Selbstbewußtsein und Spekulation: Eine Untersuchung der Spekulativen Theologie Richard Rothes unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Anthropologie und Theologie [Reprint 2011 ed.] 311016695X, 9783110166958, 9783110816600

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Selbstbewußtsein und Spekulation: Eine Untersuchung der Spekulativen Theologie Richard Rothes unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Anthropologie und Theologie [Reprint 2011 ed.]
 311016695X, 9783110166958, 9783110816600

Table of contents :
Einleitung
1. Der Mensch als Subjekt der Spekulation
1.1. Der Mensch als Gottes Geschöpf
1.2. Das Denken
1.3. Die Frömmigkeit
1.4. Ergebnis
2. Gott als Subjekt der Spekulation
2.1. Selbstbewußtsein
2.2. Ich und Nicht-Ich
2.3. Ergebnis
Quellen und Literaturverzeichnis

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Heike Krötke Selbstbewußtsein und Spekulation

1749

1999

¥

Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von O. Bayer · W. Härle · H.-P. Müller

Band 103

W DE G_ Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999

Heike Krötke

Selbstbewußtsein und Spekulation Eine Untersuchung der Spekulativen Theologie Richard Rothes unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Anthropologie und Theologie Herausgegeben von Hans-Walter Schütte

W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1999

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Die Deutsche Bibliothek —

CIP-Einheitsaufnahme

Krötke, Heike: Selbstbewußtsein und Spekulation : eine Untersuchung der spekulativen Theologie Richard Rothes unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Anthropologie und Theologie / Heike Krötke. Hrsg. von Hans-Walter Schütte. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1999 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 103) Zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-11-016695-X

© Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Vorwort Die vorliegende Arbeit lag der Theologischen Fakultät der Georg-AugustUniversität in Göttingen unter dem Titel "Selbstbewußtsein und Sünde. Eine Untersuchung der spekulativen Theologie Richard Rothes unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Anthropologie und Theologie" vor. Das Promotionsverfahren wurde im Dezember 1998 abgeschlossen. Die Verfasserin hat die Veröffentlichung der Arbeit noch in die Wege geleitet und erste Vorbereitungen für die Drucklegung getroffen. Ihr Tod am 10. Februar 1999 macht es nun anderen zur Aufgabe, diesen bemerkenswerten gedanklichen Entwurf, der durch handwerkliches Können und intellektuelle Emphase ausgezeichnet ist, der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zu unterbreiten. Ich tue das als der erste Gutachter dieser Arbeit, der die mehrjährige Beschäftigung der Verfasserin mit Richard Rothe und der idealistischen Philosophie in vielen Gesprächen begleitet hat. Im Thema des Buches "Selbstbewußtsein und Spekulation", das an Richard Rothes Denken entfaltet wird, sind zwei Sachverhalte zusammengeführt, deren Verträglichkeit von der Verfasserin geprüft wird. Mit dem Begriff "Selbstbewußtsein" ist eine Einsicht benannt, in deren Bann viele Generationen geraten sind. Der Begriff "Spekulation" zeigt die Verfassung eines theologischen Programms an, das auf sie eine kaum geringere Faszination ausübte. Das gilt selbst dann, wenn beide Begriffe sich mit der Zeit voneinander fortbewegt haben. Der Begriff "Selbstbewußtsein" vermochte seine Fruchtbarkeit leichter zu erhalten als der spekulative Systementwurf. Aber gerade die spekulative Theologie, die nicht nur wegen der unübersichtlich gewordenen empirischen Materialien in den Zustand einer merkwürdigen Erschöpfung geraten ist, sondern auch unter der eigenen Überforderung litt, rückt in das Zentrum der vorliegenden Arbeit. Erst der Gesamt Charakter eines theologischen Entwurfes läßt Aussagen über seine einzelnen Themen und Aussagen zu, so auch über die immer wieder und gern erörterte These Rothes vom wunderbaren Verschwinden der Kirche in den Staat. Diese These, die sich in besonderer Weise mit dem Namen Rothes verbunden hat, enthält in der Tat einiges spekulatives Potential. Sie läßt sich überdies mit einem Modernisierungskonzept verbinden, durch das die Gegenwart als Folge des Christentums verstanden werden kann. Aber der spekulative Charakter einer geschichtlichen These ergibt sich ja erst aus dem Gesamtzusammenhang einer solchen Theologie, die es sich noch einmal zutraut, ihren eigenen Begriff dadurch zu rechtfertigen, daß sie ihn zu-

VI

Vorwort

sammen mit seinen Inhalten noch einmal entstehen läßt, sich dabei zuschaut und sich am Ende mit dem Resultat der gesamten Bewegung zusammenschließt. Das ist natürlich eine kühne These. Ihr liegt die Annahme zugrunde, daß das, was ist, als Ergebnis einer Tätigkeit verstanden werden muß und daß der Grund aller Tätigkeiten in die Person fällt, die sich selber zum Ursprung aller Tätigkeiten gemacht hat. Die Geschichten, die über das Geschaffene erzählt worden sind, müssen noch einmal erzählt werden, damit sie zu einer Geschichte werden. So faszinierend diese Annahme auch sein mag, so ist sie in der Durchführung bei Rothe doch von so vielen Schwierigkeiten, ja Befremdlichkeiten begleitet, die dem gegenwärtigen Denken nur schwer zugänglich sind. Um diese Fremdheit verständlich zu machen, bedient sich Verfasserin zweier, nicht unplausibler Verfahrensweisen: Sie bezieht sich einerseits auf den philosophie- und theologiegeschichtlichen Kontext, der die für die Rothe-Zeit eigentümliche Erörterungslage sichtbar macht, dem aber auch zu entnehmen ist, was an Argumenten zugelassen wurde und was nicht. Andererseits versucht sie, durch die Verwendung des Ausdrucks "Selbstbewußtsein" das Organisationsprinzip zu benennen, das seine eigenen Elemente benutzt, um zu Auskünften über sich selber zu gelangen. Die Herstellung eines gedanklichen, eines auch terminologisch einheitlichen Kontextes macht sichtbar, was Rothe, seine Zeitgenossen und seine Lehrer miteinander verbindet, was zu den selbstverständlichen, gemeinsamen Voraussetzungen gehörte und was als klärungsbedürftig empfunden wurde. Bei der Erschließung des rotheschen Konzeptes spricht die Verfasserin der Philosophie Schellings, vor allem in ihrer Spätform, mit Recht eine Führungsrolle zu. Diese Philosophie in ihren späten Texten ist auf verschlungenen Wegen an Rothe gekommen. Sie ist begleitet von konkurrierenden Entwürfen der Zeitgenossen und ermöglicht es Rothe, in inklusiver Weise die vereinheitlichende Kraft eines Bewußtseins zu denken, das sich in der Erfassung der Sachverhalte und Gegenstände immer auch selber miterfaßt. Die schwer auflösbaren Widersprüche, die insbesondere dadurch entstehen, daß der Begriff des sich selbst erzeugenden "Selbstbewußtseins" der Konkurrent des Gottesbegriffes ist, werden zunehmend zum eigentlichen Thema der vorliegenden Arbeit. Es sind Widersprüche, die das Selbstbewußtsein in Dunkelheiten gleiten lassen, die durch das Licht, das in ihm aufleuchtet, nicht mehr erhellt werden können. Zurück bleibt darum die Frage, wie es möglich ist, Gott so zu denken, daß er mit seinem Doppelgänger nicht mehr verwechselt werden kann. Celle, im Juli 1999 Hans-Walter Schütte

Inhaltsverzeichnis Einleitung

1

1.

Der Mensch als Subjekt der Spekulation

22

1.1.

Der Mensch als Gottes Geschöpf

22

1.2. Das Denken 1.2.1. Verstand und Wille 1.2.1.1. Ahnen und Anschauen 1.2.1.2. Denkendes Erkennen und Vorstellen 1.2.2. Vernunft und Freiheit 1.2.3. Spekulation 1.3. Die Frömmigkeit 1.3.1. Religiöse Ahnung und religiöse Erkenntnis 1.3.1.1. Andacht und Kontemplation 1.3.1.2. Theosophie und Weissagung 1.3.2. Theologische Spekulation 1.3.3. Christlich-theologische Spekulation 1.3.3.1. Sünde 1.3.3.2. Offenbarung 1.3 .3 .2.1. Jesus Christus als Objekt der Erkenntnis 1.3.3.2.2. Manifestation und Inspiration 1.4. Ergebnis

35 38 45 47 57 73 89 99 101 110 116 131 131 139 143 148 165

2.

Gott als Subjekt der Spekulation

168

2.1. 2.1.1. 2.1.1.1. 2.1.1.2. 2.1.1.3. 2.1.2. 2.1.3. 2.1.4. 2.1.4.1.

Selbstbewußtsein Das Wesen Gottes Die Charakterisierungen des reinen Seins Das Denken des Absoluten Das Denken des Undenkbaren Reines und affirmatives Sein Gott als Geist Geist und Wesen Persönlichkeit

173 173 173 180 193 200 210 222 222

VIII 2.1.4.1.1. 2.1.4.1.2. 2.1.4.2. 2.1.4.3. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3. 2.2.4. 2.2.5. 2.2.5.1. 2.2.5.2. 2.2.6. 2.3.

Inhaltsverzeichnis

Konstitution Funktion Persönlichkeit und Natur Person und Wesen Ich und Nicht-Ich Nicht-Ich und Nichts Nichts und Ich Das Nicht-Ichts Die Welt Raum und Zeit Die Materie Das Denken als causa sui Das Böse Ergebnis

Quellen und Literaturverzeichnis

222 230 238 246 254 254 274 280 291 299 299 307 322 327 332

Einleitung "Ich lebe allerdings der festen Überzeugung, daß dem Reiche Christi die Erfindung der Dampfwagen und der Schienenbahnen eine weit bedeutendere positive Förderung geleistet hat, als die Ausklügelung der Dogmen von Nicäa und von Chalcedon."1 Dieser Aphorismus ist der am meisten bekannt gewordene Satz aus dem Werk Richard Rothes. Bis heute meint man, mit ihm den Kern seiner Theologie bezeichnen zu können: Das christliche Anliegen besteht demnach nicht in der Konstruktion theologischer Lehrsätze, sondern in der bewußten wie selbstvergessenen Teilnahme am wissenschaftlichen Fortschritt der Menschheit. Das kirchenpolitische Engagement der letzten Lebensjahre Rothes hat dieser Interpretation Vorschub geleistet. Seit 1861 war Rothe außerordentlicher badischer Oberkirchenrat, seit 1863 Mitglied der badischen ersten Kammer. Eine über seine Zeit hinausgehende Berühmtheit hat er als Mitbegründer des Protestantenvereins erlangt. Rothes Vorträge aus dieser Zeit lassen erkennen, daß er der eigentliche Theoretiker dieses Vereins gewesen ist.2 Dessen Ziel bestand demnach darin, auf das Mißverhältnis einer dogmatisch gebundenen Kirche zu einer Öffentlichkeit hinzuweisen, die sich kraft Kultur, Bildung und Politik von dieser Kirche zu emanzipieren im Begriff war, und durch eine Neuinterpretation von Kirche und Gesellschaft das Interesse am eigentlichen Anliegen des Christentums neu zu wecken.3 Rothe war für diese Aufgabe geeignet. Eine der spekulativ entwickelten Thesen seines Hauptwerkes, der Theologischen Ethik, behauptet die fortschreitende Selbstaufhebung der Kirche zugunsten der sich immer vollkommener ausbildenden "religiös-sittlichen" gesellschaftlichen Gemeinschaft.4 Der Übergang eines intramuralen Kirchentums in ein weltoffenes Christentum, das letztlich auf seine kirchliche Gebundenheit verzichten zu können meint, ist fortan ι

2 3 4

Stille Stunden, 344f. (Aus den Werken Richard Rothes wird mit Kurztitel und ohne Angabe seines Namens zitiert. Die Theologische Ethik Rothes wird lediglich durch die Angabe von Band und Seite zitiert.) Vgl. Gesammelte Vorträge und Abhandlungen Vgl. Zur Orientierung, bes.8,15,19,35,41,58, in: Gesammelte Vorträge und Abhandlungen, 1-63 Vgl.11,248

2

Einleitung

unter Berufung auf Rothe zum Tenor einer kirchenpolitischen wie theologischen Neuorientierung geworden, die heute unter dem Namen des Kulturprotestantismus zusammengefaßt wird. Als Positionsbestimmung der Rezeption Rothes kann dessen hundertster Geburtstag im Jahre 1899 verstanden werden. Aus seinem Anlaß und in seinem Umfeld waren eine Reihe von Untersuchungen entstanden, welche die schon in bezug auf die 1. Auflage der Theologischen Ethik laut gewordene Kritik5 an dem spekulativen Gesamtentwurf Rothes aufnehmen und auf die Spitze treiben. 6 Die Spekulation war aus der Mode gekommen. Wie die spekulativen 5

6

Vgl. v.a. Thilo ( Bei Verwendung nur eines Werkes des angegebenen Verfassers wird er ohne Titel zitiert. Werden mehrere Werke eines Verfassers verwendet, wird der im Literaturverzeichnis zuerst genannte Titel ohne Angabe zitiert und die folgenden mit Kurztitel angegeben.) Vgl. Flügel, Flade, Holtzmann (Einige der wesentlichen Argumente dieser Autoren werden im Fortlauf der Arbeit diskutiert.) Die Theologische Ethik Rothes ist in zwei Auflagen erschienen (1. Auflage 1845/48, 2.Auflage 1867/71). Rothe selbst erklärt ihren Zusammenhang in der Vorrede der 2. Auflage folgendermaßen: "So darf ich denn wohl sagen, daß der Leser ein völlig neues Buch empfangt. Von dem früheren sind kaum hier und da einige Mauerstücke stehn geblieben. Nicht daß meine Lehre sich in ihren Grundgedanken und Hauptresultaten geändert hätte, aber ich hoffe, daß sie sich aus ihren Principien heraus wirklich fortgebildet hat" (I,IV). Liest man die 1. Auflage, muß man jedoch feststellen, daß diese mit der 2. in sachlicher Hinsicht in fast allen Punkten übereinstimmt. Die Fortbildung der "Principien" hat Rothe demnach v.a. zu einer Neustrukturierung seines Werkes veranlaßt. Rothe hatte in bezug auf die 1. Auflage mit dem "Zorn" (vgl.I, VII) seiner Rezipienten umzugehen. In der 2.Auflage versucht er darum, der vorgeworfenen "Absonderlichkeit" (vgl. ebd.) seines Werkes so zu begegnen, daß er die genauere formale Konturierung und deutlichere bzw. ausführlichere Argumentation unterstützt durch fortlaufende Verweise auf Philosophen und Theologen. Heesch hat in seiner Arbeit der Rezeptions- und Zitiertechnik Rothes einen eigenen Abschnitt gewidmet, in dem er richtig feststellt, daß der Konsens, den Rothe auf diese Weise in bezug auf einzelne Argumente herzustellen versucht, oftmals einen Dissens in bezug auf den jeweiligen Argumentationszusammenhang zur Voraussetzung hat (vgl. Heesch, 134). Offenkundig hatte Rothe das Bedürfnis, sein solcher starken Kritik ausgesetztes Werk in ganz verschiedenen Hinsichten - und also kraft einzelner Argumente - zu kontextualisieren. Dennoch betont Rothe gerade in der Vorrede zur 2. Auflage die Selbständigkeit seines Werkes gegenüber den Vorwürfen der Abhängigkeit von Hegel und Schleiermacher bzw. Schelling und Schleiermacher (vgl. I,X). Es ist seine Absicht, eine für die Theologie ganz neue Weise des Denkens zu entwickeln. Gerade deswegen aber erklärt Rothe an gleicher Stelle, daß er sich um seiner Selbständigkeit willen, von "Anderen" in jeder Hinsicht belehren ließ (vgl. I,Xf). Wie es also unmöglich ist, Rothes Vorbilder durch die (Häufigkeit der) Verweise im Anmerkungsapparat der

Einleitung

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Entwürfe der populär gewordenen Philosophen Fichte, Schelling und Hegel sich selbst durch immer erneute Anläufe überholten und also fragwürdig machten, so ergab sich im Schatten dieser Großen eine gewisse Müdigkeit, über die sich ergebenden Widersprüche hinweg den Aufflug des Denkens zu einem Prinzip zu wagen, aus dem die Wirklichkeit in toto entwickelt werden könnte. Die aufgehende Blüte der Naturwissenschaften tat das übrige: Angesichts der Fülle von Einzeldaten schien es unmöglich, die Welt kraft eines philosophischen Entwurfes ins System zu bringen. In diesem Sinne fuhrt Holtzmann seine Darstellung des "Spekulativen Systems" Rothes ein: Bei seinem Nachdenken überkomme ihn "eine Art Heimweh nach verlorenen Besitzthümern" und die Rückkehr in diese Welt sei wie eine Einkehr ins Märchen,7 das wohl gerade wegen seiner dauernden Gültigkeit keinen Ort in der Welt haben kann. Gegen einen solchen Grabgesang löste Troeltsch in seiner Gedächtnisrede aus Anlaß der Feier seines hundertsten Geburtstages Rothes geschichts- und zukunftsorientiertes Denken aus seinem - wie er meinte - veralteten, spekulativen Gewände. Er erklärt: "Für den Inhalt seines Denkens ist die theosophische Methode ziemlich belanglos gewesen. "8 In Wahrheit sei es geprägt durch seinen Wirklichkeitssinn, durch "reiches historisches Wissen" und den "OfFenbarungsglaube[n]".9 Die spekulative Methode hingegen habe sein Denken mit

7 8

9

2.Auflage zu eruieren, so muß andererseits davon ausgegangen werden, daß Rothe wie jeder große Denker - aus bestimmten Schulen stammt, die seinem Denken nicht die Eigenständigkeit nehmen, dessen Abbildung auf sie vielmehr gerade seine Selbständigkeit zum Leuchten bringt. Eine solche Verwurzelung des Denkens Rothes hat demnach auch schon in der 1. Auflage bestanden und es muß davon ausgegangen werden, daß er in der 2. Auflage neben den Hinweisen auf punktuelle Analogien auch seine eigentlichen Quellen explizit nennt. Die Absicht der vorliegenden Arbeit liegt demnach v.a. darin, Rothes von ihm selbst betonte Eigenständigkeit auf dem Hintergrund seiner Vorbilder zu erheben. Dabei wird sich zeigen, daß er ein für die Theologie eigenes Programm gerade auf dem Hintergrund der Philosophie des Deutschen Idealismus zu entwickeln sucht. Er weigert sich - wie gezeigt - dagegen, auf die Seite dieser Philosophen gestellt zu werden, baut jedoch - wie schon am Inhaltsverzeichnis zu sehen ist - seine eigene Methode (die Spekulation) von der Philosophie her auf. Wegen der sachlichen Übereinstimmung von 1. und 2. Auflage bezieht sich die vorliegende Arbeit durchweg auf die Letztfassung der Theologischen Ethik. Auf für die Auslegung entscheidende sachliche Differenzen wird am gegebenen Ort Bezug genommen. Vgl. Holtzmann, Villi Troeltsch, 16 (Die Sperrungen im Text sind von mir fortgelassen worden. Dies gilt auch für alle folgenden Zitate, bei denen im Original Sperrungen vorkommen.) Ebd.

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Einleitung

dem "Scheine" immanenter Notwendigkeit verhüllt und es dadurch nicht nur trocken, umständlich und künstlich gemacht, sondern zu gewaltsamen Korrekturen der Wirklichkeit verfuhrt, die seinen geschichtsbezogenen Erkenntnissen die Pointe der "unhistorischefn] Isolierung der als Ziel des Weltprozesses gedachten Lebensinhalte" gab.10 Die Pointe der Geschichte liegt nach Rothe in der Vollendung des teleologisch gerichteten Entwicklungsprozesses der Welt über alle Gemeinschaftsformen hinaus zu einem Staatenorganismus, mit dessen Bürgern sich Gott aufgrund ihrer kraft der vollkommenen Organisation der Wirklichkeit zustande gekommenen Vergeistigung - ohne Aufhebung ihrer Selbständigkeit - identifizieren kann. Der eschatologische Staat ist demzufolge identisch mit dem Reiche Gottes, in das sich die anfänglich rein religiös orientierte Kirche als ihren eigentlichen Zweck aufhebt. Wird dieses geschichtstranszendente Ziel im Sinne Troeltschs - sagen wir - vom Himmel auf die Erde geholt, ergibt sich die dem damaligen Zeitgeist entsprechende Möglichkeit der Akzeptanz "des Unterschieds zwischen der auf sich selbst isolierten und daher in der Kirche Halt und Zusammenschluß suchenden kirchlichen Religion und der die innerweltlichen Aufgaben in sich aufnehmenden und daher in das Gesamtleben eintauchenden kirchenfreien Religion". Als "grosse[r] Grundgedanke" Rothes gilt jetzt "der Satz von der nur vorübergehenden Bedeutung der supranaturalen Heilsanstalt der Kirche mit ihren Dogmen, Riten und Klerikern und von der in seiner Verschmelzung mit der modernen Humanität erst recht erkennbaren ewigen Bedeutung des religiös sittlichen Gehaltes des Christentums."11 Die Vorstellung der Ewigkeit eines von Gott regierten Reiches wird so transformiert in die nur irrtümlich verkennbare, andauernde Religiosität aller Sittlichkeit bzw. Kultur, und die These der teleologisch notwendigen Selbstaufhebung der Kirche wird durch die religiös motivierte Inanspruchnahme innerweltlicher Aufgaben zur Erklärung ihrer Überflüssigkeit. Troeltsch konnte darauf verweisen, daß diese Rothe zugute gehaltene Erkenntnis "von ihm aus in der ganzen neueren Theologie erleuchtend fortwirkt". 12 So ist es denn gekommen, daß die Behauptung des "Unterschiedes von Religion und Kirche"13 unter Berufung auf Rothe bis heute zu einer Abtrennung seiner Kirchenthese von ihren spekulativen Kontext gefuhrt hat.14 10 11 12 13 14

Vgl. Troeltsch, 16f.; vgl. auch Troeltsch, Richard Rothe Troeltsch, 25; vgl.34 Troeltsch, 29 Troeltsch, 29,43 Vgl. Drehsen Bei Rendtorff findet sich eine Weise der Anknüpfung an Rothe, die - über Troeltsch vermittelt - in diesem Jahrhundert richtungsweisend fur die Interpretation seiner Kirchenthese geworden ist. Genauso wie Rothe erklärt Rendtorff die epochale Bedeutung

Einleitung

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Nach Rothe jedoch liegt der "Fortschritt" der Menschheit keineswegs schon als solcher in der Befreiung von kirchendogmatisch begründeter Bevormundung zu einer weltlich-religiösen Modernität. "Dampfwagen" und "Schienenbahnen" sind Zeichen dieses Fortschrittes nur, sofern sie Ausdruck der Zunahme der Fähigkeit der "Spekulation" der Menschheit sind. Die Abwertung der Dogmen von Nicäa und Chalcedon favorisiert also nicht weltliche Praxis gegenüber theologischer Theorie, sondern kritisiert ihre falsche Entgegensetzung. Die Dogmatik ist nach Rothe (im Anschluß an Schleiermacher) eine rein historische Disziplin. 15 Die Dogmen, von denen sie handelt, sind "Lehrsätze, in welchen die Kirche selbst ihr eigenthümlich bestimmtes frommes Bewußtsein auf gemeingültige Weise in verstandesmäßiger Form ausgesprochen hat."16 Wird die Kirche als ausschließlich religiöse Institution verstanden, die sich von allem (notwendigerweise) weltlichen Handeln freizuhalten hat, 17 dann fehlt ihren Dogmen genau das, was das Denken nach Rothe als spezifisch menschliches kennzeichnet: das angemessene Verhältnis von Denken und Wollen, welches das Denken selbst zum Handeln macht. Es ist ursprünglich Rothes Absicht gewesen, sein schließlich als "Theologische Ethik" benanntes Hauptwerk "Spekulative Theologie" zu nennen. 18 Trotz der breiten Ausführung der Pflichtenlehre, 19 die, gesondert betrachtet,

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der Reformation dadurch, daß mit ihr das kirchliche oder christliche Bewußtsein aus der Kirche in die Welt ausgewandert sei (vgl. Rendtorff, 61ff.). Rothe entsprechend muß dem "dogmatischen Zeitalter des Christentums, das zugleich auch sein allein kirchliches gewesen ist" (Rendtorff, 68), der Abschied gegeben werden. Als zeitgemäße Alternative zur Dogmatik nennt Rendtorff die Politik bzw. "politische Theologie", der die Aufgabe obliegt, "in den Institutionen, Rechtsprozessen, leitenden Zielsetzungen der Gesellschaft die Folgen der Libertas Christiana zu entdecken oder produktiv werden zu lassen" (Rendtorff, 68f ). Bei Rothe tritt an die Stelle der Dogmatik die Spekulation, die, von der Welt einen Schritt zurücktretend, ihren Ursprung in Gott wie die Entwicklung der Welt bis hin zum Eschaton apriorisch zu konstruieren weiß. Daraus erst ergibt sich die Möglichkeit, die eigene Gegenwart und d.h. den Grad der Vermittlung von Christentum und Gesellschaft zu eruieren. Dieser systematische Kontext fehlt bei Rendtorff. Die Möglichkeit einer theologischen Analyse der Wirklichkeit ergibt sich statt dessen aus einem direkten Verhältnis zu dieser. Auf solche Weise wird die These der Entkirchlichung des Christentums unter Berufung auf Rothe (vgl. Rendtorff, 136) aus ihrem spekulativen Zusammenhang genommen und damit per se als das Ergebnis der erfahrungsgebundenen Analyse von Kirche und Gesellschaft bewertet (vgl. Rendtorff, 83f.). Vgl.I,61ff.

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1,62

17 18 19

Vgl.11,247 Vgl.I,VI III,349-V

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Einleitung

als Ethik im traditionellen Sinne interpretiert werden kann, wird uns hier ein universales System geboten, das als "wissenschaftliche[r] Inbegriff der eigentümlichen Gedanken von Gott und der Welt" gelten soll.20 Die Möglichkeit, diese Wissenschaft dennoch "Ethik" zu nennen, liegt demnach im Charakter der Spekulation. Das Denken als Handeln macht die Theologie zur Ethik.21 Wie zu zeigen sein wird, versucht Rothe auf diese Weise den für die Kantsche Philosophie konstitutiven Unterschied von praktischer und theoretischer Philosophie aufzuheben. Ist demzufolge sein System durch ein Verhältnis von Denken und Sein bestimmt, das beide und damit die gesamte Wirklichkeit aus einem Prinzip zu erklären sucht, kommt man nicht umhin, Rothe im Kontext des Deutschen Idealismus zu interpretieren. Wegen des besonderen Charakters des durch diese Epoche initiierten Denkens ist es darum nicht ohne eine Entstellung seines Anliegens möglich, einzelne Gedanken seines spekulativen Systems aus ihrem Kontext zu lösen und als erfahrungsbezogene Erkenntnisse zu interpretieren. Im Zusammenhang der Entwürfe seiner Vorgänger ist Rothes Spekulative Ethik angemessen nur als universale Selbstbewußtseinstheorie zu verstehen. Die Möglichkeit wie die Bedeutung der "Kirchenthese" kann deswegen nur auf dem Hintergrund des Gesamtentwurfes Rothes erörtert werden.22 Es ist nicht die Aufgabe der vorliegenden Arbeit, sich mit Rothes Begriff von der Kirche und dem ihm korrespondierenden Begriff des Staates zu beschäftigen. Die Konturierung dieser Begriffe ist jedoch - nicht zuletzt wegen ihrer Popularität - nützlich, um eine Vorstellung von der Komplexität der Spekulation Rothes zu bekommen. In seinem 1837 erschienenen, kirchengeschichtlich orientierten Werk über "Die Anfänge der Christlichen Kirche und ihrer Verfassung" übernimmt Rothe für sein eigenes System ausdrücklich den Staatsbegriff Hegels. Gegen die "frühere blos negative Vorstellung vom Staat" als einer "Veranstaltung der Noth zum Schutz des Lebens, des Eigenthums und der Willkür der Einzelnen" kann der Staat der Moderne "als die Wirklichkeit des sittlichen Lebens" ver20 21 22

I,VI Vgl.1,61-65.II,94f.,110 Es ist eigentlich unmöglich, im Nachhinein über die Absicht eines Werkes Auskunft zu geben und da Rothe - wie zitiert - die Ethik aus "inneren Principien" entwickelt zu haben vorgibt, hätter er selbst eine solche Frage gewiß abgelehnt. Sieht man sich den historischen Kontext Rothes an, liegt es jedoch nahe, davon auszugehen, daß es ihm wie vielen seiner theologischen Kollegen - darum gegangen sein mag, Kirchlicher Dogmatik für das aus der Kirche herausstrebende Bildungsbürgertum Akzeptanz zu verschaffen. Für ein solches Vorhaben boten Methode und Argumentationszusammenhänge des Deutschen Idealismus einen fruchtbaren Boden - konnten Sie doch selbst als Kritik traditionellen kirchlichen Denkens auf höchstem intellektuellen Niveau verstanden werden.

Einleitung

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standen werden. 23 Diesem Staatsbegriff entspricht der bereits beschriebene Begriff einer Kirche, die als Institut reiner Religiosität mit der - nach Rothe erst eschatologisch vollkommenen - religiösen Sittlichkeit des Staates überflüssig wird. 24 Die Notwendigkeit einer solchen Kirche ergibt sich aufgrund der Sünde, die als Störung der - sagen wir - Ordnung der Schöpfung verstanden werden muß. D.h.: Ursprünglich ergibt sich aus der spekulativen Entwicklung des Absoluten ein Begriff von Welt, deren Subjekte dem durch ihre sittliche Vollkommenheit ausgezeichneten Ziel der Geschichte zustreben. Der Menschheit eignet demnach eine immanente Religiosität, denn die Vervollkommnung der Sittlichkeit ist identisch mit der Organisation der Welt, die sie der Einwohnung Gottes bereitet. Ausdrücklich wird diese Religiosität erst durch die Offenbarung in Jesus Christus, die eine die Korrektur des Geschichtsverlaufes bezweckende Antwort auf die faktisch unumgängliche Sünde des Menschen ist. Anders gesagt: Der Mensch beginnt sein Leben nach Rothe notwendigerweise als Sünder.25 Dadurch verliert seine Geschichte ihr Telos, das ihr nur durch göttlichen Eingriff zurückgegeben werden kann. Aufgrund mangelnder rechter Sittlichkeit bzw. "Moralität" aber ist die spontane Antwort des Menschen auf die Offenbarung lediglich rein religiöser Natur. Als Institut dieser Religiosität gilt - wie beschrieben - die Kirche. Entspricht ihr mit zunehmender Vermittlung von Religion und Sittlichkeit der Staat als "Wirklichkeit des sittlichen Lebens", so unterscheidet Rothe von diesem den "bloße[n] Rechtsstaat", der als die Ordnung "moralische... [r] Abnormalität" die historische Voraussetzung von jenem ist.26 Der Kirche, wie sie die irdische Antwort auf die Offenbarung ist, korrespondiert demzufolge primär nicht der sittliche Staat, sondern eine durch Despotismus ausgezeichnete Rechtsordnung als Ordnung der Sünde, die sich erst mit zunehmender Vermittlung demokratisiert und kraft der Sittlichkeit seiner Bürger letztlich überflüssig wird. Müssen wir demzufolge in Rothes System zwei Staatsbegriffe voneinander unterscheiden, so gibt es andererseits zwei Begriffe von der Kirche. Obwohl die Geschichte des Menschen nur mit der Sünde anheben kann, definiert Rothe - aufbauend auf der "normalen" Entwicklung der Menschheit - einen Begriff von Frömmigkeit unter den Bedingungen der Normalität, dem ebenso eine Kirche entspricht. Dem durch die Sünde notwendigen Institut reiner Frömmigkeit wird so ein Begriff von Kirche beigesellt, deren reine Religiosität trotz sittlicher Normalität gerechtfertigt werden muß. Rothe greift dafür zu der Erklärung, daß es auf der Welt "natürliche" Verschiedenheiten zwischen den Menschen gebe, die "Scheidewände" einer einheitlichen Sittlichkeit darstell23 24 25 26

Anfänge, 13 Vgl.II,247ff.,256f.,459.III,187ff. Vgl.III.lff. II,426f.; vgl.II, 427ff.III,81ff.

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Einleitung

ten. 27 Die reine Religiosität der Kirche wird darum für eine Einheit der Menschheit in Anspruch genommen, die das Fundament der sich entwickelnden menschheitlichen Sittlichkeit ist. Rothe zieht zur Erläuterung seines Begriffes vom Staat als Sündenordnung Schellings späte Ausführungen über den Staat als heilsame Ordnung gegen die Sünde heran.28 Schelling hat im Laufe seines Lebens drei verschiedene Begriffe vom Staat entwickelt. In der Einleitung in die Philosophie der Mythologie, auf die Rothe sich bezieht, definiert er zuletzt den Staat als "äußere mit zwingender Gewalt ausgerüstete Vernunftordnung", deren Gesetz nicht von Menschen ist.29 Durch seine Sünde löst sich der Mensch aus der schöpfungsmäßig gegebenen Vernunftordnung und bringt diese demzufolge als Strafordnung gegen sich auf: "Man kann sagen: die intelligible Ordnung der Dinge, von der der Mensch sich lossagt, ist dieser dem Staat schuldig geworden."30 Diese Staatsordnung ist nach Schelling unaufhebbar: "Er [der Staat] hat ... eine Wurzel in der Ewigkeit, und ist die bleibende, nie aufzuhebende, weiterhin auch nicht mehr zu erforschende Grundlage des ganzen menschlichen Lebens und aller ferneren Entwicklung".31 Der Staatsbegriff des jungen Schelling ist dieser gewissermaßen pessimistischen Fassung diametral entgegengesetzt. Im Anschluß an Kant, dessen Ideen der praktischen Vernunft durch die rechte Interpretation der theoretischen ein Platz im System eingeräumt werden sollte, meint Schelling (ebenso wie Fichte) eine "vollkommen gerechte Ordnung" als Ziel der Geschichte annehmen zu können, die durch ein im Staat repräsentiertes Naturgesetz verwirklicht werden kann.32 Grund der Annahme dieser Teleologie ist Schellings Identitätsphilosophie. Ihr entsprechend streben alle individuellen Interessen dem Ziel der Geschichte zu, weil ihnen "eine absolute Synthesis" gemeinsam ist:33 "Daß aus dem völlig gesetzlosen Spiel der Freiheit, das jedes freie Wesen, als ob kein anderes außer ihm wäre, für sich treibt (welches immer als Regel angenommen werden muß), doch am Ende etwas Vernünftiges und Zusammenstimmendes herauskomme, was ich bei jedem Handeln vorauszusetzen genöthigt bin, ist nicht zu begreifen, wenn nicht das Objektive in allem Handeln etwas Gemeinschaftliches ist, durch welches alle Handlungen der Menschen zu Einem harmonischen Ziel gelenkt werden, so, daß sie wie sie sich auch anstellen mögen, und wie ausgelassen sie ihre Willen üben, doch ohne, und selbst wider ihren Willen, durch eine ihnen verborgene Nothwendigkeit, durch welche es zum voraus bestimmt ist, daß sie eben durch das Gesetzlose des Handelns, und je gesetzloser es ist, desto gewisser, eine Entwicklung des Schauspiels herbeiführen, die sie selbst nicht beabsichtigen konnten, dahin müssen, wo sie nicht hin wollten".34

27 28

29 30 31 32 33 34

Vgl.I,237,243f. Vgl.II,429; Schelling, XI,533ff. Ebenso wie die Theologische Ethik Rothes werden "Schellings Werke" gemäß der Originalausgabe lediglich nach Band und Seite zitiert. Schelling, XI,533 Schelling, XI,547 Schelling, XI,550 Vgl. Schelling, III,582f.,591f. Vgl. Schelling, 111,398 Schelling, 111,598

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Ist demnach in dieser frühen Fassung der Identitätsphilosophie die Sünde lediglich eine Bestätigung des Systems, so scheint gemäß dem dritten Begriff des Staates aufgrund der andauernden Entgegensetzung von intelligibler Ordnung und Sünde dieses System selbst infrage zu stehen. Der zweite, von Schelling entworfene Staatsbegriff weist dagegen eine Vermittlungsposition auf. Mit ihm versucht er, trotz der Berücksichtigung einer fundamentalen Irritation des Systems durch die Sünde, das teleologisch formulierte Ziel der Geschichte beizubehalten. In den Stuttgarter Privatvorlesungen wird die Folge der Sünde als Verlust des "wahren Einheitspunkt[es]" der Menschheit erklärt, der nichts anders gewesen wäre als der "Mittelpunkt" einer Einheit, die Gott selber ist.35 Weil Gott nicht mehr die Einheit der Menschheit sein kann, ist diese gezwungen, sich selbst eine "Natureinheit" zu suchen, "die aber, weil sie wahre Einheit für freie Wesen nicht sein kann, nur ein ... zeitliches, vergängliches Band ist".36 "Die Natureinheit, diese zweite Natur über der ersten, zu welcher der Mensch nothgedrungenermaßen seine Einheit nehmen muß, ist der Staat; und der Staat ist daher, um es gerade heraus zu sagen, eine Folge des auf der Menschheit ruhenden Fluchs."37 Die angemessene Staatsform ist deshalb der Despotismus.38 Diesem Staatsbegriff entspricht ein Begriff der Kirche. Die durch den Menschen aufgehobene Einheit Gottes kann durch Gott wiederhergestellt werden kraft seiner Offenbarung, die deswegen innerhalb des Systems mit 'philosophischer Notwendigkeit' gedacht werden muß. Das Institut einer solchen Offenbarung aber ist die Kirche: "Dem Staat als Versuch die bloß äußerliche Einheit hervorzubringen steht, durch die Offenbarung gegründet, eine andere Anstalt entgegen, die auf die Hervorbringung einer inneren oder Gemüthseinheit geht, die Kirche. Sie ist nothwendige Folge der Offenbarung, eigentlich nur die Anerkennung einer solchen. Die Kirche kann aber nach der einmal eingetretenen Trennung zwischen innerer und äußerer Welt keine äußere Gewalt werden, vielmehr wird sie, solange jene Trennung besteht, von der Macht des Aeußeren immer mehr nach innen gedrängt werden."39 Aufgabe der Kirche ist es dementsprechend, "in ihrer Reinheit von allem Aeußeren zu bleiben."40 Nur, wenn die Kirche darauf verzichtet, die Mittel der staatlichen Sündenordnung für sich in Anspruch zu nehmen, ist sie in der Lage, den Staat selbst derart religiös zu prägen, daß er letztlich überflüssig wird: "Was auch das letzte Ziel sein möge, so ist so viel gewiß, daß die wahre Einheit nur auf dem religiösen Wege erreichbar seyn kann, und daß nur die höchste und allseitigste Entwicklung der religiösen Erkenntniß in der Menschheit fähig seyn wird, den Staat, wo nicht entbehrlich zu machen und aufzuheben, doch zu bewirken, daß er selbst allmählich sich von der blinden Gewalt befreie, von der er auch regiert wird und sich zur Intelligenz verkläre. Nicht daß die Kirche den Staat oder der Staat die Kirche beherrsche, sondern daß der Staat selbst in sich das religiöse Prinzip entwickle, und der große Bund aller Völker auf der Grundlage allgemein gewordener religiöser Überzeugungen beruhe."41 35 36 37 38 39 40 41

Vgl. Schelling, VII,461 Schelling, VII,461 Schelling, VII,461 Vgl. Schelling, VII,462 Schelling, VII,463f. Schelling, VII,464 Schelling, VII,464f. Habermas hält diese Theorie vom Staat für "anarchistisch" (Habermas, 175) und unterstellt Schellings in ihr bereits implizit enthaltener Unterscheidung von positiver und negativer Philosophie mit der Interpretation der positiven als einer praxisorien-

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Die Ähnlichkeit dieser Konstruktion mit derjenigen Rothes ist verblüffend. Auch nach Schelling wird die Kirche als rein religiöse Institution verstanden, der ein Staat als Sündenordnung entspricht. Hier wie dort aber hat die Kirche die Funktion, den Staat durch seine religiöse Prägung letztlich überflüssig zu machen. Rothe hat seine Konzeption der Kirche nicht in direkter Anknüpfung an Schelling entwickeln können.42 Es könnte darum sein, daß beide unabhängig voneinander dieselbe Quelle benutzt haben. Naheliegender ist jedoch die Annahme, daß sich ein solcher KirchenbegrifF in der Zeit Rothes (und Schellings) von seiner ursprünglichen Quelle gelöst hatte und beiden sozusagen anonym zur Verfugung stand. Die strukturelle Entsprechung Rothes zu Schelling jedenfalls impliziert die Konsequenz, daß der durch Rothe populär gewordene Kirchenbegriff nicht originär von ihm entwickelt worden ist. Der Zusammenhang, in den Rothe ihn eingliedert, zeigt, daß er seinem ursprünglich ausdrücklich durch Hegel geprägten Begriff vom Staat einen solchen Staatsbegriff vorordnet, dem ein Begriff der Kirche entspricht, wie ihn auch Schelling verwendet. Darüberhinaus ist festzustellen, daß auch die Geschichtskonzeption, die Schelling zu einer solchen Definition der Kirche veranlaßte, derjenigen Rothes weitgehend entspricht.43 Die Verknüpfung des Hegeischen Staatsbegriffes mit diesem besonderen Staats- bzw. Kirchenbegriff ermöglicht es Rothe jedoch, die Weise der Transformation des Staates deutlicher zu konturieren. Strebt auch nach Schelling die Entwicklung der Menschheit dem Reiche Gottes zu, so ist es Rothe möglich, dieses Reich Gottes als politische Ordnung zu bestimmen. Nur deswegen rekurriert Rothe ausdrücklich auf den dritten und nicht den zweiten Staatsbegriff Schellings. Obwohl also seinem Kirchenbegriff eigentlich ein Staat entspricht, der "nur ein ... zeitliches, vergängliches Band ist", hat er doch "eine Wurzel in der Ewigkeit", die nun aber nicht die andauernde Entgegensetzung von Natureinheit und intelligibler Ordnung manifestiert, sondern die Transformation jener in diese ausdrücken soll.

42

43

tierten Philosophie eine kommunistische Tendenz (vgl. Habermas, 172ff.). Wir werden bei der Rekonstruktion der Spekulation Rothes noch einmal auf seinen von Schelling übernommenen Begriff vom Staat zurückkommen und es wird sich zeigen, daß diese Konsequenz für Rothe in einem anderen Sinne ebenfalls zu ziehen ist. Die Suttgarter Privatvorlesungen sind erstmalig in der 1856-61 erschienenen Gesamtausgabe der Werke Schellings veröffentlicht (vgl. Literaturverzeichnis). Der Kirchenbegriff Rothes hat jedoch bereits in der 1. Auflage der Theologischen Ethik seinen festen Ort (vgl. 1.Auflage Bd.II, 89ff, 145f., 154f.). Diese Konzeption ist bereits in der Freiheitsschrift Schellings ausgebildet und hat Rothe demzufolge schon vor der 1. Auflage der Theologischen Ethik vorgelegen (vgl. Literaturverzeichnis).

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W o sind wir hingelangt? Ein Vergleich des Kirchenbegriffes R o t h e s mit demjenigen Schellings zeigt uns den Ort, an den die Geschichtskonzeption Rothes gehört. Damit ist eine theologie- bzw. philosophiegeschichtliche Einordnung w i e eine Erklärung seiner originellen Struktur möglich. Genauso w i e nach Rothe teilt die Offenbarung nach Schelling die Geschichte in z w e i E p o chen, nämlich in die der Verfallenheit des Menschen an die Sünde und in die ihrer "Wiedererhebung". 44 Insofern j e d o c h die Sünde eine Störung des S y s t e m s der Geschichte darstellt, versucht Rothe, die Erkenntnisbedingungen des M e n schen unter Absehung v o n Sünde und Offenbarung zu deduzieren. Aufgrund der Entwicklung der Abnormalität des D e n k e n s aus seiner Normalität ist er darum genötigt, auch die Frömmigkeit unter den Bedingungen der Normalität zu konstruieren. A u f dieser Grundlage erst ergibt sich die Möglichkeit, die beiden E p o c h e n der faktischen Geschichte der Menschheit, d.h. den Verlust des "Einheitspunktes", den der M e n s c h ebenso w i e bei Schelling innehat, w i e auch seine Wiedergewinnung im Sinne einer Restitution der normalen Er-

44

Vgl. Schelling, VII,463 Da sich Rothe in der 1. Auflage der Theologischen Ethik im wesentlichen nicht auf seine Quellen bezieht, kann nicht ausgemacht werden, inwiefern sein spekulativer Geschichtsentwurf in direkter Abhängigkeit von Schelling entstanden ist. Die strukturelle Ähnlichkeit einerseits und die Tatsache, daß Rothe bereits als Student in Heidelberg durch seinen Lehrer Daub mit der Philosophie des späten Schelling konfrontiert worden ist (vgl. Hausrath, Bd.I,52; zu Schellings Einfluß auf Rothes Denken auch Birkner, 19ff.), läßt auf eine genaue Kenntnis seiner Werke schließen. Wie im Folgenden evident wird, ist es Rothes Absicht, die für die Theologie originäre Methode der Erkenntnis auf dem Hintergrund einer philosophischen Erkenntnislehre zu entwickeln, deren Vorbild ganz offenkundig der Deutsche Idealismus gewesen ist. Es ist gezeigt, daß sich Strukturähnlichkeiten v.a. in der Spätphilosophie Schellings finden (die Rothe kombiniert mit frühidealistischen Elementen). Trotz einer deutlichen sachlichen Abhängigkeit von Schelling kann jedoch nicht angenommen werden, daß Rothe jeden einzelnen der von ihm verwendeten Begriffe direkt aus der Philosophie Schellings übernommen hat. Zur Zeit der Entstehung der Theologischen Ethik Rothes hatte die Philosophie der Idealisten bereits eine gewisse Popularität erreicht, die einen freien und vielleicht inflationären Umgang mit den Begriffen dieser Philosophie ermöglichte. Grundbegriffe und Argumentationsstrukturen des Deutschen Idealismus waren darum auch in der theologischen Umgebung Rothes zuhanden. Um jedoch die Besonderheit des Denkens Rothes zu eruiren, ist es nicht tunlich, ihn von anderen zeitgenössischen theologischen Konzeptionen her zu interpretieren. Da er faktisch ein theologisches Programm vor dem Hintergrund des Deutschen Idealismus entwickelt, konturiert sich sein Denken am deutlichsten, wenn man es auf diesem Hintergrund - und d.h. auf die Ausprägungen des Deutschen Idealismus, die Rothes Spekulativer Theologie am nächsten liegen - abbildet. In diesem Verhältnis kann auch am klarsten gezeigt werden, zu welchen Konsequenzen Rothe durch bestimmte Voraussetzungen, die er als Theologe macht, in der Variation eines urtypisch idealistischen Schemas genötigt ist.

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kenntnisbedingungen zur Erreichung des ursprünglichen Zieles der Geschichte zu denken. Daraus folgt: Die faktische Möglichkeit der Frömmigkeit und der Spekulation des Menschen, die kraft der Offenbarung zustande kommt, muß aus den Bedingungen der Erkenntnis bzw. Frömmigkeit entwickelt werden, die dem Menschen "normalerweise" zur Verfügung stehen. Dementsprechend ist der Aufriß der Erkenntnislehre, wie ich sie im l.Teil der Arbeit darstellen und diskutieren werde, strukturiert: Mit dem Fortgang sowohl seiner individuellen als auch der universalen Geschichte entwickelt der Mensch über verschiedene Stufen des Denkens hinweg die Fähigkeit der Spekulation, die ihn zum Subjekt der Geschichte macht. Die Spekulation gilt dabei als diejenige Weise des Denkens, in welcher der Mensch von der extramentalen Wirklichkeit unabhängig rein aus sich selbst zu denken in der Lage ist. Damit sind die Bedingungen geschaffen, das Verhältnis des Menschen zu Gott als religiöse Variante aller seiner Denkweisen wie auch der Spekulation zu beschreiben. Die Deduktion der Sünde setzt die Möglichkeit dieses religiösen Denkens voraus. Auf seinem Hintergrund werden demnach die Weisen des Denkens als ihre Verderbnis variiert. Daraufhin muß gezeigt werden, wie der Mensch kraft der Offenbarung in der Lage ist, die ursprüngliche Möglichkeit rechten Denkens wiederzuerlangen. Um der Vermittlung über Jesus Christus willen muß die Spekulation, welche die eigentliche Pointe der Erkenntnislehre darstellt, christologisch gebunden sein. Wie gezeigt, entspricht die Spekulative Ethik im Prinzip dem Geschichtsentwurf, wie ihn Schelling in der Freiheitsschrift und den Stuttgarter Privatvorlesungen entwickelt hat. Die Diskussion der Argumente Rothes wird jedoch zeigen, daß er sich damit durchaus nicht als Adaptor des ausklingenden Idealismus verstehen wollte. Schon der Einsatz der vorliegenden Abhandlung bei der naturphilosophisch gefärbten Schöpfungslehre macht offenbar, daß Rothe diesen Rahmen mit Motiven des frühen Idealismus zu füllen sucht. Er übernimmt jedoch nicht nur bestimmte Themen des frühen Idealismus. Ist die Ethik im beschriebenen Sinne Ausdruck Spekulativer Theologie, müssen wir ihn so verstehen, daß er ein aus der Tradition des Christentums übernommenes Motiv, nämlich die Geschichte des Menschen als Sünder, in ein durch den Anspruch des absoluten Rationalismus dem frühen Idealismus gemäßes System zu integrieren sucht. Stellt seine Anthropologie darum den Versuch dar, das factum der Sünde in eine Selbstbewußtseinstheorie zu integrieren, so ist dementsprechend die Theologie ebenfalls als Selbstbewußtseinstheorie konzipiert, der aber auch ein traditionell theologisches Moment beigefügt wird. Nach Schellings in den Stuttgarter Privatvorlesungen vorgelegtem Entwurf entwickelt sich das Selbstbewußtsein Gottes konform mit dem des Menschen und mittels seiner. Gottes Personsein ist demzufolge eine eschatologische Größe. Rothe entspricht grundsätzlich dieser Konzeption Schellings, indem

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auch in seinem System eine Theogonie gedacht werden muß, in der sich Gott in Relation auf ein ihm vorausgesetztes Wesen konstituiert. Er unterscheidet sich jedoch fundamental von Schelling, indem diese Theogonie vor dem B e ginn der Schöpfung vollbracht gedacht werden soll. Damit ergibt sich in gewissem Sinne eine Doppelung. Der Pointe der Anthropologie gemäß vollendet sich das Selbstbewußtsein Gottes mit der Einwohnung in dem eschatologisch zustande gebrachten Selbstbewußtsein der Menschheit. Dieser Vollendung jedoch geht die Entwicklung des absoluten Selbstbewußtseins Gottes voraus, wie es Bedingung der Schöpfung ist. Die Schöpfung soll als personaler Akt Gottes gedacht werden. Die Absicht Rothes ist es also, dem Theismus einen Ort in seinem spekulativen System einzuräumen. 45 Rothe steht mit dem Konzept eines Spekulativen Theismus nicht allein. Er gehört zu einer Gruppe von Theologen, die im Ausgang des Deutschen Idealismus dessen Systemanspruch mit der theologisch traditionellen These der Personalität Gottes zu kombinieren suchten. Die Systementwürfe von Christian Hermann Weiße, Immanuel Hermann Fichte, Rudolph Hermann Lotze und Hermann Ulrici werden in Rothes Anmerkungsapparat ausfuhrlich referiert. Das Ziel dieser Theologen bzw. Philosophen war es, einen Theismus zu begründen, "welcher in der Idee der absoluten Persönlichkeit Gottes die Selbsterfassung Gottes mit seiner wirksamen Allgegenwart, oder die Transzendenz mit der Immanenz vermitteln sollte."46 Bei genauerer Hinsicht zeigt sich in bezug auf einige Argumente vor allem eine Ähnlichkeit Rothes mit Weiße.47 Dieser wird von Pfleiderer zusammen mit I.H.Fichte und Rothe dem "Neu-Schellingianismus" zugeordnet.48 Insofern Rothes Ethik aber in entscheidenden Punkten von diesen beiden Denkern abweicht, wird er im Folgenden nicht in Relation zu diesen seinen Genossen diskutiert. Für eine Beurteilung der Tragkraft wie der Absicht seiner Spekulation ist es sinnvoller, ihn auf den gemeinsamen Grund dieser Denker, nämlich die Philosophie Schellings bzw. - wo Rothe sich an diesen Vorgänger anschließt - auf die Entwürfe der Wissenschaftslehre Fichtes abzubilden.49

45 46 47

48 49

Vgl.I,122f.,170,204ff.,238 Baur, 408; vgl. Pfleiderer, 234 Vgl. Pfleiderer, 218ff.,229 Z.B. kann man auf die Annahme der Erschaffung der Welt mittels eines Grundes hinweisen, den Weiße genauso wie Rothe als "Materie" definiert, welche als "Nichtich Gottes" verstanden werden soll (vgl. Weiße, I,686f). Die daraufhin notwendige Materialität der Welt ist beiden Denkern der Grund des Bösen in der Welt (vgl. Weiße, II,405ff.). Die Begründungsstruktur bei Rothe divergiert jedoch vollkommen von derjenigen bei Weiße. Vgl. Pfleiderer, 218ff. Die vorliegende Arbeit interpretiert Rothe nicht in bezug auf seinen direkten historischen Kontext. Auf diese Weise würde man wohl zur Erhellung einzelner Abhängigkeiten bzw. Parallelen gelangen. Es geht jedoch darum, Rothes Argumentation in ihrem Gesamtzusammenhang zu erfassen, der ursprünglich deutlich aus dem Deutschen Idealismus stammt. Arbeiten dieser Art sind erstmalig von Birkner und Heesch vorgelegt worden. Birkner beschränkt sich jedoch auf die großlinige Einweisung der Spekulativen Theologie Rothes in den Kontext des Deutschen Idealismus, Heesch

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Damit ergibt sich die Struktur der Gotteslehre: Mit der Möglichkeit der christlich-theologischen Spekulation ist der Mensch in der Lage, die Theogonie zu rekonstruieren. Über eine Reihe von Stufen hinweg entwickelt sich das Selbstbewußtsein Gottes, das dem des Menschen strukturell vollkommen entspricht. Der Mensch ist im Prinzip nur dadurch von Gott unterschieden, daß dieser der Grund seines Selbstbewußtseins ist, wohingegen sich Gott als Subjekt seiner selbst in Relation auf ein ihm vorausgesetztes Wesen zu Selbstbewußtsein bilden muß. Wie gezeigt ist die Vollendung des Selbstbewußtseins Gottes die Bedingung der Möglichkeit der Schöpfung. Schon die Gliederung macht deutlich, daß Rothe sie mittels des Gedankens des Nicht-Ich, der von Fichte stammt, denken will. Das daseiende Nicht-Ich als Gottes kontradiktorischer Gegensatz gilt als Grund, aus dem die Welt Schritt für Schritt entwickelt werden soll. Wird das Nicht-Ich als Materie definiert, so ergeben sich durch den ersten schöpferischen Akt Gottes, der sich darauf bezieht, Raum und Zeit. Auf diese Weise werden Raum und Zeit zu extramentalen Realitäten, die als erste Kreatur Gottes die Form alles weltlichen Seins bilden. Somit ist der Kreis der Erörterung geschlossen. Raum und Zeit stellen bereits das Problem der Erkenntnislehre dar, weil sie nach Rothe eines jeglichen ideellen Gehaltes entbehren. Die Potenzierung seiner Möglichkeiten des Denkens zur Spekulation durch den Menschen ist nötig, weil Raum und Zeit die Einwohnung in die Welt des durch vollendete Ideellität ausgezeichneten Gottes verhindern. Mit seiner Befreiung von der extramentalen Realität streift deswegen der Mensch Raum und Zeit gleichsam von den zu denkenden Gegenständen ab und bereitet sie der Einwohnung Gottes. Um diese Möglichkeit verstehen zu können, sei im Vorhinein ein Blick auf die Methode des Denkens Rothes, die Spekulation, geworfen. Es muß als Verdienst Birkners gewertet werden, die geschichtliche Gebundenheit der Spekulation Rothes erkannt zu haben.50 D.h.: Spekulation ist nach Rothe ein Denken, "rein aus sich selbst heraus, ohne daß ... [ihm] von außer sich her ein Objekt gegeben zu sein braucht".51 Die Möglichkeit eines solchen Denkens

50

51

überzeichnet Rothes Theologie durch ihre einseitige Interpretation auf dem Hintergrund der Identitätsphilosophie Schellings. Eine Untersuchung der Gotteslehre ist von keinem der bisherigen Rothe-Rezipienten geleistet worden - obwohl gerade sie Aufschluß über den Typ der Spekulation Rothes im Ganzen gibt. Vgl. Birkner Dieser Arbeit schließt sich im Prinzip diejenige von Heesch an. Auch die Pointe seiner Untersuchung liegt darin, die Geschichtlichkeit der Spekulation Rothes zu erweisen. Darüber hinaus macht er - wie gesagt - die frühe Erkenntnis des "Schellingianismus" des Systems Rothes für seine Interpretation fruchtbar. Wesentliche Argumente beider Rezipienten sollen im Folgenden referiert werden. 11,59

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aber ist das Ergebnis einer Geschichte, in der dem Menschen die Aufgabe obliegt, sich die Gegenstände der Welt als Instrumente des eigenen Organismus anzueignen. Da die Spekulation identisch mit dem Vollzug des Selbstbewußtseins ist, muß unter Selbstbewußtsein das dem Denken intramental gewordene Weltbewußtsein verstanden werden. Die Spekulation ist darum insofern von der Welt unabhängig, als dem Denken, das seiner fähig ist, alles zu Denkende intramental zur Verfugung steht. Rothe schließt sich mit der Definition der Methode seiner Theologie als Spekulation zusammen mit den anderen Spekulativen Theisten an die Philosophie des Deutschen Idealismus an. In Übereinstimmung mit dem späten Schelling52 war es sein Ziel53 wie auch dasjenige von Weiße und I.H.Fichte54, der Theologie philosophische Akzeptanz zu verschaffen.55 Der Begriff der Spekulation war bereits in der frühen Phase des Deutschen Idealismus zu Bedeutung gelangt. Ist er von Schelling - anfanglich in Kommunikation mit Hegel - 56 in seiner Bedeutung immer wieder variiert worden, so darf doch als sein eigentlicher Sinn bei beiden Denkern gelten, daß es sich um die Erkenntnis des Absoluten als höchster Form der 52 53 54 55

Vgl. Schelling, Paulus, 97 Vgl.I,54f. Vgl. Baur, 408f. Aufgrund der ausdrücklichen Breite der Naturphilosophie in der Theologischen Ethik ist es denkbar, daß Rothe den Begriff der Spekulation direkt aus Schellings Naturphilosophie bzw. seiner Spekulativen Physik übernommen hat (vgl. Schelling, III,270fif ). In ihr präsentiert Schelling eine Weise von Spekulation, die, von Hegel unabhängig (vgl. Düsing, 108ff.), eine Ableitung aller Naturerscheinungen aus einem Prinzip darstellt. Daraus ergibt sich ein Systemcharakter der Natur, die ein "organisches Ganzes" darstellt (vgl. Schelling, III,278f.), das durch die Empirie "als bloße[r] Sammlung von Thatsachen" (Schelling, 111,282) niemals erreicht werden kann. Wir werden sehen, daß Rothe den Systemcharakter der Spekulation auf genau diese Weise begründet (vgl.I,15ff ). Genauso wie nach Schelling muß das spekulative System der "empirischen Probe" (Schelling, 111,277; vgl.I,ll,18f.) standhalten, weil die Gegenstände der Erfahrung keine anderen sind als diejenigen des reinen, apriorischen Denkens, sondern eben nur auf andere Weise gewonnen werden. Die folgende Äußerung sei als Hintergrundbeleg für den im weiteren zu entwickelnden Charakter der Spekulation bei Rothe angefugt: "Wir wissen nicht nur dieß oder jenes, sondern wir wissen ursprünglich überhaupt nichts als durch die Erfahrung, und mittelst der Erfahrung, und insofern besteht unser ganzes Wissen aus Erfahrungssätzen. Zu Sätzen a priori werden diese Sätze nur dadurch, daß man sich ihrer als nothwendiger bewußt wird, und so kann jeder Satz, sein Inhalt sey übrigens welcher er wolle, zu jener Dignität erhoben werden, da der Unterschied zwischen Sätzen a priori und a posteriori nicht etwa, wie mancher sich eingebildet haben mag, ein ursprünglich an den Sätzen selbst haftender Unterschied, sondern ein Unterschied ist, der bloß in Absicht auf unser Wissen von diesen Sätzen gemacht wird, so daß jeder Satz, der für mich bloß historisch ist, ein Erfahrungssatz, derselbe aber, sobald ich unmittelbar oder mittelbar die Einsicht in seine innere Nothwendigkeit erlange, ein Satz a priori wird" (Schelling, 111,278).

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Vgl. Düsing, 95£f.

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Erkenntnis handelt.57 D.h. Obwohl es nach Schellings System des Transzendentalen Idealismus keine Erkenntnis des Absoluten gibt,58 variiert er seinen Systemgedanken bis zu der vollendeten Ausprägung seines Identitätssystems dergestalt, daß er von einer "unmittelbare[n] Erkenntniß des Absoluten" reden kann, die "die erste speculative Erkenntniß, das Princip und der Grund der Möglichkeit aller Philosophie " ist. 59 Schelling unterscheidet sich jedoch auch hier fundamental von Hegel, indem er die spekulative Erkenntnis mit der "Intellektuellen Anschauung" identifiziert, und ihr damit die Reinheit der Vernunfterkenntnis nimmt, die sie bei Hegel auszeichnet.60 Mit dem Verlassen des Identitätssystems verliert der Begriff der Spekulation bei Schelling im Folgenden ohnehin die Bedeutung einer Erkenntnis des Absoluten.61

Im Vergleich mit Rothe kann als gemeinsamer Nenner des Begriffes der Spekulation bei Schelling und Hegel eine Weise des Denkens angenommen werden, die mit dem Sein ursprünglich identisch ist und darum nicht anders denn als Selbsterkenntnis des Absoluten interpretiert werden kann. Anders ausgedrückt: Gemäß der Konzeption sowohl Schellings wie auch Hegels ist das Denken, das sich den Standpunkt der Erkenntnis des Absoluten zu erarbeiten hat, nichts anders als die sich selbst fremd gewordene Selbstbeziehung des Absoluten. Das endliche Denken bezieht sich also auch in Relation auf die ihm äußerliche Welt auf seinen ureigenen Inhalt. Der Theismus Rothes unterscheidet ihn fundamental von dieser Konzeption. Indem Gott der Schöpfung vorausgehend als absolutes Selbstbewußtsein gedacht werden soll, tritt der Mensch als ein von diesem unterschiedenes Subjekt der Welt als einer primär fremden gegenüber. Es muß darum geklärt werden, inwiefern er überhaupt in der Lage ist, diese Welt zu erkennen. Die Notwendigkeit einer geschichtlichen Gebundenheit der Spekulation wird so aber evident: Dem Menschen muß ein vernünftiger Gehalt des Denkens erst zugeeignet werden. Indem damit - wie wir es vorläufig ausdrücken können - Subjekt und Objekt einander primär fremd gegenüberstehen, bleibt das Denken Instrument bzw. Methode. 62 Wir werden sehen, daß Rothe darum genötigt ist, in bestimmter Hinsicht transzendentallogisch zu argumentieren. Der Pointe der Spekulation nach Hegel wird auf diese Weise die Spitze gebrochen. Ist der ureigenste Gegenstand des Denkens im Identitätssystem das Absolute selbst, so muß die Spekulation nach Rothe den Gottesgedanken als einen vom eigenen Subjektsein unterschiedenen fassen.63 57 58 59 60 61 62 63

Vgl. Düsing, 106 Vgl. Düsing, 115 Schelling, IV,368 Vgl. Düsing, 122f. Vgl. Düsing, 117 Vgl. Birkner, 24; Heckel, 48f. Auch in bezug auf die sich verschiebende Bedeutung der Spekulation ist das System Rothes mit dem Weißes vergleichbar. Rothe hat sich über seine Differenz zu Hegel

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Die Aufgabe der Untersuchung besteht demzufolge darin zu zeigen, inwiefern es unter der Bedingung des Theismus einerseits wie der Sünde des Menschen andererseits zu dem durch Rothe anvisierten Ziel der Geschichte, dem vollendeten Selbstbewußtsein der Menschheit, mit dem sich Gott zu identifizieren vermag, kommen kann. Die Entfaltung der Grundeinsicht Rothes macht es notwendig, alles, was mit ihr gegeben ist, ebenso zu entfalten. Dabei treten Probleme auf, die es erforderlich sein lassen, zwei Ebenen der Darstellung zu unterscheiden. Denn bei einer genauen Exegese des von Rothe vorgelegten Textes zeigt sich, daß (in der Ernstnahme der von Rothe definierten Methode des Denkens) zwischen dem, was er zu denken beabsichtigt und dem, was dabei tatsächlich gedacht wird, eine fundamentale Diskrepanz besteht. Eine solche Exegese, die versucht, die einzelnen Gedankenschritte Rothe en detail nachzuvollziehen, steht bisher noch aus. In den ersten Reaktionen auf

nicht ausdrücklich geäußert. Weiße hingegen definiert seine Auffassung von der Spekulation in Auseinandersetzung mit diesem. Ganz im Sinne der Rücknahme der Spekulation als konstruktivem Prinzip des Absoluten selbst, wie wir sie für Rothe schon im Vorhinein annehmen müssen, bestätigt .Weiße Hegels Recht, ein dem menschlichen Geist immanentes Vernunftprinzip anzunehmen. Sein Fehler liege jedoch darin, dieses Vernunftprinzip zu verabsolutieren, indem es in seiner Selbstentfaltung mit dem Inhalt der Wirklichkeit überhaupt identifziert wird (vgl. Burkhardt, 280). Anlaß dieser Unterscheidung der Spekulation von ihrem Gehalt ist der Versuch, das Prinzip des Individualismus bzw. der Freiheit des Einzelnen gegenüber der absoluten Notwendigkeit des Systems zu retten (ebd.). Im Sinne des späten Schelling versucht Weiße darum gegenüber der notwendigen Systematisierung der Wirklichkeit auf der Ebene der Logik eine Wirklichkeit zu postulieren, die die Grenzen des logischen Erkennens übersteigt (vgl. Burkhardt, 287,295). Das Problem dieser Differenzierung besteht nach Burkhardt darin, daß Weiße mit der unbegründeten Annahme eines Vernunftprinzipes nicht mehr erklären kann, inwiefern das Denken und die Wirklichkeit überhaupt aufeinander bezogen sind (vgl. Burkhardt, 287f.,293,300). Dazu kommt, daß die Behauptung eines Seins jenseits der Logik eben auch nur eine Behauptung mittels der Logik ist und darum - unter der Voraussetzung der Entzogenheit des der Logik gemäßen Gehaltes - ihre Leere bestätigt (vgl. Burkhardt, 302). Merkwürdigerweise hat Burkhardt, obwohl er sich der Abhängigkeit Weißes vom späten Schelling bewußt ist (vgl. Burkhardt, 277), nicht erkannt, daß diese Begrenzung der Philosophie auf die Stringenz des rein Logischen, von der die Wirklichkeit unterschieden werden muß, offenbar auf Schellings Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie beruht. Unter dieser Voraussetzung aber können wir Weißes Entwurf - trotz seiner Ähnlichkeit - sehr gut von demjenigen Rothes unterscheiden. Obwohl also der Mensch der Wirklichkeit primär als einer fremden ausgesetzt ist, soll sein Denken nach Rothe fundamental auf seinen Gehalt (die Welt) bezogen und durch diesen bewegt sein. Die Logik des Denkens ist also die Logik der Wirklichkeit und wir müssen sehen, wie Rothe die Notwendigkeit einer transzendentallogischen Setzung mit der idealistischen These der Übereinstimmung von Form und Gehalt zu verbinden in der Lage ist.

