climax or other establishments of relevance with regard to the entirety of the story (cf. Quasthoff 1980: 52 ff.). Then only in this way can the narrator maintain his speaking role in the realm of conversational narrating undisputedly for a fairly long time (cf. Quasthoff 1980: 86, Kallmeyer and Schiitze 1977: 162 f.); and only because of its relevance does a written narrative find over and over again new readers so that its active further transmission remains secured. 10 Proceeding from these four points the following consequence is be drawn for the interpretation of Old Testament narrative texts: a handeddown narrative text only gives primary and direct information about the even if generally unknown - author of this text, about the background of his knowledge and experience, about his narrating competence, about his hypothetically presupposed readers as well as about the relevance he at10

Writing commentaries, editorializing revisions up to canonizing writings as text reconstructing phenomena make under this viewpoint the function of secondary establishments of relevance in the literary transmission process recognizable.

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tributes to the narrated events at the time of text production. This establishment of relevance reveals the communicative function of his narrative over against his readers, and by this function the (retro-)perspective is determined in its weighing, selecting, and organizing of event correlations. The so structured (retro-)perspective makes the totality of the narrated into a reportable story, an author specific version of narrated past at the time of text production. Viewed methodologically the author's situation of text production and his perspective are for this reason the Archimedean point with reference to which first and alone the coherence or incoherence of a narrative section can be meaningfully discussed. Thereby one should only then assume a heterogeneity if all attempts to maintain the unity of the text within the stated orientation have failed. In the same way every historical inquiry into the narrated events and their historical evidential value should be referred first of all to the author and his perspective of time and value, before one immediately judges and evaluates these events themselves, for example, in comparison with other historical sources. On the other hand, all reader expectations that are inevitably brought into the text and all attributions of function have to be measured on the function which the author himself has given to his text. Investigating this function along with the situation of the author is, therefore, the primary | task of all historical interpretation of narrative texts, because neither this function nor the author's situation are as a rule explicitly expressed in the narrative text itself. Therewith the cardinal methodological question concerning the correlation between text surface and narrative function(s) has to be concentrated on the question of how, and particularly, how a narrative text constituted in writing can be comprehended both on the hand of the language devices employed in it and also on the hand of its overall structure (macro-structure) as a result of the narrating intention and effecting purpose of an author over against his imagined readers at the time of text production. Linguistic treatments, especially of empirical narrative research, which give their attention to the constituting process of narratives and search for correlates on the text surface can help us along significantly because of the following: by reversing the direction of the question reverse conclusions from significant text surface phenomena of transmitted narrative texts to the communicative goals of the author and their socio-historical embediment might be possible. The ability to generalize and therewith the ability to transfer such approaches might be most certainly given there where the basic criteria and categories are formed and developed in formal pragmatic orientation on the elementary conditions of narrating as a communicative process (cf. e.g. Giilich 1976, Kallmeyer and Schutze 1977, Quasthoff 1980: 44 ff.). Then,

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first of all, it is to be assumed for Old Testament as well as, for instance, medieval or contemporary narrative processes that they are similarly structured in their pragmatic-communicative formal properties of the narrative realization of certain communicative needs. Discerning thoroughly the differences in culture and corpora it must, nevertheless, be presupposed, secondly, that literary narrative competence independent of time and culture is based on an oral interactive competence, which is in all cases primarily achieved, and possibly elaborated, but structurally it does not operate in a different way (cf. Kallmeyer 1981: 410). Furthermore, in Old Testament narrative texts surprising structural similarities to oral forms of'conversational narrating' are recognizable. The extremely consequent 'and'-connection of Old Hebrew narrative sentences, the lack of original narrative tenses, the infrequency of indirect speech, and accordingly the high proportion of direct speech might indicate this nearness (cf. for 'conversational narrating' Quasthoff 1980: 213 ff.). With the central differentiation o f ' c o g n i t i v e figures' or 'structures' of a narrative respectively, that means, of the general elements of content on the one hand and of the structuring procedures (Gestaltungsverfahren) which are effective in the narrating presentation of these 'contents' on the other hand Kallmeyer and Schiitze (1977) (and cf. Kallmeyer 1981), are successful in grasping the entire organisation of a narrative text as a function of the communicative author-reader-interaction (cf. also Quasthoff 1980: 44 ff.). A narrative text then documents the result of applying the structuring principles | (Gestaltungsprinzipien) which are specifically applied by its author for communicative purpose in the presentation of the thematic story with its partial structures. The following belong essentially to these partial structures: the event agents (Ereignistrager), the chain(s) of events, and the situation(s), 'that means high-lighted elements of the chain of events which are presented... particularly detailed' (Kallmeyer 1981: 411). According to Kallmeyer and Schiitze (1977: 162, 187 ff.) the narrator in the presentation of these cognitive elements constantly stands, on the one hand, before the task of adequately detailing these elements over against the addressees ('detailing compulsion'), that is, in particular, that he has so to characterize the event agents, so to indexicalize the high-lighted situations temporally and locally, and so plausibly to intertwine the event chain(s) in their sequence and interdependence, that the addressees presupposed by the author can make for themselves an adequate idea of the entire story and the partial structures that constitute it. This also implies that, for example, both the high-lighted situations in their scenery as partial structures as well as the thematic story as a whole in its course of events are so closed ('closing the structure compulsion', Gestaltschliefiungszwang) that

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no essential questions or that no questions not so intended by the author remain open. On the other hand, a narrator cannot present anything and everything and, above all, nothing that he can presuppose as known in arbitrary detailedness. He must limit himself according to his perception of the most important and the relevant in order not to exhaust the attentiveness of either the hearers or the readers. Therewith in the process of text production he stands simultaneously under the permanent compulsion of condensing his presentation ('condensing compulsion'). If one now not only comprehends narrative texts as narrating presentation of a story, but simultaneously as a result of applying structuring principles applied specifically to a situation and to addressees, then it must among other things above all be possible to infer from the macro-structure of these texts how and with what intention the narrator concretely 'solved' the permanent dilemma between adequate detailing as well as structure closing and necessarily condensing and therewith how he established the relevance of his narrative over against his addressees (cf. Kallmeyer 1981: 412). As a methodological instrument in describing the macro-structure of narrative texts by surface orientation one can in this case especially profit from the approach of Giilich and Raible (1979). 11 If one merely disregards the partial text hierarchialization and classifies narrative texts according to the suggested criteria, then a considerable affinity manifests itself between the delimitable partial texts according to Giilich and Raible and the specific - detailing or condensing - ways of realizing cognitive partial structures in the sense of | Kallmeyer and Schütze. Especially through the segmentation characteristics with an analogon in the text external realm ('episode and iteration characteristics' and 'change in the constellation of the acting agents' 1979: 84 f., 90 ff.) partial texts can be delimited that essentially correspond to the high-lighted situations according to Kallmeyer and Schütze and as partial units can be investigated as to their detailing degree and as to their contribution to (partial) structure closing. Iterative partial units are quite certainly to be interpreted as representations of detailing characterizations of event agents or situations (cf. Kallmeyer and Schütze 1977: 193). The according to Gülich and Raible (1979: 81 ff.) delimitable direct speeches on different, introduced levels of communication prove themselves to be in the concept of Kallmeyer and Schütze special forms of the detailing of narrated speech acts and are correspondingly functionally evaluable, which in a similar way might be valid for the change of tenses into the scenic present (cf. Quasthoff 1980: 130, 224 ff., Kallmeyer and Schütze 1977: 192). On the other hand, 'substitutions on the meta-level' 11

For the reception of this approach in exegesis cf. HELLHOLM 1980.

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(Giilich and Raible 1979: 106 ff.) are most likely to be seen in the framework of explicit evaluation structures and narrative perspectives on the part of the author (cf. Kallmeyer 1981: 416 ff.).

4. Sketch of an interpretation of Amos 7:10-17 A closing sketch of interpretation may illustrate what has been developed in the former part. If one segments and interprets Amos 7:10-17 according to the sketched viewpoints there results a clearly delimited scope in which the intention and effecting purpose underlying this text are to be more precisely determined. We assume that the present text section and its partial texts in the sense of the author and his addressee hypothesis intend to be a closed structure (Gestalt). According to Gulich and Raible the section is first to be divided into two partial texts of the first degree oriented on the 'change in the constellation of the acting agents': Amaziah-Jeroboam in vv. 10 f. and AmaziahAmos in vv. 12-17. The further sub-segmentation of the second partial text into two partial texts of the second degree is occasioned by the change of roles in v. 14 which is additionally emphasized by the renominalization of both acting agents. Therewith all the segmentation viewpoints on the first level of communication are already exhausted. On the second level of communication lie the second part of v. 10 with the beginning of v. 11, the vv. 12 f., 14, and the first half of v. 15 (each in turn without speech introductions on the first level) as well as the speech introductions in the verse beginnings of vv. 16 and 17. Embedded speeches on the third level of communication are found in the vv. 11, 15, 16, and 17. What is particularly striking in this segmentation is that every specificly | expressed indexicalization of the scene according to time and place in, for example, the form of adverbial declarations is missing. 12 This extreme condensing in the temporal and local respect shows that - if only as a secondary theme - neither historical nor biographical interests could have also determined the narrative intention which would have allowed at least a minimum of marked historical distance of the narrated to be recognized (cf. e.g. Amos 1:1; Isa. 6:1) or which would have allowed the integration into a larger historical biographical framework to be expected. Accordingly the before-hand-afterwards-relation between both of the partial texts of the first degree does not matter at all (vv. 10 f. and 12-17). If therewith the macro-structure of the whole reflects itself either alone in the change of 12 The local reference in the characterization of Amaziah in v. 10 and the reference to localities in the direct speeches reveal only indirectly the place of the narrated occurrence for the reader.

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person constellation or in the change of acting roles, then the entire relevance of the narrative is to be sought in the event agents, in the manner of their characterization as well as in the manner in which their actions are narrated. If one views of the event chain on the first level of communication, then again the extraordinary reduction to the introduction of the three direct speech acts hits the eye: Amaziah let Jeroboam be told (v. 10), Amaziah said to Amos (v. 12), and Amos answered Amaziah (v. 14). This 'event poverty' on the first level of communication indicates in its turn according to the observed missing of a temporal or local indexicalization an extreme condensing of the framework act without any non-verbal accompanying act, if one disregards the narrated commissioning happening with its short beginning characterizations in v. 10. Over against this condensing stands a maximum of detailing as far as the narrated direct speech acts themselves are concerned. These are not reported on, as is certainly thinkable, but they are presented on the embedded levels of communication, quasi scenically produced. By this means of the virtually dramatic presentation the distance of the narrated which resides in all narrating is to the furthest degree abolished. Therewith the author evokes a maximum of immediate participation possibility on the part of the readers in the narrated conflict and offers the highest degree of direct identification or counter-identification with the verbally acting opponents (cf. Quasthoff 1980: 231 ff.). Exactly because every localization in terms of time and place as well as narrated accompanying acts are missing the presented controversy as such stands all the more glaringly in the foreground, as if it were taking place almost directly before the eyes of the readers or hearers. For this reason only the manner how the presented controversy is carried out, its central theme and the characterization of the acting agents, can lead closer to the track of the primary function of this narrative (cf. Kallmeyer 1981: 416 ff.). Therein it becomes clear in any case that neither the reaction of the king to Amaziah's report in court can be of any significance, nor the chief priest's | decision distress, which is in like manner carried into the text, how he should decide over against Amos in the assumed authority conflict. If one views the present profile of the event agents at first on the first level of communication, then the one-sided detailing of the opponents of Amos becomes conspicuous, while the prophet himself is only called by his own name. Related to the perspective of the narrator and his reader hypothesis a nearness to Amos and a relative distance to his opponents reflects itself therein: Amos does not need any further characterization; Amaziah and Jeroboam are more closely characterized through their political-representative functions. Thus a self-understood familiarity with the prophet is presupposed which among other things allows one to infer a

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Reflexion

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narrative milieu among his later followers (cf. Wolff 1975: 355 f., Tucker 1973: 431 f.). The political-representative characterization of Amaziah and Jeroboam, however, hardly only fills an information gap which might be presupposed because of the relative historical distance. Its function first becomes transparent on the background of the further characterization of the event agents on the embedded communication levels. While the addressing of Amos as 'seer' in v. 12 lets at most the evaluation of the person of the prophet in the presented view of Amaziah be known, 13 and while any characterizations whatsoever of Yahweh in vv. 1517 and of Amos are misssing, then it is all the more informative how in all the direct speeches the speech is about Israel and - in the mouth of Amaziah - about the sanctuary in Bethel. Both entities appear on the first level of communication without further characterizations only in the framework of the personal characterization in v. 10. On the second and third level, however, consequently and exclusively the political-territorial aspect of both entities stands out in the perspective of Amaziah: 'House' Israel (v. 10) or Isaac (v. 16) respectively as a denotation of the dynastically ruled state; the 'land' (v. 11) stands for the state territory of Northern Israel in contrast to the 'land of Judah' (v. 12), and the sanctuary in Bethel is emphatically declared to be a sanctuary of the king and a building of the kingdom. In a similarly striking contrast thereto the narrator lets Amos speak of the territory of Israel under the aspect of the agriculturally productive arable soil only (vv. 11, 17), in the delivered word of God over against the priest lets him speak under the cultic religious aspect of the clean or unclean soil, and lets Yahweh speak in v. 16 of the people Israel as his property ('my people'). The land under the viewpoint of its elementary life-preserving function and the people under the aspect of its true Lord and owner stand diametrically opposed to the perspective of Amaziah in which state ruling dominates. | This clear profile in the characterization of the event agents corresponds most closely to that which is debated in the direct speeches. The highlighted situations in contrast to the event poverty of the narrative chain here in their detailing practically fall together with these direct speeches. In the first, the Amaziah-Jeroboam-scene, Amaziah places in an exact correspondence to the elaborated characterization profile the activity of Amos also under the exclusively state-political key accusation of subversive conspiracy against the king with its devasting consequences for the land in

13

As a framework establishing information of the author for the reader this characterization would have to follow as an apposition on the first level of communication immediately behind 'Amos': 'And said Amaziah to Amos, the seer...'

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Amaziah's opinion. The narrator lets Amaziah 'validate' this accusation finally with a quotation of Amos aimed at the king. In the first part of the second scene (v. 12) the chief priest now acts on the background of the orienting opening scene. While there the state office authority of Amaziah becomes clear through his report in court, the second scene now shows which concrete measures the loyal priest enacts against the in his eyes subversive prophet with his state endangering message. They are political-administrative measures: expelling from the state (v. 12) and banning speaking (v. 13) by virtue of the state authority which Amaziah now also actually enforces against Amos by pointing to the state character of the sanctuary. In the concluding part of the second scene the twofold division of the course of speaking is to be heeded. With 'and n o w ' in v. 16 the main assertion within a longer speech is opened which the preceding speech part leads up to. Amos also turns himself in the perspective of the narrator for the first time in v. 16 to explicitly addressing Amaziah - simultaneously in the new role of being a messenger of God who actually delivers a word of God. The first part of the 'answer' (vv. 14 f.) does indeed not go directly into the issued commands of Amaziah (expulsion from the state and banning of speaking), but certainly, however, into the legitimacy of the presuppositions and insinuations connected with the orders. The indication of Amos, that he is neither a prophet nor a prophet's disciple, certainly alludes to the claimed supervision authority of the chief priest (cf. Jer. 29:26 ff.). In any case, however, and this is substantiated by indicating his agricultural profession, the seer in v. 14 repudiates the insinuation that his material existence could be threatened by the proclamation prohibition and the expulsion command (cf. v. 12) as if it were dependent on his proclamation activity. Surely in v. 15, however, the legitimacy question becomes the dominating theme. While Amaziah in v. 13 refers himself to the state authority of his orders and therewith - doubly emphasized - finally to the king himself who, institutionally mediated, stands behind his action, Amos, on the other hand, points in v. 15 in corresponding double emphasis to Yahweh, who has called him as an outsider and to whose bidding he has spoken and speaks. In the scenic foreground Amos and Amaziah are indeed standing against each other, but in the legitimating background contrarily juxtapositioned are Yahweh and the power of state, represented by the king,| which by its sacral undergirding equally claims divine ordering authority finally also founded in Yahweh. The documented attitude of Amos in this conflict is clear. He contests not only in v. 14; in v. 15 he withdraws from the priestly representative of the state power the legitimacy of his ordering authority by pointing to his singular obedience to Yahweh, his God, from whom he knows himself to

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be called and sent to the people Israel. And in just this Yahweh obedience Amos practices then ultimately in vv. 16 f. stante pede his disobedience against state authority and order in the face of the priest. In that he directs his word of God to the address of that very one who had just beforehand forbidden his voice, he breaks through in the narrated scene in actu the speaking prohibition ordered in v. 13. In this climax in vv. 16 f., however, not only do all the threats of the Amaziah-Amos-controversy out of the second scene run together, but also the still open lines in the opening scene. The thematic story which carries the whole shows contures. The following is to be heeded: Amos interprets the action of the priest in summary as the prohibition 'to drivel against' Israel, 14 especially against the 'house Isaac' i.e. the dynastically ruled Northern Kingdom, in full accordance with Amaziah's evaluation of Amos's proclamation, already known to the reader, in the opening scene. Secondly, the narrator lets the prophet finally as a messenger of God literally repeat the fundamental announcement of doom over all Israel which Amaziah initially sold to the house of the king (v. 11). If there, however, the word of doom in its first part is concretely aimed at the king and his personal fate, then here in v. 17 in exact correspondence this concrete aiming is directed at the priest and his value world 15 after Amos has had to deal directly with him in the second scene. More important, however, is thirdly that in v. 11 the doom announcement is pointedly recorded as a word of Amos. In contrast to this the prophet in v. 17 introduces this announcement with the same so-called 'messenger formula' as in v. 11 ('So says so and so') as a word of Yahweh. What the priest at the beginning of the narrative cites as evidence for the conspiracy of Amos against the king, the prophet repeats at the end in divine authority and turns it concretely against the priest in actually breaking through the ban to speak, which Amaziah had just issued by virtue of state authority. Therewith the ring of this small narrative is closed in its thoroughly chiastic structure, also in terms of the formal correspondencies. | The function of this short story can be infered from the previously worked out structure in two respects: in the first instance Amos' central message of doom involving the end of Israel (7:11, cf. especially 8:2) is being liberated from the worst accusation of conspiring against state and

14 Notice in contrast to this that Amos in v. 15 knows himself sent by Yahweh to speak to, not against Israel. 15 In the first instance the family is affected; whereby among others the priest's descendants will die 'by the sword' like Jeroboam (cf. v. 11). In a further instance the loss of the arable soil is involved as it is the case in v. 11 for Israel, so here personally aimed at Amaziah. And the announcement of dying on unclean soil hits the core of Amaziah's sacral value world with its central distinction between clean and unclean.

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king. What arrives at the address of the state offices as state treason and rebellion remains in the perspective of the narrator Yahweh's word, to which Amos clings unflinchingly and undauntedly. Yahweh with his claim to the prophet stands above and, in this actual case, against the state authority which views itself as being equally divinely legitimated through its sacral institutions (cf. especially 1 Kgs 12:26-29). Him, his God, Amos obeys in delivering his message in spite of all the hardship more than the king and his also sacrally authorized representative. In the second instance the narrative lives now, however, above all from the how, how lucidly and quick-wittedly Amos sets himself against the insinuations of the state priest, who embodies the raison d'Etat, and how he in this way moves from an initial defense into the offense. So Amos is on the dramatic foreground level uncontestably the 'hero' of the narrative who has the last word, as much as at the beginning Amaziah, his counterpart, has dominated the scene. With the so depicted 'hero' the readers are to identify themselves, according to the assumed intention of the author: because he finally 'victoriously' has the say, and - as we have seen - he needs as a 'familiar figure' of the narrative milieu no further characterization. Above all the scenicdramatic way of narrating itself presents the occurrence as if it were being enacted right before the ears of the readers. And therewith it warrants a maximum of mimetic identification with the dramatis personae, especially with the courageous prophet himself. Even if a possibly historical conflict between Amos and Amaziah is pictured in this short story, this narrative, however, owes its specific structuring profile in first instance to the narrative situation in which by means of the historical retro-perspective the accute problem of a narrative milieu is simultaneously being dealt with (cf. Tucker 1973: 431), i.e. of a milieu, that was subjected to similar accusations. Provided that Wolffs thesis is correct (1975: 355 f.) that a disciple-ship of Amos must be involved in this, which about 30 years later in Judah carried on his words with commentary supplementation and editorial revision, then the passing on and spreading of these 'dangerous' words and especially the actualizing treatment of them could have provoked such reactions. At the same time after 732, indeed, Isaiah and his disciples had to deal critically with the same accusation (Isa. 8,12). But taken on this situational background, which is opened up on the basis of the general theme and the specific way of narrating, the function of the narrative can then neither lie therein that Amaziah should be positioned as the true rebel against Yahweh (so Wolff), nor that the readers should be warned about a possible Amaziah behavior (so Bjorndalen). Not Amaziah, but Amos | stands as 'hero' in the narrative foreground, but not once again

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in order to identify him legitimately 'with a traditional prophetic role' (so Tucker 1973: 432), but to support and to encourage his disciples and descendants, who - subjected to similarly severe accusations - as little as Amos himself should let themselves be lead astray and should courageously stick to the cause of the prophecy of doom that has to be carried on. As the illumination of devasting social guilt with its self-destructive consequences this prophecy intends to contribute to conversion in order nevertheless still to escape the already at that time discernable catastrophes for the contemporary people Israel. Amos and his descendants could not be of greater relevance in our present, but also the Amaziahs have still not died out and are as always working with the same means.

3. „Stark wie der Tod ist die Liebe" Der Mensch und sein Tod in den Schriften des Alten Testaments (2001)

Kommilitoninnen und Kommilitonen, verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Lassen Sie mich gleich zur Sache kommen. Im Rahmen dieser Ringvorlesung habe ich die Aufgabe übernommen, Ihnen in gut fünfzig Minuten etwas zu sagen zum Menschen und seinem Tod nach den Schriften des Alten Testaments. Zu diesen Schriften muss ich kurz etwas vorausschicken. Alt sind diese Schriften in der Tat. Die ersten Schriftzeugnisse, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit datierbar sind, stammen spätestens aus dem 8. vorchristlichen Jahrhundert, also aus einer Zeit längst vor PLATON oder ARISTOTELES, etwa zeitgleich mit HESIOD und den Homerischen Schriften. Einiges im Alten Testament weist in das 10. oder 9. Jahrhundert vor Christus zurück. Die Bezeichnung 'Altes Testament' ist eine spezifisch christliche und hängt mit dem erneuerten Gottesbund zusammen, den die Christen in Jesus Christus sehen. Die Schriften der hebräischen Bibel werden auch seit Jahrtausenden in der jüdischen Synagoge gelesen und ausgelegt, ohne dass die Juden diese Schriften als 'alt' bezeichnen würden. Als bleibender Wurzelgrund von Judentum und Christentum sind sie in einem elementaren und wörtlichen Sinne fundamental. Aus einer jahrtausendelangen kontinuierlichen Lesepraxis heraus haben sie eine einzigartige Wirkungsgeschichte entfaltet und unsere europäischen Kulturen in einer Weise durchdrungen, deren Vielgestaltigkeit und Tiefenwirkungen kaum zu ermessen sind. Wie ein Kompass im Nebel und im Dunkel der Nacht setzt das lesende Hören des Alten Testaments und das Erinnern seiner gemeißelten Erfahrungsmodelle eine Lebensorientierung aus sich heraus, die uns immer aufs Neue Maßstäbe an die Hand geben kann auch und gerade im Umgang mit Sterben und Tod. Sterben und Tod sind ja die irritierendsten Lebenswiderfahrnisse, denen wir trotz aller Fortschritte der Medizin letztlich in gleicher Weise ausgesetzt sind, wie jene Menschen des Alten Testaments, die mit ihrer Kompassnadel der Schriften auch diese unwiderruflichen Abbruche des Lebens zu bestehen wussten. Lassen Sie mich deshalb aus ihrer Fülle vier Texte beleuchten, die einiges zum Thema 'der Mensch und sein Tod' | beitragen mögen. Sie wollen das Nachdenken über die 'Sterbebegleitung' vertiefen, wie sie mein Kollege, MICHAEL HERBST, in der ersten Vorlesung bezeichnet und herausgearbeitet hat.

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II Samuelis 12,15-25: Sterbebegleitung eines todkranken Kindes David und der Tod seines ersten Sohnes aus der Verbindung mit Bathseba In den Davidsüberlieferungen gibt es eine aufschlussreiche Erzählung in II Sam 12,15-25, wie David das Sterben eines seiner zahlreichen Söhne begleitet. 1 Der Hintergrund ist in mehrfacher Hinsicht pikant. Der todkranke Säugling ist das gemeinsame Kind Davids mit der schönen Jerusalemerin Bathseba. David hatte sie, die mit dem Heeresoffizier Uria verheiratet war, beim Bade auf der Dachterrasse beobachtet, hatte sie verführt und geschwängert. Zu aller Verwerflichkeit sorgt der König auch noch dafür, dass Bathsebas Mann an der Kriegsfront zu Tode kommt, um seinen Ehebruch zu vertuschen und die schöne Frau problemlos in den königlichen Harem aufzunehmen. Dieser Hintergrund spiegelt homerische Verhältnisse am Königshof Davids im 10. Jh. vor Christus. Allerdings werden sie nicht augenzwinkernd, sondern scharf missbilligend erzählt. Am Negativ-Beispiel des Dynastiegründers geht es erzählfunktional im Blick auf die Prinzenerziehung darum, die Grenzen königlicher Machtwillkür aufzuzeigen. Die todbringende Krankheit wird denn auch in V. 15 als 'Schlag' Gottes eingeführt. Der Erzählausschnitt lautet wie folgt: 2 (15) ... Und JHWH schlug das Kind, das Urias Frau dem David geboren hatte, und es wurde schwer krank. 16 Und David suchte Gott um des Jungen willen. Und David fastete lange. (Noch und noch) ging er hinein, übernachtete und legte sich auf die (bloße) Erde. 17 Und die Ältesten seines Hauses beugten sich über ihn, um ihn von der Erde aufzurichten. Aber er wollte nicht und er aß kein Brot mit ihnen. | (18) Und es geschah am siebten Tag, da starb das Kind. Und die Knechte Davids fürchteten sich, ihm zu berichten, dass das Kind tot sei, denn sie sagten (sich): Siehe, als das Kind (noch) am Leben war, haben wir ihm zugeredet, und er hat nicht auf unsere Stimme gehört: Wie könnten wir (jetzt) zu ihm sagen: Das Kind ist tot. Und er würde (dann) ein Unheil anrichten?

1

Zum Text und zum Rahmenzusammenhang der Nathan-Erzählung vgl. STOLZ 1981,

238-242. 2 Die folgende Übersetzung des Autors hält sich eng an den Wortlaut und die Syntax des hebräischen Urtexts. In Klammern stehen Hinzufügungen des Übersetzers. Zudem ist der Erzählausschnitt durch Einrückungen nach (drei) Kommunikationsebenen gegliedert. Denn es gehört zu den Besonderheiten alttestamentlicher Erzählweise, indirekte Reden zu vermeiden und die Menschen oder Gott in der erzählten Welt wie auf einer Bühne direkt zu Wort kommen zu lassen - oft in mehrfacher Einbettung. Damit wird vor allem das Wie einer Rede und nicht nur ihr Informationsgehalt in den Vordergrund gerückt, was für ein nachvollziehendes Verstehen dieser Erzählungen sehr wichtig und deshalb auch graphisch sichtbar zu machen ist.

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3. „ Stark wie der Tod ist die

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(19) Doch David sah, dass seine Knechte miteinander tuschelten. Und David merkte, dass das Kind tot war. Und David sagte zu seinen Knechten: Ist das Kind tot? Sie sagten: (Es ist) tot. (20) Da stand David von der Erde auf und wusch sich und salbte sich und wechselte seine Kleider und ging ins Haus J H W H s und warf sich (vor ihm) nieder. Dann kam er in sein Haus (zurück) und verlangte (zu essen), und man setzte ihm Brot vor, und er aß. (21) Da sagten seine Knechte zu ihm: Was ist das für eine Sache, die du tust? Um des Kindes willen, (als) es (noch) lebte, hast du gefastet und geweint, sobald aber das Kind gestorben war, bist du aufgestanden und hast gegessen! (22) Da sagte er: Als das Kind noch lebte, habe ich gefastet und geweint, weil ich (mir) sagte: Wer weiß, (vielleicht) wird J H W H mir gnädig sein, und das Kind bleibt am Leben. (23) Jetzt aber, da es tot ist, wozu sollte ich denn fasten? Kann ich es (etwa) noch zurückbringen? Ich bin unterwegs zu ihm, es aber wird nicht zu mir zurückkehren. (24) Und David tröstete seine Frau Bathseba. ...

Diese Erzählung wirft in mehrfacher Hinsicht Licht auf den Umgang mit Sterben und Tod im Alten Testament. Wichtig ist, dass der Tod schon im Alten Testament als offener Rachen gesehen wird, der das Leben vernichtet. 3 Im Bilde gesprochen ist er der Raubmörder des Lebens. Leitthema und Grundzug dieser Modellerzählung ist eine facettenreiche Nüchternheit gegenüber dem Tod, der bei seinem Einbrechen gewaltige Irritationen auslöst und emotional hochgeladene Krisensituatio|nen hervorruft. Wie geht das Erinnerungsmodell der Davidserzählung mit diesem Einbruch um? Da ist als erstes die Zurückweisung jeder Tabuisierung des Todes. Die königliche Dienerschaft phantasiert Schlimmstes, was David sich antun könnte, wenn er vom Tode seines geliebten Sohnes erfahrt. Das Schlimmste für den Betroffenen jedoch ist gerade, dass ihm diese Nachricht verheimlicht wird. Es ist dies ein Phänomen, was auch die moderne Klinikseelsorge nur zu gut kennt: die Scheu und Angst von Ärzten und Pflegepersonal, den Angehörigen die Todesnachricht zu überbringen oder eine Diagnose der Aussichtslosigkeit mitzuteilen. Was steckt dahinter? Aus falsch verstandener Schonung neigen Menschen dazu, unangenehme Wahrheiten zu verschweigen. Sei es, dass sie diese Wahrheiten wie den Tod für sich selbst nicht wahrhaben wollen und verdrängen, sei es, dass sie

3 In Jes 5,14 (vgl. Hab 2,5) begegnet die Vorstellung, daß die „Unterwelt" ( s c h " o l ) als Ort, wo die Toten in einer lichtlosen Schattenwelt verdämmern - „ihren Schlund/ Rachen bzw. ihre Kehle (ncepasch) weit aufsperrt", wie ein durstiger Mensch oder ein hungriges Raubtier, das seine Beute verzehrt.

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Kapitel II: Erzählen - Basisform theologischer Reflexion

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diese Wahrheiten anderen nicht zumuten wollen, weil sie nicht verletzen oder unkalkulierbare Reaktionen provozieren möchten. So befürchten die Diener des Königs, David könnte sich oder anderen ein Leid antun. Und aus der Antike ist bekannt, dass der Überbringer einer Todes- oder Katastrophenachricht selbst getötet wird (vgl. II Sam 1). Es ist die schiere Ohnmacht und Hilflosigkeit gegenüber dem Tod, die in der Tat bei allen Beteiligten unkalkulierbare Ersatzhandlungen auslösen kann, um der schrecklichen Wahrheit auszuweichen oder ihr Eintreten gewalttätig zu kompensieren. Die Erfahrung des Todes, der absoluten Destruktion von Leben, birgt die Neigung zur selbstdestruktiven Ersatzhandlung in sich. Das sollte nicht unterschätzt werden. Denn das Sterben und der Tod von Menschen ist eine hochbrisante Situation - umlauert von Ängsten und Verdrängung, von Wut und Kurzschlussreaktionen. Paradoxerweise eskaliert diese Situation jedoch nur dann nicht und bleibt unter Kontrolle, wenn sich die Beteiligten und vor allem die unmittelbar Hinterbliebenen so schnell wie möglich und ungeschminkt der bitteren Wahrheit des Todes selbst stellen können. David fordert diese Wahrhaftigkeit ein. Denn nur sie hilft - wie auch sonst im Leben - weiter. Ohnmachtgefühle, Wut und Trauer können nur überwunden werden, wenn bittere Wahrheit ganz zu Tage liegt, wenn sie in ihrer Unwiderruflichkeit festgehalten und ohne Vorbehalt akzeptiert wird. 4 | David gibt dieser Wahrheit in Würde Raum. Er antwortet der erstaunten Dienerschaft nach Abbruch seines Fastens mit schlagender Nüchternheit: „Jetzt, da das Kind tot ist, wozu sollte ich denn fasten? Kann ich es (etwa) noch zurückbringen? Ich bin unterwegs zu ihm, es aber wird nicht zu mir zurückkehren." Für alttestamentliches Denken ist der Tod eine absolute Grenze. Selbst die Gottesbeziehung zerbricht irreversibel an ihr. Im Ringen um Bewahrung vor dem Tode kommt in mehreren Psalmen ein geradezu frivoler Protest gegen Gott zur Sprache: „Im Tod ist kein Gedenken 4

Dementsprechend wird auch in den alttestamentlichen Psalmen die Todeswirklichkeit weder verdrängt noch verleugnet, sondern im Gegenteil Anlass zu bitterster Klage, ja sogar Anklage gegen Gott, wie aus Ps 88 besonders hervorgeht. Doch eben dieser Psalm faßt die explosive Wut und Verzweiflung in Todessituationen in scharfe Worte und wirft das Nicht-Hinnehmbare und dennoch Nicht-Abwendbare Gott vor die Füße. In solchen Situationen gesprochen und gehört, kann der Psalm zum - sozusagen gesprächstherapeutischen - Weg werden, diese Wut und die Irrationalismen der Verzweiflung zu bändigen und dem Unabwendbaren realistisch in die Augen zu sehen, indem die Wut genau an jene Adresse gerichtet wird, woher Anfang und Ende jedes Lebens einbrechen: aus dem Raum zeitlicher Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit (soweit der Tod nicht durch Gewalt herbeigeführt wird). Dieser Raum menschlicher Zeiterfahrung ist nach biblischem Verständnis die Wirkdomäne des unsichtbaren Gottes, die in unser Leben allüberall hineinwirkt. In Ps 88 ist somit genau die richtige Adresse des „Du, Gott" angesprochen, so daß die Irritationen durch das Todesereignis verbalisiert werden und die Verwirrung der Gefühle sich ohne selbstdestruktive Folgen Luft verschaffen können.

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3. „Stark wie der Tod ist die

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an dich ..." (Ps 6,6). „Tust du (denn) Wunder an den Toten? Stehen (etwa) auf die Totengeister? Preisen sie dich?" (Ps 88,11). Nein ist die Antwort. Im Tod ist es vorbei mit der Gottesbeziehung und deshalb hat auch Gott selbst nichts davon, Menschen sterben zu lassen. Er ist im emphatischen Sinne ein Gott des Lebens. 5 In diesem Wissen ist es deshalb völlig konsequent, dass David aufhört mit Fasten und Beten, sowie der Tod des Kindes feststeht. Im ganzen Alten Testament geht es in dieser radikalen Weise um das Leben vor dem Tode. Deshalb kennt die hebräische Bibel schlechterdings keinen Totenkult, ja dieser wird in seinen vielfaltigen - vor allem von der phönizischen Umwelt nahegelegten - Formen abgelehnt und zurückgewiesen. 6 Dementsprechend wird wie auch in unserer Modellerzählung das Leben als Weg auf den Tod hin gesehen, aus dem es keine Rückkehr gibt. Das Leben ist eine Einbahnstraße ohne Gegenspur, die aus dem Tod führt. Somit ist das einzig Sichere im Leben das Widerfahrnis des Todes, wenn auch niemand seine Stunde kennt. Und nur dieses Widerfahrnis allein sollte man als todsicher bezeichnen. Diesem so hart und nüchtern anmutenden Todesverständnis wird weiter nachzudenken sein. | An Davids Antwort ist noch eine kleine, aber hochbedeutsame Nuance hervorzuheben, die in den meisten Bibelübersetzungen verwischt wird, im hebräischen Text aber klar und eindeutig ist. Der Erzähler lässt David nicht antworten: „Ich werde (einmal) zu ihm gehen", im Sinne von: „wenn ich dereinst selber einmal sterben muss", sondern: „Ich bin jetzt schon hier und heute - unterwegs zu ihm." 7 Darin kommt ein Todesbewusstsein

5

Vgl. dazu HARDMEIER 1988 (vgl. IV.13.). Vgl. das Gebot in Dtn 18,10 f. sowie Jes 8,19 f. und zum Todesverständnis im Alten Testament die folgende Literatur (in Auswahl): WOLFF 5 1990, 150-176; WÄCHTER 1964; 6

JÜNGEL

2

1 9 8 3 , 7 5 f f . ; STÄHLI 1 9 8 6 , 1 7 2 - 1 9 2 s o w i e d i e w e i t e r e bei HARDMEIER

1988,

295, Anm. 8 genannte Literatur (vgl. IV.13.). [ 7 Die Antwort Davids ist im Hebräischen nicht futurisch im Imperfekt, sondern als Durativ mit partizipialem Prädikat formuliert: 'ani holek 'elaw. Daran wird zum einen deutlich, daß nüchternerweise das ganze Leben als ein Vorlaufen zum Tode gesehen wird, und zum andern, daß das Totenreich „wie ein Wachsfigurenkabinett" als Ort der „Versammlung lebensleerer Hüllen einstigen Wesens" verstanden wird (so MAAG 1980, 181-202, Zitat S. 187). An diesem Ort finden sich alle Menschen früher oder später ein (vgl. bes. Jes 14,9-11), jedoch ohne Rückkehr in die Welt der Lebenden. - Der Vorstellung liegt die Praxis der Totenbestattung von Vornehmen und Wohlhabenden in Grabkammern zugrunde. Im Unterschied zur Erdbestattung von einfachen Angehörigen des Volkes (vgl. z.B. Jer 26,23) haben die Führungseliten und Königshäuser für ihre Familien Gemeinschaftsgräber in Nekropolen außerhalb der Siedlungen angelegt (vgl. z.B. Jes 22,15-19 oder Gen 23), in die ihre verstorbenen Angehörigen „zum Familienverband versammelt wurden" (vgl. z.B. Gen 25,8) bzw. „sich zu den Vätern legten" (z.B. I Reg 11,43 u.ö.). Diese westsemitische Bestattungskultur im Sippenverband erfuhr in den

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Kapitel II: Erzählen - Basisform

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mitten im Leben zum Ausdruck, das den Tod im Leben weder verdrängt noch tabuisiert. Vielmehr geht dieses Bewusstsein mit dem einzigen todsicheren Faktum des Lebens so um, als könnte es jeden Tag eintreten. Was die Bitte im 90sten Psalm zum Ausdruck bringt: „JHWH, zu zählen unsere Lebenstage - das lehre Du uns, so dass wir weisen Herzens werden", wird in der Antwort Davids als gelebte Weisheit deutlich. Sie bewährt sich in der nüchternen Hinnahme des Todes im Sterbezimmer des geliebten Kindes. - Lassen Sie mich einen Zwischengedanken einblenden. Beim Nachdenken über heutige Aspekte der Sterbebegleitung darf die Differenz dieses biblischen Todesrealismus zur Verdrängung und Tabuisierung des Todes im Hedonismus unserer Konsumwelt nicht unterschätzt werden. In einer Gesellschaft, in der der Tod nur noch im Fernsehen vorkommt, den man beliebig ein- oder ausschalten kann, schwindet die Fähigkeit und Bereitschaft Sterben und Tod als die natürliche andere Seite des Lebens hinzunehmen. Neben verhältnislosen Rechtsansprüchen auf Lebenserhaltung und Allmachtsphantasien medizinischer Beherrschbarkeit erwächst daraus zugleich eine sorglose Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod, der immer nur die anderen trifft. Wer aber den Tod nur für eine Panne hält, einen Reparaturfehler im Krankenhausbetrieb, oder für das Pech der anderen, der verliert jedes kreatürliche Verhältnis zu seinem eigenen Tod, aber | damit auch zur Würde seines Lebens und zum Leben der anderen. Deshalb ist es keineswegs ein Widerspruch, dass es einerseits gesellschaftliche Forderungen nach aktiver Sterbehilfe gibt, die über den Tod, über seine Art und seinen Zeitpunkt selbst bestimmen möchten, dass aber andererseits zugleich der medizinisch-technische Komplex immer neue lebensverlängernde Therapien entwickelt, die auch dann noch in Anspruch genommen werden, wenn Sterbende nicht sterben können oder aus sekundären Gründen etwa einer Organentnahme noch nicht sterben dürfen. In beiden Fällen tritt die kreatürliche Hinnahmebereitschaft des Todes zurück hinter die Manipulierbarkeit von Tod und Sterben. 8 Sie vergisst die Unverfügbarkeit dieses Lebenswiderfahrnisses und beschädigt damit die kostbare Würde des Lebens selbst, zu dem Sterben und Tod integral gehören. Doch kehren wir zurück zum Sterbefall in der Davidserzählung und wenden uns dem Aspekt der betenden Begleitung zu. Die Modellerzählung zeichnet David als Vater, der während der Krankheit seines Sohnes fastet und betet, der jedoch diese religiösen Begleithandlungen zum Unverständnis der Dienerschaft sofort abbricht, sowie das Kind gestorben ist. Die meisten unter uns kennen das Fasten und Beten nur noch vom Hörensagen. „Da hilft nur noch beten", wenn alle am Ende ihres Turmgräbern und Hypogäen von Palmyra noch in römischer Zeit eine monumentale Ausprägung. 8 Vgl. dazu FEYERABEND 2000. |

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3. „Stark wie der Tod ist die Liebe"

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Lateins sind, oder: „Not lehrt beten". Das stimmt gewiss auch für die Situation, in der David gezeichnet wird, aber in einer erläuterungsbedürftigen Weise. Denn dieses Beten trägt Aspekte in sich, die gar nicht in unser verbreitetes Bild einer frommen Übung mit dem Beigeschmack unaufgeklärter Rückständigkeit passen. Wie immer man dazu stehen mag, erläutert werden muss, was sich in dieser religiösen Sprechhandlung tut, was also zur Sprache gebracht wird, wenn Menschen und wenn David in der Modellerzählung zu Gott beten. Auszugehen ist von der kulturgeschichtlichen Differenz, dass der medizinischen Heilungskunst in der damaligen Zeit im Vergleich zu heute engste Grenzen gesetzt waren. Sehr viel schneller mussten die Menschen in früheren Jahrhunderten dem Sterbeprozess macht- und hilflos zusehen, ohne dass sie mit Antibiotika oder Herz-Lungen-Maschinen, mit Bluttransfusionen oder Organverpflanzungen rettend eingreifen konnten. Doch ist dieser Unterschied im medizinisch-technischen Fortschritt gegenüber den Zeiten Davids nur ein gradueller, nicht ein prinzipieller Unterschied. Denn auch heute kommen Ärzte und Medizinerinnen in ihrem Wissen und Können an den Punkt, an dem der körperliche Desintegrationsprozess eines Todkranken eine Wende nimmt - unumkehrbar hin zum Tod. Es ist - wie | mein Kollege MICHAEL HERBST herausgearbeitet hat - der Punkt, wo eine palliativ-medizinische Sterbebegleitung die ärztliche Pflicht zu heilungsmedizinischen Maßnahmen ablösen darf und soll. Entscheidend ist, dass die Davidserzählung den Vater bereits sieben Tage vor dem Tod seines Kindes fasten und beten lässt, in einer Phase also, in der auch damals noch mit Heilungschancen gerechnet werden konnte. Gewiss hatten die medizinischen Experten aus der Priesterschaft des Jerusalemer Heiligtums alles Verfügbare zu tun versucht, um den Knaben zu retten. 9 Deshalb hatte das Fasten und Beten Davids schon damals nicht die Funktion, die medizinische Heilungskunst mit anderen, gar übernatürlichen Mitteln fortzusetzen. Solches Beten bezeichnen wir zu Recht despektierlich als „gesundbeten", wenn Dilettanten vor der Unlösbarkeit von Problemen stehen, die sie zumeist auch noch selber erzeugt haben. Bei David geht es somit nicht um Gesundbeten gar in Konkurrenz zu den Heilungsbemühungen der Ärzte. Im Gegenteil, das Beten bringt eine weitere, ganz andere Dimension der Wahrhaftigkeit in die emotional hoch besetzte Situation ein. Es ist der Umgang mit angstbedingten Untergründigkeiten und der Unbestimmtheit der Todessituation. David fasst in seiner Antwort an die Dienerschaft den Kern seines Gebetes zusammen: „Wer weiß, (vielleicht) wird JHWH mir gnädig sein, und das Kind bleibt am Leben." Daran sind zwei Dinge wichtig.

9

Vgl. z.B. die Heilungsbemühungen im Krankheitsfall Hiskijas, II Reg 20,7.

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Kapitel II: Erzählen - Basisform theologischer

Reflexion

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Zum einen hofft und erwartet David, dass Gott ihm, nicht dem Kinde gnädig sein möge. Die Bußübungen des Fastens unterstreichen, dass David in dieser Bitte schwere Schuldgefühle vor Gott bringt, Versäumnisse der Vergangenheit, die mit eine - wenn auch nicht kausal gedachte - Schuld am drohenden Tod des Kindes haben könnten. Und der Kontext macht dies ja auch deutlich. Der sterbende Knabe wurde im Ehebruch gezeugt. Darüber hinaus fiel der erste Mann von Bathseba Davids Untat zum Opfer. David interpretiert das Sterben des Kindes vor Gott somit als Strafe für seine Verbrechen, wie es ihm der Prophet Nathan auch gesagt hatte. Aber - und das ist entscheidend - David lässt sich nicht völlig auf diese plausible Logik des Tun-Ergehen-Zusammenhangs festlegen. Er sagt nicht: „Ja JHWH, gerecht ist deine Strafe und das Kind muss nun eben logischerweise sterben." Vielmehr durchbricht David im Gebet die Fluchkette der bösen Tat, die 'fortzeugend Böses muss gebären'. Er erwartet Gnade und Erbarmen trotz tiefster Schuld, und er hält - wider alles Wissen und Erwarten an der Hoffnung fest, dass das Kind am Leben bleibt. | Aus der Sterbefall-Seelsorge ist bekannt, welche Ballungen von Schuldgefühlen im Sterben und beim Tod aufbrechen können - bei den Sterbenden selbst ebenso wie bei Ärzten, beim Pflegepersonal wie bei Angehörigen. Auch dieses Moment in der Stunde bitterer Wahrheit kann gefährlich werden. Irrationale Ersatzhandlungen und Fehlleistungen drohen, wenn diese Gefühle verdrängt oder verleugnet werden. Und es hilft absolut nichts, solche Gefühle durch beschwichtigende Erklärungen wegzureden. Die Modellerzählung stellt sich diesem Phänomen auf ganz andere Weise. Die betende Anrede an das göttliche Du, das ja in der Bibel als Beziehungs-Gegenüber nirgends weiter beschrieben oder in Bildern vergegenständlicht wird - diese Gebetsanrede an das unsichtbare Du öffnet im Sprachvollzug den angstbesetzten Raum des Ungewissen. Das Gebet macht die Dimension des Unbestimmbaren präsent, den Raum dessen, was sich unserer Einflussnahme entzieht: „Wer weiß, vielleicht ...", sagt David, zumal die Realpräsenz des Unverfügbaren ja in keiner Lebenssituation so hautnah und bedrängend erfahren wird, wie in der Hilf- und Machtlosigkeit, wenn jemand stirbt. So ist es nicht verwunderlich, dass eben in diesem Umfeld auch massive Schuldgefühle aufbrechen und die Re-Vision ganzer Lebensgeschichten einsetzt. Indem David im Gebet den Raum des Unverfügbaren begeht und Gott anheim stellt, seine Schuld und ihre Folgen aufzuheben, glaubt er an die Möglichkeit des Unmöglichen. Und deshalb zieht er gerade nicht die selbstdestruktive Konsequenz der Verzweiflung, die seine Dienerschaft befürchtet. Das Gebet ist somit ein Ferment der Wahrhaftigkeit in den Irritationen durch Sterben und Tod, 10 die immer

10

Vgl. dazu auch oben Anm. 4.

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3. „Stark wie der Tod ist die Liebe"

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auch Schuldgefühle und Ängste hervorrufen und die Wahrnehmung verzerren. Zum zweiten kommt in Davids Erwartung, dass JHWH ihm gnädig sein könnte, ein weiterer Aspekt der Unbestimmtheit im Sterbeprozess zur Sprache. Es ist die Hoffnung bis zu aller letzt, dass das Kind am Leben bleibt, auch wenn jede ärztliche Kunst am Ende ist. Auch in dieser Hinsicht spricht das Gebet eine Hoffnung wider jedes Erwarten aus, wider allen Augenschein und vernünftige ärztliche Prognose. Ich habe bereits klar gemacht, dass dieses nichts mit Gesund-Beten zu tun hat, als Fortsetzung ärztlicher Heilkunst mit supranaturalen Mitteln. Doch wird mit solchen in den Raum des Unverfügbaren gesprochenen Erwartungen ein noch sehr viel brisanteres Moment als die Wahrhaftigkeit gegenüber Schuldgefühlen in der Sterbebegleitung wach gehalten. Für das alttestamentliche Todes- und Lebensverständnis gibt es - wie oben ausgeführt - nur ein einziges todsicheres Faktum im Leben, nämlich der unwiderruflich eingetretene Tod selbst. Alles davor, der Sterbeprozess mit eingeschlossen - und heute auch das Langzeit-Koma oder das Weiterfunktionieren von Restorganen nach dem Hirntod - alles vor dem unwiderruflichen Tod ist mit einem, wenn auch noch so kleinen | Unbestimmtheitsfaktor möglichen Lebens behaftet. Und eben diese Unbestimmtheit hält das Gebet wahrhaftig offen und gibt damit der kategorialen Dimension der Unverfügbarkeit Raum, die dem Sterbeprozess bis zum zweifelsfreien Tod innewohnt. Eine zweite Zwischenbemerkung ist einzublenden. Die kategoriale Unbestimmtheit von Leben bis zu seinem letzten Lebensfunken macht auf ein Dilemma aufmerksam, um das keine Ethik der Sterbemedizin herumkommt. Zum einen betrifft dies alle Versuche, den Tod auf der Skala der psychophysischen Desintegration von Sterbenden zu definieren, um etwa die Entnahme von Organen zu legitimieren oder das Abschalten apparativer Lebenshilfen zu rechtfertigen. Der Hirntod oder die Personalität sind solche kontrovers diskutierte Kriterien. Zum andern betrifft dies aber auch und genauso bereits die ärztliche Entscheidung, auf heilungsmedizinische Eingriffe zu verzichten, lebensverlängernde Maßnahmen zu unterlassen und palliativ-medizinische Hilfen einzuleiten, um Sterbende menschenwürdig in ihren Tod zu begleiten. 11 Diesen Entscheidungen zwischen besseren und schlechteren Möglichkeiten haftet auch deshalb ein Moment von Vorläufigkeit und Unbestimmtheit an, weil sie an den jeweiligen Wissens- und Erfahrungsstand der Medizin gebunden sind, der als solcher stets und nur vorläufig ist. Das sicherste dabei ist allenfalls eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Deshalb sind alle proba-

11

Auf dieses Dilemma macht der oben Anm. 8 genannte Beitrag von FEYERABEND besonders aufmerksam.

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Kapitel II: Erzählen - Basisform theologischer Reflexion

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bilistischen Entscheidungskriterien einem tutioristischen Kalkül unterzuordnen, das sich im Zweifelsfall für das Leben entscheidet.

Genesis 3: Der , Sünden/all' und das Dilemma von Gut und Böse Die Erkenntnis von Gut und Böse auf dem Hintergrund von Sterblichkeit und Tod Lassen sie mich dieses Dilemma von der Modellerzählung in Gen 3, von der Urgeschichte des sog. Sündenfalls her beleuchten, die in einer für uns sehr ungewohnten, mytho-poetischen Weise die Zwiespältigkeit der Erkenntnis von Gut und Böse reflektiert. In ihrem Gesamtgefalle läuft diese Erzählung auf die Erklärung hinaus, warum der Mensch sterben muss und warum ihm die Tür zum Paradiesesgarten - zum Garten unumschränkter Lebensfülle - für immer verschlossen bleibt. Insofern gehört diese Geschichte auch ohnehin zentral zu unserem The|ma. 1 2 Ihre Vorgeschichte hat sie in Gen 2, die von der Erschaffung von Mann und Frau sowie der Tiere erzählt. Nur eine einzige Einschränkung macht Gott, als er den ersten Menschen zur Bebauung und zur Bewahrung des frisch angelegten Paradiesesgartens einsetzt: „Von allen Bäumen des Gartens darfst du jede Menge essen. Doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse - davon sollst du nicht essen. Denn am Tage, da du davon isst, wirst du unausweichlich sterben müssen." (2,16 f.) Die Geschichte vom sog. Sündenfall in Gen 3 nimmt nun dieses Verbot in eigentümlicher Weise auf. Zunächst ist es die Schlange, die die Frau in ein fintenreiches Gespräch verwickelt und über das Verbot plaudert, vom Baum der Erkenntnis zu essen (3,1-5). Am Ende bringt die Schlange die verlockende Überlegung ein, dass das Urpaar von Mann und Frau keineswegs sterben müsse, wenn es vom Baume äße; denn - so die Unterstellung der Schlange: „Gott weiß sehr wohl, dass euch am Tage, an dem ihr vom Baum der Erkenntnis esst, eure Augen aufgehen werden. Und ihr werdet sein wie Gott, wissend um Gut und Böse." (V. 4 f.) Dieser Gedanke weckt in der Frau Neugier. Sie schaut hin und entdeckt die verlockenden Reize des Baumes. Sie wird gewahr, dass der Verzehr seiner Früchte den Menschen vielversprechende Klugheit verschaffen könnte, und greift zur Frucht, von der sie auch ihrem Manne zu essen gibt (V. 6). Die verbotene Mahlzeit öffnet dem Paar dann in der Tat auch die Augen (V. 7). Aber was sie sich mit den Verlockungen der Vernunft und der Anmut der Klugheit eingehandelt haben, ist in dieser Modellerzählung in doppelter Hinsicht zwiespältig.

12

Vgl. zu G e n 2 f. DE PURY 1993, 112-149, bes. 122-134.

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Zum einen führt ihr Erkennen von Gut und Böse dazu, dass sie sich als nackt und bloß wahrnehmen und sich Kleider machen. Mann und Frau, die paradiesisch als ein Leib, als innigste Gefahrtenschaft gedacht waren, sehen sich jetzt mit ihrem Erkenntnisfortschritt genötigt, sich voneinander abzugrenzen, sich zu verhüllen, sich zu unterscheiden. Mit der Erkenntnisfahigkeit von Gut und Böse beginnt das Dilemma der Differenz, das eine ganze Kette weiterer Zwiespältigkeiten mit sich bringt. Da ist vor allem die Wahrnehmung, dass es je nach Perspektive Besseres und Schlechteres gibt, Vorteile und Nachteile. Und dieses Erkennen zieht den Zwang nach sich, Wertungen vorzunehmen und sich zu entscheiden: für einander oder gegeneinander, offen oder verhüllt, gemeinsam oder jeder für sich - und häufig genug nur zwischen zwei Übeln. Mit der Erkenntnisfahigkeit von Gut und Böse, von Vor- und Nachteilen ist somit nach Gen 3 ein unlösbares Dilemma in | die Menschenwelt gekommen. Und diese Zwiespältigkeit bringt zum andern die Angst vor der Wahrheit mit sich, die Scheu und Scham, nackten Tatsachen ins Auge zu sehen, wie als erstes dem Geschlecht von Mann und Frau. Modellhaft greift deshalb das Urpaar zum probatesten aller Mittel, um diese Angst vor der Wahrheit zu bannen und sich dem Zwang zur Wertung und zur unbequemen Entscheidung zu entziehen: Sie machen sich Schurze aus Feigenblättern, die Urform von Kleidern. Im übertragenen Sinne greifen sie damit zum Mittel der Verhüllung von Tatsachen und zum Verbergen von Wahrheit. Der Griff nach verlockender Klugheit hat in Gen 3 noch eine zweite Konsequenz. Die von der Schlange Verführten machen sich nämlich nicht nur Schutzkleider gegen nackte Tatsachen, sie verstecken sich zugleich auch im Garten vor Gott. (3,8) Das veranlasst ihn, selbst nach dem Rechten zu sehen. „Mensch (Adam), wo bist du?", ruft Gott in den Garten (V. 9). Und der zur Rede Gestellte rückt auf typische Weise mit halben Wahrheiten heraus. „Deine Stimme habe ich gehört im Garten, und da packte mich die Furcht, weil ich nackt bin, und ich versteckte mich." (V. 10) Gott hakt nach: „Wer denn hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du etwa vom Baum gegessen, von dem ich dich angewiesen habe, nicht davon zu essen?" (V. 11) Die Antwort ist ausweichend: „Die Frau, die du mir an meine Seite gegeben hast, sie hat mir vom Baum gegeben, und dann aß ich." (V. 12) Und als Gott daraufhin die Frau befragt, verweist sie ihrerseits auf die Schlange: „Die Schlange hat mich verführt, und dann aß ich." (V. 13) Gott zieht aus diesem Versteckspiel kollektiver Verantwortungslosigkeit seine Konsequenzen. Ober alle Beteiligten, die ihre Mitverantwortung auf die anderen geschoben haben - wir kennen das alles ja nur zu gut - über alle Beteiligten spricht Gott Verfluchungen aus, die die vorfindliche Lebenswirklichkeit der altisraelitischen Ackerbaukultur als Auswirkungen dieser Fluchbestimmungen erklären (V. 14-19).

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Dabei läuft der Schlusspunkt dieser Fluchkette auf die Sterblichkeit und den Tod des Menschen hinaus. Was in der paradiesischen Vorwelt kein Thema war, kommt durch die verlockende Selbstentdeckung des Menschen, seine Augen zu gebrauchen und Wertentscheidungen fällen zu können, in seine Welt: Es ist das Todesbewusstsein und die Endlichkeit des Lebens: „Erdenstaub bist du und zum Erdenstaub musst du zurückkehren." So schließt die Fluchkette in V. 19. In einer für uns ungewohnten - nicht logisch-deduktiven, sondern mytho-poetischen - Weise kommt in diesen Fluchsprüchen ein eigentümliches Verständnis des Lebens im Angesicht des Todes zum Ausdruck. Es versteht die vorfindlichen Lebensverhältnisse der altisraelitischen Agrarkultur als wenig optimal. Die Lebensminderungen, die sich das Urpaar als Fluch eingehandelt hat, sind Mühsal und Beschwer. Sie müssen von Mann und Frau zur Fristung des täglichen Lebens getragen werden, eines Lebens in Vergänglichkeit, das unweigerlich auf den Tod zuläuft. Mit seinem Ende im Tod bekommt das nachparadiesische Leben zwangsläufig auch einen Anfang. Auch dieser Anfang von Zeugung und Geburt ist alles andere als ideal. Kinder werden nicht in freier, sich schenkender Liebe empfangen, wie sie das Hohelied - auf das ich am Schluss zu sprechen komme - poetisch zum Klingen bringt. Denn sowohl der Schutz der Ehe als auch die Zeugung von Kindern ist elementar auf den Erhalt der patrilinearen Familienwirtschaft ausgerichtet, 1 3 in der die Frau dem Manne „Untertan" ist und unter Schmerzen zu gebären hat (V. 16), wobei im bäuerlichen Dreigenerationen-Haushalt der Boden an den erstgeborenen Sohn weitervererbt werden muss 1 4 und nicht veräußert werden darf. Zudem müssen die alten Eltern mitversorgt werden, 1 5 so dass hinsichtlich der Frauen alles auf die (männliche) Nachkommenschaft ankommt, während dem Manne die Beschwerlichkeit der Ackerarbeit auf kärglichem Boden bleibt, der seinerseits vom Fluch gezeichnet ist (V. 17 f.).

Psalm 90, 10-12: Klage und Bitte - das geminderte und das gute Leben. Klage undAnlass zur Bitte um ein „weises Herz" Die nachparadiesischen Lebensverhältnisse in den Verfluchungen von Gen 3 werden nicht nur von David - was die unumkehrbare Vergänglichkeit 13

V g l . d a z u HARDMEIER 1991a.

14

V g l . Dtn 2 1 , 1 5 - 1 7 .

15

Dies ist der p r i m ä r e Sinn d e s E l t e r n g e b o t e s im D e k a l o g (vgl. Ex 2 0 , 1 2 und Dtn 5,16): „ E h r e d e i n e n V a t e r u n d d e i n e M u t t e r " , meint nicht die E h r e r b i e t u n g g e g e n ü b e r den Eltern im S i n n e des traditionellen Ethos der b ü r g e r l i c h e n Familie, s o n d e r n ihre materielle V e r s o r g u n g im Alter, vgl. CRUSEMANN 1983, 5 8 - 6 2 .

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des Lebens zum Tode betrifft - hingenommen. Auch verschiedene Psalmengebete setzen sich damit auseinander, von denen ich Ihnen exemplarisch einen Ausschnitt aus Ps 90 vorstellen will. Er ist in unseren Kirchen zum klassischen Beerdigungspsalm geworden. 1 6 Darin heißt es in den Versen 10-12:| (10) Unsere Lebenstage währen siebzig Jahre, und wenn die Kräfte reichen, sind es achtzig (Jahre). Aber das Hervorstechendste daran ist Plackerei und Beschwer. Ja, schnell ist es abgeschnitten, und verflogen sind wir.

Das Psalmgebet fahrt fort mit einer bohrenden Frage an Gott, die in eine Bitte ausmündet: (11) Wer erfasst die Gewalt deines Zornes? Ist doch dein Grimm so (eindringlich), wie der Respekt vor dir (sein sollte). (12) Zu zählen unsere Lebenstage das lehre Du uns, so dass wir weisen Herzens werden.

Zunächst ist hervorzuheben, dass in V. 10 genau dieses, an der Modellerzählung von Gen 3 herausgearbeitete Lebensverständnis wiederbegegnet: „Unsere Lebenstage währen siebzig Jahre ... Aber das Hervorstechendste daran ist Plackerei und Beschwer ...". Auch hier wird, wie bei David, die Vergänglichkeit des Lebens als solche hingenommen. Der eher klagende Unterton gilt der fluchbeladenen Beschwernis und dem möglichen jähen Abbruch. Damit problematisiert das Psalmgebet nicht die Lebensbegrenzung als solche, gar mit der Erwartung eines ewigen Lebens. Eine zeitliche Entgrenzung des irdischen Lebens jenseits von Geburt und Tod, wie sie in der paradiesischen Welt zeitlosen Daseins vorauszusetzen ist, diese Entgrenzung ist weder ein Ziel, noch wird sie erwartet. Der Ton liegt auf dem Moment der Plackerei und der Beschwer wie in Gen 3. Damit rückt auch der 90ste Psalm die - vor allem fluchbedingte - Minderung des Lebens in den Vordergrund, jedoch mit der Erwartung, dass diese Mühen und Beschwerlichkeiten nicht unbedingt sein müssten. Denn das Alte Testament weiß auch um ein wirklich gutes Leben diesseits der Todesgrenze, ein Leben, das mit dem Tod ein erfülltes Ende nimmt. Und ein so erfülltes, ein abgerundetes, ein sinnenfrohes, langes Leben weit über die durchschnittliche Lebenserwartung hinaus - , das könnte es in der Erwartung von Ps 90 durchaus geben. Das Gebet nennt 70 bis 80 Jahre, was angesichts einer durchschnittlichen Lebenserwartung von knapp 50 Jahren bereits beachtlich ist. Vorbildfiguren wie Abraham, Isaak oder Hiob, die „alt und lebenssatt" gestorben sind, erreichen in den Modellerzählungen jedoch sogar ein Lebensalter von mehr als 150 Jahren. 17 16

Vgl. dazu EBACH 1993. |

17

V g l . G e n 2 5 , 7 f . ; 3 5 , 2 8 f . u n d H i 4 2 , 1 6 f.

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Kapitel II: Erzählen - Basisform

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Deshalb klagt der Psalmvers in der Klage vor Gott nicht ein Leben ohne Tod, ein ewiges Leben ein. Vielmehr müht sich der Psalm um ein besseres und längeres Leben vor dem Tod, das nicht durch Plackerei, durch Beischwer und einen allzu frühen Tod beeinträchtigt wird. Dann gäbe es auch ein Sterben „alt und lebenssatt", in dem sich ein gutes Leben rundet und der Tod als sein natürliches Ende versöhnt hingenommen wird. 18 An dem schwer verständlichen Vers 11 lässt sich die Abwehr eines unzeitigen Todes andeutungsweise auch im Vergleich mit Gen 3 zeigen. Der Psalmvers bringt die beklagte Plackerei und Beschwer in Zusammenhang mit dem Zorn Gottes: „Wer erfasst die Gewalt deines Zornes? Ist doch dein Grimm (so unerbittlich) wie der Respekt vor dir (unbedingt ist)." Und von diesem Zorn, der so unerbittlich ist, wie der eigentlich erforderliche Respekt vor Gott, - von diesem Zorn will sich der Beter nach Vers 12 belehren lassen, um ein „weises Herz" zu gewinnen: „Zu zählen unsere Lebenstage - , das lehre Du uns, so dass wir weisen Herzens werden." Wie sich somit nach Ps 90,11 im schlechten, fluchbeladenen Leben Gottes Zorn manifestiert, so ist auch in Gen 3 dieses beschwerliche Leben eine Folge der Kränkung Gottes, der sich das böse Spiel der kollektiven Verantwortungslosigkeit nicht tatenlos gefallen lässt. 19 Anders jedoch als der 90ste Psalm führt die Erzählung in Gen 3 aus, was denn auf Gottes Seite diese Verfluchungen ausgelöst hat, was also Gott derart gekränkt haben muss, dass er dem Urpaar fatale Fluchlasten aufbürdet, die ihr nachparadiesisches Leben so nachhaltig beeinträchtigen. Damit aber liefert die Erzählung vom „Sündenfall" in Gen 3 einen Schlüssel, wie ein „weises Herz" gewonnen, wie der Fluchcharakter des Lebens vor dem Tode überwunden und wie ein gutes Leben verwirklicht werden könnte. Der Psalmvers selbst nennt die erste Voraussetzung in Übereinstimmung mit den nachparadiesischen Voraussetzungen eines Lebens zwischen Geburt und Tod: „Zu zählen lehre uns unsere Lebenstage." Gerade im Akzeptieren dieser Endlichkeit des Lebens, im Respekt gegenüber seiner Vergänglichkeit und seiner unwiderruflichen Grenze im Tod, kann dieses Leben auch als ein gutes und erfülltes Leben gelingen. Doch damit es nicht durch den Fluch der Lebensminderungen zusätzlich belastet wird, lehrt Gen 3, wie es zu diesem Fluch gekommen ist. So will diese „SündenfalP'-Erzählung vom Dilemma der Erkenntnis von Gut und Böse auch als Lehre verstanden werden, wie in einer gelungenen Gottesbeziehung die Fluchfolgen im nachparadiesischen Leben zwischen Geburt und Tod minimiert und ein unzeitiger Tod vermeidbar werden. | 18

Vgl. dazu vor allem JÜNGEL 2 1983, 91-98. Vgl. zu diesem schwierigen Zusammenhang von „Sünde" als „Rebellion gegen Gott", die „in die Verhältnislosigkeit" und Anomie „drängt" und sich selbstdestruktiv im 19

u n z e i t i g e n T o d a u s w i r k t , JÜNGEL, a . a . O . 9 8 - 1 0 1 , Z i t a t e S . 9 9 .

[224]

3. „Stark wie der Tod ist die

Liebe"

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Mit dieser Leseperspektive rufe ich das Drama der sog. Sündenfallgeschichte noch einmal zusammengefasst in Erinnerung. Es führt uns lehrhaft die Folgen vor Augen, die der Griff nach der verbotenen Frucht gezeitigt hat: 1. Mit der Öffnung der Augen erlangt das Urpaar die verlockende Fähigkeit, wie Gott selbst zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können. 2. Daraus wird alsbald eine Last. Denn wer zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, sieht auch die Differenz, und wer das Bessere im Unterschied zum Schlechteren sieht, der muss sich auch entscheiden - je neu für das eine und gegen das andere, Tatsache gegen Tatsache, Mensch gegen Mensch. 3. Daraus erwächst Distanzierung. Denn Gut und Böse ist verschieden in verschiedenen Augen. Was der eine gut findet, ist für die andere schlecht, und umgekehrt. Das Urpaar entdeckt dies zuerst an seiner Geschlechtlichkeit und entwickelt Scham. 4. Das führt zur Furcht vor nackten Tatsachen und zu ihrer Verhüllung, zur Verkleidung von Dingen, die problematisch sind, und zur Verdrängung des Bösen, ebenso wie zum Verstecken vor Gott. 5. Doch ist es erst eine weitere und letzte Folge aus diesem Verhängnis der Vernunft, die Gott zu seinen Verfluchungen veranlasst: die Flucht vor der Verantwortung. Zwar hat der Genuss der verbotenen Frucht das Urpaar in tiefste Ambivalenzen gestürzt, die das Erkennen von Gut und Böse mit sich bringt. Doch resultiert aus diesen Ambivalenzen in letzter Konsequenz auch die verhängnisvolle Neigung zur kollektiven Verantwortungslosigkeit, die sich weigert, insbesondere für die problematischen und dunklen Seiten von Wertentscheidungen und ihre Nebenwirkungen einzustehen. Der erste Mensch versteckt sich. Dann will es keiner gewesen sein: wie im Sandkasten der Kinder heißt es: „Ich nicht, er auch". Was somit den Zorn Gottes heraufbeschwört und zu einem Leben mit Plackerei und Beschwer führt, liegt in der Ambivalenz aller Werterkenntnis, im Dilemma jeder Wertentscheidung und in der menschlichen Neigung begründet, sich am liebsten der Verantwortung zu entziehen, vor allem wenn es um unbequeme Wertenscheidungen geht oder überhaupt nur eine Wahl zwischen zwei Übeln besteht, im Extremfall zwischen Pest und Cholera. Liest man diesen anthropologischen Sachzusammenhang von der Bitte in Ps 90 her, dann wird Gen 3 auch zum Fingerzeig, wie trotz der nachparadiesischen Lebensminderungen ein gutes Leben auch im nüchternen Angesicht des Todes wirklich werden könnte: Es ist der Mut zur unbedingten Wahrhaftigkeit vor Gott und zur Verantwortung im Dilemma aller

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Kapitel II: Erzählen - Basisform theologischer Reflexion

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Wertentscheidungen. Es ist das Wissen, dass diese Entscheidungen besonders in Zeitnot erhebliche Momente von Unbestimmtheit und Ungewissheit | in sich tragen - eine oft schwer erträgliche Ambivalenz des so oder so. Und es ist die Bereitschaft, auch das Risiko von Fehlentscheidung zu tragen und die damit verbundene Schuld, um deren Vergebung deshalb im Vater-Unser täglich die Bitte ergeht. Nur eines verbietet sich in diesen Dilemmata: die Flucht oder die Delegation der Verantwortung, um sich davor zu verstecken. Auf diesem und nur auf diesem liegt der Fluch, wenn Menschen sich wahrhaftiger Verantwortung entziehen. Solche Verantwortungslosigkeit befördert den vorzeitigen Tod im Leben, seine Mühsal und Beschwer. Damit komme ich zur Einblendung einer dritten Bemerkung. Bei unseren Betrachtungen zu Gen 3 und Ps 90 haben wir an die Dilemmata bei der Begleitung von schwerkranken Menschen und Sterbenden angeknüpft, um die keine Ethik der Sterbemedizin herumkommt. Dabei ist es mit dem medizinisch-technischen Fortschritt wie mit dem Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis. Jeder therapeutische, pharmazeutische oder apparative Fortschritt zur Erhaltung von Leben, vergrößert auch das Dilemma, wo und wann diese segensreichen Mittel eingesetzt oder nicht (mehr) eingesetzt werden. Der Weg eines Schwerkranken mit noch geringen Heilungs- und Lebenschancen bis zu seinem unwiderruflichen Tod ist durch die enorm gewachsenen Möglichkeiten der medizinischen Steuerung und Intervention zu einer Lebensphase geworden, in der sich Wertentscheidungen verschiedenster Art kumulieren, durchkreuzen und oft genug diametral entgegen stehen. Dies ist auch dann der Fall, wenn man zu Recht jede Art von Sterbehilfe ausschließt und sich auf palliativ-medizinische Begleitung beschränkt. Insbesondere den Ärztinnen und Ärzten kommt dabei eine hohe, wenn nicht gar eine zu hohe und sie überfordernde Verantwortung zu, die zu fliehen oder zu delegieren von der alttestamentlichen Anthropologie her nur zu nahe liegt. So ist es gut und wichtig über medizinische wie juristische Kriterien nachzudenken, die den Verantwortungsspielraum der Ärzteschaft entlasten und auf ein handhabbares Maß reduzieren. Auf der anderen Seite jedoch ist vor einer Kasuistik zu warnen, die den Entscheidungsspielraum der Ärzte nach Lage der Dinge so einschränkt, dass sie - im Bild gesprochen - nur noch mit dem Gesetzbuch unter dem Arm und jeweils mit einem Fuß im Gefängnis ihre Aufgabe erfüllen können. Sterben und Tod sind - wie wir gesehen haben - auch heute noch besonders von Unberechenbarkeiten und Ungewissheiten begleitet, die bei allem Bemühen um ein Höchstmaß an Verantwortlichkeit nicht restlos gesteuert oder total beherrscht werden können und - wie der Tod selbst - auch nicht dürfen, wenn man die Schwelle des Tötungsverbotes nicht überschreiten will. D.h. dann aber auch, dass damit eine weder juristisch einklagbare noch durch

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3. „Stark wie der Tod ist die Liebe"

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medizinische Kriterien beschreibbare Verantwortung von Arzt und Ärztin bleibt, die - letztlich im Gebet - nur vor Gott | und dem eigenen Gewissen getragen werden kann. Zur Entlastung dieser Restverantwortung muss dieser Raum des Unbestimmten und Unbestimmbaren bewusst geschützt und offen gelassen werden, in welchem So-oder-So-Entscheidungen möglich bleiben, aber auch zeitnotbedingte Falschentscheidungen nicht belangt werden können. Dieser Raum des Kontingenten und Unbestimmbaren in der Sterbebegleitung wäre somit gesellschaftlich durch gesetzliche Regelungen als Raum von Entscheidungen zu vereinbaren, der juristischer Belangbarkeit entzogen bleibt. Dabei könnte die Gefahr von EntscheidungsAngst oder -Willkür durch die Pflicht zur Beratung im Team vermindert werden, das in seiner Zusammensetzung näher definiert werden müsste und die Ärzte in ihren Wertentscheidungen begleitet, ohne ihnen die letzte Verantwortung abnehmen zu können. Andererseits aber müsste u.a. durch Bildung und Erziehung vor allem die gesellschaftliche Akzeptanz erhöht werden, dass Tod und Sterben zum Leben gehören und nicht weiter dem Tabu verfallen. Denn damit stehen auch die Kostbarkeit und Schönheit des Lebens auf dem Spiel, ja die Verleugnung des Todes beschädigt die Wahrhaftigkeit und Würde des Lebens in seiner Unverfügbarkeit selbst.

Hoheslied 8,6: „Stark wie der Tod ist die Liebe" Diese Sentenz beschließt eine der eigentümlichsten Schriften im biblischen Kanon: das Hohelied der Liebe. Sie formuliert - provokativ gesagt - die theologische Quintessenz dieser Komposition althebräischer Liebespoesie, die die Anmut und die Schönheit der Liebenden besingt und ihre unwiderstehliche Anziehung in verzaubernde Worte fasst. Es sind Lieder, wie sich die Liebenden finden - auch unter dem Granatapfelbaum, unter dem schon ihre Mütter sie empfangen haben. Es sind Lieder feinster Erotik. Das theologisch Paradoxe an diesen Liedern ist, dass in diesem Buch von Gott als Beziehungs-Gegenüber nicht die Rede ist. 20 Umso bedeutsamer ist die Sentenz „Stark wie der Tod ist die Liebe", die das Buch abschließt. Denn darin sind genau die beiden Lebenswiderfahrnisse angesprochen, die das menschliche Leben als Gabe bestimmen, als etwas, was wir nicht selber gemacht und erschaffen haben. Als in Liebe Empfangene leben wir und als vom Tod Ereilte sterben wir. Beide Lebensmächte an den Grenzen des Lebens zwischen Geburt und Tod beschreibt diese Sentenz als überwältigende, unwiderstehliche Größen,| denen menschliches Leben ausge20

Einzig in Cant 8,6b begegnet der Gottesname JHWH in der Wendung 'Flammen JHWHs', jedoch lediglich als Genetiv-Attribut, um die Unwiderstehlichkeit und Übermächtigkeit der 'Flammen' der Liebe zu umschreiben, die wie 'Flammen JHWHs' sind.

94

Kapitel II: Erzählen - Basisform theologischer

Reflexion

[227]

setzt ist und bleibt. 21 Als naturgewaltig einbrechende Widerfahrnisse stehen sie - wie Gott selbst - nicht in unserer Verfügungsgewalt, es sei denn wir instrumentalisieren Liebe bzw. manipulieren Zeugung und Tod. Genau dieses aber, so lehrt das Buch der Liebe die Töchter Jerusalems, genau dieses würde die Liebe zerstören. Die einzige Mahnung in diesem Buche lautet: „Ihr Töchter Jerusalems, weckt sie nicht, stört sie nicht, die Liebe, bis es ihr gefallt." (2,7; 3,5, vgl. 8,4) So lehrt dieses Buch den behutsam zärtlichen Umgang mit der einen Lebensgabe der unverfügbaren Liebe und vergleicht sie in ihrem Ungestüm mit der Macht und Gewalt des Todes, der uns am Ende des Lebens einholt. Deshalb kann diese Mahnung an die Töchter auch für einen pfleglichen Umgang mit Sterben und Tod gelten, der wie die Liebe vor aller Instrumentalisierung und Manipulation geschützt werden muss, um die Würde des Menschen im Leben wie im Sterben zu wahren in Verantwortung und im Gegenüber zu Gott.

21

Vgl. dazu auch Römer 8,38 und 14,7 f.

Kapitel III

Zur erinnerungskulturellen Singulärgestalt der deuteronomistischen Tora

4. „Geschichten" und „Geschichte" in der hebräischen Bibel. Zur Tora-Form von Geschichtstheologie im kulturwissenschaftlichen Kontext (2005) 1. Einführung: Anknüpfung an G.v.Rad Nicht nur aus Anlass dieses Symposiums ist es in ganz besonderer Weise angebracht, im Nachdenken über Geschichten und Geschichte in der hebräischen Bibel bei G. v. Rad einzusetzen. Denn wie kein anderer hatte er ein besonderes Gespür für die Narrativität der biblischen Überlieferungen und für die Geschichtlichkeit einer alttestamentlichen Theologie, die sich auf kein System, keinen abstrakten Logos bringen lässt und gleichwohl einen ureigenen Wahrheitsanspruch in sich trägt. Zum Einstieg in das Thema ist von den „Schlußbetrachtungen" seines letzten großen Werkes „Weisheit in Israel" 1 auszugehen und von der dort getroffenen Unterscheidung „zwischen der Erkenntnisbemühung der weisen Lehrer einerseits und der Erzähler, Geschichtstheologen usw. andererseits". 2 In der Weisheit 1

v. R A D 1 9 7 0 , 3 6 3 ff. A.a.O 367. In seinen „Schlußbetrachtungen" stellt v. Rad jeder Art von philosophisch-theoretischer oder wissenschaftlicher Welterklärung die eigentümliche Weisheit Israels gegenüber, die im Wissen besteht, „daß sich ... die Wahrheit über die Welt und den Menschen nie zum Gegenstand unseres theoretischen Erkennens hergibt" (a.a.O. 404). Demgegenüber ist das besondere Charakteristikum der Weisheit Israels „ein unabgeschlossener und auch unabschließbarer Dialog über Welt und Mensch auf Grund eines Wissens um die Ambivalenz der wahrgenommenen Phänomene" (ebd.). Denn - so der letzte Satz der Betrachtungen: „Ohne sie zu durchschauen, glaubte Israel um eine Wahrheit eigener Art zu wissen." (a.a.O. 405). - Zuvor geht es v. Rad um die Unterschiede ebenso wie um die Gemeinsamkeiten zwischen der Weisheit Israels und dem altisraelitischen Geschichtsdenken, das sich in den großen Erzählwerken manifestiert. Gemeinsam ist beiden Überlieferungs-Größen, dass Israel „nicht nur in seinem Geschichtsdenken ... dem kontingenten Widerfahrnis den Vorrang gegenüber dem durch abstrahierende Verrechnung gewonnenen ' L o g o s ' zu(erkannte)" (a.a.O. 395). In gleicher Weise findet sich dieser Vorrang der Kontingenz nach v. Rad auch in den „Lehren der Weisen" mit ihrer „tiefen Überzeugung von der Ambivalenz der Phänomene und Widerfahrnisse" (ebd.). Unterschiede seien u.a. darin zu sehen, dass „weisheitliche Lehre ... der Legitimation (bedurfte)", d.h. „der Berufung auf die Tradition" oder „auf JHWH selbst" (a.a.O. 370), während v. Rad für die „Erzählungswerke" die Merkwürdigkeit hervorhebt, dass sie gänzlich ohne „Selbstlegitimation eines Darstellers" auskommen. Denn „offenbar eignete dem Erzählten, der aktualisierten Tradition," nach v. Rad „erkenntnismäßig eine Evidenz, die eine Legitimation des Erzählers erübrigte" (ebd.). Mit der Selbstevidenz des 2

98

Kapitel III: Singulärgestalt

der deuteronomistischen

Tora

so v.Rad - „handelte es sich um die Konstatierung von zeitlos Gültigem, von allgemeinen menschlichen Erfahrungen", bei den Geschichtserzählungen dagegen „um Widerfahrnisse, die singulare politische und kultische Gegebenheiten begründeten". 3 Aufschlussreich ist v.Rads ergänzende Bemerkung, dass „natürlich ... auch in Israels Geschichtserkenntnis die Vernunft fragend und gestaltend tätig (war)". 4 Denn sie konnte sich , j e länger, j e weniger, mit der Darstellung von Episodischem, Anekdotischem, also einzelner Fakten, begnügen"; vielmehr „begehrte" die Vernunft „mit wachsender Kühnheit immer größere zeitliche Erstreckungen zu sehen", 5 was sich nach v.Rad „schon bei den kleineren 'Kompositionen'" wie Jdc 6-8 (Gideon) oder Jos 2-10 (Landnahme) zeigte „bis hin zu den riesigen Entwürfen des deuteronomistischen und chronistischen Geschichtswerkes". 6 Damit hat v.Rad wenn auch eher beiläufig - ein Modell skizziert, wie aus den einzelnen Geschichte«, die „von Episodischem, Anekdotischem, also einzelne(n) Fakten" handeln, Geschichte wurde. Neben dem Bedürfnis auch anderer Völker, „ihre Existenz und ihr Gottesverhältnis in immer neuen und immer anspruchsvolleren Geschichtsentwürfen zu legitimieren", 7 war es nach v.Rad das systematisierende Bestreben der Vernunft, „ein Kontinuum zu sehen", 8 das zu jenen großen Geschichtsentwürfen geführt hatte. Nun ist hier weder v.Rads Vernunfts- noch seine Legitimierungshypothese weiter zu diskutieren, die das Werden der großen Geschichtswerke aus Sammlungen von Anekdoten und Kurzgeschichten zu erklären suchen. Vielmehr soll im folgenden anhand von Textausschnitten des Deuteronomiums gezeigt werden, wie und aus welchen Veranlassungen innerhalb der Mose-Tora von Dtn 1-30 selbst, also textimmanent, Geschichten und Episoden erzählt werden. 9 Zudem sind dabei die makrostrukturellen Zusammenhänge zu berücksichtigen, in denen die dtn Tora-Rede als ganze innerhalb des DtrG. steht. In gut v.Rad'scher Manier, die sich vom „Aufmerken auf die formale Struktur der Aussagen Israels und seiner literarischen

Erzählten und dem Vorrang der Kontingenz gegenüber jeder Art von Systematik oder abstrakter Gesetzmäßigkeit im altisraelitischen Denken berührt v. Rad grundlegende Momente alttestamentlichen Geschichtsdenkens und biblischer Wirklichkeitserfassung, auf die unten zurückzukommen sein wird (vgl. unten Anm. 67). 3 A.a.O. 367. 4 Ebd. 5 A.a.O. 367 f. 6 A.a.O. 368. 7 Ebd. Anm. 3 8 A.a.O. 368; vgl. oben Anm. 2. 9 Zur Gesamtanlage der Mose-Tora von Dtn 1-30 vgl. vorläufig HARDMEIER 2000a, 61- 92, bes. 63-77 (vgl. III.5.).

4. „ Geschichten " und „ Geschichte " in der hebräischen

Bibel

99

Hinterlassenschaft" leiten lässt, 10 soll damit versucht werden, das Verhältnis von „Geschichten" und „Geschichte" an den Texten selbst zu klären. Im Schlussteil wird auf den kulturanthropologischen Horizont der historischen Sinnbildung einzugehen sein, in welchem das althebräische Geschichtsdenken eine Sonderstellung einnimmt.

2. Geschichtsrückblicke in der Tora-Rede Dtn 1-30: Die Horeb-Reminiszenzen und Wanderungs-Erinnerungen Innerhalb der Tora-Rede von Dtn 1-30 bezieht sich Moses, der in 1,5 als Redner eingeführt wird, 11 mehrfach und in charakteristischer Weise auf die Vergangenheit. In einem eigentümlichen Erzählstil der Anrede (Wir/ Du/Ihr) erinnert er mehrfach an Ereignisse und Episoden, die er gemeinsam mit den Angesprochenen als Augenzeugen erlebt zu haben vorgibt. Dabei sind vor allem Erfahrungen beherrschend, die Mose und das Volk im Gegenüber zu JHWH am Horeb gemacht hatten und die deshalb als Horeb-Reminiszenzen zu bezeichnen sind. Sie finden sich - fünf an der Zahl - in Dtn 1,6-18; 4,9-14; 5,2.4-31; 9,7-10,11 und 18,16-20. 12 Ferner geht es in Dtn 1,19-3,29 um Erfahrungen, die auf dem Weg zwischen Horeb und Moab bei Bet Pegor, dem Versammlungsort der Zuhörerschaft, gemacht wurden (vgl. 1,5; 3,29 und 4,46). 13 Von besonderer Bedeutung für das Verhältnis von „Geschichten" und „Geschichte" ist zunächst der Umstand, dass sich in diesen Rückblicken auch episodische Geschichten finden, die wie z.B. die Sihon-Geschichte in Dtn 2,26-36 oder die Ereignisse in und von Kadesch-Barnea aus (1,19-46) in das Horeb-Moab Itinerar von 10

11

V.RAD

5

1 9 6 6 , 8.

Die folgenden Betrachtungen beziehen sich primär auf den synchronen Textzusammenhang der (spät-)exilisch dtr. Hauptformation des Deuteronomiums, wobei diesem Überformungszusammenhang jedoch einerseits in Dtn 6-8* und 12-28* eine joschijanische Vorstufe zu Grunde liegt. Andererseits wurde diese Hauptformation ihrerseits im Zuge der Integration des Deuteronomiums in den Pentateuch insbesondere in Dtn 1-12* und 27-29* auch nachexilisch überformt (vgl. z.B. den Zusammenhang von Dtn 4,12b. 15 ff. und 5,8.9a), ohne dass auf diese literaturgeschichtlichen Differenzierungen näher eingegangen werden kann. 12 Die genannten Passagen im dtr. Deuteronomium zeichnen sich dadurch aus, dass Mose innerhalb der Tora-Rede argumentativ mehrfach auf Ereigniszusammenhänge zurückgreift, die in 1,6; 4,10; 5,2 • 4); 9,8 und 18,16 explizit „am Horeb" ( a í n a ) lokalisiert werden. Zur Gesamtanlage der Mose-Rede und ihrer Gliederung vgl. die Graphik I im Anhang. 13 Das Itinerar von 1,19 ff. schließt in 3,29 mit dem Ort, an dem die Angesprochenen zuletzt angekommen sind und sich niedergelassen (attfJl) haben. Dieser Ort koinzidiert mit dem rededeiktischen „Hier" (und „Jetzt") in 5,3 und 29,14 und wird zur Verortung der Rede im narrativen Rahmen in 1,5 und 4,46 genannt.

100

Kapitel HI: Singulärgestalt

der deuteronomistischen

Tora

1,19-3,29 eingebettet sind. 14 Andererseits sind diese Horeb-Rückblicke ebenso wie die Wander-Erinnerungen so in die Tora-Rede eingeflochten, dass uns diese argumentativen Kontexte explizit Aufschluss geben können über die Funktion(en) des historischen Erinnerns und Erzählens. 1 5

3. Die Tora-Rede im Kontext des DtrG. Zudem ist zu berücksichtigen, dass das Buch Deuteronomium und damit die große Tora-Rede des Mose in Dtn 1-30 den Anfang des DtrG. 16 bildet. Was die Hypothese eines DtrG. betrifft, lässt sich m.E. dafür zumindest eine markante Formations-Stufe nachweisen, die auf einen synchronen Gestaltungswillen der späten Exilszeit zurückgeht. Darin bildet die ToraRede in Dtn 1-30 den Auftakt eines Werkzusammenhangs, der über zahlreiche Zwischentexte auf die Klimax in den dtr. Joschija-Kapiteln von II Reg 22 f. zuläuft und im offenen Schluss der Begnadigung Jojachins in II Reg 25 ausklingt. Weiter ist zu beachten, dass die Auftakt-Rede in Dtn 1,5 explizit als Tora (nxrn n n n n ) bezeichnet wird. Diese Tora wird zwar nach Dtn 31,9 von Mose direkt im Anschluss an die Rede niedergeschrieben, dann aber trotz der Anweisung von Dtn 31,11-14 in der weiteren Geschichte außer unter Josua praktisch vergessen, bis man sie unter Joschija wiederentdeckte. 1 7 Erst dieser idealisierte Reformkönig verstand dann nach II Reg 22,11 ff. vollumfänglich das gefundene Buch 1 8 und setzte es als 14

Vgl. die erste Station Kadesch-Barnea (1,19.46), die Aufbrüche ins edomitische Bergland (2,1 f.) und nach Ar-Moab (2,8b), die Überschreitung des Sered (2,13b) und den angestrebten friedlichen Durchzug durch das Land Sihons, des Königs von Hesbon (2,26-36) unter Überschreitung des Arnon (2,24 f.) sowie den Aufbruch nach Norden ins Land Basan (3,1), wobei diese Länder den Migranten in die Hände fielen (2,32 f.; 3,lb.3) und anschließend unter die Sippen verteilt wurden (3,8 ff.). 15 Damit liegt in den Horeb-Rückblicken und im Horeb-Moab-Itinerar genau jenes narratologische Phänomen vor, das Quasthoff als „Erzählen in Gesprächen" kommunikationstheoretisch untersucht und begründet hat, vgl. QUASTHOFF 1980 sowie DIES. 2001, 1293-1309. 16 Vgl. dazu die Graphik II im Anhang und zum ganzen HARDMEIER 2000b, 81-145; zur Auseinandersetzung mit dem Ansatz von ALBERTZ (jetzt DERS. 2001, 210-231) vgl. a.a.O. 98 f. und 114 f. 17 Nach Jos 8,34 wurde die Mose-Tora letztmalig nach Übertritt über den Jordan dem Volk vorgelesen, und einzig Josua schärfte dem Volk in Jos 22,5 und 23,6 den Tora-Gehorsam noch einmal ein, was in der dtr. Geschichtskonstruktion nur David noch ein weiteres Mal gegenüber Salomo tut (I Reg 2,3), bevor die Tora dann beim Tempelbau bis zur Wiederauffindung unter Joschija verschwindet. 18 Es ist erzähl-empirisch von größter Bedeutung, dass es in II Reg 22,11 genau der Vorgang des Hörens der Mose-Tora ist, der zur Zeitmarke gestaltet wird, um die zentrale Szene zu eröffnen, in der Joschija die vorgelesene Tora auf einzigartige Weise sofort und

4. „ Geschichten

" und „ Geschichte

" in der hebräischen

Bibel

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einziger in der Geschichte in vollkommener Weise um, allerdings ohne dadurch JHWHs Zornes-Verhängnis über Juda und Jerusalem noch aufhalten zu können (II Reg 23,25-27). Für diesen dtr. Werkzusammenhang gibt es weit über M. Noth hinaus viele gute Gründe, die hier nicht entfaltet werden können, wobei bereits in Dtn 4; 7 f.; 10 f. und 27 mit beträchtlichen Überformungen aus nachexilischer Zeit zu rechnen ist. Damit können wir nicht nur textimmanente Erkenntnisse über die Funktionsweisen von „Geschichten" in den Argumentationskontexten der dtr. Tora, sondern auch Einblicke in die Art und Weise gewinnen, wie das Erinnern von „Geschichten" aus der Binnenperspektive von „Geschichte" im ältesten Epochen-Werk des Tanak quasi selbstreflexiv angelegt und zu verstehen ist. Dabei ist diese Selbstreflexivität der dtr. Geschichtsschreibung nicht irgendeine Marginalie, sondern ein fundamentales und damit maßgebendes Moment der alttestamentlichen Tora selbst, wie sie sich explizit in Dtn 1-30 als Redevollzug definiert. 1 9

v o l l u m f a n g l i c h begreift und d e m e n t s p r e c h e n d reagiert (vgl. dann mit innerer K o n s e q u e n z 22,19). Der H a u p t f o k u s von II Reg 22 f.* liegt somit auch in der G e s a m t a n l a g e der dtr. Gestaltung ganz auf der Tora des M o s e und ihrer idealen V e r w i r k l i c h u n g durch Joschija, wie es die Evaluation in 23,25 textimmanent bestätigt. 19 G e g e n ü b e r einem weithin undifferenzierten Verständnis von „ T o r a " und erst recht ihrer nach wie vor weit verbreiteten Gleichsetzung mit „ G e s e t z " ist mit N a c h d r u c k hervorzuheben, dass der u n b e z w e i f e l b a r e exegetische B e f u n d in Dtn 1,5 und 31,9 die ganze M o s e - R e d e von Dtn 1,6-30,20 als „diese T o r a " und damit als Lehr- Vollzug ausweist, wobei das D e m o n s t r a t i v u m n s t n rededeiktisch auf die mit ID»1? eingeführte Rede in 1,6 ff. zeigt (vgl. HARDMEIER 2000a [s. A n m . 9] 63 f. [vgl. III.5.]). Nicht ihre Inhalte als solche - „ G e s e t z " und/oder „ G e s c h i c h t e " sind a priori falsche Alternativen - machen das S p e z i f i k u m dieser Tora aus, sondern die diskursive Art und Weise, wie diese „Inhalte" und w o z u sie in der idealtypischen M o a b - V e r s a m m l u n g von M o s e eingebracht und entfaltet werden ( I N I 1,5 = „verklart"). W i e in den F u n k t i o n s b e s t i m m u n g e n von Dtn 17,8-12 geht es auch bei dieser T o r a um verbindliche Entscheidungshilfen und konkrete Lebensorientierungen im Blick auf die bevorstehende In-Besitznahme des Landes (9,1 ff.), die ihre situations- und z u k u n f t s e r h e l l e n d e W i r k u n g primär im mimetischen N a c h v o l l z u g entfalten (vgl. zum engen Verhältnis der Tora-Erteilung zur [prophetischen] Expertisen-Tätigkeit HARDMEIER 2001b, 121-144, ferner für die nachexilische Zeit WILLI 2001, 43-61). Deshalb wird „diese T o r a " (Dtn 31,9) aufgeschrieben und m u s s (bzw. müsste!) g e m ä ß dem Basis-Konzept des DtrG. i m m e r wieder neu gelesen und gehört werden (31,11-13, vgl. 17,18-20), w a s ansatzweise David und S a l o m o taten (I Reg 2,3), j e d o c h erst und allein unter Joschija (II Reg 22,10b.11 ff. und 23,1-3) vollu m f ä n g l i c h verwirklicht w u r d e (vgl. oben A n m . 17). Diesem p e r f o r m a t i v e n Primäraspekt der Tora als m i m e t i s c h e m Nachvollzug entsprechen sowohl das Vermittlungs-Konzept in Dtn 6,6-9.20-25 als auch die bereits j o s c h i j a n i s c h e n E r i n n e r u n g s m a h n u n g e n in Dtn 5,15; 15,15; 16,12; 24,18.22 (vgl. dazu HARDMEIER 1992, 133-152).

