Der junge Luther und Aristoteles: Eine historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie [Reprint 2015 ed.] 3110167565, 9783110167566

This study deals with the young Luther's critique and appropriation of Aristotle in his scholastic interpretation.

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Polecaj historie

Der junge Luther und Aristoteles: Eine historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie [Reprint 2015 ed.]
 3110167565, 9783110167566

Table of contents :
Vorwort
Hinweise
§ 1 Einleitung
1. Problemanzeige
2. Zwei verschiedene Weisen, das Verhältnis Luthers zu Aristoteles zu bestimmen
3. Hermeneutische Erschließung und disputative Rekonstruktion der Kontroverse
4. Aristotelismus: der inhaltliche und der institutionelle Aspekt
5. Vier Entscheidungen zu Anlage und Methode der Untersuchung
6. Die Frage nach dem Kontext des Denkens Luthers statt der Frage nach Einflüssen auf ihn
7. Der Problemzusammenhang der Theologie Luthers mit der Scholastik
8. Exkurs: Zum Problem der Einheit der Scholastik
9. Zum Gang der Untersuchung
Kapitel 1: Luthers Kritik am teleologischen Seelenverständnis des Aristoteles
Einführung
§ 2 Rekonstruktion und Explikation von Luthers Argument
§ 3 Überprüfung von Luthers These an der »Nikomachischen Ethik« und an der Lehre vom finis ultimus in der Scholastik
§ 4 Die Resolution zur 58. Ablaßthese
1. Der Kontext der 58. Ablaßthese
2. Das Objekt des Wollens bei Aristoteles und in der Scholastik
3. Das Leiden als malum bei Aristoteles
4. Das bonum und die Freundschaft bei Aristoteles
5. Amor hominis und amor crucis im Verhältnis zum Armen
§ 5 Luthers Verständnis des »quaerere quae sua sunt« als Bestimmung des Sünders
1. Zwei Hinsichten des »quaerere quae sua sunt«
2. Das »quaerere quae sua sunt« im Verhältnis zum Nächsten
3. Das »quaerere quae sua sunt« im Verhältnis zu Gott
4. Zusammenfassung
§ 6 Amor crucis und amor hominis
1. Theologia crucis und theologia gloriae
2. Explizierende und kritische Erwägungen zur theologia crucis
3. Zusammenfassung
§ 7 Appetitus contrarii
§ 8 Struktur und Zielsetzung von These 28 und ihrer probatio. Zusammenfassung
1. Struktur und Zielsetzung von These 28 und ihrer probatio
2. Zusammenfassung
Kapitel 2: »Non enim, ut Aristoteles putat, iusta agendo iusti efficimur«
Einführung
§ 9 Luther und die aristotelische Lehre vom Erwerben der Tugend
1. Das aristotelische Verständnis vom Erwerben der Tugend
2. Luthers Rezeption des aristotelischen Verständnisses vom Erwerben der Tugend
3. Zusammenfassung
§ 10 Die aristotelische Lehre vom Erwerben der Tugend in der Interpretation von Johannes Buridan und Gabriel Biel
§ 11 Das Gerechtwerden des Menschen in der Gnaden- und Verdienstlehre Gabriel Biels
§ 12 Das Gerechtwerden des Menschen in der thomanischen Gnaden- und Verdienstlehre
1. Luthers Kritik und die thomanische Gnadenlehre
2. Analyse von zur Mühlens Verständnis von Luthers Kritik
§13 Zur Herkunft des von Luther kritisierten Freiheitsbegriffs
1. Die Kritik von 1277 an einem deterministischen Willensverständnis
2. Exkurs: Kritik an der griechischen Wesensphilosophie im Namen der Freiheit: Origenes und Gregor von Nyssa
3. Olivis Kritik am aristotelischen Willensverständnis
4. Zum Verständnis der Freiheit des Willens bei Duns Scotus
5. Das Verständnis der Willensfreiheit in Buridans Kommentar zur »Nikomachischen Ethik«
§ 14 »Prius necesse est personam esse mutatam, deinde opera.«
1. Die Bedeutung des scholastischen »persona«-Verständnisses für Luther
2. Zur Problematik der Unterscheidung von Person und Werk bei Luther
3. Luthers Kritik am Glauben als habitus und ihre Probleme
Kapitel 2: Zusammenfassung
Kapitel 3: Die aristotelische Erkenntnislehre in der Theologie Luthers
§15 »intellectus sit intelligibile per actualem intellectionem«
1. Das aristotelische Theorem und Luthers Bezugnahme darauf
2. Das aristotelische Theorem in der Predigt vom 25.12.1514
3. Die intellectus-Lehre in Luthers Auslegung von Röm 3,7
4. Die intellectus-Lehre in der Auslegung von Röm 8,24
Kapitel 4: Der aristotelische Bewegungsbegriff in der Theologie Luthers
Einführung
1. Definitionen von »Bewegung«
2. Die verschiedenen Motive
§ 16 Die Definition der Bewegung bei Aristoteles und seinen mittelalterlichen Interpreten
1. Verständnis und Definition der Bewegung bei Aristoteles
2. Das Verständnis der Bewegung bei Thomas
3. Das Verständnis der Bewegung bei Ockham
4. Zu Einzelfragen
5. Luthers Auffassung vom ontischen Status der Bewegung
§ 17 Die theologische Rezeption des »aristotelischen« Bewegungsbegriffs bei Luther
1. Das theologische Problem Luthers
2. Luthers Verständnis von Bewegung als Versuch, ein theologisches Grundproblem zu lösen
3. »Semper in motu«
4. »Proficere est nihil aliud, nisi semper incipere«
5. »Partim iustus — partim peccator«
6. »In Naturalibus rebus quinque sunt gradus«
7. Zusammenfassung
§18 Luthers Weihnachtspredigt von 1514
1. Der erste Teil der Predigt (Joh 1,1 f)
2. Der zweite Teil der Predigt (Joh 1,14a)
3. Abschließende Bemerkungen
Kapitel 5: Die Logik im Urteil des jungen Luther
§19 »Frustra fingitur logica fidei«
1. »Theologus non logicus est monstrosus haereticus« (These 45)
2. »Frustra fingitur logica fidei« (These 46)
3. Der Exkurs in der Weihnachtspredigt von 1514 zur Logik in der Trinitätslehre
4. Syllogistische Form und Trinitätslehre (Thesen 47 bis 49)
5. Aristoteles und die Theologie: Finsternis und Licht (These 50)
6. Zweifel am Aristoteles-Verständnis der Scholastiker (These 51)
7. Porphyrius: Schaden für die Theologie (These 52)
8. Die petitio principii der aristotelischen Definitionen (These 53)
9. Zusammenfassung und Weiterführung
Kapitel 6: Die philosophischen Thesen der »Heidelberger Disputation«
Einführung
§ 20 »in Aristotele philosophari« — »stultificari in Christo« (Thesen 1 und 2)
1. Die erste philosophische These
2. Die zweite philosophische These
§ 21 Die Ewigkeit der Welt und die Sterblichkeit der Seele (These 3)
Vorbemerkung zu den folgenden vier Paragraphen
1. Die dritte These
2. Die probatio für den ersten Teil der These
§ 22 Das Verständnis des intellectus humanus bei Buridan und Usingen
1. Das Verständnis des intellectus humanus bei Buridan
1.1 »Utrum intellectus humanus sit forma corporis humani«
1.2 »Utrum intellectus humanus sit perpetuus«
2. Das Verständnis des intellectus humanus bei Usingen
§ 23 »anima humana mortalis est« – Die Argumentation secundum Aristotelis principia
§ 24 »anima videtur immortalis« – Die Argumentation iuxta Aristotelis recitata
1. De anima II,2
2. De anima III,5
3. Metaphysik XII,3
4. Nikomachische Ethik I,11
5. Vollständigkeit der von Luther herangezogenen Texte?
§ 25 Zum »aristotelischen« Verständnis der materia (These 4)
§ 26 Werden und materia (These 5)
§ 27 Die Unmöglichkeit der materia nuda (These 6)
§ 28 Das aristotelische Verständnis des Unendlichen (These 7)
§ 29 Die Summe von Luthers Kritik an Aristoteles (These 8)
§ 30 Luthers Alternative: Platon! (These 9)
Kapitel 6: Zusammenfassung
Schlußbemerkung
Literaturverzeichnis
I. Quellen
IL Übersetzungen
III. Sekundärliteratur
Personenregister

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Theodor Dieter Der junge Luther und Aristoteles

Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von O. Bayer · W Härle · H.-P. Müller

Band 105

W DE

G_ Walter de Gruyter · Berlin · New York 2001

Theodor Dieter

Der junge Luther und Aristoteles Eine historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie

w DE

G Walter de Gruyter · Berlin · New York 2001

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Emheitsaufnabme Dieter, Theodor: Der junge Luther und Aristoteles : eine historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie / Theodor Dieter. - Berlin ; New York : de Gruyter, 2001 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 105) Teilw. zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1991 und Tübingen, Univ., Habil.-Schr., 1997 ISBN 3-11-016756-5

© Copyright 2001 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

Meinen Eltern

Vorwort

Die Auseinandersetzung mit Aristoteles hat für Luthers Theologie große Bedeutung. Der Aristoteles freilich, zu dem Luther sich ins Verhältnis setzt, ist eine außerordentlich vielgestaltige Größe, und die Formen, in denen er dies tut, sind ebenso vielfaltig: scharfsinnig argumentierend und pauschal polemisierend, aristotelische Gedanken für die Theologie rezipierend und Aristoteles als Verführer der Theologen brandmarkend, stolz auf die eigenen Kenntnisse in der aristotelischen Philosophie und die philosophischen Studien als nutzlos verwerfend. Die vorliegende Untersuchung gilt dieser Auseinandersetzung. Sie stellt sich die Aufgabe zu klären, welchen Aristoteles Luther im einzelnen Fall meint, und die Argumente zu prüfen, die er kritisch gegen aristotelische Auffassungen vorbringt, und die Weisen zu analysieren, in denen er aristotelische Lehrstücke für die Theologie fruchtbar machen will. Es geht nicht nur darum, die beiden Seiten je für sich hermeneutisch zu erschließen, sondern auch darum, die Kontroverse als Kontroverse zu rekonstruieren, und zwar im Sinn einer Disputation, in der beide Seiten zu Wort kommen. Eine solche disputative Rekonstruktion erfordert eine ziemlich weitgehende Berücksichtigung scholastischer Theorien, um den Kontext für ein solches Vorhaben darzulegen. Deshalb beschränkt sich unsere Untersuchung auf Texte des jungen Luther bis 1518. Die systematischen Probleme werden in dem geschichtlichen Zusammenhang, in dem sie sich damals gestellt haben, analysiert. Auf diese Weise soll einer Fremdbestimmung der Luther-Interpretation durch gegenwärtige Fragestellungen und Auffassungen entgegengewirkt werden. Wichtige lateinische Zitate sind ins Deutsche übersetzt worden; viele andere konnten aus Platzgründen nur lateinisch wiedergegeben werden. Es ist aber um der Überpriifbarkeit der vorgetragenen Ergebnisse willen unmöglich, auf die lateinischen Zitate zu verzichten. Kapitel 6 dieser Untersuchung wurde 1991 als Dissertation, Kapitel 1 bis 5 wurden 1998 als Habilitationsschrift im Fach Systematische Theologie von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen angenommen. Beide Teile wurden für die Veröffentlichung überarbeitet. Vielen habe ich zu danken: Herr Prof. Dr. Oswald Bayer hat mir während vieler Jahre wichtige Einsichten in die Theologie Luthers vermittelt, er hat meine

Vili

Vorwort

Luther-Studien unterstützt und mich ermutigt, eigene theologische Denkwege zu gehen; er hat auch die Erstgutachten für die Dissertation und die Habilitationsschrift erstellt. Mein Dank gilt weiter Herrn Prof. Dr. Wilfried Werbeck für das Zweitgutachten über die Dissertation, Herrn Prof. Dr. Ulrich Köpf für das Zweitreferat zur Habilitationsschrift. Beiden verdanke ich auch wertvolle Hinweise und Ratschläge. Weiter danke ich meiner Kollegin und meinen — jetzigen und früheren — Kollegen am Institut für ökumenische Forschung in Straßburg, Prof. Dr. Elisabeth Parmentier, Prof. Dr. André Birmelé, Prof. Dr. Mickey Mattox, Prof. Dr. Michael Root, Prof. Dr. Risto Saarinen, für ihr Verständnis und ihre tatkräftige Unterstützung. Bei Frau Elke Leypold bedanke ich mich für ihre Hilfe beim Korrekturenlesen, bei Herrn Heinrich Ottinger für seine außerordentliche Hilfe bei der Erstellung einer druckfertigen Vorlage. Die Studienstiftung des deutschen Volkes hat mich während des Studiums gefördert und mir auch ein Promotionsstipendium gewährt. Der Evangelischen Landeskirche in Württemberg und dem Lutherischen Weltbund (Department for Theology and Studies und Office for Ecumenical Affairs) danke ich für Druckkostenzuschüsse. Nicht zuletzt gilt mein Dank den Herren Professoren Dr. Oswald Bayer, Dr. Wilfried Härle und Dr. Hans-Peter Müller für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe »Theologische Bibliothek Töpelmann«. Weil im Schönbuch, Ostern 2001

Theodor Dieter

Inhaltsverzeichnis Vorwort

VII

Hinweise

XVI

§ 1 Einleitung

1

1. Problemanzeige 2. Zwei verschiedene Weisen, das Verhältnis Luthers zu Aristoteles zu bestimmen 3. Hermeneutische Erschließung und disputative Rekonstruktion der Kontroverse 4. Aristotelismus: der inhaltliche und der institutionelle Aspekt . . 5. Vier Entscheidungen zu Anlage und Methode der Untersuchung 6. Die Frage nach dem Kontext des Denkens Luthers statt der Frage nach Einflüssen auf ihn 7. Der Problemzusammenhang der Theologie Luthers mit der Scholastik 8. Exkurs: Zum Problem der Einheit der Scholastik 9. Zum Gang der Untersuchung

2 5 7 14 18 23 27 28 37

Kapitel 1 : Luthers Kritik am teleologischen Seelenverständnis des Aristoteles

39

Einfuhrung

39

§2

Rekonstruktion und Explikation von Luthers Argument

. . . .

40

§3

Uberprüfung von Luthers These an der »Nikomachischen Ethik« und an der Lehre vom finis ultimus in der Scholastik . . .

49

Die Resolution zur 58. Ablaßthese 1. Der Kontext der 58. Ablaßthese 2. Das Objekt des Wollens bei Aristoteles und in der Scholastik . 3. Das Leiden als malum bei Aristoteles 4. Das bonum und die Freundschaft bei Aristoteles 5. Amor hominis und amor crucis im Verhältnis zum Armen . .

64 65 66 69 72 76

§4

χ §5

Inhaltsverzeichnis

Luthers Verständnis des »quaerere quae sua sunt« als Bestimmung des Sünders 1. Zwei Hinsichten des »quaerere quae sua sunt« 2. Das »quaerere quae sua sunt« im Verhältnis zum Nächsten . . 3. Das »quaerere quae sua sunt« im Verhältnis zu Gott . . . . 4. Zusammenfassung

80 80 82 86 106

§6

Amor crucis und amor hominis 1. Theologia crucis und theologia gloriae 2. Explizierende und kritische Erwägungen zur theologia crucis . 2.1 Zum Verständnis des Leidens 2.2 »Wer Weisheit sucht, der werde ein Tor« 2.3 »Gott kann nur im Leiden und im Kreuz gefunden werden«. . 2.4 »Die Wassersucht der Seele« 3. Zusammenfassung

107 107 122 122 123 124 126 128

§7

Appetitus contrarli

130

§8

Struktur und Zielsetzung von These 28 und ihrer probado. Zusammenfassung 1. Struktur und Zielsetzung von These 28 und ihrer probado . . 2. Zusammenfassung

136 136 142

Kapitel 2: »Non enim, ut Aristoteles putat, iusta a g e n d o iusti e f f i c i m u r «

149

Einführung

149

§9

152 154

Luther und die aristotelische Lehre vom Erwerben der Tugend . 1. Das aristotelische Verständnis vom Erwerben der Tugend . . 2. Luthers Rezeption des aristotelischen Verständnisses vom Erwerben der Tugend 3. Zusammenfassung

§ 1 0 Die aristotelische Lehre vom Erwerben der Tugend in der Interpretation von Johannes Buridan und Gabriel Biel

. . .

168 174 175

§ 11 Das Gerechtwerden des Menschen in der Gnaden- und Verdiensdehre Gabriel Biels

183

§ 1 2 Das Gerechtwerden des Menschen in der thomanischen Gnaden- und Verdienstlehre 1. Luthers Kritik und die thomanische Gnadenlehre 2. Analyse von zur Mühlens Verständnis von Luthers Kritik

193 193 202

. .

Inhaltsverzeichnis

§13 Zur Herkunft des von Luther kritisierten Freiheitsbegriffs . . . . 1. Die Kritik von 1277 an einem deterministischen Willensverständnis 2. Exkurs: Kritik an dergriechischen Wesensphilosophie im Namen der Freiheit: Orígenes und Gregor von Njssa 3. Olivis Kritik am aristotelischen Willensverständnis 4. Zum Verständnis der Freiheit des Willens bei Duns Scotus . . 5. Das Verständnis der Willensfreiheit in Buridans Kommentar zur »Nikomachischen Ethik«

XI

214 214 216 217 220 225

§14 »Prius necesse est personam esse mutatam, deinde opera.« . . . . 1. Die Bedeutung des scholastischen »persona«-Verständnisses für Luther 2. Zur Problematik der Unterscheidung von Person und Werk bei Luther 3. Luthers Kritik am Glauben als habitus und ihre Probleme . .

228

234 243

Kapitel 2: Zusammenfassung

251

Kapitel 3: Die aristotelische Erkenntnislehre in der Theologie Luthers

257

§ 15 »intellectus sit intelligibile per actualem intellectionem« 1. Das aristotelische Theorem und Luthers Bezugnahme darauf . 2. Das aristotelische Theorem in der Predigt vom 25.12.1514 . . 3. Die intellectus-Lehre in Luthers Auslegung von Rom 3,7 . . . 4. Die intellectus-Lehre in der Auslegung von Rom 8,24 . . . .

257 257 260 269 271

Kapitel 4: Der aristotelische Bewegungsbegriff in der Theologie Luthers

276

Einführung 1. Definitionen von »Bewegung« 2. Die verschiedenen Motive

276 277 278

§16 Die Definition der Bewegung bei Aristoteles und seinen mittelalterlichen Interpreten 1. Verständnis und Definition der Bewegung bei Aristoteles . . . 2. Das Verständnis der Bewegung bei Thomas 3. Das Verständnis der Bewegung bei Ockham

280 280 284 288

228

XII

Inhaltsverzeichnis

4. 4.1 4.2 4.3 5.

Zu Einzelfragen »Semper« »Partim in termino a quo et partim in termino ad quem« »Omnis motus est a contrario in contrarium« Luthers Auffassung vom ontischen Status der Bewegung

. . . .

§ 17 Die theologische Rezeption des »aristotelischen« Bewegungsbegriffs bei Luther 1. Das theologische Problem Luthers 2. Luthers Verständnis von Bewegung als Versuch, ein theologisches Grundproblem zu lösen 3. »Semper in motu« 4. »Proficere est nihil aliud, nisi semper incipere« 5. »Partim iustus — partim peccator« 6. »In Naturalibus rebus quinqué sunt gradus« 7. Zusammenfassung

295 295 296 299 300 302 302 308 313 317 326 335 343

§ 1 8 Luthers Weihnachtspredigt von 1514 1. Der erste Teil der Predigt (Joh 1,1 f) 1.a Der erste Abschnitt des ersten Teils der Predigt: Analytischer Kommentar zu Joh 1,1 f 1 .b Der zweite Abschnitt des ersten Teils der Predigt: Die Identifizierung des Wortes als Sohn Gottes und umgekehrt 2. Der zweite Teil der Predigt (Joh 1,14a) 3. Abschließende Bemerkungen

346 348

349 370 375

Kapitel 5: Die Logik im Urteil des jungen Luther

378

§ 1 9 »Frustra fingitur logica fidei« 1. »Theologus non logicus est monstrosus haereticus« (These 45) 2. »Frustra fingitur logica fidei« (These 46) 3. Der Exkurs in der Weihnachtspredigt von 1514 zur Logik in der Trinitätslehre 4. Syllogistische Form und Trinitätslehre (Thesen 47 bis 49) . . 5. Aristoteles und die Theologie: Finsternis und Licht (These 50) 6. Zweifel am Aristoteles-Verständnis der Scholastiker (These 51) 7. Porphyrius: Schaden für die Theologie (These 52) 8. Die petitio principii der aristotelischen Definitionen (These 53) 9. Zusammenfassung und Weiterführung

378 378 380

348

391 401 409 410 415 421 423

Inhaltsverzeichnis

XIII

Kapitel 6: Die philosophischen Thesen der »Heidelberger Disputation«

431

Einfuhrung

431

§ 20 »in Aristotele philosophari« - »stultificari in Christo« (Thesen 1 und 2) 1. Die erste philosophische These 2. Die zweite philosophische These

437 437 446

§21 Die Ewigkeit der Welt und die Sterblichkeit der Seele (These 3) . .

454

Vorbemerkung zu den folgenden vier Paragraphen

454

1. Die dritte These 2. Die probatio für den ersten Teil der These

454 460

§ 22 Das Verständnis des intellectus humanus bei Buridan und Usingen 1. Das Verständnis des intellectus humanus bei Buridan . . . . 1.1 »Uttum intellectus humanus sit forma corporis humani« . . . 1.2 »Uttum intellectus humanus sit perpetuus« 2. Das Verständnis des intellectus humanus bei Usingen . . . . 2.1 »Uttum intellectus humanus sit immaterialis seu a materia separatus« 2.2 »Uttum intellectus humanus sit forma substantialis corporis humani« 2.3 »Uttum circumscripta fide catholica ratio naturalis dictaret intellectum humanum esse formam corporis humani« . 2.4 »Uttum sit unus et idem intellectus quo omnes homines intelligunt« 2.5 »Uttum intellectus humanus sit a parte post perpetuus« . . . 2.6 »Utrum intellectus possibilis sit pura potentia« 2.7 Zusammenfassung von Usingens Auffassung

478 481 484 487

§ 23 »anima humana mortalis est« Die Argumentation secundum Aristotelis principia

489

§ 24 »anima videtur immortalis« — Die Argumentation iuxta Aristotelis recitata 1. De anima 11,2 2. De anima 111,5 2.1 Ein Satz aus De anima 111,5

511 512 518 518

463 464 464 466 468 468 471 475

XIV

Inhaltsverzeichnis

2.2 Exkurs: Zur Interpretation von De anima ΠΙ,S

520

a) 430al0—14

520

b)430al4 f

522

c) 430al5—17

524

d) 430al7f

525

e) 430al8f

527

f) 430al 9—22

527

g) 430a22f

529

h) 430a23—25

529

i) 430a25

531

2.3 Luthers Auslegung von De anima 111,5

531

a) Zu 430al0—14

532

b) Zu 430al4—17

537

c) Zu 430al7f

545

d) Zu 430al 8f

549

e) Zu 430al9f

550

f) Zu 430a20-22

551

g) Zu 430a22f

554

h) Zu 430a23—25

557

3. Metaphysik XII,3

560

4. Nikomachische Ethik 1,11

561

5. Vollständigkeit der von Luther herangezogenen Texte? . . .

562

§ 25 Zum »aristotelischen« Verständnis der materia (These 4) . . . .

564

§ 26 Werden und materia (These 5)

577

§ 27 Die Unmöglichkeit der materia nuda (These 6)

584

§ 28 Das aristotelische Verständnis des Unendlichen (These 7) § 29 Die Summe von Luthers Kritik an Aristoteles (These 8)

. . .

594

. . . .

608

§ 30 Luthers Alternative: Piaton! (These 9)

619

Kapitel 6: Zusammenfassung

627

Schlußbemerkung

632

Inhaltsverzeichnis

XV

Literaturverzeichnis

643

I.

Quellen

643

II.

Übersetzungen

647

III.

Sekundärliteratur

650

Personenregister

680

XVI

Hinweise Literatur wird in den Anmerkungen durch Angabe von Verfasser, Titel bzw. Kurztitel und Seitenzahl nachgewiesen. Luther wird nach der »Weimarer Ausgabe« (z.B. »1;365,15«), nach der »Bonner Ausgabe« (z.B. »V;322,17«) oder der Studienausgabe (z.B. »StA 1;147,3«) angeführt. Auf Fundorte in modernen Editionen wird mit Angabe von Band-, Seitenund gegebenenfalls Zeilenzahl in Klammern (z.B.: »[III;193,7-11]«) hingewiesen. Lateinische Zitate werden ohne Anführungszeichen wiedergegeben, es sei denn, es handelte sich um Zitate im Zitat. Mittelalterliche Texte, die nicht in modernen Editionen vorliegen, werden bei der Wiedergabe in Schreibweise und Zeichensetzung behutsam modernisiert. Hinzufügungen von uns in Zitaten werden — ohne weiteren Hinweis — in eckige Klammern gesetzt: »[ ]«; Klammern im Zitat werden mit runden Klammern wiedergegeben: »(...)«. Werden im Zitat Worte von uns hervorgehoben, wird dies durch ein »Hv.« oder »Kurs.« nach der Stellenangabe angezeigt. Verweise auf andere Fußnoten ohne weitere Kennzeichnung (z.B. »Vgl. u. Anm.66«) beziehen sich auf das betreffende Kapitel. Abkürzungen werden nach S.Schwertner (s. Literaturverzeichnis) gebraucht. Davon abweichend oder ergänzend werden folgende Abkürzungen verwendet: De an Aristoteles, De anima An Post Aristoteles, Analytica Posteriora An Pr Aristoteles, Analytica Priora EN Aristoteles, Ethica Nicomachea Kat Aristoteles, Kategorien Aristoteles, Metaphysik Met Aristoteles, Physik Phys Thomas von Aquin, Summa Theologiae STh ScG Thomas von Aquin, Summa contra gentiles Ockham, Opera Philosophica OPh Ockham, Opera Theologica OTh CHLMP 1 Cambridge History of Later Medieval Philosophy CHRP Cambridge History of Renaissance Philosophy G.Ebeling, Lutherstudien LuSt art. articulus corpus (articuli) c capitulum cap. distinctio dist. Nummer n.

§ 1 Einleitung

»Ich freilich glaube, daß ich dem Herrn diesen Gehorsam schulde, heftig gegen die Philosophie zu wettern und zur Hl. Schrift zu raten.« 1 Treffender als mit diesen W o r t e n läßt sich die weitverbreitete Vorstellung v o n Luthers Verhältnis zur Philosophie, insbesondere zur aristotelischen Philosophie, kaum ausdrücken 2 . Dieses Verhältnis erscheint als das eines heftigen Konflikts, dessen G r u n d in einem unversöhnlichen Gegensatz zwischen der Hl. Schrift und der (aristotelischen) Philosophie gesehen wird sowie in dem Bemühen Luthers, die Theologie zur Hl. Schrift zurückzuführen. J e n e Vorstellung scheint so angemessen und diese Begründung scheint so klar zu sein, daß das Verhältnis Luther — Aristoteles nach einer ersten kurzen monographischen Erörterung durch Friedrich Nitzsch (1883) über hundert Jahre lang nicht mehr umfassend untersucht wurde 3 . A u c h lädt Polemik, gerade heftige, mit Herabsetzungen und Übertreibungen verbundene Polemik 4 , nicht zu einer differenzierenden Beschäftigung, wie es eine wis-

1

2 3

4

56;371,17f. - Als Lehrbeauftragter für Philosophie und Student der Theologie in Wittenberg (1508/9) schreibt Luther an Joh. Braun: Quod si statum meum nosse desideres, bene habeo Dei gratia, nisi quod violentum est Studium, maxime philosophiae, quam ego ab initio libentissime mutarim theologia, ea inquam theologia, quae nucleum nucis et medullam tritici et medullam ossium scrutator. (Br 1;17,40-44; ν. 17.3.1509) Vgl. den sprechenden Titel des Buches von Wilhelm Link: Das Ringen Luthers um die Freiheit der Theologie von der Philosophie. F. Nitzsch, Luther und Aristoteles (1883). 1996 erschien in Padua die parallel zu unserer Untersuchung erarbeitete Monographie von E.Andreatta, Lutero e Aristotele (vgl. dazu u. Anm.50). Das Thema »Luther-Aristoteles« spielt in den Lutherstudien Gerhard Ebelings implizit und explizit - eine große Rolle. Auch andere Autoren haben in Studien wichtige Beiträge zu diesem Problem geleistet; sie werden im Verlauf der Untersuchung herangezogen. Vgl. auch: W. Eckermann, Die Aristoteleskritik Luthers. Ihre Bedeutung für seine Theologie, 114-130; ders., Theologie gegen Philosophie. Anfragen an Luther, 244-262, und die eindrucksvolle Studie »Luthers Verhältnis zur theologischen und philosophischen Überlieferung« von Walter Mostert (347-368.839-849). Luther nennt Aristoteles ironisch »Lumen illud naturae« (7;739,23) wie auch »principem tenebrarum« (2;708,3). Er ist für ihn »der vordampter, hochmutiger, schalckhafftiger heide« (6;458,4f), »der blindeleytter« (10I/2;100,1), »ein Wortspieler« und »Täuscher der Geister« (1;611,40), »ein Verführer der scholastischen Doktoren« (2;370,9). Über seine Philosophie kann er sagen: »[...] willtu wissen was er [Aristoteles] leret, das will ich dyr kurtzlich sagen:

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Einleitung

senschaftliche Untersuchung sein muß, ein. Vor allem aber scheint eine solche Erörterung, die verschiedene Gegenstände der Kritik voneinander unterscheidet und dadurch auch begrenzt, die nach den jeweiligen besonderen Motiven für die Kritik fragt und Argumentationslinien differenziert betrachtet, den fundamentalen Charakter von Luthers Gegensatz zu Aristoteles nicht ernst zu nehmen, sie scheint ihn vielmehr abzuschwächen. Geht man trotzdem der Kritik Luthers genauer nach, dann entdeckt man, daß es ein merkwürdiger Aristoteles ist, den Luther kritisiert, jedenfalls nicht immer der, den wir heute aus seinen Werken kennen. Sucht man ihn in den Werken der mittelalterlichen Theologen und Philosophen 5 , so ist er auch da nicht so einfach, wie es den Anschein hat, auszumachen. Wie sich bei dieser Suche nach der genauen Gestalt des von Luther kritisierten Aristoteles dessen Bild ändert und differenziert, so mehren sich auch die Fragen nach den Gründen für die Kritik. Warum und in welcher Hinsicht steht dieses oder jenes »aristotelische« Lehrstück in Gegensatz zur Hl. Schrift? Welches sind jeweils die theologischen Einsichten, die zu diesem oder jenem kritischen Urteil geführt haben, und welche argumentativen Schritte lassen sich dabei erkennen? Bei jener Suche nach dem Aristoteles Luthers macht man die Entdeckung, daß es durchaus auch eine positive Rezeption »aristotelischer« Gedanken bei Luther gibt. Im Verlauf einer solchen Untersuchung erscheinen Ziel, Inhalt und Begründung von Luthers Kritik und Rezeption »aristotelischer« Lehrstücke dann vielfach in einem anderen licht als bisher. — Wir beginnen mit einer kurzen systematischen Problemanzeige und erläutern anschließend unser Vorgehen. 1. Problemanzeige Während der Grund-Satz der Weisheit Israels lautet: »Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang« (Prov 1,7; 9,10; Ps 111,10; Sir 1,16.25.33), verwandelt und

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Eyn topffer kan auß thon eyn topff machen: das kann der Schmid nit, er lerne es denn. Wenn ettwas hoherß ynn Aristot ist, ßo soltu myr keyn wort glewben, und erbiete mich das tzu beweyssen, wo ich soll.« (10I/2;74,15—18) Solche Äußerungen könnten leicht vermehrt werden. Vgl. E.Andreatta, Lutero e Aristotele, 4 1 - 1 1 2 . Zu den sich über Jahrhunderte hinziehenden Prozessen, in denen Aristoteles im Abendland rezipiert worden ist, vergleiche F. Van Steenberghen, Die Philosophie im 13. Jahrhundert; B.Dod, Aristoteles latinus, 4 5 - 7 9 ; Ch. Lohr, The Medieval Interpretation of Aristotle, 80-98. Eine Skizze bietet H.Junghans, Der junge Luther und die Humanisten, 146—153. Die Aristoteles-Rezeption ist im übrigen immer auch von einer Aristoteles-Kritik christlicher Theologen und teilweise auch kirchlicher Instanzen begleitet gewesen. Dafür sei - als auf prominente Beispiele - auf die Aristoteles-Kritik Bonaventuras (vgl. dazu: J.Ratzinger, Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura, 1 2 1 - 1 6 1 ) und die Verurteilung von 2 1 9 Thesen durch den Pariser Bischof Stephan Tempier 1277 (vgl. dazu: KFlasch, Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277) hingewiesen.

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verschärft sich dieses principium vor dem Kreuz Christi zur Frage: »Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht?« (I Kor 1,20) - eben im »Wort vom Kreuz« (I Kor 1,18), das in der Mitte der Theologie steht. Die »Weisheit der Welt« aber ist nicht allein die Metaphysik oder die Philosophie6, sondern jedes Wissen, das Menschen aus ihrem Eigenen haben. So gilt für dieses allgemein, was Luther für den Umgang mit Aristoteles so formuliert: Qui sine periculo volet in Aristotele philosophari, necesse est, ut ante bene stultificetur in Christo7. Das Wort vom Kreuz spricht von Gott und vom Menschen, indem es vom Gekreuzigten als Gottes Kraft und als Gottes Weisheit für den Menschen spricht, es redet vom Menschen und von der Welt, indem es von Gott sagt, daß er in der Rechtfertigung den Sünder aus dem Nichts ins Sein ruft wie er das auch als Schöpfer mit der Welt tut. Von Gott, vom Menschen und von der Welt spricht aber auch die »Weisheit der Welt«, und die Philosophie - ein Teil von ihr - tut dies ebenso wie die Theologie im Unterschied zu den Einzelwissenschaften nicht aspekthaft, sondern so, daß sie von der Welt im ganzen und vom Menschen als ganzem und als solchem spricht. Damit ergibt sich die Aufgabe einer Verhältnisbestimmung: Aliter Apostolus de rebus philosophatur et sapit quam philosophi et metaphysici8. Ja, dieses »aliter« beinhaltet den Gegensatz von Weisheit und Torheit, und zwar so, daß das »Wort vom Kreuz« und die »Weisheit der Welt« sich wechselseitig zur Torheit machen. Aber diese Bestimmung des Verhältnisses ist nicht vollständig, denn auch Glaubende haben in dem Wissen, das zum alltäglichen Leben und seiner Orientierung notwendig ist, wie auch in ihrem methodischen Nachdenken über die Welt und über sich selbst in vielfältigster Weise an der Weisheit der Welt teil. Für eine Theologie, die nichts als Auslegung des »Wortes vom Kreuz« sein will, ergibt sich daraus ein Problem: Jede Verhältnisbestimmung fügt den beiden Seiten, die in ein Verhältnis gesetzt werden, eine Bestimmung hinzu, die sie von sich aus nicht haben. Wer etwa sagt, die biblische Schöpfungsauffassung widerspreche der aristotelischen »Physik«, weil dort die Ewigkeit der Welt gelehrt werde, oder sie widerspreche der kopernikanischen Weltauffassung, weil Josua zur Sonne (und nicht zur Erde) gesagt habe, sie solle stillstehen (Jos 10,12f), oder sie stehe in Widerspruch zur Evolutionstheorie, weil Gott den Menschen geschaffen habe, der verändert die theologische Lehre. Zwar stellt sich der Widerspruch 6

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Dies legt Martin Heidegger in seiner Freiburger Antrittsvorlesung »Was ist Metaphysik?« (1929) nahe, wenn er im Zusammenhang von Erläuterungen zur Metaphysik, die das Seiende als Seiendes vorstelle und der sich darum das Sein verberge, I K o r 1,20 zitiert und fragt: »Ob die christliche Theologie sich noch einmal entschließt, mit dem Wort des Apostels und ihm gemäß mit der Philosophie als einer Torheit Ernst zu machen?« (Was ist Metaphysik?, 20). 59;409,3f. 56;371,2f.