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Rothe, wie sie bis zur Jahrhundertwende üblich gewesen sind, wurde sein Systementwurf durch Vorführung der Absurdität einzelner seiner Argumente kritisiert. In neueren Arbeiten, wie sie vor allem Heesch und Birkner vorlegten, ist hingegen versucht worden, Rothes Intention zum Leuchten zu bringen, indem einzelne seiner Argumente hervorgehoben und das Ganze harmonisierend interpretiert werden. Im Unterschied dazu geht es in der vorliegenden Arbeit darum, die Kritik im Einzelnen einzuordnen in den Argumentationszusammenhang des Systems. Unter Ernstnahme der von Rothe postulierten Methode wird seine Begrifflichkeit überprüft, werden ihre Implikationen in die einzelnen Zusammenhänge hinein verfolgt und nach der Schlüssigkeit im Ganzen gefragt. Dabei wird eine Pointe seines Werkes erarbeitet, die sich auf dem Hintergrund seiner Texte gegen ihre ursprüngliche Intention abhebt.64 Um die auszulegenden Texte hinreichend einordnen zu können, ist es notwendig, den Aufriß der Theologischen Ethik vor Augen zu haben. Im Anschluß an Schleiermacher65 gliedert Rothe sein Werk in eine Güter-, eine Tugend- und eine Pflichtenlehre. Allem vorangestellt ist die "Einleitung", die fast den gesamten ersten Band einnimmt. In ihr wird - sagen wir - einführend der Charakter der Spekulation beschrieben, bevor hier die gesamte Theogonie einschließlich der Erörterung der Möglichkeit der Schöpfung wie der Deduktion ihres Vollzuges bis hin zum Menschen zur Darstellung kommt. Wie eine der Hauptgliederung nebengeordnete Gliederung zeigt, hat Rothe damit bereits den Hauptteil der Theologischen Ethik erarbeitet. Dergemäß ist das Werk in Theologie und Kosmologie zu unterscheiden, wobei letzterer die Physik und die Ethik untergeordnet sind.66 Als "Theologie (im engeren Sinne)" 67 gilt demnach lediglich die Theogonie, d.h. die Selbstentfaltung Gottes zur absoluten Person. Die Erschaffung der Welt bis hin zum Menschen muß als Kosmologie verstanden werden. Mit dem Beginn des Handelns des Menschen wird die Schöpfung zur Geschichte und d.h.: die Kosmologie zur Ethik sozu64

65 66 67

Um die diffizilen Gedankengänge, die bei der Analyse der Texte Rothes notwendig werden, durchsichtig zu machen, sind in den Text zwei Lesehilfen eingebaut. Zum einen ist jedem Abschnitt eine Zusammenfassung in thesenaitiger Form vorangestellt. Zum anderen ist der Fortlauf der Argumentation dadurch gut zu verfolgen, daß die entscheidenden Sätze kursiv gedruckt sind (Das gilt auch für Zitate aus den Texten Rothes oder anderer Verfasser. Sind Zitate kursiv gesetzt, stammt die Kursivierung demzufolge von mir.). Exkurse, die auf den Traditionshintergrund Rothes verweisen, sind als Petit-Teile in den Text eingefügt. Diese Exkurse bieten keine Gesamtdarstellungen der Vorbilder Rothes sondern beschränken sich darauf, den Ursprung seiner jeweiligen Argumente nachzuweisen. Die Sekundärliteratur zu Rothe wird in den Anmerkungen diskutiert. Vgl. 1,401 Vgl.I,56f. 1,56

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sagen "(im engeren Sinne)". Vom Ende des ersten Bandes bis hin zum fünften haben wir es demzufolge mit dieser Ethik zu tun. Als "Erster Theil" folgt der Einleitung "Die Lehre vom moralischen Gut", die sich mit der Konstruktion der Geschichte der Menschheit befaßt. Entsprechend der Normalität bzw. Abnormalität der Geschichte entwirft Rothe diese Lehre unter sittlicher wie unter religiöser Hinsicht zuerst als "abstraktes Ideal" (erster und zweiter Band) und läßt ihr im dritten Band die Lehre vom "höchste[n] Gut in seiner konkreten Wirklichkeit" folgen.68 Anhebend mit der Sünde des Menschen findet hier die Christologie ihren Ort. Dem schließt sich im dritten Band die Tugendlehre an, die parallel zur Güterlehre die Geschichte sowohl als abstraktes Ideal wie auch als konkrete Wirklichkeit in bezug auf den Einzelnen konstruiert. Sünde und Erlösung werden demgemäß als Untugend und als Tugend interpretiert. Am Ende des dritten Bandes beginnt die Pflichtenlehre, die sich bis zum Ende des fünften Bandes erstreckt und damit ungefähr die Hälfte des gesamten Werkes umfaßt. Sie beinhaltet - über Schleiermacher hinausgehend - ein System von Pflichten, wie sie dem Menschen obliegen, der sich, durch die Offenbarung veranlaßt, von der Sünde abkehren bzw. seine Untugend in Tugend wandeln will. Jedoch ist die Pflichtenlehre keine spekulative, sondern eine empirische Wissenschaft.69 Unter der Voraussetzung der Möglichkeit, durch die Spekulation eine Standortbestimmung der Geschichte der Menschheit erheben zu können, werden hier mit Hilfe der Gegenwartsanalyse die für die Zeit Rothes notwendigen Pflichten systematisch aufgeführt. 70 Zur Untersuchung der Spekulativen Theologie Rothes ist es v.a. notwendig, den Text seiner Güterlehre, d.h. sowohl die Konstruktion des abstrakten Ideals

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Die Bände 3-5 liegen in der 2.Auflage in der Bearbeitung von Holtzmann vor (vgl.III,Vff.). Rothe hat es Zeit seines Lebens nicht mehr geschafft, die 1.Auflage der Ethik vollständig zu überarbeiten. Der Untersuchung liegt - wie gesagt - insgesamt die 2. Auflage der Ethik zugrunde. Da Rothe in seinem Hauptwerk, der Theologischen Ethik, eine umfassende Darstellung seines Spekulativen Systems gibt, ist es nur an einigen Stellen möglich bzw. nötig, v.a. zum Zweck der Illustration, auf parallele Argumente in anderen seiner Werke hinzuweisen. Insofern Schleiermacher seine Ethik nicht auf dem doppelten Gleise der Geschichte von Normalität und Abnormalität entwirft, stellt die Pflichtenlehre nicht ein System von Normen dar, wie sie ausdrücklich dem Sünder gelten. Sie soll den "ethischen Prozeß als Bewegung" vorfuhren, aus dem sich, "wenn überall pflichtmäßig gehandelt wird, das höchste Gut nothwendig ... [als] Resultat" ergibt (Schleiermacher, 166). Gehört die Pflichtenlehre demnach organisch zum Ganzen der Ethik, so zeigt die Änderung der Methode in der Pflichtenlehre bei Rothe, daß die von Schleiermacher übernommene Gliederung der Ethik nur eine äußere Klammer ist, die den beschriebenen eigentlichen Aufbau des Werkes zu verdecken droht. Vgl. Birkner, 49

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der Geschichte als auch die ihrer konkreten Wirklichkeit zugrunde zu legen. Vernachlässigt werden dabei die seinem geschichtsphilosophischen Entwurf eingeordneten kulturphilosophischen Untersuchungen, die Rothe unter dem Titel "moralischer Gemeinschaften" abhandelt. Es geht lediglich um die spekulative Ableitung der Möglichkeit des Menschen, im Fortlauf der Geschichte die Fähigkeit der Spekulation zu erlangen. Im Zusammenhang der Erörterung der an der Offenbarung orientierten Erkenntnismöglichkeiten ist es dafür sinnvoll, auf die in der Tugendlehre genauer als in der Güterlehre beschriebene Weise der Reaktionen des Menschen auf diese Offenbarung zu sprechen zu kommen. Der für die Diskussion der Theologie zur Verfügung stehende Text liegt in der "Einleitung" vor. Wie die Formulierungen bereits deutlich machen, ist das Verfahren der Spekulation Rothes notwendig zirkulär. D.h.: Die Bedingungen und der Vollzug der Spekulation werden spekulativ deduziert. Die einleitenden Erklärungen der Spekulation am Beginn des ersten Bandes müssen deswegen durch die Deduktion der Möglichkeit der Spekulation im zweiten Band begründet werden. Mit dem Einsatz des 2.Teiles der Arbeit, der Gotteslehre, die die Möglichkeit der Spekulation auf spekulative Weise durch Gott selbst begründet denkt, ist es deswegen notwendig, diesen Zirkel genauer zu definieren. Um jedoch erheben zu können, was Rothe überhaupt unter Spekulation versteht, wird im l .Teil die Anthropologie als Erkenntnislehre expliziert. Die Untersuchung beginnt darum mit der Pointe der Kosmologie. Gottes Leben ist Ausdruck des Gesetzes der Kausalität, das nach Rothe durch den Vollzug von Analyse und Synthese Gestalt gewinnt. Wie im 2. Teil gezeigt werden wird, kann Gott mit dem Beginn der Schöpfung von einer ihm vorliegenden Materie ausgehen, die durch sein Handeln als Vollzug von Analyse und Synthese zum Kosmos qualitativ immer höher organisierter Stufen entwickelt wird. Dabei ist unter Analyse zu verstehen, daß ein zu Denkendes "in die ... Fülle und Allheit seiner Momente ... entfaltet" wird.

71

I,123f. Der Tradition des Begriffes der Spekulation gemäß (vgl. Hegel, Wiss. d. Logik, 50,52) interpretiert Rothe ihn an manchen Stellen mithilfe des Begriffes der Dialektik (vgl.1,39). Der jeweilige Kontext jedoch zeigt, daß er damit keineswegs an eine Selbstbewegung der Begriffe denkt. Gleich zu Anfang beispielsweise wird die Spekulation, deren Subjekt der Mensch ist, als dialektische Reflexion beschrieben. Rothe erklärt: "An ihr [der dialektischen Reflexion] hat sie [die Spekulation] ihr alleiniges Instrument, das alleinige Mittel, um aus der Stelle zu kommen" (1,7). Dialektik wird so zur Methode eines Denkens, dessen Subjekt vom zu Denkenden qualitativ unterschieden ist. Gemäß der strukturellen Entsprechung von Gott und Mensch ist Dialektik demzufolge nichts anderes als der Vollzug des Denkens als Analyse und Synthese. Auch wenn sich daraus eine "Dialektische... Nöthigung" (1,19) ergibt, macht doch

Einleitung

21

Die Synthese als korrespondierendes Moment der Analyse bedeutet, daß "diese Allheit der besonderen Bestimmtheiten ... in die Einheit" zusammengefaßt und also begriffen wird. 71

schon Rothes Konzeption der Schöpfung deutlich, daß das Subjekt dieser Dialektik gegenüber äußerlich ist. Es ist nämlich zur Fortentwicklung jeder Schöpfungsstufe notwendig, daß Gott erneut in sie eingreift (vgl.1,247). Er bleibt ihr als ihr Subjekt äußerlich. (Der Fortgang wird zeigen, daß Rothe den Begriff der Dialektik auch noch in einem anderen Sinne verwendet; vgl.I,70,96f., s.u. S. 116ff.).

1. Der Mensch als Subjekt der Spekulation 1.1. Der Mensch als Gottes Geschöpf Gott schafft den Menschen, indem er ihn durch Analyse und Synthese aus der Natur heraus entwickelt. Als Material dienen ihm dazu die Konstitutiva des Tieres "Leib" und "Seele", wobei sowohl die Seele (als "Bewußtsein" und "Tätigkeit") als auch der Leib (als "Sinn" und "Kraft") in sich selber zweiseitig ist. Zur Entwicklung des Menschen analysiert Gott Sinn und Kraft, wodurch Bewußtsein und Tätigkeit auseinander- und einander gegenüber treten. So ergibt sich als neue Qualitätsstufe innerhalb der Schöpfung die Möglichkeit von Selbstbewußtsein, und dem Menschen obliegt es, im Laufe seiner Geschichte Verstand und Willen zum Selbstbewußtsein zu vermitteln. Das Ergebnis dieser Vermittlung ist ein neues Subjekt, die "Persönlichkeit". Die Persönlichkeit ist an sich selber inhaltlich und logisch leer und nur als Grund der Einheit von Verstand und Wille denkbar. Wenn sie aber als Grund dieser Einheit angenommen wird, kann sie nicht erst ihr Ergebnis sein. Damit ergibt sich ein Problem: Einerseits soll Gott (indirekt) das Zustandekommen des Selbstbewußtseins des Menschen initiieren, andererseits bedarf der Mensch um seiner Selbständigkeit willen einer eigenen Instanz, die das Subjekt der Vermittlung von Verstand und Wille ist. Die Annahme einer Persönlichkeit ist so nur zirkulär denkbar: Sie ist das Ergebnis des Prozesses, den sie initiieren soll. Der Mensch, der wesentlich durch die Möglichkeit von Selbstbewußtsein ausgezeichnet ist, hat demnach zwei Gründe: Einerseits schafft Gott ihm die Bedingungen seiner Existenz, andererseits geht seinem Denken und Wollen in transzendentaler Weise eine Persönlichkeit voraus, die nun wiederum seine Selbständigkeit gegenüber seinem Schöpfer begründet. Ich setze mit der Erörterung des Schöpfungsprozesses an dem Ort ein, an dem nach Rothe durch Gott die Konstitutionsbedingungen des Menschen geschaffen werden. D i e Bestimmung des Wesens des Menschen ist notwendig, um die Möglichkeit der Spekulation verstehen zu können. N a c h Rothe vollzieht sich der Schöpfungsprozeß stufenweise. 1 Aus der jeweils niederen Kreaturstufe entwickelt Gott durch Analyse und Synthese die jeweils höhere heraus. Gottes Synthese muß somit verstanden werden als ein Begreifen der analysierten Bestandteile einer Kreatur in eine neue Qualität. Ihre Bestandteile werden miteinander vermittelt und in neue Unmittelbarkeit als Einheit gebracht. 2 Rothe denkt jede Kreatur in dem Ineinander zweier Komponenten. D i e mineralische Natur z.B. besteht aus den beiden Komponenten "Körper" und

1 2

Vgl.I,247f. Vgl. 1,250

Der Mensch als Gottes Geschöpf

23

"individuierende Kraft". 3 D i e individuierende Kraft wird so definiert, daß sie bereits durch ihren S t o f f bestimmt ist und also die Fähigkeit hat, seine Gestalt zu bilden. Sie ist nicht mehr diffus gerichtete Kraft. 4 Diese indifferenten Komponenten der mineralischen Natur werden durch Gott voneinander gelöst, durch einander bestimmt und neu miteinander synthetisiert. Dabei wird der durch die individuierende Kraft bestimmte Körper z u m "Organismus" und die durch den Körper bestimmte individuierende Kraft zur "Lebenskraft" bzw. z u m "Leben". Beide Komponenten werden v o n G o t t wieder in die Indifferenz zusammengeschlossen. Damit ist die Qualität der Pflanze erreicht. 5 Unter "Organismus" versteht Rothe einen Körper, d e m die Gestalt nicht nur äußerlich ist, sondern dessen Teile alle im Verhältnis zueinander stehen und miteinander ein geschlossenes Ganzes bilden. 6 D a z u verhilft ihm die individuierende Kraft, die sowohl als Vollzug dieser Verhältnisse zu verstehen ist als auch als Wirken, das den Organismus durch Anbildung immer neuer Organe erhält und also sein "Leben" ist. 7 Rothe entwirft diese Konzeption nach dem Vorbild der Naturphilosophie Schellings. Nach seiner Auffassung entwickelt sich die Natur durch Selbstkonstruktion über viele Stufen von der anorganischen bis hin zur organischen. Was Rothe als Analyse und Synthese definiert, sind nach Schelling einander "absolut entgegengesetzte]" Kräfte, als deren Subjekt die Natur selbst angenommen werden muß. 8 Schelling bezeichnet diese Kräfte als "expansiv" bzw. als "retardirend... oder attraktiv". "Die erste an und für sich betrachtet ist ein reines Produciren, in welchem sich schlechthin nichts unterscheiden läßt, die andere erst bringt in diese allgemeine Identität Entzweiung, und dadurch die erste Bedingung aller wirklichen Produktion." 9 Ihren Grund haben diese Kräfte in der Natur selbst, die als ein "ursprünglich Identisches" angenommen werden muß, "was gleichsam wider seinen Willen mit sich selbst entzweit ist." 10 Durch die Entgegensetzung von Produktion und Attraktion aber wird diese ursprüngliche Entzweiung auf jeder Entwicklungsstufe der Natur aufgehoben, indem es zu einer "Synthesis" kommt, die die Entzweiung der Natur durch eine wiedergefundene Identität heilt. 11 Solche sich je und je ereignenden Identitäten sind jedoch gegenüber der ursprünglich "absolute[n] Identität" nur "relative", wohingegen jene nicht wieder zu erreichen ist. 12

3

4 5 6 7 8 9 ίο η 12

1,277 Vgl.1,277,279 Vgl.I,281f. Vgl.I,282f. Vgl.I,292f. Schelling, IV,5; vgl.IV,3ff. Schelling, IV,5 Schelling, IV,6 Vgl. Schelling, IV,7 Vgl. Schelling, IV,6

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

Die Parallele zu diesem Konzept ist so deutlich wie der Unterschied von Rothes Vorgehen. Interpretiert dieser die "Entzweiung" als Analyse, so kann er das reine Produzieren mit Schelling als die Synthese verstehen, die auf die jeweilige Analyse folgen muß. Es ist offenkundig, daß bei dieser Definition der beiden Kräfte durch Schelling seine Konzeption der Identitätsphilosophie zugrunde liegt. Bereits im absoluten Geist gibt es einen Widerstreit der Tätigkeiten, der jedoch erst durch die Entzweiung seiner Identität gegenständlich wird. Übernimmt Rothe die Konsequenzen des Gedankens dieser Entzweiung, so jedoch keineswegs die pantheistische Implikation dieses Ansatzes. An die Stelle einer selbstproduktiven Natur bzw. des absoluten Geistes, der nichts anderes als der Ausdruck absoluter Identität ist, tritt für Rothe der persönliche Gott, der die unbewußten Kräfte von Produktion und Attraktion in sein ausdrückliches Handeln übernimmt. Trotzdem wird uns das Identitätskonzept Schellings weiter beschäftigen müssen, denn nach Rothe bedeutet Synthesis genauso wie nach Schelling Wiederherstellung von Identität. Von der Kreaturstufe der Pflanze an wird der Schöpfungsprozeß komplizierter. Rothe wechselt ohne weitere Erklärungen von einem zweier-Schema in ein vierer-Schema. Gott analysiert und synthetisiert in beschriebener W e i s e die indifferenten Komponenten der Pflanze zu "Seele" und "Leib". Allerdings hat die Vermittlung nicht mehr eine eindeutige Zweiseitigkeit z u m Ergebnis. D i e Seele als das "organisierte Leben" bleibt in sich selber zweiseitig. Sie ist einerseits auf sich selbst bezogenes, d.h. "bewußtes Leben" und andererseits auf sich selbst als auf ihren Z w e c k bezogenes, d.h. "für sich selbst als Z w e c k tätig e s L e b e n " . 1 3 B e w u ß t s e i n und Tätigkeit sind in der Seele in Indifferenz gesetzt. Mit der Qualifizierung der Pflanze zu Seele und Leib sind wir auf der Stufe der animalischen Natur angelangt. 1 4 Es ist leicht zu erkennen, daß Rothe durch das kompliziertere Schema die Möglichkeit des Selbstbewußtseins in den Schöpfungsprozeß einbaut. Damit unterscheidet er sich wiederum von Schelling. Kann nach diesem Selbstbewußtsein dadurch zustandekommend gedacht werden, daß sich das endliche Ich unmittelbar aus der Kraft des Absoluten selbst begreift, 15 so ist Rothe dieser Weg durch seine theistische Konzeption abgeschnitten. Wie Gott Selbstbewußtsein zukommt, so muß auch der Mensch diesem gegenüber durch ein eigenes Selbstbewußtsein als selbständig ausgewiesen werden können. Auf dieser Stufe kann allerdings noch nicht von Selbstbewußtsein die Rede sein, weil die Seele nicht durch sich selbst, sondern durch den Organismus auf sich selbst bezogen wird. 16 Was bedeuten dann aber Bewußtsein und Tätigkeit? D a s B e w u ß t s e i n definiert Rothe auf der Stufe der animalischen Natur als "Empfindung". Empfindung ist ein Bewußtsein, das "lediglich v o n außen her" empfangen wird. 1 7 Es unterscheidet sich noch nicht von seinem Organismus,

13 14 15 16 17

1,303 Vgl.1,303,309 Vgl. Schelling, III,357£f. Vgl. 1,304,307 1,308

Der Mensch als Gottes Geschöpf

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dem es rein passiv ausgesetzt ist.18 Offensichtlich wird das Bewußtsein durch den Organismus auf sich selbst bezogen, ohne sich dessen recht eigentlich bewußt zu werden.19 Empfindung ist das nicht vollzogene Selbstbewußtsein, das Selbstbewußtsein im defizienten Modus. Anders ausgedrückt: Die Seele ist die Möglichkeit der Selbstwahrnahme der Verhältnisse, die sie zwischen den Organen des Leibes lebendig hält. Mit der Tätigkeit verhält es sich ebenso wie mit dem Bewußtsein. Sie ist als rein passive "ein bloßes durch den Organismus getrieben werden. So ist sie bloßer Trieb".20 Das Woher von Empfindung und Trieb sind sowohl der eigene Leib als auch die Außenwelt.21 Wesentlich ist für das Folgende, daß Rothe die Vorform des Selbstbewußtseins als empirisches, d.h. als ein durch konkrete Gegenstände angeregtes einführt. Er zielt mit seinem Konzept darauf, Selbstbewußtsein als vermitteltes denkbar zu machen. Jede Art von Unmittelbarkeit, die bei der Möglichkeit des Denkens, sich selbst zum Gegenstand zu werden, transzendental vorausgesetzt ist, soll damit als überholt gelten.

Nach Rothe befinden sich beim Tier - wie bei allen vorangehenden Kreaturstufen - Leib und Seele in Indifferenz und können sich nicht aufeinander beziehen. Im Unterschied zu allen anderen Kreaturen aber entwickelt sich das Tier von seiner Entstehung als Embryo an. Leib und Seele treten dabei aus ihrer Indifferenz heraus und vermitteln sich miteinander.22 Anders als auf den früheren Kreaturstufen ist also beim Tier kein Eingriff Gottes nötig, um diese Indifferenz zu lösen. Das Tier entwickelt sich, und dabei bezieht sich die Seele so auf den Leib, daß sie ihn als Bewußtsein zum "Sinn" bestimmt und als Tätigkeit zur "Kraft".™ Sinn und Kraft werden von Rothe folgendermaßen definiert: Sie sind "Energieen der Seele über den Leib, Organe der Seele im (am) Leibe."24 Dies muß so verstanden werden, daß Sinn und Kraft Aktionen der Seele mittels des Leibes sind. Als Sinn und Kraft kann die Seele aus sich heraustreten und sich auf die extramentale Wirklichkeit beziehen. Sie bedient sich des Leibes als ihres Werkzeuges, um in der Welt zu handeln.

18 19 20 21 22 23 24

(Die Hervorhebungen im Zitat sind fortgelassen worden. Dies gilt auch für alle folgenden Zitate Rothes, bei denen im Original Hervorhebungen vorkommen.) Vgl.1,308 Vgl.1,311 1,308 Vgl.I,308f. Vgl.1,312f. Vgl.1,313 1,314

26

Der Mensch als Subjekt der Spekulation

Jedoch wie Empfindung und Trieb, so befinden sich auch Sinn und Kraft in Indifferenz.25 Das Ergebnis dieser Entwicklungsstufe ist also ein differenziertes Verhältnis von Leib und Seele zueinander, wobei die Komponenten jeder Größe (Sinn und Kraft, Empfindung und Trieb) indifferent sind. Es liegt nahe, dem Schema folgend anzunehmen, daß Gott aus dem Tier den Menschen schafft, indem er einerseits Empfindung (Bewußtsein) und Trieb (Tätigkeit), andererseits Sinn und Kraft analysiert und zu neuer Synthese bringt. Rothe argumentiert aber so, daß Gott im Hinblick auf das Werden des Menschen Bewußtsein und Tätigkeit voneinander löst, indem er "in dem selben diejenigen Organe, welche ... das Bewußtsein kausieren und diejenigen, welche ... die Thätigkeit kausieren, voneinander sondert ,..".26 Bewußtsein und Tätigkeit werden also über eine Differenzierung des Leibes voneinander gelöst. Als Grund dafür gibt Rothe an, daß die Seele in der Weise von Empfindung und Trieb nichts sei als der Reflex des Leibes.27 M E. geht Rothe damit einen Schritt hinter seine Definition der Komponenten des Tieres zurück. Er beschreibt hier die Seele in bloßer Abhängigkeit vom Leib und hatte doch oben das Verhältnis von Leib und Seele zueinander so verschoben, daß die Seele zwar einerseits in Abhängigkeit vom Leib, aber mit Empfindung und Trieb als sie selber definiert wird und zwar so, daß sie den Leib in ihrer ausdrücklichen Zweiseitigkeit als einen gemäß ihrer selbst zweiseitigen bestimmt. Der Leib wird darum als Sinn und Kraft auch nur als Seele, nämlich als diese in Aktion bestimmt. Was mag der Anlaß für Rothe sein, diesen Vorsprung der Seele zurückzunehmen? Der Grund dafür, daß Gott sich hier auf den nicht ausdrücklich als Sinn und Kraft bestimmten Leib bezieht, kann nur darin liegen, daß die Komponenten der Seele sich selbst voneinander lösen sollen. Bewußtsein und Tätigkeit werden nur indirekt voneinander gelöst, weil sie sich selbständig miteinander vermitteln sollen. Darum wird der Leib (im Zitat) auch nicht von der Seele her als Sinn und Kraft benannt. Nähmen wir Rothe beim Wort, wäre die Differenzierung nur als ein direkter Eingriff Gottes in die Seele denkbar. Rothe ermöglicht durch diese Ungenauigkeit seine These, nach der es, wie wir noch sehen werden, zu den dem Menschen angemessenen Funktionen nur durch den Menschen selber kommen kann. Gott differenziert also die Komponenten des tierischen Organismus und läßt somit Bewußtsein und Tätigkeit auseinandertreten. Sie treten einander gegenüber und bestimmen sich durch einander. Damit sind wir am Ursprungs-

25

1,314

26

1,320

27

Vgl.ebd.

Der Mensch als Gottes Geschöpf

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ort des Selbstbewußtseins angelangt, denn die Seele hat hier die Möglichkeit eines Selbstverhältnisses: Sie weiß sich als tätige und setzt sich in der Weise der tätigen als bewußte. Die Seele ist sich selbst zugleich Subjekt und Objekt. Das Bewußtsein ist als gewolltes Denken Selbstbewußtsein ("Verstand") und die Tätigkeit als bewußte Tätigkeit Selbsttätigkeit (" Wille").28 Bereits an dieser Stelle wird deutlich, daß Rothe mit seinem Konzept im Sinne des Deutschen Idealismus das Dilemma unangemessener Dualismen, die als Problem der Philosophie Kants galten, zu vermeiden sucht. Es ist Kant unmöglich gewesen, das Subjekt der Theoretischen Vernunft formallogisch mit dem der Praktischen zu identifizieren. Darum muß es als revolutionärer Akt Fichtes gewertet werden, aus der Tathandlung als dem Ursprung von Ich und Nicht-Ich sowohl das Erkennen als auch das Handeln erklären zu können. In der Gliederung der Wissenschaftslehre von 1794 folgt dementsprechend der Explikation der "Grundlage des theoretischen Wissens" diejenige des "praktischen", die als System von Trieben beschrieben wird. Ist somit nach Fichte die Möglichkeit von Erkenntnis bedingt durch die Triebnatur des Subjektes, so sehen wir, daß nach Rothe Verstand und Wille (den er ebenso als Trieb qualifiziert) parallel geordnet sind. Muß an dieser Stelle noch ausstehen, auf •welche Weise Verstand und Wille Selbstbewußtsein und Handeln ermöglichen, so ist uns jedoch bereits klar, daß Rothe im Sinne der idealistischen Philosophie das praktische Ich als Implikat des theoretischen und umgekehrt dieses als Implikat von jenem verstanden wissen will. Die vorliegende Konstruktion bietet jedoch gegenüber der Tradition eine neue Variante der Entstehung des Selbstbewußtseins. Es ist im Rahmen dieser Arbeit kein Raum für eine ausführliche Erörterung des Zustandekommens der Selbstbewußtseinsproblematik im Kontext des Deutschen Idealismus. Zum Verständnis Rothes genügt eine kurze Skizze. Es ist um der Kritik metaphysischen Denkens willen Kants Absicht gewesen, eine Erkenntnistheorie zu konstituieren, die die Möglichkeit von Objektivität der Erkenntnis in ihr Subjekt verlegte.29 Auf die dazu nötigen Erkenntnisbedingungen werden wir an späterem Ort zu sprechen kommen. Hier ist es lediglich wichtig darauf hinzuweisen, daß Kant diese Bedingungen der Erkenntnis in einem reinen Selbstbewußtsein zu fundieren suchte. Durch das reine Selbstbewußtsein, das die Sinneseindrücke mittels Kategorien und Anschauungsformen zu sinnvollen Erkenntnissen ordnet, ist die Einheit aller Erkenntnisse als solcher, die zu einem Subjekt gehören, gewährleistet. Kant nennt dieses reine Selbstbewußtsein deswegen "synthetische Einheit der Apperzeption".30 Es ist transzendental, insofern es als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis jeder konkreten Erkenntnis vorausliegt und also nicht selbst Gegenstand von Erkenntnis sein kann. Auf diese Weise aber erklärt Kant das Selbstbewußtsein zum "höchste[n] Punkt" der Philosophie.31 Es ist gerade erwähnt worden, daß Kant es nicht vermocht hat, das Ich tatsächlich als Prinzip jeder Weise des menschlichen Denkens zu fundieren. Problematisch ist jedoch dieses Ich 28 29 30 31

Vgl.1,328f. Vgl. Kant, KrV,BXVIII Kant, KrV,B136(ff.) Vgl. Kant, KrV,B134

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

auch im Bereich der Theoretischen Vernunft (für die es als Prinzip gelten soll), weil Kant mit ihm ein Selbstbewußtsein behauptet, das sich in seiner Selbstbewußtheit jedoch entzogen bleibt. Ein anderes Problem der Kantschen Erkenntnislehre ist das des viel traktierten "Dinges an sich". Indem Kant den Grund der Objektivität von Erkenntnis in das Subjekt verlegt, wird die Unterscheidung nötig zwischen den Dingen, wie sie fiir uns gegeben sind und denselben, wie sie unabhängig von uns "an sich" sind.32 Es wird dabei sofort einleuchtend, daß der Begriff eines Dinges an sich, sobald wir ihn bilden, ein Paradoxon ist. Hier genügt es, darauf hinzuweisen, daß genau diese Probleme der Kantschen Philosophie den Startschuß für die kühnen Entwürfe des frühen Fichte und Schelling gegeben haben. Fichte hat - wie noch ausführlich erörtert werden wird - in seiner Wissenschaftslehre von 1794 versucht, das reine Selbstbewußtsein nach Kant so zu interpretieren, daß das Ich sich in ihm in seiner Unmittelbarkeit selbst denken kann.33 Dazu trägt er die für Kant verloren zu gehen drohende Realität so in dieses Prinzip der Philosophie ein, daß sie als dynamisiertes Sein das Ich als reine Spontaneität zu denken erlaubt, die jedoch im selben Akt rezeptiv in bezug auf sich selbst sein soll. Mit der Gewagtheit seines Entwurfes ergaben sich zugleich Probleme, die Fichte trotz immer erneuter Variationen seiner Wissenschaftslehre nicht zu lösen vermochte. Das Ich, das sich selbst wahrnimmt, setzt in dieser Wahrnähme sich selbst als Resultat und enthebt sich damit mit der reinen Spontaneität seiner Unmittelbarkeit. Muß man aber von einer Doppelheit der Relata ausgehen, kann ihre Einheit nicht mehr aus ihnen erklärt werden. Diese Einsicht war dem frühen Schelling zu eigen, und er fundiert darum die unmittelbare Selbstwahrnahme in einem ihr Zuvorbestehenden, das er entweder Identität, Geist oder das Absolute nennt. Besonders in bezug auf den späten Schelling werden wir diese jedem Selbstbewußtsein vorausgehende Größe noch zu erörtern haben. Hier genügt es, den Unterschied zu Rothe herauszustellen. Nach Schelling geht dem Denken eine Größe voraus, die ihr Grund ist, ohne an sich selbst ausdrücklich Selbstbewußtsein zu sein. In der theistischen Konzeption Rothes hingegen ist diese dem Denken des Menschen vorausgehende Größe an sich selbst vernünftig und handlungsfähig und also personal. Das Neue von Rothes Denken gegenüber der Tradition besteht darin, daß an die Stelle des Absoluten ein persönlicher Gott tritt, der das Selbstbewußtsein des Menschen durch einen ausdrücklichen Akt ermöglicht. Gott ist nach Rothe der indirekte Ermöglichungsgrund des Selbstverhältnisses des Menschen. Es wird uns bereits an diesem Anfang deutlich, daß dasjenige Selbstbewußtsein, das Rothe innerhalb der Anthropologie beschreibt, nicht als "höchster Punkt" seiner Theologie gelten kann. Wenn dem Menschen ein selbstbewußter Gott vorausgesetzt ist, wird die Möglichkeit des Selbstbewußtseins Gottes eigens erörtert werden müssen. Wir dürfen Rothe jedoch nicht so verstehen, als würde der Augenblick der Entstehung des Selbstbewußtseins mit seiner Anbindung an den Übergang von der animalischen zur humanen Schöpfungsstufe in ein praehistorisches Urgeschehen verlagert. Die Pointe seiner Erörterung liegt vielmehr darin, daß der 32 33

Vgl. Kant, KrV,A190 Vgl. Fichte, WL 1794,91

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Eingriff Gottes indirekt vonstatten geht und sich Bewußtsein und Tätigkeit selbst miteinander vermitteln müssen. Der Eingriff Gottes löst somit einen Prozeß aus, den Rothe "Geschichte" nennt. Diese Geschichte reicht bis zum Eschaton und in eins damit die Arbeit des Menschen, sich seiner selbst bewußt zu werden. Wir werden sehen, daß damit das Selbstbewußtsein des Menschen zu einer eschatologischen Größe wird. Verstehen wir Rothe im Rahmen der Argumentationszusammenhänge des Deutschen Idealismus, fällt bei einer solchen Konzeption eine wichtige Parallele auf. Der Mensch wird als ein Wesen entworfen, das sich erst im Laufe seiner Geschichte zu dem entwickeln muß, was er seinem Begriff gemäß ist. Die Geschichte hat demzufolge einen teleologischen Charakter. Es war Schellings Anliegen, das Prinzip der Teleologie zu einem Prinzip der Geschichte zu machen. Um den Grund seiner Intention zu verstehen, sei noch einmal auf Kant zurückgegriffen. Nach der Kritik der Urteilskraft kann objektive Gültigkeit allein kausal mechanischen Erklärungen der Welt zukommen, wohingegen teleologische Erklärungen nur subjektiv gültig sind. Teleologische Erklärungen sind nach Kant in bezug auf Organismen nötig, weil der Konstruktion eines Organismus eine Zweckidee vorausgehen muß, die das Ziel des zu Konstruierenden vorwegnimmt.34 Durch eine solche Zweckidee kann die Hervorbringung von Organismen als eine Kausalität nach Zwecken verstanden werden. Damit muß aber der Natur eine gewisse Vernünftigkeit zugestanden werden, die ihr gemäß der Kantschen Erkenntnistheorie nun aber gerade nicht zuerkannt werden kann. 35 Nach der Kritik der reinen Vernunft können wir eine objektiv gültige Kausalität nur als durch physische Ursachen und durch Bewegungsgesetze zustandegekommen denken. Also kommt Kant zu der Konsequenz, daß die Annahme einer teleologischen Kausalität für unser Verständnis von Organismen wohl notwendig ist, aber lediglich subjektive Gewißheit beanspruchen darf. 36 Wie wir an dem Exkurs über die Naturphilosophie bereits sehen konnten, ist Schellings Konzept ein Lösungsversuch gerade dieses Problems. Nach Kant muß es ein "gemeinschaftlicheis] Prinzip der mechanischen einerseits und der teleologischen Ableitung andererseits" geben, als welches aber nur "das Übersinnliche" angenommen werden kann, das aber nicht Gegenstand objektiver Erkenntnis ist.37 Schelling nun setzt als "gemeinschaftliches Prinzip, das zwischen anorganischer und organischer Natur fluktuirend die erste Ursache aller Veränderung in jener und den letzten Grund aller Thätigkeit in dieser enthält",38 die Natur selbst ein, die er im Fortlauf seiner Schriften weiter als das Absolute bzw. als Identität bestimmt. Das Problem Kants, nach dem einer solchen Größe keine Objektivität und also keine Realität zugesprochen werden kann, löst Schelling, indem er Objektivität und Realität voneinander trennt. Das Absolute ist (als Grund alles unseres objektiven Wissens) im eminenten Sinne real, ohne deswegen objektiv sein zu müssen.39 Damit gehen seine Systementwürfe von einem Prinzip aus, das eine kausal-teleologische Erklärung der Entwicklung der Welt erlaubt, die sowohl die anorganische als auch die organische Natur als durch die gleiche

34 35 36 37 38 39

Vgl. Kant, KdU,B317,284 Vgl. Kant, KdU,B334f.,350 Vgl. Kant, KdU,B318 Vgl. Kant, KdU,B358 Schelling, 11,347; vgl.I,241f. Vgl. Schelling, 111,375; Horstmann, 152f.

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

"Organisation" gebildet versteht.40 Sinn dieser Teleologie ist nach Schelling die Entwicklung der Menschheit zu einer "vollendete[n] Person", womit, da die Weltgeschichte durch sie vollendet gedacht werden müßte, zugleich das Reich Gottes zustande gebracht wäre.41 Im Sinne Schellings haben wir auch bereits für Rothe hingenommen, daß bei dem Übergang von der anorganischen zur organischen Natur kein Prinzipienwechsel gedacht werden muß. Mit dem Menschen aber wird die Teleologie zum Prinzip der Geschichte. Wir werden weiter zu verfolgen haben, wie Rothe dabei die Organisation als Methode einsetzt und das Prinzip der kausalen Teleologie, das er als Handlungsprinzip eines persönlichen Gottes statuiert, neu bestimmt.

Im Zusammenhang des Schöpfungsprozesses, den ich an dieser Stelle expliziere, ist noch nicht aufgewiesen, wessen sich das geschichtliche Selbstbewußtsein tatsächlich bewußt wird. Es ist hier sozusagen nur die Form des Selbstbewußtseins (und der Selbsttätigkeit) beschrieben, wie sie eschatologisch ausgebildet sein soll. Selbstbewußtsein und Selbsttätigkeit drücken also hier vor allem die Fähigkeit der Spontaneität des Menschen aus 42 Werden Bewußtsein und Tätigkeit nicht mehr miteinander vermittelt, so vollzieht die Seele nach Rothe die Synthese selbst. Das Ergebnis dieser Synthese ist ein neues Subjekt, das "Persönlichkeit" oder "Ich" genannt wird. Dieses Subjekt ist nach Rothes Erklärungen nichts anderes als die "Einheit" von Bewußtsein und Tätigkeit:43 "Denn der Begriff des Ichs ist eben, die zugleich bewußte und thätige (setzende) Einheit des Bewußtseins und der Thätigkeit zu sein, - das seiner selbst als Thätigkeit bewußte Bewußtsein und die sich selbst als Bewußtsein setzende Thätigkeit in ihrer Einheit".44 Das Ich ist deswegen nichts anderes als der "centrale Punkt" von Denken und Wollen.45 Diese Einheit ergibt sich, indem die Beidseitigkeit, in der die Seele das Subjekt von Denken oder Tätigkeit sein kann, als "zumal" zusammengefaßt wird: Das Verhältnis der Seele zu sich selbst ist beides zumal, einerseits ein sich von sich selbst unterscheiden und andererseits unmittelbar zugleich ein sich mit sich selbst in die Einheit zusammenschließen."46 Dieses Zumal des Subjektseins wird von Rothe zu einer neuen Größe qualifiziert. Nach seiner bisherigen Argumentation muß diese Konsequenz Rothes auf den ersten Blick verwundern. Gerade wurde erklärt, daß an die Stelle des Einheitsprinzips der Relata des Selbstbewußtseins Gott selbst tritt. Nimmt dieser Gott im Vergleich mit Schelling den Ort der Identität des zu konstituierenden Selbstbewußtseins ein, so ist aber doch einleuchtend, daß ein theisti40 41 42 43 44

45 46

Vgl. Schelling, 11,348 Vgl. Schelling, 1,158; Baumgartner, 38f. Vgl.I,328f. Vgl.I,323f.,330 1,324 1,349.11,68 u.ö. 1,323

Der Mensch als Gottes Geschöpf

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scher Gott, wie Rothe ihn konzipiert, diesen Einheitsgrund ftir den Menschen nicht bieten kann. Eine Person, die durch ein eigenes Selbstbewußtsein ausgezeichnet ist, kann einem aktuellen, anderen Selbstbewußtsein nicht als dauerndes Prinzip der Einheit gelten. Rothe ist darum gezwungen, noch ein zweites Einheitsprinzip einzuführen. Wir müssen ihm zugestehen, daß er auf diesem Wege für das eklatante Problem von Selbstbewußtseinstheorien eine elegante Lösung bietet. Das Problem der idealistischen Selbstbewußtseinstheorie, wie sie Schelling (aber in Variation auch Fichte) vorstellt, besteht nämlich darin, daß mit dem Absoluten eine Größe angenommen wird, der Gottesprädikate zuerkannt werden müssen, ohne daß sie in irgendeiner Weise der Erkenntnis zugänglich gedacht werden kann. Das Prinzip aller Erkenntnis, das Kant als Transzendentale Einheit der Apperzeption bezeichnete, wird damit verlagert in eine metaphysische Welt, der gegenüber es - wie man v.a. beim späten Fichte sehen kann - schwer ist, Endlichkeit überhaupt noch zu rechtfertigen. Rothe hingegen doppelt das Prinzip: Indem an die Stelle des Absoluten ein persönlicher Gott tritt, kann die Persönlichkeit als Prinzip vermittelten Selbstbewußtseins verstanden werden, das durch den Menschen bzw. durch Gott (indirekt) verursacht nicht als das letzte Prinzip alles Wissens überhaupt verstanden werden muß. Indem Gott dem Menschen vorangeht, kann nicht nur die Zweiheit der Relata des Selbstbewußtseins erklärt werden, sondern in eins damit die Möglichkeit ihrer Identifizierung zu Selbstbewußtsein. Zum Einsatz der Persönlichkeit anstelle Gottes kann es durch folgende Überlegung Rothes gekommen sein: Wenn die Unmittelbarkeit der Relata für den Menschen ein bewußtloser Zustand war, bedarf es einer Instanz, welche die gesonderten Relata wiederum aufeinander bezieht. Anders gesagt: Wohl impliziert die Unmittelbarkeit, aus der die Relata des Selbstbewußtseins hervorgehen, die Möglichkeit des Selbstbewußtseins, es bedarf aber einer eigenen Instanz, die die Relata wirklich aufeinander bezieht. Rothe nennt diese Instanz Persönlichkeit und setzt diese Größe mit einer anderen Funktion in den Ort der Identität nach Schelling ein. D.h.: an die Stelle, die nach Schelling das Selbstbewußtsein ursprünglich ermöglicht, tritt nach Rothe die Persönlichkeit. Diese muß nun eine andere Funktion haben, weil der Grund des Selbstbewußtseins nach Schelling eben auch Seinsgrund ist, d.h. er liefert mit aller für das Denken infrage kommenden Objektivität überhaupt auch das Material einer ausdrücklichen Selbstbeziehung. Es ist bereits erwähnt worden, daß dem Denken nach Rothe im Unterschied dazu sein Material so geliefert wird, daß es aus sich selbst nicht Selbstbewußtsein sein kann. Damit aber ist die Persönlichkeit an sich selbst inhaltlich wie logisch leer. Sie ist nicht nur nicht objektiv, sondern auch nicht real. Sie ist lediglich die vollzogene Einheit von Bewußtsein und Tätigkeit. So verstanden aber hat diese Persönlichkeit eine ähnliche Bedeutung wie die Transzendentale Einheit der Apperzeption bei Kant. Sie sorgt

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

dafür, daß jeder Akt des Denkens in seiner Verknüpfung mit allen anderen vom denkenden Subjekt auf sich selbst bezogen werden kann.47 Ist das richtig, müssen wir berücksichtigen, daß Rothe Selbstbewußtsein ausdrücklich auf einer anderen Ebene zu denken beabsichtigt: auf der Ebene von Bewußtsein und Tätigkeit, die sich im Laufe ihrer Geschichte zu empirischem Selbstbewußtsein vermitteln. Damit aber taucht ein Problem auf, daß uns gleich am Anfang die Fragwürdigkeit der Position des Selbstbewußtseins deutlich macht. Denn das Selbstbewußtsein ist eine Größe, die sich als Ergebnis einer geschichtlichen Vermittlung erst eschatologisch ganz ausgebildet haben wird. Wenn aber die Persönlichkeit nichts anderes ist als der Ausdruck des vollzogenen Selbstbewußtseins, kann der Mensch seine Geschichte nicht kraft seiner Persönlichkeit beginnen. Rothe gesteht diese Konsequenz selber zu. 48 Damit aber befinden wir uns in einem Zirkel: Die Persönlichkeit ist das Ergebnis desjenigen Prozesses, den sie eigentlich initiieren soll. Wir werden im Folgenden auf dieses Problem zu sprechen kommen. Rothe setzt seine Argumentation folgendermaßen fort: Indem die Persönlichkeit nicht durch fremdes Handeln, sondern durch die Seele selber hervorgebracht wird, ist sie nach Rothe eine Größe, die nicht mehr zum Bereich der "Natur" gehört. 49

47

Vgl. Kant, KrV,B132fF.,Al 15ff. Thilo beurteilt Rothes Persönlichkeitskonzeption ähnlich. Er schreibt: "Die Persönlichkeit ist nichts anderes, als das reine Ich, das sich selbst weiß und sich selbst setzt. In dem reinen Ich gibt es nun aber nichts Wirkliches zu wissen und zu setzen; daher wird ihm sofort das empirische Ich untergeschoben, dessen Selbstbewußtsein freilich wunderbarer Weise darin zu bestehen scheint, daß es Anderes weiß, und dessen Selbstbestimmung darin, daß es Anderes bestimmt" (Thilo, 207). Einstimmen können wir freilich nur in bezug auf die Charakterisierung der Persönlichkeit als eines reinen Ichs. Denn nach Rothe soll diese Persönlichkeit weder sich selbst wissen, noch sich selbst setzen. Den geschichtlichen Prozeß der Vermittlung kraft der Persönlichkeit, in dem "Anderes" Moment der Selbstbestimmung werden kann, hat Thilo bei Rothe offensichtlich nicht erkannt. Er wird im Folgenden referiert werden. Heesch, dessen Thesen im Fortlauf noch genauer erörtert werden, verkennt den transzendentalen Charakter der Persönlichkeit, indem er den Bereich des Ideellen (die Seele) mit der Persönlichkeit identifiziert (vgl. Heesch, 136,198. Evtl. folgt er darin Holtzmann, der in einer Heesch verwandten Argumentation die Persönlichkeit als ideelle Größe bestimmt; vgl. Holtzmann, 92). Grund dafür ist offensichtlich seine Voraussetzung, Rothe im Kontext der Identitätsphilosophie Schellings interpretieren zu wollen, bei der die Identität von Subjekt und Objekt im Absoluten die Annahme einer Transzendentalen Einheit der Apperzeption im Sinne Kants erübrigt.

48 49

Vgl.1,327 Vgl.1,332

Der Mensch als Gottes Geschöpf

33

"Natur" ist nach Rothe alles, was zwar aus sich selbst entwickelt wird, aber von einem anderen Subjekt als ihm selber her geworden ist. Demnach definiert Rothe die gesamte Schöpiiing als Natur. Natur ist wesentlich immer etwas für ein anderes, sie hat Werkzeugcharakter, ist nicht ihr eigenes Subjekt.50 Schelling variiert die Weise der Konstitution der Welt, wie er sie in der Naturphilosophie beschrieben hatte, in den Stuttgarter Privatvorlesungen derart, daß er dort ebenfalls von einer Stufenfolge der Schöpfung ausgeht, die jedoch von einem ihrem Ursprung gegenüberstehenden Gott hervorgebracht wird. 51 Interessant ist für den jetzigen Zusammenhang, daß das Motiv der Transzendenz der Natur dort auch vorkommt. Schelling erklärt diese Transzendenz, indem er Gott und die Natur zu den Größen Α und Β formalisiert. Α steht dabei für das ideelle, auf Höherentwicklung tendierende Prinzip, Β für das materielle, retardierende. Damit es in der Welt überhaupt zu einer Entwicklung kommen kann, muß sie also von vornherein eine Kombination von Α und Β darstellen. Daraus folgt: "Nun kann aber die Natur oder das Nichtseyende, nur allmählich und stufenweise erhoben werden bis zu dem Punkt, wo sie iahig wird, das absolute A2 in sich aufzunehmen, und so seine unmittelbare Manifestation, gleichsam sein Leib zu werden." 52 Das absolute A2 ist das dem Α der Welt, dem weltlichen Ideellen, gegenüberstehende. Trotz dieser Differenzierung gibt es nach Schelling zwischen beidem Ideellen eine Ähnlichkeit derart, daß sich das absolute A2 auf der Höchststufe der Entwicklung der Welt in diese einzuwohnen vermag. Schelling nennt diese Einwohnung den "Verklärungspunkt der Natur". 53 Solange jedoch diese Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist, reduziert sich die Verklärung zu einer - sagen wir - punktuellen Identifizierung des absoluten Α mit den vielen Α der Welt folgendermaßen. Das absolute A transzendiert die Natur, indem "es über und außer der Natur" liegt. 54 Von hier aus "wirkt [es] doch in der Natur" 55 , indem es auf der Stufe des Tieres als das Ideelle im Weltlichen tätig ist. "Das Göttliche beseelt sie [die Tiere] und darum handeln sie... schon dem geistigen Princip gemäß, als wäre es selbst ein Geistiges". 56 Ist also das Geistige im Tier nur kraft des Göttlichen lebendig, so entsteht im Menschen dieses Geistige als dem Göttlichen gegenüber selbständige Größe: "Nur im Menschen wird

50 51

52 53 54 55 56

Vgl.1,126,218,247f. Vgl. Schelling, VII,454,362 Schellings Philosophie wird bekanntermaßen in verschiedene Perioden eingeteilt. Um Rothes Argumente den verschiedenen Entwicklungstadien zuordnen zu können, genügt eine grobe Gliederung: Die Naturphilosophie (1) reicht bis zum Jahre 1799. Das System des Transzendentalen Idealismus (2) ist 1800 entstanden. Die Entwürfe zur Identitätsphilosophie (3) erstrecken sich auf die Jahre 1801-1804. Als Zeit der Freiheitsphilosophie (4) gelten die Jahre 1809-1810, wobei wir des öfteren v.a. auf die Stuttgarter Privatvorlesungen (1810) zurückgreifen werden. Als selbständiger Abschluß (5) der Philosophie gilt allgemein das religionsphilosophische System (ab 1815), das in der Philosophie der Offenbarung seinen vollendeten Ausdruck findet Schelling, VII,454 Schelling, VII,454 Schelling, VII,455 Schelling, VII,455 Schelling, VII,456

34

Der Mensch als Subjekt der Spekulation

endlich das absolute A2, das lang gesuchte, emporgehoben aus dem B, das an sich oder suä natura Seiende aus dem Nichtseyenden."57 Die parallele Argumentation ist deutlich. Wir sehen, daß das Motiv der Transzendenz der Natur bei Schelling in den Zusammenhang einer Einwohnung Gottes in der Welt gehört. Insofern der Mensch die Natur transzendiert, wohnt Gott in ihm ein. Auch bei Rothe wird von einer Einwohnung Gottes in der Welt bzw. dem Menschen die Rede sein müssen. Die Annahme einer punktuellen Persönlichkeit jedoch macht den Gedanken einer Einwohnung Gottes in ihr unmöglich. So aber verändert sich die Richtung der Transzendenz der Natur. Sie ist nicht als Transzendenz der Welt auf Gott hin zu verstehen, sondern bedeutet eine innerweltliche Transzendenz nicht nur gegenüber der Natur, sondern auch Gott gegenüber. Wir müssen Rothe so verstehen, daß der Mensch durch die Persönlichkeit Gott gegenüber Selbständigkeit erlangt.

In seiner Persönlichkeit tritt der Mensch als einziges Wesen der Kreatur aus dem Bereich der Natur heraus und ihr gegenüber. In eins damit tritt er sich auch als Seele und Leib gegenüber. Er gerät somit in das Gegenüber zur gesamten Schöpfung, der Natur.58 Damit wird diese für die Persönlichkeit instrumentalisierbar. Die eigene Natur (Leib und Seele) wird zum "Organismus ... der Persönlichkeit. "59 Wie die innere, so wird nach Rothe auch die äußere Natur, d.h. die extramentale Schöpfung, zum Instrument der Persönlichkeit bildbar.60 Mit dem Begriff der Persönlichkeit, die nicht mehr zur Natur gehört, fuhrt Rothe ein neues Subjekt in den Zusammenhang der Schöpfung ein. Die Natur ist nicht mehr nur das Werkzeug Gottes, durch das er schafft, sondern sie wird das Werkzeug des Menschen. Durch Schellings Verknüpfung von Teleologie und Kausalität rückt der Organismus in das Zentrum der Erkenntnislehre. Das Prinzip aber einer Welt, die über eine Stufenordnung hinweg entwickelt werden soll, ist die Organisation.61 Liegt ihr Prinzip nach Schelling im Absoluten selbst, so übernimmt der Mensch nach Rothe mit dem Beginn der Geschichte die Aufgabe der Organisation, indem er die Welt sich selbst zum Organismus (zum Werkzeug) bildet. In seinem Konzept wird so der Mensch für die Dauer der Geschichte zum Stellvertreter Gottes.62 57 58 59

60 61 62

Schelling, VII,456 (Schelling bezeichnet das nichtideelle Β gegenüber Α als das "Nichtseyende".) Vgl.1,332; vgl. Definition des Menschen in Dog.I,269f. 1,334 Rothe macht darauf aufmerksam, daß damit der Begriff "Organismus" gegenüber der animalischen Natur eine Bedeutungsverschiebung erfahrt: Wenn beim Tier "der Leib der Organismus der Seele ist: so im persönlichen Thiere Leib und Seele der (Natur-) Organismus der Persönlichkeit" (ebd.). Vgl.1,426 Vgl. Schelling, II,348ff. Vgl.I,17f.,247,281ff.II,208ff.,438f.,470f.,480

Das Denken

35

Das Beieinander von Persönlichkeit und Organismus macht nach Rothe die "Person" aus.63 Die Komponenten, die in ihrer Einheit die Person, den Menschen, konstituieren, sind also folgende: die Persönlichkeit, die Seele in ihrer Zweiseitigkeit als Verstand und Wille und der Leib als Sinn und Kraft. Die Geschichte des Menschen ergibt sich durch eine Vermittlung der genannten Komponenten unter der Regierung der Persönlichkeit. Die Pointe der Vermittlung aber ist für Rothe die Fähigkeit der Spekulation, welche, wie noch zu zeigen sein wird, mit dem Vollzug des Selbstbewußtseins identisch ist. Um den Weg, auf dem die Spekulation möglich wird, zu verstehen ist es nötig, sich der Definition des Denkens durch Rothe zuzuwenden.

1.2. Das Denken Das Denken des Menschen ist der Vollzug von Kausalität, die kraft seiner Persönlichkeit teleologisch gebunden ist. Insofern Gott als Schöpfer Welt und Mensch einander zugeordnet hat, entsprechen die Strukturen der Welt denen des Denkens und der Mensch vermag die Welt kraft seines Denkens zu erkennen. Für Rothe erübrigt sich damit die Annahme von Raum und Zeit als Formen der Sinnlichkeit.

Rothe definiert das Denken als die Funktion des Verstandesbewußtseins. Es gilt als Oberbegriff für verschiedene Arten, in denen der Verstand gebraucht werden kann.6* In jedem Fall aber ist das Denken nur möglich mittels der Kategorie von Grund und Folge bzw. Ursache und Wirkung. Denken ist der Vollzug von Grund und Folge.65 Rothe setzt sich ausdrücklich ab von der Kantschen Verknüpfung der Kategorien mit den transzendentalen Anschauungsformen von Raum und Zeit. Ursache und Wirkung werden in ihrem konkreten Vollzug "rein logisch", d.h. unabhängig von Zeit und Raum gedacht.66 Raum und Zeit sind Strukturen der Wirklichkeit, die dem Menschen in seiner Beziehung auf die Welt objektiv gegenständlich sind. Darum gibt es eine Verknüpfung des Denkens mit Raum und Zeit, die aber nicht für alle Weisen des Denkens gilt. Sie ist deswegen für das Denken nicht konstitutiv. Es fallt auf, daß Rothe im Unterschied zu Kant, aber auch zu den Deutschen Idealisten, für das Denken des Menschen nur eine Kategorie in Anspruch nimmt. Der Grund dafür ist bereits aufgewiesen worden. Es galt für Schelling wie für Fichte als Problem Kants, von Kategorien bzw. Anschauungsformen als gegebenen Größen auszugehen, ohne diese selbst begründen zu können. Zwar hatte Kant mit der Transzendentalen Einheit der Apperzeption

64 65

1,335 Vgl.11,106 Vgl.1,87

66

1,88

63

36

Der Mensch als Subjekt der Spekulation

ein Woher des kategorialen Denkens bezeichnet, das selber frei von Kategorien anzunehmen war, es ist jedoch nicht seine Absicht gewesen, die Kategorien von diesem Ich her zu deduzieren. Die Wissenschaftslehre von 1794 hingegen macht deutlich, daß gerade dies das Programm Fichtes gewesen ist. Die Tathandlung als Ausdruck des unmittelbaren Selbstverhältnisses des Ich gilt Fichte als eine Größe, in der Form und Inhalt identisch sind, und aus der mit ihrer Selbstentäußerung die Kategorien entwickelt werden können.67 Vor allem die frühen Schriften Schellings zeigen, daß er dieses Programm Fichtes in seinen Grundzügen übernimmt.68 Darüber hinausgehend aber ist es - wie gezeigt - ausdrücklich das Anliegen Schellings, eine kausal strukturierte Teleologie in den Grund jeglichen objektivierenden Denkens einzutragen. Genau an diesen Punkt nun scheint Rothe sich anzuschließen und ihn auf seine Weise neu zu interpretieren. Ist es im Rahmen des Schellingschen Systems notwendig, für das endliche Denken das ganze Ensemble der Kategorien herzuleiten, so stellt Rothe für dieses Denken lediglich die Kategorie der Kausalität auf. Der Grund dafür liegt in Folgendem: Der Mensch übernimmt für die Dauer der Geschichte die Aufgabe Gottes, die Welt zu organisieren. Rothe geht um dieses Zieles willen über Schelling insofern hinaus als er für den Menschen mit der Persönlichkeit ein eigenes Prinzip der Unmittelbarkeit einsetzt. Soll der Mensch aber kraft dieser Persönlichkeit die Welt organisieren können, dann muß das Prinzip der Teleologie nicht nur in Gott, sondern ebenso in dieser Persönlichkeit gegründet gedacht werden. Von hier aus aber ergibt sich sowohl die Favorisierung der Kategorie der Kausalität als auch die Freiheit dieser Kausalität von Raum und Zeit. Das Denken ist nach Rothe nichts anderes als der transzendental begründete Vollzug teleologischer Kausalität. Insofern jedoch die Person Gottes und die des Menschen unterschieden werden, hat diese transzendentale Gegründetheit eine transzendente Komponente. Wir werden im nächsten Schritt sehen, daß Rothe das Denken wohl als Vollzug von Grund und Folge definiert, daß es aber nicht per se als solches ausgezeichnet ist. Wegen der differenzierten Zusammenordnung von Gott und Welt aber kann das Denken als frei von den Formen der Sinnlichkeit angenommen werden. Gerade deswegen - werden wir im Verlaufe der Arbeit sehen - werden Raum und Zeit zum fundamentalen Problem für das Denken. Der Vollzug des Denkens als Ursache und Wirkung ist konkretisiert als Analysieren und Synthetisieren. Genauso wie das Schaffen Gottes definiert Rothe das Denken des Menschen als ein Analysieren und Synthetisieren. 69 Dabei wird der Gegenstand des Denkens vom Menschen in seine Bestandteile aufgelöst "(urtheilen)" und für das Bewußtsein neu in eine Einheit zusammengefaßt "(begreifen)".70 Der Mensch vollzieht so auf menschliche Weise, was Gott auf

67 68 69

70

Vgl. dazu v.a. Fichte, Grundriß, 335 Vgl. z.B. Schelling, III,339ff. Vgl. Dog.1,157 Rothe verwendet die Begriffe Analyse und Synthese an manchen Stellen aequivok. Nach 1,5 gilt als "analytisch" das "empirisch reflektirende" Denken, das "apriorisch[e]" hingegen als "synthetisch". Rothe will ausdrücken, daß der spekulative Gottesgedanke letztlich ohne Rücksicht auf empirische Gegenstände entwickelt wird. Daß das "synthetische" Denken dennoch der Analyse bedarf, wird 1,30 ausdrücklich formuliert. 1,95

Das Denken

37

göttliche Weise tut. Das Ergebnis der Synthese ist insofern wieder Ursache, als es Ausgangspunkt fur eine erneute Analyse des Denkens ist. Ausgeschlossen ist dabei, daß der Mensch seine Erkenntnisgegenstände in gleicher schöpferischer Weise wie Gott auf jeweils qualitativ höhere Stufen hebt. Dennoch wird sich zeigen, daß vom Menschen erkannte Gegenstände auch zu neuer Qualität gelangen. Wenngleich Rothe nicht den identitätsphilosophischen Ansatz Schellings teilt, haben wir dennoch von einer Konsequenz auszugehen, die sowohl fur Schelling als auch für Fichte gegeben war. Wenn sich aus der Differenzierung des Absoluten Endlichkeit ergibt, ist endliche Erkenntnis per se Selbsterkenntnis. Rothe muß diesen Gedanken variieren, insofern er an die Stelle des Absoluten einen theistisch verstandenen Gott setzt. Mit einer impliziten Kritik an Kant drückt er sich folgendermaßen aus: "... wer nicht von der Voraussetzung einer Teleologie in der Welt ausgeht, wie sie allein von dem Gedanken derselben als einer Schöpfung Gottes aus denkbar wird, dem muß es problematisch bleiben, ob unser Erkennen ... von den Dingen wie sie an sich sind etwas erkennt."71 Der Gedanke der Selbsterkenntnis wird somit schöpfungstheologisch interpretiert. Es ist fürs erste nicht gesagt, daß der Mensch mit der Welt sich selbst erkennt. Sicher ergibt sich jedoch aus der Konstruktion des Gegenüber von Welt und Mensch unter der Regierung des Schöpfers, daß der Mensch in seiner Erkenntnis die Welt tatsächlich zu begreifen vermag. Gott gibt dem Menschen durch sein Schaffen die Gegenstände seines Denkens vor. Gott und die Welt stehen damit in einem solchen Verhältnis zueinander, daß der Mensch, wenn er seine Geschöpflichkeit vollzieht, nicht in der Gefahr steht, an Gott und Welt vorbei und d.h. auf irrationale Weise zu denken. Die Gesetze des Denkens entsprechen den Gesetzen der geschöpflichen Wirklichkeit. Wir werden im Laufe der Arbeit sehen, daß der Mensch nicht nur die Welt mittels der Kategorie der Kausalität zu denken vermag, sondern ebenso seinen Gott. Rothe ist deswegen der Vorwurf gemacht worden, den fremden Gott mittels einer Kategorie begreifen zu wollen, die nur in bezug auf endliche Objekte Geltung haben kann.72 Dieser Vorwurf liegt im Anschluß an Kant auf der Hand. Wir dürfen ihm jedoch nicht ohne weiteres zustimmen. Es hatte sich gezeigt, daß Rothe die Kategorie der Kausalität anders als Kant anschauungsfrei zu denken sucht. Sie soll nicht primär als apriorische Bedingung der Erkenntnis des Menschen verstanden werden, sondern Gott eigen sein. Demnach denkt der Mensch in der Kategorie von Grund und Folge nur deswegen, weil Gott auf diese Weise denkt bzw. handelt. So aber wird zu untersuchen sein,

71 72

11,107 So Heckel, 109ff.; Holtzmann, 41f.