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Kapitel III: Singulärgestalt

der deuteronomistischen

Tora

4. Grundzüge der Tora-Rede und der argumentativen Einbettung der historischen Rückblicke Anhand der Graphik I, die die rede- und erzählpragmatischen Analysen von Dtn 1-30 zusammenfasst, ist ein Blick auf die Gesamtanlage der ToraRede zu werfen sowie auf den argumentativen Stellenwert der historischen Rückblicke. 2 0 1. Die Mose-Rede verankert sich idealtypisch im „Heute" der Volksversammlung bei Bet Pegor (3,29; 5,1-3) am Vorabend des Übertritts über den Jordan (9,1) und wird auf der narrativen Rahmen-Ebene in 1,1a.5a entsprechend eingeführt ( Ü X L D F H X L P T N 1 3 ! > 3 ) . 2. Bezogen auf dieses „Heute" beherrschen zwei aktuelle Themen das Ganze der Rede: zum einen die Erneuerung der unbedingten Loyalitätsverpflichtung gegenüber JHWH in Analogie zum Bundesschluss am Horeb. Sie beginnt mit Dtn 5,1, wird im Bekenntnis-Aufruf in 6,4 proklamiert und in 27,9 f. performativ bzw. nach 29,9-14 rituell im „Heute" der Rede vollzogen. 2 1 Zum andern ist es die Vertrauens-Beziehung zu JHWH, die in 9,1 ff. im Blick auf den „heute" anstehenden Übertritt über den Jordan und die In-Besitznahme des Landes mit einem markanten ^iniV' 5»DU; angesprochen und thematisiert wird. 22 3. Auf beide Themen führen die geschichtstheologischen Grundlegungen in Dtn 1-4 hin. Dabei bereiten die erste HorebReminiszenz am Redeanfang (1,6-18) und die Wanderungs-Erinnerungen in 1,19-3,29 das Thema des JHWH-Vertrauens vor, das in Dtn 9,1 ff. aktualisiert wird. Andererseits ruft die zweite Horeb-Reminiszenz in Dtn 4,9-14 die Ur-Versammlung am Horeb vor JHWH sowie den uranfänglichen Bundesschluss in Erinnerung, der ab Dtn 5,1 ff. im „Heute" der Moab-Versammlung (V. 2 f.!) neu bekräftigt werden soll. 23 20 Im folgenden werden unter Verweis auf die Graphik I (vgl. Anhang) die Hauptpunkte benannt, die für den geschichtstheologischen Diskurs innerhalb der Tora-Rede und ihre Gesamtanlage relevant sind. Für den exegetischen Nachweis und die Begründung dieser Strukturskizze im einzelnen ist auf die - wenn auch ihrerseits sehr komprimierte - Darstellung in HARDMEIER 2000a (s. Anm. 9) (vgl. III.5.) zu verweisen. 21 Vgl. a.a.O. 72-75 und 88-92 (vgl. III.5.). 22 Vgl. a.a.O. 68-71 (vgl. III.5.). In allen Fällen (6,4; 27,9 und 9,1) wird die Aufmerksamkeit auf das aktuelle Geschehen gelenkt, das entweder wie in 9,1 synchron zum Redevollzug im Gange ist oder sich performativ in der Rede vollzieht, sei es als Bekenntnisvollzug in Dtn 6,4 oder als Bundesschluss in 27,9 (vgl. dazu im einzelnen a.a.O. 83-87 (vgl. III.5.)). 23 Vgl. a.a.O. 76 f. (vgl. III.5.). Nach der Lehreröffnung in 4,1 ff. schärft Mose den Versammelten ab 4,9 ff. summarisch die Erinnerung an die Urversammlung am Horeb ein, in der JHWH dem Volk direkt im Feuer begegnet war und durch Mose den Dekalog vermittelt hatte (V. 10-14 + 23a.24). Dtn 5,1 ff. bildet dann den Auftakt zur aktuellen

4. „ Geschichten " und „ Geschichte " in der hebräischen

Bibel

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4. In beiden Aktual-Teilen (5,1 ff. und 9,1 ff.) greift Mose detaillierter auf das Horeb-Geschehen und die Wanderungs-Erfahrungen zurück. Die dritte Horeb-Reminiszenz in Dtn 5,4-31 fächert das in der zweiten (4,9-14) summarisch Erinnerte auf, um Moses Lehrautorität zu begründen, in deren Vollmacht er ab 6,1 ff. die ganze N I S D sowie die D'P n und • ' A D U ' D ZU lehren beginnt. 2 4 Strukturell vergleichbar, ist die vierte Horeb-Reminiszenz in Dtn 9,7-10,11 in die Aktual-Debatte um das JHWH-Vertrauen eingebettet. Sie greift verschiedentlich auf die hinführenden Erinnerungen in Dtn 1,6-3,29 zurück, wobei das Ende in 10,11 bezeichnenderweise den Auftrag zur Land-In-Besitznahme von 1,6-8* wieder aufnimmt. 2 5

5. Sihon-Episode (Dtn 2,26-36) und Josua-Instruktion (3,21 f.). Die Grundfunktion der Zukunftsorientierung Im Blick auf das Verhältnis von „Geschichten" und „Geschichte" ist im Folgenden der Argumentationszusammenhang von Dtn 1,6-3,29 und 9,1 ff. näher zu betrachten, der die Vertrauens-Beziehung zu JHWH geschichtstheologisch erörtert. Einzusetzen ist mit der Sihon-Episode in Dtn 2,26-36 und ihrer Erörterung in der Josua-Instruktion in 3,21 f. Was die Wanderungs-Erinnerungen von Dtn 1,19-3,29 betrifft, ist auf die einzige Zeitmarke im ganzen Itinerar in 2,16 aufmerksam zu machen, die das Erinnerungs-Konstrukt von Kadesch-Barnea bis Bet Pegor grundlegend in zwei Epochenabschnitte teilt: 26 zunächst in die Zeit einer ersten Generation von Bundesansprache (bis 26,19) und identifiziert zu Beginn den Bund, den JHWH bereits am Horeb mit den Angesprochenen geschlossen hatte (V. 2), mit dem aktuell bevorstehenden Bundesschluss im „Hier" und „Heute" von Bet Pegor, auf den die Angesprochenen nun vorbereitet werden (V. 3). Dazu greift die Rede in 5,4-31 erneut auf die Ereignisse vom Horeb zurück und entfaltet die in 4,10-14 summarisch eingeführten Aspekte der Urbegegnung mit JHWH in diversen Details, die hier nicht weiter aufgezeigt werden können. Einzig auf den Schluss der dritten Horeb-Reminiszenz sei hingewiesen mit den näheren Umständen, unter denen Mose schon damals beauftragt wurde, dem Volk die ganze niso sowie die D'P n und • , a a » D zu lehren, was in 4,14 nur summarisch angedeutet wird. Denn genau diese Lehre wird mit der Redeüberschrift in 6,1 eröffnet und - was die D'P n und D'aDlflD im einzelnen betrifft - mit der Parallel-Überschrift in 12,1 bis 26,15 weiter ausgeführt, gefolgt von den deklarativen Erklärungen in 26,16-19. Auf die ursprungsgeschichtliche Legitimation und Begründung der Lehrautorität des Mose, die mit dieser dritten Horeb-Reminiszenz argumentativ geleistet wird, kann nur hingewiesen werden. 24 Vgl. 5,31 und die Rede-Überschrift in 6,1, ferner die vorige Anm. sowie a.a.O. 66, 76 und 78-80, bes. Anm. 48 (vgl. 111.5.). 25 Vgl. a.a.O. 68-71, bes. Anm. 26 und 27 sowie S. 78 f. (vgl. III.5.). 26 In narratologischer Hinsicht strukturieren Zeitmarken, wo immer Erzählzusammenhänge temporal gegliedert werden, das Kontinuum der erzählten Zeit in elementarster

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Kriegern (non'PDn '¡tfjx), die aus verschiedenen Gründen mit zwei Versuchen gescheitert sind, von Kadesch Barnea aus dem Horeb-Auftrag zur Land-In-Besitznahme (1,20 f.) gerecht zu werden (V. 19-46). Zu diesem Zeitabschnitt gehört ferner in Dtn 2,1 ff. die Wanderungsetappe in die edomitische Bergregion (V. 1) und - unter Überschreitung des Sered - das Vorrücken an die Grenze zum moabitischen Bergland südlich des Arnon (V. 8b. 13b). Geschichtstheologisch bedeutsam an dieser Wanderungsphase ist die Warnung JHWHs, sich weder mit den Edomitern (V. 4-7) noch mit den Moabitern (V. 9) auf militärische Auseinandersetzungen einzulassen, weil die Siedlungsgebiete dieser mit Israel verwandten Völker als unantastbare und ihnen von JHWH zugeeignete Territorien galten (V. 5aß.b.9b). Deshalb waren die Migranten auch angewiesen, beim Durchzug durch diese Gebiete das Nötige zum Leben käuflich zu erwerben (V. 6) und Gewaltkonflikte zu meiden (V. 5aa.9a). Nachdem jedoch jene erste Generation von Kämpfern ausgestorben war, die das Kriegs-Debakel von Kadesch-Barnea zu verantworten hatten (2,14 f.), leitete JHWH im Erinnerungskonstrukt des Mose eine neue Epoche ein (V. 16), die zur erfolgreichen Land-In-Besitznahme im ostjordanischen Bergland führen sollte, sogar ohne dass sie überhaupt beabsichtigt war. Dabei ermutigte JHWH die Hinterbliebenen in einem neuen Wort dazu, den Fluss Arnon zu überschreiten und sich von nun an ggf. auch auf Gewaltkonflikte mit Sihon, dem König von Hesbon, nördlich des Arnon einzulassen. 2 7 Denn den Herrscher von Hesbon hatte JHWH bereits vorab Weise und haben deshalb in der Hierarchie der Gliederungssignale in der Regel gegenüber Ortsmarken und Veränderungen in der Personenkonstellation eine höhere Priorität, was die szenische Gliederung und narrative Perspektivenbildung betrifft. Insofern ist die Zeitmarke von Dtn 2,16 der Schlüssel zum Verständnis der grundlegenden Perspektivenbildung innerhalb von Dtn 1,6 bis 3,29. 27 Wichtig an diesem temporal markierten Wendepunkt ab Dtn 2,16 ff., der mit einer erneuten JHWH-Rede an Mose eröffnet wird, sind zwei Dinge. Zum einen greift die Rede in V. 18 f. in modifizierter Weise die Anweisungen von 2,4 f. gegenüber Edom auf, die sich in V.18 f. auf die Unantastbarkeit der Ammoniter richten. Die Modifikation besteht darin, dass einerseits nach V. 18 wie in V. 4 der Durchzug durch Ar-Moab gemäß den Anweisungen von V. 9 bevorsteht, andererseits aber dabei das Gebiet der Ammoniter wie in V. 5 unberührt bleiben soll (V. 19), worauf V. 37 zurückkommt. Damit bleibt der erste Teil der Rede in der Kontinuität des Itinerars ab 2,1 im Anschluss an die Kadesch-Barnea-Episode von 1,19-46. Die eigentliche Wende, die mit dem Absterben der ersten Generation in 2,16 markiert wird, liegt jedoch im erneuerten Aufbruchs-Befehl in 2,24 f. Er nimmt den Anfangs-Befehl zur Land-In-Besitznahme in 1,6-8 und seine Aktualisierung in 1,21 auf und modifiziert ihn zur prototypischen Fluss-Überschreitung im Blick auf den aktuell bevorstehenden Jordan-Übertritt. Das Wesentliche dieser Wende, die der neuen Generation eröffnet wird, ist JHWHs Transposition des Schreckens und der Angst (V. 25). Die Angst und Verzagtheit vor den großen und mächtigen Völkern, die die erste Generation nach 1,28 in Verbindung mit dem Misstrauen gegenüber JHWH (V. 27.32) gelähmt hatte, wird von nun an zur Angst der Völker vor dem JHWH-Volk, das - gefes-

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in ihre Hand ausgeliefert und Sihons Territorium war ihnen von vornherein preisgegeben (V. 24 f.). In der Fortsetzung ruft Mose das Geschehen dieser Preisgabe im Einzelnen in Erinnerung (V. 26-36). Bemerkenswert an dieser paradigmatischen Erfolgsgeschichte ist, dass Mose und seine Leute zunächst genauso wie im Falle von Edom und Süd-Moab einen friedlichen Durchzug auch durch das Land Sihons angestrebt hatten unter Bezahlung aller Versorgungskosten (V. 27-29). Dann aber hebt die Episode deutlich die Angst und Borniertheit hervor (V. 30), mit der sich der König weigerte, auf das Angebot einzugehen. Zudem ließ er sich in seiner verzerrten Wahrnehmung zu einem Präventiv-Schlag gegen die Migranten hinreißen (V. 32), so dass ihn die Angegriffenen außerhalb der befestigten Stadt leicht besiegen und - ohne es ursprünglich beabsichtigt zu haben - sein Territorium in Besitz nehmen konnten. 2 8 Die Rückerinnerungen an die Wanderungen bis Bet Pegor fahren dann fort mit einer analogen In-Besitznahme der ostjordanischen Gebiete im Norden (3,1-7) und der Verteilung des eroberten Landes an die ostjordanischen Stämme (3,8 ff.). Für den Stellenwert von „Geschichten" in der hebräischen Bibel ist jedoch die sich anschließende Episode in 3,21 f. von besonderer Bedeutung. Im Abschluss seiner Rückschau ruft Mose den Versammelten die folgende Anweisung an Josua in Erinnerung: (21) Deine Augen sind es, die alles gesehen haben, was JHWH euer Gott an diesen beiden Königen gewirkt hat. So wird JHWH an allen Königreichen handeln, zu denen du (alsbald) hinüber gehst. (22) Fürchtet euch nicht vor ihnen, denn JHWH, euer Gott, - er ist es, der für euch kämpfen wird.

Dreierlei ist daran wichtig: 1. Mose erinnert an selbst gemachte Erfahrungen in der Vergangenheit, die auch in Zukunft im analogen Fall der Einwanderung ins Westjordantigt in seinem JHWH-Vertrauen - auf seine Weise die anderen Völker in Schrecken versetzt. Wie dieser „Schrecken" Israels wirksam wird, zeigt dann sogleich das Sihon-Paradigma in 2,26-36, das in V. 24 als prototypische Erfolgserfahrung in Aussicht gestellt wird. 28 Dieser Erzählzug der angstbedingten Prävention, mit der sich Sihon selbst geschwächt hat, ist in der äußerst knappen und prototypischen Darstellung von entscheidender Bedeutung (vgl. dazu z.B. die Auslegung in Jos 24,12 und Jdc 11,19-21!), weil damit innerhalb des DtrG. erzählerisch „definiert" wird, was unter der Formel, dass JHWH andere Völker „in die Hand" Israels gibt ( V I inj), zu verstehen ist. Das Sihon/Og-Paradigma wird ja nicht nur in Num 21 weiter ausgebaut, sondern auch sonst in der (nach-)dtr. Literatur vielfach erwähnt und argumentativ eingesetzt; vgl. neben Dtn 2,263,8 die Belege in Num 32,33; Dtn 1,4; 3,21; 4,46 f.; 29,6; 31,4; Jos 2,10; 9,10; 12,2.5; 13,10.21.27; 24,12; Jdc 11,19-21 (I Reg 4,19); Jer 48,45 (= historischer Erfahrungs-Hintergrund aus der Exilszeit?); Ps 135,11; 136,19 und Neh 9,22.

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Land zu erwarten sind. 29 Damit wird die Sihon-Episode von Dtn 2,26-36 bereits innerhalb des ersten Erzähldiskurses zur exemplarischen Fall-Geschichte für die Zukunft, an deren Schwelle die Angesprochenen in Bet Pegor stehen. 2. Im Einzelnen zeigt die episodisch modellierte Erfahrung, wie und in welcher Weise JHWH für sein Volk kämpfen wird: Nicht mit starken Bataillonen oder technischen Wunderwaffen, sondern durch die Fehleinschätzungen und Selbsttäuschungen der Feinde, die ihre Ängste durch verhältnislose Aggression zu bewältigen suchen, sich dadurch verwundbar machen und mit ihren eigenen Fehlern überwunden werden können. Die Sihon-Episode beleuchtet modellhaft das Wirken JHWHs in der geschichtlichen Wirklichkeit und was es heißt, dass er die Feinde in die Hand Israels gegeben hat. 30 3. Dabei geht es im Erinnern der Sihon-Episode weder in erster Linie um intelligente Konfliktverhütung noch um kluge Kriegstaktik. Im Zentrum steht die Minimierung von Zukunftsangst der Angesprochenen selbst (3,22), um ihr Vertrauen auf JHWH und damit in die unverfügbare Offenheit aller Zukunft zu stärken. Denn in solcher Vertrauensoffenheit zeigen sich auch unerwartete Chancen, sofern der Blick nicht durch Angst getrübt und die Sinne nicht durch aggressive Abwehr-Phantasien oder anmaßende Siegesgewissheit verhärtet sind wie bei Sihon und wie zuvor bei der Kadesch-Barnea-Generation. 3 1 Daran wird eine Grundfunktion biblischer „Geschichten" und ihrer Vergegenwärtigung erkennbar: die Stärkung des JHWH-Vertrauens, das der angstbesetzten Offenheit aller Zukunft Rechnung trägt, um den nüchternen Blick für unerwartete Chancen ebenso zu schärfen wie für eine realistische Einschätzung von Risiken und Gefahren. Geschichtliches Erinnern hat hier explizit die Funktion der Zukunftsorientierung und der Konditionierung eines kairos-offenen Spürsinns. 32 29 Die Augenzeugen-Formel von Dtn 3,21 begegnet im ganzen Tanak nur noch in Dtn 4,3 und 11,7. 30 Vgl. dazu oben Anm. 28. 31 Vgl. dazu oben Anm. 27. 32 Für die geschichtstheoretischen Grundlagen alttestamentlicher Geschichtsschreibung und Geschichtstheologie, die im DtrG ihre früheste Ausprägung erfahren hat, ist das Sihon-Paradigma von kaum zu überschätzender Bedeutung. Insbesondere im Blick auf die tief problematische und wirkungsgeschichtlich so folgenschwere Theorie der Landin-Besitznahme im Deuteronomismus muss betont werden, dass es darin - genauer betrachtet - gerade nicht um eine göttliche Legitimation von Landansprüchen geht und schon gar nicht um die Legitimierung von Gewalt, um diese Ansprüche durchzusetzen. Vielmehr steht - wie gezeigt - die Angst- und Vertrauensproblematik angesichts von realen Macht- und Gewaltverhältnissen im Vordergrund, wie auch ein nur flüchtiger Vergleich von Dtn 1,27 f. mit Jos 2,10 f. im Zusammenhang mit Dtn 2,24 f.26-36 und

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6. Zukunftsorientierung und JHWH- Vertrauen in Dtn 9,1 f f . Die gewonnenen Einsichten lassen sich an den aktuellen Zukunfts-Erörterungen in Dtn 9,1 ff. bestätigen und vertiefen. Dabei greift Mose in mehrfacher Hinsicht auf geschichtliche Erfahrungen zurück, die er bereits am Anfang der Rede ins Gespräch gebracht hatte. Als erstes nimmt er in 9,1-3 die Vertrauens-Thematik von 3,22 auf. Gegen die potentielle Angst vor den „großen und mächtigen Völkern" (9,1 f.), die die Angesprochenen damals in Kadesch Barnea gelähmt und am Aufbruch ins verheißene Land gehindert hatte (1,28), setzt Mose in 9,3 die Vergewisserung ( r u n ' l ) , dass JHWH es ist, der - ähnlich wie in der Zusage von 3,22 - den entscheidenden Kampf gegen die übermächtig erscheinenden Feinde führen wird. Wichtiger ist, wie diese Vergewisserung in 9,4 ff. differenziert wird. Mose warnt die Versammelten, die künftigen Erfolge der Land-In-Besitznahme nicht sich selbst zuzuschreiben und auf die eigene Integrität und Rechtschaffenheit zurückzuführen. Dazu erinnert er der Sache nach an das Erfahrungsmodell von Dtn 2,26-36, wie JHWH den König von Hesbon aufgrund seiner Borniertheit in die Hand der Migranten gegeben hatte. Denn es ist die Schlechtigkeit und Unredlichkeit „dieser Völker" (9,4b.5b), mit der sie sich wie Sihon von Hesbon selbst schwächen - diese selbstdestruktive Fehlbarkeit ist das Medium, wodurch JHWH die Land-InBesitznahme zum Erfolg führen wird, und eben nicht die moralischen Qualitäten des versammelten Volkes. 33 Denn dagegen steht - so das Hauptargument in 9,6b - erst recht die notorische Borniertheit der Angesprochenen: nnx i n » ntfp dp '3.

3,21 und die darin herausgearbeitete Verlagerung der lähmenden Angst- und SchreckensDisposition von Israel auf die Völker zeigen. Selbst v. Rad hat noch wie selbstverständlich davon gesprochen, dass Israel wie alle anderen Völker seine „Existenz und" sein „Gottesverhältnis in immer neuen und immer anspruchsvolleren Geschichtsentwürfen zu legitimieren" versucht habe (vgl. oben bei Anm. 7); und bis heute scheint die Legitimationsfunktion von Geschichtsschreibung auch im Alten Testament unangefochtene communis opinio zu sein. Die hier zusammengetragenen Beobachtungen zwingen jedoch zu einem gründlichen Umdenken und zu einer sorgfaltigen Neubestimmung des alttestamentlichen Geschichtsdenkens; vgl. dazu H A R D M E I E R 1998, 308-342. 33

Vgl. für diese Denkweise bereits Jes 9,17 f. Auch unter diesem komplementären Aspekt bestätigt sich, dass die dtr. Theorie der Land-In-Besitznahme bzw. der Landgabe weder theologisch-metaphysische Landansprüche begründet noch ethnozentrisch von einer göttlichen Erwählung Israels ausgeht (vgl. die vorige Anm.).

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7. Narrative Begriffs-Bildung und Abstraktion in der vierten Horeb-Reminiszenz (Dtn 9,7 f f . ) Die Art und Weise, wie nun Mose im Fortgang der Rede diese wenig schmeichelhafte These weiter belegt und begründet, ist für die bibel-immanente Verhältnisbestimmung von „Geschichten" und „Geschichte" höchst aufschlussreich. Mose greift dazu mit der vierten Horeb-Reminiszenz erneut auf die gemeinsame Vergangenheit zurück und aktiviert das kollektive Gedächtnis der Versammelten: Erinnere dich, vergiss nicht, dass du JHWH, deinen Gott, in der Wüste(nzeit) zum Zorn provoziert hast. Seit dem Tag, da du aus Ägyptenland ausgezogen bist, bis ihr an diesen Ort gekommen seid, wart ihr (unentwegt) widerspenstig gegen JHWH (9,7).

Dieses vernichtende historische Urteil wiederholt Mose in 9,24 in verkürzter Form: (Unentwegt) seid ihr widerspenstig gewesen gegen JHWH, seit ich euch kenne.

Damit schließt er eine ganze Kette von historischen Belegen für die notorische Widersetzlichkeit ab, die er ab 9,8 ins Gespräch bringt. 34 Die Kette beginnt mit einer erneuten Erinnerung an das Urgeschehen am Horeb als erstem Beleg für die skandalträchtige Vergangenheit. Der damals aufgetretene Skandal, dass das Volk sich ein Jungstier-Podest zur Vergegenständlichung der Gottespräsenz angefertigt hatte, wird ab V. 11 ins Gespräch gebracht. Noch auf dem Berg macht JHWH im Dialog mit Mose (V. 12-14) auf den Skandal aufmerksam und fällt bereits im Rahmen der Urbegegnung am Horeb (d.h. prototypisch, V. 13) jenes vernichtende Urteil über sein Volk, 3 5 das Mose in wörtlicher Übereinstimmung zuvor in V. 6b aktualisiert hatte: sin qn» nw? ov m m . Die weiteren Konsequenzen JHWHs aus diesem Skandal und die Maßnahmen des Mose ab V. 15 zur Besänftigung von JHWHs Zorn, bereiten den Fortgang der vierten Horeb-Reminiszenz ab 9,25 ff. vor und können hier vernachlässigt werden. 3 6 Entscheidend ist, dass Mose in V. 22 f. eine ganze Reihe weiterer Belege für die ständigen Provokationen JHWHs in der Vergangenheit beibringt unter Aufnahme des Generalnenners von 9,7. 34

Vgl. die lokal ausgerichtete Subgliederung der Beleg-Kette zwischen 9,8 und 23 durch Ortsangaben in 9,8 (Horeb), V. 22 (mehrere Stationen) und - temporal zusätzlich markiert - V. 23 (Kadesch-Barnea). 35 Es ist bemerkenswert, dass im Deuteronomismus diese schonungslose Selbsterkenntnis als Gottes-Volk den gleichen Offenbarungs-Rang am Horeb hat wie die Gabe des Dekalogs und der Gottes-Bund, was jedes ethnozentrische Erwählungs-Bewusstsein a priori auch ursprungsgeschichtlich negiert. 36 Zur Gliederung und zum Aufbau der vierten Horeb-Reminiszenz vgl. HARDMEIER 2000a (s. Anm. 9) 70 (vgl. III.5.), Anm. 26 und 27.

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Im Gegensatz zum Ur-Skandal am Horeb, werden diese weiteren Belege jedoch nicht als Einzelgeschichten entfaltet, sondern nur unter Nennung der Schauplätze des Geschehens im kollektiven Gedächtnis der Versammelten abgerufen: Auch in Tabera, in Massa und in Kibrot Hattaavah habt ihr JHWH (fortgesetzt) zum Zorn provoziert (22).

Jeder der genannten Orte steht - sozusagen als narrativer Oberbegriff - für Skandal-Episoden der gespannten JHWH-Beziehung und damit für weitere Fall-Beispiele, die bei den Zuhörern als bekannt vorausgesetzt werden, während sie in der kanonischen Endgestalt des Tanak nur z.T. und wahrscheinlich in späteren Versionen überliefert sind (z.B. Ex 17 und Num II).37

Eine Zwischenstufe solcher narrativen Begriffsbildung und Abstraktion 38 im Prozess der Vergegenwärtigung von Modell-Geschichten zeigt 37

Aus Gründen, die hier nicht weiter entfaltet werden können, handelt es sich bei Ex 17 und Num 11 um eine Art von Exempla, die uns jedoch nur als spätere Versionen im Bezugsrahmen der nach-dtr. Komposition des Pentateuch (Blum, K D ) erhalten und überliefert sind. Denn es ist davon auszugehen, dass in den dtr. Horeb-Reminiszenzen und im Horeb-Moab-Itinerar des Deuteronomiums sowohl in literaturgeschichtlicher als auch in geschichtstheologischer Hinsicht das Primär-Modell zu sehen ist, das in nachexilischer Zeit zur Sinai-Perikope und ihrer Vor- bzw. Nachgeschichte ausgebaut wurde. 38

Von „narrativer Begriffsbildung und Abstraktion" ist hier auf dem Hintergrund der wissenschafts- und kommunikationstheoretischen Unterscheidung verschiedener Rationalitätstypen die Rede, die von J. Habermas (Theorie des kommunikativen Handelns) angestoßen und von WELSCH 1996, ausgebaut worden ist. Insbesondere RÜSEN 2001, hat auf dieser Basis das Erzählen „als mentale Operation der Sinnbildung" in seiner „konstitutive^) Bedeutung für das historische Denken" (a.a.O. 53) als Rationalitätstypus eigener Art im Kontrast zur „Rationalität des Erklärens" (ebd.) herausgearbeitet, so dass auch von „narrativer Begriffsbildung und Abstraktion" gesprochen werden kann (vgl. dazu bereits die Überlegungen bei v. Rad oben Anm. 2). Nach Rüsen macht „Erzählen ... aus Zeit Sinn, indem es die Zeitfolge von Vorkommnissen ... in einen inneren Zusammenhang dieser Vorkommnisse selbst bringt. Dieser Zusammenhang ist so geartet, daß in ihm die jeweilige Besonderheit (Kontingenz) der Vorkommnisse nicht verschwindet, sondern als eine zeitlich nachvollziehbare Veränderung erscheint. Der geistige Nachvollzug des zeitlichen Wandels gibt ihm eine Bedeutung für das Verständnis und die Interpretation der zeitlichen Wandlungsprozesse, in der die Subjekte der Erzählung leben oder, anders formuliert, in der der Kommunikationsprozeß des Erzählens selbst geschieht" (a.a.O. 53 f.). Narrative Begriffsbildung und Abstraktion liegen z.B. dann vor, wenn erzählte Episoden wie in Dtn 9,22 f. ihrerseits allein durch die Erwähnung des Schauplatzes, an dem das erinnerte Geschehen gespielt hat, als narrative Sinneinheiten aufgerufen und vergegenwärtigt werden. Auch das Erfahrungs-Paradigma von Dtn 2,2636, das die Art und Weise „definiert", wie JHWH die Völker in Israels Hand ausliefert, wird auf diese Weise durch die abgekürzte Nennung der Amoriter-Könige Sihon und Og auf den Begriff gebracht und kann als narratives Abstraktum innerhalb des dtr. Geschichtsdenkens verschiedentlich zitiert werden (vgl. oben Anm. 28).

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V. 23. Als Schlussglied der Kette von Belegen werden im Rückgriff auf 1,19-46 die gescheiterten Versuche in Erinnerung gerufen, von KadeschBarnea aus in das verheißene Land vorzustoßen. Bezeichnend daran ist die besondere Art, wie dieses Scheitern einerseits als Folge von Fehlhaltungen gegenüber JHWH in 1,19 ff. fokussiert und andererseits in 9,23 als letzter Beleg für die fortgesetzten Provokationen JHWHs seit Anbeginn aufgenommen wird. Dabei wird in V. 23 nicht das Scheitern als solches in den Blick genommen, sondern die Ursachen für dieses Scheitern in der fehlgeleiteten JHWH-Beziehung. Mit sprachlicher Präzision wiederholt der Vers genau jene Formulierungen aus der Kadesch-Barnea-Episode, die phraseologisch bereits in 1,26b. 32 und 43 die Ursachen für die Erfolglosigkeit des Horeb-Auftrags (vgl. 1,21 mit 9,23a) auf den Begriff bringen: 1. Die Widerspenstigkeit des Volkes: m n ' 'D nx m o (1,26b.43b; 9,23ba), 2. das mangelnde Glaubens-Vertrauen: QJ'QXD DJJ'X/ nmDXn X1? ( l , 3 2 a a ; 9,23bß)und 3. das mangelnde Hören auf JHWHs Stimme bei der Warnung, nicht mit Waffengewalt die Landnahme zu erzwingen: DnjJQU; N1?! (1,43a; 9,23by).

8. Konsequenzen für das alttestamentliche Geschichtsdenken. „ Geschichten " und „ Geschichte " im BeziehungsGegenüber zu JHWH Aus diesen Beobachtungen lassen sich für das Verhältnis von „Geschichten" und „Geschichte" sowie im Blick auf die spezifische Eigenart alttestamentlichen Geschichtsdenkens verallgemeinernd die folgenden Schlüsse ziehen: 1. Die Einzel-Geschichte wie z.B. der Sihon-Konflikt wird als Erfahrungsmodell erinnert, das der Zukunftsorientierung dient (Dtn 3,21 f.). Das Erzählen und Erinnern dieser Episoden hat weder die Funktion der retrospektiven Deutung oder Plausibilisierung von Vergangenheit, noch dient es der Legitimation z.B. von territorialen Ansprüchen in der Gegenwart. Auch in 9,1 ff. ist die bevorstehende Überschreitung des Jordans und damit die aktuelle Zukunftsorientierung der redepragmatische Kontext der vierten Horeb-Reminiszenz in 9,7 ff. 3 9 39 Dieser Neueinsatz der Rede in 9,1, der die Aufmerksamkeit ganz auf das aktuell bevorstehende Geschehen des Jordan-Übertritts richtet (vgl. dazu auch oben Anm. 22), bestätigt, dass es in der dtr. Mose-Tora ganz im Geiste der Schriftprophetie primär um eine - wenn auch prototypisch-modellhafte - Situations- und Zukunftsorientierung geht, die die Primärfunktion des geschichtlichen Erinnerns in 9,7 ff. bestimmt und dabei die JHWH-Volk-Beziehung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als problematische Vertrauensbeziehung ins Zentrum rückt. Demgegenüber haben die in 9,1-6 thematisierte

4. „ Geschichten

" und „ Geschichte " in der hebräischen

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2. Der zentrale Fokus dieser Einzel-Geschichten, ihr erzählenswertes Ereignis ist die JHWH-Beziehung. Die narrativen Rückblicke machen an Fall-Beispielen anschaulich, wie JHWH in der geschichtlichen Realität und Erfahrungswelt zum Guten wie zum Bösen gewirkt hat, 40 um seine künftige Mitwirksamkeit in Korrelation zum eigenen Verhalten richtig einzuschätzen. Dabei sind die Rückblicke vom Wissen getragen, dass JHWHs Wirken in Zorn und Liebe unverfügbar bleibt und in keiner Weise manipulierbar oder beherrschbar ist. Deshalb liegt das Schwergewicht nirgends auf Spekulationen über JHWHs Wesen oder seine Handlungsweisen, sondern ganz und gar auf der menschlichen Seite der JHWH-Beziehung und ihrer Angemessenheit. Im Wesentlichen geht es in den Retrospektiven um die Alternative zwischen einem vertrauensoffenen Respekt oder der ängstlich-misstrauischen bzw. selbstüberheblichen Leugnung von JHWHs Mitwirksamkeit sowie um ihre Auswirkungen auf die geschichtlichen Lebensverhältnisse. 4 1 Statt um geschichtstheologische Wesensbestimmungen Gottes geht es im alttestamentlichen Geschichtsdenken primär um eine situationsgerechte Theo-Relationalität und ihre Angemessenheit, die im Modus narrativer Rationalität dem Weisheitssatz Substanz verleiht, dass „Gottesfurcht" im Sinne einer Praxis des unbedingten Gottes-Respekts der Anfang aller (lebenspraktischen) Weisheit ist. 42 3. Im Blick auf den Status dieser Einzel-Geschichten sind ihr typologischer Charakter und die narrative Modell-Gestalt hervorzuheben. Wir haben es nicht mit Anekdoten und „Geschichten" zu tun, die man sich von Alters her bei Gelegenheit immer wieder erzählt, später dann theologisiert und schließlich als volksgeschichtliches Gut literarisch gesammelt hatte. Vielmehr handelt es sich um außerordentlich verdichtete und in diesem Sinne abstrakte Erfahrungsmodelle, die sich zwar ganz auf geschichtliche Erfahrungen beziehen und an ihnen gewonnen sind, jedoch diese Erfahrungen in der narrativen Reflexion auf das Modellhafte konzentrieren und auf das Typische der reflektierten JHWH-Beziehung reduzieren. 4 3

Land-In-Besitznahme und der angesprochene Negativ-Charakter des Volkes eine dienende Funktion. Sie entzieht einer geschichtstheologischen Legitimation von Landansprüchen und einem ethnozentrisehen Erwählungsglauben ebenso jeden Boden, wie sie eine antijudaistische Rezeption des Tanak verbietet, die im Alten Testament die Verwerfung des alten Gottes-Volkes als dunkle Folie der Heilsgeschichte bezeugt und von Anfang an am Horeb offenbart sieht (vgl. oben Anm. 32, 33 und 35). 40 Vgl. dazu die Selbstaussage J H W H s im locus classicus des biblischen Monotheismus in Jes 45,7. 41 Vgl. dazu auch unten Abschn. 10. 42 Vgl. Prv 1,7; 9,10, vgl. 14,27; 15,33 u.ö. 43 Darauf ist die für unser abendländisches Stilempfinden so befremdliche Formelhaftigkeit der dtr. Diktion zurückzuführen, hinter der sich jedoch - wie oben gezeigt - eine

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4. Der typologische Modell-Charakter dieses narrativen Denkens, das uns - besonders seit der Aufklärung - fremd geworden ist, zeigt sich auch an der Eigentümlichkeit phraseologischer Begriffsbildung. Dabei werden phraseologische Stereotypen wie die Provokation JHWHs zum Zorn, die notorische Widerspenstigkeit oder der Begriff des *ps> DJ> anhand von exemplarischen Fall-Geschichten einerseits narrativ definiert, um dann andererseits als Belege oder Argumente in weiteren Diskurszusammenhängen dienen zu können. Ferner sind es Orts- oder Personen-Namen, an denen Modell-Geschichten und Schlüsselerfahrungen der Vergangenheit typologisch festgemacht werden. 4 4 Dabei handelt es sich nicht nur bei Sihon von Hesbon oder bei den in Dtn 9,23a genannten Stationen um Schlüsselereignisse, die narrativ durch den Ort des Geschehens definiert werden. Auch das Geschehen am Horeb selbst ist für die ganze dtr. Tora der General-Topos, auf den die Rede des Mose immer wieder neu zurückgreift. 4 5 Besonders die vierte Horeb-Reminiszenz zeigt nun aber, wie innerhalb dieser dtr. Geschichts-Tora nicht nur „Geschichte«" in ihrer begrifflichen Verdichtung aufgerufen werden, sondern in nuce auch „Geschichte" selbst als epochenübergreifende Reflexion von Zeiterfahrung gedacht und vergegenwärtigt wird. Dies geschieht in einer weiteren Stufe narrativer Abstraktion durch die Verallgemeinerung von Schlüsselerfahrungen im Horizont epochaler Zeiträume. Im Gegensatz zu Dtn 1,6; 4,8 f.; 5,4 und 18,16, wo nur auf den einen Topos des komplexen Horeb-Geschehens rekurriert wird, fasst Dtn 9,7 den ganzen Zeit räum zwischen Ägypten und der Ankunft in Moab ins Auge, um die These von der Halsstarrigkeit des Volkes als notorischen Habitus zu belegen. Dabei beginnt zwar auch der Geschichtsrückblick in 9,8-22 mit den skandalösen Ereignissen am Horeb. Aber dieser uranfangliche Fall von Pervertierung der JHWH-Beziehung wird dann in 9,22 f. in eine Reihe von weiteren Fällen gestellt. Damit wächst den aufgerufenen Modell-Geschichten eine neue Funktion zu, nämlich als Elemente einer übergreifenden Geschichte von analogen Fällen etwas strukturell Gleich-Bleibendes in der Geschichte zu zeigen, was allerdings gerade G. v.Rad als Bestreben der Weisheit namhaft gemacht hat 46 . Jedoch handelt es sich dabei nicht um irgendeine Gesetzmäßigkeit der Geschichte, die die Vergangenheit universal zu deuten oder zu erklären sucht. Vielmehr werden lediglich eine Kette von Selbstverblendungen und präzise narrative Begriffssprache auf hohem Abstraktionsniveau zu verbergen scheint, die zu entschlüsseln der alttestamentlichen Forschung noch weitgehend bevorsteht. 44 Vgl. dazu oben Abschn. 7 und Anm. 38. 45 Vgl. dazu unten Abschn. 9. 46 Vgl. oben bei Anm. 3.

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ihre katastrophenträchtigen Folgen, die ihre Ursachen von Fall zu Fall in der notorischen Fehlbeziehung zu JHWH hatten, als epochaler Geschichtszusammenhang synthetisiert und vergegenwärtigt. Ferner bringt Mose diese Geschichte in Dtn 9 nicht ins Gespräch, um die Versammelten auf ewig zu verdammen oder einen problematischen Volkscharakter aus der Geschichte abzuleiten. 47 Vielmehr macht die hinführende Argumentation in 9,1-6a den Orientierungsbedarf für eine schicksalsschwere Zukunft deutlich. Ihr Gelingen hängt entscheidend an der rechten JHWH-Beziehung und einer nüchternen Situationseinschätzung, die daraus resultiert. Dementsprechend wird in 9,7 der Rückblick auf die Geschichte eingefordert und dargelegt, um an den Ursachen des bisherigen Scheiterns die Gefahrdungen der Zukunft sichtbar zu machen und damit eine erneute Fehlbeziehung zu JHWH zu vermeiden. Wie bei den Einzel-Modellen - etwa der Sihon-Episode - geht es somit auch bei dieser Synthetisierung von weiter gespannten Zeiträumen als Geschichte primär um Orientierung für die Zukunft, deren Gelingen an der rechten JHWH-Beziehung hängt. 4 8

9. Exkurs zur Gesamtkonzeption

des DtrG. als

Geschichts-Tora

Exkursartig ist zu skizzieren, in welcher Weise die Geschichts-Tora des Mose in Dtn 1-30 auch das anfangsgeschichtliche Modell und den hermeneutischen Schlüssel für das Gesamtwerk liefert, um die Orientierungsfunktion alttestamentlichen Geschichtsdenkens auch im großen Rahmen des DtrG. sichtbar zu machen. Denn das an Dtn 9 erkennbare Geschichtsdenken liegt konzeptionell auch dem DtrG. in seiner Gesamtanlage zu Grunde, was die Graphik II zu den Zeitebenen im Deuteronomium und im DtrG. veranschaulichen kann. 1. Wie gezeigt, ist in Dtn 9 die bevorstehende Land-In-Besitznahme der redepragmatische Ort, von dem aus das Gelingen der Einwanderung in das Land der Väter (vgl. 9,5b) diskutiert wird. Im Großmaßstab entspricht dieser Konstellation die Erzählsituation in der späten Exilszeit, aus der heraus auf die bisherige Geschichte zurückgeschaut wird im Blick auf eine mögliche Rückkehr der Exilierten in das Land der Väter und in Hinsicht auf einen Neuanfang auf der Basis eines erneuerten JHWH-Bundes (vgl. Jer 32,26-44). 2. Ferner ruft Dtn 9,7-24 eine Kette von Perversionen der JHWH-Beziehung in Erinnerung, um bei der Land-In-Besitznahme einem künftigen Scheitern der BundesBeziehung vorzubeugen, die zuvor in der Mose-Tora von Dtn 1-30 noch am selben Tag erneuert wird. In analoger Weise blickt dann das ganze DtrG. auf eine GeschichtsEpoche zurück, an deren Anfang zwar eben diese Bundes-Erneuerung in Moab auch 47

Vgl. zur Zurückweisung dieser antijudaistischen Falle oben die Anm. 35 und 39. Zu diesem grundlegenden Funktionsunterschied alttestamentlicher Geschichts-Tora gegenüber einer Geschichtsschreibung, die der Legitimation von territorialen Ansprüchen und der ethnozentrisehen Identitätswahrung dient, vgl. oben die Anm. 32, 33 und 39. 48

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bereits stand. Doch geriet diese Anfangs-Tora des Mose im weiteren Verlauf der Geschichte - wie gezeigt - in Vergessenheit. 4 9 Deshalb kam es erneut zu einer nachhaltigen Perversion der JHWH-Beziehung, die in die Katastrophe führte, ohne dass selbst Joschija den Zorn JHWHs noch hätte abwenden können (II Reg 23,26). 3. Insofern ist in Analogie zu Dtn 9,7 ff. auch die Gesamt-Formation des DtrG. makrostrukturell als Fall-Geschichte konzipiert, in der epochenweise der Typus einer anfänglich gelungenen und segensreichen JHWH-Beziehung unter Josua abgelöst wird durch Beziehungs-Typen der Theo-Relationalität, die ab der Richter-Zeit immer problematischer wurden (vgl. Jdc 2,6-23) und in den „Sünden" Jerobeams und Manasses 5 0 ihren rettungslosen Höhepunkt fanden. 4. Hinzu kommt die entscheidende Beobachtung, dass das Gesamt-Szenario des Horeb-Geschehens, das in den fünf Horeb-Reminiszenzen der Mose-Tora aspektiv ins Gespräch gebracht wird, auf einer typologischen Verdichtung und Transfiguration der vorexilischen Prophetie und Geschichte insgesamt beruht. In diesem Szenario wird die katastrophenträchtige Beziehungs-Geschichte zwischen JHWH und Israel seit Jerobeam I. aus spätexilischer Perspektive in einen ursprungsgeschichtlichen Erfahrungsraum transponiert, von dem einerseits die bei Bet Pegor Versammelten (Dtn 3,29) herkommen. Andererseits wird im Rahmen des anfangsgeschichtlichen Tora-Diskurses auf diesem real-fiktiven Hintergrund zugleich erörtert, auf welche Weise eine (Wieder-)In-Besitznahme des Landes auf der Basis einer erneuerten Loyalitäts- und Vertrauensbeziehung zu JHWH gelingen könnte. In dieser Transfiguration repräsentieren a) die Offenbarungsempfange am Horeb die vorexilische Prophetie; 51 b) Dtn 9,11.16 präfiguriert die „Sünde" Jerobeams (I Reg 12,28 f.), während c) die Kultreform des Mose in Dtn 9,21 prototypisch die joschijanische Reform von II Reg 23 vorwegnimmt. 5 2

49

Vgl. oben Abschn. 3 sowie Anm. 17 und 19, ferner HARDMEIER 2000a (s. Anm. 16) 91-95 (vgl. III.5.). 50 Auch bei den „Sünden" Jerobeams (vgl. I Reg 14,16; 16,31 u.ö.) und Manasses (II Reg 24,3, vgl. 23,26) handelt es sich auf der Gesamtebene des DtrG. um eine narrative Begriffsbildung im Sinne von Anm. 38, die in der mangelnden Abschaffung der Kulthöhen (vgl. I Reg 15,14; 22,44; II Reg 12,4 u.ö.) ihre Entsprechung hat und das gleiche typologisch-abstrakte Geschichtsdenken wie in Dtn 9 erkennen lässt. - Zum dtrjer. Hintergrund des DtrG. und zum geschichtstheologischen Grundmodell des dtr. Geschichtsaufrisses in Jer 2-6 vgl. HARDMEIER 2000a (s. Anm. 16) 129-133 und dort bes. Anm. 73 und 74 (vgl. III.5.). 51 In der Horeb-Fiktion fließen ältere Vorstellungen sowohl von Ex 3 und I Reg 19 als auch vom Zion als Gottesberg zusammen. Einerseits hatte sich das Volk am Horeb wie am Jerusalemer Tempelberg versammelt und andererseits empfing Mose als Verkörperung der Prophetie von Elia bis Jeremia in Gestalt des Zehnwortes (vgl. die schriftprophetische Diktion des Wortempfangs in Dtn 5,5a m n ' i n ) die Summe jener Gebote, die eben diese Propheten - ansatzweise und zumindest aus der Sicht ihrer exilischen Rezeption - verkündet hatten (vgl. bes. Hos 4,2 und Jer 7,9 sowie Jer 2,5 f.8bß mit Dtn 5,6 f. und Jes 9,6 mit Dtn 5,9ba). 52 Erhellend und schlagend zugleich für diese Transposition der (spät-)vorexilischen Geschichte in die maßgebende Geschichts-Tora an ihrem Anfang sind die für diesen hoch typologischen Kontext so eigentümlichen Details in Dtn 9,21, mit denen berichtet wird, wie Mose das Jungstier-Postament verbrannt und vollständig zu Staub zerschlagen hatte. Es wird sogar der Bach genannt, der vom Berg herabfloss (worauf die spätere Reprise in

4. „ Geschichten " und „ Geschichte " in der hebräischen

Bibel

115

c) In der Fürbitte des Mose von 9,18 f. und 25-29 klingt nicht nur das dtrjer. Gebet Jeremias von Jer 32,16 ff. an, sondern die ganze Wirksamkeit der dtrjer. Heilsprophetie, die dann auch abschließend in Dtn 30 ein zweites Voraus-Echo erfahrt. 5. Bestätigend kommt hinzu, dass sich eine weitere Transfiguration vorexilischer Geschichte und Prophetie auch in der Kadesch-Barnea-Episode in Dtn 1,19-46 erkennen lässt. Zum einen wird die Schlüsselerfahrung des syrisch-ephraimitischen Konflikts als eine aus nachjesajanischer Sicht misslungene Glaubensprobe (vgl. Jes 7) in das Misslingen der Land-In-Besitznahme von Dtn 1,22-33 transfiguriert, die aus Angst und Verzagtheit (vgl. bes. V. 32!) verpasst wurde. Zum anderen stilisiert Dtn 1,42 f. die vergeblichen Warnungen Jeremias und Ezechiels vor einem Aufstand Zidkijas gegen Nebukadnezzar zum Ungehorsam gegen den Mund JHWHs, in welchem das Volk in realitätsblinder Selbstüberschätzung gewaltsam das Land zu erobern suchte und eine vernichtende Niederlage einstecken musste (V. 43b.44). Beide Transfigurationen reflektieren die Missachtung der Schriftpropheten in vorexilischer Zeit. Jesajas Rat, sich nicht von der syrisch-ephraimitischen Koalition Angst einjagen zu lassen (vgl. Jes 7,4 ff. mit Dtn 1,28), vielmehr sich im Vertrauen auf die „sanft fließenden Wasser des Siloah" (8,6) neutral und standfest (pDNn, vgl. 7,9b mit Dtn 1,32) zu verhalten, wurde von Ahas nicht befolgt. Aus Angst führte er Juda in die assyrische Vasallenabhängigkeit (II Reg 16,7-9), aus der sich das Südreich bis zu Joschija nicht mehr lösen konnte. Erst recht brachte der Aufstand Zidkijas gegen Nebukadnezzar um 588/7, der gegen den Rat Jeremias und Ezechiels riskiert wurde, Juda das politische Ende und Jerusalem die vollständige Zerstörung. Beide Fehlleistungen stilisiert das Kadesch-Barnea-Szenario zu versuchten Aufbrüchen in das verheißene Land der Väter, die jedoch auf Grund des mangelnden bzw. eines falschen Vertrauens auf JHWH (vgl. auch Thr 2,14 und 4,12) gescheitert sind, so dass das Land in der Hand der „Amoriter" blieb (Dtn 1,20.44), d.h. unter fremder Oberherrschaft der Assyrer und Babylonier. 5 3 6. Was die Zeitlogik des DtrG. insgesamt betrifft, so hat die Mose-Rede von Dtn 130 die Funktion einer prophetischen Geschichts-Tora, die am Anfang der Geschichte lehrt und vorwegnimmt, was in der Folgezeit zwar einerseits nicht eingelöst wurde und angesichts von JHWHs ungestilltem Zorn in die Katastrophe führte. Andererseits aber lehrt diese Anfangs-Tora per analogia historiae, wie dieses Scheitern der bisherigen Geschichte zu lesen ist, und lässt als historische Sinnbildung die aktuellen Bedingungen und Chancen der spätexilischen Zeit durchscheinen, nämlich dass und wie das Land der Väter erneut in Besitz genommen werden kann. Dabei werden sich Erfolg oder Misserfolg wesentlich an der toragemäßen JHWH-Beziehung entscheiden, die Mose zur Vorbereitung des Jordan-Übertritts bereits anfangsgeschichtlich als Erneuerung des JHWH-Bundes in Moab entfaltet hatte. 5 4 Was die Geschichts-Tora im Deuteronomium

Ex 32,20 ohne weiteres verzichten kann) und in den Mose den Staub geworfen hatte. Vergleicht man diese Details jedoch mit II Reg 23,6a. 12b, dann werden die phraseologischen Parallelen evident, die in Dtn 9,21 wie ein zusammenfassendes Quasizitat wirken (vgl. dazu H a r d m e i e r , a.a.O. 106 f., bes. Anm. 48 [vgl. III.5.]). 53 Dass die Land-In-Besitznahme bzw. Landgabe durch JHWH bereits in spätvorexilischer Zeit eine Chiffre gewesen sein könnte für eine relative und/oder volle Autonomie gegenüber der assyrischen und später der babylonischen Oberherrschaft, deutet sich in Texten wie Jes 1,19 f.; Dtn 8,7-11 (vgl. dazu ironisch II Reg 18,31.32a) und Jer 2,6 f. an. 54 Wie eng sich diese Geschichts-Konstruktion des DtrG. mit der dtrjer. Geschichtstheologie der Rückkehr aus dem Exil berührt und davon maßgebend geprägt ist, geht besonders aus Texten wie Jer 31,31-34 oder 32,36-41 hervor.

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Kapitel III: Singulärgestalt

der deuteronomistischen

Tora

somit vorab und in nuce lehrt, ist Modell und hermeneutischer Schlüssel für die Gesamtanlage des DtrG. mit seiner Gegenwarts- und Zukunftsorientierenden Funktion für die Exilsgruppen.

10. Althebräisches Geschichtsdenken im geschichtstheoretischen Horizont historischer Sinnbildung (Jörn Rüsen und Jan Assmann) Abschließend ist der geschichtstheoretische Horizont historischer Sinnbildung zu beleuchten, in welchem die Eigenart dieses prophetisch-dtr. Geschichtsdenkens verortet werden kann und kulturwissenschaftlich anschließbar wird. Nach J. Rüsen bildet sich historischer Sinn im Erinnern und Erzählen von „Geschichte" und „Geschichten". Als Vollzugsformen des Geschichtsdenkens sind sie die konstitutiven Symbolformen einer narrativen Rationalität und das wesentliche Medium einer historischen Vernunft. 5 5 Geschichtliches Erinnern als kulturanthropologisches Universal wird nach Rüsen wesentlich herausgefordert durch Widerfahrnisse von Kontingenz und Irritationen durch die Zeitlichkeit von Mensch und Gesellschaft. 5 6 Dabei „(bringen) historische Erzählungen ... die zeitliche Veränderung menschlicher Lebenssituationen in eine Ordnung, in der die Kontingenz 'kritischen' Geschehens aufgelöst wird in ein sinn- und bedeutungsvolles Konzept des zeitlichen Wandels der menschlichen Welt im Ganzen". 5 7

55

Vgl. oben Anm. 38 sowie die Rezeption des Ansatzes von Rüsen in der alttesta-

mentlichen W i s s e n s c h a f t auch bei

v . OORSCHOT 2 0 0 0 , 1 - 2 7 .

56

Im menschlichen Bemühen um historische Sinnbildung sieht Rüsen ein kulturanthropologisches Universal, das in allen Völkern und Zeitepochen belegt werden kann, sobald Zeiterfahrung als Erfahrung von Differenz und Wandel symbolisch reflektiert wird, und d.h., spätestens seit Menschen ihre Toten bestattet und ihrer gedacht haben; vgl. RÜSEN 1998, 37-73, bes. 43 ff. und 49 ff. Doch werden Geschichtsdenken und Geschichtsbewusstsein unentwegt und unabdingbar durch Widerfahrnisse von Kontingenz herausgefordert. Nach Rüsen ist „die Zeiterfahrung der Kontingenz ... die Art und Weise, wie ein Ereignis oder Vorkommnis im menschlichen Lebenszusammenhang (so) geschehen kann, ... daß es nicht in einen vorgegebenen Deutungszusammenhang paßt", dass es deshalb „quer zur Perspektive der Erwartung liegt", indem es „als etwas erfahren" wird, „das so, wie es geschehen ist, gar nicht beabsichtigt war, ja sogar den Absichten geradezu zuwiderläuft." (RÜSEN 2001 [s. Anm. 38], 148 f.). Dabei ist Kontingenz nach Rüsen „keine Erfahrungsqualität an sich." Vielmehr hängt sie „von vorgegebenen und kulturell wirksamen Orientierungen des menschlichen Lebens im Zeitverlauf ab" und „wird dann erfahren, wenn Ereignisse sich zu diesen Orientierungen 'kritisch' verhalten, sie also stören, irritieren, beunruhigen" (a.a.O. 151). 57

A.a.O. 152. Nach Rüsen muss jedes Kontingenz-Widerfahrnis und damit jede Irritation von individuellen Handlungsperspektiven ebenso wie jede Störung eines kultu-

4. „ Geschichten " und „ Geschichte " in der hebräischen

Bibel

117

Nun hat historische Sinnbildung zweifellos eine fundamentale Ordnungsfunktion, indem sie Kontinuität im Wandel und Identität im Wechsel der Zeiten herstellt. Deshalb kommt der Geschichte in hohem Maße die Funktion der Legitimation z.B. von Institutionen oder von Territorial- und Hegemonie-Ansprüchen zu oder sie dient Völkern und Kulturen dazu, ihre Identität zu begründen und ihre Eigenart zu wahren. In diesem Sinne deutet auch J. Assmann die Exodusgeschichte und die Sinaioffenbarung als göttlichen „Identitätsstiftungsakt" sowie als „Ursprungsbilder Israels", die „auf dem Prinzip der Exterritorialität (beruhen)" 5 8 und die Auserwähltheit Israels gegenüber anderen Völkern „aus dem Prinzip des ethnischen Gegensatzes" begründen. 5 9 Dementsprechend „entwickelt Israel" nach Assmann auch „eine gesteigerte Form der Erinnerungskultur" 60 und ist damit „zum Prototyp der Nation" geworden, 6 1 die sich durch Erinnern ihrer Ursprungsgeschichte und durch Wahrung der göttlichen Gebote stets aufs Neue ihrer Identität vergewissert und sie von Generation zu Generation bewahrt. Allerdings eignet sich die oben skizzierte Kette von Fall-Geschichten in Dtn 9,7-24, die das Volk als „halsstarrig" und damit im Höchstmaß negativ qualifiziert, ebensowenig für eine positive Identitätsbildung Israels, wie die Negativ-Geschichte des DtrG. insgesamt. Ja, Dtn 9,4-6 weist jede Form von nationalem Selbstbewusstsein oder ethnozentrischem Auserwähltheits-Denken und seiner theologischen Überhöhung aufs schärfste zurück. 6 2 Der Grund für diese Diskrepanz zwischen den Textbefunden im Deuteronomium und der Deutung von Assmann liegt darin, dass die Kategorie der „Identitätsstiftung" diesem altisraelitischen Geschichtsdenken selbst nicht angemessen ist. Weder historische Legitimation noch Identitätsbildung sind die primären Triebfedern für die Formation alttestamentlicher Geschichtswerke, so sehr das Alte Testament selbst bei G. v.Rad und bis

rellen Orientierungsrahmens bearbeitet und überwunden werden, um die für das „Leben notwendige Geordnetheit der inneren und äußeren Umstände ... aufrecht" zu erhalten „oder wiederher(zustellen)" (a.a.O. 151 f.). Dazu hat der „menschliche Geist" parallel zur „Logik der instrumentellen Rationalität, in der es um die Angemessenheit von Mitteln zu gegebenen Zwecken geht" (a.a.O. 152), eine Logik der Bewältigung von Zeiterfahrung ausgebildet. „Es ist die Logik des Erzählens einer Geschichte, die die kontingenten Ereignisse als sinn- und bedeutungsvoll erscheinen läßt" (ebd.). 58

59

ASSMANN

4

2002, 201.

A.a.O. 30. 60 A.a.O. 31. 61 A.a.O. 30. 62 Vgl. oben Anm. 35 und 39; zur weiteren Auseinandersetzung mit Assmann vgl. HARDMEIER 1998 (s. Anm. 32) 308-314, ferner DERS. 2000a (s. Anm. 9) 89 und dort Anm. 75 (vgl. III.5.).

118

Kapitel III: Singulärgestall

der deuteronomistischen

Tora

heute mit diesem hermeneutisehen Vorurteil gelesen wird. 63 Ebensowenig geht es darin um die von Rüsen hervorgehobene Hauptfunktion, Kontingenz zu bewältigen und diese durch narrative Deutungsprozesse in ein sinnhaftes „Konzept des zeitlichen Wandels" aufzulösen, auch wenn die klassische Deutung des DtrG. als historische Theodizee durch M. Noth auf dieser Linie liegt. In drei Kurz-Thesen versuche ich abschließend, die Eigenart des althebräischen Geschichtsdenkens im Rahmen der Geschichtstheorie Rüsens auf den Punkt zu bringen: 1. Neben der Deutungsfunktion hebt Rüsen immer wieder auch die Gegenwartsrelevanz historischer Sinnbildung und ihre Orientierungsfunktion für die Zukunft hervor, die dann im Akt des Erzählens wirksam wird, „wenn der gemeinte Sinn einen erzählbaren Zusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und (tendenziell) auch der Zukunft betrifft, in dem Erfahrung der Vergangenheit so gedeutet wird, daß Gegenwart verstanden und Zukunft erwartet werden kann." 6 4 Genau dieses leisten die Geschichtsrückblicke in Moses Tora-Rede, die redepragmatisch in der Gegenwart der Volksversammlung bei Bet Pegor verankert ist und in Dtn 9,1 ff. explizit die nahe Zukunft der Land-In-Besitznahme ins Auge fasst. Das althebräische Geschichtsdenken innerhalb der Mose-Tora hat somit die primäre, bereits durch die Prophetie vorgeprägte Funktion der Gegenwarts-Erhellung und der Zukunfts-Orientierung, 6 5 was sich explizit auch an der Josua-Instruktion in Dtn 3,21 f. zeigt. 2. Dieses Geschichtsdenken ist insofern ein spezifisch theologisches, als sowohl in der zukunftsbezogenen Rede in 9,1 ff. als auch in den Geschichtsrückblicken die Angemessenheit der Beziehung zu JHWH und die Eigenart seiner Mitwirksamkeit im Fluss der Zeit im Mittelpunkt stehen. 66 Durch stetiges Erinnern und Vergegenwärtigen wird dabei die Mitwirksamkeit des Unverfiigbaren a) in Geschichte, Gegenwart und Zukunft bewusst gehalten, b) als nicht beherrschbare Dimension von ZeitWiderfahrnis respektiert, und c) als entscheidender Faktor in der Lebensbewältigung mit ins Kalkül gezogen, jedoch paradoxer Weise gerade als das, womit kategorisch nicht gerechnet werden kann. In Ex 3,14 trägt diese Widerfahrnis-Dimension von Zeit den Namen rt'riN ¡vnx und wird in 63

Vgl. oben Anm. 32.

64

RÜSEN 2 0 0 1 (s. A n m . 3 8 )

65

V g l . z . B . J e r 2 - 6 u n d d a z u HARDMEIER 1 9 9 8 ( s . A n m . 3 2 ) .

59.

66 Im alttestamentlichen Geschichtsdenken lassen sich Geschichte und Theologie bzw. die historische Überlieferung von ihrer vermeintlich theologischen Deutung deshalb nicht trennen, weil die Geschichte Israels genuin als Geschichts-Theologie, d.h. als Erinnerungsgestalt der Theo-Relationalität überliefert ist, in der Gott als historische Ereigniskategorie sui generis eine höchst reale Rolle in Zeit und Geschichte spielt und gegen den Sog der Verdrängung und des Vergessens als unabdingbares BeziehungsGegenüber in allen Lebenszusammenhängen in der Erinnerung wach gehalten wird.

4. „ Geschichten " und „ Geschichte " in der hebräischen

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1 19

den biblischen Texten tausendfach unter dem Namen JHWH als lebendiges Beziehungs-Gegenüber angesprochen und erinnert. 3. Somit liegt das Spezifikum althebräischen Geschichtsdenkens als ein genuin theologisches darin, dass Kontingenz gerade nirgends in narrativen Deutungsprozessen aufgelöst oder überwunden wird, 67 im Gegenteil: das biblische Geschichtsdenken hält die Kontingenz als Widerfahrnis-Dimension des Unverfügbaren im alltagspraktischen Bewusstsein permanent lebendig (vgl. Dtn 6,6-9) und macht sie zur fundamentalen Bezugsgröße aller Gegenwarts- und Zukunftsorientierung im anerkennenden Wissen, dass sich diese Ereigniskategorie von Zeit schlechterdings nicht verleugnen, überwinden oder restlos ausschließen lässt. Damit konditioniert dieses Denken einen prophetischen Spürsinn, der im bewussten Gegenüber zum Unverfügbaren die Chancen und Risiken von Situationen tendenziell unverzerrt wahrzunehmen und einzuschätzen vermag. Es ist ein Spürsinn, der im Respekt gegenüber JHWH einerseits darum weiß, dass alles Gelingen kairos-sensitiv ist, und andererseits, dass Angst oder Übermut, Leichtsinn oder Schwerenot in die Irre und in selbstverschuldete Katastrophen führen. Gleichwohl bewahrt dieses Denken nicht unbedingt vor Irrtümern und Fehlleistungen, aber es macht sie wesentlich schneller erkennbar und ermöglicht Umorientierungen, die aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen imstande sind. Eben dieses „lehren" die Geschichts-Tora des Mose in Dtn 1-30 und das DtrG. als ganzes, um den Exilierten eine realistische Zukunftsperspektive zu eröffnen, dass und wie sie gemäß dieser prophetischen Tora ohne Angst, aber auch nicht in falschem Vertrauen in das Land ihrer Väter zurückkehren und ein neues, nachhaltig lebensfähiges Gemeinwesen aufbauen können, ohne sich erneut in den alten Fehlern einer pervertierten JHWH-Beziehung zu verirren. Historische Sinnbildung in der hebräischen Bibel - so könnte man zugespitzt formulieren - ist darauf ausgerichtet, den prophetischen Spürsinn einer zukunfts-realistischen Geistes-Gegenwart immer aufs Neue herauszubilden, zu schärfen und zu konditionieren. 67 Das würde alttestamentlich heißen, JHWH zu vergessen (vgl. Dtn 8,11 ff. bzw. 6,12 ff.); und jede Art von - theoretischer, technischer, wissenschaftlicher oder politischökonomischer - Kontingenzbewältigung, die diesen Realitätsfaktor meint endgültig überwinden oder ausschließen zu können, gerät im biblischen Sinne zum Götzendienst. Diese Zentrierung althebräischen Geschichtsdenkens im Beziehungs-Gegenüber zur Kontingenz führt die Intuition v. Rads in seinen „Schlußbetrachtungen" weiter, dass das alttestamentlich-biblische Denken sowohl in der Weisheit als auch in der geschichtlichen Überlieferung „dem kontingenten Widerfahrnis den Vorrang gegenüber dem durch abstrahierende Verrechnung gewonnenen 'Logos'" gab (vgl. oben Anm. 2), wobei wir heute die grundlegende Orientierungsfunktion dieses eigentümlichen Denkens sehr viel schärfer und klarer fassen können.

120

Kapitel III: Singulärgestalt

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Tora

ritueller Aspekt + Ausblick (29,1-30,20) performativer Vollzug + Verpfl.-akt (27,9 f. + 28,1-68)

Deklaration •o 12 c §3 3

cc CO "O >• S O =1 J ^ c DID mit HD in Num 9,8; Jdc 7,11; II Sam 71

17,5; Jer 5,15; Ez 33,30 u n d Ps 85,9.

Paraphrasiert man 6,4b probeweise als abhängigen Objektsatz zum Höraufruf in V. 4a, so müßte man sich für den alternativen Fall einer Wesensaussage entscheiden, da diese Variante mit dem dann prädikativ zu verstehenden i n « auch einen gewissen Informationswert hat: „Höre Israel, daß JHWH, unser Gott, (daß) J H W H einzig ist". Bei der Identitätsaussage kommt es dagegen auf einen Informationsgewinn gerade nicht an, sondern allein auf die Proklamation als solche, in der sich die Sprecher des Bekenntnisses direkt performativ in ein unbedingtes Verhältnis der Anerkennung und des Respekts zu JHWH als „unserem" Gott setzen. Auch das Schriftbild der masoretischen Überlieferung weist Dtn 6,4 durch die hervorgehobenen Konsonanten » und T als Bezeugung eines Zeugen aus ( t s = „Zeuge" bzw. „Vertrag, Übereinkunft"). 72 Vgl. oben Anm. 41 und 62.

[87]

5. Das Sch'ma' Jisra 'el in Dtn 6,4

149

8. Liest man Dtn 6,4b als Bekenntniszitat, dann hat das einleitende ^ini»' saw ähnlich wie in 27,9b, aber auch entfernter wie in 9,1 und 20,3, die Funktion, auf ein aktuelles Geschehen aufmerksam zu machen. Während es sich in 9,1 und 20,3 jedoch um ein äußeres und situatives Geschehen handelt, weist das »Dttf sowohl in 27,9bßy als auch in 6,4b auf einen deklarativen Vollzug hin, d.h. im eigentlichen Sinne auf ein Sprachgeschehen, in welchem die Gottesbeziehung performativ gegenwärtig wird. In 27,9b ist es der kultische Akt der Bundesschließung selbst, in 6,4b das Gott-Sein J H W H s für sein Volk, das im Akt des Bekenntnisses ausgesagt wird. Somit ruft das Sch'ma' Jisra'el in Dtn 6,4 das Gott-Sein JHWHs für die Angesprochenen - Moses mit eingeschlossen - unmittelbar in die Gegenwart der niXD-Eröffnung hinein. Es liegt damit am Anfang der aktuellen Bundesinstruktion in redepragmatischer Hinsicht exakt auf derselben Ebene wie Dtn 5,3. Dort wird die Zuhörerschaft in Moab im Redevollzug zur Bundesversammlung wie am Horeb transformiert, während Dtn 6,4b bekenntnishaft die Selbstidentifikation J H W H s mit dem Gott der Versammelten vergegenwärtigt.

In dieser besonderen Form der performativen Vergegenwärtigung des JHWH-Bekenntnisses steht nun aber in inhaltlicher Hinsicht nichts anderes am Anfang der ganzen Bundesinstruktion als der erste Teil der Bundesformel selbst, der JHWHs Gott-Sein für sein Volk beinhaltet und - wenn auch in einer eigentümlich solennen Form - präzise der ersten Bundesdeklaration in Dtn 26,17 entspricht 73 . Ist diese Erklärung des Schema' Jisra'el richtig, dann ist der grundlegende erste Teil der Bundesformel nicht nur der Sache nach weit vor Dtn 26,17 stets gegenwärtig, wie Rolf Rendtorff vermutet hat. Vielmehr beginnt die ganze Bundesinstruktion in Dtn 6,4 auch sprachlich präzise mit diesem ersten Teil, wenn auch nicht in der üblichen Form einer Sachverhaltserwähnung, wie sie in 26,17 im Objektsatz und häufig im Tenach begegnet. Es ist die besondere Form des Bekenntnisses als Sprachvollzug, das durch den Höraufruf erinnert und in die Gegenwart der Bundesversammlung von 5,3 hinein gerufen wird. |

73 Wenn es in Dtn 26,17 heißt, daß das angesprochene Volk J H W H erklären läßt, ihm Gott zu sein/werden, dann ist diese Deklaration im Horizont menschlicher Rede nur als geglaubtes Bekenntnis aussagbar. Denn Gott als Beziehungs-Gegenüber kann nach Maßgabe des ersten Gebots nicht als menschliche Person in Erscheinung treten, die z.B. wie ein Vasallenherr als Vertragsgegenüber redet und handelt. Deshalb ist die Deklaration von Dtn 26,17 nur als geglaubte Zeugenrede im Munde von Menschen, die dieses Bekenntnis sprechen, einlösbar. Eben dieses Bekenntnis wird in Dtn 6,4 am Anfang der aktuellen Bundesansprache durch das Sch'ma' Jisra'el wie ein Paukenschlag intoniert und damit performativ gegenwärtig.

150

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Tora

7. Das Schema' Jisra 'el als Eröffnung der Bundesansprache näheren Sach-Kontext von Dtn 6,4-7,11 und in den Bundesdeklarationen in Dtn 26,17-19

[88]

im

Diese Interpretation läßt sich abschließend an der Stellung untermauern, die der Paukenschlag von Dtn 6,4 f. zugleich auch im näheren Kontext bis 7,11 hat. Dabei muß man sich als erstes klar machen, daß das genaue Gegenstück zum ersten Teil der Bundesformel, die in 6,4b als Bekenntnisaussage inszeniert ist, erst in 7,6-8 begegnet. Dtn 6,4 f. und 7,6-8 bilden die Folie einer klassischen Ringkomposition, wobei der zweite Teil der Bundesformel insbesondere in Dtn 7,6 als Pendant zu 6,4b begegnet, wie ein Vergleich mit 26,18 f. deutlich macht 74 . Während es in 6,4 f. um JHWHs Gott-Sein für die Angesprochenen geht, steht in diesem komplementären Teil Israels Volk-Sein für JHWH im Zentrum. Dabei begründet das in Dtn 7,6 nicht nur den unmittelbar voraufgehenden Abschnitt 7,15, sondern alle voraufgehenden Abschnitte. Denn sie alle entfalten ab 6,6 ff. die wesentlichen Erfahrungs-Dimensionen, in denen das Liebesgebot von 6,5 und die darin geforderte unbedingte JHWH-Loyalität ihre existentielle Bewährung, Bewahrung aber auch Gefahrdung erfahren könnten. Dtn 6,4 f. und 7,6-8 setzen somit als Eckpfeiler des Eröffnungsabschnittes genau jene beiden reziproken Teile der sog. Bundesformel an den Anfang der Bundesansprache, mit denen die Deklarationen in Dtn 26,1719 die Instruktion vertragsformularisch abschließen. Die argumentative Makrostruktur des Eröffnungsabschnittes läßt sich somit wie folgt skizzieren. Dtn 6,4 setzt in Szene, daß JHWH der alleinige Gott für das Volk Israel ist. Daraus resultiert in 6,5 das Basis-Gebot der ebenso unbedingten („Liebe") wie existentiellen Loyalitätsbeziehung zu JHWH („mit ganzem Herzen, dem ganzen Leben und jedwelchem Kraftvermögen"). Dtn 6,5-7,5 entfaltet anschließend die wesentlichen Zeit-Dimensionen ihrer Bewährung und Bewahrung, wie unten noch kurz zu umreißen ist. Dtn 7,6-8 begründet dann abschließend als Gegenstück zu 6,4 f. das Grundgebot der Loyalität gegenüber JHWH von 6,5: es ist die vorrangige und unbedingte Loyalität JHWHs gegenüber seinem Volk, das er seinerseits aus freier Liebe (7,8!) und ohne jeden sonstigen, rationalisierbaren 74

Zum einen entspricht die Qualifikation des JHWH-Volkes als „heilig" in 7,6a genau dem Deklarationsinhalt in 26,19b (vgl. noch 14,2a) und zum anderen hat auch die Näherbestimmung des Gottes-Volkes als politisch „erkämpftes" „Beute"-Volk in 7,6ba 2 .ß (n*?IO D P , vgl. dazu L I P I N S K I 1986, bes. 750 f.) seine exakte Entsprechung in 26,18aa (vgl. noch 14,2ba). Diese klaren, auch wörtlich-begrifflichen Entsprechungen zwischen Dtn 7,6 (14,2) und 26,18 f. bestätigen unsere Interpretation von Dtn 6,4b als performative Inszenierung und Präsentation des ersten Teils der Bundesformel mit ihrer Entsprechung in Dtn 26,17ba.

[88-90]

5. Das Sch'ma'

Jisra 'el in Dtn 6,4

151

Grund (7,7!) wie ein Groß-Vasallenfürst als seine „Beute" aus den Völkern „freigekämpft" hatte. | In dieser freien, als Glaubensbekenntnis in 6,21-25 festgehaltenen Liebeszuwendung JHWHs gründet das unbedingte Loyalitätsgebot der Liebe zu ihm in 6,5, wobei der geschichtliche Archetypus dieser Liebes- und Erwählungstat die Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten (7,8) ist. Denn damit ist in der Bekenntnisperspektive von 6,22 f. JHWH seine besondere Beziehung zu Israel seinerseits ohne Voraussetzungen eingegangen und hat sie damit auch ohne Vorbedingungen aus freier unableitbarer Liebe begründet 75 . Zwischen Dtn 6,4 f. und 7,6-8 76 wird die als Liebesgebot formulierte Grundforderung der JHWH-Loyalität 7 7 in Hinsicht auf wesentliche | Erfahrungskontexte der Zukunft entfaltet, in denen sie zu bewähren und zu

75

Es muß betont werden, daß diese „Erwählung" keine heilsgeschichtliche oder geschichtsmetaphysische Setzung ist, in der Israel seine Identität als erwähltes Gottesvolk legitimatorisch erinnert. Hier wird nicht die ursprungsgeschichtliche Konstruktion einer göttlich legitimierten ethnischen Identität festgehalten, wie mir J. Assmann die „Erwählung" in Dtn 7,6-8 mißzuverstehen scheint (vgl. ASSMANN 4 2002, 30f). Vielmehr ist die Befreiung aus Ägypten das archetypische Erfahrungsmodell, wie sich JHWH für Israel als befreiendes und ihm zugewandtes Beziehungs-Gegenüber erwiesen hat. Die Erinnerung an diese Befreiung hat dann nicht die Funktion, ein ethnozentrisches Bewußtsein der Auserwähltheit zu kultivieren, sondern der Person dessen als allbestimmendes Beziehungs-Gegenüber gewahr und gewärtig zu bleiben (vgl. 6,13), der sich in Ex 3,14 nur mit seinem Namen rrrm als rrrm ~ia/x rrrm zu erkennen gab: „Ich erweise mich als derjenige, als der ich mich (je und dann) erweise/n werde" (man beachte die ImperfektFormen!). Zur Auseinandersetzung mit J. Assmann und zur Sache vgl. HARDMEIER 1998, bes. 308-314. 76

Zur Funktion von 7,9 f. als Entfaltung der Schlußteile des 1. Gebotes von Dtn 5,9b. 10 und als Exposition zum zweiten Teil der Beziehungs-Lehre in 7,12 bis 8,20 vgl. oben Anm. 58. 77 Zur politischen Konnotation der „Liebe" als Vasallen-Loyalität vgl. ASSMANN 1992, 99-101, ferner OTTO 1999, 61 f. und 362 f., ohne daß ich seine Interpretation von Dtn 13* als Textvorlage der „spätvorexilischen dtn Redaktion" (64) und als Übersetzung assyrischer Vertragstexte teile (vgl. 57 ff.). Assmanns Grundthese einer „Beziehungsumbuchung" politischer Vasallenverhältnisse auf die JHWH-Volk-Beziehung ist voll zuzustimmen (vgl. bes. 77-82). Sie hat auch mir einen neuen Zugang zum Deuteronomismus und zur Bundestheologie eröffnet. Jedoch ist die Frage offen und noch ungelöst, wie diese Beziehungsumbuchung im Deuteronomismus gedacht und ausgestaltet worden ist und ob sie überhaupt vordeuteronomisch bzw. ohne die Erfahrung der assyrischen Vasallenherrschaft denkbar ist (mit einer erst in der assyrischen Epoche anzusetzenden „Umbuchung" und ihrer subversiven Funktion rechnet OTTO 1999, 69, worin ich ihm zustimme). Zumindest die dtr. Mose-Tora gibt zu erkennen, daß diese Beziehung spätestens in exilischer Zeit performativ „gedacht" und als gottesdienstlicher Vollzug angelegt ist, der das loyale JHWH-Gegenüber-Sein in einem permanenten Prozeß des Erinnerns gegenwärtig hält, um es vor dem Vergessen zu | bewahren, und dieses verpflichtende Gegenüber-Sein auf alle Lebensbereiche ausdehnt.

152

Kapitel III: Singulärgestalt

der deuteronomistischen

Tora

[90/91]

bewahren ist. Zwei Zeit- und Zukunftsdimensionen der Loyalitätsbeziehung werden besonders ins Auge gefaßt: 1. In Dtn 6,6-9 und 20-25 geht es um die iterative Verewigung und Verinnerlichung der Loyalitätsbeziehung im Lebensalltag der Angesprochenen einerseits (6,6-9) sowie im Gedächtnis der künftigen Generationen andererseits (6,20-25). Was in Dtn 6,4 als Basis-Bekenntnis in die Gegenwart der Versammelten gerufen wird, wird in Dtn 6,21-25 als m v geschichtstheologisch (V. 21-23) und loyalitätspraktisch ausbuchstabiert (V. 24 f.). Damit werden - ähnlich wie Dtn 7,7 f., wenn auch aus der Erfahrungsperspektive der Bekennenden - das "tnx m n ' ij'n 1 ?« m n ' von 6,4b und die Loyalitätsforderung von 6,5 „gefüllt". 2. In Dtn 6,10 ff. und 7,1 ff. geht es um zwei mögliche Gefahrdungen der Loyalitätsbeziehung bei und nach der bevorstehenden Landgabe, die in Dtn 6,10a und 7,1a mit zwei gleichlautenden temporalen Nebensätzen eingeführt werden 7 8 . In 6,10 ff. ist es die potentielle Gefahr, daß angesichts von Sattheit und Wohlstand nach der Seßhaftwerdung das JHWH-Bekenntnis und die darin lebendige JHWH-Beziehung vergessen werden könnten (vgl. bes. 6,12 f.). Dtn 7,1 ff. beugt Gefahren für die JHWH-Beziehung vor, die im Zuge der Landnahme drohen. Dabei hat auch das Hauptgebot der Vernichtungsweihe 7 9 und damit des sakralen Beuteverzichts - bei aller rezeptionsgeschichtlich gravierenden Befremdlichkeit dieser dtr. Kriegstheorie - eine primär beziehungstheologische Funktion. Einerseits soll JHWH dadurch als der eigentliche Herr des Kriegserfolges nach dem Modell von Dtn 2,26-36 respektiert werden (vgl. 3,21 f. und 9,1-6a). Andererseits ist durch die Vernichtung der Völker im Väter-Land 8 0 gemäß Dtn 20,17 f. zu verhindern, daß die dortige Vorbevölkerung Israel zur Apostasie verleitet. Dieses wiederum geht zum einen aus dem Vertragsund Verschwägerungsverbot hervor (Dtn 7,2bß) und zum anderen aus dem

78

Das zusätzliche i r m in 6,10 leitet gegenüber dem, was in 6,6-9 ab sofort zu gelten hat, makrosyntaktisch eine weitere Zukunft ein, für die nicht nur in 6,10 und 7,1, sondern auch in 6,20 - jeweils mit temporalem ' 3 eingeleitet - drei künftige Schlüsselsituationen der Bewährung der JHWH-Loyalität ins Auge gefaßt werden: das künftige gute Leben im Land (6,10 ff.), die Abfolge der Generationen (6,20 ff.) sowie das Verhältnis zu den anderen Völkern bei und nach der Wieder-In-Besitznahme des legitimen Israel-Landes, das den Vätern zugeschworen war (7,1 ff.). 79

80

V g l . d a z u FRITZ 1 9 9 4 , 7 2 s o w i e LOHFINK 1 9 8 2 .

Es ist bei der dtr. Kriegs- und Landnahme-Theorie genau zu beachten, daß sich das dtr. „Bann"-Gebot nur und allein auf die fiktive, namentlich aufgeführte Vorbevölkerung in jenem Land beschränkt, das aufgrund des Väterschwures Israel zugesprochen ist (vgl. 7,1 mit 6,10 und 20,17 f.). Demgegenüber sind nach Dtn 2,1 ff. sowohl das Land der Edomiter (V. 5), als auch der Moabiter (V. 9) und der Ammoniter (V. 19) für Landnahmen tabu, weil auch diese Länder den g e n a n n t e n Völkern von JHWH gleichermaßen zugeeignet worden sind (vgl. dazu auch Dtn 32,8 und oben Anm. 32).

[91/92]

5. Das Sch'ma' Jisra 'el in Dtn 6,4

153

Gebot in 7,5, bei der In-Besitz-Nahme des Landes die Einrichtungen aller Fremdkulte zu beseitigen (vgl. 12,2 f.).

8. Zusammenfassung und Schluß Nun kann hier nicht weiter verfolgt werden, wie diese in Dtn 6,6-7,5 grundlegend angesprochenen Erfahrungsbereiche, die die künftige Bewahrung der JHWH-Beziehung und die Bewährung der JHWH-Loyalität ins Auge fassen, in den folgenden Abschnitten der Bundesinstruktion weiter aufgenommen und entfaltet werden. Eines jedoch dürfte dieser Beitrag hinreichend klar gemacht haben: die schlechterdings zentrale Funktion und e Stellung des Sch ma' Jisra 'el innerhalb der dtr. Mose-Tora: 1. als Eröffnung der gesamten Bundesinstruktion (6,1-26,19) ebenso wie der spezifischen Lehre der Grundbeziehung (6,4-7,11 bzw. 8,20), 2. als performativer Ausdruck des ersten Teils der sog. Bundesformel mit seinem zweiten Teil in 7,6-8 und ihrer Entsprechungen in 26,17-19 und 3. als Schlüsselmoment in der Inszenierung und Vergegenwärtigung des Horeb-Bundes sowie der archetypischen Bundesversammlung im Heute von Moab. Dabei wird a) die Bundesversammlung wie am Horeb performativ durch Dtn 5,2 f. konstituiert, b) die Bundesschließung mit Verpflichtungsakt in Dtn 27,9 f. statuiert und c) das Loyalitätsbekenntnis am Anfang der Bundesinstruktion in Dtn 6,4 zu Gehör gebracht und in 7,6-8 begründet. 4. Die Bundesinstruktion selbst erörtert ab 6,5 ff. allumfassend die Verbindlichkeiten, die sich aus diesem Bekenntnis ergeben, und schließt in 26,17-19 mit den Bundesdeklarationen, die die wechselseitig freie Verpflichtungsgemeinschaft und die unbedingte Loyalitätsbeziehung zwischen JHWH und Israel explizit machen. Ein spezifischer Teil dieser Bundesansprache ist die Lehre des Verfassungsstatuts für das JHWH-Volk in Dtn 12,1-26,15. Nimmt man die ausgeführten Skizzen zu den Horeb-Reminiszenzen und unsere Überlegungen zu Dtn 1-3 und 4 als Vorspann zu Dtn 5-30 hinzu, dann dürften mit diesem Beitrag auch die wesentlichen redepragmatischen Grundstrukturen der dtr. Mose-Tora von Dtn 1-30 als Ganze erfaßt und umrissen sein als Rahmen und Grundlage für weitere Detailstudien, die notwendig sind, um diese Tora-Im-Vollzug genauer | zu erfassen und sie auch historisch und literaturgeschichtlich zu verorten. Als redepragmatisches Ganzes ist „diese Tora" jedenfalls mehr und qualitativ etwas anderes als die bloße Summe und unstrukturierte Aneinanderreihung einzelner Lehr-Teile, auf die sich die bisherige Forschung mit soviel Eifer und Fleiß

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Kapitel III: Singulärgestall

der deuteronomistischen

Tora

[92]

gestürzt hat, ohne diesem Ganzen hinreichend auf die Spur zu kommen und gebührend Rechnung zu tragen. |

6. Die Weisheit der Tora (Dtn 4,5-8) Respekt und Loyalität gegenüber JHWH allein und die Befolgung seiner Gebote - ein performatives Lehren und Lernen 1 (2003)

Vor gut zehn Jahren erschien Frank Crüsemanns großes Buch zur Tora 2 und hat nicht nur Freunden und Fachkollegen ganz neu den Blick geschärft für die sozialgeschichtliche Dimension der alttestamentlichen Rechtskorpora und ihre historisch-politische Einbettung, sondern weit darüber hinaus in Kirche und Gesellschaft hineingewirkt. So wie mir damals mein Freund mit diesem Buch und einer persönlichen Widmung ein äußerst impulsreiches Geburtstagsgeschenk gemacht hatte, so will ich daraus im folgenden Beitrag einen der zahlreichen Gesprächsanstöße aufgreifen und als kleine Festgabe im gemeinsamen Bemühen fortfahren, die tiefgreifende rezeptionsgeschichtliche „Verzerrung des biblischen Begriffs der Tora" (7) weiter aufzubrechen - allerdings nicht aus einer sozialgeschichtlichen Perspektive, sondern in einer text- und kommunikationspragmatischen Herangehensweise. Frank Crüsemanns Buch schwingt sich - ausgehend von der alttestamentlichen Wort-Bedeutung von Tora (7 f.) - alsbald zur systematischtheologischen Entgegensetzung von „Gesetz und Evangelium" empor und identifiziert mit dem „Begriff Tora ... die beiden Seiten des einen Gotteswortes" (8), die - im Gefolge von Martin Noth - in Karl Barths „Spitzenaussage vom Gesetz als der notwendigen Form des Evangeliums" kulminieren (9). In schnellen Schritten wendet sich Crüsemann dann seinem Hauptthema einer Sozialgeschichte der alttestamentlichen Rechtskorpora zu. Auch wenn er immer wieder betont, dass diese Korpora im Pentateuch in ihrem Mit- und Nebeneinander schließlich zur Tora werden und als Tora zur Sprache kommen, findet dieser textpragmatische | Aspekt der alttestamentlichen Rechtsüberlieferungen keine weitere Berücksichtigung mehr. Das heißt jedoch nicht, dass „Tora hier" unter der Hand „mit ,Recht', ja

1 Der Beitrag ist die überarbeitete und erweiterte Fassung des Vortrags „The Wisdom of Torah. On Performative Teaching and Learning the Relation of Respect to J H W H in Following the Constitutional Laws in Deuteronomy (Dtn 4,5-8)", den ich im Rahmen meiner Gastprofessur an der Theologischen Fakultät der Universität Stellenbosch (RSA), auf dem Annual Congress of the Old Testament Society of South Africa am 11. September 2002 gehalten habe. 2

Vgl. CRÜSEMANN

2

1997.

156

Kapitel HI: Singulärgestalt

der deuteronomistischen

Tora

[225]

,mit einer Serie von Rechtsbüchern' identifiziert wird" 3 , was etwas anderes ist, als nur die Vernachlässigung der - allerdings konstitutiven - ToraForm dieser Rechtsüberlieferungen. Eben dieser textpragmatische Tora-Aspekt, der bei Crüsemann nur eine marginale Rolle spielt, soll im Zentrum des folgenden Beitrags stehen. Dabei hat T. Willi den Tora-Begriff in lexikologischer und begriffsgeschichtlicher Hinsicht bereits umfassend geklärt und in erhellender Weise dargelegt, 4 dass „ r n i n im Ansatz und von Haus aus ein kommunikatives Geschehen ist, ein mündlicher Vorgang" (92, Hervorhebung im Orig.). Insbesondere „zielt r n ' hif. beziehungsweise r n i n nicht auf einen Status, sondern auf ein aktuelles Verhalten ab, das durch die mit dem Verb ausgedrückte ,Weisung', ,An- oder Unterweisung' direkt veranlaßt wird" (95), im Unterschied zum faktitiven Pi. von 1D1?, das im Sinne von „unterrichten, in Kenntnisse und Fähigkeiten versetzen" (a.a.O. 96) auf die Inhaltsvermittlung ausgerichtet ist. Zusammenfassend stellt Willi (99) für den Tora-Begriff fest: „Nicht auf dem Lerninhalt und auf dem Lernziel liegt also der Akzent, sondern auf dem Vorgang als solchem, ... auf dem aktuellen Lehrgeschehen, auf der im Lehr- und Lernvorgang sich abspielenden Interaktion zwischen Unterweisendem und Unterwiesenem." 5 Dabei hebt er auch hervor, dass im Deuteronomium „das erste größere Werk im Alten Testament" vorliegt, „das sich ausdrücklich als Niederschlag von r n i n versteht" (ebd.). |

3

WILLI 1995, 94 mit Hinweis in Anm. 97 auf „CRÜSEMANN 2 1997, 13.16.229 und an vielen weiteren Stellen". An den angegebenen Stellen jedenfalls unterscheidet Crüsemann stets z.B. zwischen der „eine(n) Tora" und der „Folge der Rechtsbücher" (13), auch wenn er dann missverständlich formuliert, dass „die Tora ... nach der Erzählung des Pentateuch am Sinai von Gott durch die Vermittlung des Mose dem Volk Israel mitgeteilt worden" sei (ebd.). Auf S. 16 geht es Crüsemann um den „Übergang von der Folge der Rechtsbücher aus differenten historischen Situationen zur einen Tora" und um die Aufgabe, „den Weg zur Tora, der in der Tora bewahrt ist, zu rekonstruieren und zwar so, daß jedenfalls die historische Seite des Vorganges beim Umschlag vom Weg in die Summe ..., vom Nacheinander zum Miteinander des Nacheinanders, von der Verschiedenheit zur Einheit des Verschiedenen zu erfassen gesucht wird." (16 f.). Auf S. 229 stellt Crüsemann die These auf, dass mit dem „Bundesbuch ... die Grundstruktur der Tora entstanden ist", ohne dass er beides identifiziert, was immer man sonst von dieser historischen Hypothese halten mag. 4

Vgl. a.a.O., 91-101. Dass damit auch ein zusätzlicher Aspekt der „autoritativen Unterweisung" (vgl. 97 und 99) verbunden sein soll, hängt - wie Willi zu Recht bemerkt - an den spezifischen „Verumständungen" der Belege aus der Familien-Unterweisung (vgl. S. 98) und sollte deshalb als Konnotation oder semantisches Merkmal nicht dem Tora-Begriff selbst zugeschlagen werden, auch wenn in der Lebenswirklichkeit Weisung und Unterweisung nur dann gelingt und wirksam wird, wenn der Unterwiesene die Autorität des Unterweisenden anerkennt oder zwangsläufig anerkennen muss. 5

[226]

6. Die Weisheit der Tora

157

Genau daran hat das Bemühen um eine bibelimmanente Klärung des alttestamentlichen Tora-Verständnisses anzusetzen, um seine auslegungsgeschichtlichen Verzerrungen zu revidieren. Denn erstens findet sich im Deuteronomium in der Tat der älteste Textzusammenhang, der als klar abgrenzbare und dennoch sehr umfangreiche Rede explizit mit der Gattungsbezeichnung m i n eingeführt wird (Dtn 1,5, vgl. 31,9). 6 Die Rede des Mose in Dtn 1-30 ist somit innerhalb des Alten Testaments - abgesehen von zahlreichen E i n z e l - n m n geringeren Umfangs - die einzige explizite Entfaltung einer Tora im umfassenden Sinne und damit auch die maßgebende inneralttestamentliche Stufe auf dem „Weg zur Tora, der in der Tora bewahrt ist". 7 Zweitens führt Dtn 1,5 „diese Tora" als Rede ein, d.h. begriffsgemäß als mündliches Lehrgeschehen und interaktiven Unterweisungsvorgang. Damit eröffnet sich über eine rein lexikologische Bestimmung des Tora-Begriffs hinaus die Möglichkeit, auch den performativen Lehrvollzug selbst an der zitierten Mose-Rede zu beobachten und die Redepragmatik dieses Lehrgeschehens als solche am maßgebenden Selbstzeugnis des Alten Testaments zu erfassen. Nur daran kann konkret geklärt werden, was nach alttestamentlichem Selbstverständnis weit über die Einzel-Weisung hinaus mit „Tora" in jenem umfassenden Sinne gemeint ist, in welchem dann spätestens das frühe Judentum den Tora-Begriff auf den ganzen ersten Kanons-Teil des Pentateuch übertragen hat. 8 1 6

Begrifflich und das heißt im Sing, kommt m i n als Global-Bezeichnung für einen größeren und unspezifischen Weisungszusammenhang, d.h. für die „Tora" im umfassenden Sinne, in Gen bis Num nur in Ex 13,9; 16,4; 24,12 vor neben einer Vielzahl von spezifischen E i n z e l - n n i n , wie z.B. die Opfer-Weisungen in Lev 6,2.7.18 etc. Jedoch wird in diesen Exodus-Stellen im Unterschied zu den Einzel-nnin sowie zu Dtn 1,5 damit nirgends der Wortlaut dieser „Tora" eingeführt, so dass wir inneralttestamentlich einzig im Deuteronomium auch am Wortlaut der von Mose entfalteten Tora-Rede beobachten können, wie sich „die Tora" nach dem Selbstzeugnis der Hebräischen Bibel als Lehrgeschehen vollzieht und sich damit als Vollzug selbst definiert. 7 CRÜSEMANN 2 1997, 16. Allerdings sieht Crüsemann diesen „Weg" primär als rechtsund sozialgeschichtliche Entwicklung, die er „rekonstruieren" will (ebd.), während es hier um die älteste Textstufe in der alttestamentlichen Literaturgeschichte geht, an der der Tora-Begriff nach dem expliziten Selbstzeugnis des Alten Testaments als Lehrvollzug beobachtet und erfasst werden kann. 8 Vgl. CRÜSEMANN, a.a.O., 384: „Daß der Pentateuch als ganzer, also auch die erzählenden Partien Tora heißen, ist ... erst ab dem 2. Jahrhundert v.Chr. eindeutig zu belegen." Weder Esr 7,12 ff. noch Neh 8 geben m.E. eindeutig her, dass mit der Tora des Mose schon der ganze Pentateuch gemeint sein muss (vgl. die Diskussion bei WILLI 1995, 101 ff. und CRÜSEMANN, a.a.O., 381 ff.). Jedenfalls verortet sogar noch Mal 3,22 die „Tora des Moses" und ihre Offenbarung gemäß der dtr. Tora-Konzeption am Horeb und nicht etwa am Sinai. Damit setzt selbst dieser - kanonsgeschichtlich sehr späte Text überhaupt noch nicht voraus, dass mit der Mose-Tora schon das „Riesenwerk" (CRÜSEMANN, a.a.O., 402) des ganzen Pentateuch gemeint sein muss, das auch nach WILLI „in Form einer Kosmologie, Historiographie, Genealogie, Chronologie usw." den

158

Kapitel Hl: Singulärgestalt

der deuteronomistischen

Tora

[227]

Allerdings können wir drittens diesen Lehrvollzug in Dtn 1-30 und seine Pragmatik hier nicht in extenso darlegen. Unter Konzentration auf Dtn 4,5-8 müssen Umrisse genügen. 9 Jedoch kommt in Dtn 4,5-8 als Ausgangspunkt insofern ein zentraler Aspekt des Lehrgeschehens zur Sprache, als „diese Tora" darin sogar selbst Gegenstand der Lehrrede ist (vgl. V. 8). In der Art und Weise, wie Mose darin seinen Tora-Vollzug zum Thema macht, liegt somit ein Höchstmaß an Selbstreflexivität des alttestamentlichen Tora-Verständnisses vor, die sich auch innerhalb der Rede von Dtn 1-30 sonst nirgends mehr findet. 1 0 Davon ist im folgenden auszugehen, um die besondere Weisheit zu erfassen, die in der alttestamentlichen Tora nach ihrem Selbstverständnis angelegt ist. In Dtn 4,6 hebt Mose in seiner Tora-Rede hervor, was in den Augen der Völker die eigentümliche Weisheit und die besondere Einsicht der angesprochenen Israeliten ausmacht. Das, was Mose mit der Lehreröffnung in 4,1 zu lehren beginnt, die Rechtsbestimmungen (• , Q3$D) und Verordnungen (D'pn), und was er in 4,5 als Lehrvorhaben vorstellt - das ist die besondere Weisheit (nDDn) und zeugt von der besonderen Einsicht (HJ'3) Israels vor dem Forum der Völker. Wenn sie von diesen Verfassungsbestimmungen hören (V. 5b), werden sie sagen: „In der Tat, ein weises und einsichtiges Volk ist diese Nation". Die Verse 7 f. unterstreichen dann diese hohe Auszeichnung mit zwei rhetorischen Fragen: 1. Welche andere Nation ist wie diese, der Gott so nahe steht, wie den Israeliten, wenn sie ihn als „JHWH, unser Gott" anrufen; und 2. welche Nation hat so gemeinschaftsförderliche und zurecht bringende (DpHS) Rechtsbestimmungen und Verordnungen, wie Israel „gemäß dieser ganzen Tora", die Mose eben gerade vorträgt. 11 Der Eröffnungsabschnitt Dtn 4,5-8 qualifiziert damit das Ganze von Moses Lehrvortrag als performative Weisheit der Tora, deren priesterschriftlichen Großzusammenhang ab Gen 1 mit umfasst haben soll (vgl. a.a.O.,j 101). Deshalb bewegt man sich auf der sicheren Seite, bis zum Beweis des Gegenteils einzig und allein die in Dtn 1-30 explizit als Tora eingeführte Rede des Mose, die er gemäß dem dtr. Erinnerungskonzept im Anschluss an die Verkündigung niedergeschrieben hat (31,9), auch als solche zu bezeichnen. 9 Vgl. dazu auch H A R D M E I E R 2000a (vgl. III.5.) und DERS. 2005b (vgl. III.4.). 10 Alle anderen Vorkommen innerhalb des Deuteronomiums beschränken sich a) auf die Redeeinleitung in 1,5 und die Überschrift in 4,44, b) auf die Einzel-Weisungen in Dtn 17,11, die die Priester und Richter erteilen, und die Pflichten des Königs, sich „diese Tora" beständig vorlesen zu lassen (Dtn 17,18 f.), sowie c) auf weitere Erwähnungen in Dtn 27,3.8.26; 28,58.61; 29,20.28; 30,10 und im Erzählrahmen in 31,9.11 f.24.26; 32,46 und 33,4.10, ohne dass in diesen Vorkommen die Tora selbst Thema und Gegenstand der Reflexion ist. 11 Man beachte das partizipiale Prädikat, das den performativen Verlauf der Darlegung „dieser Tora" bezeichnet. ;ru „geben" ist hier in Analogie zur Wendung jm als Sprechhandlung des Tora-Vortrags und damit im übertragenen Sinne wie „eine Vorführung geben", „darlegen" zu verstehen.

[227/228]

6. Die Weisheit der Tora

159

Weisheit sich im mündlichen Vollzug des Tora-Vortrags entfaltet. In diesem Rahmen bildet Dtn 4,1 die Lehreröffnung mit dem rhetorischen Marker nnvi „und jetzt". Sie | leitet speziell den Lehrgegenstand ein, den Mose im Verlauf und Vollzug seiner Tora-Rede zur Kenntnis bringen und vermitteln wird: Und jetzt, höre Israel, auf die Verordnungen (D'pn) und Rechtsbestimmungen (D'BDItfD), die ich euch heute lehre, um (sie) zu verwirklichen ,.. 12

Im folgenden ist nun zunächst der größere Rahmen der Lehreröffnung im Gesamtkontext der Mose-Rede von Dtn 1,6-30,20 sowie innerhalb des DtrG. abzuschreiten. Zum zweiten ist die rhetorisch-argumentative Logik von Dtn 4,5-8 im Rahmen der Lehreröffnung von 4,1 ff. nachzuzeichnen, um dann drittens das Lehr- und Lerngeschehen im Ganzen der Mose-Tora in den Blick zu nehmen. Ein vierter Teil gilt den biblisch-theologischen und praktischen Konsequenzen, die aus dem performativen Charakter der Tora und der darin angelegten Weisheit für die Gegenwart zu ziehen sind.