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als Konsequenz der theologischen Lehre dar; weil aber das Negierte nicht Teil des Geoffenbarten ist, fügt eine solche Negation diesem eine Bestimmung hinzu, die es von sich aus nicht hat. Der Widerspruch kann also nicht nur als Selbstexplikation des Geoffenbarten verstanden werden. Wenn nun die Verhältnisbestimmung falsch vorgenommen wird, wird die theologische Lehre in einer Weise weiter bestimmt, die nicht in Übereinstimmung mit ihrem Gehalt steht, sondern diesen fremdbestimmt sein läßt. Dies kann auch dann geschehen, wenn man um die »Freiheit der Theologie von der Philosophie« 9 bemüht ist, weil sich gerade in der pauschalen Abweisung von nichttheologischen Wissensansprüchen eine undurchschaute Fremdbestimmung via negationis vollziehen kann und häufig auch vollzieht. Die Theologie hat gar nicht die Wahl, ob solche Verhältnisbestimmungen unternommen werden sollen oder nicht; sie werden faktisch vorgenommen. So bleibt nur die Wahl, dies theologisch und philosophisch reflektiert oder unreflektiert zu tun. Das Problem verschärft sich, weil die Theologie menschliche Sprache gebraucht und beim Argumentieren Regeln folgt, die Menschen auch sonst beim Argumentieren beachten; weil sie Texte auslegt, was Menschen auch außerhalb der Theologie tun usw. So greift die Theologie immer wieder auf außertheologische Einsichten zurück, um sich über die methodische Seite ihres Vorgehens Klarheit zu verschaffen. Und doch steht auch über diesen Einsichten das Urteil, welches das Wort vom Kreuz über die »Weisheit der Welt« spricht. So hat die Theologie die schwierige Aufgabe, angesichts dieses Urteils eine präzise Verhältnisbestimmung in Grund- wie in Einzelfragen vorzunehmen, um so eine Fremdbestimmung der Theologie sowohl durch falsche Rezeption wie durch falsche Verwerfung nichttheologischer Wissensansprüche zu vermeiden. Luther ist der Meinung, daß die scholastische Theologie bei dieser Aufgabe in einer verheerenden Weise in die Irre gegangen ist. Deshalb sieht er seine Aufgabe darin, »heftig gegen die Philosophie zu wettern und zur Hl. Schrift zu raten«. Wenn Luther sich zu Aristoteles äußert, nimmt er zu einer Vielzahl von bereits vorgenommenen Verhältnisbestimmungen von Theologie und Philosophie Stellung und darin auch zu Aristoteles »selbst«. Das macht die Situation komplex. Der Analyse dieser Komplexität im Interesse einer präzisen Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie dient die folgende Untersuchung. Im folgenden sollen die Art unseres Vorgehens und die Gründe dafür schrittweise entwickelt werden.

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S.o. Anm.2.

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2. Zwei verschiedene Weisen, das Verhältnis Luthers zu Aristoteles zu bestimmen 2.1 Man kann Grundeinsichten der Theologie Luthers erheben und sie in Beziehung setzen zu Grundeinsichten der aristotelischen Philosophie oder zum Aristotelismus der Scholastik. Dabei ist nicht erfordert, daß auch Luther die betreffenden Themen als Probleme seines Verhältnisses zu Aristoteles verstanden und erörtert hat. Zwar kann dies durchaus so sein, es ist aber nicht notwendig für ein solches systematisches Vorgehen. Eberhard Jüngel konfrontiert in seiner viel beachteten Studie »Die Welt als Möglichkeit und Wirklichkeit« 10 die aristotelische Lehre von Möglichkeit und Wirklichkeit und von der Überordnung der Wirklichkeit über die Möglichkeit mit Luthers Kritik am aristotelischen Lehrstück vom Gerechtwerden des Menschen durch Tun des Gerechten. Die aristotelische Unterscheidung und Zuordnung von Möglichkeit und Wirklichkeit wird anhand von Metaphysik IX erläutert, die lutherische Einsicht im Ausgang von Luther-Texten dargestellt. Jüngel unternimmt nun eine ontologische Reflexion, weil er es als »zu den Aufgaben einer konsequenten Durchführung der Rechtfertigungslehre« gehörend betrachtet, »das Ereignis der Rechtfertigung des Menschen [...] auch im Blick auf seine ontologischen Implikationen zu interpretieren«!'. Diese ontologische Reflexion geht zwar von Luther-Texten aus, führt aber die Konfrontation ganz eigenständig durch bis zu dem weitreichenden Ergebnis, daß die Möglichkeit »früher« ist als die Wirklichkeit 12 . Damit ist die von Aristoteles behauptete ontologische Priorität der Wirklichkeit vor der Möglichkeit umgekehrt. Luther selbst hat sein Verhältnis zu Aristoteles nicht auf diese Weise bestimmt; jedoch will Jüngel ontologische Implikationen der theologischen Einsicht des Reformators entwickeln und ermöglicht damit eine Konfrontation theologischer und philosophischer Konzeptionen auf einer dafür prinzipiell geeigneten Ebene: der Ebene der Ontologie. Näher an den Luther-Texten als Jüngel bleibt Jörg Baur in seiner Studie »Luther und die Philosophie«13: »Die Überlegung richtet sich [...] auf die unter dem Titel >Luther und die Philosophie< anzusprechenden inhaltlichen Momente, und zwar so, daß in Texten Luthers nach Aussagen gefragt wird, in denen er Themen der Philosophie anspricht, auch wenn der Ausdruck >Philosophie< oder >Vernunft< dem Worte nach gar nicht auftaucht.« 14 Baur führt einen Text aus »De servo arbitrio« an und zeigt, »wie Luther im Zusammenhang der allgemeinen Welterfahrung des Menschen das alte Thema der Philosophie, ihre Bestimmung der Substanz, des An-sich und In-sichSeins der Dinge aufnimmt« 15 . Er stellt Luther mit Bezug auf den herangezogenen Text als einen Denker vor, »der das An-sich-Sein der Dinge ermißt, der dem Versuch entgegentritt, die bestimmbaren Identitäten in einen offenen Prozeß von Möglichkeiten aufzulösen« 16 . Baur macht andererseits - mit Blick auf Abendmahlslehre, Christologie und Trinitätslehre - überzeugend klar, daß Luther da, wo es um die »theologische[.] Verantwortung des Christus-Heils« geht, eine Sprache 10 E.Jüngel, Die Welt als Möglichkeit und Wirklichkeit. Zum ontologischen Ansatz der Rechtfertigungslehre, 206-233. 11 AaO 219. 12 Vgl. a a 0 231. 13 J.Baur, Luther und die Philosophie, 13-28. 14 AaO 15. 15 AaO 20. 16 AaO 21.

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und ein Denken »nicht mehr des Seins, sondern des Werdens, nicht mehr der Identität, sondern der Kommunikation und der Vermittlung«17 entwickelt. Diese Gegensätzlichkeit läßt erkennen, daß Luther nicht »ein Partikulares zur Wahrheit des Allgemeinen erhoben« hat: »was nur für das neue Sein Christi und in Christus gilt«, kann nicht »als die Wirklichkeit des Ganzen«1" verstanden werden. So kann Baur auf eine erhellende Weise einen Beitrag zum Verhältnis »Luther und die Philosophie« leisten.

Die Studien von Jüngel und Baur, die im einzelnen unterschiedlich vorgehen und auch zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, zeigen, daß ein solches systematisches Vorgehen sinnvoll und fruchtbar ist, das aristotelische und lutherische Einsichten aus Texten erhebt und daraufhin die Bestimmung ihres Verhältnisses vornimmt — unabhängig davon, ob Luther dies in den Texten beabsichtigt hat bzw. ob er selbst das Verhältnis so gesehen hat oder gesehen hätte. 2.2 Eine andere Möglichkeit, das Verhältnis Luthers zu Aristoteles zu erörtern, ist die: zu fragen, wie Luther selbst dieses Verhältnis in seinen Texten dargestellt und begriffen hat. Wir wählen diese zweite Fragestellung, nicht, weil die erste unergiebig wäre, sondern weil die zweite Einsichten erwarten läßt, die die erste nicht oder nicht im selben Maß erlaubt. Es verdient gewiß Interesse, wie Luther selbst Probleme wahrgenommen, strukturiert und ihre Erörterung durchgeführt hat. Allerdings soll diese Fragestellung ergänzt werden. Wir gehen von den Texten aus, in denen Luther den Namen »Aristoteles« ausdrücklich erwähnt und damit kenntlich macht, daß er an den betreffenden Stellen sich zu einem aristotelischen Gedanken, zur Philosophie des Aristoteles oder zu deren Bedeutung im Geistesleben und in der Kirche seiner Zeit äußern will. Durch dieses restriktive Kriterium soll sichergestellt werden, daß die Themen untersucht werden, mit denen sich Luther nach seinem eigenen Verständnis in ein affirmatives oder negierendes, rezeptives oder distanzierendes Verhältnis zu Aristoteles gesetzt hat. Wir wollen Luther nicht Probleme als Themen seiner Auseinandersetzung mit Aristoteles unterstellen, die er gar nicht als hierher gehörend verstanden hat, auch wenn diese Themen für eine heutige systematische Bestimmung des Verhältnisses von Luthers Theologie zur aristotelischen Philosophie durchaus von Bedeutung sind. Unsere Untersuchung geht also von Luthers eigenem Verständnis seiner Beziehung zu Aristoteles aus. Darum nehmen wir als Kriterium für die Auswahl der zu untersuchenden Texte auch nicht die Frage, ob sich in ihnen aristotelische Begriffe wie substantia, accidens, causa, effectus, habitus, actus usw. finden. Es ist natürlich möglich, anhand von so ausgewählten Texten und mit der Frage, wie Luther in ihnen jene Begriffe rezipiert, modifiziert, kritisiert und in seinen Gedankengang eingeordnet hat, eine Vorstellung vom Verhältnis Luthers zu Aristoteles zu entwickeln. 17 Ebd. 18 AaO 27.

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Das so gewonnene Verständnis kann aber durchaus Themen einschließen, die für Luther gar nicht maßgebend für sein Verhältnis zu Aristoteles waren. Darum lassen wir uns von Luther die Theoreme und Probleme, die nach seiner eigenen Einschätzung eine Rolle in seiner Beziehung zu Aristoteles gespielt haben, vorgeben. Da jeweils im einzelnen Text zu klären ist, welchen Aristoteles Luther meint oder wofür dieser Name steht (ein aristotelisches Lehrstück in seinem ursprünglichen griechischen Zusammenhang, in seiner mittelalterlichen Interpretation, in einem theologischen Zusammenhang), müßte »Aristoteles« im folgenden immer in Anführungszeichen gesetzt sein. Da dies aber zu umständlich ist, lassen wir die Anführungszeichen weg, abgesehen von einigen Fällen, in denen dadurch eigens auf das Problem aufmerksam gemacht werden soll; die Anführungszeichen sollten jedoch immer mitgedacht werden. 3. Hermeneutische Erschließung und disputative Rekonstruktion der Kontroverse Für die Fragestellung, in der es darum geht, wie Luther Aristoteles gesehen hat, legt sich eine hermeneutische Erschließung der Luthertexte nahe. Zu ihr gehört, wie Hans-Georg Gadamer in einer trefflichen Formulierung sagt, »das Beharren auf der Konsequenz des Gedankens« und »das Fernhalten der Vorstellungen, >die sich einzustellen pflegen«Sünder und Gerechter zugleichD. Martin Luthers Schluß-Rede Wider die Theologie der Schul-Lehrermehr als sechs Jahrhunderte< sich erstreckende Denkarbeit so allgemein, daß eine solchermaßen gefaßte Definition praktisch wertlos istfides quaerens intellectum< ist keine Methode, sondern eine Richtungsangabe); nicht ohne Grund beginnt Grabmann seine Darstellung bereits in der Patristik. Was Rationalität in der Scholastik besagt oder was ihre Rationalitätskonzepte im Unterschied zu nichtscholastischen beinhalten, wird hier gerade nicht erläutert. Auch kann man nicht nur in der Theologie von »Scholastik« sprechen, denn in »der Scholastik] konstituiert sich die Wissenschaft des Hohen M[ittelalters], dh außer Theologie und Philosophie die beiden Rechtsdisziplinen und die Medizin, und zwar im Gegensatz zu dem nicht mehr ausreichenden System der Artes liberales« 72 . Schönberger kommt bei seiner Analyse der verschiedenen Definitionen von »Scholastik« zu dem Ergebnis: Es gibt keinen univoken Begriff von »Scholastik«; man muß statt dessen ein komplexes Gebilde von Beschreibungen suchen 73 . »Scholastik [...] läßt sich wohl nur durch eine Kombination von einzelnen Beschreibungen, aber nicht durch eine definitorische Formel fassen.« 74 Freilich legt die Gegnerschaft gegen die Scholastik, die es durch das ganze Mittelalter hindurch gegeben hat 75 , durch ihre Kritik an »der« Scholastik nahe, diese als einheitliches Phänomen zu verstehen. Das jedoch, was Gegenstand ihrer Kritik oder Distanzierung ist, — »die« scholastische Theologie oder »die« Scholastik überhaupt - , wird sehr unterschiedlich beschrieben. Man unterscheidet heute im Blick auf das Mittelalter eine monastische von der scholastischen

69 Schönberger, aaO 21. 70 AaO 27 (zit. ist B.Geyer, Grundriß der Geschichte der Philosophie, 1927, 143). 71 Vgl. M. Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode, Bd.I, 36f. 72 J.Koch, Art. »Scholastik«, Sp. (1494-1498) 1494. 73 Vgl. R. Schönberger, aaO (s.o. Anm. 68), 45 74 Ebd. 75 W.Kluxen sagt von der Scholastik: »[...] es ist doch nur eine Linie, die zwar maßgeblich, doch nicht vollständig das geistige Leben der Epoche bestimmt. Die Scholastik ist eine partikulare Größe, ihr Schrifttum [...] spezialistisch, ihr Herrschaftsanspruch nie ganz unwidersprochen. Der Widerstand obsiegt schließlich in der Restauration des Bildungsgedankens durch den Humanismus, der nun antischolastischen Akzent trägt.« (Thomas, 181)

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Theologie 7 6 und stellt fest: Die Mönche »besitzen eine (Theologie], aber nicht die scholastische, sondern die Theologie der Klöster, die >monastische Theologie«. Die Menschen des 12. Jahrhunderts waren sich dieses Unterschieds klar bewußt. « 7 7 »Im ganzen gesehen, beruht [...] der große Unterschied zwischen der Theologie der Schulen und der Klöster auf der besonderen Bedeutung, die hier der lebendig erfahrenen Vereinigung mit G o t t zukam. Diese Erfahrung gilt im Kloster als das Prinzip wie das Ziel der Forschung. V o m hl. Bernhard konnte man sagen, daß sein Leitwort nicht Credo ut intelligam war, sondern Credo ut experiar.Wie dem auch sei, überlassen wir diese Frage, die uns kaum angeht, den scholastischen Disputationen und richten wir unsere Aufmerksamkeit auf andere Dinge.« (ebd.) 78 AaO 240f. 79 Bonaventura, Collationes in Hexaemeron 11,3: Disciplina autem duplex est: scholastka et monastica sive morum; et non sufficit ad habendam sapientiam scholastica sine monastica; quia non audiendo solum, sed observando fit homo sapiens (V,337a). 80 In beinahe wörtlichen Zitaten aus Jean Gerson, De mystica Theologia, tract.l, cons.29f, entfaltet der Verfasser des Katalogs des Erfurter Kartäuser-Klosters (vor 1480) die Unterscheidung von scholastischer und mystischer Theologie so, daß er die erstere dem intellektiven Vermögen der superior porcio anime (mit Ausrichtung auf das Wahre), die letztere aber deren affektivem Vermögen (mit Ausrichtung auf das Gute) zuordnet. Weiter: Item prima theologia scilicet speculativa utitur rationacionibus conformiter ad phisicas disciplinas. Et ideo quidam earn scolasticam vel litteratoriam appellant. Quamvis non sufficiant iste scolastice exercitationes nisi quia studio vehementi nitatur habere conceptas proprios et Íntimos eorum que tradita sunt a summis doctoribus. [...] Mistica vero theologia, sicut non versatar in tali cognicione litteratoria, sic non habet necessaria talem scolam, qua [lies: quae] scola intellectus dici potest, sed acquiritur per scolam affectas vel per exercitium vehemens in virtatibus moralibus disponentibus animam ad purgacionem et in theologicis illuminantibus eum in beatificis virtutibus [...]. Et hec quidem scola potest dici scola religionis vel amoris. Sicut intellectus scola est dicenda seiende vel cognicionis. (zit. nach E. Kleineidam, Die theologische Richtung der Erfurter Kartäuser am Ende des 15. Jahrhunderts, [247—271] 257; s. J. Gerson, De theologia mystica, cons.30 [III,275f]). Vgl. die Ausführungen von Chr. Burger, Aedificatio, fruetus, utilitas, 125—129 (zu Gersons Traktat »De mystica theologia speculative conscripta«). 81 Vgl. Erasmus, Paraclesis [III, 1-37] oder Ratio [III, v.a. 468-475]). »Dieser [Christus] ist wahrlich der einzige Lehrer, dessen Schüler ihr ausschließlich seid. [...] Johannes hat, was er an jener hochheiligen Quelle, dem Herzen selbst, geschöpft hatte, in seinen Briefen niedergelegt. Was, frage ich nun, findet sich Vergleichbares bei Scotus (ich möchte dabei keineswegs den Eindruck erwecken, als wollte ich schmähen)? Was Vergleichbares bei Thomas? [...] Warum widmet man eine größere Lebensspanne dem Averroes als den Evangelien? Warum vertut man fast ein ganzes Leben mit Menschensatzungen und Meinungen, die einander

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Kritiker »der« Scholastik diese in ihrer jeweiligen Perspektive als Einheit vorstellen, läßt sich aus ihrer Kritik doch aufgrund der Unterschiedlichkeit ihrer Hinsichten und der ihnen entsprechenden Beschreibungen gerade kein einheitlicher Begriff von »Scholastik« entwickeln. Auch wenn sich eine definitorische Formel zur Bestimmung der Einheit der Scholastik nicht finden läßt, so doch eine Folge von Beschreibungen, die Elemente des hochkomplexen Phänomens benennt 82 : Da ist zunächst die quaestio zu nennen als jene »Denk- und Darstellungsform« 83 , in der Probleme so gefaßt werden, daß sie nach wahr oder falsch entscheidbar sind. Sie ist grundsätzlich auf alle Probleme anwendbar, was »zu einer enzyklopädischen Verfassung der einzelnen Disziplinen« 84 trotz einer Hierarchisierung der Wissensinhalte führt. Die Frageweise ist in strengem Sinn theoretisch, und das Denken vollzieht sich in der Weise der Schule. Fragen, Lehren, Uberliefern wird von den magistri getragen, die privilegiert sind und hohes Ansehen genießen. Eine Reihe von Texten hat autoritativen Charakter; 1255 werden alle bis dahin bekannten Texte des Aristoteles in das Lehrprogramm der Pariser Artistenfakultät aufgenommen 85 . Dies ist zu einem Charakteristikum der Scholastik geworden. Texte sind Ausgangspunkt der Wissenschaft 86 . Deshalb spielt die Kommentierung von Texten eine besondere Rolle. Dabei wird — mit gewissen Ausnahmen — so kommentiert, daß die Wahrheit des Textes unterstellt und gegebenenfalls auch gegen den unmittelbaren Wortsinn behauptet wird. Darum gewinnen Probleme des Sprachverständnisses eine eminente Bedeutung. Mit Blick auf solche Beschreibungen hat es Sinn, den Ausdruck »Scholastik« und »scholastisch« zu gebrauchen, auch wenn man sich dabei immer bewußt halten muß, wie komplex das ist, was man damit benennt, und wie wenig es als wirkliche Einheit zu verstehen ist. Angesichts dieser Sachlage wird man besonders gespannt sein, ob und wie es den LutherForschern, die sagen, Luther habe die Scholastik als ganze getroffen, gelingt,

widersprechen? Jenes möge nur wahrlich Sache der, wenn es beliebt, hohen Theologen sein; in diesen jedoch wird einmal sicherlich ein künftiger großer Theologe seine Probe ablegen.« (111,33/35). Erasmus kritisiert an der Scholastik die Beschäftigung mit vielen unnötigen Fragen und urteilt: »Schuld hat nicht die Theologie als solche, die bei ihrem Ursprung anders war, sondern die Art der Behandlung, die sie von gewissen Leuten erfahren hat, die sie zur Gänze auf die Spitzfindigkeiten der Dialektiker und auf die Aristotelische Philosophie reduzierten, so daß sie in einem nicht geringen Maße eher einer Philosophie als einer Theologie gleicht.« (111,469/471) 82 83 84 85 86

Vgl. zum Folgenden R. Schönberger, aaO (s.o. Anm. 68) 5 2 - 1 1 5 . So B.Geyer (zit. nach R.Schönberger, aaO [s.o. Anm.68] 52, bei Anm.74). Vgl. auch Th. Rentsch, Die Kultur der quaestio, 7 3 - 9 1 . R. Schönberger, aaO (s.o. Anm. 68), 58. Vgl. o. bei Anm. 33. Das schließt aber Beobachtung als Quelle von Erkenntnis in den Naturwissenschaften nicht aus.

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einen Begriff von Scholastik zu entwickeln, der diese als Einheit zu begreifen erlaubt. So spricht Gerhard Ebeling in seiner Interpretation von »De homine« durchgängig von »der« Scholastik 87 oder vom »Gesamtphänomen scholastischer Theologie« 88 . Auch wenn sich Ebeling der Vielfalt scholastischer Theologien bewußt ist und sich für ihn »überall Nötigungen zum Differenzieren einstellen«89, so stellt die Frage nach der Einheit der Scholastik gleichwohl kein Problem für ihn dar. Er thematisiert diese Frage nicht explizit; jedoch spricht er mit Bezug auf die Scholastik von einer »Fundamentalunterscheidung« 90 , die wohl die Rede von »der« Scholastik ermöglichen soll: der Unterscheidung von Natur und Gnade 91 . Für die rechte Ordnung zwischen beiden sei in der Scholastik »eine ontologische Kontinuität Voraussetzung, die den totalen Bruch verhindert, wo ein solcher angesichts der Glaubensaussagen einzutreten droht: im Verhältnis von Gott und Kreatur oder im Verhältnis zwischen dem Menschen vor und nach dem Fall oder im Verhältnis zwischen dem Sündersein und dem Begnadetwerden« 92 . Mithilfe weiterer Unterscheidungen wie der von substantia und accidens, materia und forma, qualitas und relatio ließen sich in der Scholastik theologische und philosophische Aussagen »in eine kunstvolle Eintracht [...] bringen. So ergibt sich ein in sich unendlich differenziertes und doch im Ganzen erstaunlich stimmiges Bild.« 93 Gegen diese Grundlegung der Einheit der Scholastik in der Unterscheidung von Natur und Gnade sind zwei Einwände vorzubringen: (1) Zwar ist die Unterscheidung von Natur und Gnade für »die« Scholastik tatsächlich grundlegend; sie geht aber weit über die Theologien, die man mit einem vagen Vorverständnis »scholastisch« nennt, hinaus. So kann Ebeling etwa These 30 der »Disputatio de homine« 94 , die ihm zufolge gegen die Scholastik gerichtet ist, mit Hilfe von Luthers Argumenten gegen Erasmus interpretieren, »weil sich durch die Verlagerung auf die humanistische Diskussionsebene die Auseinandersetzung mit der Scholastik nur bestätigte und vertiefte» 95 . Das trifft zu; aber dadurch wird zugleich deutlich, daß das von Ebeling für die Scholastik erwähnte Merkmal zwar

87 88 89 90 91 92 93 94 95

Vgl. die im Sachregister s.v. »Scholastik« und »scholastisch« verzeichneten Stellen (LuSt II/3, 680). LuSt II/3, 367f; 365 spricht Ebeling »von so offensichtlich verschiedenen theologischen Gesamtauffassungen wie der scholastischen und derjenigen Luthers«. LuSt II/3, 359. LuSt II/3,377. Vgl. LuSt II/3, 3 7 6 - 3 7 9 . LuSt II/3,378. Ebd. 39/l;176,29f: Item quod hominis sit eligere bonum et malum seu vitam et mortem etc. LuSt II/3, 352.

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auf diese zutrifft, jedoch nicht so spezifisch ist, daß es die Rede v o n »der« Scholastik zu rechtfertigen vermöchte. W i e die vielfältigen scholastischen Theologien und die vielfältigen scholastischen Philosophien und der institutionelle Aristotelismus die Einheit »Scholastik als ganze« bilden, kann mit jener Unterscheidung schlechterdings nicht begriffen werden. (2) Nun könnte man jenen Ausdruck »Scholastik als ganze« weniger ambitiös verstehen und nur behaupten wollen, daß die Unterscheidung v o n Natur und G n a d e für die Scholastik grundlegend ist, auch w e n n sie deren Einheit nicht begründet, weil sie auch f ü r bestimmte nichtscholastische Theologien v o n Bedeutung ist. D a n n bliebe gleichwohl der Anspruch, daß man, wenn man sich mit jener Fundamentalunterscheidung v o n Natur und Gnade auseinandersetzt und es gelingt, ihr Recht und ihre Angemessenheit f ü r die »theologische Sache« zu bestreiten, alle scholastischen Theologien getroffen hat, w e n n auch nicht die Scholastik als ganze, insofern diese mehr als Theologie umfaßt. Dies ist aber nur unter der Voraussetzung der Fall, daß die Unterscheidung in allen scholastischen Theologien den gleichen Sinn hat, also univok ist. D a s ist jedoch m.E. zu bestreiten; jedenfalls hat Ebeling diesen f ü r seine Argumentationsweise unbedingt erforderlichen Nachweis nicht erbracht 9 6 . Wenn Ebeling in der Kommentierung der Thesen 26 bis 31 der »Disputado de homine« den scholastischen Hintergrund, auf den sich Luther bezieht, erhellt, dann referiert er entweder einzelne Lehrstücke (z.B. zum »facere quod in se est«) oder er spricht von der Fundamentalunterscheidung oder von »den Sprach- und Denkformen aristotelischer Scholastik«97. Wenn man jedoch behauptet, daß sich jene Unterscheidung in den einzelnen Lehrstücken innerhalb ganz verschiedener Theologien in gleicher Bedeutung manifestiert, dann genügt es nicht, die Fassungen der Lehrstücke nur nebeneinanderzustellen — dies tut Ebeling—; vielmehr müssen sie auf das >System< des jeweiligen Theologen als den Kontext, von dem her sie ihre Bestimmtheit erhalten, bezogen werden. Die einzelnen Theologien unterscheiden sich, was hier nicht eingehend gezeigt werden kann, zum Teil gravierend durch die jeweilige Begriffsentwicklung, ihre Unterscheidun96

Graham White macht in seinem sehr lesenswerten, stellenweise aber allzu polemischen und darin ungerechten Buch »Luther as Nominalist« grundsätzliche methodologische Bemerkungen zur Erfassung der Unterschiede zwischen Luther und den Scholastikern: »Generally, the secondary literature approaches this problem by attempting to find some single metaphysical concept, which Luther had and which the scholastics did not (or vice versa), and from the presence or absence of which the differences between Lutheran and scholastic methods can be derived. This approach could be called descriptive foundationalism: one tries to find some concept which is fundamental for the description of Luther, or scholasticism, or the difference between the two.« (aaO 37) »[...] scholastic thought is accordingly thought to be an outgrowth of various epistemological, or metaphysical, doctrines, and the role of logical and linguistic theory in scholastic thought is downgraded. This has two unfortunate consequences. The first is anachronism; one is attributing a structure to scholastic thought which it did not possess. The other is that it leads to a form of reductionism; one tries to deal with problems of logic and language by reducing them to either metaphysical or epistemological problems.« (aaO 82) Vgl. auch ders., Theology and Logic: The Case of Ebeling, 17-34.

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LuSt 11/3,371.

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gen, Argumentationsweisen usw. Den Zwischenschritt, die Beachtung der Besonderheit des jeweiligen Ganzen der theologischen >SystemeSystem< fallt aus. Man kann hier nicht darauf verweisen, daß dies im gegebenen Rahmen nicht auszuführen sei. Wer so dezidiert und umfassend von »der« Scholastik meint sprechen zu können wie Ebeling, darf die dazu nötigen Nachweise dem Leser nicht vorenthalten 98 .

Ebeling hat die Einheit des »Gesamtphänomens« Scholastik nicht überzeugend darlegen und diese darum auch nicht als hermeneutischen Rahmen für die Einzelinterpretationen scholastischer Lehrstücke etablieren können. Dieser Begriff bezeichnet vielmehr eine Abstraktion, die die Arbeit der Interpretation und Analyse von Texten im Kontext der jeweiligen Theologien behindert. An einer solchen Interpretation aber sollte der evangelischen Luther-Forschung gelegen sein, damit sie Luthers Äußerungen zur »Scholastik« historisch korrekt auf scholastische Positionen beziehen kann. Nur so können dann Luthers kritische Gedankengänge präzise rekonstruiert werden. So auch können sie sich von scholastischen Lehrmeinungen herausfordern und durchaus auch einmal »anfechten« lassen. 9. Zum Gang der Untersuchung Kapitel 1 greift ein basales Argument gegen die aristotelische Philosophie auf, das Luther im Zusammenhang seiner Explikation der theologia crucis und ihrer Unterscheidung von amor hominis, amor Dei und amor crucis vorbringt. Es betrifft das Verhältnis des Menschen zum Guten, mithin ein Grundproblem von Theologie und Philosophie. Es soll geklärt werden, was der Gegenstand von Luthers Kritik an Aristoteles ist und wie er im Kontext der philosophischen und theologischen Traditionen des Mittelalters identifiziert werden kann, wie Luther in seiner Kritik argumentativ vorgeht und welche Probleme sich für seine eigene Konzeption daraus ergeben. Kapitel 2 analysiert die viel beredete Kritik Luthers an der aristotelischen Konzeption vom Gerechtwerden des Menschen. In der Untersuchung wird deutlich werden, daß — anders als es die häufige Berufung auf dieses Lehrstück Luthers nahezulegen scheint — keineswegs klar ist, was der Gegenstand dieser Kritik ist, sofern er im Zusammenhang mit dem aristotelischen Gedanken gesehen wird. 98

Ebelings Auffassung von der Einheit der Scholastik hat kaum etwas zu tun mit den oben vorgetragenen Überlegungen der Mediävistik. Im Paragraphen »Die Grunddifferenz zur Scholastik« (LuSt 11/3,357-402) ist von den scholastischen Theologen fast nur Thomas von Aquin Bezugspunkt. Da stellt sich das Problem der Einheit gar nicht im strengen Sinn. - Im folgenden sollte »Scholastik« immer in Anführungszeichen gesetzt sein, um die Problematik des Begriffs bewußt zu halten. Um der Einfachheit willen wird darauf verzichtet.

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Einleitung

Erst die genaue Beachtung der theologischen Texte, die vom Gerechtwerden des Menschen sprechen, und die Berücksichtigung der Transformation des philosophischen — Aristoteles zugeschriebenen — Freiheitsgedankens erlauben eine präzise Bestimmung des Gegenstands von Luthers Kritik wie seiner Argumente. Anschließend wird ein internes Problem von Luthers Alternative exponiert und diskutiert. Kapitel 3 und 4 untersuchen positive Inanspruchnahmen aristotelischer Lehrstücke in Luthers Theologie, nämlich die des aristotelischen Verständnisses von Erkenntnis (Kapitel 3) und von Bewegung (Kapitel 4). Insbesondere das Verständnis von Bewegung hat der junge Luther wiederholt und erhellend zur Darstellung seiner Konzeption von Rechtfertigung herangezogen. Dabei wird im übrigen besonders deutlich, daß jener Vorgang völlig unverständlich bleibt, wenn man mit »Aristoteles« den Philosophen, wie wir ihn heute lesen, bezeichnet sieht und nicht den scholastisch interpretierten Denker. Abschließend wird Luthers Weihnachtspredigt von 1514, die in letzter Zeit viel Beachtung gefunden hat, als ganze und im Detail analysiert und interpretiert. Kapitel 5 erörtert Luthers kritische Äußerungen zur aristotelischen Logik, die oft und gerne als Ausweis für seinen angeblichen Irrationalismus genommen werden. Es soll nach dem Kontext dieser Kritik gefragt werden; so wird ihr genaues Ziel und das in ihr vorgebrachte Argument erkennbar. Der Kampf um die Reform von Theologie und Universität läßt Luther wiederholt hyperbolisch reden. Seine programmatisch scheinenden Äußerungen zur Logik werden aber nur dann angemessen verstanden, wenn sie sich in ein Verhältnis zu seiner Argumentationspraxis, die auf klaren und nachvollziehbaren Beweisen besteht, setzen lassen. Kapitel 6 schließlich untersucht den größten zusammenhängenden Textkomplex, in dem sich Luther mit »Aristoteles« beschäftigt, die 12 philosophischen Thesen der »Heidelberger Disputation«. Sie werden hier zum erstenmal zusammenhängend untersucht. Daß sich Luther in ihnen als Interpret des Aristoteles betätigt, und das ausgerechnet an einem Text, der bis heute als einer der schwierigsten der aristotelischen Philosophie gilt (De anima 111,5), rechtfertigt größtes Interesse ebenso wie die in diesen Thesen weiträumig angelegte Argumentation gegen Aristoteles. Dabei soll Luthers Argumentation nicht nur dargestellt, sondern vor dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Aristoteles-Kommentierung kritisch analysiert werden.