38

Der Mensch als Subjekt der Spekulation

wie es überhaupt dazu kommt, daß der Mensch diese Kategorie zu gebrauchen vermag. 1.2.1. Verstand und Wille Der Verstand ist Ausdruck des Willens, der sich zusammen mit dem Denken in "Erkenntnis" und "Bildung" auf die extramentale Wirklichkeit bezieht. Es ist das Ziel dieser Beziehung, die Welt zu organisieren und d.h. sie dem Menschen als Organ anzubilden. Die Aneignung der Welt muß als ihre reale Integration in den Organismus des Menschen verstanden werden. Mit dem Vollzug von Verstand und Willen ist der Mensch noch nicht auf der Stufe des Selbstbewußtseins angelangt. Jedoch wird seinem Handeln zur Möglichkeit der Erreichung dieses Zieles in der Persönlichkeit ein unmittelbares Selbstbewußtsein vorausgesetzt.

Eine der Arten des Denkens ist das Erkennen. Das Denken ist Erkennen, indem es sich auf einen extramentalen Gegenstand bezieht.13 Da aber die Seele nach Rothe durch eine Doppelheit strukturiert ist, hat das Denken zum notwendigen Gegenüber die andere Funktion der Persönlichkeit, nämlich den Willen. Als Gegenüber des Verstandes nun nennt Rothe den Willen das "Bilden ",74 Auf diesem Wege wird das Erkennen, das eine Tat aller Funktionen des Menschen mit- und durch einander ist, als Handeln definiert.75 Erkennen heißt konkret, daß sich die Persönlichkeit qua Verstand auf ein Objekt bezieht und es analysierend und begreifend in sein Verstandesbewußtsein hinein reflektiert.16 Erkennen setzt also ein "Reales" als "Ideelles".11 Das sind "zwei Hauptkategorien, in die alles Sein zerfällt und die alles Sein befassen: das gedachte Sein, d.h. dasjenige Sein, welches Gedanke ist, kurz den Gedanken - und das gesetzte Sein, d.h. dasjenige Sein, welches da ist, existiert, kurz das Dasein, und jenes nenne ich [Rothe] das ideelle Sein, dieses das reale." 78 Ist der Mensch allein durch seine Geschöpflichkeit in der Lage, die Welt als sie selbst zu erkennen, so ist der Grund dafür ein "ideelles Schema", in das die Welt gesetzt ist.79 D.h.: Der Mensch kann die Welt denken, weil sie selbst das Ergebnis eines Denkens, nämlich des handlungskräftigen Denkens Gottes ist. Daraus folgt aber: Die Welt selbst gibt dem Denken vor, in welcher Weise sie gedacht werden muß. Ist Gottes Denken der Vollzug von Kausalität, so muß die Welt vom Menschen mittels dieser Kategorie gedacht werden. Es ist also in 73 74 75 76 77 78

79

Vgl.II, 105 11,105 11,105 Vgl. II, 105 Vgl. 1,108 1,115 Vgl.I,122f.,125,109

Das Denken

39

der Konzeption Rothes überhaupt nicht nötig, das Denken des Menschen mit apriorischen Bedingungen auszustatten. Das Denken lernt in Relation auf sein Objekt nicht nur das, was es zu denken hat, sondern auch wie, und das meint, gemäß welcher Gesetzmäßigkeit. Fichte hat in seiner Wissenschaftslehre von 1810 einen ähnlichen Gedanken formuliert. Er wandelt den ursprünglichen Gedanken der Wissenschaftslehre in ihren späteren Formen so ab, daß das endliche Denken nicht anders zu verstehen ist, als das sich in seiner Beziehung auf sich selbst verkennende Denken Gottes. Die Weise der Verkennung ist Fichte das "Anschauen" der Welt in Raum und Zeit. Diese Anschauung ist jedoch zugleich die Bedingung dafür, vom Angeschauten das "reine Denken" zu lernen. Fichte schreibt: "Beide, das reine Denken und das Anschauen, fallen so auseinander, dass das letztere durch das erstere bis in sein Prinzip aufgehoben und vernichtet wird. Ihr Zusammenhang aber wird dadurch gebildet, daß das letztere die factische Möglichkeit des ersten bedingt".80 Wichtig für unseren Zusammenhang ist an dieser Stelle, daß der Mensch nach Fichte genauso wie nach Rothe in bezug auf die ihm vorgegebene Welt zu denken lernt. Die Parallele geht so weit, daß auch nach Rothe Raum und Zeit die Welt in den Strukturen des reinen Denkens verstellen. Wie Rothe diesen Gedanken im einzelnen formuliert, wird im Folgenden gezeigt werden. Es muß uns deutlich sein, daß Rothe dieser spätidealistischen These Fichtes nahekommt, indem er ein frühidealistisches Konzept theistisch zu interpretieren sucht. Nach Schelling entstehen Objekte durch Selbsteinschränkung der absoluten Tätigkeit. Indem solche Selbsteinschränkung endliches (Selbst-)Bewußtsein ergibt, findet sich das Ich immer schon einer objektiven Welt ausgesetzt, die es zu erkennen in der Lage ist, weil sie nichts anderes darstellt, als die über es selbst hinausragende, eigene, geronnene Tätigkeit. Das Ich muß aber die Welt, weil sie ihm mit seiner Bewußtwerdung bereits als einer fremden ausgesetzt ist, als Wirkung einer Tätigkeit ansehen, deren Urheber es nicht selbst ist.81 Haben wir damit die Grundsituation des Ich beschrieben, wie Schelling sie im System des Transzendentalen Idealismus darstellt, so expliziert er dort im Folgenden, wie sich das Ich, weil es seinen Grund im Absoluten hat, über den Dualismus von Subjekt und Objekt hinwegzusetzen vermag, um das Objekt als Teil seiner Selbstbeziehung derart zu begreifen, daß aus dem Prozeß von Selbstentzweiung und Identifizierung die Kategorien abgeleitet werden können.82 Rothe hingegen muß so verstanden werden, daß er als Theologe in das Gegenüber von Subjekt und Objekt, bei dem das Objekt als Produkt einer fremden Tätigkeit verstanden wird, Gott als Urheber dieses Objektes einträgt. Damit aber ergibt sich die Kategorie der Kausalität nicht mehr prozessual aus dem Verhältnis von Subjekt und Objekt, sondern wird aus der durch Gott gesetzten Wirklichkeit gleichsam abgelesen. Das Subjekt gerät so in die Lage, die durch seine Persönlichkeit gesetzte Kausalteleologie in bezug auf die Welt bewußt zu realisieren. Dabei ist jedoch nicht gesagt, daß das naive Subjekt bereits um die Urheberschaft seiner Objekte weiß. Wir werden sehen, daß Rothe durchaus an die Grenzen seiner Logik gerät, wenn dem endlichen Subjekt der Grund der Welt deutlich gemacht werden muß.

80 81 82

Fichte, WL 1810,706 Vgl. Schelling, III,350ff. Vgl. Schelling, III,399f.

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

Das Bilden hinwiederum als Weise des Willens bedeutet, daß das erkannte Objekt der Person als Organ zugeeignet wird.83 Das Bilden ist somit ein "Organisiren" der extramentalen Wirklichkeit,84 Jedes Erkannte bekommt durch das Bilden in Bezogenheit auf das Erkenntnissubjekt seinen bestimmten Ort zugewiesen. Wie Rothe das Erkennen "Verinnerung" nennt,85 so "alles Bilden Veräußerung eines Inneren."86 Das erkannte Objekt wird so real gesetzt, daß es nun für die Person da ist. Das Bilden verändert also das Objekt, auf das es sich richtet. Es wird "zum Mittel für ihren [der Persönlichkeit] Zweck zurecht[ge]macht (zurecht[ge]formt)".87 Man wird im Sinne Rothes sogar sagen müssen, daß sich der Mensch selbst in der Weise der erkannten Objekte real setzt. Er veräußert sein ideelles Sein, indem er diesem und damit sich selbst Dasein gibt.88 Der Prozeß von Analyse und Synthese, der bei Gott die Pointe hat, daß das begriffene Objekt zu neuer Schöpfungsqualität gelangt, fuhrt also auch, indem der Mensch sein Subjekt ist, zu Veränderungen: Mit jedem Erkenntnisobjekt vergrößern sich das Verstandesbewußtsein und der Organismus der Persönlichkeit. Die Welt aber bekommt ein Umwillen. Sie ist zugerichtet auf den Menschen und damit offenkundig allein für diesen Zweck geschaffen. Dennoch kann nicht gesagt werden, daß der Mensch insofern Subjekt der Welt ist, als er die Wirklichkeit seinem eigenen Zweck und Gesetz unterwirft. Wohl ist er kraft seiner Persönlichkeit teleologisch auf ein Ziel der Geschichte ausgerichtet. Mit der Transzendentalität der Persönlichkeit ist dieses jedoch auch seinem Denken und Wollen entzogen. Dazu kommt, daß Erkenntnis in gewissem Sinne als Gehorsam verstanden werden muß. Der Mensch muß sich die zu erkennenden und zu bildenden Dinge geben lassen. Er muß auf sie hören, was damit übereinstimmt, daß er auf Gott hören muß, in dessen Schema die Dinge gesetzt sind. Es ist gezeigt worden, daß der terminus der Organisation ursprünglich in das Konzept Schellings gehört. Bei Rothe muß die Bildung als konkreter Ort der Organisation verstanden werden. Dabei wird deutlich, daß er aufgrund der Unterscheidung des Absoluten als persönlichen Subjekts vom endlichen eine entscheidende Konsequenz Schellings nicht ziehen kann. Schelling ist sich bewußt, daß die organisierende Erkenntnistätigkeit des Menschen ein ideeller Akt ist, der die erkannten Objekte wohl für das Subjekt instrumentalisiert, sie als reale oder materielle aber doch außerhalb des Subjektes bestehen läßt. Diese Unterscheidung ist möglich, obwohl sich das erkennende Subjekt - teleologisch - selbst zum Absoluten erheben soll, weil es ja von vornherein an sich selbst nichts anderes ist als - beschränk83 84 85 86 87 88

Vgl.II,105,156f. 11,106 11,109 11,109 II,105;vgl.II,109 Vgl.II, 124.1,437

Das Denken

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te - absolute Tätigkeit. Der Fortschritt der Welterkenntnis ist damit zugleich ein Fortschritt der Selbsterkenntnis des Ich, indem es sich seiner eigenen Natur bewußt wird. Trotzdem hat Schelling es als Problem angesehen, daß die Welt der Bäume und Flüsse doch letztlich als eine zweite bestehen bleibt, die gegenüber der Selbstbeziehung des sich begreifenden Ichs überflüssig wird. Wir müssen Schelling so interpretieren, daß einer der Gründe seiner späten These des Wesens, das als sowohl Gott als auch dem Menschen vorangehende Größe angenommen wird, in der beide gründen, ohne sie idealiter und materialiter völlig erschließen zu können, der Versuch ist, diese systemtranszendierende Unerschlossenheit der Realität aufzuheben bzw. ins System zu integrieren. Wir werden sehen, daß Rothe ebenfalls mit diesem Problem umgeht, obwohl er, und das zeigt sich hier, Organisation trotz formaler Ähnlichkeit anders denken muß als Schelling. Sofern Gott und Mensch qualitativ unterschieden sind, kann der Prozeß der Erkenntnis nicht der Fortschritt der Selbsterkenntnis als eines Absoluten sein. Rothe aber zielt genau auf diese Pointe. Der Mensch muß die Welt organisieren, um letztendlich an sich selbst alles dasjenige zu sein, was ihm in bezug auf die Welt jetzt äußerlich ist. Damit aber gerät er unter Druck zu behaupten, daß die Erkenntnis dem Subjekt seine realen Gegenstände inkarniert.89 Rothe versucht diese offensichtlich absurde Konsequenz dadurch aufzufangen, daß er Erkenntnis und Bildung parallel setzt. Die Bildung als Implikat der Erkenntnis hat also die Aufgabe, das Unmögliche wirklich zu machen: Steine und Meere werden durch die Beziehung des Handelns auf sie als Teil des Organismus des Menschen gedacht. Daß er sich der Merkwürdigkeit dieser Behauptung durchaus bewußt war, wird seine These zeigen, die mit dem nächsten Schritt erläutert werden wird. Daß er außerdem ganz verschiedene Theoriekonzepte zu kombinieren sucht, zeigt sich darin, daß innerhalb der Gotteslehre auch die Theorie des Wesens von Schelling übernommen wird. Sind wir nun aber bei Erkennen und Bilden auf der Stufe des Selbstbewußtsein angelangt? Erkennen und Bilden beziehen sich so aufeinander, daß sich das Bilden vom Erkennen den ideellen Gegenstand geben läßt, den es aus einer Beziehung auf ein extramentales Objekt hat, und sich mit dieser ideellen Struktur so auf den realen Gegenstand bezieht, daß er Gegenstand für die Persönlichkeit wird. 90 Versland und Wille sind in ihrer Beziehung aufeinander von der extramentalen Wirklichkeit abhängig. Nach Rothes eigenen Voraussetzungen kann also die Persönlichkeit im Vollzug von Erkennen und Bilden nicht entstehen. Er redet aber im Zusammenhang von Erkenntnis und Bildung

89

90

Holtzmann kritisiert Rothe in seiner Absicht, das "Materielle" in das "Geistige" umsetzbar zu denken. Rothe gerate dadurch in ein "sinnlich-übersinnliches Zwielicht" und müsse ein "Hineinsaugen von Realität aus dem Bereiche der materiellen Natur in das ideelle Dasein" behaupten (Holtzmann, 108f). Holtzmann legt damit den Finger auf den kritischen Punkt, ohne freilich den Hintergrund und die Notwendigkeit dieses Argumentes Rothes zu erörtern. Er geht dazu (prae- oder postidealistisch) von einer Trennung des "physischen" und des "psychischen Seins" aus, von der her ein "geistiger Leib" nur als zwielichtiges "Mysterium" verstanden werden kann (vgl. Holtzmann, 108). Vgl.11,111

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

schon von der Persönlichkeit und zieht somit das Ergebnis der Vermittlung von Verstand und Wille zu Selbstbewußtsein und Selbsttätigkeit vor, damit es überhaupt zu dieser Pointe kommen kann. Die erkannten Objekte werden folglich der proleptisch angenommenen Persönlichkeit als Organismus angebildet. So kann der Vollzug von Erkenntnis und Bildung als der rechte Existenzvollzug des Menschen begriffen werden. Er kommt zur Vollendung, wenn der Mensch sich die gesamte Welt zum Organismus gebildet hat.91 Selbstbewußtsein als die ausschließliche Beziehung von Denken und Wollen aufeinander wird somit zu einer eschatologischen Größe. Solange es extramentale Wirklichkeit gibt, ist der Mensch genötigt, sie um der Vervollkommnung seines Selbstbewußtseins willen zu organisieren. Primär muß nach Rothe die eigene Natur für die Persönlichkeit instrumentalisiert werden.92 Verstehen wir ihn richtig, müßte das bedeuten, daß Seele und Leib Organe der Persönlichkeit werden. Seine Argumentation hat aber die Tendenz, die Notwendigkeit dieser Organisation nur auf die leibliche Natur zu beziehen.93 Das impliziert den Eindruck, die Seele werde mehr oder weniger der Seite der Persönlichkeit zugerechnet und sei damit von vornherein nicht so richtig zum Bereich der Natur zu zählen. So wird eine gewisse Unterbestimmung der Persönlichkeit deutlich. Nach Kant ist das Ich und d.h. die Transzendentale Einheit der Apperzeption nur sinnvoll im Zusammenhang des "Ich denke". Das Ich ist nichts anderes als die Begleitung der Vorstellung, die das Denken vollzieht. Ohne diese Begleitung wären die Vorstellungen ohne Bewußtsein ihrer selbst und d.h. unter anderem, sie wären nicht miteinander verknüpfbar.94 Wir hatten bereits beschrieben, daß sich auf diese Weise das uneinsehbare, unvermittelte Selbstbewußtsein ergibt.

Rothe unterscheidet qualitativ zwischen dem Ich bzw. der Persönlichkeit und dem Denken. Grund dieser Unterscheidung ist sein Vorhaben, ein vermitteltes, empirisches Selbstbewußtsein denken zu wollen, dem - wie gezeigt - in rudimentärer Weise ein Ich im Sinne Kants vorausgesetzt werden muß. So aber verliert die Persönlichkeit ihre Handlungsmöglichkeit. Die Seele als Instanz von Denken und Wollen, die nach Rothe auch zur Natur gehört, kann, genau genommen, nicht organisiert werden. Die vollständige Organisation der Welt durch die Menschheit hebt nach Rothe den extramentalen Charakter der Wirklichkeit auf. Die ganze Welt ist als Organ der Menschheit ihr Bewußtseinsinhalt: "Diese Zueignung der ... äu-

91 92 93 94

Vgl.II,121f.,110f.,166 Vgl.II,122f. Vgl. 1,444 (111,206) Vgl. Kant, KrV,B132ff.

Das Denken

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ßeren ... Natur an die menschliche Persönlichkeit ... ist ... zugleich ihre vollständige Aufhebung als äußere Natur." 95 Es ist eben darauf hingewiesen worden, daß Rothe diese These nicht ganz widerspruchsfrei aufstellt, denn er redet trotz dieser Aufhebung der äußeren Natur von der eschatologischen Notwendigkeit ihrer Zersetzung durch Gott. Demnach sind "Steine, Berge, Flüsse, Bäume, Blumen, Thiere u.s.w."96 nur das "Gerüst"97 und letztendlich die "Schlacke"98 der Schöpfimg. Die direkte Widersprüchlichkeit dieser Behauptungen wird dadurch zu mildern versucht, daß der Grund der Zersetzung der Natur in ihrem Charakter als "Materie" gesehen wird 9 9 Wiederum bemüht Rothe damit einen Begriif, der in die Philosophie Schellings gehört. Schelling bezeichnet sowohl die der Erkenntnis letztlich entzogene äußere Welt als Materie100 als auch das der Erkenntnis vorausgesetzte Wesen Gottes.101 Trotz des verschiedenen Ortes der Materie wird ihr Begriff insofern identisch gebraucht, als er das sich jeder Rationalität und also Organisation Entziehende ausdrücken soll. Nach Rothe jedoch gilt die Welt als grundsätzlich organisierbar. Es kann demzufolge nichts Stoffliches geben, das sich dem Denken des Menschen entzieht. Einerseits ist die These einer notwendigen Zersetzung von Materie demzufolge widersprüchlich. Andererseits jedoch bilden Raum und Zeit - wie erwähnt - ein Problem der Erkenntnis. Sie sind aber nach Rothe nichts anderes als Ausdruck der Materie. Es gilt darum, den Horizont des gezeigten Problems offenzuhalten, um es im Fortlauf genauer bestimmen zu können. Indem der Mensch die Welt gemäß dem Denken Gottes organisiert, gibt es in dieser Welt keine pure Profanität. Der Mensch hebt die Schöpfungsgedanken Gottes in sein Bewußtsein und gibt den Geschöpfen als Organen den rechten Ort in der Welt. Damit gibt der Mensch der Schöpfung ihre Pointe. Die vollendete Schöpfung ist die vollständig erkannte und gebildete.102 Erst als solche ist die Schöpfung so, wie Gott sie in seinem Schaffen gemeint hat. Erkennen und Bilden stehen nach Rothe unter einem doppelten Charakter. Denn das Handeln ist einerseits individuell, andererseits universell,103 Das

95 96 97 98 99 100 ιοί 102 103

11,73; vgl.II,122ff. 11,125 111,199 11,478 Vgl.HI, 199 Vgl. Schelling, 111,407 Vgl. Schelling, VII,435 Vgl.II,124f. Da ich die Erkenntnislehre Rothes entwickle, um die Spekulation erklären zu können, vernachlässige ich die Entfaltung der Bildung ins Vierfache. Sie sei hier nur genannt: Das "Aneignen" ist die Organisation der Welt durch das Individuum (11,143). Es wird begleitet durch das "Genießen", d.h. ein Erkennen als Wertgeben durch den Geschmack (II,152f.). Das Bilden als Organisieren der extramentalen Wirklichkeit nennt Rothe das "Machen" (11,156). Es wird ebenfalls von einem Erkennen begleitet, das ein Wertgeben ist: Rothe nennt es das "Schätzen" (11,159).

44

Der Mensch als Subjekt der Spekulation

Subjekt der Erkenntnis ist einerseits der individuelle, einzelne Mensch.104 Seiner Einzigartigkeit dienen Erkenntnis und Bildung. Individualität definiert Rothe als Unvollkommenheit. Kein menschliches Einzelwesen ist die vollkommene Realisation seiner Gattung. Der Mangel ist in jedem Menschen ein anderer. Als Grund des Mangels gibt Rothe die "materielle... Natur" des Menschen an.105 Gemeint ist damit die Bedingtheit des Menschen durch Raum und Zeit. Der Mensch als Mangelwesen ist auf alle anderen Menschen angewiesen und erst mit allen zusammen die Realisation des Wesens Mensch. Das universelle Erkennen bezieht sich hingegen auf eine Organisation der Welt für die Gattung Menschheit, die letztendlich das Subjekt des gesamten Erkenntnisprozesses ist.106 Universelles Erkennen ist dem Menschen trotz seiner "materiellen Natur" möglich, insofern er mit einer Persönlichkeit ausgerüstet ist, die den Bereich der Natur transzendiert. Von der Persönlichkeit her werden also Denken und Wollen auf das ideelle Schema der Wirklichkeit bezogen. Obwohl dieses Argument stringent ist, benutzt Rothe es nur indirekt. Er geht vielmehr davon aus, daß die Individualität auch die Persönlichkeit betrifft, die sich darum primär selbst zur Universalität umbilden muß. 107 Diesem Denken liegt ein Fehler zugrunde, erstens, weil die Persönlichkeit überhaupt nicht Etwas ist und demzufolge auch nicht durch die Natur verdorben werden kann. Rothes Argument setzt die Persönlichkeit auf die Ebene der Natur zurück. Zweitens wird mit der Möglichkeit einer solchen Selbstkorrektur ein ausdrückliches Selbstbewußtsein angenommen, das aber durch die universelle Erkenntnis erst konstituiert werden soll. Auf diese Ambivalenz des Begriffes der Persönlichkeit wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. Wir werden sehen, daß sie um der Möglichkeit der Sünde willen angenommen werden muß.

Da trotz des auf Universalität angelegten Verstandes kein einzelner Mensch alle Welt erkennen kann, ist die Entstehung der universellen Persönlichkeit auf den Austausch des Wissens angewiesen. Es kommt so im Laufe der Geschichte zu "eine[r] Persönlichkeit höherer Ordnung, einefrj Gemeinpersönlichkeit". 108 Es ist bereits erwähnt worden, daß auch Schellings Systementwürfe von Anfang an eben dieses Ziel verfolgen. Das individuelle wie das universelle Erkennen werden außerdem von einem Bilden begleitet. Damit ergibt sich ein Vierer-Schema: Das "Ahnen" als indivi-

104 105

106 107 108

Vgl. I,483ff.;vgl.1,484-492 1,547 Vgl.I,547f.,551.II,17f. I,539f. I,509;vgl.I,178ff.

Das Denken

45

duelles Erkennen in seiner Begleitung durch das "Anschauen", sowie das universelle "denkende Erkennen" in seiner Begleitung durch das "Vorstellen". 109 1.2.1.1. Ahnen und Anschauen Die Ahnung ist das Produkt des Gefühls. Sie kommt zustande, indem sich das Denken kraft der Persönlichkeit vom Eindruck des Objektes im Bewußtsein unterscheidet und sich auf ihn bezieht. Die Anschauung hingegen ergibt sich durch eine dem Gefühl immanente Bildung. Sie gilt als A usdruck der Phantasie bzw. des künstlerischen Vermögens des Menschen. Das individuelle Erkennen nennt Rothe das "Ahnen".110 Es ist der Ausdruck des "Gefühls", das durch die "Empfindung" angeregt wird. Die Empfindung ist eine Weise des Erkennens, die schon Tieren möglich ist. 111 Das Bewußtsein verhält sich dabei rein rezeptiv. Der Akteur der Empfindung ist die äußerliche Welt. Sie wirft ihr Bild in das Bewußtsein hinein. Dabei identifiziert das Bewußtsein sich selbst mit dem Reflex der Welt in ihm. Rothe sagt: "Als bloße Empfindung ... ist sie ein durch die es bestimmende materielle Natur gefangen genommenes oder obruirtes persönliches Bewußtsein, das eben deßhalb gar nicht sicher, d.h. wirklich, sich als Verstandesbewußtsein oder Selbstbewußtsein vollziehen, d.h. in die Zweiheit des objektiven und des subjektiven Bewußtseins auseinandertreten kann."112 Im Unterschied zum Tier kann der Mensch kraft seiner Persönlichkeit diese Verwechslung aufheben, indem er das Verstandesbewußtsein vom Eindruck des empfundenen Gegenstandes unterscheidet. Dieser Akt qualifiziert die bloße Empfindung zum "Gefühl".113 Obwohl Rothe die Entstehung der Persönlichkeit an die Selbstbeziehung von Denken und Wollen bindet, haben wir an dieser Stelle wohl ihren eigentlichen Ursprung zu denken. Um das zu verstehen, greifen wir auf Fichte zurück. Gemäß dessen Entwurf der Wissenschaftslehre von 1794 kommt Endlichkeit dadurch zustande, daß sich das absolute Ich dazu bestimmt, teilbar zu sein und so dem teilbar gewordenen Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegensetzt.114 Sind so in der Sphäre der Endlichkeit Ich und Welt unterscheidbar, so erfolgt diese Unterscheidung doch ausschließlich kraft des absoluten Ich, innerhalb dessen sie ja gesetzt ist. D.h., die Unterscheidung des endlichen Ich von seinem Nicht-Ich qua Welt erfolgt vom absoluten Ich her, das als permanenter Grund des endlichen Ich verstanden werden muß. 109

110 in 112 113 114

Diese Weisen des Bildens sind dem Erkennen immanent und also zu unterscheiden von der Bildung als Aneignen, Genießen, Machen und Schätzen, die sich aus dem Gegenüber des Willens zur Erkenntnis ergeben. Von Rothes Rezipienten ist das häufig verwechselt worden (vgl. z.B. Thomassen, 59; Thomassens Exkurs stellt Rothe insgesamt derart verkürzt dar, daß fragwürdig ist, ob dem Vf. sein Konzept deutlich vor Augen stand; vgl.59.61). 11,126 S.o.S.23 11,9 Vgl.II, 128 Vgl. Fichte, WL 1794,105ff.

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

Selbst dort, wo sich das endliche Ich der Welt gegenüber passiv bzw. rezeptiv verhält, ist Bewußtsein als Aktion des absoluten Ich notwendig, damit das endliche Ich diesen Zwang überhaupt als einen von außen kommenden begreifen kann. Schelling schließt sich in seiner Konzeption des endlichen Ich Fichte im wesentlichen an, 115 und sein terminus der lediglich "quantitative[n] Differenz" zwischen Subjekt und Objekt bezeichnet genau diese ihre Gebundenheit an das Absolute.116

Indem Rothe im Unterschied zu Fichte und Schelling anstelle des Absoluten einen persönlichen Gott denkt, kann dieser nicht die Funktion der Selbstbegrenzung des Ich übernehmen, welche die äußerliche Welt von dem eigenen Subjektsein zu unterscheiden vermag. Deutlich wird das bei der Definition des Gefühls, das als Verhältnis zu einer an sich bewußtlosen Empfindung beschrieben wird. Indem der Mensch Gott gegenüber selbständig oder sozusagen qualitativ von ihm unterschieden ist, bedarf er einer eigenen Instanz, von der her ein Verhältnis zu den eigenen Bewußtseinsakten möglich ist. Um des Gefühls willen ist deswegen eine ihm vorausgehende Persönlichkeit nötig, die Rothe aufgrund ihrer Priorität gegenüber jedem aktuellen Akt nicht deduzieren kann. Sie wird dadurch zum "Ich denke" als Begleitung der Vorstellungen. Rothe sagt: "In diesem sich Unterscheiden ist aber natürlich das erste Moment, daß das Ich sich mit seinem Bewußtsein in sich selbst zurückwirft, also daß es sich von dem es bestimmenden Objekt unterscheidet."117 Jedoch befinden wir uns an dieser Stelle nicht auf der Ebene des logischen Denkens, sondern des Gefühls. Trotzdem ist ein Objektbewußtsein gegeben: "Jedes (wirkliche) Gefühl ist ... beides zugleich, einerseits Selbstgefühl und andererseits Gefühl eines bestimmten Objekts."118 Das Selbstgefühl ist damit lediglich eine Vorform des Selbstbewußtseins, das erst als Ausdruck logischen Denkens gelten soll.119 Beim Gefühl hält die Persönlichkeit "im Bewußtsein ausdrücklich nur sich selbst fest, den bestimmend auf es einwirkenden Gegenstand aber nicht als solchen, sondern nur den Eindruck, den er auf es macht."120 Den Eindruck des Objektes im Bewußtsein, auf den sich das Gefühl bezieht, nennt Rothe die "Ahnung".121 Das Fühlen ist also eine Erkenntnis, die sich rein intramental vollzieht. Als individuelle Erkenntnis ist das Gefühl in jedem Menschen verschieden, weil sich der Eindruck der zu fühlenden Objekte an der Unvollkommenheit der jeweiligen menschlichen Natur bricht. Rothe nennt Iis 116

Vgl. Schelling, III,340ff. Vgl. Schelling, IV.123

117

11,128

lis

11,13

119

Vgl.1,30 u.ö.

120

11,128

121

11,127

Das Denken

47

deswegen jede gefühlsmäßige Erkenntnis "durchaus individuell und nicht übertragbar". 122 Weil Individualität nach Rothe ein Ausdruck von Unvollkommenheit ist, kann Gott kein Gefühl zuerkannt werden. 123 Die Ahnung ist jedoch nicht das einzige Ergebnis des Ahnens. Rothe unterscheidet von ihr außerdem die "Anschauung".124 Diese kommt folgendermaßen zustande: Die Prolepse der Persönlichkeit gestattet es, die These aufzustellen, daß ihre beiden Funktionen, Verstand und Wille, nicht nur einander gegenüber stehen, wie wir es bereits beschrieben haben, sondern es jeweils innerhalb von Verstand und Willen ein Gegenüber beider Größen gibt. So "schlägt, in irgend einem Maße, jedes erkennende Handeln unmittelbar in ein bildendes um". 125 Damit hat das Erkennen zum unmittelbaren Korrelat ein Bilden, von dem der Wille als äußeres Gegenüber des Denkens unterschieden werden muß. Es wird jedoch nicht ausdrücklich erklärt, wie es möglich ist, daß das Denken bzw. der Wille die jeweils andere Funktion der Persönlichkeit zu übernehmen vermag. Wir werden lediglich darüber informiert, daß es ein "Vermögen der Verstandesempfindung, genauer des Gefühls, zu bilden" gibt.126 Dabei wird die Ahnung für das fühlende Verstandesbewußtsein zu einem individuellen Phantasiebild ausgeformt. Anschauungen sind nach Rothe Ausdruck des künstlerischen Vermögens des Menschen. 1.2.1.2. Denkendes Erkennen und Vorstellen Im "denkenden Erkennen" bezieht sich der Mensch in der Weise der "Wahrnehmung" auf extramentale Objekte und bildet sie in der Weise der "Reflexion" dem Verstandesbewußtsein ein. Gemäß der Ahnung beim individuellen Erkennen ist das Ergebnis der Wahrnehmung die "Kenntnis" und das Ergebnis der Reflexion der "Begriff. Wahrheit ergibt sich aus der Übereinstimmung von Kenntnis und Begriff. Sofern sich der Mensch die Welt mittels Erkenntnis und Bildung zum Organ aneignet, ist die Wahrheit Ausdruck organisierter Wirklichkeit und somit in ihrer Vollendung eine eschatologische Größe. Die Weise des Bildens als Funktion der Erkenntnis nennt Rothe "Vorstellen". In bezug auf Wahrnehmung und Reflexion gibt es die Vorstellung als "Bild" und als "Schema". In Vorstellungen kommt die Wahrheit der Erkenntnis zur Sprache. Erst die Sprache ist darum recht eigentlich als Medium des Wissens zu verstehen. In seiner Wahrnehmung ist der Mensch mit der extramentalen Wirklichkeit auf Raum und Zeit bezogen. Raum und Zeit sind als nichtideelle Form der Wirklichkeit zu verstehen, die 122 123

11,127 Vgl.11,129

124

II,129f.

125

11,113 Rothe setzt das Zitat so fort, daß auch das Bilden wiederum in ein Erkennen umschlägt, das in einer Art Kontrolle über das Gebildete vollzogen wird. Für den Fortlauf ist aber dieses erneute Erkennen nicht konstitutiv, und wir können annehmen, daß Rothe es hier lediglich um der Symmetrie willen eingeführt hat.

126

11,130

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

darum auch eine reine Ideellität der Vorstellung, als letztem Ergebnis der Erkenntnis, hindern. Das universelle Erkennen versteht Rothe als das "denkende Erkennen". 127 Es vollzieht sich durch die Aktion des "Verstandessinnes", durch den sich der Verstand auf reale Objekte zu beziehen vermag. 128 Wie sich an der Verknüpfung von "Verstand" und "Sinn" zeigt, ist der Verstandessinn die Möglichkeit des Denkens, die ihm durch den von diesem Denken bzw. der Seele als "Sinn" bestimmten Leib zukommt. 129 Indem sich der Mensch so unter der Regierung der Persönlichkeit auf die wahrzunehmende Welt hin überschreitet, tritt er aus dem Bereich seiner individuellen Beschränktheit heraus.130 Darum hat das denkende Erkennen in jedem Menschen bei der Wahrnahme derselben Objekte die gleichen Inhalte. Betrachten wir die Stufenordnung der Erkenntnis in Schellings System des Transzendentalen Idealismus, wird einsichtig, daß die Struktur der Ordnung des Denkens diesem Schema entspricht. Eingedenk der Unterschiede, zu denen er durch seinen Theismus genötigt ist, lassen sich die Verhältnisse von Ahnen und Anschauen, denkendem Erkennen und Vorstellen, aber auch von Vernunft und Freiheit, auf die drei Epochen des Selbstbewußtseins nach Schelling abbilden. Genauso wie Rothe beschreibt nämlich Schelling die primitive Form des Bewußtseins des Menschen als Empfindung, der ein Anschauen entspricht (Erste Epoche). Im Unterschied zu Rothe jedoch impliziert bereits die Empfindung ein Selbstbewußtsein in der Weise eines Wissens um die Empfindung, von der ein Objekt unterschieden werden kann. Die Unterscheidung von Empfindung und Gefühl, die es auch bei Schelling gibt, hat demzufolge einen anderen Sinn.131 Wichtig für das Folgende ist, daß sich nach Schelling die Anschauung zur Reflexion erhebt, indem sich das Denken kraft seines Grundes im Absoluten gegenüber Empfindung und Objekt auf eine Metaebene erhebt, von der her der gesamte Erkenntnisvorgang als Objekt begriffen werden kann (Zweite Epoche). Das der Empfindung fremde Objekt wird so in den Prozeß der Erkenntnis selbst integriert.132 Der absolute Willensakt als Dritte Epoche vermag 127

11,135

128

Vgl.II,135f.

129

Vgl.II,2

130 131

Vgl.II,17f. Vgl. Schelling, III,462ff. Rothe definiert das Gefühl auf eine Weise, die nach Schelling für die Empfindung gilt. Nach diesem "ist das Empfundene nichts vom Ich Verschiedenes, es empfindet nur sich selbst" (III, 405). Dem entspricht Rothes These, daß sich das Gefühl nicht auf den gefühlten Gegenstand bezieht, sondern lediglich auf seinen Eindruck im Bewußtsein. Bei genauer Untersuchung aber ist der Unterschied entscheidend. Die Selbstempfindung ist nach Schelling nichts anderes als die Empfindung der Grenze, die das Ich sich selbst setzt und jenseits derer das Objekt nur als fremdes auftaucht. Rothe hingegen nimmt das, was nach Schelling erst die Reflexion leisten soll, bereits für das Gefühl voraus, indem dieses Gefühl das Objekt im Subjekt fühlt. Die Erkenntnis hat sich im Unterschied dazu auf ein transzendentales Objekt zu beziehen. Vgl.Schelling, III,454ff.

132

Das Denken

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es darüber hinausgehend, aus dem Denken, das aus Erfahrung (des Objektes) klug geworden ist, sich mittels Kategorien zu vollziehen, seine Objekte selbst zu produzieren. 133 Wichtig für den jetzigen Zusammenhang ist, daß nach Schelling die Zweite und Dritte Epoche die jeweils vorangehende voraussetzen, indem sie aus der in ihnen vollzogenen Weise des Selbstbewußtseins entwickelt werden. Konkret: Die Reflexion, die bei Schelling an der Stelle des Denkenden Erkennens nach Rothe steht, bedarf um ihrer selbst willen der Empfindung. Indem Rothes Konzeption dieser Stufenordnung formal entspricht, vermittelt er den Eindruck, daß auch in seiner Konzeption das Gefühl die notwendige Bedingung der Erkenntnis ist. Wir haben deswegen zu prüfen, ob sich diese Hypothese bestätigt.

Obwohl der Mensch in seinen Ahnungen der Welt ausgesetzt ist, hat diese nach Rothe nicht die Macht, die individuelle Beschränktheit des Menschen zu brechen und als dieselbe Welt in jedes Verstandesbewußtsein das gleiche Bild zu werfen. Das Denken muß zur Selbsttranszendenz werden. Nur auf diese Weise ist die Welt für jeden Menschen dieselbe. Die Notwendigkeit der Organisation der Welt läßt darauf schließen, daß sie per se in Unordnung ist und als eine Welt vorkommt, die nicht fur den Menschen geeignet ist. Obwohl Erkenntnis Gehorsam ist, kann die Welt den Menschen nicht zu denken veranlassen. Erst die Beziehung des Menschen auf die Welt macht diese zu einer ordentlichen, zum Organ für die Gattung Menschheit. Wie wir noch sehen werden, geht dann allerdings mit zunehmender Organisation der Welt ihre Macht verloren, das Verstandesbewußtsein als Gefühl zu beeindrucken. Ich werde zeigen, daß dies an Rothes Gefühlsbegriff liegt, es ist aber auch in diesem Zusammenhang logisch. Indem die Welt zum Organismus der Menschheit wird, verliert sie ihre Eigenmacht und der Mensch ist ihr nicht mehr ausgesetzt. Zu einer vollständigen Erkenntnis gehört nicht nur die "Wahrnehmung", die Rothe, indem sie durch den Sinn regiert ist, ihre "somatische" Seite nennt, sondern auch die "Reflexion" als "psychische" Seite.134 Die Reflexion vollzieht die Bewegung der Ahnung nach, indem die Struktur eines extramentalen Objektes in das Denken hineingenommen wird. Sie ist aber zugleich eine Weise der "Anschauung". Rothe nennt das Erkennen "ein Hmzmabbilden der ... Welt ... in das menschliche Verstandesbewußtsein".135 Im Unterschied zur Ahnung ist also die Reflexion durch die Wahrnehmung gebunden. Sie ist implizit bezogen auf den extramentalen Gegenstand und nicht nur auf seinen Eindruck im Bewußtsein. Die Aufgabe, die Ahnung ein Bild werden zu lassen, kam innerhalb des individuellen Erkennens dem Willen als Weise des Bildens zu. Damit wird offensichtlich innerhalb der universellen Erkenntnis unter der Hand die individuelle Weise des Bildens in den Akt der Erkenntnis so eingetragen, daß von diesem Bilden ein zweites Bilden, das Rothe, wie wir se-

133

Vgl. Schelling, III,505ff.

134

11,136

135

11,135

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

hen werden, Vorstellung nennt, unterschieden werden kann. So aber wird wiederum eine Zweiseitigkeit innerhalb des Denkens selbst angenommen. Die Möglichkeit, daß das Denken in sich selbst die Struktur eines extramentalen Gegenstandes abbildet, setzt eine Doppelheit der Relata voraus. Diese Doppelung läßt sich jedoch wegen ihrer Transzendentalität nicht einfach durch die Voraussetzung der Persönlichkeit erklären, die ein Verhältnis zu jedem Bewußtseinsakt ermöglicht. Rothe trägt vielmehr die miteinander zum ausdrücklichen Selbstbewußtsein zu vermittelnden Größen Verstand und Wille gemäß einem Spiegelbild, in dem sich ein Spiegel reflektiert, ineinander ein. Das Gegenüber von Verstand und Wille wird so zu diesem Gegenüber innerhalb des Verstandes, wobei der Verstand, abgesehen von seinem Gegenüber zur Anschauung als Erkenntnis, wiederum diese Unterscheidung in sich selbst übernimmt. Wahrscheinlich versucht Rothe durch diese diffizilen Unterscheidungen, die als Gegenüber von Verstand und Wille eigentliches Selbstbewußtsein ergeben sollen, die Voraussetzung der Persönlichkeit im genannten Sinne überflüssig zu machen, was, wie gezeigt, nicht gelingen kann. Das Ergebnis der Wahrnehmung extramentaler Objekte nennt Rothe die "Kenntnis", das Ergebnis der Reflexion den "Begriff',136 Der Begriff ist die Analyse und die vollständige Zusammenfassung aller Merkmale eines Objektes in die Einheit des Verstandesbewußtseins.137 Wesentlich ist, daß innerhalb der Anthropologie der Begriff nicht der Ausgangspunkt, sondern das Resultat des Denkens ist. Daran wird noch einmal deutlich, daß das Denken der Welt nicht mit apriorischen Bedingungen ausgerüstet entgegentritt, sondern mit dem zu Denkenden seine Logik erst übernimmt. Das "Hineinabbilden" ist demzufolge identisch mit dem Akt, den Rothe als Verursachung beschrieben hatte. Mit einem Hinweis auf Kant erläutert uns Rothe noch einmal auf andere Weise das Verhältnis von Wahrnehmung und Reflexion. Er fuhrt aus: "Die Denkformen sindpotenzirte Anschauungsformen. "138 Zwar wird dazu ein Zitat von Kant angemerkt, 139 jedoch können die Formen der Anschauung, die Rothe meint, nach dem eben Erörterten nur die Strukturen der wahrgenommenen Gegenstände der Erkenntnis sein. Die Wahrnehmung bezieht sich nach Rothe ohne apriorische Bedingungen auf die extramentale Wirklichkeit. Sie ist als Vorgängerin der Reflexion eine Weise der Anschauung, die sich aber auf die Formen, auf die Struktur dieser Wirklichkeit einläßt. Stehen trotz dieser Uminterpretation Kants die "Anschauungsformen" in einem Verhältnis zu Raum und Zeit? Nach Rothe ist die Wirklichkeit der Welt grundsätzlich durch Raum und Zeit bestimmt. Die Erkenntnis als transmentale Weise des Denkens ist damit auf Raum und Zeit bezogen. Obwohl Raum und Zeit keine Formen der Sinnlichkeit sind, gehorchen sie im Unterschied zu allem

136 11,136 137 Vgl.II,47f.,142,335.Dog.I,157 138 11,4 139 Vgl.II,4

Das Denken

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Wirklichen dennoch nicht dem Gesetz der Kausalität. Sie sind kraft der Kausalität undenkbar und machen demzufolge das Moment des Irrationalen in der Schöpfung aus. Da Rothe sie nicht als Bedingung der Erkenntnis einsetzt und sie auch nicht die Logik der extramentalen Wirklichkeit darstellen, werden sie im Sinne einer Kreatur gedacht. Sie sind aber an sich selbst nicht Etwas, sondern nur die nichtlogische Form eines jeden Seienden. So aber kommt Raum und Zeit der merkwürdige Status einer nichtlogischen Logik zu, die Daseinscharakter hat.140 Für unseren Zusammenhang ergibt sich: Als "Anschauungsformen" versteht Rothe die Strukturen der Wirklichkeit, solange sie extramental vorliegen. Sie sind demnach nichts anderes als das wahrgenommene Gesetz der Kausalität. Raum und Zeit hingegen kommen wohl zusammen mit den Anschauungsformen vor, sie sind aber nicht selber Anschauungsformen. Nur wenn wir Rothes Begriff der Anschauungsformen so interpretieren, können die "Kategorien" als "potenzierte Anschauungsformen" verstanden werden. Die Kategorien ergeben sich nach Rothe aus den Anschauungsformen. Ich gehe davon aus, daß unter Potenzierung der Prozeß von Analyse und Synthese zu verstehen ist. Er hebt die Anschauungsformen auf das Niveau der Möglichkeit des Denkens in Kategorien, wie es nach Rothe - wie wir sehen werden - aufgrund der Erkenntnis auch unabhängig von der Wahrnehmung und d.h. rein intramental möglich sein soll. In der Erkenntnis selbst wird aber noch nicht auf diese Weise in Kategorien gedacht. Das Denken bleibt hier gebunden an die Anschauungsformen. Für die Erkenntnis ist die Bezogenheit auf ein extramentales Objekt konstitutiv. Anders gesagt: Obwohl also das Erkennen eine Weise des Denkens ist und sich nur mittels logischer Gesetze vollzieht, gelten diese Kategorien (intramental) bei der Erkenntnis noch nicht als solche. Das Denken ist angewiesen auf das Erfassen der Wirklichkeit durch die Anschauungsformen (extramental). Ohne diese kann der Verstand nicht aktiv sein.141 140 141

Wie es zu dieser Definition von Raum und Zeit kommt, wird innerhalb der Gotteslehre abgeleitet werden. Es ist offenkundig, daß zu Rothes Absichten systemkonstituierend eine Auseinandersetzung mit Kant gehört (so auch Heesch, 138 und Holtzmann, 3). Heesch betont, daß Rothe, indem dieser eine Theorie der Subjektivität liefert, nicht vorzuwerfen ist, er sei in eine vorkritische Metaphysik zurückgefallen (Heesch, 256f.). Die von mir erschlossene Kant-Interpretation Rothes unterstützt diese These. Flade hingegen ist der Meinung, daß Rothe sich wohl auf Kant und Fichte beziehe (vgl. Flade, 38), ja, daß sein Systementwurf sogar im Rahmen des Schellingschen Identitätssystems zu verstehen sei (vgl. Flade, 50), daß er aber aufgrund seines Erkenntnisoptimismus dennoch in einen "naiven Realismus" zurückfalle (vgl. Flade, 38,42,46f.,64). Dieses sein Hauptsrgument verstellt Flade die Einsicht in die Komplexität der Spekulation Rothes, die sich die Implikate der Identitätsphilosophie auf

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

Denkende Erkenntnis zielt darauf, die Einheit von Kenntnis und Begriff zu erreichen. Erst beide zusammen ergeben nach Rothe das "Wissen".142 Jedes Wahrgenommene soll vollständig begriffen werden und damit eine allgemeine Gültigkeit haben, welche identisch ist mit der "Wahrheit".143 Die Wahrheit ist also frei von aller Individualität. Sie ist eine Eigenschaft der denkenden Erkenntnis.144 Wahr sind Begriffe, wenn sie die Welt so reflektieren, daß diese zum Organismus der Menschheit gebildet werden kann. Wahre Erkenntnis verändert also die Dinge in gewisser Weise. Sie werden instrumentalisiert. Wenn Wahrheit als Übereinstimmung interpretiert werden soll, kann sie nur Übereinstimmung des intellectus mit den bereits erkannten bzw. wahrgenommenen Objekten sein. Rothe selbst benutzt die Definition der Wahrheit als adaequatio in noch einem anderen Sinn. Die Wahrheit ist Übereinstimmung, sofern alle Erkenntnissubjekte dieselbe Beziehung auf ein Erkenntnisobjekt haben. Diese Übereinstimmung ist sogar das Kriterium der Wahrheit. Die Selbigkeit der Relation wird damit zum Maßstab der Wahrheit als adaequatio rei ad intellectum.145 Wahre Erkenntnis ist demnach nur als gemeinschaftliche möglich. Wahrheit in ihrer vollen Gültigkeit ist außerdem die Analyse und Synthese aller Gegenstände der extramentalen Wirklichkeit. Damit wird die Wahrheit zu einer eschatologischen Größe und es kann im Bereich der Geschichte immer nur zu Annäherungen an sie kommen. Rothe sagt: "Derjenige weiß nichts wahrhaft, der nicht Alles weiß."146 Es muß Alles gewußt werden, um das Einzelne in seiner Wahrheit zu begreifen, weil die Schöpfung in ihrer Pointe ja als Organismus der Menschheit gedacht ist, in dem jedes, um seine Funktion erfüllen zu können, seinen ganz konkreten Ort hat und durch alle anderen Momente zu diesem Ort bestimmt wird. Des weiteren muß in bezug auf den Wahrheitsbegriff berücksichtigt werden, daß jeder Mensch nur einen begrenzten Ausschnitt der Welt wahrnehmen kann. Darum muß Wissen ausgetauscht werden.147 Wahres Wissen ist nur und

142 143 144 145 146 147

anthropologischer Ebene zunutze macht, um gerade auf diese Weise einen theistischen Gottesbegriff zu rechtfertigen (Künneth schließt sich an diese Argumentation Flades an; vgl. Künneth, 16). 11,136 Vgl.II,136 Vgl.II,136f. 11,138 11,335 Vgl. 11,3 34 Die Tugend der. Wahrhaftigkeit ist demzufolge die treue Darstellung unseres Wissens für andere mittels der Sprache (vgl.IV,344f.).

Das Denken

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erst dann im Besitz der Menschheit, wenn sie die gesamte Schöpfimg erkannt und gebildet hat.148 Dennoch redet Rothe im Bereich der Pflichtenlehre von der Pflicht zur Wahrhaftigkeit sowie von Wahrheit und Lüge. Unter wahren Worten sollen solche verstanden werden, die der Vollendung des wahren Wissens in der Menschheit dienen. Auch hier versteht er unter Wahrheit nicht die simple Übereinstimmung von Erkenntnis und Objekt. Inneres und Äußeres müssen vielmehr in der Weise von Erkenntnis und Sprache koinzidieren. In der Sprache muß sich das Erkannte ausdrücken. Die Erkenntnis ist dabei durch das Ziel der Menschheit, die Organisation der Welt, geleitet.149 Wahr ist die sprachliche Darstellung der Welt, die den Menschen seinem Gattungsbegriff näher bringt. Wir müssen also davon ausgehen, daß die Erkenntnis die Welt für die Menschheit in der Sprache verändert. In der Sprache wird das erkannte Objekt als Organ der Menschheit dargestellt. Sie ist damit nicht der bloße Ausdruck eines Sachverhaltes, der der Menschlichkeit eines Menschen auch schaden könnte. So ist ja auch die Wahrhaftigkeit Gottes nach Rothe das Zurechtbringen der Wirklichkeit fur den Sünder. Gottes Wahrhaftigkeit dient dem Endzweck der Menschheit.150 Dieser Wahrheitsbegriff ist deswegen nicht utilitaristisch zu nennen, weil er lediglich der Verwirklichung des eschatologischen Begriffes der Menschheit zugeordnet ist. Wir sollten darum eher von einem teleologischen Wahrheitsbegriff rtdea.151 Das "Vorstellen" ist die universelle Reaktion auf das denkende Erkennen. 152 Es ist der Umschlag des erkennenden Handelns in das bildende und so "das Vermögen, ein objektives Bild des erkannten Gegenstandes zu koncipi-

148 149 150 151

II,334f.I,25 IV,357f. Vgl.III,109f. Der traditionelle Begriff von Wahrheit als adaequatio wird hier lediglich so in Anspruch genommen, daß Wahrheit einerseits intramental die Übereinstimmung von Kenntnis und Begriff sein soll, andererseits die der erkennenden Subjekte in bezug auf das zu Erkennende. Trotzdem kommt es vor, daß Rothe schlicht davon redet, "Wahrheit [sei] ... die Übereinstimmung der Vorstellung mit ihrem Objekt" (I,230;vgl.Dog. 1,113). Diese Wendung taucht in dem Zusammenhang auf, da Gott dafür gerechtfertigt werden soll, daß er nicht wissen kann, was noch nicht geschehen ist. Sie soll lediglich sagen, daß es kein Vorherwissen gibt, weil jedes Wissen eines konkreten Erkenntnisobjektes bedarf. Dennoch muß diese Wendung als ein lapsus gewertet werden, denn ein Objekt jenseits der Vorstellung kann es ja nach Rothe nach vollzogener Erkenntnis, die sich jedes Objekt gleichsam inkarniert, nicht mehr geben. Jedoch haben wir mit dem Begriff der Vorstellung dem Stand unserer Diskussion Rothes bereits vorgegriffen.

152

11,139

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

ren",153 Dieses Bild, die "Vorstellung", ist "die rein innere Abbildung des Gedankens".154 Gemäß der Form von Raum und Zeit, die alles Gedachte einhüllt, ist es "wesentlich Vorstellen in Raum und Zeit, Imaginiren nach einem ... räumlichen und zeitlichen Schema."155 Als Antwort auf die Wahrnehmung (Kenntnis) ergibt die Vorstellung ein "Bild, welches... immer einen empirischen einzelnen Gegenstand hat".156 Sofern die Vorstellung eine Antwort auf die Reflexion (den Begriff) ist, ergibt sie ein "Schema", das als "Gemeinbild" verstanden werden soll.lil Rothe erklärt wohl, daß das Schema die Wahrnehmung zur Voraussetzung hat, insofern sie das Ergebnis der Wahrnehmung, nämlich die Reflexion bildet. Geklärt wird aber nicht, ob sich die Reflexion direkt auf die Wahrnehmung oder auf das Bild der Wahrnehmung bezieht. Wie sich zeigte, ist sie ja selber lediglich ein Bilden, da sie die Funktion der Anschauung innerhalb der Erkenntnis übernimmt. So gesehen aber wird das "Schema" ein Bild vom Bilden. Unterschieden ist das "Hineinabbilden" der Reflexion von "Bild" und "Schema" jedoch offensichtlich dadurch, daß letztere nicht durch den Vollzug von Analyse und Synthese zustande kommen. Wird also durch das Eintragen des Willens qua "Bild" und "Schema" die Methode des Denkens in gewisser Hinsicht aufgelöst, so soll das nicht für das Bilden im Sinne der Reflexion angenommen werden. Rothe bezieht sich mit der Definition von "Bild" und "Schema" auf Kant, interpretiert aber die Inhalte beider Größen neu. Nach Kant sind sie dadurch unterschieden, daß "das Bild ... ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft [ist], das Schema sinnlicher Begriffe ein Produkt. . . der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wonach die Bilder allererst möglich werden".158 In Schemata drücken sich Begriffe nach Kant in ihren idealen Formen aus, in denen sie empirisch nicht vorfindbar sind. 159

Anders Rothe: Nach seiner Ansicht ist das ideelle Schema der Dinge dem Menschen in der extramentalen Wirklichkeit vorgegeben. Damit ist der grundsätzliche Unterschied zwischen Bild und Schema, nach dem jenes nie die Idealität von diesem erreichen kann, aufgehoben. Die Welt ist dem Denker nie nur Empirie, in ihr liegen alle Formen der Idealität oder, wie Rothe es nennt, der Ideellität vor. Daraus folgt: Das Schema kann nach Rothes Voraussetzungen kein Produkt der reinen Einbildungskraft a priori sein. Obwohl Rothe Kant ausführlich zitiert, beschreibt er nicht im einzelnen, in welcher Weise Bild und 153 154 155 156 157 158 159

II,139;vgl.II,113 11,140 11,142 11,140 Vgl.II,140f. Kant, KrV,A141f. Kant, KrV,A141

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Schema der Definition Kants nahe sind und worin sie sich von ihr unterscheiden. Das Gesagte bietet jedoch folgende Möglichkeit der Interpretation: Bild und Schema können nur den gleichen Ursprung haben. Wie das Bild das direkte Ergebnis der Wahrnehmung eines Gegenstandes ist, so kann sich das Schema nur auf die Wahrnehmung hin ergeben. Es ist als das Produkt der Erkenntnis in der Vorstellung das bildliche Ergebnis von Analyse und Synthese, welche die bloße Wahrnehmung nicht impliziert. Mit der Vorstellung als dem "Produkt des Vorstellens"160 befinden wir uns im Bereich der Sprache, die Rothe als Ausdruck des universellen Darstellungsvermögens versteht.161 Zwar nennt er sie im Zusammenhang mit der Erörterung der Vorstellung "das lediglich innere Wort".162 Aber das Vermögen der Vorstellung als Ergebnis von Kenntnis und Begriff wird das "wissenschaftliche Vermögen" genannt.163 Wissenschaft jedoch ist möglich nur über die ausdrücklich sprachliche Darstellung des Wissens.164 Nur über die Vorstellung als Sprache ist im Sinne Rothes Erkenntnis mitteilbar und die Wahrheit anstrebbar. Somit müssen wir die Sprache als allgemein verständlichen Ausdruck organisierter Wirklichkeit verstehen. Sie ist geprägt durch das Schema Raum und Zeit. Sie drückt die durch Analyse und Reflexion umgeformte Logik der extramentalen Wirklichkeit aus und existiert nur in dieser Logik. Daraus folgt weiter: Wahrnehmungen müssen zu Bildern werden, bzw. Begriffe zu Schemata, damit Erkenntnis sprachlich werden kann. Nur sprachliche Begriffe, und d.h. nur Begriffe, die durch das Schema Raum und Zeit geprägt sind, können allgemein verständlich dargestellt werden. Rothe geht so weit zu sagen: "Es ist unmöglich ..., ohne Worte wirklich zu denken".165 Das impliziert, daß ohne Vorstellungen kein Denken möglich ist. Wir werden aber noch sehen, daß die ganze Anlage der Rotheschen Erkenntnislehre gerade darauf abzielt, das Denken von den Vorstellungen zu lösen, weil diese durch Raum und Zeit geprägt sind. Rothes Ziel ist die Konstruktion eines vorstellungslosen Denkens, obwohl dies nach der Erörterung seines Verständnisses der Sprache eigentlich nicht möglich ist. Darüber hinaus ist die Wortsprache für Rothe nicht geeignet, Individualität auszudrücken. Sprache ist primär wissenschaftlicher Ausdruck. Die Sprache

160

11,140

161 162 163 164 165

Vgl.II,226,338 II, 140;vgl. auch 11,336 11,140 Vgl.II,334f. 11,337

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

des Gefühls bilden nach Rothe "Ton" und "Gebehrde".166 Ahnungen finden nur auf diese Weise Ausdruck. Diese Trennung mutet merkwürdig an, ist aber im Zusammenhang des Konzeptes Rothes schlüssig. Die individuelle Erkenntnis ist vorlogisch. Sie folgt ja nicht der Struktur extramentaler Wirklichkeit. Die Wortsprache aber ist Ausdruck universeller Logik. So ist es nur konsequent, den Gefühlen einen eigenen Bereich des Ausdrucks zuzuweisen. 167 Fassen wir zusammen: Jeder Vorstellung, die das Resultat der Erkenntnis ist, haftet die Form von Raum und Zeit an. Raum und Zeit machen die Vorstellung schwer, indem sie dem Gedanken etwas Gedankenloses entgegensetzen. Aller Vorstellung fehlt damit etwas, weil ihr die reine Ideellität fehlt. Daraus folgt das für die gesamte Konzeption der Theologie Rothes Entscheidende: Gott, der jenseits von Raum und Zeit existiert, kann in der Vorstellung nicht abgebildet werden:16* "Weil Gottes ... Sein wesentlich Sein unter der Form ... der Absolutheit und folglich auch der Raum- und Zeitlosigkeit ist, ist es schlechthin ... unvorstellbar."169 Um des Gedankens Gottes willen muß das Denken folglich eine andere Qualität erreichen.

166 167

168 169

II,226f.,308 D.h. aber nicht, daß es über Gefühle bzw. Ahnungen keine Aussagen geben kann. Die individuelle Erkenntnis gehört in Rothes spekulativen Entwurf der Struktur der Erkenntnis hinein. Damit hat sie ihren Ort in der universellen Logik des Gesamtentwurfs. Wie ich gezeigt habe, kann logisch abgeleitet werden, wie eine Ahnung zustande kommt. Nichtsprachlich ist dann nur die konkrete Ahnung des besonderen Individuums. Die Liebe gehört in Rothes System nicht auf die Seite des individuellen Gefühls. Sie ist die Selbstmitteilung einer Person an eine andere (vgl.1,166,515) und wir müssen sie deswegen als eine besondere Weise universeller Erkenntnis verstehen. Nur deswegen ist es möglich, daß Gott lieben kann, obwohl ihm nach Rothe nicht die Weise individueller Erkenntnis eignet (vgl.II, 129). Diese Sprachauffassung, die als profane merkwürdig unterbestimmt ist, findet ihren eigentlichen Ausdruck als religiöse Sprache. Deswegen wird im Zusammenhang der Theologischen Spekulation noch einmal auf das Sprachproblem zurückzukommen sein. Vgl.I,203f. 11,490

Das Denken

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1.2.2. Vernunft 170 und Freiheit Vernunft und Freiheit sind Ausdruck des Denkens und Wollens, die ausschließlich aufeinander bezogen sind. Konkret bezieht sich der Wille so auf den Verstand, daß dieser einen seiner Gedanken aus sich heraus- und sich gegenüberstellt, um sich mittels Analyse und Synthese erneut mit ihm zu identifizieren. Andererseits werden zu Objekten des Willens ausschließlich Gedanken, die der Verstand ihm vorgibt. Entscheidend ist für Rothes Konzeption, daß der Gehalt von Vernunft und Freiheit kein anderer ist als die durch Erkenntnis und Bildung organisierte Welt. Selbstbewußtsein ist somit Weltbewußtsein, das sich mittels der Kategorie der Kausalität frei von der Beschränkung durch Raum und Zeit vollzieht. Aufgrund dieser Freiheit kann es erst intramental zur Übereinstimmung von Kenntnis bzw. Urteil und Begriff und damit zur Wahrheit kommen. Der Mensch, der so Gottebenbildlichkeit erlangt, wird von Rothe "Geist" genannt. Mit dieser Pointe ergeben sich folgende Probleme: 1) wird mit dem Bereich der Vorstellungen der Bereich der Sprache verlassen. 2) ist mit der vollständigen Vermittlung von Sinn und Verstand die Möglichkeit von Gefühlen aufgehoben. 3) ist die Persönlichkeit, die sich erst durch die Selbstbeziehung von Denken und Wollen konstituieren sollte, gerade ftir diese Selbstbeziehung überflüssig. Obwohl sie ihren Ort im Eschaton hat, wird sie in der Geschichte auf proleptische Weise so eingesetzt, daß sich ihre Annahme eschatologisch eigentlich erübrigt.

Entsprechend der Gesamtanlage der Welt, in der (sich) jedes Nebeneinander zu einem Ineinander entwickeln oder entwickelt werden muß, hat der Mensch seine Seele als Verstand und Wille noch nicht in ihr eigentliches Wesen ge170

Eine ausdrückliche Unterscheidung von Verstand und Vernunft findet sich bei Kant: Der Verstand ist das Vermögen, das durch die Sinne gegebene Anschauungsmaterial durch Begriffe zu ordnen. Trotz des sich von Kant unterscheidenden Ansatzes Rothes sehen wir, daß er den Verstand in eben dieser Funktion sieht. Der Verstand ist das auf die extramentale Welt gerichtete Vermögen, die wahrgenommenen Objekte begrifflich zu erfassen. Im Unterschied zum Verstand gilt Kant die Vernunft einerseits als das formale bzw. logische "Vermögen zu schließen, d.i. mittelbar ... zu urteilen" (KrV, Β 386). Andererseits aber bringt die Vernunft Einheit von Erkenntnissen zustande, indem sie zu jeder gegebenen Konklusion die Gesamtheit ihrer Prämissen und d.h. zu jedem Bedingten die Gesamtheit seiner Bedingungen aufzeigt. Die Gesamtheit von Bedingungen aber ist selbst unbedingt, und so unterscheidet sich die Vernunft vom Verstand grundsätzlich dadurch, daß sie zu ihrem transzendentalen Gehalt Ideen des Unbedingten hat. Sofern sich diese Ideen den Anschein objektiver Realität geben, sieht Kant seine Aufgabe mit der Kritik der reinen Vernunft darin, sie als reine Produkte der Vernunft auszuweisen, die diesen Anspruch gerade nicht erheben können (vgl. Horstmann, 171ff.). Hatten wir bereits festgestellt, daß Rothe die Stufenordnung der Weisen des Denkens parallel zu Schellings System des Transzendentalen Idealismus strukturiert, so können wir nun einsehen, daß er mit der Definition des Verstandes durchaus an Kant anknüpft. Gemäß der idealistischen Konzeption Rothes jedoch ergibt sich die Vernunft als Weise des Denkens unter der Voraussetzung des Verstandes, ohne daß dieser dabei - im Unterschied zu Hegel (vgl. Horstmann, 175) - als unangemessene Auffassungsweise der Vernunft verstanden werden muß.

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

bracht. Beide Komponenten müssen sich nach Rothe mittels Sinn und Kraft171 so durch einander bestimmen, daß sie zu einer lebendigen Einheit werden. In dieser Einheit wäre der Mensch frei von der extramentalen Welt und d.h.: allein durch sich selbst bewußt und tätig. Im Unterschied zum Tier, dessen Reifungsprozess mit der Erreichung des Erwachsenenalters abgeschlossen ist, setzt die eigentliche Entwicklung des Menschen also erst mit seiner natürlichen Reife (dem Erwachsenenalter) ein, weil erst der erwachsene Mensch im vollkräftigen Besitz seiner Verstandestätigkeit ist.172 Der Erwachsene ist der der Erkenntnis fähige, und diese Funktion des Verstandes ist die Voraussetzung fur die Entwicklung zur Selbstbestimmung. Damit bietet die Erkenntnis der extramentalen Welt dem Denken das Material zur Selbstbestimmung bzw. zum Selbstbewußtsein. Das Zustandekommen des Selbstbewußtseins ist das Ergebnis des Prozesses von Erkenntnis und Bildung. Mit dieser Bildung ist nun jedoch nicht die dem Denken immanent gewordene Weise des Willens als Anschauung bzw. Vorstellung gemeint, sondern die Weise des Willens, der im Gegenüber zum Denken die Welt organisiert. Indem der Erwachsene auf diese Weise Erkenntnis und Bildung betätigt, vermitteln sich Verstand und Wille zu immer größerer Einheit. Jedes Erkennen impliziert ein Bilden, und jedes Bilden hat ein Erkennen zur Voraussetzung.173 Durch einander bestimmt wird der Verstand so auch über das extramentale Bilden willenstätiger und der Wille verstandesbewußter. In bezug auf den Verstand stellt Rothe sich diese Vermittlung in concreto folgendermaßen vor: Der Wille bezieht sich auf den Verstand so, daß dieser tätig wird und denkt. Dabei stellt das Denken einen Gedanken als Objekt aus sich heraus, analysiert ihn ("Ortheilen") und begreift ihn neu ("Schließen"), d.h. es wird mit ihm wieder identisch. Jeder derart begriffene Gedanke gelangt zu neuer Qualität,174 Rothe nennt ihn - wie auch das Ergebnis der Reflexion extramentaler Objekte - den "Begriff.175 Der verstandesbewußte Wille andererseits ist als solcher zu verstehen, der seine Objekte dem Verstand übergibt und auf den Verstand hört, d.h. das Objekt des Willens wird durch den Verstand bestimmt der Gedanke des Denkens. Den auf einen Gedanken gerichteten Willen nennt Rothe den "Entschluß". Seine Identität mit sich selbst erlangt der Wille wieder, indem er den Entschluß zur "That"föhrt.176

171 172 173 174 175 176

S.o.S.24 Vgl.II,42f. Vgl.II,110 Vgl.II,45f. 11,47 II,46f.