1. Die Lehreröffnung in Dtn 4,1 f f im Gesamtkontext der Mose-Tora und des DtrG. Die Lehreröffnung in Dtn 4,1 mit dem rhetorischen Marker n n s i zeigt an, dass der Auftakt des 4. Kapitels auf einer bestimmten Formationsstufe des Buches Deuteronomium textimmanent als Anschluss und Fortsetzung von Kapitel 1-3 gelesen und synchron verstanden werden muss. Entgegen der üblichen diachronen Spätdatierung des Kapitels gegenüber Dtn 5-28 und der Isolierung von Dtn 1-3 von seinen übrigen Teilen, ist zuerst auf diesen synchronen Formationszusammenhang von Dtn 1-30 aufmerksam zu machen. 13 Denn auch in literaturgeschichtlicher Hinsicht geht die Gesamtanlage der Mose-Rede auf eine synchron übergreifende Gestaltungsabsicht

Vgl. die Wiederaufnahmen dieser spezifischen Lehrinhalte, die stets mit TD1? als Kenntnisvermittlung (vgl. dazu W I L L I 1995, 96-99) verbunden sind, in 4,5.14; 5,1.31; 6,1. Mit der zu 6,1 parallel stehenden Überschrift werden diese Verordnungen (QV n ) und Rechtsbestimmungen (D'aaa'D) dann ab Dtn 12,1 im einzelnen zur Kenntnis gebracht und damit im Sinne von 1D1? lehrend vermittelt. 13 In methodischer Hinsicht folgen wir der Maxime, Textzusammenhänge unter dem Primärverdacht ihrer synchronen Kohärenz und Einheitlichkeit zu lesen und zu verstehen, und nur dann Diachronie anzunehmen, wenn zwingende Gründe und Textsignale ein diachrones Verständnis herausfordern. Dabei muss die Kohärenz und Einheitlichkeit eines als synchron vermuteten Textzusammenhangs natürlich positiv an der Sprachgestalt und der pragmatisch-interaktiven Funktionalität begründet werden, was im Falle diagnostizierter Diachronie für beide, sich diachron voneinander abhebenden Formationsstufen zu leisten ist (vgl. dazu H A R D M E I E R 2000b, 86-90). 12

160

Kapitel III: Singulärgestalt

der deuteronomistischen

Tora

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zurück, die in der narrativen Einleitung von Dtn 1,5 angezeigt wird: „Jenseits des Jordans, im Lande Moab, begann Mose,| diese Tora klarzulegen". 1 4 D.h. es geht in der Rede von Dtn 1-30 insgesamt um die mündliche Dar- und Klarlegung der Tora, die Mose dann nach Dtn 31,9 aufgeschrieben hat. Den Lehrvortrag selbst situiert der Erzähler im Lande Moab und stellt Mose als Redner vor, der über 30 Buchkapitel hinweg mit den vor ihm versammelten Israeliten im Gespräch steht. Dabei wird in diesem performativ erzählten Diskurs die Du/Ihr-Anrede konsequent durchgehalten; häufig begegnet auch der inklusive Wir-Stil, wie z.B. in Dtn 4,7: „Wo gibt es eine große Nation, die Götter hätte, die ihr nahe sind, wie JHWH, unser Gott, in allem, worin wir ihn anrufen". Nur an wenigen Stellen wie in 5,1; 27,9 und 29,1 wird der Redefluss durch narrative Zwischensignale unterbrochen, die lediglich den Fortgang der Rede anzeigen und eine primär gliedernde Funktion haben. 1 5 Aus Gründen, die hier nicht entfaltet werden können, sehen wir in diesem Redezusammenhang von Dtn 1-30 die Hauptformation der dtr. MoseTora, die den Auftakt zum spätexilischen DtrG. bildet. Dabei entfaltet Mose am Anfang der Geschichte sozusagen idealtypisch die umfassende Weisung, wie es Israel einerseits gelingen kann, in wahrhaftiger Orientierung an JHWH das Land ,jenseits des Jordans" in Besitz zu nehmen (bes. Dtn 9,1 ff.). Andererseits bringt Mose darin den in Moab Versammelten eine umfängliche Gesellschaftsverfassung zur Kenntnis, wie das Volk im künftigen Lande gedeihlich leben kann (Kp. 12-26). Ferner wird im Gesamtvollzug der Rede der Bund mit JHWH vom Horeb her (5,2 f.) erneuert (vgl. 27,9 f. und 29,9-14), der als Loyalitäts-Versprechen die Grundlage dieser Verfassung bildet. 16 Im performativen Rahmen des Loyalitätserweises konstituiert sich Israel gemäß dieser Gesellschaftsverfassung als Sakralverband (23,2), der sich im radikalen Widerspruch zur assyrisch-babylonischen Vasallenloyalität seinem Gott JHWH allein als Geber des Landes verpflichtet weiß (6,4 f.) und ihm allein in allen Lebensvollzügen seine Loyalität erweist. Dementsprechend sieht sich das GottesVolk als JHWHs Beutevolk (n'JlD DJ?), das ihm heilig ist (7,6 par. 26,18 f.): JHWH als imaginärer Vasallen-Herr hat dieses Volk einerseits ohne Eigennutz der imperialen Verfügungsgewalt der damaligen Großmächte entrissen und sich andererseits aus freier Liebe zu eigen gemacht, ohne dass ihn irgendeine Besonderheit Israels zu dieser Wahl veranlasst

14

Vgl. zur Gesamtanlage

HARDMEIER 2 0 0 0 a , 6 3 - 6 7 ( v g l . III.5.) u n d z u IXN in

Dtn

1,5 a . a . O . , 6 3 A n m . 10 ( v g l . I I I . 5 . ) . 15

V g l . d a z u H A R D M E I E R 2 0 0 0 a , 6 4 A n m . 11 ( v g l . I I I . 5 . ) .

16

V g l . b e s . D t n 5,2 f.; 2 7 , 9 f.; 2 9 , 9 - 1 4 s o w i e 2 6 , 1 6 - 1 9 u n d d i e B e z ü g e z u 7,6; z u m

g a n z e n v g l . f e r n e r u n t e n 3.2 u n d a u s f ü h r l i c h e r HARDMEIER 2 0 0 0 a , 7 2 - 7 5 ( v g l . I I I . 5 . ) .

[229/230]

6. Die Weisheit der Tora

161

hätte (vgl. 7,7 f.). 17 Das Ganze dieser toraförmigen Belehrung ebenso wie die Erneuerung des imaginären Vasallenverhältnisses, worauf unter Teil 3 zurückzukommen sein wird, erfolgen in hoch stilisierter idealtypischer Weise am letz|ten Tag im Leben des Mose, der zugleich der Vorabend zum Übertritt über den Jordan ist und damit den Beginn der Land-ln-Besitznahme markiert. Zwar erzählt das DtrG. im Josuabuch, dass und wie die Landnahme im wesentlichen gelungen ist, zeichnet dann aber die weitere Geschichte epochenweise als Zeit, in der die Beziehung zu JHWH immer problematischer wurde. Trotz der Nathan-Verheißung (II Sam 7) vermochte auch das zu Anfang nahezu ideale davidische Königtum weder den Zorn JHWHs über sein Volk aufzuhalten noch seine katastrophalen Auswirkungen zu verhindern. Einzig Joschija ragt aus allen anderen Königsgestalten heraus. Er war es, der als einziger die Tora des Mose vollkommen erfasst und umzusetzen versucht hatte (II Reg 23,25). Doch selbst ihm gelang es in der Generalperspektive des DtrG. nicht, den Zorn JHWHs und die Folgen der Sünde Manasses aufzuhalten (V. 26), was die Verwerfung sowohl der Gottesstadt als auch des Tempels mit sich brachte (V. 27) und in den Untergang Jerusalems und der judäischen Monarchie führte. In der Erinnerungsperspektive des DtrG. bildet Joschijas idealer Tora-Gehorsam zweifellos die Klimax des ganzen Werkes. 1 8 Und auf diese Klimax hin ist auch die dtr. Tora von Dtn 1-30 als idealtypischer Anfang der Geschichte ausgerichtet. Im Sinne von Jer 32,36-41 und 31,31-34 weist diese Klimax über den Schluss des Werkes in II Reg 25 hinaus auf eine Zeit, die Mose bereits in Dtn 30,1 ff. ins Auge fasst: es ist die Zeit einer möglichen Rückkehr aus dem Exil und eines Neuanfangs im Lande. Dabei wird im Rückblick auf die Vergangenheit Joschija zum einzigartig leuchtenden Vorbild eines davidischen Königs idealisiert, der in der Vergangenheit die Anfangs-Tora des Mose vollkommen erfasst und - wenn auch letztendlich vergeblich - umzusetzen versucht hatte. Auf dem Hintergrund der erfolgten Geschichtskatastrophe von 587 und mit dem offenen Ende des DtrG., das mit der Begnadigung Jojachins um 562 schließt, unterstreicht diese Klimax von II Reg 22 f. die Heils- und Zukunftbedeutung der Mose-Tora.

Die Lehre in Dtn 1-30 ist somit als maßgebende, anfangsgeschichtliche Weisung angelegt, wie zum einen das exilierte Volk Israel auf der Grundlage einer erneuerten Bundesbeziehung zu JHWH und in alleiniger Orientierung an der Tora des Mose in das Land seiner Väter zurückkehren kann. Zum anderen lehrt die Anfangs-Tora insbesondere in Dtn 12-26, wie dann die Lebensverhältnisse im verheissenen Land unter einem toragehorsamen Davididen und im unbedingten Respekt gegenüber JHWH gedeihlich zu gestalten sind, um ein sozial integratives Zusammenleben und ein ökonomisch segensreiches Fortkommen zu ermöglichen und diese Prosperität nachhaltig zu fördern und dauerhaft zu sichern.

17

Im Gegenteil, nach Ausweis von Dtn 9,6b.7 ff. hatte JHWH - gemäß der dtr. Horeb-Geschichts-Konstruktion - nichts als fortgesetzten Ärger mit seinem Volk, so dass es geradezu erstaunlich ist, dass er sich von diesem Volk, das ihn derart enttäuschte, nicht längst und endgültig getrennt hat; vgl. dazu HARDMEIER 2005b (vgl. III.4.). | 18

Vgl. HARDMEIER 2 0 0 0 b , bes.

90-100.

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Kapitel III: Singulärgestalt

der deuteronomistischen

Tora

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2. Die Weisheit der Tora im Rahmen der Lehreröffnung von Dtn 4,1-8 2.1 Dtn 4,5-8 im Kontext von Dtn 4,1-8 und die der Lehreröffnung

Gliederung

Die in 4,1 ff. mit nnsi eröffnete Belehrung geht in 4,9 zu einer Ermahnung über. Die Angesprochenen sollen sich der Ur-Begegnung mit JHWH am Horeb erinnern und die damaligen Erfahrungen nicht vergessen, wie JHWH sich der versammelten Gemeinde mitgeteilt und wie er mit seinem Volk einen Bund geschlossen hatte (4,10-14). Abgesehen vom Höraufruf in 4,1 gliedert sich die Lehreröffnung in 4,2-8 in drei Teile, die sich syntaktisch durch asyndetische Rede-Einsätze ohne 1 oder andere Konjunktionen voneinander abheben: V. 2, V. 3 f. und V. 5-8. Dtn 4,2 definiert einleitend den geradezu vertraglichen Status der vorgetragenen Tora. Ihr sollt nichts hinzufügen zu dem Wort, das ich euch gebiete, und sollt nichts davon wegnehmen, damit ihr die Gebote JHWHs, eures Gottes, haltet, die ich euch gebiete!

Der Vers schärft ein, dass der Lehre des Mose nichts hinzugefügt, aber daran auch nichts gekürzt werden darf. Wie im Falle von Vertragstexten werden damit die Treue zum Wortlaut und seine hohe Verbindlichkeit festgelegt. Dabei gebietet Mose genau das, was JHWH auch bei der Mitteilung der zehn Gebote am Horeb seinerseits getan hatte. Gott selbst hatte bei der Niederschrift der damaligen Vertragsurkunde dem Wortlaut nichts Weiteres hinzugefügt (5,22). Im Anschluss daran gehen die Vorbemerkungen in Dtn 4,3 f. auf die versammelte Zuhörerschaft ein und erinnern sie an ihre Vergangenheit. Eure Augen sind es, die gesehen haben, was J H W H in Baal-Peor getan hat. Denn jeden, der dem Baal-Peor nachgelaufen ist, den hatte JHWH, dein Gott, aus deiner Mitte vernichtet. Ihr aber, die ihr JHWH, eurem Gott, anhängt - am Leben seid ihr alle heute.

Mose spricht seine Leute einerseits im Blick auf das Ziel seiner Überzeugungsarbeit als diejenigen an, die sich hier und heute in der Redegegenwart ganz und gar JHWH verschrieben haben und ihrem Gott vollkommen anhangen wollen (V. 4). Andererseits nimmt er sie als Augenzeugen ihrer eigenen Vergangenheit in Anspruch. Sie haben selbst mit angesehen, wie diejenigen vernichtet wurden, die dem Baal von Pegor nachgelaufen und JHWH untreu geworden waren (vgl. Hos 9,10). Daran werden zwei Grundzüge der Tora-Lehre des Mose deutlich: Zum einen geht es um das Lernen aus und an der Vergangenheit. Modellhaft wird an einstige Erfahrungen in der Beziehung zu JHWH erinnert, an denen die Angesprochenen für ihre Gegenwart lernen sollen, um für die

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6. Die Weisheit der Tora

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Zukunft Orientierung zu finden. Dieses Lern-Prinzip der Augenzeugenschaft und der Selbsterfah|rung in der Vergangenheit verfolgt Mose bereits in Dtn 3,21 f. gegenüber Josua im Blick auf die Land-In-Besitznahme. Des weiteren macht er davon in Dtn 4,9 Gebrauch im Rückgriff auf die UrErfahrungen, die das Volk in der Begegnung mit JHWH am Horeb gemacht hatte. Ja, dieses Prinzip des erinnernden Lernens an der Vergangenheit kommt - wie wir noch sehen werden - auch in den Hauptkapiteln der Tora-Lehre in Dtn 5-26 wiederholt und vertieft zum Tragen. Das wird a) an der Horeb-Reminiszenz in Dtn 5,4-31 im Blick auf die aktuelle Bundeserneuerung in Moab deutlich und b) an der Reminiszenz in Dtn 9,7-10,11. Diese Rückerinnerung steht im Kontext der Debatte um das künftige Gelingen der Land-In-Besitznahme (Dtn 9,1 ff.) und klärt die Frage, ob dieses Gelingen JHWH oder dem Volk zuzuschreiben sein wird (9,3-6), was aufgrund der bisherigen Geschichte (9,7 ff.) auszuschließen ist. 1 9 Eine letzte, zukunftsweisende Erfahrung mit JHWH, die bereits am Horeb gemacht wurde, bezieht sich in Dtn 18,16-20 auf den künftigen Propheten, der wie Mose die Mittlerschaft zwischen JHWH und dem Volk wahrnehmen wird.

Zum anderen machen das betonte „Ihr aber" (anxi) in V. 4 und die Bekräftigung am Versende „ihr alle heute" ( n r n 03*73) die Emphase deutlich, mit welcher Mose die in Moab versammelten Israeliten in ihrer Gegenwart anspricht. Sie sind nicht nur diejenigen, die dem Versagen der Väter in der Vergangenheit und ihrem Verderben entkommen sind. Vor allem sind sie diejenigen, auf die hier und jetzt alles ankommt und auch in Zukunft ankommen wird, indem sie an ihrer innigen JHWH-Beziehung festhalten. Auch dieser zweite Grundzug einer eindringlichen Gegenwarts-Emphase der Tora-Lehre durchzieht - wie unten 3.2.1 noch näher zu zeigen sein wird - die ganzen Hauptkapitel der aktuellen Lehr-Rede in Dtn 5-26. Doch bereits die Lehreröffnung in Dtn 4 hebt mit V. 3 f. hervor, wie sehr diese geschichtserfahrene Generation der Augenzeugen dazu prädestiniert ist, aus der dunklen Vergangenheit zu lernen. Sie soll im Hören der Mose-Tora lernen, wie eine erneuerte Bundesbeziehung zu JHWH in der Befolgung seiner Verpflichtungen eine gedeihliche und segensreiche Zukunft bringen kann, die durch JHWHs Gabe des Landes eröffnet wird. - Die dritte und letzte Vorbemerkung in Dtn 4,5-8 betrifft die unvergleichliche Weisheit der Tora-Lehre selbst, die Mose vorträgt. 2.2 Die Weisheit der Tora (Dtn 4,5 f.) im von 4,5-8

Argumentationszusammenhang

So wie Dtn 4,2 den quasi vertragsrechtlichen Status der Tora-Lehre und die hochgradige Verbindlichkeit ihres Wortlautes darlegt, so stellt der dritte Abschnitt der Vorbemerkungen in Dtn 4,5 die besondere Funktion und Zielrichtung dieser Lehre klar und hebt in V. 6-8 ihre unvergleichliche 19

Vgl. oben Anm. 17.

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Kapitel III: Singulärgestalt

der deuteronomistischen

Tora

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Weisheit hervor. | Die komplexe Syntax des Abschnittes geht aus der folgenden Graphik hervor. • ' • a u / D i t r p n D 3 n x 'rnD 1 ? n * n (5) 'n'Vx n i n ' ' J i s " i t t f i a — 1 jnxn'mpn'j:) mi^yV-^ : n n a ; i ' 7 hdu; ü ' x a a n « —1 ' • r i ' ß / s n a r n o u n (6) D'Dpn tnrirni «in '3 n ' p a n D ' p n n - V p rix j i p p u r n a ; « — [ npxi P : n t n ^ m n 'Tin p ' n j i 03n~as> pi —1' ' m i ' l i " ' P ' 3 (7) r ^ « D'3~ij7 Q ' n V x i - - i « — 1 •.v^vt irn*7X m n ' 3 P ^ H l '11 'Dl (8) n p ' ^ r s • ' a s a ' Q i D ' p n V^—iiy« — 1 * nx'Tn r n i n n *733 P :Di»n n p ' j p 1 ? jn'j 'D'JK —' Im einzelnen macht Dtn 4,5 mit dem Aufmerksamkeitsmarker n»n und mit dem performativen Perfekt von 'mD*? zunächst auf die spezifische Kenntnisvermittlung 2 0 des toraförmigen Lehr-Vollzugs aufmerksam: Siehe, ich lehre euch ( j e t z t ) Verordnungen und Rechtsbestimmungen, ...

Der folgende Attributsatz mit Ursprung dieser Lehre:

verweist dann auf die Quelle und den

... so wie JHWH, mein Gott, mir geboten hatte, ...

Zu beachten ist die Vergleichspartikel 3 im Attributsatz. Es sind nicht allein die Gebotsinhalte, die JHWH geboten hatte. Vielmehr bezieht sich das n t f i o auch, ja sogar vorrangig auf den Lehrvollzug selbst, d.h. auf die Art und Weise, wie Mose jetzt „die Verordnungen und Rechtsbestimmungen" lehrt, und zwar - wie wir noch sehen werden - in Analogie zu den Umständen, unter denen JHWH sie damals dem Mose am Horeb vermittelt hatte. Daran wird deutlich: Es geht nicht nur um die Gebotsinhalte als solche, sondern mindestens ebensosehr, wenn nicht sogar primär um die Vermittlungsformen und um die Art und Weise, wie die Tora-Lehre in der

20

WILLI

Zu diesem Lehrbegriff im engeren Sinne und im Unterschied zur Tora-Lehre vgl. 1995, 96-99 und oben S. 156.

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6. Die Weisheit der Tora

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direkten Rede des Mose performativ vollzogen wird. Die weitere Näherbestimmung in V. 5b unterstreicht diesen Akzent:| ... damit ihr dementsprechend ( p ) handelt mitten im Lande, in das ihr hineingeht, um es in Besitz zu nehmen.

Auch in diesem Satz sind nicht die Verordnungen und Rechtsbestimmungen im einzelnen die direkten Objekte des erwarteten Handelns. Es heißt nicht, „damit ihr diese Gebote verwirklicht". Vielmehr geht es auch hier darum, sich im Lande insgesamt so zu verhalten, wie JHWH es geboten hatte. Weit über den bloßen Inhalt der Gebote und ihre Erfüllung hinaus heißt das, diese Gebote auch künftig als Tora zu lehren, wie es Mose jetzt auf JHWHs Anordnung hin in Moab vorbildlich tut und als umfassende, lebensorientierende Verhaltensweise einführt. Im Sinne dieser Akzentsetzung formuliert dann auch die abschließende Ermahnung in Dtn 4,6aa absolut, ohne den spezifischen Lehr- und Lernstoff - nicht einmal mit einem Suffix! - zu nennen: ... und ihr sollt (aufmerksam) bewahren und (lebenspraktisch) handeln.

Diese Beobachtungen bestätigen sich noch klarer an der Begründung, die sich mit ' 3 in Dtn 4,6aß.b-8 an diese Ermahnung anschließt. Denn auch das selbständige Pronomen der 3.pers. fem. sg. greift keineswegs nur oder gar direkt auf die in V. 5 genannten Verordnungen und Rechtsbestimmungen zurück. Dafür wäre das Pronomen der 3. mask. plur. zu erwarten ('D nan). Vielmehr ist das 3.fem.sing. Pronomen Xin im Sinne eines Neutrums zu verstehen, das die ganze Redesequenz von V. 5 mit der abrundenden Ermahnung in V. 6 a a pronominal aufgreift: Denn das ist eure Weisheit und eure Einsichtsfähigkeit in den Augen der Völker.

D.h. es geht dabei viel umfassender auch um die Art und Weise, wie Mose hier und jetzt die Gebote gemäß den Anweisungen JHWHs lehrt. Dieses Wie des Lehrens ebenso wie die entsprechenden Lernweisen im ToraVollzug sind die herausragenden Kompetenzen, die Israel von den anderen Völkern substantiell unterscheiden. Darin besteht dann auch die besondere Weisheit und Einsichtsfähigkeit der Angesprochenen. Aus dem Textzusammenhang von Dtn 4,5 f. geht somit klar hervor, dass sich die Weisheit und Einsichtsfahigkeit des JHWH-Volkes nicht auf den Besitz von besonders klugen Rechtsverordnungen und einer großartigen Gesellschaftsverfassung allein beschränkt, die mit den Begriffen Q'pn und D'astfD zwar zusammengefasst, aber ohnehin erst ab Dtn 12 im einzelnen entfaltet werden. Vielmehr bezieht sich V. 6 auf das Ganze des aktuellen Lehrgeschehens, auf das Mose mit n m in V. 5 aufmerksam macht und in welchem die lehrhafte Vermittlung der Verordnungen und Rechtsbestimmungen nur ein Teil ist.

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Kapitel III: Singulärgestalt

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Darüberhinaus ist auch mit dem Begriff der riDJn primär eine handwerklich praktische Weisheit gemeint im Sinne einer praktischen Kompetenz, mit Dingen sinnvoll umzugehen und eine Sache in ihrer Handhabung zu beherrschen. Das Gleiche gilt für die n j ' 3 . Auch damit wird primär das Unterscheidungsvermögen | bezeichnet (|'3) und d.h. die Kompetenz, in lebenspraktischen Erfahrungszusammenhängen klug und differenziert entscheiden zu können. Was also Israel im Urteil der Völker ganz besonders auszeichnen wird, ist nicht allein die innere Logik und Stringenz seiner Gesellschaftsverfassung, sondern vor allem die Art und Weise, wie Mose sie in Moab dem Volke vorbildhaft lehrt, um diese Gebote so zu verinnerlichen, dass sie als Tora im Sinne von Jer 31,33 Israel ins Herz geschrieben und verwirklicht werden. Pointiert könnte man sagen, dass es hier primär um die praktische Weisheit der Tora als performative Lehre geht, wie Mose sie vor den Angesprochenen entfaltet, damit sie von Generation zu Generation lebendig verinnerlicht und tätig bewahrt wird. Das ist die besondere Weisheit und Einsichtsfahigkeit des Gottes-Volkes, das die anderen Völker geradezu neidvoll bestaunen werden. 2.3 Die Weisheit der Tora im Urteil der Völker (Dtn 4,7 f.) Gottesnähe und Gemeinschaftstreue

praktizierte

Die Verse 7 f. unterstreichen das gewonnene Bild und runden es ab. Die Bewunderung der Völker für das Volk JHWHs, das durch die Gabe der Tora und ihre Verinnerlichung besonders weise und einsichtsfahig ist, wird in V. 7 f. mit '3 begründet. Zwei grundlegende Aspekte dieser Weisheit zeichnen die herausragende Größe des Gottesvolkes aus. Zum einen ist es in V. 7 die besondere Nähe Gottes zu und seine Vertrautheit mit seinem Volk, die in der Gabe der Tora eröffnet und im Lehren und Lernen der Gebote vermittelt wird. Denn welches große Volk gibt es, das Götter hätte, die ihm (so) nahe sind, wie JHWH unser Gott in allem, worin wir ihn anrufen.

Diese Gottesnähe und die lebenspraktische Beziehung zu ihm in allen Erfahrungsbereichen der alltäglichen Welt bilden in der Tat sowohl die theologische Grundlage der Tora, die sich im Lehrvortrag performativ vollzieht, als auch ihr oberstes Ziel. Denn im Lernziel der m n ' nx~P, d.h. im praktizierten Respekt gegenüber JHWH in allen Lebensvollzügen kulminiert die ganze Tora-Lehre bereits von ihrem Ursprung her am Horeb selbst, wie aus Dtn 4,10 hervorgeht. Es ist das toragemäße Lehren und Lernen und die lebenspraktische Verinnerlichung der Tora, in der die einzigartige Nähe und Beziehung zu Gott ihre performative Gestalt gewinnt und existentiell gelebt wird. Sie macht die besondere Größe des Gottesvolkes aus.

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Der zweite Aspekt wird abschließend in V. 8 genannt. Es ist die Gesellschaftsverfassung mit ihren Verordnungen und Rechtsbestimmungen, die in einzigartiger Weise als „gerecht" gelten können. 21 Und welches große Volk gibt es, das (so) gerechte Verordnungen und Rechtsbestimmungen hätte wie diese ganze Tora, die ich euch heute vorlege.

Dabei wird mit „gerecht" ( P ' i s ) nicht in erster Linie die hohe rechtssystematische oder sozialrechtliche Qualität dieser Verfassung als solche hervorgehoben. Vielmehr zeichnet das Adjektiv „gerecht" ihre besondere gemeinschaftsförderliche Wirkung in der Praxis aus, d.h. die Gemeinschaftstreue und gesellschaftliche Solidarität, die sie stiftet, und die soziale Gerechtigkeit, die sie schafft. Denn mit den „Verordnungen und Rechtsbestimmungen" wird zwar die Substanz dieser Gesellschaftsverfassungen benannt, wie sie auch andere Völker kennen. Doch ist es das Besondere Israels, dass diese Verfassung als Tora gelehrt, gelernt und verinnerlicht wird, wie sie im Lehrdiskurs von Mose mustergültig zur Entfaltung kommt. Das aber schließt auch den ersten Aspekt der dtr. Tora-Weisheit mit ein, der in V. 7 hervorgehoben wird, nämlich die außerordentliche Beziehungs-Nähe zu Gott, die sich in seiner besonderen Zuwendung zu seinem Volk durch die Gabe sowohl des Landes als auch einer besonderen Gesellschaftsverfassung manifestiert (vgl. bes. Dtn 5,31). Die ganze Weisheit der Mose-Tora besteht somit darin, dass sie einerseits Weisung für das Leben im künftigen Lande ist und in Gestalt der Verordnungen und Rechtsbestimmungen den Orientierungsrahmen absteckt, in welchem ein gedeihliches Zusammenleben in Solidarität und sozialen Vertrauensbeziehungen möglich wird. Andererseits ist diese Tora zugleich das Medium, in welchem die Bundesbeziehung zwischen JHWH und seinem Volk ihre performative Gestalt annimmt und als Respekt-Beziehung im Gegenüber zum Geber des Landes gelebt und praktiziert wird. Im Lehren und Lernen, im Erinnern und Vergegenwärtigen der Tora durchdringt sich als Effekt und Wirkung somit beides: die Lebensorientierung einerseits, die daraus für ein gedeihliches Zusammenleben in geschwisterlicher Solidarität resultiert, und der praktizierte Respekt gegenüber Gott andererseits, der im Effekt alle innerweltlichen Loyalitäten gegenüber Menschen und Mächten relativiert. Darin besteht die performative Weisheit der Tora, die Israel im Urteil der anderen Völker auszeichnen soll. |

21

Die Qualifizierung der Verordnungen (QV n ) und Rechtsbestimmungen (O'öSliD) als „gerecht" (np'TS) in Dtn 4,8 ist vom Konkordanzbefund her singulär in der ganzen hebräischen Bibel.

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Kapitel III: Singulärgestalt der deuteronomistischen

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3. Die performative Weisheit der Mose-Tora im Ganzen des Lehrvollzugs von Dtn 5-30 3.1 Die Vergegenwärtigung der Horeb-Begegnung mit JHWH in Dtn 4,914 als Modell für den aktuellen Lehrvollzug ab Dtn 5,1 f f . Mit Dtn 4,9 ff. steigt Mose im Anschluss an die Eröffnung in 1-8 unmittelbar in den Lehrvollzug ein und richtet mit pH („nur") die Aufmerksamkeit auf das Spezifische des Tora-Vollzugs. Die einzigartige Weisheit und Einsichtsfahigkeit, die aus dem Lehren und Lernen der Tora hervorgeht, beruht grundlegend auf dem Erinnern und Vergegenwärtigen dessen, was die Augenzeugen in der Urbegegnung mit JHWH am Horeb ihrerseits selbst erfahren hatten. Es sind die maßgebenden Beziehungserfahrungen, die Israel mit seinem Gott JHWH gemacht hat (4,9 f.): 22 Nur, hüte dich und nimm dich sehr in Acht, dass du nicht die Dinge vergisst, die deine Augen gesehen haben, und dass sie dir nicht aus deinem Herzen entschwinden während deiner ganzen Lebenszeit. Und du sollst sie (auch) deinen Söhnen und deinen Enkeln zur Kenntnis bringen: (10) Es ist der Tag, an welchem du vor JHWH, deinem Gott, gestanden hattest am Horeb, als JHWH zu mir sprach: ....

Damit rückt Mose diese Ur- Begegnung mit JHWH in den Mittelpunkt seiner Rede und erhebt sie zugleich zum Maßstab und Modell, wie im Heute von Moab am Scheitelpunkt zur Land-In-Besitznahme der JHWHBund im Blick auf die Zukunft im Lande erneuert wird. JHWHs Auftrag an Mose, der sich in V. 10aa2.ß.b anschließt, nennt den konstitutiven Beziehungsrahmen zwischen Gott und Volk, in welchem die Gebote vermittelt und wozu sie durch immer neues Erinnern und Vergegenwärtigen über Generationen gelernt werden sollen: Versammle mir das Volk, so dass ich ihnen meine Worte zu Gehör bringen kann, die sie lernen sollen, um mich respektierlich zu fürchten die ganze Zeit, die sie auf dem Erdboden leben; und auch ihre Söhne sollen sie (darüber) belehren.

Vier grundlegende Aspekte sind an diesem Urmodell der Gebotsvermittlung, wie JHWH es selbst initiiert und am Horeb offenbart hatte, wichtig: a) Die Gebotsvermittlung ist ein gottesdienstlicher Akt, zu dem Mose das Volk zusammenrufen und versammeln soll. Das Selbstverständnis des Volkes als JHWH-Gemeinde (vgl. Dtn 23,2) ist somit eine Ur-Setzung vom Horeb her. b) In der | Verkündigung seiner Gebote wird Gott selbst präsent mit dem Ziel, dass diese Gebote gelernt und verinnerlicht werden. 22 Mit dem Relativsatz „die deine Augen gesehen haben" (T3'5> INVIBm) greift Mose das Lehr-Prinzip von 4,3 auf, das die historische Vergangenheit als selbst erlebte Erinnerung vergegenwärtigt, um ein Höchstmaß an identifikatorischer Aktualität dieser Vergangenheit zu erreichen.

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6. Die Weisheil der Tora

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Damit soll jedoch nicht eine göttlich legitimierte Gesellschaftsethik oder moral etabliert werden. Vielmehr ist dieses Lernen und Verwirklichen der Gebote selbst die wesentliche Form, in der die Beziehung zu Gott zum Ausdruck kommt, c) Denn in der Befolgung der Gebote wird der Respekt gegenüber JHWH bezeugt und damit die Gottes-„Furcht" lebenslang als ausschließliche Loyalität ihm gegenüber im Alltag praktiziert, d) Deshalb soll dieses Lernen der Gottesfurcht jeweils auch an die nächste Generation weitergegeben werden, wie es dann in Dtn 6,6-9 aktuell geboten und nach Dtn 31,12 f. anhand der schriftlich niedergelegten Tora (V. 9) für die Zukunft verordnet wird (vgl. auch 17,19). - In V. 11-13 spricht Mose dann das in Moab versammelte Publikum als Augenzeugen an und erinnert es summarisch daran, wie dieser Auftrag damals am Horeb zur Ausführung kam: a) Ihr versammeltet euch unterhalb des Berges, der wolkenumhüllt im Feuer stand (V. 11). b) Aus diesem Feuer ließ sich JHWHs Stimme vernehmen, die direkt zu euch redete (V. 12). c) Ich, Mose, vermittelte euch dann JHWHs Bundesverpflichtung (inHD) in Gestalt des Zehn-Wortes und schrieb diesen Dekalog auf die beiden Tafeln (V. 13). Indem Mose diesen göttlichen Auftrag als erstes Essential in seinem Lehrdiskurs in Erinnerung ruft, bildet es somit auch die Grundlage des ganzen Lehr- und Lernkonzepts der Gebotsvermittlung in ihrer gottesdienstlichen Dimension der Respekt-Bezeugung. Das heißt, das Erinnern der Urbegegnung mit JHWH am Horeb und die Vergegenwärtigung der Weisungen, die Gott selbst damals erteilt hatte, gehören konstitutiv zum Lehren und Lernen der Gebote Gottes und damit zum Vollzug der ToraLehre. Das geht insbesondere aus dem weiteren Auftrag JHWHs an Mose hervor, von dem abschließend V. 14 berichtet: Und mir gab JHWH zu jener Zeit den Auftrag, euch die Verordnungen (O'pn) und Rechtsbestimmungen (n'üDBQ) zu lehren, um sie zu verwirklichen im Lande, in das ihr im Begriff steht hinüberzugehen, um es in Besitz zu nehmen.

Eben damit, mit dieser Lehre der Gebote, sehen wir Mose zwar bereits ab Dtn 4,1 ff. im Redevollzug beschäftigt, d.h. was damals am Horeb geboten war, vollzieht sich jetzt performativ im aktuellen Tora-Diskurs im Lande Moab (1,5) am Scheitelpunkt vor dem Übertritt über den Jordan und der In-Besitznahme des Landes. 23 Doch im einzelnen und in extenso kommt der Lehrauftrag vom Horeb erst mit Dtn 5,1 ff. zur Entfaltung, erneut eingeleitet mit einem Höraufruf und | mit dem Hinweis auf die Verordnun23

Man beachte in 4,14 die Fokussierung der Zukunft auf den Übertritt ins Land (mit 135>) wie in Dtn 9,1, wo dieser Ubertritt und sein Gelingen in 1 ff. geschichtstheologisch erörtert wird, indem Mose u.a. ab 9,7 ff. auf die äußerst problematischen Beziehungserfahrungen zwischen JHWH und Volk schon am Horeb (9,8-21) und dann auch in der Zeit der Wüstenwanderung (V. 22 f.) zurückgreift.

170

Kapitel III: Singulärgestalt der deuteronomistischen

Tora

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gen (ü'pn) und Rechtsbestimmungen (a'oaitfD), die Mose nunmehr zu lehren beginnt. 24 3.2 Die performative Dtn 5-30

Aktualisierung

des Horeb-Bundes

im Lehrvollzug

von

Allerdings ist die Aktualisierung der Horeb-Ereignisse im Fortgang der Rede in Dtn 5-30 ihrerseits sehr viel komplexer, als dass Mose nun geradewegs auf das Lehren der Gebote zusteuern würde, die ja erst in Dtn 1226 im einzelnen vermittelt werden. 25 Was Mose im Hauptteil seiner Rede in Dtn 5-30 in Szene setzt, ist insgesamt eine Aktualisierung des HorebBundes. Sie orientiert sich konsequent am Ur-Modell der JHWH-Begegnung, das in Dtn 4,10 und 11-14 erinnert und nun in Moab in Analogie zum damaligen Bundesschluss performativ entfaltet wird. Neben der Bundesbeziehung zu JHWH steht allerdings ein zweites Grundthema, das hier nur angedeutet werden kann: die Land-In-Besitznahme und der gleichursprüngliche Auftrag dazu am Horeb (vgl. Dtn 1,6-8 und 10,11, vgl. 1,20 f. und 2,24 f.). Dabei bilden sowohl das anfängliche Scheitern an diesem Auftrag in Dtn 1,19-46 und die Aufenthalte in den Steppengebieten von Edom und Moab (Dtn 2,1-15) als auch das spätere Gelingen der Land-In-Besitznahme im Ostjordanland (Dtn 2,16 ff.) bis zur Ankunft an dem Jordan in Bet Pegor (3,29) auf der einen Seite, zusammen mit den Erörterungen über das bevorstehende Gelingen der Land-In-Besitznahme J e n s e i t s des Jordans" im Westen (Dtn 9,110,11) andererseits, einen eigenen geschichtstheologischen Parallel-Strang im Tora-Diskurs. 2 6 Dieser Strang ist komplementär mit der Tora-Lehre der Gebote und der Erneuerung der Bundesbeziehung in Moab in den übrigen Kapiteln der Mose-Rede auf zweifache Weise verzahnt. Zum einen verortet sich der Lehrvortrag,| der in 4,1 mit der Lehreröffnung beginnt und auf die performative Bundeserneuerung in 27,9 f. und 29,9-14 zusteuert, selbst in Dtn 3,29 in Bet Pegor im Lande Moab. Er positioniert sich damit idealtypisch auf der Schwelle zwischen dem Ostjordanland, in welchem die Land-InBesitznahme bereits erfolgreich war, und dem Westjordanland, für das die Land-In-Be24 Weite Teile von Dtn 4 sind zumindest ab 4,25 ff. einer nach-dtr. Überformung der dtr. Mose-Tora zuzuschreiben. Aber auch 4,12b. 15 ff. (vgl. 5,8.9a) gehören zu dieser späteren Nachinterpretation. Als Abschluss der dtr. Horeb-Reminiszenz von 4,9-14 lässt sich allenfalls die Abschlussmahnung in 4,23a mit der Begründung in V. 24 denken (vgl. 5,9b und 6,12-15); vgl. dazu auch die Überlegungen und Hinweise in HARDMEIER, 2000a, 66 Anm. 16 (vgl. III.5.) 25 Vgl. die rededeiktische Überschrift mit n1?« in 12,1. Sie steht in Parallele zur Eröffnung des ersten Lehrabschnittes in 6,1, der das Grundgebot der rechten JHWH-Beziehung zum Gegenstand hat und die beziehungstheologischen Voraussetzungen und Grundlagen der Gebotsverwirklichung entfaltet. 26 Vgl. auch den parallelen Einsatz in 9,1 mit dem Höraufruf t>ini2r pdw wie in 5,1. Er zeigt die Gleichrangigkeit mit der Gebots- und Beziehungsthematik an, die ab Kap. 5 aktuell entfaltet wird. Zudem greift Mose auch in diesem zweiten Themenkomplex argumentativ auf maßgebende, vor allem negative Erinnerungen an das Horebgeschehen (9,821 und 10,1-5.10 f.) und an die Zeit der Wüstenwanderung (9,22 f.) zurück, die z.T. bereits am Rede-Anfang in 1,6-3,29 eingebracht werden; vgl. dazu HARDMEIER 2005b, (vgl. III.4.). |

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6. Die Weisheit der Tora

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sitznahme und ihr Gelingen noch ausstehen, was insbesondere in Dtn 9,1-10,11 erörtert und dann im Josuabuch als Erfolg erzählt wird. Zum andern aber macht bereits die Lehreröffnung in Dtn 4,5 - wie wir gesehen haben - deutlich, dass die Gebote, die im Toravortrag des Mose ab Dtn 4 im Zentrum stehen und die dann in Dtn 12-26 im einzelnen entfaltet werden, ganz und gar auf das künftige Leben im Lande jenseits des Jordans ausgerichtet sind. Besonders die sog. historisierenden Gebotseinleitungen in Dtn 6,10; 7,1; 8,7; 11,29; 17,14; 18,9 und 26,1 unterstreichen diese Verzahnung.

Die performative Aktualisierung des Horeb-Bundes im Hauptteil von Dtn 5-30 hat zwei wesentliche Aspekte. 3.2.1 In Analogie zum Basis-Auftrag am Horeb, das Volk vor JHWH zu versammeln (4,10), konstituiert Mose mit Dtn 5,2 f. das angesprochene Publikum epideiktisch als gottesdienstliche Gemeinde, die jetzt in Moab vor JHWH steht (vgl. 23,2), um den Bund vom Horeb erneut zu schließen, der von den Vätern verraten wurde. Insbesondere der Rede-Einsatz in Dtn 5,2 f. macht deutlich, wie sehr die ganze Belehrung über die Bundesbeziehung mit JHWH in Dtn 5-26 auf ihren performativen Vollzug in 27,9 f. und 29,9-14 hin angelegt ist. Denn als erstes hebt Mose nach dem erneuten Höraufruf (5,1) in V. 2 f. emphatisch hervor, worum es im Ganzen der Tora-Rede geht, während die Verordnungen (D'pn) und Rechtsbestimmungen (D'03!VD, lact2) dann erst ab Dtn 12 im einzelnen vermittelt werden: JHWH, unser Gott, hat mit uns einen Bund geschlossen am Horeb. Nicht mit unseren Vätern hat JHWH diesen Bund geschlossen, vielmehr mit uns, wir, diese hier, heute, die wir alle am Leben sind (5,2 f.).

Diese Emphase der Bundeserneuerung in der Redegegenwart in V. 3b hebt in 2.3a von der dunklen Folie des gescheiterten Bundes mit den Vätern am Horeb ab, was bereits in Dtn 4,3 f. als Kontrast von Einst und Jetzt vorbereitet wird. Es ist nämlich kein Zufall, dass die emphatische Formulierung „heute seid ihr/ sind wir alle am Leben" (Dl'n + + Suff. + ü " n ) im ganzen Deuteronomium und in der hebräischen Bibel überhaupt nur in Dtn 4,4b und 5,3b in dieser Nachdrücklichkeit vorkommt. Diese exklusive Korrespondenz in der Emphase unterstreicht, dass und wie Mose das versammelte Publikum bereits in der Lehreröffnung (4,3) so anspricht, wie er die Versammelten dann im Hauptteil (5,2 f.) performativ als JHWH-Gemeinde konstituiert, die die Bundesverpflichtung vom Horeb mit JHWH erneut eingehen soll. Denn es sind die rede-immanenten Adressaten „hier und jetzt" im Lande Moab, auf deren neue Vertrauensbeziehung zu JHWH einerseits alles ankommt, die aber andererseits zugleich als Augenzeugen des Versagens der Väter in Anspruch genommen werden j (4,3), auch wenn sie überlebt haben und als zweite Generation dem Verderben entronnen sind (vgl. Dtn 2,16). 2 7 Diese geschichtserfahrene Generation der Augenzeugen ist somit dazu prädestiniert, aus der Vergangenheit zu lernen. Und auf ihr liegt die rede-immanente Erwartung

27 Vgl. zu dieser zentralen Epochenwende in Dtn 2,16 im Geschichtsrückblick von Dtn 1,6-3,29 und dazu HARDMEIER 2005b (vgl. III.4.) bei Anm. 26 und 27.

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Kapitel III: Singulärgestalt der deuteronomistischen

Tora

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im Tora-Vollzug, dass sie jetzt auf diesem Erfahrungshintergrund lernen können, wie eine erneuerte Bundesbeziehung zu JHWH in der Befolgung seiner Verpflichtungen eine gedeihliche und segensreiche Zukunft bringen kann, die durch JHWHs Gabe des Landes eröffnet wird.

Dabei wird zunächst die Erinnerung an die damalige Vermittlung der Gebote (4,13) in einem erneuten Rückgriff auf die Horeb-Ereignisse in 5,4-22 präzisiert. In Analogie zu 4,13 und gemäß dem Auftrag von 4,14 vermittelt Mose in Dtn 6 ff. und 12 ff. dann aktuell die Bundes-Instruktionen und Konditionen, 2 8 so dass die Neuverbindung mit JHWH in 27,9 f. in einem quasi gottesdienstlichen Akt 2 9 performativ und in 29,9-14 ritual-symbolisch vollzogen werden kann. In 27,9 heißt es: Sei still und höre Israel! Jetzt, an diesem heutigen Tag, ereignet es sich, dass du zum Volk für JHWH, deinen Gott wirst.

Und der rituelle Akt kommt in 29,9-11 zur Sprache: Ihr steht jetzt, ihr alle, vor JHWH, euerem Gott, .... damit du eintrittst in den Bund JHWHs, deines Gottes, und in seine eidlichen Verpflichtungen, die JHWH, dein Gott mit dir jetzt beschließt.

Zudem betont Dtn 29,13 f. in Korrespondenz zu Dtn 5,3, dass dieser Bund auch mit den künftigen Generationen geschlossen werden soll, was dann durch die Verschriftung in 31,9 und die Anweisung in 31,11-13 gewährleistet wird. 3.2.2 Der Fortgang der Rede in Dtn 5,4 wendet sich jedoch der Aktualisierung und Analogisierung der Horeb-Ereignisse nicht nur zur Präzisierung der damaligen Gebots-Vermittlung (5,5-22) zu, wenn Mose weiter hervorhebt: Angesicht in Angesicht redete JHWH mit euch am Berg mitten aus dem Feuer.

Die Anknüpfung an dieses einstige Begegnungsdetail dient in 5,23 ff. im Anschluss an 5,4.5b auch dazu, Moses eigene Rolle und die näheren Umstände zu | explizieren, warum er jetzt in Moab dem Volk jene Verordnungen und Gesetzesbestimmungen zu vermitteln beginnt, die ihm nach Dtn 4,14 bereits am Horeb offenbart worden sind. Zwar erfährt das versammelte Publikum in diesem erneuten Rückbezug zunächst im Detail, wie 28

Vgl. die Parallelität der rededeiktischen Überschriften mit riNT in 6,1 und 12,1, wobei es ab Dtn 6-11 zunächst um die niXD geht, d.h. um die Bundes-Instruktion, in der die Grundlagen der Loyalitätsbeziehung zwischen JHWH und Volk gelegt werden. Demgegenüber steht ab Dtn 12 die Vermittlung der Gebote im Zentrum, die die Beziehungsund Verhaltens-Konditionen des JHWH-Volkes im einzelnen regeln. 29 Darauf lässt der Ruf zum Schweigen schließen (27,9), der die Gottes-Gegenwart im Kult und die Epiphanie des unsichtbaren Gottes beschwört (vgl. dazu auch H A R D M E I E R 2000a, 74 f. Anm. 41 [vgl. III.5.]).

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6. Die Weisheit der Tora

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und was Mose damals gemäß Dtn 4,13a der Horeb-Gemeinde als Bundesverpflichtung JHWHs vorgelegt hatte: es ist der Dekalog in seinem Wortlaut in Dtn 5,6-21, d.h. JHWHs J V Q als eine Art von Verpflichtungsurkunde, die als Tafel-Gesetz ja auch aufgeschrieben wurde. Wichtiger für den aktuellen Lehrvollzug sind jedoch die näheren Umstände, unter denen Mose auch die ausführlicheren Gebote schon damals mitgeteilt wurden, um sie nun im Heute von Moab zu lehren. Mit einer Zeitmarke herausgehoben, werden diese Umstände in 5,23-31 näher entfaltet. Es war das brennende Feuer, in welchem sich JHWH dem Volke direkt mitgeteilt hatte, das auf Dauer jedoch nicht auszuhalten war (5,23-27, vgl. V. 5b). Deshalb wurde Mose delegiert, allein weiter vor JHWH zu stehen, um die ausführlicheren Verordnungen und Gesetzesbestimmungen zu empfangen, die er im Blick auf die Landgabe zu lehren hatte (5,28-31). Organisch und rhetorisch sehr elegant greift dann 5,32 f. die aktuelle Anfangsmahnung von 5,1 wieder auf, 3 0 diese Gebote mit ihren beziehungstheologischen Voraussetzungen zu hören und zu bewahren, die Mose dann mit der Redeüberschrift von Dtn 6,1 konkret zu lehren anfangt.

Somit steht auch dieser aktuelle Lehrvollzug in Analogie zur Vermittlung der damaligen Bundesverpflichtung am Horeb in Gestalt des Dekalogs. Ferner macht die Rückschau in Dtn 5 den Ursprung der aktuellen Gebotsvermittlung und ihre beziehungstheologischen Grundlagen schon vom Horeb her deutlich und unterstreicht auf diese Weise den Maßstab-Charakter der Horeb-Ereignisse für die analog sich vollziehende Bundeserneuerung in Moab. Nicht zuletzt wird damit auch die besondere Mittler-Rolle des Mose - sowohl seine Autorität als auch seine Legitimation - expliziert. 31 In redepragmatischer Hinsicht und im Blick auf die Vollzugsformen des Tora-Diskurses lässt sich auf diesem Hintergrund auch die Funktion der Erinnerungs|sequenz von Dtn 5,4-31 näher bestimmen. Diese Horeb-Reminiszenz führt - wie gezeigt - lediglich Erinnerungsdetails aus dem Summarium von Dtn 4,11-14 weiter aus, die jedoch im situationsdeiktisch beschworenen Aktual-Kontext von 5,2 f. nunmehr im Blick auf ihre Gegen30 Vgl. die phraseologische Übereinstimmung in der Formulierung des entscheidenden Lehr- und Lernziels (niiyp*? omDItfl) in 5,1 bß und 32aa, die nicht nur die Wiederaufnahme und Fortführung der von 4,1 her wiederholten Lehreröffnung in 5,32 belegt, sondern zugleich die generelle Zielsetzung der Tora-Lehre von 4,6aot| wörtlich aufgreift, die dort jedoch - wie wir oben 2.2 gesehen haben - ebenso über die spezielle Gebotsvermittlung hinausgeht wie erneut in 5,32. Ganz analog zu 4,5 f. wird auch in 5,32 das "1BX3 m s als Bezugsgröße dessen genannt, was im Sinne der Weisheit der Tora bewahrt und tätig umgesetzt werden soll und somit mehr umfasst als die Gebotsbefolgung im einzelnen, wie es 5,1 bß nahelegt (vgl. das Suffix). 31

Mose war nach Dtn 5,31 schließlich in der Tat der einzige, der - im Unterschied zum Volk, das die Gottes-Gegenwart im Feuer nicht mehr aushielt (5,25 f.) - weiter „Angesicht in Angesicht" vor Gott stand (vgl. 5,4 und 31) und deshalb gemäß Dtn 34,10 der schlechthin unvergleichliche Prophet war, den JHWH „Angesicht in Angesicht" anerkannte.

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Kapitel III: Singulärgestalt

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wartsrelevanz erinnert und entfaltet werden. Mose parallelisiert im Vollzug der Tora-Rede die in 5,3 epideiktisch konstituierte Moab-Versammlung sehr präzise mit der maßgebenden Urversammlung am Horeb, indem er diese Erinnerung als Orientierungsgröße und als maßgebender Bezugshorizont geschichtlichen Erfahrungslernens in den gegenwarts- und zukunftsbezogenen Lehrdiskurs einbringt. Dabei macht die Vergegenwärtigung der Horeb-Ereignisse (5,4-22) das heutige Tun (5,2 f.) transparent und verankert es zugleich im Erfahrungsraum der eigenen Geschichte mit Gott. Auf ähnliche Weise schafft die vergegenwärtigte Rollenproblematik, die sich am Horeb um die Vermittlung der Worte JHWHs aufgetan hatte (5,23-31), die nötige Plausibilität, warum und mit welcher Legitimation Mose hier und jetzt in Moab damit beginnt, zunächst den grundlegenden Rahmen der JHWH-Beziehung (6,1 ff.) und dann diese Gebote im einzelnen (12,1 ff.) als segensreichen Lebensweg zu lehren (5,32 f.). Dieses Erinnern im Lehrvollzug hat somit die Funktion der Gegenwartsorientierung. Dabei wird in Dtn 5 mitvollziehbar vorgeführt, wie die rechte Beziehung zu JHWH und die Vermittlung seiner Gebote im Rückgriff auf die Geschichte gelehrt und wie diese Loyalitätsbeziehung in der Vergegenwärtigung ihrer Urspungsgeschichte von Generation zu Generation neu gelernt werden kann. Im Erinnern geschichtlicher Erfahrung formiert und strukturiert sich performativ die Gegenwart in Analogie zur erinnerten Vergangenheit. Das Erinnern der Horeb-Ereignisse als Ur- und Grundmodell der JHWH-Beziehung gewinnt damit in der Mose-Tora eine maßgebende j a formative Funktion für das Lehren und Lernen der JHWHBeziehung in Gegenwart und Zukunft, zu der zentral die Vermittlung der Gebote und ihre tätige Aneignung durch jede neue Generation gehört. 32 Deshalb besteht die performative Weisheit dieser Mose-Tora insbesondere darin, dass sie als Redevollzug das Lehren und Lernen selbst vor Augen führt und dazu im Nachvollzug anleitet. Es handelt sich dabei um eine ganz eigentümliche Erinnerungspädagogik und performative Erinnerungskultur, die m.W. in kulturgeschichtlicher Hinsicht ebenso singulär wie analogielos ist und sich im biblischen Schrifttum als performative Mündlichkeit niedergeschlagen hat, um immer neu gehört und aktualisierend vollzogen zu werden (vgl. Dtn 31,10-13). |

32 Auch der Lehrdiskurs selbst gibt besonders in Dtn 6,6-9 und 20-25 seinerseits Anweisungen, wie die maßgebenden Horeb-Erinnerungen im alltäglichen Lebensvollzug bewusst gehalten und innerhalb der Familien an die nächste Generation weitergegeben werden.

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6. Die Weisheit der Tora

3.3 Die Beziehungsmetaphorik des Vasallenvertrags theopolitischen Bundesschlusses

im Vollzug des

Wie mehrfach festgestellt, beginnt die eigentliche Lehre der Bundes-Konditionen in Gestalt der Einzelgebote erst in Dtn 12, obschon sie von 4,1 an immer wieder angesprochen und in Aussicht gestellt wird (vgl. bes. 4,5; 5,1.31; 6,1 und 7,11). Jedoch erwähnt schon Dtn 4,13a den Dekalog insofern lediglich als Teilaspekt von JHWHs n m , als diese r i n n ja nicht nur die Vertragsurkunde als Katalog von Forderungen meinen kann. Vielmehr schließt der Begriff auch die quasi vertragliche Beziehungsqualität zwischen JHWH und Volk mit ein und umfasst somit nicht nur die Verpflichtung auf die Gebote und ihre Verwirklichung, sondern auch das Wechselverhältnis und die Vertragsbeziehung insgesamt, die im Vollzug der n ' - a ihre spezifische Gestalt annimmt. Diesem konstitutiven Beziehungs-Aspekt wendet sich insbesondere die msD ab Dtn 6,1 ff. zu, die im wesentlichen in Dtn 6-8 entfaltet und ab 10,12 ff. zusammenfassend aufgenommen wird (vgl. bes. 11,22-25), bevor dann ab 12,1 die Gesellschaftsverfassung im einzelnen gelehrt wird, die künftig im Lande ein segensreiches Zusammenleben im Respekt gegenüber JHWH ermöglichen soll. Diesem Beziehungs-Aspekt ist in seiner Entfaltung eine eigentümliche, jedoch in theopolitischer Hinsicht höchst bemerkenswerte Vertragsmetaphorik unterlegt. Es ist das Szenario von Vasallenverträgen, wie wir sie aus neuassyrischen Loyalitätseiden etwa der Zeit Assarhaddons kennen, 33 das als ganzes auf die Rollen und Beziehungen zwischen JHWH und seinem Volk übertragen und in der Mose-Rede auch über die niXD-Teile hinaus aktual vollzogen wird. J. Assmann hat diese theopolitische „Umbuchung" politischer Begriffe auf die Gottesbeziehung als erster erkannt, wobei „die Beziehung des Vasallen zu seinem Oberherrn ... nicht verglichen (wird) mit der des Volkes zu Gott, sondern sie wird dem Konto politischer Beziehungen abgezogen und dem Konto religiöser Beziehungen gutgeschrieben." 34 Allerdings geht es dabei nicht nur um die Übertragung von Begriffen und Vorstellungen, geschweige denn um Kopiervorgänge einzelner Vertragspassagen, wie E. Otto sich das vorstellt. 35 Vielmehr ist diese Übertragung sehr viel radikaler, indem die ganze Bundeserneuerung in Moab in Dtn 6-26 in Gestalt einer Bundesinstruktion vorbereitet (Dtn 633

Vgl. insbesondere die „Vassal Treaties of Esarhaddon" (TUAT 1/2, 160-176), die 1999, 15-32 genauer als „Nachfolgeeide Asarhaddons" (15) bestimmt hat. Nach Otto handelt es sich dabei um eine aus dem hethitischen Westen übernommene „neue Form der Herrschaftssicherung", in der der Begriff des Loyalitätseides (ade) „auf die Vasallenverträge übertragen" wurde. Damit wird „verdeutlicht, daß auch diese Verträge als Loyalitätsbekundungen der Vasallen verstanden wurden" (31). 34 A S S M A N N 1992, 81, vgl. jetzt DERS. 2000, 51. 35 Vgl. O T T O 1999, bes. 64 ff. und dazu HARDMEIER 2001a. OTTO

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11), hinsichtlich der Vertragsverpflichtungen ausgeführt (Dtn 12-16) und in Dtn 27 bis 29 als performa|tiver Akt der Verpflichtung und der Besiegelung eines Vasallenvertrags zwischen JHWH und seinem Volk vollzogen wird unter Nennung der Segens- und Fluchfolgen, die aus der Beachtung oder Nicht-Beachtung der Gebote resultieren (Dtn 28). Dabei ist Israel im Sch e ma' Jisra'el von Dtn 6,4 gleich zu Anfang aufgerufen, sich zu JHWH, seinem Gott, performativ zu bekennen und ihn als seinen einzigen und alleinigen Vasallenherrn unbedingt und vorbehaltlos zu „lieben". 36 Die Vielzahl von Einzelbezügen zwischen dem Deuteronomium und den assyrischen Vasallenverträgen, die bereits M. Weinfeld (Deuteronomy) zusammengestellt hat, lassen sich m.E. auf dieser Ebene einer generellen, textpragmatischen Übertragung am besten erklären. Im einzelnen zeigt sich die übergreifende Metaphorik eines theopolitischen Vasallenvertrags im Vollzug an folgenden Strukturmomenten des Redekomplexes, wobei wir uns auf skizzenhafte Hinweise beschränken müssen. 3.3.1 Das theopolitische Vasallenverhältnis Volk (Dtn 6-8* und 26,17-19)

zwischen JHWH und seinem

Wie erwähnt, hat sich Israel als Vasallenvolk von Anfang an in Dtn 6,4 zu JHWH als seinem alleinigen Vasallenherrn zu bekennen. 37 Ihm soll es ungeteilte Liebe entgegenbringen (V. 5) und ihm damit seine bedingungslose Loyalität erweisen. In diesem Sinne hat Israel nach 6,12 ff. dann auch im künftigen Lande (V. 10 f.) seinen Gott JHWH als alleinigen, wenn auch unsichtbar-imaginären Vasallenherrn im Sinne einer unbedingten Respektierung zu „fürchten" (KT, 13a) in Konkurrenz zu allen irdischen Herren und unter Relativierung aller innerweltlichen Loyalitäten (V. 13b). 38 In diesem Beziehungsspiel wird JHWH wie ein altorientalischer Großkönig gesehen, der loyale Vasallen mit Land ausstattet (4,1; 5,3 lbß u.ö., vgl. bes. 6,10.11a und 8,7-9). 39 Dabei könnte die größte Gefährdung | der

36 Vgl. WEINFELD 1972, 81 f. Unter Berufung auf W.L. Moran stellt Weinfeld fest: „Political loyalty was generally expressed by the term "love"' (81) mit folgender Konsequenz im Blick auf Dtn 6,4 f.: „So the stipulation in political treaties demanding exclusive loyalty to one king corresponds strikingly to the religious belief in one single, exclusive Deity" (81); vgl. dazu auch ASSMANN 2000, 61 f. und OTTO 1999, 61 f. und 362 f. sowie VTE § 18, Z. 207 f. und § 24, Z. 266-268. 37 Vgl. dazu ausführlicher HARDMEIER 2000a, bes. 83 ff. und 88-91 (vgl. III.5.). 38 Vgl. zu dieser Forderung, den Vasallenherrn bedingungslos zu „fürchten", auch VTE § 34, Z. 393-396 und WEINFELD 1972, 83 f. Natürlich ist die D'n1?»/ m r r m r r nicht aus dem imperialen Vertragsdenken abzuleiten, sondern eine weisheitstheologische Grundkategorie, die jedoch in diesem vertragsmetaphorischen Kontext mit einer neuen theopolitischen Sinndimension aufgeladen wird. 39 Für die Judäer besonders einschneidend und bedrückend war die Abtrennung der westlichen Schefela von Juda nach der Einschließung Jerusalems um 701 durch Sanherib,

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6. Die Weisheit der Tora

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Loyalitäts- und Respektbeziehung dadurch aufkommen, dass das Vasallenvolk angesichts wirtschaftlicher Prosperität und materiellen Wohlstands den Geber und Oberherrn des Landes zu vergessen droht (6,1 lb. 12 f., vgl. 8,10-18a). Auch ist in einer für unser Denken völlig befremdlichen Weise jede Beute, die bei der Überwältigung anderer Völker gemacht wird, der Vernichtung zu weihen (7,1.2a.ba), um die Geber-Beziehung auch im Kriegserfolg nicht durch eigene Vorteilnahme zu trüben. 40 Ferner dürfen um der Ausschließlichkeit der Loyalitätsbindung willen keine Verträge mit anderen Völkern geschlossen und keine Heiratsbeziehungen mit ihnen eingegangen werden (7,2bß.3 f.). 41 Ebenso sind im künftigen Lande alle Kulteinrichtungen zu beseitigen, die im Dienste an anderen Göttern stehen (V. 5), was dann in Dtn 12,2 f. im Auftakt zur Vermittlung der Gebote aufgegriffen wird. Die theopolitische Ausschließlichkeit der JHWH-Bindung ist in diesen Passagen von Dtn 6-8* somit in ihren politischen und sozioökonomischen Konsequenzen vielschichtig durchdacht. Auf der anderen Seite bleibt auch die Begründung für diese Loyalitätsmahnungen, die in 7,6 mit ' 3 eingeleitet wird, ganz in der Beziehungsmetaphorik des Vasallenverhältnisses. Denn nach V. 6-8 weiß sich Israel in diesem Denkhorizont - wie bereits bemerkt - als Beutevolk (n^io DS>, V. 6), 42 das JHWH allein aus Ägypten befreit und das er sich ohne jede Nebenabsicht und aus reiner Liebe freigekämpft hat (V. 7 f.). Diese Korrelation zwischen dem Vasallenvolk einerseits, das sich zu JHWH als seinem alleinigen Herrn und Gott bekennt (6,4), und dem Vasallenherrn andererseits, der sich sein Volk aus der Völkerwelt als Beute erkämpft und es damit geheiligt hat (7,6), kehrt dann exakt in der Doppelseitigkeit des Ratifizierungsformulars wieder, das in Dtn 26,17-19 am Ende des ganzen Lehr-

der die abgetrennten Gebiete den assur-treuen Vasallen Mitinti von Asdod und Padi von Ekron übereignete (vgl. die Prismen-Inschrift III, Z. 30-33, TUAT 1/4, 390). Spuren dieser einschneidenden Maßnahmen finden sich einerseits vor allem in den nachjesajanischen Diskurs-Passagen in Jes 1,5-8 und 19, wo es um die Ausbeutung des Landes durch Fremde (V. 7) sowie um die Bedingungen und Möglichkeiten geht, die Güter des Landes wieder selber nutzen zu können (V. 19). Andererseits ist dazu die ironisch-polemische Spitze in der Rabschake-Rede in II Reg 18,32 zu vergleichen, wonach es nicht JHWH, sondern der Groß-König von Assur ist, der die Judäer in ein verheißungsvolles Land bringen wird (mit engsten Formulierungsparallelen zu Dtn 8,7 ff.!, vgl. dazu H A R D M E I E R 1990a, 370). 40 Zur Vernichtungsweihe vgl. F R I T Z 1 9 9 4 , 7 2 und dort weitere Literatur; vgl. ferner dazu auch Dtn 13,18 im Rahmen von V. 13-19. 41 Das Verbot steht indirekt im Zusammenhang mit dem Gebot in Dtn 6,12b, das Eides-Leistungen nur vor JHWH zulässt (vgl. zum Loyalitätsaspekt auch Dtn 13,7-12). Denn damit steht und fallt die ausschließliche Loyalität gegenüber JHWH wie in den Verboten in VTE § 5, Z. 72 und § 11, Z. 129. 4 2

Zum

NVIO DP v g l . LIPINSKI 1 9 8 6 , b e s . S p . 7 5 0

f.

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und Instruktionskomplexes steht 43 und zum Vertragsvollzug in 27,9 f. und 29,9-14 überleitet. | 3.3.2 Gebotsgehorsam JHWH

als Vasallenpflicht

und Loyalitätserweis

gegenüber

An dieses Formular der gegenseitigen Treue-Erklärung in 26,17-19 und an den performativen Vollzug der Bundesschließung in 27,9 schließt sich in V. 10 ein Akt der Verpflichtung auf die Gebote an. Daran zeigt sich am deutlichsten der enge Zusammenhang zwischen der Bundesbeziehung zu JHWH und dem Gebotsgehorsam, der ab der Lehreröffnung in Dtn 4,1 unentwegt eingeschärft wird. Dabei bewegt sich auch dieser zweite, inhaltliche Grundaspekt der Mose-Tora konsequent in der vertragsrechtlichen Metaphorik und politischen Vorstellungswelt des Vasallenverhältnisses. Denn so wie das unbedingte Loyalitätsverhältnis zu JHWH in Dtn 6-8* in Analogie zu politischen Vasallenverträgen gesehen wird, so sind auch die ab 12,1 ff. dargelegten Gebote in ihrer Gesamtanlage ein Verfassungsstatut für das künftige Land, das der Vasallenherr als Geber des Landes nach Dtn 5,31 bereits am Horeb erlassen hatte. 44 Im Rahmen dieser textpragmatischen Metaphorik läßt sich denn auch am klarsten erkennen, wie das Verhältnis von Loyalitätswahrung und Gebotsgehorsam in der Mose-Tora angelegt ist und worin ihre besondere Weisheit liegt. Die Gebote, die in Dtn 12 ff. im einzelnen gelehrt werden, stellen sich im vertragsmetaphorischen Denkhorizont des Lehrdiskurses als Vasallenpflichten gegenüber dem Vasallenherrn JHWH dar. Sie gelten für die Nutzer des künftigen Landes, das JHWH ihnen als n*?m, d.h. als Erbpachtland zur Verfügung stellt (vgl. Dtn 12,9; 15,4; 19,10.14; 20,16; 21,23; 24,4; 25,19 und 26,1). Dementsprechend bezeugt das Vasallenvolk Israel in der Achtung, Bewahrung und tätigen Umsetzung dieser Verfassungsgebote am unmittelbarsten seinen Respekt und seine „Liebe" zum Geber des Landes. Daraus erklären sich auch die auffälligen Erinnerungsmahnungen, die in Dtn 15,15; 16,12; 24,18 und 22 (vgl. 5,15) mitten in die Lehre der Einzelgebote eingeflochten sind: „Erinnere dich, dass du ein Sklave gewesen bist im Lande Ägypten und dass JHWH, dein Gott, dich befreit hat. Darum gebiete ich dir heute diese Sache" (15,15). Als Akt der Loyalität gegenüber JHWH, der Israel aus der Verfügungsgewalt der Vasallenherren befreit hat (vgl. oben 3.3.1), soll auch der freie Israelit sich der geschenkten Freiheit

43 Vgl. bes. Dtn 26,18a und 19b mit 6,4 und 7,6 sowie mit 27,9b, wobei dort mit der nif. Form von r r n die JHWH-seitige Deklaration von 26,17ba performativ realisiert wird; zum Ratifizierungsformular insgesamt vgl. CRÜSEMANN 2 1997, 318 ff. 44 Vgl. die Präzision, mit der gerade auch in 5,3 lbß eben dieser Gabe-Aspekt des Landes betont wird.

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6. Die Weisheit der Tora

erinnern und diese Befreiung seinerseits denen gewähren, die in seiner Gegenwart Sklaven oder als personae miserae sonstwie Benachteiligte sind. 4 5

Lebenspraktischer Gebotsgehorsam ist somit Loyalitätserweis und Gottesdienst im Alltag par excellence. Sie gehören untrennbar zusammen. Dementsprechend besteht das Lernen der „Gottesfurcht" nach Dtn 4,10b im Hören auf die Gebote, um sie als Respektbezeugung gegenüber dem Geber des Landes in die Tat umzusetzen, wie es im Ganzen des Lehrvollzugs ab Dtn 4,1 immer wieder eingeschärft wird. Mit diesem Loyalitätserweis im praktischen Gebotsgehorsam ist nach Dtn 4,1 von allem Anfang das Ziel verbunden, dass JHWHs Vasallenvolk gut und gedeihlich leben kann im Land, das er ihm geben will, was im Tora-Diskurs immer wieder betont wird (vgl. bes. 5,33; 6,2 f. 18 und 10,12 f.; 11,8 f.18-21). 3.3.3 Die solidaritätsethische (Dtn 12-26)

Transformation

der

Vasallenpflicht

Allerdings stellt dieses Vertragsziel alles auf den Kopf, was politische Vasallenverträge mit ihren Verpflichtungen beabsichtigen. Denn der geforderte Loyalitätserweise gegenüber JHWH im Gebotsgehorsam hat nichts mit Gegenleistungen zu tun, die von den altorientalischen Großkönigen z.B. in Form von regelmäßigen Tributabgaben erwartet wurden. Weder weist der Vasallenherr JHWH seinem Vasallenvolk das Erbpacht-Land als Belohnung für besondere Loyalitätserweise zu, wie es beispielsweise Sanherib nach der Niederschlagung der Revolte Hiskijas um 701 getan hatte, indem er Teile Judas den assurfreundlichen Philisterkönigen Padi von Ekron und Mitinti von Asdod zuwies. 46 Noch erwartet JHWH irgendwelche Gegenleistungen in Form etwa von großartigen Opferdarbringungen oder üppigen Kultfeiern, die in theopolitischer Hinsicht den Tributleistungen entsprechen würden. Im Gegenteil, die ganze Kultuszentralisation in Dtn 12-16 mit der Reform des Opferwesens (Dtn 12), der Zehntenabgabe (14,22-29) und der Jahresfeste (16,1-17) ist darauf ausgerichtet, den Aufwand an Opferdarbringungen entsprechend der prophetischen Kritik (vgl. bes. Am 5,21-24 und Jes 1,10-17) radikal zu reduzieren. Darüberhinaus werden die Dankesgaben im Zyklus des Landwirtschafts-Jahres an die produzierenden Familien und insbesondere an die personae miserae am Rande der Gesellschaft um- und zurückverteilt, 47 so dass es allein die Festfreude im Gegenüber zu JHWH ist, die den Geber des Landes erhebt und verherrlicht (vgl. 12,7.12.18; 14,26; 16,11.[14 f.]). Dieser theopolitischen Transformation der Vasallenpflicht entspricht die reine und unableitbare 45

Vgl. dazu auch HARDMEIER 1992. | Vgl. oben Anm. 38. 47 Vgl. dazu sehr erhellend CRÜSEMANN 2 1997, 251-256, wobei an eine durch das Deuteronomium abgeschaffte „Staatsteuer" (vgl. a.a.O., 255) kaum zu denken ist. 46

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Liebe, aus der heraus JHWH sein Volk nach Dtn 7,6 f. aus Ägypten freigekämpft und ohne jegliche Eigeninteressen erwählt hat. Auch die institutionsrechtlichen Verfassungsbestimmungen ab Dtn 16,18 ff. liegen auf der gleichen Linie der Sicherung eines gedeihlichen Zusammenlebens im künftigen Lande. Sie sollen den zu JHWH gehörigen Volksverband (mn' ^np, 23,2) u.a. nicht nur vor Korruption im Rechtsverfahren (16,18-20) oder Machtmissbrauch und Anmaßung des Königs (17,14-20) schützen, sondern das Land auch vor Rechtsirrtum der Führungseliten (17,8-13 und 19,1-21) und Fehleinschätzungen der Zukunft durch untaugliche Verfahren der Divination (18,9-12) bewahren. Ferner sind die ganzen Territorial-, Wirtschafts- und Familiengesetze | (19,1-23,1) darauf ausgerichtet, die Ertragskraft des Erbpachtlandes sowie die Produktions- und Reproduktionsfahigkeit der bäuerlichen Produzentenfamilien von Generation zu Generation zu erhalten. Gleiches gilt für die Gebote eines gemeinschaftsförderlichen Zusammenlebens untereinander (ab 23,2 ff.) mit klaren Abstufungen, was die Geltung der Solidargesetze gegenüber Fremden und Ausländern betrifft. Insgesamt tragen die gesellschaftlichen Verfassungsbestimmungen in Dtn 12-26 zum einen einen solidaritätsethischen Grundzug und sind zum anderen darauf ausgerichtet, die landwirtschaftliche Ertragskraft des Landes nachhaltig zu stützen und ein funktionsfähiges Gemeinwesen dadurch dauerhaft zu erhalten, dass es der sozialen Spaltung in Arm und Reich entgegenwirkt. Zugleich macht sich damit dieser JHWH-Volksverband (23,2) von jeglicher Fremdbestimmung unabhängig und setzt sich politisch gegenüber jeder Großmacht dadurch autonom, dass er sich allein seinem Gott JHWH als Geber des Landes verpflichtet weiß und ihn allein als theopolitischen Vasallenherrn respektiert. 3.3.4 Die Segens- und Fluchbestimmungen Sanktionsdrohung

in Dtn 28: Verheißung statt

Auf diesem Hintergrund ist dann auch der Funktionswandel der Segensund Fluchbestimmungen in Dtn 28 zu verstehen, die sich in Analogie zu entsprechenden Bestimmungen in hethitischen und neuassyrischen Vasallenverträgen an den Verpflichtungsakt auf die Gebote in 27,10 anschließen. Betrachtet man genauer das konditionale Satzgefüge, das in 28,1 f. und 15 diese Segens- bzw. die Fluchbestimmungen einleitet, dann wird klar, dass es sich dabei weder um Sanktionsdrohungen handelt, noch um eine Konditionalisierung des Gebotsgehorsams. Es heißt dort nicht: „Wenn du auf die Stimme JHWHs, deines Gottes inständig hörst, indem du alle seine Gebote tätig bewahrst, dann gibt er dir (im Sinne einer Gegenleistung) Segen." Es wird damit keine do-ut-des-Beziehung zwischen dem Volk und seinem theopolitischen Vasallenherrn etabliert. Schon gar nicht

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6. Die Weisheit der Tora

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stehen Wirtschaftssanktionen oder militärische Interventionsdrohungen im Hintergrund, mit denen die assyrisch-babylonischen Großkönige ihren Vertragsforderungen Nachdruck verliehen und Pflichtverletzungen ggf. geahndet hatten, auch wenn sie die Durchführung von Strafaktionen dem Wirken ihrer Götter zuschrieben und sich selbst als Vollstrecker des göttlichen Fluches sahen. Vielmehr wird der Gebotsgehorsam und damit die theopolitische Vasallenpflicht allein durch die Einsicht motiviert: einerseits in die segensreichen Folgen, die aus der Befolgung der Gebote resultieren können, und andererseits in die Fluchkonsequenzen, die eine Verletzung der theopolitischen Vasallenpflicht nach sich ziehen kann. Dabei wird beides in Korrelation zum Gebotsgehorsam verheißen, ohne dass damit eine Garantie oder automatische Konsequenzen verbunden sind. Dementsprechend lautet das Satzgefüge, das in V. 15 in analoger Weise negativ formuliert ist, in 28,1 f. wie folgt:| Wenn du dann inniglichst auf die Stimme JHWHs, deines Gottes, hörst, indem du alle seine Gebote tatwirksam befolgst, die ich dir heute gebiete, ... so werden über dich alle diese Segensbestimmungen kommen und dich einholen, weil du auf die Stimme JHWHs, deines Gottes gehört hast.

Damit wird der Gebotsgehorsam allein aus Einsicht in die Konsequenzen motiviert, die Israel in der Katastrophe seiner Geschichte j a auch sattsam negativ erfahren hat.

4. Zwei Grundaspekte der Weisheit der Tora und ihre Gegenwartsrelevanz Aus dem bisher Gesagten sind abschließend zwei Grundaspekte hervorzuheben, die die besondere Weisheit der Mose-Tora ausmachen und womit sich Israel vor den anderen Völkern auszeichnet. Zum einen ist es - wie unter 3.3 ausgeführt - die theopolitische Umbuchung zeitgenössischer Vasallenverhältnisse auf die Gottesbeziehung und ihre kreative Transformation. Wie wir gesehen haben, erfüllt Israel im Hören auf JHWHs Stimme zugleich seine Vasallenpflicht und erweist seinem Gott in der tätigen Befolgung der Gebote jene unbedingte Loyalität, die im Bekenntnis von Dtn 6,4 f. als Gelöbnis abgelegt wird. In und mit diesem Loyalitätserweis im freien Gebotsgehorsam setzt sich das Gottesvolk zugleich auch politisch frei und unabhängig gegenüber jedweden realpolitischen Bindungen und Loyalitäten, die zur Selbstverabsolutierung tendieren und bekanntlich stets despotische Züge von Terror und Inquisition annehmen. Der radikale Befreiungs- und Freiheits-Effekt, der aus diesem Bekenntnis resultiert, liegt in der Relativierung aller unbedingten Loyalitäten, aller totalisierenden Gewissheiten und Omnipotenz-Illusionen, die unter dem

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Zwang zur Reduktion von Komplexität zur Verabsolutierung neigen und uns immer aufs neue gefangen zu nehmen drohen. Im Bekenntnis-Vollzug werden diese „Mächte und Gewalten" (vgl. Rom 8,38 f.) relativiert, indem coram deo ihre Vorläufigkeit, ihre Partikularität und ihr Reduktions-Charakter offenbar werden. Genau diese Depotenzierung jedweder innerweltlicher Mächtigkeiten ist der Effekt, der aus der unbedingten Loyalitätsbezeugung im Bekenntnis zu JHWH (Dtn 6,4 f.) hervorgeht. Denn einerseits ist dieser Gott derjenige, der sich Israel als rrnN mix n'nx offenbart hat (Ex 3,14), und andererseits erweist er sich in dieser Ich-Verkörperung des Unsichtbaren und Unverfügbaren (vgl. auch Dtn 4,12) als derjenige, der sein frei erwähltes Du in Gestalt des Volkes Israel aus der Knechtschaft in Ägypten herausgeführt hat (Dtn 5,6; 6,21-25; 7,7 f.). Insofern ist das JHWH-Bekenntnis Ausdruck und Vollzug jener „kommunikativen Freiheit", in welcher die Gottesbeziehung „durch Freiheit, und die Freiheit durch die Beziehung definiert" | wird, wie F. Crüsemann formuliert hat, so dass „die Gottesbeziehung ... hier nicht als Herrschafts-, sondern als" man müsste präzisieren: performativer - „Freiheitsbegriff gedacht (wird)" 48 Das Ineinander von freiem Gebotsgehorsam aus Einsicht in die Konsequenzen und dem theopolitischen Loyalitätserweis, der die politische Freiheit und Unabhängigkeit des Gottesvolkes begründet, ist die eine Seite der von den Völkern bewunderten Weisheit Israels und seiner Tora, wie sie in der Lehreröffnung von Dtn 4 hervorgehoben wird (V. 5-8). Eben diese Weisheit und ihre Umsetzung ist es dann auch, in der sich JHWHs SegensVerheißung von Dtn 28,1b (26,19a) realisieren wird, wenn das Gottesvolk auf seine Stimme hört: Und JHWH, dein Gott, wird dich als höchstes über alle Völker des Landes setzen ...

... nämlich als weises und einsichtiges Volk, das im Sinne von Gen 12,2 f. zum Segen für die Völker werden soll. Der zweite Grundaspekt ist die Weisheit des Lehrens und Lernens, die in der ganzen Tora-Rede als eine Art von Erinnerungspädagogik durchgespielt und performativ vorgeführt wird. Denn weder liefert die Mose-Tora für die Stiftung der Bundes- und Loyalitätsbeziehung zwischen JHWH und seinem Volk irgendeine mythische, metaphysische oder philosophisch-theoretische Begründung, noch findet sich für die Gesellschaftsverfassung und ihre besondere solidaritätsethische Weisheit eine theologische Legitimation. Allein aus dem Hören auf die Stimme JHWHs resultiert diese besondere Weisheit Israels und allein in dieser Praxis des Hörens hat sie ihr fundamentum in re, ihre Grundlage in der Sache. Und dieses Hören vollzieht sich als Erinnern und Vergegenwärtigen von durchaus ambivalenten 48

CRÜSEMANN 1983, 39.

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6. Die Weisheit der Tora

Beziehungserfahrungen zwischen JHWH und seinem Volk in der geschichtlichen Vergangenheit der vorexilischen Zeit, die in der dtr. MoseTora typologisch zum Urgeschehen zwischen Gott und Volk am Horeb und den Erfahrungen in Kadesch-Barnea verdichtet wurde. 4 9 Somit könnte man von einer geschichtstheologischen Erinnerungspädagogik sprechen, die Mose in seiner Tora-Rede praktiziert, wobei in diesem geschichtlichen Erinnern die eigene Gegenwart transparent und Orientierung für die Zukunft gewonnen wird. Denn das, woran Moses in Dtn 4,914 erinnert, nämlich an die Urbegegnung JHWHs mit seinem Volk am Horeb, als Israel prototypisch JHWHs Stimme gehört und seine Gebote vermittelt bekommen hatte, - das vollzieht er unter Erneuerung des HorebBundes im großen Redekomplex von Dtn 5-30. In dieser Aktualisierung praktiziert Mose, was JHWH ihm geboten hatte, nämlich seine Gebote auch der nächsten Generation zu Gehör zu bringen und die Loyalitätsbeziehung zu JHWH in der Vergegenwärtigung des Bundes zu erneuern. Die Mose-Tora als Rede ist somit der maßgebende Mustervollzug, wie JHWHs Stimme vom Horeb im Heute von Moab der nächsten Generation zu Ohren kommt, indem sie im geschichtlichen Erinnern vergegenwärtigt wird. Damit dieser Vergegenwärtigungs-Prozess von Generation zu Generation gewährleistet bleibt, schreibt Mose nach Dtn 31,9 „diese Tora" im Blick auf ihre künftige Wiederholung auf, damit sie im siebenjährigen Rhythmus immer wieder zu Gehör gebracht werden kann (V. 10b-13). Was die Gegenwartsrelevanz betrifft, so sehe ich in beiden dieser Weisheitsaspekte die biblisch-theologischen Grundlagen für das heutige ökumenische Bemühen um Frieden in der Welt, um weltweite Gerechtigkeit und um die Bewahrung der Schöpfung. Indem wir Gott als Geber aller Lebensgrundlagen respektieren und „fürchten", indem wir ihm im Gotteslob die Ehre erweisen und unsere Dankbarkeit bezeugen für die Gabe des Lebens und indem wir uns ihm allein verpflichtet wissen und unsere Loyalität bekennen, - indem wir dieses tun, können wir frei werden und unabhängig bleiben von falschen politischen Ansprüchen und vermeintlichen ökonomischen Zwängen, wie sie uns der Kapitalismus und die Marktwirtschaft suggerieren. Denn auch sie beanspruchen unentwegt, wenn auch unmerklich unsere Loyalität, aber verwirren unsere Zukunftsorientierung, zerstören die Maßstäbe von Recht und Gerechtigkeit und verhindern eine nach49 Vgl. dazu bes. Dtn 9,7-24 und 1,19-46 sowie die Skizze in HARDMEIER 2005b (vgl. III.4.). Demgegenüber wird das Exodus-Bekenntnis, das als Freiheits-Symbol seine erste greifbare Ausprägung in der nationalreligiösen Begründung des Nordreichs erfahren hat

(vgl.

I

Reg

12,28

und

CRUSEMANN

1978,

121 f.

und

175 ff.

sowie

ALBERTZ

1992,

215 ff.), im Deuteronomismus auf die Selbstdefinition JHWHs in seiner befreienden geschichtlichen Selbstwirksamkeit reduziert und damit als macht- und herrschaftsrelativierendes Beziehungs-Gegenüber universalisiert, das Menschen frei und Völker unabhängig sowie autonom macht.

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Tora

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haltige Wirtschaftsweise, die auf soziale Solidarität und kulturelle Integrität in der Vielfalt von Menschen und Völkern ausgerichtet ist und die natürlichen Ressourcen in gerechter und nachhaltiger Weise nutzt, so dass sie regenerationsfahig bleiben. Vor der individuellen wie der sozio-ökonomischen Egozentrik der Menschen und vor jeglichem Ethnozentrismus und Populismus, die unsere Zukunft vernebeln und unsere Überlebensfahigkeit als Menschheit gefährden, kann uns wirksam die Weisheit der Tora bewahren, die die Zukunftsbewältigung allein an der Loyalität zum Schöpfer der Welt ausrichtet und dem Geber allen Lebens allein die Ehre und Dankbarkeit erweist. Solche Verantwortung vor Gott bewahrt vor orientierungslosem Opportunismus. Und in der Respektbezeugung gegenüber dem Schöpfer schärft sich immer neu der kritische Blick für selbstzerstörerische Instrumentalisierungen der Gabe des Lebens und für die Gefahren einer ausbeuterischen Ressourcen-Nutzung aus kurzsichtigen Interessen des Profits und der Macht. Dabei lässt sich diese Weisheit der Tora nur als Zeugnis in die Welt tragen und von Generation zu Generation weitergeben, wie es die dtr. Erinnerungspädagogik vorgezeichnet hat. Das ist der spezifische Dienst, den Kirchen und Christen von ihren biblisch-theologischen Fundamenten her an unserer heutigen Welt leisten müssten, um sie vor den Gefahren der Selbstzerstörung durch das Menschengeschlecht zu bewahren und dem Segen Gottes für seine Geschöpfe den | Weg nicht weiter zu verbauen. Denn mit der verschrifteten Tora und dem biblischen Schrifttum insgesamt ist uns eine ganz eigentümliche und singulare Erinnerungskultur anvertraut. Sie ist zum einen an die lebendige Weitergabe im Hören und Auslegen von Generation zu Generation gebunden, indem sie zum anderen in dieser Praxis der Vergegenwärtigung das heilsame Bewusstsein wach hält, dass und wie wir „vor und mit Gott leben" können, wenn auch „ohne die Arbeitshypothese Gott", 5 0 wie es D. Bonhoeffer als Aufgabe im Blick auf „die nicht-religiöse Interpretation der biblischen Begriffe" (529) bzw. eine „weltliche Interpretation" (535) formuliert hat. Es ist diese performative Weisheit der Tora und das immer neue Hören auf die Stimme vom Horeb, wie es auch Jesus und Paulus getan haben, was uns als Menschen und Völker immer aufs neue vor gefahrlichen Irrtümern und katastrophenträchtigen Verblendungen schützen und dem Segen des Schöpfers eine Chance geben kann. - In diesem Bemühen um die biblische Tora und ihre lebens- und welterhellende Weitergabe sehe ich mich mit meinem Freund Frank Crüsemann tief verbunden und grüße ihn mit diesem Beitrag zum Abschied von seinen beruflichen Lehrverpflichtungen, auf dass sich die Lust und Freude am weiteren Lehren und Forschen umso kräftiger entfalten wird. 50

BONHOEFFER 1 9 9 8 ,

534.

7. Wirtschaftliche Prosperität und Gottvergessenheit Die theologische Dimension wirtschaftlicher Leistungskraft nach Dtn 8'

Einführung Wir leben in einer Zeit enormer weltpolitischer Umwälzungen im Zeichen der Globalisierung und neuartiger Bedrohungen durch Krieg und Terror. Nachdem sich seit gut einem Jahrzehnt die sozialistische Kommandowirtschaft und der Marxismus als Herrschaftsideologie von der Weltgeschichte verabschiedet haben und sich niemand mehr anheischig machen dürfte, dieses monströse, gut 70 Jahre währende Gesellschaftsexperiment noch einmal zu wiederholen, ist die Welt dennoch nicht besser geworden. Im Gegenteil: Der grenzenlos entschränkte Kapitalismus und seine neoliberale Marktideologie zeitigen ihre hässlichen und zerstörerischen Folgen. Es ist bei weitem nicht so, dass die noch Anfang der 90er Jahre als siegreich gepriesene Marktwirtschaft unsere drängendsten sozialen und ökologischen Probleme auch nur einigermaßen im Griff hätte oder lösen könnte. Die Arbeitslosigkeit hat seither kontinuierlich zugenommen. Die sozialen Netze werden stetig ausgedünnt und immer mehr Menschen fallen durch sie hindurch. Leere Kassen auf dem Bildungssektor beschneiden der Jugend ihre | Zukunft und an der Gesundheits- und Altersversorgung wird auf Kosten der Betroffenen drastisch gespart. Der Satz von der Privatisierung der Gewinne und der Sozialisierung der Lasten und Verluste hat angesichts von Firmenpleiten sowie von kaum noch nachvollziehbaren Kauf- und Verkaufsschlachten großer Konzerne nichts an seiner empirischen Richtigkeit eingebüßt. Auch die Seifenblase der New Economy ist geplatzt und hat

1 Überarbeitete Fassung der Probevorlesung mit dem Thema „Wohlstand und Gottvergessenheit", die ich im Januar 1993 in kurzem Abstand im Rahmen der Bewerbungsverfahren an den Theologischen Fakultäten der Universitäten Rostock und Greifswald gehalten habe. Mit dieser Keimzelle meiner Greifswalder Zeit und damit dem Beginn einer langjährigen Zusammenarbeit mit Frau Kollegin Julia Männchen grüße ich die Jubilarin herzlich zu ihrem 65. Geburtstag, verbunden mit guten Wünschen zur Verabschiedung aus dem akademischen Pflichtleben in diesem Jahr und auf weitere Jahre des Zusammenwirkens in der Freiheit des Ruhestandes und nach Lust und Freude an der Sache. - Darüber hinaus war das alte Vortragsmanuskript u.a. auch Grundlage des interdisziplinären Seminars „Anthropologische und ethische Grundlagen der Nachhaltigkeit. Zum Gabe-Charakter natürlicher Ressourcen" im Sommersemester 2003 zusammen mit Konrad Ott (Lehrstuhl für Umweltethik), dem ich sehr viele Anregungen verdanke.

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nebst zahllosen Arbeitsplätzen Milliarden von Volksvermögen vernichtet. Auf die Verlustseite gehören aber ebenso die weitere Verarmung der Länder in der Zwei-Drittel-Welt, wie die rasante Zerstörung der Natur und ihre katastrophenträchtige Belastung. Alles in allem sind mit dem vermeintlichen Sieg der Marktwirtschaft alle ihre fundamentalen Probleme erst eigentlich auf den Tisch gekommen, was man jedoch gegen alle Resignation vielleicht auch als Chance begreifen kann für neue Wege aus der Krise. Was können oder könnten Theologinnen und Theologen, Christen oder Kirchenfrauen zur Problembewältigung beitragen? Wie es um diese Probleme steht und was zu ihrer Bewältigung zu tun wäre, das ist hinlänglich bekannt und von Sachverständigen, die aus erdpolitischer Verantwortung handeln und sich an einer Ökonomie der Nachhaltigkeit und der Regenerationsfahigkeit der natürlichen Ressourcen orientieren, hinreichend dargelegt. 2 Auch die Kirchen haben sich dieses Problemhorizontes im konziliaren Prozess unlängst angenommen. 3 Doch sind wir zugleich Zeuginnen und Zeugen davon, wie zäh und langsam das Notwendige in der wirtschaftlichen und politischen Praxis - wenn überhaupt - vorankommt, ja wie oft die Dinge geradezu verhängnisvoll in eine falsche Richtung laufen. Die jüngsten Entwicklungen seit dem 11. September 2001 und dem zweiten Irak-Krieg sowie die beinahe ausweglosen Verhältnisse in Israel und Palästina geben keinen Anlass zur Hoffnung. Man könnte dafür viele Gründe nennen. Ein besonders wichtiger scheint mir darin zu liegen, dass sich unser gesellschaftliches Durchschnittsbewusstsein zunehmend an die Logik von Gewalt und Gegengewalt - ganz nach dem Gesetz von Gen 4 gewöhnt hat. Zudem wird fast widerstandslos der fatalistische Glaube verinnerlicht, dass uns die Selbstheilungskräfte des Marktes irgendwann doch noch ein Wirtschaftswachstum bescheren, wenn wir einerseits nur genug sparen - vor allem auf Kosten des Gemeinwohls und der sozialen sowie infrastrukturellen Errungenschaften - und andererseits dem angeblichen homo oeconomicus in unserer Brust freien Lauf lassen würden, | der mit seiner ungehemmten Vorteilssuche das Wirtschaftswachstum ankurbelt und damit ganz der unsichtbaren Hand des Marktes dient, um auf diese wunderbare Weise zugleich das Gemeinwohl zu fördern. 4 Dieses von Politik und Werbung reichlich genährte Bewusstsein macht uns allerdings in hohem Maße blind für die drängenden globalen Herausforderungen und die destruktiven Auswirkungen dieses Heilsglaubens. Wie also, so meine Ausgangsfrage, können Christinnen und Theologen auf diesem Gegenwartshintergrund dazu beitragen, über die Kurzsichtig2

V g l . z . B . v . WEIZSÄCKER 1 9 9 0 ; SEN 1 9 9 0 ;

3

Vgl. z.B. die Denkschrift der EKD 1991. | Vgl. zur Kritik dieser marktreligiösen Mythologie SEGBERS 2002, 255-301.

4

DALY 1 9 9 9 ; SEGBERS, 2 0 0 2 .

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7. Wirtschaftliche

Prosperität

und Gottvergessenheit

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keiten einer neoliberalen Marktwirtschaft und ihrer selbstdestruktiven Kultivierung der Egomanie hinauszukommen, um der Gemeinwohlorientierung und der erdinnenpolitischen Gesamtverantwortung für das gemeinsame Überleben ein neues, durchschlagendes Gewicht zu verleihen? Ich denke, neben aller prophetischen Warnung und sozialethischen Normenentwicklung haben wir auch positiv nach dem Zusammenhang von Religion und Wirtschaft in unserer biblischen und christlichen Tradition zu fragen, um unsere Augen für die heutige Situation zu schärfen. Denn diese Tradition beurteilt Wirtschaft, Wohlstand und Reichtum keineswegs nur negativ. 5 Als Alttestamentler möchte ich dazu im Folgenden einen kleinen exegetischen Beitrag leisten. Dtn 8, genauer die Verse 7-18a*, gehören neben Hos 13,4-8 zu den wichtigsten Texten des Alten Testaments, die die Erwirtschaftung von Reichtum in ein sehr unmittelbares Verhältnis zur Gottesbeziehung setzen. Dass Israel über dem wirtschaftlichen Wohlergehen seinen Gott zu vergessen droht bzw. vergessen hat, wird nur in diesen beiden Texten sowie - davon abhängig - in Dtn 6,10-15 in solcher Direktheit formuliert. Doch ist in Dtn 8 keineswegs nur eine „stark zerdehnt(e)" Mahnrede zu sehen, die Hos 13 auslegt. 6 Auch gehört der Textabschnitt 8,7-18a* nicht einfach zu einem lockeren Gemenge von Paränesen aus levitischer Predigttätigkeit. 7 Vielmehr ist er ein gewichtiger Teil der noch vorexilischen, ältesten Einleitung zum dtn. Verfassungskorpus, der neben 6,4 f. 12 f. 15 und 7,6.8a die theologische Basis für die | quasi vasallenvertraglichen Verfassungsbestimmungen 8 in Dtn 12,13-26,19* (vgl. bes. 26,16-19!) formuliert.

1. Die Eigenart von Dtn 8,7-18a* als Texteinheit in ihrem literaturgeschichtlichen Kontext Seit N. Lohfinks Untersuchung zum Deuteronomium hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, Dtn 8,7-18* als einen in sich zusammenhängenden Textabschnitt zu lesen, wobei sich dieser Abschnitt in zwei Teile (7-10* und 11-18a*) gliedert. 9 Dabei hängt der zweite Textteil 11-18* trotz des relativen Neueinsatzes in V. I I a aufs engste mit 7-10* zusammen. Ja dieser zweite Teil interpretiert die Forderung von V. 10b, dem Segen JHWHs dankbar zu entsprechen, nach zwei Seiten hin. Der Gefahr des Vergessens 5

V g l . d a z u v o r a l l e m SEGBERS 2 0 0 2 .

6

W O L F F 1 9 7 6 , 2 9 4 , v g l . JEREMIAS 1 9 8 3 , 1 6 4 , A n m . 18 s o w i e WEINFELD 1 9 9 1 , 3 9 4 .

7

V g l . V R A D 1 9 6 4 , 1 3 f. u n d 5 2 . |

8

Vgl. dazu HARDMEIER 2003b, 244-250 (vgl. III.6.).

9

V g l . LOHFINK 1 9 6 3 b , 1 9 2 f f . s o w i e AURELIUS 1 9 8 8 , 2 3 f.

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in V. 11 wird die Forderung des Erinnerns in V. 18a gegenübergestellt. Dieser Textabschluss verdeutlicht näherhin, wie die segnende Dankbarkeit von V. 10b zu verstehen ist: JHWHs Segen dankbar zu entsprechen, heißt, sich daran zu erinnern, dass er es ist, der die Kraft dazu verleiht, sich Wohlstand und Reichtum zu verschaffen. 1 0 Zudem geht es thematisch in beiden Textteilen unter verschiedenen Aspekten um die Voraussetzungen und Bedingungen des Satt-Werdens, wie die Leitworte „essen", „satt werden" und „Wasser" in V. 7b.9a. 10a sowie 12 und 15 deutlich machen. Auf die genaueren inneren Zusammenhänge wird noch zurückzukommen sein.