Kapitel 1 : Luthers Kritik am teleologischen Seelenverständnis des Aristoteles

Einführung In der probado zur 28. These der »Heidelberger Disputation« skizziert Luther ein Argument gegen ein fundamentales aristotelisches Theorem. Im Unterschied zu Luthers Kritik am aristotelischen Verständnis des Erwerbs der Tugend der Gerechtigkeit hat es bisher die verdiente Aufmerksamkeit nicht gefunden. Zwar wurde der Einwand Luthers wahrgenommen und paraphrasiert, jedoch nicht in systematischer Absicht untersucht. Luthers Überlegung besagt, daß Aristoteles in seiner Seelenlehre die ontische Struktur des Sünders beschreibt, in der grundgelegt ist, daß dieser »in allem das Seine sucht«. D a ß aber der Sünder als der maßgebende Mensch gedacht wird, steht in Widerspruch zur Theologie 1 . D e r erste Teil der probatio enthält die Begründung für den zweiten Teil der 28. These: A m o r hominis fit a suo diligibili 2 . Er lautet: Secunda pars patet et est omnium Philosophorum et Theologorum, Quia obiectum est causa amoris, ponendo iuxta Aristotelem, omnem potenriam animae esse passivam et materiam et recipiendo agere, ut sic edam suam philosophiam testetur contrariam esse Theologiae, dum in omnibus quaerit quae sua sunt et accipit potius bonum quam tribuit.3

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Man vergleiche, was E.Gilson anläßlich der Erörterung des Problems der recta ratio bei Duns Scotus als dessen Meinung anmerkt: »Aristoteles ist hier nicht immer ein sicherer Führer; denn er hat den gegenwärtigen Zustand der gefallenen Natur für den der Natur selbst genommen. Er betrachtete also die gegenwärtige Auflehnung des Fleisches als natürlich und das natürliche Gesetz der Ratio als ausreichend, um diesen Widerstand zu besiegen. Wir befinden uns nicht mehr in dieser Unwissenheit; denn Gott hat sein Gesetz bekanntgemacht.« (E.Gilson, Johannes Duns Scotus, 630) V;391,30f. V;391,32—392,5. In dem Satzteil »dum in omnibus quaerit [...]« ist rein grammatikalisch »Aristoteles« oder »sua philosophia« Subjekt. Luther will aber nicht über Aristoteles als Menschen sprechen, auch paßt »sua philosophia« sachlich nicht gut als Subjekt zu »in omnibus quaerit«, obwohl es Ausdrücke wie »scienda inflat« (I Kor 8,1; vgl. 56;523,12f) gibt. Gemeint ist als

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Luthers Kritik am teleologischen Seelenverständnis

Der hier von Luther gegen die aristotelische Philosophie vorgetragene Einwand hat drei Elemente: (1) Aristoteles hat ein bestimmtes Verständnis der Seelenvermögen. (2) Diesem Verständnis entspricht es, daß jedes menschliche Tätigsein einem bestimmten Grundmuster folgt. (3) Eine Philosophie, die den Menschen und sein Tätigsein so versteht, setzt sich in Widerspruch zur Theologie. Bei der Rekonstruktion und Analyse des von Luther mehr angedeuteten als ausgeführten Arguments soll so vorgegangen werden: Zuerst wird gefragt, wie Luther die aristotelische Konzeption der Seelenvermögen verstanden hat und wie sich daraus die These, der aristotelische Mensch suche in allem das Seine, ergibt (§ 2). Sodann wird diese Behauptung an der »Nikomachischen Ethik« überprüft und ein Einwand gegen sie im Kontext der scholastischen Rezeption der aristotelischen Lehre vom letzten Ziel diskutiert (§ 3). Bevor Luthers Theorie des »quaerere quae sua sunt«, die die Argumentationsbasis für seine hier untersuchte Aristoteleskritik darstellt, analysiert wird (§ 5), wird ein Text aus der Resolution zur 58. Ablaßthese, der sich eng mit der Argumentation in der probatio berührt, erörtert (§ 4). Da das Gegenmodell zum amor hominis der amor crucis ex cruce natus 4 ist, sollen einige Grundzüge der theologia crucis, in deren Zusammenhang diese Liebe verstanden werden muß, ins Auge gefaßt werden. Ebenso wird Luthers Verständnis von »theologia gloriae« - theologia gloriae als theoretisch-praktische Auslegung des amor hominis - erörtert (§ 6). Da in diesem Kapitel das Problem der Ganzheit des Menschen eine wichtige Rolle spielt, werden in § 7 Luthers Äußerungen zur Frage der appetitus contrarli, die auch eine Aristoteles-Kritik beinhalten, exkursartig untersucht. Eine Interpretation der Struktur von These 28 und ihrer probatio sowie eine Zusammenfassung schließen die Untersuchungen dieses Kapitels ab (§ 8).

§ 2 Rekonstruktion und Explikation von Luthers Argument Luther spricht in dem in der Einführung zu diesem Kapitel angeführten Text 5 von »jedem Seelenvermögen«. Was ist damit gemeint? Aristoteles teilt in seinen Werken differierende Unterscheidungen der Seele nach Vermögen und Teilen mit. Wichtig ist die Einteilung in fünf Vermögen, das nährende (vegetative), strebende, wahrnehmende, örtlich bewegende und denkende15. Für unsere Frage bedeutsam ist die Zweitei-

Subjekt: die Seele oder der Mensch, wie sie von Aristoteles in seiner Philosophie verstanden werden. 4 5 6

V;392,10f. S.o. bei Anm.3. Vgl. De an II,3;414a31f; vgl. auch II,2;413a22-25; 4 1 3 b l l - 1 3 ; 4 1 3 b 2 1 - 2 7 ; II,3;414b334 1 5 a l 3 ; I I , 4 ; 4 1 5 a l 6 - 1 8 . 2 3 - 2 5 ; 4 1 6 a l 9 f ; III,9;432al5-17: »Da die Seele der Lebewesen

Rekonstruktion und Explikation von Luthers Argument

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lung in der »Nikomachischen Ethik«: in einen Teil, der die Vernunft hat und denkt, und in einen Teil, der der Vernunft gehorchen kann7. Der Grund, weshalb die »Nikomachische Ethik« sogleich diese Zweiteilung der Seele zugrundelegt, »dürfte darin zu sehen sein, daß die leitende Fragestellung der ethischen Pragmatie die nach der Einheit bzw. Diskrepanz des menschlichen Seins ist [...]. Sie erfordert, daß die ethische Betrachtung von den Vermögen ausgeht, die miteinander in Widerspruch oder in Einklang stehen können, Vernunft und Streben.«8 Am Schluß des ersten Buches der »Nlkomachischen Ethik« hat Aristoteles noch eine etwas modifizierte Einteilung: in einen vernünftigen und einen unvernünftigen Teil, wobei beide Teile wieder in sich zweigeteilt sind: der vernünftige in einen Teil, der in sich vernünftig ist, und in einen anderen, der auf die Vernunft hören kann; der unvernünftige Teil in einen, der völlig unvernünftig ist (vegetatives Vermögen), und in einen, der auf die Vernunft hören kann. Die beiden jeweils zuletzt genannten Teile fallen zusammen 9 . Pierre d'Ailly schreibt in seinem »Tractatus de anima« der anima rationalis seu intellectiva zwei Vermögen zu: intellectus und affectus seu voluntas 10 . Bartholomäus von Usingen spricht in seinem »Exercitium de anima« von fünf Vermögen mit Berufung auf Aristoteles und das Vernunftargument, daß die Zahl der Vermögen sich nach der Zahl der spezifisch verschiedenen Lebenstätigkeiten richtet, und diese seien fünf 11 .

Luther selbst spricht selten von »potentia animae«12. In der ersten PsalmenVorlesung gebraucht er den Ausdruck »potentia affectiua siue voluntas«13. Der durch zwei Vermögen bestimmt ist, durch das unterscheidungsfähige, das eine Leistung des vernünftigen Nachdenkens und der Wahrnehmung ist, und dadurch, daß es die räumliche Bewegung ausübt [...].« (Übers. Seidl) Vgl. auch III,10;433a31^t33b3. 7 Vgl. EN I,6;l 097b30-l 098a5. 8 F. Ricken, Der Lustbegriff in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, 51. 9 Vgl. EN I,13;1102a26-1103a3. Vgl. auch das Diagramm in Biens Kommentar, 273. 10 Tractatus de anima, cap.6, pars 2 (Pluta, 35f): Sed ad potentias animae rationalis accedamus, quae generaliter duae sunt, scilicet cognoscitiva et motiva, quas intellectum et affectum vocamus. Inquantum enim est potentia cognoscitiva, dicitur intellectus, sed inquantum est potentia motiva, dicitur affectus seu voluntas. Unde licet de anima rationali diversa nomina dicantur, sicut dicimus, quod ipsa est intellectus, ratio, ingenium, memoria, voluntas, liberum arbitrium, tarnen haec nomina non dicunt aliquam distinctionem in essentia animae, sed differunt ratione, quia ipsa dicitur intellectus, inquantum apprehendit, ratio, inquantum discernit, ingenium, inquantum investigai, memoria, inquantum conservât, voluntas, inquantum appétit, liberum arbitrium, inquantum eligit. Haec autem omnia reducuntur ad duas rationes generales, scilicet cognoscendi et affectandi, a quibus duae potentiae denominantur, scilicet intellectiva et volitiva [...]. 11 Exercitium de anima, lib.2, tract.2 (fol. E Ilr): Tantum quinqué sunt potentiae animae, scilicet vegetativa, sensitiva, appetitiva, secundum locum motiva et intellectiva. Illa conclusio est philosophi secundo huius [De an II,3;414a31f) ubi ponit quinqué esse animae potentias ut patet in textu. Et probata ratione tali quia potentia est nomen operationis, ergo multiplicatur ad numerum operationum vitalium specie diversarum, sed quinqué sunt operationes vitales animae, ergo quinqué sunt eius potentiae. 12 G.Metzger, Gelebter Glaube, 71: »Kaum einmal bezeichnet er [Luther] die beiden Größen [intellectus et voluntas] ausdrücklich als Potenzen«. Zum seltenen Gebrauch des Begriffs »potentia (animae)« vgl. etwa 3;124,15—17: >Cherubim< significat hic cognitivas potentias,

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Luthers Kritik am teleologischen Seelenverständnis

Zusammenhang macht deutlich, daß Luther mit »potentia affectiva« trotz der Konvertibilität mit »voluntas« nicht bloß das intellektive, sondern auch das sensitive Strebevermögen meint14. Luther notiert, daß das Wort »voluntas« in der Bibel (etwa in Ps 1,2) eine andere Bedeutung hat als in den Schulen, wo das Wort ein Seelenvermögen bezeichnet, das einerseits gegen den intellectus als anderes Seelenvermögen abgegrenzt und andererseits als Potenz von seinem Akt unterschieden ist15. Im Kommentar zu Ps 17[18],11 interpretiert Luther »cherubim« als »cognitiuas potentias, super quas omnes >ascendit< Deus in humilibus« und »penne ventorum« als »affectiuas virtutes«16. Der Zusammenhang zwischen den Vermögen ist traditionell gedacht: Gott wird nicht höher geliebt als er erkannt wird 17 . In der Auslegung von Ps 75[76],11 versteht Luther den Ausdruck »reliquie cogitationum« so: cogitado hic et reliquie cogitationum pro displicentia et irascibilis potentie actu accipi debent18. Luther meint damit: semper se iudicare, semper sibi irasci debet homo 19 . Offenbar ist Luther an einem engen Zusammenhang von sinnlichem und intellektiven Strebe- und Erkenntnisvermögen interessiert. Im Druck der Großen Galaterbrief-Vorlesung (1535) spricht Luther einmal von »allen drei Seelenvermögen« und nennt die folgenden: voluntas concupiscibilis, voluntas irascibilis und intellectus20.

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super quas omnes ascendit deus in humilibus. >Penne ventorum< autem significat proprie affectivas virtutes. Vgl. auch 1 ¡28,1-6; 3;176,3f; 396,11-13; 523,8f; 4;308,4; 42;45,3-7; 85, 10-13; 43;12,29-31; 55II/1;78,10-20 (s. auch u. Anm.16 u. 17) - Aristoteles, De an 111,9; 432al5—19. — Die Unterscheidung der »physici« zwischen der anima vegetativa, sensitiva und rationalis, die Luther 39/2;399,17-23 erwähnt, ist in der untersuchten probatio nicht im Blick. 55II/1;78,11 (zu Ps 4,5). 55II/1;78,10—14: per >Cubile< intelligitur potentia affectiua siue voluntas, quia in ista sicut in Cubili soient pollutiones fieri et immunde concupiscentie. per >compunctionem< ergo intelliguntur omnes affectiones illius potentie, seil, dolor, accusano etc., assumptio penarum, passionum, et alie cruces voluntarle assumpte. Vgl. 5511/1;35,3-9 Piotata zu Ps 1,2; s.u. Anm.280). AWA II;40,3-7 (Operationes zu Ps 1,2): Voluntatem primum hic neque pro potentia neque pro stertente ilio habita, quem recentiores theologi ex Aristotele invexerunt ad subvertendam intelligentiam scripturae. Item neque pro actu, quem ex ea potentia et habitu elici dicunt. Non habet universa natura humana hanc voluntatem, sed de caelo veniat necesse est. 55II/1;137,11-13 (Hv. getilgt). 55II/l;137,15f: Non enim altius >volat< [Deus], i.e. amatur, quam >ascenditEthan< i.e. durum, forte, robustum. E t hec est proprie potencia non transitiva, sed pocius passiva, ut que activam potenciam potest sustinere.

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Vgl. D e an 111,10; Phys V i l i ; dazu: G.Seel, Die Aristotelische Modaltheorie, 4 1 2 - 4 6 7 .

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Vgl. J. Vercruysse, Gesetz und Liebe, 40: »Die Seelenpotenzen verhalten sich passiv in Beziehung zu der bestimmenden forma. Egozentrisch suchen sie wesensgemäß eher zu empfangen als zu schenken.« Vgl. auch E.Thaidigsmann, Identitätsverlangen und Widerspruch, 45f.

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Luthers Kritik am teleologischen Seelenverständnis

den Menschen als (von der Erkenntnis, die ihrerseits nicht frei ist) determiniert denken. Luther unterstellt Aristoteles aber die entgegengesetzte Behauptung, wenn er sagt: Non >sumus domini actuum nostrorum a principio usque ad finemnehmen< (recipere und accipere) und >schenken< (tribuere und daré) wird der Unterschied [zwischen Gottes- und Menschenliebe] charakterisiert. Die menschliche Liebe sucht, was ihr gehört, und zieht es vor, das Gute zu nehmen statt zu geben. Wer aber wie Gott liebt, erfährt, daß geben seliger ist als nehmen.«30 26

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V;323,14f. Vgl. EN III,8;1114b31f. Petrus de Aillyaco, Tractatus de anima, cap.7, pars 3 (Pluta, 40f): [...] voluntas non est solum potenria passiva, sed activa, nec solum operationum exteriorum, immo suorum interiorum actuum, qui sunt volitio et nolitio. Unde posset dividi voluntas in voluntatem agentem et voluntatem possibilem consimiliter intelligendo, sicut supra dictum est de intellectu. Si enim voluntas foret passiva tantum, non esset in sua libera potestate velie et non velie praesente obiecto, quia non est in potestate passivi pati et non pati principio activo disposito et sufficienter approximate. - Im Mittelalter ist Aristoteles nicht selten als Determinist in der Frage des Willens verstanden und kritisiert worden. Vgl. E.Stadter, Psychologie und Metaphysik der menschlichen Freiheit, 21—27, und u. § 13.

Vgl. dazu das Lutherzitat in Anm.23. Dabei ist allerdings zu beachten, daß Aristoteles ein doppeltes Verständnis von »Erleiden« hat: Erleiden als Destruiertwerden wie als Bewegtwerden zur Wirklichkeit und Vollkommenheit (vgl. De an II,5;417b2-5 [s.u. § 15, bei Anm.415f]). Diese Differenzierung wird in der Scholastik regelmäßig aufgenommen, wenn ein Seelenvermögen »virtus passiva« genannt wird; vgl. z.B. Petrus de Aillyaco, Tractatus de anima, cap.7, pars 3 (Pluta, 36): [...] intellectus possibilis est potentia passiva, non passione corruptiva, sed perfectiva, scilicet recipiendo in se intellectiones ab intellectu agente. Luther hat also entweder in jener frühen Randbemerkung das Erleiden des Göttlichen als Vervollkommnung verstanden, oder er hat die Differenz im Begriff des Erleidens nicht beachtet. Vgl. auch: 42;64,28-34: Habemus quidem liberum quodam modo arbitrium in iis, quae infra nos sunt. [...] Sed in iis, quae ad Deum attinent, et sunt supra nos, homo nullum habet liberum arbitrium, Sed vere est sicut lutum in manu figuli, positus in mera potentia passiva, et non activa. 28 Das Zitat aus Petrus de Aillyaco, Tractatus de anima (s.o. Anm.27), hat bereits einen Hinweis darauf gegeben, daß sich das Verständnis von »passiv« durch den Begriff »recipere«, den auch Luther gebraucht, näher bestimmen läßt. 29 V;392,4f. 30 J.Vercruysse, Gesetz und Liebe, 40.

Rekonstruktion und Explikation von Luthers Argument

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Sieht man aber genauer hin, so fallt auf, daß Luther als Akt des passiven Vermögens das agere nennt. Agere aber ist der Akt des aktiven Vermögens, während reäpere der Akt eines passiven Vermögens ist31. Luthers Aussage erscheint mithin als widersprüchlich. Tatsächlich aber unterscheidet Luthers philosophischer Lehrer Bartholomäus von Usingen in den Seelenvermögen ein aktives und ein passives Moment, und zwar so, daß diese Unterscheidung sich nicht mit der aristotelischen Unterscheidung von aktivem und passivem Vermögen deckt. Usingen macht dies allerdings nicht eigens deutlich. Insofern das Sinnesvermögen den Wahrnehmungsakt hervorbringt, ist es aktiv; insofern es ihn in das Vermögen »aufnimmt«, ist es passiv oder rezeptiv32. Die gleiche Unterscheidung eines aktiven und eines passiv-rezeptiven Moments findet sich beim Intellekt und beim Willen33. Was rezipiert wird, ist also der Akt, der von dem betreffenden Seelenvermögen mit Bezug auf ein Objekt hervorgebracht wird34.

31 Usingen, Exercitium de anima, lib.2, tract.2 (fol. E Iv) gibt den Akt des aktiven Vermögens mit »agere« an, den des passiven Vermögens mit »pari recipiendo subjective in se effectum agentis seu transmutationem«. Zum aristotelischen Verständnis des aktiven und des passiven Vermögens vgl. Met V,12;1019al5-23. 32 Usingen, aaO, lib.2, tract.3 (fol. G Illr): [...] dicitur non esse inconveniens idem diversimode consideratum habere se active et passive quia sensus producendo actum sentiendi habet se active et prout recipit illum in se, id est informatur ab ilio, habet se passive. 33 Usingen, aaO, lib.3, tract.l (fol. L Ir): [...] dicitur idem respecta eiusdem agere et pati secundum diversas radones considerando Intellectus enim in hoc quod recipit in se intellectionem dicitur pati et in hoc quod intelligit dicitar agere, quia intelligere est intellectaaliter apprehendere. Nec est illud inconveniens, ut etiam patuit de sensu qui est virtus activa et passiva respecta eiusdem scilicet respecta sensationis edam adacquate, sed non eadem ratione considerando AaO (fol. O Ilr): [...] dicitur intellectum possibilem habere se active et passive respecta speciei intelligibilis ad illum sensum quod recipit in se speciem ratione cuius patitur, et intelligit ea mediante ratione cuius habet se active, sed non habet se sic active quod dicatur illam producere, quia fantasma cum intellecta agente dicitur producere speciem intelligibilem. Vgl. zum Willen: Petrus de Aillyaco, Tractatus de anima, cap.7, pars 3 (s.o. Anm.26). 34 Der Begriff »recipere« ist von Petrus Johannis Olivi zur Beschreibung der Besonderheit des geistigen Lebens eingeführt worden. Wollen soll nicht im Sinn des Grundsatzes »omne quod movetar, ab alio movetur« verstanden werden. Vielmehr sieht Olivi den Willen »als eine konkrete Einheit. Ungeschieden (per indifferentiam) ist in ihm das Element des Bewegers und des Beweglichen verbunden. Er >hat die Kraft zweier entia< in sich. [...] Es ist nicht so, daß ein realer Unterschied zwischen dem aktiv wirkenden Objekt und dem passiv bewegten Willen gesehen ist, sondern die Unterscheidung — die aber jetzt nicht mehr als eine reale gedacht ist - wird in den Willen selbst verlegt: Im Willen ist nicht nur ein aktives, die Bewegung hervorbringendes Element, sondern auch ein >rezeptivesum seiner selbst willen< im Ansatz verfehlt. [...] Wie die Naturtendenz des Steines einfachhin nach dem Erdmittelpunkt strebt, in dessen Erreichen oder Annäherung nach damaliger Auffassung seine Vollkommenheit besteht, wie die Naturtendenz eines jeden Organismus einfachhin nach Nahrung strebt, ohne diese in irgendeine Beziehung zur damit erreichten eigenen Festigung zu setzen, so inkliniert auch die ajfectio iustitiae den Willen zur Affirmation der Güter um ihrer selbst willen, in welchem ekstatischen Aufgehen in der Wertfülle des Gegenstandes der Wille dann eo ipso seine Vollendung erreicht.« (W.Hoeres, Der Wille als reine Vollkommenheit nach Duns Scotus, 155f)

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R. Spaemann, Glück und Wohlwollen, 156. Vgl. EN I,l;1094al8-22. Das Einleitungskapitel der »Nikomachischen Ethik« wird kontrovers interpretiert; seine Argumente werden sehr unterschiedlich rekonstruiert. Vgl. etwa: P.Aubenque, Die Kohärenz der aristotelischen Eudaimonia-Lehre, 45-57; O.Gigon, Die Eudaimonia im ersten Buch der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, 339-365; K.Jacobi, Aristóteles' Einführung des Begriffs >εύδαιμον(α< im I. Buch der »Nikomachischen Ethik«, 300—325; J.Jantzen, Bemerkungen zum Aristotelischen Eudaimonie-Begriff, 95—114; G.Müller,

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Luthers Kritik am teleologischen Seelenverständnis

ein Merkmal des gesuchten Gutes: Es muß um seiner selbst willen erstrebt werden, während das andere um seinetwillen gewollt wird 51 . Argumentiert wird hier — wie beim Beweis für den unbewegten Beweger — damit, daß das Handeln grundlos wäre, wenn man kein Letztes, nämlich keinen letzten Zweck, ausmachen könnte, denn der Zweck des Handelns ist sein Prinzip 52 . Dieses Kriterium läßt es prinzipiell zu, daß es mehrere Instanzen gibt, die seine Bedingung erfüllen. Das ist anders beim zweiten von Aristoteles für das höchste Gut genannten Merkmal, dem der Autarkie. Sich selbst genügend ist das, was allein das Leben wählenswert macht und dazu keines anderen bedarf 53 . Neben dieser schwachen Bestimmung von »autark« bietet Aristoteles auch eine starke: »was die Hinzufügung eines anderen Gutes ausschließt«. Das gesuchte Gut soll das letzte sein. Könnte neben ihm ein weiteres Gut angestrebt werden, so würde das Streben bei dem vermeintlich letzten Gut nicht zur Ruhe kommen, und dieses wäre damit als vorletztes erwiesen 54 . Damit ist klar, daß als gesuchtes Gut nur eines in Frage kommen kann. Als Kandidat bietet sich das Glück an 55 . Das Glück können wir nicht um eines andern willen erstreben, während wir etwa die Tugend sowohl um ihrer selbst willen wie um des Glückes willen wollen können 56 . Glück als das höchste Gut des Menschen bestimmt Aristoteles sodann als »der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele«57. Für unsere Fragestellung ergibt sich: (1) Da Aristoteles ein Gut als das, um dessentwillen alles menschliche Tätigsein vollzogen wird, denkt, kann die Frage nach dem, was der Mensch in allem sucht (in omnibus quaerit), sinnvoll an Aristoteles gestellt werden. (2) Da der Mensch nach Aristoteles als letztes Ziel sein Gutes und sein Glück sucht, kann Luther sagen, Aristoteles denke den Menschen so, daß er in allem das Seine suche. (3) Nun muß aber präzisiert werden: Dieses Urteil ist nur richtig, wenn zugleich die andere Behauptung Luthers aus der probado abgewiesen wird, daß nämlich der aristotelische Mensch lieber das Gute nimmt als gibt (accipit bonum potius quam tribuit 58 ). Wenn Luther mit dieser Behauptung eine Feststellung über das faktische Verhalten von Menschen machen will, befindet er sich in Übereinstimmung mit Aristoteles, der fast wörtlich

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Probleme der Aristotelischen Eudaimonielehre, 368-402; G.Seel, Wert und Wertrangordnung in der Aristotelischen Güterlehre, 253—288. Vgl. zum Folgenden v.a. F.Ricken, Der Lustbegriff in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, 21-34. Vgl. neben EN I,l;1094al8-22:1,5;1097a33f. Vgl. Met II,2;994a8-l 1 ; 994b9-16; IX,8;1050a8; Phys VIII,5-6. Vgl. EN I,5;1097bl4f. Vgl. EN I,5;1097bl6-20. Vgl. EN I,2;1095al7—20; I,5;1097a34; 1097bl5f. Vgl. EN I,5;1097bl-6. EN I,6;1098al6f: [...] humanum bonum anime operacio fit secundum virtutem (Aristoteles latinus, XXVI 1-3, fasc.4, 384 [Übers. R. Grosseteste]). V;392,4f.

Überprüfung von Luthers These

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dasselbe erklärt: »Die meisten Menschen [...] wollen lieber Gutes empfangen als Gutes tun« 59 . Nun ist aber die Analyse, die Aristoteles mit dieser Feststellung verbindet, zu beachten. Das Selbst, das diese Menschen in ihrer Selbstliebe lieben, ist der unvernünftige Teil ihrer Seele. Ihm dienen sie und beanspruchen daher zu viel an Geld, Ehren, körperlicher Lust usw. für sich. Nicht so der Mensch der Tugend. Seine Selbstliebe gilt dem vernünftigen Teil seiner Seele als dem Höchsten im Menschen; ihm teilt er das Beste zu: die Tugend. Diese Selbstliebe geschieht nicht auf Kosten der anderen. Wer sich so liebt, gibt dem Freund gerne Geld und nimmt für sich das größere Gut, das Sittlich-Schöne 60 . Hier verdient die Unterscheidung Beachtung, die Luther zwischen einem richtigen Satz der aristotelischen doctrina und der Tatsache, daß sich dafür im Leben keine Beispiele finden lassen, macht: Alius est ergo amor Dei et alium habet oculum quam amor carnis, quia verus amor non nisi quod proximo prosit, videt. Hinc omnes dixerunt amorem esse velie alteri bonum. Unde in homine nullum esse amorem perspicimus, si recrius intueamur, ut Aristotelis sunt doctrinae, quarum non sunt exempla: fabulantur tarnen poetae de Pilade et Oreste, Niso et Euryalo, Achille et Patroclo atque aliis multis. Qui non fuit amor, sed concupiscentia, siquidem seipsos amarunt. 61 So kann es sein, daß eine kritische Bemerkung Luthers nicht ein Einwand gegen den Inhalt der doctrina Aristotelis ist, sondern dagegen, daß sich Aristoteles über den Wirklichkeitsbezug seiner Theorie täuscht.

Wenn nun vom aristotelischen Menschen in dem präzisierten Sinn gesagt werden kann, daß er in allem das Seine sucht, so ist klar, daß das für Aristoteles keinen Einwand darstellt, sondern seine Absicht ausspricht. Wird das quaerere quae sua sunt so verstanden, so steht es nicht im Gegensatz zum quaerere quae alterius sunt, da der im Sinn des Aristoteles gedachte Mensch in der Gerechtigkeit jedem das Seine gibt und niemandem das ihm Zustehende nimmt. Luther freilich versteht das »quaerere quae sua sunt« nicht nur im Gegensatz zum »quaerere quae alterius sunt«, sondern auch durch die Opposition zum »quaerere quae Dei sunt«. Den letzteren Gegensatz kennt Aristoteles nicht. Luther trägt also eine Fragestellung und Unterscheidung von außen an Aristoteles heran. Das ist dann legitim, wenn diese Fragestellung begründet ist (s.u. § 5). Luther formuliert den Sachverhalt, zu dem die bisherigen Überlegungen gefuhrt haben, scharf so: Error est, Aristotelis sententiam de foelicitate non repugnare doctrinae catholicae 62 .

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EN IX,7;1167b27f: [...] multi et magis bene pati quam facere appetunt (Aristoteles latinus, X X V I 1 - 3 , fasc.4, 552). Vgl. EN I X , 8 ; 1 1 6 8 b l 5 - 1 1 6 9 b 2 . 4;666,23—667,5. »Velie alteri bonum« ist die aristotelische Bestimmung der Liebe aus Rhetorik II,4;1380b36-81al: »Lieben sei also, einem anderen das wünschen, was man für Güter hält, und zwar um dessent- und nicht um unseretwillen und nach Kräften dafür tätig sein.« (Übers. F. Sieveke) V;323,19f (Th.42 der »Disputatio contra scholasdcam theologiam«).

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Luthers Kritik am teleologischen Seelenverständnis

N u n ist e i n e r s e i t s d a s a r i s t o t e l i s c h e e t h i s c h e D e n k e n in d e r S c h o l a s t i k r e z i p i e r t worden, andererseits

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d e n G e g e n s a t z » q u a e r e r e q u a e D e i / s u a s u n t « , w e n n a u c h n i c h t als k o n t r a d i k t o r i s c h e n G e g e n s a t z u n d n i c h t in d e r g l e i c h e n t e r m i n o l o g i s c h e n P r ä g u n g . D a r u m s o l l e n jetzt e i n i g e P r o b l e m e d e r m i t t e l a l t e r l i c h e n A n e i g n u n g d e s a r i s t o t e l i s c h e n G e d a n k e n s v o m l e t z t e n Z i e l d e s H a n d e l n s u n t e r s u c h t w e r d e n , d e n n in b e z u g a u f ein l e t z t e s Z i e l läßt s i c h d i e F r a g e n a c h d e m » i n o m n i b u s q u a e r e r e « a n g e m e s s e n erörtern. A r i s t o t e l e s h a t d a s G u t e , s o w e i t es in d e r p r a k t i s c h e n P h i l o s o p h i e t h e m a t i s c h ist, in K r i t i k a n P i a t o n s I d e e n l e h r e d e z i d i e r t als π ρ α κ τ ό ν α γ α θ ό ν v e r s t a n d e n 6 3 . N u n s t e h t a b e r i m C h r i s t e n t u m G o t t als s u m m u m b o n u m d e m H a n d e l n g e g e n ü b e r . U m d a s a r i s t o t e l i s c h e h ö c h s t e G u t , d a s in d e r T ä t i g k e i t b e s t e h t , in ein V e r hältnis z u G o t t als h ö c h s t e m G u t z u s e t z e n , b e d i e n t m a n s i c h einer U n t e r s c h e i d u n g i m Z i e l b e g r i f f : d e r U n t e r s c h e i d u n g z w i s c h e n finis c u i u s u n d finis q u o . S o s a g t T h o m a s : finis d u p l i c i t e r dicitur, scilicet cuius, et quo·, i d e s t i p s a r e s in q u a ratio b o n i i n v e n i t u r , et u s u s s i v e a d e p t i o illius r e i 6 4 . E s w i r d a l s o u n t e r s c h i e d e n » z w i s c h e n O b j e k t d e s B e s i t z e s u n d B e s i t z d e s O b j e k t s « 6 5 . D a m i t ist d a s

Problem

jener V e r h ä l t n i s b e s t i m m u n g natürlich nicht gelöst, s o n d e r n nur beschrieben. Auch Aristoteles hat im Begriff des Ziels eine Unterscheidung gemacht, und zwar hat er zwischen einem finis cuius (ένεκα (Λ/τινός) und einem finis cui (ένεκα φ / τ ι ν ί ) unterschieden. Jedoch ist diese Unterscheidung nicht frei von Dunkelheit. Er hat sie in der verlorenen Schrift »Peri philosophias« entwickelt; im Corpus Aristotelicum gibt es nur fünf Stellen, an denen er von ihr Gebrauch macht. Aristoteles hat sie in der »Nikomachischen Ethik« auch nicht auf die Bestimmung des finis ultimus des Menschen bezogen. E s ist nicht nur umstritten, welches die beiden Bedeutungen sind, sondern auch, welcher der beiden Ausdrücke sich auf welche Bedeutung bezieht. In Metaphysik X I I stellt Aristoteles fest: »Daß aber das Worumwillen unter das Unbewegte gehört, macht die bekannte Unterscheidung klar. Worumwillen meint nämlich entweder: für jemanden [τ ivi], oder an sich für etwas das Gute [τινός] sein; letzteres, wenn auch nicht das erstere, gehört dahin. E s ist also bewegend wie das Geliebte.« 66 Nach dieser Übersetzung von H.-G.Gadamer ist es der finis cuius, der zum Unbewegten gehört, während nach der Obersetzung von H.Bonitz und dem Kommentar von H.Seidl es sich gerade um den finis cui handelt: »Daß aber der Zweck zu dem Unbewegten gehört, macht die Unterscheidung deutlich; denn es gibt einen Zweck für etwas [τινί] und von etwas [τινός]; jener ist unbeweglich, dieser nicht.« 67 Es ist deutlich, daß die eine Bedeutung von Telos sich auf 63 64

65 66 67

Vgl. E N 1,4, v.a. 1096b31-35. Vgl. dazu: H. Flashar, Die Piatonkritik (I 4), 63-82. Thomas, STh I/II, qu.l, art.8c. Vgl. auch u. bei Anm.78. Vgl. Ockham, Sent.I, dist.l, qu.6 (OTh I;506,15f): [...] finis uldmus potest accipi dupliciter: vel pro beatitudine creata possibili voluntati, vel pro objecto illius beaütudinis. R. Spaemann, Reflexion und Spontaneität, 38. Met XII,7;1072bl-3 (Übers. H.-G.Gadamer). Met XII,7;1072bl-3 (Übers. H.Bonitz). Seidl in seinem Kommentar z.St. (S.564): »Zweck hat zwei verschiedene Bedeutungen: - das Worum-willen, weswegen etwas entsteht (als immanenter Zweck im Bewegten) [finis cuius]; — das, wofür das Worum-willen ist, (als

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den unbewegten Beweger bezieht, der vollkommen und in seiner Vollkommenheit unveränderlich und gerade darin für anderes >attraktiv< ist und das Streben anzieht 68 . In der »Eudemischen Ethik« heißt es: »Zwiefach aber ist das Worumwillen [...], denn jener [der Gott] bedarf nichts« 69 . Demnach unterscheiden sich die beiden Bedeutungen von »Worumwillen« durch ihren Bezug auf etwas Unbedürftiges bzw. auf etwas Bedürftiges. Dementsprechend ist es plausibel, das »τινί« in Verbindung mit dem Worumwillen als dativus commodi zu verstehen: Hier geht es um ein Ziel, das auf die Besonderheit und Bedürftigkeit eines Seienden bezogen ist, ihm >zugute< gewollt wird und in seinem Interesse liegt. In diesem Sinn lassen sich zwei Stellen aus »De anima«, in denen auch die Unterscheidung im Zielbegriff begegnet, verstehen: »Wie die Vernunft auf etwas hinarbeitet, genau so auch die Natur, und das ist ihr Zweck. Ein solcher Zweck ist in den Lebewesen naturgemäß die Seele. Denn alle natürlichen Körper sind Werkzeuge (Mittel) für die Seele, und wie für die der Tiere gilt dies auch für die der Pflanzen; denn sie sind für die Seele da. In zweifacher Bedeutung kommt Zweck vor: Zweck von und Zweck für.« 70 Hier legt es sich nahe anzunehmen, daß die Seele das Worumwillen ist, dem zugute (finis cui) die Organe da sind. Jedoch ist dies keineswegs klar; viele Interpreten nehmen - ohne weitere Begründung - an, daß in einem zweckhaften Sachverhalt immer beide Bedeutungen von »Zweck« eine Rolle spielen. Das scheint uns keineswegs zwingend, auch nicht an der anderen Stelle von »De anima«: »Denn die natürlichste Leistung ist bei den lebenden Wesen [...] die, daß sie ein anderes gleichartiges erzeugen, das Tier ein Tier, die Pflanze eine Pflanze, damit sie, soweit möglich, am Ewigen und Göttlichen teilhaben. Denn nach diesem strebt alles, und auf dieses Worumwillen hin wirkt gemäß der Natur alles, was wirkt; das Worumwillen ist zweifach: das eine von etwas [06], das andere für etwas [φ]. Da es nun unmöglich ist, daß diese Wesen kontinuierlich am Ewigen und Göttlichen teilhaben, weil nichts Vergängliches als dasselbe und der Zahl nach eines dauern kann, hat jedes, soweit es das vermag, daran Anteil, das eine mehr, das andere weniger. Und es besteht nicht als es selbst fort, sondern wie es selbst, der Zahl nach nicht eines, aber der Art nach.« 71 Hier ist das Worumwillen wie in der »Metaphysik«-Stelle verstanden im Sinn des finis cuius als das Göttliche und Vollkommene, an dem Anteil zu bekommen Inhalt des Strebens alles natürlich Seienden ist. Welchen Sinn sollte es haben, hier nach einem finis cui zu fragen? K.Gaiser sieht das »Moment des τινί« (finis cui) jedoch so: »Im Rahmen der allgemeinen Zuordnung zum göttlichen bewegt wie ein Geliebtes (d.h. als Zweck, Wofür, im Bereich des Unbewegten) [...]oben< wirkt sich also immer auch eine relative, auf das einzelne Subjekt gerichtete Zwecktätigkeit aus.« 72 Ist die letztere mehr als die selbstverständliche Konkretisierung der »allgemeinen Zuordnung« zum Göttlichen unter den Bedingungen des einzelnen Seienden, und wenn ja, wie ist der Zusammenhang zu denken? Hier sagen die Texte weniger als der Interpret7^. Da die Texte äußerst kurz sind, läßt sich schwer eine begründete Entscheidung zwischen den Interpretationsalternativen treffen; die Probleme werden in den mittelalterlichen Texten explizit und verschärft auftreten. Drei Verstehensmöglichkeiten seien zum Schluß noch einmal genannt: (1) H.Wagner: »einmal heißt Zweck dasjenige, was erstrebt und beabsichtigt ist, sodann auch das, zugunsten dessen jenes erstrebt und beabsichtigt wird« 74 . (2) R.Spaemann unterscheidet finis cuius und finis cui im Sinne von subjektivem Motiv und objektivem Zweck: »Das erste >um ... willen< [finis cuius] ist das jeweils erstrebte Ziel, z.B. die Sättigung durch die Speise. Das zweite aber ist das Subjekt, um dessentwülen das Ziel erstrebt wird und das meistens der Handelnde selbst ist.« 75 Insofern stimmt Spaemann mit Wagner überein; er argumentiert jedoch weiter: Die Selbsterhaltung eines Seienden ist finis cuius dieses Seienden, Gott aber kann, da unbedürftig, nicht recht finis cui sein, dem etwas zugutekäme. Darum hat nach Spaemann die mittelalterliche Philosophie das absolute Telos von endlichem Seienden verstanden als spezifische Weise der Repräsentation des Göttlichen76. (3) K.Gaiser stellt zusammenfassend fest, »daß die Natur, die immer >das Beste< will, zugleich beide Arten des οΐ> Ενεκα verfolgt. Sie ordnet alles auf Gott zu, der das höchste, absolut gute Telos darstellt [finis cuius]; sie lenkt aber auch die einzelnen Lebewesen zu der ihnen besonders gemäßen, jeweils bestmöglichen Endform.« 77

Aristoteles selbst zieht die Unterscheidung im Zielbegriff in der »Nikomachischen Ethik« nicht zur Explikation seines Begriffs des letzten Ziels heran. Anders ist das, wie schon angemerkt, bei Thomas. Auf die Frage: »Uttum beatitudo sit aliquid increatum« antwortet er: [...] finis dicitur dupliciter. Uno modo, ipsa res quam cupimus adipisci: sicut avaro est finis pecunia. Alio modo, ipsa adeptio vel possessio, seu usus aut fruitio eius rei quae desideratur: sicut si dicatur quod possessio pecuniae est finis avari, et frui re voluptuosa est finis intempe72 Vgl. Κ. Gaiser, Das zweifache Telos bei Aristoteles, (97-113) 104. 73 Vgl. Ross, Commentary, 288: »In 11.1-2 [De an II,4;415blf] A[ristode] says that eternity and divinity are the ot ένεκα in the sense of being that at which all things aim; in 11.20-21 [415b20f] he says that soul is the ο ΐ ένεκα in the sense of being that in whose interest the bodies of animals and of plants exist«. Ross hat die beiden Bedeutungen von »finis« so unterschieden: »[...] but we must note that >for the sake of which< is ambiguous, meaning either >to attain which< or >in whose interest« (ebd.). 74 H.Wagner, Aristoteles. Physikvorlesung, 457 zu Phys II,2;194a35f. Zur Interpretation dieser Stelle, an der auch die zweifache Bedeutung von »Worumwillen« erwähnt wird, vgl. den ganzen Kommentar von H.Wagner z.St. und K.Gaiser, Das zweifache Telos bei Aristoteles, 106-110. Ähnlich wie Wagner Hicks, Commentary, 340 (zu De an II,4;415b2): »The end or final cause may be understood as (a) the result for the sake of which, or (b) the person or thing for the sake of whom or which, something is done whether in nature or in art.« 75 R. Spaemann/R. Low, Die Frage Wozu?, 73. 76 Vgl. a a 0 74. 77 Κ. Gaiser, Das zweifache Telos bei Aristoteles, 110.