Das Denken

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So aber sind sowohl Verstand als auch Wille von der extramentalen Wirklichkeit unabhängig,177 Das Denken hat hier die Struktur des spontanen Selbstvollzuges. Es erreicht damit eine neue Qualität. Rothe nennt den so bestimmten Verstand "Vernunft" und den Willen als Gegenüber der Vernunft "Freiheit".™ Wichtig ist für das Verständnis von Vernunft und Freiheit, daß sie zu ihrer Voraussetzung Erkenntnis und Bilden haben.179 Nur so hat der Wille die Möglichkeit, das Denken in Differenz zu sich zu bringen. Der Gedanke des Denkens, den die Vernunft hervorbringt, ist ein Ergebnis der Reflexion. Mit Vernunft und Freiheit haben wir die Stufe des Selbstbewußtseins erreicht. Indem der Verstand nicht mehr von extramentalen Objekten abhängig ist, vermag er, dem "logische[n] Gesetz"180 als seinem eigenen Gesetz zu folgen. Damit sind wir bei dem Ergebnis angelangt, das Rothe im Schöpfungsprozeß als durch Gott indirekt verursacht beschrieben hat. Die Seele ist sich erst als Vernunft und Freiheit Subjekt und Objekt zugleich. Der Begriff des Selbstbewußtseins impliziert also, daß das Verstandesbewußtsein sich nur in der Weise der Ergebnisse der Reflexion zum Objekt werden kann. Das Selbstbewußtsein ist Weltbewußtsein. Selbstbewußtsein ist also nach Rothe nur als empirisches bzw. vermitteltes Bewußtsein möglich. Der Mensch wird sich seiner selbst in der Weise der erkannten Gegenstände des Verstandes bewußt. Deutlich ist jedoch auch, daß dieses empirische Selbstbewußtsein nur über ein nicht eigens thematisiertes, reines Selbstbewußtsein zustande kommt. Die Persönlichkeit ist die Voraussetzung dafür, daß Verstand und Wille nicht in zwei voneinander unabhängige Akte auseinanderfallen, sondern aufeinander bezogen werden. Rothe beschreibt den Schritt vom Verstand zur Vernunft nicht genauer. Nach allem Ausgeführten jedoch werden wir uns diesen Schritt als einen Identifizierungsvorgang vorzustellen haben:181 Die Erkenntnis ist nach Rothe die Potenzierung der Anschauungsformen zu Kategorien. Mit den Kategorien 177 178 179

11,55

Vgl. 11,57

180

11,56

181

Schulze stellt fest, daß Rothe den Umschlag der Reflexion in die Spekulation nicht selber beschreibt und meint, jene würde durch diese "wie eine ausgebrannte Raketenstufe zurückgelassen" (Schulze, 60). Der richtige Weg zur Interpretation Rothes ist aber seine Aussage, daß die Spekulation nur möglich ist, wenn sie sich die Ergebnisse der Reflexion aneignet, sie in sich aufhebt. Es kann also keineswegs davon die Rede sein, daß Rothe den "tatsächlichefn] Einfluß des reflektierenden Denkens auf ... [seinen] spekulativen Entwurf ... verschleiert"(Schulze,61). Der Anspruch, daß die Spekulation eigentlich erst eschatologisch möglich ist, räumt der denkenden Erkenntnis die gesamte Geschichte ein.

Vgl.II,58

60

Der Mensch als Subjekt der Spekulation

liegen die logischen Gesetze der Wirklichkeit intramental vor. Indem der Wille den Verstand um seine Identität mit sich bringt, verschafft er diesem die Möglichkeit, die Gesetze der Logik einschließlich ihres Gehaltes intramental "anzuschauen". Die Analyse wäre dann die Entfaltung des Angeschauten in seiner logischen Struktur und die Synthese die Identifizierung mit dieser Struktur. In diesem Vorgang nun werden die Kategorien zu Kategorien der Vernunft. Die Vernunft begreift sie als ihr eigenes logisches Gesetz. Die Kategorien sind damit die Bedingungen der Möglichkeit des Denkens, das nur den Willen zu seiner Anregung braucht. Als Ergebnis der Erkenntnis kann das Denken mittels der Kategorien das System der Wirklichkeit allein aus sich entfalten. Dieses Denken nennt Rothe darum "apriorisch"182 und "transcendent"183 Wiederum nimmt er damit Kantsche Begrifflichkeit auf, um sie entscheidend umzuformen. Das Denken apriori kann innerhalb seines Systems nur das Ergebnis des Denkens aposteriori sein. Das Denken ist selbständig erst, nachdem es in der Erkenntnis gehorsam war. Die Möglichkeit des Denkens in Kategorien ist darum im Unterschied zu Kant nicht transzendental, sondern "transcendent". Leider präzisiert Rothe nicht weiter, wie sich in diesem Identifizierungsprozeß das Verhältnis von Erkenntnis und Vorstellung gestaltet. Die Erkenntnis bringt es ja auch schon zu Begriffen, die nach Rothe aber nur fixiert aufbewahrt werden können, wenn die Sprache, also das Vorstellungsvermögen, diese Begriffe zu Schemata ausbildet.184 Ihren eigentlichen Ausdruck finden die Begriffe demnach in den Schemata, die ja eine Bildung der Reflexion sind. Der Aneignungsprozeß müßte sich also auf die Erkenntnis als Vorstellung beziehen. Das ist im Sinne Rothes, denn die Vorstellung wird mit der Transformation des Verstandes zur Vernunft überflüssig: "es gibt freilich auch ein Denken, welches ... vom Vorstellen verlassen wird, sofern es nämlich ein Objekt hat, das eben wesentlich ein ... nicht räumlich und zeitlich bestimmtes und mithin dem Bereich des Vorstellens schlechthin enthoben ist".185 Der Vollzug von Vernunft und Freiheit ist nach Rothe ein Denken ohne die Einschränkung von Raum und Zeit.1*6 In Freiheit wird die Vernunft von der extramentalen Relation auf ein Objekt gelöst. Das Denken bezieht sich ausschließlich auf die logische Struktur, die in den Schemata vorliegt. Es identifiziert sich in beschriebener Weise mit dieser Struktur. Damit hat Rothe erreicht, was sein Programm war: Indem sich das Denken die Vorstellung aneignet, und ausschließlich den eigenen logischen Gesetzen folgt, hebt es die Vorstellung in 182 183 184 185 186

11,58 11,142 Vgl.II,336f.,s.o.S.49f. 11,142 Vgl.II, 142. 1,105,113,204

Das Denken

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diese Logik auf. Denken kann sich nur auf zu Denkendes beziehen. Das nichtideelle Schema Raum und Zeit kann also von der Vernunft nicht angeeignet werden. Sie bemerkt es gleichsam überhaupt nicht. Raum und Zeit können im Identifizierungsprozeß des Denkens keine Beachtung finden. Das Denken befreit sich dadurch von seinem Mangel an Ideellität, den es durch die an die Wahrnehmung gebundene Erkenntnis hatte. Das eigentliche Denken vollzieht sich ohne die Vorstellungsformen Raum und Zeit. Es ist nur noch Denken und nichts, was nicht gedacht werden kann. So zeigt sich, daß Rothes Entwurf im Ganzen eine durchaus originelle Auseinandersetzung mit Kant bietet. Rothe versucht, in dieser Neuinterpretation der Kantschen Terminologie den Gottesgedanken zu retten. Die extramentalen Anschauungsformen, die mit Raum und Zeit verbunden sind, werden als intramentale Bedingungen der Möglichkeit des Denkens begriffen. In Kantscher Terminologie hätte Rothe deswegen sagen können: Die Kategorien der Vernunft können sich frei von den Anschauungsformen Raum und Zeit vollziehen. Im Unterschied zu Kant sind bei Rothe allerdings die Objekte der Vernunft dieselben wie die der Erkenntnis. Sie sind als die Objekte der Vernunft lediglich intramental. Rothe wendet sich mit dieser Behauptung sogar ausdrücklich gegen Kant und wendet ein:187 "Nicht um die Beschaffenheit der Gegenstände des Erkennens ... handelt es sich, wenn von der Spekulation die Rede ist, sondern lediglich um die Methode des Denkens, mittelst welcher diese Begriffe gefunden worden sind. Die spekulativen Begriffe haben ihrer ungeheuren Mehrzahl nach empirisch gegebene oder gebbare Gegenstände."188 Daraus folgt ein völlig anderes Verhältnis von Subjekt und Objekt. Das intramentale Denken der Vernunft, das also nicht mehr Erkenntnis wirklicher Gegenstände ist, hat seine Regeln von diesen Gegenständen. Im Denken der Welt lernt der Mensch nach Rothe eigentlich nur sich selber kennen. Dennoch können wir nicht davon ausgehen, daß er hier lediglich eine Variation des beschriebenen Ansatzes Schellings bzw. Fichtes bietet, denn der Mensch wird niemals zu begreifen haben, daß die ihm entgegenstehende Welt im Grunde nichts anderes ist als ein Produkt seiner eigenen Tätigkeit. Die Welt ist Gottes Welt und es wird sich zeigen, inwiefern sie gerade deswegen in die Intramentalität der menschlichen Vernunft gehoben werden muß. Gegen Kant hätte Rothe an dieser Stelle den paradoxen Satz formulieren können, daß der Gedanke Gottes gerade deswegen nicht aus der Erfahrung abgeleitet werden muß, weil das Denken seinen Grund in der Erfahrung hat. Der Gottesgedanke, auf den Rothe zielt, soll frei von Raum und Zeit gedacht werden und ist doch indirekt gebunden an die Erfahrungs-Erkenntnis. Wir 187

Vgl.I,7

188

1,7; vgl. Schelling, 111,278 (s.o.S.14)

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

werden im weiteren sehen, ob es tatsächlich gelingt, auf diesem Wege einen "apriorischen" Gottesgedanken zu gewinnen. An dieser Stelle ist auf den Ort des Gefühls in der Ordnung der verschiedenen Weisen des Denkens zurückzukommen. Im Anschluß an Schelling hat Rothe das Gefühl formal als Voraussetzung der Erkenntnis verstanden. Daß er es auch material als solche Voraussetzung verstehen will, zeigt sich nun: Er behauptet das oben erörterte Selbstgefühl als Vorstufe des Selbstbewußtseins: "der Denkakt selbst, das ist der Akt, durch welchen das Bewußtsein sich als Ich vollzieht, näher der Akt, durch den es das dunkle Ichgefühl, in welchem es ursprünglich seiner als Ich inne wird, zum klaren Gedanken des Ich erhebt".189 Die Empfindung eines Objektes wird Selbstgefühl durch die Notwendigkeit einer Distanzierung von sich selbst. Anders als vorausgesagt,190 knüpft Rothe bei der Beschreibung der Entstehung des Selbstbewußtseins aber überhaupt nicht an das Selbstgefühl an. Indem sich die Wahrnehmung kraft der Spontaneität der Persönlichkeit auf ein extramentales Objekt bezieht, ist das Gefühl keineswegs die notwendige Voraussetzung der Erkenntnis. Negativ formuliert bedeutet dies: Das "Objekt" des Gefühls kann überhaupt nicht in ein Erkenntnisobjekt umgewandelt werden, weil für jede Erkenntnis eine Überschreitung der intramentalen Sphäre des Denkens vonnöten ist. Darin unterscheidet sich Rothe fundamental von Schelling. Nach Schelling kann die Erkenntnis nur über das Gefühl zustande kommen, insofern sich das erkennende Ich mit dem Objekt zugleich auf das empfindende Subjekt bezieht und so das Verhältnis des Subjektes zum Objekt in die Erkenntnis integriert.191 Nach Rothe jedoch kann das Gefühl höchstens in gewisser Hinsicht strukturell parallel zur Erkenntnis verstanden werden, denn das Verhältnis des Selbstgefühls ist vergleichbar mit der Distanzierung, die der Wille in bezug auf das Denken leistet. Beidemale kommt ein Denken im Verhältnis zu einem empirisch gesättigten Gedachten zustande, wobei (wie beschrieben) das intramentale Gefühlsobjekt keineswegs mit dem wahrgenommenen Objekt übereinstimmen muß. Allerdings nimmt Rothe für das Selbstgefühl eine andere Weise des Selbstbewußtseins in Anspruch als für das qua Vernunft und Freiheit vermittelte Selbstbewußtsein. War dieses nur denkbar, sofern die Persönlichkeit als Instanz unmittelbaren Selbstbewußtseins der Empfindung vorausgesetzt gedacht wurde, so wird sich die Vernunft nicht durch eine solche Persönlichkeit, sondern durch den Willen zum Gegenüber. Dieser Hinweis ist von Bedeutung, weil Rothe, wie wir sehen werden, den Gottesgedanken über das Gefühl zu gewinnen trachtet.

189 190 191

I,30;vgl.I,34,69 Vgl.II, 128 S.o.S.43f.

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Eine Konsequenz der Selbstbestimmung als Vollzug von Vernunft und Freiheit ist nach Rothe die Erzeugung intramentaler Begriffe. Damit kommen in seinem System Begriffe auf zweierlei Weise zustande. Die Zielvorgabe für die Begriffe als Ergebnis der Erkenntnis ist die Übereinstimmung von Kenntnis und Begriff. Diese kann jedoch nach Rothe erst intramental erreicht werden.192 Als Grund dafür wird angegeben, daß erst intramental die Begriffe auseinander entwickelt werden können, d.h. für einen neuen Begriff kein neues Objekt wahrgenommen werden muß.193 Die Wahrnehmung extramentaler Objekte verhindert also das organische Verhältnis der aus ihnen resultierenden Begriffe zueinander. Rothe urteilt darum: "vereinzelte Begriffe aber sind noch keine wirklichen Begriffe" .194 Der schnelle Schluß aus dieser These, daß die Begriffsbildung demnach intramental noch einmal ganz von vorn beginnt, muß aber falsch sein. Die Begriffsbildung der Erkenntnis darf nicht unvollständig oder fehlerhaft sein, wenn intramental Begriffe erzeugt werden sollen. Zwar beginnt die Begriffsbildung noch einmal von vorn, aber auf der Grundlage der Schemata, die ja eine Bildung der Begriffe in der Vorstellung sind. Der Fortschritt der intramentalen Begriffe über die Begriffe der Erkenntnis hinaus kann also nur auf der Grundlage der Schemata vonstatten gehen. Der Unterschied der intramental erzeugten Begriffe zu den Schemata ist nun aber, daß das ideelle Schema, in das Gott die Wirklichkeit gesetzt hat, ohne seine Einschränkung durch Raum und Zeit wahrgenommen werden kann. Rothe kann also nur so interpretiert werden, daß die Übereinstimmung von Kenntnis und Begriff bei extramentaler Erkenntnis durch das Schema Raum und Zeit behindert wird. Raum und Zeit verhindern, daß die Begriffe der Erkenntnis in einem organischen Verhältnis zueinander stehen, und das ist evident: Raum und Zeit bringen eine Distanz und Unverhältnismäßigkeit unter die Dinge, so daß ihre ursprünglichen Verhältnisse nicht mehr wahrgenommen werden können. Erst intramental kann das ideelle Schema von der Vernunft ohne diese Einschränkung wahrgenommen und begriffen werden. Die intramentale Wahrnähme, die extramental zur Kenntnis fuhrt, nennt Rothe "Urtheil".195 Die Übereinstimmung von Kenntnis und Begriff wird also nur vollzogen als Übereinstimmung von Urteil und Begriff. Läßt sich auf diese Weise wohl die Doppelung des Zustandekommens von Begriffen systemintern erklären, so können wir sie darüber hinaus erklären, indem wir sie auf die Erkenntnislehre abbilden, wie sie Schelling im System des Transzendentalen Idealismus formuliert hat. Nach Schelling löst sich das Denken in der Reflexion vom Objekt, in dessen Anschauung es bis dahin versunken war. Das ist möglich durch die Abstraktion, in der kraft 192 193 194 195

Vgl.1,4 Vgl.1,4 1,4 11,57

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

von Urteilen Begriffe gebildet werden. Genauso wie nach Rothe ist jedoch nach Schelling diese Weise des Zustandekommens von Begriffen nicht die dem Denken eigentlich angemessene. Schelling unterscheidet deswegen von der empirischen Abstraktion die transzendentale, durch die Objekte allein kraft des Begriffes zustande kommen. Nur diese transzendentale Abstraktion fährt genauso wie nach Rothe zu Begriffen, die diesen Namen im eigentlichen Sinne verdienen.196 Mit der Parallele wird uns zugleich der Unterschied von Rothes Argumentation zu der von Schelling deutlich. Gehen nach Schelling für das zu sich selbst gekommene Denken die Begriffe jeglicher Objektivität voraus, so ist nach Rothe auch die Vernunft auf intramentale Gegenständlichkeit angewiesen, in bezug auf die sie sich vollziehen muß.

Die Übereinstimmung von Urteil und Begriff ist nach Rothe das Kriterium für die Wahrheit.197 Damit erfährt sein Wahrheitsbegriff eine Konkretion. Wir können ihn nur so interpretieren, daß die Menschheit, die durch Erkenntnis und Bildung die rechte Ordnung in die Welt bringt, diese Ordnung erst intramental angemessen versteht. Denn Rothe legt dar, daß die Wahrheit eigentlich "nicht ... unter die Gerichtsbarkeit des Vorstellungsvermögens" gehört,198 wohl aber "vor das Forum des Verstandessinnes".199 Als Verstandessinn müssen wir intramental das Vermögen verstehen, die dem Denken durch den Willen gesetzten Objekte wahrzunehmen. Wie erörtert, hat sich das Denken auf dieser Stufe von der Vorstellung befreit. So aber ist die Wahrheit nicht an die Sprache gebunden. Indem sich das Denken von den Vorstellungen befreit, wird der Bereich der Sprache überschritten. Die Ergebnisse des Denkens der Vernunft sind nicht mehr mitteilbar. Mit der Verortung der Wahrheit in der Vernunft ergibt sich die Übereinstimmung von Kenntnis, bzw. Urteil und Begriff. Wie aber steht es mit dem anderen Kriterium der Wahrheit, mit der Selbigkeit der Relation der Erkenntnissubjekte zu den Erkenntnisgegenständen? Sie wird nach Rothe eschatologisch eingelöst durch "die absolute Einheit des Bewußtseins".200 Die notwendige Selbigkeit wird also aufgehoben in die Einheit des Bewußtseins der Gattung Mensch. Erst die eschatologische Menschheit kann im absoluten Wissen jeden Begriff richtig definieren. Dem Anspruch, daß Wahrheit nur als gemeinschaftliche erreichbar sein soll und sich auf alle möglichen Objekte des Menschen bezieht, wird erst die eschatologische Vernunft gerecht. Wahrheit ist als Ergebnis des Prozesses von Erkenntnis und Bildung die Pointe der Geschichte der Menschheit. Wenigstens eschatologisch ist damit aber auch die Notwendigkeit der Sprache aufgehoben. Rothe selbst weist daraufhin, daß dann "die Sprache etwas von dem, was wir jetzt so nennen, sehr Verschiedenes sein 196 197

Vgl. Hartmann, 126 S.o.S.48f.

198

11,139

199

11,137

200

11,335

Das Denken

65

wird."201 Ein Denken in der absoluten Einheit des Bewußtseins macht jede Kommunikation überflüssig. Im Sinne Rothes werden wir sogar sagen müssen, daß Kommunikation eschatologisch unmöglich ist. Denn nach seiner Auffassung können Persönlichkeiten nur über ihre Natur miteinander kommunizieren. Die Sprache selbst ist ein Mittel der Natur. 202 Eschatologisch aber hat der Mensch als Person, wie ich zeigen werde, den Bereich der Natur transzendiert. Jede praeeschatologische Begriffsbildung rückt damit in den Status des Vorläufigen und Überholbaren. M E. kann sie nur als ein Vorgriff auf eine Möglichkeit des Menschen verstanden werden, die ihm erst eschatologisch gegeben sein wird. Ihren eigentlichen Ort hat die Wahrheit im Bereich von Vernunft und Freiheit. Die Entsprechung des Selbstbewußtseins auf der Seite des Willens ist der Vollzug der Freiheit: "Denn eben die schlechthin zwecksetzende Willensthätigkeit nennen wir die Freiheit, - den Willen, der nichts will, was das Subjekt nicht wirklich als Zweck gesetzt hat".203 Der Wille, der sich als sein Objekt nichts sonst als den Gedanken des Denkens geben läßt, setzt seinem Subjekt, der Persönlichkeit, aus sich selbst Zwecke. Freiheit wird so als autonomes Wollen definiert: "Die Freiheit ist aber wesentlich Autonomie". 204 "Wahrhaft frei ist nur, was causa sui ist."205 Als Gegenüber der Vernunft ist diese Freiheit erst eschatologisch vollkommen realisierbar. In vollkommener Freiheit hat der Mensch eschatologisch Gottebenbildlichkeit erlangt,206 Am Ende der Geschichte, welches das Ziel der gesamten Entwicklung der Menschheit ist, kann der Mensch vollkommen aus sich selber Zwecke setzen und seine Gedanken aus sich selbst entfalten. 207 201 202 203 204 205

206 207

11,348 Vgl.II,71 II,61;vgl.11,62.1,352 11,63 11,65 Wir müssen an dieser Stelle festhalten, daß Rothe mit dem Begriff der causa sui undiskutiert eine Weise von Kausalität in seine Argumentation einträgt, die mit dem Vollzug von Kausalität als Analyse und Synthese nicht ohne weiteres zu identifizieren ist. Causa sui meint an dieser Stelle nichts anderes, als daß das Denken als Analyse und Synthese kraft des auf dieses Denken bezogenen Willens in sich selbst genugsam ist. Es verursacht sich also keineswegs so, daß es sich als das, was es ist, erst selbst hervorbringt. Notwendig ist diese Abgrenzung, weil der terminus der causa sui seinen eigentlichen Ort in der Gotteslehre hat. 1,461 In der Definition seines Freiheitsbegriffes bezieht Rothe sich direkt auf Kant, nach dem die Freiheit als Postulat der Praktischen Vernunft als das "Vermögen des absoluten Anfangs einer Handlung" verstanden wird (vgl.1,362.II,66). Der Unableitbarkeit der Freiheit setzt Rothe die Verknüpfung von Verstand und Wille entgegen, die sich in ihrer Pointe zum Vollzug von Freiheit entwickelt, was, im Sinne Kants, die Mög-

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Im Unterschied dazu ist der geschichtliche Wille "ein gesetzliches, d.h. ein auf ihm von außenher gesetzte Zwecke gerichtetes ... Wollen".208 Das impliziert, daß der Mensch nach Rothe nicht mit einem freien Willen geboren wird und beim derzeitigen Stand der Menschheitsentwicklung sein Leben mit einem relativ unfreien Willen beschließt. Der Wille bleibt gebunden an das Faktische und ist gerade davon abhängig. "Das Liberum arbitrium im vollen Sinne ... läßt sich seinem Begriff zufolge nicht ... unmittelbar geben; es kann nur erworben werden durch das Subjekt selbst".209 Aber auch in der Geschichte realisiert sich die Freiheit schon in Vorformen. Rothe nennt sie die "Wahlfreiheit": "Dieses Vermögen der Persönlichkeit, die Wahlfreiheit, ist unmittelbar mit ihrem Zustandekommen selbst gegeben".210 Durch die Persönlichkeit geschieht die Reaktion auf einen Einfluß der Außenwelt auf Empfindung und Trieb nicht automatisch. In der Persönlichkeit ist ja der Mensch Herr der Natur (auch seiner eigenen) und kann entscheiden, ob und wie er auf Außeneinflüsse reagieren will.211 Freiheit ist in diesem Stadium zwar nicht Autonomie, wohl aber die Möglichkeit des Rückzuges aus den zwangsartigen Naturzusammenhängen. Demgemäß ist die Befreiung von der Natur, von dem, was durch ein anderes entwickelt wird, das Proprium der Freiheit. Im Verzicht auf eine direkte Reaktion bedient sich die Persönlichkeit des Verstandes und des Willens. Die Wirkung, die von dem Ich ausgehen soll, wird durch den Verstand kontrolliert, und durch den Willen gewollt bzw. nicht gewollt.212

208 209

lichkeit der beatitudo von der Ebene der notwendigen Behauptung auf die spekulativer Deduktion hebt. 11,63 1,360

Rothe definiert den Willen offensichtlich bewußt im Unterschied zu Luther. Diesem zufolge hat der Mensch in bezug auf die Dinge der Welt einen freien Willen, wohingegen der Wille Gott gegenüber unfrei ist: "Seimus, quod homo dominus est inferioribus se constitutus, in quae habet ius (et) liberum arbitrium, ut illa obediant (et) faciant, quae ipse vult (et) cogitat. Sed hoc quaerimus, an erga Deum habeat liberum arbitrium, ut ille obediat (et) faciat, quae homo voluerit, vel potius an Deus in hominem habeat liberum arbitrium, ut is velit (et) faciat, quod Deus vult, (et) nihil possit, nisi quod ille voluerit (et) fecerit" (Luther, De servo arbitrio,781; vgl. Ebeling, 249ff ). Bei Rothe hingegen ist der Wille in bezug auf die Dinge der Welt unfrei, wie wir sehen werden, jedoch Gott gegenüber frei. 210 211 212

I,351;vgl.I,354,361f. Vgl. 1,35 lf.,367 Im Zusammenhang der Beschreibung der Abhängigkeit des geschichtlichen Willens von der Welt, die durch die Persönlichkeit relativiert wird, formuliert Rothe einen eigentümlichen Gedanken. Er schreibt: "Das Ich kann (nicht minder wie sein Leib) auch seine Seele wider sie selbst wenden, und zwar wirksam, - eben weil es nicht selbst die Seele, sondern diese seine Seele ist" (1,351).

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Die "Wahlfreiheit ist "die schlechthin unerläßliche Voraussetzung der realen und wahren Freiheit, und nur auf der Grundlage von jener kann diese zustande kommen". 213 Eschatologisch aber ist die Freiheit identisch mit der Notwendigkeit. "Mit der Nothwendigkeit ist aber die wahre Freiheit deßhalb identisch, weil sie mit der Vernünftigkeit identisch ist." 214 Indem sich der Wille seine Zwecke durch die Vernunft setzen läßt, ist jede Willkür von ihm ausgeschlossen. Damit aber käme Gott so etwas wie Wahlfreiheit von vornherein nicht zu. Auch darauf wird an gegebenen Ort zurückzukommen sein 2 1 5 Der Prozeß der Vermittlung von Verstand und Wille vollzieht sich nach Rothe Schritt für Schritt im Laufe der Geschichte. Erst eine vom Menschen völlig begriffene Welt erübrigt eine Relation auf extramentale Wirklichkeit. Nur wenn der Mensch die gesamte Welt erkannt und sich angebildet hat, ist die äußere Welt keine Begrenzung seines Wesens mehr. Die vollendete Menschheit ist in sich selbst genugsam. 216

213 214

215

216

Eine Möglichkeit der Interpretation könnte sich dadurch ergeben, daß die Persönlichkeit das Denken (die Seele ist ja nichts anderes als Ausdruck von Denken und Wollen) im Sinne des Kantschen "Ich denke" begleitet. Einerseits jedoch soll die Persönlichkeit nicht an sich selbst die Funktion des Denkens haben, andererseits würde dadurch wohl die Relation des Denkens auf sich selbst erklärbar, nicht aber ihre Wechselseitigkeit, die durch das Gewendetsein gegen sich selbst aber intendiert ist. Wir werden diese Stelle darum so interpretieren müssen, daß kraft der Persönlichkeit das Denken als vermitteltes und d.h. als Vernunft auf sich bezogen wird. Das kann jedoch nicht mit Rothes Argumentation harmonisiert werden, daß die Persönlichkeit Denken und Wollen so aufeinander bezieht, daß sich Selbstbewußtsein (als wider sich selbst gewendetes Denken) durch die Relation des Willens auf das Denken ergibt. Rothe kommt auf diesen eigentümlichen Gedanken nicht zurück, und er offenbart demnach eine gewisse Unausgeglichenheit seiner Argumentation, die uns noch öfter zu schaffen machen wird. 1,363 1,360 Im Deutschen Idealismus finden wir diesen Gedanke (abgesehen von Vorformen in der Sittenlehre Fichtes) zuerst bei Schelling: "Könnten wir uns z.B. ein Handeln in Gott denken, so müßte es absolut frei seyn, aber diese absolute Freiheit wäre zugleich absolute Nothwendigkeit, weil in Gott kein Gesetz und kein Handeln denkbar ist, was nicht aus der innern Nothwendigkeit seiner Natur hervorgeht" (111,395). Rothes These, daß die Wahlfreiheit auch bei der Entwicklung von Verstand und Willen zu Vernunft und Freiheit als Möglichkeit erhalten bleibt (vgl.1,364), läßt sich nicht durchhalten. Die Wahlfreiheit setzt ein Auseinander von Persönlichkeit einerseits und Verstand und Wille andererseits voraus, welches aber eschatologisch aufgehoben ist. Die Persönlichkeit als Vernunft und Freiheit kann nicht mehr so oder anders wählen, gerade weil die Freiheit in Einheit mit der Vernunft Notwendigkeit ist. Rothe schätzte seine eigene Zeit als eine ein, in der Verstand und Wille zwar aufeinander bezogen sind, aber doch "innerlich einander fremd" bleiben (11,45).

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

Eine offene Frage ist in diesem Zusammenhang, welches Verhältnis die eschatologische Vernunft zum erkennenden Verstand sowie zum Gefühl hat. Rothe definiert diese Vernunft als den "absolute[n] Sinn, näher Verstandessinn, - das Vermögen zu vernehmen oder überhaupt wahrzunehmen in seiner Absolutheit, - das Vermögen absolut wahrzunehmen."217 Kurz darauf nennt er den so bestimmten Verstandessinn "Vernunftsinn".218 Der Vernunftsinn ist das Ergebnis der Vermittlung der seelischen und der leiblichen Funktion des Verstandes. Gefühl und Sinn, die das Ausgangsverhältnis bildeten, sind nun "schlechthin in einander" und d.h. doch wohl, unauflöslich so miteinander vermittelt, daß dem Verstand durch den Sinn schlechthin die Funktion zukommt, wahrzunehmen. (Wie beschrieben, bezieht sich die Wahrnehmung hier auf die intramentalen Gedanken-Objekte). Daraus ist in bezug auf das Gefühl folgende Konsequenz zu ziehen: Das Gefühl ist im Unterschied zum Vernunftsinn das Vermögen rezeptiv zu sein. Die Voraussetzung für das Zustandekommen des Gefühls ist also ein relatives Nebeneinander von Verstand und Sinn. Der Vernunftsinn kann sich aber, eben weil er Sinn ist, nicht mehr nur rein rezeptiv verhalten. Rothe versucht, die notwendige Aufhebung des Gefühls durch eine Ungenauigkeit seiner Argumentation zu umgehen: Zum Vollzug der Vernunft gehört das Vermögen der Reflexion. In der zitierten Definition des Vernunftsinnes unterschlägt Rothe jedoch, daß die Synthese, d.h. das Begreifen und in sich Aufnehmen des Wahrgenommenen, den Vollzug der Vernunft vollendet. Anstelle dessen betont er, daß die andere Seite des Sinnes das Gefühl sei, das zusammen mit dem Verstandessinn eine Einheit bilden soll: "Die Vernunft ist also nicht bloß Verstand, sondern wesentlich auch Gefühl".219 Dieser Satz ist unter den gegebenen Voraussetzungen falsch. Wohl ist das Gefühl darin der Reflexion gleich, daß es von sich Getrenntes in sich aufnimmt. Das Gefühl unterscheidet sich jedoch von der Reflexion dadurch, daß die Voraussetzung für das Aufnehmen bei jenem keine Wahrnehmung ist. Wenn Vernunftsinn und "Aufnahme" eine Einheit bilden, kann diese nur die Reflexion sein, und damit die andere Seite des Vernunftsinnes. Eine Aufnahme ohne Wahrnehmung ist durch diese Einheit gerade unmöglich gemacht. Unmöglich gemacht ist damit dem Menschen das Gefühl. Damit ist erwiesen, daß das Gefühl sich bei einer Fortentwicklung der Denkmöglichkeiten des Menschen aufhebt. Rothe selbst versucht die Möglichkeit des Gefühls zu erhalten, indem er von einer Einheit von Individualität und "universelle[r] Humanität" schreibt.220 Diese Einheit ist allerdings nur als Aufhebung der individuellen Erkenntnis denk217

11,56

218

11,57

219

11,57

220

11,57

Das Denken

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bar.221 Jedes Gefühl, das neben dem Verstandessinn vorkommt, zeigt an, daß diese Einheit letztgültig noch nicht vollzogen ist. Damit haben wir die Ahnung doch als eine mindere Art von Erkenntnis zu verstehen, weil sie sich von der Welt einfach nur beeindrucken läßt und den Vermittlungen der Funktionen der Seele nicht standhält. Im Laufe der Entwicklung des Denkens des Menschen müßten die Ahnungen immer mehr abnehmen. Implizit ist es also richtig, daß Rothe das Selbstbewußtsein nicht aus dem Selbstgefühl hervorgehen läßt. Bleiben wir in Rothes Sinne stringent, dann kann das Gefühl als Erkenntnisweise des Menschen gerade deswegen erlöschen, weil es für seine Fortentwicklung keine Bedeutung hat. Entscheidend für das Zustandekommen des Selbstbewußtseins ist nur die denkende Erkenntnis im Zusammenhang mit dem Bilden. Was geschieht nun aber mit Verstand und Willen im eschatologischen Wesen des Menschen? Indem Vernunft und Freiheit durch einander angeregt werden, bedarf das Denken nicht mehr der Relation auf eine extramentale Wirklichkeit. Mit der Aufhebung der Welt verlieren Erkenntnis und Bildung ihre Funktion. Demnach gibt es eschatologisch Erkenntnis und Bildung nicht mehr neben Vernunft und Freiheit. Ein Nebeneinander beider Weisen des Denkens würde der beschriebenen Vollendung des Denkens als Vernunft und Freiheit widersprechen. Im Zusammenhang der Konzeption des Zieles der Geschichte als Aufhebung der extramentalen Wirklichkeit in den Vollzug von Vernunft und Freiheit wird durch Rothe ein neuer Begriff eingeführt. Wie erwähnt, ist die Welt in der Weise von Raum und Zeit "materiell" bestimmt. In Vernunft und Freiheit aber 221

Gegen 11,57.1,551,539 Eigentlich hätte Rothe diese Konsequenz selber ziehen können. Der Mensch wird im Laufe seiner Entwicklung Gott immer mehr gleichbestimmt. Gott kommt aber selber keine Individualitat zu. Gefühl ist demzufolge aus dem Leben Gottes ausgeschlossen. Es gibt bei Gott keinen Unterschied zwischen verstandesmäßigem und gefühlsmäßigem Bewußtsein, weil er - wie der Mensch in seinem eschatologischen Wesen - Vernunft ist (vgl.II, 129,136). Auch in bezug auf den Willen plädiert Rothe dafür, daß er nicht nur Freiheit, sondern dazu auch freier Trieb sei. Er nennt ihn die "Autonomie des Herzens"(II,62f.,66). Ein Nebeneinander von Trieb und Kraft kann es aber genauso wenig geben wie ein Nebeneinander von Empfindung und Sinn. "Autonomie des Herzens" ist ein Begriff, der völlig fehl am Platz ist, weil das Herz als Ort der Gefühle nach Rothes Terminologie ja auf die Seite des Bewußtseins und nicht die der Tätigkeit gehört. Heesch kommt in seiner Erörterung des Begriffs Individualität bei Rothe zum gleichen Ergebnis. Er argumentiert folgendermaßen: Rothe definiert Individualität als Unvollkommenheit. Mit der Universalisierung des Menschen über Erkennen und Bilden wird seine Individualität dann aber aufgehoben. "Das Ergebnis, eine universalisierte Individualität, ist deswegen widersprüchlich" (Heesch,231). Diese Erkenntnis macht Heesch dann allerdings nicht für seine Interpretation Rothes fruchtbar.

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

sind Raum und Zeit vom zu Denkenden gleichsam abgestreift. Die in Vernunft und Freiheit hineingenommene Welt erlangt darum nach Rothe den Charakter des "Geistes",222 "Geist" ist der Gegenbegriff zu "Materie".223 Solange die Materie die Form eines Dinges bildet, kann dieses Ding nicht Geist sein. Da aber Raum und Zeit, wie beschrieben, Wahrheit verhindern, bedeutet vergeistigtes Sein nichts anderes als die Einheit von Urteil und Begriff, oder, wie Rothe es gern formuliert, die Einheit des Gedankens und des Daseins. 224 Hatte er den Gedanken als ideelles Sein und das Dasein als reales Sein definiert, so ergibt ihre Einheit reelles Sein.225 Als Geist ist die Entwicklung des Menschen bzw. der Menschheit vollendet. Mit dieser Definition entspricht Rothe Schellingscher Terminologie. Bereits in den Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre von 1796/97 ersetzt Schelling den Fichteschen terminus des absoluten Ich durch den des Geistes. Der Geist wird als diejenige Kraft gedacht, die das endliche Bewußtsein durch alle seine Stufen hinauf bis zum Selbstbewußtsein fuhrt. 226 Obwohl der Geist also im Selbstbewußtsein Gestalt gewinnt, kann doch nicht wie bei Rothe davon ausgegangen werden, daß er erst durch das zu sich selbst kommende Bewußtsein konstituiert wird. Der Geist gilt Schelling vielmehr als Synonym für das Absolute, das sowohl im erkennenden Subjekt als auch in der Natur waltet. Es ist uns bereits deutlich, daß Rothe um der theistischen Fassung seines Systems willen die "Geistigkeit" bzw. Ideellität der Natur einem anderen Subjekt zusprechen muß als das Geistsein des sich entwickelnden Selbstbewußtseins. Trotz dieser Unterscheidung bleibt Rothe jedoch der Schellingschen Philosophie nahe, indem seine Geistdefinition auf dem Hintergrunde des Systementwurfes des späten Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen interpretiert werden kann. In diesen wird der Mensch als Mittler verstanden, der zwischen Gott und einem sowohl diesem als ihm selbst vorausliegenden Wesen steht. Ihm obliegt die Aufgabe, die Welt in bezug auf dieses Wesen zu erkennen und sie damit dem Selbstverständnis Gottes zu bereiten. Dabei aber entwickelt sich das endliche Ideelle über sein Befangensein in der Natur hinaus. Dieses "suä natura Seiende" nennt Schelling "Geist".227 Daß Rothe den diesem Geistbegriff korrespondierenden Gottesgedanken der Spätphilosophie Schellings vergleichbar entwickelt, wird uns im 2.Teil der Arbeit beschäftigen.228

222 223 224 225 226 227 228

Vgl.II,66f.,94 Vgl.1,110 Vgl.I,108f.,II,68 Vgl.I,115f. Vgl.Schelling 1,380-383 Schelling, VII,456 Heckel urteilt, daß Rothes Geistbegriff eine "antiidealistische Spitze" habe, indem durch die Geschichtsbezogenheit der Erkenntnis, deren Pointe er ist, nicht nur der rationalitätsfeindliche Empirismus, sondern ebenso der realitätsfremde Idealismus überwunden würde (vgl. Heckel, 35-39). Offensichtlich hat Heckel übersehen, daß die Geschichtsbezogenheit der Erkenntnis nach Rothe nur eine Variation eines durch und durch idealistischen Konzeptes ist, auf das - wie sich ja an Rothe zeigt - das Urteil der Realitätsfremdheit nicht global angewendet werden kann. Mangels der Interpretation Rothes auf idealistischem Hintergrund muß Heckel die Realitäts- bzw. Objekt-

Das Denken

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Die Menschheit denkt eschatologisch alle Gedanken Gottes, die er als ideelles Schema in die Welt hinein ausgelegt hat. Der entscheidende Unterschied des Menschen zu Gott ist allerdings, daß er seine Welt verloren hat und nicht vermag, sie neu zu schaffen. Den genuinen Akt Gottes, nämlich die Schöpfung, vermag die Menschheit trotz ihrer Autonomie und des Gegebenseins alles Denkbaren nicht zu vollziehen. Innerhalb der Gotteslehre wird sich zeigen, daß diese Konsequenz durchaus nicht stringent ist. Die eschatologische Menschheit ist definiert durch den Selbstvollzug von Denken und Wollen. Selbstbewußtsein aber ist die Bedingung für die Entstehung der Persönlichkeit. Aus der Einheit des Vollzuges von Vernunft und Freiheit ergibt sie sich als neues Subjekt. Indem Rothe die Persönlichkeit im Gegenüber zu Seele und Leib definiert, tritt der Mensch in ihr aus dem Bereich der Natur heraus. Die Doppelung des Selbstbewußtseins durch die Annahme einer solchen Persönlichkeit ist diskutiert worden.229 Die Notwendigkeit einer Beziehung von Verstand und Wollen aufeinander setzt eine reine Reflexivität bereits voraus. War also eine Prolepse dieser Persönlichkeit notwendig, um zu einem vermittelten Selbstbewußtsein zu gelangen, so wird mit dieser Vermittlung die Annahme einer Persönlichkeit über Denken und Wollen überflüssig. Anders gesagt: Wenn die Natur dadurch ausgezeichnet ist, daß sie nicht ihr eigenes Subjekt sein kann, dann legen Vernunft und Freiheit in ihrem Selbstvollzug ihren natürlichen Charakter ab. Ist bei einem vermittelten Selbstbewußtsein eine Vermittlung von einer transzendenten Ebene her nicht mehr notwendig, so nehmen nun Vernunft und Freiheit selbst den Ort der Persönlichkeit ein. Obwohl Rothe diese Konsequenz nicht selbst ausdrücklich zieht, lassen doch seine Formulierungen eine solche Interpretation zu: "In concreto aber sind sie [Vernunft und Freiheit] in dieser ihrer schlechthinigen Unzertrennlichkeit die schlechthinige Einheit des denkenden oder idealisirenden und des setzenden oder realisirenden Moments der Persönlichkeit, also die geistige Persönlichkeit".230 Vernunft und Freiheit übernehmen selbst die Funktion der Persönlichkeit, "Einheit" zu sein.231 Rothe bietet demnach als Dreh- und Angelpunkt seiner Selbstbewußtseinstheorie einen nicht konsistenten Persönlichkeitsbegriff. Er verortet die Persönlichkeit im Eschaton, setzt ihren Begriff aber in der Geschichte so ein, daß er eschatologisch überflüssig wird.232 Er redet darum von einer "Entwicke-

229 230

231 232

bezogenheit seines Denkens denn auch als "naiven Realismus" beurteilen (vgl. Hekkel, 42). S.o.S.26ff. 11,68 S.o.S.28 Fischer klagt ein, daß der Prozeß der Geschichte, innerhalb dessen sich der Mensch zur Übereinstimmung mit seinem Begriff entwickeln soll, ein reiner Naturprozeß sei,

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

lung" der Persönlichkeit, 233 was jedoch bei ihrer Definition als eines zentralen Punktes nicht denkbar ist. Eine solche Persönlichkeit kann sich zu keinem Zeitpunkt in "Inkongruenz mit ihrem Begriff' 234 befinden.

Erinnern wir uns nun aber an Rothes Personbegriff,235 so können wir schlußfolgern, daß die im Sinne Rothes entwickelte Persönlichkeit Person geworden ist.

233 234

235

der für ein ethisches Handeln des Menschen keinen Raum ließe. Dem Menschen sei durch nichts das Wissen von der Notwendigkeit seiner Entwicklung gegeben, weil sein eschatologischer Begriff ihm nicht bekannt sein könne (vgl. Fischer, 478ff, 510f.). Diese Beobachtung wäre richtig, könnte davon ausgegangen werden, daß der Mensch tatsächlich lediglich das Produkt des natürlichen Schöpfungsprozesses wäre. Indem wir jedoch Rothe auf dem Hintergrund Schellings interpretiert haben, ist deutlich geworden, daß er die Zweckidee, die nach Schelling in der Natur bzw. dem Absoluten liegt, als Prinzip in die Persönlichkeit einträgt. Damit kann durch den Menschen das Ziel der Geschichte bewußt durchgesetzt werden, obwohl es ihm in der Persönlichkeit transzendental vorausgeht. Die Persönlichkeit tendiert also von vornherein auf die Einheit, die sie selbst darstellt. Für Fischer beginnt der Überschritt der Natur zur Geschichte in dem Augenblick, da Gott die "Vorbereitung der Erlösung" anheben läßt, d.h. mit dem Paradiese (vgl. Fischer, 495f.). Nach Rothe greift Gott an dieser Stelle in die Geschichte ein, um ihre widernatürliche Entwicklung zu korrigieren. Richtig an der Beobachtung Fischers ist, daß Gott um des Telos der Geschichte willen in sie eingreift. Allerdings ist der Bezug auf das Ziel der Geschichte nicht erst aufgrund der Tatsache gegeben, daß die Menschheit sich wider ihren Begriff entwickelt. Vielmehr ist die Beziehung auf das Telos schon bei normaler Entwicklung der Menschheit derart nötig, daß Gott die Konstitution der Persönlichkeit durch die indirekte Differenzierung von Bewußtsein und Tätigkeit ermöglicht. Aufgrund der mangelnden Einsicht in die Bedeutung der Teleologie für Rothes Denken ist Fischer dann auch der Meinung, der Umschlag des Naturprozesses in die Geschichte durch Gottes Offenbarung würde naturalisiert, d.h. einfach in die Logik der Kausalität qua ursächliche Notwendigkeit zurückgestuft (vgl. Fischer, 499,503,507). Wir werden sehen, daß Rothe Schwierigkeiten hat, das Prinzip der Kausalität mit seiner Teleologie zu koordinieren, daß aber keineswegs die Kausalität die Oberhand behält. Auch fur Eichner ist das Leben des Menschen nach Rothe nichts als ein "Naturverlauf... bei absoluter Zwecksetzung" (Eichner, 142). Eichner leitet aus dieser Interpretation die Konsequenz ab, daß Rothe keine eigentliche Ethik schreiben könne. Der Mensch sei eingebunden in die Notwendigkeit, für Gott da zu sein. Damit befände sich Rothe im Bereich der Mystik, die ebenfalls keine Ethik kennt (vgl. Eichner, 146). Eichner steht m.E. durch das Thema seiner Arbeit unter dem Druck, Rothe Mystik um jeden Preis nachweisen zu müssen. 11,43 11,44 S.O.S.32

Das Denken

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Das Denken als Vollzug von Vernunft und Freiheit nennt Rothe Spekulation. Sie ist als Vollzug des Selbstbewußtseins das Ziel der Entwicklung des Denkens und also die eschatologische Existenz des Menschen. Die inhaltlichen Bestimmungen, der Ort der Spekulation und die sich mit ihr einstellenden Probleme reißen in bezug auf Vernunft und Freiheit einen neuen Horizont auf, und es ist deswegen angemessen, der Erörterung der Spekulation ein eigenes Kapitel zu widmen. 1.2.3. Spekulation Die Spekulation ist die eschatologische Möglichkeit des Menschen, sich seines Verstandes •wie seines Willens zu bedienen. Der Mensch ist so in der Lage, die gesamte Welt zu systematisieren. In der Geschichte gibt es Vorgriffe auf diese Spekulation. Da Vernunft und Freiheit sich nur zum Gegenstand machen können, was Erkenntnis und Bildung Seele und Leib integriert haben, hat jede praeeschatologische Spekulation mit Lücken der Selbstbeziehung umzugehen. Rothe muß so interpretiert werden, daß um eines spekulativen Systementwurfes willen kraft der Logik der erkannten Gegenstände die noch nicht erkannte Welt deduziert wird. Das Problem einer nicht realitätsgesättigten Spekulation verschärft sich durch die Faktizität der Sünde. Indem der Mensch nach Rothe sein Leben zwangsläufig als Sünder beginnt, entsetzt er sich der mit seiner Persönlichkeit gegebenen Aufgabe, die Welt entsprechend dem ideellen Schema der Wirklichkeit zu organisieren. Es ergibt sich eine Geschichte der "Abnormalität". Um aber überhaupt als Abnormalität erkennbar zu sein, wird die Möglichkeit der Spekulation einer Geschichte der "Normalität" behauptet, die allein aus dem Begriff des eschatologischen Menschen expliziert werden soll. Diese Spekulation bedürfte Erkenntnis und Bildung nicht zu ihrer Voraussetzung. Ein Begriff der eschatologischen Menschheit liegt jedoch empirisch nicht vor. Wir kommen zu folgendem Ergebnis: Aufgrund der Faktizität der Sünde muß die Philosophische Spekulation selbst als unmögliche Konstruktion der normalen Geschichte der Menschheit verstanden werden. Die sündige Geschichte des Menschen ist durch seine Bekehrung in bezug auf die Person Jesu Christi korrigierbar. Nur unter der Voraussetzung der Frömmigkeit sind demzufolge rechte Erkenntnis und Bildung und also realitätsgesättigte Spekulation denkbar. Eschatologisch birgt die Vernunft die Gedanken aller Wirklichkeit a priori in sich. 236 "Kann der Mensch wahrhaft denken, dann kann er eben damit auch rein aus sich selbst heraus denken, ohne daß seinem Denken von außer sich her ein Objekt gegeben zu sein braucht".237 Nachdem der Mensch durch Erkenntnis und Bildung (a posteriori) die gottgewollte Ordnung in die Schöpfung gebracht hat, begreift er durch die Spekulation (a priori) noch einmal jeden Ge-

236

237

Vgl.II,58f.,66f. Rothes Behauptung, daß es auch eine Herzens-/Gefühlsspekulation gäbe, ist bereits widerlegt. Das Ineinander von Empfindung und Sinn läßt nur noch eine Art des Denkens zu (gegen 11,58,60 u.ö.). II,59;vgl.I,30,35

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

danken der so geordneten Welt im System. Erkenntnis und Bildung sind zwar faktisch das Fundament der Spekulation, sie sind es aber so, daß die Spekulatio n nun noch einmal so beginnen muß, als gäbe es keine Welt und keinen B e griff v o n ihr. Erst w e n n der Verstand die gesamte Welt begriffen hat, kann er sie ordnen in die apriorische Kategorie v o n Grund und Folge. D i e Spekulation konstruiert die ganze Welt qua Selbstbewußtsein und zwar gemäß dem Gesetz der Kausalität. 2 3 8 Mit dem Systemcharakter der Spekulation konstruiert Rothe eine Doppelung. Eigentlich bringen bereits Erkenntnis und Bildung als Organisation die Welt ins System. D i e s e vollzogene Organisation ist nicht mehr weiterzufuhren oder zu korrigieren. Die Spekulation ist nichts anderes als der intramental realitätsgesättigte Vollzug v o n Verstand und Willen. Aber gerade hier liegt wahrscheinlich der Grund der Doppelung. Solange die Seele als Erkenntnis und Bildung tätig ist, ist sie auf extramentale Wirklichkeit bezogen und damit auf etwas, das dem System noch nicht integriert worden ist. Erst mit der völligen Organisation der Welt kann demnach das Denken ein vollständiges und also organisches System entfalten. Erkenntnis wird an dieser Stelle Spekulation. 2 3 9 Obwohl dieses Argument, das Rothe selbst nicht anfuhrt, systemintern überzeugend ist, kann die beschriebene Doppelung wiederum darüber hinaus mittels des Schemas der Erkenntnislehre Schellings erklärt werden, der Rothes Konzeption im Prinzip entspricht. Nach Schellings System des Transzendentalen Idealismus bezieht sich das Ich innerhalb der Zweiten Epoche so auf transmentale Objekte, daß es sie als Objekte für das Ich begreift, die analog in der Struktur interpretiert werden, die das Ich selbst auszeichnet. 240 In diesem Prozeß von Selbst- und Fremdverständnis werden nach Schelling nicht nur Raum und Zeit,

23g

Somit kann Rothe nicht vorgeworfen werden, daß er das Kausalitätsgesetz unbesehen in eine metaphysische Welt übertrage (gegen Keßler, 37f. und viele andere). Heckeis Erörterung der Rotheschen Erkenntnislehre treibt diese auf einen Konflikt zu, der in ihr nicht angelegt ist. Heckel ist der Meinung, daß Rothe einerseits einem naiven Realismus folgt (Heckel, 56), indem, wie ich beschrieben habe, von Gottes Schöpfung her ein Erkenntnisskeptizismus ausgeschlossen ist. Es ist jedoch gezeigt, daß Rothe gerade auf diese Weise an idealistische Vorbilder anknüpft. Es stimmt auch nicht, daß so "irrtumslos die Wahrheit" gegeben wäre. Es ist falsch, daß "Innenund Außenwelt... nicht auseinanderzureißen" sind (Heckel, 57). Durch seine Definition des "Ich" schreibt Rothe dem Menschen ja gerade die Möglichkeit eines Rückzuges von der Welt zu. Darin liegt dann auch die Möglichkeit des Irrtums. Nach Heckel hält Rothe diesen naiven Realismus andererseits nicht durch. In der Spekulation reiße der Abgrund zwischen Subjekt und Objekt auf, indem die Spekulation abgesehen von der Erkenntnis der Welt ihr Material allein aus sich selber schöpft (Heckel, 56f.,61f.,63). Auch das ist nicht im Sinne Rothes. Die Pointe seiner Argumentation ist ja gerade, daß die Objekte der Erkenntnis dieselben sind wie die der Spekulation. Indem der Mensch auf sich selbst bezogen ist, ist er auf die Welt bezogen.

239 240

Vgl.1,15-18 S.o.S.45f.

Das Denken

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sondern auch die Kategorien abgeleitet. Genauso wie wir es für Rothe herausgefunden haben, hat das Ich in diesem Stadium, d.h. innerhalb der Erkenntnis extramentaler Objekte, noch kein Verhältnis zu diesen Kategorien in der Weise, daß sie als Kategorien des Denkens selbst begriffen werden. Erst in der Dritten Epoche, die Schelling als absoluten Willensakt beschreibt, begreift sich das Ich als dasjenige, das an sich selbst alles das ist, was es in der Welt erfahren kann. In diesem Stadium werden genauso wie bei Rothe die Kategorien, die in bezug auf transmentale Objekte abgeleitet werden, als Kategorien des Denkens begriffen. Wir haben bereits erläutert, daß Rothe im Unterschied zu Kant und nun auch zu Schelling, der sich diesbezüglich an Kant anschließt, anstelle der vier bzw. zwölf Kategorien fur das Denken nur die Kategorie der Kausalität in Anspruch nimmt. Im Folgenden wird gezeigt werden, daß sich damit das Verhältnis des Denkens zu diesen Kategorien grundsätzlich ändert. Hier jedoch soll deutlich werden, wieso sich für Rothes Denken die beschriebene Doppelung ergibt: Geht es nach Schelling darum, daß sich das Denken in der Dritten Epoche von der Erkenntnis der Außenwelt befreit, um kraft der Kategorien sich selbst, sein Material zu begreifen und systematisch zu ordnen, so ist es nach Rothe mit der Inkarnation der erkannten Objekte material dieselbe Welt, die sowohl Objekt des Verstandes als auch der Vernunft ist.241 Die Spekulation ist also ein Denken, das sich jenseits von Raum und Zeit vollzieht. Insofern das Denken sowohl die seelischen als auch die leiblichen Funktionen des Menschen beansprucht, hat der Mensch in der Spekulation sein Wesen außerhalb von Raum und Zeit. Damit überschreitet er eschatologisch den Bereich der Geschichte. Zur Konstitution dessen, was den Menschen definiert, sind Raum und Zeit nicht notwendig. 242 241

242

Auch Heesch hat auf diese Doppelung hingewiesen. Er interpretiert Rothe folgendermaßen: "Es scheint mir am wahrscheinlichsten, anzunehmen, daß jedem Wissen bis zu einem gewissen Grade Systemcharakter eignet, einfach qua Wissen. Die vollständige Systematisierung des Wissens gelingt jedoch nur mittels seiner rein spekulativen Konstruktion" (Heesch, 124). Hier wird die Doppelung in ein mehr oder weniger an Systemcharakter zurückgenommen. Aus seiner Vermutung zieht Heesch jedoch keine Konsequenzen. Er schreibt lediglich: "Die genaue Funktion dieses Wissens [der Erkenntnis] für die Systembildung bleibt unklar" (ebd.). Auch Flade hat die Doppelung der Konstitution des Systems bei Rothe kritisiert (vgl. Flade, 81). Wenn die Spekulation ein Bild der Wirklichkeit geben soll, so argumentiert er, wird sie überflüssig, indem die Erfahrung ja bereits ein Bild dieser Wirklichkeit liefert (vgl. ebd.). Flade jedoch hat den grundsätzlichen Zusammenhang von Erfahrung und Spekulation bei Rothe verkannt (vgl. Flade, 62ff.,69). Indem die Spekulation seiner Meinung nach die Welt in reiner Apriorizität aus sich entwickelt (vgl. Flade, 81), fallen Innen- und Außenwelt tatsächlich in zwei nicht kompatible Systeme auseinander. Es ist behauptet worden, daß die Spekulation "einen Ort in der Geschichte hat" (Heesch, 100.vgl. 128). Nach Heesch ist die "Spekulation ... also nicht zeitlos gedacht, sondern sie ist an einen bestimmten Augenblick gebunden" (Heesch, 132.vgl.254). Heesch folgt damit der Interpretation Birkners (vgl. Birkner, 31). Es ist sein Anliegen, die Geschichte als Voraussetzung der Spekulation stark zu machen. Dem ist zuzustimmen, obwohl Heesch, wie wir noch sehen werden, die Geschichte zu einseitig

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

Die Fähigkeit, die gesamte Wirklichkeit spekulativ aus dem Selbstbewußtsein zu entfalten, illustriert Rothe, indem er den Menschen als "Mikrokosmus" definiert. Wie auch bei Schelling 243 ist im Mikrokosmos die ganze übrige Schöpfung "zusammengeschlossen und rekapitulirt". Sofern im Menschen "alle Gedanken überhaupt beschlossen liegen", kann er sie organisch aus sich entfalten. 244 Gemäß dem Ort des Selbstbewußtseins muß Rothe aber so interpretiert werden, daß der Mensch erst eschatologisch als Mikrokosmos anzusprechen ist. So schlußfolgert er denn auch, daß erst die eschatologische Menschheit, die sich die gesamte Welt zum Organismus umgebildet hat, "Mikrokosmus" genannt werden kann. 245 Dies muß uns in seiner Konsequenz allerdings verwundern, denn die Menschheit, die zusammen mit der Welt eine Einheit bildet, kann eigentlich nur Makrokosmos genannt werden. Daß Rothe sie an anderer Stelle 246 genauso bezeichnet, zeigt nur, daß der Begriff des "Mikrokosmus" von ihm in mehreren Bedeutungen verwendet wird. Neben der eschatologischen Variation der Bedeutung des Begriffes wird er schlicht im Sinne Schellings verwendet. Im Menschen sind alle Gedanken beschlossen, sofern er der Höhepunkt der stufenweisen Schöpfung Gottes ist. 247 Damit rückt der Begriff des Mikrokosmos mitten in die Geschichte hinein. Der individuelle, einzelne Mensch ist als Ziel des Schöpfungsprozesses Gottes Mikrokosmos. Die notwendige Entwicklung des Menschen zu seinem Begriff wird damit ignoriert.249

243 244 245 246 247 248

bestimmt. Trotzdem hat er die entscheidende Konsequenz, die Rothe aufgrund der Spekulation zieht, außer Acht gelassen: Rothe geht selber ganz selbstverständlich davon aus, daß die Spekulation ein "überzeitliches Wissen" produziert. Die Spekulation in ihrem Vollsinn transzendiert die Geschichte (vgl. II, 142). Vgl. Schelling, VII, 236, VII, 258, VII, 457f. (nach Rothe, 1,336) I,6;vgl.I,8f. Vgl.1,502 Vgl.I,336f.,339 Vgl.1,336 Heesch versucht, die beiden Bedeutungen des Mikrokosmos-Begriffes zu harmonisieren. Der Geschichte, in welcher der Mensch mittels Erkenntnis und Bildung zum Mikrokosmos wird, geht auf diese Weise die Naturgeschichte so voran, daß sich aus ihr der Mensch als Mikrokosmos im Sinne Schellings erklärt (vgl. Heesch, 236, 226, 233). Gehen wir jedoch mit Rothe davon aus, daß allein die Geschichte des Menschen seine Befähigung zur Spekulation darstellt, und also seine Bezeichnung als Mikrokosmos rechtfertigt, stellt eine solche Auslegung das Mißverständnis der Kosmologie als Geschichte dar. Wohl sind im Menschen alle Gedanken der vorangehenden Kreaturstufen zusammengefaßt, aber gerade nicht in dem Sinne, daß sie Gedanken dieses Menschen sind. Offenkundig will Heesch auf diese Weise die noch eigens zu klärende Möglichkeit des Menschen, innerhalb der Geschichte zu spekulieren, rechtfertigen. Genau müssen wir jedoch urteilen, daß Rothe einen Begriff von Schelling übernimmt, ihm aber in

Das Denken

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Vielleicht weist uns diese Doppeldeutigkeit auf eine bisher noch nicht erörterte Möglichkeit der Spekulation in der Geschichte. Demnach müßte eine Spekulation denkbar sein, die die eschatologischen Möglichkeiten der Menschheit in die Bedingtheit des geschichtlichen Individuums einholt. Aufgrund des Weges, den wir mit Rothe durch die verschiedenen Weisen des Denkens gegangen sind, hat sich uns die Einsicht in den Charakter der Spekulation als einer aposteriorischen Apriorizität ohne Probleme ergeben. Dennoch hat gerade die Erklärung der Spekulation durch Rothe v.a. bei seinen frühen Interpreten zu vielen Mißverständnissen geführt.249 Grund dafür ist die notwendig zirkuläre Argumentation Rothes. So beginnt er im I. Band der Theologischen Ethik und d.h. mit dem Einsatz der Spekulation mit ihren Charakterisierungen und Beschreibungen, indem er sich ausdrücklich und unausdrücklich an seine idealistischen Vorgänger anlehnt. Zur spekulativen Deduktion der Möglichkeit der Spekulation kann er jedoch erst im Anschluß an die Entwicklung der Gotteslehre und der gesamten Schöpfungslehre bis hin zur Anthropologie gelangen. Die Beschreibungen im Vorfeld der eigentlichen Spekulation müssen darum durch ihre Deduktion in Band II interpretiert werden. Anlaß zu Mißverständnissen hat Rothe z.B. durch folgende Formulierung gegeben: "Als das apriorische hebt das spekulative Denken mit nichts von außer sich her ihm Gegebenen an. Gleichwohl bedarf es, um anheben zu können, einer Basis, in die es einsetze. Soll es nun aber von dieser aus nichts desto weniger doch als apriorisches anheben, so muß sie von ihm nicht verschieden, muß mit ihm identisch oder es selbst sein."250 Die Ermöglichung dieses Denkens aber wird so beschrieben: "Wenn nämlich das menschliche Denken von allem, was für es als ihm von außer sich her gegeben vorhanden ist, absieht, wenn es sich vollständig von jedem bestimmten Inhalt, der ihm von außer sich her zugekommen, entleert hat: so bleibt ihm immer noch etwas als für es vorhanden zurück, freilich nicht etwa ein Etwas außer ihm selbst, wohl aber eben es selbst, das Denken, der Denkakt selbst, das ist der Akt, durch welchen das Bewußtsein sich als Ich vollzieht, ... aber dieser Denkakt eben rein als solcher, rein nach seiner formalen Seite. "251

249 250 251

seinem System nur einen solchen Ort geben kann, der seine Verwendung überflüssig macht. Auch Holtzmann (vgl. Holtzmann, 8: Mikrokosmos als "gnostisirende Voraussetzung") und Eichner interpretieren den Mikrokosmos-Begriff Rothes so, daß der Mensch "die Einheit des Seins" "a priori" in sich trägt (Eichner, 93). Konsequent im Sinne des falsch verstandenen Mikrokosmos-Begriffes schließt Eichner auf die Möglichkeit der Spekulation unabhängig von der Geschichte (vgl. Eichner, 93ff.). Vgl. Flügel, 3; Flade, 79f.; Holtzmann, 15ff.,32; Thilo, 119f.; Heckel, 61f. 1,30 1,30