1.1 Dtn 8,7-18* als älteste Vorstufe im Kontext ihrer jüngeren Uberformungen in Dtn 6-8 Zunächst jedoch ist zu umreißen, weshalb in Dtn 8,7-18* der theologische Basistext der ältesten, literarisch fassbaren Formation des dtn. Verfassungsstatuts zu sehen ist, um seine theologische Eigenart im Kontrast zu den jüngeren Überformungen in Dtn 6-8 herauszuarbeiten. | Thematisch wie phraseologisch kann man zeigen, dass dieser Textteil sowohl in Dtn 8,1-6 als auch in 18b-20 durch eine, vielleicht auch mehrere jüngere Nachinterpretationen überformt ist. 11 In diesen späteren Überformungen geht es um die Einschärfung des Gebotsgehorsams und um die Erinnerung an die Wüstenzeit als Zeit der Gehorsamsprobe (vgl. 8,1.2-6 und 1 lb). Ferner wird auf der Ebene der Endgestalt die Rahmenargumentation bereits mit Dtn 7,12 eröffnet und in 8,20b abgeschlossen. Sie entfaltet in 7,12-16 den positiven Fall, dass auf die Gebote gehört wird, und seine Segensfolgen, während die Verse 8,19 und 20 - in der gleichen Sprache den Negativfall des Gottvergessens durchspielen, aus dem Verderben resultiert, sofern die Angesprochenen nicht auf JHWHs Stimme hören. 1 2 Auf diesem Hintergrund erweist sich Dtn 8,7-18a* vor allem daran als relativ älterer Textteil, dass in ihm das drohende Vergessen bzw. das Erinnern JHWHs nicht - wie in der jüngeren Textumgebung - im Gehorsam oder Ungehorsam gegen die Gebote festgemacht wird (vgl. 8,2.11b und 19). Vielmehr richtet sich die Alternative von Erinnern und Vergessen direkt 10

Man beachte die emphatische Hervorhebung in V. 18a mit dem selbständigen Pronomen der 3. Person im begründenden Nominalsatz: ... jmn xin '3, das mit dem Artikel aufgenommen wird. | 11 So auch A U R E L I U S 1988, 22-24 und 26. 12 Man beachte die exklusive Formulierung der positiven Motivation des Gebotsgehorsams in 7,12 (psD^n np» r r m ) und ihre negative Entsprechung in 8,20b (p»D®n x"? np»), die als jüngster Argumentationsrahmen (7,12-16 positiv und 8,19 f. negativ konditioniert) den Textteil Dtn 7,12-8,20 überspannt und strukturiert. In phraseologischer Hinsicht sind diese Formulierungen mit npp (dafür, dass) im ganzen Buch Deuteronomium nach Ausweis der Computerkonkordanz exklusiv und finden sich nur an den genannten Stellen.

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und unmittelbar auf die Person JHWHs als demjenigen, der sein Volk in der Wüste mit dem Lebensnotwendigen versorgt hat (V. 14b-16aa) und der im Land die Kraft dazu verleihen wird, sich Wohlstand und Reichtum zu verschaffen (V. 18a). Dabei ist auch V. 1 l b offensichtlich vom jüngeren Rahmen her nachinterpretierend in die Textpassage eingefügt worden. Denn sonst fehlt in 8,7-18* jede Art von abstrakt-begrifflicher Gebots- und Gehorsamssprache, wie sie für die jüngeren, dtr. Formationen im Deuteronomium typisch ist. Auch V. löaß.b nimmt das Thema des Wüstenaufenthaltes als Probezeit aus 8,2 f. nachinterpretierend auf und gehört zur späteren Überformung. In der Exegese ist schon immer aufgefallen, dass die tragende Argumentationsstruktur von Dtn 8,7-18a bis in die Syntax und ihre Phraseologie hinein mit Dtn 6,10-12 (ff.) übereinstimmt. 1 3 Nach N. Lohfink sind „diese Prallelen ... so eindeutig und offenkundig, dass sogar anzunehmen ist, die Gebotsumrahmung in 8,7-18 sei eine Nachahmung der Gebotsumrahmung | in 6,10-19", wobei „die Abhängigkeit ... in dieser Richtung, nicht umgekehrt (läuft)". 1 4 Auch R. Achenbach sieht in „Dtn. 8 ... insgesamt eine gedankliche Weiterentwicklung literarischer Art, die im wesentlichen von Dtn. 6 her beeindruckt ist", so dass man für Dtn 8 „mit einer Abfassungszeit etwa um die Mitte des ö.Jh.s zu rechnen habe()". 1 5 Jedoch liegen die Abhängigkeitsverhältnisse aus einer Reihe von Gründen genau umgekehrt, nicht zuletzt auch in Entsprechung zu der häufig zu beobachtenden traditionsliterarischen Praxis, dass jüngere Neuinterpretationen mittels Paralleltexten den älteren Vorlagen in der Art einer Bevorwortung vorangestellt werden. 1 6 Die Gründe sind folgende: a. Die „historisierende Gebotseinleitung" 1 7 in Dtn 6,10 gehört zu den vier nahezu gleichlautenden Einleitungen in Dtn 6,10; 7,1; 8,7 und 11,29, die JHWH zum Subjekt haben und im Hif. von XU die künftige Hineinbringung Israels ins Land thematisieren. Von der partizipial formulierten Einleitung in Dtn 8,7 heben sich die drei anderen Belege jedoch zunächst durch ihre einheitliche Formulierung im Impf. ab. D.h. es wird ein fernerer und globalerer Zeithorizont der Hineinbringung ins Land angesprochen als mit der partizipialen Formulierung in 8,7, die das Geschehen im Sinne eines futurum instans18 als ein bereits Im-Gange-Befindliches vorstellt. Ferner wird in den Belegen außer 8,7 ff.

13

V g l . a u s f ü h r l i c h ACHENBACH 1 9 9 1 , 3 2 0 f f . |

14

LOHFINK 1 9 6 3 b , 192.

15

ACHENBACH 1991, 3 2 6 .

16 Vgl. z.B. die Überformung der vorpriesterlichen Urgeschichte durch die priesterschriftliche Neukontextualisierung, die in Gen l-2,4a den universalen Weltschöpfungsaspekt von Zeit und Raum dem anthropologischen Aspekt der Menschenschöpfung in 2,4b.5 ff. im räumlichen Horizont des Tempelgartens voranstellt. 17 ACHENBACH 1991, 128, vgl. dort (128 ff.) die Belege mit der Wurzel HIN sowie die weiteren Belege mit anderen Lemmata in Dtn 12,20.29; 19,1.8 und im Pentateuch. 18 Vgl. dazu HARDMEIER 2003a, 96 f.

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das Land, in welches J H W H hineinführen wird, im nachfolgenden "l»X-Satz mit geläufigen dtr. Standard-Attributen näher charakterisiert: in Dtn 7,1 und 11,29 identisch im Wortlaut - mit der Inbesitznahme-Formel, in 6,10 mit der klassisch dtr. Väterschwurformel 1 9 . Demgegenüber steht in 8,7 das „schöne Land" als solches im Mittelpunkt, das in V. 7b-9a als agrarökonomisch bestens ausgestattete Lebensgrundlage beschrieben wird, 2 0 von der das Volk sich ernähren und ohne Mangel (9a) satt werden | kann (10a und 12 f.). Zwar begegnet das „schöne Land" dann auch im dtr. Redehorizont, 2 1 jedoch dort stets determiniert und somit quasi als terminus technicus, während es einzig in Dtn 8,7-9a im Blick auf 8,10b als solches vollumfanglich definiert wird. b. In der lang gezogenen Protasis in Dtn 6,10 f. stehen v.a. in V. 10b. 1 l a im Kontrast zu 8,7b-9a ganz die bau- und agrarkulturellen Infrastrukturen statt der geradezu paradiesischen Fruchtbarkeit des künftigen Landes im Mittelpunkt. Allein schon dieser Akzentunterschied verträgt sich wesentlich schlechter mit dem dann in 6,11b formulierten Satt-Werden als Folge der Landgabe gegenüber der in 8,10a gleichlautend formulierten Sättigungsfolge, die aus der Landbeschreibung von 8,7b-9a organisch und unmittelbar hervorgeht. Erst recht gilt dies für die Andersartigkeit der Apodosis in 6,12 ff. im Verhältnis zu der syntaktisch vergleichbar formulierten Warnung in 8,1 la. 12 ff. Während das Thema der agrarökonomischen Prosperität in 6,12 ff. überhaupt keine Rolle mehr spielt, durchzieht dieses Thema die ganze Warnsequenz von Dtn 8,1218a wie ein roter Faden (vgl. 8,12 f., auch 15 f. und 17-18a). c. Darüber hinaus fehlt in 8,7-18a jede dtr. Fremdgötter- und Fremdvölker-Perspektive, die nicht nur in 6,14 und 19 manifest ist und in 6,1 Ob.IIa im Hintergrund steht (vgl. 1,28 und 9,1), sondern vor allem auch das Zentrum der zu 6,10 ff. parallel formulierten Zukunftsperspektive in 7,1-5 bildet. 2 2

Nimmt man diese Beobachtungen zusammen, so erweist sich Dtn 8,79a. 10.1 la. 12-16aa. 17-18a in thematischer Hinsicht gegenüber Dtn 6,10-19 als der weitaus geschlossenere Textzusammenhang, wobei zudem die agrarökonomische Thematik des „schönen Landes" und seiner Fruchtbarkeit in dieser Breite selbst im ganzen Deuteronomium singulär ist (vgl. dagegen ähnlich Jer 2,7a!). Demgegenüber nimmt sich Dtn 6,10-19 als hochgradiger Komposit-Text aus, der nicht nur deshalb als vorwegnehmende Neuinterpretation und Nachformulierung von Dtn 8,7 ff. einzustufen, sondern darüber hinaus auch fest im Netzwerk der dtr. Tora-Rede von Dtn 1-30 verankert ist. Denn Dtn 6,10 ff. ebenso wie 7,1 ff. (vgl. 12,2 f.) entfalten vom Loyalitätsbekenntnis in Dtn 6,4 f. her die entscheidenden Zukunftsperspektiven, wie die JHWH-Loyalität im Zuge der bevor19 Vgl. in Übereinstimmung mit 6,10 bes. 1,8 und 34,4 mit ausgeführten Väternamen und der Gabe-Absicht neben den kürzeren Formen ohne Väternamen in 10,11; 26,3 und 31,7, wenn auch mit Gabe-Absicht sowie die Breviloquenzen in 6,23 und 8,1. 20 Einzig V. 9b bringt den, für Israels Wirtschaft aus geologischen Gründen kaum relevanten Erzabbau ins Spiel und unterbricht zudem den konzisen Z u s a m m e n h a n g von 9a (keinen Nahrungsmangel leiden müssen) und 10a (essen und satt werden), so dass in 9b an eine hyperbolische Nachinterpretation zu denken ist. 21 Vgl. von 1,25 her 1,35; 3,25; 4,21 f.; 6,18; 9,6 und 11,17. 22 Vgl. dann die ähnlich lautende Realisierungsforderung von Dtn 7,5 in 12,2 f. |

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7. Wirtschaftliche

Prosperität

und

Gottvergessenheit

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stehenden Land-Inbesitznahme (vgl. Dtn 9,1 ff.) und dann im wiedergewonnenen Lande unter den ethnischen, kultpolitischen und sozioökonomischen Verhältnissen (der späten Exilszeit in Juda) zu wahren sein und welche Gefahren der JHWH-Entfremdung und der Gottvergessenheit nach | dem idealtypischen Überschreiten des Jordans (vgl. 9,1) lauern werden, um diese tunlichst zu vermeiden. 23 1.2 Dtn 8,7-18* als Teil der Präambel des dtn. Verfassungsstatuts 8*) und Überleitungstext zu den Verfassungsbestimmungen in Dtn 12,13 f f . )

(Dtn 6-

Angesichts des Vorlagencharakters von Dtn 8,7-18* gegenüber dem dtr. Textabschnitt 6,10-19 legt sich die Vermutung nahe, dass Dtn 8,7-18* den letzten Teil der spätvorexilischen Einleitung zum Verfassungskorpus von Dtn 12-26* darstellt, der zum joschijanischen Verfassungsstatut ab 12,13 ff. überleitet. Diese Präambel dürfte mit dem Bekenntnis-Aufruf des Sch e ma' Jisra'el und der Loyalitätsverpflichtung in 6,4 f. 24 eingesetzt haben, die in 6,12 f. 15 durch eine Respekt-Vermahnung unterstrichen und in 7,6.8a mit der Befreiungs- und Erwählungstat des vasallenköniglichen Souveräns begründet wird (vgl. 26,16-19*), 25 was hier nur angedeutet werden kann. Überdies ist in der Exegese schon immer empfunden worden, dass Dtn 8,7-18* eher aus einer Perspektive der Sesshaftigkeit im Lande formuliert und gedacht ist, als etwa aus der dtr. Perspektive von „jenseits des Jordans" (vgl. 1,5 und 9,1 mit 1,22-25) im Modell der bevorstehenden Land-Inbesitznahme wie in 6,10 ff. und 7,1 ff. Das trifft ganz besonders auf die Zeit einer Wirtschafts-, Kult- und Gesellschaftsreform unter Joschija zu, die sich besonders in Dtn 12* und Kp. 14-16,17* manifestiert, aber auch im Königsgesetz von 17,15-17.20a oder in Dtn 19 (Asylstädte) und 24 (u.a. Schutz der personae miserae) durchscheint. 26 Dem Teiltext Dtn 8,7-18* im Vorspann zum Verfassungsstatut, an den sich die zu Dtn 6,12a und 8,1 la parallel formulierte Vermahnung in 11,13 als dritte Weisung passgenau angeschlossen haben dürfte, kommt dann im | Ganzen der Präambel eine Überleitungs-Funktion zu. Im Blick auf die 23

Vgl. bes. auch das dtr. Kapitel 13 sowie die entsprechenden Überformungen in 17,2-7. Wie die dtr. Passagen von Dtn 6,10-25 (unter Integration der vorexilisch dtn. Vermahnung von 6,12 f. 15 im direkten Anschluss an 6,4 f.) sowie 7,l-5.7.8a.9-l 1 (unter Integration der vorexilisch dtn. Begründung von 6,4 f. 12 f. 15 mit der ErwählungsAussage in 7,6.8a, vgl. 26,16-19*!) im Netzwerk der ganzen dtr. Mose-Rede von Dtn 130 verankert sind, kann hier nicht weiter ausgeführt werden; vgl. dazu die Grafik in HARDMEIER 2 0 0 4 . 24

25

V g l . d a z u HARDMEIER 2 0 0 0 a ( v g l . I I I . 5 . ) .

Vgl. dazu DERS. 2003b, 244-250 und bes. 245 f. (vgl. III.6.) zur Umbuchung der Vasallenloyalität gegenüber Assur auf die JHWH-Beziehung. 26 Vgl. dazu CRÜSEMANN 1997, bes. 251-273. |

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Wiedergewinnung der politischen Autonomie (Dtn 8,7a) gegenüber der verblassenden assyrischen Oberherrschaft nach dem Tode Assurbanipals (ab 630) entfaltet der Überleitungstext die sozioökonomischen Chancen und (Fluch-)Risiken einer prosperierenden Segenswirtschaft. Dabei steht der anthropologische Faktor einer sach-, situations- und sozialgerechten Sinnesorientierung im Zentrum (vgl. na*?27 in V. 14a und 17.18a), die durch Hybris und Selbstmächtigkeitswahn pervertiert zu werden droht (V. 14a. 17b). Im Anschluss an Dtn 6,4 f. 12 f. 15 und 7,6.8b, worin sich Israel initial (6,4 f.) auf die unbedingte Loyalität gegenüber JHWH zu verpflichten hat und sich damit de facto aus dem eidlichen Vasallenverhältnis zu Assur verabschiedet, entfaltet Dtn 8,7-18* die Segensperspektive der Landgabe durch den alleinigen Vasallenherrn JHWH, die sich in der bereits im Gange befindlichen Hineinführung und Übereignung des „schönen Landes" (8,7a. lObß) abzeichnet. Die Vermahnung in 8,1 I a . l 2 - 1 6 a a . l 7 - 1 8 a warnt dann vor den Gefahren, die eine Verleugnung der JHWH-Loyalität als Gottvergessenheit in der wirtschaftlichen Alltagspraxis mit sich bringen könnte. Ohne den selbstrelativierenden Gottesbezug trüben sich Sinn und Blick für die perspektivische Partikularität und Gebundenheit der je eigenen Sichtweise ebenso, wie die Fähigkeit schwindet zur Selbstrelativierung in der Wahrnehmung von Eigen- und Allgemeininteressen im gesellschaftlichen Handeln, womit zugleich auch die Korrekturfreundlichkeit, die Verhältnismäßigkeit und die Angemessenheit im wirtschaftlichen Urteilen verloren gehen. Denn wenn JHWH als eigentlicher Geber der natürlichen Ressourcen (8,7b-9a, vgl. 14b. 15) vergessen und die konstitutive Respekt-Beziehung zu JHWH missachtet wird, verliert sich auch das menschliche Vermögen einer umsichtigen und nachhaltigen Haushalterschaft in destruktiver Verhältnislosigkeit und egomaner Selbstüberheblichkeit. Demgegenüber schärft die Schlussmahnung in 8,18a als (Selbst-)Schutzmaßnahme die Empfehlung ein, sich stetig der konstitutiven JHWH-Bezogenheit im Wirtschaftsprozess innezuwerden, und formuliert damit die beziehungstheologische Basis einer prosperierenden, segensreichen Wirtschafts- und Gesellschaftspraxis, die dann als solidaritätsethisches Verfassungsstatut in Dtn 12,13 ff. in Form eines Korpus von toraförmigen Weisungen auch im einzelnen entfaltet wird. | Hinzu kommt ein weiteres Argument, Dtn 8,7-18* als Überleitungstext und Teil der Präambel zum joschijanischen Verfassungsstatut zu sehen, der von Dtn 6,4 f. 12 f. 15 her zum segensverheißenden JHWH-Respekt (vgl. 6,12 f.) in der sozioökonomischen Alltagspraxis mahnt. Dieser Schlussteil der Präambel und insbesondere Dtn 8,18a hat seine konzise Entsprechung 27

Zu 3*7 /331? als Zentrum der Vernunft- und Verstandestätigkeit des Menschen vgl.

JANOWSKI 2 0 0 3 d , 166 f f . |

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7. Wirtschaftliche

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in den Erinnerungsmahnungen innerhalb des Verfassungskorpus selbst (vgl. Dtn 15,15; 16,12; 24,18 und 22 sowie 5,15). 28 Sie alle nehmen innerhalb der - vor allem wirtschafts- und sozialethischen - Einzelweisungen einerseits exakt die Mahnung von Dtn 8,17a auf (niDn) und verbinden sie andererseits mit dem Hinweis auf die Befreiungstat des vasallenköniglichen Souveräns JHWH, der das angesprochene Israel aus dem Sklavenhaus Ägyptens befreit bzw. herausgeführt hat. Dabei entsprechen diese Hinweise in ihrer phraseologischen Gestalt exakt den einschlägigen Verweisen auf den Begründungsakt der JHWH-Souveränität in der Verfassungspräambel (vgl. 6,12b, 7,8ba und 8,14bß), 29 so dass darin auch textimmanent ein deutlicher Hinweis für eine bewusste Gestaltung und kohärente Verschränkung von Präambel und Verfassungsbestimmungen zu sehen ist. | 1.3 Intertextuelle

Bezüge zu Dtn 8,7-18* aus nachjoschijanischer

Zeit

Nun ließen sich neben Hos 13,4-8 auch eine Reihe von intertextuellen Bezügen zu II Reg 18 (vgl. V. 32), zu Jer 2,4-8 (vgl. V. 6 f.) sowie zu den Landnutzungs-Perspektiven in Jes 1,18-20 (vgl. 1,6 f.) benennen, die die zeit- und literaturgeschichtliche Zuordnung von Dtn 8,7-18* zur Präambel des joschijanischen Verfassungsstatuts weiter bestätigen könnten. Erwähnt sei lediglich die ironische Anspielung in der spätvorexilischen RabschakeRede in II Reg 18,32a, die nicht nur die Landbeschreibung in Dtn 8,7b-9a

28 Vgl. dazu HARDMEIER 1992. Das Sabbatgebot in Dtn 5,13-15 entspricht von seiner Gesamtanlage und insbesondere in seiner Schlussmahnung in 5,15 ganz den zeitspezifischen Verordnungen von Dtn 15 und 16 über die profane (Dtn 15) und kultischrituelle Verfügung über die Lebensressource „Zeit" im Beziehungs-Gegenüber zu JHWH. Das Ruhetagsgebot dürfte aus diesem Primärzusammenhang in den dtr. Komposit-Text des „Zehnwortes" von Dtn 5,6-21 aufgenommen worden sein, zumal es sich innerhalb des Dekalogs sowohl in sprachlich-syntaktischer als auch rhetorisch-argumentativer Hinsicht als markanter Fremdkörper ausnimmt. In Analogie zur Stellung des Sabbatgebotes im Bundesbuch - d.h. innerhalb von Ex 23,10-17 - dürfte der literaturgeschichtlich ursprüngliche Ort seiner dtn. (aber in Dtn 5,13-15 dtr. erweiterten) Fassung am ehesten im Übergang von Dtn 15 zu 16 zu suchen sein, d.h. im Anschluss an die Sch'mittahBestimmungen von Dtn 15,1-18, die die Brache-Verordnungen von Ex 23,10 f. gewissermaßen sozialethisch uminterpretieren, und vor dem Festkalender von Dtn 16,117, dem Ex 23,14-17 im Anschluss an das Sabbatgebot von 23,12 entspricht. 29 Vgl. Dtn 5,15aß mit 6,12b und 8,14b (KS' hif.) sowie 15,15aß und 24,18aß mit 7,8ba ( m s ) neben den Kurzformen in 16,12 und 24,22. Die stereotype Mahnung, der Knechtschaft in Ägypten zu gedenken, entspricht in allen Belegen (vgl. 5,15aa; 15,15aa; 16,12aa; 24,18aa und 2 2 a a ) exakt der ausdrücklichen Nennung des „Sklavenhauses" (D'"T3P Iva) in den einschlägigen Präambeltexten (6,12b; 7,8ba und 8,14bß), die im Deuteronomium sonst nur noch in Dtn 5,6 sowie 13,6.11 dtr. belegt ist.

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quasi zitiert, 30 sondern auch polemisch auf JHWH als vasallenköniglichen Geber des Landes in Dtn 8,7a eingeht (vgl. Jer 2,6b.7!), was von den Gegenspielern Jeremias in II Reg 18,32aai als scheinfriedlich zynisches Gehabe des assyrischen bzw. babylonischen Großkönigs abgetan wird. 31 Ferner bewegt sich der komplexe Schuldaufweis in Jer 2 gegen Jerusalem und die Judäer mit seiner besonderen, auch phraseologischen Nähe zur dtn. Präambel 3 2 im gleichen Spannungsfeld zwischen Erinnern | und Vergessen (vgl. bes. V. 2aß und 32) wie die Mahnung von 8,11-18a. Für Jeremia konkretisiert sich das Vergessen im falschen Vertrauen auf Ägypten, so dass die faktische Gottvergessenheit in den außenpolitischen Bindungen in Jer 2 parallel steht zur drohenden Gottvergessenheit durch Wohlstand in Dtn 8. Wahrscheinlich weist diese an Hos 13 geschulte theologisch-politische Denkweise in Jer 2 und Dtn 8 auf ein gemeinsames, schafanidisch-dtn. Milieu hin, dem auch Jeremia angehörte. 3 3 Wie immer diese Zusammenhänge im einzelnen zu sehen sind, Dtn 8,7-18a wird mit vielen guten Gründen als Einleitungstext in den noch vorexilischen Bestand des Deuteronomiums aus der Joschijazeit zu lesen und auf dem Hintergrund wachsender Prosperität in den dreißiger und zwanziger Jahren des 7.Jh.s zu interpretieren sein, insbesondere wenn es richtig ist, dass die 30 Insbesondere die sehr spezifische Charakterisierung als Land von Olivenölreichtum und Honig in Dtn 8,8b ( i m 1DB m f i x ) und II Reg 18,32acc3 (itfmi i n s ' ji'T IHK) findet sich nur an den genannten Stellen und ist darüber hinaus in zweifacher Hinsicht singulär: sowohl im Hinblick auf die Abfolge von Olivenöl (JVT) und Honig (¡TFN) als auch hinsichtlich der attributiven Näherbestimmung von i r r im st.cs., überhaupt durch eine weitere Qualitätsbezeichnung, sei es durch ;db» wie in Dtn 8,8b, sei es durch n n s ' wie in II Reg 18,32aa 3 ; vgl. dazu HARDMEIER 1990a, 370. 31 Zur polemischen Funktion der Rabschake-Reden vgl. a.a.O. 321 ff., zu II Reg 18,31 f. a.a.O. 369 ff. 32 Vgl. nur die Heiligkeitsdeklaration des Volkes in der Diskurseröffnung von Jer 2,2 f. in V. 3a mit Dtn 7,6a; 14,2a und 26,19b, ferner die oben bereits erwähnte Nähe von Jer 2,6 f. zu Dtn 8,7-18* (vgl. bes. 8,7-9a mit Jer 2,7a und 8,14b. 15a mit Jer 2,6b), aber auch die exakte Umsetzung der scheidungsrechtlichen Logik von Dtn 24,1-4 in der Argumentation von Jer 3,1 bis in den Wortlaut hinein. Diese Bezüge zum joschijanischen Deuteronomium sind Teil der gerichtsmetaphorischen Prozess-Rede von Jer 2-6, in welcher JHWH im Kontext des Zidkija-Aufstandes von 588 gegen Nebukadnezzar seine untreue „Ehefrau" Jerusalem wegen bündnispolitischem „Ehebruch" zur Rechenschaft zieht und ultimativ verwarnt (vgl. Jer 6,8 und zum Ganzen, HARDMEIER 2001b, 133-141 sowie DERS. 1991a, DERS. 1996 und DERS. 1998 ). Somit sind diese Bezüge ein starkes Indiz dafür, dass Jeremia das joschijanische Verfassungsstatut einerseits bei seinen Widersachern als bekannt und deshalb quasi zitierfahig voraussetzen konnte und andererseits selber im Geiste dieser Reformverfassung dachte und argumentierte. Dementsprechend verlegt die dtrjer. Retrospektive in Jer 3,6 ff. (vgl. 1,2; 25,3 und 36,2) in typologischer Verallgemeinerung durchaus sachgemäß den Beginn von Jeremias Wirksamkeit bereits in die idealisierte Regierungszeit Joschijas selbst vor. 33

Vgl. dazu HARDMEIER 1990a, 443 ff. sowie DERS. 2001b, bes. 124-127.

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nachjoschijanischen Texte Jer 2 und II Reg 18,32 sich intertextuell auf den Präambelabschnitt von Dtn 8 zitatartig bezogen und ihn somit vorausgesetzt haben.

2. Erinnern und Vergessen Gottes nach ihrer theologischen und anthropologischen Seite in Dtn 8,7-18a* Damit ist auf die Argumentation und den Inhalt von Dtn 8 zurückzukommen. In der dtn. Vergessenswarnung von Dtn 6,12 f. steht der respektvolle Umgang mit JHWH ( m r r rix KT) als unbedingtem Beziehungs-Gegenüber (6,4 f.) im Zentrum der anempfohlenen Verinnerlichung. Ähnlich wird im Anschluss an den dtr. Auftakt zur aktualen Tora-Lehre (4,1-8, vgl. nnsn in V. 1) auch in 4,9 ff. die Erinnerung an die maßgebliche JHWH-Begegnung am Horeb eingeschärft (V. 10), in welcher dem Volk das Zehnwort aus dem Feuer offenbart wurde (V. 12* f.). Im Unterschied zu dieser Vergessenswarnung bezieht Dtn 8 das drohende JHWH-Vergessen direkt auf das wirtschaftliche Alltagsverhalten analog zu Hos 13 und vor allem zu Jer 2, wo im Rekurs auf die Geschichte der ehebrecherischen Untreue die Verabsolutierung außenpolitischer Bindungen als Abfall von JHWH angeklagt wird. 3 4 Komplementär dazu zeigt der Text Dtn 8,7-18a auch ausführlicher, in welcher Wechselwirkung und Korrelation Gottvergessenheit und wirtschaftliche Prosperität zueinander stehen. | Wie bereits angedeutet, führt der zweite Textteil 11-18a* näher aus, wie sich der in V. 10b gebotene „Segen" gegenüber JHWH als Dank für die Gabe des „schönen Landes" zu gestalten hat, bzw. welche Gefahren lauern, wenn das Volk in den Genuss dieser segensreichen Gaben kommt. Argumentativ stehen sich die Vergessenswarnung in V. 11 und die Erinnerungsmahnung von V. 18a gegenüber. Die Verse 12-17 entfalten dann ihrerseits vor allem das Vergessen nach zwei Seiten hin. Einerseits werden in 12-14a die anthropologischen Folgen des Wohlstandes aufgezeigt: Wenn Israel im schönen Lande sich satt essen und sein Wohlstand sich mehren wird, droht sich sein Herz zu überheben. Die Verse 14b-16aa beleuchten dann andererseits den theologischen Aspekt des Vergessens: Was in Vergessenheit geraten könnte, ist dabei nicht zufallig in hymnischpartizipialer Sprache formuliert (vgl. auch Jer 2,6 f.!). Es ist der Lobpreis JHWHs, worin sich Israel an seinen Gott des Exodus erinnert und der Grundversorgung inne wird, die JHWH selbst in der Wüste mit Wasser und Manna-Speise gewährt hat. V. 17 greift dann erneut die anthropologische Seite des Gottvergessens im Wohlstand aus 12-14 auf und fasst die

34

Vgl. bes. Jer 2,10-13.17-19 sowie die oben Anm. 32 genannten Arbeiten. |

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drohende Selbstüberheblichkeit in ein Selbstzitat: „Meine Kraft und die Stärke meiner Hand hat mir diesen Reichtum verschafft." Der abschließende V. 18a bildet nun aber mit seiner Mahnung, sich JHWHs zu erinnern, nicht nur das positive Gegenstück zur Vergessenswarnung von V. I I a und ihrer theologischen Füllung in V. 14b-16aa. Er formuliert zugleich auch auf der anthropologischen Ebene den Kontrast zu V. 17: „denn er (JHWH) ist derjenige, der dir die Kraft dazu gibt, (dir) Reichtum zu verschaffen." D.h., auch die wirtschaftliche Leistungskraft wird - wie in 8,7-10* die Gabe des Landes und in 8,14b-16aa die Führung und Lebensfürsorge in der Wüste - als Gottes Gabe qualifiziert. Von 8,18a her wird damit die innere Zusammengehörigkeit der Textteile 8,7-10* und 11-17* mit ihrer Zuspitzung im Selbstzitat augenfällig. Die Verse 7-9a beschreiben das Land als Gabe JHWHs von seiner objektiven Ausstattung her, d.h. in Hinsicht auf seine wunderbare, naturgegebene Fruchtbarkeit, die dem Gottesvolk ohne sein Dazutun zur Nutznießung offen steht. Es ist ein Land, das alle satt werden lässt und in dem es an nichts mangeln wird (V. 9a. 10a). Demgegenüber fassen die Verse 11-17* das Thema des SattWerdens und des Wohlstandes im Lande von der Seite derer her ins Auge, die als tätige Subjekte die objektiven Gaben des Landes durch Kulturarbeit optimieren und prosperierend bewirtschaften. Unter explikativer Aufnahme von V. 10a in 12a werden in 12b und 13a Häuserbau, Viehzucht und Geldvermehrung genannt. Zudem korrespondiert der abschließende Satz in 13b, dass sich alles ("73) vermehren wird, exakt mit dem SchlussSatz in V. 9aß, dass es an gar nichts mangeln wird (auch im verneinten Satz), was die innere Geschlossenheit und Kohärenz der Textteile unterstreicht. Doch weil es in diesem zweiten Teiltext um die Wirtschaftssubjekte und um die anthropologische Ambivalenz wirtschaftlicher Leistungskraft geht, wird in 14b-16aa dem Erwirtschaften von Reichtum durch menschliche Arbeitskraft die lebenserhaltende Fürsorglichkeit JHWHs in der Wüstenzeit gegenüber gestellt. Die Wüste, das nicht-kultivierbare Land schlechthin, ist das absolute Gegenbild zum „schönen Land" von V. 7-10*, in das JHWH das Volk hineinführen will. In der Wüste hatte das Gottesvolk keine Möglichkeit auch nur im geringsten aus eigener Kraft für sein Überleben zu sorgen. JHWH war das alleinige Subjekt und die alleinige Kraft, die das einstige Wunder der Lebensfürsorge in der Wüste ohne eigenes Dazutun gewährte. Wie ein roter Faden durchzieht j a das Thema Essen und Satt-Werden alle drei Teile der Texteinheit von 8,7-18a* (vgl. oben 1.1 unter b.). An der Kontrastbildung von göttlicher Fürsorge in der Wüste und dem durch eigene Kraft erwirtschafteten Reichtum im Lande wird auch etwas von der Funktion deutlich, die die Erinnerung an den Exodus und an die

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Wüstenzeit in Dtn 8 hat. Diese stetige Rückbesinnung - etwa im hymnischen Lobpreis - soll das Bewusstsein schärfen und wachhalten, dass JHWH auch im Lande der eigentliche Ursprung und Spender aller wirtschaftlichen Leistungskraft bleibt. Ja, wo dieses vergessen wird, drohen als Gefahr gottwidrige Selbstüberheblichkeit und damit eine Verhältnis- und Maßstablosigkeit, die das Organ einer sach- und vernunftgemäßen Lebensorientierung, nämlich das „Herz" (n1?), trüben und pervertieren (vgl. oben 1.2).

Wo sich also das Gottesvolk - und dies kann man auch allgemein formulieren - wo die Menschen ihre wirtschaftliche Leistungskraft nur und allein sich selbst zuschreiben, setzen sie sich de facto an die Stelle Gottes und zum Maß aller Dinge, wobei zweierlei in verhängnisvoller Weise vergessen wird: 1. dass - schöpfungstheologisch gesprochen - Gott, der Schöpfer, der Geber aller natürlichen Lebensvoraussetzungen ist, und 2., dass Gott, auch der Geber und Spender all unserer Lebens- und Wirtschaftskraft bleibt. Beides, die natürlichen Lebensgrundlagen und das, was man als Humankapital menschlicher Arbeitskraft und kreative Innovationsfahigkeit bezeichnen könnte, bleiben im stetigen Erinnern des Exodus- und Wüstenbekenntnisses nach Dtn 8 der letzten Verfügungsgewalt des Menschen entzogen und wandeln sich in diesem Erinnern zu einem verantwortlichen Umgang mit diesen Gaben, der im Machbaren und in der Eigenleistung coram deo immer zugleich auch den Gabe-|Charakter allen Gelingens und den Geschenk-Charakter der grundlegenden Lebensbedingungen wahrnimmt. Sich JHWHs erinnern heißt, nicht der Suggestion der eigenen Leistungskraft, der Machbarkeit und des eigenen Wirtschaftserfolges zu erliegen. Das heißt damit zugleich, objektiv gegebene Grenzen auch im Wirtschaftsprozess anzuerkennen und seine Unwägbarkeiten in Rechnung zu stellen, auch wenn und weil man damit gerade nicht rechnen kann. Denn diese Grenzen sind uns Menschen vom unverfugbaren Wurzelgrund der natürlichen Lebensgrundlagen her gesetzt und schließen den Respekt auch gegenüber Grenzen der menschlichen Leistungskraft, der Kompetenz und der Machbarkeiten mit ein (vgl. Dtn 6,5!)). Daran soll sich das alte Gottesvolk - besonders im Lande - um seiner Selbstbewahrung und seines Fortkommens willen stets erinnern. Dabei weist die hymnische Sprache von 8,14b-16aa daraufhin, dass sich dieses Erinnern an den fürsorglichen Gott des Exodus wesentlich im gottesdienstlichen Lobpreis vollzieht. 35 35

Vgl. dazu auch das in Dtn 26,19aß formulierte Ziel der wechselseitigen Loyalitätsverpflichtung (V. 17-19) zwischen JHWH und seinem imaginären Vasallenvolk. JHWHs fürsorgliche Bevorzugung (V. 19aa) seines „Beute"-Volkes (n'pio DP, vgl. 26,18aa und 7,6ba 2 , vgl. dazu Lipinski 1986, bes. Sp. 750 f.) dient ihm niSDn'71 •¡»'71 rrtnn'?; vgl. dazu H a r d m e i e r 1995. |

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Umgekehrt rühren die größte Gefahr für Reichtum und Wohlstand und die Keimzelle ihrer Selbstzerstörung nach Dtn 8 von der Gottvergessenheit her, d.h. von einer de facto Selbstvergottung, wie es vergleichbar auch die Bergpredigt in Mt 6,21.24 formuliert. Sie gipfelt in der Apotheose der eigenen Wirtschaftskraft und damit in dem Satz: „Meine Kraft und die Stärke meiner Hand hat mir diesen Reichtum verschafft." Dieser Satz formuliert sozusagen das Selbstlob in Anbetung der eigenen Leistungskraft und tritt an die Stelle des Gotteslobes.

3. Gottvergessenheit und Realitätsverlust in der Unheilsprophetie Nun könnte man auf breiter Linie zeigen, wo und wie in Israel und Juda vor allem seit der zweite Hälfte des 8. Jh.s diese Erfahrung verhängnisvoller Gottvergessenheit gemacht wurde. Diese negative Seite der Alternative in Dtn 8 ist nur kurz zu streifen. Insbesondere die unheilsprophetischen Überlieferungen von Hosea bis Jeremia legen davon vielfältig Zeugnis ab. Schon die hoseanische Unheilsprophetie sieht in der Anbetung des eigenen Wohlstands statt der Anbetung JHWHs als dem Geber dieser Gaben eine wesentliche Ursache für die Abwendung von seinem Volk, | die im Untergang des Nordreichs erfahrbar wurde. Dieser Zusammenhang kommt besonders prägnant in Hos 13,4 ff. zum Ausdruck, ein Text, der im Hintergrund der Vergessenswarnung von Dtn 8,11-17 unweigerlich anklingt und hier zur Mahnung ausgelegt wird. Ähnlich führt Jes 9,7-20 die Katastrophe des Nordreichs auf die Hybris der Führungseliten zurück (vgl. na1? "7T1 in 9,8 und dann in 10,12b auf Assur bezogen), die ihre Situationsund Zukunftsorientierung nicht im Gegenüber zu JHWH gesucht (V. 12) und deshalb in ihrem verbrecherischen Unrechtsverhalten (nj>an) seinen fortwährenden „Zorn" ( m a p ) auf sich gezogen haben (V. 17 f.), was in die Katastrophe des Nordreichs führte. Wie bereits erwähnt, sieht dann auch Jeremia in Jer 2 die fortgesetzte Gottvergessenheit und den Abfall des Gottesvolkes von JHWH in den nichtigen Vertrauensbindungen vor allem an die Bündnismacht Ägypten (vgl. V. 10-13 sowie 18 f. und 35b-37). Dieses, durch heilsprophetische Propaganda unterstützte Vertrauen auf die Hilfe der Großmacht am Nil hatte bei der Initiierung des Zidkijaaufstandes und noch während der letzten Belagerung Jerusalems durch die babylonischen Truppen zu einer tragischen Fehleinschätzung der Situation geführt und die Zerstörung Jerusalems zur Folge gehabt. Falscher Glaube, falsche Bindungen an Vorletztes führten damals zu einer fatalen Verkürzung der Situationseinschätzung, zur Verkennung der eigentlichen Gefahren und zur Leichtfertigkeit eines

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zweiten Aufstands gegen Nebukadnezzar. 3 6 An der Gerichtsrede von Jer 26, die sich auf diese Situation bezieht, ließe sich im einzelnen zeigen, wie Jeremia diesen Realitätsverlust von seinen theologischen Wurzeln her warnend zu entfalten sucht, um Jerusalem vor dem Schlimmsten zu bewahren (6,8). 37 Wenn Gott nicht mehr als der wahre Helfer und Retter in Erinnerung bewahrt bleibt, erliegen die Menschen der Suggestion des eigenen politischen Kalküls und der eigenen Leistungskraft, die zu verhängnisvollen Realitätsverkürzungen führt. Diesen Zusammenhang zeigt die Unheilsprophetie auf und die Vergessenswarnung von Dtn 8 setzt diese Erfahrung in die einleitende Mahnung um, nicht ob der Faszinationskraft eigener Leistung und Stärke den Geber zu vergessen und darin das menschlich Vorletzte und Vorläufige mit dem Letzten zu verwechseln. | Auch nur ein flüchtiger Blick auf unsere heutigen Verhältnisse lässt ahnen, wie aktuell diese theologische Dimension wirtschaftlichen und politischen Handelns ist. Der optimistische Glaube an die Selbstheilungskräfte des Marktes und die Segnungen eines stetig wachsenden Bruttosozialprodukts steht zunehmend in einem Missverhältnis zum Anwachsen von Arbeitslosigkeit und Armut und zu den weltweiten Schulden- und Hungerproblemen. Ebenso verhindert der unterschwellige Glaube an die wirtschaftlich-technische Lösbarkeit unserer Umweltprobleme, dass ihr ganzes Ausmaß außerhalb von Expertenkreisen unverkürzt wahrgenommen und zureichende Gegenmaßnahmen ergriffen werden, wie sich z.B. am hartnäckigen Widerstand großer Industrienationen wie Amerika und Russland gegen die Unterzeichnung des Kyoto-Protokolls zeigt. Ein narzisstisch besetzter Anthropozentrismus und die darin sich manifestierende Gottvergessenheit sind wesentliche Ursachen für unsere besorgniserregende Gegenwarts- und Zukunftsblindheit, die unserer wirtschaftlichpolitischen Alltagspraxis innewohnt. 3 8 Dies fordert unser Nachdenken über die theologische Dimension wirtschaftlicher Leistungskraft auf ganz neue Weise heraus. Doch ist der unheilsprophetische Weg nur ein Weg, die menschlichen Selbstgefährdungen und ihre unheilsträchtigen Folgen sub

36

Vgl. aus der Retrospektive Thr 4,17 und dazu HARDMEIER 1990a, 263.277-283 und 421-423 37 Vgl. dazu oben die Hinweise zu Jer 2-6 bei Anm. 32 und die dort erwähnten Arbeiten. | 38 Vgl. dazu den aufschlussreichen Aufsatz von REISCH 2000, und ihre Analyse der „Positionalität als Verhaltensaxiom" (227-236) der herrschenden Wirtschaftsideologie, wonach der „als unersättlich betrachtete Wunsch der Menschen nach Verteidigung und Erhöhung der eigenen relativen Position" als der „zentrale Motor des wirtschaftlichen Wachstums und des gesellschaftlichen Fortschritts" gilt (a.a.O. 227). Zu den religiösen bzw. religionsgeschichtlichen Implikationen des Wirtschaftsliberalismus und zum Götzencharakter der neoliberalen Marktideologie vgl. ferner SEGBERS 2002, 275 ff., bes. 282-286. |

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specie dei aufzuzeigen. Zudem haftet diesem Weg in seinen Wirkungen seit Jesaja das Problem der Verstockung an. Umso interessanter ist es, wie das spätvorexilische dtn. Verfassungsstatut das stetige Erinnern an den Geber aller Gaben auf eine revolutionierende Weise im Wirtschafts- und Sozialalltag verankert hat. |

4. Das Erinnern Gottes als Geber wirtschaftlicher Prosperität und Leistungskraft in den sozioökonomischen Verfassungsbestimmungen des Deuteronomiums Im Deuteronomium findet sich an sechs Stellen eine Bemerkung, die wie eine Art Leitmotiv sowohl bestimmte Einzelweisungen zur Darlehensgewährung (15,10; 23,21), zur Sklavenfreilassung (15,18) und zur Überlassung von Ernteresten (24,19) abschließt als auch Bestimmungen zum Zehnten (14,29) und zum Festkalender (16,15). Von diesen Abschlusssätzen her lässt sich zeigen, wie die entsprechenden Bestimmungen der Erinnerungsmahnung von Dtn 8,18a sowie der Segensdankforderung von 8,10b im Wirtschafts- und Sozialverhalten Rechnung tragen. Mit kleinen Varianten lautet der zumeist final formulierte Satz z.B. im Anschluss an die Erinnerungsmahnung von 24,18 in V. 19: „... damit dich JHWH, dein Gott, segnet in allem Tun deiner Hände" ("['V nftyD ... - p - D ' fSD1?). Dieser Satz formuliert zum einen die Erwartung, dass die Befolgung der entsprechenden Bestimmungen den Segen JHWHs in Form von Wirtschaftserträgen aus der gewerblichen Arbeit mehrt. 39 Das heißt aber nicht, dass dieser Segen wirtschaftlicher Prosperität etwa durch getreue Gebotserfüllung in irgendeiner Weise verfügbar wird. Zum andern kommt in dieser Segenserwartungsformel das Bewusstsein zum Ausdruck, dass alles Tun der Hände auf den unverfügbaren göttlichen Segen angewiesen bleibt. Mit entsprechenden Zielbestimmungen im Abschluss einiger Einzelweisungen wird dieses Bewusstsein jedoch gerade auch ganz konkret in der Praxis der Gebotsbefolgung verankert. Zu beginnen ist mit Dtn 24,19: „Wenn du deine Ernte schneidest auf deinem Feld und du vergisst eine Garbe auf dem Feld, so sollst du nicht umkehren, sie zu holen. Dem Fremden, der Waise und der Witwe gehört sie, damit dich segnet JHWH, dein Gott, in allem Tun deiner Hände". Das in V. 20 und 21 folgende Verbot, bei der Öl- und Weinernte Nachlese zu halten, zielt in die gleiche Richtung. Auch dieser Rest bzw. Überschuss des Feldertrags soll den personae miserae überlassen bleiben. D.h. jener Ertrags-

39 Zusätzlich zum „Tun deiner Hände" ( T T n»»D in 14,29; 15,10, vgl. 18; 16,15 und 24,19) werden einerseits in 16,15 das „Einkommen" ( r m n n ) genannt und andererseits in der Darlehensbestimmung von 15,10 sowie im Zinsverbot in 23,21 ausschließlich der T T nii/VD, d.h. der Gestus der Aushändigung von Geld.

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teil, der nach einmal erfolgter Erntearbeit übrig bleibt, soll nicht extra noch eingeholt, verfügbar gemacht und damit optimiert werden. Es soll bewusst nicht das Letzte aus Feld und Flur herausgeholt werden. 4 0 Vielmehr soll diese Art von Überschuss, den die erntenden Bauern fürs erste vernachlässigt haben, den Mittellosen | zugute kommen, die außerhalb des bäuerlichen Versorgungsverbandes ihr Leben fristen müssen. Vergleichbar ist der Fall in den Bestimmungen über die Sklavenfreilassung in Dtn 15,1218. Wenn ein Sklave oder eine Sklavin nach sechs Jahren freigelassen wird, sollen die Freigelassenen nicht mit leeren Händen wegziehen. Vielmehr sollen sie mit einer Art bäuerlichem Startkapital aus dem Viehbestand sowie aus Tenne und Kelter ausgestattet werden, um eine neue Existenz zu gründen. Das Maß dessen, was den Freigelassenen gegeben werden soll, bemisst sich nach V. 14 am Segen, mit dem J H W H den Sklavenbesitzer wohlhabend gemacht hat. Aber eben nur, wenn den Freigelassenen ein Startkapital mitgegeben wird, das diesem materiellen Segen entspricht, bleibt auch der Segen J H W H s über allem weiteren Tun des ehemaligen Sklavenbesitzers verheißen. Es geht also auch hier um die Ab- bzw. die Weitergabe überschüssiger Erträge an Unbemittelte, zumal die freizulassenden Sklaven diese Überschüsse miterwirtschaftet haben, wie V. 18 betont. Ein dritter sozioökonomischer Zusammenhang, in welchem die Segenserwartungsformel begegnet, ist das Leihwesen. Nach Dtn 23,20 ist es zwar strikte verboten, von eigenen Volksgenossen (trriN) jede Art von Zins für Geliehenes zu nehmen. Doch soll man nach Dtn 15,7-10 dem Armen und Bedürftigen aus dem eigenen Volke umso großzügiger leihen, und zwar selbst dann, wenn das Erlassjahr kurz bevorsteht, in welchem alle Schulden erlassen werden sollen. Auf der Befolgung beider Bestimmungen liegt der Segen in allem, worin sich die Hand rührt ( " P ' rrtltfD "73a), d.h. in allen Verrichtungen, die offenbar mit Leihgeschäften zu tun haben. Dabei mahnt Dtn 15,7 ausdrücklich vor Hartherzigkeit. Ja, wenn das Erlassjahr bevorsteht, soll man sich nach V. 9 unbedingt davor hüten, Darlehen zu verweigern, aus dem Kalkül heraus, dass sie demnächst ohnehin verfallen. Auch beim Zinsverbot und der Forderung, Darlehen praktisch ä fonds perdu zu vergeben, geht es also darum, minderbemittelte Volksgenossen im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe mit den Wirtschaftsüberschüssen der reicheren zu unterstützen, damit sich die Zins-Schulden-Schere nicht öffnet.

Zwei Dinge haben diese Bestimmungen somit gemeinsam. Zum einen geht es in ihnen um den Umgang mit Wirtschaftsüberschüssen unterschiedlicher Art, d.h. genau um den Wohlstand, der sich nach Dtn 8,12 f. mehrt. Dabei meint der Segen, dessen Fortbestand nicht gefährdet werden soll, gleichsam das erfolgreiche Bruttosozialprodukt, das „gesamte Tun deiner Hände", das die Ertragsüberschüsse mit einschließt. Nur, genau diese Wirtschaftsüberschüsse, die nicht unmittelbar konsumiert und zur Erhaltung der Bauernwirtschaften reinvestiert werden müssen, sie werden der Eigenverfügung entzogen. Denn zum andern ist diesen Bestimmungen gemeinsam, dass diese Überschüsse den Mittellosen zugute kommen sollen, die nicht oder nicht zureichend durch die bäuerliche Familienwirtschaft versorgt werden, Fremdlinge, Witwen und Waisen in Dtn 24, freizulassende Sklaven in Dtn 15 sowie verarmte Volksgenossen, die auf Darlehen 40

Vgl. dazu - bezogen auf das Ruhetagsgebot EBACH 1988. |

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angewiesen sind, in den Leihgesetzen. Auf einen sozialpolitischen Nenner gebracht, geht es in allen diesen Bestimmungen konsequent darum, der latenten Öffnungstendenz der sozialen Schere entgegenzusteuern und die | wirtschaftliche Prosperität sowie deren Überschüsse als göttliche Segensgabe zu respektieren, die man sich weder als Leistung selbst zuzuschreiben hat (8,17a), noch sich demzufolge individuell aneignen kann. 41 Unter theologischen Aspekten heißt das: Der göttliche Segen kann sich im gesamtwirtschaftlichen Tun nur dann erfolgreich entfalten, wenn die Ertragsüberschüsse dieses Segens an diejenigen zurückverteilt bzw. weitergegeben werden, deren Wirtschaftskraft oder soziale Stellung keine hinreichende Selbstversorgung erlauben. Sie aber, besonders die Witwen, Waisen und Fremden, sind JHWHs unmittelbare Schutzbefohlenen, wie es Dtn 10,17 f. entsprechend der altorientalischen Königsideologie ausdrückt (vgl. auch Jes 1,17). D.h., der göttliche Segen, der sich ganz besonders in den Ertragsüberschüssen manifestiert, wird damit im Prinzip aus der Hand des Gebers als Ausdruck seiner „konnektiven Gerechtigkeit" 4 2 an seine Schutzbefohlenen weitergegeben. Nicht zuletzt deshalb ist auch das Erlassjahr im Sieben-Jahres-Rhythmus (Dtn 15) als Weitergabe der Lebens- und Segensressource „Zeit" an diejenigen zu verstehen, denen der Zeitenlauf Verschuldung und Armut z.B. durch Missernten oder andere Schicksalsschläge - gebracht hat und die sich deshalb anderen als Schuldsklaven verdingen oder sich Darlehen borgen müssen. Dabei ist die Weitergabe von empfangenem Segen, die in großköniglicher Herrschaftsmetaphorik als regelmäßiger Schuldenerlass des Vasallenherrn JHWH angeordnet wird, 43 von denjenigen zu leisten, die aus den glücklosen Zeitumständen der Schuldsklaven ihrerseits segensreiche Vorteile ziehen und Überschüsse erwirtschaften konnten oder die von vornherein in der Lage waren, anderen aus ihren Überschüssen Darlehen zu gewähren. Auch diese Wirtschaftserträge bzw. -Überschüsse, die aus der Arbeitskraft anderer erzielt werden, bleiben somit der kumulativen Selbstaneignung entzogen und sind als empfangener Segen an die durch unglückliche Lebensumstände in Not Geratenen zurückzuverteilen, damit die Segenskraft in allem wirtschaftlichen Tun erhalten bleibt. |

41

Vgl. dazu aus biblischer und dogmatischer Perspektive FRETTLÖH 1998, bes. 326-

3 2 8 s o w i e z u m G a n z e n CRÜSEMANN 1997, 2 6 2 - 2 7 3 . 42

Vgl. dazu JANOWSKI 2003d, 138-141. Vgl. Dtn 15,2b nirr 1 ? nooi»; das dient hier der Attribut-Bildung durch den als solchen determinierten Eigennamen ( m m ) zur Näherbestimmung des indeterminierten Substantivs NADL» (vgl. JOÜON-MURAOKA § 130b); zur Sache vgl. im Einzelnen 43

CRÜSEMANN 1997, 2 6 4 - 2 6 9 . |

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5. Der beziehungstheologische Horizont der Gebotsbefolgung im Wirtschaftsalltag - ein theologischer Ausblick Alles in allem dürfte kaum zu bezweifeln sein, dass mit den genannten sozioökonomischen Verfassungsbestimmungen die Grundforderung von Dtn 8,10b, JHWH zu „segnen", in die Praxis des Wirtschaftsalltags umgesetzt wird. D.h. in dieser segnenden Dankbarkeit schreiben sich die von JHWH Beschenkten den empfangenen Segen weder sich selber zu (17b), noch eignen sie sich diesen auf Kosten der von den Lebens- und Zeitumständen Benachteiligten kumulativ selbst an. Vielmehr wird - im alltagspraktischen Gedenken an den Geber - dieser Segen (V. 18a) angesichts des „schönen Landes", in das er sein Volk hineinführen will (10b), dankbar an die Schutzbefohlenen JHWHs weitergegeben, um damit die Mehrung des gesamtwirtschaftlichen Segens zu befördern (vgl. bes. 15,10). Diesen theologischen Aspekt könnte man auch an den beiden letzten Segenserwartungsformeln in den Zehntenbestimmungen (Dtn 14,22-29) und in der Weisung zum Laubhüttenfest (16,13-15) zeigen, was jedoch aus Raumgründen nicht möglich ist. Gleichwohl, vor allem aus der Bestimmung in 16,15 geht der kultisch-gottesdienstliche Aspekt der sozioökonomischen Verfassungsbestimmungen besonders hervor und macht den alltags-gottesdienstlichen Grundzug dieses Verfassungsstatuts deutlich, 44 zumal es sich dabei herrschaftsmetaphorisch um einen Vasallen- und Loyalitätsvertrag mit JHWH handelt, dessen Partner, das Volk Israel, sich selbst als gottesdienstliche Versammlung versteht (vgl. Dtn 23,2-4). 45 1 44 In Rom 12,1 f. vertieft Paulus diese vergleichbare dtn. ^oyiicri ^ a x p e i a christologisch, die gemäß der dtn. Tora und ihrer Präambel in Dtn 8,7-18a* in der sozioökonomischen Alltagspraxis aus der Respekt-Beziehung zu J H W H und dem (i8ianop(poÖCT9ai des „Herzens" resultiert vovc,, vgl. z.B. Jes 10,12 LXX!). 45 Dieses Selbstverständnis belegen dann sehr konsequent auch die Retrospektiven auf die (spät-)vorexilische Zeit in den dtr. Horeb-Reminiszenzen in Dtn 4,10; 5,22; 9,10; 10,4 und 18,16 (vgl. 31,12 als Modell für die Zukunft). Darin spiegeln sich in hochgradig typologischer Verdichtung und Transfiguration die Primärbegegnungen Israels am Gottesberg (= Zion/ Jerusalem) mit JHWH, der einerseits im 8. bis 6. Jahrhundert primär aus dem brennenden (Zornes-)Feuer der Schriftprophetie direkt zum Volk gesprochen hat (vgl. bes. Jes 9,16-18; Zeph 1,18 und 3,8 sowie dtr.jer. z.B. Jer 15,14; 17,4 und 21,12 und den häufigen Terminus p i n ) , wobei andererseits die Kernkonsequenz aus ihrer kult- und sozialkritischen Botschaft im Zehnwort zusammengefasst wird (vgl. die Stilisierung des Dekalogs als m n ' i m in Dtn 5,5aß und die Präfigurationen dekalogischer Gebote in Hos 4,2 und Jer 7,9). Besonders die vierte Horebreminiszenz in 9,7 ff. thematisiert die lange und höchst krisenreiche (spät-)vorexilische Beziehungsgeschichte zwischen JHWH und Volk unter dem Generalnenner der notorischen Verstockung (vgl. 9,6b.13b!). Dabei hat diese Geschichte der kontinuierlichen | Kränkung JHWHs (vgl. 9,7b und 24.) seinen nachhaltigen „Zorn" hervorgerufen (vgl. Jes 9,7-20; 5,25 sowie Jer 2,35; 4,8b und Thr 2), den auch die joschijanischen Kultreinigungsmaßnahmen (vgl. bes. II Reg 23,6a. 12b mit Dtn 9,21)

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In der Befolgung der genannten Verfassungsbestimmungen soll nun aber nicht nur der eigentliche Geber des Landes in seinen Schutzbefohlenen alltagspraktisch geehrt werden. Zugleich - und dies ist ein zweiter theologischer Aspekt - soll in der Gebotsbefolgung auch seine Fürsorglichkeit seit der Befreiung aus Ägypten und damit er selbst als souveränes und allein verpflichtendes Beziehungs-Gegenüber in Erinnerung gehalten werden. Denn bis auf die Leihgesetze mahnen die oben genannten sozioökonomischen Bestimmungen zudem dazu, sich bei der Berücksichtigung der Mittellosen ohne Ackerbodenanteil an die eigene Knechtschaft in Ägypten zu erinnern. So heißt es z.B. bei den Sklavenfreilassungsbestimmungen in Dtn 15,15: „Denke daran, dass du Sklave gewesen bist im Lande Ägypten und JHWH, dein Gott, dich befreit hat." 4 6 Neben anderen, anthropologischen Aspekten wird damit unter theologischen Gesichtspunkten die uranfängliche Befreiungstat JHWHs in der alltagspraktischen Befolgung der sozioökonomischen Vertrags- und Verfassungsbestimmungen tätig verinnerlicht und verhaltenssymbolisch im Bewusstsein bewahrt, was spätestens die dtr. Tora häufig in den Funktions- und Zielbestimmung der Gebotsparänese mit der Modalphrase mitfv'7 zum Ausdruck bringt. 47 Die Befreiung aus der Sklaverei ist denn j a auch der Anfangspunkt der gütigen Zuwendung JHWHs, die im Hymnus von 8,14b-16aa ihre Kontinuität in der fürsorglichen Führung durch die Wüste hat und mit der Landgabe in ihrer Gegenwartsgestalt erfahrbar wird. Ja, in 8,18a wird die Kontinuität dieser göttlichen Fürsorge zum Bekenntnissatz zugespitzt, dass JHWH derjenige ist, der auch im Land die Kraft dazu verleiht, sich Reichtum zu verschaffen. In der Befolgung der sozioöko|nomischen Bestimmungen - das zeigen die Knechtschaftserinnerungen - wird auf diese Weise zugleich die Erinnerungsmahnung von 8,18a alltagspraktisch umgesetzt. Damit wird die Leistungskraft, die JHWH zum erfolgreichen wirtschaftlichen Tun gibt, ebenso als unverfügbare Gabe bewusst gehalten, wie der Gabe-Charakter des Landes in der Weitergabe überschüssiger Wirtebensowenig abwenden konnten (vgl. II Reg 23,26), wie auch die Sozial- und Verfassungsreform des Deuteronomiums (vgl. bes. die Begründung des Loyalitätseides in Dtn 6,15), zumal diese Reform nach dem Tode Joschijas weder von Jojakim, noch von Zidkija weiter verfolgt wurde, was in die Katastrophe von 587 führte. Zur typologischen Verdichtung und Transfiguration der (spät-)vorexilischen Beziehungsgeschichte zwischen JHWH und Israel in den Horebreminiszenzen vgl. Näheres im Exkurs (Abschn. 9) in HARDMEIER 2005b (vgl. III.4.), und dort bes. Anm. 52 zur anfangsgeschichtlichen Transfiguration der joschijanischen Kultreinigungsmaßnahmen in Dtn 9,21. 46

47

V g l . o b e n 1.2 u n d HARDMEIER 1 9 9 2 .

Vgl. in unmittelbarer Folge und vorwiegend in dtr. Rahmentexten Dtn 5,1.32; 6,3.25; 8,1; 11,32; 12,1; 13,1; 15,5; 16,12; 17,10; 23,24; 24,8; 26,16; 28,1.13.15.58; 31,12 und 32,46 (auch 4,6 und 7,12). |

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schaftserträge an die personae miserae in segnender Dankbarkeit und zum Lobpreis des Gebers (vgl. Dtn 8,10b und 26,19aß). Zugespitzt könnte man sagen, in den sozioökonomischen Verfassungsbestimmungen des Deuteronomiums gewinnt das Exodusbekenntnis von der Befreiung aus Ägypten bis zur Landgabe und zur Segensverheißung in allem Tun eine alltagsweltliche Praxisgestalt. Wirtschaft und Religion gehen hier eine ganz andere Verbindung ein, als in der neoliberalen Apotheose der unsichtbaren Hand, die den Raubrittern der Globalisierung und den geheiligten Prinzipien eines gesetz- und schrankenlosen Kapitalismus die Legitimation liefert, im Namen der Selbstheilungskräfte des totalen Marktes ganze Volkswirtschaften auszuplündern, wie es schon der neuassyrische und neubabylonische Imperialismus tat, 48 wenn auch mit den damaligen vorkapitalistischen Mitteln und im Namen der Götter Assur und Marduk. Demgegenüber bedienen sich die Präambel und das dtn. Verfassungsstatuts mit seinen sozioökonomischen Einzelbestimmungen der Herrschaftsmetaphorik zeitgenössischer Vasallen-Loyalität und übersetzen die Loyalität und den Dienst an dem einen und einzigen Gott in revolutionierender Weise in die gesellschaftliche Alltagspraxis des rnifly'? HD!2/. Das Erinnern Gottes als dem Geber der natürlichen Lebensgrundlagen und Spender aller Leistungskraft will in der Befolgung dieser Bestimmungen praktisch werden. Deshalb sind sie denn auch nichts anderes als die sozioökonomische Umsetzung des zentralen Gebots im Anschluss an das Loyalitätsbekenntnis zu JHWH (Dtn 6,4 f.), d.h. zum alleinigen Gott, der sich - literaturgeschichtlich wahrscheinlich später - als unverfügbares, nicht instrumentalisierbares Beziehungs-Gegenüber in seinem Namen (rrnN -IUW) rrnx (Ex 3,14) offenbart hat. Dabei wird dieses BeziehungsGegenüber als unverfügbarer Kontingenzfaktor respektiert, mit dem alle Lebensvollzüge unabdingbar behaftet sind. 49 Solche Kontingenzbehaftung zeigt sich beispielsweise auch heute an allen Wetter-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktprognosen oder an | anderen Bedarfs- und Entwicklungseinschätzungen, je weiter sie in die Zukunft reichen. Mit der Ungewissheit des Kontingenzfaktors rechnen zu müssen, ohne damit per definitionem rechnen oder ihn gar zweifelsfrei berechnen zu können, gehört zu den unentrinnbaren und ständigen Lebensherausforderungen für Individuen und Gesellschaften, mit der die Menschen in der Balance von Angst und Hoffnung gezwungenermaßen umzugehen haben. Der biblische Gottes-Respekt schenkt diesem Umgang größte Aufmerk-

48

Vgl. dazu LAMPRICHS 1995. Vgl. dazu HARDMEIER 2003b, 250 f. (vgl. 1II.6.) sowie DERS. 2004C, Abschn. 10 (vgl. V. 15.). | 49

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samkeit, 50 indem die Kontingenzbedingtheit aller Lebensvollzüge im Loyalitätsbekenntnis als archimedischer Punkt der Lebensorientierung akzeptiert und in allen, gerade auch den sozioökonomischen Lebensvollzügen bewusst gehalten wird, wie aus den dtn. Erinnerungsmahnungen und ihrer Basis in Dtn 8,1 la. 14a. 17.18a besonders deutlich hervorgeht. Von diesem archimedischen Punkt der lebenspraktisch verinnerlichten Gottes-Beziehung her ist die ganze dtn. Wirtschafts- und Sozialethik konzipiert. In Korrelation zu einem respekt- und vertrauensvollen Umgangs mit dem Kontingenzfaktor, der sich weder kultisch-religiös manipulieren noch durch Klugheit und Verstand instrumentalisieren lässt, entwickelt das Verfassungsstatut Verhaltensmaximen und sozioökonomische Rechtsregelungen, die den potentiellen Segenswirkungen des Kontingenzfaktors, d.h. in personalisierter Form der Güte und Gnade ( l o n ) Gottes förderlich sind und zugleich geeignet, Fluchwirkungen, d.h. in personalisierter Form den Zorn ( I S etc.) Gottes zu (ver-)meiden. Dtn 6,5 bringt diese unbedingte Loyalität und existenziell allumfassende Lebensorientierung (-pXD-'jDm -[BJsr'jaai inn'p-'^Da) im zentralen Gebot der Gottesliebe zum Ausdruck, das seine Entsprechung in der Nächstenbzw. v.a. in der Fremdenliebe hat (vgl. Lev 19,18.34). Beides bildet nun aber - mit explizitem Rückbezug auf Dtn 6,4 f. - auch die ethische Grundlage des jesuanischen Christentums (vgl. Mk 12,28-34). Deshalb würde es den christlichen Kirchen und der Theologie im besonderen auch in missionarischer Hinsicht gut anstehen, das revolutionierende Potential des dtn. Verfassungsstatuts in sach- und situationsgerechter Weise in heutige Perspektiven einer solidarischen Weltgesellschaft umzusetzen. Zum einen hätten sie religionskritisch den neoliberalen | Götzendienst und seine destruktiven Wirkungen aufzudecken. Weil und indem jedoch zum anderen Christinnen und Christen sich vom Gebot der Gottesliebe her verstehen und sich deshalb dem Geber und dem unverfügbaren Gabe-Charakter aller Lebensressourcen allein verpflichtet wissen - zusammen mit der Judenheit und vielleicht auch mit den Muslimen - , hätten sie vor allem den verantwortlichen und solidarischen Umgang mit diesen Schöpfungsgaben in Sozial- und Verfassungsformen einer Weltgesellschaft auszubuchstabieren. Es müsste eine ebenso zukunftsfahige wie sozioökonomisch lebbare Menschengesellschaft sein, die deshalb auch in einem umfassenden Sinne auf Nachhaltigkeit und Regenerationsfahigkeit der natürlichen Ressourcen ausgerichtet sein müsste im Einklang mit der geschöpflichen Mitwelt. Die dtn. Tora als „Hausordnung" einer bewohnbaren Erde liefert 50 Dementsprechend ist die Gottes-„Furcht" (• , n l 7X/nin' n N T ) als Respekt-Beziehung zu Gott der Kernbegriff biblischer Frömmigkeit und Anfang aller lebenspraktischer Weisheit (vgl. bes. Ps 110,10; Prov 1,7; 9,10, vgl. 14,26 f. oder Jes 11,2 f. und das zentrale Lernziel der dtr. Tora-Vermittlung in Dtn 4,1 Ob; 17,19b und 31,12b und 13aß). |

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207

dazu ein biblisch-theologisch fundiertes Modell, das von der unabdingbaren Kontingenzbehaftung aller Lebensvollzüge als conditio humana ausgeht und den segensverheißenden Umgang damit ins Zentrum ihrer verfassungsrechtlichen sowie wirtschafts- und sozialethischen Reflexion stellt. Allerdings läßt sich dieses Modell, das in einer vorantiken Agrarund Gentilgesellschaft des 7. Jh.s v. Chr. aus den Krisenerfahrungen der frühen Schriftprophetie entwickelt worden ist, nicht naiv biblizistisch auf die heutigen Verhältnisse einer nachmodernen Weltgesellschaft übertragen, sondern müßte auf einer gesamtbiblischen Grundlage soziohistorisch reflektiert und sozialhermeneutisch in einem umfassenden Sinne in unsere heutigen Weltverhältnisse über-setzt werden. 51 |

51

Dazu hat das Buch von SEGBERS 2002, hilfreiche und fundierte Schneisen geschlagen, die im interdisziplinären Gespräch weiter ausgebaut werden müssten und fruchtbar zu machen sind.

Kapitel IV

Diskurspragmatik in Prophetie und Psalter

8. Jesajas Verkündigungsabsicht und Jahwes Verstockungsauftrag in Jes 6 (1981) Die Frage nach dem zentralen Verkündigungsinhalt und der eigentlichen Verkündigungsabsicht vor allem der Schriftpropheten des 8. Jh.s ist in der alttestamentlichen Forschung bis heute höchst kontrovers geblieben. H.W. Wolff hat in jüngster Zeit selbst Stellung genommen zu den gegensätzlichen Positionen, wie sie von G. Fohrer einerseits und - wesentlich durch H.W. Wolff selbst angestoßen - von W.H. Schmidt andererseits vertreten werden 1 . Gegenüber beiden Positionen sieht Wolff „das umfassend Eigentliche prophetischer Botschaft weder im Umkehrruf noch in der Ansage des Geschichtsumbruchs als solchem", sondern „in der Ankündigung: was du auch tust, - dein Gott wird nicht an dir vorübergehen, es gibt kein Ausweichen vor ihm. 2 " Mit dieser Bestimmung hebt Wolff zwar die primär theo-logische und theo-zentrische Sichtweise der prophetischen Unheilsahnung hervor, aber es bleibt dabei, daß die klassischen Unheilspropheten ihre Hauptaufgabe darin gesehen haben müssen, ihre Hörer unerbittlich mit Jahwe, dem Gott Israels, zu konfrontieren, der unabwendbar zum Vernichtungsgericht gegen sein eigenes Volk entschlossen ist. Gewiß ist damit der zentrale Inhalt der unheilsprophetischen Botschaft umrissen. Unerledigt bleibt jedoch die Frage, mit welcher Absicht und mit welchem Ziel die Propheten selbst dieses unabänderliche Gottesgericht ihren Zeitgenossen leidenschaftlich einsichtig zu machen versucht haben, wenn man diese Frage nicht einfach damit beantwortet sieht, daß die Propheten als Boten Jahwes in unbedingtem Gehorsam sein Wort ausgerichtet haben. Auf dieser Frageebene nach der Intention der Propheten mit ihrer Verkündigung bewegen sich in erster Linie die Interpretationsansätze von | G. Fohrer und seinen Schülern 3 . Doch scheint mir diese Frage weder darin beantwortet zu sein, daß die Unheilspropheten zur Umkehr aufrufen woll1

Vgl.

WOLFF

1977,

dort

548 ff.

die

skizzierten

Positionen.

Vgl.

ferner

MARKERT/WANKE 1 9 7 6 , s o w i e d e n F o r s c h u n g s b e r i c h t v o n J . M . SCHMIDT 1 9 7 7 (Lit.!). 2

WOLFF 1977, 555. Damit versucht Wolff den Wahrheitsmomenten beider Positionen gerecht zu werden, indem er betont, daß „das Prophetenwort... Israel nicht einem blinden Fatum von Geschichtsfakten aus(setzt), sondern ... in begrenzter Weise einen Ruf zur Umkehr ein(schließt)", a.a.O. 555 f. 3 Vgl. vor allem HOFFMANN 1974, bes. 46 ff.; dagegen mit deutlichen Vorbehalten MARKERT/WANKE

1976.

212

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

[236/237]

ten, noch darin, daß - wie bei W.H. Schmidt - ihr ganzes Bemühen nur seelsorgerlich die Einsicht ins Unabänderliche und Festbeschlossene hätte vertiefen sollen 4 . Zuviele Fragen werfen die überlieferten Prophetenworte selbst auf, als daß nicht auch viel genauer nach der Verkündigungsabsicht der Propheten selbst über die bezeugten Inhalte als solche hinaus gefragt werden müßte. Was wollten die Propheten mit ihrer Verkündigung? Wie haben sie selbst ihren Auftrag verstanden? Weshalb bezeugt Arnos, daß er - wenn auch letztlich umsonst - Jahwe um Vergebung für „Jakob" gebeten hat (Am 7,2 und 5); warum versteht er seine Verkündigung als unabdingbaren Zwang, dem er nicht ausweichen kann (Am 3,3-8)? Wollte er mit seiner Botschaft nicht etwas anderes bewirken, als seinen Zeitgenossen nur die Unabänderlichkeit von Jahwes Gericht als solche einsichtig zu machen? Noch deutlicher drängen sich solche Anfragen bei Jesaja auf. Weshalb ermahnt er seine Anhänger, nicht so zu reden und zu denken wie „dieses Volk" (8,12), was bringt ihn dazu, wenigstens diesen Kreis von Ansprechbaren zum Glauben zu ermahnen (Jes 7,9b) 5 ? Blieb seine Hoffnung auf Jahwe, „der auf dem Berg Zion wohnt" (8,18), darauf beschränkt, gespannt auf das Eintreten seines Gerichtes zu warten, weil Jahwe sein Angesicht vor dem Hause Jakob verborgen hat (Jes 8,17 f.) 6 , wo Jesaja doch mindestens darum wußte, daß Jahwe letztlich das Heil des Zion im Auge hat und die Gottesstadt dereinst mit neuen gerechten Richtern und Oberhäuptern ausstatten will (1,26)? Weshalb fragt Jesaja in 6,11, wie lange sein Reden wirkungslos bleiben soll? Hat er denn nicht unermüdlich und rhetorisch wahrlich meisterhaft über mehrere Jahrzehnte hinweg bis um 701 immer wieder das Wort ergriffen, | um doch etwas anderes zu erreichen, als was ihm Jahwe in 6,9 f. aufgetragen hat 7 ? Dieser zuletzt gestellten Frage will der vorliegende Beitrag anhand von Beobachtungen und Überlegungen zum Visionsbericht Jes 6 genauer nachgehen mit dem Ziel, einen Lösungs-

4

Vgl. W.H. SCHMIDT 1973. Ausgehend von der prophetischen Unheilsgewißheit, wie sie vor allem in den Visionsberichten dokumentiert werde (vgl. a.a.O. 15 ff.), sind für Schmidt die Unheilsankündigungen in den begründeten Unheilsworten das Primäre, während die Schuldaufweise gewissermaßen seelsorgerlich nur dazu dienen, diese Ankündigungen auch verstehbar und akzeptabel zu machen, „so daß der Hörer sie in ihrer Sinnhaftigkeit oder gar Notwendigkeit einzusehen vermag" (a.a.O. 65, vgl. dort den Rückgriff a u f W o L F F 1934.

Vgl. dazu den berechtigten Einwand bei WANKE 1972, 15: „Wozu die Schocksprache des Arnos, die die Ohren von Menschen aufsprengen soll (so Wolff), wenn ohnehin alles bereits beschlossen ist; nur um der Erkenntnis der Gerechtigkeit des Gerichts willen?" 5

V g l . d a z u HARDMEIER 1 9 7 9 , b e s . 4 7 f.

6

V g l . W O L F F 1 9 7 7 , 5 5 4 f. |

7

Vgl. zu dieser Fragestellung DIETRICH 1976, 176 f.

[237/238]

8. Jesajas

Verkündigungsabsicht

213

ansatz zur Diskussion zu stellen, der auf einer anderen Ebene als bei H.W. Wolff beide Positionen in der genannten Kontroverse vermitteln könnte. Um Jes 6 im einzelnen angemessen interpretieren zu können, sind einige Kontextvoraussetzungen klar zu stellen, wie sie im wesentlichen von O.H. Steck zuletzt herausgearbeitet worden sind 8 . 1. Der Visionsbericht muß als Teiltext der sog. „Denkschrift" (Jes 6,18,18) gelesen werden 9 . Über die bekannten Argumente für die Denkschrifthypothese hinaus 1 0 weisen drei weitere Beobachtungen darauf hin, daß die „Denkschrift" anfänglich sogar ein selbständig überliefertes Stück Literatur gewesen sein muß. Zum einen hat H. Barth eine in ihrer Art singulare Glossierung von Kap. 7 und 8 dafür ins Feld g e f ü h r t " . Zum anderen markiert die Datierung in Jes 6,1 deutlich einen Textanfang, der das Berichtete von der Berichtszeit um Jahre absetzt 1 2 , zugleich aber einen chronologischen Rahmen absteckt, der für den mit den Zeitereignissen vertrauten Zeitgenossen erst mit den berichteten Ereignissen in Kap. 7 und 8 gefüllt wird, da Jes 6,1 - wie immer man das Todesjahr Ussijas ansetzt dem syrisch-efraimitischen Krieg voraufgeht, während dieser Konflikt den aktuellen Hintergrund der Berichte in Kap. 7 und 8 bildet. Vor allem aber weist die Schlußnotiz Jes 8,16-18 die „Denkschrift" als ein geschlossenes Stück Literatur aus, da sie deutliche Züge eines Kolophons trägt. Daß hier eine titelartige Unterschrift vorliegen könnte, legt sich zunächst von den Infinitiven in V. 16 her nahe, mit denen sich die Exegese | bisher immer schwergetan hat 1 3 : „Verschnürung (plene geschriebener Inf.cs. von Tis) der Bezeugung, Versiegelung der Weisung in meinen Schülern". Hinzu kommt, daß die bei-

8

V g l . v . a . STECK 1 9 7 2 a ; v g l . n o c h SCHREINER 1 9 7 8 , s o w i e DIETRICH 1 9 7 6 , 175 f f .

und 61 ff. 9 Vgl. STECK 1972a, 193 sowie 198-203 und dort die Anm. 28 zur älteren Literatur, ferner die Aufsätze zu Kap. 7 und 8: DERS. 1973a und DERS. 1973b; W. DIETRICHS Versuch, die Denkschrifthypothese redaktionskritisch zu widerlegen (1976, 62 -99), scheitert - abgesehen von zahlreichen nicht nachvollziehbaren Textoperationen - allein schon daran, daß sich die von Dietrich herausdestillierten „sieben Texteinheiten" (ebd. 99), die auf Jesaja zurückgehen sollen, bis auf Jes 8,1-4 allesamt aus Versen oder Versteilen zusammensetzen, die Dietrich aus verschiedenen Kontexten herausoperiert hat. Erst recht aber ist der mutmaßliche Redaktor nicht vorstellbar, der diese „Einheiten" nachträglich derart zerstückelt und daraus Jes 7-8 komponiert haben soll. Hier widerlegt sich Redaktionssuperkritik selbst. 10

V g l . STECK 1 9 7 3 b .

11

V g l . BARTH 1 9 7 7 , 198 f.

12

„Im Todesjahr Ussijas" markiert einen mindestens einjährigen Zeitabstand (zur Datierung vgl. WILDBERGER 1972, 3 f. und 241 f.), da im gleichen Jahr entweder vom Todestag oder Todesmonat die Rede sein müßte. Andererseits ist diese Zeitangabe nur für Zeitgenossen identifizierbar, die dieses Todesjahr aus ihrer Erinnerung kennen, während Datierungen aus größerer historischer Distanz genealogisch und synchronistisch abgestützt werden, wie z.B. die Datierung der Prophetenbücher oder die sekundäre Angabe in J e s 7 , 1 ; v g l . d a z u WOLFF 1 9 7 5 , 1 4 6 . 13

Vgl. die Kommentare.

214

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie

und Psalter

[238/239]

den metakommunikativen Nomina „Bezeugung" und „Weisung" 1 4 sehr genau den Sprechhandlungscharakter der beiden Hauptteile der „Denkschrift" umreißen: die von Jesaja berichtend bezeugten Gottesoffenbarungen einerseits (vgl. 6,1.8; 7,3 mit BHS, vgl. 10; 8,1.3b.5 und 11) und die im Botenwort an die Anhänger ausgerichtete Warnung andererseits (8,12-15). Darüber hinaus steht diese Schlußnotiz in deutlicher Analogie zu Kolophonen der altorientalischen Literatur, in denen nach W. Röllig „Schreiber, Eigentümer oder Auftraggeber eines Textes genannt sein (konnten)", wobei „auch Angaben über den Zweck des Schreibens, ...auch Flüche ... oder Gebete nicht (fehlen)" 1 5 . Während V. 16 als Zweckangabe zu verstehen ist, trägt das Hoffnungsbekenntnis in 17 f. Züge des Gebets 1 6 .

2. Wie die „Denkschrift" als ganze ist damit auch Jes 6 in erster Linie an die Anhänger Jesajas als primäre Adressaten gerichtet (vgl. 8,11-18 und 7,9b 17 ) und kann deshalb nicht als Text öffentlicher Verkündigung, z. B. zum Legitimationserweis, gelesen werden 1 8 . Der Visionsbericht bestätigt dies auch von innen heraus. Von der Verstockung „dieses Volkes" (V. 9, vgl. 8,6 und 12!) kann sinnvoll nur einem Adressatenkreis gegenüber gesprochen werden, der ansprechbar ist und also nicht zu den Verstockten gehört haben kann. Zudem legt die Gattung von Jesaja 6 1 9 nahe, daß der Bericht eine nachträglich erklärende Funktion hat, wie im entsprechenden Gattungsexemplar I Reg 22,19 ff., wo Micha ben Jimla auch erst auf Nachfrage hin in Gestalt eines Visionsberichtes erklärt, weshalb es zur falschen Heilsprophetie gekommen ist. In I Reg 22 wie in Jes 6 werden Hintergründe des prophetischen Wirkens deutlich gemacht gegenüber Hörern, die nicht erst gewonnen werden müssen.

3. Da die „Denkschrift" nach dem syrisch-efraimitischen Krieg, also nach 733 abgefaßt worden ist, weil Kap. 7 und 8 diese Ereignisse voraussetzen 20 , liegen besonders in Jes 6 die Niederschrift und das berichtete Ereignis um einige Jahre auseinander 2 1 . Deshalb ist davon auszugehen, daß im Visionsbericht spätere Verkündigungserfahrungen Jesajas mit eingeflossen sind und der Bericht im Problem- und Erfahrungsfeld zu lesen ist, wie es sich für Jesaja nach 733 dargestellt hat 22 . |

14

V g l . d a z u HARDMEIER 1 9 7 9 , 3 8 f. 4 0 f. u n d 5 3 .

15

RÖLLIG 1978;

16

Z u r G e b e t s s p r a c h e in V . 17 v g l . WILDBERGER 1 9 7 2 , 3 4 6 f.

17

V g l . STECK 1 9 7 2 a , 2 0 1 u n d HARDMEIER 1979, 4 8 ff.

20.

18

So z.B. WILDBERGER 1972, 238 oder - etwas anders - J.M. SCHMIDT 1971, 78-86. Vgl. STECK 1972a, 189 ff., der Jes 6 mit überzeugenden Gründen von den Berufungsberichten abgrenzt und als Auftragsvision bestimmt, konkret als „Vergabe eines außergewöhnlichen Auftrags in der himmlischen Thronversammlung" (191). 19

20

21

V g l . STECK 1 9 7 2 a , 2 0 3 .

Vgl. die Datierung und dazu oben bei Anm. 12. Vgl. STECK 1972a, 188 und 203. Auch empirische Untersuchungen in der Erzählforschung haben gezeigt, daß „jede Geschichtenerzählung ... nicht nur eine Gesamtfigur vergangener Ereignisse (beinhaltet), sondern zudem eine zumindest implizite Vermittlung dieser | Ereignisse mit speziellen oder globaleren Problemkonstellationen 22

[239]

8. Jesajas

Verkündigungsabsicht

215

Nach O.H. Stecks Interpretation von Jes 6,1-11 2 3 soll Jesaja schon das nach V. 1-4 „Geschaute... als fest beschlossene Vernichtung des Volkes" verstanden haben, „die ihm Jahwe V. 11 im Effekt als eine totale ankündigt", wobei schon zu Anfang nur das „Wie und Wann dieses Gerichts" noch offen bleibt 24 . Dementsprechend soll dann Jesajas Aufgabe nach V. 9 f. nur noch darin bestanden haben, in der Zwischenzeit „zwischen Gerichtsbeschluß" (V. 1-4) „und Gerichtsvollstreckung" zu bewirken, daß das Volk in seinen Wahrnehmungs- und Verstehensfunktionen gelähmt und „in seiner Gerichtsverfallenheit unausweichlich festgehalten bleibt" 25 . Jesaja erscheint hier als reines Werkzeug eines zum Gericht absolut entschlossenen Gottes, der durch die Wirksamkeit seines Propheten nur verhindern will, „daß in dieser Zwischenzeit das Volk ... von Jahwe etwas zu sehen und zu hören bekommt, was es... zur Einsicht bringen und damit retten könnte" 2 6 . Fraglich bleibt bei Stecks Interpretation nicht nur der Ausgangspunkt, daß bereits die eigentliche Vision in V. 1-4 die Vernichtung des Volkes als fest beschlossene Sache erkennen lasse. Vor allem die Entsündigungsszene (V. 5-7) und die Schlußfrage (V. 11) werden bei Steck nur am Rande berücksichtigt, obschon sich gerade diese Teile von Stecks Gattungsanalyse her als textspezifische Erweiterungen des Gattungsexemplars erweisen und in der Besonderheit des Verstockungsauftrages begründet liegen 27 . Betrachtet man sowohl die Entsündigungsszene in ihrer Funktion im Textganzen genauer als auch die Beauftragungssituation und den Auftrag mit der sich anschließenden Frage, so liegen die Akzente wesentlich anders. Zwar ist in Jes 6 durchaus die Intention der Verkündigung Jesajas in zum Zeitpunkt der aktuellen Erzählsituation" (SCHÜTZE 1976, 12; vgl. auch HARDMEIER 1979, 34 f.). 23 Zur sekundären Erweiterung in V. 12 f. vgl. STECK 1972a, 190 f., Anm. 10. 24 STECK 1972a, 195, vgl. bes. Anm. 22; dabei bestimmt Steck die eigentliche Vision in 6,1-4 - gestützt auf KNIERIM 1968, bes. 57 ff. - traditionsgeschichtlich sicher zu Recht als Gerichtstheophanie (vgl. auch JEREMIAS 1977, 173 f.). 25

26

STECK 1 9 7 2 a , 197.

STECK 1972a, 197; vgl. noch drastischer KNIERIM 1968, 59; Jesaja „becomes the preparer and first executor of the judgement", während Steck den Propheten nicht so direkt als „Gerichtsvollstrecker" sieht (vgl. 1972a, 196). 27 Vgl. STECK 1972a, 193, bes. Anm. 17. Die gattungsspezifischen Hauptteile der Auftragsvision bestehen nach STECK, ebd. 193, in der „Thronszene mit Beschlüssen" (V. 1-4), der „Suche eines Abgesandten" (V. 8a), der „Bereitschaftserklärung eines Teilnehmers der Szene" (V. 8b) und in der „Vergabe des Auftrags" (V. 9 f.). Die Entsündigung ist nach STECK notwendig, damit Jesaja seinen Auftrag wahrnehmen kann, weil er sonst selbst dem Gericht verfallen wäre; und die Frage nach der Dauer (V. 11) kann nicht schon entstehen, wo Jesaja „Anzeichen beschlossenen Gerichts" (a.a.O. 193, Anm. 17) gewahr wird (gemeint sind V. 1-4), sondern erst, wo er das ganze Ausmaß seines Auftrags kennt, d.h. nach V. 9 f.

216

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

[239/240]

schlüssiger Weise zusammengedacht mit der in Kap. 7 und 8 dann dokumentierten Erfahrung, daß diese Verkündigung erfolglos geblieben und auf Ablehnung gestoßen ist. Doch darf der Auftrag Jesajas in 6,9 f. deshalb nicht dahin | mißverstanden werden, daß er selbst mit seiner Verkündigung aktiv „Verstockung" betrieben hat, selber betreiben wollte oder gar von Jahwe aus sollte. Alles hängt daran, daß in Jes 6 Intention und Wirkung der Verkündigung Jesajas sorgfältig auseinander gehalten werden, was sich vom Duktus des Visionsberichtes her ebenso aufdrängt wie von der Interpretation des Verstockungsauftrages selbst. Dies gilt es im folgenden zu zeigen. Sosehr der gattungs- und traditionsgeschichtliche Hintergrund von Jes 6 genau berücksichtigt werden muß 28 , sowenig darf darüber die konkrete Textgestalt in ihrem singulären Gefälle aus dem Auge verloren werden. In erster Linie ist ein Text als Prozeß zu rekonstruieren, in welchem sich beim Hören oder Lesen erst nach und nach in der sukzessiven Entschlüsselung der Satzsequenzen die Mitteilungs- und Wirkabsicht des Autors aufbaut 2 9 . Dementsprechend ist jeder Text am Anfang in der Weise „offen", als er einen weiten Beziehungs- und Erwartungshorizont eröffnet, der im Verlauf des Textes auf die spezifische Mitteilungs- und Wirkabsicht hin konzentriert wird. Liest man Jes 6 in diesem Sinne prozessual, wird folgendes deutlich. Bereits die Datierung V. l a a verlangt vom zeitgenössischen Leser den Rückbezug auf eine Vergangenheit, die zwar Jahre zurückliegt, aber noch zu seinem eigenen Erfahrungshorizont gehört 30 . Die wesentlichen geschilderten Szenen des Textes bilden sich auf der berichtenden Grundebene in den narrativen Einsätzen (V. 1.4-9.11) ab 31 , wobei die Hauptsequenzen stets von den Wahrnehmungen und Reaktionen Jesajas ausgehen (vgl. die Narrative in der 1. Person V. 1.5.8.11). Die erste Sequenz (V. 1-4) läßt den Leser teilnehmen an der eigentlichen Vision des Propheten mit ihren statischen (V. l b und 2a, Nominalsätze mit Part.) und stetig dynamischen Ereignismomenten der Gotteserscheinung (V. 2b und 3, vgl. die PK- und AK-cons.-Formen mit iterativer Funktion in narrativem Kontext) sowie dem plötzlichen Erbeben der Tempelschwellen (V. 4, vgl. den Narrativ), das ausgelöst ist vom Zuruf des Trishagion und die allmähliche (PK!) Füllung des Tempels mit Rauch beginnen läßt.

28

Vgl. dazu oben Anm. 27 und 24. Vgl. dazu H A R D M E I E R 1978, 130.142-148.227 f. und 270. 30 Vgl. oben Anm. 12. 31 Zur Gliederung von Erzähl- und Berichttexten nach vorausgesetzten und eingeführten Kommunikationsebenen vgl. H A R D M E I E R 1 9 7 9 , 3 7 f. und 4 3 - 4 5 . 29

[240/241]

8. Jesajas

Verkündigungsabsicht

217

Zeigen die geschilderten Vorgänge wohl unbestreitbar, „daß Jahwe jetzt in Erscheinungen einer Gerichtstheophanie im Tempel präsent ist" 32 , so reichen die Gründe nicht aus, um bereits für dieses Textstadium 1. von einem fest beschlossenen Vernichtungsgericht sprechen zu können, das sich 2. gegen das Volk richten soll. Weder Jahwes Thronen als solches (V. 2) noch die stetig sich wiederholende Doxologie in V. 3 können die erste Behauptung | tragen 33 ; erst recht aber sind alle anderen Begründungen gegenstandslos, die vom Nachtext her argumentieren 3 4 . Auch was die zweite Behauptung betrifft, symbolisiert zwar besonders V. 4 im Horizont der Jerusalemer Theophanietradition „ein Erscheinen des Jahwe vom Zion gegen seine Feinde" 3 5 , aber wiederum bleibt offen, wer diese Feinde sind und weshalb Jahwe einschreitet, wenn man nicht vom Nachtext her argumentiert 36 . Der Leser und der Prophet wissen im Verlaufshorizont des Berichtes bei V. 4 weit weniger Genaues als der von der Textfortsetzung her zurückinterpretierende Exeget. Nur Jahwes gerichtstheophane Präsenz ist klar. Weshalb, gegen wen und wie - das alles bleibt offen. Dementsprechend ist die zweite Sequenz (V. 5-7) motiviert und angelegt. Dabei darf man vor allem den tiefen Schrecken nicht zu schnell überspielen, von dem Jesaja nach dem Bericht in V. 5 in Reaktion auf das Geschaute unmittelbar ergriffen wird. Der elementare Angstruf 3 7 und die emphatische Feststellung, „ich bin verloren" (mit deiktischem '3), zeigen tief überraschte Betroffenheit. Im Gefalle des Berichtes sieht sich der Prophet zunächst einmal nur selbst und allein von Jahwe und seinem Erscheinen zum Gericht gemeint 38 . Und in seinem Erschrecken wird er zuerst seiner eigenen Schuld gewahr (5aa 2 ), die er zugleich bekennt. Schreckensreaktion 32

STECK 1972a, 193, Anm. 17; vgl. oben Anm. 24. | Vgl. KNIERIM 1968, auf dessen Argumentation sich Steck vor allem stützt (vgl. 1972a, 193, Anm. 17). 34 Zu Recht stellt Knierim fest, daß Jahwes Frage in V. 8 voraussetzt, daß im Thronrat bereits ein Beschluß gefaßt worden sein muß (vgl. 1968, 58). Das heißt aber noch lange nicht, daß Jesaja im Gefalle des Berichtes dem nach V. 1-4 Geschauten schon entnehmen kann, daß etwas und was beschlossen ist, wie Knierim (59) annimmt. Als Thronratevision erweist sich der Bericht ohnehin erst mit V. 8. 35 STECK 1972a, 195, Anm. 22, vgl. dazu DERS. 1972b, 42, Anm. 112 und 57, Anm. 157. 36 STECK verweist dabei vor allem auf V. 5 (1972a, 195). 37 Vgl. dazu HARDMEIER 1978, 189-202. 38 BAUMANN weist darauf hin, daß die Wortgruppe „besonders häufig... im Zusammenhang der Gerichtsverkündigung bzw. der als solcher verstandenen Epiphanie Gottes" begegnet und die erste Schreckensreaktion der Betroffenen auf angekündigte oder eingetretene Gerichtskatastrophen zum Ausdruck bringt, ohne „daß im Einzelfall ... immer eindeutig geklärt werden kann, ob sie den Menschen sprachlos macht, zum Verstummen bringt... ihn bewegungsunfähig macht ... ihm Todesangst bringt..., j a sogar wirklich Tod und Vernichtung" (1977, 281). 33

218

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie

und

Psalter

und Schuldeinsicht werden in 5b abschließend noch einmal auf die auslösende Schau des „Königs Jahwe Zebaoth" zurückgeführt, wie sie in 1-4 berichtet wird. Das Reden von der Schuld des Volkes aber (5aß) bleibt dieser elementaren Reaktion Jesajas gegenüber nach- und untergeordnet. Jesaja Äekennt seine eigene Schuld, und nur in diesem Bekennen erkennt er sich auch als Glied eines Volkes „mit unreinen Lippen". Auf diese Schuldeinsicht Jesajas hin erfolgt dann in einem kultischen Reinigungsakt die Vergebung seiner Schuld (V. 6 f.). Vom Volk ist nirgends die Rede. Auch wenn Jesaja das geschaute Kommen Jahwes zum Gericht von seiner eigenen Schuldwahrnehmung her nun auch klar in der Schuld des Volkes | begründet sehen konnte, so gibt der Bericht bis V. 7 keinerlei Hinweise darauf, daß es sich um ein fest beschlossenes und unabänderliches Gericht gegen dieses schuldbeladene Volk handeln muß 3 9 . Im Gegenteil, Jesajas Erfahrung von der Vergebung, mit der seine Schuldeinsicht und sein Schuldbekenntnis durch einen der Seraphen aus der geschauten Gerichtsszene heraus (!) geradezu exemplarisch beantwortet wird, stiftet in diesem Textstadium die Erwartung, daß auch das Volk über die Einsicht in seine Schuld und das Bekenntnis seiner Verfehlungen Vergebung erfahren könnte. Betrachtet man die folgende Sequenz V. 8 ff. von diesem bis V. 7 gestifteten Texterwartungshorizont her, so ergibt sich ein erster Hinweis darauf, wie Jesaja den Auftrag und das Ziel seiner Verkündigung verstanden haben könnte. Erst in V. 8 vereindeutigt sich im Berichtprofil die Visionsszene zu einer Thronraisszene, weil jetzt zur Ausführung einer offenbar bereits beschlossenen Sache ein Gesandter gesucht wird, der den Beschluß ausführt. Nur - und darauf kommt es entscheidend an - weder die beschlossene Sache noch der Auftrag selbst werden im Horizont des Berichtes bekannt. Trotzdem meldet sich Jesaja in dieser Szene ganz und gar freiwillig dazu (V. 8b). Diese Bereitschaftserklärung aus freien Stücken darf nicht darauf reduziert werden, daß Jesaja dankbar seinen Gehorsam als solchen zum Ausdruck bringt, was immer Jahwe ihm auftragen wird 40 . Immerhin hat Jesaja in V. 11 sehr speziell nach der Dauer des von Jahwe mitgeteilten Auftrags gefragt. Hätte er dann nicht vor seiner Bereitschaftserklärung um so mehr

39 Die Erschütterung der Tempelfundamente wie überhaupt die gewaltigen Dimensionen der Gerichtstheophanie im kultischen Zentrum der Gottesstadt lassen erwarten, daß Jahwe sich anschickt, gegen Frevler einzuschreiten, deren feindliches Verhalten den Bestand der Gottesstadt in Frage stellt. Insofern konnte die geschaute Theophanie von Anfang an nicht nur Jesaja allein betreffen, auch wenn er davon allein und zuerst betroffen wurde. 40 Vgl. z.B. WLLDBERGER 1972, 253 f. Oft wird das Problem der Freiwilligkeit überhaupt übergangen, wie z.B. bei STECK 1972a, 195 f. oder KNIERIM 1968, 60.