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rati. Primo ergo modo, ultimus hominis finis est bonum increatum, scilicet Deus, qui solus sua infinita bonitate potest voluntatem hominis perfecte implere. Secundo autem modo, ultimus finis hominis est aliquid creatum in ipso existens, quod nihil est aliud quam adeptio vel fruitio finis ultimi. Ultimus autem finis vocatur beatitudo. Si ergo beatitudo hominis consideretur quantum ad causam vel obiectum, sic est aliquid increatum: si autem consideretur quantum ad ipsam essentiam beatitudinis, sic est aliquid creatum. 78

So wird die aristotelische Bestimmung des Glücks als Tätigsein (gemäß der Tugend), zu der die Ablehnung der platonischen Ideenlehre gehört, mit dem christlichen Gedanken, daß das Glück »in Gott« zu finden sei, vermittelt. Diese Vermitdung ist so selbstverständlich geworden, daß zum Beispiel Buridan in seinem Kommentar zur »Nikomachischen Ethik« die Frage stellt: »Uttum felicitas consistit in aliquo bono separato« und bei der Argumentation von der Unterscheidung zwischen finis quo und finis cuius Gebrauch macht79. Die Unterscheidung von finis cuius und finis quo ist nicht die einzige, die bei der begrifflichen Bestimmung des letzten Ziels in der Scholastik von Bedeutung ist. Zwei weitere Unterscheidungen haben großes Gewicht: die Unterscheidung von uti und frui, die Augustin in »De doctrina Christiana« maßgeblich entwickelt hat, und die Unterscheidung von amor amicitiae und amor concupiscentiae. Petrus Lombardus hat die augustinische Unterscheidung von »uti« und »frui« gleich am Beginn seines Sentenzenwerkes mit Hilfe von Zitaten aus Augustinus exponiert und damit Anlaß zu zahllosen Erörterungen dieser Unterscheidung in den Kommentaren zu den »Sententiae« gegeben. »Uti« und »frui« bezeichnen die beiden Arten, in denen sich der Wille zu einer »Sache« (res) verhalten kann: Er kann etwas oder jemanden wollen oder lieben entweder propter se oder propter aliud80, und zwar so, daß das, was um seiner selbst willen geliebt wird, als letztes gewollt wird, mithin als etwas, in dem das Glück besteht81. Das Ewige und Un78

STh I/II, qu.3, art.lc. — Luther: Finis est duplex, scilicet consumptionis et consummationis: quod cum philosophia potest consonare de fine quo et gratia cuius: finis enim quo est consumptionis et cessationis: finis autem gratia cuius est adeptionis et acquisitionis (3;506,23-26; zu Ps 73[74],21). 79 Super decern libros ethicorum, lib.l, qu.12 (fol. 12ra-12va). Ein Argument für eine bejahende Antwort lautet so: Item cuiuslibet bonum magis consistit in fine grada cuius quam in fine quo, quia finis quo est propter finem gratia cuius et ideo bonitatem habet ex bonitate finis gratia cuius quia nihil est bonum nisi propter causas finales, (fol. 12ra) 80 Vgl. Petrus Lombardus, Sent.I, disti, cap.2, n.3 (Ί/2;56,10-13; zitiert ist, nicht ganz genau: De doctrina Christiana I,IV,4,Z.l-4 [CChr.SL XXXII,8]): >Frui autem est amore inhaerere alicui rei propter se ipsam; uti vero, id quod in usum venerit referre ad obtinendum illud quo fruendum est: alias abuti est, non uti, nam usus illicitus abusus vel abusio nominad debet.< 81 Vgl. Senti, disti, cap.3, n.3 (I/2;58,l-12). AaO, n.4 (I/2;58,16-19) zitiert der Lombarde Augustinus (De doctrina Christiana, I,XX,20,Z.12-16 [aaO 17]): >Si propter se homo diligendus est, fruimur eo; si propter aliud, utimur eo. Videtur autem mihi propter aliud diligendus. Quod enim propter se diligendum est, in eo constituitur beata vita, cuius etiam spes hoc tempore consolatur.
Forte virtutes, quas propter solam beatitudinem amamus [...][virtutes] propter se petenda sunto91) versöhnen. Dabei kommt er zu dem erstaunlichen Satz: [...] virtutes propter se petendae et amandae sunt, et tarnen propter solam beatitudinem 9 2 . Während Augustin fordert, daß alles, was nicht letztes Ziel ist, um dieses Zieles willen erstrebt wird, ist der Lombarde zufrieden, wenn das, was nicht letztes Ziel ist, gleichwohl aber propter se gewollt wird, nicht als letztes Ziel gewollt wird. Er erläutert: Die Tugenden werden propter se erstrebt, weil sie ihre Besitzer mit einer ernsten und heiligen Lust ergötzen. Aber man darf dabei nicht stehenbleiben, sondern muß weitergehen 93 . Dazu bemerkt Luther in einer Randbemerkung (1509) - noch ganz im Sinne Ockhams: Hic 82

Petrus Lombardus, aaO, cap.2, η.5 (I/2;56,20f): Res autem quibus utendum est, mundus est et in eo creata. Ebd. (Z.24-26; De doctrina Christiana I,XXII,20,Z.l—4 [aaO 16]): >In omnibus rebus illae tantum sunt quibus fruendum est, quae aeternae et incommutabiles sunt; ceteris autem utendum est, ut ad illarum perfruitionem perveniatur.< 83 Petrus Lombardus, aaO, cap.2, n.5 (I/2;57,lf; De trin X,X,13 [CChr.SL L;327,23f]): »Fruimur cognitis in quibus ipsis propter se voluntas delectata conquiescit [...].< 84 Petrus Lombardus, aaO, cap.2, n.l (I/2;56,4f; De doctrina Christiana I,III,3,Z.2f [XXXII,8]): >Illae quibus fruendum est, nos beatos faciunt [...].< 85 Vgl. Petrus Lombardus, aaO, cap.3, n.l (I/2;57,5-16). 86 AaO, cap.3, n.2 (Γ/2;57,26—28): [...] qui fruitur etiam in hac vita, non tantum habet gaudium spei, sed etiam rei, quia iam delectatur in eo quod diligit, et ita iam rem aliquatenus tenet. 87 Vgl. aaO, cap.2, n.3 (s.o. Anm. 80). 88 Vgl. aaO, cap.3, n.7 (I/2;59,20-35). 89 AaO, cap.3, n.10 (I/2;60,21-30): Sed dicet aliquis: >Frui est amore inhaerere alicui rei propter se ipsam< [...]; si ergo virtutes propter se amandae sunt, et eis fruendum est. — Ad quod dicimus: In illa descriptione, ubi dicitur >propter se ipsamtantummodoUti est aliquid assumere in facultatem voluntaos< propter aliud. Amare autem Deum ut bonum amantis est amare Deum propter ipsum amantem. Respondetur breviter quod actus spei licet sit amor concupiscendae, non tarnen est usus, nec amans Deum ut suum bonum utitur Deo. Et ad probationem dicitur quod uti est aliquid assumere in facultatem voluntatis propter aliud praecise, ita quod nisi aliud amaretur, ipsum non amaretur; vel: est aliquid amare propter aliud magis amatum. Nunc ergo Deus non sic amatur amore concupiscentiae praecise, quia etiam amatur perfectius amore amicitiae. Nec amatur propter bonum sperantis magis amati. Qui enim Deum praecise amaret quia bonum amantis aut propter bonum amantis magis dilecti, ille uteretur Deo. Nec talis amor esset actus virtutis spei, sed esset actus vitiosus et inordinatus. 109 Vgl. 1;470,27-29. 110 V;322,5-10 (Disp. contra schol. theol.; 1517): 22. Omnis actus concupiscentiae erga deum est malum et fornicario spiritus. 23. Nec est verum quod actus concupiscentiae possit ordinari per virtutem spei; (Contra Gabrielem) 24. Quia spes non est contra charitatem, quae solum quae dei sunt querit et cupit. 111 Luther hat sich allerdings auch mit anderen Gründen gegen den scholastischen Begriff der Hoffnung gewandt; vgl. nur V;322,llf - gegen Petrus Lombardus, Sent.III, dist.26, cap.l (II;159,16-21). Vgl. R.Schwarz, Fides, spes und caritas beim jungen Luther, 342-357.

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Conjunguntur finis ultimus et actus ultimus quo ipse ultimus tenetur ... Valeat quantumlibet in vulgari sermone illa complexio. 1 1 2 Fénelon will diese complexio auflösen. Spaemann sieht hinter diesem Programm - dessen höchster Punkt ist die »Annahme ewiger Verdammnis, falls sie im göttlichen Willen läge« 1 1 3 - »die Entzweiung von Ontologie und Psychologie« 114 . Diese wiederum folge der neuzeitlichen »Inversion der Teleologie: das Sein steigert sich nicht zum Tätigsein, sondern die Tätigkeit ihrerseits hat zum alleinigen Ziel die Erhaltung dessen, was ohnehin schon ist« 1 1 5 . Für die Aristoteles folgende scholastische Teleologie ist demgegenüber jedes Seiende um seiner operario als seiner Vollkommenheit willen da, die operario aber geschieht um eines Zieles willen. Den ekstatischen Charakter einer sich daran orientierenden Anthropologie, für die der Mensch sich auf sein Worumwillen hin transzendiert, sieht Spaemann in dem Satz des Thomas ausgesprochen: Totus homo est propter aliquem finem extrinsecum, puta ut fruatur Deo 1 1 6 . Was aber spricht sich in diesem Satz anderes aus als die von Fénelon beklagte »complexio«? Biels Verständnis der Hoffnung zeigt überdeutlich: Auch im Kontext der mittelalterlichen Teleologie wird nicht gedacht, daß der Mensch seine Vollkommenheit nur im Transzendieren seiner selbst auf Gott hin erreicht, ohne diese Vollkommenheit selbst zu intendieren; vielmehr wird im Begriff der Hoffnung zur Sprache gebracht, daß er sich auf Gott auch explizit als bonum sibi bezieht. Das Auseinandertreten eines ontologischen und eines psychologischen Aspekts ist in der Zweideutigkeit des Begriffs »finis ultimus«, dem die Unterscheidung von Hoffnung und Liebe als amor concupiscentiae und amor amicitiae gegenüber Gott entspricht, angelegt. Es ist verständlich, daß Fénelon vorgeworfen wurde, er gebe mit seinem Konzept der reinen Liebe die Hoffnung preis 1 1 7 . Er hält aber an der Hoffnung fest, versteht sie jedoch anders, als Gehorsam gegen Gott. Nur in dieser Subordination bleibt Gott finis ultimus.

Eng mit dem Hoffnungsbegriff verbunden ist das Problem einer Motivationsaporie angesichts des Verdienstgedankens. Biel demonstriert, ohne es zu bemerken, diese Aporie in eindrucksvoller Weise. Er stellt fest: Der Dekalog verpflichtet den Menschen nicht schlechthin zu einer Gebotserfüllung in Liebe, sondern nur unter einer Bedingung118. Zur Begründung führt er an, daß jemand dadurch, daß er propter honestum finem und dem Urteil der recta ratio entsprechend, dem Vater Gutes tut, das vierte Gebot erfüllt und nicht sündigt, sich damit aber auch nicht den Eingang ins ewige Leben verdient119. Will nun der Mensch die Gebote nicht nur erfüllen aus der Einsicht, daß es recht ist, das in ihnen Gebotene zu tun, sondern will er von seiner Gebotserfüllung etwas haben (nämlich den Zugang zum ewigen Leben), so muß er die Gebote uneigennützig, 112 Oeuvres complètes de Fénelon, archevêque de Cambrai (Edition de Saint-Sulpice), III, 445, zit. nach R. Spaemann, Reflexion und Spontaneität, 48, bei Anm.85. 113 AaO 49. 114 Ebd. 115 AaO 54. 116 STh I, qu.65, art.2c, zit. aaO 53, bei Anm.20. 117 Vgl. a a 0 63. 118 Sent.III, dist.37, qu.un., art.3, dub.l, Ρ 2 1 - 2 3 (111,640): Decalogus non obligat hominem ad observantiam eius in caritate simpliciter, sed bene ad observanriam formatam astringit condicionaliter. 119 Vgl. aaO, Ρ 25f.39-41 (111,640); s. nächste Anm.

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Luthers Kritik am teleologischen Seelenverständnis

weil ex caritate, allein um Gottes willen, erfüllen. Die Bedingung (condicionaliter), unter der die Gebote uneigennützig um Gottes willen zu erfüllen sind, ist die, daß ich von ihrer Erfüllung etwas »Gutes für mich« haben will, das ewige Leben. »[...] jene Bedingung drückt der Erlöser Mt 19 so aus: >Wenn du zum Leben eingehen willst, so halte die GeboteSi vis ad vitam ingredi, serva mandata«, hoc est: Si quis voluerit ingredi ad vitam aeternam, necesse est, ut servet mandata ex caritate, quia necesse est, ut servet mandata meritorie et per consequens ex caritate. Posita ergo illa condicione, si vult ingredi vitam, necesse est, ut mandata ex caritate servet; ita quod si servat, et non ex caritate, non quidem peccat, tamen per istam observantiam non meretur ingressum regni. 121 Da wir den im folgenden angesprochenen Zusammenhang ausführlich u. § 11 erörtern, verzichten wir hier auf Nachweise.

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Mensch sein Glück als sein höchstes Ziel verfolgt, sucht er in allem das Seine. Dies steht aber (auf der Theorieebene) nicht in Gegensatz zu einem quaerere quae alterius sunt, da und insofern der aristotelische Mensch seine Position nicht auf Kosten anderer privilegieren will; vielmehr entspricht er gerade in der der Tugend gemäßen Tätigkeit, die das Glück ausmacht, den Forderungen der Gerechtigkeit und des Wohlwollens anderen gegenüber. O b und inwiefern ein sich so verstehender Mensch in der Verkehrung lebt, ist nur vom Gegensatz »quaerere quae sua sunt/quae Dei sunt« her zu zeigen. (2) Diese Perspektive ist nicht erst von Luther an die aristotelische Konzeption herangetragen worden; sie ist bereits von der Scholastik durch die Rezeption der Lehre vom letzten Ziel etabliert. Nunmehr ist Gott finis ultimus. Damit kompliziert sich das Problem der metaphysischen Abschlußgröße des Handelns erheblich: Nicht mehr die in bestimmter Weise qualifizierte Tätigkeit des Menschen, sondern eine dieser Tätigkeit gegenüberstehende Größe ist letztes Ziel. Im Begriff des finis ultimus wird nun eine Unterscheidung vorgenommen: Gott ist finis ultimus wie auch — in anderer Weise - die Teilhabe an ihm (adeptio finis). Die Unterscheidung erhält eine erhebliche Spannung, da mit Hilfe der Unterscheidung von »frui« und »uti« die »Dinge« in zwei Klassen eingeteilt werden: Gott ist Gegenstand des frui, die geschaffenen Dinge sind Gegenstände des uti. Nun ist aber der finis ultimus einerseits Gott, andererseits die beatitudo creata. Die Spannung verschärft sich, wenn die Unterscheidung von amor amicitiae und amor concupiscentiae auf Gott angewandt wird: In der caritas ist Gott in sich als Ziel, in der Hoffnung jedoch als Gut des Menschen thematisch. (3) Unter diesen Umständen gerät der metaphysische Begriff des letzten Ziels in eine Aporie. Wenn in der caritas Gott in sich das unmittelbare Ziel der Liebe ist, in der spes — als amor concupiscentiae gegenüber Gott — jedoch der Mensch, ist nicht Gott allein letztes Ziel des Menschen. Dies wird auch nicht dadurch aufgehoben, daß die caritas die Hoffnung noch einmal auf Gott in sich ausrichtet, es sei denn, dies geschähe wie bei Fénelon in einer strikten Subordination, so daß die Hoffnung als Gehorsam gegenüber Gott erscheint. Dann aber müssen wesentliche Momente des herkömmlichen Begriffs der Hoffnung aufgegeben werden. Dafür hat auch Luther — in dieselbe Richtung wie Fénelon zielend — mit seiner Kritik am Hoffnungsbegriff als »fornicatio spiritus« plädiert. (4) Gerade die Erörterung des Hoffnungsbegriffs macht deutlich, daß die These, den scholastischen Theologen zufolge intendiere der Mensch in seinem Wollen und Handeln Gott um Gottes willen, erreiche aber unintendiert die Vollkommenheit, zumindest nicht uneingeschränkt zutrifft. (5) Die scholastischen Theologen folgen, wenn auch nicht ohne weitgehende Modifikationen, den von Luther genannten Elementen der aristotelischen Seelenlehre. Dennoch behaupten sie, daß die caritas das ganze — durchaus im Sinn von Aristoteles als Verwirklichung von Möglichkeiten verstandene — Leben des Men-

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Luthers Kritik am teleologischen Seelenverständnis

sehen auf Gott (propter Deum) ausrichtet. Trifft diese Behauptung zu, dann ist Luthers Einwand hinfällig; er könnte dann nur noch gegen die aristotelische Konzeption selbst, die die caritas nicht kennt, vorgebracht werden. Luther jedoch behauptet, der von ihm als Verkehrung des Menschen verstandene amor hominis werde von »allen Philosophen und Theologen« gelehrt und bejaht 122 . Klarheit hierüber kann nur die nähere Analyse der Opposition »quaerere quae sua sunt/ quae dei sunt«, die Luther als vollständige Disjunktion versteht, bringen. Bevor dies unternommen wird (s.u. § 5), soll auf eine Kritik Luthers am aristotelischen Verständnis von »bonum« und »malum« eingegangen werden.

§ 4 Die Resolution zur 58. Ablaßthese In der Resolution zur 58. Ablaßthese findet sich eine Überlegung Luthers, die sich mit der probatio zur 28. These der »Heidelberger Disputation« berührt. Hier wie dort wird die aristotelische Auffassung vom Objekt des Willens und von der dementsprechenden Struktur der Liebe kritisiert. Die Untersuchung dieses Textes gehört daher zu unserem Thema: Theologus vero gloriae (id est qui non cum Apostolo solum crucifixum et absconditum deum novit, sed gloriosum cum gentibus, ex visibilibus invisibilia eius, ubique presentem, omnia potentem videt et loquitur) discit ex Aristotele, quod obiectum voluntatis sit bonum et bonum amabile, malum vero odibile, ideo deum esse summum bonum et summe amabile. Et inde dissentiens Theologo crucis diffinit, thesaurum Christi esse relaxationes et soludones poenarum tanquam rerum pessimarum et odibilissimarum, Contra Theologus crucis, thesaurum Christi esse impositiones et alligationes poenarum tanquam rerum optimarum et amabilissimarum. 1 2 3

Im folgenden soll zuerst der Zusammenhang des Textes kurz erläutert (i.), sodann die Behauptung Luthers über das Objekt des Willens bei Aristoteles und in der Scholastik überprüft werden (2.). Dann wird das aristotelische Verständnis

122 V;391,32f (Hv.). 123 1;614,17-26: »Der Theologe der Herrlichkeit aber (das heißt der, der nicht mit dem Apostel allein den gekreuzigten und verborgenen Gott kennt, der vielmehr mit den Heiden den herrlichen Gott, sein Unsichtbares aus dem Sichtbaren, ihn überall gegenwärtig, alles vermögend sieht und von ihm redet) lernt von Aristoteles, daß das Objekt des Willens das Gute ist und daß das Gute liebenswert, das Übel aber hassenswert ist und daß deswegen Gott das höchste Gut und am meisten zu lieben ist. Und daher bestimmt er in Widerspruch zum Kreuzestheologen, daß der Schatz Christi die Erleichterung und Auflösung der Strafen als der schlimmsten und hassenswertesten Dinge ist. Dagegen bestimmt der Theologe des Kreuzes, daß der Schatz Christi die Auferlegung und das Festbinden von Strafen als der besten und liebenswertesten Dinge ist.«

Die Resolution zur 58. Ablaßthese

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des malum — Luther sagt, es sei für diesen odibile — mit Bezug auf das Problem des Leidens (3.) und das aristotelische Verständnis des bonum — Luther sagt, es sei für ihn amabile — mit Bezug auf das Thema der Freundschaft untersucht (4.). Schließlich werden kontrastiv noch einmal der amor crucis und der amor hominis im Verhältnis zum Armen in den Blick genommen (5.). 1. Der Kontext der 58. Ablaßthese In der 58. Ablaßthese, deren Begründung das obige Zitat entnommen ist, behauptet Luther, daß die Verdienste Christi und der Heiligen für den inneren Menschen Gnade wirken, für den äußeren aber Kreuz, Tod und Hölle124. Wer sich nämlich als Sünder bekennt, bekennt sich damit zugleich als aller Strafen würdig. Wer dies aber nur mit Worten ausspricht, nicht jedoch tatsächliche Strafen, Ungerechtigkeiten, Schimpf und Schande als die ihm angemessenen Besitztümer begrüßt, erweist sich als Heuchler und bestreitet in Wahrheit, ein Sünder zu sein. Wenn jedoch dem Menschen in der Kreuzesnachfolge der Leib der Sünde destruiert wird und er bereit ist, Strafen, Kreuz und Tode auf sich zu nehmen, dann gelangt er in die Konformität mit Christus125. Demgegenüber muß das Ablaßwesen, in dem diese heilsamen Strafen erlassen werden, als Verweigerung gegenüber dieser Kreuzesnachfolge erscheinen. Die theologisch reflektierte Gestalt dieser Verweigerung aber ist für Luther die scholastische Theologie. Als sie entstanden ist, ist die Theologie des Kreuzes entleert und damit alles verkehrt worden 126 . Statt dem Gekreuzigten nachzufolgen, ist die Theologie Aristoteles gefolgt. Von ihm hat sie gelernt, daß das Gute Gegenstand des Willens und daß es liebenswert ist, daß aber das Übel zu hassen ist. In dieser Perspektive kann Gott nur als summum bonum und insofern als das, was zuhöchst zu lieben ist, erscheinen. Im Gottesbegriff konvergieren die theoretische und praktische 124 l;236,14f: Nec sunt [thesauri ecclesiae] merita Christi et sanctorum, quia hec semper sine Papa operantur gratiam hominis interioris et crucem, mortem infemumque exterioris. 125 1;612,41-613,20: [...] merita Christi et sanctorum eius sine Papa operantur opus suum duplex, scilicet proprium et alienum. Proprium, id est gratiam, iusticiam, veritatem, patientiam, mititatem in spiritu hominis electi, quia iusticia Christi et meritum eius iustificat et remittit peccata [...]. Alienum (sic enim Isaías vocat c. xxviij.[,21]), id est crucem, laborem, poenas varias, denique mortem et infernum in carne, ut destruatur corpus peccati et mortificentur membra nostra super terram et convertantur peccatores in infernum. Nam quicunque in Christo baptisatur et renovatur, ad poenas, ad cruces, ad mortes paratur, ut aestimetur sicut ovis occisionis et mortificetur tota die [...]. Sic sic oportet nos fieri conformes imagini fili) dei, ut qui non acceperit crucem suam et sequutus fuerit eum, non sit eo dignus, edam si sit omnibus indulgentiis plenus. 126 1 ; 6 1 3 , 2 1 - 2 5 : Quo circa nunc vide, Num quo tempore coepit Theologia Scholastica, id est illusoria (sic enim sonat graece), eodem evacuata est Theologia crucis suntque omnia piane perversa. Theologus crucis (id est de deo crucifixo et abscondito loquens) poenas, cruces, mortem docet esse thezaurum omnium preciosissimum et reliquias sacradssimas [...].

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Orientierung des Herrlichkeitstheologen: Aus der endlichen Welt wird Gott als ihr Urheber erschlossen und in seinen Eigenschaften (Macht, Weisheit usw.) bestimmt, aus dem Ungeniigen der endlichen, vorläufigen Ziele gelangt man zu einem letzten Ziel, dem summum bonum. 2. Das Objekt des Wollens bei Aristoteles und in der Scholastik Für seine Behauptung, nach Aristoteles sei das Gute das Objekt des Wollens und das Gute sei liebenswert, kann sich Luther auf Aristoteles berufen: »Es gibt drei Gegenstände, die wir erstreben, und drei, die wir meiden: das Schöne, das Nützliche und das Angenehme einerseits — das Häßliche, das Schädliche und das Unangenehme andererseits« 127 . Das sind die drei klassischen Formen des bonum: honestum, utile, delectabile. Sie sind selbstverständliche Ziele menschlichen Strebens 128 . Dabei gilt, daß »das größere Gut immer in höherem Maß erstrebenswert ist«129. Die Unterscheidung von bonum und malum ist die Grundunterscheidung der scholastischen Tradition im Blick auf Streben, Wollen, Handeln. Einige knappe Hinweise mögen das zeigen. Das elementare Urteil des natürlichen Gesetzes wird so formuliert: Hoc est [...] primum praeceptum legis, quod bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum. Et super hoc fundantur omnia alia praecepta legis naturae130. Im Willen gibt es nach Biel nur zwei Akte: velie und nolle131. Das velie bezieht sich auf das für den Wollenden oder einen anderen Zuträgliche bzw. Gute, das nolle auf das Abträgliche bzw. malum 132 . Wollen kann man etwas nur sub ratione bonitatds133. Auch in der Einteilung der Affekte spielt die

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Aristoteles, EN II,2;1104b30-32 (Übers. F.Dirlmeier). Vgl. auch De an 111,10;433a27-29. EN I,5;1097bl9f. Thomas, STh 1/11, qu.94, art.2c. Velie und nolle sind Willensakte - wie Bejahen und Verneinen im Bereich des intellectus; »nolle« und »non velie« sind strikt zu unterscheiden — das letztere meint die Suspension eines Willensaktes. Für »nolle« gibt es kein deutsches Äquivalent, hilfsweise: nicht-wollen. 132 Biel, Sent.III, dist.27, qu.un., art.l, n o t i , Β 21-25 (111,484): Sunt autem in volúntate tantum duo actus, scilicet velie et nolle [...]: velie, quo voluntas acceptai obiectum ut conveniens sibi vel alteri; nolle similiter est actus positivus, quo voluntas fugit vel resilit ab obiecto tamquam disconveniente. — Si quaeritur de actu medio suspensivo sive neutro, quo nec acceptai obiectum ut bonum nec réfutât ut malum [...]. 133 Buridanus, Super decern libros ethicorum, lib.3, qu.5 (fol. H Ivb = 44vb): Et scias, quod voluntas non solum praesupponit ad actum volendi, quod obiectum sit cognitum quocumque modo, sed etiam, quod sit iudicatum esse bonum, videlicet honestum, delectabile vel utile. Cum enim bonum non nisi sub ratione boni sit obiectum appetitus, oportet, si debeat movere appeótum, quod sub ratione boni sibi praesentetur.

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Unterscheidung von bonum und malum eine grundlegende Rolle134: amor (als Affekt) ist ein appetitus, der sich auf das conveniens, das die rado boni hat, richtet, während das odium auf das repugnans et nocivum, das die rado mali hat, bezieht: Et ideo, sicut bonum est obiectum amoris, ita malum est obiectum odii135. Der Affekt der spes ist auf ein bonum futurum arduum possibile adipisci gerichtet136, während der Affekt des timor als Objekt das malum futurum difficile cui resisti non potest137 hat usw.138 Helmut Kuhn faßt diesen umfassenden Konsens so zusammen: »Das Ausgerichtet-sein auf das Gute ist die Grundform menschlicher Tätigkeit (ένέργεια) schlechthin. Etwas intendieren heißt: dies Etwas als ein Gutes intendieren. Allem Tun liegt eine Bejahung zugrunde, durch die der Tuende sich, das ist sein eigenes Sein, mitbejaht.« 139

Diese Orientierung am bonum hat eine hohe Plausibilität. Wie kann Luther sagen, daß es verkehrt ist, das bonum zu lieben und das malum zu hassen? Die Frage verschärft sich, weil er die Sünde sich so manifestieren sieht: difficiles sumus ad bonum, proni ad malum140. Will man Luther recht verstehen, muß man sich bewußt sein, daß die Begriffe »bonum« und »malum« jeweils differente Bedeutungen haben können. »Malum« ist einmal sittlich und theologisch qualifiziert als Böses, z.B. das Ungerechte, das einer tut, oder als Sünde durch den Widerspruch zum Willen Gottes. Es ist klar, daß der Kreuzestheologe dieses malum nicht wollen kann, genauer: Er kann nicht wollen, daß er dieses malum begeht. »Malum« wird andererseits ohne unmittelbare sittliche Qualifizierung, wenn auch nicht ohne sittliche Relevanz, verwendet im Sinne von »Übel« oder »Schlechtem«. Dabei bedeutet es den Mangel oder den Verlust eines Gutes. Bonum und malum in diesem Sinn gehören bei Aristoteles in den Bereich von

134 Thomas, STh I/II, qu.23, art.2c: Sic igitur in passionibus animae duplex contrarietas invenitur: una quidem secundum contrarietatem obiectorum, scilicet boni et mali; alia vero secundum accessum et recessum ab eodem termino. 135 Thomas, STh I/II, qu.29, art.lc. 136 Vgl. STh I/II, qu.40, art.2c. 137 Vgl. STh I/II, qu.41, art.2c. 138 Vgl. Κ.-H. zur Mühlen, Art. »Affekt II. Theologiegeschichtliche Aspekte«, (599-612) v.a. 602—604. Vgl. auch Petrus de Aillyaco, Tractatus de anima, cap.6, pars 5 (Pluta, 38): [...] sicut in sensu, si sit iudicium, quod hoc est bonum vel malum, appetitus movetur ad prosequendum vel fugiendum, sic per rationem phantasmatum, si intellectus iudicet bonum aut malum, appetitus intellectualis movetur ad prosequendum vel fugiendum, sed hoc differenter, quia appetitus sensitivus movetur naturaliter, sed appetitus intellectivus libere. 139 H.Kuhn, Das Sein und das Gute, 275. 140 56;258,10f. 56;53,25—54,10: Est autem peccatum originale idem ipsum actúale, quod Adam peccauit [...] sicut ipse per eiusmodi peccatum factus est peccator et malus, Ita générât non nisi peccatores et malos i.e. ad malum pronos, difficiles ad bonum.