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Es ist nachvollziehbar, das für eine Definition der Spekulation zu halten. Dann aber müßte die Spekulation apriorisches Denken sein, weil sie es vermag, den "Denkakt selbst" und das muß bei Rothe heißen, das Denken als Vollzug von Grund und Folge als "formale ... Seite", sich selbst zum Gegenstand zu machen. Solche Formulierungen schließen sich an Kant an. Nach Kant gibt es ein apriorisches Denken in Abstraktion von allem Gegenstandsbezug. Es braucht an dieser Stelle nicht ausfuhrlich erörtert zu werden, daß es Rothe nicht um analytische Urteile, also Begriffsanalysen geht, wenn er den Denkakt selbst zum Gegenstand des Denkens machen will. Kant hatte den menschlichen Erkenntnisapparat ausgestattet verstanden nicht nur mit den Formen des Verstandes, sondern ebenso mit Formen der Sinnlichkeit.252 Synthetische Urteile a priori sind darum nach Kant möglich, wenn der Verstand mittels der Kategorien, in deren Vollzug er Verstand ist, reine Objekte in reiner Anschauung konstruiert. Rothe hingegen hat Raum und Zeit einen völlig anderen Ort eingeräumt. Also scheint er den Gedanken Kants folgendermaßen zu variieren: Das Denken richtet sich kraft seiner Logik (als Analyse und Synthese) auf sich selbst als logischen Akt. So aber ergibt sich ein Widerspruch. Nach Kant vollzieht sich das Denken wohl mittels der Kategorien, jedoch zeigt die Möglichkeit des Wechsels der Kategorien, daß das Denken zu ihnen im Verhältnis steht. Indem Rothe im Unterschied dazu nur eine der Kategorien in Anspruch nimmt, vermag sich das Denken in bezug auf einen Gegenstand (ob extra- oder intramental) wohl auf diese Kategorie zu beziehen, aber niemals so, daß sie ihm als Kategorie gegenständlich wird. Denken ist im Unterschied zu Kant der Vollzug von Grund und Folge, und damit kann ihm gegenständlich werden nur dasjenige, was in dieser Kategorie befaßt ist. Was aber meint Rothe, wenn seine Interpretation auf Kantschem Hintergrund in dieser Weise nicht möglich ist? Er gibt in einer Anmerkung selbst einen Hinweis, w o es heißt: "Was wir 'die Urthatsache des reinen Denkens' nennen, steht in einer gewissen Analogie mit Schellings 'intellektualer Anschauung', diesem 'Unmittelbaren, das in Jedem ist, und an dessen ursprünglichem Anschauen ... alle Gewißheit unserer Erkenntniß hängt'".253 Nach Schelling ist der Dualismus von erkennendem Subjekt und gegenständlicher Welt, der als Problem der Kantschen Philosophie erkannt worden war, nur dadurch überwindbar, daß eine grundsätzliche Identität angenommen wird zwischen dem, "was da weiß und das da gewußt wird."254 Der Ort der Identität, die mit jeder Objektivität auch die Subjektivität aufhebt, ist nach Schelling Gott selbst.255 Endlichkeit nun kommt dadurch zustande, daß die Unmittelbarkeit der Vernunft, wenn sie ihrem Wesen gemäß Erkenntnis sein will, sich diffe-

252 253 254 255

Vgl. Kant, KrV,A373f 1,33; Schelling-Zitat nach Rothe: Schelling, 1,443 Schelling, 111,147; vgl. III,363f. Vgl.III,158

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renzieren muß in die Unendlichkeit endlicher Subjekte und Objekte. Das Besondere an Schelling ist dabei, daß die Identität in der Differenzierung erhalten bleibt und darum eine nur quantitative ist, in der das Subjektive bzw. Objektive nur mehr oder weniger überwiegen.256 Den Urzustand der Identität aber, in der sich die Vernunft unmittelbar gegenwärtig ist, bezeichnet Schelling als Intellektuelle Anschauung.251 Verglichen mit Kant kann man sagen, daß Schelling das "Ich denke", das alle meine Vorstellungen begleiten können muß, hineinverlegt in ein Absolutes, das, gerade indem es die Spontaneität der Anschauung unserer selbst ausmacht, uns niemals selbst Objekt werden kann. Transzendentalphilosophie ist nach Schelling nichts anderes als die Entfaltung dieser Selbstanschauung.258 Schon der theistische Ansatz Rothes zeigt, daß er seinen Gottesbegriff nicht als Variation eines identitätsphilosophischen Systems entwickelt. Auch hat sich bei der Diskussion seiner Erkenntnislehre ergeben, daß keineswegs alles Seiende nur mehr oder weniger subjektiv oder objektiv sein kann. Es muß von einer qualitativen Differenzierung sowohl von Subjekt und Objekt als auch von Gott und Mensch ausgegangen werden. Damit aber ist die Identitätsphilosophie Schellings aufgehoben. Es kann nicht angenommen werden, daß Rothe durch diesen einen Hinweis auf eine "gewisse... Analogie" zu Schellings Intellektueller Anschauung den Schlüssel für die Konstruktion seines ganzen Entwurfes liefert. Soll nach Schelling mit dem ganzen System des Wissens auch alle Objektivität aus diesem Selbstbewußtsein abgeleitet werden, so ist uns inzwischen hinreichend deutlich, daß sich das Denken nach Rothe der objektiven Welt primär als einer von ihm unterschiedenen und also fremden ausgesetzt findet. Wenn demnach die erkannte und gebildete Welt erst sekundär Eigentum des Bewußtseins ist, muß Identität bzw. die Intellektuelle Anschauung einen anderen Ort haben. Offensichtlich versucht Rothe, das auf sich selbst bezogene Denken als Vernunft mit dieser Wendung zu interpretieren. Damit geht es hier keineswegs um die Relation vom Absoluten zum Endlichen, sondern um endliches Denken. Warum aber verweist Rothe um des Verständnisses des Denkens willen, das sich in Analyse und Synthese vollzieht, auf den terminus der Intellektuellen Anschauung? Der Grund ist im Zitat genannt. Das apriorische Denken darf mit nichts von außen Gegebenem anfangen. Als apriorisches Denken darf es nur mit sich selbst beginnen, und d.h., es hat zu seiner Voraussetzung eine Identität. 259 Hier liegt der Anknüpfungspunkt in bezug auf Schelling. Das Denken ist, solange es der Wille nicht in Distanz zu sich bringt, Identität von Subjekt und Objekt. Im Unterschied zu Schelling ist diese Identität jedoch keineswegs transzendentalen Charakters, denn sie ist Gegenstand des Willens. Schellings System entsprechend jedoch liegt in ihr nicht nur das logische Vermögen (die ideelle Seite), sondern ebenso alles zu Denkende (die rea-

256 257 258 259

Vgl. Hartmann, 134 Vgl. Schelling, 111,351,369 Vgl. Schelling, 111,3 53ff. Vgl.1,30

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le/objektive Seite) 260 in unmittelbarer Weise vor. Die Distanzierung durch den Willen erlaubt eine Beziehung dieses Denkens auf sich selbst in der Weise gedachter und nun neu zu denkender Objekte. Diese Beziehung interpretiert Rothe mit Schellings Verständnis der Intellektueller Anschauung. Die Analogie zu Schelling besteht nicht darin, daß dieses Wissen unmittelbar und also kontemplativ ist. Die Analogie besteht lediglich in der Identität, aus der dieses Wissen hervorgeht. Im Unterschied zu Schelling jedoch ist die Selbsterkenntnis kein Ausdruck der Identität, sondern eine Folge ihrer Aufhebung durch den Willen. Sie ist also intellektuelle Erkenntnis und nicht Anschauung.261 Mit der vorausgesetzten Identität ist für Rothe jedoch die "Gewißheit" der Erkenntnis der Vernunft in bezug auf sich selbst gegeben. 2 6 2

260 261

262

Vgl. Schelling, 111,212-214 So auch Heckel: Die '"gewisse Analogie' ist darin zu umschreiben, daß Rothe die Reflexion innerhalb der intellektualen Anschauung festhalten will" (Heckel, 61). Heckel gibt diesem Verweis Rothes auf Schelling fundamentale Bedeutung für seine Gesamtkonzeption, indem er im Sinne Schellings schlußfolgert, daß der Spekulation mit der Intellektuellen Anschauung ihr Material vorgegeben sei und sie sich darum im Widerspruch zu der Betonung der Geschichtsphilosophie des Denkens durch Rothe um ihrer selbst willen nicht auf eine extramentale Wirklichkeit beziehen muß (vgl. Heckel, 6 Iff.). Es ist gezeigt, daß dies der Intention Rothes zuwiderläuft. Heesch hat diese Stelle zum eigentlichen Interpretationshintergrund Rothe gemacht. Er ist darum der Meinung, daß Rothes System insgesamt eine Umformulierung der Identitätsphilosophie Schellings darstellt (Vorbild ist ihm dabei wahrscheinlich Holtzmann gewesen, der als allgemeinen Rahmen der Ethik Rothes ebenfalls die Identitätsphilosophie Schellings angibt, vgl. Holtzmann, 2). Die Variation dieser Konzeption besteht bei Heesch darin, daß er Identität und Gegenständlichkeit in einen "ontogenetischen" und einen "erkenntnistheoretischen" Aspekt unterteilt (vgl. Heesch, 170). An die Stelle der Intellektuellen Anschauung tritt dabei der persönliche Gott, dessen identitätsphilosophisch verstandenes Gebundensein Heesch durch die Verwendung der Ich - Nicht-Ich - Terminologie in der Gotteslehre zu verifizieren meint (vgl. Heesch, 98,165). Dieser "ontogenetische Aspekt" wird an den "erkenntnistheoretischen" "herangeführt", indem Gott aus seiner Identität mit sich heraustritt, um sich in der Offenbarung der Erkenntnis des Menschen anzubieten (vgl. Heesch, 197). Es wird gezeigt werden, daß Rothe den Begriff des Nicht-Ich nach Fichte keineswegs in identitätsphilosophischer Absicht verwendet. Der terminus der Intellektuellen Anschauung läßt darum keine Schlüsse auf die Gotteslehre zu. Auch ist deutlich, daß die Intellektuelle Anschauung wohl auf anthropologischer Ebene eingesetzt wird, jedoch nun gerade so, daß sie den "ontogenetischen" Aspekt impliziert. Das Handeln des Menschen, der sich in Vernunft und Freiheit gegenüberzutreten vermag, impliziert alles überhaupt denkbare Sein. Es wird gezeigt werden, daß die Welterkenntnis nach Rothe zugleich als Gotteserkenntnis verstanden werden soll. Bei Heesch fehlt jede Ausführung eines Verständnisses der Intellektuellen Anschauung auf anthropologischer Ebene, die ihm diesen Sachverhalt einleuchtend gemacht hätte. Er versteht sie

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Was bleibt von Kant? Obwohl Rothe es wichtig fand zu betonen, daß sich das Denken in der Spekulation lediglich "nach seiner formalen Seite" Gegenstand wird, darf er auf dem Hintergrund der Ableitung der Spekulation nicht so verstanden werden, daß sich das Denken seine eigenen Bedingungen zum Gegenstand macht. Dieser Widerspruch löst sich sofort, wenn man versteht, daß das Denken sich zwar von jedem Gegenstand der Erkenntnis löst, dadurch aber frei wird fur die bereits intramental begriffenen Gegenstände, die dem Denken als gedachte Gegenstände in der Logik von Grund und Folge vorliegen. Intramental ist diese Erkenntnis Selbsterkenntnis. Rothe hat selbst schon im Band I der Ethik im Zusammenhang mit den zitierten Beschreibungen der Spekulation angemerkt, daß ein völlig voraussetzungsloses Denken für den Menschen unmöglich wäre. Der Mensch könnte ohne "eine Geschichte hinter sich und zugleich unter sich, als Fundament"263 nicht einen Gedanken fassen.264 Bisher haben wir die Spekulation als eschatologische Möglichkeit des Denkens beschrieben. Der Mensch kann nur spekulativ entfalten, was Erkenntnis und Bildung der Vernunft angeeignet haben. Neben dieser eigentlichen Spekulation konzipiert Rothe jedoch eine Sondermöglichkeit dieses Denkens. Es gibt in der Geschichte Vorgriffe auf die Spekulation als eschatologische Möglichkeit des Menschen.265 Diese Sondermöglichkeit muß nicht zuletzt deswegen der Gegenstand der folgenden Untersuchung sein, weil Rothes spekulatives System, das die Gotteslehre einschließlich der Kosmologie und Geschichte der Menschheit bis hin zum Eschaton entwickelt, als ein Vorgriff höchsten Maßes verstanden werden muß. Wir haben es demnach in der Zeit mit einem Nebeneinander von Verstand und Vernunft zu tun. Beide müssen mit Unvollständigkeiten umgehen. Praee-

263

264

265

in Entsprechung zur Identitätsphilosophie auch fälschlicherweise als transzendentale Größe (vgl. Heesch, 162). 1,31 ;vgl. auch 1 .Ausgabe der Theologischen Ethik, 1 lf. Das Verhältnis von Geschichte und Spekulation stand Rothe offensichtlich von vornherein fest. Wie punktuell Rothe nach Analogien greift, zeigt ein Verweis auf Descartes an gleicher Stelle. Das cogito ergo sum sei ein Beweis dafür, so behauptet er, daß "das reine Bewußtsein ... das Fundament aller modernen philosophischen Spekulation" sei (1,33). Flade fuhrt uns vor, wie groß die Verwirrung ist, die Rothe durch solche Vergleiche gestiftet hat. Er wendet ein, daß der Zweifel des Descartes nicht mit der optimistischen Erkenntnislehre Rothes zu harmonisieren sei und daß das Denken sich nicht jeglichen Inhaltes entkleiden könne (vgl. Flade, 71f ). Dabei übersieht er, daß Rothe jedenfalls in bezug auf Descartes nur für diesen einen Punkt, für die Selbstverständlichkeit des Selbstbewußtsein gegenüber der Welt, einen Bundesgenossen sucht und es also überzogen ist, Rothes System von dem des Descartes her zu kritisieren. Vgl.II,138f.(58)

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schatologisch kann nach Rothe "überhaupt nie anders als unvollkommen" spekuliert werden,266 Rothe erklärt aber nicht zureichend, wie die Vorgriffe der Vernunft überhaupt zustande kommen können. Die Vernunft kann ja nur aus sich selbst entwickeln, was zuvor Bewußtseinsinhalt geworden ist. Also müssen wir annehmen, daß die Vernunft, wenn in der Spekulation die ganze Welt als Organismus entfaltet werden soll, die logischen Gesetzmäßigkeiten vom schon Erkannten her auf das überträgt, was sie noch nicht kennt. M.E. kann erst hier die Theorie einer in ideelle Schemata gesetzten Realität wirklich genutzt werden. Wenn diese Schemata die Dinge der Welt strukturieren, dann weisen sie über jedes konkrete einzelne so hinaus, daß sowohl sein Woher als auch sein Wohin bzw. Umwillen konstruiert werden kann. So kann in den Vorgriffen der Spekulation die noch nicht organisierte Welt von der Vernunft allein durch die logischen Gesetze, die aus dem Erkannten angeeignet worden sind, entwickelt werden. In diese Interpretation würde Rothes These hineinpassen, nach der es die Spekulation zu neuen Begriffen bringt:"...woher sonst als aus der spontanen Kraft des Denkens selbst heraus können denn die spekulativen Systeme ihre neuen wahrhaft weiterbringenden Grundbegriffe geschöpft haben, da diese ja von den Nichtspekulirenden als ihnen völlig fremde, bisher empirisch noch gar nicht vorgekommene angestarrt... werden?"267 Den Vorgriff der Spekulation müssen wir dann als ein Wagnis verstehen. Aus der Unvollkommenheit heraus soll das Vollkommene entwickelt werden. Das Denken schwingt sich gleichsam anhand logischer Gesetze über die eigene Bodenlosigkeit. Es setzt sich über die noch nicht organisierte Welt hinweg. Rothe erklärt in diesem Sinne, daß es praeeschatologisch nicht ohne Schwierigkeiten möglich ist, den eigenen, logischen Gesetzen zu folgen.268 Logische Fehler unterlaufen leicht, er geht sogar so weit zu sagen, "daß ihren [der Spekulation] Sätzen bloß annäherungsweise Richtigkeit zukommt".269 M.E. kann das nur daran liegen, daß die Logik praeeschatologisch ohne Material ist, sie erhebt sich ohne Grund über die Geschichte. Allein aus dem Gesetz der Kausalität, das aus der schon erkannten Welt erhoben worden ist, steht die Spekulation auf unsicheren Füßen.270

266 267 268 269

270

1,23 I,12f.;vgl.I,14f. Vgl.I,20f.,27f. 1,27 Für Rothe ist es daher selbstverständlich, daß auch sein eigener spekulativer Entwurf der Verbesserung bedarf, wie ja schon aus dem Erscheinen der 2. Auflage der Theologischen Ethik hervorgeht (vgl.I,III,Villi).

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Wegen ihrer Unsicherheit ist die praeeschatologische Spekulation auf das verstandesmäßige Erkennen angewiesen. Solange die Geschichte dauert, "bedarf daher die Spekulation schlechterdings der Ergänzung durch das denkende Erkennen, also durch die Empirie. Nur kann freilich auch diese ebensowenig der Hülfe jener entbehren."271 Die Notwendigkeit der Spekulation für das erkennende Denken war uns bereits deutlich geworden. Erst in der Spekulation wird der von Gott intendierte Systemcharakter der Schöpfung vom Menschen denkend entfaltet. Nach Rothe dient die Spekulation deswegen als "Schlüssel",272 der "die empirische Wirklichkeit wirklich verständlich" macht.273 Andererseits bleiben die Ergebnisse der Erkenntnis der Maßstab für die Spekulation. Rothe meint, daß die Ergebnisse der Spekulation mit der "empirischen Wirklichkeit" verglichen werden müssen.274 Diese Wirklichkeit haben wir aber nur als erkannte, und so müssen die Ergebnisse der Spekulation an den verstandenen Anschauungsformen verifiziert bzw. falsifiziert werden.275 Im Laufe der Geschichte wird der Identifizierungsprozeß also auch umgekehrt vollzogen: Die Kategorien werden mit den Anschauungsformen identifiziert.'1'76 Das Selbstbewußtsein muß immer wieder zum Fremdbewußtsein werden. Der spekulative Begriff richtet sich insofern nach der Erkenntnis, als

271 272 273

274 275

276

II,138f.;vgl.I,22 1,20,23 1,22 Auf diesen Punkt ist in der Sekundärliteratur, v.a. von Birkner, ausführlich hingewiesen worden. Über die Spekulation wird der eigene geschichtliche Ort verstehbar im Zusammenhang des Ganzen. Birkner sagt: "Die Konstruktion des notwendigen Gangs der Geschichte ermöglicht die Interpretation des faktischen Gangs der Geschichte" (Birkner, 36;vgl. 39). I,19;vgl.1,18-22 Schulze stellt fest, daß Rothe das Verhältnis von Spekulation und Empirie nicht gründlich erläutert. Auf welche Weise die Empirie der Maßstab für die Spekulation sein kann, sei "ganz in ... eigenes Belieben gestellt" (Schulze, 54). Richtig ist, daß Rothe selbst nicht ausführt, in welcher Weise die empirische Wirklichkeit Maßstab der Spekulation sein kann. Interpretiert man jedoch Rothe in seinem Sinne, kann mit dem Maßstab nur das erkannte Schema der Wirklichkeit gemeint sein, das als solches über das eigene Belieben gerade hinausträgt. Schulze klagt diese Ungenauigkeit Rothes im Rahmen seiner Kritik ein, die Spekulation müsse - recht verstanden - über jede Kontrolle durch die Empirie erhaben sein (Schulze, 54). Damit hat Schulze dann aber nicht richtig verstanden, daß es Rothe bei der Logik der Spekulation um die Logik der Geschichte geht. Die wohl richtige Beobachtung, daß Rothe im Sinne seiner Zeit die Erfahrungswissenschaften zu ihrem Recht kommen lassen will, ist jedenfalls eingebettet in den größeren Kontext, daß Rothe die Geschichte im Zusammenhang mit der Spekulation zur Geltung bringen will. Vgl.1,11

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er in der Vorstellung eine Entsprechung seiner selbst sucht und sich mit der gefundenen Entsprechung identifiziert. Rothe schreibt: "dieses [das spekulative Denken] findet zuerst die Begriffe..., und sucht zu ihnen außer sich die ihnen entsprechenden Objekte und in dem Sprachschatz die passenden Namen auf'. 277 Durch diesen Identifizierungsvorgang -wird also der erkannten Wirklichkeit dauerhaft ein Deuteschema untergelegt. Das ist denkbar, solange diese Wirklichkeit nicht völlig zum Organismus der Menschheit geworden ist. In der Geschichte also werden die spekulativen Begriffe nachträglich mit der Sprache identifiziert. Insofern bestätigt sich die Auslegung, daß die Spekulation als solche den Bereich der Sprache überschreitet. Diese sprachliche Fassung ist aber problematisch, weil die Sprache ja als Ausdruck der Vorstellung durch das Schema Raum und Zeit geprägt ist. Sie kann also nur der uneigentliche Ausdruck der spekulativen Begriffe sein, bzw. genau genommen ist keine Darstellung der Spekulation möglich. Eine zusätzliche Komplikation kommt außerdem dadurch zustande, daß nach Rothe praeeschatologisch zwei verschiedene Wege der Spekulation nach derselben Methode - möglich sind. Grund für diese Doppelung ist die Sünde. Obwohl die Sünde eine theologische Kategorie ist, müssen wir bereits an dieser Stelle auf sie zu sprechen kommen, weil sie ein lediglich theologisches Urteil über ein allgemeines, menschliches Phänomen ist, das eben auch die Philosophische Spekulation betrifft. Nach Rothe ist der Sünder dadurch ausgezeichnet, daß er sich seiner Aufgabe als Mensch widersetzt, indem er die Welt nicht gemäß dem Einheitsprinzip seiner Persönlichkeit erkennt und bildet. Es ergibt sich dadurch eine Geschichte, die sich von ihrem Telos gelöst hat. Die Sünde ist außerdem die Weise der Existenz, in der jeder Mensch sein Leben zwangsläufig beginnt.278 Daraus ergibt sich die Notwendigkeit zweier Weisen der Spekulation. Die Vernunft konstruiert einerseits den Prozeß dieser Abnormalität. Die Geschichte der Abnormalität braucht aber andererseits die Geschichte der Normalität, um überhaupt als Abnormalität begreifbar zu sein.219 Der Prozeß der Normalität ist ebenfalls spekulativ konstruierbar, "weil die Elemente zu seiner Konstruktion ... in dem Begriff des Moralischen [liegen], aus dem sie nur hervorgeholt zu werden brauchen mittelst der Analyse. "28° Wie ist das zu beurteilen? Rothe entwickelt den Begriff einer Spekulation als intramentalem, realitätsgesättigtem Denken. In der Konkretion des Voll277 278 279 280

I,6;vgl.I,112 Vgl.1,411.111,46 Vgl.1,411 1,412

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zuges dieser Spekulation jedoch nimmt es diese Realitätssättigung mit der proleptischen Spekulation partiell und mit der Spekulation der Normalität vollkommen zurück. Spekuliert werden soll nun lediglich durch Analyse und Synthese des Begriffes der Moralität. Moralisch ist nach Rothe ein Handeln, das - im Unterschied zum natürlichen Behandeltwerden - durch Selbstbestimmung ausgezeichnet ist. Dazu kommt, daß der Mensch sich kraft seiner Persönlichkeit nicht zu irgendetwas Beliebigem zu bestimmen hat, sondern zu einer Existenz, die die Übereinstimmung mit seinem Begriff zur Pointe hat:281 "Das Moralische ist das durch die kreatürliche Selbstbestimmung, näher durch die eigene Selbstbestimmung des persönlichen Geschöpfs, in der irdischen Schöpfungssphäre des Menschen, Kausierte. Gewordene.,r2S2 Das Moralische ist demzufolge das Sein des Menschen als Ergebnis seiner "normalen" Entwicklung. Für den in der Geschichte existierenden Sünder kann das Moralische demnach nur der Begriff des eschatologischen Menschen sein. Wie aber kommt der geschichtliche Mensch zu einem Begriff seines eschatologischen Wesens? Wir hatten festgestellt, daß es Rothe durch den Kunstgriff der Prolepse der Persönlichkeit gelingt, den Menschen teleologisch auf das Ziel der Geschichte auszurichten. Die Persönlichkeit wird von ihm jedoch so eingesetzt, daß sie selbst keineswegs Gegenstand der Erkenntnis ist. Dieses Einheitsprinzip kann dem Menschen also nicht zum Begriff seines eschatologischen Wesens werden. Eine andere Interpretationsmöglichkeit bietet sich an, wenn wir davon ausgehen, daß dem Menschen der Weg zur Übereinstimmung mit seinem Begriff ja durch die extramentale Wirklichkeit vorgegeben ist. Aus dieser Wirklichkeit kann sich der Mensch die Gesetzmäßigkeit aneignen, die für die Wirklichkeit insgesamt gilt. Was jede Prolepse der Spekulation partiell leistet, gilt darum für die Spekulation der Normalität total. Das bedeutet einerseits: Der Mensch bedarf lediglich der Erkenntnis eines Gegestandes, um aus ihm sein die ganze Wirklichkeit begreifendes Wesen zu entwickeln. Damit wäre jedoch nicht nur jedes konkrete Ding der Welt in die Rolle eines Mikrokosmos gesetzt, sondern außerdem der Begriff der Spekulation, der dem Rotheschen System wesentlich eigentümlich ist, aufgehoben. Andererseits ist der Gewinn des Begriffes der Menschheit auf diese Weise gar nicht möglich, weil er zumindest eine normale Erkenntnis voraussetzen würde. Der Philosoph der normalen Spekulation ist aber der auf abnormale Weise existierende. Diese Abnormalität besteht nun genau darin, das ideelle Schema der Wirklichkeit nicht mehr entsprechend dem Prinzip seiner Persönlichkeit zu erkennen und 281 282

Vgl.1,86 I,382;vgl.I,339,396

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zu bilden. Damit aber fehlt dem Denken jeglicher rechte Begriff, den es zum Fundament seiner Spekulation machen könnte. 283 Damit erweist sich Rothes Theorie einer Spekulation der Normalität als in sich widersprüchlich. Durch den eingetragenen Gegensatz von Normalität und Abnormalität verschiebt sich nun aber überhaupt die Möglichkeit der Spekulation. Durch den Begriff der Sünde ist eine normale Spekulation, wie sie sich durch die Entwicklung der Menschheit ergeben hätte, zu einer Spekulation reiner Apriorizität geworden. Die realitätsgesättigte und demnach einzig mögliche Spekulation also hat ihren Gegenstand nach Rothe nicht in dem in die Schöpfung gesetzten ideellen Schema. Sie ist die Konstruktion des Prozesses der Abnormalität. Wie ist das möglich? In seiner sündigen Existenz widersetzt sich der Mensch nicht nur dem mit seiner Persönlichkeit gegebenen Organisationsprinzip. Er hat kraft seiner Per-

283

In der Sekundärliteratur ist dieses Problem bemerkt und breit diskutiert worden. Birkner interpretiert Rothe richtig, wenn er die Geschichte der Normalität als Ersatz für den status integritatis, wie er in der dogmatischen Tradition gefaßt wird, versteht (vgl. Birkner, 48). Rothe kann von einer spekulativen Übersetzung dieses status als Prozeß nicht absehen, weil der Mensch seine Vollkommenheit ja erst eschatologisch als Endpunkt eines Grund-Folge-Prozesses erlangt. In diesem Sinne urteilt auch Schulze (vgl. Schulze, 80). Allerdings will er mit dem Hinweis darauf, daß Rothe die "alte Urstandslehre ... vergeschichtlicht", die Spekulation der Logik ex eventu in den Bereich der Dogmatik verweisen, die nach Rothe lediglich historisches Material sammelt und systematisiert, also keineswegs spekulativ arbeitet (Schulze, 81). Holtzmann kritisiert Rothe genauso. Ist davon auszugehen, daß die normale Entwicklung der Menschheit spekulativ deduziert werden kann, gehört die vom Sündenverderben ausgehende Spekulation in den Bereich reflektierenden Denkens, durch das termini der traditionellen Dogmatik übernommen werden (vgl. Holtzmann, 181, 186f ). Wenn aber auf spekulativem Wege mit der Sünde angehoben werden muß, ist 1) die normale Enwicklung der Menschheit selbst nicht mehr spekulativ deduzierbar (ebd.), 2) läßt sich unter dieser Voraussetzung die Normalisierung dieser Entwicklung nicht spekulativ erklären. Nach Rothe kommt es zu dieser Normalisierung durch die Offenbarung. Die Einführung der Offenbarung als Wunder aber zeigt im "Gewebe eines spekulativen Systems ... ein Loch" (Holtzmann, 188.vgl.201). An diesen Beobachtungen ist richtig, daß sich aus der Perspektive des Menschen als spekulierenden Subjekts mit dem Beginn bei dem sündigen Verdeiben ein sich steigernder Fortlauf der Sünde ergeben kann. Wie die Konzeption der Arbeit jedoch zeigt, soll nach Rothe Gott selbst als eigentliches Subjekt der Spekulation verstanden werden. Die Spekulation ist deswegen teleologisch gebunden, und solange wir davon ausgehen können, daß Gott als selbständiges Subjekt jenseits der Schöpfung zu agieren vermag, muß eine Umkehrung des Prozesses der Abnormalität als spekulativ deduzierbar angenommen werden können. Es wird sich zeigen, daß Rothe mit diesem Konzept dem späten Schelling entspricht, der eine philosophische Notwendigkeit der Offenbarung kennt (vgl. Schelling, VII, 463).

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sönlichkeit die Macht, ein fremdes Prinzip über sich herrschen zu lassen, das Rothe "das Prinzip der Materie" nennt.284 Dieses fremde Prinzip verhält sich kraft der Rezeptivität der Persönlichkeit so, daß es in diese 'hineinflutet'.285 Möglich ist dies, weil der Mensch an sich selbst eine "materielle Natur" hat.286 Indem er sich von dieser bestimmen läßt, anstatt sie - wie es seine Aufgabe ist - in Erkenntnis und Bildung zu organisieren, wird das Prinzip der Materie das Organisationsprinzip der Welt. Die Untersuchung der bildlichen Rede eines 'Hineinflutens' wird uns an späterer Stelle beschäftigen. Für den jetzt gegebenen Zusammenhang ist wichtig: Das Prinzip der Materie ist nichts anderes als das bereits in gewisser Hinsicht als logisches Prinzip bestimmte Schema von Raum und Zeit. Daraus folgt: Raum und Zeit, die an sich selbst kein Gedanke sind, treten an den Ort des Organisationsprinzipes des Menschen. Rothe meint, auf diese Weise gewinne das extramentale Schema von Raum und Zeit, das als Rahmen des ideellen Schemas der Wirklichkeit galt, eine solche Macht über die Wirklichkeit, daß es die eigentliche Logik der Wirklichkeit bestimmt. Raum und Zeit bilden damit den Zusammenhang der Dinge, die eigentlich durch Analyse und Synthese organisiert werden sollten. Was will Rothe sagen? Der Mensch lernt die Logik seines Denkens aus der extramentalen Wirklichkeit. In dieser Wirklichkeit liegen - wie sich nun zeigt zwei Organisationsprinzipien vor. Durch seine Persönlichkeit ist der Mensch in gewisser Weise praedestiniert, die Welt gemäß ihrer Geschöpflichkeit zu organisieren. Andererseits wird er zwangsläufig zum Sünder, indem er das Prinzip von Raum und Zeit, in dem die Welt ihrem Gott fremd geworden ist, zum eigentlichen Prinzip des Denkens macht.287 Damit aber müssen wir den bisherigen Gang des Denkens, der seinen Gipfel in der Spekulation als eschatologischer Möglichkeit des Denkens hatte, als Spekulation der Normalität verstehen, die, wie wir herausgefunden haben, 284 285 286 287

111,3 ;vgl.III, Iff. Vgl.111,4 Vgl.III,2 Vgl. 111,46 Rothes These ist, daß die Persönlichkeit, die sich ja erst im Laufe der Entwicklung des Menschen konstituiert, aufgrund ihrer Defizienz primär keine Chance hat, sich gegen die Macht der Materie, der der Mensch sowohl durch die Außenwelt als auch durch seine eigene Natur ausgesetzt ist, zu wehren (vgl.III,46,41). Diese Auffassung ist allein aus logischen Gesichtspunkten nicht unproblematisch, weil Rothe trotz der Unmöglichkeit der Konstitution der Persönlichkeit eine Persönlichkeit voraussetzt, die durch das Prinzip der Materie "alterirt" wird (vgl.III,46). Rothes Schwanken zwischen der Annahme eines transzendentalen Selbstbewußtseins und dem Gedanken der Ermöglichung der Persönlichkeit durch das vermittelte Selbstbewußtsein wird an dieser Stelle wiederum deutlich. Es wird später darauf zurückzukommen sein.

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überhaupt nicht als solche anerkannt werden kann,288 Der Mensch beginnt seine Geschichte in der Verkennung des ideellen Schemas der Wirklichkeit. Die Geschichte fuhrt damit in den Widerspruch des Menschen zu seinem Begriff hinein, und dies impliziert, daß der Schöpfung eine Wirklichkeit gegeben wird, die mit dem Denken (dem Gedachten qua ideellem Schema) auch dem Willen Gottes widerspricht. Wie kann nun aber dieser Widerspruch überhaupt namhaft gemacht werden, wenn sich als Maßstab keine Spekulation der Normalität anbietet? Nach Rothe ist der eigentliche Korrektor der abnormalen Entwicklung des Menschen Jesus Christus (den er fast durchweg den Zweiten Adam nennt).289 Aufgrund der Bekehrung, die durch die Person Jesu Christi möglich ist, wandelt sich der abnormale Geschichtsverlauf nach und nach in einen normalen,290 Auf diesem Wege gewinnen Vernunft und Freiheit letztlich die Oberhand, so daß die Welt eschatologisch doch als gemäß dem Prinzip der Persönlichkeit organisiert gelten kann.191 Wollen wir demnach wissen, auf welchem Wege dem Menschen die Spekulation tatsächlich möglich ist, müssen wir uns mit der Möglichkeit der Frömmigkeit des Menschen beschäftigen. Gesagt ist jedoch an dieser Stelle bereits soviel, daß die Logik der Spekulation, wenn sie im Sinne Rothes zum "Fundament" die Geschichte hat, auch als Geschichte der Bekehrung kraft der Person Jesu Christi weitgehend durch das Schema Raum und Zeit bestimmt sein muß. Wenn die Geschichte das Medium der Spekulation abgibt, muß deren Logik durch diese Geschichte bestimmt sein. Raum und Zeit sind die Lo288 289 290 291

Vgl. Holtzmann, 177f. Vgl.11,47 Vgl.III,174f. Trotz der faktischen Sünde des Menschen hat ihn Gott nach Rothe in Freiheit geschaffen, sich gemäß seinem Begriff zu bestimmen. Dem widerspricht jedoch genau genommen, daß die Erlösung nach Rothe bereits supralapsarisch in der göttlichen Weltidee mitgesetzt ist (vgl.III,110). Die Einschränkung der Freiheit, die dadurch für den Menschen gegeben ist, versucht Rothe dadurch aufzuheben, daß Gottes der Schöpfung vorausgehender "Weltplan" lediglich "als völlig abstrakte, in unbenannten Zahlen ausgedrückte Formel" gedacht wird (vgl.I,212fif.III,lllf). Dennoch müssen wir schlußfolgern, daß die Sünde des Menschen für Gott schon vor seiner Schöpfung feststeht, und dies ist dem Ansatz Rothes gemäß konsequent. Denn wie der Mensch zwangsläufig mit dem Prinzip von Raum und Zeit beginnt, so hebt auch Gottes "Weltidee" an bei der "primitiven schöpferischen Setzung (der reinen Materie)" (1,212). Damit haben wir weit vorgegriffen. Die Materie (also Raum und Zeit) ist nach Rothe die erste Schöpfung Gottes. Dieser Gedanke wird uns in seinen Einzelheiten erst innerhalb der Gotteslehie beschäftigen. An dieser Stelle sei nur seine Bedeutung für den gegebenen Zusammenhang hervorgehoben: Wenn Gott seinen Weltplan von der Materie her entwickelt, ist die zwangsläufige Sünde, deren Grund diese Materie ist, von vornherein in der "Weltidee" mitgegeben.

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gik, in der der Mensch zu denken beginnt, und seine Bekehrung wird von Rothe als ein allmählicher Akt verstanden, der erst im Eschaton zu seinem Ziel kommt. Damit beherrscht also nicht eine praelapsarische Logik die Geschichte, sondern Raum und Zeit geben vor, was letztlich als logisch zu gelten hat. Nur so kann die Spekulation kraft der Logik die einmalige Geschichte der Menschheit tatsächlich konstruieren.292 Offen ist jedoch weiterhin, wie die Paradoxität einer nichtlogischen Logik von Raum und Zeit aufgelöst werden kann.

1.3. Frömmigkeit Die Pointe der Erkenntnistheorie Rothes liegt in der eschatologischen Einwohnung Gottes in der durch Vernunft und Freiheit systematisierten Welt. Der Mensch gerät dadurch in ein Verhältnis zu Gott, das Rothe "Frömmigkeit" nennt. Selbstbeziehung wird so zur Gottesbeziehung. Dieser Frömmigkeitsbegriff ist in sich widersprüchlich: Wenn der gesamte Gehalt von Denken und Wollen einer Person mit dem einer anderen identisch ist, sind beide nicht mehr von einander unterscheidbar. Die Transzendenz der Natur durch Vernunft und Freiheit verhindert jedoch als solche die Möglichkeit einer Einftußnahme durch ein fremdes Subjekt. Neben dieser normalen Frömmigkeit gibt es eine Ausnahme: Dem Prozeß von Erkenntnis und Bildung vorausgehend postuliert Rothe eine "reine Frömmigkeit", die aufgrund ihrer Freiheit von jeglicher Relation auf die Welt bei allen Menschen dieselbe sein soll. Damit ergäbe sich eine Einheit der Menschheit, die der durch die Organisation der Welt zu erreichenden Einheit vorausginge. Die Institution dieser Gemeinschaft wäre die Kirche. Das Denken des Menschen ist jedoch derart mit seinem Willen verbunden, daß es sich nur in Relation auf die Welt äußern kann. Eine nachträgliche Abstraktion von diesem Handeln

292

In einem ähnlichen Sinn urteilt Birkner, indem er schreibt: "Das Rothesche System ist ein System der Heilsgeschichte" (Birkner, 13). Die Geschichte in Raum und Zeit spekulativ zu erfassen, ist auch nach Birkner das Hauptanliegen Rothes. Birkners Verständnis der Spekulation der Normalität als Entfaltung des status integritatis veranlaßt ihn jedoch, die Zweigleisigkeit der Geschichtsperspektiven Rothes zu unterschätzen. Nach Birkner ist der Plan Gottes, das Telos der Geschichte durchzusetzen, von vornherein der "Heilsplan", der vom Menschen spekulativ nachkonstruiert wird. Birkner referiert nicht eigens, daß es nach der Konzeption Rothes problematisch ist, den Begriff der Erlösung praelapsarisch zu fassen. Die Begriffe "Heilsplan" und "Heilsgeschichte" (Birkner, 12f.,31,39,47 u.ö.) sind Interpretamente Birkners, die Rothe selbst nicht gebraucht hat. Auf diese Einseitigkeit des Verständnisses Birkners muß an dieser Stelle hingewiesen werden, weil er es daraufhin versäumt, die Problematik einer Spekulation zu erörtern, die sich zu ihrem Prinzip Raum und Zeit machen muß. Birkner geht schlicht davon aus, daß eine Geschichte der Abnormalität logisch auf dieselbe Weise konstruierbar ist wie die Geschichte der Normalität. Raum und Zeit aber, so hatten wir gesehen, sind wohl ein Prinzip der Logik, aber geprägt durch die Paradoxie eines nicht denkbaren, ideellen Schemas. Wie aber kann die Welt mittels Raum und Zeit überhaupt gedacht werden? Das ist das Problem.

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

aber nimmt dieser Frömmigkeit ihre Priorität gegenüber Erkenntnis und Bildung. Auch wäre das Denken dennoch durch die partiell wahrgenommene Welt geprägt und demnach keineswegs bei allen Menschen dasselbe. Der Begriff der Kirche ist (unter den Bedingungen normaler Frömmigkeit) darum nicht widerspruchsfrei denkbar.

Die Systementwürfe des Deutschen Idealismus sind durch den Versuch ausgezeichnet, die sinnliche und die intelligible Welt aus einem Prinzip derart zu erklären, daß das endliche Bewußtsein in der Welt nichts anderes erkennt als sich selbst und sich über verschiedene Stufen dieser Erkenntnis emporzuarbeiten hat zum absoluten Bewußtsein. Trotz vieler Gemeinsamkeiten mit einem solchen grundsätzlichen Entwurf hat Rothe den - wie er meinte - notwendigen Pantheismus dieser Konzeption zu vermeiden gesucht, indem er den Menschen derart mit einer Persönlichkeit ausgestattet verstand, daß ihm die Entwicklung eines eigenen Bewußtseins, das gegenüber einem Selbstbewußtsein Gottes selbständig ist, möglich sein soll. Die idealistische Selbsterkenntnis in bezug auf die Welt wird dabei so zurückgenommen, daß die Möglichkeit einer Erkenntnis der Dinge, wie sie an sich selbst sind, fundiert wird in einer Schöpfungsordnung. Es ist nunmehr nicht das der Persönlichkeit ursprünglich eigene Sein, das der Mensch erkennt, sondern das durch die Schöpfung verdoppelte Sein Gottes. Rothe führt aus: "Wenn der Mensch (als Geschlecht) auf sittlichem Wege, erkennend und bildend, die gesammte irdische materielle Natur, sie so an sich vergeistigend, seiner Persönlichkeit zugeeignet hat: so hat er hiermit zugleich alle die göttliche Natur konstituirenden realen Gedanken Gottes, soweit sie sich in der irdischen Schöpfung darlegen konnten, sich zugeeignet."293 Der Mensch begreift Gott in der Welt, aber er begreift ihn als Sein der eigenen Persönlichkeit.

293

II, 124f. Heckel hebt die Intention Rothes hervor, im Unterschied zur allgemein üblichen kirchlichen Praxis nicht nur vereinzelte philosophische Begriffe zu adoptieren oder als Alternative "naturalistisch zu radbrechen" sondern "eine theologische Logik" zu begründen (vgl. Heckel,33). Tatsächlich ist es Rothes Absicht, die Theologie von der Philosophie abzugrenzen. Eine Interpretation Rothes auf dem Hintergrund des Deutschen Idealismus ist dennoch dadurch gerechtfertigt, daß diese 'theologische Logik' weder einen anderen Stoff als die säkulare bzw. Philosophische Spekulation expliziert, noch eine andere Methode verwendet. Die Theologie unterscheidet sich von der Philosophie nach Rothe allein dadurch, daß sie eine andere Perspektive auf die Welt hat, indem die Welt nicht nur als Welt, sondern als Gott verstanden wird. - Wie gezeigt, ist diese Perspektive auf die Welt gerade der Philosophie z.Z. Rothes durchaus nicht fremd. Eine Unterscheidung von Theologie und Philosophie ist darum auf der Basis der Logik schwer möglich und liegt wohl - anders als nach Heckel - eher in der traditionell kirchlichen Verwurzelung des Denkens Rothes, die ihn beispielsweise dazu veranlaßte, einen theistisch verstandenen Gott bereits vor der Schöpfung zu postulieren.

Frömmigkeit

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Zu fragen ist, ob damit trotz der theistischen Fassung des Systems nicht dennoch die idealistische Pointe eines absoluten Selbstbewußtseins durchgehalten wird. Wie erwähnt, ist davon auszugehen, daß es ein Selbstbewußtsein Gottes unabhängig von der Entwicklung des Selbstbewußtseins der Menschheit gibt. Dennoch gehört zu Rothes Konzeption von vornherein der Gedanke der Notwendigkeit der Eirtwohnung Gottes in die Welt. Auf diese Weise wird das Zustandekommen des Selbstbewußtseins Gottes zum zweiten Mal gedacht. Möglich ist diese Einwohnung dadurch, daß die Welt nichts anderes darstellt als die Natur Gottes - aber eben als das Andere seiner. Gott kann in der Welt sich selbst erkennen und d.h.: die Welt in sein Selbstbewußtsein integrieren.294 Das Problem dieser Selbsterkenntnis ist uns bereits als Problem der Entwicklung des Menschen bekannt: Raum und Zeit sind ein ideelles Schema, das in seiner Nichtideellität alles Geschaffene umgibt. Damit gab Gott der Welt eine Widerständigkeit, die ihn selbst als Inbegriff des Ideellen von der Welt ausschließt.29* Gott braucht darum den Menschen, um in der Welt aktuell gegenwärtig sein zu können. Der Schöpfungsprozeß ist durch Gott daraufhin angelegt, daß der Mensch sein Sein in der Welt ermöglicht, indem er sie erkennt und sich aneignet. "Damit [mit Vernunft und Freiheit] sind denn aber in ihm die Bedingungen des Seins Gottes in ihm oder des irdisch-kosmischen Seins Gottes gegeben, und es tritt für Gott die reale Möglichkeit ein, sich, nämlich nach seinem aktuellen Sein, in der irdischen Kreatur sein Sein zu geben, worauf er ja eben von vornherein hinzielt bei dem Schaffen. ... Gott kann irdisch kosmisch werden, weil er Mensch werden kann".296 Der Mensch organisiert die Welt in Erkenntnis und Bildung und schafft damit Gott die Möglichkeit, sich in diese Welt hineinzudenken bzw. hineinzuwollen, ihr also "ein[zu]wohnen".297 Sofern Rothe die Einheit von Vernunft und Freiheit als Geist definiert, wird hier offenbar, daß der Geist des Menschen wesentlich "heiliger Geist" ist.298 Dieses Prädikat kommt ihm zu, weil sich der Mensch mit seiner Vergeistigung als solcher für die Einwohnung Gottes qualifiziert hat.299

294

Wird auf diese Weise die Annahme provoziert, daß sich die endlichen Subjekte im idealistischen Sinne selbst zum Absoluten potenzieren, so versucht Rothe, die Unterscheidung von Gott und Mensch dadurch durchzuhalten, daß die Vollendung der Welt nicht in der Macht des Menschen steht. Wie Gott selbst jeden Schöpfungsschritt neu initiieren muß, so vollendet er die sich zum Geist emporgearbeitet habende Menschheit durch ihre endgültige Unterscheidung von der "Materie", die ihm als Ausdruck von Raum und Zeit gilt (vgl.III, 187f.).

295

Vgl.1,462

296

I,461;vgl.II,69f.III,316 1,463 1,461 Vgl.ebd.

297 298

299

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

Rothe redet von einem Verhältnis, das Gott durch sein Einwohnen zum Menschen hat. Dieses Verhältnis drückt sich aufsehen des Menschen als "Frömmigkeit" aus: "Deßhalb ist in dem Begriff des Menschen seine spezifische Beziehung zu Gott, - nämlich daß Gott mit ihm ein Verhältnis anknüpft, um sich mit ihm zu vereinigen, - mitgesetzt, also die religiöse Bestimmtheit oder die Frömmigkeit." 300 Die Frömmigkeit ist die "reelle Gemeinschaft des Menschen mit Gott" 301 Was bedeutet also Frömmigkeit als "reelle Gemeinschaft"? "Reellität" ist nach Rothe die Einheit von dem, was gedacht wird (dem Ideellen) und dem, was da ist, dem Gesetzten (dem Realen). 302 Reelle Gemeinschaft von Gott und Mensch müßte dann heißen, daß Gott sich mit dem, was er in der Schöpfung gesetzt hat, qua Vernunft und Freiheit identifiziert. Wenn Rothe sagt, daß Gott ein "reelles Sein"303 im Menschen hat und alle seine Setzungen im Menschen zu "Wahrheit und Wirklichkeit"304 gekommen sind, scheint er genau das zu intendieren. Möglich ist dieses Sein als Verhältnis deswegen, weil Gott sich nicht mit der Persönlichkeit des Menschen identifiziert, der Mensch also trotz der Einwohnung Gottes Subjekt seiner selbst bleibt. 305

300 301

302 303 304 305

1,461 1,462 Darauf hingewiesen werden muß, daß es sich an dieser Stelle um die Frömmigkeit der "Normalität" handelt (vgl.1,475). Sie gehört in die abstrakte und eigentlich spekulativ unmögliche Geschichte der Entwicklung des Menschen zu seinem Begriff hinein. Wir müssen sie trotz ihrer faktischen Unmöglichkeit diskutieren, weil an ihr deutlich wird, wie Rothe sich das Ziel der Geschichte denkt, das auch durch die Geschichte der Abnormalität hindurch erreicht werden soll. Thilo unterstellt Rothe in bezug auf diese Argumentation quasi einen ontologischen Gottesbeweis. Er schreibt: "Man wird ohne weiteres sehen, wie die unmittelbare Gewißheit, daß Frömmigkeit ist, d.h. daß der Glaube an Gott in einem Subjekte vorhanden ist, sofort in die unmittelbare Gewißheit, daß das Objekt der Frömmigkeit Realität habe, (d.h. sei, unabhängig von dem Geglaubt werden oder nicht) umgewandelt wird" (Thilo, 121). Dieses Argument Thilos wird bei Flügel (wie viele andere) wortwörtlich wiederholt (vgl. Flügel, 406). Flügel versteht seine Aufgabe ausdrücklich darin, die Kritik Thilos an Rothes 1. Auflage der Ethik in bezug auf die 2. Auflage zu popularisieren (vgl. Flügel, 401f.). Damit wird das Verhältnis von Spekulation und Erfahrung bei Rothe verkannt, nach dem 1) die Spekulation nur kraft des weltgesättigten Denkens und Wollens vollzogen werden kann und 2) das Gottes-Verhältnis kein anderes ist als das Weltverhältnis unter einem besonderen Urteil. Vgl.1,115 1,474 1,475 V g l . 1,463

Frömmigkeit

93

Diesen Identifizierungsvorgang Gottes haben wir uns demnach offensichtlich genauso vorzustellen wie den Prozeß von Erkenntnis und Bildung, durch den der Mensch zum Bewußtsein seiner selbst gelangt. In Vernunft und Freiheit des Menschen liegen für Gott alle extramentalen Objekte vor, die er sich mittels Erkenntnis und Bildung aneignen kann. Das schafft jedoch schwierige Probleme. Anders als beim Menschen ist bei Gott ja bereits Selbstbewußtsein als Vollzug von Vernunft und Freiheit vorausgesetzt. Wie wir innerhalb der Gotteslehre entwickeln werden, ist dieses Selbstbewußtsein keineswegs - so wie Rothe es beim Menschen innerhalb der Geschichte denkt - unvollständig, so daß eine nach außen gerichtete Erkenntnis und die Vernunft nebeneinander bestehen können. Das Selbstbewußtsein Gottes qua Vernunft und Freiheit befaßt in sich alles mögliche Sein. Das Denken Gottes, ist also von vornherein gesättigt mit aller Realität. Wie kann aber für ein solches Denken eine extramentale Beziehung möglich sein, die eine erneute Füllung mit Realität zur Konsequenz haben soll? Der Versuch Rothes, ein philosophisches Konzept theistischtheologisch umzuformen, hat offenkundig zur Konsequenz, daß sich ein absolutes Selbstbewußtsein zu seiner Absolutheit noch einmal entwickeln muß. Die Erörterung dieses Problems gehört in die Theologie. An dieser Stelle jedoch ist seine Erwähnung notwendig, um den Charakter der Beziehung zwischen Gott und Mensch zu klären.

Der Mensch vollzieht diese Beziehung zu Gott, indem er sein Ich-Bewußtsein als Gottesbewußtsein versteht. Selbstgewißheit wird auf diese Weise zur Gottesgewißheit: "Mit dem Bewußtsein um sein [des Frommen] Ich ist also in ihm unmittelbar zugleich und zusammen das Gottesbewußtsein gesetzt. Sonach hat dann aber für das religiöse Subjekt die Urthatsache des reinen Denkens, in welche die Spekulation einsetzt, wesentlich zwei Seiten: in dem frommen Denker ist sie das Vollziehen einerseits des Ichbewußtseins und andererseits des Gottesbewußtseins, dieses beides aber in Einem."306 Das Verhältnis zur extramentalen Welt, die sich der Mensch qua Vernunft zum Gegenstand seines Selbstbewußtseins gemacht hat, ist demnach per se das Verhältnis zu Gott. Möglich ist dies, sofern in bezug auf denselben Gegenstand zwei verschiedene Urteile gefällt werden. Die der Vernunft gegenständliche Welt wird sowohl verstanden als "Ich" als auch als "Gott". Mit der Statuierung dieser Frömmigkeit als solcher ist nicht erklärt, wodurch der Mensch dazu veranlaßt wird, die Welt als Gott zu verstehen. Aus der Beziehung auf die Welt als solche geht dies offensichtlich nicht hervor. Wir werden im Fortlauf sehen, daß Rothe selbst dieser Frömmigkeit zwei Voraussetzungen gibt, die jedoch beide nicht wirklich als Ermöglichung der Weltbeziehung als Gottesbeziehung gedacht werden können. Die Absicht Rothes ist klar. Die Welt, die der Mensch zu organisieren hat, darf nicht außerhalb des Selbstbewußtseins Gottes liegen, wenn dieser Gott biblisch formuliert - eschatologisch Alles in Allem sein soll. Aber gelingt es Rothe tatsächlich, die Selbständigkeit des Menschen diesem Gott gegenüber bzw. die Einwohnung dieses Gottes in Vernunft und Freiheit zu denken? Er 306

1,34

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

schreibt an anderer Stelle, daß die Kommunikation zwischen Personen nur über ihre Natur möglich ist.307 Diese These setzt jedoch zwei voneinander unterschiedene Naturen voraus. Rothe will das Verhältnis von Gott und Mensch aber durch die lediglich voneinander unterschiedenen Persönlichkeiten konstituiert wissen. Die Persönlichkeit ist jedoch nur der Einheitspunkt, der Verstand und Willen aufeinander bezieht bzw., Kantisch formuliert, alle Vorstellungen so auf ein Subjekt bezieht, daß sie als seine verstanden werden können. Im Kantschen Sinne nun ist es durchaus möglich, daß ich Vorstellungen haben kann, die identisch sind mit den Vorstellungen, die ein anderes Subjekt im selben Moment hat. Anders gesagt: Auch wenn ich denke, daß die Vorstellungen, die ich habe, die eines anderen sind, bleibe ich doch, solange ich dies denke, das Subjekt dieser Vorstellungen. Das Selbstbewußtsein als Transzendentale Einheit der Apperzeption ist davon unangetastet. Der Unterschied zwischen Kant und Rothe war bei aller Parallelität jedoch deijenige, daß Rothe zwar eine Persönlichkeit im Sinne der Transzendentalen Einheit der Apperzeption annimmt, diese jedoch lediglich als Voraussetzung bzw. Ergebnis eines eigentlich zu entwickelnden Selbstbewußtseins gelten soll. Dieses Selbstbewußtsein ist als intellektuelles zugleich Vollzug des Wollens bzw. Handelns. Wenn sich also - so müssen wir schlußfolgern - Gott zum Subjekt eines solchen Selbstbewußtseins macht, ist dem Menschen die Handlungsmöglichkeit gegenüber diesem Gott - und damit ein Verhältnis zu ihm - genommen. D.h.: Wenn Gott in Vernunft und Freiheit des Menschen als sein Subjekt einwohnt, kann sich die Persönlichkeit nicht mehr als ihr "Einheitspunkt" konstituieren, denn das corpus einer Person kann nicht identisch sein mit dem einer anderen. Indem also Rothe im Unterschied zu Kant einerseits ein reines Bewußtsein nicht schlechtweg voraussetzt, sondern es sich unter bestimmten Bedingungen konstituierend denkt, und andererseits theoretische und praktische Philosophie als Einheit denken will, geht dem Menschen die Möglichkeit des Ichsagens beim Einbüßen dieser Bedingungen verloren. Das Problem löst sich nicht, wenn wir mit Rothe von einer Prolepse der Persönlichkeit ausgehen. Denn auch so bleiben Denken und Wollen ihre Bedingung, bei deren Wegfall - nämlich wenn sie das Denken und Wollen eines anderen werden - auch die Persönlichkeit erlischt. Betrachten wir das Problem von einer anderen Seite: Die Persönlichkeit ist der "unmittelbare Anknüpfungspunkt im Menschen für Gott".308 Diese Wendung kann nicht so verstanden werden, daß Gott den Menschen in seiner Persönlichkeit berührt bzw. auf sie einwirkt. Rothe macht sehr wohl mit seiner These ernst, daß der Mensch in der Persönlichkeit die Natur transzendiert und 307 308

Vgl.II,71 1,463

Frömmigkeit

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d.h. als Subjekt seiner selbst nicht mehr das Objekt einer fremden Wirksamkeit sein kann. "Anknüpfungspunkt" heißt dann lediglich, daß der Mensch kraft seiner Persönlichkeit überhaupt in der Lage ist, sich zu Gott zu verhalten. Rothe schließt folgerichtig: "Von ihr [der Persönlichkeit] geht der religiöse Prozeß aus ... ungeachtet das direkte Objekt der Einwirkungen Gottes auf den Menschen ausnahmslos die Natur desselben ist".309 In Erkenntnis und Bildung des Menschen jedoch kann Gott nicht einwohnen, weil sie noch durch das nichtideelle Schema von Raum und Zeit geprägt sind. Mit Vernunft und Freiheit aber transzendiert der Mensch aufgrund ihrer Selbständigkeit den Bereich der Natur. Vernunftsinn und Willenskraft sind nach Rothe selbst das reine Vermögen der Spontaneität, denen darum die Rezeptivität qua Empfindung bzw. Gefühl und Trieb verlorengegangen ist. Damit aber entziehen sich Vernunft und Freiheit der Einflußnahme Gottes. Gott hat also schon aufgrund der Konstitution des Menschen keine Möglichkeit, ihm einzuwohnen. Es ist aus den Texten nicht zu erheben, ob Rothe dieses Problem bemerkt hat. Seine eigene Argumentation ist offensichtlich so sehr an der faktischen Möglichkeit der Frömmigkeit orientiert, daß er diese "normale" Möglichkeit nur als abstrakte Folie entwirft, die im einzelnen nicht genau durchdacht ist. So aber ergibt sich eine merkwürdige Verschränkung seines Systems: Einerseits soll sich die Abnormalität des Geschichtsverlaufes auf dem Hintergrund seiner Normalität erklären. Diese ist die gedankliche bzw. sogar spekulative Voraussetzungjener. Andererseits aber erscheint die Geschichte der Normalität als bloßer Schatten derjenigen der Abnormalität, und die Stringenz jener scheint um der Denkbarkeit dieser willen aufgehoben oder doch lückenhaft zu sein. Daß Rothe mit der Ableitung der normalen Frömmigkeit bereits diejenige vorbereitet, die zu ihrer Voraussetzung die Sünde hat, zeigt sich bei seiner Erörterung einer Ausnahme dieser normalen Frömmigkeit. Er gibt an, mit dieser Ausnahme ein Problem lösen zu wollen. Auf dem von uns bereits beschriebenen Wege ist die Frömmigkeit eine eschatologische Größe, bzw. kann sie sich im Laufe der Geschichte nur partiell verwirklichen, nämlich gerade so weit, wie sich Erkenntnis und Bildung bereits zu Vernunft und Freiheit erhoben haben. Auf diesem Wege müßte sich die Menschheit ebenso, wie sie sich nach und nach zu einer Gesamtperson entwickelt, auch zur vollendeten Frömmigkeit erheben. Rothe redet jedoch von "natürliche[n] Scheidewändefnj" unter den Völkern, die durch die verschiedenen Lebensbedingungen Zustandekommen und die diese Entwicklung hemmen bzw. verhindern,310 309

I,463f.

310

II,237;vgl.II,243f.

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Die Menschheit braucht darum eine Grundlage, die von vornherein ihre Einheit herstellt, und auf der sich dann auch die Einheit von Erkenntnis und Bildung nach und nach vollziehen läßOn Darum wird die Möglichkeit einer Frömmigkeit "rein als solcher" postuliert*12 Kraft dieser Frömmigkeit soll die "absolute Gemeinschaft" der Menschheit "von vornherein unmittelbar vorhanden" [sein]. Denn das religiöse Verhältnis des Menschen berühren jene Unterschiede, welche auf dem sittlichen Gebiete Scheidungen verursachen, ganz und gar nicht. Unter der Voraussetzung der moralischen Normalität ist die Frömmigkeit (also die normale Frömmigkeit) ihrem Begriff zufolge ausnahmslos in Allem sich selbst wesentlich gleich. Es ist in ihr überall die in allen wesentlich gleiche Beziehung des menschlichen Geschöpfs zu Gott und Gottes zum menschlichen Geschöpf gesetzt" .313 Da aber eine solche fromme Gemeinschaft die Bedingung der religiösen Sittlichkeit überhaupt ist, bedarf sie einer Institution: "Diese Gemeinschaft der Frömmigkeit rein und ausschließlich als solcher ist die Kirche. "314 Sie stellt sich dadurch dar, daß sie auf ein Handeln in der Welt (qua Erkenntnis und Bildung) vollkommen verzichtet. Das "kirchliche Handeln" ist "ein religiöses moralisches Handeln mit völliger Abstraktion von dem Sittlichen. "315 Das oben beschriebene Verhältnis der Frömmigkeit in der Weise eines besonderen Welt- bzw. Selbstverhältnisses wird dabei ganz und gar aufgelöst: Es gibt ein Verhältnis zu Gott, das von dem Verhältnis des Menschen zu der erkannten und angeeigneten Welt frei «f.316 Wie jedoch ist das denkbar, wenn jede Aktion des Menschen notwendig ein Handeln mittels seiner Natur ist? Das "kirchliche Handeln" muß nach Rothe "wider Willen in irgendeinem Maße in die materielle Natur hineingreifen, und folglich, in offenem Widerspruch mit seinem Begriff als ausschließend religiösem, etwas von sittlichem Handeln an sich nehmen."317 Dieser Widerspruch aber wird erträglich dadurch, daß dieses kirchliche Handeln sich selbst nur als ein "sinnbildliches" bzw. "symbolisches" begreift.318 Mit zunehmender Entwicklung der Menschheit, die die sog. sittliche Religiosität ins Werk setzt, wird damit die Kirche als Basis dieser reinen Frömmigkeit überflüssig.319

311 312 313 314 315 316 317 318 319

Vgl.II,243 11,241 II,240f. 11,247 11,248 Vgl.11,248 11,249 11,250 Vgl.II,248

Frömmigkeit

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Die Behauptung aber von "natürliche[n] Scheidewändefnj" ist ein Postulat Rothes, das in seinem Gesamtentwurf keinen Grund hat. Wenn Gott die Welt gemäß seiner Gedanken in ein ideelles Schema gesetzt hat, dann müssen Grenzen jedweder Art durch die Logik, die der Mensch sich anzueignen hat, überwindbar sein. Die Einheit der Welt liegt also extramental vor und muß nicht durch eine apriorische prätendiert werden. Es bleibt unklar, wie diese Frömmigkeit denkbar ist. Über die zitierten bzw. referierten Argumente hinaus gibt Rothe keine Erklärungen. Nehmen wir diese ernst, ergibt sich lediglich ein Paradoxon: Die reine Frömmigkeit soll, indem sie als Voraussetzung der "sittlich" vermittelten Frömmigkeit gilt, ebenso Voraussetzung eines jeden Aktes von Erkenntnis und Bildung sein. Wegen der besonderen Struktur menschlicher Aktivität aber kann sie ihre Reinheit nur durch die "Abstraktion" von Erkenntnis und Bildung erlangen. So aber geht sie der Erkenntnis nicht voraus, sondern folgt ihr nach und kann damit - genau genommen - nicht ihre Religiosität begründen. Offen bleibt dabei, ob bereits das sog. symbolische Handeln als Ergebnis einer solchen Abstraktion verstanden wird (eben weil es nicht auf der Ebene der Organisation ernst mit dem Ergebnis seines Handelns macht), oder ob in bezug auf dieses Handeln noch einmal von seinem weltlichen Gehalt abstrahiert werden muß. Was aber wäre das Ergebnis einer solchen Abstraktion? Würde lediglich von dem realen Gehalt abstrahiert, bliebe doch als ideelles Schema die Struktur der Welt erhalten. Wegen seiner durch Rothe so stark gemachten geschichtlichen Bedingtheit könnte keineswegs die Rede von einer allen Menschen gleichen Frömmigkeit sein (was übrigens auch für die Ergebnisse symbolischer Handlungen gilt). Wird aber um der Einheitlichkeit der Spekulation willen in bezug auf das "symbolische Handeln" außerdem von diesem Schema abstrahiert, beraubt sich die fromme Persönlichkeit mit dem Wollen auch des Denkens, die aber nach Rothe Vollzugsweisen der Frömmigkeit sein sollen (abgesehen davon, daß der Gedanke einer Abstraktion des Denkens von sich selbst als solcher absurd ist).320 Aus diesem Ergebnis müssen wir schließen, daß der Gedanke einer reinen Frömmigkeit als Voraussetzung der sog. normalen Frömmigkeit so vielen

320

Daß für Rothe eine solche Frömmigkeit im Zusammenhang der spekulativ deduzierten Frömmigkeit tatsächlich eine Absurdität darstellt, zeigt ein Zitat, das in den Kontext der Erörterung theologischer Spekulation gehört: "Überdieß ist das Verhältniß des Menschen zu Gott rein als solches, d.h. als von seinem Verhältniß zur Welt isolirt genommen, eine leere Abstraktion; für den Frommen aber, sofern er lebendig fromm ist, wenigstens für den frommen Christen, gibt es überhaupt gar kein wirkliches Bewußtsein, das nicht wesentlich beides wäre, Gottesbewußtsein und Weltbewußtsein" (I,66;vgl.II,171).

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Widersprüchen unterliegt, daß er nicht nachvollziehbar ist.321 Im Unterschied zu dieser normalen Frömmigkeit wird die reine Frömmigkeit nicht auf der Grundlage der Konstitutiva des Menschen deduziert. Obwohl sie als Bedingung für die Frömmigkeit des Menschen überhaupt gilt, wird sie lediglich postuliert. Ich habe in der Einleitung erörtert, daß Rothe seine viel diskutierte Kirchenthese offensichtlich von Schelling übernommen hat. Im Unterschied zu Schelling jedoch, für den die Kirche erst mit der Bekehrung des Menschen thematisch wird, muß Rothe, der versucht, die wirkliche Geschichte der Menschheit als Geschichte ihrer Abnormalität auf ihrem idealen Hintergrund als Geschichte der Normalität abzubilden, ebenso einen normalen Kirchenbegriff schaffen, demgegenüber der tatsächliche eine Veränderung seiner ursprünglichen Intention darstellt. Damit aber ergibt sich die mindestens merkwürdige Theorie einer Kirche ohne Jesus Christus. 322 Nicht nur die Tradition, sondern auch die Untersu321

Schulze versucht, dem "logischen Widerspruch" (Schulze, 105) einer Kirche der reinen Frömmigkeit, der darin bestehe, daß sie gegen ihren Begriff (symbolisch) handeln müsse, insofern Sinn abzugewinnen, als in der Wirklichkeit einer solchen Kirche ihre notwendige "Realdialektik" liegt, den vorläufigen Staatsbegriff theologisch zu füllen (vgl. Schulze, 107f.). M.E. legt Schulze dabei die Aufmerksamkeit auf den falschen Punkt. Rothes These der symbolischen Handlungen dient ihm lediglich zur Festigung des formalen Begriffes der Kirche und hat für den Gesamtzusammenhang keine Bedeutung. Es wird gezeigt werden, daß die Entwicklung der Menschheit zur reellen Frömmigkeit ihren Ausgangspunkt gar nicht bei dieser reinen Frömmigkeit nimmt. Es ist also keineswegs so, daß die symbolischen Handlungen nach und nach zu sittlichen werden. Nach Schulze gilt jedoch für diese reine Frömmigkeit dasselbe, was wir bereits für Rothes These der Persönlichkeit festgestellt haben (vgl. Schulze, 105). Rothe arbeitet auch hier mit einer proleptischen Konstruktion. Zu einer Frömmigkeit, die die Welt als Gott versteht, kann es nur unter der Voraussetzung einer reinen Frömmigkeit kommen, die jedoch mit der Füllung ihres Begriffes (ähnlich wie die Persönlichkeit) überflüssig wird. Aus teleologischen Gründen bricht Rothe also an entscheidenden Stellen mit seiner für die Spekulation angenommenen Methode der Spekulation als Analyse und Synthese.