[242/243]

8. Jesajas

Verkündigungsabsicht

219

Grund gehabt, den Inhalt der zu übernehmenden Aufgabe in Erfahrung zu bringen, wenn er davon nicht eine eigene Vorstellung gehabt hätte? Weil eine entsprechende Frage fehlt, drängt sich diese Konsequenz auf. Vom Berichtsgefalle in 6,1-7 her stellt sich dann Jesajas Verständnis seiner Aufgabe wie folgt dar: Wenn der Prophet 1. Jahwe zum Gericht gegen Frevler einschreiten sieht (6,1-4) und 2. als davon zuerst, aber nicht allein Betroffener mit seiner eigenen Schuld die Schuld seines Volkes miterkennt (V. 5) sowie 3. aufgrund seiner Schuldeinsicht für sich, jedoch nicht für das Volk Vergebung und Entlastung erfährt (V. 6 f.), so kann er als solidarisches Glied seines Volkes (vgl. Jes 22,4 und 5,13) seinen Auftrag in dieser gerichtsbedrohlichen Situation nur dahin verstanden haben, seinem Volk zur Schuldeinsicht zu verhelfen, damit es wie Jesaja selbst im Schuldbekenntnis Vergebung erfahrt und darin vom Frevel abläßt, der Jahwe zum richterlichen Einschreiten vor allem gegen die Repräsentanten seines Volkes veranlaßt 41 . Das heißt | dann aber zwangsläufig, daß sich Jesaja aufgrund einer wesentlich anderen Vorstellung von seiner Aufgabe hat senden lassen wollen, als was ihm Jahwe dann nach V. 9 f. aufgetragen hat. Zunächst bestätigt sich dies von V. 11 her, da die Frage „Wie lange?" j a mit voraussetzt, daß dieser Auftrag ein Ende haben soll 42 , eben weil er Jesajas Vorstellungen nicht entspricht. Diese sich nahelegende Differenz zwischen Jesajas Verkündigungsabsicht und Jahwes Verstockungsauftrag ist nun aber im folgenden an V. 9 f. selbst zu bewähren. Was den Aufbau der Verse betrifft ist festzuhalten, daß die Imperative in V. 10 auf derselben Ebene stehen wie mDXl l*? in V. 9. Die aufgetragenen Handlungen haben beide Male „dieses Volk" zum Objekt. Auch die angezielten Handlungsauswirkungen, daß „dieses Volk" nicht zur Einsicht kommen soll, sind in V. 9b und 10b mutatis mutandis dieselben. Beide Teile interpretieren sich gegenseitig. Ferner ist die Entsprechung der Ausdrücke „Hören" und „Ohr", „Sehen" und „Auge", „Verstehen" und „Herz" zwischen V. 9b und 10a zu beachten, die im fD-Satz in 10b sowohl gegen-

41 Geradezu modellhaft macht Jes 1,21-26 deutlich, daß Jahwe sich um des Heils der Gottesstadt willen (1,26) dazu herausgefordert sieht, gegen die Feinde, nämlich die führende Oberschicht vorzugehen (V. 24 ff.), die die Stadt in der Fiktion einer Untergangsklage Jesajas durch | Korruption „zerstört" haben, V. 21-23 (vgl. zum Text HARDMEIER 1978, 348-354). Würde der Frevel als Schuld eingesehen und als weitere Konsequenz dann auch aufhören, so hätte auch Jahwe keine Veranlassung zum Einschreiten (vgl. dazu auch STECK 1972b, 40 f.). 42 Als Einwand im Sinne der eigentlichen Berufungsberichte kann die Frage schon deshalb nicht gelten, weil dort der Berufene mit seiner eigenen Unfähigkeit argumentiert (vgl. z.B. Jer 1,6 und ZIMMERLI 1969,17 f.), Jesaja aber hier nur eine zeitliche Begrenzung erwartet.

220

Kapitel IV: Diskurspragmatik in Prophetie und Psalter

[243/244]

über V. 9b als auch V. 10a chiastisch aufgenommen werden, so daß nur die drei letzten Worte von V. 10 im ganzen keine Entsprechung haben 43 . Genauer betrachtet besteht die aufgetragene Botschaft (V. 9b) an „dieses Volk" vom Inhalt her nur in Handlungsanweisungen zur Wahrnehmung und Rezeption von nicht genannten Sachverhalten. Das Volk soll fortgesetzt hören und sehen (beachte die Verstärkung durch den Inf. abs.), aber das Gehörte und Gesehene nicht verstehen. Zu Recht wird meist angenommen, daß mit dem zu Hörenden und zu Sehenden die Verkündigung des Propheten gemeint sein muß, mit der das Volk wiederholt konfrontiert werden soll. Die Aufmerksamkeitsforderung in V. 9b, mit der ja auch sonst viele Prophetenworte in verschiedenen Formen wie z.B. dem Höraufruf eröffnet werden (vgl. Jes 28,14.23 und 32,9) 4 4 , nimmt sich hier nämlich geradezu wie eine Abbreviatur für die Verkündigung des Propheten aus, die sich auch visuell („Sehet nur immer zu!") in Zeichenhandlungen (vgl. 8,1-4 und | 20,1 ff.) manifestiert. Kombiniert z.B. mit Jes 28,14 ließe sich V. 9b etwa folgendermaßen paraphrasieren: „Hört das Wort Jahwes, ihr gewissenlosen Männer, die ihr über dieses Volk in Jerusalem herrscht..., aber versteht auch dieses nicht, wie die vielen anderen Worte, die ich verkündigt habe!" Der zweite Teil der Paraphrase will deutlich machen, daß sich das anbefohlene Nicht-Verstehen entsprechend der Verstärkung in V. 9b auf verschiedentlich verkündigte Worte bezieht.

Damit ist die aufgetragene Botschaft an „dieses Volk" eine Anweisung, wie Jesajas Verkündigung als ganze und nicht nur, wie ein einzelnes Wort aufzunehmen sei. Da aber eine Aufforderung, „Höre immerfort mein Reden, aber verstehe es nicht!" unsinnig ist, wenn man von Rätselspielen oder abartigen Kommunikationszielen absieht 45 , kann die nach V. 9b an das Volk zu richtende Botschaft nur fiktiv sein und sagt damit in erster Linie etwas darüber aus, wie Jesaja seine Verkündigungstätigkeit zu verstehen habe: „Gehe nur zu diesem Volk und rede unentwegt zu ihm, aber sie sollen nichts verstehen!" Jahwe sagt ihm in der Gestalt eines fiktiven 43

Die Vermutung, daß es sich um einen Zusatz handelt, liegt deshalb nahe (vgl. SAUER 1970, 284), während im übrigen V. 10 von den gemachten Beobachtungen her kaum als Dublette zu V. 9b betrachtet werden kann, wie SCHREINER 1978, 93 f. es begründen will. Da weder der Redeauftrag von V. 9b noch der Handlungsauftrag von V. 10 wörtlich so ausführbar sind, wie sie lauten (vgl. dazu unten), haben die von SCHREINER herangezogenen Parallelen keine Beweiskraft. 44 Vgl. dazu HARDMEIER 1978, 302-320. | 45 Natürlich kann man mit jemandem in perfider Weise so reden, daß er nichts versteht (Fremdsprache, Spezialsprache oder über Erfahrungsbereiche, zu denen der Angesprochene keinen Zugang hat, etc.), etwa um ihm indirekt mitzuteilen, daß man ihn von der Kommunikation ausschließen will. Aber gerade dann würde man ihm nie direkt ins Gesicht sagen: „Höre mein Reden, aber verstehe es nicht!", da bei jeder sprachlichen Kontaktnahme die Kommunikationspartner im Normalfall stillschweigend davon ausgehen, daß sich der Sprecher dem Hörer verständlich machen will, was immer er ihm gegenüber vor hat.

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8. Jesajas

Verkündigungsabsicht

221

Redeauftrags, daß sein Reden bei „diesem Volk" ohne Wirkung bleiben soll 46 , wobei zu beachten ist, daß die Wirkungslosigkeit in V. 9b im Rezeptionsverhalten des Volkes verankert wird, das jenseits von Jesajas direkten Einflußmöglichkeiten liegt: Obschon es unentwegt etwas zu hören und zu sehen bekommt, soll das Volk nichts verstehen. Das heißt aber, daß zumindest von V. 9b her die Interpretation fern liegt, Jesaja soll die Einsichtslosigkeit aktiv durch seine Verkündigung bewirken 4 7 , da es sich wie gezeigt - viel eher um ein konzessives Verhältnis („obschon") zwischen Verkündigung und Wirkung handelt. Dieser Interpretation scheint nun aber V. 10 teils zu entsprechen, teils zu widersprechen. Bestätigt wird durch V. 10, daß es um das Verständnis von Jesajas Verkündigungsaufgabe geht und nicht um einen konkreten Redeauftrag an „dieses Volk", da nur noch direkte Handlungsanweisungen an den Propheten selbst ergehen, die nun aber wiederum in vergleichbarer Weise fiktiv sind, wie der Redeauftrag in V. 9. Daß das Schwer-Machen der Ohren und das Verkleben der Augen, erst recht aber das Verfetten des Herzens nur metaphorisch verstanden werden kann, liegt auf der Hand. Es geht hier um die Lähmung oder Betäubung vor allem der vernünftig verstehenden inneren Wahrnehmungsfähigkeit, die sich nach alttestamentlichem | Menschenverständnis in und mit dem Herzen vollzieht 48 . Dabei wird aber V. 10 als Handlungsauftrag an Jesaja meist so verstanden, daß der Prophet das geistige Wahrnehmungsvermögen und damit die Einsichtsfahigkeit des Volkes durch seine Verkündigung behindern, d.h. aktiv und zielgerichtet bewirken soll, „daß das Volk in wesentlichen menschlichen Funktionen derart gelähmt wird, daß Rezeption und Wahrnehmung der Sache selbst auseinandertreten", wie O.H. Steck den Verstockungsauftrag interpretiert 49 . Dieses aktiv zielgerichtete Bewirken scheint nun der konzessiven Interpretation von V. 9b zu widersprechen. Sobald man sich aber fragt, wie Jesaja real verstehensverhindernde Verstockung hätte betreiben sollen und können, so erweist sich auch dieser Auftrag hinsichtlich seiner Durchführbarkeit als fiktive Anweisung. Da aber als Mittel und Weg nur Jesajas Reden zu „diesem Volk" in Frage kommt, so muß man sich klar machen, daß kommunikatives Handeln nicht aufgeht im simplen Konnex von sprechend realisierter Absicht und entsprechender Wirkung beim Adressaten.

46 Schon immer ist gesehen worden, daß Jes 6,9b kein wörtlich auszurichtender Redeauftrag gewesen sein kann und von der Wirkung handelt, die Jesajas Verkündigung bei „diesem Volk" haben bzw. gerade nicht haben soll; vgl. zuletzt STECK 1972a, 196 und dort bes. Anm. 24 und im einzelnen unten. 47 Vgl. STECK 1972a, 196 f. | 48 Vgl. WOLFF 1973a, 78 f. 49 STECK 1972a, 197.

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Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

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Gewiß gibt es nur zu viele Möglichkeiten manipulativer Rede, wie sie die Propaganda oder die Werbung kennt, und die Palette von Redestrategien, die bewußt darauf abzielen, das Verstehen einer Äußerung zumindest für unerwünschte Zuhörer zu erschweren oder zu verunmöglichen 5 0 , ist reich. Abgesehen davon, daß besonders die Schuldaufweise und die Unheilsankündigungen in ihrer prägnanten Formulierung, aber vor allem auch von der Sache selbst her auf die Betroffenen provokativ gewirkt haben werden, lassen die überlieferten Worte Jesajas keine Züge bewußt verstehensverhindernder Sprache erkennen. Im Gegenteil, gerade der Bericht Jes 7,1-17 zeigt, daß Jesaja alles andere als provokativ und verstockungswirkend gegenüber Ahas aufgetreten ist. Um so deutlicher aber geht daraus hervor, daß die Wirkung seiner Verkündigung ganz und gar dem Ablehnungsgebaren des Ahas (7,12) zuzuschreiben ist. Und sowohl Jahwes richterliches Einschreiten in 7,17 als auch in 8,7 f. wird damit begründet, daß „dieses Volk" bzw. seine Repräsentanten („Haus Davids" 7,13) nicht nur Jesaja als Mensch, sondern auch noch seinen Gott „müde" gemacht (7,13) und die im Heilsorakel von 7,4-9a konkretisierte Bestandsgarantie für die Gottesstadt verworfen haben (8,6). Entscheidend ist dabei allgemein, daß die Wirkung einer Äußerung beim Adressaten nicht nur von seiner aktiven Hör- und Verstehensfahigkeit abhängt, soweit es seine Sprachbeherrschung, seinen Wissens- und Erfahrungshorizont betrifft, sondern vor allem auch von seiner Bereitschaft, für das Gesagte auch einzutreten, es für sich zu akzeptieren und daraus Konsequenzen zu ziehen 51 . Genau dieses letztere aber ist in Jes 7 und 8 nicht der | Fall. Das von Jesaja Verkündigte wurde nicht akzeptiert, ohne daß Jesaja auf diese ablehnende Rezeption hätte Einfluß nehmen können, auch wenn er sie durch sein Reden zwangsläufig ausgelöst hat. Das heißt dann aber, daß der Auftrag an Jesaja, durch seine Verkündigung einsichts- und verstehensverhindernd zu wirken, vom Propheten eigentlich gar nicht aktiv und willentlich erfüllt werden kann und deshalb als Anweisung genauso fiktiv ist wie die Botschaft des Redeauftrags in V. 9b. So wird auch hier die Wirkung von Jesajas Verkündigung als „Auftrag" an Jesaja selbst ausgesagt, den er zwar faktisch erfüllt, aber ohne daß er ihn willentlich bewerkstelligen könnte, weil die von Jesaja nicht beabsichtigte 50

Vgl. oben Anm. 45. Vgl. dazu WUNDERLICH 1972 zu den „Bedingungen für das Gelingen von Sprechhandlungen" | (19-24). Bei jeder Sprechhandlung „erwartet der Sprecher, daß der Hörer nicht nur versteht, sondern die Inhalte der von ihm gewählten Sprechhandlung (samt ihrer Voraussetzungen und ihrer Konsequenzen) auch akzeptiert, wenigstens probeweise akzeptiert... Eine Sprechhandlung zielt im Kern auf ein Akzeptieren ihres Inhalts durch den Hörer; solange dies nicht der Fall ist, ist sie nicht gelungen, weil sie keine Relevanz für den Hörer erhalten hat" (22), was entscheidend von seinem aktiven Rezeptionsverhalten abhängt. 51

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8. Jesajas

Verkündigungsabsicht

223

Wirkung im Rezeptionsverhalten des Volkes begründet liegt (wie es ja in V. 9b fiktiv „gefordert" wird!). Ein Ursache-Wirkung-Verhältnis besteht höchstens insofern, als sich die Ablehnung und das Unverständnis dieses Volkes um so mehr vertieft, j e mehr Jesaja das Wort ergreift, so daß er auf diese Weise unfreiwillig Jahwes Auftrag aktiv erfüllt, auch wenn der Auftrag von V. 10a auf keinen Fall besagt, Jesaja soll die Verstockung zur Intention seiner Wirksamkeit machen. Weil aber auch hier wie in V. 9a faktisch nur von der Wirkung seiner Verkündigung die Rede ist, wird die Intention nicht berührt, die Jesaja selbst mit seinem prophetischen Wirken verbunden haben könnte. So widerspricht auch V. 10a nicht der konzessiven Deutung von V. 9, auch wenn in 10a der Schwerpunkt vom Auftrag zum Reden (V. 9) verlagert wird auf die Wirkung, die Jesajas Verkündigungstätigkeit haben soll. Ähnlich wie V. 9 macht dann aber auch der fiktive Auftrag in V. 10 in erster Linie eine Aussage über die Auswirkungen von Jesajas Verkündigung, wie sie Jahwe offenbar gegen die Absicht Jesajas im Auge hat, was ein magisches Verständnis des Verstockungsauftrages als selbstwirksames Machtwort, das das Gericht herbeiführt, überflüssig macht 52 . De facto geht es in 6,9 f. um das Thema, wie und mit welchen Erfolgsaussichten Jesaja seine Verkündigungstätigkeit gegenüber „diesem Volk" einzuschätzen habe. Und als Reflexion über die Verkündigung und ihre Wirkung kann dieses Thema von Jesaja nur vor seinen Anhängern ausgebreitet werden, weil er nur bei diesem Adressatenkreis mit einer Bereitschaft zum Verstehen und Mitdenken rechnen kann. Sowohl die Gattung mit ihrer im Nachhinein erklärenden Funktion als auch der ganze Kontext der „Denkschrift" unterstreichen dies. Im einzelnen fordert dieser Auftrag zwar einerseits Jesaja zur Weiterführung seiner Verkündigung auf, aber er besagt andererseits, daß ihre faktisch | negative Auswirkung, wie sie nach Ausweis der „Denkschrift" Jesaja und seinen Anhängern um 733 vor Augen liegt, eine von Jahwe schon zu dem Zeitpunkt in Blick genommene Wirkung ist, zu dem Jesaja ihn als thronenden König tief erschrocken zum Gericht einschreiten sah (Jes 6,1-5). Diese Deutung fußt auf der Voraussetzung, daß die verstockende Wirkung a) primär im Rezeptionsverhalten der Adressaten begründet liegt, daß sie b) von den allgemeinen Bedingungen menschlicher Kommunikation her gesehen durch Reden höchstens indirekt ausgelöst, nicht aber direkt erzielt werden kann, und daß c) Jesajas überlieferte Worte nirgends eine solche verstockungswirkende Intention erkennen lassen. Betrachtet man diesen Auftrag im Gesamtaufriß des Visionsberichtes, so hat er die Funktion, Jesajas Wirkabsicht zu korrigieren, j a geradezu zu negieren. Weil sich Jesaja von V. 5-7 her mit anderen Erwartungen frei52

Vgl. vor allem JENNI 1959, 335-337 und STECK 1972a, 196, Anm. 24.

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Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

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willig zum Botendienst bereit erklärt hat, muß der Sendungsauftrag im Gefalle des Berichtes überhaupt expliziert werden, und gerade deshalb fragt Jesaja in V. 11, wie lange seine Verkündigung diese gar nicht beabsichtigten, aber ihm in V. 9 f. „aufgetragenen" Auswirkungen haben soll. Dementsprechend ist der Übergang von V. 8 zu 9 angemessener adversativ zu übersetzen: „Ich sagte: ,Hier, ich! Sende mich!' Er (sc. Jahwe) aber sprach: ,Geh nur und sage zu diesem Volk ..."' Damit wird deutlich, daß Jesajas eigene Wirkintention und die faktische Wirkung seiner Verkündigung, wie sie ihm Jahwe „aufträgt", klar auseinandertreten. Daß aber der fiktive Verstockungsauftrag diese Wirkintention im angezielten Ergebnis geradezu negiert, findet seine klarste Bestätigung im verneinten Finalsatz in V. 10b, der „offenbar ein umfassendes, intensiv überdachtes Verständnis von der prophetischen Aufgabe ins Gegenteil um(kehrt)" 53 . Jesajas prophetische Wirksamkeit soll sich verstockend auswirken, „damit es (dieses Volk) mit seinen Augen nicht sieht und mit seinen Ohren nicht hört und sein Herz 54 nicht versteht" 5 5 , während er selbst von seiner Schuldeinsicht und Vergebungserfahrung her (V. 5-7) gerade darin seine vornehmlichste Aufgabe gesehen haben wird, sein Volk zur Schuldeinsicht zu bringen, um auch ihm den Weg zur Vergebung zu öffnen 56 . | 53 J.M. SCHMIDT 1971, 75. Schmidt weist weiter d a r a u f h i n , daß „diese ... eigentliche Wirkung prophetischer Verkündigung zu dem in Parallele zu setzen" ist, „was Jesaja selbst in seiner Reinigung und Entsündigung durch den einen Seraphen widerfahren ist" (ebd. 76). Allerdings nötigt diese Einsicht weder dazu, nach einer anfänglichen Umkehrpredigt Jesajas zu suchen, die Jes 6,10b voraussetzen soll, noch dazu, überhaupt Jesajas Wirksamkeit in irgendeiner Verkündigungsphase als Umkehrprophetie zu betrachten, wie noch zu zeigen ist. Zu diesen Konsequenzen vgl. SCHMIDT ebd. 76 ff. 54 Vgl. BHS. 55 Zu 10bß 2 vgl. oben Anm. 43. 56 Nicht nur das Mottowort des Jesajabuches kreist um die Einsichtslosigkeit des Volkes, die beklagt wird (1,2 f.) - wie ein cantus firmus durchzieht dieses Thema meist in Gestalt einer Anklage die ganze Verkündigung Jesajas (vgl. 5,12 f. 19; 22,11; 29,9 ff. und 31,1) zusammen mit dem Vorwurf an die Adressaten, die Botschaft abzulehnen und nicht hören zu wollen (neben 7,12 f.; 8,6, vgl. 28,12; 30,9.12.15, ferner 29,13; 30,1 und dazu W.H. SCHMIDT 1977, 265-269). | Diese häufigen Anklagen und Vorwürfe belegen besonders, daß es dem Propheten gerade nicht gelungen ist, sein Volk von Jahwes richterlichem Einschreiten zu überzeugen, das vom Frevel und von der Schuld des Volkes herausgefordert ist, so sehr er eben dies beabsichtigt hat. - Besonders deutlich wird dieser Sachzusammenhang an Jes 22,1-14 und 1,4-8. Selbst die von Jesaja ganz offensichtlich als Jahwes Gericht verstandene Beinahekatastrophe von 701 (Jes 22,5 ff.) vermochte das Volk nicht zur Einsicht in Jahwes Gerichtswerk zu bringen (22,11b), das von lange her (pimo!) angelegt war, und noch nach 701 versuchte der Prophet im Disputationswort in 1,4-8 seine verstehensunwilligen Zuhörer davon zu überzeugen, daß die Katastrophe doch wohl drastisch genug ausgefallen sei (vgl. zu dieser Interpretation und zu beiden Texten ausführlich HARDMEIER 1978, 362-372, bes. 371 f.). Gipfelt in Jes 22,1-14 die

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8. Jesajas

Verkündigungsabsicht

225

Bei dieser Interpretation von V. 10b ist zu beachten, daß die Finalität des ja-Satzes in der inneren Konsequenz des fiktiven Auftrags angelegt ist und deshalb mit zu seiner fiktiven Struktur gehört. Die reale Folge der Verstockung, nämlich die Einsichtslosigkeit, die Jesaja auf der fiktiven Ebene aktiv bewirken soll, kann auf dieser Ebene ohne weiteres final, d.h. hier als ein zu verhindernder Handlungseffekt ausgedrückt werden. Faktisch jedoch ist die Einsichtslosigkeit nur die Konsequenz daraus, daß sich „dieses Volk" in seinem Rezeptionsverhalten abweisend und verstockt gebärdet, obschon sich Jesaja mit seiner Verkündigung um Schuldeinsicht noch so bemüht hat und bemüht, wie unsere konzessive Deutung gezeigt hat. Diese Deutung des Verstockungsauftrags in ihrer Konsequenz kann zusammenfassend am besten durch folgende Paraphrase deutlich gemacht werden: „Rede nur zu diesem Volk und fordere es immer wieder zum Hören und Sehen auf, obschon es weder verstehen noch zur Einsicht kommen soll (V. 9). Verkündige unentwegt weiter, aber dein Reden wirkt sich so aus, daß sich das Herz dieses Volkes nur weiter verfettet, seine Ohren schwerer und seine Augen noch mehr verklebt werden (V. 10a), so daß weder seine Augen etwas erkennen, noch seine Ohren etwas vernehmen, noch sein Herz zur Einsicht kommen wird (V. 10b), wie du es gewollt hast" (V. 8b von 5-7 her). Als letztes bleibt Jahwes Antwort auf Jesajas Rückfrage in V. I I b einzuordnen. Im Duktus des Berichtes beantwortet sie, bis wann Jesaja seinen befremdlichen „Auftrag" auszuführen habe. Streift man aber das fiktive Gewand des Verstockungs„auftrags" ab, so zeigt V. I I b die äußerste und letzte Konsequenz auf, die unausweichlich droht, wenn und weil faktisch Jesajas Verkündigung bei „diesem Volk" weiterhin wirkungslos bleibt und bleiben wird, so daß es nicht zur Einsicht kommt. Es wird dauern, bis die Trümmer „reden" und der verdorbene Acker „schreit". Jahwe, der zum Gericht gegen die Feinde der Gottesstadt im Aufbruch ist, bleibt sich und seiner Stadt selbst darin noch treu, daß er als ultima ratio auch ihre Bewohner, die in ihrem Frevel und in ihrer Schuld zu seinen Feinden geworden sind (vgl. | Jes 1,21-23), umkommen läßt (vgl. 1,24 f.), weil und solange sie trotz Jesajas schuldaufklärender Verkündigung nicht einmal zur Einsicht ihrer Verfehlung kommen werden. Die Wirkungslosigkeit von Jesajas Verkündigung und damit das Fortbestehen des Frevels in Jerusalem, gegen

Schuld in der Einsichtslosigkeit ( I I b ) trotz der prophetischen Verkündigung (V. 12, vgl. dazu HARDMEIER 1978, 370 f.) und wird V. 14 „diese Schuld" (ps>) dem Volke nicht „vergeben" ("133 pi.), so liest sich dieses letzte Unheilswort kaum zufallig bis in den Wortlaut hinein wie eine Umkehrung dessen, was Jesaja bei seiner Beauftragung nach Jes 6,7 erfahren hat und eigentlich erreichen wollte: Ihm, den Jahwes Erscheinen zum Gericht zur Einsicht gebracht hat, sind Schuld (jiv) und Sünde (rixon, vgl. die Anrede in l,4aa!) vergeben (133 pu.) worden. |

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Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie

und Psalter

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den es dann kein Mittel mehr gibt, führt in die Gerichtskatastrophe, die nach dem Berichtgefälle im Thronrat (V. 8a) ohne Wissen Jesajas offenbar bereits beschlossen zu sein scheint. Wie aber verhält sich dieser vorgängige Gerichtsbeschluß genauer zum Verstockungs"auftrag" in V. 9 f.? Die Fiktivität des Auftrags bezieht sich nach den angestellten Überlegungen nur darauf, daß weder die in V. 9b aufgetragene Rede wörtlich so verkündigt noch der in 10a ergangene Auftrag zur Verstockung mit der anzuzielenden Wirkung (10b) von Jesaja intendierbar verwirklicht werden kann. Daß hier die faktische Auswirkung von Jesajas Verkündigung fiktiv als aufgetragenes Handlungsziel ausgesagt wird, berührt jedoch nicht den Realgehalt des Auftrags, daß Jesaja weiterhin verkündigend tätig bleiben soll, nur eben nicht mit der von ihm beabsichtigten Wirkung. Um so weniger braucht dieses fiktive Handlungsziel der spezifische Inhalt des Thronratsbeschlusses gewesen zu sein 57 , der im Text ja nur vorausgesetzt, aber nirgends thematisiert wird. Geht man davon aus, daß V. 8a nur einen Gerichtsbeschluß als solchen zur Voraussetzung hat, wie es sich von 6,1-4 und 5 her nahelegt, und nimmt man hinzu, daß dieser Beschluß in V. 8 noch ohne Jesajas Wissen insofern fest und unabänderlich gewesen sein muß, als Jahwe in V. 9 f. ja im Gegensatz zu Jesaja davon ausgeht, daß „dieses Volk" in seiner Ablehnung auch trotz Jesajas Verkündigung zur Schuldeinsicht unfähig bleibt, so beschränkt sich die im Text nicht genannte Aufgabe für den gesuchten Abgesandten darauf, dem Volk dieses unabänderliche Gericht als solches auszurichten, auch wenn es dieser Kundgabe gegenüber bis zur endgültigen Katastrophe verständnislos bleibt. Daß aber das Volk fiktiv verstockt werden soll, negiert dann nur gegenüber Jesaja und vor seinen Anhängern die vom Propheten angezielte, Schuld aufklärende Wirkung seiner Verkündigung. Wenn es nun aber richtig ist, daß im Visionsbericht Jesajas Verkündigungsabsicht und Jahwes Zielbestimmung der prophetischen Wirksamkeit in der entfalteten Weise auseinandertreten, so sind m. E. genau in dieser Differenz die Wahrheitsmomente der beiden eingangs genannten kontroversen Positionen aufgehoben. Verfolgt man die Linie von Jesajas Verkündigungsabsicht, so lesen sich - exemplarisch herausgegriffen - die begründeten Unheilsworte (z.B. Jes 5,8-10 oder 11-13) mit ihren einleitenden Schuldaufweisen als Bemühungen Jesajas, Frevel aufzudecken und Schuldeinsicht zu wecken, um letztlich eine Umkehr seines Volkes zu erreichen, das aber - weil Jesajas Absicht scheitert - „ohne Einsicht" in die Verbannung gehen muß (5,13). Die Un|heilsankündigung ist dabei die bittere und trotz allem Bemühen nicht

57

So scheint Steck diesen Beschluß zu verstehen; vgl. oben S. 215.

[250]

8. Jesajas

Verkündigungsabsicht

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aufhebbare traurige Konsequenz, die der Prophet aber mit seiner Verkündigung eigentlich gerade verhindern möchte, indem er darüber aufklärt. Trotzdem greift es viel zu weit, diese Verkündigungsintention als „Ruf zur Umkehr" zu interpretieren. Abgesehen davon, daß es dafür kaum textliche Anhaltspunkte gibt 58 , fehlt es j a in der Auseinandersetzung zwischen Jesaja und seinen Zeitgenossen an der elementarsten Voraussetzung, die einen solchen Ruf überhaupt sinnvoll erscheinen ließe; es fehlt an der Einsicht in die Frevelhaftigkeit des eigenen Tuns und damit in die eigene Schuld. Umkehr im Sinne einer Verhaltensänderung ist nur denkbar und möglich, wenn die Angesprochenen ihr bisheriges Tun überhaupt als Fehlverhalten erkennen und als Schuld akzeptieren können. Aber nicht einmal dies hat Jesajas Prophetie bei „diesem Volk" zu erreichen vermocht, so daß von Umkehr schon gar nicht die Rede sein konnte. Mögen Vergebung, Umkehr und Heilung Jesajas Fernziel gewesen sein 59 , seine Verkündigung scheiterte bereits daran, die elementarsten Voraussetzungen dafür zu schaffen. Doch in und mit der fast völligen Vergeblichkeit seines Bemühens, auch wenn es wenigstens bei seinen Anhängern Frucht trägt und von einer letzten Hoffnung wider alle Erfahrung getragen ist (8,17 f.), wird Jesaja Jahwes Intention gerecht, das unabwendbare Gericht als solches „diesem Volk" anzusagen. Bei dieser „Lesart", die von Jahwes Intention her denkt, stehen in den - wiederum exemplarisch herangezogenen - begründeten Unheilsworten die Unheilsankündigungen im Vordergrund, während die Begründungen dazu dienen, Jahwes richterliches Einschreiten zu rechtfertigen als zwangsläufige 7?e-aktion auf den Frevel in Jerusalem (vgl. bes. Jes 1,21-26), weil dieser ja nicht einmal erkannt, geschweige denn beseitigt wird. Auch wenn Jesaja damit faktisch Jahwes Intention trotz anderer eigener Absicht auftragsgemäß verwirklicht, so können die Begründungen in dieser Perspektive auf keinen Fall die Funktion haben, das unabwendbare Gericht durch die Schuldaufweise nachträglich einsichtig oder gar seelsorgerlich bejahbar zu machen, da auch eine solche, dem Propheten unterstellte Intention voraussetzt, daß im Volk ein Bewußtsein von Schuld und Fehlverhalten vorhanden ist, auf das es dann überhaupt angesprochen wer-

58

Vgl. dazu WOLFF 1977, 548-550. Insofern hat die dtr Propheteninterpretation z.B. in II Reg 17,13 ff. den eigentlichen Kern auch der Unheilsprophetie im 8. Jh. getroffen, allerdings aus der Perspektive derer heraus, die nach der Gerichtskatastrophe von 587 keine Probleme damit hatten, die Schuld wenigstens der Väter zu erkennen, was zur Zeit Jesajas die elementarste Schwierigkeit war. So interpretiert auch die Glosse in Jes 6,10bß 2 (vgl. o. Anm. 43) die negierte Verkündigungsabsicht Jesajas ganz adäquat in ihrer letzten inneren Konsequenz und braucht von der Sache her nicht einmal unbedingt Jesaja abgesprochen zu werden. 59

228

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

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den könnte. Denn in dem Maße wie Jesaja mit seinem Bemühen allein schon daran scheitert, ein solches Bewußtsein überhaupt zu schaffen, um das drohende Gericht letztlich zu verhindern, in dem Maße bleibt Jahwes Aufbruch zum Ge|richt ein unabänderlicher Beschluß in Reaktion auf den Frevel „dieses Volkes", das aber eben ohne Einsicht und erst recht ohne Vergebung (22,14) der Gerichtskatastrophe blind entgegen geht. Insofern leistet Jesajas Gerichtsankündigung ein Doppeltes: Sie kündigt gemäß Jahwes Beschluß sein unabänderliches Gericht an, weil „dieses Volk" nicht hört, und verwirklicht zugleich Jesajas Bemühen, durch Aufklärung der Schuld und ihrer Konsequenzen dieses Gericht gerade zu verhindern, wenn „dieses Volk" hören und Einsicht gewinnen würde. So hängt die Unausweichlichkeit des Gerichts weder an Gottes undurchschaubar unabänderlichem Willen, noch soll dieses Gericht durch die Verkündigung Jesajas befördert oder gar vollzogen werden, sondern es ist die trotz prophetischem Bemühen mit keinem Mittel aufhebbare Einsichtslosigkeit „dieses Volkes" in sein gemeinschaftszerstörerisches Fehlverhalten, mit dem die Schuldigen unausweichlich Jahwes Gericht auf sich ziehen. Deshalb ist Jahwes Gericht weder Erziehungsmittel noch jemals sein primärer unerklärlicher Wille; vielmehr ist es Jahwes leidvolle, mit allen Mitteln prophetischer Aufklärung zu verhindernde ultima ratio, als solche dann aber auch unerbittliche, ernste und wohlbegründete Konsequenz, wenn Menschen sich in ihrer Schuld und in ihrem politisch-sozialen Fehlverhalten so selbst gefangen haben, daß sie nicht einmal mehr trotz Aufklärung zur Einsicht ihrer Schuld, geschweige denn zur Umkehr fähig sind.

9. Verkündigung und Schrift bei Jesaja Zur Entstehung der Schriftprophetie als Oppositionsliteratur im alten Israel (1983)

Die folgenden Überlegungen zum Verhältnis von Verkündigung und Schrift bei Jesaja 1 setzen ein bei der in der Forschung längst gesehenen Merkwürdigkeit, daß uns die Worte der sogenannten großen Propheten seit Arnos im Medium der Schrift überliefert sind - in einem Medium also, das dem mündlichen Charakter dieser Worte in ihrer rhetorischen Ausrichtung auf konkrete Situationen hin scharf widerspricht. Andererseits aber haben wir von dieser prophetischen Verkündigungstätigkeit überhaupt nur deshalb Kenntnis, weil sie uns in diesem, die Situation und Zeit überdauernden Medium der Schrift überliefert ist. Zur Erklärung dieser Merkwürdigkeit reicht m.E. die von A.H.J. Gunneweg gegebene Antwort nicht aus, „die schriftliche Fixierung" von Prophetenworten diene „dem Beweis, daß Jahwes Wort, auch wenn die Erfüllung noch aussteht, dennoch gültig ist, Kraft, Wirkkraft besitzt" im Glauben an eine magische Wirkung des geschriebenen Wortes 2 . Fraglich an dieser Antwort sind zwei sich eng berührende Punkte: 1. Die uns überlieferte Unheilsprophetie ist im Schema von Weissagung und Erfüllung des Angekündigten kaum angemessen erfaßt; als hätten die Propheten als begnadete Zukunftsschauer nur auf das Eintreffen ihrer Unheilsankündigungen gewartet und aufgrund einer Art von Parousieverzögerung sich der Schrift bedient, um das Angekündigte, aber nicht Eingetroffene dokumentarisch aufzubewahren. 2. konnte es ihnen kaum um eine Fernwirkung oder um eine ganz und gar unrhetorische Wirkungssteigerung ihrer Worte durch Benutzung der Schrift gehen, wo doch gerade die Leidenschaftlichkeit ihrer großartigen Rhetorik ganz und gar auf die Gegenwart mit der noch aktuellen Vergangenheit abgezielt und häufig genug direkt angesprochene Zeitgenossen im Auge gehabt hat. Auch und gerade das angekündigte Unheil ist insofern auf die Gegenwart der scharf gezeichneten Unrechtsverhältnisse bezogen, als diese Unheilsankündigungen

1 Gastvorlesung, gehalten an der Katholisch-Theologischen Fakultät Paderborn am 30. Juni 1982, versehen mit Anmerkungen. 2

GUNNEWEG 1 9 5 9 , 4 7 ; v g l . z u m G a n z e n S. 3 1 - 5 1 , f e r n e r FOHRER 1 9 6 7 ,

140-147.

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Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

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nur die Konsequenzen anvisieren, die Jahwe in den Augen der Propheten aus der unheilsträchtigen und unheilgebärenden Gegenwart zieht 3 . Gerade dieser zuletzt genannte Aspekt, der leidenschaftliche Gegenwarts- und Adressatenbezug dieser Prophetie ohne Ferninteressen, fordert nun aber die Frage heraus, ob nicht die ebenso massive Ablehnung der unheilsprophetischen Verkündigung mit ihrer beißenden Gegenwartskritik durch diejenigen, die gemeint und angesprochen waren, - ob nicht diese Ablehnung direkt oder indirekt zur Literaturbildung und schriftlichen Aufzeichnung geführt hat 4 . Nicht die Nicht-Erfüllung des Angekündigten, sondern die ausgebliebene Wirkung bei den Angesprochenen wäre dann in einer noch näher zu bestimmenden Weise als Hauptursache für die schriftliche A u f z e i c h n u n g der prophetischen Verkündigung in Anschlag zu bringen; ist doch gerade die Verstockung ein Grundthema jesajanischer Prophetie, d.h. die Erfahrung, daß sich seine Adressaten als unfähig erwiesen, die von Jesaja aufgezeigten Verhältnisse und Z u s a m m e n h ä n g e zu sehen und zu verstehen. Und nicht nur dies; aus Gegnerzitaten bei Jesaja geht hervor, daß sich der Prophet auch A n f e i n d u n g e n von Seiten seiner Kontrahenten ausgesetzt sah, wie denn bereits Arnos aufgrund seiner Verkündigung aus Nordisrael sogar ausgewiesen wurde (vgl. A m 7,10-17). Z u s a m m e n g e f a ß t lautet meine These wie folgt: Die Wiege der Schriftprophetie als Literatur ist in der Opposition zu suchen, in die diese Propheten durch ihre gegenwartskritische Verkündigung angesichts einer unheilvollen innen- und außenpolitischen Praxis der zeitgenössischen Machthaber in Israel geraten sind. Im einzelnen handelt es sich um die Erfahrung, von ihren Adressaten weder gehört noch verstanden, vielmehr von ihnen aktiv abgelehnt, j a angefeindet zu werden. | Die Verarbeitung dieser Erfahrung und die Reaktion d a r a u f h a t dann zur Bildung einer Art von Oppositionsliteratur geführt, die der Reflexion und der Selbstverständigung unter den Propheten und ihren Anhängern gedient und die A u f z e i c h n u n g der ursprünglich mündlichen Verkündigung nach sich gezogen hat. Damit aber wird das Verhältnis von Verkündigung und Schrift - exemplarisch bei Jesaja - zu einem der Angelpunkte, Schriftprophetie als eine Sondererscheinung aus ihrem eigenen Entstehungszusammenhang heraus und nicht von f r e m d e n , an sie herangetragenen Kategorien her zu verstehen. Ein Mißverständnis ist dabei von vornherein auszuräumen, das Mißverständnis, hier solle das Prophetische auf das Politische reduziert, die Offenbarung auf den Meinungsstreit im politischen Tagesgeschäft verkürzt werden. Ganz abgesehen davon, daß eine zu vermutende, jedoch ganz und gar ungewollte Opposition im alten, monarchischen Israel des 8. vorchristlichen Jahrhunderts kaum etwas gemeinsam hat mit Oppositionen in par3

V g l . d a z u KEEL 1 9 7 7 .

4

Vgl. in dieser Richtung auch WILDBERGER 1982, 1548 f.

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231

9. Verkündigung und Schrift bei Jesaja

lamentarischen Demokratien der Moderne, m u ß man sich den f u n d a m e n talen Unterschied zwischen damals und heute im Verhältnis von Theologie und Politik klar machen: Politisches Denken, Handeln und Entscheiden erfolgte damals in j e d e m Falle immer auch in theologischen Kategorien, wie es allein schon das Institut der Gottesbefragung vor Kriegsentscheidungen oder die Inthronisation von Königen in kultischem Rahmen deutlich machen 5 . Deshalb war damals ein auf das Volksganze bezogenes theologisches Denken und Reden - etwa der Propheten - eo ipso ein politisches und j e d e s politische Denken und Handeln war selbstredend eingebunden in eine kultische Praxis und getragen von theologischer Reflexion, wie das Beispiel der Rabschake-Rede in II Reg 18,19 ff. = Jes 36,4 ff. anläßlich der Belagerung Jerusalems besonders deutlich macht. Bevor ich nun anhand von Jes 6-8 und 22 einige Linien aufzuzeigen versuche, wie bei Jesaja Oppositionserfahrung und schriftliche Aufzeichnung der Verkündigung ineinandergreifen, ist einleitend noch kurz auf einige allgemeiner bekannte Besonderheiten der Schriftprophetie im Rahmen prophetischer Phänomene überhaupt hinzuweisen, um von daher zum Kern der Eigenart alttestamentlicher Schriftprophetie vorzustoßen. |

/ 1.1 Prophetie als solche ist kein Spezifikum altisraelitischer Religion und Kultur. Wichtigstes Zeugnis dafür sind die prophetischen Mari-Briefe aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts v. Chr. Aber auch in Israel selbst sind uns sehr verschiedene Arten von Prophetengestalten und prophetischer Wirksamkeit überliefert, ohne daß man die Prophetie auch in Israel von einer bestimmten Wurzel herleiten könnte 6 . Innerhalb dieser Vielfalt stellt die sogenannte Schriftprophetie insofern ein Sonderphänomen dar, als sie als einzige eine spezifische Art von Literatur begründet hat. Das Besondere dieser Literatur ist darin zu sehen, daß die schriftprophetische Überlieferung im Alten Testament im wesentlichen aus Sammlungen von Einzelworten besteht, die als verba ipsissima einem namentlich genannten Propheten wie Arnos, Hosea, Micha, Jesaja etc. zugeschrieben werden, auch wenn es in den schriftprophetischen Korpora durchaus Er-

5

Vgl. z.B.

I

Reg

1,34; 11,29

ff.;

II

Reg

9,1

ff. b z w .

ner Jes 7,1 ff.; 37,1 ff.; Jer 21,1 ff.; 37,3 ff. u n d 37

I

Reg

22,5

3 8 , 1 4 ff. u n d

ff.;

KOCH

ff. 6 V g l . d a z u KOCH 1978, 17 ff. u n d RENDTORFF 1959, 7 9 6 - 8 1 3 .

II

Reg

3,11

ff., fer-

1978, 25 ff.,

bes.

232

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

[122/123]

Zählüberlieferungen gibt (z.B. Am 7,10-17; die Visionsberichte oder die Baruch-Biographie im Jeremiabuch) 7 . Ein weiteres Charakteristikum schriftprophetischer Literatur wird am Vergleich mit den prophetischen Briefen aus dem königlichen Archiv von Mari deutlich. Abgesehen vom Brief als Aufzeichnungsform, ist als Hauptunterschied zu berücksichtigen, daß wir es bei den Mari-Briefen mit Archiv-Texten zu tun haben, die durch archäologische Ausgrabungen dem Staub der Jahrtausende entrissen worden sind, ohne jemals zur Literatur einer bestimmten Trägerschaft geworden zu sein. Im Gegensatz dazu verdanken wir die Kenntnis etwa der Worte von Arnos, Micha oder Jesaja einer mehr als 2500jährigen, lückenlosen und sehr komplexen literarischen Rezeptionsgeschichte bis auf den heutigen Tag. Ohne mich hier mit dem neuen Jesajakommentar von O. Kaiser näher auseinandersetzen zu können, gehe ich davon aus, daß die schriftprophetische Wortüberlieferung trotz mannigfaltiger Überarbeitungen in ihrem Kern auf zeitgenössische Aufzeichnungen der Propheten oder ihrer Anhänger zurückgeht; insbesondere die sogenannte Denkschrift | Jesajas (Jes 6,1-8,18) ist - von erläuternden Zusätzen abgesehen - als authentisches Dokument des Propheten anzusehen 8 . Allerdings muß bei dieser Feststellung berücksichtigt werden, daß vielen dieser schriftlich aufgezeichneten Worte eine mündliche Verkündigungspraxis zugrunde liegt, da diese Worte einschlägige Strukturmerkmale rhetorisch-mündlicher Texte aufweisen und bis auf die wenigen erzählenden Texte (Visionsberichte, Apophthegmata etc.) zumindest in der frühen Schriftprophetie primär auf Verkündigung angelegt gewesen sein müssen. Die Beurteilung dieser Wortüberlieferung als mündlich konzipierte Texte, die aus noch zu klärenden Gründen sekundär aufgezeichnet und erst in ihrer Rezeption zur Literatur geworden sind, bestätigt sich auch von der Art ihrer Sammlung her. Wenn überhaupt Kompositionsprinzipien erkennbar sind, so handelt es sich vorwiegend um äußerlich formale Kriterien der Zusammenstellung: gleiche Textanfange, gleiche Adressaten, Stichwortan7 Demgegenüber handelt es sich bei der Elia-Elisa-Überlieferung in erster Linie um die acta dieser Propheten in Erzählform. | 8 Vgl. demgegenüber K A I S E R 1981, 20 f., 117-120 und bes. 141 ff. Nach Kaiser bildet Jes 7,1-9 das Kernstück der sog. Denkschrift, erweitert durch 7,10-17; darum herum soll ein exilischer Anonymus den Ich-Bericht (!) von Jes 6,1 ff. und 8,1-18 gestaltet haben (S. 118). Kaisers Spätdatierung stützt sich vor allem auf sein Urteil über Jes 7,1-9, „daß die vorliegende Erzählung nicht von dem Propheten Jesaja stammt, sondern im Schatten der deuteronomistischen Theologie steht und vermutlich erst dem späten sechsten oder frühen fünften Jahrhundert v.Chr. angehört." (S. 143). Ob praktisch allein eine gewisse sprachliche und theologische Nähe dieses Abschnittes zum Deuteronomismus (Kriegsansprache und Glaubenstheologie) die Beweislast für Kaisers Spätdatierung zu tragen vermag, bleibt allerdings sehr fraglich.

[123/124]

9. Verkündigung

und Schrift bei Jesaja

233

schlüsse u.a.m. In dieser Hinsicht sind diese Sammlungen der Überlieferung der Spruchweisheit eng verwandt 9 . Gehen die meisten der uns überlieferten Einzelworte ohne Zweifel auf mündliche Verkündigung zurück, so fallt daran allerdings auf, daß sie in der Regel sehr kurz, äußerst prägnant und von großer inhaltlicher Dichte sind. Man ist deshalb in der Forschung geneigt, diese kurzen Worte als Redeskizzen zu betrachten, die inhaltlich und rhetorisch-argumentativ die Kernstruktur und Kernsätze einer freien Rede festgehalten haben, ohne daß Analogien bekannt sind 10 . | 1.2 In meinen bisherigen Ausführungen war in einem eher formalen und äußerlichen Sinne von Schriftprophetie die Rede, verstanden als literarische Korpora gesammelter Prophetenworte. Fällt aber die erste Aufzeichnung dieser Worte in die Zeit der Wirksamkeit der Propheten selbst und geht sie u.U. sogar - wenigstens teilweise - auf diese selbst zurück 1 1 , so ist nun im Blick auf die eingangs aufgestellte These zu fragen, ob nicht für diese Propheten die schriftliche Aufzeichnung ihrer Verkündigung selbst konstitutiver Teil ihrer prophetischen Wirksamkeit gewesen oder zumindest geworden ist. Dann müßte aber auch in einem inhaltlichen Sinne von Schriftprophetie gesprochen werden. Um dieser Frage näher zu kommen und die inneren Gründe für die Literaturwerdung aufzuhellen, wenden wir uns im folgenden der autobiographischen Offenbarungserzählung Jesajas in Jes 6,1-8,18 zu.

II 2.1 Mit dem Begriff „autobiographische Offenbarungserzählung" bezeichne ich die Makrostruktur einer größeren Texteinheit in Jes 6-8, die in der Forschung als „Denkschrift" Jesajas bezeichnet wird 12 . In der Ich-Form berichtet der Prophet eine Vision (6,1-11) und eine Reihe verschiedener Situationen, in denen er von Jahwe angesprochen worden ist (vgl. neben 6, 8-11; 7,3*, vgl. 10; 8,1.3.5 und 11, vgl. 16-18). In Jes 7,3 ist nach fast einhelliger Forschungsauffassung statt „zu Jesaja" „zu mir" zu lesen, so daß

9

Vgl. vor allem auch die redaktionsgeschichtlich noch rekonstruierbaren Vorformen der Wortsammlungsüberschriften bei Arnos, Micha und Jesaja, die in spruchweisheitlichen Sammlungsüberschriften ihr Vorbild haben; vgl. dazu WOLFF 1975, 146-150 und DERS. 1 9 8 2 , 1 - 3 . 10

V g l . d a z u WOLFF 1 9 7 6 , X X V s o w i e WILDBERGER 1 9 8 2 , 1 5 4 9 f. |

11

S o z u l e t z t WILDBERGER 1 9 8 2 , 1 5 4 9 .

12

V g l . d a z u STECK 1 9 7 2 a , 1 8 8 - 2 0 6 = DERS. 1 9 8 2 , 161 ff., f e r n e r DIETRICH

60 ff. sowie HARDMEIER 1979, 42 f. und 48-53.

1976,

234

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

[124/125]

sich auch Kapitel 7 als Teil des Ich-Berichtes in das Ganze einfügt 1 3 . Aufgrund dieser Makrostruktur, aber auch aus anderen Gründen erweisen sich Jes 6,12 f. 7,1*.15. 18-25; 8,8b-10 und 8,19-9,6 neben kleineren Glossen als spätere Nachträge 1 4 . Neben der genannten Makrostruktur sprechen folgende Gründe dafür, in Jes 6,1-8,18 eine von vornherein literarische Texteinheit zu sehen, die als Ich-Bericht von Jesaja verfaßt worden ist: 1. Die Kapitel 6,1-9,6 sprengen den ursprünglich zusammengehörigen Komplex Jes 9,7-20 und 5,25-30. | 2. Frühe historisierende Glossen in 7,4b.5b.8b. 17b; 8,6b und 7b, die sich in der übrigen Jesajaüberlieferung an entsprechenden Stellen nicht finden, weisen auf eine längere Sonderüberlieferung der Offenbarungserzählung bis weit in das 7. Jahrhundert hinein 15 . 3. Nicht nur die durchgängige Ich-Form und der Erzählcharakter sondern auch der Übergang zur konkreten Mahnung an die Adressaten im Botenwort in 8,11-15, das mit „denn" eingeleitet wird, bestätigt den Zusammenhang. Angesprochen sind die „Schüler" Jesajas (8,16), denen bereits die Mahnung „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht" in 7,9b gilt 16 . 4. Allein die Länge und Komplexität der Mahn-Erzählung weist sie als literarisches Dokument aus. Hinzu kommt, daß die abschließenden Verse 8,16-18 alle Züge eines Kolophons tragen, mit dem im alten Orient Schriftstücke abgeschlossen wurden: V. 16 benennt mit Nomina, die einen Kommunikationsakt bezeichnen, titelartig das Schriftstück und seine Adressaten: „Verschnürung der Offenbarung, Versiegelung der Weisung in meinen Schülern"; V. 17 f. enthält eine kurze Stellungnahme des Autors, die seine Hoffnung und sein Vertrauen zum Ausdruck bringt 17 . 2.2 Um nun aber den Entstehungshintergrund dieses Stücks autobiographischer Prophetenliteratur aufzuhellen, bedarf es einer kurzen Skizze der politischen Ereignisse, auf die sich die Einzelabschnitte der Offenbarungserzählung beziehen 1 8 . Im Zuge der schrittweisen assyrischen Expansion im syrisch-palästinischen Raum in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts die durch Tiglat-Pileser III. (745-727) eingeleitet wurde, kam es wiederholt zu antiassyrischen Koalitionen und Aufstandsversuchen der unter finanziellen (Tributpflicht) und militärischen Druck geratenen Kleinstaaten. Eine solche Koalition wurde auch nach dem assyrischen Küstenfeldzug um 734,

13

V g l . d a z u HARDMEIER 1 9 7 9 , 4 4 , A n m . 10, a n d e r s KAISER 1 9 8 1 , 1 1 7 f., 1 4 1 .

14

Vgl. die in Anm. 12 genannten Autoren. |

15

V g l . BARTH 1 9 7 7 , 2 7 8 f.

16

V g l . d a z u HARDMEIER 1 9 7 9 , 4 7 f f .

17

Vgl. dazu HARDMEIER 1981a, 237 f. (vgl. IV.8.). Vgl. dazu die Ausführungen in den einschlägigen Gesamtdarstellungen der Geschichte Israels sowie DIETRICH 1976, 60 f. 18

[125-127]

9. Verkündigung

und Schrift bei Jesaja

235

wohl auf Betreiben von Damaskus, zwischen Aram und dem Nordreich Israel gebildet, in die auch der bislang unberührt gebliebene Südstaat Juda miteinbezogen werden sollte. | Aram und Nordisrael belagerten um 734/33 im sogenannten „syrischefraimitischen" Krieg Jerusalem (vgl. II Reg 16,5) wohl mit dem Ziel, den nicht zu einer Koalition bereiten Davididen Ahas zu stürzen und durch einen koalitionswilligen Herrscher zu ersetzen (vgl. Jes 7,5 f.). Der eingeschüchterte und verängstigte Ahas (vgl. Jes 7,2-4) nahm jedoch Zuflucht zur assyrischen Großmacht und bat Tiglat-Pileser unter Leistung von Tributzahlungen um Hilfe (II Reg 16, 7-9). Aus welchen Gründen auch immer - die militärische Operation der antiassyrischen Koalition gegen Jerusalem blieb erfolglos. 733 eroberte Tiglat-Pileser bis auf den Stadtstaat Samaria große Teile Nordisraels. 732 fiel Damaskus und das Aramäerreich. Juda war tributpflichtig geworden und wurde um 701 nach einer wechselvollen Geschichte von Sanherib endgültig unterworfen. Nur das massiv belagerte Jerusalem blieb nach schwerer Tributzahlung übrig. Die prophetische Verkündigung Jesajas erstreckt sich von ihrem z.T. eindeutig greifbaren Situationsbezug her mindestens auf den eben skizzierten Zeitraum von 734-701. Die Offenbarungserzählung in Jes 6-8 hat insgesamt die Ereignisse von 734-32 zur Voraussetzung, deren Phasen sich in den verschiedenen erzählten Einzelsituationen spiegeln. Als literarisches Dokument blickt sie jedoch auf diese Ereignisse bereits zurück, wenn auch in verhältnismäßig geringem Abstand (Entstehungszeit zwischen 732 und 722)19. 2.3 Wie zumindest jede autobiographische Erzählung ist auch die Offenbarungserzählung Jesajas wesentlich motiviert in einem Stück „retroperspektiver Erfahrungsverarbeitung" 2 0 und Erfahrungsweitergabe, was durch den mahnenden Adressatenbezug unterstrichen wird. Diesen Quellpunkt der Entstehung des Dokumentes aufzuhellen, heißt der Entstehung schriftprophetischer Literatur überhaupt auf die Spur zu kommen. 2.3.1 Das im Visionsbericht Jes 6 geschilderte Widerfahrnis erhebt mit seiner Datierung (Todesjahr Ussijas, spätestens 736) den Anspruch, als Ereignis noch vor dem syrisch-efraimitischen Krieg zu liegen. Dabei ist schon die explizite Datierung als solche ein Indiz für die Distanz des | erzählten Ereignisses zur Abfassungszeit des Berichts, was die Entstehung der ganzen Offenbarungserzählung nach 732 ohnehin nahelegt. Aber auch inhaltlich wird die Retroperspektive daran deutlich, daß der höchst paradoxe Verkündigungsauftrag in Jes 6,9 f., das Volk zu verstocken, bereits 19

Vgl. dazu HARDMEIER 1979, 49 und 1981a, 237 f. (vgl. IV.8.).

20

V g l . d a z u SCHÜTZE 1 9 7 6 , 12; HARDMEIER 1 9 7 9 s o w i e REHBEIN 1 9 8 2 . [

236

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

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die Wirkung mit einschließt, die Jesajas prophetische Verkündigung während des syrisch-efraimitischen Krieges gehabt hat, nämlich ihre Erfolglosigkeit und Ablehnung, was im Rückblick als göttlicher Auftrag von vornherein gesehen wird. Diese nicht unbestrittene Deutung des Visionsberichtes 21 findet ihre Bestätigung in den beiden folgenden Kapiteln. Als literarische Einheit interpretiert, dokumentieren die einzelnen Episoden der Zwiesprache Jahwes mit Jesaja (7,1-8,8) den Gang der Verstockung und die mahnende Konsequenz an die angesprochenen Anhänger (8,11 ff.) 22 . 2.3.2 Nach Jes 7,l*.2-9 2 3 erhielt der Prophet in der Anfangsphase des Krieges den göttlichen Auftrag, dem verängstigten und eingeschüchterten König bedingungslos Heil und Rettung zuzusagen, da die Feinde der Gottesstadt, Aram und Nordisrael, Jerusalem nichts anhaben können. Daran sind zwei Dinge wichtig: 1. Dieser Auftrag steht in krassem Widerspruch zum Verstockungsauftrag im Visionsbericht. Der erzählte Verkündigungsauftrag ist nur dann sinnvoll, wenn der Prophet und sein Gott in der Anfangsphase des Krieges davon ausgegangen sind, daß sich der bedrängte König in seiner Politik von dieser Heilszusage real bestimmen läßt. Von einem Verstockungsauftrag kann in dieser Phase historisch noch kein Bewußtsein vorhanden gewesen sein, was diesen Auftrag in Jes 6 vollends als rückblickendes Interpretament der Erfahrungsverarbeitung ausweist. 2. Der Auftrag zur Heilsankündigung in 7,3 ff. zeigt, wie ein zentraler Inhalt der Jerusalemer Zionstheologie einen realpolitischen Entscheidungs- und Verhaltensmaßstab abgeben sollte. Es handelt sich um das aus der Psalmenliteratur bekannte und gemeinaltorientalisch verbreitete Theologumenon, daß der Stadtgott seine Stadt gegen äußere Feinde wirksam abschirmt und verteidigt | (vgl. Ps 46; 48; 76) 24 . Die realpolitische Konsequenz wäre eine strikte Neutralitätspolitik gewesen, hätte der König den Mut aufgebracht, sein politisches Handeln real an dem vom Propheten aktualisierten kultisch-religiösen Wirklichkeitsmodell zu orientieren. 2.3.3 Die nächste Episode (7,10-17) 25 setzt voraus, daß sich der König anders entschieden hat. Wird ihm in V. 11 von Jahwe durch den Propheten 21 Vgl. dazu im Einzelnen HARDMEIER 1981a, zur Datierungsfrage von Jes 6,1 bes. S. 237 (vgl. IV.8.). 22 Ähnlich STECK 1982, 161 ff., bes. 166-168, auch wenn die dort gegebene theologische Interpretation auf die Vorstellung eines Gottes hinausläuft, der, von vornherein zum Gericht entschlossen, dieses Gerichtswerk durch seinen Propheten verkündigen und rechtfertigen läßt. Vgl. gegen diese Interpretation HARDMEIER 1979, 51-53 und 1981a, 239 ff. (vgl. IV.8.), ferner Keel 1977. 23

V g l . d a z u STECK 1 9 7 3 a , 7 7 - 9 0 . |

24

Vgl. dazu STECK 1972b, 17-19, bes. Anm. 25. Vgl. dazu STECK 1973b.

25

[128/129]

9. Verkündigung und Schrift bei Jesaja

237

zur Verbürgung und Bekräftigung der Heilszusage ein Legitimationszeichen angeboten, so zeigt die fromm getarnte Ablehnung in V. 12, daß für den König nicht die prophetisch aktualisierte Zionstheologie den realpolitischen Entscheidungsmaßstab abgegeben hat, sondern die augenblicklichen Machtkonstellationen im syrisch-palästinischen Raum. Die Ablehnung des Zeichenangebots erfolgte wohl bereits auf dem Hintergrund des Schutzvertrages mit Assur (vgl. II Reg 16,7-9). Diese Ablehnungserfahrung hatte aber offenbar einen fundamentalen Umschlag in der Verkündigung des Propheten zur Folge. Die Mißachtung des als realpolitische Möglichkeit beanspruchten Rettungsangebotes wird nun zur Begründung einer Unheilsankündigung in V. 13 und 17, obwohl Jahwe objektiv an seiner indirekten Heilszusage der Vernichtung der syrisch-efraimitischen Koalition festhält (vgl. 7,4-9) und diese Zusage mit einem heilsverheißenden Geburtsorakel (V. 14.16; 15 ist sekundär) bekräftigt, was nun nur noch im Blick auf die Adressaten der Denkschrift berichtenswert erscheint, da der König ja bereits eine andere Entscheidung getroffen hat. 2.3.4 Beide Linien dieser Dialektik von festgehaltenem Heilswillen und in der Ablehnung der Hilfe begründeter Unheilsankündigung finden in Kapitel 8 ihre Klärung. In 8,1-4 wird auf zwei Symbolhandlungen Bezug genommen, die im voraus zu dokumentieren hatten, daß die syrisch-efraimitische Koalition ohne Dazutun Jerusalems zusammenbrechen wird, was sich fiir die ersten Adressaten nach 732 gewissermaßen auch bestätigt hat. Andererseits weist 8,5-8 sehr deutlich die längerfristigere Unheilsperspektive und ihre Begründung auf. Die Verachtung der sanft fließenden Wasser des Schiloach, eine Metapher für die Ablehnung der aktualisierten Heilsgarantien der Zionstheologie (vgl. 7,4-9 und Ps 46,5), zieht die Überflutung Judas durch die gewaltigen | Wasser des Eufrats nach sich, d.h. im Klartext die Verheerung durch die als Schutzmacht herbeigerufenen Assyrer. 2.3.5 Man kann den demonstrativen, auf einen bestimmten Adressatenkreis ausgerichteten Lehrcharakter von Jesajas Offenbarungserzählung kaum unterschätzen, der bereits in 7,9b in dem Appell „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht" vollinhaltlich zum Ausdruck kommt und in der massiven Dokumentation des Heilswillens in 8,1-4 (vgl. 7,14.16) deutlich wird; zusätzlich wird er noch dadurch unterstrichen, daß Jesaja sich und seine Kinder, die ja „namentlich" Heil und Rettung verbürgen (7,3; 7,14? und 8,3 f.), als direkte Zeichen des Jahwe vom Zion versteht (8,17 f.). Andererseits wird die Ablehnung der in der Zionstheologie begründeten Rettungszusage „diesem Volk" angelastet (8,6), „diesem Volk", dem schon der Verstokkungsauftrag in 6,9 f. gelten soll, dem es aber die direkt Angesprochenen nach 8,12 nicht gleich tun sollen. Sie sollen nicht für Umsturz und Revo-

238

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in Prophetie und Psalter

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lution halten, was eben „dieses Volk" als solches bezeichnet. Worauf sich der Umsturzverdacht „dieses Volkes" bezieht, ist nicht eindeutig rekonstruierbar. Möglich ist, das Jesajas Prophetie als staatsgefährdende Propaganda denunziert worden ist, wie wir es von Arnos wissen (vgl. Am 7,1017, bes. V. 10), da Jesaja die damalige Schutzmacht Assur als die eigentliche und tödliche Bedrohung Judas hingestellt hat, deren sich Jahwe als Strafwerkzeug bedient (8,7 f.). Seine Anhänger macht er auf den eigentlichen „Verschwörer" 2 6 aufmerksam, auf Jahwe, der sich in den politischen Entwicklungen jener Jahre strafend selbst gegen „die beiden Häuser"(8,14) Israels gerichtet hat. 2.4 Um die mahnende Offenbarungserzählung Jesajas als schriftprophetisches Literaturdokument zusammenfassend verstehen zu können, ist noch einmal auf die Grunderfahrung zurückzukommen, die wohl hinter diesem Dokument steht und retroperspektiv mit einigen Konsequenzen in ihm zur Verarbeitung gekommen ist. Wie wir gezeigt haben, steht der Verkündigungsauftrag in 7,3-9 in krassem Widerspruch zum Verstockungsauftrag in 6,9 f. Die Beauftragung Jesajas zu Anfang des syrisch-efraimitischen Krieges ist nur dann sinnvoll, wenn sich der Prophet auch an „dieses Volk", d.h. vornehmlich an seine politischen Repräsentanten gewandt hat, in der Erwartung, fiir seine Heilsbotschaft Gehör zu finden. Erst die Ablehnung seiner anfanglichen Heilsverkündigung durch den König zeigt ihm, daß seine Verkündigung | nicht die erwartete Wirkung hat und daß die prophetisch aktualisierten Inhalte der Zionstheologie im politischen Alltag des Hofes ohne Stellenwert sind. Diese für den Jerusalemer Hofpropheten einschneidende Schlüsselerfahrung im Verlauf des syrisch-efraimitischen Krieges hat eine Reihe ineinandergreifender Konsequenzen, die ich kurz zusammenfassen möchte: 1. Die Erfahrung, daß kulttheologischer Anspruch und politischer Alltag kraß auseinander treten, bringt eine unheilsprophetische Neubewertung der Kulttradition mit sich. Wie an Jes 1,21-26 besonders deutlich wird, sieht der Prophet die eigentlichen Feinde des Zion, gegen die sich Jahwe schützend wendet, nicht mehr nur wie in der traditionellen Sicht außerhalb Jerusalems, sondern nun auch und vor allem in der Stadt selbst sitzen 27 . Darum zieht die realpolitische Mißachtung von Jahwes Heils- und Friedenswille durch den Hof, die konkrete Vernichtung der Feinde im Innern der Stadt nach sich, wobei die assyrische Großmacht als Jahwes Strafwerkzeug gesehen wird. 2. Die Ablehnung von Jesajas anfanglicher Heilsverkündigung, mehr noch aber seiner daraus resultierenden Unheilsverkündigung, läßt seine 26 27

Zu dieser Emendation in Jes 8,13 vgl. die Kommentare. | Vgl. dazu STECK 1972b, 54-58, ferner HARDMEIER 1978, 348-354.

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9. Verkündigung

und Schrift bei Jesaja

239

Tätigkeit in ihrer Wirkung zu dem werden, wofür er sich im Rückblick beauftragt sieht: zur Verstockung „dieses Volkes", das weder sehen, noch hören, noch verstehen soll 28 . 3. Damit geht einher, daß ihm seine Verkündigung bittere Feindschaft und Gegnerschaft in „diesem Volk" eingetragen haben muß, wie schon 8,12 vermuten läßt und durch Stellen wie Jes 5,19 oder 28,9 f. bestätigt wird. Jesaja ist in die Isolation getrieben worden. 4. Andererseits muß es einen wohl kleinen Kreis von Anhängern gegeben haben, dem er sich verständlich machen konnte (8,16). Die Mahnung in 7,9 und 8,12, die als Grundzug des Schriftdokumentes im Kolophon aufgenommen wird (8,16 „Weisung"), zeigt, daß es diesen wohl schwankenden Adressatenkreis zu belehren und zu überzeugen gilt. Andererseits macht das Reden von „diesem Volk" deutlich, daß die Angesprochenen nicht zu den Verstockten gerechnet werden. Jesajas Offenbarungserzählung - auch dieser Aspekt wird im Kolophon aufgenommen - deckt ihnen gegenüber zeugnishaft Zusammenhänge auf, die dem verstockten Volk verschlossen bleiben müssen. Nur ihnen gegenüber kann er j a dann auch sinnvollerweise von seinem Verstoc|kungsauftrag erzählen, wenn er ihnen zugleich eine gewisse Einsichtsfähigkeit zubilligt 29 . 2.5 Damit aber sind Anlaß und Trägerkreis für die Entstehung dieses Stükkes prophetischer Literatur in etwa umrissen. Das Dokument diente der internen Findung und Wahrung der Identität eines Anhängerkreises um den in Opposition geratenen Propheten Jesaja. Es stellt ein Stück Selbstreflexion prophetischer Erfahrung dar, die sich mahnend und hoffend (8,17 f.) einem Kreis von Anhängern literarisch mitteilt. Nicht die mündliche Verkündigung als solche drängte demnach irgendwann einmal zur schriftlichen Aufzeichnung und auch nicht das Ausbleiben angekündigter Einzelereignisse, sondern die Ablehnung dieser Verkündigung durch jene, an die sie sich richtete und die gemeint waren, diese Ablehnung drängte zur Reflexion und zum Nachdenken, weil sie unerwartet die schuldaufklärende Verkündigungsabsicht des Propheten radikal in Frage gestellt hat. Dieses rückblickende Nachdenken, diese Selbstverständigung unter den in Widerspruch und in Opposition Geratenen nun aber bediente sich genuin der Schrift. Hier geht es um Festhalten und Dokumentation bestrittener Wahrheit, aber auch um eine Komplexität der Erfahrung, die sich als Zusammenhang nur im Medium der Schrift bleibend und aufs neue Klarheit schaffend aufbewahren und erinnern läßt. Jesajas Denkschrift läßt sich nicht als Denkrede verstehen und auch nicht als anekdotischer Bericht oder als Sammlung von primär mündlich erzählten, 28

Vgl. dazu die oben Anm. 22 angegebene Literatur. |

29

V g l . d a z u HARDMEIER 1 9 7 9 , 51 f.

240

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

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einfach strukturierten Einzelepisoden. Zeigt noch das Apophthegma von der Ausweisung des Arnos aus Bethel alle Züge der mündlichen Erzählform, so ist die Denkschrift Jesajas nicht nur ihrer äußeren Form und ihrem Umfang nach a priori ein Schriftdokument, sondern auch von der Komplexität des Gedankenganges - bei aller Nähe zur mündlichen Form einzelner Situationsberichte - von vornherein ein Lese-, allenfalls ein Vorlesetext.

III Trifft diese Interpretation zu, so wäre die Wurzel der Schriftprophetie als Literatur in der Reflexion über die Ablehnungserfahrung der genuin mündlichen Verkündigung zu suchen; und erst diese Ablehnungserfah|rung und ihrer Reflexion würden wir dann auch die Aufzeichnung dieser primär mündlichen Verkündigung selbst verdanken. Diese an der Denkschrift Jesajas gewonnene Einsicht müßte selbstverständlich am ganzen Korpus protojesajanischer Wortüberlieferung im Blick auf weitere Reflexionsmomente überprüft werden, was in diesem Rahmen nicht geleistet werden kann. Nur an einem Text möchte ich abschließend exemplarisch zeigen, daß das Moment der Selbstreflexion prophetischer Verkündigung, in welchem ich den unmittelbaren Anlaß zur schriftlichen Aufzeichnung sehe, nicht auf die Denkschrift des Propheten beschränkt bleibt: Der späte, mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Jahre 701 stammende Text Jes 22,1-14 macht dies deutlich. 3.1 Zum Verständnis dieses Textes ist die Erkenntnis wichtig, daß es sich dabei um ein begründetes Unheilswort handelt, das in V. 14 die Unvergebbarkeit der Schuld ankündigt, die in den Versen 1-13 aufgewiesen wird 30 . Der in sich sehr komplexe Schuldaufweis läßt die folgenden, für uns wichtigen Momente erkennen: 1. Jesaja blickt zurück auf die Einschließung Jerusalems durch die Assyrer um 701. Es gab Geflohene und Gefangene (V. 3), die Stadt war belagert (V. 5-8). 2. Trotzdem feiert die Bevölkerung im Uberschwang: man steigt auf die Dächer ( V . l ) und tut sich zusammen zum Festessen und Jubelumtrunk (V. 13). Offenbar ist die unmittelbare Gefahr vorbei, die assyrischen Truppen sind abgezogen. 3. Demgegenüber verharrt der Prophet in untröstlicher Trauer (V. 4). Während das Jerusalemer Volk die Verschonung der Stadt durch Sanherib als fast wunderbare Bewahrung feiert, hat Jesaja in der Belagerung und

30

Vgl. dazu HARDMEIER 1978, 362-372.

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9. Verkündigung

und Schrift bei Jesaja

241

totalen Einschließung der Stadt das Hereinbrechen von Jahwes Unheilsgericht gesehen: „Denn einen Tag der Verwirrung und der Zertretung und der Bestürzung hatte der Herr, Jahwe der Heerscharen" (V. 5). Offensichtlich ist der grundsätzliche Dissens in der Beurteilung und Wertung dieser historisch-politischen Belagerungserfahrung zwischen Prophet und Bevölkerung. So ist es denn auch Jesajas Hauptvorwurf, daß die Jerusalemer Jahwes Werk und dessen Ankündigung durch den Propheten trotz des beinahe vernichtenden Schlages gegen die Stadt nicht erkannt und begriffen haben: „...doch ihr schautet nicht auf | den, der es getan hatte, und den, der es von lange her gewirkt hatte, saht ihr nicht. Aber der Herr, Jahwe der Heerscharen, rief an jenem Tage auf zum Weinen und zur Trauer, zum Kahlscheren und Sackumgürten" (V. 11 f.). Für Jesaja hat sich seine Unheilsprophetie um 701 erfüllt und voll bestätigt, was aber die feiernden Jerusalemer keineswegs so gesehen haben. Sie haben die tödliche Bedrohung der Stadt mit massiven Befestigungs- und Sicherungsmaßnahmen beantwortet ohne Einsicht in die Vollendung von Jahwes Unheilswerk (V. 8-11, vgl. auch Jes 1,2-4 und 5,12), das der Prophet zeitlebens angekündigt hat. So ist Jesaja mit seiner öffentlichen Verkündigung bis zuletzt bei seinen Adressaten nicht durchgedrungen 3 1 und in seiner Zeit ohne öffentlichen Einfluß und direkte Wirkung geblieben. 3.2 Darin dürfte der unmittelbare Grund für die Aufzeichnung und Sammlung der Prophetenworte zu suchen sein, was sich von der Notiz in Jes 30,8 f. her bestätigt: (8) Jetzt (aber) geh hinein, schreibe es auf eine Tafel " und in ein Buch trage es ein! Damit es für einen künftigen Tag als ,Zeuge' auf ewig bleibe. (9) Denn ein widerspenstiges Volk sind sie, verlogene Söhne, Söhne, die nicht hören wollten die Weisung Jahwes.

Als Zeuge auf ewig - gedacht ist an eine lange Zeitspanne, die sich nach vorne hin im Dunkeln und Verborgenen verliert - soll Jesaja seine Worte aufzeichnen. Die schriftliche Fixierung seiner Worte bekommt hier angesichts der Erfolglosigkeit und Wirkungslosigkeit seiner Verkündigung bei seinen hörunwilligen Zeitgenossen (vgl. V. 9!) einen ausgesprochen dokumentarischen Charakter. Über das Unverständnis der meisten Zeitgenossen hinaus soll die nicht verstandene Wahrheit festgehalten und dem Urteil kommender Generationen zugänglich bleiben, in der Hoffnung, daß das Aufgezeichnete später Verständnis finden wird. Die zunächst vielleicht nur für den Moment als Redeskizzen schriftlich festgehaltenen Verkündigungsworte werden nun aus der Erfahrung ihrer Ablehnung heraus in einem neuen Akt erhoffter Kommunikation mit zukünftigen Generationen im

31

V g l . H A R D M E I E R 1 9 7 8 , 3 7 1 f.

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Medium der Schrift auf Dauer festgehalten und gesammelt und sind auf diese Weise als literale Texte zu einem Korpus schriftprophetischer Literatur geworden. So erklärt sich auch, daß diese Sammlungen über das bloß äußerlich ordnende und | kontextlose Festhalten dieser Worte hinaus keine inhaltlichen Kompositionsinteressen erkennen lassen. 3.3 Geht man den Bedürfnissen der überliefernden Trägerschaft nach, die die Aufzeichnung und Sammlung der öffentlichen Verkündigung besorgt und bewahrt hat, so wird weniger das Moment der Identitätsfindung im Vordergrund gestanden haben wie im Falle der autobiographischen Offenbarungserzählung, als vielmehr das Moment der Identitätswahrung. Der isolierte Prophet und seine kleine Anhängerschaft ließen sich durch keine Gegnerschaft und keine Frustrationserfahrungen irre machen oder in die stumme Resignation treiben (vgl. Jes 8,17 f.). Die erst in einem zweiten Schritt erfolgte schriftliche Bewahrung der nicht angekommenen Verkündigung über die Gegenwart hinaus war ein selbständiger Akt der im Glauben an Jahwe verankerten Überzeugung von der Wahrheit der dem Propheten offenbarten Sache. Insofern hatte sie identitätswahrende Funktion für die oppositionelle Gruppe. Zugleich war dieser Akt der Bewahrung aber auch ein Ausdruck der Hoffnung, daß die prophetische Verkündigung in Zukunft ihre Wahrheit erweisen wird, die Wahrheit nämlich, daß verdrängte, in der Verstockung nicht erkannte Schuld auch nicht vergeben werden kann (vgl. 22,14!) und die daraus resultierende Strafe weiterhin droht. Damit war gegeben, daß diese schriftprophetische Literatur zumindest in kleinen Oppositionskreisen auf die Bestätigung ihrer kritischen Wahrheit hin lebendig weiter überliefert worden ist, bis sie mit dem Untergang von Jerusalem um 587 für die Generationen des Zusammenbruchs und der Exilszeit eine in die Breite durchschlagende Bestätigung gefunden hat, an die die Schriftpropheten des 8. Jahrhunderts allerdings konkret nicht gedacht haben, wie Jes 22,1-14 deutlich macht. |

10. Die judäische Unheilsprophetie Antwort auf einen Gesellschafts- und Normenwandel im Israel des 8. Jahrhunderts vor Christus (1983)

Die traditionelle Aufspaltung der Antike in eine griechisch-römische (gleich heidnischprofane bzw. antiklerikale) und eine jüdisch-christliche Wurzel, die allein im Judentum und in der Kirche fortlebt, muß angesichts der Herausforderungen unserer Gegenwart durchbrochen werden. Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit als Voraussetzung für einen stabilen Frieden stellt sich in ihrer ganzen Schärfe nicht mehr nur in unserem Verhältnis zu den Ländern der Dritten Welt, sondern in zunehmendem Maße auch bei uns. Eine Rückbesinnung auf die ersten Zeugen einer auf Veränderung ausgerichteten Sozialkritik leitet in besonderer Weise zur Wahrnehmung sozialen Unrechts an und schärft die Gewissen. Die Nähe zu Hesiod kann dem Kundigen nicht verborgen bleiben.

0. Einleitung In dem folgenden Beitrag 1 steht nicht die Frage nach der Begründung von Normen im Vordergrund, sondern die Frage nach den Gründen, weshalb Normen verletzt werden und weshalb sie sich wandeln. Der Normenwandel, der im Israel des 8. Jahrhunderts v. Chr. zu beobachten ist, geht einher mit einem tiefgreifenden Gesellschaftswandel jener Zeit, von dem sich die zeitgenössischen judäischen Unheilspropheten Arnos, Micha und Jesaja fundamental herausgefordert sahen. Ihre Reaktion und Antwort auf diesen Wandel soll im Schlußteil dieses Beitrages thematisiert werden. - Hinsichtlich der Quellenlage sind die prophetischen Zeugnisse die primären Quellen zur Erschließung des genannten Normen- und Gesellschaftswandels, so daß wir exemplarisch von prophetischen Texten ausgehen. Der Beitrag gliedert sich in vier Teile. In Teil I ist anhand von Mi 2,1 f. und Jes 5,8 der Kernpunkt dieses Gesellschaftswandels, nämlich die Destabilisierung der altisraelitischen Bodenordnung, deutlich zu machen. Ausgehend von Mi 2,1 ist zunächst klarzustellen, daß die Gesellschaftskritik der judäischen Propheten nicht auf das Verhalten einzelner, sondern auf die Führungs- und Oberschicht der altisraelitischen Hauptstädte Samaria und Jerusalem (Nord- und Südreich) als ganzer ausgerichtet ist. Für die Erschließung und Rekonstruktion der altisraelitischen Bodenordnung, die im Alten Testament nirgends als solche thematisiert wird, sind die 1 Überarbeitete Fassung des Vortrags vom 2. 12. 80 im Rahmen der Ringvorlesung Normenwandel und Normenbegründung an der Kirchlichen Hochschule Bethel im WS 1980/81.

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Texte I. Reg j 21,1-16; Jer 32,6 f.; Lev 25,25 und Ruth 4,1-12 von besonderer Bedeutung, die einschlägige Literatur ist im Überblick (6.) unter 6.2.8 und 6.2.9 genannt. In Teil 2 sollen anhand von einschlägigen Texten weitere symptomatische Momente dieses Wandels beleuchtet werden, wie sie von den Propheten aufgegriffen worden sind: - 2.1 die Schuldsklaverei anhand von Am 2,6 f.; - 2.2 der aufkommende manipulierte Getreidehandel anhand von Am 8,4-6; - 2.3 Luxus und Wohlstand der Oberschicht anhand von Am 4,1; 6,1-6; Jes 3,16 f. 24, der auf sozialem Unrecht beruht: Am 3,10 und Jes 3,14; - 2.4 die unlautere Rechtspraxis anhand von A m 5,10.12; Mi 3,9; Jes 1,23 und 5,23 mit - 2.5 ihren Wurzeln in einer komplexer gewordenen Rechtsprechungspraxis, die aus Jes 10,1 f. hervorgeht. Wichtige Literatur ist unter 6.2.3 bis 6.2.7 und 6.3 genannt. Teil 3 faßt die an den Texten gewonnenen Beobachtungen zusammen und zeigt einige Gründe für den Normenwandel auf, die mit dem Gesellschafts wandel im Zusammenhang stehen: - 3 . 1 das Aufklaffen von Normenlücken angesichts der neuen gesellschaftlichen Entwicklung; - 3 . 2 die Veränderung von Wertmaßstäben innerhalb der Oberschicht anhand von Am 5,12; Jes 1,23 und 5,23 und - 3.3. Ansätze zu einer kollektiven Verantwortungslosigkeit, die aus der zunehmenden Komplexität gesellschaftlichen Handelns - vorab im Rechtswesen - resultiert. Der abschließende Teil 4, der die Antwort und Reaktion der Propheten im Auge hat, wendet sich zunächst - 4.1 der sogenannten Solidaritätsethik zu, deren Grundmaßstab an den Texten Prov 31,8 f.; Jes 1,16 f. (23); Ps 72,1 f. 4; 82,2-4; Mt 11,16-19; 25,34-46 (vgl. ferner Anm. 24) entwickelt werden soll. - 4.2 geht auf den Tun-Ergehen-Zusammenhang und die Jerusalemer Kulttradition ein, auf deren Hintergrund die Propheten argumentiert haben und sich gezwungen sahen, den Gesellschafts- und Normenwandel mit seinen sozialen Schadensfolgen als Grund und Ursache für einen kommenden Untergang des ganzen Volkes aufzuzeigen. Hier stehen die Texte Am 6,1-7 und Jes 1,21-26 exemplarisch im Mittelpunkt. Einführende Literatur ist unter 6.4.3-6.4.5 genannt. - 4.3 versucht abschließend die Verkündigungsabsicht der Unheilsprophetie in Auseinandersetzung mit gängigen Interpretationstypen näher zu bestimmen, um damit die befremdlich anmutende Argumentation der Propheten in den begründeten Unheilsworten als Reaktion auf den Normenwandel ein Stück weit nachvollziehbar und verständlich zu machen. Hierzu ist auf die unter 6.5 genannte Literatur und die im Abschnitt selbst nur angeführten Textbelege zu verweisen, die angesichts der Komplexität des Themas in dem hier gesetzten Rahmen nicht im einzelnen entfaltet werden können, geschweige denn im Unterricht.

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1. Zum Gesellschaftswandel im Israel des 8. Jahrhunderts v. Chr. Wir gehen aus von dem Michawort Mi 2,1 f.: 2 (1) Wehe, die Unrecht planen und Übeltaten auf ihren (Nacht)Lagern! | Beim Frühlicht des Morgens führen sie's aus; denn es steht in der Macht ihrer Hand. (2) Sie gieren nach Feldern und rauben (sie) nach Häusern - und nehmen (sie) weg. Sie üben Gewalt gegen einen Mann und seine Familie, gegen einen Bauern und seinen Erbbesitz.

Zwei Dinge sind zunächst an diesem Textausschnitt wichtig: a) Micha hat nicht die Untaten bestimmter Einzelner im Auge, sondern die Verfehlungen einer ganzen Schicht, die allein durch ihr Unrechtsverhalten anonym charakterisiert wird. Es sind diejenigen, die die Macht haben, Unrecht zu tun. Die ganze Sozialkritik der drei judäischen Unheilspropheten ist in dieser schichtbezogenen Weise anonym formuliert (mit Ausnahme von Jes 22,15 ff.) und richtet sich einhellig an die Adresse der wohlhabenden und einflußreichen Führungsschichten vornehmlich in den Hauptstädten der beiden Reiche Israel und Juda; beim Judäer Arnos an die Samarier, bei Micha und Jesaja an die Jerusalemer, die nach Ausweis gelegentlicher Würdebezeichnungen der staatlichen Administration angehörten 3 . b) Die angeprangerten Freveltaten, besonders V. 2, zeigen den tiefen Eingriff in das Wirtschaftsgefüge der altisraelitischen Agrargesellschaft. Landraub und Bodenkonzentration entzogen den freien israelitischen Kleinbauern ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage und zwangen sie und ihre Familien in die Schuldsklaverei. Beides, die Bodenkonzentration und die Schuldsklaverei, stehen dabei in einer Wechselwirkung, die im folgenden näher zu erläutern ist 4 . 2

Zu Mi 2,1 ff. vgl. WOLFF 1982, 37 ff. und ALT 1968b. Zu Arnos vgl. bes. 3,9 f. 12; 4,1; 6,1 (-6), auch 6,8; ferner zur pluralisch-anonymen Bezeichnung der Oberschicht in ihren Verhaltensweisen: 2,6 f.; 5,7.10.11.12.18; 6,13 und 8,4-6. Zu Micha vgl. bes. 3,1 ff. und 3,9-11; ferner 2,1 ff. und 3,5. Zu Jesaja vgl. bes. 1,23; 3,1 ff. 14 f.; 28,14 ff., auch 1,10 und 3,16 bzw. 32,9 ff.; ferner zur pluralischanonymen Bezeichnung: 5,8-10.11-13.18-23; 10,1-3; 28,7 ff., auch 29,15; 30,1 ff. und 31,1-3. Vgl. dazu ferner ALT 1968a , DONNER 1963, 501-507 und SCHOTTROFF 1979, 49 ff. 4 Vgl. dazu bes.: ALT 1968a, 370 f., DERS. 1968b, 373 f., DONNER 1963, 508-51 1 und SCHOTTROFF 1979, 52-59; allgemein: DE VAUX 1964, 96 ff. 132 ff.264 ff. und BIBLISCHES REALLEXIKON 1977, 4. Um einen konkreten Fall drohender Schuldsklaverei geht es in II Reg 4,1-7. 3

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Wir müssen uns klarmachen, daß aufgrund der altisraelitischen Bodenordnung der Kauf und Verkauf von Landstücken in hohem Maße eingeschränkt war. So weigerte sich z.B. Naboth (I Reg 21,3), seinen Weinberg dem König Ahab von Samaria zu verkaufen oder gegen ein viel besseres Grundstück einzutauschen: „Ferne sei es mir vor Jahwe, dir den Erbbesitz meiner Väter zu veräußern." „Erbbesitz meiner Väter", das war unverkäufliches Land, das Jahwe gehörte; Land, das den einzelnen Familien zur Nutzung zugeteilt war und über Generationen vererbt wurde. Landeigentum war damit nur Nutzungseigentum der Familien und nicht Privatbesitz, der verkauft und gekauft werden konnte. Allerdings gab es auch innerhalb dieser Ordnung Fälle, wo Erbbesitzland in andere Hände überging. Hatte diese Ordnung den Sinn, jeder Bauernfamilie ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage durch einen ihr zugewiesenen Bodenanteil zu sichern, so mußte der Erbbesitz in folgenden Fällen aufgegeben und veräußert werden: 1. wenn der Nutzungseigentümer starb und keine Söhne da waren oder überhaupt, wenn eine Familie ausstarb oder auswanderte; und j 2. wenn ein Bauer durch Ernteausfall oder Mißwirtschaft sich so überschuldet hatte, daß er in Schuldsklaverei geriet und seinen Erbanteil aufgeben mußte. Nur hatten dabei die weiteren Verwandten ein Vorkaufsrecht, wie Jeremias Ackerkauf in Anathot (Jer 32,6 f. vgl. Lev 25,25) zeigt. Ferner war der Bruder eines verstorbenen Nutzungseigentümers verpflichtet, eine sogenannte Leviratsehe (Schwagerehe) mit der hinterbliebenen Witwe einzugehen und damit den Erbanteil des Verstorbenen zu übernehmen, wenn keine Söhne vorhanden waren (Dtn 25,5-10). Beide Rechtsregelungen 5 hatten das Ziel, den Erbbesitz auch dann dem größeren Familienverband zu erhalten, wenn er - aus welchen Gründen auch immer - von der Einzelfamilie nicht mehr getragen werden konnte. Nur wenn auch die weiteren Verwandten nicht in der Lage waren, solchen Erbbesitz zu übernehmen oder wenn eine Leviratsehe nicht zustande kam, konnte ein Verkauf an Fremde überhaupt in Frage kommen. Die genannten Rechtsbestimmungen machen deutlich, in welch hohem Maße sich diese Bodenordnung auch selbst stabilisiert hat. Nun ist in Mi 2,2 auch explizit davon die Rede, daß es die Grundstückshaie auf Erbbesitzland (hebr. nahala) abgesehen haben. Zu einer solchen Bedrohung der nahala und zu einer so großen Konzentration von Grundbesitz in den Händen weniger, wie es vor allem in Jes 5,8 be-

5 Beim Heranziehen von Rechtsregelungen aus den Büchern Leviticus und Deuteronomium muß man sich darüber im Klaren sein, daß z.B. Dtn 25,5-10 und Lev 25,23-38 hinsichtlich der Textabfassung jünger sind (frühestens 7. Jahrhundert v. Chr.) und z. T. was z.B. das Halljahr in Lev 25 betrifft - in starkem Maße programmatischen Charakter haben. Besonders der Fall von Naboths Weinberg aber zeigt, daß diese Bodenordnung schon im 9. Jahrhundert ihre volle Geltung im Alltag hatte; ihre Wurzeln sind mit größter Wahrscheinlichkeit im vorstaatlichen Israel zu suchen. Vgl. SCHOTTROFF 1979, 54 f.

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zeugt wird, konnte es nur kommen, wenn diese sich in hohem Maße selbst stabilisierende Bodenordnung an ihren Schwachstellen im großen Stile unterlaufen wurde. Zwei Punkte sind dabei besonders zu beachten: a) Jede Eigentumsübertragung von Erbland war Gegenstand der Rechtsgemeinde in den Landstädten und wurde im Tor im Kreise der freien Israeliten verhandelt 6 . Boas im Büchlein Ruth konnte den Erbanteil des verstorbenen Elimelech nur übernehmen, nachdem ein noch näherer Verwandter auf sein Vorkaufsrecht verzichtet hatte 7 . Der ganze Akt fand vor den Ältesten des Ortes statt und wurde durch sie beglaubigt. Das heißt dann aber, daß Manipulationen und Pressionen im Rechtsverfahren leicht dazu führen konnten, daß zur Disposition stehender Erbbesitz unter Ausschaltung der großfamiliären Vorkaufsrechte, beschleunigt von Außenstehenden aufgekauft wurde. b) Solche Erbanteile wurden auch dann um so schneller und um so häufiger zum Verkauf an Fremde frei, j e weniger die weiteren Verwandten sich wirtschaftlich in der Lage sahen, von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch zu machen. „Ich kann (das Grundstück) nicht auslösen, um nicht meinen Erbbesitz zu schädigen", antwortete der auf sein Vorkaufsrecht verzichtende Verwandte dem Boas (Ruth 4,6). Sei es, daß ihm das nötige Kapital fehlte, sei es, daß er das Land mit seinen Familienangehörigen allein nicht bewirtschaften konnte, die fehlende wirtschaftliche Potenz zwang ihn zum Verzicht. | In der Verarmung und Überschuldung vieler Kleinbauern im 8. Jahrhundert, deren Ursache wir nur bruchstückhaft kennen, wird denn auch der Hauptgrund dafür zu sehen sein, daß Erbanteile in großem Ausmaß von Angehörigen der städtischen Oberschichten in Samaria und Jerusalem aufgekauft werden konnten. Kleinbauern, die ihre Schulden nicht mehr bezahlen konnten, gerieten zusammen mit Frau und Kindern zwangsläufig in Schuldsklaverei und mußten gleichzeitig ihren Erbanteil verkaufen. Als Schuldner hafteten sie mit ihrem eigenen Leben für ihre Schuld und wurden als Sklaven verkauft, wenn der Gläubiger die Schuld einforderte. Dabei zeigen die Sklavengesetze in Ex 21,1 ff. und Dtn 15,12 f f , daß der Kauf und Verkauf von Sklaven unter bestimmten Freilassungsbedingungen eine durchaus legale Praxis war 8 . Die Konzentration von Großgrundbesitz, verbunden mit der massenhaften Versklavung ehemals freier Kleinbauern mit Grundanteil und Voll-

6

7

V g l . d a z u KÖHLER 1 9 7 6 u n d BOECKER

1976.

Vgl. Ruth 4,1-12. | 8 Die Grundsatzfrage einer Abschaffung der Sklaverei stand im alten Israel vor dem Exil (586) noch nicht zur Debatte; Texte wie Jer 34,8 ff. und Lev 25,39 ff. zeigen, daß mindestens im exilisch-nachexilischen Israel versucht wurde, die Sklaverei für Volksgenossen in Erinnerung an die Fronarbeit in Ägypten abzuschaffen.

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bürgerrechten in den Landstädten, wird als Schlußpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung im 8. Jahrhundert bei Jesaja greifbar (5,8): Wehe, die ihr Haus an Haus reiht, Feld an Feld rückt, bis kein Platz mehr ist und ihr allein als Ansässige 9 geltet im Lande.

Da mit dem Verlust des Erbanteils und mit der Versklavung auch die Vollbürgerschaft verlorenging, spielt der Schlußsatz von Jes 5,8 wohl darauf an, daß fast nur noch die kapitalkräftigen Großgrundbesitzer der Regierungszentren als Freie im Lande galten. Was hinter den Anklagen in den kurzen Sätzen von Mi 2,1 f. und dem Vorwurf in Jes 5,8 steht, trifft den Kern eines tiefgreifenden Gesellschaftswandels im Israel des 8. Jahrhunderts, an dessen Ende eine kleine, reiche Oberschicht in den Hauptstädten mit weitverzweigtem Großgrundbesitz einem Heer von verarmten, versklavten und entrechteten Kleinbauern mit ihren Familien gegenüberstand, einer Masse von billigen Sklaven, die als abhängige Arbeitskräfte die ausgedehnten Latifundien zu bewirtschaften hatten. Auch wenn man bei den Propheten mit polemischen Überspitzungen zu rechnen hat, weisen unabhängig davon archäologische Befunde darauf hin, daß sich schon ab 850 eine Aufspaltung der altisraelitischen Gesellschaft in reich und arm anbahnte. Die Siedlungsschichten etwa der Stadt Thirza in Mittelpalästina zeigen von dieser Zeit an deutliche Spuren eines Reichenviertels, das durch eine Mauer von einem viel schlechter gebauten Armenviertel getrennt war 10 . Wichtig für unseren Zusammenhang ist nun aber, daß dieser rekonstruierte und in der Forschung seit langem als aufkommender „Frühkapitalismus" bezeichnete Ge|sellschaftswandel bei den Propheten nirgends selbst zum Thema gemacht wird, so sehr Micha und Jesaja mit ihren Worten einen seiner Kernpunkte im Visier hatten. Die Propheten waren keine Gesellschaftstheoretiker. Damit würden wir unangemessene moderne Maßstäbe an sie anlegen. Vielmehr waren sie - so könnte man sagen — großartige Symptomatiker dieses Gesellschaftswandels, der aber als Zusammenhang nicht eigens thematisiert worden ist. Und sie betrieben diese Symptomatik konsequent unter dem Gesichtspunkt der Verantwortung, indem sie - orientiert an den Normen der traditionellen Ethik - die Oberschicht in ihrem asozialen Fehlverhalten verantwortlich machten für die prekären Folgen dieser Entwicklung: für die Ausbeutung der Verarmten und für den Landraub. Ich ziehe eine Konsequenz: Sosehr es heute für eine Sozialethik bzw. für eine Ethik des politischen Handelns notwendig ist, strukturelle Eigen9

Zu dieser Übersetzung „als Ansässige gelten" im Sinne von „die vollen Bürgerrechte genießen" vgl. WILDBERGER 1972, 183 und 176. 10

V g l . d a z u WEIPPERT 1 9 7 7 s o w i e SCHOTTROFF 1 9 7 9 , 5 0 .

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gesetzlichkeiten und anonyme, überindividuelle Mechanismen aufzudecken, die zur Benachteiligung und Unterdrückung von Minderheiten bis hin zu ganzen Völkern führen, so wenig darf dabei vergessen werden, daß es sich niemals um schicksalhafte Prozesse handelt, denen wir absolut hilflos ausgeliefert sind. Sachzwänge und politisch-wirtschaftliche Eigengesetzlichkeiten - mögen sie noch so übermächtig und unabänderlich erscheinen sie werden durch das Handeln von Menschen in Gang gehalten und durch Menschen verstärkt, verändert oder abgeschafft, durch Menschen also, die im Zusammenwirken mit anderen stets eine letztlich benennbare Teilverantwortung für das Ganze tragen, und zwar unabhängig davon, ob sie sich dieser Verantwortung bewußt sind oder nicht. Dies ruft uns die Sozialkritik der Unheilspropheten unauslöschlich ins Gedächtnis.