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Glück und Unglück 141 — im Unterschied zu dem Guten, das von unserer Entscheidung abhängt und wofür wir Lob oder Tadel empfangen. Was ein Gut ist, ergibt sich aus einer abstrakten Wahlsituation, in der es ausschließlich um die Wahl zwischen zwei Größen geht und immer die eine - als bonum - der anderen als malum - vorgezogen wird, z.B. die Gesundheit der Krankheit. Gesundheit ist »immer einfachhin ein Gut« 1 4 2 ; ein solches Gut muß aber für den Einzelnen in seinen besonderen Umständen keineswegs gut sein. Was ein Gut ist, bestimmt sich für Thomas von Aquin durch die Konvenienz zum Menschen und seinen Inklinationen als leiblichem, seelischem, und vernünftigem Wesen 143 . Allerdings enthalten die Listen von Gütern, die Aristoteles mitteilt, moralische und nichtmoralische Güter durcheinander 144 . Das gleiche Bild zeigt sich — mutatis mutandis — in Luthers Römerbrief-Vorlesung. Hier findet sich eine Liste mit Gütern der verschiedenen Stufen 1 4 5 . Diese reicht von äußeren Gütern (wie Reichtum, Ehre, Freunde) über körperliche und seelische Güter (wie Gesundheit oder Klugheit) bis zur grada affectualis (etwa Gerechtigkeit), ja bis zu Gott in seinen affirmativen Bestimmungen (Macht, Weisheit, summum bonum). Was Luthers Rede vom »obiectum voluntatis« 1 4 6 betrifft, muß man beachten, daß dieser Ausdruck nach damaligem Sprachgebrauch nicht nur Güter wie die eben erwähnten, sondern auch und vor allem das in Willensakten Gewollte bezeichnet. Dabei gehört zum »obiectum« nicht nur der eigentliche Inhalt des Gewollten (z.B. einem Bedürftigen zu helfen), sondern auch das Ziel des Aktes (z.B. ihn propter deum oder propter vanam gloriam zu vollbringen) wie auch seine Umstände (Ort, Zeit usw.). All dies sind Momente des obiectum voluntatis 1 ' 17 .

Der Kreuzestheologe hält nun den Verlust oder Entzug der oben genannten Güter, nämlich Leiden und Kreuz, für höchst gut und höchst liebenswert. Hier ist zu beachten, daß auch für Luther etwas nur zu bejahen oder zu wollen ist, 141 Vgl. E N V,2;1129b2f. 142 Vgl. E N V,2;1129b3-5. Vgl. dazu erhellend: F.Ricken, Gemeinschaft als Grundwert, (530546) 535-540. 143 Vgl. STh I / I I , qu.94, art.2c. 144 Vgl. die schon für Aristoteles traditionelle Einteilung in äußere Güter, Güter der Seele und Güter des Leibes (vgl. E N I,8;1098bl2-18) und die Aufzählung der Güter in Rhetorik 1,6; 1362bl0-29; hier steht Gerechtigkeit neben Schönheit, Freundschaft neben Begabung zum Reden usw. 145 Vgl. 56;361,25-362,11. 146 S.o. bei Anm. 123. 147 Biel, Sent.II, dist.41, qu.un., art.2, concl.4, F 18-24 (II,677f): Illud est obiectum volitionis, quod voluntas vult ipsa volitione, sicut obiectum intellectionis est, quod intellectus intelligit ipsa intellectione; sed voluntas volens aliquid cum certis circumstantiis vult etiam illas circumstantias, ut volens aliquid propter Deum et quia sic dictatum est et in tali loco et tempore, vult etiam Deum, rationem, tempus et locum, et omnia illa simul una volitione; ergo singula sunt partialia obiecta, quamvis unum sit principalius alio.

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wenn es als bonum oder amabile erscheint. So versteht der Kreuzestheologe auferlegte Strafen nicht nur als bonum et amabile, sondern er urteilt sogar: thesaurum Christi esse impositiones et alligationes poenarum tanquam rerum optimarum et amabilissimarum148. »Gut« ist die transzendentale Bestimmung des Willensobjekts. Der Theologe des Kreuzes kann ein malum wie die Krankheit nur bejahen, wenn er urteilen kann, daß es gut (für ihn) ist, krank zu sein. Er kann die Krankheit nicht als malum bejahen, sondern nur sub ratione bonitatis. Der Streit zwischen dem Theologen der Herrlichkeit und dem Theologen des Kreuzes geht also nicht darum, ob das Gute zu wollen ist, sondern darum, was dieses Gute ist: Theologus gloriae dicit Malum bonum et bonum malum, Theologus crucis dicit id quod res est149. Die Frage dabei ist aber nicht, ob dieses oder etwas anderes zu tun sei, sondern die Alternative ist zwischen Tun und Erleiden150. 3. Das Leiden als malum bei Aristoteles In diesem Konflikt geht es also um das Verständnis und die Bewertung des Leidens. Der theologus gloriae zieht die Werke dem Leiden vor 151 , wie das auch für Aristoteles selbstverständlich ist. Er sagt an prominenter Stelle — in der intellectus-Lehre —: »Das Wirkende ist immer wertvoller als das Leidende«152. Der theologus crucis hingegen kann das Leiden als Gut verstehen, weil in ihm Adam destruiert wird, der im Tun des Guten wie im Empfangen von Gütern immer das Seine sucht und so das bonum zum malum verkehrt 153 . Im Unterschied zu 148 1;614,24—26. — Luther stellt übrigens selbst »malum« und »fugiendum« zusammen, wenn er in der 24, These der »Heidelberger Disputation« sagt: Non tarnen sapientia illa mala nec Lex fugienda [...] (V;390,8; Hv.). Man beachte auch: [...] Homo peccator vult peccatum non propter peccatum, immo nollet hoc esse peccatum, Sed propter bonum, quod in eo apparet [...] (56;180,30-32; Hv. getilgt). 149 V;388,33f (Th.21 der »Heidelberger Disputation«), Vgl. 56;195,14-18; 361,6-362,15; 362,28-363,2. - Vgl. u. § 6. 150 Die hier getroffene Aussage, der Kreuzestheologe bejahe das Leiden sub ratione bonitatis, ist ein Durchgangsstadium bei der Entwicklung von Luthers Gedanken, das seinen Gebrauch von »malum« und »bonum« aufnimmt. Es wird aber deutlich werden (s.u. § 6), daß die humilitas verhindert, daß der Mensch auf sich oder etwas in ihm als bonum reflektiert; auch ist die Annahme des Leidens als conformitas mit dem Willen Gottes zu verstehen: Tenemur velie nostrum omnino conformare divinae voluntad. Non tantum quod vult nos velie, Sed prorsus quodcumque deus vult velie debemus. (V;326,27-29) 151 V;388,36: [...] praefert [theologus gloriae] opera passionibus [...]. Vgl. 3;44,6f: Quodlibet enim est propter suam operationem tanquam finem. Operado autem habet resistentiam tribulationis et tentationis. 152 De an III,5;430al8f. - Vgl. Usingen, Exercitium de anima, lib.3, fol. L Ir: [...] agere nobilior est conditio quam pati per quam agens assimilatur primo enti quod est purus actus. 153 V;389,6—9: [...] amici crucis dicunt crucem esse bonam et opera mala, quia per crucem destruuntur opera et crucifigitur Adam, qui per opera potius aedificatur. Impossibile est enim,

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Luther und dem Neuen Testament kann Aristoteles im Leiden und im Schmerz wenig Positives erkennen 154 . Das zeigt sich, wenn wir einen kurzen Blick auf die aristotelische Lehre vom Affekt werfen 155 . Affekte wie Zorn, Furcht, Zuversicht, Neid, Freude, Mideid sind jene psychischen Phänomene, die mit Lust oder Schmerz verbunden sind 156 . Sie enthalten eine Annahme über einen Sachverhalt, der in direkter oder vermittelter Weise in förderlicher oder schädigender Beziehung zum Leben eines Menschen steht oder so gesehen wird. So versteht Aristoteles den Zorn als »ein mit Schmerz verbundenes Streben nach dem, was uns als Rache für das erscheint, worin wir eine Geringschätzung unserer selbst oder eines der Unsrigen erblicken von jemand, dem dies nicht zukommt« 157 . Der Schmerz kommt zustande, weil in der Geringschätzung (oder wenigstens in ihrer Annahme) unser Sein verletzt und gemindert ist, während es uns doch elementar um unser Sein und seine Steigerung zur Vollkommenheit geht: »Das Sein ist allen Wesen begehrens- und liebenswert« 158 . Mit dem Affekt ist auch ein Streben verbunden, die von Schmerz begleitete Störung des Lebens aufzuheben oder ihr auszuweichen. In der Tugend geht es darum, daß die Affekte sich der Leitung durch die Vernunft fügen. Die Vernunft überprüft die Annahmen, die den Affekt hervorgerufen haben, und sie stellt das Übel (sofern der Affekt mit Schmerz verbunden ist) in ein Verhältnis zu den anderen Gütern des betreffenden Menschen wie zu den Gütern seiner Mitmenschen (Gerechtigkeit) 159 . Dennoch ist klar, daß der Schmerz nicht bejaht werden kann. Er wird beim Tugendhaften nicht so stark sein wie bei einem Lasterhaften; er kann unter Umständen auch hingenommen werden. Aber insofern er eine Störung und Minderung des Lebens anzeigt, ist er ein bloßes Negativum 160 . Dies gilt erst

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ut non infletur operibus suis bonis, qui non prius exinanitus et destructus est passionibus et malis [...]. Vgl. EN VII,14;1153blf: »Es besteht aber auch Übereinstimmung, daß die Unlust [λΰπή| ein Übel und zu fliehen ist.« Vgl. zum Folgenden O. Langer, »We ist ein gut wort, we ist ein genadenrichez wort«, (2134) 22-25; F. Ricken, Der Lustbegriff in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, 49-80, und E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, 200f. Vgl. u. Kap. 2, bei Anm. 50. Vgl. EN II,4;1105b21—23. Rhet II,2;1378a30-32. EN IX,7;1168a5f. Vgl. F.Ricken, Lustbegriff, 78-80; 94f. Im Bereich der Affekte hängt das Empfinden von Lust oder Schmerz zwar von der ethischen Verfassung des Menschen ab (vgl. EN II,2;1104b3-13; X,5;1176al0-22). Dennoch wird der Schmerz von Aristoteles nicht als Gelegenheit zur Katharsis verstanden. Der berühmte Ausdruck »παθημάτων κάθαρσι[ς]« aus der »Poetik« (6;1449b28) spricht nicht dagegen. O. Gigon bemerkt dazu: »Der Mensch wird von den Affekten, die eine Krankheit sind, durch eine Überdosierung von affektiven Zuständen in der Musik geheilt. Dies von der Musik auf die Tragödie zu übertragen war schließlich einfach.« (Einleitung zu: Von der Dichtkunst [in: Aristoteles, Vom Himmel. Von der Seele. Von der Dichtkunst], 369) Vgl.

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recht für den körperlichen Schmerz. Körperliche Lust und Schmerz sind mit den Wahrnehmungen des Lebewesens verbunden und beziehen sich auf die Erhaltung des leiblichen Lebens. Körperlicher Schmerz bringt eine Störung des Körpers zu Bewußtsein, die die Voraussetzung aller Tätigkeit berührt und die man deshalb nicht als etwas, was auch bejaht werden kann, zu verstehen vermag, die man vielmehr nur aufzuheben sich bemühen kann. Das Neue Testament hat nicht den Gegensatz von Lust und Schmerz; ήδονή »ist hier durchweg nicht der Affekt der Freude, sondern bezeichnet als ethischer Terminus die Weldust« 161 . II Kor 7,9-11 unterscheidet Paulus zwischen der göttlichen Traurigkeit und der Traurigkeit der Welt. Letztere ist »die Betrübtheit des Menschen, der sein weltliches Wohlbefinden und seine weltlichen Wünsche scheitern sieht«, während erstere »die Trauer des Menschen, der seines Verlorenseins an die Welt inne geworden ist, und der sich in der μετάνοια von der Welt zu Gott zurückruft« 162 , darstellt. Während der Schmerz der Welt zum Tod führt, führt der Schmerz der Reue zum Heil. Daneben hat der Christ auch Schmerz und Leiden zu tragen, weil er als einer, der im Bruch mit der Welt lebt, den besonderen Widerstand und Haß der Menschen auf sich zieht. Paulus spricht als Apostel von seinen Christusleiden (II Kor 1,5; vgl. 1,3-11; 6,4—10), er trägt die Wundmale Christi an seinem Leib (Gal 6,17), er steht in der »Gemeinschaft seiner [sc. Christi] Leiden« (Phil 3,10); mit den Leiden, die er leidet, ergänzt er, was an den Trübsalen Christi noch aussteht; an diesen Leiden freut er sich ausdrücklich (Kol 1,24). Der Bruch des Christen mit seiner alten Existenzweise ist so tief, daß er nur mit dem Tod verglichen werden kann. Der Christ ist mit Christus gekreuzigt (Gal 2,19), mit ihm begraben (Rom 6,4) und gestorben (Rom 6,8); durch Christus ist ihm die Welt gekreuzigt und er der Welt (Gal 6,14). In Christus ist er eine neue Kreatur (II Kor 5,17), Christus lebt in ihm (Gal 2,20). Da jener Bruch jedoch kein Ereignis ist, das ein für allemal geschehen ist, sondern immer wieder vollzogen werden muß, gehört das Leiden zur Bestimmung des Christen. Dabei sieht er auch das Leiden, das er wie andere auf sich zu nehmen hat, nicht wie die Menschen, die der Welt verfallen sind, als »die ständige Hemmung und schließliche Vernichtung des Lebens«, sondern als »die ständige Befreiung und das ständige Wachsen der Kraft des Lebens« 163 . Es ist klar, daß sich dieses Verständnis des Leidens im aristotelischen Denkzusammenhang und mit seinen Mitteln nicht denken läßt. Wo jedoch das Menschsein als so von Grund auf in Unordnung befindlich verstanden wird wie im Neuen Testament, kann das Leiden bejaht werden. Es hat eine sinnvolle, wichtige Aufzum griechischen Verständnis von Leid und Schmerz R.Bultmann, Art. »λύπη, λυπέω κτλ.«, 314-325. 161 R.Bultmann, Art. »λΰπη«, 321. 162 R. Bultmann, aaO 322. 163 R. Bultmann, aaO 322f.

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gäbe bei der Aufhebung des alten, unheilvollen Zustandes und beim Übergang zum neuen Sein — also ein Leben lang. Am Verhältnis zum Leiden wird die Fremdheit des aristotelischen Denkens gegenüber dem christlichen Glauben besonders manifest. Die Kritik an seinen Ablaßthesen bestätigt Luther in seinem Urteil, daß die scholastische Theologie als theologia gloriae, die sich vom aristotelischen Denken leiten läßt, in einem schroffen Gegensatz zur theologia crucis, die dem Apostel Paulus folgt, steht. Sie kann das malum des Kreuzes nicht als amabile verstehen, sondern nur als res pessima hassen. 4. Das bonum und die Freundschaft bei Aristoteles Der andere Teil von Luthers Behauptung, daß nach Aristoteles allein das Gute liebenswert ist, soll nun durch einen kurzen Blick auf die aristotelische Lehre von der Freundschaft erläutert werden; dies auch deshalb, weil Thomas von Aquin dieses aristotelische Lehrstück herangezogen hat, als er seine Lehre von der caritas entwickelte164. Aristoteles will die Freundschaft vom Liebenswerten her verstehen. Nicht alles nämlich wird geliebt, sondern nur das amabile — das ist die These, die Luther in der resolutio aufnimmt. Das amabile aber ist dreifach: als bonum (im Sinn des honestum), als delectabile und als utile 165 . Freundschaft setzt Wohlwollen voraus: Freund ist jemand, dem man Gutes wünscht. Freilich kann von Freundschaft erst gesprochen werden, wenn das Wohlwollen wechselseitig und beiden Freunden bekannt ist 166 . Den drei Arten des Liebenswerten entsprechend gibt es drei Arten von Freundschaft. Wenn die Freundschaft auf dem Nutzen beruht, den die Freunde aus der Freundschaft ziehen, oder wenn sie auf der Lust beruht, die sie darin haben, lieben sie den Freund nicht als ihn selbst, sondern insofern er Nutzen oder Lust gewährt. Verändert er sich, so daß er nicht mehr im bisherigen Sinn liebenswert ist, löst sich die Freundschaft auf 167 . Dies heißt aber nicht, daß in solchen Freundschaften jeder den andern nur als Mittel gebraucht. Insofern er dem andern wohlwill, wenn auch aus eigenem Interesse, macht er dennoch die Absichten des andern zu den eigenen und achtet ihn so als Subjekt 168 . Freundschaft im strengen Sinn und vollkommenes Wohlwollen jedoch finden sich nur bei Guten, die je den andern um des andern willen lieben. Solche Menschen nützen einander auch und bereiten einander Freude. Dies freilich ist nicht der Beweggrund für ihr Wohlwollen, aber die Freundschaft der Guten schließt die beiden anderen Formen der Freundschaft ein169. Im Sinn der 164 Vgl. STh II/II, qu.23-27 und dort die zahlreichen Bezugnahmen auf EN VIII und IX. 165 EN VIII,2;1155bl 8f: »Es scheint nämlich nicht alles geliebt zu werden, sondern nur das l i e benswerte. Dieses aber ist entweder gut oder angenehm oder nützlich«. Vgl. o. bei Anm. 127. 166 167 168 169

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

EN VIII,2;1155b27-VIII,3;l 156a6. EN V I I I , 3 ; l l S 6 a 6 - 2 4 . F. Ricken, Freundschaft und Glück in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, 54-56. EN VIII,4.

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Nutzen- und Lustfreundschaft können auch Schlechte einander lieben, ebenso können Gute Schlechte lieben. Liebe zu einem andern um seiner selbst willen aber gibt es nur als Liebe zu einem sittlich Guten, und zu diesem Wohlwollen fáhig ist wiederum nur der Gute. »Wer so den Freund liebt, liebt zugleich, was ihm selbst gut ist. Denn der Gute wird, zum Freund geworden, für den ein Gut, dessen Freund er ist.« 170 Selbstliebe und uneigennützige Liebe zum andern fallen zusammen. Wie das zu denken ist, ergibt sich aus den Überlegungen des Aristoteles zur Frage, ob der Spender einer Wohltat den Empfänger mehr liebt als dieser den Wohltäter. Aristoteles bejaht die Frage mit folgendem Argument: Der Kiinsder liebt sein Werk mehr als dieses ihn lieben würde, wenn es eine Seele hätte. Dies rührt daher, daß für alle Wesen das Sein liebenswert ist. Sein aber heißt Tätigkeit, Leben und Handeln. In der Tädgkeit ist der Künsder eins mit dem Werk und liebt es, weil er von Natur aus sein Sein liebt. So ist es auch bei den Wohltätern - auch wenn man fragen muß, ob dies wirklich die Liebe zum Empfänger der Wohltat erklärt, und nicht vielmehr die Liebe zu Wohltaten, was man doch unterscheiden muß 171 . Eine andere Antwort gibt Aristoteles in der Beantwortung der Frage, ob der Glückliche Freunde brauche 172 . Das Leben ist etwas an sich Gutes und Angenehmes und also Begehrenswertes. Die Wahrnehmung, daß man lebt, ist ihrerseits angenehm, denn es ist die Wahrnehmung der Präsenz eines Gutes im Menschen. Dies gilt besonders für das sittlich gute Leben. Nun verhält sich der Freund zu seinem Freund wie zu einem zweiten Selbst; darum ist ihm auch das Sein des Freundes um des Freundes willen begehrenswert. Geht es dem Freund gut, so geht es auch ihm selbst gut; »es geht ihm ja um das Leben des Freundes wie um sein eigenes. Es zeigt sich auch hier wieder die Einheit von wahrer Selbstliebe und wahrer Liebe zum andern. Allein das selbsdose Wohlwollen ermöglicht es, das Leben des Freundes als das eigene anzusehen und seine Lebensfreude zu teilen. Freude über das Glück des anderen ist nur dem Selbsdosen und sich seines eigenen Wertes Bewußten möglich.« 173 Das ist ein eindrucksvoller Versuch, die Einheit von Selbstliebe und uneigennütziger Liebe zum Nächsten zu denken. Wo eine solche Freundschaft unter Menschen gelingt, ist ein kostbares Stück Menschlichkeit verwirklicht. Dennoch ist klar, daß die Balance zwischen Identifikation mit dem andern und Unterscheidung von ihm leicht gestört werden kann, schon dadurch, daß der gerade mitgeteilte Gedanke Antwort auf die Frage sein soll, ob der Glückliche Freunde braucht. »[...] auch der Freund [muß] zu den begehrenswerten Dingen zählen. Was der Glückliche aber begehrt, das muß er haben, sonst geht ihm in

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EN V m , 7 ; 1 1 5 7 b 3 3 f (Übers. E.Rolfes). Vgl. EN IX,7. Vgl. E N I X , 9 , v . a . l l 7 0 a l 3 - b l 9 . F.Ricken, Freundschaft und Glück in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, 63.

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diesem Punkte etwas ab. Mithin wird man, um glücklich zu sein, tugendhafte Freunde haben müssen.« 1 7 4 O b man aber auch das, was »caritas« meint, angemessen in diesen Bahnen wird denken können? Das erscheint fraglich, wenn man sieht, wie Aristoteles auf die Frage antwortet, ob man den Freund, der zu einem schlechten Menschen geworden ist, lieben müsse 1 7 5 . Aristoteles wiederholt: Liebenswert ist nur das Gute. Also existiert keine Verpflichtung, einen Menschen, der sich so geändert hat, zu lieben, vielmehr: Man darf es nicht einmal, denn man darf nicht Freund des Schlechten sein. Besteht Ausssicht auf Besserung, wird man die Freundschaft nicht gleich abbrechen, da ja die Aufgabe, dem Freund zur Besserung zu verhelfen, ungleich wichtiger ist, als ihm sonst materiell beizustehen. Wer aber anders handelt, tut nichts Falsches, und gerechtfertigt ist ein solches Zuwarten auch nur, sofern Chancen einer Veränderung zum Besseren bestehen 176 . Das ist der bedingungslosen Zuwendung Jesu zu den Zöllnern und Sündern strikt entgegengesetzt. Bevor wir untersuchen, wie Thomas die caritas in den Bahnen der Freundschaftsliebe denkt, sei ein Text Luthers angeführt, der diese Form der Liebe scharf kritisiert: Verum et carnalitas sibi placet in proximo et frequenter veram mentitur charitatem; que non melius cognoscitur quam experientia sui, quia sc. est temporalis et particularis, hoc est: ipsa eligit non tantum personas, quas diligat, sed etiam mores, quos in eis diligat. E t ita non diligit proximum nisi larvatum et personatum, se. doctum, divitem, iucundum, pulchrum aut quocunque alio nomine commendatum, indoctum vero, stultum, peccatorem etc. fasüdit atque contemnit. Charitas autem rotunda et universalis, immo eterna, ut prime Corinthiorum 13[,8.7].: >Charitas nunqam excidit, omnia suffert, omnia sustinet< etc. Ideo sine delectu omnes in D e o diligit simplici oculo et prorsus impersonalem proximum considerane. 1 7 7

Thomas von Aquin denkt die caritas als amicitia quaedam hominis ad deum 1 7 8 . V o m aristotelischen Freundschaftsverständnis übernimmt er das Moment, daß die Liebe, um die es hier geht, den Charakter der benevolentia hat, und daß es 174 E N IX,9;1170bl6—19 (Übers. E.Rolfes). 175 Vgl. E N IX,3;1165bl 3—22. 176 C. de Vogel urteilt im Blick auf die Erörterung der Selbstliebe in E N IX,8: »Wir vermissen hier beständig die Selbstvergessenheit, d.h. eben die wirkliche Hingabe. Uns macht gerade diese fortwährende Berechnung, >den besten Teil< für sich zu behalten, das ständige Kultivieren des eigenen Ich, den >guten Menschern des Aristoteles unerträglich. [...] Zweifellos hatte Dirlmeier recht, als er in I X 4 den Gipfel der aristotelischen Ethik erkannte, weitergeführt in der Beschreibung des σπουδαίος in IX 8. Doch gerade hier haben wir das volle Maß der aristotelischen Konzentradon auf das Selbst und geradezu dessen Verherrlichung in der wahren Selbstliebe< vor uns.« (Selbstliebe bei Piaton und Aristoteles, [393-426] 400) 177 57II;101,23—102,4 (zu Gal 5,14). 178 Vgl. STh II/II, qu.23, art.lc.

Die Resolution zur 58. Ablaßthese

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sich u m eine wechselseitige Liebe handeln muß 1 7 9 . Eine solche Liebe kann nicht v o m Menschen in seiner Bedürftigkeit ausgehen, sondern nur v o n Gott. Sie beruht auf der Mitteilung v o n Gottes Seligkeit an den Menschen 1 8 0 . Die caritas hat aber nicht allein G o t t zum Gegenüber, sondern alles, was Gottes ist (ea quae Dei sunt) 1 8 1 . Dazu gehören auch die Menschen. S o lieben wir an ihnen dies, daß sie in G o t t sind 1 8 2 . A u f die Frage »Uttum peccatores sint ex caritate diligendi« 183 antwortet Thomas mit der Unterscheidung v o n natura und culpa im Sünder. Die Sünder sind mit Bezug auf ihre Natur - natura[.] quidem, quam a D e o habent (!) — capaces beatitudinis und sind in dieser Hinsicht ex caritate zu lieben, denn die Freundschaft v o n Freunden gründet auf einem gemeinsamen G u t und dies ist bei der caritas die Kommunikation der Glückseligkeit. Mit Bezug auf die Schuld, durch die sie sich v o n G o t t abgewandt haben, sind sie jedoch zu hassen 1 8 4 . So kann Thomas die als amicitia gedachte caritas auf alle Menschen ausdehnen, während Aristoteles sie nur im Blick auf moralisch G u t e annehmen konnte. A b e r es ist deutlich, daß der Sünder geliebt wird nur mit Bezug auf ein Gutes, nämlich seine Natur, die er v o n G o t t hat. Weil v o n der Liebe allgemein gilt: [...] unum-

179 Ebd.: [...] non quilibet amor habet rationem amicitiae, sed amor qui est cum benevolentia: quando scilicet sic amamus aliquem ut ei bonum velimus. [...] Sed nec benevolentia sufficit ad rationem amicitiae, sed requiritur quaedam mutua amatio: quia amicus est amico amicus. 180 Ebd.: Cum igitur sit aliqua communicatio hominis ad deum secundum quod nobis suam beatitudinem communicat, super hac communicatione oportet aliquam amicitiam fiindari. De qua quidem communicatione dicitur I ad Cor. 1,(9): Fidelis Deus, per quem vocati estis in socientatem Filii eius. Vgl. zu den Bedeutungen von »communicatio« E. Schockenhoff, Bonum hominis, 517: »Die schöpferisch-dynamische Mitteilung des neuen Seins der Gnade und die Anteilgabe an Gottes eigener Seligkeit ist der erste, in der >communicatio< ausgesagte Sinn, in dem der Schlüssel zum Verständnis der thomanischen >ia/7tovon unten< aus unüberbrückbaren Abstand von ihm getrennten Menschen zum Freund; er will, was zugleich seine göttliche Vollkommenheit und des Menschen unausdenkbares Glück bedeutet, mit ihm teilen und beruft ihn mit der schöpferischen Macht seines Willens zur Gemeinschaft seiner eigenen Seligkeit. Weil seine ewige Liebe im transitiven Sinn des >communiam< stets schöpferische Mitteilung ist, die in der geschaffenen Wirklichkeit des Menschen bleibend ankommt und ihn innerlich verwandelt, berührt und ergreift sie ihn auch in der Ordnung des Seins und schafft so die (intransitive) >communicatio< in der neuen, den Menschen über sich hinaus zu Gott erhebenden Wirklichkeit des göttlichen Lebens. [...] Nur auf dieser Grundlage [...] kann sich die freundschaftliche >conversatio< zwischen Gott und Mensch erheben, um deretwillen der göttliche Liebesdialog mit der geistigen Kreatur seinen Anfang nahm.« 181 Vgl. STh II/II, qu.25, art.4c; art.lc. 182 AaO, art.lc: Ratio autem diligendi proximum Deus est: hoc enim debemus in proximo diligere, ut in Deo sit. Vgl. auch ad 2. 183 AaO, art.6. 184 AaO, art.6c.

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Luthers Kritik am teleologischen Seelenverständnis

quodque infantum diligibile sit inquantum est bonum [...]185 und [...] diligimus hominem propter virtutem; quia scilicet virtute formaliter est bonus, et per consequens diligibilis186, ist von der Liebe zum Sünder zu sagen: [...] dilectionis inimici solus Deus est rado 187 . Thomas hat überzeugend die caritas als amicitia auch auf den peccator und inimicus ausgeweitet, und die thomanische Unterscheidung im Sünder zwischen natura quam a Deo habet und culpa kommt der heute gängigen Unterscheidung von Person und Werk sehr nahe. Gleichwohl ist darin die Bedingungslosigkeit der Liebe Gottes, die kein Gutes als Gegenstand braucht und die den Glaubenden in ihre Bewegung einbezieht, nicht angemessen gedacht. 5. Amor hominis und amor crucis im Verhältnis zum Armen Auch Luther sieht die Zuwendung des Glaubenden zum Sünder in einer »communicatio« Gottes bzw. Chrisü begründet: Quia dum Christus in nobis habitat per fidem, iam movet nos ad opera per vivam illam fidem operum suorum. Opera enim, quae ipse facit, sunt impleüones mandatorum Dei nobis data per fidem, quae cum intuemur, movemur ad imitationem eorum.l 8 8

Von da aus kann Luther den amor hominis und den amor crucis ex cruce natus189, der allein sich dem Armen und Bedürftigen zuwendet, scharf kontrastieren: Et iste est amor crucis ex cruce natus, qui illuc sese transfert, non ubi invenit bonum quo fruatur, sed ubi bonum conférât malo et egeno. >Beadus est enim dare quam accipereBeatus qui intelligit super egenum et pauperemDeus primo, deinde anima nostra, post anima proximi, tandem corpus nostrum diligenda sunt.< Ergo Charitas ordinata incipit a seipsa. Der Nachweis der von Luther zitierten Stellen findet sich 56;517 zu Z.5. — Der »ordo caritatds« nach Luther: [...] prius Deo, deinde non que sua sunt, Sed que alterius, querere debet (56;511,6f). 215 56;482,20-27: Dupliciter illud intelligitur preceptum: >Diliges proximum tuum sicut teipsumDiliges amicum tuum sicut teipsum.< Primum, Vt vtrunque intelligatur precipi, seil, proximus et ipsemet diligi. Alio modo, Vt solum proximus ad Exemplum dilectdonis sui intelligatur precipi diligi. Quod magis placet, Quia homo naturali vitio se pre omnibus diligit, se in omnibus querit, omnia propter se diligit, etiam dum proximum Vel amicum diligit, Quia querit sua in ilio. 57I;109,27-110,27 (Gl. zu Rom 13,10): Hoc primo sic intelligi potest, ut preceptum diligendi utrumque precipiat diligendum, scil. se ipsum et proximum, vel secundo solum proximum ad exemplum proxime [lies: suiipsius] dileccionis. Secundum primum subintelligitur vel repetitur verbum >diliges< super te ipsum; secundum alium autem subintelligitur verbum >diliges< judicative. Et hoc videtur melius, quia homo vicio peccati primi totus mersus est in amorem sui, quem dirigere non poterit, nisi a se in proximum transférât. Ideo supra dixit: >Qui diligit proximum, legem implevitSicut teipsum< Non precipiatur homo diligere Se, Sed ostendatur vidosus amor, quo diligit se de facto, q.d. Curuus es totus in te et versus in tui amorem, A quo non rectificaberis, Nisi penitus cesses te diligere et oblitus tui solum proximum diligas. - Vgl. zum Problem auch: A.Raunio, Summe des christlichen Lebens. Die >Goldene Regel< als Gesetz der Liebe in der Theologie Martin Luthers von 1510 bis 1527, 146—216. 216 I Kor 13,5: »[caritas] non quaerit, quae sua sunt«. 217 Phil 2,4: »Singuli non, que sua sunt, considerantes, Sed que aliorum«. So zitiert Luther diese Stelle W A 56;517,13. Vgl. auch I Kor 10,24.33.

Luthers Verständnis des »quaerere quae sua sunt«

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das Gebot »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« spricht, als verkehrte Liebe218. Damit bestreitet Luther sowohl die Auffassung, daß im Gebot der Nächstenliebe die Liebe zu sich selbst mitgeboten ist, wie auch die andere, daß sie wenigstens als Faktum bejaht ist. Recht geordnete Liebe ist Selbsthaß und Liebe zum Nächsten219. Was die Beziehung des Menschen zu seinem Nächsten angeht, stehen Selbstliebe und Nächstenliebe zueinander im Verhältnis einer vollständigen Disjunktion. Gegen Luthers Verständnis des Gebots der Nächstenliebe sollen drei Einwände vorgebracht werden, die sich direkt aus seinen Überlegungen entwickeln lassen und die Luthers Auffassung zugleich weiter präzisieren: (1) Die Umkehrung der Selbstliebe in die wahre Nächstenliebe geschieht so: diligis [sc. te] querendo, que tua sunt, et non aliorum; ita quere, que sunt aliorum, et non, que tua sunt220. Die caritas bewirkt, daß ein Mensch sich in die Person des Nächsten versetzt und daraufhin beurteilt, was dieser von ihm getan haben möchte. So weiß er unfehlbar, was er tun muß221. Dieser Standortwechsel gehört gewiß zum Grundvorgang der Nächstenliebe; nur ist er keineswegs unfehlbar, und zwar ist er es gerade auf Grund der Voraussetzungen Luthers nicht. Denn der Nächste - oder der Liebende an der Stelle seines Nächsten — ist ja ebenfalls ein Mensch, der in allem das Seine sucht. Warum soll dann richtig sein, ihm das zu tun, was er will, wenn sich gerade in seinem Wollen seine Verkehrtheit manifestiert222?

218 Vgl. 56;485,l-9 (vgl. u. Anm.221); 516,30-517,16. 1;654,15-21 (Ad dialogum Silvestri Prieratis; 1518): Proinde quando Christus dicit, proximum diligendum ad instar sui, meo iudido de perverso et incurvo amore loquitur, quo homo quaerit non nisi quae sua sunt, qui amor non rectificatur, nisi omittat quaerere quae sua sunt et ea quae sunt alterius querat. Haec sententia est B. Pauli Philip, ii. Non quae sua sunt consyderantes, sed quae aliorum, Et i. Corin. xiii. Charitas non quaerit quae sua sunt. His verbis manifeste prohibet amorem sui. 57II;100,18-20: Illud >sicut te ipsum< videtur omnino de perversa dilectione sui intelligi, quia si de ordinata charitate intelligeretur, sequitur, quod homo ex viribus suis rectam dilectionem (sui) haberet ac per hoc et proximi. 219 Vgl. 57II;101,2f; auch 56;485,4f. 220 57II;40,12-41,1. 221 56;485,4—9: [caritas] facit hominem abnegare se et affirmare alium, Et induere affectum proximi exuto affectu suo, Se ponere in personam proximi Et tunc Iudicare, quicquid vellet illum facere sibi Vel ei fieri ab ipso Vel aliis. Et inueniet, quid facere debeat, infallibili doctrina. Qua omissa Multiplicantur precepta et non peruenitur, quo tenditur. 222 Wenn etwa Eltern nach dem von Luther genannten »unfehlbaren« Prüfungsverfahren unmittelbar entscheiden wollten, was sie ihren Kindern tun und geben sollten, würde allerhand Unsinniges herauskommen, so gewiß jener Standortwechsel zum Wesen der Liebe — auch zu den Kindern - gehört. - Allerdings kann Luther auch folgendes sagen: Atque ita tum diligam et proximum sicut meipsum, optans et faciens, ut sola voluntas dei in eo fiat, non autem ipsius ullo modo (2;581,19f).