322

Dem doppelten Kirchenbegriff Rothes entspricht - wie in der Einleitung gezeigt - ein doppelter Staatsbegriff. D.h.: Obwohl er den Staat als Ordnung der Sünde postuliert (vgl.II,426f.,429f.), setzt er in die Geschichte der Normalität ebenfalls einen Staatsbegriff ein. Hier bedeutet Staat nichts anderes als die "schlechthin allgemeine ... Form der moralischen Gemeinschaft", in die andere, partielle Formen eingeordnet sind (vgI.II,255f.). Eschatologisch löst sich der Staat normalerweise auf zu einem Staatenorganismus, der kraft der Rolle der Kirche identisch ist mit dem "Gottesstaat", welcher Rothe als das Reich Gottes gilt (vgl.II,256f.,459.III,187ff.). Ist der normale Staat, der sich auf dieses Ziel hin entwickelt, von vornherein qualitativ religiös bestimmt, so ist das signum des Staates, der die Sünder eint, daß er als bloßes Rechtsinstitut verstanden wird (vgl.III,81ff ). An dieser Stelle greift dann die Definition des

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chung dieses Begriffes von Kirche bzw. Frömmigkeit zeigen jedoch, daß vielmehr die Kirche unter den Bedingungen der Normalität (wie auch die Frömmigkeit der Normalität überhaupt) lediglich ein defizienter Modus der Kirche unter der Bedingung der Sünde ist. Wir werden darum zu prüfen haben, ob Rothe für die "reine Frömmigkeit" unter den Bedingungen der Abnormalität luzidere Argumente hat. Vorher jedoch sind die Weisen des Denkens des Menschen unter der Bedingung der normalen Frömmigkeit zu untersuchen. 1.3.1. Religiöse Ahnung und religiöse Erkenntnis Es ist bisher ungeklärt, wodurch der Mensch dazu veranlaßt wird, die in Vernunft und Freiheit systematisierte Welt als Gott zu verstehen. Die These einer reinen Frömmigkeit könnte von Rothe in diesem Sinne genutzt werden. Statt dessen setzt er der reellen Frömmigkeit für den Gang der Geschichte das Gefithl und den Verstand in ihrer religiösen Variante voraus: Indem Gott sich in Denken und Wollen "reflektiert", soll dem Menschen ein Gottesverhältnis möglich sein. Sofern die Bedingung des Gottesverhältnisses jedoch ein (vermitteltes) Selbstverhältnis ist, kann hier nicht von Frömmigkeit die Rede sein. Obwohl die Frömmigkeit eigentlich in den Bereich von Vernunft und Freiheit gehört, beschreibt Rothe die profan erörterten Weisen von Denken und Wollen noch einmal in ihrer religiösen Variation. Eigentlich liegt bereits in dieser Doppelung ein Widerspruch. Wenn Gott erst dadurch in der Lage ist, in der Staates im Sinne Schellings als bloßer äußerlicher Ordnung, und die Entwicklung der Menschheit läuft scheinbar kommunistisch auf die Aufhebung dieses Staates wiederum im Sinne eines Gottesstaates hinaus. So aber muß die Kirche (die in der Sündenordnung durch die Offenbarung Gottes in Jesus Christus begründet wird) als lediglich defizienter Modus des Staates verstanden werden. Die Kirche erübrigt sich nämlich dadurch, daß das Gesetz Christi (vgl.III,380ff.) durch die christliche Entwicklung der Menschheit auch über die Kirche hinaus zu wirken vermag und sich über das Stadium des Staates bzw. des Staatenorganismus (111,185) hinweg letztendlich institutionsfrei Akzeptanz verschafft (vgl.II,257). Der von Habermas in bezug auf Schelling eruierte Kommunismus ist im Kontext Rothes demnach nichts anders als ein anonymer Totalitarismus, denn der despotische Staat wird nur dadurch überflüssig, daß sich jeder einzelne das Gesetz Christi gleichsam in der Weise eines Über-Ich zum Gesetz seines Handelns gemacht hat. Gegen ihren Sinn ist der These von Habermas also Recht zu geben. Gerade in unserem Jahrhundert sind wir ja darüber belehrt worden, daß die kommunistisch gerechtfertigte Eisegese von Gesetzmäßigkeiten in die Geschichte, die die Zukunft nicht nur voraussagen, sondern planvoll herbeiführen will, zur Institutionalisierung totalitärer Systeme fuhrt. Im deutschsprachigen Raum hat zuletzt Wagner das nötige über den impliziten Totalitarismus dieses Ansatzes geschrieben (vgl. Wagner, 278ff.). Es würde sich lohnen, seine Thesen breiter zu referieren und zu begründen. An dieser Stelle jedoch muß es genügen, auf das Fundament dieser Theorie Rothes hinzuweisen. Es ist nachgewiesen worden, daß Rothe eine These von Kirche übernahm, die er seinem eigenen System nicht logisch stringent zu integrieren vermochte, sondern nur in - Schelling gegenüber - großer Breite und mit viel Engagement vertreten hat.

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

Welt einzuwohnen, daß der Mensch sie in Vernunft und Freiheit hebt, müßte hier, und d.h. im Selbstbewußtsein des Menschen, der Initialort der Frömmigkeit liegen. Die Behauptung einer reinen Frömmigkeit hätte dann (abgesehen von ihrer contradictio in adiecto) insofern Sinn, als sie ein jeglichem Prozeß vorausliegendes Wissen um das Ergebnis dieses Prozesses wäre. Sie wäre sozusagen die religiöse Variation der Prolepse der Persönlichkeit. Jedes religiöse Handeln in bezug auf die Welt wäre aber damit überflüssig. Daß Rothe es dennoch denken will, ist ein Zeichen dafür, daß die spekulative Frömmigkeit zu ihrer Bedingung tatsächlich der religiösen Ahnung bzw. Erkenntnis bedarf. Über die Möglichkeit einer solchen Religiosität äußert Rothe sich jedoch nur ungenau. Er bleibt weiterhin bei seiner These, daß Gott dem in Ahnung und Erkenntnis von der Außenwelt abhängigen Menschen nicht einwohnen kann.ni Jedoch meint er um der Religiosität der Entwicklung des Menschen willen noch eine andere Weise des Verhältnisses von Gott und Mensch statuieren zu müssen, das dann wohl als Vorform der eigentlichen Frömmigkeit zu gelten hat. Im Unterschied zu einer Einwohnung wird hier von einer Einwirkung Gottes auf Denken und Wollen des Menschen geredet.324 Diese Einwirkung haben wir uns so vorzustellen, daß Gott sich im Menschen "reflektirt und spiegelt", woraufhin sich der Mensch zu Gott verhalten kann. Gott selbst vermag auf diese Weise durch den Menschen in der Welt zu handeln.325 Rothe baut hier, um die Frömmigkeit als Vernunft und Freiheit in seinem System konsistent denken zu können, eine zweite Voraussetzung ein. Ahnung und Erkenntnis sollen die Religiosität des Selbstbewußtseins des Menschen ermöglichen. Bei genauer Hinsicht ist jedoch auch diese Voraussetzung in sich widersprüchlich. Setzen wir die Möglichkeit voraus, daß Gott sich in Denken und Wollen des Menschen zu reflektieren vermag, so ist einerseits aufgrund der bloßen Reflexion im Handeln des Menschen kein Handeln Gottes mittels des Handelns des Menschen möglich. Andererseits wird auf diese Weise keineswegs ein Verhältnis des Menschen zu Gott denkbar. Denn dieses Verhältnis wäre ja wiederum nur als Verhältnis des Menschen zu sich selbst denkbar. Denken und Wollen aber implizieren keineswegs ein solches Verhältnis, sondern sind nach Rothe lediglich die Selbsttranszendenz des Menschen zu einem extramentalen Gegenstand. Dazu kommt ein anderes, entscheidendes Problem. In Denken und Wollen ist der Mensch bestimmt durch das nichtideelle Schema von Raum und Zeit. Wenn dies Gottes Einwohnung verhindert, so muß auch sein Reflex im Men-

323 324 325

Vgl.1,463 Vgl.1,463 Vgl. II, 172f.I,467f.

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sehen durch Raum und Zeit geprägt sein und ihn so verzerren, daß er als Gott nicht erkennbar ist. Zur weiteren Untersuchung des religiösen Handelns gehen wir jedoch von der Möglichkeit einer religiösen Bestimmtheit des Menschen im Sinne Rothes aus. Wie in Vernunft und Freiheit das Gottesverhältnis kein anderes als das Weltverhältnis - lediglich unter einer spezifischen Perspektive - ist, so haben auch religiöse Ahnung und religiöse Erkenntnis zum Objekt die Welt. 326 1.3.1.1. Andacht und Kontemplation Obwohl Rothe als Voraussetzung Theologischer Spekulation das Gefühl der Welt im allgemeinen einsetzt, wird es für die Möglichkeit der Spekulation tatsächlich erst auf seinem Höhepunkt, in der gefühlsmäßigen "Ekstase", relevant. Dieser Begriff gehört im Rahmen des Deutschen Idealismus in die Spätphilosophie Schellings und sollte dort das sich selbst entsetzte, ins Sein hinausstehende Denken bezeichnen. Rothe hingegen versucht, mittels des terminus des Gefühls schlechthiniger Abhängigkeit (Schleiermacher) ein Selbstgefühl zu denken, das - dem vermittelten theologischen Selbstbewußtsein entsprechend - unmittelbar mit sich selbst Gott (als reines Sein) fühlt. Der Begriff der Ekstase wird demnach im Sinne der Intellektuellen Anschauung interpretiert, die jedoch (für den Moment der Ekstase) ihren Ort im endlichen Subjekt hat. Es ist deutlich, daß Rothe auf diesem Wege die Persönlichkeit als Ausdruck endlicher Subjekthaftigkeit ersetzt durch ein ekstatisch unmittelbares Selbstbewußtsein.

Das religiöse Gefühl spielt im Aufbau des ganzen Systems eine wichtige Rolle. Rothe nennt es das "Gottesgefühl".327 Das Verhältnis zu dem intramentalen Objekt heißt entsprechend der profanen Erkenntnislehre Gottesahnung, 328 die konkret als "Andächtigsein" definiert wird.329 Ebenso wie bei dem weltlichen Gefühl handelt es sich auch bei dem religiösen um rein individuelle Erkenntnis.330 Daraus folgt, daß auch das religiöse Gefühl "unübertragbar" ist.331 Eine Erkenntnis ist universell und übertragbar, wenn sie nach logischen Regeln vollzogen werden kann. Das Gefühl ist eine Erkenntnis jenseits der Logik und hat damit keinen Wahrheitswert.332 326 327 328 329 330

331 332

Vgl.11,170 11,18,174 11,174 11,173 Vgl. II, 174 11,127 Daß Rothe seine spekulativen Gedanken im einzelnen nicht genügend expliziert hat, zeigt der Umgang der Sekundärliteratur mit der Ais-Struktur der Gotteserkenntnis. Fischer ist der Meinung, daß das Gefühl der Welt als Gefühl von Gott nur zustande kommen kann, indem entweder der Fühlende die gefühlte Welt auf Gott bezieht oder dem Fühlenden die gefühlte Welt nachträglich zum Gefühl Gottes wird (Fischer, 488). Beide Erwägungen zeigen, daß Fischer Rothe nicht richtig verstanden hat.

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

Interessant für die Möglichkeit der Spekulation ist jedoch für Rothe das religiöse Gefühl erst auf seinem Höhepunkt. "Seine Kulmination erreicht das Andächtigsein darin, daß das Verstandesbewußtsein einerseits ganz individuell bestimmtes, d.h. ganz Gefühl, und andererseits ganz religiös bestimmtes, d.h. ganz Gottesgefuhl ist. Auf dieser Stufe ist das Andächtigsein das Anbeten, welches eben das Andächtigsein ist, welches sich schlechthin vollzogen hat. Seine Erscheinungsform ist... die Ekstase, der eigentlich s.g. mystische Vorgang. In ihr ist das Bewußtsein des Subjektes schlechthin Gottesbewußtsein; aber es ist dieß schlechthin in der gefühlsmäßigen Form, so daß also Gott ihm als schlechthin und ausschließlich Gefühl Objekt ist." 333 Im Rahmen des Deutschen Idealismus gehört der Begriff der Ekstase in den Zusammenhang der Spätphilosophie Schellings. Man kann ihn so interpretieren, daß die Ekstase die Annahme der Intellektuellen Anschauung ersetzt.334 Schon dieser Begriff sollte die Undenkbarkeit des Absoluten ausdrücken. An die Stelle seiner Erkenntnis tritt die unmittelbare Einheit mit ihm, die jedem Denken, das aus ihr in die Welt der Gegenständlichkeit hinabsteigt, gleichsam im Rücken liegt. Aus diesem Grund alles gegenständlichen Denkens wird in der letzten Phase der Philosophie Schellings sein Ziel. Aufgrund der Unmöglichkeit, den Übergang von einem unmittelbar geschauten Absoluten zum gegenständlichen, endlichen Denken erklären zu können, beginnt Schelling mit dem vermittelnden Denken, das sich durch alle denkbaren Gegenstände hindurch selbst bis an sein Ende fuhrt und so erfahrt, daß sein Inhalt ihm gegenüber transzendent ist. 335 Eingedenk der Undenkbarkeit des Absoluten negiert sich das Denken selbst und schafft damit der Position des Absoluten Platz. Das Hinausstehen des Denkens über sich selbst nennt Schelling Ekstase. Er führt aus: "Eher könnte man für jenes Verhältnis die Bezeichnung Ekstase gebrauchen. Nämlich unser Ich wird außer sich, d.h. außer seiner Stelle, gesetzt. Seine Stelle ist die, Subjekt zu seyn. Nun kann es aber gegen das absolute Subjekt nicht Subjekt seyn, denn dieses kann sich nicht als Objekt verhalten. Also muß es den Ort verlassen, es muß außer sich gesetzt werden, als ein gar nicht mehr Daseyendes. Nur in dieser Selbstaufgegebenheit kann ihm das absolute Subjekt aufgehen".336 Nach Schelling ist diese Entsetzung des endlichen Subjektes nicht so zu verstehen, daß es mit der Ekstase in die Lage versetzt wird, das Absolute ins Denken einzuholen und qua Sein zu entfalten. 337 Vielmehr erfolgt die Vermittlung der Unmittelbarkeit der Ekstase dadurch,

333 334 335 336 337

Nach Rothe soll ja das durch Gott bestimmte Bewußtsein die Welt, in die Gott sich durch seine Schöpfung ausgelegt hat, als Gott fühlen. Es ist dabei keine nachträgliche Beziehung nötig, sondern die Logik der Welt wird als Logik Gottes aufgenommen. Eine "Beziehung" auf Gott kommt nach Fischer erst zustande, wo Jesus Christus der Gegenstand religiöser Erkenntnis des Menschen wird (Fischer, 495f.). II,174f. Vgl. Schulz, 52 Vgl. Schulz, 52,57 Schelling, IX,229 Über das Verhältnis von positiver und negativer Philosophie besteht Uneinigkeit. Als Alternative zu Schulzes Interpretation gilt die Sicht von Fuhrmans. Das der Ekstase folgende Denken definiert er als ein passives, hinnehmendes (vgl. Hutter, 21). Schel-

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daß das Denken das Absolute als ein ihm gegenüber selbständiges und in seiner Selbstvermittlung freies Sein anerkennt. 338 Die Nachkonstruktion dieser Selbstvermittlung weiß also wieder tun den Unterschied von Sein und Denken. Sie kann sich jedoch ihrer Wahrheit gewiß sein, weil sie die Rekonstruktion der Selbstherabsetzung Gottes in die Welt ist, die dem Denken als ihr Gegenstand zur Verfugung steht. 339 Denkt das auf die Ekstase zulaufende Denken nur das Mögliche, so weiß das von der Ekstase herkommende Denken um die Wirklichkeit des Möglichen. 340

Auch nach Rothe erreicht das religiöse Gefühl in der Ekstase eine andere Qualität. Er fuhrt deswegen sogar einen neuen Namen ein. Es ist "das Anbeten".341 Diese neue Qualität besteht darin, daß sich das Anbeten im Unterschied zum Andächtigsein nicht mehr von seinem Objekt unterscheidet. Gerade darin ist es Ekstase. Es muß Rothe deutlich gewesen sein, daß das Anbeten nicht mehr Andächtigsein genannt werden kann. Andächtig ist der Mensch in bezug auf religiöse Ahnungen. Eine Ahnung aber hat zur Voraussetzung die Distanzierung des Denkens vom Eindruck des empfundenen Objektes im Bewußtsein. 342 Wird diese Distanzierung nicht vollzogen, bleibt das Gefühl Empfindung. Genauso wie Rothe die Ekstase beschreibt, nämlich als Einheit des Bewußtseins mit dem empfundenen Objekt, ist damit die Empfindung objektlos. Dennoch bleibt Rothe in seinen Formulierungen ambivalent. Wie zitiert nennt er Gott gleich im Anschluß an die Einführung des Begriffes des Anbetens Gefühlsobjekt. Der Widerspruch, innerhalb dessen sich Rothe bewegt, wird durch einen Seitenblick auf Schleiermacher sichtbar, den Rothe an anderer Stelle, aber im selben Zusammenhang indirekt zitiert. Dort schreibt er: "Den Ausdruck Emp-

338 339 340 341 342

lings Ausführungen über die negative Philosophie rücken damit in den Status einer Kritik an der Souveränität der Vernunft überhaupt (vgl. Hutter, 19ff.). Schon diese kurzen Bemerkungen genügen, um zu zeigen, daß Fuhrmans Interpretation den logischen Ansprüchen Schellings nicht gerecht wird. Neuerdings hat Hutter eine Neuinterpretation der Spätphilosophie Schellings versucht. Seiner Meinung nach muß das Verhältnis von positiver und negativer Philosophie - sagen wir - dialektisch verstanden werden. Der Weg des vermittelnden Denkens wird damit zur negativen Voraussetzung einer Philosophie, die derart von der Offenbarung ausgeht, daß ihr Denken sich nicht nur von der (negativen) blinden Religion zu befreien vermag, sondern über die Grenzen der christlichen Offenbarung hinaus eine philosophische Religion zum Ziel hat (vgl. Hutter, 43,124,354fif). Es ist deutlich, daß die logischen Probleme damit in gesellschaftliche bzw. politische Lösungen umgedacht werden. Für unseren Zusammenhang bietet darum Schulz die interessantere Vorlage. Vgl. Schulz, 72,78f. Vgl. Schulz, 81,83 Vgl. Schulz, 81,83 11,174 S.o.S.42f.

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findung in diesem engsten Sinn genommen, im Unterschied vom Gefühl, ist die religiöse Empfindung nichts als die Empfindung der unbedingten Abhängigkeit."343 Für Schleiermacher aber impliziert das Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit kein Objektbewußtsein. Es ist der Ursprung des Selbstbewußtseins,344 welcher nur insofern mit Gott identifiziert werden kann, als uns "Gott ... zunächst nur das bedeutet, was in diesem Gefühl das Mitbestimmende ist, und worauf wir dieses unser Sosein zurückschieben".345 Keineswegs aber ist damit eine Erkenntnis Gottes gegeben. Nach Rothe aber ist das Gefühl eine Weise der Erkenntnis. Darum ist eine solche "bloße Empfindung ... noch gar nicht eigentlich ein[e] religiöse... oder fromme..., ein Bewußtsein von Gott zu nennen."346 Damit jedoch ergibt sich ein Widerspruch, für den Rothe selbst keine Lösung anbietet. Die Ekstase kann nur als Empfindung interpretiert werden, sie soll aber dennoch ein Verhältnis zu einem Objekt implizieren. Vielleicht verstehen wir Rothe besser, wenn wir sie nicht einfach als diejenige Empfindung interpretieren, die dem Gefühl vorausgeht (und auch Tieren möglich ist). Rothe beschreibt ja die Ekstase als eine Steigerung des Gefühls. Das Gefühl eines Objektes schlägt damit um in eine neue Unmittelbarkeit. Fügen wir um ihrer Interpretation willen ein neues Zitat hinzu. Wir haben gesehen, daß Rothe sich im gegebenen Zusammenhang von Schleiermacher lediglich abgrenzt. Daß aber diese Abgrenzung durchaus eine Anknüpfung an Schleiermacher ist, die sich nur in bezug auf einen bestimmten Punkt unterscheiden will, zeigt das Folgende. In bezug auf das Selbstbewußtsein als Vernunft und Freiheit soll sich das Selbstbewußtsein zugleich als Gottesbewußtsein vollziehen. Diese Spontaneität ist jedoch das Ergebnis eines Sichbestimmt-findens des Ich als Gefühl. Rothe sagt: "Sein [des frommen Menschen] Ichgefühl ist unmittelbar zugleich Gottesgefühl und er kann jenes nicht zum klaren und deutlichen Gedanken des Ich erheben, ohne zugleich den Gedanken Gottes zu vollziehen."347 In einer Anmerkung fügt er hinzu: "Dieß ist das 'unmittelbare Abhängigkeitsgefühl' Schleiermachers. "348 Wir waren von Rothes Definition der eigentlichen Frömmigkeit ausgegangen, die sich in der Weise des Selbstbewußtseins als Gottesbewußtsein vollzieht. Damit der Mensch diese Frömmigkeit erreichen kann, hatte Rothe ihr zwei Voraussetzungen eingefügt: die reine Frömmigkeit einerseits und das religiöse Handeln qua religiöser Ahnung und religiöser Erkenntnis andererseits.

344 345

11,19 Vgl. Schleiermacher, GL1,14 Schleiermacher, GL 1,30

346

II, 18f.

347

1,34

348

1,34

343

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Bei der Untersuchung der religiösen Ahnung jedoch stellt sich wiederum einer Sonderform dieser Ahnung heraus, die als eigene Voraussetzung der Frömmigkeit qua Vernunft und Freiheit gelten soll. Den genauen Ort dieser dritten Voraussetzung werden wir im Folgenden untersuchen. Hier gilt es, die Anknüpfung Rothes an Schleiermacher mit seiner Unterscheidung von ihm in Einklang zu bringen. Bei der Untersuchung des profanen Gefühls hatte sich ergeben, daß die Distanzierungsleistung, die das Denken unternimmt, im endlichen Menschen ein quasi reines Selbstbewußtsein voraussetzen muß. Gemäß dem Ursprung des endlichen Selbstbewußtseins in der Identitätsphilosophie Schellings fühlt das Ich sich selbst, weil sein Objekt genau wie es selbst von der Sphäre des absoluten Ich umgriffen ist. Indem Rothe dem Menschen ein von Gott unterschiedenes Selbstbewußtsein zugesteht, kann er diesen Gedanken nicht übernehmen. Für die Ekstase nun müssen wir annehmen, daß die implizit vorausgesetzte Macht der Persönlichkeit, das Denken vom Objekt zu unterscheiden, außer Kraft gesetzt ist. Grund dafür ist die Spontaneität, die der Persönlichkeit eignet und deren Aktion eine Selbstentsetzung des Menschen qua Ekstase unmöglich machen würde. Der Bezug auf Schleiermacher ist damit nichts anderes als eine Konsequenz, die Rothe aus seiner Variation der Schellingschen Identitätsphilosophie zieht. Schelling begründet seinen identitätstheoretischen Ansatz negativ durch folgende Argumentation: Einheit und Differenz (und somit die Möglichkeit der Erkenntnis) können weder vom Objekt noch vom Subjekt noch durch die Wechselwirkung beider erklärt werden. Eine einseitige Bestimmung des Subjektes durch das Objekt ist unmöglich, weil es ja nicht als solches, sondern mittels seiner Wirkung in das Subjekt eindringt und es ohne Rezeptivität des Subjektes keine angemessene Repräsentation des Objektes im Subjekt gäbe. Umgekehrt wäre ein Objekt, wenn es ausschließlich durch das Subjekt bestimmt würde, überhaupt nicht mehr von diesem zu unterscheiden, womit aber zugleich auch dem Subjekt die Möglichkeit genommen wäre, sich als solches gegen das Objekt zu profilieren. Eine Wechselwirkung von Subjekt und Objekt läßt sich nicht erklären, ohne immer schon eine Beziehung der Relata auf einander vorauszusetzen. Damit aber ergibt sich für Schelling die Theorie einer jeder Gegenständlichkeit vorausgesetzten Identität von Subjekt und Objekt, die sich in der Endlichkeit als quantitative Differenz ausdrückt und die Möglichkeit der Erkenntnis freisetzt.349 Strukturell vergleichbar argumentiert Schleiermacher. In Relation auf die Welt erfahrt sich das Subjekt sowohl als immer identisches "Sichselbstsetzen" als auch und in eins damit als "ein Sich selbst nicht so gesetzt haben", d.h. als ein Bestimmtsein durch die objektive Welt. 350 Diese Weise des Selbstbewußtseins, die also die Kombination einer relativen Freiheit mit einer relativen Abhängigkeit darstellt,351 läßt sich jedoch in bezug auf die Welt nicht erklären. D.h. aufgrund der Duplizität des Selbstbewußtseins ist es sich mit der Unver349 350 351

Vgl. Schelling, VI, 138-140,30 (nach Frank, 119f.) Schleiermacher, GL 1,24 Vgl. Schleiermacher, GL1.26

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fügbarkeit seiner Freiheit dessen bewußt, daß es nicht selbst den Zusammenhang von Freiheit und Abhängigkeit bzw. Subjektivität und Objektivität herzustellen vermag. 352 Anstatt jedoch der Beziehung von Subjekt und Objekt ein unmittelbares Selbstbewußtsein qua Absolutes vorauszusetzen, denkt Schleiermacher dieses unmittelbare Selbstbewußtsein als Begründung seiner relativen Freiheit bzw. Subjektivität im konkreten Subjekt, wo es als Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit zugleich auf Gott als seinen Ursprung verweist.353

Genau diesen Gedanken scheint Rothe intendiert zu haben, indem er das Ichgefuhl mit dem "schlechthinigen Abhängigkeitsgefühl" durch die Anmerkung wohl nachträglich identifiziert. Der kurze Hinweis zeigt, daß er den Gedanken des Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit durchaus nicht bis in alle Einzelheiten hinein durchdacht seinem System eingefügt hat. Gesagt sein soll wahrscheinlich folgendes: Das unmittelbare Selbstbewußtsein im Sinne Schleiermachers übernimmt in der Ekstase die Position der Persönlichkeit. Möglich ist dieser Gedanke für Rothe, da die Persönlichkeit zwar nicht ausdrücklich als unmittelbares Selbstbewußtsein eingesetzt worden war, wohl aber implizit als ein reines Selbstbewußtsein vorausgesetzt wird, das an und durch sich selbst nicht erklärt werden kann. So verstanden sieht der Gedankengang Rothes folgendermaßen aus: Es ist gezeigt, daß das Gefühl keineswegs als Voraussetzung von Erkenntnis und damit Spekulation gelten kann.354 Indem es als Ekstase jedoch gerade so verstanden wird, vollzieht sich die Argumentation mit einem aequivoken Gefühlsbegriff. Im Unterschied zum Gefühl der Welt geht es hier um ein von der Welt primär unabhängiges Selbstgeföhl. Das Ichgefühl, welches "unmittelbar zugleich" Gottesgefühl ist,355 kann nur die oben beschriebene Ekstase sein. In dieser Ekstase aber kehrt das Denken offensichtlich in seinen Grund in der Weise eines unmittelbaren Selbstbewußtseins ein. Nach Schleiermacher ist dieses unmittelbare Selbstbewußtsein (das er nicht als Selbstgefühl qualifiziert) identisch mit dem Gefühl einer Abhängigkeit, deren Objekt aber gerade wegen der Schlechthinigkeit dieser Abhängigkeit nicht ausgemacht werden kann. Von diesem Gedanken Schleiermachers distanziert sich Rothe. Das Abhängigkeitsgefühl ist nach seiner Auffassung das Ich-Gefühl als Gottesgefühl, und es gewinnt den Charakter der Schlechthinigkeit dadurch, daß es von dieser Unmittelbarkeit her die ganze Welt als Gott zu erkennen und d.h. spekulativ zu explizieren vermag. Wird also bei normaler Entwicklung die Welt als Gott erkannt, so kehrt sich dieses Verhältnis nun um: Gott wird, aus der Unmittelbarkeit herausgetreten, als Welt erkannt. 352 353 354 355

Vgl. Cramer, Die subjektivitätstheoretischen Prämissen von Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewußtseins, 152,160 Vgl. Schleiermacher, GL1,28 S.o.S.58f. Vgl. auch 1,37,39

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Rothe unterstützt die Interpretation einer Ersetzung der Unmittelbarkeit in der Ekstase, indem er ausfuhrt: "Es ist mithin in dem Bewußtsein des Anbetenden und Verzückten jede Gedankenvorstellung von Gott, jeder konkrete logische Inhalt der Idee von ihm ausgelöscht, und Gott ist also in demselben als das schlechthin Ueberschwängliche und Unaussprechliche gesetzt, als das schlechthin bestimmungs- oder prädikatlose, als das schlechthin einfache Sein."356 Beim profanen Gefühl kann von einer solchen Auslöschung der Logik nicht die Rede sein. Wohl ist die logische Struktur des Gefühlten durch die Individualität des jeweils Fühlenden verzerrt, aber kraft der Persönlichkeit ist das Denken logisch aktiv. Hier jedoch teilt sich Gott als Ganzes in Unmittelbarkeit und insofern als reines Sein jenseits logischer Differenzierung mit. Die ekstatische, unmittelbare Einheit von Bewußtsein und Gottesbewußtsein setzt Objektivität in der Weise frei, daß sich aus ihr die Perspektive auf die Gesamtheit der Welt als Gott ergibt. Erst an dieser Stelle kann Rothe nun auch religiös von einer Ahnung reden.357 Es bedarf dazu des Heraustretens aus der Unmittelbarkeit des Selbstgefühls in ein solches, das mit der Distanz auch die Objektivierung des Gefühlsobjektes möglich macht. An dieser Stelle kann nun wiederum die Persönlichkeit kraft ihrer Spontaneität die nötige Distanzierungsleistung vollbringen. Diese Erkenntnis in der Macht des Gefühls ist jedoch nach Rothe lediglich "mystische Gotteserkenntniß".358 Vergleicht man Rothes Begriff der Ekstase mit demjenigen von Schelling, ergibt sich eine Ünereinstimmung insofern, als bei beiden das Subjekt in diesem Vorgang seiner selbst entsetzt wird. Im Unterschied zu Schelling geht ihm jedoch bei Rothe dabei nicht die Wirklichkeit Gottes als die eines fremden Subjektes auf. Indem er die Ekstase als unmittelbares Selbstgefühl einführt, muß er so interpretiert werden, daß der ekstatisch Entsetzte sich selbst als fremdes erfährt. Der Begriff der Ekstase wird demnach im Sinne der Intellektuellen Anschauung ausgelegt. Von der Intellektuellen Anschauung war schon bei der Philosophischen Spekulation die Rede. Rothe hatte den Akt der Selbstvergegenwärtigung der Vernunft kraft des Willens mit diesem terminus bezeichnet. Konnte er dort nur uneigentlich verwendet werden, weil der Gehalt dieser "Anschauung" dem Denken über die Erkenntnis vermittelt galt, so rückt die Unmittelbarkeit mit der Religiosität des Denkens quasi eine Stufe höher. In der Ekstase soll dem religiösen Denken sein Gehalt zugänglich gemacht werden. Es ist nicht sicher, daß Rothe das "schlechthinige Abhängigkeitsgefühl Schleiermachers" seinem System tatsächlich genauso zu integrieren versuchte.

356

11,175

357

Vgl.II,75

358

11,175

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Sein direkter Hinweis auf diesen aber zeigt, daß er dort das Interpretationsmaterial für seine These der Ekstase fand, und die vorgeführte Explikation des Gedankens löst am besten die sonst nicht erklärbaren Widersprüche. Offensichtlich ist die Unsicherheit Rothes, auf dem frühidealistischen Hintergrund (Schellings) ein theologisch-theistisches System zu entwickeln. War Rothe genötigt, im Unterschied zu den idealistischen Entwürfen eine Persönlichkeit einzuführen, mit der dem zu entwickelnden Selbstbewußtsein der Menschheit in jeder endlichen Person ein reines Selbstbewußtsein vorausgesetzt gedacht werden mußte, so genügt eine solche Persönlichkeit nicht, um dem Totalitätsanspruch der Spekulation Rechnung zu tragen. Die Einordnung des Schleiermacherschen Gedankens in die idealistische Grundstruktur ist damit der Versuch, den identitätsphilosophischen Ansatz Schellings unter anderen Vorzeichen durchzuhalten. Um der Spekulation willen wird darum das unmittelbare Selbstbewußtsein, das nach Sehelling dem Absoluten eignet, für den Moment der Ekstase in das endliche Subjekt hineinverlegt.359 Gefragt werden muß noch einmal nach dem Charakter der Individualität eines solchen Gefühls. Entsprechend der Ekstase ist der Mensch jeglichem sprachlichen Zusammenhang entsetzt, und deswegen ist eine Kompatibilität des Gefühlten ausgeschlossen. Sie ist gerade deswegen ausgeschlossen, weil in

359

Im Unterschied zu dieser Interpretation versteht Heesch Rothes Anknüpfung sowohl an Schelling (die er einseitig identitätsphilosophisch auslegt) als auch an Schleiermacher alternativ. Rothe versuche auf diesem Wege "die identitätstheoretische Systembegrttndung (intellektuelle Anschauung) mit der positiven, auf geschichtlichen Tatsachen beruhenden Offenbarungsreligion zu verbinden" (Heesch, 5). Heesch ist entgangen, daß Rothe sich keineswegs durchweg dem Schelling der Identitätsphilosophie anschließt. Andererseits geht es Rothe an dieser Stelle genausowenig wie Schleiermacher mit dem Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit um die Offenbarung, deren Ort jener als Manifestation und Inspiration klar definiert hat. Der Grund für die Behauptung von Heesch liegt darin, daß er der Meinung ist, Rothe würde den als solchen unvollständigen identitätsphilosophischen Ansatz Schellings durch "Erfahrungserkenntnis" derart erweitern wollen, daß durch die Offenbarung eine Geschichtsgebundenheit der Spekulation zustande käme (vgl. Heesch, 19,101). Er übersieht dabei, daß die eigentliche Geschichtsbezogenheit des Denkens bereits durch Erkenntnis und Bildung der Welt gegeben ist. Wie gezeigt, entspricht Rothe mit diesem Konzept aber vollkommen dem Programm des Systems des Transzendentalen Idealismus Schellings. Die Offenbarung korrigiert also nur die dem Menschen normalerweise natürlich zukommende, aber von ihm mißachtete Geschichtsgebundenheit. Es wird gezeigt werden, daß Rothe auch darin Schelling entspricht. Für eine Rechtfertigung seiner derart fragwürdig gewordenen These hätte Heesch zeigen müssen, daß der Mensch durch die Offenbarung seine verlorene Geschichtsgebundenheit tatsächlich zurückgewinnen kann: Eine solche Untersuchung fehlt jedoch.

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der Ekstase kein Verhältnis zu dem Gefühlten möglich ist.360 In der ekstatischen Unmittelbarkeit des reinen Seins muß der Mensch so gedacht werden, daß er Gott jenseits der Unvollkommenheit seiner Individualität fühlt, denn andernfalls könnte er Gott nicht als "reines Sein" und d.h. nach Rothe in toto fühlen. Obwohl also der Wahrheitsbegriff Rothes, der streng an die Logik gebunden ist, an dieser Stelle nicht zureicht, muß hier von einer Allgemeingültigkeit der Ekstase geredet werden, weil ein Mensch allem überhaupt Denk- und Fühlbaren unmittelbar ausgesetzt ist. Diese Konsequenz wird evident unter dem Anspruch Rothes, nach dem das endliche Denken das Absolute spekulativ entfalten soll. Die Ekstase fuhrt zur "Gewißheit" der "absoluten Wahrheit".361 Vorsichtig können wir bereits an diesem Ort klären, warum Rothe es nötig fand, die Spekulation über die Ekstase ermöglicht zu denken. Im Rahmen der "normalen" Spekulation wäre die Ekstase - wie wir sahen - überflüssig. Daß er sie um der Vorgriffe der Spekulation in der Geschichte willen eingesetzt hat, ist unwahrscheinlich, denn er hätte - wie gezeigt - eine relativ luzide Erklärung dieser Vorgriffe liefern können, ohne den Gedanken der Ekstase bemühen zu müssen. Die Tatsache aber, daß er die Ekstase einfuhrt, zeigt, daß es ihm im Ernst gar nicht um solche "normalen" Vorgriffe ging. Die Ekstase ermöglicht die Prolepse der Spekulation schlechthin, indem sich der Mensch in ihr über seine konkrete Entwicklung qua Erkenntnis und Bildung hinwegzusetzen vermag. Eine solche Prolepse ist notwendig eingedenk der Sünde des Menschen, die mit einer verkehrten Aneignung der Welt auch eine rechte Spekulation unmöglich macht.

360

361

Die religiöse Ahnung, die ein solches Verhältnis impliziert, muß so gedacht werden, daß sie die Unmittelbarkeit der Ekstase bereits wieder verlassen hat und darum das "reine Sein" nicht als solches zu Anschauung bringen kann. Vgl. z.B.I,45 Trotz dieses Zugeständnisses der Wahrheit und also Allgemeinheit der Spekulation scheint Rothe die Schwierigkeit des Verhältnisses von Individualität und Universalität eines Gottesgefühls, das Voraussetzung der Spekulation sein soll, durchaus gesehen zu haben. Er erklärt ausdrücklich, daß die "spekulative Theologie ... einen sehr individuellen Charakter" habe, der jedoch "auch wieder entschieden zuriick[tritt]", indem diese Spekulation einerseits durch die "heilige Schrift normiert" wird und sich "zu der Kirchenlehre in ein bestimmtes Verhältniß setzt" und andererseits "das jedesmalige religiöse und kirchliche Gemeinbewußtsein bestimmt reflektiert" (1,5 lf.). Rothe selbst also versucht, die Individualität des Gefühls, das auch er für die Spekulation anerkennt, durch verschiedene Weisen erkennenden Denkens zu korrigieren. Er widerspricht damit seinem eigenen Postulat, nach dem die Spekulation sich lediglich nachträglich durch erkenntnismäßiges Denken zu normieren hat (vgl.1,18-22). Der Versuch, die Spekulation auf diese Weise zu universalisieren, drückt nichts anderes als Rothes Hilflosigkeit und also Inkonsequenz aus, die Bedingungen der Erkenntnis des Menschen in bezug auf den Gottesgedanken stringent durchzuhalten.

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

Damit aber kommen wir mit der Erörterung der Ekstase an dieser Stelle zum Schluß. Wir werden ihre Denkbarkeit in bezug auf die Spekulation im Kontext der Christlich-theologischen Spekulation eigens zu besprechen haben. Da Rothe jedoch die "normale" Spekulation als Maßstab ihrer Abnormalität eingesetzt hat, werden wir uns auch bei der Theologischen Spekulation - wie gezeigt, im Widerspruch zu ihrem Begriff - mit der Ekstase als ihrer Voraussetzung auseinanderzusetzen haben. Entsprechend dem profanen Gefühl gibt es auch ein dem religiösen Gefühl immanentes Bilden, das jedoch für unseren Zusammenhang von geringfügiger Bedeutung ist und deswegen nur genannt sein soll. Rothe bezeichnet es als "Kontempliren".362 In der religiösen Anschauung wird das Gefühlte zum nichtlogischen Bild, zum mythologischen Bild von Gott ausgebildet. Individuell dargestellte Mystik ist nach Rothe Mythologie,363 1.3.1.2. Theosophie und Weissagung Die "Theosophie " ist die religiöse Variante der denkenden Erkenntnis. Als Wahrnehmung ist sie "Glaube" und als "Reflexion" "Theosophie" (im engeren Sinne). An die Stelle des Begriffes tritt religiös die "Gnosis". Die das Denken unmittelbar begleitende Vorstellung nennt Rothe "Wort Gottes". Sind auf diesem Wege die Voraussetzungen einer Theologischen Spekulation (unter den Bedingungen einer "normalen" Geschichte) gegeben, so irritiert Rothes Behauptung, daß sich die Theologische Spekulation den "Begriff Gottes" zum Gegenstand macht. Dieser Begriff könnte nur durch die Vergegenständlichung der ganzen Welt gefaßt werden. Das vermittelte Selbstbewußtsein ist jedoch so strukturiert, daß es, weil es an sich selbst Welt ist, immer nur einen Ausschnitt dieser Welt objektivieren kann. Daraus folgt: Der Gegenstand der Theologischen Spekulation soll ihr durch die Theosophie repräsentiert werden, ohne daß an dieser Stelle denkbar wird, wie das geschieht. Die Bedeutung der Theosophie ist damit ungeklärt. Rothes Ausführungen nehmen sie so weit in die Spekulation hinein, daß ihr Zusammenhang mit dem Glauben verloren geht. Es muß vermutet werden, daß Rothe mittels der Theosophie die Sprachlichkeit der Spekulation sichern will.

Das universelle religiöse Erkennen, nennt Rothe "Theosophiren".364 Es bezieht sich, wie das profane Erkennen, auf die extramentale Wirklichkeit. "Als Erkennen ist es ein Hineinabbilden der materiellen Natur und überhaupt der Welt (der Objekte des Verstandesbewußtseins) in das menschliche Verstandesbe-

362

363 364

1,177 Vgl. Zur Dog.4.II,398 11,179 Gegenüber den Versuchen, Rothes Denken insgesamt der Theosophie zuzuordnen, wird hier deutlich, daß er nur eine bestimmte Weise denkender Erkenntnis als Theosophie definiert. Der den Menschen in seinem Wesen auszeichnende Denkvollzug, die Spekulation, ist also nicht mit der Theosophie identisch.

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wußtsein, - als religiöses Erkennen ein Hineinabbilden jener in dieses, wie es Gottesbewußtsein, d.h. wie es durch Gott bestimmt und infolge davon ihm zugeeignet und von ihm erfüllt ist."365 Die Möglichkeit wie die Problematik eines solchen Erkennens ist bereits erörtert worden. Möglich ist ein Erkennen Gottes in der Welt, weil die Schöpfung Gottes nach Rothe nichts anderes ist als die Selbstauslegung seiner Natur außerhalb seiner. Die Problematik eines Bestimmtseins durch Gott jedoch, das über diese Qualität der Welt informiert und die Gegenwart Gottes ermöglicht, wird hier deutlich durch die Bezeichnung der Objekte des Verstandesbewußtseins als "materieller Natur" angezeigt. Materiell ist die Natur in ihrem Bestimmtsein durch Raum und Zeit, das aber eine Reflexion Gottes im Verstandesbewußtsein unmöglich machen müßte. Wie beim profanen Erkennen, so unterscheidet Rothe auch beim religiösen eine somatische und eine psychische Seite. "Als Wahrnehmen ist es das Glauben, d.h. das Wahrnehmen des Zeugnisses Gottes von sich selbst (seiner Selbstbezeugung)"*66 Damit ist der Glaube nichts anderes als eine besondere Weise von Welterkenntnis. Er ist wohl von Gott gewirkt, weil die Erkenntnis der Welt als Gott ein Bestimmtsein des Verstandesbewußtseins durch Gott voraussetzt, er bezieht sich aber nicht direkt auf Gott.367 365 366 367

II,179;vgl.II,172 11,180 Heckel trifft die Sache richtig, wenn er schreibt: "Gottesglaube ist Glaube an Gottes Schöpfungsordnung" (Heckel, 42). Allerdings sieht er den Grund fiir diese Glaubensdefinition in Rothes "naive[m] Realismus" und verkennt damit seinen idealistischen Hintergrund. Auch vermischt er bei der Analyse der Theosophie Frömmigkeit, Gefühl und Glauben (Heckel, 108ff). Die Frömmigkeit wird rein als Gefühl verstanden und dieses Gefühl als Glauben. Dies geschieht, obwohl Heckel vorführt, daß er Rothes Glaubensdefmition kennt (vgl. Heckel, 116). In seinem Schema zum "Gottessinn" (Heckel, 117) wird dann die Funktion des Gottesgefühls für die religiöse Erkenntnis bzw. Spekulation vernachlässigt. Letztendlich hat die Verwechslung von religiösem Gefühl und Glauben zur Folge, daß Heckel den Glauben viel weiter und verschwommener faßt als Rothe selbst. Darum kann Heckel das Verhältnis von "Glauben und Wissen" das Kernproblem der Rotheschen Theologie nennen (Heckel, 67u.ö.). Auch bei Künneth (Künneth, 6ff.) finden wir große Verwirrung bei der Exegese des Rotheschen Glaubensbegriffes, die hier ebenso darauf beruht, daß das Problem von Glauben und Wissen an Rothes Texte herangetragen wird. Ein ähnliches Problem zeigt sich bei Axt-Piscalar. Die terminologische Ungenauigkeit beim Umgang mit dem Begriff des Glaubens macht es ihr unmöglich, den Charakter der Spekulation bei Rothe angemessen zu erfassen. Ihrer Meinung nach behauptet Rothe "den Glauben als unabdingbare und bleibende Voraussetzung der Theologie" (Axt-Piscalar, 91). Er hat dementsprechend die Funktion, der Spekulation

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

Die psychische Seite der Erkenntnis nennt Rothe das religiöse Reflektieren: "Als Reflektiren ist es das Theosophiren im engeren Sinne (man könnte sagen: das Gnostisiren)".36* Wie die profane Wahrnehmung immer die Voraussetzung der Erkenntnis ist, so nennt Rothe das Ergebnis der Wahrnehmung als Glaube die "religiöse Kenntniß, das religiöse empirische Wissen".369 Das Ergebnis "des Theosophirens im engeren Sinne" ist dagegen "die Gnosis, das religiöse begriffliche oder rationelle Wissen".370 Anstelle der Gnosis stand auf profaner Ebene der Begriff. Damit sind wir am Ziel der Ermöglichung der Theologischen Spekulation über die religiöse Entwicklung des Menschen angelangt. Die Gnosis als begrifflich strukturiertes Wissen von der Welt, das zugleich Wissen von Gott ist, gilt Rothe entsprechend dem profanen begrifflichen Wissen als Material der Theologischen Spekulation. Er schreibt im Vergleich mit der Philosophischen Spekulation: "Beide konstruiren ... alle Dinge rein a priori; aber die philosophische Spekulation denkt und begreift dieselben vermöge des Begriffes des menschlichen Ichs, die theologische vermöge des Begriffs Gottes, weßhalb sie denn wesentlich Theosophie ... ist. Die theologische Spekulation kann nur mit dem Begriff Gottes anfangen" .371 Deutlich ist dabei, daß das Gefühl auf diesem Wege genauso wenig wie für die Philosophische Spekulation Voraussetzung der Theologischen Spekulation sein muß. Notwendig sind nach dieser Erklärung Rothes allein Glaube und Gnosis. Jedoch muß uns in der angeführten Äußerung auffallen, daß er nicht von einem "rationelle[n] Wissen" als Voraussetzung der Spekulation redet.

368 369 370 371

den Erkenntnisgegenstand zu liefern (vgl. Axt-Piscalar, 87,91,136). Es zeigt sich hier, daß auf diese Weise die Rolle des Glaubens als Konstitutivum der Erkenntnisbedingungen des Menschen mißachtet wird. Der Glaube ist nach Rothe eine genau definierte Weise des Denkens. Wird er hingegen der "Theologie" als andere Qualität der Beziehung auf Gegenstände einfach vorausgesetzt, übergeht man die Notwendigkeit zu erklären, wie es mittels der durch Rothe aufgestellten Bedingungen der Erkenntnis zur Möglichkeit der Spekulation kommen kann. Anders ausgedrückt: Innerhalb des Systems Rothes gibt es keine auseinander nicht erklärbaren Erkenntnisweisen. Der Ausgangspunkt der Spekulation muß demzufolge kraft des Denkens erreicht werden können. Es ist darum anzunehmen, daß Axt-Piscalar den Glauben mit der Frömmigkeit verwechselt, die aber in ihrer Eigentlichkeit nichts anderes ist als der religiös bestimmte Vollzug der Spekulation und darum per se nichts über seine Bedingungen aussagt. 11,180 11,181 11,181 1,35

Frömmigkeit

113

sondern von einem "Begriff Gottes", den die Theosophie offensichtlich zu liefern hat. Betrachtet man die Struktur des Selbstbewußtseins, wie es von Rothe gefaßt wird, ist dieser Gedanke jedoch nicht nachvollziehbar. Vermitteltes Selbstbewußtsein ist dadurch ausgezeichnet, daß es Bewußtsein von der Welt als Selbstbewußtsein ist. Da die Welt insgesamt als Selbstauslegung Gottes gedacht wird, kann ein Begriff Gottes nur der Begriff der ganzen Welt sein. Diese ganze Welt kann sich der Mensch aber nicht zum Objekt machen, wenn sie Gegenstand seiner Vernunft sein soll. Denn in diesem Falle ist die Transzendenz der Persönlichkeit gegenüber der Welt aufgehoben und d.h., daß Subjektsein immer zusammen mit einem Objektsein vorkommt. Anders gesagt: Was der Mensch als Subjekt ist, kann genauso auch Objekt sein. Daraus folgt, daß der Begriff "des menschlichen Ichs" niemals der Begriff von der Welt in toto ist und daß demzufolge auf diese Weise auch kein Begriff von Gott gebildet werden kann. Der Beschreibung der profanen Erkenntnis wie der Spekulation durch Rothe entspräche es vielmehr, statt von einem einzigen Begriff von einer logischen Struktur des Wissens auszugehen, das intramental durch den Willen immer aufs Neue in Distanz zu sich gebracht wird, und sich daraufhin mit Ausschnitten der Welt als Ich zu identifizieren hat. Mit dieser Überlegung ist gezeigt, daß die religiöse Erkenntnis qua Glaube und Gnosis auch nicht unter den Bedingungen der Normalität der Geschichte als Voraussetzung der Spekulation eingesetzt werden kann, wenn die Voraussetzung einer solchen Spekulation der "Begriff Gottes" sein soll. Mit einem solchen Begriff knüpft Rothe insgeheim bereits an den Gedanken der Ekstase an, in der der Mensch seinem Gott als dem "reinen Sein" ausgesetzt gedacht werden soll. Diese Verknüpfung von religiösem Gefühl und religiöser Erkenntnis werden wir im Zusammenhang der Theologischen Spekulation zu verfolgen haben. Hier sei lediglich gezeigt, wie Rothe die Möglichkeit einer solchen Verknüpfung vorbereitet: Insofern die Theosophie nicht klar als Voraussetzung der Theologischen Spekulation eingesetzt werden kann, für die Verknüpfung von Spekulation und Ekstase jedoch von Bedeutung ist, läßt Rothe sie so sehr in die Spekulation heineinspielen, daß es in der Sekundärliteratur häufig zu einer Identifizierung beider kam.372 Rothe kann sagen: "Das Theosophiren ist das umgekehrte Philosophiren. Es unterscheidet sich dadurch charakteristisch, daß es alle Dinge, das menschliche Selbstbewußtsein selbst mit eingeschlossen, mittelst des Gottesbewußtseins (mittelst des Begriffs Gottes als des specifi-

372

Vgl. z.B. Birkner, 28,32; Eichner, 91ff.

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

sehen Schlüssels) denkt".373 Theosophie wird hier ausgelegt als "spekulative Theosophie".374 Wenn aber die Theosophie als Spekulation verstanden wird, verliert sie ihre Funktion als Mittelglied von Glaube und Spekulation. Glaube und Theosophie rücken weit auseinander, und es ist nicht mehr deutlich, woher die Theosophie, und d.h.: der Begriff Gottes, seine inhaltliche Füllung erhält. Wie die individuelle religiöse Erkenntnis so ist auch das Theosophieren unmittelbar von einem Bilden begleitet. Die religiöse Vorstellung ist die Vorstellung von der Welt als Vorstellung von Gott. Rothe nennt sie "das Weissagen", insofern sie kraft der Einwirkung Gottes auf das Verstandesbewußtsein ein inneres "Vernehmen eines Redens Gottes" ist.375 Entsprechend der Sprachlichkeit der profanen Vorstellung ist das "Produkt des Weissagens ... das Wort Gottes"376 Gemäß dem Begriff der Kirche, den Rothe gezwungenermaßen unabhängig von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus definieren mußte, ergibt sich auf seinem spekulativen Wege auch ein "Wort Gottes" unabhängig von Christus.377 Die trotz des verblüffenden Ergebnisses auf den ersten Blick systematische Stringenz jedoch täuscht, wenn wir genauer hinsehen. Rothe hatte innerhalb der profanen Erkenntnislehre sowohl für die Wahrnehmung als auch fur die Erkenntnis im engeren Sinn (die Reflexion) eine immanente Bildung als Vorstellung behauptet. In Anknüpfung an Kant ergab die Wahrnehmung das Bild, das sich im Unterschied zum Schema als Ergebnis der Reflexion nur auf den konkreten, wahrgenommenen Gegenstand bezog, wohingegen jenes einer größeren Allgemeinheit und also Gesetzmäßigkeit Ausdruck gab. Obwohl Rothe den profan gemachten Unterschied auf religiöser Ebene nicht zur Geltung bringt, ist er sicher der Meinung, daß das eigentliche Wort Gottes 373

374 375 376 377

11,182 Die Formulierung Rothes ist etwas schief. Es ist nicht gemeint, daß sich das Theosophieren das Selbstbewußtsein zum Objekt macht, sondern daß der Vollzug des theologisch bestimmten Selbstbewußtseins Theosophie ist. 11,182 Vgl.11,184 11,184 Wohl verweist Rothe schon an dieser Stelle darauf, daß die "heil. Schrift ... auf eine spezifische Weise Wort Gottes" sei (II,185;vgl. auch 111,491). Jedoch ist ernst zu nehmen, daß trotz dieser Auszeichnung der eigentliche Ort des Wortes Gottes der normal religiöse Mensch ist. Diese These bietet die Grundlage für Rothe, von der für den Sünder notwendigen "heil. Schrift" als Wort Gottes mit zunehmender Normalisierung seiner Entwicklung auch wieder über sie hinausgehen zu können. Er sagt: "Sie [die "heil. Schrift"] ist es [Wort Gottes] nicht ausschließend, und dasselbe ist mit ihr noch nicht abgeschlossen, sondern es setzt sich auf ihrer Basis immer noch weiter fort" (11,185).

Frömmigkeit

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der Ausdruck der religiösen Reflexion und also des Theosophierens im engeren Sinne ist. Gerade darum kann er sagen, daß das "vollendete göttliche Wort ... nicht anders gefunden werden [kann] als zugleich mit dem vollendeten religiösen Begriff... und mittelst desselben."378 Auf dem Wege dorthin ist die Theosophie Wissenschaft vom Worte Gottes. Diese Wissenschaft ist nichts anderes als profane Wissenschaft unter religiöser Perspektive, denn "jedes wissenschaftliche Erzeugniß (was auch immer sein Gegenstand sei) ist wesentlich auch, und zwar schlechthin, ein religiöses; die Wissenschaft ist wesentlich zugleich schlechthin Wort Gottes."379 Betrachten wir jedoch den Gesamtzusammenhang: Es hatte sich gezeigt, daß der Spekulation als einem vorstellungsfreien Denken die Sprache (als Ausdruck der Vorstellung) mangelt. Die Theosophie andererseits, die als Voraussetzung der Spekulation gelten soll, wird von Rothe auf mißverständliche Weise in die Spekulation hineingenommen und mit ihr identifiziert. Der von Rothe behauptete Gegenstand der Theosophie, der Begriff Gottes, kann, wie wir gesehen haben, überhaupt nicht ihr Gegenstand sein. Es ist also möglich, daß Rothe hier dem Gegenstand der Spekulation durch die Theosophie seine Sprachlichkeit sichern will, die für sein Konzept qua Theologischer Ethik unbedingt notwendig ist. Genau genommen ist dann aber die Sprache dieser Theosophie nicht die der Theosophie, die das Ergebnis der Reflexion der Wahrnehmung sein soll. So aber ergibt das Fehlen der Unterscheidung von Bild und Schema als verschiedener Arten der Vorstellung einen Sinn. Rothe täuscht darüber hinweg, daß die Theosophie (und ihre Sprachlichkeit) ihren Grund nicht in der Wahrnehmung bzw. dem Glauben hat. Im gegebenen Zusammenhang aber eignet der religiösen Erkenntnis nur soweit die Sprache, als sie Wahrnehmung bzw. Glaube ist. Mit dem Fehlen der Reflexion jedoch ist die religiöse Sprache im Unterschied zur profanen noch nicht Ausdruck der eigentlich organisierten Wirklichkeit. Sie ist vorbegrifflich und sagt das ideelle Schema der Schöpfung als ein dem Menschen noch fremdes und also nur bildliches aus. Aufgrund der Kluft zwischen Glauben und Gnosis ist diese bildliche Sprache auch nicht in den Begriff übersetzbar. Wir werden im Zusammenhang der Theologischen Spekulation sehen, daß Rothe anstelle der schematischen noch von einer anderen Weise der Entstehung von Vorstellungen weiß. Bevor wir uns nun der Spekulation zuwenden, fassen wir das Ergebnis der bisherigen Untersuchung zusammen: Eigentliche Frömmigkeit ist nach Rothe nichts anderes als der Vollzug des Selbstbewußtseins qua Theologischer Spe378 379

11,185 II,359;vgl.II,399

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

kulation. Hatten wir eingangs angenommen, daß diese Frömmigkeit (evtl. unter Voraussetzung ihrer reinen Variante) den einzigen Vollzug des Gottesverhältnisses impliziert, so ist uns inzwischen deutlich geworden, daß Rothe jede Weise des Denkens auch als frommes zu fassen sucht. Die eigentliche Frömmigkeit könnte unter den Bedingungen seiner Erkenntnislehre somit allein dadurch zustande kommen, daß der Mensch in seiner religiösen Entwicklung die Welt als Gottes Natur versteht und daraus folgend in Vernunft und Freiheit Gottes Gegenwart durch sich selbst ermöglicht. Das Zustandekommen der Theologischen Spekulation würde so formal ganz dem der Philosophischen Spekulation entsprechen. Jedoch stellt Rothe dieser Entwicklung des Denkens zur Spekulation zwei weitere Voraussetzungen zur Verfügung, die für uns bisher systematisch nicht einzuordnen waren. Einerseits ist das die reine Frömmigkeit, die ebenso wie die religiöse Entwicklung als Voraussetzung der Frömmigkeit im eigentlichen Sinne dienen könnte. Andererseits ist das das religiöse Gefühl, welches offensichtlich nur als Ekstase für die Theologische Spekulation interessant ist. Durch die bereits einsichtig gewordene ambivalente Funktion der Theosophie zeigt Rothe außerdem, daß die religiöse Entwicklung bereits auf der Stufe der Wahrnehmung unterbrochen wird. Der Gehalt der Frömmigkeit, so müssen wir schlußfolgern, kann demzufolge nicht die Welt als Gegenstand der Erkenntnis sein. Wir werden zu beobachten haben, wie Rothe diese verschiedenen Ansätze kombiniert und seinem System zu integrieren versucht.380 1.3.2. Theologische Spekulation Die Theologische Spekulation ist die begriffliche Entfaltung des "reinen Seins", dem der Theologe in der Ekstase als unmittelbarem Gefühl ausgesetzt ist. Die Übersetzung des Geflihls in den Begriff des reinen Seins vollzieht sich so, daß sich aus dem Gefiihl "religiöse Vorstellungen" ergeben, mittels derer der Begriff des reinen Seins dialektisch erarbeitet wird. Der Weg vom Gefiihl zum Begriff muß somit über zwei Stufen gegangen werden: 1) Der Übergang des Gefühls zur Vorstellung wird von Rothe nur so erklärt, daß der Theologe "faktisch" immer schon mit religiösen Vorstellungen umgeht. Auf die Frage, wie sich aus einem Gefühl überhaupt Vorstellungen ergeben können (die ja ein Ergebnis universeller Erkenntnis sind), wird keine Antwort gegeben. Gehen wir davon

380

Rothe läßt der Erläuterung der verschiedenen Weisen der Erkenntnis eine Darstellung der Weisen des Bildens folgen. Obwohl für jede Weise des Denkens ein Gegenüber des Willens unabdingbar ist, können wir auf eine genaue Analyse des praespekulativen Willens verzichten. Um der Vollständigkeit willen seien seine verschiedenen Formen jedoch genannt: Das "individuelle religiöse Bilden" als Entsprechung zum Gefühl nennt Rothe "das Beten" (vgl.II,186). Im Unterschied dazu ist das "universelle religiöse Bilden -... das Heiligen ..., das religiöse Machen" (11,196). Es bildet dem Menschen die Welt als sein durch Gott bestimmtes Organ an, so daß sie in Vernunft und Freiheit des Menschen zum "Heiligthum" Gottes wird (vgl.II,197f ).

Frömmigkeit

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aus, daß dies an der Allgemeinheit des ekstatischen Geflihls liegt, so verwundert zum nächsten das angegebene Verhältnis der Vorstellungen zum "reinen Sein": Es wird einerseits durch die Vielheit der Vorstellungen ausgeschlossen, soll aber andererseits in diesen Vorstellungen als Absolutes bewahrt bleiben. 2) Die Ambivalenz der Formulierung läßt zwei Wege der Potenzierung der Vorstellung zum Begriff offen: Der Begriff des reinen Seins soll durch die Abstraktion des Denkens von seinen Vorstellungen zum Vorschein kommen. Gehen wir a) von der Begrenzung des Absoluten durch die Vorstellungen aus, kann auch die Abstraktion, die ja selber ein Akt des Denkens und also Einschränkens ist, diese Begrenzung nicht aufheben. Um b) annehmen zu können, daß die Reinheit des Seins in den Vorstellungen erhalten bleibt, muß auf die Doppelung des unmittelbaren Selbstbewußtseins neben der Persönlichkeit rekurriert werden, die Rothe mittels der Kombination vom Schellingschen Verständnis der Intellektuellen Anschauung mit dem Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit nach Schleiermacher zu denken versucht. Offensichtlich meint er die Übersetzung des Geflihls in den Begriff des reinen Seins allein dadurch vollziehen zu können, daß anstelle des unmittelbaren Selbstbewußtseins wiederum die Persönlichkeit als Subjekt eingesetzt wird, der kraft ihrer Definition alles Gedachte objektiv gegenständlich ist. Obwohl ein solcher Subjektwechsel methodisch nachvollziehbar ist, kann er nicht als Rekonstruktion des Aktes einer Person akzeptiert werden. Es zeigt sich, daß Rothe seinen Vorsatz, einen Gottesgedanken kraft des vermittelten Selbstbewußtseins zu gewinnen, nicht verwirklichen kann. Voraussetzung des Gottesgeftihls ist die Persönlichkeit, die ekstatisch in ein unmittelbares Selbstbewußtsein umschlägt, aus dem es mit den durch Rothe zur Verjügung gestellten Mitteln - keinen Weg in die Vermittlung gibt. Im Gottesgeftihl wird der Mensch seiner Geschichte völlig entsetzt. Die Theologische Spekulation ist nach Rothe das Handeln des Menschen im eigentlichen Sinne. In ihrem Vollzug betätigt er nicht nur Verstand und Willen in ihrer vollendeten Funktion, sondern er hat dasjenige Verhältnis zu seinem Schöpfer, das die Welt zu einer ganzen, zum einheitlichen Kosmos macht. Gott ist so der Gott des Menschen und der Mensch, mit seinem "Begriff" übereinstimmender, wahrer Mensch. Wir haben davon auszugehen, daß die gesamte Theologische Ethik um der Fähigkeit des Menschen willen, theologisch zu spekulieren, entworfen ist. Indem so der Mensch im Eschaton definiert ist, wird die gesamte Geschichte zur Vorgeschichte, in der er sich auf dieses Eschaton hin zu orientieren hat. Wie denkt Rothe den Vollzug dieser Spekulation in concreto? Er beginnt auf inzwischen schon bekannte Weise: "Die Spekulation hat als theologische zum archimedischen Punkt, in welchen sie ihren Fuß sicher einsetzt, die Thatsache, daß der religiöse Mensch, indem er sich als Ich denkt, unmittelbar zugleich Gott denkt." 381 Wie aber wird das Selbstbewußtsein zum Gottesbewußtsein? Rothe nimmt ausdrücklich weder die reine Frömmigkeit in Anspruch noch eine bereits religiös bestimmte Erkenntnis, d.h. die Theosophie. Stattdessen wird der Gottes381

1,69;vgl.I,34ff.

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

gedanke über das Ich-Gefühl eingeführt: Die "Urgestalt des religiösen Bewußtseins ist aber die gefühlsmäßige, dieser Grundstoff des Gottesgedankens die Gottesahnung".382 In bezug auf den Gegenstand dieser Ahnung obliegt dem frommen Denker die Aufgabe, seine "Gottesahnung ... in den Gedanken, näher den Begriff' zu übersetzen.383 Die entscheidende Bedingung der Möglichkeit der Spekulation ist damit die Überzeugung, das "Gottesgefühl... schlechterdings für ... qualiflzirt [zu] halten, sich in den reinen Begriff übersetzen zu lassen; er [der "spekulative... Theologe"] muß unbedingt daran festhalten, daß der Gehalt desselben, ohne alterirt zu werden, in streng begriffsmäßiger Form wiedergegeben werden könne."384 Auf diese Weise wird damit das Gefühl zum fündamentum der Spekulation. Was aber denkt Rothe als Gehalt eines solchen Gefühls? Wie wir bereits vermuteten, geht es nicht um das religiöse Gefühl bzw. die Gottesahnung in ihrer alltäglichen Allgemeinheit. Der Fromme ist "das Subjekt unserer Aussagen nicht in jedem beliebigen Lebensmoment, sondern nur in den intensivsten Momenten seines religiösen Lebens."385 In der "Gottesahnung, ... aber ... in ihrer gesteigertsten Intensität"386 fühlt der Mensch seinen Gott als das "schlechthinige... absolute... Sein".387 Das Gottesgefühl als Voraussetzung der Spekulation ist damit kein anderes als die Ekstase. Lediglich in ihr hat sich dem Menschen Gott jenseits aller Konkretheit als "reines Sein" ergeben.388 Demnach ist zu prüfen, wie sich die Übersetzung des unmittelbaren Ichbzw. Gottesgefühls in den Begriff Gottes vollzieht. Oben waren wir ohne weitere Erklärung von einer solchen Übersetzbarkeit ausgegangen. Wir hatten herausgefunden, daß Rothe Schleiermacher und Schelling so zu kombinieren versucht, daß der Mensch in der Ekstase nicht nur sich selbst unmittelbar gegenwärtig ist, sondern zugleich dieses Gottes. Den Abstieg von der Ekstase in 382

I,69;vgl.I,43,46

383

1,69

384

I,46f.