2. Zur Symptomatik des Gesellschaftswandels und zum normativen Hintergrund der prophetischen Sozialkritik Ein kurzer Durchgang durch verschiedene Aspekte der prophetischen Sozialkritik soll die symptomatischen Momentaufnahmen des Gesellschaftswandels vor Augen führen und den normativen Hintergrund aufhellen, auf dem die Propheten argumentieren. 2. 1 Den Hauptgrund dafür, daß die altisraelitische Bodenordnung beschleunigt ihre Wirtschaftsstabilisierende Funktion verloren hat und aus den Fugen geraten ist, haben wir in der zunehmenden Verschuldung und Versklavung der ehemals freien israelitischen Kleinbauern gesehen. Besonders bei Arnos finden sich deutliche Hinweise auf die Schuldsklaverei: Jahwe nimmt das angedrohte Unheil nicht zurück, (Am 2,6) ...weil sie für Geld den Unschuldigen verkaufen und den Bedürftigen für ein paar Sandalen. (2,7) Sie treten nach dem Kopf der kleinen Leute und beugen den (Rechts)weg der Armen j

Arnos kritisiert hier nicht die Rechtsinstitution der Schuldsklaverei, sondern die menschenunwürdige Praxis des Sklavenhandels: die lächerlichzynischen Preise - „ u m ein Paar Sandalen"-, die brutale Art des Umgangs mit den Entrechteten -„sie treten nach dem Kopf des Hilflosen"- und vor allem die Rechtsbeugung, die auch Unschuldige in die Sklaverei zwingt. Der Prophet orientiert sich hier ganz deutlich an Normen der Erziehungsweisheit, die der geschulten Oberschicht vertraut gewesen sein müssen: „Beraube nicht den kleinen Mann, weil er schwach (ist), und zermalme nicht den Elenden im Tor!" (Prov 22,22). Gerade dies aber wird den

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Mächtigen und Einflußreichen vorgeworfen. Sie setzen sich über traditionelle Normen hinweg. Indirekt ist aus Am 2,6 f. zu schließen, daß die um ein Nichts gekauften Sklaven einerseits nie ihre Schulden wieder loswerden und sich freikaufen konnten, daß aber andererseits die Großgrundbesitzer ihre Latifundien mit den billigen Arbeitskräften viel leistungsfähiger und kostengünstiger bewirtschaften konnten als die Kleinbauern mit ihren Familien, was ihre Verarmung beschleunigt haben wird. 2.2 Ein zweiter Aspekt, der die wirtschaftliche Schwächung der Kleinbauern beschleunigt haben könnte, wird an Am 8,4-6 deutlich: (4) Höret dies, die ihr den Bedürftigen tretet; dabei die Armen des Landes zum Verschwinden bringt, (5) indem ihr sagt: „Wann geht der Neumond(stag) vorüber, so daß wir doch Getreide verkaufen können, und (wann) der Sabbat, so daß wir den Getreidemarkt aufmachen und den Abfall des Korns verkaufen können?" indem ihr das Hohlmaß verkleinert und den Gewichtsstein vergrößert und mit krummer Waage betrügt; (6) dabei für Geld die kleinen Leute kauft und Bedürftige um ein paar Sandalen 1 1 .

Hier ist vom Getreidehandel die Rede und stillschweigend von den Gewinnen, mit denen - in ähnlichen Worten wie in Am 2,6 f. - neue Sklaven gegen ein Nichts angekauft werden konnten - sarkastisch eingekleidet in ein Selbstzitat der Angeklagten. Wie im ersten Beispiel kritisiert der Symptomatiker Arnos auch hier nicht die Wirtschaftsstruktur als solche, sondern die ruhelos geschäftige und betrügerisch gewinnsüchtige Praxis der Getreidehändler: die Ungeduld gegen Ruhe- und Feiertage, den Verkauf von minderwertiger Ware, den Betrug mit krummen Waagen, falschen Gewichten und Maßen. Und wieder orientiert sich der Prophet am traditionellen Ethos, das uns in Verbotsreihen und in der Spruchweisheit überliefert ist und | unrechten Gewinn ebenso verurteilt wie den Betrug mit krummen Waagen und falschen Gewichten 12 .

11 Die zweite Vershälfte von V. 6 „und den Abfall des Korns verkaufen können" schließt das Zitat in V. 5 ab und ist entsprechend umgestellt; vgl. dazu WOLFF 1975, 371. Die modale Übersetzung der Reihe in V. 4-6 orientiert sich an der entsprechenden Reihung von Infinitivkonstruktionen im hebräischen Text, die bereits in V. 4 modal zu übersetzen sind, weil eine finale Übertragung wenig sinnvoll erscheint. | 12 Vgl. dazu Prov 10,2; 15,16; 16,8; zur Warnung vor Betrug mit krummer Waage und falschen Maßen: Prov 11,1; 20,23, vgl. 16,11 und 20,10.

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Auch hier aber werden indirekt Faktoren erkennbar, die die Verarmung und Überschuldung der Kleinbauern beschleunigt haben können. Unabhängig davon, ob das vermarktete Getreide aus der Überproduktion von Latifundien oder aus aufgekauften Ernteerlösen der Kleinbauern stammte, mit dem Getreidehandel, der sich offensichtlich zu verselbständigen begann, wurden die Preise nicht mehr von den unmittelbar produzierenden Kleinbauern, sondern von den Zwischenhändlern bestimmt. Diese konnten in schlechten Erntejahren mit ihren Vorräten die Preise drücken, in guten Jahren dagegen die Ernteüberschüsse billig aufkaufen, so daß z.B. ein Kleinbauer durch eine gute Ernte nicht mehr einen Mehrerlös erzielen konnte, um damit seine Steuer- oder andere Schulden wieder abzubauen 13 .

2.3 Ein besonders breit belegter Aspekt ist die Luxuskritik der Propheten. Sie zeigt uns, wie die reiche Oberschicht - gewiß aus der scharfzüngigen Sicht ihrer Kritiker - gelebt hat: Am 4,1: Höret dieses Wort, ihr Basanskühe auf Samarias Berg, die ihr kleine Leute unterdrückt, die ihr Bedürftige schindet, die ihr zu deren Herren sagt: „Schafft her, so wollen wir saufen!" 1 4

Am 6,1.3-6: (1) Wehe,... die Sorglosen auf Samarias Berg, die Vornehmen der Elite unter den Völkern,... (3) die (von sich) wegschieben den Unheilstag, aber die Herrschaft der Gewalt führten sie herbei; (4) die sich breit machen auf Elfenbeinbetten und liegen herum auf ihren Sofas und verspeisen Böckchen aus der Herde und Kälber mitten aus der Mast; (5) die grölen zum Klang der Laute, Instrumente haben sie sich ausgedacht; (6) die Wein aus Kannen trinken und mit den besten Ölsorten salben sie sich ein... |

13

Vgl. zu diesem Zusammenhang bes. SCHOTTROFF 1979, 57 f. „Basanskühe" ist eine derbe Metapher für die reichen Damen der feinen Gesellschaft von Samaria. Mit dem Ausdruck „Herren" sind die Männer dieser Frauen gemeint, die sie bei ihren Gelagen zu bedienen haben, die aber im Text als Herren über die unterdrückten und geschundenen Sklaven („deren Herren", im Hebräischen Possessivelement in der 3. Pers. Plur. mask.) bezeichnet werden. 14

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Die Texte sprechen für sich; die Beispiele, besonders was die aufwendige Baukultur betrifft 15 , ließen sich vermehren. Auch Jesaja ist in seiner Luxuskritik von einprägsamer Anschaulichkeit (Jes 3,16 f. 24): (16) Jahwe sagte: Weil die Töchter Zions (so) überheblich gewesen sind und daher kamen mit gerecktem Hals und herablassenden Augen trippelnd spazierten sie einher und klirrten mit ihren Fußspangen, (17) so wird der Herr den Scheitel der Töchter Zions entblößen und Jahwe wird ihre Stirn aufdecken ... (24) Statt Balsamduft wird Faulgestank sein und statt des Gürtels ein Strick und statt kunstvoller Haarfrisur eine Glatze, und statt des Prachtgewandes ein Sackgehänge.

Beide Propheten weisen darauf hin, daß die angegriffene Oberschicht „Gewalttat und Bedrückung in ihren Wohnburgen aufhäuft" (Am 3,10) und das, was sie den Armen geraubt haben, sich in ihren Häusern findet (Jes 3,14). Der Reichtum der Oberschicht beruht auf der Ausbeutung der Armen. Die Luxuskritik belegt am unmittelbarsten den tiefen sozialen Gegensatz im Israel des 8. Jahrhunderts. Anders als bei den beiden zuerst genannten Aspekten erinnert dabei nichts unmittelbar an traditionelle Normen, außer daß durch Unrecht erworbener Reichtum nicht glücklich macht (vgl. z.B. Prov 10,2). Weist diese Fehlanzeige d a r a u f h i n , daß solcher Luxus ein eigentliches Novum in der Geschichte Altisraels war? 2.4

Ähnlich breit wie die Luxuskritik ist auch die Verurteilung einer unlauteren Rechtspraxis bei allen drei Propheten belegt, ohne daß ich jetzt die Vorwürfe im einzelnen zitieren kann, daß das Recht gebeugt, der aufrichtige Zeuge verschmäht, Bestechungs- und Bußgelder genommen und Unschuldige verurteilt wurden 16 . Daß sich durch eine symptomatisch verwilderte Rechtspraxis der Prozeß der Entrechtung noch mehr beschleunigte und sich die Schere zwischen reich und arm auch dadurch noch weiter öffnete, versteht sich von selbst. Wie bei der Schuldsklaverei und beim Getreidehandel geht es auch hier allein um die Kritik der unlauteren Rechtspraxis. Auch hier stehen bei den Propheten besonders breit überlieferte Normen im Hintergrund, an denen das aktuelle Verhalten der Oberschicht gemessen wird. Stellvertretend nenne ich Prov 17,15: „Wer den Schuldigen gerecht spricht und den Ge-

15 16

Vgl. z.B. Am 3,15; 5,11; Mi 3,10; Jes 5,8 und 9,10. Vgl. Am 5,10.12 (auch 2,7); Mi 3,9.11; Jes 1,23; 5,23 und 10,2.

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rechten schuldig, ein Greuel Jahwes sind sie beide 1 7 ." Auch diese traditionellen Normen aber haben die Repräsentanten der Oberschicht hinter sich gelassen.| 2.5 Anders liegt der Fall in Jes 10,1 f.: „Wehe, die verbrecherische Anordnungen verfügen und belastende Schreiben aufsetzen, um den Rechtsanspruch der kleinen Leute zu beugen und den Armen meines Volkes ihr Recht zu rauben, damit Witwen ihre Beute werden und sie die Waisen an sich bringen."

Jesajas Anklage weist hier auf einen sehr viel komplexeren Zusammenhang von frevelhaftem Tun hin. Juristische Schriftsätze werden verfaßt, um Rechtsansprüche von kleinen Leuten und Armen zu schmälern, damit Witwen und Waisen zur Beute der Verfasser dieser Schriftsätze werden. Es könnte sich hier um strittige Fälle von Schuldsklaverei handeln im Zusammenhang mit der Ablösung von Erbbesitzen nach dem Tode des Nutzungseigentümers. Solche Fälle wurden aber traditionellerweise in den Toren der Landstädte und zwar rein mündlich verhandelt. Die Abfassung von juristischen Schriftsätzen paßt nicht dazu. Allerdings gab es - soweit wir die Geschichte der Justizorganisation in Juda kennen - seit Josaphat (um 850) so etwas wie ein „Obergericht" in Jerusalem, das u.a. den Torgerichten in den Landstädten beratend zur Verfügung stand, obschon die Fälle ohne Berufungsmöglichkeit allein und letztinstanzlich im Tor entschieden wurden 1 8 . Auf diesem Hintergrund lassen sich dann die Schriftsätze von Jes 10 wahrscheinlich als Rechtsgutachten von Jerusalemer Justizbeamten verstehen, die rechtsbeugenden Gerichtsentscheiden in den Toren der Landstädte Vorschub geleistet haben. Die Opfer solcher Urteile - Witwen und Waisen - konnten dann aber von Latifundienbesitzern „um ein paar Sandalen" „gekauft" - oder wie Jesaja sagt - praktisch geraubt werden. Ließen solche Justizbeamten in Jerusalem

17

Vgl. Prov 17,23; 22,22; 24,24 f.; Ex 23,1-3.6-8; Dtn 16,19 u. ö., ferner WOLFF 1975, 292. | 18 Aus II. Chr 19,5-11 und Dtn 17,8-12 geht hervor, daß seit der „Justizreform" Josaphats ein besonderes Jerusalemer Richterkollegium mit strittigen Rechtsangelegenheiten befaßt worden ist. Diese Fälle „werden von den Gerichtsorganen der Städte nach Jerusalem überwiesen, was sicher nicht bedeutet, daß sie damit an die höhere Instanz abgegeben werden. Vielmehr wird es so sein, daß das Verfahren letztverantwortlich in der Zuständigkeit der örtlichen Gerichtsbarkeit verbleibt, das Richterkollegium der Hauptstadt aber als Rechtshilfeinstanz in das örtliche Verfahren eingeschaltet wird." (BOECKER 1976, 39.)

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selbst Grundbesitz durch Sklaven bewirtschaften, so konnten entrechtete Witwen und Waisen in der Tat „ihre Beute" werden. Trifft diese Interpretation zu, so hat Jesaja hier einen ähnlich komplexen Vergehenszusammenhang vor Augen wie beim Vorwurf der Bodenkonzentration in 5,8 und wie Micha bei seiner Verurteilung des Landraubes (Mi 2,2). Drei Dinge sind dabei wichtig: a) Die „Täterschaft" - wenn man so will - steht ihren Opfern nicht mehr unmittelbar gegenüber: der Justizbeamte sitzt in Jerusalem, die hilflosen Hinterbliebenen werden in den Toren der Landstädte um ihr Recht gebracht. Die Schuldverstrickung ist überindividuell. b) Vielleicht tut der Justizbeamte nur seine Pflicht und freut sich andererseits, daß die Arbeitssklaven so billig zu haben sind, ohne sich des Zusammenhangs bewußt | zu sein. Die Beurteilung seiner Rechtsgutachten als „verbrecherisch" ist die Sicht des Propheten, der den Schaden sieht. c) Für solche komplexeren Vergehenszusammenhänge fehlen in der traditionellen, auf den einzelnen und sein Verhalten bezogenen Ethik jedwelche Normen. Zwar soll das Recht der Armen nicht gebeugt werden, aber der Richter im Tor muß sich j a auf das Gutachten aus Jerusalem stützen und ist daran gebunden; der Gutachter aber hatte unzureichende oder falsche Informationen über den Fall und wandte seine Vorschriften nach bestem Wissen und Gewissen an. M. a. W. führen bei Institutionen oder überindividuell verursachtem Unrecht - beabsichtigt, viel öfter aber unbeabsichtigt - Übermittlungsfehler zu gravierenden Fehleinschätzungen und entsprechenden Fehlhandlungen, die von den je an ihrer Stelle Mitbeteiligten u. U. gar nicht wahrgenommen werden — wenn wir uns jetzt einmal in die Lage des Justizbeamten in Jerusalem versetzen.

3. Zum Normenwandel im Israel des 8. Jahrhunderts und seinen möglichen Gründen In drei Punkten möchte ich jetzt zusammenfassend den Normenwandel skizzieren, der mit dem dargestellten Gesellschaftswandel einhergegangen ist, und mögliche Gründe für diesen Wandel in Erwägung ziehen. 3.1

Am stärksten hat sich noch der älteste judäische Schriftprophet Arnos in seiner Sozialkritik an den Normen der traditionellen Ethik 19 orientiert. 19 In Abschnitt 2 wurde verschiedentlich Bezug genommen auf „Einzelnormen der traditionellen Ethik", wie sie sich neben den Rechtssammlungen im Pentateuch vor allem im Buch der Sprüche (Proverbia) finden. Allerdings besteht das Proverbienbuch aus mehreren Sammlungen von Einzelsprüchen, die von ihren Einzelinhalten her kaum in

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Aber diese Normen werden nicht mehr eingeklagt; sie dienen dem Propheten in erster Linie als Maßstab seiner Symptomatik. Für ihn steht ein durchgängig normwidriges Verhalten der Oberschicht im Mittelpunkt seiner Kritik, jedoch ohne daß die strukturellen Umwälzungen - etwa im Bereich der Bodenverteilung oder in der Entwicklung des Getreidehandels ins Blickfeld kommen (vielleicht weil die Entwicklung noch nicht so fortgeschritten war). Über die traditionelle Ethik geht Arnos insofern hinaus, als er das typische Sozialverhalten der Oberschicht als einer sozialen Größe eigener Art im Auge hat und nicht mehr - wie die traditionelle Ethik - den Einzelnen und sein persönliches Verhalten. Des Arnos jüngere Zeitgenossen, Micha und Jesaja, gehen in ihrer Sozialkritik insofern einen Schritt weiter, als sie auch die grundlegenden wirtschaftlichen Strukturveränderungen im Auge hatten, nämlich den Landraub und die Bildung von Großgrundbesitz, der die kleinbäuerliche Agrarwirtschaft im Rahmen der nahalah-Ordnung aus den Angeln hob. Für diese Vorgänge gab es in der traditionellen Ethik oh|nehin keine normativen Aussagen, weil es sich zum einen um überindividuelle Vorgänge handelte und zum anderen die unangefochten und selbstverständlich geltende Bodenordnung normativ nicht geschützt zu werden brauchte. Im ganzen betrachtet, wurden die judäischen Propheten gegenüber der traditionellen Ethik in zweifacher Hinsicht auf Normenlücken gestoßen, die ihre Ursachen im Gesellschaftswandel hatten: a) in ihrer nicht mehr auf den Einzelnen, sondern auf die Oberschicht als ganze bezogenen Sozialkritik und b) in der wirtschaftsethischen Kritik der neu entstandenen Bodenbesitzverhältnisse. Der Gesellschaftswandel hatte in personeller und materieller Hinsicht ethisch nicht beschriebene Bereiche entstehen lassen, die von den Propheten aufgrund des sich abzeichnenden gesellschaftlichen Schadens in Orientierung an der traditionellen Ethik zu bewältigen versucht wurden. Analoge Probleme stellen sich heute für transnationale Wirtschaftsordnungen, für die Genforschung und das Sterberecht in der Medizin oder für die Nutzung der Nukleartechnologie und ihre Folgen. 3.2

Wie bereits bemerkt, hatten die Propheten die Schicht der Mächtigen und Einflußreichen ihrer Tage als soziale Größe eigener Art im Blick. Diese Schicht hatte in ihren Augen offenbar mit dem traditionellen Ethos der kleinbäuerlichen Agrargesellschaft weitgehend gebrochen. Das kritisierte einer Beziehung zueinander stehen, so daß man nicht von einer in irgendeiner Weise systematisierten „Ethik" des alten Israels sprechen kann. Die einzelnen Sentenzen sind ihrer Form nach zum größten Teil sprichwortartige Erfahrungssätze, die gutes oder verwerfliches, gemeinschaftsförderliches („gerecht") oder gemeinschaftsschädigendes Verhalten („gottlos") im Auge haben. |

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Verhalten läßt jedoch andererseits darauf schließen, daß sich in dieser Schicht eigene Verhaltensnormen herausgebildet haben - sozusagen eine neue Moral: luxuriöse Eßgewohnheiten, eine aufwendige Bau-, Wohn- und Bekleidungskultur, ein menschenverachtender Umgang mit Sklaven. Diese Binnennormen konnten im krassen Gegensatz zur Wertwelt der traditionellen Gesellschaft nur durchgehalten werden, weil diese Oberschicht groß und sich selbst sicher genug war. Auch in Hinsicht auf das Wirtschafts- und Sozialverhalten hat sie ihre eigenen Wertvorstellungen entwickelt, was als der eigentliche Normenwandel gegenüber der traditionellen Ethik zu bezeichnen ist, der sich mit der Herausbildung dieser Schicht im 8. Jahrhundert vollzog. Z.B. ist es denkbar, daß das, was die Propheten als Einsacken von Bestechungsgeldern anprangerten (Am 5,12; Jes 1,23; 5,23; Mi 3,11), in den Augen der Beamten ganz übliche Verwaltungsgebühren waren, mit denen sie sich ihre Dienstleistungen bezahlen ließen, was in kanaanäischen Städten seit jeher praktiziert wurde 2 0 . Das heißt dann aber, daß Normenwandel und Normenkollisionen aufbrechen, sobald sich eine Gesellschaft in mehrere Schichten und Klassen gliedert. Sollten Normen nicht nur so formal und so abstrakt sein, daß sie zwar allgemein gültig, aber von jedem in anderer Weise gefüllt und befolgt werden, dann kann sowenig abgesehen werden vom wirtschaftlich-sozialen Status derer, die eine Norm vertreten und durchzusetzen versuchen oder sie kritisieren, wie vom Stand derer, für die sie gelten soll. | 3.3 Ein weiteres Feld, auf welchem Normen sich wandeln oder verletzt werden und Unrecht sowie Leid verursacht wird, hat unsere Interpretation von Jes 10,1 f. veranschaulicht. Sobald soziales Handeln etwa im Rechtswesen oder in der Wirtschaft komplexer wird und sich Maßnahmen in Handlungsund Entscheidungs&eWe« vollziehen, an denen mehrere in Teilverantwortung zusammenwirken, entstehen gravierende Störfaktoren, die im Gesamteffekt zur Normverletzung und Leidverursachung führen können: a) Die Täter und Empfanger oder Opfer einer Maßnahme begegnen sich nicht mehr direkt. Was das Opfer u. U. erleidet, bleibt dem Täter abstrakt und schwächt damit das z.B. für die Goldene Regel und ihre Wirksamkeit entscheidende Prinzip der Leidensfähigkeit 2 1 . b) Entscheidungs- und Handlungsketten sind abhängig von der mehrfachen Vermittlung des Sachverhalts. Der Rechtsfall muß beschrieben, erläutert und beraten, das erstellte Gutachten zurückvermittelt und im Prozeß wieder eingebracht werden. Jeder Beteiligte bringt sich mit seinen 20

V g l . b e s . D O N N E R 1 9 6 3 , 5 0 2 f.

21

V g l . BRAUN

1983.

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Wertvorstellungen und seinem Erfahrungshorizont in dieser Übermittlungskette ein Stück weit ein und sei es nur in der unterschiedlichen Akzentsetzung, im Hervorheben oder Zurückdrängen von vermeintlichen Haupt- oder Nebensachen. Unweigerlich verändert sich der Fall. c) Die Verantwortung für das Ganze verteilt sich auf die Beteiligten. Das kann zur kollektiven Verantwortungslosigkeit führen, in der sich jeder durch den anderen entlastet und nur seine Pflicht tut. Ein Bewußtsein von Schuld und Verantwortung kann dabei völlig verloren gehen; und j e undurchschaubarer und unbewußter solche überindividuellen Entscheidungsund Handlungsketten ablaufen, umso größer wird diese Gefahr; umso weniger aber verstehen es diejenigen, die mitbeteiligt sind, wenn man sie für das Ganze verantwortlich macht. Um der kollektiven Verantwortungslosigkeit und Leidverursachung zu begegnen, müßten Entscheidungs- und Handlungsketten soweit nur möglich entflochten, verkürzt und dezentralisiert werden. Eine Ethik institutionellen Handelns unter Analyse der genannten und anderer Störfaktoren ist, soweit ich sehe, ein dringendes Desiderat.

4. Die Antwort der Propheten auf den Gesellschafts und Normenwandel im 8. Jahrhundert In Teil 3 ist deutlich geworden, inwiefern die gesellschaftlichen Veränderungen im Israel des 8. Jahrhunderts und ihre sozialen Folgen den Rahmen der traditionellen Ethik mit ihren auf den Einzelnen bezogenen Sentenzen gesprengt haben; ja, es muß vermutet werden, daß die reiche Führungsschicht in den Hauptstädten des Nord- und Südreichs sich von dieser Ethik gelöst hatte und kaum noch im einzelnen darauf ansprechbar war. | Diese veränderte Situation hat aber auch auf Seiten der Unheilspropheten dazu geführt, sich nicht auf den Rahmen spruchweisheitlicher Einzelargumentation zu beschränken, was allenfalls noch - besonders bei Arnos - für die Symptomatik des aufgewiesenen Unrechts angezeigt war, oder diese Einzelforderungen gar einzuklagen. In zweifacher Hinsicht haben die Propheten in ihrer Argumentation diesen Rahmen zum Grundsätzlichen hin überschritten: Zum einen im Blick auf den zentralen Maßstab der traditionellen Ethik, an welchem die Verhältnisse gemessen wurden (4.1) und zum anderen im Blick auf die Konsequenzen, die eine fortgesetzte Mißachtung der Zentralforderung dieser Ethik nach Auffassung der Propheten haben mußte (4.2).

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4.1

Wie weit sich auch immer durch die soziale Entwicklung neue gesellschaftliche Handlungsfelder eröffnet haben und wie komplex die Handlungsketten auch geworden sind, wie erklärlich für uns die neue Luxusund Ausbeutermoral der Oberschicht auch sein mag, die Propheten haben diese ganze neue Entwicklung konsequent am Schaden und an den Opfern gemessen, die dieser Gesellschafts- und Normenwandel mit sich gebracht hat: an den Verarmten, Entrechteten und Versklavten. Gerade dort, wo die Propheten ihre Kritik nicht an belegbaren Einzelnormen festmachen konnten, tritt diese Orientierung am deutlichsten zu Tage, wie Jes 3,14 zeigt 22 . Als Maxime ist diese Grundorientierung auch in der Spruchweisheit formuliert, wenn auch konzentriert auf die Rechtsprechung (Prov 31,8 f.): (8) Öffne deinen Mund für die Stummen und für die Rechtssache aller, die verlassen sind! (9) Tue deinen Mund auf, richte in Gerechtigkeit und schaffe Recht dem Armen und Bedürftigen!

Dieser Kernsatz weist die traditionelle Ethik in ihrer zentralen Ausrichtung als Solidaritätsethik aus, deren letztes Ziel es ist, die j e und j e Benachteiligten zu ihrem Recht kommen zu lassen, sie in den Sozialverband zurückzubringen und nicht der weiteren Verelendung und Isolierung preiszugeben 2 3 . Auf den Begriff gebracht wird dieses Grundkriterium der Solidaritätsethik in dem Ausdruckspaar „Recht und Gerechtigkeit", an dessen Verwirklichung oder Mißachtung die Propheten das Sozialverhalten der Oberschicht messen 2 4 . Nur skizzenartig kann hier angedeutet werden, daß diese Grundtendenz der Solidaritätsethik im Alten Orient und bis ins Neue Testament eine universelle Bedeutung hatte. Bei Jesaja findet sich im Anschluß an die Kultkritik als einziges echtes Mahnwort die Grundforderung der Solidaritätsethik wieder (Jes 1,16 f. vgl. V. 23): | (16 b) Hört auf, böse zu handeln; (17) lernt Gutes tun! Sucht nach dem Recht, macht den Unterdrückten glücklich! Schafft Recht dem Waisenkind, führt die Rechtssache der Witwe!

Bis in den Wortlaut hinein stimmt diese Forderung überein mit dem, was in der ugaritischen Aqhat Legende als vornehmlichste Pflicht des Königs 22

Vgl. oben 3 zur Luxuskritik und Am 3,10. Das wird nicht nur an den Rechtsregelungen deutlich, die die Bodenordnung stabilisiert haben (vgl. oben S. 245 f.), sondern z.B. auch am Verbot, von Verarmten Zins zu nehmen: vgl. Ex 22,25; Lev 25,35-38 und verschärft: Dtn 23,19. 24 Vgl. bes. Am 5,7.24; 6,12; Jes 1,21; 5,7; 28,16 f. und dazu KOCH 1971, 583 ff. und 23

DERS. 1 9 7 6 b .

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formuliert wird 25 . Sie ist fester Bestandteil des „Pflichtenheftes" eines Königs im Rahmen der altorientalischen Königsideologie 2 6 und findet sich auch in den Königspsalmen des Alten Testamentes (z.B. Ps 72,1 f. 4): (1) Gott, deine Rechtssprechung übergib dem König und deine Gerechtigkeit dem Königssohne! (2) Er richte dein Volk in Gerechtigkeit und deine Armen mit Recht! (4) Er schaffe Recht den Armen des Volkes, er helfe auf den Bedürftigen, aber niedertreten soll er den Unterdrücker!

Nach den Vorstellungen der Jerusalemer Kulttradition 2 7 ist Jahwe selbst König, der im Gericht die Mächtigen zur Rechenschaft zieht (z.B. Ps 82,2-4): (2) Wie lange wollt ihr unrecht richten und die Frevler vorziehen? (3) Schafft Recht dem Kleinen und dem Verwaisten, dem Armen und Mittellosen laßt Gerechtigkeit widerfahren! (4) Befreit den Kleinen und Bedürftigen; aus der Gewalt der Frevler errettet (ihn)!

Die vornehmste Pflicht der Könige und Würdenträger ist dieser von Jahwe selbst verliehene Herrschaftsauftrag. Dementsprechend ist der Zion und die Gottesstadt nach Jes 14,32 der Zufluchtsort der Armen. Die Seligpreisungen und die Tischgemeinschaft Jesu mit den Zöllnern, Säufern und Sündern 2 8 sind Ausdruck derselben Grundorientierung der Solidaritätsethik und selbst im Weltgericht nach Mt 25 gilt für die Verurteilung zur ewigen Verdammnis das Kriterium: „Was ihr einem dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan" (V. 45). Jesu Nachfolge orientiert sich zuerst und vornehmlich an den in jeder Beziehung Geringsten und Verlassenen. Und dieselbe Grundorientierung stellt auch der Beitrag von A. Lindemann für Paulus heraus 29 : Die Freiheit, Götzenopferfleisch zu essen, begrenzt sich an der Gefahrdung der Schwachen in der Gemeinde. Allerdings ist das Kriterium hier nur gemeinde- und nicht universal-bezogen. | Aus der hier skizzierten Orientierung der Unheilspropheten an der Solidaritätsethik läßt sich m. E. folgendes sozialethisches Grundkriterium formulieren: von den Opfern und vom Schaden her, niemals aber nur vom Nutzen und vom Vorteil her - für eine wie große Gruppe auch immer die25

V g l . WLLDBERGER 1 9 7 2 , 4 8 .

26

V g l . B E R N H A R D T 1 9 6 1 , 6 8 f. u n d W . H . S C H M I D T 1 9 7 9 , 1 8 3 .

27

Vgl. STECK 1972b, 13-25. Mt 11,16-19.

28 29

V g l . LINDEMANN 1 9 8 3 , 71 ff.

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[35]

ser Nutzen und Vorteil zum Segen wird - sind Beurteilungskriterien zu gewinnen, nach denen neue Felder des technologischwirtschaftlichen Fortschritts und bestehende wie neue Organisationsformen in Staat und Wirtschaft ethisch zu beurteilen sind. 4.2

Sind die Unheilspropheten angesichts der neuen gesellschaftlichen Entwicklung einerseits darüber hinausgegangen, lediglich bestimmte Einzelforderungen der traditionellen Ethik einzuklagen, und haben sie statt dessen in ihrer Sozialkritik den Grundmaßstab der Solidaritätsethik an die neu entstandenen ökonomisch-sozialen Verhältnisse ihrer Zeit angelegt und anlegen müssen, so haben sie andererseits in ihrer Argumentation im Blick auf die unbedingte Gültigkeit dieses Grundmaßstabes den traditionellen Rahmen, in welchem dieser Maßstab seinen verpflichtenden Charakter gehabt hat und seine geradezu lebensentscheidende Einhaltung gefordert war, nicht verlassen. Umsonst suchen wir bei den Propheten nach einem Ansatz oder Versuch, die verletzten und mißachteten Normen neu und besser, z.B. universaler zu begründen, um etwa ihre Verbindlichkeit zu untermauern oder ihre Einhaltung zu motivieren. Im Gegenteil, es gehört zum vorherrschenden Argumentationstypus, besonders der judäischen Unheilsprophetie des 8. Jahrhunderts, daß das aufgewiesene Fehlverhalten der städtischen Oberschichten kaum Anlaß zur ethischen Mahnung gibt, sondern geradezu deskriptiv als Grund und Ursache für kommendes Unheil angeführt wird, das das ganze Volk ereilen wird. Im sogenannten begründeten Unheilswort 3 0 weisen die Propheten am Maßstab der traditionellen Solidaritätsethik die Schuld der Führungsschicht auf, die den unabdingbaren Zusammenbruch des ganzen Volkes geradezu zwangsläufig zur Konsequenz hat. In ihrer Argumentation stimmen die Propheten zum einen voll und ganz mit der tragenden Voraussetzung der traditionellen Ethik, nämlich dem Funktionieren des Tun-Ergehen-Zusammenhangs überein: Der Frevler, derjenige, der sich gemeinschaftswidrig verhält und Unrecht tut, er setzt mit seinem Tun einen Unheilsprozeß in Gang, dessen Opfer er schließlich selber wird; seine Untat holt ihn letzten Endes selber ein; er wird ihr Opfer 3 1 . Diese reziproke Struktur, die der ganzen traditionellen Ethik im Positiven wie im Negativen meist unausgesprochen zugrunde liegt, läßt sich in der Argumentation der Propheten besonders augenfällig an der „ironisierenden Parallelität der Motive" in einer Reihe von begründeten Unheilsworten ablesen 32 : Diejenigen, die sich nach Am 6,1 als die Vornehmsten, 30 31 32

Vgl. dazu den klassischen Aufsatz von WOLFF 1934. Vgl. dazu KOCH 1976b, Sp. 517. Vgl. dazu WOLFF 1934, 24 f.

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als die Spitze unter den Völkern v o r k o m m e n | und sich mit den Spitzenprodukten damaliger Kosmetik einsalben (V. 6), sie werden an der Spitze des Verbannungszuges aus ihrem Lande deportiert (V. 7) 33 . Allerdings wird bereits an diesem Beispiel deutlich, daß die Täter nicht mehr allein die Opfer sind, wie es der Grundvorstellung vom T u n - E r g e h e n - Z u s a m m e n h a n g in seinem primären Geltungsbereich sozialer Kleinverbände (Sippen und Dorfgemeinschaften) entsprechen würde. Von den Propheten auf das gesellschaftliche Ganze der ökonomisch-sozialen Verhältnisse im Israel des 8. Jahrhunderts übertragen, zieht das Fehlverhalten der Oberschicht das ganze Volk, also auch Unschuldige, mit in den Untergang hinein. Diese durch die Übertragung entstandene Aporie von Kollektivschuld und ihren Folgen wurde in der judäischen Prophetie des 8. Jahrhunderts noch nicht weiter reflektiert 3 4 , zumal diese Übertragung insofern durchaus schlüssig war, als der selbstverschuldete Untergang der damaligen Führungsschicht und damit der staatlichen Administration zugleich auch das Ende der politischen Existenz des Volkes bedeutet haben muß. Aber auch in einer zweiten Grundvoraussetzung stimmen die Propheten - trotz der gewandelten Verhältnisse - in ihrer Argumentation mit der traditionellen Solidaritätsethik überein: Jahwe, der Gott Israels, garantiert das Funktionieren des T u n - E r g e h e n - Z u s a m m e n h a n g s ; insbesondere ist er der Anwalt der Schwachen und Armen, die in besonderer Weise seine Schutzbefohlenen sind 35 . Nicht als verpflichtende Überautorität ethischer N o r m e n ist Jahwe Garant dieses Z u s a m m e n h a n g e s , sondern als Anwalt und Helfer der O p f e r von Gewalt und Unrecht. Vor allem im theologischen Denkhorizont der Jerusalemer Kulttradition, wie er sich vornehmlich aus den Psalmen erschließen läßt, konkretisiert sich diese Anwaltschaft und Schutzbereitschaft Jahwes für die Benachteiligten und Unterdrückten darin, daß er als derjenige gelobt wird, der gegen die Frevler einschreitet, sie zur Rechenschaft zieht und zunichte macht 3 6 . Analog dazu wird Jahwe im Hin-

33

Im hebräischen Text begegnet in den genannten Versen dieselbe Wortwurzel, die mit dem Wort „Spitze" wiedergegeben ist. Andere Beispiele finden sich in Am 3,9-11 (Paläste); Jes 3,16 f.24 (Putz wird zu Schmutz); 5,8-10 (Häuser und Äcker ohne Ertrag); 5,11-13 (Rauschtrank und Durst); 30,1-3 (der Schutz, der nicht schützt); 30,16 und Mi 2,1-4 (das Planen der Grundstückhaie und das Planen Jahwes). 34 Der Restgedanke bei Jesaja (vgl. z.B. Jes 6,13; 10,20 ff.) geht auf spätere Überarbeitungen zurück. Breit wird das Thema z.B. in Ez 18 nach der Katastrophe von 587 diskutiert; vgl. auch Jer 31,29 f. und Ez 33,10-20. 35 Vgl. z.B. Ps 10,17 f.; 76,10; 82,1-4; Prov 15,25 und 22,22 f., sowie bes. Jes 3,1315. 36 Vgl. z.B. Ps 11; 18,8 ff. und STECK 1972b, 57.

262

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blick auf das Volksganze als derjenige gesehen, der sein Volk vor äußeren Feinden schützt, indem er gegen sie angeht 37 . Weil die judäischen Unheilspropheten des 8. Jahrhunderts vornehmlich in den städtischen Führungsschichten ihres eigenen Volkes jene Frevler diagnostiziert haben, die Jahwes Schutzbefohlene in die Armut treiben und mißhandeln, sehen sie als Konsequenz daraus Jahwe selbst herausgefordert, gegen die Frevler im eigenen Volke, die durch ihr Fehlverhalten zu Jahwes Feinden geworden sind, einzuschreiten. | Am deutlichsten wird diese theologische Denkfigur in der prophetischen Argumentation in Jes 1,21-26: (21) Wie ist zur Hure geworden die treue Stadt, erfüllt war sie mit Recht, Gerechtigkeit wohnte in ihr. (22) Dein Silber ist zu Bleiglätte geworden, dein Bier verschnitten ... (23) Deine Beamten sind widersetzlich und Kumpane von Dieben. Ein jeder liebt Bestechung und jagt Geschenken nach. Der Waisen verhelfen sie nicht zum Recht, und der Rechtsfall der Witwe kommt nicht vor sie. (24) Darum der Ausspruch des Herrn, Jahwes der Heerscharen, des Starken Israels: Wehe! Ich will mich letzen an meinen Widersachern und mich rächen an meinen Feinden. (25) ... Und will mit Pottasche deine Bleiglätte läutern und all deine Schlacken beseitigen. (26) Und ich werde deine Richter machen wie in der ersten Zeit und deine Räte wie zu Anfang. Darnach wird man dich nennen „Stadt der Gerechtigkeit, treue Stadt".

Zunächst ist auf die spiegelbildliche Entsprechung der Verse 21 und 26 bzw. 22 und 25b 3 8 zu achten, die die Wiederherstellung der zur Hure verkommenen Gottesstadt (Bild der Dirne, des unreinen Silbers und des gepanschten Bieres) im Auge haben, die an ihrer inneren Gerechtigkeit Schaden genommen hat. In den Verursachern dieser Verwahrlosung, in der korrupten Führungsschicht der judäischen Hauptstadt (V. 23), sieht Jahwe

37

Vgl. Z.B. Ps 46,6 f.; 48,5-6 und 76, ferner STECK 1972b, 42 Anm. 112: „Die Jerusalemer Theophanievorstellung" ist „ein machtvolles Kommen Jahwes gegen ihm feindliche Mächte und Frevler an dem Ort, wo sich diese Mächte Jahwe entgegenstellen, und geschieht, um machtvoll gegen sie einzuschreiten". | 38 Zur Begründung, weshalb Vers 25a ursprünglich nicht zum Text gehört, und zum Ganzen vgl. HARDMEIER 1978, 348-354.

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nach dem Zeugnis des Propheten 39 seine direkten Feinde und Widersacher, gegen die er einzuschreiten gewillt ist (V. 24 f.), um Jerusalem als Stadt der Gerechtigkeit und Ort der Rechtshilfe für die Armen und Bedürftigen wiederherzustellen (vgl. Jes 14,32). Nun entspricht die Argumentationsstruktur von Jes 1,21-26 dem Haupttypus des begründeten Unheilswortes 40 nicht nur bei Jesaja, sondern auch bei Arnos und Micha, so daß daraus die folgende verallgemeinernde Konsequenz gezogen werden kann: In diesen Worten steht der Schuldaufweis, nämlich die Symptomatik des Frevels, der von der Oberschicht ausgeübt wird, stets am Anfang der Worte und ist häufig als Aussage der Propheten stilisiert. Als Konsequenz daraus - häufig mit „darum" eingeleitet - wird Unheil angekündigt, nun aber als Unheil, das - außer | bei Micha 41 - zumeist von Jahwe selbst im Gotteswort bekannt gemacht oder herbeigeführt wird 42 . Diese alten Beobachtungen lassen den Schluß zu, daß dort, wo nicht der Tun-Ergehen-Zusammenhang als tragende Argumentationslogik im Zentrum steht, wie z.B. in Am 6,1-7, die Argumentation von der theologischen Denkfigur geleitet ist, daß Jahwe sich vom Frevel im eigenen Volk zum Einschreiten gegen seine „inneren" Feinde herausgefordert sieht. Auch in diesem Falle wird bei den Propheten des 8. Jahrhunderts angesichts der mit dem Gesellschaftswandel neu aufgebrochenen Situation die Aporie nicht zu Ende reflektiert, daß durch Jahwes Einschreiten gegen die Feinde im eigenen Volk zwangsläufig das ganze Volk in Mitleidenschaft gezogen wird, auch wenn - besonders bei Jesaja - deutlich wird, daß das 39

Beachte den Wechsel zur Gottesrede in V. 24! Vgl. auch hier das „darum" in V. 24, das die in V. 21 f. beklagte Verwahrlosung und ihre in V. 23 benannte Ursache zum Grund und Anlaß für das Eingreifen Jahwes gegen seine Feinde in V. 24 f. werden läßt. | 41 Nur die Unheilsankündigung in Mi 2,3 ist als Gotteswort eingeführt (vgl. WOLFF 40

1982, XIX). 42 Das geht klar hervor 1. aus jener Gruppe von begründeten Unheilsworten, deren Ankündigungen (im Unterschied zur Begründung) als Gottesworte gehalten sind: Am 3,9-11 (vgl. WOLFF 1975, 228 f.); 4,1-3; 5,12 mit 16 f. (nach WOLFF 1975, 273 f.); 8,4-7; vgl. 7,16 f.; Mi 2,1-4; Jes 1,21-26; 5,8-10; 22,1-14 (vgl. dazu HARDMEIER 1978, 362372); 22,16-18; 28,14-18 und 29,1-3, - 2. aus den Worten, die als ganze Gottesworte sind: Am 1,3-5.6-8.13-15; 2,1-3.6-9 mit 13-16 (nach WOLFF 1975, 171 f.; die Worte sind als Zahlensprüche stilisiert, vgl. dazu HARDMEIER 1978, 293 ff.); vgl. 3,13-15; Mi 1,6 f. (nach WOLFF 1982, 16); Jes 29,13 f.; 30,1-3.12-14.14-17, - aber auch 3. aus Worten, die zwar als ganze Prophetenworte sind, im Ankündigungsteil aber dennoch von einer Reaktion Jahwes sprechen: Mi 3,1-4.5-8 (nach WOLFF 1982, 63 f.); Jes 3,16 f. 25 (nach WILDBERGER 1972, 135); 28,1-3.7-11 (vgl. WILDBERGER 1982, 1054 ff.); 31,1-3. Nur die reinen Prophetenworte Am 5,11 (nach WOLFF 1975, 273); 6,1-7; Mi 3,9-12; Jes 5,1113.18-24 (vgl. dazu HARDMEIER 1978, 251 f.) und 10,1-4 nehmen in keiner Weise Bezug auf ein Gotteshandeln. Zu Arnos vgl. ferner WOLFF 1975, 117 f., zu Micha: WOLFF 1982, XIX f.

264

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie

und

Psalter

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Ziel von Jahwes Eingreifen in der Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit besteht (Jes 1,26) und zum Schutze der Benachteiligten und Unterdrückten erfolgt 43 . Diese Aporie stellt sich in ihrer Schärfe allerdings nur dann, wenn der Tun-Ergehen-Zusammenhang bzw. die theologische Denkfigur von Jahwes Einschreiten gegen seine Feinde zur Rettung seiner Schutzbefohlenen in Bezug auf die entstandene Kluft im Volk Gottes selbst streng logisch-dogmatisch und damit abstrakt zu Ende gedacht wird. Die fehlende Reflexion in dieser Richtung deutet jedoch daraufhin, daß den Unheilspropheten wenig oder nichts an der Klärung dieser letztlich dogmatisch-abstrakten Frage gelegen haben mag im Gegensatz zu späteren Generationen 4 4 . Umsomehr verweist uns diese dogmatische Inkonsequenz auf die eigentlichen Absichten und Ziele, die diese Propheten in ihrer Reaktion auf den prekären Gesellschafts- und Normenwandel ihrer Zeit mit ihrer Verkündigung im Auge gehabt haben. Nach allem, was wir erschliessen können - und dies soll abschließend in 4.3 noch kurz umrissen werden - , war es die eigentliche Verkündigungsabsicht der Propheten, den in Gang gekommenen Schuld-Unheilsprozeß durch Schuldaufklärung aufzuhalten in der mittelbaren Hoffnung, daß die Verursacher dieser Schuld, vornehmlich die städtischen Führungsschichten, durch Einsicht zur Umkehr finden. Im Blick auf die Hauptfragestellung nach der Antwort der Propheten auf den Gesellschafts- und | Normenwandel im Israel des 8. Jahrhundert heißt das zusammengefaßt, daß die Propheten weder neue Normen eingeführt noch herkömmliche neu oder umfassender begründet haben. Vielmehr haben sie in ihrer Reaktion die neuen ökonomisch-sozialen Verhältnisse gewissermaßen diagnostisch an den Grundaussagen der traditionellen Ethik gemessen und waren der Überzeugung, daß die tiefgreifende Mißachtung der Grundforderung der Solidaritätsethik im ökonomisch-sozialen Alltagsverhalten der städtischen Oberschicht unweigerlich katastrophale Unheilsfolgen bzw. Jahwes richterliches Eingreifen gegen sein eigenes Volk provozieren mußte, entsprechend den Grundanschauungen des Tun-ErgehenZusammenhangs bzw. der Jerusalemer Kulttradition. Dieses kommende Unheil durch Schuldaufklärung noch - wenn auch reichlich spät - abzuwenden, war der Kern ihrer Verkündigungsabsicht, was an der Forschungskontroverse um die Interpretation der begründeten Unheilsworte abschließend deutlich gemacht werden soll.

43 Die Aporie wird besonders deutlich an dem Zusatz in Jes 1,25a: „ich will meine Hand gegen dich wenden" (bezogen auf Jerusalem; vgl. dazu HARDMEIER 1978, 348354), die in der Konsequenz der Feindbeseitigung liegt, jedoch dem Ziel in V. 26 offensichtlich widerspricht. 44

Vgl. oben bei Anm. 34.

[39/40]

10. Die judäische

Unheilsprophetie

265

4.3

In der älteren Forschung hat man die Unheilsankündigungen der Propheten als Drohworte verstanden, die den verhaltenskritischen Scheltworten pädagogischen Nachdruck zu verleihen hatten. Ziel der prophetischen Verkündigung wäre es dann gewesen, die Repräsentanten der korrupten Oberschicht zur Besserung zu rufen. Dieser Sicht entspricht die noch heute vertretene Auffassung, daß die Propheten zur Umkehr mahnen, in der die Schuldigen ein neues Verhältnis zu Gott und damit zu einer neuen Lebensführung finden sollten 45 . Beiden Auffassungen steht folgendes entgegen: 1. Da die angezielte Verhaltensänderung Schuldeinsicht voraussetzt, müssen beide Auffassungen davon ausgehen, daß die prophetische Verkündigung diese Schuldeinsicht auch bewirken konnte und bewirkt hat. Das Gegenteil ist der Fall. Mit ihrer neuen Binnenmoral war die Oberschicht ohnehin nicht mehr auf die traditionellen Werte der Solidaritätsethik ansprechbar. Jesajas häufige Klage, daß das Volk und vor allem seine Repräsentanten ohne jede Einsicht seien 46 , bestätigt dies. 2. Erst recht nicht kann von einer pädagogisch drohenden Funktion der Unheilsankündigungen die Rede sein. Diese Ankündigungen wurden von den Adressaten überhaupt nicht ernst genommen: „Wehe, die die Schuld herbeiziehen mit Stricken des Trugs und wie (mit) einem Wagenseil die Sünde, die sagen: ,Es eile, es komme doch rasch sein Werk, damit wir's sehen, es nahe sich, es treffe ein der Ratschluß des Heiligen Israels, so können wir ihn erkennen!'"

klagt Jesaja (5,18 f.) und Micha (3,11) zitiert die Richter, Priester und Propheten von Jerusalem, die er anklagt: | „Ist nicht Jahwe in unserer Mitte? Nicht kann Unheil über uns kommen."

Die Beschuldigten fühlen sich religiös besonders sicher im Sattel durch Jahwes Schutz- und Heilsgarantien für die Gottesstadt (Ps 46). 3. Nur ganz vereinzelt finden sich bei den Propheten Arnos und Jesaja Mahnworte 4 7 , der Ruf zur Umkehr begegnet nirgends. Vielmehr weisen die prophetischen Unheilsworte - wie wir gesehen haben - die asozialen Verhaltensweisen der Oberschicht eher deskriptiv, oft distanzierend in der dritten Person, als Schuld auf und ziehen die Konsequenz, daß diese 45

Die Hauptrepräsentanten dieser Position sind G. Fohrer und einige seiner Schüler.

Z u r K o n t r o v e r s e v g l . i n s b e s o n d e r e W A N K E 1 9 7 2 ; M A R K E R T / W A N K E 1 9 7 6 ; KOCH

1971,

5 6 8 ff., f e r n e r HARDMEIER 1 9 8 1 a , 2 3 5 f. ( v g l . I V . 8 . ) u n d KEEL 1977. 46

Vgl. Jes 1,2 f. (Mottowort!); 5,12 f. 19; 22,11-13; 29,9 ff.; 31,1, vgl. neben 7,12 f. und 8,6 auch 28,12; 30,9.12.15, ferner 29,13 und 30,1. | 47 Am 5,4 f. (vgl. 14 f.) und Jes 1,16 f.

266

Kapitel

IV: Diskurspragmatik

in Prophetie

und

Psalter

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Schuld als Strafe auf die Täter zurückfallen wird, wobei das ganze Volk vom Unheil in Mitleidenschaft gezogen wird. Besonders in den mit Wehe eröffneten Gerichtsworten klingt in erster Linie ohnmächtige Trauer und nicht die Drohung an 48 . Nur die scharfzüngige Rhetorik läßt bisweilen den Angriff erkennen. So wollen diese Worte nicht mahnen, sondern erst überhaupt aufklären und zu Gehör bringen, was niemand hören, geschweige denn akzeptieren will. Diese und ähnliche Beobachtungen haben in der Forschung zu der anderen Grundthese geführt, daß die Propheten eine dunkle, von Jahwe offenbarte Unheilsahnung hatten, die zu verkündigen sie sich berufen und gezwungen sahen. Um diese Unheilsgewißheit verständlicher und einleuchtender zu machen, hätten sie das primär offenbarte Unheil u.a. mit dem korrupten Verhalten der Oberschicht begründet. Die Sozialkritik hätte dann nicht viel mehr als eine nachträglich seelsorgerliche Funktion gehabt, das von Gott her unabänderlich beschlossene Unheil in seiner Notwendigkeit und Unausweichlichkeit zu begründen 49 . Gegen diese Grundthese steht ebensoviel wie gegen die erste: 1. Der Gang der Argumentation in den Unheilsworten lautet nicht: Unheil kommt, weil ihr euch schuldhaft verhaltet. Nein, das kommende Unheil und Jahwes Eingreifen gegen sein Volk sind die Konsequenz aus dem Fehlverhalten der tragenden Oberschicht. Die Worte beginnen mit dem Schuldaufweis: „Ihr verhaltet euch frevelhaft, deshalb wird Unheil über euch kommen". 2. Wenn die Adressaten der Propheten - wie gezeigt - die Unheilsankündigungen schon nicht ernst genommen haben, um wieviel weniger dann deren seelsorgerlichen Begründungen, wo sie doch auch von Schuld nichts wissen wollten. 3. Vor allem haben sich aber sowohl Arnos als auch Jesaja - wie die Visionsberichte bei genauerer Analyse zeigen - nachdrücklich gegen die Einsicht gewehrt, daß angesichts der Schuldbelastung der führenden Schicht das von Jahwe fest beschlossene Gericht unausweichlich kommen muß 50 . Die Fürbitte in den Visionen des Arnos für sein Volk, aber auch die über dreißigjährige Verkündigungstätigkeit Jesajas trotz Verstockungsauftrag weisen daraufhin, daß die ganze Schuld- und Unheilsverkündung dem Ziel diente, dieses drohende, in der Konsequenz der Schuld liegende Unheil durch unermüdliche Aufklärung vom Volke abzuwenden. Die judäischen Unheilspropheten waren - so paradox das sein mag - letztlich um | das 48

Z u r Stilisierung der prophetischen U n h e i l s v e r k ü n d i g u n g in verschiedenen Formen der T r a u e r m e t a p h o r i k vgl. HARDMEIER 1978, 320 ff. 49 Zu dieser Position vgl. bes. W.H. SCHMIDT 1973 und 1971, vor allem 1973, 65 und die berechtigten Einwände von WANKE 1972, 15. 50 Vgl. dazu A m 7,1-8; 8,1-2; 9,1-4; Jes 6,1-11 und dazu HARDMEIER 1981a (vgl.

IV.8.).

[41]

10. Die judäische

Unheilsprophetie

267

Heil ihres Volkes bemüht und sahen sich deshalb dazu veranlaßt, die tiefe, aber nicht wahrgehabte und verdrängte soziale Schuld der Oberschicht mit ihren Unheilskonsequenzen aufzuklären. Wäre es zur Schuldeinsicht und dann auch zur Beseitigung dieser Schuld gekommen, hätte Jahwe in den Augen der Propheten seinen Unheilsbeschluß zurückgenommen. Solange aber die verdrängte Schuld trotz prophetischer Aufklärung weiter bestand, ergab sich die Unheilskonsequenz zwangsläufig. Von daher erklärt sich dann auch letztlich der ganze rhetorisch-argumentative Aufwand, mit welchem die Propheten ihre Schuldaufklärung betrieben und die Unheilskonsequenzen deutlich zu machen versucht haben bis hin zu den Mitteln der Zeichenhandlung. Vor allem aber erklärt sich von daher, weshalb die Propheten auch massiven Pressionen ausgesetzt waren und sie ausgehalten haben: Arnos bekam Redeverbot am Staatsheiligtum von Bethel und wurde des Landes verwiesen. Der Oberpriester Amazja hat ihn beim König der Verschwörung und des Umsturzes bezichtigt, weil seine Verkündigung Unruhe ins Volk gebracht hat (Am 7,10-17). Ähnlich wird Micha der Mund verbeten: „,Predigt nicht!', predigen sie. ,Darüber soll man nicht predigen!' ,Der Schimpf trifft (uns) nicht.' ,Ist denn das Haus Jakob verflucht?'" (2,6 f.) Was Jesaja verkündigt, wird von denen, die es angeht, verhöhnt: „Er will Säuglinge belehren, er verzapft Zawlazaw und Qawlaqaw" (28,9 f.). Und der Prophet warnt seine Anhänger davor, das für Verschwörung zu halten, was dieses Volk so nennt (Jes 8,12). Die prophetische Verkündigung hatte durchaus eine Wirkung, offenbar sogar eine gefahrliche. Nur war diese Wirkung bei denen, die es in erster Linie anging, bei der schuldbeladenen Oberschicht, nicht die gewünschte. Statt die eigene Position zu überdenken und die Schuldaufweise ernst zu nehmen, reagierten die eigentlich Angesprochenen mit massiver Abwehr und Schuldverdrängung: 1. Mit religiöser Selbstsicherheit: „Jahwe ist in unserer Mitte, über uns kann kein Unheil kommen", gegen die Theologie der Propheten gewendet; 2. Mit Hohn und Verspottung: „Es komme doch der Ratschluß des Heiligen Israels ...!" „Der verzapft Zawlazaw und Qawlaqaw."; 3. Mit Kriminalisierung der sozialkritischen Verkündigung als qäser, als Verschwörung und Umsturz, und 4. Mit Behinderung und Unterdrückung der öffentlichen Rede in der Erteilung von Redeverbot bis hin zum Landesverweis. Diejenigen, die die Macht in den Händen hatten - wie Micha sagt hatten von ihrer Macht auch Gebrauch gemacht. Sie fühlten sich getroffen, aber es gelang den Propheten nicht, sie betroffen zu machen.

268

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

5. Anregungen zur unterrichtlichen

[41/42]

Behandlung

Der Aufsatz geht in den Teilen 1, 2 und 4 jeweils von exemplarischen Texten aus und schreitet von Textbeobachtungen her zur Synthese. Dementsprechend kann die didaktische Aufbereitung des Stoffes im wesentlichen dem Aufriß des Beitrages folgen. | Die Bezogenheit der prophetischen Gesellschaftskritik auf die Führungsschicht der altisraelitischen Hauptstädte, könnte anhand eines Vergleichs der in Anmerkung 3 genannten Texte unter Beachtung der durchgängigen Pluralform, der häufigen Ortsangaben sowie der angesprochenen Verhaltensweisen und administrativen Funktionen von den Schülern selbst erschlossen werden. Damit gewinnen die Schüler zugleich einen ersten Überblick über die sozialkritischen Texte der judäischen Unheilspropheten sowie Einblicke in den Sammlungscharakter dieser Prophetenbücher. Auf diese erste Fühlungnahme mit den Texten könnte im weiteren Verlauf die Erarbeitung der einzelnen Erscheinungsformen des Gesellschaftswandels entsprechend Teil 2 aufbauen. Die Schüler könnten in mehreren Gruppen je einen Aspekt (2.1 bis 2.4) besonders herausarbeiten. Dabei müßten durch gezielte Fragen die soziale Phantasie der Schüler geweckt und gewisse Hintergrundsinformationen z.B. zur Schuldsklaverei oder zum Rechtswesen (vgl. die Literatur in 6 unter 2 und 3) durch den Lehrer gegeben werden. Die Schüler müßten sich durch diesen Arbeitsgang eine adäquate, konkrete Vorstellung von den gesellschaftlichen Gegensätzen und dem sozialen Unrecht jener Zeit bilden können. Die Kontrastfolie zum Gesellschaftswandel und zu den neuen, von den Propheten angegriffenen Verhaltensweisen der Oberschicht bildet einerseits die altisraelitische Bodenordnung, wie sie in Teil 1 an den Texten veranschaulicht wird und von den Schülern entsprechend erarbeitet werden kann, und andererseits die „traditionelle Ethik", deren Einzelmaßstäbe in den einzelnen Abschnitten von Teil 2 angeführt sind und von den Schülern herangezogen werden sollten. Auch hier müßten die Schüler in die Lage versetzt werden, sich eine Grundvorstellung von den traditionellen Verhältnissen zu bilden. Die mehr synthetischen Teile des Beitrages sollten vorrangig im Unterrichtsgespräch entwickelt werden: 1. das Ineinander-Greifen von Schuldsklaverei und Destabilisierung der Bodenordnung mit ihren symptomatischen Erscheinungsformen in Mi 2,1 f. und Jes 5,8 (Teil 1, vgl. 3.1), 2. die Analyse von Jes 10,1 f. (vgl. 2.5) mit den Überlegungen zur kollektiven Verantwortungslosigkeit (3.3), 3. das Aufklaffen von Normenlücken (3.1) und 4. die Herausbildung einer Binnenmoral in der Führungsschicht (3.2). Durch diese Unterrichtsphase sollte bei den Schülern eine gewisse Sensibilisierung für gesellschaftlich verursachtes Leid und Unrecht erreicht

[42/43]

10. Diejudäische

Unheilsprophetie

269

werden, für das dennoch - und auch im Falle von entstandenen Normenlücken - bei allen Beteiligten stets eine Mitverantwortung besteht. Demgegenüber kann der Grundmaßstab der Solidaritätsethik, nämlich „Recht und Gerechtigkeit", orientiert an den kleinen Leuten, den Benachteiligten und Unterdrückten, wiederum von den Schülern anhand der aufgeführten Texte (vgl. 4.1) erschlossen und in einem zweiten Schritt als Grundorientierung der Propheten am Vergleich des ganzen sozialkritischen Textkorpus (vgl. oben und Anmerkung 3) beobachtet werden; dabei müßte mit entsprechenden Fragen die Beobachtung besonders auf die unmittelbaren Opfer des Fehlverhaltens der Oberschicht und auf das häufig genannte Ausdruckspaar „Recht und Gerechtigkeit" (vgl. Anmerkung 24) gelenkt werden. Auf diese Weise wird den Schülern die Grundorientierung biblischer Ethik nahe gebracht. | Anhand von Am 6,1-7 und Jes 1,21-26 ließe sich - in ähnlicher Weise beobachtend - die Argumentationsstruktur des begründeten Unheilswortes (4.2) als Schlüssel zum Verständnis der Antwort der Propheten auf den Normen- und Gesellschaftswandels erarbeiten. Die entsprechende Schlußfolgerung allerdings: das begründete Unheilswort als Wort der Schuldaufklärung zur Verhinderung des Unheils, müßte unter Bereitstellung der nötigen Hintergrundsinformationen zum Tun-ErgehenZusammenhang und zu theologischen Denkstrukturen der Jerusalemer Kulttradition durch den Lehrer im Unterrichtsgespräch entwickelt werden. Diesem Bemühen, die für uns zunächst befremdliche Antwort der Propheten auf den Normen- und Gesellschaftswandel ein Stück weit zu verstehen und den Schülern verständlich zu machen, dient Teil 4.3 als Hintergrund für den Lehrer, insbesondere, wenn ihm die dort angesprochene Interpretationskontroverse geläufig ist.

6. Literaturhinweise 6.1 Zur judäischen

Unheilsprophetie

allgemein

KOCH, KLAUS, Die Profeten I. Assyrische Zeit, Stuttgart 1978. SCHMIDT, WERNER H., Zukunftsgewißheit und Gegenwartskritik. Grundzüge prophetischer Verkündigung, Neukirchen 1973. SCHMIDT, WERNER H., Die prophetische „Grundgewißheit", in: Evang. Theologie 31, 1971, 630-650 (Jetzt in: Das Prophetenverständnis in der deutschsprachigen Forschung seit Heinrich Ewald, hg. P. H. A. Neumann, WdF CCCVII, Darmstadt 1979, 537-564). WOLFF, HANS WALTER, Dodekapropheton 2. Joel und Arnos, Bibl. Kommentar X1V/2, Neukirchen

2

1975, bes.

105-138.

WOLFF, HANS WALTER, Dodekapropheton. Micha, Bibl. Kommentar XI V/4, Neukirchen 1982 bes. IX-XXVII. SCHOTTROFF, WILLI, Der Prophet Arnos. Versuch der Würdigung seines Auftretens unter sozialgeschichtlichem Aspekt, in: Der Gott der kleinen Leute. Sozialgeschichtliche

270

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

[43/44]

Bibelauslegungen, Bd. 1 Altes Testament, hg. von W. Schottroff und W. Stegemann, München 1979 39-66. WLLDBERGER, HANS, Jesaja 1-12; 13-27; 28-39, Bibl. Kommentar X/L-3, Neukirchen X/l 1972 ( 2 1980);X/2 1978; X/3 1982.

6.2 Zum sozio-ökonomischen des 8. Jahrhunderts

Hintergrund der Prophetie

Allgemein: VAUX, ROLAND DE, Das Alte Testament und seine Lebensordn. Freiburg Bd. I M 964; Bd. II 2 1966. GALLING, KURT (HG.), Biblisches Reallexikon, Handb. zum AT, hg. von H. Gese und R. Smend, Erste Reihe 1, Tübingen 2 1977.

Speziell: SCHOTTROFF, W I L L I ( w i e in 6 . 1 ) , 4 9 - 5 9 ( L i t . ! ) .

ALT, ALBRECHT, Der Anteil des Königtums an der sozialen Entwicklung in den Reichen Israel und Juda, in: Kleine Schriften Bd. 111, hg. von M. Noth, München 2 1968, 348372. DONNER, HERBERT, Die soziale Botschaft der Propheten im Lichte der Gesellschaftsordnung in Israel, in: Oriens Antiquus 2, 1963, 229-245 (jetzt: WdF CCCVII 493-514, vgl. 6.1). KOCH, KLAUS, Die Entstehung der sozialen Kritik bei den Profeten, in: Probleme biblischer Theologie. G. v. Rad zum 70. Geburtstag, hg. von H. W. Wolff, München 1971, 236-257 (jetzt: WdF CCCVII 565-593 vgl. 6.1). WANKE, GUNTHER, ZU Grundlagen und Absicht prophetischer Sozialkritik, in: Kerygma und Dogma 18, 1972, 2-17. ALT, ALBRECHT, Micha 2, 1-5 THZ ANAAALMOL in Juda, in: Kleine Schriften Bd. III, hg. von M. Noth, München 2 1968, 373-381. EBACH, JÜRGEN, Sozialethische Erwägungen zum alttestamentlichen Bodenrecht, in: Biblische Notizen 1, 1976, 31-46.

6.3 Zu den

Rechtsverhältnissen

KÖHLER, LUDWIG, Der hebräische Mensch. Eine Skizze, Darmstadt 1976, 143-171. BOECKER, HANS JOCHEN, Recht und Gesetz im Alten Testament und im Alten Orient, Neukirchen 1976, 20-40. MACHOLZ, GEORG CHRISTIAN, Zur Geschichte der Justizorganisation in Juda, in: Zeitschr. f. d. Alttestamentl. Wissenschaft 84, 1972, 314-340.

6.4 Zur Königsideologie, zum Tun-Ergehen-Zusammenhang Jerusalemer Kulttradition

und zur

BERNHARDT, KARL-HEINZ, Das Problem der altorientalischen Königsideologie im Alten Testament. Unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte der Psalmenexegese dargestellt und kritisch gewürdigt, Leiden 1961, 67-91. SCHMIDT, WERNER H., Alttestamentl. Glaube in seiner Geschichte, Neukirchen 3 1979, 142-220. KOCH, KLAUS, ( w i e 6 . 2 ) , b e s . 2 4 9 - 2 5 7 .

KOCH, KLAUS, Artikel PIX $dq gemeinschaftstreu/heilvoll sein, Theol. Handwörterbuch zum A T II, München 1976, Sp. 507-530, bes. 516 f. und 525 f.

[44]

10. Diejudäische

271

Unheilsprophetie

STECK, ODIL HANNES, Friedensvorstellungen im alten Jerusalem, Psalmen. Jesaja. Deuterojesaja, Theol. Studien 111, Zürich 1972, bes. 22-25. 53-64.

6.5 Zur Propheteninterpretation

und zum begründeten

Unheilswort

WOLFF, HANS WALTER, Die Begründungen der prophetischen Heils- und Unheilssprüche, in: Zeitschr. f. d. Alttestamentl. Wissensch. 52, 1934, 1-22 (jetzt in: Ges. Stud. z. AT, München M973, 9-35). SCHMIDT, W E R N E R H . ( w i e 6 . 1 ) , 6 3 f f . WANKE, GUNTHER ( w i e 6.2). MARKERT,

LUDWIG/WANKE,

GUNTHER,

Die

Propheteninterpretation.

Anfragen

und

Überlegungen, in: Kerygma und Dogma 22, 1976, 191-220. KEEL, OTHMAR, Rechttun oder Annahme des drohenden Gerichts? in: Biblische Zeitschr. N. F. 21, 1977, 200-218. HARDMEIER, CHRISTOF, Jesajas Verkündigungsabsicht und Jahwes Verstockungsauftrag in Jes 6, in: Die Botschaft und die Boten. FS H. W. Wolff zum 70. Geburtstag, hg. von J. Jeremias und L. Perlitt, Neukirchen 1981, 235-251.

11. Die Propheten Micha und Jesaja im Spiegel von Jeremia 26 und II Regum 18-20 Zur Prophetie-Rezeption in der nachjoschijanischen Zeit (1991)

„Das Profetenschweigen des deuteronomistischen Geschichtswerks", wie K. Koch formuliert hat 1 , ist ein altbekanntes Problem. Ja, es spitzt sich erheblich zu, wenn man berücksichtigt, daß nach den Untersuchungen von W. Thiel das Jeremiabuch seine Endgestalt seinerseits einer breit angelegten dtr. Redaktion verdankt 2 . Denn gerade Jeremia wird im DtrG. geflissentlich verschwiegen. Gleiches gilt mit Ausnahme Jesajas für die Schriftpropheten des 8. Jh.s, obwohl wiederum die Wortüberlieferungen zumindest von Arnos und Micha dtr. Bearbeitungen aufweisen 3 . Hegten „die Verfasser" des DtrG. - so die These von Koch - „bestimmte Vorbehalte gegen das, was sie in den Prophetenbüchern lesen" 4 ? Ist damit im exilischen Deuteronomismus mit mehreren Strömungen zu rechnen, zumindest mit einer prophetisch-jeremianischen Ausprägung im Gegensatz zum DtrG. 5 ? | Um das Rätsel des Prophetenschweigens im DtrG. zu lösen, hat Koch vor allem nach Gründen für dieses Schweigen gesucht 6 . Aussichtsreicher erscheint es mir jedoch, in dieser Frage jene beiden Überlieferungen näher ins Auge zu fassen, in denen von zwei Schriftpropheten des 8. Jhs. die Rede ist: von Micha in Jer 26 und von Jesaja in II Reg 18-20. Eine nähere Betrachtung dieser beiden Erzählüberlieferungen im Blick auf die Erzählsituation und die Aussageabsicht, die ihnen zugrunde liegt, läßt eine Antwort auf die folgenden Fragen erwarten. In welche theologisch-politische Konfliktsituation sprechen diese Erzählungen hinein? Welche Trägergrup-

1

KOCH 1981B; vgl. dort zur älteren Diskussion des Problems.

2

T H I E L 1 9 7 3 , u n d DERS. 1 9 8 1 .

3

Vgl. die Hinweise bei KAISER 1984a, 223 und 237. KOCH 1981b, 121. Ja, nach CROSEMANN spricht das DtrG. „in 2Kön 14,27 ohne den Namen zu nennen" sogar „ein eindeutiges Nein zur Botschaft des Arnos" (1971, 62). 5 Zu signifikanten sprachlich-stilistischen Unterschieden bzw. Sonderprägungen in Jeremia-D gegenüber DtrG. vgl. THIEL, 1981, 97 f., und zur forschungsgeschichtlichen Beurteilung S. 116-122. Vgl. zu dieser These v.a. den jüngsten Beitrag von ALBERTZ 4

1989, 37-53. 6 Von einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit KOCH muß hier ebenso abgesehen werden wie von der Diskussion des Erklärungsversuchs von POHLMANN 1979, 94-

109.

274

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie

und Psalter

[173/174]

pen haben welche Adressaten im Auge und welche narrativen Botschaften übermitteln diese Erzählungen? Die Beantwortung dieser Fragen erlaubt Rückschlüsse auf Zeit und Milieu, in welchem die beiden Schriftpropheten als erzählte Figuren ihre je spezifische Erinnerungsgestalt gewonnen haben: Jesaja bekanntlich als Heilsprophet, Micha dagegen als radikaler Unheilsprophet. Daraus lassen sich einerseits weitere Rückschlüsse auf die Trägerkreise ziehen, denen die Relecture und die produktive Bearbeitung der Prophetenliteratur zuzuschreiben sind. Andererseits kann auf diesem Wege das rätselhafte „Prophetenschweigen" des DtrG. aufgehellt werden. Die skizzierte Fragestellung soll in drei Schritten angegangen werden. Teil I wendet sich der Analyse von Jer 26 zu. Daraus sind in Teil II die literaturgeschichtlichen Konsequenzen für die Michaüberlieferung zu ziehen. Teil III behandelt abschließend die Erzählung von II Reg 18-19, gefolgt von fünf Schlußthesen. Der methodische Ansatz zur Erschließung von Erzählmilieu und Konflikthintergrund ist im Theorieteil meiner Prophetie im Streit vor dem Untergang Judas entfaltet 7 . Drei kurze Hinweise müssen genügen. Für die Analyse von Erzähltexten entscheidend ist erstens die sorgfaltige Erfassung ihrer Gesamtstruktur, d.h. der Architektur ihrer Personen-, Szenen- und Ereignisdarstellung. Zweitens muß | davon ausgegangen werden, daß Art, Auswahl und Akzentsetzung dieser Darstellung in erster Linie von der aktuellen kommunikativen Wirkabsicht des Autors bestimmt wird sowie von der Problemkonstellation, zu der seine Erzählung einen Beitrag leisten will 8 . Drittens kann die aktuelle narrative Botschaft, das gemeinte tua res agitur, prinzipiell nur indirekt am spezifischen Gefüge einer erzählten Welt abgelesen werden. Denn Erzählen ist eine per se indirekte Mitteilungsform, die auf das Mitspielen von Hörer und Leser angewiesen ist. Vor allem über die Identifikation mit den erzählten Figuren und die Analogisierung der Situationen und Konflikte überträgt sich diese Botschaft auf die Hörer- und Leserschaft, wie schon das Beispiel der Nathanparabel in II Sam 12 zeigt 9 .

/ Wer Jer 26 genauer im Zusammenhang liest, stößt auf zwei wesentliche erzählerische Unvereinbarkeiten, die zur Annahme einer überarbeiteten

7 8 9

HARDMEIER 1990a, 23-86. Vgl. dazu schon ACKROYD 1968, 21. Vgl. dazu bes. HARDMEIER 1990a, 51 ff.

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11. Die Propheten

Micha und

Jesaja

275

oder ergänzten Grunderzählung nötigen 10 . Zum einen handelt es sich um die völlig widersprüchliche Rolle des Volkes im vorliegenden Erzählganzen. Denn auf der einen Seite gehört das Volk in den V. 7-9 zu den Hauptgegnern Jeremias. Es wird in V. 17 von den „Ältesten des Landes" besänftigt, und der Schafanide Achikam schützt Jeremia vor seinen Tötungsabsichten. Im Gegensatz dazu nimmt das Volk im Prozeßbericht von V. 1016 zusammen mit den „Beamten Judas" (sry yhwdh) auf der anderen Seite eine positive Verteidigerrolle ein. Nur in diesem Textteil stehen allein die „Priester und Propheten" mit der Forderung der Todesstrafe auf der Anklägerseite. Zum zweiten steht dieser in sich homogene Prozeßbericht 11 mit dem Freispruch Jeremias in V. 16 in Spannung zur nachfolgenden Stellungnahme der | Ältesten in 17-19. Das Plädoyer kommt zu spät, wenn es ein integraler Bestandteil des Prozeßberichtes von 10-16 sein sollte. Im Gegensatz zur Analyse von I. Meyer liegt es allerdings näher, den Prozeßbericht in 10-16 als nachinterpretierende Überformung von der Grunderzählung abzuheben. Zusammen mit den sekundären Elementen in den V. 3-6, die seit langem als dtr. erkannt worden sind 12 , ist auch dieser Bericht der Jeremia-D-Redaktion zuzuschreiben 13 . Diese Überformung hat 10

Zur exegetischen Diskussion des Kapitels und den verschiedenen Erklärungsmodel-

len v g l . HOSSFELD/MEYER 1 9 7 4 u n d THIEL 1 9 8 1 , 3 - 4 ; z u d e n z a h l r e i c h e n

Spannungen

vgl. n e b e n HOSSFELD/ MEYER 1974, 33 ff. a u c h MEYER 1 9 7 7 , 1 6 ff. 11

Ein weiteres Indiz für seine Homogenität ist die Beobachtung, daß nur hier das behauptete Delikt Jeremias als mspt mwt, als Fall des Todesrechtes behandelt wird (V. 11 und 16, vgl. noch Dtn 19,6 und dazu MEYER 1977, 25 f. und 35-37) Ferner zeichnet sich der Abschnitt durch eine in sich homogene Konstellation der Handlungsträger aus, die sich vom übrigen Kapitel nicht nur hinsichtlich der Rolle des Volkes abhebt: Auf der Verteidigerseite stehen neben dem Volk stereotyp die srym, die in V. 10 als „die Beamten Judas" eingeführt werden. Als Ankläger treten ihnen allein hier die „Priester und Propheten" als geschlossene Gruppe gegenüber. 12 Es handelt sich, abgesehen von der sekundären Überschrift in V. 1, nach THIEL 1981 um die V. 3, 4b, 5 und die Überformung von V. 6b in Korrespondenz zu Jer 44,8 (S. 3, vgl. auch MEYER 1977, 18-20, 30 f. und 42); zur weiteren dtr. Bearbeitung des Kapitels vgl. das Folgende. 13 Die wichtigsten Gründe können hier nur angedeutet werden. V. 13 wird auch von THIEL der D-Redaktion zugewiesen (vgl. 1981, 3). Schon in den Überlegungen von MEYER zur „Prozeßmaterie" (vgl. 1977, 35-39) liegt die Konsequenz, daß es sich in 1016 um einen fiktiven Musterprozeß handelt, der nach den Normen von Dtn 18,20-22 in einer Art von „Lehrzuchtverfahren" (S. 36) Jeremias „Echtheit als Prophet (anerkennt)" (S. 35). Seine Funktion in der dtr. Gesamtkomposition des Jeremiabuches macht die Zuordnung zur Jeremia-D-Redaktion plausibel. Zum einen muß Jeremia im Vorspann zu den Pseudoprophetenkapiteln 27-29 als „wahrer Prophet" wie Mose ausgewiesen werden, wie bereits im dtr. überarbeiteten Berufungsbericht angedeutet wird (vgl. die an Dtn 18,18 orientierten Erweiterungen in Jer l,7bß und 9bß und dazu THIEL 1973, 65 ff., und DERS. 1981, 109). Zum andern ist es kein Zufall, daß ausgerechnet die srym und das Volk in V. 16 Jeremia bestätigen, daß er gemäß Dtn 18,20 „im Namen Jahwes, unseres Gottes"

276

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie

und Psalter

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noch weitere kleine Untermalungen in den V. 2, 7-9 und 19 nach sich gezogen 1 4 , insbesondere die Ergänzung der Gruppe der „Priester und Propheten" in | 7-9. 15 Aus rein erzählnotwendigen Gründen müssen sie schon hier eingeführt werden, um ihre negative Rolle im Prozeßbericht von 10-16 vorzubereiten. Hebt man die genannten Einzeichnungen der Jeremia-D-Überformung ab, so tritt eine konzis aufgebaute vordtr. Grunderzählung zu Tage, die textlich nur an den redaktionellen Nahtstellen am Anfang der V. 2 und 6 leicht gestört ist. - Mit dem Grundbestand von V. 2-7 wird die Ausgangssituation der Erzählung exponiert. Jeremia soll im Tempelvorhof zum Volk reden (V. 2aa) 1 6 und die Vernichtung von Tempel und Stadt ankündigen (V. 4a, 6* 17 ). V. 7 gesprochen habe und deshalb nicht getötet werden darf. Denn eben diese Gruppe ist es, die nach Jer 43,1 ff. nicht auf seinen prophetischen Rat hört und nach V. 2 behauptet, daß „Jahwe, unser Gott" (vgl. 26,16!) ihn nicht gesandt habe. Der anfangliche Thoragehorsam von Jer 26,10-16 ist am Ende in Jer 42 und 43 in die Mißachtung des wahren Propheten umgeschlagen, ein analoger Fall zur widerrufenen Sklavenfreilassung in Jer 34,8 ff., die auch dort am Maßstab des Dtn. (vgl. 15,1.15) gemessen wird (vgl. dazu THIEL 1981, 109). Das Wort des wahrhaften Propheten wurde auch im frühen Exil nicht gehört (44,16, vgl. 7-8 und damit 26,6b und 19b!). 14 Auffalligerweise wird im Prozeßbericht die inkriminierte Gerichtsbotschaft gegen Tempel und Stadt verallgemeinernd als kl hdbrym h 'lh (alle! diese Worte) bezeichnet und entsprechend in V. 15 aufgenommen. In 2aß, y, b muß es sich dabei angesichts der halben Kanonformel in 2b um weit mehr als nur um ein konkretes Einzelwort handeln, so daß diese Bezeichnung auf der Ebene der dtr. Überformung den Bezug auf Jeremias Gesamtbotschaft und ihre grundsätzliche „gerichtliche" Beglaubigung durchscheinen läßt (vgl. oben Anm. 13). Dementsprechend sind auch V. 2aß, y, b mit 8aa 2 (vgl. das doppelte Idbr und den Bezug zu 2ay) der D-Überformung zuzuweisen sowie V. 19 ab hl' yr' aufgrund von V. 13b (vgl. zu diesem theologischen Horizont der „Reue Gottes" und seinem exilisch-dtr. Bezugsrahmen in Jer 42,18 und Ex 32,12.14 JEREMIAS 1975, 75 ff.). 15 Symptomatisch ist es, daß in V. 8a trotz V. 7 nur das Volk als Adressat von Jeremias Reden genannt und erst in 8b wieder die ganze Gruppe erwähnt wird. In V. 9b werden die Priester und Propheten nicht genannt, weil das doppeldeutige qhl 7 / 7 (vgl. das Schwanken der Textüberlieferung) im feindlichen („sich zusammenrotten gegen") wie im freundlichen Sinne („sich versammeln") verstanden werden kann (vgl. dazu WANKE 1971, 83-84). Im Blick auf die ab V. 10 plötzlich positive Rolle des Volkes bildet V. 9b in seiner Doppeldeutigkeit eine ideale Brücke, diesen Rollentausch unmerklich vorzubereiten. Deshalb werden auch hier die „Priester und Propheten" nicht ergänzt. 16

Zum Restvers vgl. oben Anm. 14. Den sekundär überformten Erzählanfang in V. 1 mit folgender Botenformel wird man sich z.B. in Analogie zu Jer 16,1 vorzustellen haben, ohne daß hier das Problem der Überschriften im Jeremiabuch weiter verfolgt werden kann (vgl. zu 16,1 THIEL 1973, 195, und zum Typus der D-Überschriften 106 f., sowie DERS. 1 9 8 1 , 3 8 ) . 17

Zu V. 6 vgl. oben Anm. 12. wntty am Versanfang ist im jetzigen Textzusammenhang Apodosis zu V. 4b. Als ursprüngliche Eröffnung des Unheilswortes ist an hnny ntn zu denken (vgl. z.B. Jer 6,21 und 20,4 neben 5,15; 8,17 und 9,6.14).

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11. Die Propheten

Micha und

Jesaja

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bestätigt abschließend das normal Erwartbare: Das Volk 18 hörte diese Worte im Tempel. - Der erzählkonstitutive Konflikt, der die Erzählspannung erzeugt und das Unerwartete der Ausgangssituation gegenüberstellt, wird in den V. 8-9 entfaltet 19 . Eingeleitet mit einer temporalen Szenenmarkierung (V. 8a), wird Jeremias Verhaftung durch das Volk und die Forderung nach seinem Tod (V. 8b) aufgrund seiner Unheilsbotschaft (V. 9a) erzählt 20 . V. 9b summiert das Geschehen und schließt so die Teilszene mit der gleichen lokalen Verortung | wie im Szenenschluß der Einleitung ab: „Es versammelte sich das ganze Volk gegen Jeremia im Tempel" (qhl nif.) 21 . - In den V. 17-19 wird dieser Basiskonflikt zwischen Jeremia und dem Volk durch einen Vermittlungsvorschlag der „Ältesten des Landes" einer möglichen ersten Lösung entgegengeführt. Dabei wenden sich die Ältesten in präziser Anknüpfung an V. 9 allein an das versammelte Volk, den qhl h'm.22 Die aufgebrachte Menge solle sich ein Beispiel nehmen an König Hiskija und „ganz Juda". Sie hatten vor gut hundert Jahren den Unheilspropheten Micha wegen seiner Unheilsankündigung gegen Jerusalem nicht umgebracht 23 . Entsprechend dem gemeinantiken Topos der historia magistra vitae24 wird ein strukturell gleich gelagertes Exemplum aus der fernen Vergangenheit als Argument angeführt, das im erzählten Konflikt zu analogem Handeln anleiten will. - Doch bringt der Erzähler zur Steigerung der Erzählspannung und zur Retardierung vor der Klimax 25 in 20-23 ein Kontrastexempel aus der 18

Zur sekundären Einzeichnung der „Priester und Propheten" vgl. oben. Vgl. zu diesem konstitutiven Strukturelement von Erzählungen QUASTHOFF 1980, 27 und 52 ff, sowie HARDMEIER 1990a, 41 ff. 20 Zu den sekundären Elementen in den V. 8-9 vgl. oben Anm. 14 und 15. Symptomatisch ist die feine stilistische Differenz zwischen nb' bsm yhwh in V. 9a und dbr bsm yhwh im dtr. Prozeßbericht in V. 16b, die genau der Diktion von Dtn 18,18-22 folgt. Dagegen folgt der Stil in 9a dem Wortgebrauch im analogen Fall einer Todesdrohung gegen Jeremia in 11,21. Die Jeremia-D-Redaktion verwendet beide Ausdrucksweisen (vgl. z.B. 14,14 und 29,13; 44,16). | 21 Auf der Ebene der Grunderzählung ist V. 9b adversativ zu übersetzen, zumal die Textüberlieferung selbst zwischen den häufig promiscue gebrauchten Präpositionen 7 und '/ schwankt (vgl. App. BHS und oben Anm. 15). Zur erzählanalytischen Relevanz der szenischen Gliederung durch temporale und lokale Markierungen vgl. HARDMEIER 1990a, 66 f., 77 f. und 83-85. 22 Die mit Ausnahme von Ps 107,32 (vgl. noch Jud 20,2) singulare Wortverbindung spricht zusätzlich für einen erzählimmanent motivierten Sprachgebrauch und damit für die stilistische Homogenität der Grunderzählung. 23 Zur sekundären Erweiterung von V. 19 vgl. oben Anm. 14. 19

24

25

V g l . d a z u LIWAK 1987, 12 ff. u n d

16-17.

Vgl. zu dieser auch erzählempirisch nachweisbaren Erzählstrategie KALLMEYER 1 9 8 1 , 4 1 3 f.

278

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie

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jüngsten Vergangenheit ins Spiel: die Verfolgung und Ermordung Urias durch Jojakim, weil dieser Unheilsprophet genau wie Jeremia gegen „diese Stadt" und „dieses Land" prophezeiht hat. Erzählerisch gekonnt, sind die Uria-Episode und das historische Argument der Ältesten kontradiktorisch aufeinander angelegt. In strukturell gleichgelagerten Fällen hat der zeitgenössische König Jojakim in sträflichem Gegensatz zum vorbildlichen Hiskija gehandelt. Damit bleibt die Frage, was im aktuellen Fall mit Jeremia geschehen würde, umso bedrängender offen. - Hervorgehoben mit der Gegensatzpartikel 'k, überrascht dann die Lösung im Erzählschluß in V. 24: Einzig Dank der schützenden Hand des Schafaniden Achikam wurde Jeremia doch noch vor den Tötungsabsichten des Volkes bewahrt. Damit schließt sich der | Ring des Basiskonflikts, der in den V. 8-9 exponiert worden ist. Jeremias Todesbedrohung durch das Volk wurde erfolgreich abgewendet. Es kann kaum ein Zweifel sein an der thematischen wie stilistischen Geschlossenheit dieser Grunderzählung. Sie dreht sich in allen ihren Teilen um das unterschiedliche Schicksal von Jeremia, Micha und Uria, die aufgrund ihrer Unheilsbotschaft gegen Jerusalem potentiell oder aktuell mit dem Tode bedroht wurden. Mit Micha und Uria werden zwei gegensätzliche historische Fälle als Exempla einander gegenübergestellt. Dabei lag ihr positiver bzw. negativer Ausgang primär in der Verantwortung der jeweils herrschenden Könige von Juda, während im aktuell erzählten Fall von Jeremia der Schafanide Achikam die Rettung brachte. Die Frage nach dem Erzählmilieu ist vom Erzählschluß her anzugehen. Die so betont hervorgehobene Beschützerrolle Achikams zeigt die besondere Nähe der Schafaniden zu Jeremia und seiner Prophetie. Mit gutem Grunde kann man von einer Art Protektion des unbequemen Propheten durch die politisch mächtige und einflußreiche Familie Schafans mindestens seit der Regierungszeit Jojakims sprechen. Sie geht bekanntlich auch aus der Erzählung in Jer 36 (vgl. bes. V. 25) hervor und bestätigt sich an Jeremias Option, nach der Zerstörung Jerusalems beim Schafan Enkel Gedaljah, dem Sohne Achikams, im Lande Juda zu bleiben (vgl. Jer 40,6) 26 . Dieser Hintergrund wird noch deutlicher, wenn man nach Funktion und Adressaten der Grunderzählung fragt. Auffallig ist die Paradigmatik der angeführten Fälle von Micha und Uria. Ihr Schicksal hängt entscheidend von der Haltung der judäischen Könige ab. Ferner liefert das Votum der Ältesten den erzählimmanenten hermeneutischen Schlüssel für die implizite narrative Argumentation der ganzen Erzählung. Das historische Exemplum von Hiskija und Micha wird aufgegriffen, um gemäß dem Topos der historia magistra vitae zu einer möglichen Konfliktlösung in der er26

V g l . d a z u b e s . KEGLER 1 9 7 9 u n d a u s f ü h r l i c h HARDMEIER 1 9 9 0 a , 2 1 4 f f . u n d 4 4 5 f.,

f e r n e r LOHFINK 1 9 7 8 , b e s . 3 3 5 f f .

[178/179]

II. Die Propheten

Micha und

Jesaja

279

zählten Gegenwart beizutragen. Wem aber soll die ganze Geschichte in der Erzählgegenwart eine Lehre sein? Wer soll sich am vorbildlichen Verhalten Hiskijas im Falle Michas ein Beispiel | nehmen und wem soll der Prophetenmord Jojakims eine besondere Warnung sein, besonders wenn der einflußreiche Schafanide Achikam 2 7 bereits unter Jojakim seine schützende Hand über Jeremia hielt? Das „Heute" der Grunderzählung muß die Ära Jojakims bereits im Rücken haben und weist - zusammen mit den folgenden Hinweisen - deutlich in die Zeit Zidkijas. Einen ersten Hinweis liefert die Erzählung von Jer 36. Sie ist Jer 26 in manchem verwandt und mehr oder weniger die gleiche Paradigmatik liegt ihr zugrunde 2 8 . Auch in Jer 36 wird Jojakim als abschreckendes Beispiel der gewaltsamen Zensur und der radikalen Ablehnung von Jeremias Botschaft in Szene gesetzt 29 . Auch dort verdankt Jeremia den Schutz vor Verfolgung vor allem der Gunst des Schafaniden Gemarja, seines Sohnes Michaja 3 0 und der ihnen nahestehenden Beamtenrunde in der Hofkanzlei (36,12) 31 . Jer 36 läßt sich am besten als narrative Warnung an Zidkija verstehen. Er soll sich wie die Beamtenrunde in 36,16a betreffen lassen von Jeremias gesammelter Botschaft und sie nicht handgreiflich wie Jojakim in den Ofen werfen. Ja, die Schlußbemerkung in 36,32 deutet sogar d a r a u f h i n , daß dem König Zidkija von schafanidischer Seite eine sozusagen zweite, erweiterte Auflage der gesammelten Botschaft Jeremias vorgelegt wurde, an die noch „viele weitere Worte wie jene" angefügt waren (V. 32b). Jer 36 wäre dann so etwas wie das Empfehlungsschreiben dazu mit der Warnung, die Botschaft vom „Feind aus dem Norden" ernst zu nehmen, so daß Zidkija nicht noch einmal vorwurfsvoll wie Jojakim nach 36,29 die Frage stellt: „Warum hast du darauf geschrieben: ,Kommen, kommen wird der König von 27

28

V g l . II R e g 2 2 , 1 2 . 1 4 u n d d a z u b e s . K E G L E R 1 9 7 9 , 7 1 - 7 3 .

Zur Verwandtschaft dieser Erzählungen vgl. WANKE 1971; LOHFINK überspannt allerdings den Bogen, wenn er Jer 26 und 36 als eine Erzählung sehen will unter der ebenso problematischen Prämisse, daß es darin „um das Schicksal des Jahwewortes von dem Augenblick an (gehe), wo Jojakim den Davidsthron bestieg" (1978, 323, vgl. zum ganzen 322 ff. und 345 ff.). 29 Diese Zeichnung Jojakims als Negativfigur entspricht voll und ganz der negativen Beurteilung dieses Königs und seines verschleppten Sohnes Jojachin in Jer 22,13-19 und 24 ff. 30 Zu dieser Unterstützung Jeremias gehört auch, daß Baruch zuvor die von Jeremia diktierte Buchrolle im Gemach des Gemarja am Tempel vorlesen kann. 31 Denn sie raten Baruch und Jeremia, sich zu verbergen (V. 19), und insbesondere Gemarja gehört zu denen, die Jojakim allerdings vergeblich an der Verbrennung der Buchrolle zu hindern suchen (V. 25). Wenn hier auch der Achbor Sohn Elnatan als Fürsprecher Jeremias und seiner Botschaft hervorgehoben wird, der noch nach Jer 26,22 die Verhaftung Urias in Ägypten leitete, so wird damit möglicherweise ein Gesinnungswandel dieses Beamten angedeutet.

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Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie

und Psalter

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Babel und wird zerstören dieses Land und | wird verschwinden lassen aus ihm Mensch und Vieh.'" 3 2 Besonders mit Beginn der Vorbereitungen zu Zidkijas Aufstand gegen Babylon nach 594 wird diese geballte literarische Warnung aus dem Umfeld Jeremias und der probabylonisch eingestellten Schafanfamilie gut verständlich. Einen zweiten Hinweis auf die Zidkijazeit liefert die Erzählung von der assyrischen Bedrohung und Befreiung Jerusalems in II Reg 18,9-19,37*. Wie in Teil III noch näher zu erläutern ist, wird auch in dieser Erzählung die Geschichte als Lehrmeisterin für die Gegenwart in Anspruch genommen. Auch sie wendet sich an Zidkija und arbeitet - wie Jer 26 - mit der Paradigmatik Hiskijas, der hier allerdings dem anderen prominenten Propheten Jesaja Gehör schenkt. Mit Jer 26; 36 und II Reg 18-19 haben wir somit drei, in ihrer Gattungstypik eng verwandte Einzelerzählungen, die als „historische Tendenzerzählungen" zu bezeichnen sind. Ihren „Sitz im Leben" haben sie alle in den politischen Richtungskämpfen der Zidkijazeit, genauer im historisch-narrativen Diskurs um die richtige Politik des letzten Königs von Juda. Das läßt sich schließlich auch am aktuellen Konflikthintergrund von Jer 26 bestätigen. Im Rückblick aus der Zeit kurz nach der Zerstörung Jerusalems wird in Jer 38,1-6 von einer Art Prozeß gegen Jeremia erzählt. Eine Gruppe von Beamten, die Zidkijas Aufstand unterstützen, verlangt vom König, daß Jeremia wegen seiner angeblich defätistischen Botschaft getötet werde. Dieser, zu Jer 26 ganz analoge Konfliktfall 3 3 wird im Rahmen der Erzählung von Jer 37,3-40,6 zwar erzählerisch in die zweite Phase der babylonischen Belagerung Jerusalems verlegt. Als Erinne|rungsgut gehört er jedoch historisch in die erste Belagerungsphase von 589/88. Denn nur in ihr konnte Jeremia noch ungehindert zum Volk reden, wie in Jer 38,1 vor-

32 Diese Inhaltszusammenfassung im Munde Jojakims ist ein starkes Indiz dafür, daß schon zur „ersten Auflage" mindestens die Wortkomposition von Jer 4,5-6,30 mit Kap. 2 und der zweiten Vision von 1,13-14 (vgl. 6,29!) als Vorspann gehört haben. Sie hat das kommende Unheil (r'h, vgl. 1,14; [2,3] 4,6; 6,1 [vgl. 26]) in Gestalt der seit 605 expandierenden babylonischen Großmacht im Auge und führt es als Handeln Jahwes auf die innere Zerrüttung der judäischen Gesellschaft unter Jojakim zurück. Zu Jer 2-6 vgl.

ALBERTZ 1 9 8 2 u n d LIWAK 1 9 8 7 , 104 f f . Z u m Z u s a m m e n h a n g v o n „ U r r o l l e " u n d J e r 3 6 v g l . HARDMEIER 1 9 9 0 a , 3 4 9 f f . 33

Während im paradigmatischen Rekurs auf die Zeit Jojakims in Jer 26 das Volk entsprechend Jer 11,21 - die Todesforderung erhebt, sind es im historischen Fall der Zidkijazeit die Beamten. Da es aber um das paradigmatische Verhalten der judäischen Könige in solchen Fällen geht (26,17-19 und 20-23), spielt diese historisch begründete Differenz der Verfolger (vgl. aber die Beteiligung von Beamten an der Verfolgung Urias!) für die Aussagefunktion von Jer 26 keine Rolle. Nimmt man Jer 38,3 als inkriminierten Botschaftsinhalt hinzu, wird die Analogie zu 26,9a auch in dieser Hinsicht evident.

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11. Die Propheten

Micha und Jesaja

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ausgesetzt wird 34 . Alles deutet daraufhin, daß die paradigmatische Lehre aus der Geschichte von Jer 26 ganz auf diesen konkreten Fall der tödlichen Bedrohung Jeremias zugeschnitten ist und eine deutliche Warnung der Schafanfamilie ausspricht: Der König soll sich ein Beispiel an Hiskija nehmen und besser dem Rat der Ältesten des Landes zur Zeit Jojakims folgen, als dessen schlechtes Beispiel nachahmen und Jeremia dem Tode ausliefern. Denn auch Micha wurde nicht getötet wegen seiner Unheilsankündigung gegen Jerusalem.

II Was aber bedeutet diese Interpretation der Grunderzählung von Jer 26 in ihrem gesellschaftlichen Kontext für die Rezeption der Michaworte und den Prozeß ihrer literarischen Überlieferung? Das Argument von Jer 26,17-19 ist schwerlich nur eine auf das Schicksal des Propheten beschränkte, isolierte Reminiszenz. Immerhin schließt das in Jer 26 zitierte Unheilswort wohl nicht zufallig auch die älteste Wortsammlung von Mi 13 ab 35 . Liest bzw. hört man diese drei Kapitel im Zusammenhang, so liegt ihre bestürzende Aktualität für das Jerusalem der nachjoschijanischen Zeit auf der Hand, ohne daß es aktualisierender Zusatzbemerkungen bedarf. Das gilt besonders für die Zeit von Jojakims Bestrebungen, sich von Nebukadnezzar abzusetzen, und vollends für die Vorbereitungsphase zum antibabylonischen Aufstand Zidkijas. Weil sich Michas Unheilsbotschaft um 701 nicht erfüllt hat, steht sie für Kreise, die Jeremias Gegenwartsperspektive teilen, umso dringlicher bevor. Micha wurde so zum unmittelbaren prophetischen Zeugen aus der Geschichte für die Unabwendbarkeit der babylonischen Bedrohung, wie der folgende Kurzvergleich zeigt: Der unabwendbare Schlag, der nach Mi 1,9 Juda trifft und bis an die Tore Jerusalems reicht, hat für das jeremianische Umfeld unweigerlich die Gestalt des kommenden „Feindes aus dem Norden" angenommen. In ihm verkörpert sich das Unheil, das Jahwe nach Jer 1,14 über das Land hereinbrechen läßt 36 . Historisch transparent ist es das Unheil, das schon Micha nach Mi 1,12b von | Jahwe selbst her auf die Stadt Jerusalem herabkommen sah und das am Ende der Komposition in 3,12 dann auch denen konkret angekündigt wird, die sich in ihrem Zionsheilsglauben davor sicher wissen.