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Luthers Kritik am teleologischen Seelenverständnis

Wird die verkehrte Liebe zu sich schon dadurch recht, daß sie das, was sie für sich will, nun für einen anderen will223? Eine weitergehende Überlegung sei angeschlossen. Wenn Liebe zum Nächsten heißt, die Ziele seines Wollens oder Strebens - unmittelbar oder vermittelt - zum Inhalt des eigenen Wollens zu machen und ihm nach Möglichkeit zum Erreichen seiner Ziele zu helfen, dann ist damit sein Wollen von Zielen bejaht. Ist dabei vorausgesetzt, daß beim andern dieses Wollen nur ein quaerere quae alterius sunt ist? Diese Annahme würde nicht der Wirklichkeit entsprechen. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: (a) Mit der Liebe zum Nächsten wird implizit anerkannt, daß dieser auch (!) - das Seine sucht. Diese Anerkennung erstreckt sich natürlich nicht auf jedes konkrete Wollen, ist aber in dem Sinn prinzipiell, als für den anderen die Disjunktion »quaerere quae sua/alterius sunt« nicht als vollständige, jedes Dritte ausschließende Disjunktion angenommen wird. Vielmehr setzt nach diesem Verständnis Liebe zum Nächsten voraus, daß sich dieser auch Ziele für sich selbst und nicht nur zugunsten von anderen setzt. Ja, die Liebe setzt eine solche Zielsetzung voraus, weil sie den andern als Subjekt anerkennt, indem sie ihm bei der Verfolgung seiner Ziele behilflich ist. Diese Annahme steht aber in Spannung zu Luthers Verständnis des strikten Gegensatzes von Selbstliebe und Nächstenliebe, (b) Die andere Möglichkeit ist die, daß der Liebende beim andern wie bei sich gegen jedes quaerere quae sua sunt opponiert, dem andern aber gibt, was dieser — als bedürftiges Wesen — zur Überwindung seines Mangels braucht. Was Mangel ist und was seine Überwindung ist, definiert der Liebende selbst, weil die Artikulation von selbstbezogenen Zielen durch den andern gerade als quaerere quae sua sunt verworfen ist. Der Gedanke ist dann folgender: Mein auf mich selbst bezogenes Interesse soll nicht ich, sondern immer ein anderer wahrnehmen (d.h. erkennen und verfolgen), während das Interesse eines andern nur ich oder ein Dritter wahrnehmen kann, wobei man auch Gott als durch andere handelnd ansehen kann (als »Larven Gottes«). Diese Verstehensmöglichkeit, der Luther nahezustehen scheint, widerspricht aber der »Goldenen Regel« als Verfahren zur Entdeckung dessen, was man dem andern tun soll. Während die »Goldene Regel« als alleiniges Entdeckungsverfahren unterbestimmt ist (s.o.), verletzt das Übergehen der Zielsetzungen des andern die Liebe, da zu ihr wesentlich die Anerkennung der Subjekthaftigkeit des andern gehört. Letztlich ist hier die Frage, ob ein Mensch nur von einem anderen Menschen als Zweck oder Ziel genommen werden darf oder ob er auch für sich selbst Selbstzweck sein darf und soll.

223 l;654,21-26: Ideo sensus praecepti esse videtur >Diliges proximum tuum sicut teipsum, id est, diligis te solum et perverse, si autem amorem eiusmodi in proximum tuum dirigeres, iam vere diligeresQui odit animam suam in hoc mundo, in vitam eternam custodit eam.< [...] Qui sic seipsum diligit, vere seipsum diligit. Quia non in seipso, Sed in Deo se diligit, i.e. qualiter est in volúntate Dei, qui odit, damnat, malum optât omnibus peccatoribus i.e. omnibus nobis. Bonum enim nostrum absconditum est et ita profunde, Vt sub contrario absconditum sit. Sic Vita nostra sub morte, dilectio

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3. Das »quaerere quae sua sunt« im Verhältnis zu Gott Zur Bedeutung von »quaerere quae sua sunt« in der zweiten oben genannten Hinsicht: Der Allsatz »homo in omnibus quaerit quae sua sunt« hat seine hauptsächliche Bedeutung bei Luther nicht durch Bezug auf die Opposition »quaerere quae sua/quae alterius sunt«, sondern in bezug auf die Opposition »quaerere quae sua/quae Dei sunt«. (1) Die Beschreibung menschlichen Handelns als quaerere quae sua sunt im Gegensatz zum quaerere quae Dei sunt hat biblische Anhaltspunkte229; jedoch ist Luthers Theorie vom quaerere quae sua sunt — dies ist hier die These — auch an der philosophischen Analyse menschlichen Strebens als eines Vorgangs, der von seinen Zielen motiviert (»bewegt«)230 wird und schließlich um eines letzten Zieles willen geschieht, orientiert. Dies zeigen sowohl die Ausdrücke, die mit »quaerere quae sua sunt« äquivalent sind, wie die Begriffe, mit denen Luther das entgegengesetzte Wollen bezeichnet. So kann er sagen: Die Liebe zu einem bestimmten Gut kann den Menschen so auf dieses Objekt fixieren, daß es ihm unmöglich ist, dieses auf Gott zu beziehen (ordinare et referre)231. Dieses AufGott-Beziehen setzt die Liebe zu Gott über alles voraus232. Ist Gott nicht das letzte Ziel des Menschen, dann ist der Mensch sich selbst obiectum finale, dem das frui gilt, während alles andere Gegenstand des uti ist, auch Gott 233 . Auch wenn man im Gebrauch der Unterscheidung »uti/ frui« eher ein Relikt der Tradition sehen möchte als ein Zeichen dafür, daß Luther selbst in den Bahnen dieser nostri sub odio nostri [...]. - Es ist allerdings unklar, warum ich mich, dem Haß Gottes auf alle Sünder folgend, selbst hassen, den Nächsten jedoch, der auch ein Sünder ist, lieben soll. 229 Vgl. Joh 5,30; 7,18; Phil 2,21 (vgl. dazu V;398,32-399,2); Kol 3,1. - J o h 5,30: [...] non quaero voluntatem meam, sed voluntatem eius, qui misit me. 230 56;236,17-20: Si enim quererent, Vtrumne timore pene aut amore glorie, pudore, fauore aut alia cupiditate ad bonum faciendum Vel omittendum malum mouerentur, Inuenirent sine dubio, quod lilis iam dictis mouerentur et non sola volúntate Dei, vel saltern, Quod nescirent, an amore Dei pure facerent [...]. - Vgl. die Hinweise auf die aristotelische Handlungsanalyse in E N 1,1 o. bei Anm. 50-57. 231 56;258,30-259,2: Quia Amor illarum [spiritualium] cum sit honestas et bonus, sepissime hoc fine nos sistit et in Deum non sinit hec ordinare et referre [...] (Hv.). 232 56;355,19-22: Vnde et Seiende et virtutes et quecunque bona naturaliter cupita, quesita, inuenta male bona sunt. Quia non in Deum referuntur, Sed in creaturam i.e. in seipsum. Quomodo enim in Deum referret, quem non super omnia diligit? (Hv.) 233 56;361,12-17: Hec est prudenüa, que dirigit Carnem i.e. concupiscentiam et voluntatem propriam, Que seipso fruitur et aliis omnibus vUtur, etiam ipso Deo; se in omnibus querit et sua. Hec facit hominem esse sibiipsi obiectum finale et vltimum et Idolum, propter quem ipse omnia agit, patítur, conatur, cogitat, dicit. 56;304,25-29: [...] Natura nostra virio primi peccati tam profunda est in seipsam incurua, vt non solum optima dona Dei sibi inflectat ipsisque fruatur (vt patet in Iustitiariis et hipocritis), immo et ipso Deo vtatur ad illa consequenda, Verum etiam hoc ipsum ignoret, Quod tam inique, curue et praue omnia, etiam Deum, propter seipsam querat. Vgl. 1;145,24-27; 425,2-5; 56;356,17-357,11.

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Opposition gedacht hätte, so zeigt doch der häufige G e b r a u c h v o n »propter« (propter seipsum/propter deum), daß Luther an diesen Stellen menschliches Wollen in seiner intentionalen Struktur im Blick hat, und zwar hinsichtlich eines letzten Ziels, das Beweggrund des Wollens ist 234 . (2) W a s aber heißt es, daß der Mensch in allem sich und das Seine sucht? Im Bereich des Körperlich-Sinnlichen ist es leicht zu sehen, daß ein Mensch sich selbst intendiert, w e n n er sich seiner Mitwelt in Geiz, Habgier, Machtwillen, Lustverlangen zuwendet. A b e r Menschen können diese Formen der Selbstsucht überwinden in Freigebigkeit, Gehorsam, Reinheit. W e n n nun ein Mensch sich etwa in der Freigebigkeit selbst gefallt und applaudiert oder das L o b der Menschen erwartet, dann sucht er auch darin sich selbst 235 . So ist es möglich, daß ein Mensch nicht nur im Leiblichen Unzucht treibt, sondern auch und gerade mit der Reinheit selbst 2 3 6 . Es ist also durchaus ein bonum, das der Mensch sucht; indem er es aber so erstrebt, daß er es nicht auf G o t t bezieht, sondern es gottvergessen sich selbst zuschreibt, sucht er darin — avaritia spirituali 237 - sich selbst. Es genügt also nicht, ein unbezweifelbares bonum (z.B. eine Tugend) zu wollen, um das Streben danach v o m V o r w u r f des quaerere quae sua sunt zu befreien; vielmehr entscheidet darüber das letzte Worumwillen, um dessetwillen jenes bonum gewollt wird. Das gilt für den Umgang des Menschen mit allen Gütern v o n den externa

234 Vgl. z.B. 56;194,18: [...] homo propter se facit bonum [...]. Ebd., Z.22f: Qui enim ex charitate et humilitate propter Deum operatur [...]. 56;305,14—16: Sic enim discit homo pure Deum amare et colere, dum non propter gratiam et dona, Sed propter ipsum solum Deum colit. 56;304,15-17 (zu Rom 5,4: Probado pero): Et fit ista Examinado, Vt appareat vnicuique suus affectus, i.e. Vt quisque cognoscat seipsum, Vtrum se. Vere Deum propter Deum diligat [...]. 56;427,15f: [...] probant, Quod Deum Non propter Deum quesierint, Sed propter seipsos [...]. l;599,24f: [...] ipse homo, qui quaerit quae sua sunt, cum deberet opus propter deum et gratis facere [...]. Vgl. auch 1;298,23—26 und die für unsere Fragestellung interessante Predigt v. 27.12.1516 (1;115,12-30). 235 56;258,23—259,4: Sed facile est, si diligentia aliqua sit, prauitatem voluntatis videre in corporalibus amandis malis et fugiendis bonis, puta, si ad libidinem, auaritiam, gulam, superbiam, honorem simus affecti et a castitate, liberalitate, sobrietate, humilitate, ignominia abhorrentes; facile, inquam, est sentire, quomodo in lis nos ipsos querimus et amamus, in nos ipsos inflexi et incurui affectu saltem, Vbi opere non possumus. At in spiritualibus (i.e. intelligentia, Iustitia, castitate, pietate) difficillimum est videre, anne in ipsis nos queramus. Quia Amor illarum cum sit honestus et bonus, sepissime hoc fine nos sistit et in Deum non sinit hec ordinare et referre, ita vt non, quia Deo placent, Sed quia nos délectant et quietant in corde; ut etiam quia laudamur ab hominibus, ea facimus, ac sic non propter Deum, Sed propter nos. 236 1;93,19-24 (Pr. ν. 12.10.1516): [...] sicut populus gentium et Iudaeorum differì, ita et illa duo peccata differunt. Unum quidem est ad externam creaturam conversio et fruido, alterum ad internam creaturam, scilicet ipsam aversionem ab externa conversione, ut, qui non rebus fornicatur a Deo, cum ipsa adhuc castitate fornicetur, superbiens ac placens sibi et in omnibus sua quaerens ac per hoc regno Dei insidians, ipsum in exilium pervertens. - Vgl. bei Anm. 60. 237 1;72,31.

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Luthers Kritik am teleologischen Seelenverständnis

bona (z.B. divitiae) über die corporis bona (z.B. sanitas), die animae bona (z.B. ingenium), die scientiae und sapientia bis zur gratia affectualis (z.B. iustitia) und zu Gott selbst (deus affirmative) 238 . Dieses »propter se«, das alles Streben des Menschen auszeichnet, expliziert Luther mit Begriffen wie »gloria«, »honor«, »placentia« 239 . Das mag zunächst befremden, da mit diesen Begriffen Charaktermängel wie Ehrsucht oder Selbstgefälligkeit angesprochen scheinen. Wie könnte mit ihnen das All-Urteil, der Mensch suche in allem das Seine, erläutert werden? Aber der Eindruck täuscht. Jene Begriffe drücken etwas Grundlegendes aus: Der Mensch erscheint vor sich selbst oder vor andern als der, dem das Gute, das er will und tut, zuzurechnen ist, und der deshalb als Guter zu affirmieren ist 240 . Lob und Tadel spielen in der »Nikomachischen Ethik« eine nicht unwichtige Rolle, da Aristoteles von den Vormeinungen der Menschen ausgeht und diese kritisch klärt. Lob und Tadel setzen die Freiwilligkeit des Handelnden oder Wollenden voraus; mithin verweisen sie auf die Zurechenbarkeit seiner Handlung 241 . Was gut und schlecht bzw. böse ist, wird durch die Frage nach Lob und Tadel ermittelt242. Tugend ist definiert als »lobenswerter Habitus« 243 . Natürlich spielt die Kritik, die Paulus am Sich-Rühmen des Menschen übt, für Luthers Einschätzung der Bedeutung des gloriari die entscheidende Rolle244. Die Suche nach lobender Selbstwahrnehmung oder Wahrnehmung durch andere ist nicht als »Ehrsucht«, als ein mehr oder weniger schwer behebbarer charakterlicher Mangel zu verstehen. Da menschliches Sein Bewußt-Sein und Sein überhaupt Heraustreten in die Offenbarkeit des Vernehmens ist, geht es in jener Suche nach anerkennender Wahrnehmung dem

238 Vgl. die Liste der obiecta inordinate fruitionis, die alle Arten von Gütern umfaßt: 56;361,25— 362,11; 239 Neben »gloria« können auch stehen: delectatio, utilitas (vgl. 56;178,30-179,1). 240 56;194,18f: [...] homo propter se facit bonum, quia querit reputati et honorari per illud [...]. 56;195,14—18: Sed quia patientiam ignorauerunt et esdmari in illis [sc. bonis] voluerunt, facti sunt increduli veritati et in propriam abierunt sapientiam statuentes bona, que sunt mala, i.e. Iustitiam, in qua placentiam et gloriam apud se et apud homines querunt. 56;237,11—15 (s.u. bei Anm.309f). 241 Vgl. ENIII,l;1109b30-1110a4. 242 Vgl. EN 1,12; 111,1 ;11 lOal9-bl; IV,l;1120al5f; IV,ll;1126b4f; IV,13;1127a28-32.b3-7; V,14;1137a34-b5; VI,13;1144a24-27; VII,3;1146al6~21; X,5;1175b28f. Für Luthers Gedankengang besonders aufschlußreich: IX,8;1169a25-b2. 243 EN I,13;1103a9. - Vgl. 56;195,4-9: Verbum gentile Ciceronis sc. >Virtns laudata cresát< Iustissime calumniatur et redarguitur in Ecclesia Dei. Quia Contraria dicit Apostolus: >Virtus in infirmitate perficitun [II Kor 12,9] [...]. Igitur hominum Virtus laudata crescit, quia querit Laudem, Christianorum vero virtus vituperata et passa crescit Et laudata (si laus placeat) nihil fit [...]. 244 Vgl. zu Paulus: R. Bultmann, Art. »καυχάομαι, καύχημα, καύχησις κτλ.«, (646-654) 648-653.

Luthers Verständnis des »quaerere quae sua sunt«

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Menschen um sein Menschsein, das darin zur Erscheinung kommt 245 . Indem der Mensch alles Gute, das er tut oder empfangt, so als eine Bestimmung seiner selbst betrachtet, daß er sich in diesem Guten als Guter gefallt und sein Selbst nunmehr - aufgrund des Guten - nach der Struktur des amor hominis - amor hominis fit a suo diligibili — zu lieben vermag, sucht er in allem sich selbst. Der amor hominis sucht das Gute für sich, um sich in ihm bejahen zu können. (3) Weil die Behauptung, ohne die caritas oder den Hl. Geist suche der Mensch in allem das Seine, selbstverständlich heftigen Widerspruch auslöst, stellt Luther die folgenden Überlegungen an, in denen er an die Selbsterfahrung, die Menschen in ihrem Wollen und Handeln machen, appelliert. Er tut dies wohl nicht nur, weil sein Denken wesentlich erfahrungsbezogen ist, sondern vielmehr aus einem anderen Grund: Nach Ockham und Biel läßt sich die Wirklichkeit der Willensfreiheit nur durch Erfahrung beweisen 246 ; die höchste Verwirklichung der Willensfreiheit aber ist die Liebe zu Gott über alles. Luther versucht nun ebenso, die Wirklichkeit der Willensunfreiheit durch Erfahrung aufzuweisen. Das Gute und Gerechte, das ein Mensch tut, — so argumentieren scholastische Theologen - steigert und vervollkommnet ipso facto sein Sein; es findet anerkennende Wahrnehmung bei anderen und beim Handelnden selbst. Nun gibt es aber Situationen, in denen das gute Tun nicht wahrgenommen wird im Lob der andern oder im Selbstlob oder im Wohlgefallen an sich, sondern in denen sich im Gegenteil Tadel, Kritik und Mißfallen einstellen. Wie reagiert der Mensch darauf? 247 Unterläßt er das Tun des Guten? Wendet er sich aggressiv gegen die andern? Gerät er in Verzweiflung? Wenn er so auf die Reaktion seiner Mitmenschen 245 1;95,1— 3: Hi sunt iniqui, qui podus se reputant et sibi placent et sibi aliquid videntur esse, arbitrantes se sapere, intelligere, bene vivere. - Vgl. M.Heidegger, Einführung in die Metaphysik, 78: »Das Rühmen, Ansehen zuweisen und aufweisen, heißt griechisch: ins licht stellen und damit Ständigkeit, Sein verschaffen. Ruhm ist für die Griechen nichts, was einer dazu bekommt oder nicht; er ist die Weise des höchsten Seins.« 246 Biel, Sent.II, dist.25, qu.un., art.3, dub.2, M 1-7 (11,491): Secundo dubitatur: >Utrum possit sufficienter probari, quod voluntas sit libera.< Ad hoc breviter respondetur secundum Occam Quodlibeto I q.16 et Gregorìum de Arìmino disrinctnone praesenti, quod voluntatem esse liberam libertate contingentiae est evidens per experientiam, et ideo >non potest per aliquid evidentius demonstrar«. Primum patet, quia >homo< in se >experitur, quod quantumcumque ratio dictet aliquid< esse volendum, >potest tamen voluntas hoc velie vel nolleprudenda carnis< I n u o l u t u m 2 5 5 . V o n M e n s c h e n d e r >prudentia spiritus< gilt d a g e g e n : q u o d aliis est s u m m u s h o r r o r , ipsis e s t s u m m u m g a u d i u m e o , q u o d v o l u n t p e r f e c t a v o l ú n t a t e i d e m , q u o d D e u s vult. V b i c u n q u e e n i m est v o l u n t a s , ibi n e q u e d o l o r n e q u e h o r r o r e s t 2 5 6 . V o n dieser s t a r k e n L i e b e r e d e n die S c h o l a 252 56;391,17—28: Sed queritur, An Deus hoc vnquam voluerit aut velit, Vt homo sese ad infernum resignet et ad damnationem siue ad anathema a Christo pro Volúntate eius tradat. Respondeo, Quod in plurimis et precipue in iis, qui sunt in Charitate seu amore Dei puro imperfecti. Nam illis Amor concupiscentie, tarn profunde immersus, necessario extirpandus est. Sed Non extirpatur, Nisi per superabundantem grade infusionem Vel per hanc durissimam resignationem. Quia >Nihil inquinatum intrabit in regnum DeiDu sollst lieben Gott mit deinem ganzen Herzen usw.< äquivalent zu: Du sollst Gott mit allem lieben, was in dir ist, und nichts sei in dir im Denken, Sehnen, Sinn oder Werk, das Gott nicht untergeordnet ist, sondern alles werde auf ihn bezogen, dem es gehört«269. Angesichts dessen ist es höchst überraschend, wenn Biel ohne jede Begründung zu dem Schluß kommt: Possumus autem hoc brevissime exprimere: Diligere Deum ex toto corde etc. est Deum super omnia diligere270. Verwunderlich ist dies deshalb, weil das Deum diligere super omnia ja ein Akt des Willens ist, während Augustin — und Biel mit ihm gerade alle Vermögen in die Liebe zu Gott einbezogen wissen wollen (»nichts sei in dir...«). Die Verwunderung wird noch größer, wenn man sieht, wie Biel »Deum diligere super omnia« versteht. Lieben wird mit Aristoteles als velie alicui bonum verstanden 271 . Was es heißt, Gott über alles zu lieben, erläutert Biel im Anschluß an Duns Scotus. Das Übermaß der Liebe kann in extensiver Hinsicht verstanden werden: Man will für Gott mehr und größere Güter als für jedes andere Wesen, weil man will, daß Gott unendlich vollkommen ist; das Übermaß kann auch in intensiver Hinsicht verstanden werden: Der affectus, der sich auf Gott richtet, ist größer als der affectus, der sich auf ein anderes Wesen richtet, das heißt, der so Liebende will oder tut eher das, was der Liebe zu einem anderen Wesen widerspricht, als was der Liebe zu Gott widerspricht 272 .

267 Vgl. Biel, Sent.III, dist.27, qu.un., art.l, not.5, H 1-36 (III,490f). 268 »>Diliges Deum ex toto corde< etc., ut omnes cogitationes tuas, omnem vitam tuam et intellectum in illum conféras, a quo habes ea, quae confers. Cum autem ait >tota anima, toto corde, tota mentemagis répugnât effectui oppositofacilius inclinari posset ad oppositum dilectionis cuiuscumque< alterius quam ad oppositum dilectionis Dei. (Zitate im Zitat aus Duns Scotus, Sent.III, dist.27, n.17)

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»Affectus« meint hier aber nicht Gefühl, sondern einen Willensakt 273 . So fordert das Gebot der Gottesliebe nicht einen Akt, der dem Grad oder Wesen nach vollkommener ist als die Liebe zu sich selbst oder zu einer Kreatur 2 7 4 . Das Gebot verpflichtet nicht zu einem bestimmten Grad an Intensität oder Vollkommenheit, wenn nur gegeben ist, daß jemand für Gott das größte Gut will, nämlich daß er Gott ist. Umgekehrt kann jemand sich oder eine andere Kreatur intensiver lieben als Gott, wenn nur gesichert ist, daß er für diese Kreatur nicht das größte Gut und diese Kreatur nicht als letztes Ziel will 27 ^. Auch ist für diese Liebe nicht ein süßeres oder zarteres Gefühl erfordert. Die Liebe zu res sensibiles ist von Natur aus süßer und fester als die zu res pure intellectuales, da mit der ersteren der appetdtus sensitivus midäuft. Gott kann zwar eine solche Süße zur Liebe als Willensakt hinzu schenken, aber weil dieses Gefühl nicht in potestate diligentis, sondern in der Macht Gottes liegt, kann es nicht gefordert werden. Vielmehr: Praeceptum autem loquitur de dilectione mere intellectiva, ex rationis deliberatione et voluntatis electione libera procedente 276 .

Danach wäre auch eine Gottesliebe mit zusammengebissenen Zähnen noch Gottesliebe. Luther akzeptiert diese Reduktion der Ganzheit des Menschen auf den Willen bzw. den Willensakt nicht277. Genauer: Da es auch Biel um die Ganzheit des Menschen geht, er sie aber im Willen als dem bestimmenden Teil des Menschen gewahrt sieht, muß man sagen, daß Luther diese Ganzheitsauffassung bestreitet, die ja der mehrfachen Nennung von »Teilen« des Menschen bei Augustin und Biel selbst widerspricht. In Luthers berühmter Invekóve gegen die »Sawtheologen« geht es gerade um das Verständnis des »diligere Deum super omnia« und darum, daß eine solche Liebe nicht im Vermögen des natürlichen Menschen steht 278 . Theologen, die die Möglichkeit einer solchen Liebe dem natürlichen Menschen zuschreiben, verweist Luther auf ihre Selbsterfahrung: »Sie mögen wollen oder nicht-wollen, sie fühlen in sich schlechte Begierden. Hier also sage ich: Ei! Nun, bitte, bemüht euch! Seid Männer! Bewirkt mit euren ganzen Kräften, daß diese Begierden nicht in euch sind! Beweist, was ihr sagt, daß Gott natürlicherweise >mit allen Kräften« geliebt werden kann, und nun sogar ohne Gnade. Wenn ihr ohne Begierden seid, glauben wir euch. Wenn ihr aber mit und in ihnen wohnt, erfüllt ihr schon das Gesetz nicht. Das Gesetz sagt ja: >Du sollst nicht begehrenl·, vielmehr: >Du sollst Gott lieben!< Wer aber etwas anderes begehrt und liebt, vermag er Gott zu lieben? Aber diese Begierde ist immer in uns; also ist die Liebe zu Gott niemals in uns, es sei denn als durch die Gnade angefangene [,..].« 279

273 Vgl. ebd., Z.28f: Et hoc loquendo de amore, qui est actus \'oluntaüs, et non de alio, qui est passio appetitus sensitivi. 274 Vgl. aaO, concl.7, O 1 - 3 (111,501). 275 Vgl. ebd., Z.6-12. 276 Vgl. aaO, concl.9, O 22-33 (111,501). Zitat: ebd., Z.32f. 277 Vgl. 55II/1;35,12-17 (zu Ps 1,2; Hv.): Immo potest quis actum volendi elicere in lege Domini violenter, quod tarnen voluntas eius non sit in ea. Et forte hinc multi se deeipiunt putantes se statim habere bonam voluntatem, quando actum volendi eliciunt. Et non consyderant, quod est violenter extortus actus et impelióse elicitus; quod ex hoc patet, quod transeunte actu relabitur ad solita et non est ibi perseuerantia. 278 Vgl. 56;274,11-18. 279 56;275,4-12: Quia, Velint nolint, sentiunt prauas in seipsis concupiscentias. Hic ergo dico: Hui! Nunc, queso, satagite! Estote viri! Ex tous viribus vestris facite, Vt non sint iste concu-

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Luthers Argumentation hier ist sehr aufschlußreich: Er behaftet die scholastischen Theologen bei ihrem eigenen Anspruch, daß das »diligere Deum super omnia« dem biblischen Gebot der Liebe zu Gott mit dem ganzen Menschsein äquivalent ist, und appelliert an ihre Selbsterfahrung, daß vorgängig zu dem je und je bewußt vollzogenen Wollen in ihnen ein Begehren lebendig ist, das sie mit einzelnen Willensakten nicht in die Ganzheit der Liebe zu Gott aufzuheben vermögen. Aufgrund jenes Anspruchs und der unbestreitbaren Selbsterfahrung muß Luther die Behauptung einer natürlichen Möglichkeit zur Gottesliebe über alles bestreiten. Dem ganzheitlichen Verständnis der Liebe zu Gott entsprechend kann Luther in den »Dictata« zu Ps 1,2a (Sed in lege Domini voluntas eius) sagen, daß »Wille« hier nicht das Seelenvermögen bezeichnet, sondern die »willige und spontane Bereitschaft« aller unserer Vermögen 280 . Es ist darum gerade die verweigerte Ganzheit (totalitas) in der Liebe zu Gott, die den Menschen zum Sünder macht. Dabei argumentiert Luther ausdrücklich so: Was nicht ganz vollkommen ist, ist ganz unvollkommen 281 . Gibt es im Menschen einen Widerstand gegen Gottes Willen, so ist die vom Gebot geforderte Ganzheit nicht erreicht und das Gebot übertreten. Damit erweist sich der ganze Mensch als Sünder282. piscentie in vobis. Probate, quod dicitis, >ex totis viribus< Deum diligi posse naturaliter, sine denique gratia. Si sine concupiscentiis estis, credimus vobis. Si autem cum et in ipsis habitatis, iam nec legem impleds. Quippe Lex dicit: >non concupisces [Rom 7,7],< Sed >Deum diligesin lege Domini< et libenter, Scil. vt distinguitur contra Inuoluntarium, licet hoc voluntarium vere sit primo in ipsa potentia, scil. volúntate. 281 V;395,13—24: Quicunque minus facit quam debet, peccat. Sed omnis iustus bene faciens minus facit quam debet. Ergo. Minorem probo: Quicunque non piena et perfecta Dei dilectione bene facit, minus facit quam debet. Sed omnis Iustus ille est huiusmodi. Maiorem probo per illud praeceptum: >Diliges Dominum Deum tuum ex toto corde tuo et totis viribus< &c. De quo Dominus Matth. 5 [,18]. >Unum iota aut unus apex non praeteribit a Lege, donee omnia fiant.< Ergo oportet ex totis viribus diligere Deum, aut peccamus. Sed Minor, quod non ex totis viribus diligamus, supra probata est, Quia noluntas in carne et in membris impedit hanc totalitatem, ut non tota membra seu vires diügant Deum, sed resistit interiori voluntaò Deum diligenti. Vgl. auch 56;275,17-24. 282 Bei Abaelard findet sich die entgegengesetzte Auffassung, daß die moralische Größe eines Willensaktes sich gerade nach dem Maß des zu überwindenden Widerstands gegen den göttlichen Willen bemißt: Vbi enim pugna si pugnandi desit materia aut unde premium grande si non sit quod toleremus graue? [...] Haec uero est nostra uoluntas mala de qua triumphamus cum earn diuinae subiugamus, nec earn prorsus extinguimus, ut semper habeamus

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Wird das Verständnis der Sünde ausgehend von Dtn 6,5 und nicht von der Transformation dieses Gebotes in die Forderung, Gott über alles zu lieben, her entwickelt, dann gewinnt man einen transmoralischen Begriff der Sünde. Gott in der Ganzheit aller menschlichen Vermögen zu lieben, ist moralisch gesehen kein sinnvoller Gegenstand des Wollens, da diese Ganzheit nicht in der Hand des Menschen steht. Zwar leitet die Ethik dazu an, rationales Wollen und Affekte in Einklang zu bringen (Tugend). Da sich der Mensch dieser Ganzheit jedoch nur annähern kann, ohne sie je zu erreichen, kann ein moralischer Begriff des Guten nicht fordern, daß diese Ganzheit gegeben sein muß, wenn vom Guten soll gesprochen werden können. Denn das Gute, das die Moral gebietet, ist etwas, das sich durch Wollen und Handeln verwirklichen läßt283. So wird also der Mangel an Ganzheit oder Ungeteiltheit in der Liebe zu einem Bestimmungsmoment von Luthers transmoralischem Sündenbegriff. Umgekehrt gehört die hilaritas beim Wollen und Tun des Gebotenen essentiell zum Begriff des Guten hinzu. Damit aber ist der Ort, an dem über gut und böse entschieden wird, nicht mehr primär der Willensakt, sondern der Wille bzw. das Strebevermögen selbst in ihrer Ausrichtung, die sich in der hilaritas oder ihrem Gegenteil offenbart. Zwei Konzeptionen der Gottesliebe treffen bei Luther aufeinander und lassen sich wechselseitig nicht unberührt: die Ganzheitskonzeption nach Dtn 6,5 und die moralisch-metaphysische Konzeption der Gottesliebe über alles. In der Ganzheitskonzeption geht es um die Ganzheit im Ursprung der Strebungen und Bewegungen des Menschen. Dieser Ganzheit in der Liebe zu Gott widerspricht nicht die Liebe zu den Kreaturen; sie kann als aus jener Liebe zu Gott entsprungen gedacht werden und muß nicht, um recht zu sein, durch ein »um Gottes willen« auf Gott als Ziel bezogen werden. Demgegenüber ist die Forderung der Liebe zu Gott über alles an dem Worumwillen und an den Zielen des menschlichen Wollens orientiert, und zwar so, daß Gott an ihrer Spitze steht als der, um descontra quam dimicemus. Quid enim magnum pro Deo facimus si nichil nostrae uoluntati aduersum toleramus, sed magis quod uolumus implemus? [...] Non itaque concupiscere mulierem sed concupiscentiae consentire peccatum est, nec uoluntas concúbitos sed uoluntaüs consensus dampnabilis est. (Peter Abaelard's Ethics, 12.14.) 283 Vgl. EN I,4;1096b31—34; I I I , 4 ; l l l l b 2 9 f ; III,5;1112a30f. 1 1 1 3 a 9 - l l ; VI,2;1139b5-9. Nach Buridan entsteht, wenn die Vernunft dem Willen ein Objekt zeigt, ein unmittelbares Gefallen oder Mißfallen als Akt des (hier: passiven) Willens. Moralisch entscheidend ist aber die akdve Stellungnahme des Willens im acceptare oder refutare jener Akte: [...] quod actus simplicis complacentiae vel displicentiae non est actus volendi aut noledi proprie, sed nolle aut velie acceptare et refutare. Nam si petatur a continente viro: vis tu cognoscere talem ran· lierem, non respondebit: volo, sed dicet: vellem, si non esset inhonestum vel peccatum, significane se propter delectationem apparentem habere in ilio actu quandam complacentiam, nolle tarnen ipsum. (Super decern libros ethicorum, lib.3, qu.3 [fol. 43ra-b]; vgl. G.Krieger, Der Begriff der praktischen Vernunft nach Johannes Buridanus, 169f) Das Luther bewegende Problem der Ganzheit interessiert hier nicht.