385

1,38

387

Es darf uns nicht irritieren, daß Rothe dieses Subjekt hier bereits mit dem "fromme[n] Christenmensch [en]" identifiziert. Er beschreibt im Kontext der angeführten Aussagen tatsächlich bereits die Christlich-theologische Spekulation. Kraft der anthropologischen Voraussetzungen, die er gemacht hat, muß die Theologische Spekulation jedoch sinnvoll denkbar sein unabhängig von der Offenbarung. Um ihre Christlichkeit zu charakterisieren, werden wir also im nächsten Abschnitt ausdrücklich auf die Offenbarung zu sprechen kommen, die - wie bereits erwähnt - nicht ohne weiteres mit dem Gottesgefühl zu identifizieren ist. 1,74 1,74

388

Vgl.1,75

386

Frömmigkeit

119

das logische Denken beschreibt Rothe folgendermaßen: "Ohne sich etwa als religiöses Gefühl aufzuheben, schreitet sie [die Frömmigkeit als religiöses Gefühl] vermöge ihres eigenen inneren Lebenstriebes zum religiösen (eigentlichen) Denken fort; zunächst zum bloß reflektirenden, zu religiösen bloßen Vorstellungen, dann aber auch zum wahrhaft begreifenden, d.h. zum spekulirenden, zur religiösen Spekulation. "389 Es muß deutlich sein, daß hier innerhalb eines Satzes ein bisher nicht erörtertes, neues Verhältnis von Gefühl, Erkenntnis und Spekulation beschrieben wird. Wurde die religiöse Erkenntnis als Theosophie merkwürdig ambivalent eingesetzt, so wird hier ihr Ort im Zusammenhang mit der Theologischen Spekulation einsichtig. Die Theosophie (d.h. die religiöse Reflexion) ist von der Wahrnehmung als dem Glauben unabhängig, indem sie zu ihrer Voraussetzung lediglich des religiösen Gefühls qua Ekstase bedarf. War oben fragwürdig geblieben, wie eine rein intramental verstandene Theosophie zu ihrem Material, d.h. zu überhaupt zu denkenden Objekten kommt, so ist jetzt klar, daß sich fur die Erkenntnis die Unmittelbarkeit des Gottesgefuhls in die Objektivität einer logischen Vermittlung aufhebt. Wie aber geschieht das? Rothe fuhrt aus: "Wer sich ans Theologisiren begibt, ist für seine Person thatsächlich schon längst hinaus über diejenige Form des frommen Bewußtsein[s], auf welche angegebenermaßen die theologische Spekulation, wenn sie anheben will, zurückgeht. Das fromme Bewußtsein des theologisirenden Subjekts ist nothwendig bereits in irgend einem Maß ein wissenschaftlich entwickeltes und gebildetes, und der Theologisirende findet sich faktisch bereits im Besitz irgend eines Gedankens von Gott, über die bloße Gottesahnung hinaus."390 Damit erklärt uns Rothe, daß es vergeblich ist, nach einer genauen Beschreibung des Überganges von der Unmittelbarkeit zur Vermittlung zu suchen. Das Denken geht immer schon mit einer - wenn auch unvollkommen ausgeprägten - Weise der Vermittlung um. So aber rückt die Ekstase in die Transzendentalität. Weil der Übergang von der Unmittelbarkeit in die Vermittlung nicht erklärbar ist, kann sie nicht als Erfahrung interpretiert werden. Rothe selbst ist unsicher in bezug auf eine solche Konsequenz. Daß es aber um genau diese Konsequenz geht, zeigen seine Formulierungen. Die Außerordentlichkeit der Ekstase gegenüber gewöhnlichen Erfahrungen drückt er dadurch aus, daß wir den religiösen Menschen in dem Gefühl, das der Spekulation vorausgeht, "nicht in dem ersten besten Lebensmoment [antreffen], sondern expreß in den ausdrücklich religiös bestimmten Momenten seines Lebens, und unter diesen wieder in den am höchsten gesteigerten, also in den intensivsten Momenten seiner Frömmigkeit."391 Müssen demnach davon ausgehen, daß die Ekstase eine ausgesprochen seltene Erfahrung ist, die selbst dem frommen Subjekt höchstens einige Male

389 390 391

I,43f. 1,70 1,38

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in seinem Leben zuteil wird, so betont Rothe andererseits, daß - wie zitiert - der Fortschritt der Frömmigkeit vom Gefühl zum Denken jenes keineswegs aufhebt. Das unmittelbare Selbst- bzw. Gottesgefuhl bleibt so der ständige Hintergrund jeglicher Vermittlung. Rothes Nähe zu Schelling wird an dieser Stelle wiederum deutlich. Nach Schelling ist das unmittelbare Selbstverhältnis des Absoluten an sich selbst nicht denkbar. Es ergibt sich jedoch notwendig durch eine Analyse der relationalen Struktur des Wissens und hat demzufolge den Status einer Voraussetzung.392 Wie nahe Rothe in seinen Ausführungen diesem Urgedanken des Deutschen Idealismus steht, zeigt sich daran, daß Schellings Argumentation, die hier variiert wird, selbst auf den berühmten Text Hölderlins zurückgeht, der von seinem Herausgeber mit "Urtheil und Seyn" überschrieben worden ist.393 Indem Hölderlin Urteil etymologisch als Ur-teilung interpretiert, kommt er zu folgendem Schluß: Angewandt auf den Satz "Ich ist Ich" muß davon ausgegangen werden, daß durch die Form des Satzes eine ursprüngliche Einheit zertrennt wird, die jedoch durch den Inhalt des Satzes gerade ausgesagt werden soll. Wenn also menschliche Erkenntnis nur in der Weise von Urteilen möglich ist, diese Urteile aber von der Art sind, daß sie eine ursprüngliche Einheit zertrennen, dann muß die urteilsmäßige Synthesis von einer ihr gegenüber zuvor bestehenden Einheit unterschieden werden. Diese Einheit nennt Hölderlin "Seyn".394 Schelling variiert dieses Argument: Reflexion ist Unterscheidung, und Unterscheidung ist Verneinung. Die beiden Relata einer Beziehung haben damit Sein nur insofern, als es das Nichtsein ihres Korrelates ist.393 Indem damit die Relata ihr Wesen darin haben, daß sie das Sein des jeweils anderen verneinen, kann an ihnen selbst Sein nicht entstehen. Wenn aber unser Sein, von dem wir (im Sinne des cogito sum) sicheres Bewußtsein haben, nicht das Werden unserer Reflexion sein kann, muß es ihm als ein praereflexives ganz und ungeteilt vorausgehen.396 Verlegt Schelling das reine, ungeteilte Sein in ein dem endlichen Denken vorausgehendes Absolutes, so versucht Rothe mittels des Schleiermacherschen Argumentes diese Unmittelbarkeit im endlichen Subjekt selbst zu denken. Obwohl er also durchaus einen (persönlichen) Gott jenseits des endlichen Bewußtseins annimmt, muß um der Spekulation willen dieses Absolute dem endlichen Subjekt als solches zugänglich sein. Wenn er diese Erfahrung einem ekstatischen Gefühl zuspricht, umgeht er es, das Verhältnis von Logik und Sein nach Hölderlin bzw. Schelling anders bestimmen zu müssen. Logik ist auch nach Rothe die Weise eines vermittelnden Denkens. Indem er aber diese Unmittelbarkeit als ständigen Hintergrund der Vermittlung angibt und sie dennoch als dem endlichen Subjekt immanent in der Ekstase für zugänglich erklärt, interpretiert er eine transzendentale Setzung auf mystische Weise.397 392 393 394 395 396 397

Vgl. Schelling, VI, 137f. Hölderlin, 26f. Vgl. Hölderlin, 26 Vgl. Schelling, IV,358 Vgl. Schelling, IV,397 Aufgrund dieser Ambivalenz oder Undeutlichkeit Rothes mußte er sich von seinen Kritikern "esoterischer Gnosis" bezichtigen lassen. Schulze schreibt: "Bei einer solchen Spezifizierung, die eine Spekulation fast nur noch für den Spekulierenden selbst

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Das Denken ist also gleichsam immer schon aus der Ekstase herausgefallen und geht mit seinen Objekten in vermittelnder Weise um. Bezeichnenderweise aber nimmt Rothe für das eigentliche Denken nicht das Argument Hölderlins bzw. Schellings in Anspruch, nach dem logisches Denken ursprüngliche Einheit zerteilt oder ihr Sein verneint. Jedoch unterscheidet er von diesem eigentlichen Denken ein uneigentliches bzw. seinem Gegenstand unangemessenes: Aus der Ekstase ergibt sich die religiöse Erkenntnis. Welchen Charakter aber hat das "wissenschaftlich entwickelte" Bewußtsein des "Theologisirenden"? Rothe fährt an der angegebenen Stelle folgendermaßen fort: "Auf seinem Standpunkt bedarf es jedoch nur einer geringen Aufmerksamkeit auf die Beschaffenheit dieses seines Gedankens von Gott, um zu entdecken, wie mißlich es mit demselben bestellt ist, nämlich wie viel ihm noch an der völligen logischen Richtigkeit und Vollendung abgeht, und wie wenig er sich also bei ihm, wie er eben vorliegt, schon beruhigen kann. Der Theologisirende muß sich eingestehen, daß sein Gedanke von Gott noch gar kein fertiger und somit wirklicher Gedanke (Begriff) ist, sondern nur erst eine bloße Vorstellung. "398 Die Vorstellung ist die dem Denken immanente Weise der Bildung, wie sie Antwort auf die Erkenntnis ist. Kann man also davon ausgehen, daß die Erkenntnis, d.h. die Theosophie, die Weise des Denkens ist, die sich das unmittelbar erfahrene reine Sein zum Gegenstand macht? Rothe selbst widerspricht dieser Annahme. Das Ergebnis der Erkenntnis ist der Begriff bzw. sind Begriffe, und das aus der Unmittelbarkeit folgende Denken ist nach Rothe gerade nicht "wirklicher Gedanke (Begriff)". Eine solche Annahme aber würde außerdem die ganze Konstruktion überspringen, nach der das unmittelbare Gottesevident werden läßt, kann aber Wissenschaftlichkeit... nicht... in einer angestrebten, inhaltlichen Allgemeinheit bestehen" (Schulze, 58). In Verkennung der Transzendentalität der Ekstase wird Schulze eben auch nicht die besondere Weise ihrer Allgemeinheit deutlich. Wir werden sehen, daß nach Rothe einzig das Gefühl des reinen Seins die Allgemeinheit auch des theologischen Denkens verbürgen kann. Schulze erörtert das Problem der Allgemeinheit Theologischer Spekulation im Zusammenhang des Verhältnisses von Philosophie und Theosophie. Seiner Meinung nach kann die Theosophie die Allgemeinheit ihres Ansatzes nur im "Kampf' mit der Philosophie erringen (vgl. Schulze, 58). M.E. hat Rothe dieses Verhältnis viel gründlicher durchdacht als sein Kritiker, indem er davon ausgeht, daß die Philosophie gar nicht in der Lage ist, mit der Theologie zu streiten, weil die Theologie von vornherein eine andere Perspektive auf Gott und die Welt hat, die sehr viel weiter ist als die der Philosophie und sie damit als Teil, ja als defizienten Modus der Spekulation mit umfaßt. Wohl fuhrt ein Weg von der Theologie zur Philosophie, die Philosophie kann aus eigenen Mitteln aber nie den Ansatzpunkt der Theologischen Spekulation erreichen. Nach Rothe ist erst "der vollständig fromme Mensch der seinem Begriff wirklich entsprechende, der wahre Mensch", was impliziert, daß er der Mensch ist, der seine Vernunft auf angemessene Weise gebrauchen kann (1,4). 398

1,70

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bewußtsein als solches nicht vermitteltes Gottesbewußtsein sein kann. Das ekstatisch erfahrene bzw. transzendental vorausgesetzte reine Sein kann nicht Gegenstand der Erkenntnis sein. Darum müssen wir den Begriff der Vorstellung anders einordnen. Es hatte sich schon gezeigt, daß die Ekstase, obwohl sie eine Weise des Gefühls ist, durch ihren Gegenstand nicht mehr individuell sein kann. Ist die bildende Antwort auf das individuelle Gefühl die Kontemplation, so kann diese Antwort auf die Ekstase als Vorstellung interpretiert werden. Sie drückt das als allgemein gefühlte reine Sein allgemein, aber auf unvollkommene Weise aus. Die Unvollkommenheit der profanen Vorstellung als Antwort auf die Erkenntnis extramentaler Gegenstände hatte sich nach Rothe dadurch ergeben, daß das Denken als Erkenntnis mit dem nichtideellen Schema von Raum und Zeit behaftet war. Da wir uns jedoch von der Ekstase ausgehend, im rein intramentalen Bereich bewegen, kann die Vorstellung nicht durch Raum und Zeit geprägt sein. Die hier veranschlagte Unvollkommenheit soll hingegen an dieser Stelle - so müssen wir vermuten - bedeuten, daß das reine Sein, in die Vorstellung gefallen, nur partiell (nicht als Ganzes) und, weil ihm kein eigentlicher Begriff vorausgeht, logisch unvollkommen ausgedrückt wird. Mit dieser These ergibt sich eine neue Frage. Kraft welcher Logik bildet das Denken Vorstellungen, wenn davon ausgegangen werden muß, daß das Gefühl des reinen Seins schlechthin praelogisch ist und nicht Gegenstand der Erkenntnis sein kann? Rothe äußert sich dazu nur indirekt, indem er die Logik der Vorstellungen im Verhältnis zu einer rechten begrifflichen und d.h. spekulativen Logik beschreibt. In bezug auf die Vorstellungen spricht er von einer "Fehlerhaftigkeit des bei der Umbildung seiner primitiven gefühlsmäßigen Form, der Gottesahnung, in die verstandesmäßige, den Gottesgedanken, eingehaltenen logischen Verfahrens".399 Diese Fehlerhaftigkeit beruht in der Verortung der Logik dem Absoluten gegenüber, wie wir sie mit den Argumenten von Hölderlin und Schelling erläutert haben: Rothe sagt offenkundig in Anknüpfung an seine idealistischen Vorgänger: "In der empirischen nichtspekulativen bloßen Vorstellung von Gott ist nämlich der Gedanke Gottes einerseits, ja zu alleroberst, als der des Absoluten gefaßt, andererseits aber mit einer Vielheit von besonderen Bestimmtheiten behaftet",400 Diese Bestimmtheiten kommen ebenso wie bei Schelling durch Negation zustande: "Denn da das Besondere ein Besonderes nur vermöge seines Verhältnisses zu einem anderen ist, so involvirt jede Besonderheit, lediglich als solche gedacht, eine Relativität, und schließt mithin die Absolutheit aus oder ist eine Beschrän-

399 400

1,73 1,71

Frömmigkeit

123

kung "Mi Vorstellungen repräsentieren damit in diesem Zusammenhang diejenige Weise des Denkens, die Hölderlin und Schelling für das endliche Denken überhaupt in Anspruch genommen hatten. Rothe jedoch, für den das Denken seine Logik vom ideellen Schema des Gegenstandes erhält, müßte erklären, wie das Gesetz der Beschränkung zustande kommt und woraufhin sie sich vollzieht. Dies wäre besonders notwendig, sofern er der Vorstellung einen "empirischen" Charakter zuerkennt. Statt dessen werden wir lediglich darüber informiert, daß die Logik der Vorstellung dem Absoluten bzw. reinen Sein fremd ist. Genauso wie bei Hölderlin ist von einer "Inadäquation zwischen Form und Gehalt... [des] Gottesgedankens" die Rede.402 Diese Unterscheidung impliziert nun aber im Kontext Rothes eine fundamentale Distanzierung von Hölderlins bzw. Schellings Argumentation: Ihrer Auffassung zufolge setzt die Reflexion absolutes Sein voraus und hat selber nur kraft dieses Seins Gehalt. Ein solcher Gehalt ist der Reflexion als negierter immer nur in beschränkter Weise Gegenstand. Da Denken Reflexion ist, kann es sich das reine Sein nie selbst zum Gegenstand machen. Gerade darin besteht die Inadäquation von Form und Gehalt. Nach Rothe hingegen "schließt" wohl das Denken als Vorstellung "die Absolutheit aus", es befaßt sie aber dennoch - laut Zitat - als Gehalt in sich. Durch die Vorstellung wird demnach das Absolute als ein solches bewahrt, das eingeschlossen in sich selbst auch seine Logik in sich verborgen erhält. Ganz eindeutig ist Rothes Gedanke nicht explizierbar. In aller Konsequenz vollzogen, läßt sich das Absolute als unerschlossener Gehalt, von den Vorstellungen gleichsam nur umstellt, lediglich dann bewahren, wenn diese Vorstellungen keine Beschränkungen dieses Absoluten darstellen. Damit ist aber nicht nur fraglich, woher die Vorstellung ihre Logik hat, sondern es ist ebensowenig klärbar, welchen Gehalt sie formt. Zusammen mit dieser Behauptung aber bezeichnet Rothe im selben Satz die Vorstellung als eine Beschränkung des Absoluten,403 was im Sinne Hölderlins und Schellings verstanden werden müßte. Dann aber wäre das Absolute durch die Vorstellung nicht mehr als solches bewahrt. Vielleicht verstehen wir diese Ambivalenz, wenn wir prüfen, wie es der Vorstellung gegenüber zur Entfaltung der rechten Logik kommt. Vorausgesetzt ist durch Rothe, daß es ein dem Absoluten angemessenes Denken seiner gibt. Es ist dadurch ausgezeichnet, daß es das Absolute nicht mit einer ihm äußerlichen Logik überfremdet. Vielmehr begreift es seine besonderen Bestimmtheiten als durch es selbst an sich selbst gesetzte und muß 401 402 403

1,71 1,71 Vgl.1,71

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demzufolge seine Absolutheit nicht auflieben,404 Dieses theologisch spekulative Denken erreicht der in Vorstellungen befangene Theologe durch eine "dialektische... Reinigung des Gottesgedankens", in der die "bloße Vorstellung von Gott zum wirklichen Begriff von ihm zu potenziren" ist.405 Unter Dialektik versteht Rothe das Verfahren der Reflexion als Analyse und Synthese.406 Damit scheint er trotz der besonderen Weise ihrer Entstehung diese Vorstellungen auf dieselbe Weise zum Fundament der Spekulation machen zu wollen, wie es innerhalb der Philosophischen Spekulation üblich ist. Durch die dialektische Reinigung müßte der Gottesgedanke "von den ihn an und für sich fremdartigen Elementen [befreit werden], die ihm in dieser seiner Fassung beigemischt sind".407 Genauso hatte sich das profane Denken auf die Vorstellung zu beziehen, um sie von dem, dem eigentlichen Denken fremden, Schema von Raum und Zeit zu befreien. Durch Analyse und Synthese werden die Anschauungsformen zu Kategorien "potenzirt". Durch unsere Untersuchung aber hat sich ergeben, daß es auf diese Weise nicht zu einem stringenten Gottesgedanken kommen kann. Analyse und Synthese nämlich übernehmen in jedem Fall die in der Vorstellung vorliegende Logik, die aber nach Rothe gerade eine ihrem Gegenstand unangemessene ist. Dialektik bedeutet darum an dieser Stelle nicht Analyse und Synthese, sondern Abstraktion. Diese wird so vollzogen, daß "man ... von jedem besonderen, d.i. bestimmten Inhalt des Gottesgedankens, wie er einem unmittelbar geläufig ist, abstrahirend, oder jenen an diesem negirend, soweit zurück[zu]gehn hat, bis an dem letzteren nichts mehr negirt werden kann, ohne zugleich das Grundmerkmal desselben, den Gedanken des Absoluten, mithin den Gedanken Gottes selbst, mitaufzuheben. Mittelst dieses Verfahrens gelangt man aber nothwendig zuletzt eben bei dem Gedanken von Gott als dem absolut reinen absoluten Sein an. "408 Durch ein derartiges Verfahren soll also die Übersetzung des unmittelbaren Gefühls des reinen Seins in den Gedanken und d.h. in den Begriff des reinen Seins möglich sein. Untersuchen wir diese Abstraktion in bezug auf den Charakter der Vorstellung. Bisher waren zwei Wege seiner Interpretation offen geblieben. 1) Gehen wir davon aus, daß die Vorstellung eine Beschränkung des Absoluten im Sinne Hölderlins und Schellings darstellt, dann könnte Rothe meinen, daß der Theologe jede logische Verknüpfung vom reinen Sein abstrahiert, d.h. jede Beschränkung aufhebt und somit zuletzt das reine Sein selbst als Begriff 404 405 406 407

408

Vgl.I,71f. I,70;vgl.I,73 Vgl.1,7,19,32 u.ö. 1,70 I,96f.

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fassen kann. Diese Interpretation verkennt jedoch, daß der Akt der Abstraktion als solcher des Denkens selbst ein Akt der Beschränkung bzw. Negation ist. Wird das Absolute erst einmal als Beschränktes angenommen, kann diese Beschränkung durch das Denken, auch wenn es sich als Abstraktion tarnt, nicht wieder aufgehoben werden. 2) Wie aber vollzieht sich die Abstraktion, wenn wir annehmen, daß die Vorstellungen das reine Sein als "fremdartige... Elemente" lediglich umstellen, ohne seine Absolutheit aufgehoben zu haben? Um diesen Gedanken fassen zu können, müssen wir uns daran erinnern, daß Rothe um des Gefühls des reinen Seins willen die qua reines Selbstbewußtsein vorausgesetzte Persönlichkeit durch ein unmittelbares Selbstbewußtsein im Sinne Schleiermachers ersetzt hatte. Das Verhältnis beider Größen zueinander wird uns durch Rothe nicht erklärt. Wir müssen jedoch davon ausgehen, daß nun, da es um die Etablierung des konkreten Vollzuges der Spekulation geht, die Persönlichkeit als Subjekt der Erkenntnis wiederum in Aktion tritt. Damit aber käme es zu einer Verdoppelung der Unmittelbarkeit als Grund des vermittelnden Denkens. Rothe aber scheint, indem er die Abstraktion als Denken von der Persönlichkeit her einsetzt, schlichtweg davon auszugehen, daß durch diesen Wechsel des Grundes des Denkens das in Unmittelbarkeit gefühlte reine Sein zum begrifflichen Gegenstand des Denkens geworden ist. Die Nichtkompatibilität des Gefühls (das um des Gehaltes des Denkens willen notwendig ist) mit der Spontaneität der Vernunft (die diesen Gehalt logisch explizieren soll) wird so einfach dadurch umgangen, daß Rothe den Ort des Subjektes wechselt. Durch die Abstraktion wird demzufolge jeder "bestimmte... Inhalt" von dem Begriff des reinen Seins entfernt, der diesen Vorstellungen lediglich durch die Wiedereinsetzung der Persönlichkeit bereits als dieser Begriff zugrunde liegt. Die Vorstellungen sind so nur scheinbar Folgerungen aus dem Gefühl. Sie müssen einen anderen Grund haben. Wir können annehmen, daß sie Ergebnisse religiöser Weltbezüge sind, die darum tatsächlich als fremde das Sein umstellen. Nach Rothe fällt durch den Einsatz der Abstraktion als Vollzug des eigentlichen, nämlich spekulativen Denkens das Gefühl des reinen Seins in toto in den Begriff. Damit ist die Abstraktion nichts weiter als das Absehen von den Vorstellungen, die das reine Sein verhüllen, das allein durch die Aktion der Persönlichkeit als deren begriffliches Gegenüber gesetzt ist.409 409

Es mag sein, daß für die Methode der Abstraktion Fichte Vorbild gewesen ist. Die Wissenschaftslehre von 1794 beginnt mit der Erklärung, daß die Tathandlung und d.h. das unmittelbar auf sich selbst bezogene Ich, mittels der Methode der "abstrahirenden Reflexion" gedacht werden könne (vgl. Fichte, WL 1794,91). Eine solche Abstraktion vollzieht sich folgendermaßen: "Irgendeine Tatsache des empirischen Bewußtseins wird aufgestellt; und es wird eine empirische Bestimmung nach der andern von ihr abgesondert, solange, bis dasjenige, was sich schlechthin nicht

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

Dieser Einsatz eines doppelten unmittelbaren Selbstbewußtseins für ein Subjekt ist so originell wie nicht überzeugend. Der Gewinn des Begriffes des reinen Seins aber ist für Rothe die conditio sine qua non der Theologischen Spekulation. Wir müssen also schlußfolgern, daß es Rothe entweder nicht gelingt, vom Gefühl des reinen Seins her zu einem vernünftigen Denken überzugehen, das mit einem Begriff des reinen Seins einzusetzen vermag. Die Theologische Spekulation wäre demnach in seinem eigenen Urteil Mythologie,410 oder es ist zu schließen, daß Rothe der Spekulation einen Begriff des reinen Seins voraussetzt, der nicht aus der Ekstase gewonnen ist. Dann aber ist es unmöglich, diesen Begriff mit dem einfachsten Ausdruck Gottes zu identifizieren. Wir werden im 2. Teil der Arbeit zu untersuchen haben, wie Rothe diesen Begriff spekulativ entwickelt und dabei seine Problematik erneut diskutieren. Sie kündigt sich schon an dieser Stelle an, wenn wir uns in Erinnerung rufen, daß der Begriff eine Größe ist, die sich durch das Denken als Vollzug von Analyse und Synthese ergibt. Gerade auf diese Weise ist aber der Begriff des reinen Seins nicht gewonnen worden und es bedarf deswegen eines besonderen Umgangs mit ihm. Des weiteren muß schon an dieser Stelle eine Besonderheit der Theologischen Spekulation gegenüber ihrem Vollzug im Allgemeinen auffallen. Wir hatten festgestellt, daß die Persönlichkeit mit der vollzogenen Vermittlung des Selbstbewußtseins qua Vernunft und Freiheit als transzendentale, unmittelbare Einheit beider überflüssig wird. In bezug auf das reine Sein jedoch scheint, wenngleich seine Explikation Spekulation genannt wird, die Annahme einer solchen Persönlichkeit weiterhin notwendig zu bleiben. Für den Gottesgedanken kann das vermittelte Selbstbewußtsein, das als Pointe der Subjektivitätstheorie Rothes gelten muß, demnach nicht in Anspruch genommen werden. Das "reine Sein", das dem Theologen in der Ekstase unmittelbar gegenwärtig wegdenken und wovon sich weiter nichts absondern läßt, rein zurückbleibt" (ebd.,92). Genau dies ist - bei anderer Voraussetzung - der Weg, den Rothe, um des Begriffes des reinen Seins willen eingeschlagen hat. Um jedoch Fichtes fundamentale Differenz von Rothe deutlich zu machen, sei außerdem folgendes Zitat angeführt: "Selbst vermittelst dieser abstrahlenden Reflexion nicht - kann Thatsache des Bewußtseyns werden, was an sich keine ist; aber es wird durch sie erkannt, daß man jene Tathandlung, als Grundlage des Bewußtseins, notwendig denken müsse" (ebd.1,91). Lassen wir dahingestellt sein, was dieses notwendige Denken bedeutet, so hebt es doch keineswegs die Grundaussage des Satzes auf, nach der das unmittelbare Selbstbewußtsein keineswegs Tatsache des Bewußtseins werden kann. Solche Tatsachen sind nach Fichte Gegenstände des objektivierenden, vermittelnden Denkens. Wir haben jedoch herausgefunden, daß die Abstraktion nach Rothe jedoch gerade jenes Ergebnis haben soll. 410

S.o.S.102f.

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wird, transzendiert sein durch Erkenntnis und Bildung vermitteltes Selbstbewußtsein derart, daß als Grund des Denkens wiederum nur das unklärbare Selbstbewußtsein der Persönlichkeit in/rage kommt. Die Konsequenzen in bezug auf das Verhältnis von Spekulation und Selbstbewußtsein werden im 2.Teil der Arbeit erörtert werden. Hier sind jedoch die folgenden Überlegungen notwendig: Ganz unabhängig davon, wie wir den Charakter des reinen Seins interpretieren, ist mit ihm die Ausschaltung eines jeglichen Weltbezuges des Theologen gesetzt. Dieser entwickelt nicht nur den Gehalt seiner Spekulation aus dem reinen Sein, sondern übernimmt auch die Logik des zu Denkenden von diesem selbst. Damit aber wird der spekulierende Theologe seiner eigenen Geschichte völlig entsetzt. Anders gesagt: Indem Rothe die Möglichkeit der Theologischen Spekulation nicht auf das vermittelte Denken baut, sondern unter Voraussetzung der ungeklärt eingeführten Persönlichkeit, geht dem Menschen seine Geschichte verloren. Es ist in der Beziehung auf das reine Sein völlig gleichgültig, auf welchem Entwicklungsstand der Organisation er sich selbst befindet. Der Entwurf Rothes im Ganzen wie im Einzelnen zeigt, daß er diese Konsequenz nicht selbst gezogen hat.411 Wahrscheinlich versucht er durch die Behauptung der Vorstellungen, die das reine Sein als fremde umlagern, den Schein der Weltbezogenheit zu wahren. Jedoch wird aus dem reinen Sein spekulativ nicht nur die Gestalt Gottes expliziert, sondern gemäß der Theologischen Ethik die Schöpfung einschließlich ihrer Geschichte bis hin zum Eschaton. Das reine Sein bietet damit dem spekulierenden Theologen eine Geschichte jenseits seiner eigenen Geschichte, die nicht mehr die oben beschriebene Prolepse darstellt, weil seine eigene Geschichte jeglicher Bedeutung für diese Spekulation entbehrt. Die Theologische Spekulation kann sich (unter Voraussetzung des religiösen Gefühls als Ekstase) zu jedem Zeitpunkt der Geschichte vollziehen, ohne noch Prolepse sein zu müssen.412 Es ist uns bisher nicht möglich gewesen, den Sinn einer Kirche als Institution einer reinen Frömmigkeit unter den Bedingungen der "Normalität" zu erhellen. Da diese reine Frömmigkeit alle Weisen des Denkens in bezug auf die Welt abstrahiert von dieser repräsentieren soll, könnten wir den eigentlichen Ort dieser Frömmigkeit bei der so erläuterten Theologischen Spekulation einsetzen. Damit wäre die Kirche zumindest von der Paradoxität ihres Begriffes be411 412

Vgl. z.B.1,38 Rothe selbst hat mit einer Wendung auf diese Geschichts- und Welttranszendenz hingewiesen. Er nennt - wie bereits zitiert - den Einsatz der Spekulation mit dem Begriff Gottes als des reinen Seins den "archimedischen Punkt" (1,30,34,37,69). Damit aber weist er entgegen seiner Intention selbst darauf hin, daß der für die Spekulation notwendige Gottesgedanke jeglicher weltlicher Erkenntnis gegenüber apriorisch gewonnen wird.

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freit. Denn auf diesem Wege können wir die Abstraktion, die zu den oben erläuterten Widersprüchen fuhrt, anders einordnen. Indem wir sie als Abstraktion von den Vorstellungen interpretieren, die das reine Sein umstellen, gewinnen wir eine Frömmigkeit, die wirklich "rein" ist, insofern sie anders als die von Rothe beschriebene tatsächlich keines Weltbezuges bedarf. Eine solche Frömmigkeit kann - wie Rothe es behauptete - denn auch für jedes Individuum in gleicher Weise angenommen werden. Inkauf nehmen wir damit allerdings einerseits die Widersprüchlichkeit des Begriffes des reinen Seins in seinem Verhältnis zu dem Theologen, der es fühlt, und andererseits, daß die Kirche so als Ort von Mystik bzw. Mythologie definiert werden muß. Des weiteren können wir mit der religiösen Variation der Erkenntnisbedingungen des Menschen auch die Mehrdeutigkeit des Mikrokosmos-Begnffes erklären. Der religiöse Mensch ist praeeschatologisch Mikrokosmos nicht durch seine schöpfungsmäßige Position zu nennen, sondern durch die Ekstase, in der ihm alles überhaupt Denkbare gegenwärtig wird. Rothe selbst hat jedoch den Begriff des Mikrokosmos nicht ausdrücklich auf diese Weise eingesetzt. Außerdem ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß es verschiedene Maßstäbe für die Spekulation gibt. Es ist bereits beschrieben worden, daß sie sich an den Ergebnissen der Erkenntnis messen lassen können muß. In dieser Hinsicht muß gefragt werden, ob das auch für die Theologische Spekulation akzeptiert werden kann. Rothe hat wohl für die Konstitution der Theologischen Spekulation eine eigene Weise von Vorstellungen entwickelt, die von den Vorstellungen, die als Bildung extramentaler Erkenntnis zustande kommen, unterschieden werden müßten. Wegen der dargestellten Unzulänglichkeit dieser Vorstellungen werden sie jedoch kaum als Maßstab der Spekulation in Betracht kommen. Erkenntnis unter Voraussetzung der Wahrnehmung war jedoch in ihrer religiösen Variante nicht stringent explizierbar. Doch hatte sich uns ja gerade auch die Schwierigkeit solcher Erkenntnis überhaupt ergeben, die darin ihren Grund hat, daß sich Gott in der Gebrochenheit von Raum und Zeit nicht angemessen reflektieren kann.413

413

An der entscheidenden Stelle heißt es bei Rothe: "Soll die Spekulation gelungen sein, so muß das von ihr apriorisch erzeugte System von Begriffen das entsprechende Gedankenbild der empirischen Wirklichkeit sein, also aller Dinge (Gottes und der Welt), wie wir sie unabhängig von der Spekulation kennen (I,18f.). Vermutet man, daß die "empirische" Kenntnis Gottes die religiöse Erkenntnis meint, wird man durch eine Anmerkung korrigiert, daß Gott "empirisch" insofern ist, als "er sich geoffenbart hat" (1,19). Aus dieser Erläuterung ergibt sich, daß Rothe die religiöse Erkenntnis nicht als Maßstab der Theologischen Spekulation annimmt und sich über einen extramentalen Maßstab der Theologischen Spekulation unter den Bedingungen der Normalität offenbar nicht eigens Gedanken gemacht hat.

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Rothe setzt denn auch für die Theologische Spekulation noch einen anderen Maßstab ein. Sie findet "darin ihre Probe, daß in ihren Ergebnissen der Grundstoff, aufweichen sie zurückging, das eigenthümlich bestimmte fromme Gefühl, sich selbst genau wiedererkennt, aber so, daß dieses unmittelbare Gefühl sich nun zugleich klar über sich selbst verständigt findet. "414 Das ist dadurch möglich, daß "das specifische fromme Gefühl, aus welchem die... religiösen Vorstellungen selbst erst hervorgewachsen sind, ... unter dem spekulativen Prozeß unversehrt geblieben sein [muß]".415 Im Unterschied zum Maßstab der extramentalen Erkenntnis soll hier offensichtlich nicht gesagt sein, daß jeder spekulative Begriff sich mit einem religiös Gefühlten als kompatibel erweisen lassen muß. Das "eigenthümlich bestimmte fromme Gefühl" ist kein anderes als die Ekstase, und damit geht es hier wiederum um das Verhältnis der Unmittelbarkeit des Selbstbewußtseins zu seiner Vermittlung. Trotz der Aktion der Persönlichkeit - so erklärt uns Rothe - bleibt die Unmittelbarkeit derart erhalten, daß kraft ihrer die Probe möglich ist, ob das Vermittelte tatsächlich aus dieser Unmittelbarkeit hervorgegangen und nicht von anderswoher gewonnen ist. Mit einer solchen Annahme werden zwei Voraussetzungen gemacht, die für die Ekstase nicht gelten können. Um der Probe willen muß es nämlich möglich sein, daß sich das Denken zu jedem gewollten Zeitpunkt in die Unmittelbarkeit hineinzubegeben vermag. Damit wird die These aufgegeben, daß dieses unmittelbare Gefühl dem Frommen in nur wenigen Momenten seines Lebens zuteil wird, die als Gefühl gerade nicht vom Willen abhängig sein können. In unserem Urteil würde auf diesem Weg die Transzendentalität der Ekstase aufgegeben. Außerdem würde die Ekstase als solche preisgegeben, indem der Fromme von ihr her die Vermittlung zu beurteilen hat. Die Ekstase besteht jedoch darin, daß der ihr Ausgesetzte nichts anderes fühlt als das reine Sein und dieses Sein nur als solches. Ein Vergleich mittels des Verstandes würde das reine Sein zu einem gefühlten Gegenstand unter anderen machen und den Vergleichenden dieser Ekstase entsetzen. Wie aber müssen wir Rothes Gedanken fassen, wenn sich auf dem beschriebenen Wege die genannten Widersprüche ergeben? Obwohl er indirekt die Transzendentalität eines unmittelbaren Selbstbewußtseins annimmt, wird doch durch die "Übersetzung" dieses reinen Seins in den Begriff seine Unmittelbarkeit aufgehoben. Indem die Persönlichkeit wiederum ihre Funktion eines Wohers jeglicher Erkenntnis übernimmt, kann nicht davon ausgegangen werden, daß sich parallel zu dieser Persönlichkeit transzendental die Unmittelbarkeit des Gottesgefühls erhält. Erinnern wir uns an den beschriebenen Charakter der 414 415

I,45f. 1,46

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Persönlichkeit selbst. Wir hatten angenommen, daß sie die ebenfalls transzendental gesetzte proleptische Annahme des eschatologischen Begriffes des Menschen ist, die diesem eine angemessene Entwicklung zu seinem eschatologischen Wesen ermöglicht. In der Persönlichkeit ist deswegen auf unmittelbare Weise prinzipiell diejenige Einheit gesetzt, zu der alle Realität zu organisieren ist. Die Persönlichkeit entbehrt jedoch der spezifischen Religiosität, die das unmittelbare Gottesgefühl auszeichnen soll. Sehen wir genauer hin, ist aber eine solche Religiosität nicht nötig, denn das Denken kraft der Persönlichkeit hat ja zum Gegenstand den Begriff des reinen Seins, der nach Rothe ein explizit theologischer ist. Die Persönlichkeit ist also schon durch ihren Gegenstand als religiöse bestimmt. Aus alledem folgt darum: Beim Worte genommen kann nur die Persönlichkeit selbst die Rolle der Unmittelbarkeit übernehmen, die Rothe weiterhin für das Gefiihl veranschlagt. In bezug auf den Begriff des reinen Seins erweist sie die Richtigkeit der Spekulation demgemäß dadurch, daß sich kraft ihres Einheitsprinzipes das zu Entwickelnde als logisch stringent auseinander explizieren und aufeinander als organisches Ganzes beziehen läßt. Auf diese Weise wird die Persönlichkeit als Maßstab der Spekulation eingesetzt, ohne daß ihre Transzendentalität aufgegeben werden muß. Erkennbarer Maßstab für die Spekulation ist demzufolge aber lediglich ein immanentes Kriterium, nämlich die Logizität des entwickelten Systems, daß sich kraft ihrer zu einem Ganzen formt.416 Erinnern wir uns an die Eigentümlichkeit des Verhältnisses von Gefühl und Begriff des reinen Seins, müssen wir jedoch auch Rothe vorhalten, einen der Spekulation gegenüber äußerlichen Maßstab gar nicht angebracht zu haben. Denn unter der Annahme, daß der Begriff des reinen Seins Gegenstand der Spekulation ist, wird die These eines Gefühls des reinen Seins zu einer Vorstellung, die tatsächlich nichts anderes unternimmt, als Explikate des Begriffes des reinen Seins mit diesem Begriff selbst zu vergleichen. Einen alles entscheidenden Maßstab für die Spekulation nennt Rothe erst unter der Voraussetzung ihrer Christlichkeit. Wir werden darum im nächsten Abschnitt noch einmal auf die Probleme zu sprechen kommen, die sich hier ergeben haben.

416

Vgl. dazu auch 11,138, wo Rothe für das "charakteristische Merkmal der Wahrheit ... die Evidenz" und d.h. logische Stringenz angibt. Auch in 1,90 bietet Rothe eine indirekte Bestätigung unserer These, indem er schreibt, daß sich kraft der Aktion der Persönlichkeit im Absoluten "innere Einheit" denken läßt.

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1.3 .3. Christlich-theologische Spekulation 1.3.3.1. Sünde Der Mensch wird zum Sünder, indem er die Welt nicht kraft seiner Persönlichkeit organisiert, sondern das "Prinzip der Materie" (die nichtideelle Logik von Raum und Zeit) in sie "hineinfluten" läßt. Rothe läßt mit diesem Gedanken die Transzendentalität der Persönlichkeit unberücksichtigt. Bei genauer Hinsicht zeigt sich außerdem, daß das "Prinzip der Materie" gar nicht in Konkurrenz zur Persönlichkeit, sondern lediglich zum Prinzip der Kausalität als Vollzug von Denken und Wollen tritt. Gehen wir mit Rothe von der Ersetzung der Persönlichkeit durch das Prinzip der Materie aus, muß die Sünde als Individualisierung des Denkens interpretiert werden. Mangels der Spontaneität der Persönlichkeit vermag sich der Sünder nicht mehr in Erkenntnis und Bildung auf die extramentale Wirklichkeit zu beziehen. Dazu kommt, daß die Empfindung nicht mehr zum Gefühl transformiert werden kann. Dem Sünder ist damit jede Weise der Selbstbeziehung unmöglich. Ist die Empfindung befangen in der absurden Logik von Raum und Zeit, bestätigt jede Inanspruchnahme des Menschen über das Geflihl diese Logik und also die Sünde. Die Bekehrung des Menschen muß darum über eine Anregung seiner Möglichkeit universeller Erkenntnis (und Bildung) vonstatten gehen. Mit dem Vollzug von Denken und Wollen könnte sich - im Sinne Rothes - die Persönlichkeit erneut konstituieren.

Innerhalb der Theologischen Spekulation konnte nicht eigentlich deutlich werden, aus welchem Grunde Rothe für ihr Zustandekommen nicht den Weg über die religiöse Erkenntnis wählte. Zwar hatten sich unüberbrückbare Schwierigkeiten für solche Erkenntnis ergeben. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, daß diese Rothe deutlich gewesen sind. Eine entscheidende Konsequenz des Einsatzes der Spekulation mit der Ekstase ist jedoch, daß das mit der Erkenntnis gegebene Problem der Nichtideellität von Raum und Zeit umgangen wird. Wie wir gesehen haben, spielen Raum und Zeit für die Ableitung der Theologischen Spekulation keine Rolle. Endlich eingerückt in den Kontext der Christlich-theologischen Spekulation scheint uns der Grund dieser gänzlichen Entsetzung des spekulierenden Subjektes von seiner Geschichte evident zu sein: Der Mensch muß seiner eigenen Geschichte enthoben werden, weil sie die Geschichte der "Abnormalität" ist und ihre Erkenntnis so verderbt ist, daß sie nicht zur Organisation der Welt und also zur Spekulation fuhrt. An der selbständigen Erörterung der Theologischen Spekulation, wie wir sie vollzogen haben, zeigt sich im Rahmen der Christlichen Spekulation, daß Rothe sie überhaupt nicht in concreto entworfen hat, sondern sie lediglich als defizienten Modus dieser dachte. Denn die Geschichtstranszendenz der Theologischen Spekulation soll im christlichen Kontext durch die erkenntnismäßige Beziehung auf die geschichtliche Tatsache der Offenbarung Gottes in Jesus Christus zurückgenommen werden. Die Spekulation hat ihren geschichtlichen Bezug demzufolge dadurch, daß sie christlich ist.

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Wir wollen damit beginnen, die Veränderung der Erkenntnisbedingungen des Menschen, sofern er nun als Sünder gedacht werden soll, zu untersuchen. Dem Menschen ist nach Rothe durch sich selbst die Aufgabe gesetzt, die Welt zwecks der Einwohnung Gottes in Vernunft und Freiheit zu organisieren.417 Es hat sich gezeigt, daß das Prinzip dieser Organisation die Persönlichkeit ist, die gegenüber der Natur als transzendentale Größe verstanden werden muß. In seiner Persönlichkeit ist sich der Mensch demzufolge selbst entzogen, sie kann weder Erkenntnisgegenstand noch Ziel irgendeines Handelns seiner selbst (oder anderer Personen) sein. Mit der Annahme eines solchen Organisationsprinzipes jedoch ist die Sünde, wenn sie gemäß Rothe als Unterlassung einer solchen Organisation verstanden werden soll, ausgeschlossen. Der Wille, von einer solchen Persönlichkeit regiert, hat eigentlich keine andere Möglichkeit, als diese Organisation zu wollen. Um der Möglichkeit der Sünde willen kann Rothe deswegen die Definition dieser Persönlichkeit nicht konsequent vertreten. Es muß ihre Alteration gedacht werden. Deshalb wird erklärt: Im Unterschied zu der Aufgabe des Menschen, die darin besteht, "daß die Persönlichkeit schlechthin nicht durch die materielle Natur bestimmt werde, sondern diese schlechthin bestimme", liegt es "innerhalb der Möglichkeit [des Menschen], daß [er] ... seine Persönlichkeit durch seine materielle Natur bestimmen lasse".418 Unter "materielle[r] Natur" versteht Rothe vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, die dem Menschen eigene Natur als Seele und Leib. Sie ist, wie die Natur überhaupt, dadurch materiell, daß sie durch einen Mangel, nämlich das Schema von Raum und Zeit, bestimmt ist. Raum und Zeit, als solche genommen, nennt Rothe denn auch im Zusammenhang der Entwicklung des Begriffes der Sünde "das Prinzip der Materie".419 Die Bestimmung des Menschen durch seine materielle Natur bzw. das Prinzip der Materie bedeutet jedoch nicht, daß der Mensch von der Persönlichkeit her in abnormer Weise mit seiner Natur und der Welt in Raum und Zeit umgeht. Rothe versucht vielmehr zu erklären, daß das Prinzip der Materie an die Stelle der Persönlichkeit tritt und sie ersetzt. Er sagt darum, daß die Konzentration des Menschen auf das materielle Prinzip, sein "Hineinfluthen in den centralen Punkt, das Ich" zur Folge hat, was nichts anderes bedeutet als "eine relative Wiederaufhebung der Persönlichkeit selbst".420 Dies bringt für den Menschen "eine Verdunkelung und Ermattung seines Selbstbewußtseins (durch die unverhältnißmäßige Gewalt der sinnlichen Empfindung) und andererseits eine Depression und Erschlaffung seiner Selbstthätigkeit (durch die unverhält417 418 419 420

Vgl.111,1 III,2;vgl.III,12 111,3 III,4;vgl.III,9

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nißmäßige Gewalt des sinnlichen Triebes)" mit sich. 421 Ein so gekennzeichneter Mensch ist ein Sünder. Um die Möglichkeit der Sünde zu denken, wird also an der Stelle des Einheitsprinzipes Persönlichkeit das Prinzip der Materie angenommen. Dieses hebt die Persönlichkeit offensichtlich deswegen nicht völlig auf, weil sie gewissermaßen als Platzhalter des Prinzipes der Materie gedacht werden muß. Nur durch die Persönlichkeit kann das Antiprinzip zum Prinzip von Denken und Wollen werden. 422 Es wird aber nicht eigens erörtert, in welcher Weise sich Raum und Zeit, als logisches Prinzip gedacht, wirklich denken lassen. Gesagt ist nur, daß sie das Gegenteil zum Prinzip der Organisation bilden, welches, eben weil die Materie auch ein logisches Prinzip ist, nicht fehlende Organisation bedeutet, sondern falsche. 421 422

111,5 Es ist nicht anzunehmen, daß Rothe die Persönlichkeit deswegen nicht als völlig vernichtet denkt, weil die Bekehrung ihrer als Voraussetzung bedarf. Die Persönlichkeit ist ja eine Größe, die sich erst durch die Aktion von Denken und Wollen konstituiert. Sie könnte also auch durch die Bekehrung als sich neu konstituierend gedacht werden. Beinahe jedoch hätte Rothe sein Verständnis der Persönlichkeit als Voraussetzung von Denken und Wollen völlig aufgegeben und damit fur den Bereich des faktisch möglichen Denkens des Menschen die logisch nicht evidente Prolepse der Persönlichkeit zurückgenommen. Im Zusammenhang der Entstehung der Sünde führt er aus, daß der Mensch, durch seine natürliche Konstitution bedingt, überhaupt keine Wahl hat, anstelle des Prinzipes der Materie die Welt von seiner Persönlichkeit her mittels Erkenntnis und Bildung zu organisieren. Damit wäre das Prinzip der Materie von vornherein die transzendentale Bedingung von Denken und Wollen und eine Persönlichkeit als Einheit eines rechten Denkens und Wollens könnte überhaupt nicht zustande kommen. Jedoch setzt Rothe, obwohl der erste konkrete Akt des Menschen bereits durch die Sünde geprägt ist, diesem bereits eine Persönlichkeit voraus, die demnach sekundär durch das Prinzip der Materie alteriert wird. Er sagt: "Die sittliche Entwickelung des natürlichen menschlichen Geschlechts kann von vornherein nicht die normale sein. Denn die absolute Bedingung der Normalität der sittlichen Entwikkelung des menschlichen Individuums, eine normale der richtige Erziehung zu seiner natürlichen (organischen) Reife ... ist für die ersten Menschen, eben weil sie die ersten sind, augenscheinlich nicht vorhanden. Weil ihnen nothwendig nicht nur die richtige, sondern überhaupt jede Erziehung abgeht, können sie sich nicht anders entwickeln als so, daß die in ihnen von vornherein übermächtige ... materielle (sinnliche) Natur, Beides in ihrer sinnlichen und in ihrer selbstsüchtigen Richtung, zur Autonomie gelangt, und ihre Persönlichkeit überwuchernd, sie auch, sofern sie bereits wirklich entwickelt ist, bestimmt. Die ersten Menschen können sonach ihre natürliche Reife nicht anders erreichen als im Zustande einer bereits abnorm gewordenen sittlichen Entwickelung, und sind so unvermeidlich schon in demjenigen Punkt, in welchem sie, selbständig geworden, ihre eigentliche sittliche Laufbahn anzutreten haben, unfähig, ihre sittliche Aufgabe in normaler Weise zu vollziehen" (111,41). Die Prolepse der Persönlichkeit, die selbst dem primären Akt der Sünde gegenüber angenommen werden muß, wird an dieser Stelle besonders deutlich.

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Um der weiteren Erörterung von Raum und Zeit willen, die im 2.Teil gegeben werden wird, müssen wir jedoch noch genauer auf die logische Inkonsequenz verweisen, mit der Rothe das "Prinzip der Materie" einsetzt. Es ist deutlich, daß die Bezeichnung des Prinzipwechsels als "Hineinfluthen" eine Metapher ist, die über die Verlegenheit hinweghilft, eine solche Auslöschung der Persönlichkeit tatsächlich zu denken. Der Gedanke des Wechsels des Prinzipes gelingt nur durch die Ignoranz des transzendentalen Charakters der Persönlichkeit.423 Rothes Formulierung aber weist darauf hin, daß er die Beeinflussung einer solchen Persönlichkeit tatsächlich nicht zu denken vermag. Er behauptet, daß der Mensch die Möglichkeit habe, "seine Persönlichkeit durch seine materielle Natur bestimmen [zu] lasse[n]". Damit aber ist gesagt, daß die "Persönlichkeit" auf die Ebene der Natur gesetzt wird, um dieser Ebene gegenüber wiederum eine transzendentale Ebene abzuheben, die hier nicht anders definiert wird als durch die Wendung "der Mensch". Indem der Mensch sich auf die "Persönlichkeit" bezieht, um sie dem Einfluß der "materiellen Natur" preiszugeben (auf die er sich deswegen auch beziehen muß), wird wiederum ein Woher vorausgesetzt, von dem her eine solche Beziehung zu beiden Größen möglich ist und die deswegen als reines Selbstbewußtsein verstanden werden muß. Genau genommen drückt Rothe jedoch auf diese Weise aus, daß es sich bei der Größe, die durch das Prinzip der Materie bestimmt wird, gar nicht um die Persönlichkeit, sofern wir sie als das reine Selbstbewußtsein des Menschen ansehen, handelt. Dafür spricht, daß er den Begriff der Persönlichkeit aequivok gebraucht. Ist er durch ihn definiert worden als transzendentaler Einheitspunkt, so benutzt er ihn doch immer wieder zur Beschreibung der Sphäre von Denken und Wollen.424 Nehmen wir aber an, daß das Prinzip der Materie lediglich den Bereich von Denken und Wollen bestimmt, tritt es nicht in Konkurrenz mit der Persönlichkeit, sondern mit dem Prinzip der Kausalität als Weise des Vollzuges von Denken und Wollen. Man könnte meinen, daß sich mit dieser Interpretation an Rothes Verständnis des Entstehens der Sünde nichts geändert hat. Auch seiner Auffassung nach wird die Organisation der Welt mittels der Kausalität durch ein anderes Prinzip ersetzt, das gemäß seiner Gesetzlichkeit mit der Welt umgeht. Abgesehen von der Fehlerhaftigkeit dieser Argumentation besteht jedoch der Unterschied unserer Interpretation darin, daß durch die Wahrung der Transzendentalität der Persönlichkeit auch kraft des Gesetzes von Raum und Zeit das Ein423

424

So auch Thilo: Die materielle Natur kann die Persönlichkeit nicht bestimmen, "denn die Persönlichkeit, deren Wesen Selbstbewußtsein und Selbstthätigkeit ist, muß ihrer Natur nach in jedem Falle sich und die materielle Natur nach ihrem eigenen Wesen, also in normaler Weise bestimmen. Sie kann eben nicht anders" (Thilo, 208f.). Vgl.1,121,323-325,330f.,II,34£f.,45,79

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heitsprinzip des Denkens als Prinzip der Organisation des zu Denkenden erhalten bleibt. Das Subjekt eines solchen Denkens zielt darum weiterhin auf eine Systematisierung alles überhaupt Denkbaren im Subjekt ab. Nach Rothe jedoch ermöglicht das Prinzip der Materie am Orte der Persönlichkeit eine gewisse Organisation der Welt. Sie ist nur darin falsch, daß sie keinen eigentlich systematisierenden Anspruch erheben kann.425 Diese Behauptung ist nicht konsequent. Denn Raum und Zeit sind nach Rothe lediglich ein Mangel an der Wirklichkeit. Sie erfassen das zu Denkende damit nicht als es selbst, sondern umgreifen es gleichsam lediglich von außen. Wenn die Welt dem Menschen nur kraft des Denkens intramental werden kann, durch Raum und Zeit aber kein weltliches Ding gedacht werden kann, müßte jedwede Organisation ausgeschlossen sein und der Sünder so verstanden werden, daß er außerhalb seiner selbst in der Welt und d.h. durch Raum und Zeit von einem Ding zum anderen taumelt, ohne auch nur eines Dinges Sinn zu begreifen und sich daran zu bilden.426 Obwohl wir also im Unklaren darüber gelassen werden, wie die Logik des Prinzipes der Materie zu denken ist, zeigt Rothe zumindestens einen Weg, auf dem zu beschreiben ist, was Raum und Zeit, als Prinzip gefaßt, mit dem Erkenntnisapparat des Menschen anrichten. Durch das Prinzip der Materie kommt es zur "Ermattung" bzw. "Depression" von Selbstbewußtsein (Denken) und Selbsttätigkeit (Wollen). Es ist dem Menschen also offensichtlich mangels 425

426

Vgl. iiU8ff Subjekte einer solchen falschen Organisation sind nach Rothe, wenn sie sich nicht, wie der Sünder, bekehren lassen, Dämonen. Das angemessene zu Rothes Dämonenlehre wird am Schluß der Arbeit gesagt werden. Eine solche Charakterisierung des Prinzipes der Materie gibt auch unserer Interpretation Fragen auf. Zuvörderst: Wenn sich das Denken des Menschen extramental nur auf zu erkennende Gegenstände beziehen kann, Raum und Zeit aber weder einen solchen Gegenstand darstellen, noch das ideelle Schema eines Gegenstandes sind, wie kann dann die Persönlichkeit Denken und Wollen durch das Prinzip von Raum und Zeit bestimmt sein lassen? Außerdem: In welchem Verhältnis steht das Prinzip der Materie zu dem Prinzip der Kausalität, wenn wir mit Rothe davon auszugehen haben, daß Denken nichts anderes ist als der Vollzug von Kausalität, es sich also zumindest, um die Materie sein Prinzip sein zu lassen, kausal und d.h. als Analyse und Synthese vollziehen muß? Da wir den Grund und ursprünglichen Ort von Raum und Zeit an dieser Stelle noch nicht kennen, ist es nicht möglich, diese Fragen zu beantworten. Sie seien jedoch gestellt, um den Horizont zu weiten, in den die Erörterung von Raum und Zeit gehört. Wir werden also auf das Problem von Raum und Zeit im 2.Teil der Arbeit zurückzukommen haben. Damit ist jedoch eine Fährte gelegt, die wir im Augenblick nicht weiter verfolgen. Wir müssen statt dessen um des Verhältnisses von Sünde und Offenbarung willen davon ausgehen, daß das Prinzip der Materie in Rothes Sinne an die Stelle der Persönlichkeit tritt.

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der Persönlichkeit nicht möglich, sich in Erkenntnis und Bildung aktiv auf die Welt zu beziehen, um auf diese Weise zu Selbstbewußtsein und Selbsttätigkeit zu gelangen. Das Prinzip der Materie scheint demnach seine Macht über den Menschen dadurch zu gewinnen, daß es anstelle der universellen Erkenntnis lediglich zu individueller Erkenntnis kommt. An die Stelle von Erkenntnis und Bildung treten, wie Rothe ausführt, Empfindung und Trieb. Auf diese Weise aber gewinnt auch die durch das Prinzip der Materie alterierte Persönlichkeit einen individuellen Charakter427 und der Sünder ist dadurch charakterisiert, daß er durch individuelle Erkenntnis in sich hineingekehrt ein von allen anderen Menschen isoliertes Leben führt*2* Wir müssen schlußfolgern, daß mit der Herrschaft von "Empfindung" und "Trieb" im Menschen jede Weise des Selbstverhältnisses ausgelöscht ist. Die im Laufe der Entwicklung des Menschen primäre Form des Selbstverhältnisses hatte sich als Selbstgefühl geäußert. Die Voraussetzung eines Selbstgefühls war jedoch die Distanzierung des Denkens vom empfundenen Gegenstand. Mit der Favorisierung der Empfindung macht Rothe offensichtlich mit der Auslöschung der Persönlichkeit ernst, die als ein unmittelbares Selbstbewußtsein interpretiert werden mußte, das ein Verhältnis des Denkens zum gefühlten Gegenstand ermöglicht. Die Empfindung als Weise der Erkenntnis, die unter der Herrschaft des Prinzipes der Materie möglich ist, gibt eine solche Distanzierung gerade nicht frei. Mangels der Persönlichkeit ist dem Menschen im Grunde jede Art von Selbstbeziehung, nämlich auch das individuelle Selbstgefühl, unmöglich geworden. Wir schalten nun, um den folgenden Schritt Rothes zu verstehen, eine Zwischenüberlegung ein: Auf den ersten Blick scheint der Sünder, der der Welt erkenntnismäßig lediglich in der Empfindung ausgesetzt ist, prädisponiert für die Weise der Einwohnung Gottes zu sein, die wir im vergangenen Kapitel als Ekstase beschrieben hatten. Für die Ekstase war keine andere Weise des Denkens nötig als eben das religiöse Gefühl, das noch dazu in dieser Ekstase einen - wie beschrieben - empfindungsartigen Zustand erreichte. Auf den zweiten Blick jedoch würde die Übersteigerung der sündigen Empfindung zur religiösen Ekstase keineswegs eine Aufhebung der Sünde und

427

Vgl. III,6

428

V g l . 111,6

Das Prinzip der Materie wird auf diese Weise nur negativ beschrieben. Es wird lediglich gesagt, daß mangels der Persönlichkeit universelles, wahrheitsfähiges Denken nicht möglich ist und es stattdessen zu individueller Erkenntnis kommt. Rothe bietet auch im Fortlauf keine positive Definition des Prinzipes der Materie als Organisationsprinzip der Welt. Uns jedoch wird sich eine solche Definition am Ende des 2.Teiles der Arbeit ergeben.

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also die Möglichkeit Theologischer Spekulation bedeuten, sondern im Gegenteil eine extreme Steigerung ihres sündhaften Charakters. Denn die Ekstase ist, so hatten wir gesehen, kein Rückfall des religiösen Gefühls in die Empfindung, sondern eine Überhöhung dieses Gefühls derart, daß die Persönlichkeit ihrer Macht über das Gefühlte beraubt wird. Trotz dieser Entsetzung der Persönlichkeit jedoch bleibt sie nicht nur einerseits die Voraussetzung des in die Ekstase gesteigerten Gefühls, sondern ist andererseits die conditio sine qua non dafür, daß das reine Sein zum Begriff spekulativen Denkens werden kann. Dazu kommt folgendes: Gefühle sind nach Rothe individuell und nicht wahrheitsfähig, weil sich das weltlich Gefühlte an der Unvollkommenheit der "materiellen Natur" des Menschen bricht. Wir hatten jedoch herausgefunden, daß der Mensch in der Ekstase jeder Weltbezogenheit enthoben ist, womit die ekstatische Empfindung des reinen Seins als universelle Empfindung insofern möglich wurde, als Gott mit der Mitteilung dieses reinen Seins jenseits der Sphäre von Raum und Zeit verstanden werden kann. Müssen wir nun davon ausgehen, daß das Prinzip der Materie so an die Stelle der Persönlichkeit getreten ist, daß diese in ihrer Verkehrung als schlechthin individualisiert gedacht werden muß, ist keine Distanzierung des Denkens von der Empfindung möglich. Anstelle dessen ist jedes Empfundene fundamental durch Raum und Zeit geprägt. Dieser Zusammenhang macht nicht nur eine Übersetzung des Empfundenen in den Begriff unmöglich, sondern bedeutet, daß das reine Sein überhaupt nicht als solches zur Geltung kommt. Die Intention Rothes, die Einwohnung Gottes über das Gefühl in toto denken zu können, die darin ihren Grund hat, daß der Mensch auf diese Weise im Unterschied zum Vollzug der Erkenntnis keiner Kategorien bedarf, wird zunichte gemacht durch die Prägung der Empfindung durch Raum und Zeit.429 Wegen Rothes Definition des Prinzipes der Materie muß also angenommen werden, daß jede Beeinflussung des Menschen über das Gefühl bzw. die Empfindung seinen sündhaften Charakter in Anspruch nimmt und also bestätigt. Erfolgt diese Inanspruchnahme nun außerdem durch Gott selbst, der im Normalfall der Spekulation das Gefühl in toto bestimmt, muß für den Fall der Abnormalität von einer ins Extreme gesteigerten Sünde ausgegangen werden.430 429

430

Rothe selbst bezeichnet (in anderem Zusammenhang) die "völlige Verkehrung des Gottesbewußtseins (als religiöses Gefühl ...) durch die es knechtende Empfindung" als "Schwärmerei" (111,65), wobei hiermit gewiß noch nicht einmal die Ekstase gemeint ist. Trotz seiner Definition der Sünde als Individualisierung der Persönlichkeit, die demzufolge auch lediglich individuelle Erkenntnis zuläßt, beschreibt Rothe das ganze System der Erkenntnisarten noch einmal in ihrer sündigen Variante. Er gesteht also

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einerseits folgendes zu: "Sofern daher in ihm [dem Menschen] die persönliche Bestimmtheit, wie dieß infolge der Sünde bei ihm der Fall ist ..., gestört ist, muH er unmittelbar mit seiner äußeren materiellen Natur in einen durchgreifenden Konflikt gerathen. > Sie ist für ihn nicht mehr absolut weder erkennbar noch bildbar. < Die an sich angelegte spezifische Korrespondenz zwischen beiden ist sonach durch die auf der Seite des Menschen mit seiner Sünde eingetretene Abnormalität des einen Verhältnißgliedes wesentlich gestört" (III, 23f. Der Satz in der Klammer ist eine Einfügung aus dem Handexemplar Rothes durch Holtzmann; vgl.III, VII). Andererseits jedoch führt diese Unfähigkeit des Menschen, die Welt zu erkennen und zu bilden, nicht einfach zu einer Auslöschung dieser Weise von Denken und Wollen, sondern zu ihrer Verkehrung. Es gibt also weiterhin Erkenntnis und Bildung, wenn auch auf abnorme Weise (vgl.III,30). Angenommen wird demzufolge auch weiterhin ein Entspringen der Persönlichkeit aus dem Bereich der Natur, was allerdings nur auf unvollkommene Weise geschieht. Es "tritt... die Persönlichkeit des Menschen überhaupt gar nicht mehr rein auseinander mit seiner materiellen Natur und dieser gegenüber, so daß die Persönlichkeit des Menschen auf seine materielle Natur gar nicht als eine rein von ihr losgelöste, sondern als eine selbst noch mit ihr versetzte wirkt" (111,19). Können wir dieses Versetztsein von Persönlichkeit und materieller Natur durchaus als eine Herrschaft des materiellen Prinzipes anstelle der Persönlichkeit interpretieren, so müssen doch Rothes Beschreibungen der Entwicklung der Menschheit kraft solcher Persönlichkeit verwundern (vgl. 111,74). Insgesamt läuft seine Argumentation darauf hinaus, an die Stelle eines ausschließlich individualisierten Denkens ein abnormes Denken zu setzen, dessen Abnormalität in einer individualisierten Universalität besteht. Diese contradictio in adiecto macht deutlich, daß Rothe sich scheute, die Konsequenzen aus seiner These der Ersetzung des Prinzipes der Persönlichkeit durch das Prinzip der Materie tatsächlich zu ziehen. Statt dessen wird eine Quasi-Persönlichkeit angenommen, die ihre Funktion in abgeschwächter Weise weiterhin vollzieht. Kraft einer solchen Persönlichkeit gibt es dann auch eine gewisse Religiosität des Sünders, die Rothe in ihrer "völlige[n] Verkehrung" als "die bloßen leeren Schemen und Schatten des Gottesbewußtseins und der Gottesthätigkeit" beschreibt, ja als "ihre bloßen Gespenster, die religiöse Formen mit nicht mehr menschlichem, d.i. mit animalischem Gehalt gefüllt" (III,65f.). Rothes Inkonsequenz hat ihren Grund sicherlich in der starken These der Individualisierung der Persönlichkeit, die nur noch individuelle Erkenntnis zuläßt. Ein Mensch jedoch, der sein Leben nur noch durch Empfindung und Trieb organisiert, sinkt auf die Stufe des Tieres zurück und ist also eines menschlichen Lebens überhaupt unfähig. Rothe nimmt darum in der Beschreibung des Lebens des Sünders seine These der Alteration der Persönlichkeit zurück in ihre mehr oder minder starke Verderbnis. Eine Mischung von materiellem Prinzip und Persönlichkeit zu einer verdorbenen Persönlichkeit ist aber (auch abgesehen von der Ignoranz der Transzendentalität der Persönlichkeit) nicht denkbar, weil die Persönlichkeit ja überhaupt nicht Etwas ist, also keine Größe mit einem Inhalt, der eine Mischung zuließe. Trotz der Abschwächung seiner eigenen These muß Rothe jedoch eine Konsequenz aus der Existenz des Sünders ziehen, die mit der unseren übereinstimmt. Eine Korrektur der Individualisierung menschlicher Erkenntnis kann nicht über eine Aktivie-

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Welche Konsequenz haben wir aus dieser Zwischenüberlegung zu ziehen? Soll die Sünde des Menschen aufgehoben werden, bedarf es einer Anregung derjenigen Weise des Denkens, die seine Universalisierung erlaubt und durch die wiederum eine erneute Konstituierung der Persönlichkeit möglich ist. Jede Anregung des Gefühls bzw. der Empfindung des Menschen hingegen würde - nimmt man Rothes Kategorien ernst - seinen sündigen Charakter lediglich bestätigen oder steigern. Denkbar ist eine solche Universalisierung, da das Prinzip der Materie - nicht ganz stringent - lediglich als Mangel beschrieben worden ist, anstelle der Persönlichkeit also keine positive Größe gedacht werden muß, die einer eigenen Technik der Beseitigung bedürfte. Wird dem Sünder die Möglichkeit universeller Erkenntnis geboten, müßte im Sinne Rothes ein erneutes "Entspringen" seiner Persönlichkeit angenommen werden können. Deutlich ist jedoch, daß das auf anthropologischer Ebene beschriebene schöpfungstheologisch organisierte Angebot der extramentalen Wirklichkeit für Erkenntnis und Bildung nicht ausreicht, um das universalisierende Denken des Menschen qua Erkenntnis und Bildung anzuregen. Aus diesem Grunde setzt Rothe zur Bekehrung des Sünders den Gedanken der Offenbarung ein und wir werden nun zu untersuchen haben, wie er diese Offenbarung definiert.431 1.3.3.2. Offenbarung Rothe versucht die Offenbarung Gottes in Jesus Christus mit einer reformatorischen Intention im Rahmen eines Geschichtsentwurfes zu denken, der dem der Spätphilosophie Schellings entspricht. Durch die Relation des Sünders auf den Zweiten Adam wird eine Befreiung von der Herrschaft des materiellen Prinzipes möglich, und der Mensch übernimmt wiederum seine Position als Mittler zwischen Gott und der durch die Materie geprägten Natur. Anders als bei Schelling wird jedoch die Relation auf Christus so gedacht, daß dieser das Subjekt der Erkenntnis wird, das den Menschen in heilsame Distanz zu sich selber bringt. Im Vergleich mit der Philosophie des Deutschen Idealismus muß dies als Ersetzung der (verdorbenen) Persönlichkeit des Menschen durch diejenige Jesu Christi gedacht werden.