34

Vgl. zur Begründung im einzelnen HARDMEIER 1990a, 244 ff. und 391 f. Vgl. WOLFF 1982, XXVII-XXIX und XXXVI. 36 Vgl. dazu die Rahmenverse in der Gesamtkomposition in Jer 4,6; 6,1 und die entsprechend zutreffende dtr. Nachinterpretation in 6,19. 35

282

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie

und Psalter

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Für die Beschäftigung Jeremias und seiner Umgebung mit der aktuell gewordenen Botschaft Michas gibt es auch mehrere Detailhinweise. Erstens läßt Jeremia in 5,12 nicht zufällig die Gegner seiner Unheilsankündigung das falsche Vertrauensbekenntnis von Mi 3,11 sprechen: „Nicht wird über uns kommen Unheil, weder Schwert noch Hunger werden wir sehen. 3 7 " Zweitens klingt in Jer 9,18 unüberhörbar das in Mi 2,4 angekündigte Untergangslied an: „Ja, Liederschall des Untergangs läßt sich von Zion her vernehmen: ,Wie sind wir zugrunde gerichtet, ganz zuschanden geworden...'" 3 8 Michas künftiges Untergangslied wird in kürze anzustimmen sein, was Jeremia jetzt schon in 9,9-10.16-21 prophetisch vorwegnimmt. Drittens ist in der scharfen Auseinandersetzung Jeremias mit den falschen Schalom-Propheten auch Michas Prophetenkritik in 3,5 ff. von neuem aktuell geworden. Dementsprechend werden die Baalspropheten in der rückschauenden Gottesrede von Jer 23,13 kaum zufällig mit der gleichen, exklusiven Wendung wie Mi 3,5 charakterisiert: „Verführt haben sie mein Volk" 3 9 . Diese auffälligen Hinweise auf eine spätvorexilische Micha-Rezeption gewinnt durch die folgende Beobachtung noch weiter an Plausibilität. Im ganzen Michabuch findet sich die Botenformel bekanntlich nur in Mi 2,3 und 3,5. In Mi 3,5 ist sie nach Wolff mit Sicherheit, in 2,3 mit hoher Wahrscheinlichkeit nachgetragen 4 0 . Dies sind nun aber genau die beiden Stellen, die auch | in Jer 9,18 und 23,13 bis in den Wortlaut hinein ein Echo gefunden haben. Dieser eigentümliche Befund bestätigt sich in signifikanter Weise am dritten und letzten wörtlichen Rückbezug von Jer 5,12 auf Mi 3,11. Denn auch das folgende Unheilswort in Mi 3,12, das diese Texteinheit abschließt und im Michabuch zwar ohne die Botenformel überliefert ist, wird in Jer 16,18 kaum zufallig mit der Botenformel zitiert. Daraus ergibt sich das folgende Bild. Die Jeremia nahestehenden Kreise im Umfeld der Schafanfamilie haben nicht nur zum Schutze Jeremias an 37

Vgl. den dtr. Nachklang in Jer 23,17. Auch wenn das Leitwort sdd (pu. bzw. in Mi 2,4 nif. [vgl. GESK § 67u]) zur gattungstypischen Topik des Untergangsliedes gehört (vgl. dazu HARDMEIER 1978, 333336), ist es für die Beziehung von Jer 9,16 ff. zu Mi 2,3-5* auffällig genug, daß in beiden Texten auch die seltene Gattungsbezeichnung nhy begegnet (vgl. neben Jer 9,9.17-19; 31,15 nur noch Am 5,16; Ez 27,32; 32,18 und dazu HARDMEIER 1978, 333 f.). Für die prophetische Komposition von Jer 9,9-10.16-21 steht die in Mi 2,4 angekündigte Situation angesichts der absehbaren Katastrophe unmittelbar bevor (zum schwierigen Text in 38

M i 2 , 4 v g l . WOLFF 1 9 8 2 , z . S t . , u n d JEREMIAS 1 9 7 1 b , 3 3 3 f.). 39 t'h (hif.) 't 'my, vgl. ferner 23,32 (dtr.) und sonst nur noch Jes 3,12 (und 9,15), dort von den m'srym, den führenden Kräften ausgesagt. Hingewiesen sei auch auf Michas scharfe Kritik der Jerusalemer Bautätigkeit in Mi 3,10, deren Aktualität in der Zeit Jojakims an Jer 22,13 ff. greifbar wird. 40

Z u 3 , 5 v g l . W O L F F 1 9 8 2 , 6 5 f., z u 2 , 3 DERS. 1 9 8 7 , 8 5 f.

[183/184]

II. Die Propheten

Micha und

Jesaja

283

das mutige aber unbehelligte Auftreten Michas als Unheilsprophet erinnert. Sie und Jeremia selbst haben auch die Wortüberlieferung von Mi 1-3 im einzelnen gekannt und darauf Bezug genommen. Ja - und das ergibt sich aus den Beobachtungen zur Botenformel - sie haben mit wenigen Randglossen, v.a. mit ihrem Verweis auf die 't r'h in 2,3 (vgl. 3,4), die Botschaft Michas als Jahwewort auf ihre Gegenwart bezogen 4 1 und das literarische Korpus von Mi 1-3 zum Zeugnis eines Jahweboten umstilisiert, entsprechend ihrem in Jer 26,18 dokumentierten Verständnis 4 2 . Den letzten gewichtigen Hinweis auf eine Micha-Rezeption in nachjoschijanischer Zeit liefert das noch vorexilische Wort an „die | Stadt" in Mi 6,9-15*. Seine unverkennbar dtr. Kommentierung in 6,16 weist es als vordtr. Unheilswort gegen die durch Gewalt (hms) reich Gewordenen (V. 10-12) aus. In den V. 14-15 werden ihnen „fünf Nichtigkeitsflüche" als „Gegenschlag Jahwes" (V. 13) angekündigt 4 3 . Das gezeichnete Bild vom 41 Zum einen setzten sie zwei gleichstrukturierte Gliederungszeilen hinzu, nämlich: kh 'mr yhwh 7 hmsphh hz't am Rande von Mi 2,3 oder 1 und kh 'mr yhwh 7 hnby'ym in 3,5. Zum andern haben sie am Rande von Mi 2,3 auf ihre eigene Gegenwart angespielt mit der Bemerkung: „Ja, eine unheilvolle Zeit ( 7 r'h) ist es". In ihr gibt es in der Tat kein Entrinnen aus dem von Norden heranbrausenden Unheil (Jer 1,14; 6,1). Und enden wird sie in der Untergangsklage von Jer 9 wie schon in Mi 2,4 angekündigt. Auf j e n e Zeit" der eigenen Gegenwart verweist dann auch die Randbemerkung b 7 hhy' in Mi 3,4 zurück. Die Bemerkung schließt damit zugleich die erste Botenwortsequenz ab, wie denn auch die zweite mit 3,5 eröffnet wird. 42 Damit folgen wir im wesentlichen den redaktionsgeschichtlichen Analysen von JEREMIAS 1971b und Wolff mit zwei wichtigen unterschieden: 1. Sind die hier genannten Glossierungen nicht auf der gleichen Ebene anzusiedeln wie die in der Tat dtr. Kommentierungen in Kap. 1, die die Schuld als Ursache für das angekündigte und dann eingetroffene Unheil reflektieren; vgl. 1,5 innerhalb der V. 3-5 und V. 13b (sowie 7a im Zuge von 5b, ferner M in 2,10 und dazu WOLFF 1982, 20 f., 25-27, 31 f. und zu 2,10 S. 41, 45). Diese Schuldreflexion setzt verhältnismäßig früh nach 587 ein, wie Thr 1,5.18.20.22, 4,6.13 zeigen, aber auch das frühe Heilswort Jer 30,12-17, das noch ganz unter dem Schock der Katastrophe steht (vgl. bes. V. 12-14 und darin die Nähe von V. 12 zu Mi 1,9, was wie eine Erfüllung klingt, ferner den Anklang von V. 14a an Thr 1,2.8 und bes. 19 sowie von V. 14b an Thr 2,4-5 und das ganze Kapitel 2). Jeremias und Wolff betonen übereinstimmend, daß die Glossierungen in 2,3 und 3,4-5 „fast ausschließlich die Strafandrohungen (erweitern)" (WOLFF 1982, 45, vgl. JEREMIAS 1971b, 333-335). Im Kontext von Jer 26 erweisen sie sich als spätvorexilisch und damit als vordtr. - 2. Wir betrachten diese sparsamen Bemerkungen als Randglossen, die zunächst nicht in den Bestand des wahrscheinlich bereits von Micha selbst zusammengestellten literarischen Korpus von Mi 1-3 (vgl. WOLFF 1982, 64 f.) eingegriffen haben. Diese | Glossen sind dann wohl im Zuge der ersten dtr. Bearbeitung des Korpus so in den fließenden Text eingearbeitet worden, daß sie die entsprechenden (Teil-)Textanfange in 2,3 und 3,5 überformt haben. Zu den Detailproblemen in 3,5 vgl. WOLFF 1982, 63 ff. und 71 f.; zu Mi 2,3-5 vgl. JEREMIAS 1971b, 333-335; allerdings folgen wir in V. 3 dem Rekonstruktionsvorschlag

v o n LESCOW 1 9 7 2 , 51. 43

WOLFF 1982, 162, vgl. zum historischen Ort 163 f.

284

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

[184/185]

Gewinnemachen durch Betrug illustriert den Vorwurf Jeremias, daß alle in Jerusalem, vom Kleinsten bis zum Größten, auf Gewinn aus sind (Jer 6,13; vgl. 8,10), und es steht Jeremias klarsichtiger Feststellung nahe, daß der Reichtum in den Häusern auf mrmh, auf Betrug beruht 44 . In die Zeit der babylonischen Bedrohung paßt aber auch besonders gut der Hinweis in Mi 6,13, daß Jahwe mit seinen Schlägen und Verheerungen bereits begonnen hat wegen der Verfehlungen in der Stadt 45 . Auch Jer 5,25 begründet damit das Ausbleiben wohlerworbenen Gutes (htwb), was die Nichtigkeitsflüche in Mi 6,14-15 veranschaulichen. Als Fazit kann formuliert werden: Das bereits literarische Korpus von Mi 1-3 wurde im engsten Umfeld von Jeremia und der Schafanfamilie neu gelesen angesichts der babylonischen Gefahr und der innenpolitischen Zerrüttung in Jerusalem in nachjoschijanischer Zeit. Es wurde als Wort des Jahweboten Micha an die eigene Gegenwart verstanden und entsprechend glossiert. Ja es inspirierte die eigene Sicht der Verhältnisse, wie die verschiedenen Wortanklänge zeigen. Auf diesem Hintergrund versteht sich dann auch Mi 6,9-15* am besten als ein in diesem Kontext neu formuliertes Schlußwort. Es sieht die in Mi 1,9 geschauten Schläge bereits im Gange und hat sich als Jahwes Ruf an „die Stadt" wohl direkt an das Jerusalemwort von 3,9-12 angeschlossen. Möglicherweise handelt es sich sogar um ein vom Propheten Uria formuliertes Wort.

III Zur Kontrolle bzw. als Gegenprobe zu dieser These einer jeremianischschafanidischen Micharezeption wenden wir uns abschließend der Erzählung von der assyrischen Bedrohung und Befreiung Jerusalems in I I Reg 18-19 zu. Sie beginnt in 18,9-10 mit dem tragischen Ausgang der assyrischen Bedrohung Samarias und berichtet in V. 13 von der analogen Bedrohung Judas neun Jahre später 46 . Unter Aufnahme eines Berichtausschnitts aus anderem Zusammenhang 47 wird in 18,14-16 eine, allerdings nur vorläufige Abwendung dieser Bedrohung erzählt: Hiskija verpflichtet sich zur Tributleistung. Dann aber erfolgt nach 18,17 ff. die Belagerung Jerusalems trotz Hiskijas Unterwerfung. Damit wird erzählerisch gerade 44 45

Vgl. bes. Mi 6,11-12 mit Jer 5,27. So auch W O L F F 1 9 8 2 , 1 6 4 ; vgl. dort zu weiteren Bezügen auf die spät-vorexilische

Zeit. | 46 Beachte den gleichen Satzbau in den V. 9 und 13 sowie die Homogenität des Datierungsstils im Kontrast zu 18,10aß; zur Begründung vgl. ausführlich H A R D M E I E R 1990a, 95-108. 47 Vgl. H A R D M E I E R 1990a, 108-117 und 154-156, sowie DERS. 1990c, bes. 180-184.

[185/186]

II. Die Propheten

Micha

undJesaja

285

der konstitutive Bogen des gänzlich Unerwarteten und Unerhörten dramatisch gespannt 48 . Die sich anschließende Kernszene in 18,17-19,7, die in und um Jerusalem spielt, bildet mit den beiden Rabschakereden in 18,19-37 und der Befragung Jesajas in 19,1-7 die breit angelegte Erzählmitte 49 . Das Geschehen wird in hochgradiger Detaillierung zur Klimax im Jesajaorakel von 19,6-7 hingeführt. Jesaja kündigt den Abzug des Königs von Assur aufgrund eines Gerüchts an. In zwei kurzen Abschlußszenen wird dieses Orakel dann bestätigt. Das assyrische Heer mit Rabschake rückt von Jerusalem ab. Denn Sanherib hat vom Entlastungsvorstoß Tirhakas gehört und stellt sich dem pharaonischen Heer bei Libna zum Kampf (19,8.9a). In lakonischer Kürze berichtet dann 19,36-37 die angesagte Rückkehr Sanheribs in sein Land und seine Ermordung 5 0 . So kommt der dramatische Erzählbogen zu seinem lösenden Abschluß 5 1 . Diese thematisch wie stilistisch geschlossene Erzählung bildet bekanntlich eine unlösbare Einheit von historisch zutreffender Erinnerung und geschichtlicher Fiktion. Insbesondere die historische Abfolge der assyrischen Belagerung und Hiskijas U n t e r w e r f u n g wird erzählerisch genau umgedreht 5 2 . Dies fordert die Frage nach dem historischen Nährboden für diese Geschichtsfiktion heraus. Aus welcher Problem- und Erfahrungsperspektive heraus ist sie entstanden? Der situative Schlüssel liegt in der Belagerungspause von 588. Der babylonische Aggressor aus dem Zweistromland steht, wie damals die Assyrer, vor Jerusalem. Die Städte Judas sind, wie in 18,13 erwähnt, bereits eingenommen. Und dabei ist diese bedrohliche Situation eingetreten, obschon Zidkija sich doch nach der ersten Eroberung Jerusalems um 597 Nebukadnezzar als Vasall unterworfen hatte, wie damals Hiskija nach 18,14-16. 48

Vgl. dazu oben Anm. 19 und HARDMEIER 1990a, 142-145. Beachte auch hier die temporale Marke in 19,1 zur Gliederung in Teilszenen; zur sprachphänomenologischen Erschließung der gesamten Gliederung vgl. HARDMEIER 1990a, 126-141. 50 Zur narrativen Nachinterpretation in II Reg 19,9b-35 vgl. HARDMEIER 1990a, 157159. 51 Der anfangs in 18,14 thematisierte Wunsch Hiskijas: swb m'ly wird - wie im Jesajaorakel angekündigt - Wirklichkeit: wysb snhryb mlk 'swr (19,36) und die anfängliche Bedrohung - 'lh snhryb mlk 'swr 7 kl 'ry yhwdh (18,13; vgl. V. 9) die in 18,17 ff. durch die Belagerung Jerusalems dramatisch gesteigert wird, ist abgewendet. Zur Leitwortfunktion von swb und zur szenischen Gliederung insgesamt, vgl. HARDMEIER 1990a, 142-145 und 154-156. | 52 Ferner können weder Tirhakas Vorstoß noch die Ermordung Sanheribs historisch mit der Assurkrise von 701 in Verbindung gebracht werden, und auch Samaria wurde nicht neun, sondern 21 Jahre früher eingenommen. Vgl. zu diesen oft dargestellten Widersprüchen zuletzt LIWAK 1986 und HARDMEIER 1990a, 8-17, und 162-169; zum Datierungsproblem in 18,13 vgl. S. 297. 49

286

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

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Noch präziser im situationsfiktiven Detail wird das erzählte Jesajaorakel. Der von Jesaja in der Erzählung angekündigte Truppenabzug der Assyrer auf ein Gerücht, eine smw'h hin (19,7), ist in der Belagerungspause von 588 bereits hoffnungsvolle, wenn auch nur vorübergehende Wirklichkeit. Nach Jer 37,5 ist auch das babylonische Heer tatsächlich auf ein sm', ein Gerücht hin von Jerusalem abgerückt, weil der Pharao zu einem Entlastungsfeldzug aus Ägypten ausgerückt sei. Eben dieses wird als erste Teilerfüllung des Jesajaorakels in II Reg 19,8-9 von Tirhaka erzählt. Die narrativ entfaltete Lehre aus der Geschichte ist durchsichtig. Wie um 701 ist der Abzug der Babylonier auch um 588 der hoffnungsvolle Anfang vom rettenden Ende. Schließlich läßt sich auch die Trägergruppe der Erzählung genau in der Beamtenfraktion lokalisieren, die Jeremia als Defätisten verdächtigt und brutal verfolgt hat. Das zeigt sich an der zweiten narrativen Botschaft in II Reg 18-19. Der Aufruf zur Furchtlosigkeit im Jesajaorakel in 19,6 will Hiskija merkwürdigerweise nicht etwa die Angst vor der militärischen Bedrohung nehmen, sondern die Furcht vor den gotteslästerlichen Worten der Assyrer vor Jerusalem (n 'ry mlk 'swr). Und diese agitatorischen Propagandaworte werden j a in den beiden Rabschakereden von II Reg 18 auch noch in ihrer ganzen Verwerflichkeit minutiös ausgebreitet. Eine Analyse im Detail deckt dabei überraschende Zusammenhänge auf 5 3 . Zum einen wird in diesen Reden die joschijanische | Kultreform lächerlich gemacht (18,22) und der Glaube an die unbedingte Rettung Jerusalems durch Jahwe erbarmungslos zerpflückt (18,30.32b-35). Zum andern aber sind in diese Reden die Stellungnahmen Ezechiels und Jermias gegen Zidkijas Aufstand von 589 - bis in den Wortlaut hinein identifizierbar eingekleidet. Erstens führt Rabschake in 18,20-21.23-24 das Vertrauen auf Ägypten als Botenwort des Großkönigs von Assur ad absurdum, wie es Ezechiel nach Ez 17,15 sowie nach 29,6b.7 im gleichen Bild vom einknikkenden Rohrstab in Frage gestellt hat. Zweitens zieht 18,3 lb.32a - wiederum als Botenwort des Königs von Assur stilisiert - die Empfehlungen Jeremias zur Kapitulation ins Lächerliche, wie sie in Jer 38,2.17-18 überliefert sind. Und drittens warnt 18,30 vor der Selbsttäuschung, daß Jerusalem gerettet und „diese Stadt nicht in die Hand des Königs von Assur ausgeliefert werde", wie es Jeremia nach Jer 37,9 getan und nach 38,3 wörtlich angekündigt hatte 54 . Genau wegen diesen wehrkraftzersetzenden Botschaften an das Volk von Jerusalem (vgl. Jer 38,2-3) hatte aber die Beamtenfraktion um Juchal nach Jer 38,1-6 das Todesurteil gegen Jeremia ge-

53

Für alle Details und Einzelbegründungen vgl. HARDMEIER 1990a, 321-408. | Zu weiteren Bezügen u.a. zwischen II Reg 18,25 und Jer 36,29 vgl. HARDMEIER 1990a, 346-352. 54

[187/188]

II. Die Propheten Micha und Jesaja

287

fordert 55 , jenes Urteil, vor dem die Schafaniden den Propheten mit der paradigmatischen Erzählung von Jer 26 zu bewahren versucht haben. Hinter der historischen Tendenzerzählung von II Reg 18-19 stehen demnach die innenpolitischen Todfeinde Jeremias, nämlich die Hardliner des Zidkija-Aufstands. Aus einem zionstheologischen Sicherheitsglauben heraus haben sie ihr Vertrauen auf ägyptische Hilfe gesetzt 56 , und Jesaja sowie die Befreiung Jerusalems um 701 sind ihre prophetischen und historischen Kronzeugen. Damit haben sie zugleich in einem unversöhnlichen Gegensatz zur babylonfreundlichen Politik der Schafaniden gestanden. Durch ihre Tendenzerzählung soll sich Zidkija an der Glaubensprobe Hiskijas um 701 ein Beispiel nehmen. Er soll dem geschichtlich beglaubigten Jesajaorakel trauen, daß der Aggressor aus dem Zweistromland wie um 701 endgültig abgezogen sei 57 . Dies aber ist die direkte Gegenbotschaft zu Jeremias Jahwebe|scheid in der Belagerungspause von 588, daß nämlich das babylonische Heer zurückkehren und die Stadt einnehmen wird (vgl. Jer 37,7b-9). Zugleich hat diese Beamtenfraktion in der Negativgestalt des Rabschake die prophetisch-politische Skepsis Ezechiels und Jeremias als babylongesteuerte Agitation denunziert, von der sich Zidkija - wie schon H i s k i j a - keinesfalls beeindrucken lassen soll. Die rezeptionsgeschichtlichen Konsequenzen aus diesem Befund lassen sich in den folgenden fünf Thesen zusammenfassen. 1. Die Jesaja-Überlieferung wurde in nachjoschijanischer Zeit offenbar von heilsprophetisch inspirierten Kreisen angeeignet, die mit der antibabylonischen Beamtenfraktion und ihrem zionstheologischen Sicherheitsglauben voll übereinstimmten. Ihnen ist Jesaja zum Propheten der Befreiung vom Joch der mesopotamischen Großmacht geworden. Diese Transformation des Jesaja-Bildes wurzelt in der von H. Barth herausgearbeiteten AssurRedaktion in frühjoschijanischer Zeit 58 . 2. Das DtrG. kann - entgegen allen Blocktheorien 5 9 - als Gesamtwerk erst nach 587 entstanden sein oder es müßte als spätvorexilisches Werk seinen Abschluß bereits in II Reg 17 gefunden haben. Denn der Quellentext von II

55 Zur Sonderstellung von Jer 38,1-6 vgl. HARDMEIER 1990a, 244-247, und 387-392; zum auffälligen Selbstportrait dieser Beamten in II Reg 18-19 vgl. S. 303-306 und 414419. 56 Vgl. dazu Thr 4,12.17 und zum ganzen HARDMEIER 1990a, 419 ff. 57 Zu den Detailbezügen auch im erzählerischen Aufbau zwischen Jer 37,3-9 und II Reg 19,1-7 vgl. HARDMEIER 1990a, 307-311. | 58 Vgl. BARTH, 1977 und zum Rückgriff auf das Jesajabuch in II Reg 18-19 HARDMEIER 1990a, 437-449. 59

1989.

V g l . d a z u z u l e t z t NELSON

1 9 8 1 , PROVAN

1988 und dazu kritisch jetzt

ALBERTZ

288

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

[188/189]

Reg 18-19, der in den dtr. Königsrahmen eingearbeitet wurde 6 0 , ist selbst erst im letzten Jahr vor der Katastrophe entstanden. 3. Daß das DtrG. nur von Jesaja redet, von allen anderen Schriftpropheten jedoch schweigt, geht auf den unversöhnlichen politisch-theologischen Gegensatz im Jerusalem der Zidkijazeit zurück. Dementsprechend muß für die frühexilische Zeit mit einer tiefen Spaltung des Deuteronomismus in Juda gerechnet werden. 4. Auf der einen Seite stehen schafanidische Kreise, die das Verwaltungsexperiment Gedaljas mitgetragen und Jeremia als prophetische Autorität in den Jahren nach dem Untergang anerkannt haben 61 . In ihren Händen lag die Weiterüberlieferung und Neuinterpretation der vorexilischen radikalen Unheilsprophetie, insbesondere die dtr. Redaktion des Jeremiabuches und der „Kleinen Propheten". Die Zerstörung der dtn. Sozialcharta wurde ihnen zum mahnenden Erklärungsmodell für die Katastrophe von 587 und die Unheilspropheten zu Predigern der Umkehr und des sozialethischen Thoragehorsams. Das Jesajabuch, das auch keine entsprechende dtr. Redaktion erfahren hat 62 , gehörte aus den genannten Gründen nicht zum Kanon der von diesen Kreisen rezipierten Unheilsprophetie. 5. Auf der anderen Seite stehen Kreise, die die Geschichtskonzeption des DtrG. entwickelt haben. Sie haben die Katastrophe ausschließlich auf die vernachläßigte Kultobservanz der Könige von Israel und Juda im Sinne der joschijanischen Reform zurückgeführt und sehen in der Begnadigung Jojachins ein neues Hoffnungszeichen. Vielleicht sind sie im Umfeld des Gedalja-Mörders Jischmael zu lokalisieren, die an eine Wiedererrichtung der davidischen Dynastie dachten mit Hiskija und Joschija als Vorbilder 6 3 . Ihr Festhalten an der Erzählung von II Reg 18-19, die durch 19,9b-35 zum Erhörungswunder von Hiskijas Gebet uminterpretiert wurde, dokumentiert ihre geistige Nähe zu den historischen Erzfeinden Jeremias und der Schafaniden. Dieser Gegensatz hält sich auch sachlich in ihrem Geschichtswerk durch. Denn es verschweigt Jeremia und die radikalen Unheilspropheten mit Absicht, ja es kritisiert sogar Arnos in II Reg 14,27 64 . Und als Lehre aus der Geschichte ist es - ganz im Gegensatz zu den Tradenten der Unheilsprophetie - weder an den tiefen sozialen Krisen des 8.Jh.s und der

60

Vgl. dazu HARDMEIER 1990a, 95-117. Insbesondere begründet die Erzählung von der Gefangenschaft und Befreiung Jeremias in Jer 37,3-40,6 diese Autorität und legitimiert den Neuanfang Gedaljas; vgl. dazu HARDMEIER 1990a, 174-224, bes. 214 ff. | 61

62

V g l . z u r K r i t i k d e r e n t s p r e c h e n d e n H y p o t h e s e n v o n O . KAISER u n d J. VERMEYLEN

neben HARDMEIER 1986b, 17-19, jüngst BREKELMANS 1989, sowie PERLITT 1989. 63 Vgl. zur Gesamttendenz des DtrG. jetzt vor allem den Beitrag von ALBERTZ 1989, der die hier gewonnen Erkenntnisse und Thesen komplementär weitgehend bestätigt. 64

V g l . CRÜSEMANN 1 9 7 1 .

[189]

11. Die Propheten Micha und Jesaja

289

nachjoschijanischen Zeit noch an den Sozialgesetzen des Dtn. auch nur im entferntesten interessiert, wobei Jesaja rein heilsprophetisch gelesen wurde. Die Spuren dieses innerdtr. Gegensatzes werden auch in den übrigen Bereichen alttestamentlicher Überlieferung aufzusuchen und weiter zu prüfen sein. |

12. „Geschwiegen habe ich seit langem ... wie die Gebärende schreie ich jetzt" Zur Komposition und Geschichtstheologie von Jes 42,14-44,23* (1989)

„Geschwiegen habe ich seit langem, bin stumm geblieben immer wieder, habe an mich gehalten. Wie die Gebärende schreie ich (jetzt), atme schwer und schnappe (nach Luft) in einem" 1 . Mit dieser Kundgabe in Jes 42,14 schafft sich Jahwe, der Gott Israels, Luft. Jetzt mündet seine Schwangerschaft des Schweigens ein in die Schwerarbeit einer nicht ganz einfachen Geburt. Der Gott, von dem wir uns kein Bild machen sollen, der selbst weder Herrgott noch Frau Göttin ist, er kann sich uns dennoch nicht anders als in sprachlichen Bildern und Gleichnissen mitteilen - so auch hier im Vergleich mit den Preßwehen einer werdenden Mutter. Dieses Bild ist jedoch nicht „nur" ein Bild. Es knüpft an Elementarerfahrungen von Frauen an, die sich Männer nur vom Hörensagen oder vom Beistehen bei einer Geburt her vorstellen können. Als Mann bin ich von einem umfassenden Verständnis dieses Bildes ausgeschlossen und damit auf meine geschöpflich begrenzte Perspektive verwiesen - auch im Verstehen und in der Auslegung der Bibel 2 . Ohne das Problem einer geschlechtsspezifischen Textauslegung hier weiter zu verfolgen, wollen | wir dieses starke Bild von Jahwes Gebärarbeit als Fanfare am Anfang der Teilkomposition weiter im Auge behalten. Inwiefern ist nun aber von einer Kompositionseinheit und ihrer geschichtstheologischen Relevanz zu sprechen? Jes 42,14-44,23 gehört zu jenem Teil des Jesajabuches, der von Kapitel 40-55 größtenteils einem Leicht veränderte und durch Anmerkungen ergänzte Fassung meiner Antrittsvorlesung vom 2 1 . 6 . 1988 an der Kirchlichen Hochschule Bethel. 1 Die beiden PK-Formen (Impf.) in V. 14a sind als Iterative zu verstehen, die die wiederholte Zurückhaltung Jahwes zum Ausdruck bringen. Die Ergänzung von , j e t z t " in 14b unterstreicht den Kontrast, der durch den invertierten Verbalsatz in b a angezeigt wird. Zum elliptischen Gebrauch von rrn IN®, „nach Luft schnappen" in V. 14 vgl. Jer 2,24; 1 4 , 6 u n d ELLIGER 1 9 7 8 , 2 6 1 . 2

Diese hermeneutische Sichtbegrenzung erinnert daran, daß Gott uns Menschen als Mann und als Frau nach seinem Bilde geschaffen hat, als Menschen, die bleibend - auch in der Bibelauslegung - aufeinander angewiesen sind. Zu diesen Anspielungen auf Gen 1,27 und 2,18-23 vgl. CRÜSEMANN 1978, 57-60. So sind denn auch manche Früchte dieses Beitrags aus einem gemeinsam mit Frau M. Frettlöh veranstalteten Proseminar zu Deuterojesaja und aus dem Gespräch mit meiner Frau erwachsen.

292

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

[156/157]

anonymen Propheten mit dem Kunstnamen Deuterojesaja oder einer Gruppe von Propheten in der Exilszeit zugeschrieben wird 3 . Alle diese Texte setzen den Untergang des Staates Juda und Jerusalems um 587 voraus. In Jes 44,28 und 45,1 wird der Perserkönig Kyros (559-530) namentlich genannt, und Kap. 47 kündigt den Fall der Hauptstadt des babylonischen Großreiches an, die im Jahre 539 von Kyros - nach Ausweis des Kyroszylinders - kampflos genommen wurde 4 . Ja, der ganze Kernbestand der deuterojesajanischen Botschaft knüpft an Kyros die hohe Erwartung, daß sein Sieg über Babel die Befreiung Israels vom babylonischen Joch bringen 5 und daß er die Heimkehr der Verstreuten nach Juda sowie den Wiederaufbau Jerusalems möglich machen wird 6 . Deshalb geht die Forschung fast einhellig von der Annahme aus, dass | diese Texte auf eine prophetische Heilsverkündigung noch vor dem Ende des babylonischen Großreiches zurückgehen 7 . Sehr viel umstrittener ist jedoch die Frage nach Umfang und Gestalt der literarischen Hinterlassenschaft des unbekannten Heilspropheten. Neuere Tendenzen der Forschung sind bestrebt, diesen Kernbestand im Extremfall bis auf einen Rest von Kyrostexten zu reduzieren und die Einheit Deute rojesajas in einen mehrschichtigen Prozeß der redaktionellen Fortschreibung aufzulösen 8 . Es scheint mir allerdings viel fruchtbarer, jener anderen Forschungslinie zu folgen, die primär den vielfältigen und eigentlich sehr 3

Zum

Problem

des Verfasserkreises

vgl.

MICHEL

1975/76,

115-132.

Nachdem

HERMISSON die „individuelle" Deutung der Gottesknechtlieder auf die Person des unbekannten Propheten erneut mit guten Gründen verteidigt hat (1982, 5 ff.), liegt gegen MICHEL (vgl. 1975/6, 120 und 132) das Festhalten an einer Einzelperson als Verfasser näher. Das schließt nicht aus, daß „Deuterojesaja" im lebendigen Austausch mit einem Kreis formuliert hat, in welchem angesichts der z.T. stark weiblichen Metaphorik (vgl. neben 42,14 bes. 49,15, vgl. 45,10) auch Frauen eine maßgebliche Rolle gespielt haben können. GRUBER vermutet in dieser Metaphorik eine Rücksichtnahme auf israelitische Frauen, die sich möglicherweise im Exil von Göttinnenkulten angezogen fühlten (1983, 358). Die Zurückweisungen dieser These von SCHMITT 1985, 557-569 mit traditionsgeschichtlichen Argumenten löst die offene Frage jedoch ebensowenig. 4 Vgl. TUAT I, 408 f. Z. 17 und 24 sowie DONNER 1986, 392 f. In 46,1 f. ist ferner vom erwarteten Sturz der babylonischen Hauptgötter Bei und Nebu die Rede, die aber von Kyros im Rahmen seiner toleranten Religionspolitik weiter geachtet und verehrt wurden (vgl. dazu Z. 22 und 35 des Kyros-Zylinders). Weil sich diese Prophetie so nicht erfüllt hat, denkt man auch hier in der Regel an eine echte Prophetie vor 539. 5 Vgl. bes. Jes 45,1 f. und dazu 41,2 f.25; 42,6 f. (zum Bezug auf Kyros vgl. ELLIGER 1978, 228), ferner 45,13, auch 48,14 f. 6 Vgl. bes. Jes 44,28a (b ist vermutlich wie 26ba 2 Glosse, vgl. ELLIGER 1978, 454456) mit 26 und 45,13, ferner 49,17 sowie die einschlägigen Auszugs- und Heimkehrtexte in 48,20 f. ; 52,7-12 und 55,12. | 7 Vgl. zum ganzen zuletzt HERMISSON 1989, 301 ff., und oben Anm. 4. 8 Vgl. die bei HERMISSON 1989, 287 f. genannten Forscher und den Extremfall der A r b e i t v o n VERMEYLEN 1987, 188 f f .

[157/158]

12. „ Geschwiegen

habe ich seit

langem

293

deutlichen Signalen einer umfassenden literarischen Komposition auf der Spur ist 9 . In thematischer Hinsicht hat zuletzt H.-J. Hermisson ihre ganze Komplexität nachgezeichnet. Sie zielt auf die Selbstverherrlichung Jahwes als dem einen und einzigen Gott vor der ganzen Welt ab 10 . Als Schöpfer des Kosmos und als Herr der Geschichte befreit Jahwe sein Volk aus der babylonischen Gefangenschaft und führt es aus der Diaspora zum Zion zurück 11 . In Gestalt | eines neuen Exodus und der Führung durch die Wüste bereitet Jahwe die Heimkehr für sein Volk. In diesem Rettungshandeln tritt er seine Herrschaft als König auf dem Zion an, dem zuletzt auch die Völker zu seiner Verherrlichung huldigen 12 .

9 Vgl. dazu zuletzt HERMISSON, 1989, 288 f. Eher für eine kompositionelle Einheit spricht der sprachempirische Umstand, daß überzeugende sprachlich-stilistische Indizien weitgehend fehlen, die von sich aus zur Annahme von redaktionellen Überarbeitungen größeren Umfangs nötigen (vgl. a.a.O., 287 und 291 ff.). Gleiches gilt für thematische Sonderschwerpunkte. Mit Hermisson werden auf dieser einigermaßen verifizierbaren Basis zum einen nur die Götzenbilder-Polemiken als Nachinterpretationen zu beurteilen sein (vgl. a.a.O., 287 und 292 f. sowie dort zur Diskussion). Zum anderen hat Hermisson auf eine sog. n n p - S c h i c h t hingewiesen, die eine „verzögerte Naherwartung zur Voraussetzung (hat)" und deshalb die „Nähe des Heils und die (ethische) Umkehrmahnung" betont. Auch sie ist darum eher der Schülerschaft des Propheten zuzuschreiben (vgl. a.a.O., 294 f. und zum Umfang 311). - Vor allem in thematischer Hinsicht ist in der Forschung immer wieder eine Vielfalt von übergreifenden Zusammenhängen und Bezügen in Jes 40-55 aufgewiesen und benannt worden: vgl. z.B. PREUß 1976 und den thematischen

Ü b e r b l i c k b e i STUHLMUELLER 1980, 6 f.; z u m g a n z e n v g l . HERMISSON 1 9 8 9 , 2 8 9 f. u n d

303 f. sowie die Skizze 308. 10

Vgl. Jes 40,5; 52,10 und 55,5 (sowie 44,23 und 52,1) und dazu HERMISSON 1989,

303 f. 11

Vgl. dazu und zur folgenden Anmerkung den tabellarischen Überblick bei STUHLMUELLER 1980, 6 f. Als weltmächtiger Schöpfer wird Jahwe besonders in Jes 40,12-26 dialogisch eingeführt (vgl. die Rekurse in 42,5; 44,24b; 45,12.18; 48,13; 51,13.16). | Als „Herr der Geschichte" beweist er sich vor allem vor dem Forum der Völker in 41,1-5 und vor den andern Göttern in 41,21-29 (vgl. ferner 42,8-9; 43,8-13.14.18-19; 44,6-8.26-28; 45,1-7.13.20-25; 46,8-13; 48,1-11.12-18). Die Befreiung aus der Diaspora ist das besondere Thema in Jes 43,1-7 (vgl. 49,9.12). Die Rückführung zum Zion klingt erstmals in 44,26 an (vgl. die „Vorboten" in 40,9-11 und 41,27) und bekommt ihr Schwergewicht in 49,14-18; 51,9-16.17-23 und 52,1-6.7-12. 12

Die angekündigte Heimbringung wird am deutlichsten als neuer Exodus stilisiert in 43,16-21; 51,9-11; 52,11 f. und 55,12 f. (vgl. 42,15 f.; 44,27; 50,2), während in 40,35.11; 41,17-20 (vgl. 42,16); 43,2 (vgl. 19 f.); 48,20 f.; 49,8-12 (vgl. 55,12 f.) der Akzent stärker auf der bewahrenden Führung durch die Wüste liegt. Jahwes Antritt seiner Königsherrschaft in diesem Befreiungsgeschehen geht besonders aus der Klammer von 40,9-11 und 52,7-10 hervor und klingt in 41,21; 43,14 f. und 44,6 an. Der Zielaspekt universaler Huldigung wird bereits in 40,5 greifbar und zeigt sich besonders in den eschatologischen Jubelrufen in 42,10-12; 44,23 (vgl. 45,8 und V. 6) und 49,13 sowie in 52,10; 55,4 f. und 12 f. (vgl. dazu auch die Hinweise in den Gottesknechtliedern in 42,4; und 49,6 [ferner 52,15]). - Wie diese Themen im weiteren literaturgeschichtlichen

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Kapitel IV: Diskurspragmatik in Prophetie und Psalter

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Diese theologische Konzeption ist für den exilischen Heilspropheten jedoch nicht ein dogmatisches Glasperlenspiel. Sie korrespondiert als Perspektive mit einem realgeschichtlichen Geschehen, das sich in der historisch-politischen Erfahrungswelt des deportierten Gottesvolkes sichtlich abzeichnet und unlösbar in diese Welt eingebunden ist. Kyros ist es, der Jahwes Heilswillen der Erlösung Israels verwirklicht (vgl. 44,28). Er - von Jahwe selbst erweckt und als sein Messias bezeichnet - wird die Gottesstadt aufbauen und das verschleppte Gottesvolk freilassen (vgl. 45,13), indem er Babylon zu Fall bringt (vgl. 48,14 f.)13. Auf der andern Seite will sich Jahwe sein eigenes Volk neu als Zeuge dafür erschaffen, daß er sich in dieser historisch-politischen Wende vor aller Welt als Erlöser Israels manifestiert zu seiner eigenen Verherrlichung. Sein | Volk soll als Gottesknecht zum Zeugen vor den Völkern werden 14 . Ja, in den sog. „eschatologischen Jubelrufen", die das ganze Buch gliedern, wird diese endzeitliche Verherrlichung Jahwes durch die ganze Welt wie ein cantus firmus schon jetzt angestimmt (44,23) 15 : (23) Jauchzet ihr Himmel, ja getan hat es Jahwe. Frohlocket ihr Fundamente der Erde! Brecht aus in Jubel ihr Berge, du Wald und alle Bäume darin! Ja befreit hat Jahwe Jakob, und an Israel wird er sich verherrlichen.

Zuvor aber hat Jahwe den Propheten selbst zum Knecht und zum Frohbotschafter für sein Volk bestellt, um ihm allererst die Augen zu öffnen für seinen universalen Zeugendienst 16 . Eingeweiht in die Ratsversammlung

Werdeprozeß des Jesajabuches aufgenommen bzw. verändert werden, zeigt STECK 1985, 69 ff. (vgl. 40 f.). Mit ELLIGER 1978, 228 ist auch 42,6 f. zu den Kyrostexten zu rechnen. 13 Zur theologisch qualifizierten Rolle des Kyros vgl. auch Jes 41,2-4.25 (vgl. 40,23); 43,14; 45,1 ff. und 46,11 sowie dazu JENNI 1954, 241-256 und KOCH 1972, 352-356. | 14 Vgl. Jes 55,5. Zur Rolle Israels als Gottesknecht und Zeuge des neuen Heils vgl. bes. Jes 48,20; vgl. ferner 41,8 ff.; 44,1 ff.21 f. und 45,4 zur Bezeichnung Israels als Gottesknecht, die „von ihrem Kontext her der Schutz- und Hilfsfunktion des Herrn", d.h. Jahwes zuzuordnen ist (HERMISSON 1982, 13). Nach 43,7 und 21 schafft sich Jahwe sein Volk neu zu seiner Ehre und will es nach 43,10.12 als Zeuge seines Heils gewinnen. „Die Rolle des Gottesknechtes ist es, sich von Jahwe erlösen zu lassen und daraufhin das Lob Jahwes anzustimmen." (vgl. a.a.O., 14). Die Selbstverherrlichung Jahwes in der Befreiung seines Volkes geht aus 44,23 hervor. 15 Vgl. Jes 42,10-13; 44,23; 48,20 f.; 49,13 und 52,9-10. WESTERMANN 1964a, 74 ff. rechnet auch 45,8 und mit Fragezeichen 51,3 dazu. Zur gliedernden Funktion vgl. a.a.O. 78-80 und MELUGIN 1976, 81 f. sowie PLAMONDON 1982, 241-243 mit jeweils unterschiedlichen Akzenten. 16 Vgl. bes. Jes 49,5 f. und die Vergeblichkeitshinweise in V. 4 sowie 50,4-6. Zum Israel- und Völkerauftrag des Gottesknechtes in den Gottesknechtliedern 42,1-4; 49,1-6

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des himmlischen Hofstaates, vernimmt der Prophet im Buchanfang Kap. 40 als erster Jahwes Entschluß, sein Volk zu trösten (40,1 f.) und ihm den Weg zur Heimkehr in der Wüste zu bahnen (V. 3-5), aber auch den Auftrag an die Freudenbotin Zion, die den machtvollen Einzug Jahwes und den Antritt seiner Königsherrschaft zu verkünden hat (V. 9-11; vgl. dazu 52,7) 17 . Und | erneut in einer himmlischen Szene (41,21-29) wird der Prophet Zeuge eines Rechtsstreits Jahwes mit den Göttern. Darin wird Jahwes einzigartige Göttlichkeit erwiesen 18 . Im Gegensatz zu den stummen und sprachlosen Göttern hat er nicht nur das Frühere, das gekommen ist, angekündigt, sondern auch das Kommende, nämlich den heilschaffenden Aufbruch des Kyros (V. 25). Und diesen Aufbruch, der von niemandem zuvor angekündigt worden ist (V. 26), will Jahwe jetzt zuerst Zion kundtun und Jerusalem dafür einen Freudenboten geben (V. 27) 19 , der dann im folgenden Abschnitt (42,1-4) innerhalb der Götterversammlung als Gottesknecht präsentiert wird 20 . So ergeben sich drei konzentrische Kreise von Empfangern bzw. Vermittlern von Jahwes Rettungs- und Trostbotschaft, die für Deuterojesaja in den Kyroserfolgen gegen das babylonische Großreich als Handeln Jahwes u n d 5 0 , 4 - 9 v g l . HERMISSON

1 9 8 1 , 2 7 1 - 2 7 4 u n d 2 7 6 - 2 7 9 , f e r n e r DERS., 1 9 8 2 , 3 - 1 1

und

16 f f . u n d STECK 1 9 8 4 , 3 7 8 - 3 8 2 . 17

Zum Prolog und seiner Funktion für die deuterojesajanische Gesamtkomposition vgl. PREUß 1976, 32-42 und MELUGIN 1976, 82-86. Die literarkritische Zergliederung des Prologs bei LORETZ 1984, 210-220 vermag nicht zu überzeugen. | 18 Wie in 40,1 wird auch 41,21 mit m r r nDX' bzw. n p » ' f^D IDK' die folgende Gerichtsrede auf die zweite Ebene der Kommunikation gehoben (vgl. noch 40,25 sowie zu diesem Gliederungsprinzip HARDMEIER 1985, 64 f.). Die Leser bzw. Hörer des Textes nehmen damit wie in 40,1-11 an einer nur vermittelten Jahwe-Rede teil, deren Gegenüber die Götter sind (vgl. bes. V. 23). Wie in 40,1-11 wird auch hier mit den Formen der 1.pers.pl. in 21-26 das Kollektiv einer Ratsversammlung vorausgesetzt, aus dem Jahwe dann in 27 f. als einzelner hervortritt. Für das anschließende erste Gottesknechtlied in 42,1-4 nimmt ELLIGER 1978, 200 ohnehin zu Recht an, daß der Gottesknecht „dem himmlischen Rat präsentiert" wird (vgl. auch STECK 1984, 372), so daß sich 42,1 ff. szenisch glatt an 41,21-27 anschließt und die Aussage von V. 27 konkretisiert, bzw. das vernichtende Urteil gegen die Götter ( DIVDOJ inm n n 29b) vor dem gleichen Forum in 42,1 mit der Geistbegabung ( ' n n ' n m ) des Knechtes kontrastiert. 19 Für den textkritisch schwierigen Vers 27a mit dem unverständlichen DJn njn (vgl. ELLIGER 1978, 174 f.) ist zu erwägen, ob man nicht DJ als pt.m.sg. der allerdings nur mittelhebräisch belegten Wurzel a u (vgl. ELLIGER a.a.O.) liest, dem ein ' j j n voranzustellen ist: „Als erster zu Zion - siehe ,spreche' ich, und für Jerusalem - einen Freudenboten will ich geben." Damit käme man mit einem Minimum an Änderungen des Konsonantentextes aus (Verhörung von hinneni nam in hinneh hinnam) und könnte den Ankündigungscharakter von 27b auch in 27a festhalten. 20 Vor dem Forum der Götter der Völker erhält der Gottesknecht folgerichtig auch seinen universalen Völkerauftrag, obwohl er zunächst und zuerst an Israel gewiesen wird (41,27), wie dann auch aus Jes 49,5 f. hervorgeht (vgl. dazu auch oben Anm. 16).

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zu seiner Verherrlichung Gestalt anzunehmen beginnt 2 1 . Als erster erfahrt es | der Prophet - eingeweiht in die himmlische Ratsversammlung. Als Gottesknecht wird er zum Vermittler zuerst f ü r Israel, dann für die Völker. Israel als zweiter E m p f a n g e r der Heilsbotschaft soll seinerseits als Gottesknecht bzw. als Frohbotschafterin Zion Zeuge und Zeugin werden f ü r den dritten, weltweiten E m p f ä n g e r der Botschaft von Jahwes universaler und einzigartiger Gottesherrschaft, nämlich für die ganze Völkerwelt 22 23 . | 21

Dabei handelt es sich nicht um eine theologische und damit ideologisch-legitimierende Überhöhung der Kyroserfolge. Kyros bleibt in der Linie von Jes 10,5 ff. ein kontingentes, zeitgebundenes Heilswerkzeug (vgl. 41,2 f.; 44,28; 45,1 ff.; 46,11) und damit Mittel zum Zweck auf dem Weg Jahwes zu seiner Königsherrschaft (vgl. 43,14 f.), die alle irdische Herrschaft relativiert (vgl. 40,23), j a in aktueller Zuspitzung | zur manifesten babylonischen Königsherrschaft in Konkurrenz tritt (vgl. dazu HERMISSON 1989, 305 f.). Die Kyroserfolge kann Deuterojesaja nur deshalb als Jahwe gewirktes Heilshandeln in Betracht ziehen, weil sie den Verschleppten und Geknechteten Befreiung bringen (vgl. bes. 45,13) und das babylonische Joch zerbrechen (vgl. 46,10 f. und Kap. 47), was sich auch auf die anderen Völker befreiend auswirkt (vgl. bes. 42,6 f. [zum Bezug auf Kyros oben Anm. 12], ferner 42,10-13 und 45,14 [vgl. 49,22 f.] und zu diesen „heiklen" Stellen die folgende Anm. 22). Realgeschichtlich bringen die Kyroserfolge auch ihnen Befreiung (eine Sicht allerdings, die etwa das antike Griechenland in der Zeit der Perserkriege sicher nicht teilen konnte). Das Entscheidende in dieser Geschichtstheologie ist jedoch die korrelative Verknüpfung von theologischer Artikulation und zeitgeschichtlicher Erfahrung: Als solche sind die Kyroserfolge nichtssagend bzw. vieldeutig wie alle geschichtlichen Ereignisse. Erst darin und dadurch, daß Deuterojesaja dieses Geschehen als Jahwes neues Heils- und Befreiungshandeln in den Symbolen altisraelitischer Glaubenstraditionen zur Sprache bringt, kann für seine Leser bzw. Zuhörer eine geschichtlich konkrete Heilsperspektive begreifbar werden, die an Stelle eines resignativen Identitätsverlustes in der Diaspora neue Rückkehrhoffnungen zu begründen vermag. Doch bindet diese Perspektive solche Hoffnungen gerade nicht an eine irdische Macht, Institution oder Herrschergestalt als neue Heilsbringer, sondern in erster Linie an Jahwe und seine alle Macht relativierende Königsherrschaft, was vor Illusionen durch de facto Verabsolutierungen irdischer Werte und Größen bewahrt. Die konstitutive kritische Differenz zwischen historisch-politischem Geschehen und seiner Artikulation bzw. Qualifizierung als Handeln Gottes bleibt gewahrt. 22 Jes 45,14 (vgl. 49,22 f.) und 43,3 f. haben aber nicht eine künftige politische Unterwerfung der genannten Völker unter Israel im Auge, sondern ihre huldigende „Unterw e r f u n g " unter die universale Königsherrschaft Jahwes. Sein erwählter, jetzt aber geschundener und zerschlagener „Knecht" Israel wird in der gegebenen Situation und relativ, aber eben nicht absolut und fraglos für immer bevorzugt (dementsprechend ist in 43,4 als komparativischer Relativsatz zu übersetzen: „Ägypten ... Kusch und Saba ..., gegenüber denen du kostbarer bist in meinen Augen"); zum Gegenstück zu dieser Erwählungszusage, die in 44,1 ff. explizit wird, vgl. z.B. A m 3,2 und in der Sache Ez 33,23-29. 23 Diese Konzentrik entspricht „Deuterojesajas eschatologische(m) Grundmodell", das HERMISSON 1982, 20 herausgearbeitet hat: „Durch die überwältigende Wahrnehmung von Israels Heil kommen die Völker zum Heil, und so muß Israels Aktivierung, seine Hinwendung zu Jahwe, seine Versammlung um den rettenden Gott dem weltweiten Heil

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Allerdings ist die hier nur grob skizzierte thematische Konzeption in einer Darstellungslogik entfaltet, die unseren Hör- und Lesegewohnheiten ganz und gar nicht entspricht. Mehrfache Wiederholungen in thematischer wie gattungsstilistischer Hinsicht wirken befremdlich 2 4 . Doch schwindet dieses Befremden, wenn man die Gesamtkonzeption der deuterojesajanischen Überlieferung auch unter rhetorischen Gesichtspunkten betrachtet. Mit jedem Text, selbst mit Erzählungen oder Berichten, werden kommunikative Ziele verfolgt. Die Adressaten sollen z.B. überzeugt, belehrt, belustigt oder überführt werden. Unsere Sprache verfügt über einen reichen Schatz von verba dicendi, die anzeigen, was wir mittels Texten im Reden oder Schreiben bewirken wollen und - wenn es gut geht - auch können. Wer auch nur flüchtig im deuterojesajanischen Schriftgut blättert, stößt alsbald auf einen hoch rhetorischen Anrede-, wenn nicht gar Überredungsstil mit vielen rhetorischen Fragen, mit Aufrufen und mit in wörtlicher Rede aufgeführten Dialogen. Dieser augenfällige Sachverhalt muß allerdings ernster genommen werden, als es in der bisherigen Forschung bis auf wenige Ausnahmen der Fall war 25 . Mit der Logik der Sachverhaltsentfaltung auf der thematischen Ebene verbindet sich nämlich immer und unlösbar die Logik des zielgerichteten sprachlichen Handelns, das auf den Adressaten einzuwirken sucht. Daß z.B. dort, wo nicht gehört werden will oder kann, Dinge vielleicht zweioder dreimal gesagt werden müssen - jeweils in anderen Worten, leuchtet unmittelbar ein. Will bzw. muß die deuterojesajanische Rede solche Widerstände überwinden? Erklärt sich von daher der redundante Sprachstil? Die Schwerarbeit etwa, die Jahwe in seiner Selbstkundgabe wie eine gebärende Mutter in Wehen tut, ist dieser Vermutung günstig. Ist nicht die deuterojesajanische Textkomposition mit ihren zahlreichen Gottesreden im Anredestil selbst der unmittelbare und direkte Ausdruck einer mühevollen Überzeugungsarbeit, die sich in, mit und durch diese Texte vollzieht und wesentlich deren Komposition bestimmt? |

vorangehen." Vgl. auch DERS. 1981, 277: „Jahwe will sich durch den Knecht (49,3) an Israel (44,23) vor aller Welt verherrlichen - das ist in Kürze das Modell deuterojesajanischer Zukunftserwartung." (vgl. auch DERS. 1989, 307). 24 Vgl. z.B. die wiederholten Heilsorakel in Jes 41,8 ff.; 43,1 ff. und 44,1 ff. Gemeinhin wird hinter der deuterojesajanischen Überlieferung eine mündliche Verkündigung von Einzelorakeln vermutet. Deshalb ist auch bei Forschern, die das konzeptionelle Ganze im Auge haben, eine zurückhaltende Auffassung über dieses Ganze die Regel. Vorsichtigerweise spricht man lieber von einer Reihe von Wortsammlungen, die in sich einigermaßen durchkomponiert sind, untereinander jedoch nur einen lockeren, von Wiederholungen gekennzeichneten Zusammenhang bilden, der sich in den aufgezeigten thematischen Linien erschöpft (vgl. zuletzt HERMISSON 1989, 289-291 und 309 f.). 25 Den rhetorischen Aspekt der deuterojesajanischen Texte zieht GITAY 1981, 40-48 wenn auch in allzu schematischer Weise - in Betracht.

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Dieser Annahme scheint entgegenzustehen, daß wir es bei der deuterojesajanischen Großkomposition nicht mehr mit mündlicher Rede zu tun haben, sondern von vornherein mit einer literarischen Formation 2 6 . Doch hat Y. Gitay mit Nachdruck und unter Heranziehung eines breiten Belegmaterials darauf hingewiesen, daß alttestamentliche und überhaupt antike „Literatur" wie auch die Literatur des Mittelalters und der Neuzeit bis ins 17. Jh. hinein Vorleseliteratur gewesen ist 27 . Auf Vorlesen angelegte Texte werden aber primär gehört. Sie werden nicht still, sondern grundsätzlich laut gelesen. Deshalb folgen sie trotz der Schriftform primär Gesetzen der mündlichen Kommunikation. Mit der direkten Anrede z.B. wird die Hörerschaft ganz unmittelbar in das Wirkfeld des Textes einbezogen. Durch Fragen und Aufrufe wird sie so herausgefordert, als stünde sie selbst im direkten Dialog mit dem redenden Gott 28 . Vor allem aber ist mündliche Rede in einem viel höheren Maße auf Wiederholungen angewiesen, um z. B. komplexe Bezüge über größere Textspannen hinweg kenntlich zu machen 29 . Sie folgt dann eher den Redundanz- und Variationsgesetzen musikalischer Großkompositionen als unseren literarischen Verweis- und Gliederungsprinzipien. Als gestaltetes | Ganzes können Musikwerke nur wahrgenommen und mit Genuß gehört werden, wenn gleiche Themen, Motive und Harmonien in immer neuen Variationen spannungsreich wiederholt, darin aber zugleich thematisch fort- und zum entspannenden Ausklang hingeführt werden. Schon die deuterojesajanische Gesamtkomposition läßt auf solche Prinzipien schließen, wie die eschatologischen Jubelrufe mit ihrer gliedernden

26 Auch wenn man vorsichtig von älteren Wortsammlungen ausgeht (vgl. oben Anm. 24), handelt es sich um Größen mit einer übergreifenden, jedoch immer schon selbst literarischen Kompositionsgestalt (vgl. dazu vor allem MELUGIN 1976 und HERMISSON 1989, 309 f.), hinter deren Sprachgestalt man auf den Wortlaut von vermutungsweise mündlich verkündigten Einzeltexten nicht mehr zurückgehen kann (vgl. zu den Ubergängen und Koexistenzformen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit A. und J. ASSMANN 3 1998, 271-274). In und mit dem Medium Schrift wird ein strukturell anderes Bezugssystem der Kommunikation etabliert, das unumgänglich die Sprachgestalt literaler und literarischer Texte berührt und gegebenenfalls mündliche „Vorlagen" wesentlich transformiert. Zu Recht stellt deshalb GITAY fest: „Scholars have focused upon the content and style of material and have tended to ignore the means and methods of communication. That is, the process of how communication operated through the written media has not received sufficient attention" (1980, 190 f.). 27 Vgl. GITAY 1980, 191-194 und dort bes. den Hinweis auf Jer 36 (191 f.). 28 Vgl. dazu GITAY 1980, 195. Ähnliche Funktionen der Vergegenwärtigung haben direkte Reden in Erzählungen; vgl. dazu GÜLICH/QUASTHOFF 1986, 223 f. sowie HARDMEIER 1985, 65 f. und 67-69, bzw. DERS. 1986a, 102-104. 29 Zu Wiederholungen und Redundanzen als Kennzeichen von Mündlichkeit vgl.

GITAY 1 9 8 0 , 1 8 8 - 1 9 0 .

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Funktion zeigen 30 . Diese Rufe in Jes 42,10-13; 44,23 und 49,13 präludieren und verweisen in der Wiederholung genau auf das, worauf die Komposition als ganze hinausläuft: unter jubelnder Verkündigung der Befreiung durch Jahwe soll Israel aus Babel ausziehen (48,20 f.), und unter Jubel kehrt Jahwe als König auf den Zion zurück, indem er dem neuen Exodus aus Babel mit starkem Arm und „vor den Augen aller Völker" vorangeht (52,7-10), was auch im Epilog in 55,12 noch einmal aufgenommen wird soli deo gloria: (12) Ja, in Freuden werdet ihr ausziehen, und in Frieden werdet ihr geleitet. Die Berge und Hügel werden vor euch her in Jubel ausbrechen, und alle Bäume des Feldes werden in die Hände klatschen.

Das heißt, die deuterojesajanische Komposition ist eher wie ein Bachsches Oratorium zu hören, denn wie die Hegeische Dialektik zu lesen. Doch auch für das zweite rhetorische Moment im Deuterojesajabuch, für die mühevolle Überzeugungsarbeit, die sich durch diese Texte unmittelbar vollzieht, sprechen die folgenden Beobachtungen und Überlegungen: 1. Das Thema Hören, Sehen, Erkennen und Begreifen spielt eine große Rolle bei Deuterojesaja 3 1 . Die finale Konjunktion fPa1?, „damit", ist in drei von fünf Fällen mit dem Verbum jn% „erkennen" verbunden 3 2 . Jahwe will die Wüste in einen paradiesischen Fruchtgarten verwandeln für die Elenden, die dürsten, „damit sie sehen und erkennen ..., daß die Hand Jahwes dies getan hat ..." (41,20). Jahwe hat seinen Knecht, den Propheten, erwählt, „damit ihr" - das als blindes Volk angesprochene Israel - „erkennt und mir glaubt und zur Einsicht kommt, daß ich es bin" (43,10) 33 , der einzige Gott, der Retter, der seinen Ratschluß kundtut. Ebenso manifestiert Jahwe in der Berufung des Kyros seine geschichtsmächtige Einzigartigkeit, „damit man erkennt vom Aufgang der Sonne und von ,ihrem' Niedergang, daß es keinen gibt außer mir" (45,6). Die sich anbahnenden heilvollen Geschichtsereignisse sprechen an sich keine eindeutige Sprache. Erst durch die Verkündigung des | erwählten Propheten werden sie als Jahwes Rettungshandeln angesprochen und im Aussprechen zur Erkenntnis gebracht 34 . Ganz entsprechend sind dann auch die im Buchanfang häufigen rhetorischen Fragen zu verstehen: „Erkennt ihr es nicht, hört ihr es nicht?" (40,21). 30 31 32

33

Vgl. dazu oben Anm. 15. Zur Häufigkeit bzw. zu den Belegstellen vgl. ELLIGER 1978, 82 und 168. V g l . ELLIGER 1 9 7 8 , 1 6 8 f.

Zur „individuellen", auf den Propheten zu beziehenden Deutung von „V. 10b, in dem aus dem vorher als Zeuge für Jahwe aufgerufenen Israel allererst zu Überzeugende werden", vgl. HERMISSON 1982, 4 ff. (Zitat S. 5). | 34 Vgl. dazu bes. oben Anm. 21.

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2. Nicht umsonst wird gerade in unserem Abschnitt Israel als „blind" und „taub" angesprochen (42,18 und 43,8), als Volk, das zwar viel gesehen und doch nichts bemerkt, die Ohren offen und doch nichts gehört hat (42,20, vgl. 43,8) 35 . Damit korrespondieren die Mühen, die sich der Prophet als Gottesknecht mit seinen Volksgenossen gemacht hat: „Umsonst habe ich mich abgemüht, für nichts und wieder nichts meine Kraft verbraucht" (49,4) 36 . Und eben er ist nach 43,10 erwählt, Israel zur Erkenntnis zu bringen. 3. Gerade dieser Rückblick auf vergebliche Liebesmühen mit seiner Verkündigungstätigkeit weist aber darauf hin, daß der unbekannte Heilsprophet seine Volksgenossen nicht zu überzeugen vermochte. Liegt es dann nicht um so näher, daß er auf dem Hintergrund dieser negativen Erfahrung eine zum Vorlesen bestimmte Schrift verfaßt hat, die seine vergebliche Heilsverkündigung auf einer neuen Stufe als Gesamtzusammenhang zu Ohren bringt, um vielleicht damit zu überzeugen? Schon Jeremia hat durch eine literarische, aber zum Vorlesen bestimmte Zusammenfassung seiner Verkündigung in der sog. Urrolle den König Jojakim davon zu überzeugen versucht, daß die babylonische Gefahr nicht aufzuhalten ist und als Jahwes gerechtes Gericht über Juda hereinbricht 37 . Ferner | haben wir in der sog. „Denkschrift" Jesajas ein Literaturdokument des Propheten aus dem 8. Jh., der in dieser retrospektiven Offenbarungserzählung die abgewiesene Heilsverkündigung in einer bedrohlichen Kriegs35 Das Thema der „Blindheit" und der mangelnden Erkenntnis konzentriert sich innerhalb Jes 40-55 auf den Abschnitt 42,14-44,23. Zu Recht vermutet CLEMENTS darin bewußte Anspielungen auf Protojesaja: „the blindness and deafness of Israel described there (sc. 42,18-20; 43,8) echoes very strikingly the words of the prophetie commission of Isaiah (found in Isa. 6:9-10)" (1982, 125). Ergänzend ist auf das Mottowort in Jes 1,24 hinzuweisen, das die mangelnde Erkenntnis Israels zu einem übergreifenden Grundthema erhebt (zu weiteren Aufnahmen dieses Themas im Jesajabuch vgl. CLEMENTS a.a.O., zur beherrschenden Stellung bei Protojesaja vgl. HARDMEIER 1981a, 247, Anm. 56 [vgl. IV.8.]). 36 Zur Interpretation dieser Klage auf die (erfolglose) Verkündigungsarbeit des Propheten vgl. HERMISSON 1981, 272 f. und im Blick auf Jes 50,4-9 vor allem 278 f. 37 An Jer 36 wird besonders deutlich, wie durch eine rückblickende Verschriftung und Zusammenfassung der jeremianischen Botschaft in einer zum Vorlesen bestimmten Buchrolle eine qualitativ neue Wirkform der prophetischen Verkündigung entwickelt worden ist. Dabei spielt die Gefangenschaft Jeremias (36,5) nur eine Nebenrolle. | Vielmehr gewinnt die gesammelt vorgelesene Botschaft einerseits auf dem Hintergrund ihrer partiell überprüfbaren Bestätigung und andererseits aufgrund ihrer erst als gesammelte Botschaft erkennbaren inneren Sachkonsequenz eine qualitativ neue Überzeugungskraft. Sie erschien besser dazu geeignet, die notorischen Widerstände gegen die prophetische Botschaft zu überwinden. Diese von Jeremia erhoffte Wirkung wird einerseits an den Reaktionen der versammelten Beamten erkennbar (vgl. 36,16). Andererseits zeigt die Reaktion Jojakims (36,22-24) gleichzeitig ihre Grenzen auf: einer der ältesten überlieferten Fälle von despotischer Zensur durch Bücherverbrennung.

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Situation als Verstockung des Volkes interpretiert hat 38 . Die deuterojesajanische Vorlese-Komposition weist überraschend viele Bezüge zu dieser Denkschrift auf, von denen nur die beiden wichtigsten erwähnt seien. Zum einen erinnert der Prolog in 40,1 ff. in vielen Zügen an die Auftragsvision in Jes 6. Er läßt sich insofern als Fortsetzung jener Vision in der gleichen himmlischen Thronratsszene verstehen, als mit dem Untergang Judas die Zeit der Verstockung und der vergeblichen Verkündigung Jesajas zu ihrem Ende gekommen ist. Denn gemäß der Antwort in Jes 6,11 dauert diese Zeit solange, „bis daß verwüstet sind die Städte - menschenleer." So scheint die Zeit nach dem Untergang die Zeit zu sein, in der neu gehört und gesehen werden kann, in der der Prophet und die Hörer seiner Schrift das „Tröstet, tröstet mein Volk" zu hören bekommen und vernehmen können (40, l) 3 9 . Zum andern rechnet sich Deuterojesaja als Gottesknecht selbst jenen „Schülern", jenen D'lD'? zu, in denen der Jesaja des 8. Jh. seinen Rückblick auf die Verstockung als Zeugnis und Weisung wie in einem verschlossenen Brief verschnürt und versiegelt hat (8,16). Nach Jes 50,4 weiß sich der Gottesknecht von Jahwe mit der Zunge jener Schüler ausgerüstet, um die Müden | und Resignierten durch das Wort aufzuwecken. Und Jahwe selbst weckt und öffnet ihm Morgen für Morgen das Ohr, um zu hören wie jene • '70*7. Darin geht zugleich das Harren und Hoffen von Jes 8,17 auf Jahwe in Erfüllung, der sich damals verborgen hatte vor dem Hause Jakobs. Ganz vergleichbar behauptet j a auch das müde gewordene und resignierte Volk im Exil nach Jes 40,27b: „Verborgen ist mein Schicksalsweg vor Jahwe, und an meinem Gott geht mein Rechtsanspruch vorbei." 4 0 Aber der Prophet nimmt jetzt alle Mühen auf sich, trotz dieser Einwände das Gottesvolk vom neuen heilvollen Offenbarwerden seines Gottes zu überzeugen. Damit bringt er das verschnürte Zeugnis und die versiegelte Weisung von Jes 8,16 in der Zeit, da die Verstockung vorüber sein müßte, als echter „Schüler" des ersten Jesaja zu Gehör.

38 Auch hier ist die Wiege prophetischer Literatur die Überwindung von Unverstand und Verstockung; vgl. dazu HARDMEIER 1983b, 119-134 (vgl. IV.9.). 39 Damit ist über die gattungsspezifischen Gemeinsamkeiten einer Thronratsvision und gemeinsamer Stilanklänge wie das Slip *?ip> (6,4; 40,3) bzw. HDX *7ip (6,8a mit 'JTN, 40,6), die schon immer gesehen worden sind (vgl. z.B. PREUß 1976, 35 und ELLIGER 1978, 10 ff.), auch eine inhaltliche Bezugnahme, ja Anknüpfung genannt (vgl. dazu zuletzt auch HERMISSON 1989, 299). Diesen engen Querbezügen müßte im Blick auf die Jesajatradition und den Werdegang des Jesajabuches zusammen mit den folgenden Beobachtungen vermehrt Beachtung geschenkt werden (vgl. auch den Überblick von thematischen Bezügen bei RENDTORFF 1984, 295-320 und CLEMENTS 1982, 117-129). | 40 Natürlich muß dabei auch die Differenz beachtet werden, daß sich nach 8,17 Jahwe selbst von seinem Volk abgewendet hat, in 40,27 jedoch das Volk seinen Gott für abgekehrt hält, obschon er sich jetzt gerade von neuem ihm zuwenden will.

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Von daher legt sich die folgende Kompositionshypothese nahe. Die deuterojesajanischen Offenbarungsreden sind in Anknüpfung und in schöpferischer Analogie zur Denkschrift als Vorleseliteratur gestaltet, die der abgelehnten mündlichen Heilsverkündigung als Schriftkomposition eine neue Überzeugungsqualität verleihen sollen. Damit versucht der Prophet auf einer neuen Ebene, das zum Hören und Verstehen jetzt eigentlich fähige Israel zu überzeugen. Dabei läßt er Jahwe, der Israel aus der babylonischen Gefangenschaft befreien und in seine Stadt, zum Zion zurückbringen will, weitgehend direkt zu den Hörern der prophetischen Schrift sprechen und mit ihnen diskutieren. Zusammengefaßt besagt diese Kompositionshypothese damit nicht nur, daß das deuterojesajanische Korpus eine thematisch durchstrukturierte literarische Größe ist, sondern zugleich, daß dieses Korpus eine rhetorisch integrale Schrift ist, die ihre Hörer argumentativ überzeugen und zur Gotteserkenntnis in ihrer Erfahrungswelt bringen will. Als Schrift zur Vorlesekommunikation folgt sie älteren Modellen der retrospektiven Verschriftung prophetischer Botschaft bei Jeremia und insbesondere bei Jesaja, die aus Widerständen bzw. aus der Ablehnung ihrer mündlichen Verkündigung hervorgegangen sind. Diesen Interpretationsansatz möchte ich im folgenden am Beispiel der Teilkomposition in Jes 42,14-44,23 vertiefen. Formal ist die Einheit durch die beiden cantus firmi in 42,10-13 und 44,23 abgegrenzt 4 1 . Auszuklammern | ist dabei die Götzenpolemik in 42,17 und 44,9-20, die mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit einer nachinterpretierenden Überarbeitungsschicht zuzurechnen ist 42 . Als erstes ist einigen wichtigen Verbindungsmomenten der Teileinheit zur Gesamtkomposition nachzugehen in ihrer präludierenden, ihrer Schwerpunkt setzenden oder in ihrer wiederaufnehmenden und rückverweisenden Funktion. Auf die Fanfare in V. 14, mit der Jahwe sein Schweigen bricht, folgt in V. 15 f. ein komprimierter Brückentext zur thematischen Einführung, der in löbß.y mit einer Selbstentschließung Jahwes abgerundet wird: „Dieses sind die Dinge, die ich tue und die ich nicht lasse." Was Jahwe jetzt unbedingt tun will, steht davor:

41 Vgl. zu dieser Abgrenzung auch MELUGIN 1976, 90 und 102 ff. Nicht verständlich ist, warum HERMISSON 1989, 309 auch das Loblied 42,10-13 als rahmende Eröffnung zu 42,14 ff. versteht und nicht als Abschluß der voraufgehenden Sammlung. Nur in diesem Loblied werden explizit die die Küstenländer, zum Lob aufgefordert, die in 41,1-5 Jahwes direkte Gesprächspartner sind und - beläßt | man den masoretischen Text in V. laß - an sich genauso zu neuer Kraft kommen sollen wie die, die auf Jahwe hoffen (vgl. 40,31). Allerdings sind ihre Reaktionen nach 40,5 Furcht und Ängstlichkeit, von denen sich wenigstens Israel nicht anstecken lassen soll (41,8 ff.). 42

V g l . z u l e t z t HERMISSON 1989, 2 9 2 f. u n d 3 1 1 .

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(15) A u s t r o c k n e n will ich Berge u n d H ü g e l , u n d all ihr G r ü n l a ß ' ich v e r d o r r e n . U n d ich will S t r ö m e zu Festland m a c h e n , u n d ( W a s s e r ) t e i c h e t r o c k n e ich aus. (16) U n d f u h r e n will ich die B l i n d e n a u f e i n e m W e g , d e n sie nicht k e n n e n ; auf P f a d e n , die ihnen u n b e k a n n t sind, will ich sie leiten. Ich will die F i n s t e r n i s vor ihnen her z u m Licht m a c h e n u n d das H o l p r i g e zur E b e n e .

Dieser Brückentext weist mannigfaltige Beziehungen zur Gesamtkomposition auf. Mit dem lebenszerstörenden Austrocknen von Bergflanken und Strömen wird ein deutliches Kontrastbild zu 41,18 f. geschaffen. Dort verspricht Jahwe den Elenden, die dürsten und vergeblich nach Wasser suchen (V. 17), daß er lebensspendende Wasserströme auf kahlen Höhen entspringen lassen will und ergiebige Quellen in Talgründen, um die Trockensteppe in einen paradiesischen Baumgarten zu verwandeln. Ausdrücklich soll das geschehen, „damit sie sehen und erkennen ..., daß die Hand Jahwes es getan hat" (V. 20); und ausdrücklich gilt diese Tat den Elenden, die „der Gott Israels nicht verlassen will" (V. 17bß). In einer auf den ersten Blick kontradiktorischen Anknüpfung will Jahwe - auch jetzt ohne abzulassen - eben diese Dinge tun, allerdings durch eine zerstörerische Austrocknung wasserreicher Landschaft. Die Paradoxie löst sich auf, wenn man in dieser Anknüpfung zugleich die präludierende Funktion des Zerstörungsbildes mit in Rechnung stellt, das hier in 42,15 - noch verhüllt - zum ersten Mal anklingt. Seine politische Konnotation, d.h. die Zuschreibung einer politischen Bedeutung, erhält es erst im Anfang des folgenden Kyros-Kapitels, in 44,27. Jahwe, der Schöpfergott, der | alles schlechthin gemacht hat (vgl. V. 24), - er spricht vollmächtig zur grundlosen Tiefe der Chaoswasser: „Trockne aus!", und er will ihre weltbedrohlichen Ströme trocken legen, indem er zugleich Kyros, seinen Hirten, dazu beruft, diesen seinen ganzen Willen zu vollstrecken (V. 28). Noch deutlicher wird diese politische Konnotation in den folgenden Versen, in 45,1 ff. Zur Verwirklichung seines Willens erhebt Jahwe den Kyros zu seinem Gesalbten, zum rrtöD (V. 1), zieht selbst als Kriegsgott vor ihm her und ebnet Befestigungsanlagen ein, bricht eherne Stadttore auf und haut eiserne Riegel in Stücke (V. 2). Jahwes Chaoskampf als mythologische Chiffre, die in 50,2 und 51,9-11 noch einmal besonders deutlich hervortritt, ist auf der politisch-erfahrungsweltlichen Ebene die erwartete Eroberung Babylons durch Kyros, die bereits in der Mitte unseres Kapitels, in 43,14 f. ihr Präludium findet. Die damit erhoffte Niederwerfung der geschichtlich konkreten Feinde Israels wird hier wie auch sonst häufig - besonders in den Psalmen - zugleich als Jahwes Sieg über die mythischen Chaosmächte gesehen und damit als Erweis seiner retten-

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den und unumschränkten Göttlichkeit 43 . Wie in 41,20 geschieht auch hier dieser Selbsterweis, „damit man erkennt vom Aufgang der Sonne und von ,ihrem' Niedergang, daß es keinen gibt außer mir" (45,6). Auch in seiner Fortsetzung steht der Brückentext von Jes 42,15 f. mit seiner bildmetaphorischen Begrifflichkeit in präzisen Bezugsfeldern der Gesamtkomposition. Die Wandlung des Holprigen zur Ebene findet ihr Präludium im Prolog in 40,3 f. Bereits dort läßt sich aus der himmlischen Thronratsversammlung heraus die Bahnung einer ebenen Prozessionsstraße in der Wüste zur Offenbarung der Ehre Jahwes vor aller Welt (V. 5) für den Propheten und für die Hörer seiner Schrift vernehmen. Seine politischkonkrete Füllung erfährt dieses Bild wiederum erst im folgenden KyrosKapitel in Jes 45. Jahwe ebnet dem Kyros den Weg, damit er die Gottesstadt aufbaut und die Verschleppten frei läßt (V. 13), indem er zuvor die babylonischen Befestigungsanlagen vor Kyros her „einebnet" (V. 3). Dieser politisch gebahnte Weg wird dann unter einer leichten Verlagerung des Bildes in den Folgekapiteln zum Weg, auf dem die Freigelassenen wie beim ersten Exodus aus Ägypten von Jahwe geleitet werden und aus Babylon ausziehen, was mit der Führung auf unbekannten Wegen in unserem Brückentext eingeläutet wird 44 . Entsprechend der Verheißung in 41,18 f. führt dieser Weg in 49,9 ff. durch die bewässerte Wüste; und in 51,10 ziehen die Erlösten durch das Meer, das Jahwe als Chaoskämpfer wie in 42,15 angedeutet - zum Weg bereitet und ausgetrocknet hat. Dieser neue Exodus und der Weg durch die Wüste sollen ohne Entbehrung sein, was auch im eschatologischen Jubelruf in 48,20 f. und im Epilog in 55,12 f. noch einmal anklingt. Schließlich ist auch das dritte Bildelement vom Wandel der Finsternis zum Licht und von den Blinden schon in 42,6 f. vorbereitet. Im Anschluß an K. Elliger 45 bezieht sich dieser präludierende Text wiederum auf Kyros. Zum ersten Mal, wenn auch noch nicht namentlich, wird der Perserkönig bereits in 41,1 ff. als derjenige eingeführt, den Jahwe erweckt hat und dessen Siegeszug sein Werk ist (V. 4). Nach 42,6 f. ist er - wie in 49,6 der Gottesknecht - von Jahwe zum „Licht der Völker" berufen, um „zu öffnen blinde Augen, um herauszuführen den Gefangenen aus dem Kerker (und) aus dem Hafthaus jene, die in Finsternis sitzen." Dementsprechend werden die Gefangenen in 49,9 aufgefordert herauszugehen, und die, die in der Finsternis sitzen, sollen ans Licht kommen, um ohne Durst und Hunger den Heimweg durch die wasserreiche Wüste anzutreten. Insgesamt enthüllt sich damit der Brückentext in 42,15 f. als Abbreviatur für Jahwes Heils43

V g l . z . B . P s 4 6 u n d 9 3 u n d KEEL 1 9 8 0 , 4 0 f. s o w i e HERMISSON 1 9 8 9 , 3 0 6 u n d d o r t

weitere Literaturhinweise. 44 Zu Jes 43,[2.]16 vgl. unten. | 45 Vgl. oben Anm. 13.

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handeln durch Kyros in einer vielschichtigen und beziehungsreichen mythologisch-politischen Bildmetaphorik. Zugleich aber führt dieser Brückentext thematisch die zur Diskussion stehende Teilkomposition selbst ein 46 . Zum einen erfährt das Stichwort der Blindheit in 42,18-25 eine schwerpunktmäßige Entfaltung und bestimmt wie schon dort auch die Anrede in 43,8. Zum andern ist das Heilswort in 43,16-21 von der gleichen Wasser- und Weg-Metaphorik geprägt wie das eröffnende Heilswort in 42,15 f. Auch dort wird zuerst Jahwe als Chaoskämpfer eingeführt, der wie in 51,10 den Weg durch das Chaosmeer bahnt (V. 16), indem er - mit deutlich politischer Konnotation - die Heeresgewalten von Wagen und Roß zurückdrängt, ihre Mächtigkeit lahmlegt und wie einen glimmenden Docht verrauchen läßt (V. 17). In 43,19 dann erfolgt die zentrale Heilsankündigung: (19) Siehe, ich bin schon dabei, Neues zu schaffen. Jetzt sproßt es. Erkennt ihr es nicht? Ja, ich lege in der Trockensteppe einen Weg, durch die Wüste (Wasser-)Ströme.

Wie schon die erste Heilsankündigung in 42,15 f. u.a. ihr Vorspiel im Kyrosgeschehen von 42,6 f. hat, so wird im Anschluß daran in 42,9 auch auf das zweite, parallele Heilswort in 43,19 vorausverwiesen. Im Präludium von 42,9 will Jahwe das Neue, bevor es sproßt, seinen Hörern kundtun. In 43,19, wo es am Hervorbrechen ist, kann er sie deshalb fragen: „Erkennt ihr es | nicht?" Mit dieser Frage ist das spezifische Überzeugungsziel der Teilkomposition formuliert, was von der Frage in 42,23 und der Zielangabe in 43,10 bestätigt wird. Das direkt angesprochene Israel möge doch allmählich begreifen, was sich im Prolog und in den ersten Abschnitten des Buches angekündigt hat. Erkennt ihr es denn nicht? Um diesen Zustand der Blindheit zu überwinden, tritt Jahwe in unserer Teilkomposition nun wie eine Mutter in Wehen aus seiner Reserve heraus und tritt ein in die direkte Auseinandersetzung, in einen vorwurfsvollen Streit mit dem blinden und tauben Volk. In den bisherigen Ausführungen hat sich bereits angedeutet, daß die Kompositionseinheit entgegen dem Vorschlag von R. F. Melugin in zwei parallele Redegänge zu gliedern ist, 42,14-43,13 und 43,16-44,8, die in 44,21-23 in einer Art Koda bzw. in V. 23 mit dem Lobruf abgeschlossen werden 4 7 . Diese Teileinheiten gruppieren sich um die Mitte des Abschnit46

Zum Aufbau vgl. MELUGIN 1976, 102 ff. und die folgenden Ausführungen. MELUGIN 1976, 102-122 kommt zu einer ganz asymmetrischen Gruppierung der Teiltexte, der im folgenden eine einfachere und in sich schlüssigere Gliederung in zwei parallelen Redegängen gegenüberzustellen ist. Zu einem weiteren Gliederungsvorschlag vgl. SWEENEY 1988, 72-76, der aber ebensowenig wie Melugin dem primär rhetorischpersuasiven Duktus der Redegänge Rechnung trägt. 47

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tes in 43,14 f., wo auf den geschichtlichen Erfahrungsgrund der Erlösungstat Jahwes verwiesen wird, in der sich Israels Heiliger als sein wahrer König erweist 48 . Genau parallel folgen auf die beiden Heilsworte in 42,15 f. und 43,1621 zwei Auseinandersetzungsreden, die allerdings nach unterschiedlichen Gattungsmodellen gestaltet sind. 42,18-25 verhandelt in Form eines Disputationswortes zwischen Jahwe und dem Volk die Frage, wer denn eigentlich | blind und taub sei 49 . Im Hintergrund steht der in 40,27 anklingende Vorwurf, Jahwe kümmere sich nicht um den Rechtsanspruch seines Volkes und halte sich verborgen 5 0 . Diesem Vorwurf kommt auch Jahwe am Anfang in 42,14 ein Stück weit entgegen: „Geschwiegen habe ich seit langem ..." Das Ergebnis der Disputation aber ist, daß Israel mit Blindheit geschlagen ist (V. 19 f.), während Jahwe an seinem Heilswillen festhält (V. 21a). Die entscheidende Frage ist deshalb: „Wer unter euch nimmt dies wahr, horcht auf und hört (darauf) für später?" (V. 23) Im parallelen Auseinandersetzungstext in 43,22-28, der am Gattungsmodell der Verteidigungsrede vor Gericht orientiert ist, steht zwischen Jahwe und Israel zur Debatte, wer eigentlich wem in der gegenseitigen Beziehung Mühe bereitet hat 51 . Bis in die Wortanklänge hinein steht hier 48 Auch wenn der Text von 43,14 fast unheilbar entstellt ist, geht daraus doch so viel zweifelsfrei hervor, daß hier - wenn auch noch verhüllt - zum ersten Mal konkret von der Zerschlagung der babylonischen Großmacht gesprochen wird, die in der folgenden Kompositionseinheit 44,24-48,21 zur Entfaltung kommt. Als Mitte von 42,14-44,23 erweist sich der Text in mehrfacher Hinsicht. Er faßt die geschichtlich konkrete Manifestation der Heilsworte in 42,14-17 und 43,16-21 bzw. der Heilsankündigungen innerhalb des Heilsorakels in 43,3 f.5 f. ins Auge und bindet damit die in 43,1-7 emphatisch thematisierte (Neu-)Schöpfung und Erlösung Israels (vgl. die Leitstichworte in 43,1.14; 44,6.22.23 und s m in 43,1.7.15), in der sich Jahwe als König Israels nach 44,23b verherrlicht (vgl. dazu 43,7 und 21 sowie die Stichwortbezüge von n s ' in 43,1.7.21! und 44,21), in die geschichtliche Erfahrungswelt ein. Welche zentrale Funktion Jes 43,14 f. darüberhinaus innerhalb der Klammer zwischen 40,1-11 und 52,7-10 zukommt, zeigt die Beobachtung, daß Jahwe außer in 41,21 (innerhalb der Auseinandersetzung mit den Göttern der Völker) nur noch in 43,15 und 44,6 als König bezeichnet wird. | 49 Vgl. zur Gattung MELUGIN 1976, 41-43. Die von HERMISSON aufgeführten Gründe (1989, 298 f.), den Teiltext 42,18-25 der sekundären Slip-Schicht zuzuweisen (vgl. auch ELLIGER 1978, 290 f., der V. 24 f. als sekundär ausscheidet) überzeugen wenig, da die angeführten Sprachindizien auch außerhalb Jeremia und Ezechiel belegt sind (für „er schüttet seinen Zorn aus" vgl. auch Thr 4,11 und Ps 79,6, „zu Herzen nehmen" ist eine zu häufige und zu allgemeine Wendung, um signifikant zu sein, vgl. z.B. auch Mal 2,2 und Dan 1,8). Selbst wenn hier mit sekundären Einzeichnungen zu rechnen ist (bes. V. 24b, vgl. dazu unten Anm. 62), wird man angesichts der Stichwortbezüge von 42,25b zu 43,2 und 42,16 schwerlich den ganzen Schlußteil von 24 f.* (vgl. den Rückbezug von 24a auf 22aa), geschweige denn den ganzen Abschnitt für sekundär erklären können. 50

V g l . ELLIGER 1978,

51

Zur Gattung vgl. MELUGIN 1976, 48-50.

283.

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das müde und resignierte Israel im Hintergrund, dem Jahwe gemäß dem eben erwähnten Präludium in 40,29-31 aufhelfen will, als ewiger Gott, der selber weder müde noch matt wird (40,28) und der sich jetzt gar die Mühen einer Gebärenden macht, um sein Volk zu überzeugen. Ganz analog hat auch der Prophet als Gottesknecht seine Mühe mit diesem Volk (49,4), dem auch er trotz Widerständen und Schmähungen das erquickende Wort unbeugsam vermitteln will (50,4). Dennoch hält sich offenbar der stille Vorwurf Israels: Jahwe, der den Untergang zugelassen und sein Volk der Verbannung preisgegeben hat, - er hat die Seinen müde gemacht und matt. Die Verteidigungsrede in 43,22 ff. stellt jedoch klar, daß die Lasten genau umgekehrt verteilt sind. Dabei fallen die Mühen, die Israel sich mit seinen Opfergottesdiensten für Jahwe gemacht hat, überhaupt nicht ins Gewicht, da diese Opfer weder von ihm verlangt waren, noch ihm gegolten haben (V. 22-24a) 52 . Um so schwerer | wiegt deshalb der zweite Vorwurf: „Ja, geknechtet hast du mich mit deinen Verfehlungen, hast mir Mühen bereitet mit deinen Vergehen" (V. 24b) 53 . Beide Auseinandersetzungstexte stehen im Kontrast zu den parallel voraufgehenden Heilsworten. Jahwe, der durch Kyros blinde Augen öffnen und die Blinden nach 42,16 auf unbekannten, neuen Wegen zum Heil führen will, sieht sein Volk nach 18-25 so mit Blindheit geschlagen, daß es nicht einmal seine eigene Heilszukunft, die mit den Kyroserfolgen bereits angebrochen ist, zu sehen vermag. Vergleichbar sind es in 43,20 als erste die Steppentiere, die Jahwe die Ehre erweisen für den Wassersegen in der Wüste, obschon Jahwe damit primär sein Volk erquicken will, damit sie sein Lob verkünden (V. 21). Doch - so der Kontrast - dieses Volk hat mit seinen selbstgefälligen und unverlangten Opfergottesdiensten Jahwe nicht geehrt (V. 23) und mit seinen Verfehlungen und Verbrechen die Beziehung zu Jahwe nur um so schwerer belastet.

52 Der übertriebene Opferdienst als verfehlte Beziehungsform zu Jahwe kommt bei Deuterojesaja nur hier zur Sprache, vgl. dazu ELLIGER 1978, 372-376. | 53 Die Schuldthematik begegnet bei Deuterojesaja abgesehen von 40,2 und dem vierten Gottesknechtlied in 52,13-53,12 (vgl. noch 50,1) nur in unserer Teilkomposition (vgl. 43,24-28; 42,24 und in der Koda 44,22). Was 40,2 präludiert, wird in 43,22-28 in der Gerichtsrede verhandelt. Ferner wird hier ein weiterer Pfeiler der Brücke zu Protojesaja erkennbar (vgl. oben S. 165 f. und Anm. 35). Die nicht vergebene Schuld von 22,14, die auf der mangelnden Schuldeinsicht, d.h. auf der Verstockung beruht (Jes 6), wird jetzt als Erkenntnisbarriere für das neue Heil von Gott selbst her aufgehoben (40,2 —• 43,25 und 44,22), nachdem der Endtermin für die Zeit der Verstockung von 6,11 abgelaufen ist. So wie Protojesaja gegen die Blindheit für die Schuld und ihre Folgen (vergeblich) angegangen ist, um Umkehr und Abwendung des drohenden Unheils zu ermöglichen (vgl. dazu HARDMEIER 1981a, 247-251 [vgl. IV.8.]), so kämpft Deuterojesaja mit der Heilsblindheit seiner Zeitgenossen, die in der gleichen Schuldblindheit ihre Wurzeln hat (vgl. 42,1825).

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Beide Vorwürfe Jahwes enden aber nicht in diesen Schuldzuweisungen an Israel, die Jahwes Selbstrechtfertigung zur Kehrseite hätten. Auf beide Auseinandersetzungsreden folgen mit einem kontrapunktischen nnPl, „aber jetzt", zwei Heilsorakel mit den charakteristischen Aufrufen zur Furchtlosigkeit: „Fürchte dich nicht, denn ich erlöse dich, ich rufe dich bei deinem Namen, mein bist du" (43,1b, vgl. 5a und 44,2b) 54 . Auch diese grundlos freien Heilszuwendungen Jahwes beziehen sich in ihrer Bildsprache auf die beiden Heilsworte, die die parallelen Redegänge eröffnen. In 43,2 wird die Bewahrung vor den Chaoswassern zugesagt 5 5 , die nach 42,15 ausgetrocknet werden und durch die hindurch Jahwe nach 43,16 den Heimweg bahnt. Entsprechend steht in der Heilsankündigung von 43,5b.6 die Heimbringung der Verbannten aus allen Himmelsrichtungen im Mittelpunkt, sobald die | Chaosmacht Babel gebannt ist (42,15) und Jahwes Führung der Blinden auf unbekannten Wegen beginnen kann (V. 16). Im zweiten Heilsorakel steht, analog zur zugesagten Bewässerung der Wüste in 43,19, das Sprießen und Sprossen der Nachkommenschaft Israels am Wasser im Mittelpunkt (vgl. V. 3 f.) 56 . Keineswegs zufallig ist am Ende beider Heilsorakel von denen die Rede, die sich als Folge der heilvollen Zurückbringung bzw. als Frucht aus der Mehrung des Volkes zu Jahwe bekennen (vgl. 43,7 und 44,5). Das liegt auf der Linie der tragenden thematischen Zielperspektive des ganzen Kapitels. Jahwe schafft sich mit seiner Heilszuwendung sein Volk zu seiner Ehre neu, damit es sein Lob erzählt (43,21), aber zudem, damit es aus eigener Erfahrung heraus zum Zeugen für Jahwe wird. Dies ist der eigentliche Schöpfungs- und Geburtsakt in diesem Kapitel, der sich im Munde des Propheten durch Jahwes mühevolle Überzeugungsarbeit an seinem Volk vollzieht wie unter Preßwehen einer werdenden Mutter. Folgerichtig werden die beiden parallelen Redegänge nach den Heilsorakeln durch einen vierten Redeteil abgeschlossen (43,8-13 und 44,6-8). Er läuft auf die Bestellung der Angeredeten zu Zeugen für Jahwes Einzigkeit hinaus und ist im Stil der Gerichtsrede gestaltet 57 . Was in 41,21-27 vor dem Forum der Götter in der himmlischen Ratsversammlung sein Vorspiel hatte zum Erweis der Einzigkeit Jahwes, wird nun vor dem Forum der Nationen (43,9) zur Zeugenberufung Israels, j a noch unmittelbarer zur direkten Verpflichtung derer, die Deuterojesajas Offenbarungsschrift hören:

54

Z u r G a t t u n g s f r a g e vgl. MELUGIN 1976, 1 3 - 2 2 u n d v.a. CONRAD 1984,

55

Zur Metaphorik und ihrem Hintergrund in der Liebessprache vgl. unten Anm. 61. | Auf die Nähe dieses Orakels zu den Heilsorakeln in den Mehrungsverheißungen

56

129-152.

der G e n e s i s ( G e n 15,1; 2 1 , 1 7 ; 2 6 , 2 4 u n d 4 6 , 3 ) hat b e s o n d e r s CONRAD 1984, 143 ff. auf-

merksam gemacht. 57 Zur Gattungsproblematik dieser Abschnitte vgl. MELUGIN 1976, 53-63, bes. 56 f. und 60 ff.

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„Ihr seid meine Zeugen!" (vgl. 43,10.12 und 44,8), Zeugen für die Einzigkeit und für den zuvor angekündigten Rettungserweis Jahwes. Damit schafft sich Jahwe neben bzw. durch den Propheten auch sein Volk zum verkündigenden Gottesknecht 5 8 . In dieser Zuspitzung folgt die deuterojesajanische Prophetie | strukturell ganz und gar dem Modell der Gottesbeziehung, wie sie auch im Vollzug von individuellen Dankpsalmen durch Beter und Gemeinde konstituiert wird 59 . | 58 Zur Rollenverteilung von Prophet und Israel als Gottesknechte vgl. auch HERMISSON 1982, 18 f. und oben Anm. 14 und 16. Zu Recht hebt Hermisson hervor, daß „Israels Rolle in Z u k u n f t . . . nicht... eine rein passive bleiben (kann)" (a.a.O., 18), weil es „eine Unmöglichkeit (wäre), wenn die Geretteten die Rettung nicht akzeptierten" (a.a.O., 19). Deshalb müsse Israel „lernen, seinen Mund aufzutun zum Lob und zum Bekenntnis" (ebd.), was Hermisson eigentlich als „Selbstverständlichkeit, und ... wiederum mehr" erachtet (ebd.). Dieses „Mehr" beschränkt Hermisson — wenn ich recht sehe — im folgenden (a.a.O., 19 ff.) allerdings zu stark auf die stellvertretende Zeugenrolle des Propheten als Gottesknecht: „die Rolle, die dem Propheten in 42,1 ff. aufgetragen wird, hätte in einer bestimmten Hinsicht auch | von Israel wahrgenommen werden können wenn es dazu in der Lage gewesen wäre" (a.a.O., 21). Deshalb „erweist jetzt" Jahwe „seine Wahrheit und Einzigkeit vor den Völkern so, daß er Israel rettet und diese Rettung durch den Propheten ansagen läßt und in Gang setzt" (ebd.). Damit gerät aber Israel doch wieder zu sehr in die Rolle eines passiven Objekts im Heilsplan Jahwes, während das persuasive Ziel von Jes 42,14-44,23 ganz und gar darin liegt, Israel als Zeugen zu gewinnen. Dabei kann Israel nur unter Überwindung seiner Blindheit im Verstehen-Lernen zu dieser Zeugenschaft kommen (vgl. 43,8-13, bes. V. 10), die in der lobpreisenden Verherrlichung seines geschichtsmächtigen Schöpfers und der von ihm gewirkten erfahrbaren Erlösung besteht (vgl. 43,21 und 44,23). Gerade weil weder diese Einsicht, geschweige denn der daraus resultierende Lobpreis selbstverständlich sind, unternimmt Jahwe im Munde des Propheten als werdende Mutter in Wehen diese gewaltige Überzeugungsarbeit an seinem Volk. 59 Mit der angezielten Wiedergewinnung des alten Gottesvolkes zu neuer Zeugenschaft, indem es aus neuer Einsicht und Erfahrung zum Lobpreis wieder fähig und so erneut zum Zeuge Jahwes werden soll, steht allerdings weit mehr als eine „Selbstverständlichkeit" dankbaren Gotteslobes (vgl. HERMISSON 1982, 18 f.) auf dem Spiel. Es geht um nichts weniger als um die Fortexistenz der im alten Israel entstandenen, allein an das Wort und an seine erfahrungsbezogene Verkündigung gebundenen Glaubensperspektive, j a es geht damit zugleich um die Existenz unseres Gottes selbst. Denn er ist konstitutiv und bleibend angewiesen auf eine j e neue, erfahrungsgestützte Zeugenschaft im Kontext sowohl der politisch-gesellschaftlichen Erfahrung als auch des persönlich-individuellen Lebensgeschicks, wie aus Ps 6,6; 30,10 etc. bzw. aus der Gesamtstruktur von Dankpsalmen hervorgeht (vgl. dazu HARDMEIER 1988, 306-308 [vgl. IV.13.]). Der deuterojesajanischen Verkündigungsliteratur, die auf eine Vorlesekommunikation angelegt zu sein scheint, liegt nämlich das gleiche, theologisch fundamentale Beziehungsmodell zwischen Gott und seinen Bekennern zugrunde, wie es am individuellen Danklied, exemplarisch an Ps 30, aufgezeigt werden kann (vgl. a.a.O. 296 ff.). Der Unterschied zwischen dem individuellen Danklied und der deuterojesajanischen Verkündigungskonzeption liegt nur im folgenden: Der Beter im Danklied blickt auf seine individuelle Rettung lobpreisend zurück, und sein Danklied in der Gemeinde ist schon das

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Gegenüber dieser sachlichen Zielperspektive der Zeugenschaft, die der Gesamtkomposition entspricht, liegt der zentrale Konfliktpunkt der Überzeugungsarbeit in dieser Teilkomposition allerdings weit vor diesem Ziel. Schlüssig wird dies in 43,10 formuliert, unterstrichen durch eine leichte Paraphrasierung: (10) Ihr seid ( j e t z t ) meine Zeugen - Ausspruch Jahwes - aber (zuvor schon ist) mein Knecht (mein Zeuge geworden), den ich erwählt habe, damit ihr erkennt und mir glaubt und zur Einsicht kommt, daß ich es bin: Vor mir war kein Gott gebildet und nach mir wird keiner sein 60 .