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setwillen alles andere gewollt werden soll. Hier geht es um die Ziele, die Ursprung der Willensbewegung sein sollen. Alles, was nicht Gott ist, kann nur recht geliebt werden, wenn es intentional auf Gott bezogen und um Gottes willen gewollt wird. Ziele können ein Streben nur als sinnlich oder mit der Vernunft erkannte mitverursachen oder veranlassen. Gott ist jedoch mit den Sinnesvermögen nicht wahrzunehmen. Darum geht es bei der Liebe zu Gott — in dieser Konzeption allein um die Bewegung des Willens als des vernünftigen Strebevermögens284. Um die Struktur des sich bei Luther zeigenden Sachproblems deutlicher zu machen, sei dieses im folgenden abgesehen von der Sünde in den Blick genommen - was Luther dezidiert nicht getan hat. Wenn von der Gottesliebe propter Deum die Rede ist, dann muß dieses »propter« in unserem Zusammenhang so verstanden werden, wie Ockham 285 und Biel das »propter rectam rationem« als Bedingung für einen moralisch guten Akt verstehen. Damit ein Willensakt moralisch gut ist, genügt es nicht, daß er mit einem bestimmten Urteil der recta ratio übereinstimmt. Vielmehr muß der Wille etwas aus dem Grund wollen, weil das dictamen rectae rationis dies gebietet. Oder, anders ausgedrückt, die aktuelle recta ratio muß Partialobjekt des Willensaktes sein 286 . Nimmt man dieses strenge Verständnis von »propter« auch für die Liebe »propter Deum« an, so kann ein Akt nicht als propter deum gesetzt gelten, der nur mit dem göttlichen Willen übereinstimmt. Vielmehr muß er hervorgebracht werden, weil Gott ihn will. Wer nur etwas secundum voluntatem Dei will, der wird, wenn Gott etwas anderes von ihm verlangt, in Konflikt mit dem Willen Gottes geraten, nicht jedoch derjenige, der das, was er will, propter Deum will 287 . Dieser strenge Begriff des »propter Deum« führt nun aber in eine Aporie, wenn ein Mensch alle seine Strebungen propter Deum vollziehen soll. Erstens sind es von den vielen Willensakten des Menschen nur wenige, die so im hellen Licht des Bewußtseins gewählt werden, daß von ihnen das »propter Deum«

284 Vgl. o. bei Anm. 276. - Bei der Transformation des Gebots der Gottes liebe in eine Forderung an den Willen spielt auch die Rezeption des aristotelischen Verständnisses von Liebe eine Rolle. Liebe heißt »bei Aristoteles nicht Eros, sondern Philia, und ihr Ort ist nicht die Seele überhaupt, sondern die menschliche Seele, ihr Ort innerhalb des Lehrgebäudes aber die praktische Philosophie. Und diese letztere Ortsbestimmung sollte für die weitere Geschichte des Liebesbegriffs von entscheidender Bedeutung sein. Wann immer durch die Jahrhunderte hindurch der Liebesbegriff philosophisch durchleuchtet wird, geschieht das, auch ohne ausdrückliche Erklärung hierüber, unter dem Gesichtspunkt der praktischen Philosophie.« (H.Kuhn, »Liebe«, 58) 285 Vgl. J.Miethke, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, (300-335) 305-312; LFreppert, The Basis of Morality according to William Ockham, (141-170) 153-158. 286 Biel, Sentili, dist.23, qu.l, art.l., 1 103-106 (111,375): Nunc autem ad hoc, quod actus voluntatis sit virtuosus, requiritur quod ipsum eliciat propter rectam rationem eum sic elici debere dictantem. Ergo voluntas sic volendo vult edam ipsam rationem rectam taliter dictantem. Ergo ratio recta erit eius obiectum partiale. 287 Wer etwas Großes um Gottes willen tut und etwa von einem Ordensoberen als der Stimme Gottes zu einem unscheinbaren Werk gerufen wird, der wird letzteres mit der gleichen hilaritas tun wie das erstere. Ist dies nicht der Fall, so weiß er, daß das »propter Deum« seines Wollens nur Schein war; vgl. 56;413,18-26.

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im strengen Sinn gesagt werden kann 2 8 8 . Zweitens können viele Strebungen (Affekte) vom Willen gar nicht oder nur indirekt beeinflußt werden. So gibt es einen riesigen Überschuß an Strebungen, die längst da sind, bevor auch nur daran gedacht sein kann, sie propter Deum zu setzen oder zuzulassen. Die Konzeption der Liebe zu Gott über alles als Willensakt muß — für sich genommen - zulassen, daß es im Wollenden Konflikte zwischen seinem Wollen propter Deum und seinen unvernünftigen Strebungen gibt, da ja im strengen Sinn nur Willensakte propter Deum sein können.

Diese Konzeption erfahrt durch die Forderung, Gott in der Einheit der verschiedenen Vermögen zu lieben, eine sie sprengende Veränderung. Wenn Luther einerseits den ganzen Menschen in seiner Einheit in der Liebe zu Gott beteiligt wissen will und dies propter Deum sich vollziehen soll, wenn aber andererseits das »propter deum« die Erkennntis des Willens Gottes voraussetzt, damit um seinetwillen Willensakte und Strebungen vollzogen werden, diese Erkenntnis aber unmittelbar nur den Willen anleitet, dann kann man aus dieser Aporie nur herausfinden, wenn man eine Spontaneität aller Strebungen so annimmt, daß diese, auch wenn sie eine vorgängige Erkenntnis des rechten Objekts nicht voraussetzen können, dieses Objekt gleichwohl intendieren. Diese Spontaneität ist nur zu denken, wenn ein Mensch durch den Geist Gottes und in ihm dasselbe liebt und dasselbe haßt, was auch Gott liebt und haßt 289 . Deshalb enthält das Gesetz auch die Forderung: tu debes habere Christum et spiritum eius 290 . Ein Gesetz, das eine solche Forderung erhebt, kann nicht moralisch verstanden werden, sondern nur geistlich. Es wird darum auch nicht durch Willensakte und ihnen entsprechende Handlungen erfüllt, sondern durch das Evangelium, das sagt: Ecce hic est Christus et spiritus eius 291 . Wer diesem Evangelium glaubt, tut das Gute und läßt das Böse auch ohne Gebot und Verbot 2 9 2 . Die caritas oder der Hl. Geist ist also notwendig, wenn die Ganzheit des Menschen in der Liebe zu

288 Wie Biel mit diesem Problem fertig zu werden versucht, stellt Grane (Contra Gabrielem, 169-181) sorgfältig dar. 289 56;368,30-369,5: [...] oportet non amere eum [Deum] nec omnia, que ipse vult et amat. Quod fieri non potest, nisi spiritum ipsius habeamus, vt eodem spiritu ea diligamus, que diligit, et odiamus, que odit, quo et ipse. Nec enim ea diligere possumus, que Deus diligit, nisi habeamus amorem et voluntatem et spiritum ipsius. Quia si debet esse conformitas in diligendis, oportet et conformitas esse in affectu dilectionis. Et ii vocantur deiformes homines et filii Dei, quia [lies: qui?] spiritu Dei aguntur. 290 56;338,28. 291 56;338,30. 292 56;236,l-3: [...] Quis facit bonum et omittit malum ea volúntate, qua, si etiam preceptum non esset nec prohibitum, adhuc ita faceret et omitteret? Hier ist die »propter«-Struktur durchbrochen. Wenn ein Gutes nicht geboten ist, kann ein Mensch nicht um des Gebotes Gottes willen etwas tun. Dennoch zeichnet es nach dieser Stelle gerade das rechte Tun des Gutes aus, daß ein Mensch es auch ohne Gebot - ohne ein solches Warum - tun würde.

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G o t t p r o p t e r D e u m g e d a c h t w e r d e n soll. W o diese G a n z h e i t nicht ist, ist Sünde. A l s o ist a u ß e r h a l b d e r caritas alles S ü n d e . Diese Überlegung könnte den Eindruck erwecken, als handle es sich beim Problem der Ganzheit der Liebe um den Konflikt zwischen vernünftigem Wollen und unvernünftigen Strebungen. Das ist nicht gemeint; es würde der erklärten Meinung Luthers widersprechen 253 . Die Erwägung wurde angestellt, um Struktur und Konsequenzen der Ganzheitsforderung deutlich zu machen unter der hypothetischen Annahme korrekter Willensakte 294 . Es ergibt sich: Die Ganzheit des Menschen in der Liebe ist dem Willen nicht verfügbar; der Mensch kann ganz werden in der Liebe nur durch ein Äußeres, das sich ihm ganz innerlich macht: den Hl. Geist. In d e r G a n z h e i t s b e t r a c h t u n g g e h t die Frage v o n der B e s t i m m t h e i t d e r einzelnen A k t e z u r ü c k zur Frage n a c h der V e r f a s s u n g des S t r e b e v e r m ö g e n s (cor, v o l u n t a s , a f f e c t u s ) , w o b e i die U n t e r s c h e i d u n g nach sinnlich u n d rational zurücktritt. W ä h r e n d p h i l o s o p h i s c h g e s e h e n das sinnliche S t r e b e n d u r c h Partikularität u n d d e r d e r p r a k t i s c h e n V e r n u n f t f o l g e n d e W i l l e d u r c h U n i v e r s a l i t ä t i m S i n n gleicher B e r ü c k s i c h t i g u n g aller (beteiligten) S u b j e k t e a u s g e z e i c h n e t sind, k o m m t in d e r v o n L u t h e r entwickelten P e r s p e k t i v e auch den >höheren< V e r m ö g e n Partikularität zu, da die M e n s c h e n a u f g r u n d ihrer curvitas in seipsis auch die spiritualia a u f sich z u r ü c k b e z i e h e n 2 9 5 . D i e s ist die Folge d e r i n c l i n a d o des H e r z e n s , die sich i m e r f a h r e n e n W i d e r s t a n d , d e n einer ü b e r w i n d e n m u ß , w e n n er G o t t e s G e b o t e erfüllen will, zeigt 2 9 6 . W i e bei A r i s t o t e l e s die mit b e s t i m m t e n H a n d l u n g e n v e r b u n -

293 Vgl. 56;367,11-13: Cum itaque cor et melior pars hominis recedit a Deo et auersatur legem, Nihil est, quod viliore parte i.e. corpore in operibus et ceremoniis ad extra exercentur. S. auch zur Frage der appetitus contrarli u. § 7. 294 Vgl. Luthers Vorgehen o. bei Anm.279. 295 Vgl. 56;355,28—356,6: Quod dicitur humanam naturam in genere et vniversali nosse et velie bonum, Sed in particular! errare et nolle, Melius diceretur in particular! nosse et velie bonum, Sed in vniversali non nosse neque velie. Ratio, Quia non nouit nisi bonum suum, seu quod sibi bonum est et honestum et vtile, Non autem, quod Deo et aliis. Ideo magis parüculare, immo Indiuiduum tantummodo bonum nouit et vult. Et hoc consonai Scripture, Que hominem describit incuruatum in se adeo, vt non tantum corporalia, Sed et spiritualia bona sibi inflectat et se in omnibus querat. 296 56;253,24—31 (Rom 3,20: per Legefx enim cognìtio peccati)·. Secundo experimentaliter, scil. per opus legis, siue per legem cum opere simul sumptam. Quia sic lex fit occasio peccati, dum voluntas hominis ad malum prona per legem ad bonum compellitur, fit eo difficilior et tediosior ad bonum, quia odit se retrahi ab eo, quod diligit, diligit autem malum, Vt dicit Scriptura. Sed tamen si coacta per legem operetur et Inulta faciat, tunc homo intelligit, quam profunde sit peccatum et malum in ipso radicatum, quod non intellexisset, si legem non haberet et secundum eam operari cepisset. 56;254,2—8: Igitur Quandocunque cadit super nos preceptum Vel prohibido et Inultos nos ad hoc sentimus, hic cognoscamus, quoniam bonum non diligimus, Sed malum, ideo malos et peccatores eo ipso nos agnoscimus, Cum non sit peccator, nisi qui legem non vult implere, que bona precipit et mala prohibet. Si enim Iusti et boni essemus, Legi consentiremus prona volúntate et delectaremur in illa, Sicut delectamur

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Luthers Kritik am teleologischen Seelenverständnis

dene Lust den betreffenden habitus anzeigt 297 , so erweist bei Luther die hilaritas oder ihr Gegenteil beim Tun des Willens Gottes die inclinado des Menschen. Hier muß jedoch unterschieden werden: Luther sagt vom Gerechtfertigten, daß in ihm eine vom Hl. Geist gewirkte Bereitwiligkeit (voluntas) zur Gottesliebe da ist, jedoch zugleich auch eine noluntas, so daß in ihm die Ganzheit der Liebe nicht zustandekommt 298 . Beim nichtgerechtfertigten Sünder ist ebenfalls eine pronitas ad malum und eine difficultas ad bonum wirksam, aber das Gesetz zwingt den Willen zum (äußerlich) Guten. Beide Fälle sind strikt zu unterscheiden, da im ersten eine Bereitwiligkeit zum Guten, im zweiten ein Zwang zum Guten wirkt — beidemale allerdings gegen ein Widerstreben. Die Selbsterfahrung des Menschen ist in beiden Fällen nicht dieselbe, hat aber eine Gemeinsamkeit, die Luther faktisch in Anspruch nimmt, aber nicht eigens reflektiert. Die je verschiedene Gegensätzlichkeit, in der der Gerechtfertigte und der Nichtgerechtfertigte stehen, wird von ihnen erfahren als Spannung zwischen Teilen ihrer selbst oder zwischen Kräften, die in ihnen wirken (»Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust«). Wenn Luther energisch davon spricht, hier gehe es jeweils um den ganzen Menschen (als Gerechten und als Sünder), so ist das nicht Inhalt der Selbsterfahrung, sondern ein Urteil der Reflexion des Glaubens. Dabei ist die Logik der Ganzheitsbestimmung beim Guten und beim Bösen bzw. der Sünde charakteristisch verschieden: bonum est perfectum et simplex, ideo Vna negatione tollitur299; eben darum gilt nicht die Umkehrung, daß ein Ganzes schon gut ist, wenn einer oder mehrere (aber nicht alle) Teile gut sind. Dies entspricht im übrigen einem alten metaphysischen Grundsatz: quilibet singularis defectus causat malum, bonum autem causatur ex integra causa 300 .

297 298 299 300

in peccatis et desyderiis nostris malis. 56;279,16—19: [...] Non attendentes stulti, Quod Voluntas, si liceret, nunquam faceret, que lex precipit. Inulta enim est ad bonum, prona ad malum. Quod vtique in seipsis experiuntur et tarnen tarn Impie et sacrilege loquuntur. Vgl. 56;271,1—11. Vgl. EN II,2;1104b3-8. Vgl. o. Anm.281; 56;289,14-21; 349,9-20. 56;253,10f; s.o. Anm.281. Ps.-Dionysius Areopagita, De divinis nominibus IV, 30 (MPG 3;729); zit. etwa von Thomas von Aquin, STh I/II, qu.18, art.4 ad 3: [...] quilibet singularis defectus causat malum, bonum autem causatur ex integra causa, ut Dionysius dicit, 4 cap. De div. nom. (MPL 3,729) In seinem Kommentar zur zitierten Stelle bemerkt Thomas: bonum procedit ex una et perfecta causa, malum autem procedit ex multis particularibus defectibus. Et hoc apparet tam in naturaübus, quam in moraübus. Sanitas enim et pulchritudo causantur per hoc quod corpus, quantum ad omnes partes, est bene proportionatum, sed ad hoc quod sit turpitudo vel aegritudo, sufficit quod desit debita propordo in quacumque parte. Et ideo multipliciter contingit esse aegrum et turpe, sed uno modo esse sanum et pulchrum. Similiter, ad actum requiritur quod sit commensuratus secundum omnes debitas circumstandas, quarum quaecumque tollatur, efficitur actus vitiosus. (In de div. nominibus, n.572)

Luthers Verständnis des »quaerere quae sua sunt«

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Wie es zu denken möglich ist, ein und denselben Menschen ganz als Sünder und ganz als Gerechten zu bezeichnen, braucht uns hier nicht zu beschäftigen 301 . Wichtig ist jetzt einerseits, daß Luther einen transmoralischen Sündenbegriff hat. Zwischen Ganzheit und Nichtganzheit in der Liebe zu Gott besteht eine vollständige Disjunktion: Wenn der Mensch nicht ganz ist in dieser Liebe, ist er ganz Sünder; dies umfaßt den gerechtfertigten Sünder, in dem der Hl. Geist wirkt, wie auch den nichtgerechtfertigten Sünder. Darauf bezogen kann man die Opposition »quaerere quae sua/quae Dei sunt« so verstehen: Nur wer ungeteilt in der Liebe zu Gott ist, sucht das, was Gottes ist. Wer nicht ungeteilt ist in dieser Liebe (und also erst recht, wer sich ungeteilt Gott verweigert), sucht eo ipso das Seine und ist ganz Sünder. Aber nun muß — andererseits — dieses Ganz-Sünder-Sein auch ausgelegt werden im Blick auf die einzelnen Lebensvollzüge des Menschen. Gewiß, man kann den Begriff der Sünde — als Erbsünde, Personsünde, Wesenssünde so tief fassen, daß er ganz oberflächlich wird, weil seine Beziehung zum Sinnen, Streben und Wollen des Menschen nicht mehr aussagbar ist oder daran kein Interesse besteht. Luther jedoch widmet sich intensiv der Aufgabe, die Verfassung des Willens oder des Herzens im Blick auf einzelnes Streben und Wollen auszulegen, etwa indem er fragt, wie zu verstehen ist, daß trotz der pronitas ad malum ein Mensch immer wieder das Gebotene tut, daß er z.B. nicht tötet, nicht stiehlt usw. Dabei fragt Luther nach dem Beweggrund und antwortet: Ein solcher Mensch will das Gebotene amore et cupiditate terrenorum bonorum; richtig wäre es, dies amore Dei zu wollen 302 . Oder er sucht darin gloriam et lucrum aut saltem libertatem a pena 303 . Hier und an vielen anderen ähnlichen Stellen fragt Luther nach dem Worumwillen des Tuns des Guten, das dieses verständlich machen soll angesichts des Schwergewichts des Willens, das auf das Böse gerichtet ist. Luther denkt an eine Art interessebezogenen Kalküls, wonach etwas Gutes - gegen die eigene Neigung - getan wird im Hinblick darauf, daß so ein Vorteil (commodum) gewonnen oder ein Nachteil (poena) vermieden wird 304 .

301 Vgl. u. § 7 und § 17. 302 56;255,12—14: (Von denen, die meinen, die Gerechtigkeit schon erreicht zu haben, ist zu sagen:) Non attendentes in semetipsos, quod Vel sine, immo Inulta et auersa volúntate legem seruent, Vel saltem amore et cupiditate terrenorum bonorum, non amore Dei. 303 56;241,19f. Z . 1 8 - 2 5 : Quoniam etsi foris operentur bonum, non tarnen ex corde faciunt nec Deum per hoc requirunt, Sed potius gloriam et lucrum aut saltem libertatem a pena. Ac per hoc nec faciunt, Sed potius (si liceret dicere) faciuntur bonum i.e. a timore Vel amore compelluntur facere bonum, quod liberi non facerent. Sed ii, qui Deum requirunt, faciunt gratuito et hilariter propter solum Deum, non propter aliquam cuiuscunque creature possessionem, siue spiritualis siue corporalis. Sed hoc non est opus Nature, sed gratie Dei. 304 56;337,13—16: Intelligendum est hoc ipsum toto corde, non timore pene seruiliter nec cupiditate comodi pueriliter, Sed amore Dei liberaliter faciendum vel omittendum, quod sine charitate per spiritum sanctum diffusa est Impossibile. - Man vergleiche zu Luthers Überlegung die aristotelischen Erwägungen zum Freiwilligen: Handelt freiwillig, wer bei einem

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Luthers Kritik am teleologischen Seelenverständnis

Die Frage nach dem Worumwillen des Wollens und Handelns ist aber, wie wir gesehen haben 305 , eine typische Frage des moralischen Denkens und die Antwort, daß etwas »propter se« oder »propter aliud« gewollt werde, ist wesentlich für die moralische Unterscheidung des Guten im Sinn des honestum vom Guten im Sinn des Nützlichen. Luther gebraucht hier also eine moralische Denkform, um einen Sachverhalt, den er transmoralisch versteht, zu explizieren. Luther kann diesen Sachverhalt aber auch nichtmoralisch auslegen, etwa wenn er sagt, daß etwas hilariter oder nicht hilariter getan werde, oder wenn er darauf hinweist, daß Werke, die in der Gnade getan worden sind, zu Werken des Gesetzes werden, wenn die Menschen sich in ihnen gefallen. Ein solches Urteil ist der moralischen Denkweise fremd, da in ihr ein moralisch guter Akt seine Qualität nicht durch eine spätere Stellungnahme zu ihm verändert; diese Stellungnahme mag selbst ein verkehrter Akt sein, aber dies tangiert den Akt, auf den sie sich bezieht, nicht, da sie nicht Motiv für den Akt war. Denkt man von der Ganzheitsforderung her, dann gehören Tun und Stellungnehmen zusammen; jener sich selbst gefallende Selbstbezug offenbart die Gott verweigerte Ganzheit der Liebe 306 . Während die Analyse zwei Verständnismöglichkeiten des »quaerere quae sua sunt« unterschieden hat, liegen diese bei Luther untrennbar ineinander. Das »quaerere quae sua sunt« wird nicht nur transmoralisch und moralisch ausgelegt, sondern selbst auch in beiden Weisen verstanden. In der biblischen Forderung nach Ganzheit der Liebe zu Gott ist die Struktur des Fragens nach dem Worumwillen und dem finis ultimus nicht enthalten. Zwar ist jedes Streben intentional strukturiert, aber diese Intentionalität impliziert nicht die Annahme eines letzten Ziels. Daß die Vielzahl der Ziele auf die Alternative »Gott oder der Mensch als finis ultimus« reduziert werden kann, ist Folge der metaphysischen Frage nach dem letzten Ziel, das nur eines sein kann. Luther universalisiert diese Frage auf

schweren Seesturm wertvolle Transportguter, die er eigentlich behalten möchte, über Bord wirft, um das Leben der Mannschaft zu retten? ( E N I I I , 1 ; 1 1 1 0 a 8 - 1 2 ) 305 Vgl. o. bei Anm. 2 3 0 - 2 3 4 . 306 Beispiele für die nichtmoralische Auslegung der Ganzheit: handeln suauiter in gaudio et amore plenissimaque volúntate (56;257,23f), purissime, Uberrime, letissime, sine molestáis repugnantes carnis (aaO 341,31 f), delectabiliter (342,17), gratuito et hilariter (241,23). Beispiele für die Nichtganzheit: inuite (257,20), non ament legem Dei (ebd.), cum tedio et difficultate semper (257,25). Vgl. 5 6 ; 2 5 4 , 2 - 4 . Luther verbindet manchmal unmittelbar transmoralische (nicht hilariter, nicht voluntarle wird etwas getan) und moralisch orientierte (timendo poenam, cupiendo gloriam) Interpretationen von Liebe und Sünde: Quod Charitatis locus non est nisi cor, immo intimum et medulla cordis, per quam fit ista differentia filiorum et seruorum, Quod filli Dei hilariter, voluntarle, gratuito seruiunt D e o , non timendo penam nec cupiendo gloriam, Sed solam voluntatem Dei, Serui vero coacti, timendo penam et tunc Inuite et difficulter Vel cupiendo mercedem, E t tune Voluntarle, Sed mercennaria volúntate, Nunquam autem propter voluntatem Dei absolute ( 5 6 ; 3 0 8 , 5 - l l ) . Vgl. auch 5 6 ; 4 9 9 , 3 0 - 3 2 ; 501,19-503,12.

Luthers Verständnis des »quaerere quae sua sunt«

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alle Lebensvollzüge hin, w e n n er sagt: h o m o in omnibus quaerit quae sua sunt. Jede Lebensäußerung ist also auf den finis ultimus, den Menschen selbst, bezogen, und, weil dieses Ziel verkehrt ist, ist sie ebenfalls verkehrt. Die moralisch-metaphysische Dimension in Luthers Verständnis des »quaerere quae sua sunt« hat Konsequenzen für die theologische Beurteilung der Möglichkeit moralischen Handelns außerhalb der Gnade 3 0 7 . Luther bestreitet diese Möglichkeit, w e n n »moralisches Wollen und Handeln« heißen soll: ein Wollen des als geboten Erkannten um des Gebotenen selbst willen. Dies ist aber nicht die K o n sequenz eines transmoralischen Sündenbegriffs. Dieser kann zugestehen, daß ein Mensch auch ohne die caritas des Hl. Geistes uneigennützig, um eines anderen willen oder um des G u t e n willen etwas will oder tut, und dennoch zugleich behaupten, daß ein solcher Mensch darin sündigt. Aufschlußreich dazu sind Luthers Bemerkungen zu einem Seneca zugeschriebenen Dictum: >Si scirem homines non cognituros et deos ignoturos, adhuc peccare nollem.Heilige Schrift< wiedergegeben werden kann!). Wenn Luther sich mit besonderem Nachdruck >Doktor der Heiligen Schrift< nennt, dann meint er damit nichts anderes als das, was wir heute >Professor der Theologie< nennen — allerdings immer unter der Voraussetzung, daß die Schrift zugleich wichtigster Inhalt, höchste Autorität und Inbegriff der Theologie sei. Luthers Lehrtätigkeit in Wittenberg und seine Betonung des Schriftstudiums ist also an sich gar nichts Neues, sondern fügt sich ganz in den Rahmen des

A m o r crucis und amor hominis

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scholastische Theologen von Gott nur zu sagen wüßten, was aus »den Spuren Gottes in der Schöpfung« von ihm zu erkennen ist, kann niemand im Ernst behaupten. Was aber heißt dann »theologia gloriae«, wenn Luther dieses Stichwort auf die scholastische Theologie bezieht und sich darin mit ihr auseinandersetzt? Einen viel befriedigenderen Vorschlag als von Loewenich macht Pierre Bühler. Er fragt, wo Rom 1,20 bei scholastischen Theologen eine Rolle spielt und stößt dabei auf »den ganzen Fragenkomplex der natürlichen Gotteserkenntnis und der Analogie« 319 . Die Möglichkeit, von Gott analoge Aussagen zu machen, gründet in der Kreatürlichkeit der Welt: Gott als prima causa und die Welt als effectue sind nicht völlig unähnlich. Gott als prima causa: »Darin liegt die Bestimmung Gottes in gloria« 320 . Da aber vom Menschen Entsprechendes auszusagen ist, ist auch er als causa — seiner Werke auf ein Ziel hin — zu verstehen: »Damit erfolgt eine Bestimmung des Menschen in gloria« 321 . »Die Verherrlichung liegt in der theologischen Logik der Analogie verborgen, die zur Entsprechung von Gott und Geschöpf führt und so Gott und Mensch vom selben Standpunkt der natürlichen Kausalität her erfaßt, der so zum Maßstab des Gnadenverständnisses wird. Dadurch verknüpft sich die Erkenntnis Gottes per ea, quae facta sunt, mit einer ganz bestimmten ethischen Auffassung des Menschen und seines Handelns. Diese Verknüpfung bildet in der Heidelberger Disputation den Brennpunkt von Luthers Kritik der theologia gloriae.« 322 Bühler erfüllt damit alle drei Anforderungen; das Analogie-Problem hat er mit Hilfe von Thomas-Texten entwickelt. Gleichwohl wird man einwenden müssen, daß Luther zwar von »opus dei« und »opus hominis« spricht, daß er jedoch überhaupt nicht von Analogie redet; er deutet dieses Problem nicht einmal an. Wenn er die Sünde des Menschen in dem »sibi gloriam dare et Deo auferre« 323 sieht, dann will die theologia crucis durchaus Gott als »causa« die Ehre geben, auch wenn Luther das Tätigsein Gottes im Menschen nicht mit diesem Begriff bezeichnet hat. Dennoch ist klar, daß in der theologia crucis Gott nicht allein als der Leidende und Gekreuzigte erscheint,

mittelalterlichen Wissenschaftsbetriebs ein. Das Neue an seiner theologischen Arbeit besteht vielmehr in der Art, wie er die Schrift auslegt und benutzt.« (Melanchthon als systematischer Theologe neben Luther, [103-127] 108) Vgl. auch die umfassende Untersuchung von U. Köpf: Die Anfange der theologischen Wissenschaftstheorie im 13. Jahrhundert, ebenso E.Herms, Art. »Offenbarung V. Theologiegeschichte und Dogmatik«, (146-210), 1 5 5 - 1 6 2 . 319 320 321 322 323

P. Bühler, Kreuz und Eschatologie, 106. Ebd. Ebd. A a O 107. V;383,20. Vgl. auch V ; 3 8 4 , 2 1 - 2 3 : Quia sic Deo assidue aufertur et differtur sibi debita gloria, cum omni studio sit eo festinandum, ut quantocius ei sua reddatur gloria.

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Luthers Kritik am teleologischen Seelenverständnis

sondern durchaus auch als der Tätige: Qui vero est per passiones exinanitus, iam non operatur, sed Deum in se operari et omnia agere novit 324 . Bei unserem Versuch, den Sinn von Luthers Ausdruck »theologia gloriae« zu erheben, gehen wir von dem Urteil aus: [...] homo sine Theologia crucis optimis pessime abutdtur325. Umgekehrt muß dann die theologia gloriae dadurch charakterisiert sein, daß in ihr ein bestimmter Umgang mit den Gütern gelehrt und praktiziert wird, den Luther als Mißbrauch bezeichnen muß. Theologia gloriae und theologia crucis lehren und leben ein anderes Verhältnis zu den Gütern und dem Guten: Theologus gloriae dicit Malum bonum et bonum malum, Theologus crucis dicit id quod res est 326 . Will man daher den Gehalt des Ausdrucks »theologia gloriae« mit Bezug auf die Scholastik entwickeln, muß man fragen, wie dort der Umgang mit dem Guten und den Gütern gedacht worden ist. Gabriel Biel versucht in seinem Sentenzenkommentar die These zu begründen, daß der Mensch auch ohne Gnade Gott über alles lieben könne. Eines der Argumente verweist auf den tapferen Bürger, der sein Vaterland mehr liebt als sich und sein Leben. Liebt er aber schon sein Vaterland mehr als sich, wird er Gott, der doch der beste Lenker aller Dinge ist, erst recht mehr als sich lieben können 327 . Die Selbstliebe des amor hominis soll dadurch überwunden werden, daß dieser sich auf das summum bonum bezieht. Biel kann diesen Überschritt zur uneigennützigen Gottesliebe so darstellen: Nunc autem bonitatem Dei in se cognoscimus ex suis effectibus, per quos est bonum nostrum secundum illud Rom.l: >Invisibilia mundi [lies: Dei] per ea, quae facta sunt, intellects, cognoscuntur.< Sicut ergo prius est cognoscere Deum ut bonum nostrum ac deinde ut bonum in se, sic prius est amare Deum ut bonum nostrum, quod est actus spei, ac deinde amare Deum ut bonum in se, quod est actus caritatis. 328

Das ist genau der Weg des theologus gloriae von These 19: Non ille digne Theologus dicitur, qui >invisibilia< Dei >per ea, quae facta sunt, intellecta conspicithomo errans potest diligere creaturam super omniaergo et deum< [...] 19. Nec valet ratio Scoti de forti politico rempublicam plusquam seipsum diligente. 333

Den Zusammenhang von Gotteserkenntnis, Selbstliebe und verweigerter Gottesverehrung, ausgelegt an Rom 1,18ff hat Luther unter anderem bei Augustin und Petrus Lombardus gefunden: In der irdischen civitas, die durch eine sich bis zur Gottesverachtung steigernde Selbstliebe charakterisiert ist 334 , haben »die Weisen dieser Welt sich entweder die Güter ihres Leibes oder ihrer Seele oder beider Güter zum Ziel gesetzt; oder, welche Gott erkennen konnten, haben >ihn doch nicht als Gott gepriesen noch ihm gedankt, sondern sind in ihrem Dichten eitel geworden, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert. Da sie sich für weise hielten< — das heißt, von Stolz beherrscht sich ihrer eigenen Weisheit überhoben - , >sind sie zu Narren geworden und haben verwandelt die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes in ein Bild, gleich dem vergänglicher Menschen und der Vögel [...] und haben geehrt und gedient dem Geschöpfe mehr als dem Schöpfer [...]< [Rom l,21-25].« 33 5 In dem Abschnitt »De rebus quibus utendum est« bemerkt der Lombarde, daß die Welt und das in ihr Geschaffene der Bereich des Gebrauchens ist. Das rechte Gebrauchen mit Ausschluß des Genießens ist die Voraussetzung dafür: ut invisibilia Dei per ea quae jacta sunt intellecta conspiciantur, id est ut de temporalibus aeterna capiantur 336 . 330 Biel, aaO, Ν 28—32 (111,476): Quia enim naturaliter homo seipsum diligit amore amicitiae, diligit etiam omne, quod sibi bonum est, amore concupiscentiae, et ita Deum suum summum bonum. Et quoniam ex eo, quod cognoscit Deum esse bonum suum, cognoscit eum in se bonum, ideo ex amore concupiscentiae assurgit ad amorem Dei amicitiae. 331 V;388,9f. Z.7f: Patet per eos, qui tales [die die invisibilia Dei durch das, was geschaffen ist, erschaut haben] fuerunt, Et tarnen ab Apostolo Roma.l.[,22] >stulti< vocantur. 332 40/1 ;226,22-27 (Gal-Vorl. 1531/5; zu 2,16). Vgl. auch 40/l;459,5-460,21 (zu Gal 3,15). 333 V;321,16f; 322,1 f. 334 Vgl. o. bei Anm.97. 335 Augustinus, De civ. dei XIV,28,Z.lf.l2-23 (CChr.SL XLVIII,451f) (Übers. W.Thimme). 336 Sent.I, dist.l, cap.2, n.5 (I/2;56,20.22f).

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Luthers Kritik am teleologischen Seelenverständnis

Wie Luther in der »Heidelberger Disputation« neben dem Thema »iusriüa« das Thema »sapientia« erörtert, stellt Augustin in »De spiritu et littera« einen Zusammenhang her zwischen der Gotteserkenntnis aus den Kreaturen, die nicht zum Heil nützt, und der Erkenntnis des Gesetzes, die nicht rechtfertigt, weil die Menschen ihre Gerechtigkeit aufrichten wollen und der Gerechtigkeit Gottes nicht Untertan sind'''' 7 . Bei der Erkenntnis m u ß man zwei M o m e n t e unterscheiden: die Erkenntnis als Tätigkeit und den Inhalt der Erkenntnis. A l s Tätigkeit und damit Wirklichkeit eines Vermögens ist die Erkenntnis ein G u t , das erstrebt wird. S o beginnt Aristoteles seine »Metaphysik« mit den Worten: »Alle Menschen streben v o n Natur nach Wissen« 3 3 8 . Darum liegt für ihn das höchste Glück wie die höchste Verwirklichung des Menschen in der theoria als der Tätigkeit des höchsten Vermögens im Menschen 3 3 9 . Die Frage ist: Vollzieht der Mensch diese Tätigkeit, die für ihn ein G u t ist, um Gottes und um der Menschen willen? Oder muß man urteilen: nusquam enim utitur, sed fruitur h o m o creatura 3 4 0 , wobei hier die sapientia die K r e a t u r ist. In dieser Hinsicht ist die theologia gloriae ein Existenzvollzug, ja u.U. eine Existenzweise — die theoretische —, die neben der praktisch-politischen steht 3 4 1 . Luther stellt in folgender Warnung beide Lebensformen so nebeneinan-

337 Augustinus, De spiritu et littera XII,20 (S.40; Kursivierung getilgt): nam sicut illis per creaturam cognitoribus creatoris ea ipsa cognitio nihil profuit ad salutem, quia cognoscentes deum non sicut deum glorificaverunt aut gratias egerunt dicentes se esse sapientes [Rom 1,21 f], ita eos, qui per legem dei cognoscunt quemadmodum sit homini vivendum, non iustificat ipsa cognitio, quia suam iustitiam volentes constituere iustitiae dei non subiecti [Rom 10,3]. Vgl. auch XII,19; XIII,22. 338 Met I,l;980a21. Duns Scotus nimmt das so auf: Si enim natura appetat suam perfectionem, ergo summe appétit suam perfectionem summam. Sic arguit Philosophus I Metaphysicae (in prooemio): Si lomnes homines natura scire desiderane; ergo maximam scientiam maxime desiderant. (Ord. IV, suppl. dist.49, qu.9, art.l [A.B.Wolter, Duns Scotus on the Will and Morality, 186]) Allerdings wird man beachten müssen: »Despite his genius for speculation, Scotus considered speculation merely a means to an end: >Thinking of God matters litde, if he be not loved in contemplation/ Against Aristotle, he appealed to >our philosopher, Paul,< who recognized the supreme value of friendship and love, which, directed to God, make men truly wise.« (A.B.Wolter, The Philosophical Theology of John Duns Scotus, 23) Damit ist genau die hier interessierende Spannung angesprochen: Die von Natur gegebene höchste Hinordnung auf die höchste Wissenschaft oder Weisheit als des Menschen höchste Vollkommenheit und die Frage, ob diese Wissenschaft um Gottes willen gewollt und geliebt wird. 339 Vgl. EN X,7. - Vgl. dazu »den Kommentator«, Averroes, im Prolog zum »Physik«-Kommentar: Ultima perfectio hominis est ut sit perfectus per scientias speculativas, et hoc est sibi ultima felicitas et vita perfecta (Les Auctoritates Aristotelis, Physica, n.38 [ed. J.Hamesse, 143]). 340 V;404,6f. 341 Vgl. EN I,3;1095bl 7-19.b22-96a5.