Sucht man im Rahmen des Deutschen Idealismus nach einer Geschichtskonzeption, die deijenigen Rothes entspricht, stößt man auf die Philosophie Schellings, wie er sie in der Freiheitsschrift bzw. den Stuttgarter Privatvorlesungen vorgelegt hat. Nach den Stuttgarter Privatvorlesungen ist die Weltgeschichte in zwei große Epochen eingeteilt. Genauso wie nach Rothe ist dem Menschen mit sich selbst die Aufgabe gesetzt, die Natur aus ihrer materiellen Gebundenheit zu befreien, um sie auf diesem Wege zum Mate-

431

rung individueller Erkenntnis zustande kommen, insofern auf diese Weise die sündige Individualität des Menschen bestärkt würde. Vgl.III,123f.

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rial des Selbstbewußtseins Gottes zu bilden.432 Eschatologisch sind nach Schelling deswegen das Selbstbewußtsein der Menschheit und dasjenige Gottes identisch. Wie sich nach Rothe der Mensch dieser Aufgabe widersetzt, so ist auch nach Schelling die erste Epoche der Geschichte dadurch ausgezeichnet, daß der Mensch dem Prinzip der Materie über sich selbst Herrschaft gewährt. Schelling schreibt: "Sowie aber der Mensch, anstatt sein natürliches Leben dem göttlichen unterzuordnen, vielmehr in sich selbst das zur relativen Unthätigkeit bestimmte (das natürliche, eigene) Prinzip aktivirte - zur Thätigkeit erweckte -, war auch die Natur wegen des nun verfinsterten Verklärungspunkts genöthigt, eben dieses Prinzip in sich zu erwecken und nolens volens eine von der geistigen unabhängige Welt zu sein."433 Indem der Mensch das Prinzip seiner Bewußtwerdung durch sein natürliches Prinzip ersetzt, wendet sich mit ihm selbst auch die Natur zurück in sich selbst. Sie widersetzt sich somit ihrer Vergeistigung. Die Ähnlichkeit beider Entwürfe ist groß. An die Stelle des "Verklärungspunktes", der durch das natürliche Prinzip verfinstert ist, hat Rothe die Größe Persönlichkeit gesetzt, die beim Sünder durch das Prinzip der Materie ersetzt wird. Bei beiden Denkern tritt an die Stelle des Organisationsprinzipes ein materielles Prinzip, das die Entwicklung des Menschen zu sich selbst unterbricht. Ist es bei Schelling die Natur selbst, die sich daraufhin zu ihrem Ursprung zurück verbirgt, so verstellt nach Rothe der Mensch mittels dieses Prinzipes die Vergeistigung der Natur und bestimmt sie so gemäß ihrer Materialität. Auch nach Rothe ist die Natur durch die Bestimmung von Raum und Zeit per se in einer Verborgenheit gehalten, die sich der Vergeistigung widersetzt. Schelling redet in diesem Sinne von einer "verwischten Gesetzmäßigkeit" der Natur, 434 die genauso, wie wir es auch bei Rothe noch feststellen werden, die "Gegenwart des Bösen" mit sich bringt.435 Nach Schelling wie nach Rothe ist der Tod nichts anderes als die Konsequenz der Herrschaft dieses materiellen Prinzipes 436 Trotz dieser strukturellen Ähnlichkeit Schellings zu Rothes Spekulativer Ethik soll gleich an dieser Stelle auf einen entscheidenden Unterschied hingewiesen werden. Obwohl Rothe die Materie als Raum und Zeit definiert hat, ist sie doch an sich selbst nichts als ein Mangel, d.h.: ihr eignet kein positives Sein. Die Materie nach Schelling soll jedoch in dieser Konstellation als der dem Menschen entzogene, aber gehaltvolle Grund bzw. Ursprung seiner selbst verstanden werden, den Schelling als Wesen bezeichnet. Dieses Wesen, das, wie im 2.Teil gezeigt werden wird, von Schelling zugleich als Grund Gottes selbst verstanden werden soll, ist aller Zeit- und Räumlichkeit vorgelagert. Der Mensch hat demzufolge zwei Ursprünge. Er wird wohl von Gott geschaffen, aber aus einem Grund, der ihm wie auch Gott vorgängig ist. Da der Mensch nach Schelling genauso wenig wie nach Rothe in der Lage ist, die einmal eingeräumte Herrschaft der Materie über sich rückgängig zu machen, bedarf es der Offenbarung Gottes in Jesus Christus, die ihn in das rechte Verhältnis zu seinem materiellen Grunde derart setzt, daß er sich durch seine der Materie gegenüber hervortretende Ideellität in bezug auf sie zu rechtem Geistsein entwickeln kann. Schelling sagt: "Hier tritt also der Begriff von Offenbarung im engeren Sinn als philosophisch notwendiger ein." 437 In der Offenbarung nun wird der "zweite, und göttliche Mensch ... der Mittler zwischen Gott und dem Men432 433 434 435 436 437

Vgl. Schelling, VII,459f. Schelling, VII,458f. Schelling, VII,459 Schelling, VII,459 Vgl. Schelling, VII,459;vgl.III,20 Schelling, VII,463

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141

sehen".438 Der Zweite Adam wird somit zum Prinzip der zweiten Lebensperiode der Menschheit, die bis zu ihrer endgültigen Bewußtwerdung im Eschaton dauert. An dieser Stelle setzt Schelling seinen in der Einleitung bereits referierten Kirchenbegriff ein. Wie der Staat als Sündenordnung gilt, so die Kirche als die Ordnung der Frömmigkeit.

Die Einteilung der Geschichte der Menschheit in zwei Epochen beschreibt Rothe folgendermaßen: "Sie [die Schöpfung des Menschen] zerfallt in zwei große Stadien, von denen das zweite, in welchem sie sich vollendet, erst mit dem zweiten Adam anhebt".439 Dieser Zweite Adam ermöglicht "die Zustandebringung der Gesundheit der von dem Beginne ihrer Entwickelung an erkrankten menschlichen Persönlichkeit" auf folgende Weise: Da das Prinzip der Materie am Orte des reinen Selbstbewußtseins als Woher eines jeglichen Aktes von Denken und Wollen dem Menschen selbst entzogen ist, kann er aus sich selbst nicht zu einem Bewußtsein seiner Sünde gelangen. Jede Aktion seiner selbst ist zwangsläufig eine Betätigung seiner Sünde. Darum bedarf der Mensch einer Person, die ihm so entgegentritt, daß er durch sie in Distanz nicht nur zu seinem eigenen Denken und Wollen, sondern offensichtlich ebenso zu dem Grund seines Handeln gerät: "Also nur vermöge der Erkenntniß Gottes, nur vermöge eines reinen und kräftigen Gottesbewußtseins kann die sündige natürliche Menschheit zum Bewußtsein um die reine Idee der menschlichen Persönlichkeit und demnach auch zum wahren Bewußtsein um die Sünde als Sünde gelangen."440 Diese "empirisch[e]" Erkenntnis Gottes441 ist möglich in bezug auf Jesus Christus: "Eben weil in dem Zweiten Adam ein schlechthin reelles Sein Gottes stattfindet, ist in ihm und durch ihn für das durch ihn bestimmte menschliche Selbstbewußtsein überhaupt auch die Idee Gottes in absoluter Wahrheit und Richtigkeit gegeben; und eben weil in ihm Gott auf absolut reelle Weise menschliches Sein gewonnen hat, ist in ihm und durch ihn für das durch ihn bestimmte menschliche Selbstbewußtsein überhaupt auch die Idee des Menschlichen als solche in ihrer Reinheit und Wahrheit zutage gebracht."442 Mit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus wird dem Sünder eine Erkenntnis möglich, deren Subjekt er nicht selbst ist. Sofern der Mensch Subjekt

438 439 440 441

442

Schelling, VII,463 III,46f. 111,123 1,18 111,173 Rothe beschreibt ausführlich, unter welchen Bedingungen eine derart ausgezeichnete Entwicklung des Menschen Jesus von Nazareth zum Zweiten Adam möglich ist (vgl.III, 120CF.). Da seine Ausführungen für den Zusammenhang der Argumentation nicht von Bedeutung sind und sich außerdem partiell einer märchenhaften Erzählung nähern, bleiben sie hier unerörtert.

142

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aber durch seine Persönlichkeit ist (kraft derer aufgrund ihrer Verdorbenheit keine rechte Erkenntnis möglich ist), muß Rothe so interpretiert werden, daß das Denken des Menschen in bezug auf Christus sein Woher in diesem selbst hat. Christus muß dem Menschen als so nahegetreten verstanden werden, daß an die Stelle von des Menschen eigener Persönlichkeit diejenige Christi tritt. Dem Gedanken einer völligen Auslöschung der Eigenständigkeit des Menschen kann dadurch gewehrt werden, daß das ursprüngliche Woher von Denken und Wollen des Menschen ja keineswegs aufgehoben ist. Wir hatten oben ausgeführt, daß das Prinzip der Materie, welches die Persönlichkeit in ihrer Aktion außer Kraft setzt, den Ort der Persönlichkeit einnimmt, ohne ihn durch eine positive Gestalt zu verstellen. Wenn also der Mensch kraft der fremden Persönlichkeit Erkenntnis und Bildung auf rechte Weise vollzieht, kann die Persönlichkeit als deren Einheitspunkt erneut entspringend gedacht werden. Ein solcher Gedanke ist im Kontext selbtbewußtseinstheoretischer Erörterungen durchaus verblüffend. Jedoch ist er durch Rothes Konzept bereits insofern vorbereitet, als ja eingangs die Konstitution des Selbstbewußtseins des Menschen durch Gott selbst unternommen gedacht worden war und das Einsetzen der Persönlichkeit an diesem, dem Menschen gegenüber transzendentalen Ort, sekundär eingeführt wurde. Zwar wird Gott nicht wiederum an dem Ort der dem Menschen eigenen (verdorbenen) Persönlichkeit gedacht, wohl aber der Zweite Adam als des Menschen Gegenüber in der Funktion dieser Persönlichkeit. Es liegt nahe, als traditionellen Hintergrund einer solchen Argumentation, die den Schellingschen Rahmen logisch genauer zu gestalten versucht, Luthers Lehre vom Glauben zu vermuten, in dem der Mensch bei Gott in Distanz zu sich selbst gerät.443 Rothe versucht offensichtlich, dieses Theorem mit den Ar443

"Cognitio dei et hominis, ut referatur tandem ad deum iustificantem et hominem peccatorem, ut proprie sit subiectum Theologicae homo reus et perditus et deus iustificans vel salvator" (Luther, Enarratio Psalmi, 327f.). Nach Luther ist die rechte Selbsterkenntnis des Menschen, nämlich die Erkenntnis seines Sünderseins als Erkenntnis der Freiheit von der Sünde, möglich in der von Gott gewirkten Relation auf diesen als Deus iustificans vel salvator. Das Selbstverhältnis des Menschen ist demzufolge ein über Gott vermitteltes, in dem der Mensch sich von diesem Gott her besser zu verstehen in der Lage ist, als im Zustand der Selbstüberlassenheit bzw. im Gegenüber der Welt. Die Intention des Aufsatzes "Subjektivität und Glaube" von Dalferth liegt darin, den traditionellen Subjektivitätstheorien die Blindheit der Verquickung des Selbst- und Weltverhältnisses des Menschen mit dem reformatorisch statuierten Gottesverhältnis nachzuweisen (vgl. Dalferth, 41): "Wäre der theologische Ausgangspunkt [eines solchen Entwurfes wie z.B. desjenigen Schleiermachers, der die Subjektivitätstheorie wohl einem theologischen Gesamtentwurf zu integrieren sucht, in seinen Argumenten jedoch philosophischer Subjektivitätsthematik verhaftet bleibt] beim homo reus ac

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gumenten zu formulieren, die durch den Deutschen Idealismus seit Kant zur Verfügung gestellt waren. Deutlich ist jedoch durch die angeführten Textstellen, daß die stringente Formulierung einer solchen Argumentation nicht gelungen ist. Was sollen wir z.B. darunter verstehen, daß der Sünder "zum Bewußtsein um die reine Idee der menschlichen Persönlichkeit" gelangt, da nicht gemeint sein kann, daß die Persönlichkeit Jesu Christi Gegenstand der Erkenntnis des Sünders ist? Die Intention der Argumentation läuft jedoch darauf hinaus, daß der Mensch kraft der Persönlichkeit Jesu Christi seine eigene zurückgewinnt. 1.3.3.2.1. Jesus Christus als Objekt der Erkenntnis In Christus ist Gott dem Menschen "schlechthin reell" gegenwärtig. Die Erkenntnis Jesu Christi ist nicht an Raum und Zeit gebunden, weil sein Geistsein der Gegenstand der vernünftigen bzw. freien Erkenntnis des Menschen ist. Das Denken vollzieht sich in bezug auf ihn demzufolge sofort in der Kraft von Kategorien und muß als ein - sagen wir - extramentales Selbstbewußtsein verstanden werden. In der Erkenntnis Jesu Christi lernt der Mensch Gott und die Welt als Konstitutiva des eigenen Selbstbewußtseins kennen. An dieser Stelle hat der Begriff der Kirche seinen eigentlichen Ort. Der Vollzug "reiner" Frömmigkeit wird nun so bestimmt, daß die Relation des Sünders auf Christus ausschließ-

perditus et Deus iustificans vel salvator gewählt worden, hätte das Selbstverständnis des Menschen nicht über die (nichttheologisch erschlossene) Subjektivitätsstruktur als unmittelbar-selbstreflexive Erschlossenheit des Selbst als es selbst für sich expliziert werden können, in der es gerade in seiner Selbsttätigkeit seiner immer noch fundamentaleren 'Transzendenzabhängigkeit' einsichtig wird. Es wäre vielmehr als Selbstverständnis des - sich in seiner Selbsttätigkeit der Einsicht in seine Geschöpflichkeit gerade verschließenden - Geschöpfes zu entfalten gewesen, dem sich erst im Glauben, d.h. durch das Wirken des Geistes und insofern - unbeschadet seiner eigenen Aktivität - >passiv< und ausschließlich als von Gott her erschließt, daß es ab extra konstituiert ist... . Anders gesagt: Das menschliche Selbstverständnis hätte nicht zunächst nur coram mundo oder seipso, sondern von vornherein coram deo entfaltet werden müssen" (ebd.41). Lassen wir für unseren Zusammenhang dahingestellt sein, ob nicht Hegel bzw. der späte Schelling genau diese Thesen für das philosophische Denken fruchtbar zu machen suchten, so muß doch zumindest Rothe zugestanden werden, daß er es genau im Sinne Dalferths unternimmt, aufgrund des theologischen Verständnisses der Sünde das Scheitern aller Selbstbewußtseinstheorien zu erweisen, die die Konstitution der Subjektivität des Menschen ohne den rechtfertigenden Gott denken wollen. Rothe hat mit seinem Entwurf wohl deswegen so wenig Schule gemacht, weil er aus gezeigten und noch zu zeigenden Gründen zum Scheitern verurteilt war. Dennoch ist ihm gegenüber Dalferth zugute zu halten, daß er versucht hat, die theologische und die philosophische Sprache ineinander zu übersetzen. In bezug auf Dalferths Aufsatz hingegen scheint es so zu sein, daß hier zwei Sprachsysteme miteinander konfrontiert werden, so daß es bei einer Gegenüberstellung von Subjektivitätsphilosophie und dem Grundgedanken der Reformation bleibt.

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lieh religiöser Natur sein soll. Der Zweite Adam repräsentiert jedoch per defmitionem nichts anderes als die Welt. Das entspricht der Konzeption Rothes, der gemäß der Mensch Gott in jedem Falle nur als Welt erkennen kann. Eine reine Religiosität und damit die Möglichkeit der Kirche als ihre Institution ist also in jeder Hinsicht ausgeschlossen.

Bevor wir untersuchen, wie Rothe die Offenbarung in concreto denkt, in der Gott dem Menschen in der beschriebenen Weise nahetritt, muß geklärt werden, was denn der Sünder in Jesus Christus überhaupt zu erkennen vermag. Es ist dabei wichtig festzuhalten, daß Rothe die Offenbarung dem Menschen tatsächlich über die Erkenntnis vermittelt denkt, nicht über das Gefühl. Er erklärt ausdrücklich: Der Mensch erkennt in Jesus Christus sowohl die "Idee Gottes in absoluter Wahrheit und Richtigkeit" als auch die "Idee des Menschlichen". Was diese Ideen bedeuten, wird durch seine Definition des Zweiten Adam erklärt. Er ist derjenige, in dem "ein schlechthin reelles Sein Gottes stattfindet".444 Eine reelle Gemeinschaft von Gott und Mensch war als das Wesen der Frömmigkeit unter den Bedingungen der normalen Entwicklung des Menschen beschrieben worden. Sie ist der Vollzug des Selbstbewußtseins als Gottesbewußtsein. Aufgrund der Unmöglichkeit einer normalen Geschichte der Menschheit stellt Jesus Christus für Rothe demnach den einzigen Fall normaler Religiosität des Menschen dar. Ist daraus aber zu schließen, daß er auch den einzigen Fall einer normalen Entwicklung des Menschen repräsentiert? Der Mensch entwickelt sich nach Rothe normal, indem er mittels Erkenntnis und Bildung der extramentalen Welt sein Selbstbewußtsein ausbildet. Im Laufe der Geschichte jedoch, die dadurch charakterisiert ist, daß sich der Mensch in einer ihm äußerlichen Welt vorfindet, kann es immer nur zu partiellem Selbstbewußtsein und also zu einer partiellen Gemeinschaft von Gott und Mensch kommen. Gott aber soll nach Rothe im Zweiten Adam "schlechthin reell" gegenwärtig sein, wodurch die Voraussetzung gegeben ist, daß der Sünder "Gott" und das "Menschliche" auf rechte Weise zu erkennen in der Lage ist. Eine schlechthinige, also vollkommene Gemeinschaft von Gott und Mensch setzt aber voraus, daß diesem Menschen die ganze Welt qua Selbstbewußtsein immanent ist.445 444 445

111,173 Genau genommen setzt Rothe damit eine Doppelung der Welt. Denn es kann nicht davon ausgegangen werden, daß sich die dem Sünder äußere Welt durch die Offenbarung Gottes in Jesus Christus in dessen Selbstbewußtsein hinein aufhebt. Rothe hat dieses Problem gesehen (vgl.III,154,156) und versucht es dadurch zu umgehen, daß er die Präsenz der Welt in Jesus Christus als ihre "individuelle Formation" interpretiert (111,154). In bezug auf Christus muß deswegen Individualität neu definiert werden. Sie bedeutet hier nicht Unvollkommenheit, sondern das Herausgehobensein aller Weisen des Denkens des "Zweiten Adams" aus dem Kontext aller anderen Menschen

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Damit kommen wir auf neue Weise zu dem Gedanken der Prolepse der Geschichte des Menschen. In Jesus Christus ist der Erkenntnis des Sünders die ganze Welt in ihrer organisierten Fassung und d.h. wiederum frei von Raum und Zeit repräsentiert.446 Diese Weise der Allgegenwart kann auch unter "normalen" Bedingungen der Entwicklung des Menschen mit den erkenntnistheoretischen Mitteln Rothes nicht erklärt werden. Die Befreiung des ideellen Schemas von seiner Befangenheit durch Raum und Zeit hatte Rothe als die Potenzierung von Anschauungsformen zu Kategorien interpretiert. Indem das Denken über Kategorien verfugt, ist es fähig, sein Bewußtsein als Selbstbewußtsein zu vollziehen. Dieser Sachverhalt kann so interpretiert werden, daß der Mensch in der Beziehung auf Jesus Christus Erkenntnis als Selbstbewußtsein derart vollzieht, daß kraft dieses Selbstbewußtseins seine eigene Persönlichkeit 'gesundet'. Die vermittelte Doppelgliedrigkeit des Selbstbewußtseins bedeutet dann, daß ein Glied des Bewußtseins seiner selbst in der durch Christus repräsentierten Welt gegründet bleibt. An dieser Stelle wird die Annahme einer Persönlichkeit trotz der Möglichkeit des Vollzuges vermittelten Selbstbewußtseins sinnvoll. Der Mensch ist kraft seiner Persönlichkeit Subjekt seiner selbst, er bleibt jedoch um des zu vervollkommenden Gehaltes seines Selbstbewußtseins willen permanent bezogen auf den seiner Erkenntnis als Selbstbewußtsein vorausgesetzten Gottessohn.447 Daß Rothe eine solche Interpretation zuläßt, zeigen seine Erörterungen zum Verständnis Christi als "Centraiindividuum",448 die nichts anderes erklären wollen als eben den bleibenden Zusammenhang Christi mit den Menschen, die seine Offenbarung anerkannten. Er nennt Christus z.B. "den letzte[n] Alles

446

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derart, daß auch Erkenntnis und Bildung als individuelle bezeichnet werden müssen (vgl.III,154. Dog.II,176,165f.,168f). Dennoch ist nicht zu verstehen, daß es einem einzelnen Menschen möglich sein soll, im Laufe seines Lebens die ganze Welt zum Selbstbewußtsein zu bringen. Um den Gedankengang nicht unnötig zu unterbrechen, sei an dieser Stelle nur angemerkt, daß der ambivalente Gebrauch des Mikrokosmos-Begriffes durch Rothe hier sicherlich seine endgültige Klärung erfährt. Wie wir bereits in bezug auf verschiedene Argumentationsstrukturen herausgefunden haben, lösen sich auch die Widersprüche dieses Begriffes am ehesten im Rahmen der Christlich-theologischen Spekulation. Durch Christus also kann ein Mensch im Rahmen der Geschichte als Mikrokosmos verstanden werden, indem er zugleich Makrokosmos ist, denn Christus repräsentiert ja in seiner Person die gesamte organisierte Welt. Rothes Zeitgenossen, die Hörer seiner Vorlesungen und die, welchen von seinem Leben berichtet worden ist, bestätigen, daß "für Rothe [selbst] ... Christus der Inbegriff und Inhalt der gesammten Weltanschauung" gewesen ist (Seil, Rothe als Kirchenhistoriker, 22; vgl. Achelis, 405ff). Rothes Christologie ist darum als Versuch zu begreifen, die eigene, gelebte Frömmigkeit logisch zu explizieren. 11,147 u.ö.

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zusammenhaltende[n] Ring, in den alle übrigen sich einhängen" und er sagt dazu: "Denn in der einzelnen Individualität des zweiten Adams gehen die Individualitäten aller das ... Menschengeschlecht konstituirenden Einzelwesen unter sich zur einheitlichen Totalität Einer großen Gesammtperson zusammen, und in dieser in ihm schlechthin centralisirten Totalität hat dann eben der wirkliche Mensch sein reales Sein. Diese Totalität ist der wahre konkrete Mensch."449 Obwohl Rothe sich in bezug auf seine erkenntnistheoretischen Vorgaben recht allgemein ausdrückt, ist deutlich, daß das Selbstbewußtsein des auf Christus bezogenen Menschen trotz der Erhaltung seiner Persönlichkeit nicht mehr von diesem Zweiten Adam zu unterscheiden ist. In der Vollendung der Geschichte sind ihm "alle Einzelwesen der natürlichen Menschheit ... organisch angeeignet".450 Aufgrund der Möglichkeit der Selbstidentifizierung Gottes mit einer derart organisierten Welt, die als seine Menschwerdung interpretiert wird, ist diese besondere Erkenntnis der in Christus repräsentierten Welt zugleich die Erkenntnis Gottes,451 Das Gegebensein der Idee Gottes und des Menschlichen besagt also: In der Beziehung auf Jesus Christus ist der Sünder seiner eigenen (verderbten) Geschichte enthoben. Im Zweiten Adam wird alles dasjenige der Erkenntnis zugänglich, was unmittelbar zur Ausbildung des 'gesunden' Selbstbewußtseins fuhrt. Damit aber verändert sich das Verhältnis von Vernunft und Verstand. Um seiner eigenen Geschichte nicht völlig verloren zu gehen, muß der Konstitution des Selbstbewußtseins in bezug auf Jesus Christus ein erkenntnismäßig bestimmtes Verhältnis zu seiner Geschichte folgen. Erst auf diesem Wege wird die Wahrnehmung der Abnormalität dieser Geschichte möglich, die nach Rothe ihre 'Zurechtbringung' impliziert. Dem Menschen obliegt ja weiterhin die Organisation der Welt zum Zwecke der Einwohnung Gottes in sie.452 Dann aber gehen Vernunft und Freiheit qua Selbstbewußtsein Erkenntnis und Bildung voraus. Außerdem muß das Selbstbewußtsein als die Voraussetzung eines geheilten Gefühls gelten. Erst über dieses Selbstbewußtsein ist es also möglich, daß sich die verkehrte Empfindung der Welt zum Gefühl löst. Von daher wird es leichter erklärbar, wie die Welt als Gott erkannt werden kann. Es hatte sich für die normale Entwicklung des Menschen ergeben, daß Gott um der Religiosität der Welterkenntnis willen diese Erkenntnis bestimmen müßte. Das schien nicht nur als solches, sondern ebenso wegen der Prägung von Wahrnehmung und Reflexion durch Raum und Zeit undenkbar. Für den jetzigen Zusammenhang jedoch kann angenommen werden, daß der Mensch 449 450 451 452

111,155 111,156 Vgl.III,175f. Vgl.III,171ff.

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durch die Erkenntnis der Offenbarung Jesu Christi bereits derart mit dem Gedanken Gottes vertraut ist, daß er in der Welt wiederzuerkennen vermag, was er kraft seines Selbstbewußtseins bereits von Gott weiß. Die Erkenntnis der Welt als Erkenntnis Gottes ist demzufolge lediglich ein Wiedererkennen dieses Gottes. Genau genommen verändert sich für den christlich frommen Menschen demnach das Verhältnis von Erkenntnis und Spekulation. Sicherlich ist Rothe der Meinung, daß erst das durch die Erkenntnis gesättigte Selbstbewußtsein der Spekulation eigentlich fähig ist. Wenn aber die Heilung des Denkens des Menschen auf die beschriebene Weise gedacht werden muß, stehen dem Frommen lediglich durch seine Beziehung zu Christus alle Mittel der Spekulation zur Verfügung, ja, wir können davon ausgehen, daß die Erkenntnis Jesu Christi selbst der Vollzug der Spekulation ist. In diesem Zusammenhang ist auf die Kirche als Ort "reiner" Frömmigkeit zurückzukommen. Die reine Frömmigkeit war so bestimmt worden, daß sie sich frei von jeglichem Weltbezug zu vollziehen hat. Obwohl Rothe der Kirche im Rahmen der Frömmigkeit unter den Bedingungen der Normalität einen Ort einzuräumen gesucht hatte, mußten wir ihn schon bei der Diskussion der Möglichkeit einer solchen Frömmigkeit so interpretieren, daß als eigentlicher Ort der Kirche die christlich bestimmte, reine Frömmigkeit zu verstehen ist. Der Ort der reinen Frömmigkeit unter der Bedingung ihrer Christlichkeit wird von Rothe folgendermaßen bestimmt: Nach Rothe geht "die durch den Erlöser hervorgerufene neue Lebensentwickelung, mittelst welcher die Erlösung sich geschichtlich realisirt, primitiv von der religiösen Seite aus... und mithin [ist] das neue christliche Leben ursprünglich unter der religiösen Bestimmtheit gesetzt und sich seiner selbst zunächst nur nach seiner religiösen Seite wirklich bewußt".453 Kraft dieser Religiosität ist die ursprüngliche Gemeinschaft einer solchen Erlösung primär die Kirche. Von dem Ort dieser Kirche aus entwickelt sich das religiöse Leben nach und nach zum sittlichreligiösen, d.h. die Welt wird gemäß der christlichen Religiosität organisiert und so der Einwohnung Gottes in sie zugänglich gemacht. Mit dem Übergang der Religiosität zu religiösen Sittlichkeit aber enthebt sie sich nach und nach ihrer Reinheit, wobei die Institution der Kirche durch den christlichen Staat ersetzt wird.454 Ist eine solche Frömmigkeit denkbar? Jegliches Denken des Menschen und d.h. par excellence die Spekulation, ist dem Menschen im christlichen Kontext lediglich durch die Beziehung auf den durch die Offenbarung der Erkenntnis 453 454

111,179 Vgl.III,179ff.

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gesetzten Christus möglich. Damit ist aber entgegen Rothes Intention ausgeschlossen, daß sich "das neue christliche Leben ursprünglich ... nur nach seiner religiösen Seite wirklich bewußt" wird. 455 Durch die Allgemeinheit des Selbstbewußtseins Christi ist die Erkenntnis Gottes primär Welterkenntnis. Darin entspricht sie genau der Gotteserkenntnis unter den Bedingungen der Normalität, die darin besteht, daß die Welt als Gott verstanden werden soll. Rothe selbst sagt: "Eben infolge dieser absoluten Kongruenz des Göttlichen und des Menschlichen in dem Erlöser ist nun auch das von ihm in der Menschheit ausgehende neue Leben der Erlösung gleich wesentlich Beides ein ... sittliches und ein religiöses, wie dieß schon an sich im Begriffe der Normalität des menschlichen Lebens liegt."456 Nach dieser Äußerung ist also weder die von Christus ausgehende Beziehung des Menschen auf die Welt, noch seine Beziehung auf Christus selbst von reiner Religiosität, sondern immer mit der Sittlichkeit verbunden. Wegen der Konzeption Rothes, dergemäß die Relation zu Gott nichts anderes ist als die Relation auf die Welt unter einer besonderen Perspektive, ist eine reine Religiosität in jeder Hinsicht ausgeschlossen. Damit aber ist eine Priorität des Religiösen vor einer religiös-sittliche Beziehung auf die Welt in jeder Hinsicht aufgehoben und es ergibt sich, daß für den systematischen Zusammenhang Rothes die Annahme einer Kirche als Ort reiner Frömmigkeit überflüssig ist. In Relation auf den Zweiten Adam erkennt der Mensch die Welt, und es obliegt ihm in bezug auf die Welt diesseits der Offenbarung lediglich die Aufgabe, sie gemäß dem "Gesetz Christi" zu organisieren. Der Begriff einer reinen Frömmigkeit ist innerhalb Rothes System derart widersprüchlich formuliert, daß für sein Implikat, die Kirche, kein Ort gefunden werden kann. 1.3.3.2.2. Manifestation und Inspiration Rothe unterscheidet zwei Momente der Offenbarung: Die "Manifestation" ist die äußerliche Setzung eines Erkenntnisobjektes fur den Menschen. Sie muß jedoch wegen der sündhaften Störung seines Denkens und Wollens durch die "Inspiration " ergänzt werden. Ihre Funktion erhellt sich, verstehen wir das Verhältnis von Manifestation und Inspiration gemäß dem von Wahrnehmung und Reflexion. Die Inspiration hat demzufolge die der Wahrnehmung gegebenen Gehalte zu verknüpfen und also zur Erkenntnis zu bringen. Die Inspiration ist demnach eine Weise des Denkens, um deretwillen sich der Mensch nicht auf die extramentale Wirklichkeit überschreiten muß. Sie setzt lediglich eine gewisse "Empfänglichkeit" voraus. Wird die Inspiration beim Menschen direkt ausgelöst, kann die Weise der Rezeptivität seines Denkens nur als Gefühl interpretiert werden. Die Inspiration löst also nach Rothe (primär) lediglich ein Gottesgefühl aus, dessen Transformation zur denkenden Erkenntnis nur über die Manifestation, die ja die Erkenntnis anspricht, zustandekommend gedacht werden kann. Die Wirkung der Manifestation jedoch konkretisiert

455 456

111,179 111,173

Frömmigkeit

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Rothe innerhalb der Tugendlehre so, daß sie die gestörte Empfänglichkeit um der Möglichkeit der Inspiration willen zurechtbringen soll. Entsprechend der Inspiration nimmt sie Einßuß auf den Menschen, indem er um der Richtigstellung seiner Erkenntnismöglichkeit willen "berührt" wird. Die Wirkung Gottes auf den Menschen erfolgt demgemäß auch qua Manifestation über das Gefühl und Rothe muß so interpretiert werden, daß der Inhalt der Offenbarung dem Menschen nicht über die Manifestation zugänglich wird. Aufgrund der Sünde des Menschen ist der Zweite Adam der eigentliche Ort rechten Geistes, der wegen seiner Gottesrelation der Ort rechter Frömmigkeit und also Heiliger Geist ist. Kraft dieser Geistigkeit ist der Zweite Adam nicht an einen bestimmten Ort der Geschichte gebunden. Der Inhalt der Offenbarung wird dem Menschen darum durch Jesus Christus in der Weise der Inspiration über das Gefühl zugänglich gemacht. Daraus folgt: Inspiration und Manifestation nehmen den Menschen auf gleiche Weise nämlich über das Gefithl - in Anspruch. Außerdem hat die Manifestation nicht den Erkenntnisgehalt der Offenbarung zu liefern. Sie wird darum überflüssig. Damit geht aber nicht nur die Geschichtsbezogenheit der Offenbarung verloren. Indem der Sünder über das Gefithl angesprochen wird, wird seine Sünde bestätigt, und eine Transformation in die anderen Weisen des Denkens ist unmöglich.

Mit der Erörterung der Konsequenzen der Offenbarung haben wir den Stand unserer Argumentation übergriffen, und es ist darum notwendig, zum Ort der Offenbarung nach Rothe zurückzukehren und zu klären, auf welche Weise der Zweite Adam der Erkenntnis des Sünders gesetzt ist. Rothe unterscheidet in der Offenbarung zwei Momente: Die Offenbarung in der Weise der Setzung des Zweiten Adam als Erkenntnisobjekt für den Menschen nennt er "Manifestation".*51 "Dieß also ist es, worin die Offenbarung zu allererst bestehen wird: Gott tritt mittelst einer unzweideutig übernatürlichen, eigenthümlich göttlichen Geschichte selbst als handelnde Person ein in die natürliche Geschichte und stellt sich damit dem Menschen in solche Nähe, daß er auch dem durch die Sünde verdunkelten Auge desselben evident werden kann."458 Die Offenbarung ist also (primär) die "äußere... Kundgebung Gottes für den Menschen"459 und Rothe nennt sie deswegen "primitiv Geschichtsthatsache, Geschichte. "460 Seine besondere Leuchtkraft hat der Zweite Adam für den Menschen offenkundig durch die Übernatürlichkeit seiner Geschichte, die wir darin zu finden haben, daß in diesem Menschen mit der ganzen Welt Gott präsent ist. Wie aber - so müssen wir fragen - gelingt es dem Sünder überhaupt, diese Übernatürlichkeit auch nur wahrzunehmen, da ihm einerseits (in Ernstnahme der Konsequenzen des Rotheschen Sündenbegriffes) jede aktive Beziehung auf ein extramentales Objekt überhaupt unmöglich ist oder andererseits durch die ver-

457

111,125

458

Zur Dog.68

459

111,124

460

111,125

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derbte Wahrnehmung der Welt461 dieser Zweite Adam dem Sünder nicht als der, der er ist, entgegenzutreten vermag (sondern wohl lediglich als ein natürlich begrenzter Mensch unter anderen)? Rothe hat darauf eine Antwort, die das zweite Moment der Offenbarung ergibt: Wenn die Offenbarung als Manifestation an dem Sünder "nicht wirkungslos vorübergehen" soll,462 bedarf es außerdem der "Inspiration",463 Er fuhrt aus: "Soll demnach eine solche richtige Auffassung der göttlichen Manifestation von Seiten des Menschen, an welchen sie ergeht, wie sie die Bedingung der wirklichen Gottesoffenbarung ist, zustande kommen, so ist dieß dadurch bedingt, daß der äußeren Kundgebung auch noch eine innere unmittelbare oder übernatürliche Einwirkung Gottes auf das Selbstbewußtsein464 Desjenigen, welchem die Manifestation zutheil wird, hinzutrete, kraft welcher es sich in seiner Richtung auf diese richtig zu vollziehen und somit eine richtige Gotteserkenntniß zu erzeugen vermag . .. -, also eine innere göttliche Erleuchtung vermöge einer unmittelbaren Gedankenerweckung bei der Aufnahme der äußeren geschichtsmäßigen Kundgebung zum Behufe ihres richtigen Verständnisses."465 Offenkundig meint Rothe, daß Manifestation und Inspiration das Verhältnis von "Wahrnehmung"466 und Reflexion konstituieren. In bezug auf die Wahrnehmung wird das besonders deutlich, indem er im Zusammenhang der Relation des Sünders auf die Manifestation wiederum auf den Glauben zu sprechen kommt. Wie unter den Bedingungen der normalen Entwicklung der Menschheit die religiös-sittliche Wahrnehmung der Welt als Glaube interpretiert werden konnte, so bestimmt Rothe nun konsequent die Beziehung des Sünders auf den Zweiten Adam als Glaube.467 461 462 463 464

465 466 467

Vgl.11,125 111,125 111,126 Es ist möglich, daß Rothe vom III.Band der Ethik an, der ja noch in der Fassung der 1. Auflage vorliegt, den Begriff des Selbstbewußtseins sehr frei verwendet und darunter alle Formen des Denkens integriert, also auch diejenigen, die bisher unter den terminus des Bewußtseins gefallen sind. Ausgeschlossen ist jedenfalls sowohl, daß mit Selbstbewußtsein das vermittelte Selbstbewußtsein qua Vernunft und Freiheit gemeint ist, als auch das unvermittelte qua Persönlichkeit bzw. das Prinzip der Materie anstelle der Persönlichkeit. Der Grund dafür ist, daß Rothe selbst den Bereich des Selbstbewußtseins als von jeder äußerlichen Beeinflussung frei definiert hat. III,125f. 111,304. Zur Dog.69 Deutlich wird an dieser Stelle, daß Rothe sich müht, die traditionellen Dogmen auf "spekulative" Weise zu reformieren und d.h. z.T. zu rechtfertigen. Die Pointe seiner Interpretation des Glaubens ist es nämlich, die "Rechtfertigung des sündigen Menschen ... durch den Glauben" deduziert zu haben (111,313). Daß Rothe auf spekulativem Wege zu traditionell kirchlichen Dogmen zu gelangen behauptet, spricht übri-

Frömmigkeit

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Nach Rothe vermag der Sünder es wohl, sich auf ein Erkenntnisobjekt zu beziehen, er ist jedoch nicht in der Lage zu verstehen, worauf er sich bezieht. Der Vorgang von Analyse und Synthese bedarf demnach einer Unterstützung, die Rothe wie zitiert "Gedankenerweckung" nennt, aber auch "Verknüpfung" vorhandener Gedanken zu einem wesentlich neuen.468 Er fuhrt aus, daß Gott "bei der Auslegung, die er durch Inspiration von der jedesmaligen Manifestation gibt, im Bewußtsein des Inspirirten das Verständnis derselben nur insoweit erzeugen [kann], als in ihm die einzelnen Elemente sich vorfinden, durch deren unmittelbare Verknüpfung diejenigen Vorstellungen sich hervorrufen lassen, welche jenes Verständniß constituiren."469 Damit kann es keine Inspiration ohne Manifestation geben. Die Manifestation ist der "Anknüpfungspunkt"470 für die Inspiration. Ohne die Inspiration hingegen wäre die Manifestation ein "wirkungsloses Wetterleuchten",471 wohl weil eben auf die Wahrnehmung keine Reflexion folgen könnte. D.h. andererseits: "Ohne den Dazwischentritt eines solchen äußeren Vermittelungsmittels wie die Manifestation würde die Inspiration ein magischer Hergang sein. Weßhalb denn eine Inspiration ohne irgend eine Beziehung auf eine göttliche Manifestation ein Unding ist und unmöglich. "472 Obwohl die Manifestation die Voraussetzung der Inspiration ist, entscheidet sich erst durch die Inspiration, ob und in welcher Weise die Manifestation für den Menschen Bedeutung haben kann. Wie aber kann eine "innere göttliche Erleuchtung" unter den Voraussetzungen des Erkenntnisapparates des Menschen als möglich gedacht werden? Ein Weg der Interpretation könnte sein, daß Rothe die Erkenntnis der Welt unter den Bedingungen der Normalität als Erkenntnis Gottes verstand, die durch eine "Bestimmung" dieser Erkenntnis durch Gott selbst ermöglicht war. Es ist aber nicht deutlich geworden, wie diese Bestimmung in concreto zu denken ist. Zum anderen liegt mit der Inspiration ohnehin ein strukturell anderes Verhältnis Gottes zur Erkenntnis vor, sofern bei der Erkenntnis der Welt als Gott durch diesen keineswegs bestimmt wurde, was der Mensch (in Wahrnehmung und Reflexion) zu erkennen hat, sondern nur, als was er es zu verstehen hat (nämlich die Welt als Gott).

468 469 470 471 472

gens nicht per se gegen die spekulative Methode (so z.B. Birkner, 29). In den Dogmen drücken sich nach Rothe durchaus Wahrheiten des Christentums aus. Die Spekulation erlaubt es jedoch, sowohl die wahren von den zeitlich überholten zu befreien, als auch jene in ihrer Wahrheit zum Leuchten zu bringen. Vgl.III, 127 Zur Dog.73 111,126 Zur Dog.68 111,126

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Einen Hinweis auf eine andere Möglichkeit die Inspiration zu denken, wird durch folgende Erklärung geboten: "Denn indem diese ... [die Manifestation] im Menschen das Gottesbewußtsein durch einen eigenthümlich verstärkten äußeren Reiz sollicitirt, hat sie nach dem einfachen psychologischen Kausalgesetze in der Seele desselben eine eigenthümliche religiöse Erregtheit zur Folge und somit die specifische subjektive Empfänglichkeit desselben für die innere Einwirkung Gottes [Inspiration]."473 Wohl bestimmt einerseits die Inspiration die Weise der Bedeutung, welche die Manifestation für den Menschen zu haben vermag, andererseits aber bestimmt offensichtlich die Manifestation, in welcher Weise der Mensch überhaupt inspiriert werden kann. Eine Beeinflussung des Menschen durch die Inspiration setzt demzufolge eine Erregung voraus, die durch die Inspiration angesprochen und auf ihre Weise aufgenommen wird. Die Weise des Denkens aber, die eine Erregung hervorruft bzw. sich kraft einer Erregung vollzieht, ist nach Rothe das Gefühl.474 Das Gefühl ist diejenige Weise des Denkens, die ohne Selbstranszendenz möglich ist. Es erlaubt eine "unmittelbare ... Einwirkung" auf das Denken. Die Inspiration muß darum als eine besondere Weise des Gottesgefühls verstanden werden. Diese Interpretation stützt sich auf folgende Darlegung Rothes: "Die Inspiration modificirt sich verschiedentlich, jenachdem sie in dem Menschen die Erkenntniß, welche sie ihm übernatürlich mittheilt, entweder unter der individuellen Form oder unter der universellen erzeugt, entweder als Ahnung oder als Wissen (Gedanke)".475 Das Verhältnis von Ahnung und Wissen wird noch genauer bestimmt: "Denn die göttliche Offenbarung, welche die Frömmigkeit im Menschen entzündet, trifft, dem allgemeinen psychologischen Gesetze zufolge, in ihrer Richtung auf sein Bewußtsein dieses am unmittelbarsten als individuell bestimmtes, d.i. als Gefühl, weil diese Form desselben eben die unmittelbarste ist. Der Eindruck der göttlichen Offenbarung auf das religiöse Gefühl, die eigenthümliche Bestimmtheit des religiösen Gefühls durch die göttliche Offenbarung - das ist die ursprüngliche Erscheinungsform des frommen Bewußtseins, - darum aber auch die eigentliche Wurzel aller religiösen Vorstellungen und Begriffe, die nichts Anderes beabsichtigen, als jene spezifische Bestimmtheit des frommen Gefühls im Elemente des Verstandes getreu nachzubilden."476 Müssen wir also annehmen, daß sich die Inspiration dem Menschen als Gefühl mitteilt, ergibt sich die Frage, auf welchem Wege das Gefühl in die Erkenntnis transponierbar ist. Innerhalb der Inspiration als Gefühl selbst gibt es, 473 474 475 476

111,126 Vgl.II,175f. 111,126 Zur Dog.43

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da kein Weg vom Gefühl zur Erkenntnis möglich ist, keine Möglichkeit, den Bereich des Gefühls zu überschreiten. Also haben wir davon auszugehen, daß es zu einer Universalisierung des Gefühls durch die Manifestation kommen muß, sofern diese ja als äußerliche "Geschichtsthatsache" der Erkenntnis gesetzt ist. Da die Sprache in den Bereich der Inspiration gehört, sei jedoch, bevor wir uns erneut der Manifestation zuwenden, die Modifikation der Sprache unter den Bedingungen der Offenbarung Jesu Christi diskutiert. Nach Rothe ist die religiöse Sprache das Ergebnis der universalisierten Inspiration. Das ist einleuchtend, weil die Sprache ursprünglich als Ergebnis der Erkenntnis verstanden worden war, die sowohl eine Antwort auf die Wahrnehmung wie auf die Reflexion sein kann. Mußten wir für die unterbestimmte Theologische Spekulation resümieren, daß die Sprache lediglich auf den Bereich der Wahrnehmung beschränkt blieb, so ergibt sich die Sprache für die christliche Erkenntnis offensichtlich am Ort der Reflexion. Eine solche Sprache ist wiederum "Weissagung".477 Rothe sagt: "Die durch die Inspiration gewirkte göttliche Erleuchtung kann sich ja gar nicht anders darstellen als durch die Weissagung, welche das Wort Gottes ausspricht, und ist ihrem Begriffe zufolge wesentlich von ihr begleitet".478 Eine unausgesprochene Voraussetzung ist dabei, daß die Kombination aus Erkenntnis und Spekulation, die sich aus der Relation des Menschen auf Christus ergibt, die Ausprägung der Vorstellungen zuläßt, die ja als Medium der Sprache verstanden werden sollten. Hinzu kommt in diesem Rahmen, daß diese Vorstellungen frei von der Anschauungsform Raum und Zeit sind. Darum ist anzunehmen, daß die Vermischung von Theosophie und Spekulation, die unabhängig von der Offenbarung keinen rechten Sinn hatte, hier ihren eigentlichen Ort hat. Wie die Relation auf Christus sowohl Erkenntnis als auch Spekulation ist, so kann sie sprachlich genannt werden, obwohl sie der Wahrnehmung (als Relation auf Anschauungsformen) nicht zu ihrer Voraussetzung bedarf. Wenngleich Rothe die Möglichkeit der Sprache unter den Bedingungen der Offenbarung keineswegs explizit erörtert, machen seine Hinweise deutlich, daß er sich der Eigentümlichkeit dieser Sprache im Zusammenhang einer quasi spekulativen Beziehung auf den Zweiten Adam durchaus bewußt war. Nicht nur nennt er die bildende Entsprechung zu dieser Sprache "Wunder",479 er ordnet sie außerdem ein in einen größeren Zusammenhang: "Der Begriff des Weissagens ist hier im engeren Sinne zu nehmen. Das Weissagen durch Inspiration, von welchem hier allein die Rede ist, fällt allerdings wesentlich unter

477 478 479

111,129 111,130 111,129

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den oben ... erörterten allgemeinen Begriff des Weissagens; aber es erschöpft ihn für sich allein noch nicht. Keineswegs ist etwa jedes Weissagen ein Weissagen aus Inspiration."480 Die religiöse Sprache unter der Bedingung der Offenbarung wird in den Kontext eingefugt, der durch die normale Religiosität vorgegeben ist. Gesagt werden soll offensichtlich, daß durch die Entwicklung der Menschheit von ihrer abnormalen Geschichte hin zu einer normalen wiederum eine religiöse Erkenntnis der Welt möglich wird, welche die Welt als Gott versteht und ausspricht. Darum gilt: "Die heil. Schrift ist auf eine specifische Weise Wort Gottes; aber sie ist es nicht ausschließend, und dasselbe ist mit ihr noch nicht abgeschlossen, sondern es setzt sich auf ihrer Basis immer noch weiter fort." 481 Wie ist dann das Verhältnis des inspirierten Wortes zu den Weissagungen zu verstehen, die durch eine religiöse Erkenntnis der Welt zustande kommen? Die religiöse Sprache unter den Bedingungen der Normalität war lediglich als Ergebnis der Wahrnehmung verstanden worden, insofern sich das Wahrgenommene nicht in die Reflexion übersetzen ließ. Das wird auch im Rahmen der faktischen Möglichkeit religiöser Sprache bestätigt, indem die Sprache als Ergebnis der Reflexion einen von der Wahrnehmung unterschiedenen Grund hat. Damit ergibt sich aber eine Zweigleisigkeit religiöser Sprache, welche die Unübersetzbarkeit der einen in die andere zur Folge hat. Gegen Rothes Intention kann darum der Niederschlag der inspirierten Sprache nicht als Maßstab für die Sprache gelten, die das Ergebnis des Weissagens im weiteren Sinn ist. Denn, wenn dieses Weissagen auf der Ebene der Wahrnehmung verharrt, bleibt es einerseits vorreflexiv und andererseits durch Raum und Zeit geprägt. Seine Gehalte, die sachlich die gleichen sein müßten, wie diejenigen der Christlichen Spekulation, bleiben für diese unerkennbar. Erschwerend kommt außerdem hinzu, daß die Heilige Schrift nach Rothe keineswegs als solche Ausdruck inspirierter Sprache ist, sondern nur so, "daß individuelles und universales Erkennen, religiöses Ahnen und Anschauen und religiöses Denken und Vorstellen, religiöses Gefühl und religiöser Verstand noch auf das innigste ineinander verschlungen und verwachsen sind."482 Damit kann die Heilige Schrift nicht als solche Maßstab sein. Indem in ihr offensichtlich eine Mischung inspirierter Weissagung mit einer Weissagung im weiteren Sinne vorliegt, die gemäß Rothes Voraussetzungen auch noch durch die Sünde beeinflußt sein muß, kann die Heilige Schrift Maßstab nur insofern sein, als sie durch die inspirierte Spekulation auf ihren eigentlichen Gehalt hin geläutert wird. Damit scheidet sie jedoch als echter Maßstab aus.

480 481 482

111,131 11,185 111,294

Frömmigkeit

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Rothe versucht auf diesem Wege, die Bedeutung der Schrift zu wahren, obwohl sie nicht in spekulativer Sprache von Gottes Offenbarung spricht. Das reine Wort, das diese ihm gegenüber minderwertigen Weisen des Denkens verstellen, soll in dieser Verbergung bewahrt werden. Gesagt ist so aber zugleich, daß es die eigentlich erkennend spekulative Sprache in bezug auf den Zweiten Adam nachweislich noch nie gegeben hat und ihre minderwertigen Fassungen durch eine offensichtlich unvollständige, nicht ganz richtige Beziehung zu ihm zustande gekommen sind. Dennoch ist es Rothes Absicht, das Denken, das sich in Relation auf den Zweiten Adam ergibt, Maßstab für das Denken sein zu lassen, welches der fromme Denker demgegenüber selbständig entwickelt. Wir sind eben davon ausgegangen, daß diese beiden Weisen des Denkens, die miteinander verglichen werden müssen, das spekulative Denken in bezug auf die Offenbarung und das religiös-sittliche Denken, das die Welt zu organisieren hat, sind. Rothe aber definiert diese Weisen des Denkens noch einmal anders, indem er sagt: Es "steht die heilige Schrift der spekulativen Theologie, wenigstens als der evangelischen, mit der ihr eigentümlichen Auktorität gegenüber. Auch fur sie, wie für alle theologische Gedankenbildung überhaupt ist die Bibel, (unmittelbar das N.T., mittelbar aber auch das A T.,) als die Urkunde über die göttliche Offenbarung, und damit zugleich der historisch authentische Ausdruck des ursprünglichen christlichen Bewußtseins in seiner Reinheit und Fülle, der unabweisliche Kanon. Mit ihr darf sie in ihren Resultaten nie in wirkliche Disharmonie gerathen."483 So wird aber nicht die spekulative Erkenntnis Jesu Christi mit der Welterkenntnis verglichen, sondern im Unterschied dazu die Christlichtheologische Spekulation mit der Bibel. Am nächsten kommen wir Rothes Intention wahrscheinlich, wenn wir annehmen, daß die Spekulation in Relation auf den Zweiten Adam mit der Mischung aus Inspiration und Glaube verglichen werden soll, welche die Heilige Schrift darstellt. Dieser Gedanke jedoch bringt das Scheitern dieses Maßstabes auf den Punkt. Die inspirierte Spekulation muß in bezug auf die Heilige Schrift die echte Erkenntnis von der sündhaften unterscheiden können, um sich daran zu kritisieren. Sie stellt jedoch - nach Rothe - diesen Maßstab selber dar. Wenn die Heilige Schrift aber nicht als solche Maßstab sein kann, könnte Rothe meinen, daß die Spekulation in bezug auf Christus mit derjenigen verglichen werden muß, die sich seiner Meinung nach durch die religiös bestimmte, erkenntnismäßige Beziehung des Menschen auf die Welt im Laufe der Geschichte entwickeln müßte. Demnach muß derjenigen Spekulation, die sich als Ergebnis der normalisierten Geschichte der Menschheit ergeben kann, (in an483

1,50

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derer Weise) diejenige vorausgehen, die als Ergebnis von Inspiration und Manifestation zu gelten hat. Wenn aber die Übersetzung der religiösen Wahrnehmung in die Reflexion unmöglich ist, ergibt sich genau genommen keine Spekulation, für welche die - sagen wir - Christologische Spekulation Maßstab sein kann. Eine Kompatibilität der verschiedenen Weisen religiösen Denkens bzw. der Frömmigkeit ist damit ausgeschlossen. Nach Rothe wird die Christologische Spekulation ermöglicht durch die Erhöhung des Zweiten Adam. Denn: "Vermöge seiner Erhöhung in den Himmel ist er über jede Schranke, die seiner Einwirkung auf die natürliche Menschheit in allen ihren Individuen entgegentreten könnte, hinausgehoben."484 Mit der Möglichkeit eines solchen Hinausgehobenseins kommt Rothe wieder auf den Geistgedanken zurück, den wir in bezug auf die normale Entwicklung der Menschheit bereits definiert hatten und der seinen eigentlichen Sitz im Kontext der Christologie hat. Aufgrund der faktischen Abnormalität der Entwicklung der Menschheit kommt es allein dem Zweiten Adam zu, seinen Verstand zum Geist zu qualifizieren, der kraft seines Verhältnisses zu Gott Heiliger Geist ist. Dieser Heilige Geist wird in bezug auf Christus genauso wie in bezug auf die Menschheit, weil er reelles Sein ist, als die Weise verstanden, in welcher der Mensch das irdische Leben überdauert. In bezug auf die zu erlösende Menschheit wird der Heilige Geist in dieser Weise das Mittel, mit dem sich der erhöhte Christus in Beziehung zum Sünder zu setzen vermag: Rothe setzt den angeführten Satz darum fort, indem er sagt: "Ein schlechthin geeignetes Werkzeug für eine solche Einwirkung hat er aber an seinem vergeistigten Naturorganismus oder beseelten Leibe, d.h. an dem 'heiligen Geist'".485 Wie aber - und damit nehmen wir unseren Argumentationsfaden wieder auf - ist in einem solchen Verhältnis die Manifestation zu denken, die mittels der Inspiration die Erkenntnis des Menschen anregen soll? Durch den erhöhten Christus wird dem Sünder die zu denkende Welt offensichtlich in der Weise des Heiligen Geistes angeboten. Die Antwort auf dieses Angebot nennt Rothe - wie bereits erwähnt - "Glauben".486 Wir haben darum das Verhältnis dieses Heiligen Geistes zur Manifestation als Geschichtstatsache zu untersuchen. Rothe verwendet für die Beschreibung der Manifestation im Rahmen der Tugendlehre termini der lutherischen Orthodoxie. Der Sinn der Manifestation wird hier begründet dadurch, daß des Menschen natürliche "Empfänglichkeit" gestört sei,487 Die Empfänglichkeit des Menschen für das, was Gott ihm mitzuteilen hat, muß deswegen durch Gott selbst hervorgerufen werden und 484 485 486 487

111,156 111,156 111,164 Vgl.111,302

Frömmigkeit

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besteht in nichts anderem als der Offenbarung Gottes qua Manifestation.488 Dabei unterscheidet Rothe zwischen der Manifestation und der Einwirkung Gottes auf den Menschen als Heiliger Geist: "Dieser Fall nun [nämlich das Hervorrufen der Empfänglichkeit] findet statt, wenn die göttliche Gnade von außenher, und lediglich von außenher auf das natürlich sündige Individuum ... einwirkt, folglich unmittelbar gar nicht als göttliche Gnade, d.i. als Einwirkung des 'heiligen Geistes', sondern von außenher in das Selbstbewußtsein fallende (als äußerlich wahrnehmbare) Thatsache oder Erscheinung, d.h. als Offenbarung".489 Eine derartige Manifestation bezeichnet Rothe als "vorbereitende... Gnade"*90 die er durch einen Verweis auf die Konkordienformel mit der "capacitas mere passiva" identifiziert,491 Es wäre jedoch verfehlt anzunehmen, daß die Manifestation auf diese Weise Erkenntnis wirkt. Die Folge ist vielmehr "eine specifische Aufhellung und Reinigung, eben damit aber unmittelbar zugleich auch Verstärkung seines durch die Sünde verdunkelten Gottesbewußtseins, Beides, zunächst wie es religiöses Gefühl, dann aber auch wie es religiöser Sinn oder resp. Verstand ist, - die Entstehung der Gottesfurcht im engeren Sinne des Wortes in ihm."492 Den Begriff der "Gottesfurcht" hatte Rothe im Zusammenhang der Bestimmung der Sünde definiert. Demgemäß ist die Gottesfurcht nichts anderes als die Antwort des Sünders auf die Einwirkung Gottes auf den Verstandessinn. Diese Einwirkung bringt keine Erkenntnis Gottes zustande, sondern stößt vielmehr den auf Erkenntnis Zielenden von sich ab. 493

Wir können aus dem Verständnis der Wirkung als Gottesfurcht schließen, daß es trotz der Wahrnehmung Jesu Christi nicht zu religiöser Erkenntnis kommt.494 Darum kann auch das Gefühl nicht auf eine Weise "erregt" werden, daß es zu einer gefühlsmäßigen Erkenntnis kommt. Die Annahme jedoch, daß dies nicht der Fall ist, weil die Manifestation eben nicht dem Gefühl, sondern der Erkenntnis gesetzt ist - wie gerade gezeigt - nicht haltbar. Das religiöse Gefühl wird nicht nur auf dieselbe Weise angesprochen wie die Erkenntnis. Aus dem "zunächst" in dem zitierten Satz geht außerdem hervor, daß die 488 489 490

491 492 493 494

Vgl.III,302f. 111,302 111,303 Den Spätgeborenen widerfahrt diese Manifestation durch die "Kunde" vom Zweiten Adam (vgl.III, 303). 111,303 ;vgl.FC/SDII,23 BSLK 881,7ff.; Brenz, 344f. Hutter, 345 (nach Schmid) 111,304 Vgl.III,30 Dieses Ergebnis stimmt mit unserer Beschreibung der religiösen Sprache unter den Bedingungen der Normalität überein, die ihre Pointe ebenfalls darin hatte, daß die Ereignisse der Wahrnehmung nicht reflexiv angeeignet werden können.

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Der Mensch als Subjekt der Spekulation

Manifestation das menschliche Denken primär gefühlsmäßig anspricht. Rothe macht das durch die Definition der Wirkung der Manifestation als capacitas mere passiva deutlich. Bewirkt wird also weder eine Erkenntnis noch die Möglichkeit der Transzendenz des Denkens auf ein transmentales Objekt, sondern lediglich die rechte Passivität bzw. Rezeptivität (d.h. Aufhellung und "Reinigung"), die notwendig für ein rechtes Gottesgefühl ist.495 Daß Rothe tatsächlich der Meinung ist, eine solche capacitas könne nur durch die Inanspruchnahme des Gefühls hervorgerufen werden, zeigt die folgende Konkretion der Wirkungsweise der Manifestation: "Demzufolge muß der Ausgangspunkt des Heiles oder der subjektiven Aneignung der objektiven Erlösung gedacht werden als ein solcher Moment, in welchem die göttliche Gnade das für sie noch unempfängliche menschliche Individuum in der Weise berührt, daß in ihm durch diese Berührung, ohne daß sie bei ihm schon irgend eine wirkliche Empfänglichkeit für die göttliche Gnade vorausgesetzt werden darf, eben diese Empfänglichkeit hervorgerufen werden kann. "496 Das verderbte Gefühlsvermögen wird demnach zum rechten Gefühlsvermögen durch die "Berührung" korrigiert, die von der Manifestation her auf das sündige Individuum ausgeht, und, indem von diesem gerade keine Beziehung auf ein Erkenntnisobjekt gefordert wird, als Gefühl interpretiert werden muß. Damit ist die These, daß der Sünder zu jeder Erkenntnis unfähig sei, belegt. Die Offenbarung als rein äußerliche Geschichtstatsache reicht keineswegs aus, die Transzendenzfähigkeit des Menschen zu mobilisieren. An dieser Stelle begnügen wir uns damit, aus Rothes Vorgehen folgende Konsequenz zu ziehen: Trotz der "Kunde" vom Zweiten Adam hat die Manifestation nicht den Sinn, die Erkenntnis des Menschen zu füllen, sondern sie dient als "vorbereitende Gnade" lediglich einer Richtigstellung seiner Erkenntnisbedingungen, die durch eine Inanspruchnahme seines Gefühls zustande kommen soll. Wenn aber die Manifestation dem Menschen kein Objekt der Erkenntnis liefert, von woher kommt ihm dann der Gehalt seiner Erkenntnis zu? Mit dieser Frage wenden wir uns wiederum dem Verständnis der Inspiration zu. Sie nimmt nach Rothe die durch die Manifestation verursachte Erregung des Gefühls auf. Was aber bedeutet nun Gedankenverknüpfung bzw. Erwekkung, wenn durch die Manifestation kein zu reflektierender Gehalt gegeben 495

496

Man mag einwenden, daß Rothes Definition des Gefühls ja geradezu darauf hinauslief, durch seine Praelogizität jede Art des Gefühls als rechtes zuzulassen, sofern das Gefühl per se nicht wahrheitsfähig ist. Jedoch hatten wir herausgefunden, daß das Gottesgefühl in seiner vollendeten Ausprägung Individualität wiederum transzendiert, und wir werden im Fortlauf sehen, daß es sich hier um genau diese Weise des Gottesgefühls handelt. 111,302

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ist? Im Rahmen der Tugendlehre nennt Rothe die Inspiration in Anknüpfung an die Terminologie der lutherischen Orthodoxie "die göttliche Gnade im engeren Sinne".497 Das gnädige Wirken besteht in "einer Einwirkung Gottes oder näher des Erlösers durch seinen heiligen Geist auf die Funktionen des Naturorganismus (des beseelten Leibes) des sündigen Menschen, aus denen die Bestimmtheit seines persönlichen Lebens oder seiner Persönlichkeit resultiert, > - nämlich zum Behufe der Herabstimmung der abnorm hohen Lebendigkeit der materiellen Natur desselben.