Das heißt, die Hörer der Offenbarungsschrift, hinter der der Gottesknecht als erster Zeuge steht, sind zunächst nur potentielle Zeugen. Sie müssen als Blinde, als die sie in 43,8 ja auch angesprochen werden, durch die Schrift erst davon überzeugt und für ihre Zeugenschaft gewonnen werden. Folgerichtig schließt deshalb das Kapitel vor dem Jubelruf in 44,23 mit dem Appell an Israel: „Kehre zurück, denn ich erlöse dich" (22b). Wie ein Liebeswerben der verlassenen Mutter oder Frau klingt dieser Rückkehrruf. Dabei wird zuvor Jahwes entscheidender Schritt genannt, der eine Wiederherstellung der zerstörten Beziehung überhaupt möglich macht: „Weggewischt wie die Wolke habe ich deine Verbrechen, und wie das Gewölk deine Verfehlungen" (22a). Dieser Satz nimmt abschließend auf, was Jahwe in unserem zweiten, als Gerichtsrede gestalteten Auseinandersetzungstext in 43,25 kundtut, nachdem er in V. 24b den schwersten Vorwurf an Israel formuliert hat, daß Israels Verfehlungen und Schuld die Beziehung zu ihm bis zur Unerträglichkeit belastet haben: „Ich, ich bin es, der wegwischt deine Verbrechen um meinetwillen, und deiner Verfehlungen will ich nicht mehr gedenken" (25). Jahwes Akt der grundlosen Vergebung

erfahrungsgestützte Zeugnis coram publico zur Verherrlichung Jahwes. Deuterojesaja jedoch, bzw. Jahwe im Munde seines Propheten, muß das alte Gottesvolk erst von der sich anbahnenden Heilsperspektive überzeugen. Zudem ist diese Heilsperspektive ganz in den historisch-politischen Erfahrungsraum der Exulanten eingezeichnet und aufgrund der Negativerfahrung des Exils besonders schwer erkennbar. Deshalb müssen die noch „Blinden", „Müden" und „Matten" (vgl. 40,27-31) als Zeugen erst überhaupt gewonnen werden, damit sie ihren heilschaffenden Gott coram mundo von neuem bekennen lernen. Gleichursprünglich und gleichzeitig können sie aber auch nur darin zur Erkenntnis ihrer realen Heilschancen einer Rückkehr kommen. In Analogie zum individuellen Danklied bleibt als eschatologisches Fernziel auch bei Deuterojesaja die | universale Verherrlichung Jahwes als König im Blick (vgl. 52,9 f.), wenn die Völker durch Israel als Jahwes Zeuge und Knecht in den Lobpreis einstimmen werden. Dabei spielen die Völker die Rolle der Gemeinde, die ja ihrerseits im Zeugnis des Geretteten, d.h. in seinem Danklied, als Forum zum Lobpreis aufgefordert wird (vgl. bes. Ps 30,5 f. und dazu HARDMEIER 1988, 306 f. [vgl. IV.13.]). 60

Zu dieser Deutung von 43,10b vgl. oben Anm. 33.

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ermöglicht in dieser Verteidigungsrede allein eine Wiederherstellung der zerrütteten Beziehung 6 1 . | Damit wird deutlich, daß sich Israel in der Wahrnehmung des neuen Heils und in der Erkenntnis seines Gottes im tiefsten Grunde mit seinen Verbrechen und mit seiner vergangenen Schuld selbst im Wege steht. Deshalb werden die Hörer im Heilswort in 43,18 vorbereitend aufgefordert: „Gedenkt nicht des Früheren ..." Die verdrängte Vergangenheit ist aber auch schon der Hauptgrund für Israels Heilsblindheit im ersten, als Disputation gestalteten Auseinandersetzungswort. Was die Blinden nicht gesehen haben und was sie noch heute nicht sehen, wird dort in eine rhetorische Frage gekleidet: (24) Wer hat der Plünderung preisgegeben Jakob und Israel den Räubern? ,... 6 2 (25) Goß aus über es seine Zornesglut und die Gewalt des Krieges? Und er (sc. der Krieg) umflammte es ringsherum, aber es merkte nicht(s), und er versengte es, doch nimmt es sich's nicht zu Herzen.

Damit ist die theologisch zentrale Achse freigelegt, um die sich die ganze Teilkomposition dreht und die in den Auseinandersetzungsworten der beiden parallelen Redegängen zur Sprache kommt: Im ersten Wort ist es die verdrängte und vergessene Schuld Israels, die den Zorn Jahwes hervorgerufen und in die Untergangskatastrophe von 587 geführt hat. Sie muß - wie 42,23 formuliert - um der Zukunft willen erkannt und benannt werden. Im zweiten Wort ist es die Vergebung dieser Schuld von Jahwe her. Nur die-

61 Daß in unserer Teilkomposition die Wiederherstellung der zerrütteten Beziehung zwischen Jahwe und seinem Volk im Zentrum steht, geht besonders aus dem Heilsorakel in 43,1-7 hervor. Formal wie inhaltlich bildet die Liebeserklärung Jahwes gegenüber seinem Volk in V. 4a die Mitte des Textabschnittes: „Ich, ich liebe dich". Dabei nimmt diese neu erklärte Liebe bes. in V. Ib.2 geradezu erotische Züge an, wenn man die große Nähe, ja Identität der verwendeten Metaphorik zur bzw. mit der Liebessprache des Hoheliedes berücksichtigt: Zu nnx (V. lbß: „Mein bist du") vgl. Cant 2,16 und 6,3; zur Metaphorik von 43,2 ist auf Cant 8,6 f. zu verweisen mit der wörtlichen Übereinstimmung von 43,2aß und 8,7aß, die ohne sonstige Parallele im Alten Testament ist (vgl. dazu auch Rom 8,38 f.). | 62

Die Gründe, die ELLIGER 1978, 290 f. für die Ausscheidung von V. 24 f. nennt, sind zu schwach. Einzig V. 24 ab mrr* xi^n, ein Sündenbekenntnis mit nachfolgender Feststellung mangelnden Thoragehorsams, erweist sich als Fremdkörper im Duktus der rhetorischen Frage von V. 24 f. (vgl. dazu auch oben Anm. 49). Die Antwort darauf ist jedoch keineswegs „so selbstverständlich ,Jahwe'", wie ELLIGER 1978, 290 behauptet. Denn diejenigen, die viel gesehen, aber nichts beachtet und mit offenen Ohren nichts gehört haben (V. 20), brauchen sehr wohl den geschichtstheologischen Nachhilfeunterricht von V. 24 f*. Zur Begründung einer Ausscheidung des Sündenbekenntnisses in V . 2 4 u n d i n s b e s o n d e r e d e s R e s t v e r s e s v g l . WESTERMANN 1981, 9 3 f. s o w i e ELLIGER

1978, 290 f.

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ser Schritt, der in der neu erklärten Liebe 63 gründet, kann die zerstörte Beziehung wiederherstellen und neues Vertrauen stiften, damit das schuldvergessene Israel überhaupt auch seine Heilschancen erkennen kann und damit es darin die neue Offenbarung seines Gottes zu seinem Heil wahrnehmen und zu Jahwe umkehren kann (44,22), um so zur Zeugenschaft vor den Völkern fähig zu werden 6 4 . | Israels tiefste Blockierung, seine eigenen gegenwärtigen Heilschancen einer Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft wahrzunehmen und darin Jahwes neues Handeln zu erkennen, liegt damit in seiner Schuldvergessenheit und Schuldverdrängung begründet. Die faktische Gegentheologie einer resignativen Ergebung in das Exilsschicksal und einer Anpassung an die Verhältnisse mag in etwa wie folgt gelautet haben: Die babylonischen Götter haben den Nationalgott Jahwe um 587 endgültig besiegt. Mit der Beseitigung der Daviddynastie und mit der Zerstörung des Tempels ist alles vorbei. Weder gibt es einen Gott Israels, noch gibt es sein Volk; und mit Kyros beginnt nur ein neuer Herr mit neuen Göttern die alte Fremdherrschaft abzulösen. Eine solche oder ähnliche Gegentheologie hat Israel an den Rand seiner Selbstaufgabe als Volk gebracht und die resignative Wahrnehmungsblockierung befestigt, die den Propheten Deuterojesaja herausgefordert hat. Seine Verkündigung und erst recht seine Schrift sind ein beschwörender Aufschrei gegen solche Tendenzen der resignativen Selbstaufgabe, gegen die er um der Zukunft seines Gottes mit seinem Volk willen mit großer dichterischer Kraft angegangen ist. In diesem Aufschrei haben sich die Stimme Jahwes und die Stimme des Propheten zum Unisono einer gebärenden Mutter in Wehen vereinigt. Abschließend sind in knappen Sätzen drei Elemente einer politischen Theologie zu formulieren, die in dieser Teilkomposition zum Tragen kommen. 1. Ein Volk, das seiner territorialen Einheit beraubt ist und dessen Herrschafts- und Kultzentrum als Symbole seiner Identität zerstört sind, entwickelt eine bedeutsame und folgenreiche geschichtstheologische Perspektive. Darin werden alle irdischen Mächte, alle Herrschaften, alle innerweltlichen Gewalten relativiert durch die eine universale Königsherrschaft des einzigen Schöpfergottes. Diese Perspektive relativiert die Allmächtigkeit der babylonischen Großmacht, aber auch den segensreichen Aufstieg des Kyros, der Mandatsträger Gottes bleibt und nicht als solcher göttlich legitimiert wird. Vor allem aber relativiert diese Perspektive die 63

Vgl. dazu oben Anm. 61. Nicht von ungefähr konzentriert sich die Schuld- und Vergangenheitsproblematik, bei Deuterojesaja auf unsere Teilkomposition (vgl. oben Anm. 53), in der das alte Gottesvolk neu zum Zeugen seines Gottes werden soll, der sich ihm neu zuwendet, damit es zu ihm umkehren kann (vgl. 44,22). 64

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Ohnmacht Israels und ermöglicht so das Schöpfen von Hoffnung, ohne andererseits seine Erwählung zu verabsolutieren. 2. Deuterojesaja formuliert diese geschichtstheologische Perspektive nicht als objektivierende Theorie anonym wirkender Geschichtsgesetze, sondern als gütige, personale Zuwendung des universalen Schöpfergottes zu seinem Volk und zu allen Völkern - seine Schöpfung mit eingeschlossen. In dieser dialogisch-personalen Aussageweise wird internationale VerAntwortung politischer Mächte artikulierbar und damit faßbar. Recht und Unrecht, Segen und Schuld sowohl in den Völkerbeziehungen als auch in der Beziehung eines Volkes zu sich und seiner Vergangenheit werden in diesem theozentrisch dialogischen Modus ohne Verabsolutierungen sagbar. Das ermöglicht Schuldvergebung, Umkehr und Neuanfange auch im politischen Raum und macht | Völkerbeziehungen entwicklungsfähig und veränderbar 6 5 jenseits der noch heute dominanten und selbstzerstörerischen Alternativen von Sieg oder Untergang, von Vorherrschaft oder Unterwerfung 6 6 . Auf diese Weise konnte Israel im Exil seine Identität zurückgewinnen und damit als Volk weiterexistieren, ohne selbst mächtig werden und siegen zu müssen. 3. Für diese politisch-theologische Perspektive gibt es keinen anderen Seinsgrund, als daß sie von Generation zu Generation neu bezeugt und in Erfahrung gebracht wird 67 . Indem die Zeugen diese Perspektive zur Sprache bringen und je neu auf die Welt ihrer historisch-politischen Widerfahrnisse beziehen, vereindeutigt sich diese an sich vieldeutige Welt zu einer auf Gott hin relativen, veränderungsfahigen und an der Ganzheit seiner Schöpfung orientierten Oikumene, in der es nur noch Mandatsträger einer Weltinnenpolitik gibt. Auf diese Weise hat Deuterojesaja Gottes Königsherrschaft in den historisch-politischen Umbrüchen seiner Zeit zur erfahrbaren Erkenntnis gebracht. Damit hat er seinem Volk und den Völkern eine unzerstörbare Hoffnung aufgewiesen gegen ein beziehungs- und verantwortungsloses Dahintreiben unseres Planeten in ewigen Diadochenkämpfen, an denen er zugrunde zu gehen droht. So fordert Deuterojesajas Hoffnung unsere Zeugenschaft auch heute besonders heraus. |

65 Eine gegenwartsrelevante Konkretion einer solchen, auf Geschichte, Politik und Völkerbeziehungen bezogenen theologischen Perspektive findet sich in: KAISER/

LENHARD/HOMEYER 1 9 8 6 ; v g l . d o r t ( 1 5 - 2 2 ) d i e T h e s e n d e r A r b e i t s g e m e i n s c h a f t e n z u m 8. 5. 66

67

1985.

V g l . d a z u EBACH 1 9 8 5 , 4 7 .

Zur dynamisch-prozessualen Daseinsform dieser Perspektive, in der sich die Gottesbeziehung fortzeugend konstituiert als praktische Einheit von Glauben, Erfahrung und Weitergabe, ist auf das analoge Handlungsmuster hinzuweisen, das dem individuellen Danklied zugrunde liegt; vgl. dazu oben Anm. 59.

13. „Denn im Tod ist kein Gedenken an dich ..." (Psalm 6,6). Der Tod des Menschen - Gottes Tod?i (1988) Daß es im Tode keinen Lobpreis Gottes mehr gibt, ist für G. v. Rad „eine(r) der eigenartigsten Sätze der alttestamentlichen Anthropologie" 2 . Denn nach alttestamentlichem Verständnis ist „Loben ... die dem Menschen eigentümlichste Form des Existierens" (ebd.). „Die Toten" aber „standen außerhalb des Lebenskreises des Jahwekultes, somit waren sie auch vom Rühmen seiner Taten ausgeschlossen. 3 " Nun ist das Verstummen der Lobpreisungen Gottes im Tode in der alttestamentlichen und nachalttestamentlichen Literatur keineswegs nur eine marginale Grenzaussage etwa von Ps 6,6. Der Topos begegnet in ähnlichen Formulierungen in Ps 30,10; 88,12 f.; 115,17 f.; im sog. „Hiskijapsalm" Jes 38,18 f., in Sir 17,27 f., im großen Bußgebet in Bar 2,17 f. sowie in einem individuellen Dankgebet der Qumran-Gemeinde ( l l Q P s 3 Plea). Deshalb fordert diese Grenzaussage das exegetische und theologische Nachdenken besonders heraus. Von einer Grenzaussage ist in dreifacher Hinsicht zu sprechen. Zum einen wird darin vom Jenseits der Todesgrenze her die Beziehung zwischen Mensch und Gott thematisiert. Vom Tod des Menschen her kommt diese Beziehung eigentümlich scharf, ja in gewisser Weise unerbittlich und radikal in den Blick. Die Beziehung zwischen Mensch und Gott aus diesem Blickwinkel zu betrachten, verspricht eine besondere Klarheit. Zum zweiten liegt die Aussage auf der Grenze zwischen einer banalen Feststellung und einer fundamentaltheologischen Herausforderung. Daß Menschen, wenn sie tot sind, nicht mehr sprechen und deshalb auch Gott nicht mehr

1 Probevorlesung im Rahmen meines Habilitationsverfahrens an der Kirchlichen Hochschule Bethel am 14.1.1988 und Gastvortrag, gehalten am 25.1.1988 an der Theologischen Fakultät Paderborn. Der Vortragscharakter wurde beibehalten; die Anmerkungen wurden für den Druck hinzugefügt. 2

3

V.RAD 1962,381.

Ebd., vgl. auch a.a.O. 401: „Der Tod beginnt da wirklich zu werden, wo Jahwe einen Menschen verläßt, wo er schweigt, also da, wo immer sich die Lebensbeziehung zu Jahwe lockert. ... die Toten standen außerhalb des Kultus und seines Lebenskreises. Darin besteht recht eigentlich ihr Totsein. Im Tod ist keine Verkündigung und kein Lobpreis (Ps. 88,12; Jes. 38,18); die Toten stehen außerhalb des Geschichtshandelns Jahwes (Ps. 88,11), und in diesem Ausgeschlossensein lag für Israel die eigentliche Bitternis des Todes."

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loben können, ist ein evidenter Satz menschlicher Alltagser|fahrung im alten Israel wie heute. Was aber ist mit Gott, wenn es überhaupt keine Menschen mehr gibt, die ihn loben? Das totale Aufhören des Gotteslobes konnte sich das alte Israel nicht vorstellen 4 . In unserem vielleicht unmenschlichsten Jahrhundert der bisherigen Geschichte, das von der Massenvernichtung und vom Völkermord unvorstellbaren Ausmaßes gekennzeichnet ist, ist auch die Selbstauslöschung der Menschheit vorstellbar geworden. Die Vergiftung und Verstrahlung unserer Erde sowie gentechnologische Manipulationen lassen eine schleichende oder plötzliche Selbstabschaffung des Menschengeschlechtes mehr als nur möglich erscheinen, sobald dem Zauberlehrling Mensch die Kontrolle über sein Tun und Lassen vollends entgleiten sollte. Doch muß die Frage nach dem Verstummen der Lobpreisungen Gottes nach dem Untergang des Menschengeschlechtes und erst recht die Folgefrage, was dann mit Gott sein wird, zwar als herausfordernde Grenzfrage gestellt, aber - zumindest aus der Perspektive des christlichen Glaubens heraus - auch als offene Frage stehen bleiben 5 . Bedrängender und sehr viel aktueller ist die Frage, was mit Gott ist, wenn wir Menschen ihn vergessen, wenn das Gotteslob der Lebenden verstummt und die jüdisch-christliche Religion zum religionshistorischen Phänomen werden sollte wie z.B. die Marduk-Religion der Babylonier, die uns nur noch als archäologisch rekonstruierbare Größe bekannt ist. Auch eine solche Entwicklung ist denkbar und zeichnet sich - zumindest in den

4 Vgl. dazu WESTERMANN 1968, 121: „Die Möglichkeit, daß es auch Leben geben könne, in dem es kein Loben gibt, Leben, das Gott nicht preist, ist hier noch gar nicht in den Blick gekommen. Wie der Tod charakterisiert ist dadurch, daß es in ihm nicht mehr das Loben gibt, so gehört zum Leben das Loben. Der Schluß ist im A.T. nicht ausgesprochen, aber er muß doch gezogen werden." 5 Als einer der wenigen hat sich P. Tillich dieser Herausforderung gestellt: „Wenn der Christus ohne die, die ihn als den Christus aufnehmen, nicht der Christus ist, was würde es dann für die Gültigkeit der christlichen Botschaft bedeuten, wenn die Kontinuität der Kirche als der Gruppe, die ihn als den Christus aufnimmt, unterbrochen oder zerstört werden würde?... Man könnte sich vorstellen, daß eine totale Katastrophe und ein völlig neuer Anfang des Menschengeschlechts keine Erinnerung an das Ereignis ,Jesus der Christus' hinterlassen würde. Kann eine solche Möglichkeit... die Behauptung, daß Jesus der Christus sei, zunichte machen ...?" (TILLICH 1958, 109 f.). Tillich ist der Meinung, daß, „nachdem die Menschheit die Macht erlangt hat, sich selbst zu vernichten,... sich diese Frage nicht mehr zurückdrängen (läßt)" (110). Doch läßt er sie innerhalb unserer „existentielle(n) Grenze(n)" offen (a.a.O. 111). Denn „der Glaube lebt aus der Gewißheit, daß für die geschichtliche Menschheit ... hier und jetzt Christus die Mitte ist" (ebd.). Deshalb „(kann) der Glaube... nicht über das zukünftige Schicksal der geschichtlichen Menschheit und die Art und Weise urteilen, in der sie zu ihrem Ende kommen wird" (ebd.). Er wird „andere Wege für die göttliche Selbst-Manifestation vor und nach dem historischen Kontinuum, in dem wir stehen, offen (lassen)" müssen (ebd.).

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hochindustrialisierten Ländern - deutlich ab 6 . Die Ausgangsfrage: der | Tod des Menschen - Gottes Tod? stellt sich dann allerdings umgekehrt: Hat das Vergessen Gottes und damit sein faktischer Tod nicht auch tödliche Konsequenzen für den Menschen? Hängen die beispiellosen Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts nicht auch damit zusammen, daß uns das lebensstiftende Gotteslob im alttestamentlich-biblischen Sinne schon lange fremd geworden und weitgehend abhanden gekommen ist? Noch in einer dritten Hinsicht handelt es sich beim Satz vom Verstummen der Lobpreisungen Gottes im Tode um eine Grenzaussage. Im Rahmen von Psalm 6, besonders aber von Ps 30, bewegt sich dieser Satz an der Grenze der Unverschämtheit, der Zudringlichkeit und Dreistigkeit gegenüber Gott. „Mehr oder weniger", so formuliert G. v. Rad (a.a.O.) unter Verweis auf Lk 11,8, „steht hinter allen diesen Aussagen eine Jahwe bestürmende d v a i S e i a : Jahwe handelt doch gegen seinen eigenen Vorteil, wenn er einen Bekenner seiner Ehre dem Tode überläßt." Wenn es in Ps 30,10 heißt: „Was ist der Gewinn an meinem Blut, wenn ich hinabfahre zur Grube? Lobdankt dir (denn) der Staub? Tut er (etwa) deine Treue kund?"

6

Dieser bedrängenderen Frage, „daß die geschichtliche Tradition, deren Mitte Jesus ist", auch innerhalb der Kontinuität der geschichtlichen Menschheit „vollständig zusammenbrechen" könnte (TILLICH 1958, 109), stellt sich Tillich jedoch nicht. Es ist die Hauptthese dieses Beitrags, daß wir uns angesichts der real mögli|chen, j a drohenden Selbstabschaffung des Menschengeschlechtes nicht mehr allein mit den Antworten des Neuen Testamentes begnügen und beruhigen können, „daß, so lange es eine Menschheitsgeschichte gibt... das Neue Sein in Jesus als dem Christus gegenwärtig und wirksam ist" und daß „die ,Pforten der Hölle', die dämonischen Mächte,... seine Kirche nicht überwältigen (werden)" (110). Weil die „Pforten der Hölle" weit offen stehen und weil diese Hölle die Gestalt der Selbstvernichtung des Menschengeschlechtes annehmen könnte, ist der apokalyptische Trost und die Verheißung, daß „Jesus der Christus ..., alle Tage bis ans Ende der Welt' bei denen sein (wird), die an ihn glauben" (ebd.), nur die eine Seite. Die „Wehen der Endzeit", in denen eine gottlos gewordene Welt ihrem selbstverschuldeten Untergang zum Opfer fallt, sind heute ein nicht mehr hinnehmbares Risiko, das man nicht christlich-apokalyptisch bagatellisieren darf. Gerade herausgefordert durch dieses apokalyptische Wissen, ist vordringlich darüber nachzudenken, unter welchen empirischen Bedingungen „das Neue Sein in Jesus als dem Christus gegenwärtig und wirksam" wird bzw. bleiben kann. Denn es ist kein unumstößliches Gesetz der Heilsgeschichte, daß die kosmisch-endgeschichtlichen Extrapolationen einer auf Leben und Tod verfolgten und darin sich tröstenden Gemeinde Wirklichkeit werden müssen, zumal auch diese Extrapolationen in erster Linie ihre eigene Gegenwart radikal kritisch im Auge haben (vgl. zum ganzen EBACH 1985, bes. 33-42). Vor diesen „letzten Tagen" jedenfalls kann sich eine nicht verfolgte Kirche bzw. Gemeinde nicht den Trost der verfolgten Geschwister borgen, um sich damit bequem ihrer vorrangigen Verantwortung dafür zu entziehen, daß das „Neue Sein in Jesus als dem Christus gegenwärtig und wirksam" bleibt (vgl. Mt 28,18-20) und daß sie damit der drohenden Selbstvernichtung entgegenzuarbeiten hat. Darin lebt sie, solange es sie gibt, von der Zusage Gottes in Gen 8,21 f.

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so bringt sich darin nicht ein gottergebener Dulder zum Ausdruck oder ein ehrfürchtiger Büßer, der sich dem Allmächtigen unterwürfig beugt. Hier spricht ein Mensch in Todesnot, der dennoch sehr wohl weiß, welch großen Wert sein Leben auch für Gott haben muß. Überblickt man die Behandlung des Topos vom Verstummen der Lobpreisungen Gottes im Tode in der exegetischen Literatur der Nachkriegszeit, so bewegen sich die Interpretationen ganz im oben umrissenen Rahmen, | wie er von G. v. Rad gezeichnet worden ist 7 . D.h. das Thema ist durchgängig als Thema der Anthropologie verhandelt worden, während die durch den Text unerbittlich mitherausgeforderte Frage nach dem Gottsein Gottes angesichts des Todes von Menschen - soweit ich sehe - keine Beachtung gefunden hat 8 . Ein Blick in neuere Dogmatiken bestätigt das Bild ei|ner anthropologisch ausgerichteten Betrachtungsweise unter den Stichworten „Leben und Tod" bzw. „ewiges Leben" des Menschen 9 .

7

Dabei stützt sich v. Rad wesentlich auf BARTH 1947 und WESTERMANN 1968; vgl. ferner v. RAD 1935. 8 Innerhalb dieser anthropologisch ausgerichteten Auslegung sind lediglich Akzentunterschiede festzustellen. MARTIN-ACHARD hebt die Verunmöglichung jeder Art von Kommunikation durch den Tod hervor. Jede Beziehung zwischen Gott und den Toten wird damit zerstört (vgl. 1956, 40). Nach MAAG macht das Verstummen der Lobpreisungen Gottes deutlich, daß der Mensch „auch von seinem Gott Abschied (nimmt); denn Jahwä gedenkt, wie Ps 88,6 sagt, der Toten nicht... noch können sie ihn mehr preisen" (1964, 190). Ähnlich betont WÄCHTER, das Leiden des Beters am „Verlust" bzw. am „Abbruch der Gottesbeziehung" (1967, 33). Nach JÜNGEL, erfassen diese harten Aussagen den Tod als „das Ende des Gottesverhältnisses eines Menschen" (1971, 98). KRAUS 1972, 258-277, gibt einen Überblick über Calvins Psalmenauslegung in Hinsicht auf das anthropologische Thema „Leben und Tod" (vgl. bes. S. 260). In seinem Psalmenkommentar, (KRAUS 1978) sieht er die einschlägigen Stellen als Zeugnis dafür, daß die „Scheol... eine kultferne Sphäre (ist)" (186, vgl. 775 f. und 967). Zu Ps 30,10 hebt er den Verlustaspekt „als eigenartige(n) Beweggrund zum Einschreiten" hervor, „den der Klagende Gott vorhält" (389). Für WOLFF wird in den zur Debatte stehenden Psalmenstellen „der Definition des Toten als des vom Lobe Gottes Abgeschnittenen die des Lebenden als desjenigen Menschen gegenübergestellt, der Jahwes Werk und Wort rühmen kann" (1973a, 161). Für PREUß, kommen darin die schmerzliche „Trennung von Jahwe und der Ausschluß von seinem Lobpreis" (1974, 70) zum Ausdruck, d.h. „die Entfremdung zwischen Gott und Mensch" als dem „eigentliche(n) Elend des Todes" (73). Auf der gleichen Linie liegt KELLERMANN, mit der Feststellung, daß „Totsein ... Trennung von Gottesdienst und geschichtlicher Erfahrung Jahwes (bedeutet)" (1976, 273). GESE spricht von „der Abtrennung von der Jahwe-Offenbarung", wobei es „nur in der Lebenssphäre, in der Offenbarungssphäre des Bewußtseins ... Heil (gibt)" (1977, 41). KAISER sieht in diesen Psalmenstellen eine ,,harte() zwischen Jahwe und den Toten gezogene() Scheidewand" (1985, 188). Auch STÄHLI betont die „Gottverlassenheit" und „Gottferne" in der „Sche'öl, fern vom Ort, wo die Gemeinde sich versammelt" und wo „es kein Erzählen und Kundtun, kein Loben von Jahwes häsäd (gibt)" 1986, 190). | 9

V g l . z . B . BARTH, K D III/2, 7 1 7 f., TRILLHAAS 1 9 6 2 , 4 9 7 o d e r WEBER 1 9 6 4 , 6 8 8 .

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13. „Denn im Tod ist kein Gedenken an dich

319

Diese, am menschlichen Schicksal orientierte Interpretationslinie reicht bis auf Augustin zurück. Nach der auslegungsgeschichtlichen Untersuchung zu Psalm 6 von H. C. Knuth geht es in Vers 6 schon Augustin „nur um das, was sich mit dem Menschen ereignet. Gott in seiner Gottheit steht für ihn fest", wobei Augustin „den Tod ... als Gottvergessenheit (versteht)" 10 . Ganz anders der junge Luther in seiner ersten Psalmenvorlesung. Er sieht in Ps 6,6 das Hauptproblem darin, daß es im Tode niemanden gibt, „qui clarificet te coram aliis" 11 , der Gott vor anderen zur Klarheit bringt. „Das Gedenken", so interpretiert H. C. Knuth, „hat nicht den Sinn persönlicher Erbauung, sondern soll, coram aliis, Gott öffentlich zur Geltung bringen" (a.a.O. 174). Damit wird „hier ein wesenhafter Zusammenhang" angesprochen „zwischen dem Verstummen des Menschen und dem Sein Gottes" (ebd.). „Der Tod des Menschen wäre" dann nach Knuth „auch eine Niederlage Gottes" (ebd.). Diese Frage nach der „Niederlage Gottes", bzw. verschärft gestellt, nach seiner Abwesenheit und seinem faktischen Tod, wenn die öffentlichen Lobpreisungen seiner Person ganz verstummen, bedarf im folgenden der historisch-exegetischen Vergewisserung. Dabei gilt es, den Lebensort und den Erfahrungszusammenhang dieser „unverschämten" Grenzaussage literarisch und historisch-soziologisch aufzuhellen. Das Verstummen der Lobpreisungen Gottes im Tode kommt im Alten Testament, in auffälliger Weise konzentriert, in den „Krankheits- und Heilungspsalmen" zur Sprache. Mit einem abnehmenden Grad an Sicherheit ist nach K. Seybold in Ps 88 und 30, im „Hiskijapsalm" Jes 38,9-20 und in Ps 6 ein „Bezug zu Krankheit oder Heilung des Beters" festzustellen 12 . Auch „das Gebet um Sündenvergebung, Reinigung und Erneuerung" von 1 lQPs a läßt nach Seybold „an eine vom Psalmisten durchlittene Krankheit denken" (a.a.O. 71). Demgegenüber ist bei den nachalttestamentlichen Vorkommen von Sir 17,27 f. und Bar 2,17 f. der Kontext von Krankheit und Heilung durchbrochen. Doch auch hier begegnet der Topos noch im Zusammenhang von Buße und Sündenvergebung. Nur das letzte Vorkommen in Ps 115,17 f. im Rahmen eines „liturgischen Tempelliedes 1 3 " läßt weder zu einem Krankheits- noch Bußkontext einen Bezug erkennen.

10

KNUTH 1 9 7 1 , 1 7 3 .

11

WA 55, II, 92 Z. 2. 12 SEYBOLD 1973, 9. Nach Seybolds kritisch-vorsichtig entwickelten Kriterien (vgl. 17-76) gehört Ps 88 zu den Psalmen „mit sicherem Bezug zu Krankheit oder Heilung des Beters" (98 und 113 ff.). Für Ps 30 und den sog. „Hiskijapsalm" Jes 38,9-20 rechnet er mit einem „sehr wahrscheinliche(n) Bezug" (123 ff. und 147 ff.), während Ps 6 als Psalm „mit unsicherem Bezug" einzustufen ist (153 ff.). 13

KRAUS, 1978, 9 6 1 .

320

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

[296/297]

Die hier näher interessierenden „Krankheits- und Heilungspsalmen" ge|hören unter dem Gesichtspunkt ihrer Aussagefunktion zugleich alle entweder zu den „Dankliedern des einzelnen" wie Ps 30 und Jes 38.9-20 1 4 oder wie Ps 6 und 88 zu den „Klageliedern des einzelnen" 1 5 . Allerdings hat sich diese letztere Kategorie in der neueren Psalmenforschung als zu grob und in vielen Fällen als unzutreffend erwiesen 1 6 . So bestimmt K. Seybold die beiden Psalmen 6 und 88 des Näheren als Bittgebete mit Bußcharakter 17 . Um im folgenden den Sach- und Lebenszusammenhang dieser Bittgebete und Danklieder, in denen das Verstummen der Lobpreisungen Gottes im Tode primär zur Sprache kommt, aufzuhellen, wende ich mich exemplarisch dem Danklied Ps 30 zu. (2) Erheben will ich dich, Jahwe, denn du hast mich herausgeschöpft, und ließest nicht jubeln meine Feinde über mich. (3) Jahwe, mein Gott, ich habe zu dir gefleht, und du heiltest mich. (4) Jahwe, heraufgeholt aus der Unterwelt hast du meine Seele, du hast mich zum Leben gebracht aus (dem Kreis) der zur Grube [.Hinabgefahrenen' 1 8 . (5) Musiziert für Jahwe, ihr seine Frommen, und lobdankt zum Gedenken seiner Heiligkeit! (6) Ja, nur kurz verharrt er in seinem Zorn, lebenslang aber in seiner Huld - am Abend " 1 9 ist Weinen, zum Morgen hin aber Jubel. (7) Und ich, ich dachte (einst) in meiner ruhigen Zufriedenheit: „Nicht werde ich wanken, niemals!" (8) Jahwe, durch deine Huld ,war ich auf feste Berge gestellt' 2 0 . (Da) verbargst du dein Gesicht. Ich war schreckerstarrt. (9) Zu dir, Jahwe, rief ich (immer wieder), und zu meinem Herrn flehte ich (unentwegt) um Gnade: (10) „Was ist der Gewinn an meinem Blut, wenn ich hinabfahre zur Grube? Lobdankt 2 1 dir der Staub? Tut er deine Treue kund? (11) Höre Jahwe, und erbarme dich meiner!

14

V g l . G U N K E L / B E G R I C H 1 9 7 5 , 2 6 5 f f . , C R Ü S E M A N N 1 9 6 9 , 2 1 0 f f . , 2 3 5 f . u n d 2 3 9 f.

sowie mit Modifikationen SEYBOLD 1973, 127 f. und 153. 15

V g l . G U N K E L / B E G R I C H 1 9 7 5 , 1 7 2 f f . u n d C R Ü S E M A N N 1 9 6 9 , 2 2 5 f.

16

V g l . KRAUS 1978, 3 9 ff.

17

V g l . KRAUS 1978, 117 u n d

158.

18

Es ist das Part. (K e tib) zu lesen. Der unregelmäßige Inf.cs. (Q e re) schwächt die Aussage zu einer Bewahrung vor dem Totenreich ab, was V. 4aa widerspricht. 19

S t r e i c h e f 1 ? ' m i t KRAUS 1978, 3 8 6 .

20

Zur Lösung der textkritischen Probleme in V. 8 vgl. KRAUS 1978, 386 und GUNKEL

1986, 129. 21 Die Übersetzung von m ' hif. mit „lobdanken" (entsprechend der Wortbildung „lobsingen" oder „danksagen") zieht die Konsequenz aus der Erkenntnis, daß das Wort „in den Dankpsalmen ... nur mit ,loben, preisen' einerseits oder mit ,danken' andererseits (sinnvoll übersetzt werden kann)" (CRÜSEMANN 1969, 281).

[297/298]

13. „Denn im Tod ist kein Gedenken an dich

321

J a h w e , sei H e l f e r m i r ! " (12) G e w e n d e t hast d u m e i n e T r a u e r k l a g e z u m R e i g e n t a n z f ü r m i c h , gelöst hast du m e i n S a c k g e w a n d u n d m i c h mit F r e u d e u m g ü r t e t , (13) d a m i t m a n f ü r dich musiziert (zu deiner) E h r e u n d nicht s c h w e i g t . J a h w e , m e i n Gott, e w i g will ich dir l o b d a n k e n . |

Deutlich weist der Rahmen dieses Psalmes auf die Grundform des Dankliedes eines einzelnen mit der leicht abgewandelten Toda-, d.h. Dank-Formel in V. 2 22 und mit der partiellen Wiederaufnahme dieser Formel in V. 13b, in der der Beter seinem Gott ewigen Lobdank verspricht. Der mit der Partikel '3 („denn") eingeleitete Grund für dieses Lob kommt in den Versen 2aß-4 zur Sprache. Der Beter blickt zurück auf seine Rettung aus schwerer Krankheit, die er seinem Gott Jahwe verdankt. Die Verse 5 und 6 verraten etwas vom situativen Rahmen, in dem der Psalm gesprochen wurde. Unvermittelt wird in V. 5 eine Gruppe von Menschen zum musikalischen Lobpreis aufgefordert. Mit deiktischem '3 eingeleitet (,ja, fuhrwahr"), soll allgemein Jahwes übergroße Huld gepriesen werden im Vergleich zu seinem Zorn, der nur von kurzer Dauer ist. Mit V. 7-12 holt der Beter erneut zu einem größeren Rückblick auf seine Not und Rettung aus. Der Psalmteil läuft ab V. 9 parallel zu den Versen 2aß-4 und greift in V. 7 und 8 auf die Vorgeschichte der Krankheit des Beters zurück. Er fühlte sich zufrieden und aufgrund von Jahwes Huld gefestigt wie die von den Chaoswassern umtoste Bergfeste der Gottesstadt, die nicht wankt 23 . Doch dann wurde er in tiefstes Leid gestürzt: „(Da) verbargst du dein Gesicht. Ich war schreckerstarrt." Die ihm widerfahrene Krankheit hat der Beter als Abwendung Jahwes erlebt, was sein inständiges Rufen und Flehen veranlaßte 24 . Die Verse 10 und 11 können nur als ein Zitat aus diesem flehentlichen Bittgebet verstanden werden. Damit wird schon hier deutlich, daß das Argument vom Verstummen der Lobpreisungen Gottes im Tode seinen genuinen Ort im Bitt- bzw. Bußgebet des Kranken hat. In V. 12 betrachtet der Psalmist - anders als in V. 3bß und 4 - die befreienden Folgen der Heilung, das möglicherweise in seiner Gegenwart stattfindende Freudenfest. Dann nennt er abschließend in V. 13a das übergreifende Ziel von Jahwes Rettungserweis: „damit man für dich musiziert

22 23

V g l . d a z u und z u m f o l g e n d e n CRÜSEMANN 1969, 2 3 5 f.

V g l . Ps 4 6 , 6 mit dem bergenden Schutz g e n a u s o Ps 3 0 , 7 b ) u n d lungen vgl. KEEL 1980,

4 6 , 2 - 4 , w o das „ W a n k e n " (ÖLD) der „ B e r g e " in den C h a o s f l u t e n der G o t t e s s t a d t g e g e n ü b e r g e s t e l l t wird, die „nicht w a n k t " (vgl. d a s V e r t r a u e n der Beter b e g r ü n d e t . Z u den G o t t e s b e r g v o r s t e l 100 ff.

24 V g l . V. 3 a . b a . Die b e i d e n P K - F o r m e n ( i m p f . ) in V. 9 sind als Iterative der V e r g a n g e n h e i t zu interpretieren.

322

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie

und Psalter

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(zu deiner) Ehre und nicht schweigt. 2 5 " Nicht nur das Gotteslob des Geretteten, das j a in und mit dem vorgetragenen Danklied selbst schon laut wird, ist das Ziel, sondern vor allem, daß auch die anderen, die um den Geheilten herum sind, ihrerseits zum musikalischen Lobpreis ermuntert werden und nicht schweigen. Insofern korrespondiert dieser Versteil 13a | genau mit V. 5 f., wo der Beter die ihn umgebende Gruppe explizit im Lobpreis „zum Gedenken seiner Heiligkeit" auffordert. Hinter diesem Dankpsalm steht ein für das alte Israel spezifisches Verständnis von Krankheit und Tod, das exkursartig der Erörterung bedarf. Das Alte Testament zeichnet sich durch eine ausgesprochene Nüchternheit gegenüber dem natürlichen Tod aus 26 . „Im allgemeinen", so formuliert H. W. Wolff, „sieht" es „den Tod in seiner ganzen Gräßlichkeit. Keinerlei Nimbus legt sich um ihn. 2 7 " Dabei gehört zwar der Tod insofern ganz zum Leben, als er ein erfülltes Leben fraglos und klaglos abschließt. „Alt und lebenssatt" sterben die Patriarchen 28 . Nach einem von Gott gesegneten Leben geht der Mensch nach Hi 5,26 „in voller Reife zum Grabe ein, wie man die Garbe einbringt zu ihrer (Reife-)Zeit" 2 9 . Doch manifestiert sich die ganze Bitterkeit und Gräßlichkeit des Todes dort, wo er vorzeitig droht, am Anfang oder inmitten eines noch unerfüllten Lebens 3 0 . So sind z.B. schwere Krankheiten die Vorboten dieses drohenden, „bösen" Todes 3 1 , der darin „seinen Schatten auf das Leben zwrwc&(wirft)" 32 . Deshalb „meinen" u.a. die Krankheits- und Heilungspsalmen, wie E. Jüngel formuliert, „niemals eine göttliche Bewahrung vor dem Sterben überhaupt, sondern eine

25 Wie aus Ps 47,7 f. hervorgeht, können sowohl der Empfanger als auch der Inhalt des musikalischen Lobes ohne Präposition als Objekte angeschlossen werden. In Ps 66,2 ist Jahwes T Q J direktes Objekt zu HOT. Die Lesart der LXX (1. statt 3. pers.) gleicht den Versteil an 13b an, der aber durch einen renominalisierenden Neueinsatz mit einer doppelten Gottesanrede (vgl. V. 3) deutlich von 13a abgesetzt wird. Als schwierigere Lesart ist der masoretische Text beizubehalten (gegen KRAUS 1978, 386 u.a.). | 26

V g l . d i e Ü b e r b l i c k e b e i KELLERMANN 1 9 7 6 , 2 5 9 f f . u n d STÄHLI 1 9 8 6 , 1 7 2 f f .

27

WOLFF 1973a, 155. Vgl. z.B. Gen 25,8; 35,29, ferner 15,15 und Hi 42,17 sowie STÄHLI 1986, 176 mit weiteren Stellenangaben, ferner KELLERMANN 1976, 259 und zum ganzen ausführlich 28

WÄCHTER 1967, 5 6 - 8 0 u n d 9 7 ff. 29

30

Hi 5,26, vgl. WÄCHTER 1967, 6 4 ff.

Vgl. Ps 102,24 f. und Jes 38,10, zu weiteren Formen des „schlimmen Todes"

S T Ä H L I 1 9 8 6 , 1 7 6 f . u n d K E L L E R M A N N 1 9 7 6 , 2 5 9 f. s o w i e W Ä C H T E R 1 9 6 7 , 1 2 8 f f . z u m

Verständnis dieses Todesgeschicks als Strafe, ferner BARTH 1947, 54 ff. und MAAG 1964, 187. 31

Vgl. zu diesem „bösen Aspekt des Todes" BARTH 1947, 54 und 54 ff.

32

JÜNGEL 1 9 7 1 , 9 7 u n d 1 0 0 ; v g l . a u c h M A A G 1 9 6 4 , 1 8 7 f.

[299/300]

323

13. „ Denn im Tod ist kein Gedenken an dich

Errettung aus konkreter Todesgefahr und also die Abwendung eines unzeitigen Todes ,zur bösen Zeit'" 3 3 . Auf diesem Hintergrund wird der Rückblick auf die Rettung des Beters in Ps 30,4 verständlich. „Jahwe, heraufgeholt aus der Unterwelt hast du meine Seele, du hast mich zum Leben gebracht aus (dem Kreis) der zur Grube Hinabgefahrenen." Der Geheilte deutet seine Krankheit als Aufenthalt in der Totenwelt, der "JIKU;, deren Sphäre er ausgeliefert war und die unersättlich ihren Rachen in die Lebenswelt hinein aufsperrt 3 4 . Die | Scheol ist der Ort der Trostlosigkeit, der Nichtigkeit schlechthin, sie ist der Ort der Kommunikationslosigkeit und des Vergessens (Ps 88,13) „wie ein Wachsfigurenkabinett", eine „Versammlung lebensleerer Hüllen einstigen Wesens" (so V. Maag) 3 5 . Weil auch der Kranke, der als unrein gilt, einschneidende Isolationserfahrungen macht 3 6 und sich dem Tode nahe sieht, kann man mit V. Maag von einem „partiellen Sterben" sprechen, „dem eine immer auch noch partiell vorhandene Beziehung zu Jahwä gleichzeitig" ist, „so daß auch die Hoffnung auf eine Rückkehr zum vollen Leben noch ihr gutes Recht" hat 37 . Doch ist die Scheol vor allem auch der Ort der Gottesferne und Gottverlassenheit. Jahwe gedenkt der Toten nicht mehr, „sie, sie sind von seiner Hand abgeschnitten" (Ps 88,6), an ihnen tut Jahwe keine Wunder. Und diese Schattenwesen stehen auch nie mehr auf, um ihn zu loben (V. 11). „Im Tod ist kein Gedenken an dich, in der Scheol - wer lobdankt dir (da)?" (Ps 6,6) 38 . Wie nun aber kann der Beter in unserem Dankpsalm be33 A.a.O. Auch TILLICH unterscheidet zwischen „Leiden als ein(em) Element der Endlichkeit", das „gleich dem Tod" essentiell in der jüdisch-christlichen Religion bejaht wird, und dem „existenzbedingte(n), zerstörensche(n) Leiden", das „als Folge der Entfremdung" abgelehnt wird und dessen „Aufhebung ... Gegenstand der eschatologischen Erwartung (ist)" (alle Zitate 1958 II, 80). 34 Vgl. Jes 5,14 und Hab 2,5 sowie WOLFF 1973a, 26; zur religionsgeschichtlichen Verwurzelung dieser Vorstellung im Baal-Mot-Epos und zu den Scheol-Vorstellungen

i n s g e s a m t v g l . d i e B e l e g e b e i STÄHLI 1 9 8 6 ,

177 f., f e r n e r KELLERMANN

1 9 7 6 , 2 7 3 f.,

BARTH 1 9 4 7 , 7 6 ff. u n d ( k r i t i s c h g e g e n ü b e r BARTH) WÄCHTER 1 9 6 7 , 4 8 - 5 6 s o w i e MAAG

1964, 186 f. 35

MAAG, 1964, 187.

36

Vgl. z.B. Ps 88,9.19.

37

MAAG, 1964, 189.

38

Nur in Ps 22,30 ist „in einmaliger Weise ... die Schranke der gottesdienstlichen

T r e n n u n g d u r c h b r o c h e n " (KELLERMANN

1 9 7 6 , 2 7 4 ) . M i t STOLZ 1 9 8 0 , 131 ist z u

über-

setzen: „Ja, vor ihm werden niederfallen alle, die auf Erden im Saft stehen, vor ihm sich beugen alle, die in den Staub hinabgefahren sind." (vgl. STÄHLI 1986, 180 sowie KEEL 1970). Kellermann erinnert an die „ägyptischen Vorstellungen vom Durchlauf des Sonnengottes Re durch die westliche Totenwelt in der Nacht", bei dem Re den Lobpreis der Toten empfängt (1976, vgl. dagegen kritisch KEEL 1970, 409). Das Lob der Toten im Totenreich ist in den ägyptischen Totenhymnen reich bezeugt; vgl. ASSMANN 1975,131-

324

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

[300/301]

r i c h t e n , d a ß J a h w e ihn a u s d e r S c h e o l h e r a u s g e h o l t h a t , o b s c h o n d a s T o t e n r e i c h d e r j a h w e f e r n e B e r e i c h s c h l e c h t h i n ist u n d J a h w e s E i n w i r k u n g s m ö g l i c h k e i t e n an d e r p h y s i s c h e n T o d e s g r e n z e h a l t m a c h e n , so d a ß H i o b z u G o t t s a g e n k a n n : „ N u n w e r d e ich m i c h in d e n S t a u b l e g e n . U n d s u c h s t d u m i c h , so b i n i c h v e r s c h w u n d e n " ( H i 7 , 2 1 b ) ? E n t s c h e i d e n d ist, d a ß d e r g e h e i l t e B e t e r s e i n e S c h e o l - E r f a h r u n g diesseits der physischen Todesgrenze g e m a c h t h a t ; u n d u n t e r d e n L e b e n d e n i m p h y s i s c h e n S i n n e ist J a h w e , d e r | G o t t d e s L e b e n s , f ü r ihr W o h l u n d W e h e i m D i a l o g m i t i h n e n z u s t ä n d i g . „ S o l a n g e e i n M e n s c h a t m e t , k a n n i h m . . . v o n J a h w ä w i d e r f a h r e n " , „ d a s s er e r n i e d r i g t u n d e r h ö h t , d a s s e r g e t ö t e t u n d w i e d e r b e l e b t , d a s s e r in d i e sche'öl Verstössen und wieder zu Leben erhoben wird", wie V. M a a g Dtn 32,39 interpretiert39. N e b e n d e m e r s t e n D e u t u n g s s c h e m a , d a s d e n B e t e r r ü c k b l i c k e n d sein K r a n k h e i t s w i d e r f a h r n i s als A u f e n t h a l t i m T o t e n r e i c h b e g r e i f e n läßt ( v g l . Ps 30,4), wird damit auch die zweite Deutungskategorie für sein Krankh e i t s s c h i c k s a l in V . 8 v e r s t ä n d l i c h : „ D a v e r b a r g s t d u d e i n G e s i c h t . I c h w a r 187 bes. die Gebete Nr. 27.35.46.47.61.62, Z. 24 ff. und als Illustration das bei KEEL

1980, 52 abgebildete Relief Nr. 63, vgl. ferner den Hinweis bei v. RAD 1962, 381, Anm. 32. Ps 22,30 interpretiert KELLERMANN auf diesem Hintergrund als „Huldigung des Weltherrschers Jahwe durch die Völker", an dem auch „die Schattenwesen in der Scheol (teil)nehmen" (1976, 274). Ähnlich versteht STÄHLI diese Aussage auf dem Hintergrund „der in ihrer universalen Dimension gedeuteten Weltherrschaft Jahwes" und „dem untertänigen Huldigungszug der Völker", von denen „die vorexilische Jerusalemer Kulttradition schon immer" geredet hat, wobei sich in Ps 22,30 „Jahwes kommende Herrschaft... nunmehr nicht nur über die Lebenden, sondern auch über die Toten (erstreckt)" (1986, 180, vgl. auch STOLZ 1980, 40). Doch ist zu fragen, ob nicht doch KEELS Interpretation des Verses im Zusammenhang von 28-32 den Vorzug verdient. Nach Keel handelt der ganze Abschnitt „von der räumlichen Weite und zeitlichen Dauer des Gotteslobes" (1970, 412) und die m v (V. 30) sind in der Generationenfolge jene, „die im Begriffe stehen, es (sc. das Leben) zu verlassen" (1970, 411). | 39 MAAG 1964, 188. Vgl. neben Dtn 32,39 auch I Sam 2,6 und Ps 104,29 f., ferner II Reg 5,7; Jes 45,7 und Hi 12,11-25. Diese Aussagen sind Ausdruck von Jahwes universaler Gottesherrschaft. Sie hat grundsätzlich die Lebenden im Auge, die sich ihr auch nicht durch eine fiktive Flucht ins Totenreich entziehen können (vgl. Am 9,1-3 und Ps 139,7-10) während die Toten von Jahwes Hand nicht erreicht werden (Ps 88,6, vgl. zum

ganzen STÄHLI 1986, 179-181, WOLFF 1973a, 163 f. und GESE 1977, 39 und 42). - Die

Entrückungsvorstellung im Alten Testament (Gen 5,24; II Reg 2,3-10; Ps 49,16; 73,24) bzw. die Vorstellung von der Bewahrung vor dem Tod (vgl. Ps 16,10; 63,4 und Hi 19,25 f.) ist Ausdruck der bleibenden Gottesgemeinschaft über die Todesgrenze hinaus und eine Antwort auf die Frage nach Gottes Gerechtigkeit angesichts der Gegenerfahrung, daß es den Gottlosen so gut geht und die Gottesfurchtigen schwer zu leiden haben (vgl. dazu STÄHLI 1986, 181-184, WOLFF 1973a, 164 f., GESE 1977, 43 ff. sowie KELLERMANN 1976, 274-278). - Nur am Rande des Alten Testamentes tauchen apokalyptische Vorstellungen vom Verschlingen des Todes durch Gott, verbunden mit der Auferstehungshoffnung auf (Jes 25,8; 26,19; Dan 12,2; vgl. dazu WOLFF 165 f., GESE, 4 9 f f . u n d KELLERMANN, 2 8 1 f . ) .

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13. „Denn im Tod ist kein Gedenken an dich

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schreckerstarrt." Besonders Krankheit mit ihren potentiellen oder tatsächlichen Folgen eines vorzeitigen Todes wird im Alten Testament als Ausdruck der Abwendung Jahwes im Zorn verstanden 4 0 . Die Ursache für diese zornige Abwendung wird häufig, aber nicht grundsätzlich im Fehlverhalten, in Sünde und Schuld der Betroffenen gesehen 4 1 . Mit Krankheit geschlagen zu sein, kann deshalb ein Zeichen dafür sein, daß Jahwe den krank Gewordenen züchtigt und straft. So bittet z.B. der Beter im Krankheitspsalm 38 wie auch in Ps 6,2 einzig darum, Jahwe möge ihn in seinem Zorn nicht weiter züchtigen (38,2) und ihn nicht gänzlich verlassen (V. 22), sondern ihm zu Hilfe eilen (V. 23). In der Notschilderung seiner schweren | Krankheit bekennt der Beter seine Schuld in V. 1042. Und auch in Psalm 30, der in V. 7-11 auf die Krankheit und ihre Vorgeschichte zurückblickt, klingt in V. 7 das Schuldbewußtsein einer allzu großspurigen Selbstsicherheit durch: „Und ich, ich dachte (einst) in meiner ruhigen Zufriedenheit: ,Nicht werde ich wanken, niemals!'" Dementsprechend ruft der Beter in V. 5 f. die Zuhörer dazu auf, die von ihm gemachte Straferfahrung von Jahwes nur kurz dauerndem Zorn als allgemeine Erfahrung lobend zu bestätigen. Mit diesem Exkurs sind die notwendigen Voraussetzungen geschaffen, um das Argument vom Verstummen der Lobpreisungen Gottes im Tode genauer nach seinem Ort und seiner Funktion zu bestimmen. 1. Eindeutig findet dieses Argument seine primäre Verwendung in den Bitt- und Bußgebeten des Kranken, den sog. „Krankheitspsalmen" wie in Ps 6,6 und 88,12 f. In den beiden „Dankliedern des Einzelnen", den „Heilungspsalmen" Ps 30 und Jes 38,9-20 begegnet das Argument folgerichtig

40 Vgl. Ps 6,2; 38,2; 88,8.17; 90,7; 102,10 f. Dieser Zusammenhang von und Abwendung Jahwes steht z.B. auch im Hintergrund von Ps 104,29 f.; Jes 42,25 und Dtn 6,13-15. Jahwes Zorn, als Ausdruck seiner Enttäuschung störten Gottesbeziehung darf aber nicht gleichgesetzt werden mit Strafe oder 41

Unheil, Tod 89,39-46.47; und der zerVergeltung.

V g l . P s 3 8 ; 4 0 , 1 3 ; 4 1 , 5 ; 5 1 , 3 ; 1 0 7 , 1 7 ; J e s 3 8 , 1 7 , f e r n e r J e s 4 2 , 2 2 - 2 5 m i t 4 3 , 2 4 f.

und Dtn 6,13-15. Allerdings werden die Ursachen für erfahrenes Unheil und Jahwes Abwendung nicht zwangsläufig in Schuld und Fehlverhalten der Betroffenen gesehen, wie z.B. Ps 88 deutlich macht, sofern man in die Rede von Jahwes Zorn in V. 8.17 nicht ein Schuldbewußtsein hineinliest (vgl. PREUB 1974, 70 f., ferner Ps 89,39-47). Ja in Ps 26 und 71 (vgl. Ps 31) spielen die Unschuldsbeteuerungen eine wesentliche Rolle und das Bild des leidenden Gerechten (vgl. z.B. Ps 69 und Jes 52,13-53,12) sowie die Hiobfrage brechen diesen Zusammenhang vollends auf (vgl. CRÜSEMANN 1976, bes. 441-443). | 42 Dieses verbreitete Deutungsschema von Krankheit als Zusammenhang von Schuld und Züchtigung, die durch Buße zur Heilung kommt, liegt eindeutig Ps 38 und Jes 38,920 zugrunde und begegnet auch in II Sam 12,16 und Ps 35,13 f. bzw. Hi 33,19 ff. Doch bleibt angesichts der Belege in Anm. 41 fraglich, ob darin auch „die Hauptlinie alttestamentlicher Krankheitsdeutung" (so SEYBOLD 1973, 170) zu sehen ist (zu Ps 88 vgl. in dieser Frage STÄHLI 1986, 185 f. und PREUß 1974, 70 f.).

326

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie

und Psalter

[302/303]

in den Rückblicken auf die Krankheitssituation 4 3 : in Ps 30 als Zitat aus dem in der Not gesprochenen Bittgebet, in Jes 38,18 f. als Begründung für die erfolgte Sündenvergebung: „Ja, du hast hinter deinen Rücken geworfen alle meine Verfehlungen, denn weder lobdankt dir die Scheol, noch preist dich der Tod ..." (17bß.l8a). Dieser primäre Verwendungsort des Arguments ist deshalb kein Zufall, weil die Gottesbeziehung durch den drohenden physischen Tod des Kranken am radikalsten und unwiderruflich in Frage gestellt wird 44 . 2. Innerhalb der Bitt- und Bußgebete des Kranken steht das Argument wiederum an ausgezeichneter Stelle in unmittelbarem Kontext der Gnadenappelle und Bittrufe des Beters: „Wende dich um, Jahwe, rette mein Leben, hilf mir, um deiner Gnade willen" in Ps 6,5; „Höre, Jahwe, und erbarme dich meiner! Jahwe, sei Helfer mir!" im Zitat von Ps 30,11; „Ich rufe zu dir, Jahwe, an jedem Tag, ich breite zu dir meine Hände aus" in Ps 88,10. Nun ist, wie gezeigt, mit diesem dringlichen Bemühen um Jahwes helfende Zuwendung implizit oder explizit häufig die Bitte um Sündenvergebung verbunden. Entsprechende Krankenpsalmen - wie z.B. Ps 38 und Ps 6 - haben deshalb zugleich den Charakter von Bußpsalmen 4 5 . Des|halb überrascht es nicht, daß das Argument vom Verstummen der Lobpreisungen Gottes im Tode auch noch in der nachalttestamentlichen Literatur stets im engeren Kontext von Buße, Umkehr und Sündenvergebung steht 46 , in Bar 2,17 f. sogar noch unmittelbar hinter dem Sündenbekenntnis und dem Gnadenappell der betenden Gemeinde (vgl. 2,12 ff.) 47 . 3. Aus dieser konstanten Stellung des Arguments geht seine rhetorische Funktion hervor. Es dient in der Tat dazu, Jahwe eindringlich zum helfenden Eingreifen zu bewegen. In Ps 30,10 ist explizit davon die Rede, daß Jahwe zu seinem eigenen Vorteil den kranken Beter am Leben lassen sollte, weil er sonst einen „Bekenner seiner Ehre dem Tode überläßt" (G.v.Rad) 4 8 . In Ps 6,6 ist es das einleitende ' 3 mit Begründungsfunktion, 43

SEYBOLD unterscheidet die „Krankheitspsalmen" von den „Heilungspsalmen" primär von der typischen Situation her, in der sie gesprochen worden sind (vgl. 1973, 171173). 44 Unter Verweis auf Hi 7,21 bemerkt JÜNGEL: „Hiob spielt in letzter Verzweiflung die Gottfremdheit des Todes sogar gegen Gott aus, indem er seinen Schöpfer daran erinnert, daß es auch für ihn ein Zuspät gibt... Das heißt, wenn Gott helfen will, dann muß er es jetzt tun, ehe der Tod kommt, bzw. ehe er ganz da ist" (1971, 100). 45 Vgl. dazu oben Anm. 42 und SEYBOLD 1973, 169 und 170 f. 46 Vgl. Sir 17,24 ff. und den Qumranpsalm 1 lQPs a Plea Z. 13 ff. mit dem Zuwendungsappell in Z. 4. 47 48

Z u m B u ß g e b e t in B a r 1 , 1 5 - 3 , 8 v g l . STECK 1 9 6 7 , 1 1 5 f. Vgl.

oben

317

f. u n d

KRAUS

1978,

389

sowie

WILDBERGER

1982,

1465

zu

Jes

38,18: „Es ist zwar nicht direkt ausgesprochen, aber der Gedanke steht durchaus im Räume: Jahwe kann kein Interesse daran haben, Menschen der Scheol zu überlassen, er

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13. „Denn im Tod ist kein Gedenken an dich

327

das den Gnadenappell in V. 5 kräftig unterstreicht: „Denn im Tod ist kein Gedenken an dich." Genau spiegelbildlich dazu sieht deshalb der Beter des Hiskijapsalmes das heilvolle Eingreifen Jahwes in demselben Argument begründet (Jes 38,17 f.). Im Blick auf unser Gesamtthema ist nun aber zu fragen, ob es denn bei diesem Argument im Bittgebet nur um eine recht selbstbewußte Zudringlichkeit des vom Tode gezeichneten Beters geht, der in seiner letzten Not alles aufbietet, was er seinem Gott dennoch nur an Armseligkeiten entgegenhalten kann. Anders gefragt, welchen Verlust, welche „Niederlage" müßte Jahwe einstecken, wenn er „einen Bekenner seiner Ehre dem Tode überläßt"? Und das heißt systematisch-theologisch gefragt: In welcher Weise und in welchem Maße ist nicht nur der Mensch auf Gott angewiesen, sondern auch Gott auf den Menschen? Kann der Tod der Menschen, können Menschen überhaupt auch Gottes Sein beeinträchtigen, j a ihn sogar sterben lassen oder töten? Eine Antwort auf diese Fragen muß zuerst innerhalb des Argumentes selbst gesucht werden, das der Beter seinem Gott entgegenhält. In allen vier Krankheits- bzw. Heilungspsalmen wird das Verstummen des Lobdanks genannt (hebräisch r n ' im hif.), der Jahwe verloren geht. Es ist keine Frage, daß damit zunächst die m i n , d.h. das Danklied wie z.B. Ps 30 gemeint ist, das der Beter im Fall der Heilung seinem Gott darbringt. Nun könnte man etwas salopp sagen, ein Dankgebet mehr oder weniger tut der Ehre und Majestät Gottes keinen Abbruch. Darauf könnte er leicht verzichten, und der Beter nimmt sich in seiner Zudringlichkeit entsprechend seiner verzweifelten Lage eben doch nur allzu wichtig. Doch trügt | dieser Schein, sobald man sich genauer vor Augen führt, was sich in, mit und durch ein solches Dankgebet wie Ps 30 vollzieht, wenn es vom Geheilten gesprochen wird. Das theologisch Entscheidende ist nicht nur, was der Beter sagt, sondern ebenso wie, vor wem und daß er sein Gebet spricht. Denn aufgrund des performativen Charakters von Gebeten konstituiert und definiert sich die Gottesbeziehung von Beter und Gemeinde in jedem Gebetsvollzug neu 49 . 1. Als erstes ist festzuhalten, daß der Beter sein Dankgebet nicht im stillen Kämmerlein zu Gott spricht, sondern coram publico. Das geht aus V. 5 f. hervor. Dabei ist der kultische Sitz im Leben der Danklieder des

tut seiner eigenen Ehre Abbruch, wenn er Menschen dem Tod preisgibt, denn lobt ihn nicht und niD preist ihn nicht."] 49 Zum performativen Charakter der Dankgebete vgl. ASSMANN 1975, 78 ff. und bes. 87 ff., ferner ZELLER 1981. Dieser zentrale Aspekt religiöser Sprache (vgl. schon BEJERHOLM 1966), auf den die Sprechakttheorie von J. L. Austin aufmerksam gemacht hat, hat in seiner Tragweite in der Theologie und insbesondere in der Exegese noch nicht die ihm gebührende Berücksichtigung gefunden; vgl. dazu auch HARDMEIER 1978, 52 ff.

328

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

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Einzelnen von besonderer Bedeutung 5 0 . Aus Ps 118,21 geht hervor, daß solche Danklieder im Stile der Du-Anrede an Gott nach dem Einlaß in die Tempelvorhöfe vor Gott und vor versammelter Gemeinde gesprochen wurden 51 . Ps 66,13-15 macht deutlich, daß der aus der Not Gerettete durch Brandopfer am Tempel sein Dankgelübde einlöst, das er in der Not gesprochen hat. Ausdrücklich nennen Ps 107,22 und 116,17 den m i n m r 5 2 , d a s mit einer Gemeinschaftsmahlzeit verbundene Schlachtopfer zum Dank 5 3 , bei dem das Dankgelübde erfüllt, das Danklied des einzelnen vorgetragen und die erfahrene Heilstat erzählt wird 54 . 2. Der öffentliche Vortrag des Dankliedes coram aliis ist aber nicht nur um der Erfüllung eines Dankgelübdes und um der Lobpreisung Gottes als solcher willen wesentlich. Wie Ps 107,21 f. deutlich macht, geht es in diesen Dankfeiern vor allem darum, daß Jahwes Güteerweis und Wundertat am Geheilten lobdankend bekundet und seine Heilstaten mit Jubel erzählt werden. Dazu werden die aus Krankheitsnot Geretteten aufgerufen: „Lobdankt Jahwe für seinen Güteerweis und seine das Erwartbare übersteigenden Taten 55 an den Menschen! Und ihr sollt ein Schlachtopfer des | Dankes darbringen und erzählen seine Werke mit Frohlocken." Dieses berichtende Lobdanken und Erzählen wendet sich entweder im Du-Stil, d.h. in direkter Anrede an Jahwe und hat dann primär die Funktion des Lobpreises, der aber von der mitfeiernden Gemeinde als Zeugnis eines konkret erfahrenen Heilserweises mitgehört wird. Das geschieht in Ps 30 in den Rückblicken auf die Errettung aus der Krankheitsnot in V. 2-4 und 7-12. Oder der erfahrene Heilserweis wird als Rede über Jahwes Handeln in der dritten Person 50 Vgl. CROSEMANN 1969, 215 und 263 ff., zu den Krankheits- und Heilungspsalmen im speziellen SEYBOLD 1973, 171 ff. 51 Vgl. V. 19 f. Das Danklied selbst im Er-Stil begegnet in V. 5-19; vgl. dazu CRÜ-

SEMANN 1 9 6 9 , 2 1 7 f f . 52 53 54

Vgl. Jon 2,10, ferner Ps 56,13 f. in einem „Feindpsalm" und unten Anm. 54. Vgl. dazu die Opfervorschriften in Lev 7,12 ff. Vgl. Ps 66,16-20 sowie Hi 33,19-30, bes. V. 26-28 und z u m ganzen

CROSEMANN

1969, 270 ff. sowie SEYBOLD 1973, 82 ff. und 173-175 zur Sühne- und Restitutionspraxis. Die abschließende Opfermahlfeier war mit einem Freudenfest verbunden (vgl. die H i n w e i s e z . B . in P s 3 0 , 1 2 ; 1 0 7 , 2 2 u n d 55

118,27).

Die nw^QJ werden üblicherweise mit „Wunder" übersetzt. Da der Begriff „Wunder" in besonderer Weise mit supranaturalistischen Vorstellungen belastet ist, wird hier eine Übersetzung gewählt, die dem hebräischen Wortsinn von X^D | möglichst nahe zu kommen sucht. Mit N^Q im nif. werden Widerfahrnisse bezeichnet, die jemand nicht einordnen, nicht fassen oder begreifen kann und die ihm deshalb unerwartet, überraschend und wunderlich vorkommen, so daß er damit nicht umzugehen weiß (vgl. Dtn 17,8 f.; II Sam 1,26; 13,2; Prov 30,18 f. und dazu CONRAD 1989, 572 f.). Dementsprechend definiert Conrad (576) die von Jahwe ausgesagten nw^D: „als Heilstaten Gottes, die für die menschliche Seite unerklärlich und unbeschreiblich sind, von dieser aber als äußerst wirkungsmächtige und ihre Existenz bestimmende Ereignisse erfahren werden."

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13. „Denn im Tod ist kein Gedenken an dich

329

erzählt, wie es z.B. in Ps 118,5-19 der Fall ist. Diese Rede wendet sich in erster Linie an die versammelte Gemeinde und hat dann primär eine belehrende Funktion 5 6 . Entscheidend aber ist, daß die individuell gemachte Heilserfahrung des Geretteten als Jahwes Güte- bzw. Gnadenerweis in einem doppelten Sinne bekannt wird, nämlich bekannt gemacht durch den am eigenen Leibe heilserfahrenen Bekenner. Wie wichtig diese bekennende Bekanntmachung ist, zeigen die Erweiterungen des Arguments vom Verstummen der Lobpreisungen Gottes im Tode. In der Unterwelt werden weder Jahwes Treueerweise (nox) kundgetan ("tu hif. 57 ) oder erwartet ("Qü; pi. 58 ) noch seine Gnadenerweise ( l o n ) und Wahrheit (miDX) erzählt ("1DD pi. 59 ). „Weiß man in der Finsternis von deinem Handeln wider Erwarten und von deiner Gerechtigkeit im Lande des Vergessens?" wirft der Beter in Ps 88,13 Jahwe fragend vor. Nicht nur auf den Lobdank und die Gelübdeerfüllung des Geretteten ist Jahwe damit angewiesen, sondern sehr viel mehr darauf, daß seine individuell zur Erfahrung gebrachten Heilserweise auch öffentlich vor versammelter Gemeinde im Lobpreis bekannt und bekundet werden. | 3. Eine weitere Detailbeobachtung an Ps 30 unterstreicht die ganze Tragweite dieses Aspektes. Der Beter ruft in V. 5 f. das Auditorium seines Dankliedes, die D ' v o n Jahwes, ihrerseits dazu auf, Jahwe mit Musik zu preisen und mit in den Lobdank einzustimmen „zum Gedenken seiner Heiligkeit". Entsprechend der Form des „Imperativischen Hymnus" ist V. 6 der Lobinhalt zu diesem Aufruf: „Ja, nur kurz verharrt er in seinem Zorn, lebenslang aber in seiner Huld - am Abend ist Weinen, zum Morgen hin aber Jubel. 6 0 " Hier erfolgt eine bedeutsame Transformation der individuel56 Zum „Du- und Er-Stil" in den Dankpsalmen vgl. bes. CROSEMANN 1969, 225 ff. Allerdings ist zu bezweifeln, ob man die beiden Stile so scharf auf „zwei verschiedene, aber eng zusammengehörige Kultakte" beziehen kann. Nach Crüsemann erklärt sich der Er-Stil aus dem Bericht des erfahrenen Heilserweises im Kreise der zur Opfermahlzeit Versammelten nach der Darbringung des Dankopfers (bzw. in Ps 118 „anläßlich einer Prozession vor den Tempeltoren", a.a.O., 266), während der Du-Stil in engstem Zusammenhang mit der Opferdarbringung selbst und der Toda-Formel steht, „mit der in direkter Anrede an Jahwe der Grund der Opfergabe, die Errettung des Beters, genannt wird" (283). Es spricht aber nichts ernsthaft dagegen, daß der Beter sich bereits innerhalb seines an Jahwe gerichteten Dankgebetes mit einem Adressatenwechsel zugleich an die Gemeinde wendet, zumal sie ja auch Zuhörerin dessen ist, was der Gerettete zu Jahwe sagt. Von einer „Auflösung der Grundform" bei den häufigeren Psalmen mit einem oder mehreren Adressaten-Wechseln muß deshalb nicht gesprochen werden (vgl. a.a.O., 284). 57 Ps 30,10. 58 Jes 38,18 f. 59 Ps 88,12; 1 lQPs a Plea Col.XIX Z. 1, vgl. Ps 118,17. f 60 Vgl. in Ps 22 den ganz ähnlich in den Dankliedteil V. 23-27 eingebauten „Imperativischen Hymnus" in V. 24 f. Zu dieser Hymnusgattung vgl. CRÜSEMANN 1969, 19 ff. und zur deiktischen Funktion des 'D-Satzes 32 ff.

330

Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

[306]

len Gotteserfahrung als Heilserfahrung in Richtung auf eine Verallgemeinerung in zweifacher Hinsicht. Zum einen macht sich die versammelte Gemeinde in und mit dem Imperativischen Hymnus den individuellen Lobdank des Geheilten zu eigen. Das Jahwelob wird - angestoßen durch das Zeugnis des Geretteten - zum überindividuellen Lobgesang der Gemeinde. Zum andern wird der konkrete Einzelfall einer Krankenheilung auf den Nenner eines kollektiven Wissens um Jahwes Zornes- und Gnadenhandeln gebracht 61 . Deshalb wird hier lehrhaft verallgemeinernd von Jahwe in der dritten Person gesprochen. In dieser doppelten Verallgemeinerung vollzieht sich zweierlei. Zum einen wird dabei die individuelle Heilserfahrung des Beters in das Heilwissen der Gemeinde integriert und im Rahmen der Heilsgeschichte Jahwes mit seiner Gemeinde (seinen D ' v o n ) gedeutet. Zum andern aber erfährt dieses überindividuelle Wissen, dieses kollektive Gedächtnis von Jahwes Heilswirken seinerseits eine aktuelle Bestätigung. Angesichts des Zeugen, der mit seinem Danklied leibhaftig vor der Gemeinde steht und den am eigenen Leibe erfahrenen Heilserweis Jahwes bezeugt, gewinnt dieses kollektive Heilswissen in actu eine neue, glaubwürdige Plausibilität. Daß diese doppelte Verallgemeinerung der individuellen Heilserfahrung das eigentliche Ziel von Jahwes Heilshandeln am einzelnen ist, verrät V. 13a. Jahwe hat dem Beter das Bußtrauergewand in einen Reigentanz verwandelt, damit man - so ist zu verdeutlichen - öffentlich in der Gemeinde zu Jahwes Ehre lobend musiziert und nicht schweigt. 4. Ein letzter Verallgemeinerungsaspekt liegt im Gelöbnis des Beters, Jahwe seinem Gott nicht nur hier, jetzt und heute, sondern immer wieder und ewig zu lobdanken (V. 13b). Diese diachrone Verallgemeinerung klingt im Hiskijapsalm von Jes 38 noch deutlicher an. In unmittelbarem Anschluß an das Argument vom Verstummen der Lobpreisungen Gottes im Tode, stellt der Beter allgemein fest: „Der Lebende, der Lebende, nur er lobdankt dir, wie ich heute. Der Vater - den Söhnen bringt er zur Kenntnis deinen Treueerweis" (V. 19) 62 . Hier kommt das konstitutive Weiterer|-

61

Vgl. zu dieser gnädigen Asymmetrie von Zorn und Gnade auch Jes 54,7 f. sowie

JEREMIAS 1 9 7 5 , b e s . 9 4 ff. u n d 109 ff. 62

SEYBOLD 1973, 149 zieht aus der Erwähnung von Söhnen in Jes 38,19b den Schluß, daß der Psalmist sein „Lobpreisbekenntnis... im Beisein seiner Söhne" ab|legt. Doch handelt es sich wie in V. 18 auch in V. 19 um eine den Vorvers kontrastierende Allgemeinaussage, die der Beter in 19aß ausdrücklich auf sich bezieht („wie ich heute"), die dann aber in 19b mit nicht determinierten Bezeichnungen ohne Suffixe so allgemein fortfahrt, wie 19aa ('n 'n) angefangen hat. Bei einer situationsbezogenen Rede wäre ein „Ich - meinen Söhnen" zu erwarten (vgl. auch WILDBERGER 1982, 1467).

[307/308]

13. „ Denn im Tod ist kein Gedenken an dich

331

zählen der konkreten Heilserfahrung und des kollektiven Heilswissens an die nächste Generation ganz klar in den Blick 63 . Damit ist das volle Ausmaß umrissen, in welchem der biblische Gott in seinem Sein und Wirken angewiesen ist auf den einzelnen Menschen und auf seine Gemeinde. Mit jedem Tod eines Kranken, der um seine Gnade fleht, verliert Gott einen besonders kostbaren Zeugen seines Heilshandelns an den Menschen und damit seiner Heilsgeschichte, deren Wirksamkeit unabdingbar an das lebendige, stets erneuerungsbedürftige kollektive Gedächtnis der Gemeinde gebunden ist. Das wäre die „Niederlage Gottes", die er mit dem Tod eines so wertvollen Zeugen einstecken müßte, wie es bei Luther anklingt 64 . D.h. positiv ausgedrückt: Gott ist fundamental auf diejenigen angewiesen, denen in ihrem Leben seine Gnade widerfährt, die als Antwort darauf sein Heilshandeln öffentlich im Lobpreis bezeugen, die damit zugleich dieses Heilshandeln in erfahrungsgestützter Vergegenwärtigung und Bestätigung dem kollektiven Gedächtnis der Gemeinde einstiften und es so unter ihren Zeitgenossen und in der Weitergabe an die heranwachsende Generation auf Zukunft hin lebendig erhalten. Dieses fundamentale Angewiesen-Sein Gottes auf das lebendige, von Generation zu Generation sich erneuernde kollektive Gedächtnis seiner Gemeinde kommt am prägnantesten in Ps 6,6 in dem Satz zum Ausdruck: „Denn im Tode ist kein Gedenken an dich..." Der "DT Gottes, das Gedenken an ihn, ist die Summe des im Lobpreis der Gemeinde praktizierten Gedächtnisses von Jahwes Heilserweisen und seiner Heilsgeschichte. Nicht | zufallig ruft der Beter von Ps 30 die Gemeinde dazu auf, den musikalischen Lobpreis „zum Gedenken seiner Heiligkeit 6 5 " anzustimmen. In die63 Vgl. vor allem Ps 22,31 f. und dazu oben Anm. 38 zu O. Keel, ferner Ps 71,160; 102,13.19-22 und 78,1-8. Psalm 22 verallgemeinert den Lobpreis in 28 ff. zudem in die Universale der Völkerwelt, vgl. dazu auch GESE 1968, 12. Ägyptische Parallelen zur Verewigung des Lobpreises in der Geschlechterfolge finden sich auf einer Votivstele aus der El-Medine (ASSMANN 1975, Gebet Nr. 148 B, Z. 5 ff., vgl. dazu auch a.a.O., 14 f.). Treffend formuliert WILDBERGER 1982, 1467: „Der Glaube lebt vom Glaubenszeugnis der Väter. Jahwe muß natürlich alles Interesse daran haben, daß sein ,Name', d.h. sein Ruhm, von Geschlecht zu Geschlecht weitergetragen wird. Das geschieht in diesem Sektor israelitischen Glaubens nicht durch Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte, ... sondern schlicht durch das Erzählen persönlichen Erlebens." Ob dies eine so scharfe Alternative ist, wird von unseren Beobachtungen her allerdings fraglich. 64

Vgl. auch die in Anm. 63 zitierten Überlegungen von WILDBERGER. Daß und inwiefern Gott auch auf die Menschen angewiesen bleibt, wird von HEYWARD eingehend reflektiert: „Gottes Beziehung zu uns schafft uns als beziehungshafte Wesen... Ohne die Schöpfung, ohne die Menschheit existiert unser Gott-in-Beziehung nicht, es wäre dies die Vorstellung einer einsamen, fernen und gnostischen Gottheit, die keine Freunde hat." (1986, 51). | 65 Es ist üblich, UT in Ps 30,5 als Synonym zum „Namen" Jahwes (ottf) zu übersetzen, der für Jahwe selbst steht; vgl. dazu KRAUS 1978, 388, SCHOTTROFF 1964, 297 f. und

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Kapitel IV: Diskurspragmatik

in Prophetie und Psalter

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sem imperativischen Hymnus transformiert die Gemeinde die individuelle Heilserfahrung des Beters zum verallgemeinerten Heilswissen, das auf diese Weise dem kollektiven Gedächtnis von Gottes Gnadenhandeln eingestiftet und zugleich in seiner Wahrheit neu bestätigt wird 66 . Dementsprechend gibt dann in Ps 115 die Gemeinde selbst Jahwe die Ehre um seiner Güte- und Treueerweise willen (V. 1) und singt zum Schluß (V. 17 f.): „Nicht die Toten loben Jah, und nicht all die, die ins Schweigen hinabsteigen, sondern wir, wir preisen Jah, von jetzt an bis in Ewigkeit." In der lobenden Vergewisserung seines Heilshandelns im Kontrast zu den toten Götzen und ihren Verehrern (V. 2-8) vollzieht die Gemeinde den Selbstausdruck ihrer Lebendigkeit und antwortet damit auf die ihr zugewandte Lebendigkeit Gottes. Unter Aufnahme der eingangs aufgeworfenen Fragen möchte ich abschließend thesenartig zwei Konsequenzen aus dem gewonnenen Ergebnis ziehen: 1. Die Gegenwart und das Heilswirken des biblischen Gottes bleiben unabdingbar angewiesen auf die Erinnerung und die Vergegenwärtigung | seines biblisch bezeugten Heils- und Unheilshandelns, in dem er sich manifestiert hat und sich je neu offenbart. Auf diese Weise konstituiert sich unablässig das kollektive Gedächtnis seiner Gemeinde. Im actus tradendi EISING 1977, 586. Andererseits meint der Ausdruck in Ps 6,6 als nomen actionis eindeutig „die hymnische Erwähnung, de(n) hymnische(n) Lobpreis" (SCHOTTROFF 1964, 294), d.h. „das Gedenken der großen Taten Gottes im Lobpreis" (KRAUS 1978, 186). Was aber im Tode nach Ps 6,6 nicht möglich ist, gerade das vollzieht der Geheilte, indem er die versammelte Gemeinde dazu aufruft, lobend seiner Heiligkeit zu „gedenken" (vgl. auch Ps 97,12 und 145,7 im Kontext von V. 2 ff. sowie GESE 1968, 11 zu Ps 22,23 ff.). Die Präposition 'i wäre dann modal zu verstehen, zumal das Objekt at» wesentlich häufiger ohne Präposition bzw. mit der nota accusativi an n v hif. angeschlossen wird (lOmal in I R e g 8 , 3 3 . 3 5 ; J e s 2 5 , 1 ; P s 4 4 , 9 ; 5 4 , 8 ; 9 9 , 3 ; 1 3 8 , 2 ; 1 4 2 , 8 ; II C h r 6 , 2 4 . 2 6 ) a l s m i t

(4mal

in Ps 106,47; 122,4; 140,14 und I Chr 16,35). Eine sichere Entscheidung ist auf dieser Basis allerdings nicht möglich. 66 Dieser Zusammenhang von imperativischem Hymnus und dem Danklied des Einzelnen bzw. von individueller Heilserfahrung und ihrer Aneignung durch die Gemeinde ist konstitutiv für die Aufrechterhaltung, die Beglaubigung und die stetige Erneuerung des kollektiven Gedächtnisses der Gemeinde, auf das Gottes Sein und Wirken angewiesen ist. Das bestätigt besonders schön der Aufbau von Ps 118, wo das Danklied des Einzelnen (V. 5-19) durch den imperativischen Aufruf zum Lobdank an die Gemeinde eröffnet wird. Wie in Ps 30,5 f. begegnet auch in Ps 22,24 f. innerhalb des Dankliedes der Aufruf zum Lobpreis an die Gemeinde (vgl. dazu GESE 1968, 11 f., ja in 22,4 wird gesagt, daß Jahwe in Gestalt des Lobpreises Israels seine Königsherrschaft ausübt (3U>r •jxnar ni'jnn), was in V. 28-30 konkret gefüllt wird (vgl. dazu a.a.O., 7). Besonders Ps 102,13 (vgl. 19-22) unterstreicht diese ewige Herrschaft im Gedächtnis der Geschlechter; ähnlich expliziert Ps 78,1-8 die konstitutive Funktion des lebendigen Traditionsprozesses (vgl. bes. V. 6-8, ferner Jer 33,11). Zum ganzen vgl. CHILDS 1962 und SCHOTTROFF 1964, 292 ff.

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13. „Denn im Tod ist kein Gedenken an dich

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wird einerseits die historische Kontinuität des traditum als „Wissen von Gott" aufrechterhalten. Andererseits bewahrt dieses „Wissen von Gott" seine tradierenswerte Relevanz und Plausibilität nur dann, wenn es als Heils- bzw. Unheilshandeln Gottes existentiell je neu erfahren und für andere erfahrbar wird. Jede Generation wird ihre eigene Antwort auf die Frage Gideons in Erfahrung bringen müssen: „Wenn Gott mit uns ist, warum hat uns all dieses getroffen? Und wo sind alle seine Taten wider Erwarten, von denen uns unsere Väter erzählt haben?" (Jdc 6,13) Und jede Generation wird sich neu dem Aufschrei Jesu am Kreuz auszusetzen haben: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!" (Mk 15,34 67 ) um seiner Gegenwart gewiß zu werden. D.h. die Gegenwart bzw. die Heilswirklichkeit des biblischen Gottes bleibt darauf angewiesen, daß seine Gemeinde und seine Zeugen in den Widerfahrnissen ihres Lebens die Erfahrung seines biblisch bezeugten Wirkens machen und sie als solche öffentlich zur Sprache bringen wie der geheilte Kranke 68 . Zusammengefaßt heißt die erste These: Für das Sein und die Wirklichkeit Gottes als deus revelatus gibt es keinen anderen Seinsgrund, als daß er in seinem Handeln an den Menschen biblisch bezeugt ist und als solcher je neu erfahren und neu bezeugt wird. Als deus revelatus teilt er in seinem Leben und Wirken die Geschichte des Menschengeschlechtes. 2. Innerhalb dieser Geschichte des Menschengeschlechtes bleibt der biblische Gott aber machtlos dagegen, vergessen, verschwiegen, geleugnet und damit de facto getötet zu werden. Dabei wird das, „was den Menschen unbedingt angeht" (P. Tillich) de facto - artikuliert oder unartikuliert - auf menschliche Gebilde bzw. auf den Menschen selbst übertragen, d.h. | im

67 Zu Jdc 6,13 vgl. auch den Umschlag in Ps 22,4-6 zu 7 ff. Es ist sicher kein Zufall, daß in Jesu Schrei am Kreuz gerade diese äußerste Noterfahrung der drohenden oder tatsächlichen Gottverlassenheit aus den Klagepsalmen aufgenommen wird (vgl. neben Ps 22,2 die Bitten im Krankenpsalm 38,22, im Psalm eines Angeklagten und Verfolgten 27,9 sowie im Klagelied eines alten Mannes, der von Feinden verfolgt wird 71,9 und 18). So wird diese Erfahrung mit hineingenommen in den Kreuzestod Jesu und in seiner Auferweckung für den Glaubenden überwunden. 68 Vgl. TILLICHS Hinweis auf die Korrelation von theologischer Antwort und existentieller Frage, die er als die beiden Brennpunkte einer Ellipse beschreibt: „Der Theologe darf nicht bei der theologischen Antwort, die er verkündet, verharren. Er kann sie in überzeugender Weise nur geben, wenn er mit seinem ganzen Sein in der Situation der menschlichen Frage steht" (1958, 21 f.). Allerdings ist zu fragen, ob es überhaupt die Aufgabe von Theologen sein kann, Antworten zu geben, und es nicht vielmehr ihr Auftrag wäre, die biblischen Zeugnisse in der ganzen Spannung von historischer Differenz und erhellender Analogie so auf unsere Gegenwart hin transparent zu machen, daß sie ihm selbst und anderen zur Antwort werden, zu Antworten, die es gemeinsam im Dialog untereinander und mit Schrift und Tradition immer auch erst zu suchen und neu zu entdecken gilt. - Vgl. dazu auch DALFERTH 1984, bes. 64-66.

334

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biblischen Sinne auf Götzen 69 . Dementsprechend ruft „der tolle Mensch" bei F. Nietzsche aus: „Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!", um dann die wahnhafte Frage zu stellen: „Ist nicht die Grösse dieser Tat zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? 70 " Gegen Ende unseres vielleicht unmenschlichsten Jahrhunderts erkennen wir die Folgen solcher Selbstentgrenzung und Aufkündigung der Gottesbeziehung, die u.a. dem Nationalsozialismus den Boden bereitet haben 71 . Und wir lernen die Selbstgefahrdungen des Menschen begreifen, wo er in seinem „Gotteskomplex" (H. E. Richter), seinem Machbarkeitswahn und seiner Todesverdrängung die Herrschaft über die Natur in einer Weise ausübt und sich zum unumschränkten Subjekt der Geschichte mit Mitteln aufschwingt, die die Selbstauslöschung des Menschengeschlechtes zur Konsequenz haben könnten 72 . Aber schon heute richtet diese Herrschaftsausübung ungeahnte, vielleicht irreversible Verwüstungen an und fordert täglich unzählbare Menschenund Tieropfer durch Ungerechtigkeit, Hunger, Gewalt und Krieg. Ein Lebensvollzug „etsi deus non daretur" bedroht sich selbst und andere durch tödliche „Verhältnislosigkeit" aufgrund des in praxi verlorenen Gottesverhältnisses 73 . Theologisch gesprochen, kehrt sich dem | Menschen in diesen 69 Vgl. dazu Ps 115 und Luthers Auslegung des 1. Gebots im Großen Katechismus: „Worauf du nun ... dein Herz hängest und verlassest, das ist eigentlich dein Gott" (WA 30,1,133 Z. 7 f., vgl. EBELING 1964, 289). Noch wichtiger scheint mir in diesem Zusammenhang das 2., das Bilderverbot (Ex 20,4 f.) zu sein. Es weiß von der großen Gefahr, daß irgend etwas Innerweltliches, was zum festen Bild, zum absoluten Begriff, zum alles bestimmenden System geworden ist, de facto angebetet zu werden und an die Stelle Gottes zu treten droht. Vgl. dazu auch Weinrichs Interpretation der „Gottesfinsternis" bei Martin Buber: „Doch ist das Wesen des wirklichkeitsgestaltenden Menschen, des Ich-Es, daß es keine dem Menschen gegenüberstehende Transzendenz kennt, ja sie nicht zulassen darf. Und an dieser Stelle ist die aktive Beteiligung des Menschen an der Gottesfinsternis zu suchen" (WEINRICH 1983, 74 f.), d.h. in den Worten M. Bubers: „Wer sich weigert, die wirkende Wirklichkeit der Transzendenz, unser Gegenüber, als solches auszustehen, arbeitet an der menschlichen Seite der Verfinsterung mit" (BUBER 1962, 520). 70

N I E T Z S C H E 1 9 9 9 , 1 2 5 f.

71

V g l . d a z u RICHTER 1979, b e s . 5 1 - 6 0 . HEYWARD f o r m u l i e r t d i e s e n

Zusammenhang

in Auseinandersetzung mit dem Holocaust sehr klar: „Gleichgültigkeit, das Schweigen der Seele, die Abkehr von der Menschheit... ist die einzige echte Leugnung Gottes und auch die einzige Negation der Menschheit. Die Alternative ist Freundschaft oder Liebe, der grundlegende Akt der Beziehung zwischen Mensch und Mensch, zwischen Menschheit und Gott" (1986, 152). 72

73

Vgl. d a z u bes. ALTNER 1980, 1 18-133 u n d

133-148.

Vgl. JÜNGEL 1971, 99. Dabei ist der lebenspraktische Atheismus, dem mit dem Verlust der Gottesbeziehung auch die mitmenschliche und mitgeschöpfliche Beziehungsfahigkeit verloren zu gehen droht, zu unterscheiden vom methodischen | Atheismus der Wissenschaften, für den „Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ... abgeschafft" und „überwunden (ist)" (BONHOEFFER 1998, 529 ff.). „Der

[311]

13. „Denn im Tod ist kein Gedenken an dich

335

tödlichen Konsequenzen seiner praktischen Gottvergessenheit die abgewandte Seite Gottes als des deus absconditus zu 74 . Ich möchte mit einer kurzen Bemerkung schließen. Zwar leben wir als Christen in der eschatologischen Hoffnung, daß diese Herrschaft des „bösen", vorzeitigen Todes und der selbstverschuldeten „Hölle auf Erden" einmal ein Ende haben wird. Und Gott selbst hat sich in Jesus Christus diesem Tode unterworfen und ihn vorwegnehmend als Anfang des neuen Lebens überwunden. In der Verwirklichung seines Heils aber bleibt Gott auf seine Zeugen angewiesen, und damit auch auf die Nachfolger Christi, an denen trotz und im Angesicht der Herrschaft des Todes das Leben Jesu immer von neuem offenbar wird (II Kor 4,11) und die stets aufs neue die Eucharistie als die Gegenwart des Auferstandenen feiern - „zu seinem Gedächtnis". |

Gott, der uns in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott." (a.a.O., 533, vgl. dazu ähnlich HEYWARD 1986, 51). 74 Vgl. dazu bes. ALTNERS Hinweis auf M. Heidegger 1980, 121 f. und 130: „Wie nüchtern und illusionslos Heidegger von diesem wahrhaft neuen Kommen Gottes, in dem alle Denktraditionen des Abendlandes in die Krise gezogen sein müßten, sprach, er gibt sich daraus, daß er den Untergang der Menschheit im Angesicht des abwesenden (nicht etwa des nichtexistenten) Gottes nicht ausschließen mochte."

Kapitel V

Systematische Ansatzpunkte einer performativen Theologie der Bibel

14. Systematische Elemente der Theo-logie in der Hebräischen Bibel Das Loben Gottes - ein Kristallisationsmoment biblischer Theo-logie (1995)

Die folgende Skizze 1 will einen Anstoß geben, die Frage nach einer Theologie des Alten Testaments und nach ihrem inneren systematischen Zusammenhang aus einem neuen und andersartigen Blickwinkel anzugehen im Gegenüber zu den zahlreichen Versuchen besonders in der deutschen alttestamentlichen Wissenschaft, eine systematische „Mitte" in diesem ersten Hauptteil der Bibel zu suchen und zu bestimmen 2 . Dabei kann es in diesem Kurzbeitrag nur um eine umrißhafte Entfaltung dieses, soweit ich sehe, neuartigen Blickwinkels gehen, wobei von vornherein dem Mißverständnis gewehrt werden muß, der im folgenden als Modell herangezogene Psalm 30 bzw. die m i n als Sprechaktzusammenhang sei diese Mitte selbst, als ließe sich die alttestamentliche Überlieferung als ganze auf die eine Funktion lobpreisender Anbetung reduzieren. Vielmehr soll im folgenden anhand der m i n ein theologisch grundlegendes Prozeßmodell aufgezeigt werden, in welchem sich wesentliche Formen des religiösen Diskurses in ihrem inneren Zusammenhang bündeln. Das Bündel umspannt elementare Aspekte der auf Gott bezogenen Rede wie Loben und Klagen, erzählendes Erinnern und Vergegenwärtigen, Bekennen und öffentliches Bezeugen. Man könnte bei diesem komplexen Gefüge religiöser Redehandlungen gleichsam von einem theo-logischen Aggregat sprechen 3 . Denn im Diskursgeschehen der m i n konstituiert sich auf eine besonders einschlägige Weise die Beziehung zwischen Gott und Mensch je neu und

1 An dieser Stelle sei vor allem den Studentinnen und Studenten meines Hauptseminars zu einer möglichen Theologie des Alten Testaments im Sommersemester 1994 gedankt, die sich mit viel Einsatzwillen durch verschiedene Ansätze hindurchgearbeitet und mit großer Diskussionsfreude wesentlich zur Schärfung meiner Darlegung beigetragen haben. 2

3

V g l . S M E N D 1 9 8 6 ; P R E U B 1 9 9 1 , 2 5 - 2 7 s o w i e A L B E R T Z 1 9 9 2 , 3 5 f. |

Im Unterschied zum „Begriff >Theologie< als Bezeichnung lehrmäßiger Entfaltung des christlichen Glaubens" (EBELING 1967, 69-89, Zitat 71; vgl. 84 f.) soll mit den Bindestrichbezeichnungen „Theo-logie" und „theo-logisch" das Augenmerk auf das Reden von Gott gerichtet werden (vgl. auch PREUB 1991, 27), wobei in Aufnahme einer Anregung meines Kollegen Th. Willi strenggenommen von „Theou-Logie" (Genitivverbindung) gesprochen werden müßte.

340

Kapitel

V: Ansatzpunkte

einer performativen

Theologie

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gibt sich zugleich weiter. Daran lassen sich symbolisch-interaktive Grundstrukturen einer prozeßhaft gedachten Theologie der Hebräischen Bibel aufzeigen. Von zentraler Bedeutung ist dieser Geschehenszusammenhang der m i n , weil er m.E. das Werden der biblischen Traditionsliteratur wesentlich vorangetrieben und ihre Auslegung bis heute lebendig erhalten hat. Dabei verhalten sich die überlieferten Texte zu diesem symbolischinteraktiven Geschehen wie Partituren zur gespielten Musik. Erst und nur durch die stets interpretierende Neuaufführung entfalten sie ihre Dynamik. Und eben in dieser Diskursdynamik, deren Niederschlag die Psalmenüberlieferung - aber nicht nur sie - darstellt, sehe ich ein elementares Kristallisationsmoment biblischer Theo-logie. Allerdings ist dies dann eine Art von Theologie, die konsequent die biblische Rede von Gott und ihre spezifischen Diskursformen zum Gegenstand hat, und nicht eine wie immer geartete Lehre von Gott in der Tradition der griechisch-abendländischen Metaphysik 4 . Um dieses traditionsmächtige Paradigma zu überwinden, ist konsequent am phänomenologisch primären Diskurscharakter biblischer Überlieferung anzusetzen 5 . Ihr innerer Zusammenhang ist in einer Systematik von Rede Vollzügen zu suchen, die das vielfaltige Reden von und zu Gott in den überlieferten Texten selbst und als solches ins Auge faßt und die dieses Reden als symbolischinteraktives Beziehungsgeschehen durchdenkt. Den grundlegenden Diskurscharakter biblischer Überlieferung vorschnell zu überspringen heißt 4 Vgl. zur scholastischen Wurzel der Theologie als doctrina EBELING 1967, 85. Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht die Emphase, mit der PREUß in seiner Einleitung zwar den dynamischen Charakter des Redens von und zu Gott hervorhebt: „Wie kommt Gott in den Texten des AT zur Sprache, wie geschieht dort >Theo-logie