Amor crucis und amor hominis

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der: Proinde cavendum, ne vita activa cum suis operibus et vita contemplativa cum suis speculationibus nos seducant342. Das andere Moment der Erkenntnis ist ihr Inhalt. In dieser Hinsicht ist »jene Weisheit«, die theologia gloriae, die theologische Selbstauslegung des amor hominis hinsichtlich der Ziele seines Strebens (bonum/malum), insbesondere im Blick auf das letzte Ziel seines Strebens. Dieses ist Gott als summum bonum. In dieser Hinsicht ist die theologia gloriae praktische Theorie über die Güter und verhält sich nicht zu sich selbst als Gut. Gleichwohl hat sie eine wichtige Funktion im menschlichen Streben und Wollen, denn zur Selbstauslegung des amor hominis gehört auch eine Gotteserkenntnis, weil Liebe als Streben und Wollen Erkenntnis voraussetzt. Die Interpretation der Strebensziele des amor hominis setzt deren Konvenienz zum natürlichen Streben des Menschen voraus; dieses Streben aber ist durch die Selbstliebe charakterisiert. Wenn nun auch Gott zu diesen Zielen gehört, er jedoch letztes Ziel ist, muß, wie wir das oben schon bei Biel gesehen haben343, gezeigt werden, daß die Selbstliebe sich in eine reine Gottesliebe zu transzendieren vermag. Dies ist nicht nur aus christlichen, sondern auch aus metaphysischen Gründen geboten: Gott um des Menschen willen zu lieben wäre metaphysischer Unsinn. Zugleich geht es hier um die Frage, ob mit der Liebe zu Gott um Gottes willen das ganze Leben des Christen als so auf Gott hin orientiert gedacht werden kann, daß seine Ausrichtung auf das Gute, auf die Verwirklichung seiner Möglichkeiten und auf seine Vollkommenheit nicht als quaerere quae sua sunt verstanden werden muß, sondern als quaerere quae Dei sunt aufgefaßt werden kann. Der Weg zur Gottesliebe aber fuhrt über einen betrachtenden Aufstieg auf der Stufenordnung des Seienden zu einem Überstieg vom geschaffenen Gut zum ungeschaffenen Gut: »Geliebt wird [Gott] non sine proemio; geliebt werden soll absque praemii intuitu - auf dem Gleichgewicht dieser beiden Aussagen des hl. Bernhard, von denen die erste das Wesen, die zweite die Reinheit der Liebe ausspricht, beruht der traditionelle Begriff der Gottesliebe. Zu erreichen ist die Reinheit für die durch Sünde verderbte menschliche Natur nur mit Hilfe eines göttlichen Gnadenaktes. Sonst mischt sich störend und verfälschend ein Stück Eigenliebe — amour-propre, im Unterschied von dem guten amour de soi, der natürlichen Selbstliebe - in die sich ganz in ihrem Gegenstand verlierende >ekstatische< Gottesliebe. [...] Absque praemii intuitu lautet die Forderung. Wie aber können wir uns vor diesem seelenzerstörenden Seitenblick bewahren? Die Antwort der Tradition lautet: mittels eines meditativen Denkens, das uns durch die Stufenordnung der Welt über die Welt hinausführt zu Gott — und in Gott verschmilzt das Eigengut (bonum proprium) mit dem Guten schlechthin (dem summum bonm>i)A»reflektierte[.] Überzeugung von der eigenen Verdammnis« mündete: »Das ist der Gnadenstoß für die Eigenliebe und der Untergang der sich als Ausdruck des amour-propre enthüllenden Reflexion« 345 . Die entscheidende Einsicht empfangt Fénelon von Madame Guyon: »>Denn Gott hat ihm ich weiß nicht was für ein Unendliches in Beziehung zu ihm gegeben. Deshalb findet die Seele, die sich nicht mit sich selbst beschäftigt und die sich für nichts erachtet, in diesem Nichts die Unendlichkeit Gottes selbst: sie liebt ohne Maß, ohne Ziel, ohne menschliches Motiv; sie liebt, weil Gott, die unermeßliche Liebe, in ihr liebt.aktiver< Grund dafür, daß etwas geschieht« (Chr. Jedan, Willensfreiheit bei Aristoteles?, 161). Vgl. u. Anm.66. EN III,7;1114a9f (Übers. F.Dirlmeier). EN II,3;1105al7-21 (Übers. F.Dirlmeier). Vgl. auch die Übersetzung von Rolfes. Gauthier/ Jolif geben als Problem des Kapitels an: »La difficulté: s'il faut faire les actes de la vertu pour devenir vertueux, n'y a-t-il pas cercle vicieux?« (R.A.Gauthier/J.Y.Jolif, L'Éthique à Nicomaque, Bd.I/2, 39). Vgl. auch W. Hardie, Aristotle's Ethical Theory, 104. Vgl. ENII,3;1105bll-18.

Luther und die aristotelische Lehre vom Erwerben der Tugend

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also gewissermaßen mit Jakobus: »Seid aber Täter des Worts und nicht Hörer allein, wodurch ihr euch selbst betrügt« (Jak 1,22) 33 . Versteht man so, dann ist der zweite Satz des Kapitels (s.o.) - der Einwand, mit dem sich Aristoteles auseinandersetzt - anders zu übersetzen: »Wenn man nämlich Gerechtes und Besonnenes tut, ist man bereits [eo ipso] gerecht und besonnen, wie man auch, wenn man etwas Sprachkundliches oder Musikalisches vollbringt, schon sprachkundig oder musikkundig ist« . Wird der Satz so verstanden, dann besagt der Einwand: Ein Mensch braucht nicht erst durch wiederholte Akte einen habitus zu erwerben, bevor er musikalisch genannt werden kann, vielmehr kann bereits dann jemand als musikalisch bezeichnet werden, wenn er einzelne musikalische Akte vollbringt. In seiner Antwort auf diesen Einwand bestreitet Aristoteles, daß die Verhältnisse bei den τέχναι so liegen. Umso mehr, wird man ergänzen müssen, ist jener Einwand in Fragen der Tugend unzutreffend. Man kann nämlich aus Zufall oder mit Hilfe eines anderen etwas Sprachkundliches sagen. Dadurch ist man aber noch kein Sprachkundler. Dazu ist vielmehr erfordert, daß man etwas Sprachkundliches auf »sprachkundliche Weise« vorbringt, d.h. gemäß der im Sprecher befindlichen Sprachkunst. Hier werden die zufällig oder mit Hilfe von anderen zustandegebrachten Handlungen und die Kompetenz des Könners einander gegenübergestellt, nicht aber wird wie in EN 11,1 betont, daß die Differenz zwischen beiden durch wiederholte Akte (z.B. des Zitherspielens) zu überbrücken sei. Wie Letzteres möglich ist, hätte Aristoteles darlegen müssen, wenn er, wie die übliche Deutung meint, die Behauptung hätte widerlegen wollen, daß man schon Könner sein muß, um etwas Sprachkundliches vorbringen zu können. In den beiden Interpretationsalternativen wird also der Einwand, mit dem sich Aristoteles auseinandersetzt, unterschiedlich verstanden. Entweder besagt er: Wie ist es möglich, einen habitus durch wiederholtes Tun zu erwerben, wenn dieses Tun den habitus schon voraussetzt? Oder der Einwand lautet: Ein habitus ist überflüssig, weil jemand durch einen bloßen Akt des Sprechens usw. sich schon als sprachkundig erweist (sonst würde er nicht sprechen). Während Aristoteles in 11,1 Tugenden und Künste unter dem Gesichtspunkt des Erwerbs von Kompetenz durch Übung parallelisiert, stellt er nunmehr fest, daß die Verhältnisse in beiden Fällen nicht gleich sind. Es gibt einen strukturellen Unterschied zwischen dem, was durch eine τέχνη entsteht, und dem, was gemäß der Tugend entsteht. Ein Werk der Kunst hat seine Qualität in sich, z.B. ist ein Schuh gut, wenn er tauglich ist zu dem »Werk«, für das er gemacht ist. Bei einem sittlichen Tun verhält es sich anders. Hier genügt nicht dessen Beschaffenheit, vielmehr ist die Verfassung des Handelnden entscheidend dafür, ob einem Tun das Prädikat »moralisch gut« zukommt. Aristoteles nennt dafür drei Bedingungen: (a) Der Handelnde weiß, was er tut; er handelt (b) mit einem Vorsatz^ der das Tun des Guten um seiner selbst willen will; und er tut es (c) fest und ohne Schwanken . Für die τέχνη ist von den drei Bedingungen nur die erste, das 33 So versteht auch Thomas von Aquin dieses Kapitel; vgl. In Eth., n.280-288. 34 EN II,3;1105al9—21. 35 Vgl. EN II,3;1105a26-b9 (Übers. Wilhelm von Moerbeke): Adhuc autem neque simile est in artibus et in virtutibus. Quae enim ab artibus fiunt, bene habent in eis. Sufficit igitur haec qualiter habentia fieri. Quae autem secundum virtutes fiunt, neque si haec qualiter habeant, iuste vel temperate operata sunt, sed si operans qualiter habens operetur. Primum quidem si sciens. Deinde si eligens, et eligens propter haec. Tertium autem et si firme et immobiliter habeat et operetur. Haec autem ad alias quidem artes habere non connumerantur praeter ipsum scire. Ad virtutes autem scire quidem parum aut nihil potest. Alia autem non parum, sed omnia possunt quae ex multoties operari iusta et temperata adveniunt. Res quidem igitur iustae et temperatae dicuntur quando sunt tales, quales utique iustus et temperatus operabitur. Iustus autem et temperatus est, non qui haec operatur, sed qui ut iusti et temperati operantur. —

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»Non enim, ut Aristoteles putat, iusta agendo iusti efficimur«

Wissen wichtig, während für die sittlich qualifizierten Akte die zweite und dritte Bedingung maßgeblich sind — »das, was aus dem vielfachen Tun des Gerechten und Besonnenen entsteht«'"'. Mit diesem Hinweis wird angezeigt, warum der sittliche habitus für die guten Akte so wichtig ist. Wann aber ist eine Handlung gerecht oder besonnen? Die Antwort wird vom gerechten und besonnenen Menschen her gegeben: Wenn sie so geartet ist, wie sie ein Gerechter oder Besonnener ausführen würde. Wenn aber das Werk vom Handelnden her verstanden wird, kann der Handelnde als Gerechter oder Besonnener nicht vom - äußeren - Werk her verstanden werden. Gerechter oder Besonnener ist nicht, wer Handlungen mit der Artbestimmtheit »gerecht« oder »besonnen« vollbringt, sondern wer so handelt, wie Gerechte und Besonnene dies tun^7. Aus dem Gesagten zieht Aristoteles eine Folgerung, auf die sich die traditionelle Deutung des Kapitels stützen kann: »Mit Recht also sagt man, daß man durch Tun des Gerechten ein gerechter Mensch wird und durch Tun des Besonnenen ein besonnener Mensch«'' 8 . Diese Folgerung ist jedoch durch das Vorausgehende nicht begründet. Aristoteles hat gezeigt, daß im Bereich sittlichen Handelns die Verfaßtheit des Handelnden und damit sein habitus von entscheidender Bedeutung sind. Aber gerade weil dies so ist, ist schwer zu verstehen, wie man ohne diesen habitus zu sittlich guten Handlungen, aus denen ein habitus entsteht, kommen kann. Aristoteles hat im vorliegenden Kapitel diese Frage nicht aufgelöst, sondern sie im Gegenteil zur Aporie verschärft. Darum kann man mit Grund daran zweifeln, ob Aristoteles hier tatsächlich diese Frage beantworten will. Welcher der beiden Interpretationen v o n EN 11,3 man auch folgt, so m u ß man in den aristotelischen Texten A n t w o r t e n auf die folgenden beiden Fragen suchen: (1) W a s gehört zur Bestimmtheit einer sittlichen Handlung, so daß aus ihrer Wiederholung ein habitus etwa des Gerechten entstehen kann? G e h ö r t dazu die Bestimmung, die Handlung müsse um ihrer selbst willen vollzogen werden, oder reicht es, eine Handlung, die äußerlich derjenigen, die ein Gerechter in gleicher Situation tun würde, etwa aus Angst v o r Strafe oder in Erwartung einer Belohnung zu vollbringen? Im zweiten Fall wäre wenigstens für die Zeit der Entstehung der Tugend die D i f f e r e n z zu den τ έ χ ν α ι aufgehoben, die Aristoteles aber in unserem Kapitel gerade entwickelt. (2) Beantwortet man Frage (1) im Sinn der zweiten Möglichkeit, dann m u ß man fragen, wie zu verstehen ist, daß durch die Wiederholung v o n Handlungen, die eine bestimmte Artbestimmtheit haben, der Handelnde in eine bestimmte Verfassung kommt, die er v o r h e r nicht hatte und die ihm nunmehr eine neue Weise zu handeln - das G u t e um des G u t e n willen zu tun — ermöglicht. »Habe ich durch G e w ö h n u n g hinreichend gelernt, daß ich dann-und-dann so-und-so teilen muß usw., dann wird sich das Weswegen — das Recht-Tun — auch als Absicht meines Tuns und als Ausgangspunkt meines

Was zum Wissen des tugendhaft Handelnden gehört, gibt Aristoteles in der Abhandlung über die Freiwilligkeit an: v.a. das Wissen über den Gegenstand und den Zweck der Handlung, daneben über deren Umstände (vgl. EN III,2;lllla2-19). 36 Vgl. EN II,3;1105a33-b5. Zitat: b4f. 37 EN II,3;1105b5-9. 38 EN II,3;1105b9f.

Luther und die aristotelische Lehre vom Erwerben der Tugend

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praktischen Denkens einstellen.«39 Warum sollte das so sein? Wenn nämlich das richtige Weswegen des Handelns nicht mit dem ersten der wiederholten Akte da ist, werden dann nicht die letztlich problematischen Beweggründe (Furcht vor Strafe usw.) ebenso wie das der Art nach richtige Handeln habitualisiert, so daß sich schließlich gerade nicht ein Tun des Rechten um des Rechten willen einstellt? Allerdings sagt Aristoteles - freilich mit Bezug auf das Zitherspielen, also eine τέχνη —: »Wir sagen, daß das Werk eines Tätigen und das Werk eines tüchtigen Tätigen, z.B. das eines Zitherspielers und das eines guten Zitherspielers der Art nach dasselbe sind«40. Hier zeigt sich folgendes Problem: Entweder ist der habitus nötig, damit der gute Akt um seiner selbst willen gewählt wird, dann ist nicht einzusehen, wie dieser habitus aus der Wiederholung von Akten, die nicht um ihrer selbst willen vollzogen werden, entstehen soll; oder solche Akte sind auch ohne habitus möglich, dann ist nicht einzusehen, warum der habitus für das Handeln — außer zur Erleichterung — eine prinzipielle Bedeutung haben sollte. Da sich bei Aristoteles selbst Überlegungen finden, die Luther gegen ihn vorbringen wird, sollen Elemente der aristotelischen Handlungstheorie dargestellt werden, um genauer beurteilen zu können, wie sich Luthers Kritik zur Lehrmeinung des Aristoteles verhält. Da es in dieser Kritik um das Gerechtwerden des Menschen geht, fragen wir zunächst, wo die Gerechtigkeit und die anderen sittlichen Vorzüglichkeiten nach Aristoteles ihren Ort im Menschen haben. Dieser Ort ist jener Teil der Seele, der zwar nicht selbst vernünftig ist, aber auf die praktische Vernunft zu hören vermag 41 . In »De anima« unterscheidet Aristoteles in der Seele ein Erkenntnisvermögen von einem Bewegungsvermögen 42 . Erst im Zusammenwirken beider Vermögen kommt eine Handlung zustande 43 . Diese Zusammenarbeit ist jedoch keineswegs immer konfliktfrei. Das Strebevermögen hat nämlich eine doppelte Gestalt: Es ist rationales Strebevermögen (βούλησις 44 ),

39 40 41 42 43 44

A.W.Müller, Praktisches Folgern und Selbstgestaltung nach Aristoteles, 281. E N I,6;1098a8-10. Vgl. E N 1,13, v.a. 1102bl 3-1103a3. Vgl. D e an III,3;427al7-19; III,9;432al5-17. Vgl. D e an 111,10;433a9-l 8. »βούλησις« wird in der Regel mit »Wille« wiedergegeben. Das ist aber zumindest ungenau. Vgl. den wichtigen Hinweis von Georg Wieland: » E s sollte immerhin zu denken geben, daß die Begriffe >Freiheit< und >frei< für Aristoteles in der Nikomachischen Ethik keine Rolle spielen, und daß er darüber hinaus den Begriff des Willens als eines eigenständigen geistigen Vermögens neben der Vernunft nicht kennt. Der Leitbegriff, von dem aus Aristoteles das Verständnis des menschlichen Handelns gewinnt, heißt vielmehr Streben, eine Aktivität, die für jedes Lebewesen zutrifft und jede Bewegung bezeichnet, die ohne Gewalt geschieht [mit Verweis auf D e an III 9].« (G. Wieland, Ethica - Scientia Practica, 286) »Augustin war ohne Zweifel der Erfinder des >modernen< Willensbegriffs, den er für die Zwecke seiner spezifischen Theologie konzipierte. [...] Für die Geschichte des europäischen Denkens war dieser Schritt Augusóns folgenreicher als die Präzisierung der Vorstellungen vom Gotteswillen, die

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insofern es zum vernünftigen Seelenteil gehört und sich von vernünftigen Überlegungen bestimmen läßt; es ist sinnliches Strebevermögen (0ρεξις), insofern es dem unvemünfigen Seelenteil angehört und sich von sinnlichen Vorstellungen bestimmen läßt45. Das sinnliche Strebevermögen vermag zwar der praktischen Vernunft zu gehorchen und insofern an der Vernunft teilzuhaben, oft widerstreitet es ihr jedoch46. Dieser Widerstreit hängt mit der Begierde47 und den Affekten48 zusammen, die ihren Ort im sinnlichen Strebevermögen haben. Nun gibt es aber im irrationalen Teil der Seele neben den Affekten und dem bzw. den Vermögen zu diesen Affekten auch durch Gewohnheit erworbene Dispositionen, die maßgebend für das richtige oder falsche Verhältnis des Menschen zu seinen Affekten sind. Die sittlichen Tugenden sind diejenigen Dispositionen, die dem Menschen den rechten Umgang mit den Affekten erlauben49.

sich aus den Kontroversen um Monoergeasmus und Monothelerismus in friihbyzantinischer Zeit ergab.« (A.Dihle, Die Vorstellung vom Willen in der Andke, 162f) Vgl. auch: Chr. Horn, Augustinus und die Entstehung des philosophischen Willensbegriffs, 113—132. — Die Antwort auf die Frage, wer wann den Willensbegriff in die Diskussion eingeführt hat, hängt davon ab, was man unter »Willen« versteht. Chr.Jedan schlägt vor: »Eine philosophische Position verfügt über einen Willensbegriff genau dann, wenn sie annimmt, daß ein Handelnder sich aufgrund von Motiven (bewußt) für oder gegen Handlungsopaonen entscheiden kann (Wahlkriterium)« (Willensfreiheit bei Aristoteles?, 72). Damit gehört zum Begriff des Willens nicht dessen Freiheit. Von »freiem Willen« soll nach Jedan nur dann gesprochen werden, »wenn angenommen wird, daß Entscheidungen für oder gegen Handlungsoptionen nicht in jedem Fall determiniert sind« (ebd.). Nach dieser Begriffsbestimmung verfügt Aristoteles über einen Willensbegriff, da in der Konzeption der »προαίρεσις« als eines »für Überlegung empfänglichen Strebens nach dem, was in unserer Macht steht« (EN III,5;1113al0f; vgl. Jedan, ebd.), ein Entscheiden für ein Handeln nach bestimmten Motiven gedacht wird. 45 46 47

Vgl. De an III,9;432b5f; 111,10;433a22-30. Vgl. E N I , 1 3 ; 1 1 0 2 b l 6 - 2 8 . De an II,3;414b5f: Begierde (έπιθυμία) ist »Streben nach dem Lustvollen«. »Nicht entsteht, diesem Aristotelischen Ansatz zufolge, Lust dadurch, daß ein Streben sein Ziel erreicht, sondern es entsteht gerade umgekehrt das Streben erst dadurch, daß Lust erfahren wird.« (W. Welsch, Aisthesis, 393) Und: »Das Lusthafte ist eo ipso >attrakövgeformtSine operibus< [Rom 4,6] intelligitur, vt supra dictum est, de iis operibus, quibus factis putatur Iustitia iam adepta et possessa, quasi ideo sit Iustus, quia fecerit opera illa, aut Deus ideo eum reputet et acceptet Iustum, quia operator.98 Während bei Aristoteles »Gerechtigkeit« den Niederschlag wiederholter Handlungen in Gestalt einer Disposition des Strebevermögens bedeutet, setzt Luther voraus, daß in dem von ihm kritisierten Gerechtigkeitsverständnis eine richtende Instanz angenommen ist, die die Akte des Menschen wahrnimmt, bewertet und daraus ein Urteil über die Person fällt. Das Urteil »gerecht« geht durch den Urteilsspruch dieser Instanz — seien es Menschen, sei es Gott - von den Werken auf die Person über. Eine richterliche Instanz mit dieser Funktion kennt Aristoteles nicht. Zwar ist auch die Polis als ein Forum, vor dem der Mensch als gerecht erscheint, für das Selbstbewußtsein der Gerechten von großer Bedeutung, aber der habitus als seelische Qualität wird nicht durch das Urteil der Polis konstituiert, er erscheint nur vor ihr. Wenn gerechte Werke allein durch den Blick auf einen solchen Gerichtsentscheid motiviert sind, können sie unterbleiben, sobald er ergangen ist. Eine solche Überlegung ist im aristotelischen Zusammenhang nicht plausibel. Luther hat offenbar den paulinischen Begriff der Gerechtigkeit, der ein Heilsbegriff ist, auf den aristotelischen Begriff projiziert und das aristotelische Verständnis von Gerechtigkeit in die Alternative »Gerechtigkeit aus Werken« — also 96 97

l;119,32f. 1;119,23—39: A t dicitur >si ergo Abraham iustus ante Circumcisionem et Abel ante oblationem, similiter et omnes S. Patres, Quid ergo necesse fuit illos operati? Et nos cur operamur? Simus otiosi et dormitantes, quia in gratia sumusi. Sic sapiunt qui ex circumcisione et operibus iustificari quaerunt, quia sine illis ideo non putant esse iusüriam, quia eis non sit opus si iam iusdda habetur. Quare enim audita iustitía statini dicunt >non ergo operemur bonump[erson]a< kann seit der Spätantike schlechtweg >Mensch< bedeuten (anstelle von >homorationale< voraus. Die beiden letzteren sind in der wirklichen Person nicht vernichtet, sondern >aufgehobenopera< est compositum, includens fidem seu rationem fidelem, per quam fiunt opera etc. 351 AWA II;245,15-21 (Op. in Ps., zu Ps. 5,5-7): Duo priores [versus: V.5f] peccata describunt ea, quibus contra deum peccant, quae sunt quattuor: Duo in versu primo, scilicet impietas et malignitas, quarum prior aversio est a deo, idest sani affectas atque rectae opinionis inopia, posterior conversio ad seipsum, pronitas scilicet ipsa ad mala opera et rebellio ad bona, idest affectas et opinio perversa. His duobus peccatis persona ipsa describitur et arbor mala, quales sunt coram deo. 352 56;335,10-13: Quare patet, Quod spiritualiter peccatum auferri (i.e. voluntatem peccandi mortificati) intelligit Apostolus, illi autem methaphysice opera peccati et concupiscentias volunt aufferri, Sicut a pariete albedinem et ab aqua caliditatem. 353 56;335,15f. 354 »Vorordnung der Person« meint bei Luther immer Vorordnung der kontradiktorischen Beschaffenheiten der Person, Sünde oder Gerechtigkeit, vor dem entsprechend zu charakterisierenden Werk: [...] Nullum opus esse posse, nisi prior sit efficiens seu operans sine opere. Et opus necessario praerequirere personam, quae ipsum faciat. [Kein Scholastiker hätte dem widersprochen. Luther fährt jedoch fort:] Cur ergo ita pugnant contra nos, quod fidem sine operibus dicimus esse, et facere personam iustam, Postea sequi opera, quae non faciant personam iustam, sed fiant a persona iusta? Cum fateri cogantar id ita fieri, tarn in natura quam in philosophia morali seu lege. (38;647,12-17) - Nicht Baum und Frucht werden unterschieden, sondern die gute Frucht wird dem guten Baum, die schlechte Frucht dem schlechten Baum zugeordnet.

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Wie ist der Zusammenhang von Person und Werk bei Luther näher zu bestimmen? Hier sind prinzipiell drei Möglichkeiten denkbar: (a) Allein der Begriff des Gerechtseins der Person ist eigenständig bestimmt; es gibt hingegen keinen eigenen Begriff des gerechten Werks. Gerecht kann dann ein Werk nur genannt werden, wenn es das Werk eines Gerechten ist. Daß der Gerechte Gerechtes tut, ist somit ein analytisches Urteil. Im Bild von Baum und Frucht: Man kann Kriterien angeben, die es erlauben, einen Baum gut zu nennen. Jede Frucht dieses Baumes ist eo ipso gut. (b) Allein der Begriff des gerechten Werks ist eigenständig bestimmt, während der Begriff der gerechten Person als davon abhängig gedacht wird: Gerecht ist eine Person dann und nur dann, wenn sie gerechte Werke tut. Auch hier liegt ein analytisches Urteil vor. Eine Frucht schmeckt gut; also ist der Baum, der sie hervorgebracht hat, gut zu nennen. Natürlich hat der Baum die Frucht hervorgebracht und ist ihre Ursache; aber was die begriffliche Fassung der Bestimmung »gut« für Baum und Frucht und die ratio cognoscendi betrifft, geht der Weg von der Frucht zum Baum. (c) Der Begriff der gerechten Person und der Begriff des gerechten Werks werden je eigenständig bestimmt. Daß die gerechte Person gerechte Werke tut, ist dann ein synthetisches Urteil. Es gibt bestimmte Merkmale, die gegeben sein müssen, damit man einen Baum gut nennt, und bestimmte andere Merkmale müssen vorliegen, damit man eine Frucht als gut bezeichnet. Für Luther sind die erste und in gewissem Sinn auch die dritte Möglichkeit von Bedeutung: ad (a): Luther nennt im »Sermon von den guten Werken« den Glauben das »erste und höchste, aller edlist gut werck« 355 : »Dan in diesem werck müssen alle werck gan und yrer gutheit einflusz gleich wie ein lehen von ym empfangen.« 356 In der Auslegung zu Ps 21 [22],1 sagt Luther, daß die Werke Jesu und unsere in allem höchst ähnlich sein könnten (Essen, Schlafen, Wachen, Gehen). Trotzdem tut Jesus alles ohne Sünde, während wir in allem sündigen. Wie die Person, so sind auch die Werke 357 . Dieser Gedanke steht in gewisser Analogie zu der Auffassung der Scholastiker, daß eine leibliche Tätigkeit, die ein actus bonus in genere ist (zum Beispiel der Kirchgang am Sonntag), nicht in sich moralisch gut sein kann, sondern als 355 6;204,25. 356 Ebd., Z.31f. Auch wenn hier von »Person« nicht gesprochen wird, ist klar, daß es die Person ist, die durch den Glauben »gut« oder durch den Unglauben »böse« wird. Vgl. o. Anm. 224. Weiter: 6 ; 2 0 5 , l - 9 (Von den guten Werken; 1520). 357 5;604,38-605,2 (Op. in Ps.): [...] et opera, quae ipse [Christus] fecit, si nos faceremus, peccata essent, licet simiUima per omnia essent. Comedit ille, dormivit, ivit, vigilavit et omnia fecit sine peccato. Nos similia facientes, in omnibus peccamus, quia ille arbor erat bona, nos arbores malae. Qualis persona, talis et opera.

»Prius necesse est personam esse mutatam, deinde opera.«

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actus imperatus erst durch einen zugehörigen Willensakt, der in sich moralisch gut oder böse ist, »extrinsece« moralisch gut und verdienstlich oder böse wird. So ist ein und derselbe Vorgang des Zur-Kirche-Gehens durch einen Willensakt, dies aus Liebe zu G o t t zu tun, moralisch gut und verdienstlich, jedoch durch einen Willensakt, nach dem man zur Kirche geht, u m zu sehen und gesehen zu werden, moralisch böse, weil am Sonntag ein A k t der Liebe zu G o t t gefordert ist. In beiden Fällen hat sich am leiblichen Vorgang nichts geändert 3 5 8 . Die D i f ferenz in der Strukturanalogie zwischen dieser scholastischen Auffassung und dem oben erörterten Gedanken Luthers besteht darin, daß in jener der Willensakt auf die Seite des W e r k s gehört, während bei Luther das Analogon zum Willensakt eine Bestimmung der Person ist 3 5 9 . Nun ist aber eine gerechte Person nicht nur gerecht, sondern immer zugleich auch Sünder. A l s o geht auch diese Bestimmung wie die der Gerechtigkeit v o n der Person auf das W e r k über 3 6 0 . W i e die Person teils gerecht und teils Sünder ist, so auch das W e r k 3 6 1 .

358 In der Genesis-Vorlesung (zu Gen 29,1-3) geht Luther auf das Lob der Tugenden von Heiden durch Erasmus ein. Sokrates, Cicero und andere hätten viel bessere Werke vollbracht als viele Christen. Luther antwortet: Philosophice et in materia [eorum opera] conveniunt, hoc est, in genere vitae, sed non in specie et differentia. Si enim vel Cicero vel Socrates sanguinem sudasset, tarnen propterea non placeret Deo. (43;614,39—42; vgl. 615,17-20) Luther nimmt also hier die Unterscheidung »in genere - in specie/in differentia« auf. Die Differenz zwischen den Werken von Glaubenden und Nichtglaubenden liegt in folgendem: [...] magna et incompraehensibilis differentia est inter opera utriusque partis [Esau und Ismael auf der einen, Jakob auf der anderen Seite]. Hie apud Iacob est fides et verbum. Illic nullum verbum est, sed incredulitas mera. Tantum igitur distant opera Iacob ab operibus Ismael aut Esaù, quantum coelum a terra, quantumvis sint eadem opera in speciem [»species« meint hier die äußere Erscheinung!]. (43;614,30-34) 359 Luther selbst hat an einer Stelle die angezeigte Analogie so ausgedrückt: Nam opus in sacris literis praerequirit edam bonam voluntatem et rectam rationem, non moralem, sed Theologicam, quae fides est. Hoc modo facile poteris obturare os Sophistis. Nam ipsimet coguntur concedere, quia ita docent ex Aristotele, quod omne opus bonum procedat ex electione. Si hoc verum est in Philosophia, multo magis in Theologia [!] oportet esse ante opus bonam voluntatem et rectam rationem per fidem (40/l;457,21-27; Gal-Komm zu 3,14 [1535]). Vgl. Ockham, Sent.IV, qu.16 (OTh VII;358,13-20). 360 7;137,14—24 (Assertio; 1520): [...] probavimus, hominem sanctum spiritu concupiscere adversus carnem et carne adversus spiritum, esseque per haec duo cum Apostolo Paulo servum peccati secundum carnem et servum dei secundum mentem, ac per hoc persona ipsa iusti partim est iusta, partim peccatrix. Si ergo omnis persona simul peccatrix est, dum iusta est, quid evidentius sequi potest quam ut opus quoque partim sit bonum, partim malum? cum Christus dicat et natura monstret, talem esse fructum, qualis est arbor, vitium arboris certe in fructu sentitur. Non enim bona opera faciunt iustum (ut saepe diximus), sed iustus facit bona opera: at talia faciat, necesse est, qualis est ipse, imperfectas imperfecta, iustus iusta, malus mala. Si haec ratio et autoritas non movet, nescio, quid movere possit. — Es ist merkwürdig, daß Luther die hier liegende Spannung nicht anspricht: Beim Baum gibt es die Al-

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Man kann aber bei der bloßen Betonung einer allgemeinen Ambivalenz auch des Tuns eines gerechten Menschen nicht stehenbleiben. Luther macht in seiner Erörterung von Koh 7,21 eine Unterscheidung zwischen dem Sachverhalt, daß der Gerechte im gerechten Tun sündigt, und demjenigen, daß er im bösen Tun sündigt. Das letztere sieht er in Prov 24,16 ausgesprochen: »Siebenmal am Tag kommt der Gerechte zu Fall«362. Hier ist also offensichtlich ein zusätzliches Kriterium über den Glauben des Handelnden hinaus vorausgesetzt, um ein Werk »benefactum« oder nicht zu nennen. Maßstab sind die Gebote Gottes: »Darumb, wer gute werck wissen und thun wil, der darff nichts anders dan gottis gebot wissen« 363 . Was heißt es aber, daß die Werke des Gerechtfertigten ihre Gutheit wie ein Lehen vom Glauben empfangen, wenn seine Grund-Sünde auch in sein Werk eingeht? Luther äußert sich in einer irritierenden Zweideutigkeit: »Hie kan nu ein iglicher selb mercken und fulen, wen er guttes und nit guttis thut: dan findet er sein hertz in der zuvorsicht, das es gote gefalle, szo ist das werck gut, wan es auch szo gering were als ein strohalmen auffheben, ist die zuvorsicht nit da odder tzweifelt dran, szo ist das werck nit gut, ob es schon alle todten auffweckt unnd sich der mensch vorbrennen liesz.« 364 Der Ausdruck »in der zuvorsicht, das es [das Werk] gote gefalle« kann zweierlei bedeuten: (1) Jemand ist gewiß, daß dieses oder jenes das Werk ist, das er tun soll, weil es Gott gefällt (opus operandum). So kann Luther im Sermon »Vom ehelichen Leben« aufgrund von Gen 1,28 die Ehe einen Gott wohlgefälligen Stand nennen: »Die sinds aber, die es erkennen, die festiglich glewben, das gott die ehe selbs eyngesetzt, man unnd weyb tzusamen geben, kinder tzeugen und wartten verordenet hat. Denn sie haben gottis wort darauff, des sie gewiß sind, das er nicht leugt, Gen.l. Darumb sie auch gewiß sind, das yhm der stand an

ternative »guter - schlechter Baum«; beim Menschen aber einerseits die Alternative »Sünder — Gerechter« und andererseits im Fall des Gerechten das »Sowohl Gerechter als auch Sünder«. Gerade dies sprengt das Bild vom Baum und seinen Früchten und läßt es dunkel erscheinen, wie die Frucht eines gut-schlechten Baumes zu bestimmen ist. 361 Daß der Gerechte auch im guten Tun sündigt, hat Luther als Auslegung von Eccl 7,21 (»Non est iustus in terra, qui faciat bene et non peccete) in der probatio zur sechsten These der »Heidelberger Disputation« und in den vorbereitenden Präparationen dazu ausführlich begründet; im Grunde gilt die ganze Schrift gegen Latomus der Rechtfertigung dieser These. 362 Eccl 7,21 heiße nicht: quod iustus quidem peccet, sed non quando benefacit (V;383,5f). AaO, Z . 8 - 1 2 : Nam iste sensus fuisset abunde sic expressus: Non est iustus in terra, qui non peccet. ut quid addit >qui benefacit