Metaphysik und Möglichkeitsbegriff bei Aristoteles und Nikolaus von Kues: Eine historisch-systematische Untersuchung 9783110429855, 9783110438031, 9783110429947

Metaphysics and possibility are fundamental concepts in philosophical thought. How are they related? Maaßen analyzes two

422 57 2MB

German Pages 312 Year 2015

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Metaphysik und Möglichkeitsbegriff bei Aristoteles und Nikolaus von Kues: Eine historisch-systematische Untersuchung
 9783110429855, 9783110438031, 9783110429947

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
1 Einleitung
1.1 Zur Fragstellung und Methode der Untersuchung
1.2 Hinweise zur Interpretation und Gliederung
I. Teil: Aristoteles
1 Die wissenschaftliche Zielsetzung
2 Die ersten Axiome
2.1 Der Nichtwiderspruchssatz
2.2 Satz vom ausgeschlossenen Mittleren
3 Rechtfertigung
3.1 Wortebene
3.2 Noetische Notwendigkeit der Einheit
3.3 Satzebene
3.4 Gegner
4 Die Empirie der Prozessualitat: Das Problem der Veränderung
4.1 Ein legitimes Mittleres
4.2 Veranderung zwischen Widerspruchsgliedern
5 Die Notwendigkeit der Substanz
5.1 Eine neue Konzeption von οὐσία: εἶδος
5.2 Das σύνολον und die Unteilbarkeit des εἶδος
6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff
6.1 Begriffsklärung: Potentialität und Possibilität
6.2 Kontingenz
6.3 Δύναμις als kinetischer und ontologischer Vermögensbegriff
6.4 Der ambivalente Raum des Möglichen
6.5 Der kosmologische Primat der reinen ἐνέργεια
7 Dimensionen des (menschlichen) Denkens
7.1 Mögliche und tätige Vernunft
7.2 Systematisierung
7.3 Kontingenzausschluss
7.4 Menschliches Denken: Begriffsteleologie und Möglichkeitsstrukturen
II. Teil: Nikolaus von Kues
1 Die Epistemologie des Unendlichen
1.1 Die Methode des wissenden Nichtwissens
1.2 Wahrheit
2 Begriffstheorie
2.1 Das nomen ineffabile: die unendliche Möglichkeit der Signifikation
2.2 Der conceptus absolutus
3 Der erste Gottesbegriff: maximum
3.1 Das cusanische maximum und der Gottesbeweis des Anselm von Canterbury
3.2 Maximum minimum
4 Theorie der mens humana
4.1 Geist als Verstand: die Grenze des Möglichen
4.2 Geist als Vernunft in De docta ignorantia
4.3 Die Assimilationsleistungen der mens humana
4.4 Die innere Dynamik der mens humana
4.5 Die hierarchischoperative Unterscheidung der mentalen Ebenen
4.6 Die innermentale Dynamik als Bedingung der Vollendung des Geistes
4.7 Die Möglichkeit der Vollendung als Welterkenntnis
4.8 Die Möglichkeit der Vollendung als Gotteserkenntnis
4.9 Zusammenfassung
5 Der letzte Gottesbegriff: posse ipsum
5.1 Reform der aristotelischen Substanz die quiditas ipsa
5.2 Das posse ipsum der philosophische Gehalt des neuen Gottesnamen
6. Schluss
Literaturverzeichnis
Antike und mittelalterliche Texte: Ausgaben, Übersetzungen, Kommentare
Sonstige Literature
Personenregister
Sachregister

Citation preview

Jens Maaßen Metaphysik und Möglichkeitsbegriff bei Aristoteles und Nikolaus von Kues

Quellen und Studien zur Philosophie

Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler und Michael Quante

Band 126



Jens Maaßen

Metaphysik und Möglichkeitsbegriff bei Aristoteles und Nikolaus von Kues Eine historisch-systematische Untersuchung

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort.

ISBN 978-3-11-043803-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-042985-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042994-7 ISSN 0344-8142 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert und Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Für meine Eltern

Vorwort In unserem Alltagsverständnis bewegen wir uns im Raum der Fakten. Aber bereits die Frage nach der Rechtfertigung, nach der Begründung, warum etwas ist, was es ist, überschreitet diesen Raum und stellt die Frage nach der Möglichkeit des jeweiligen Seienden. Diese Frage ist für Theoriebildung im Allgemeinen und insbesondere für philosophisches Denken wesentlich. Für sie zählt nicht nur, was der Fall ist, sondern gerade das, was in verschiedenen Hinsichten möglich sein kann: ontisch, logisch, begrifflich, epistemisch, ethisch, politisch. Es geht um Denkräume des Möglichen. Dies gilt ganz besonders für die Metaphysik, die seit ihren Anfängen die fundamentalen Fragen und Antworten, Begriffe und Theorien der Philosophie entwickelt und andere Disziplinen bis heute beeinflusst hat. Die fundamentale Bedeutung der Termini ‚Möglichkeit‘ und ‚Metaphysik‘ lässt sich von Platon bis zu aktuellen Positionen in unterschiedlichen Hinsichten und Disziplinen verfolgen. Die Studie verfolgt das Ziel, wesentliche Zusammenhänge von Metaphysik und Möglichkeitsbegriff für zwei paradigmatische Positionen in der Philosophiegeschichte zu klären: Aristoteles und Nikolaus von Kues. Die historisch wie systematisch leitende Frage ist, inwieweit eine jede Metaphysik einen ganz bestimmten Möglichkeitsbegriff erfordert, um ihren umfassenden Erklärungs- und Begründungsanspruch realisieren zu können. Diese Arbeit wurde im Wintersemester 2013/14 von der Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft als Dissertation angenommen. An dieser Stelle möchte ich alle jenen herzlich danken, die mich in verschiedenen Phasen meines Nachdenkens über den Möglichkeitsbegriff, die Metaphysik und deren komplexen Verbindungen unterstützt haben, sodass am Ende mit ihrer Mithilfe die Wirklichkeit der vorliegenden Studie entstehen konnte. Mein erster Dank gebührt Burkhardt Mojsisch (Bochum), der mir in all der Zeit vertraute, sodann Gunter Scholtz (Bochum), der mich durch alle Hindernisse souverän begleitete und mir zur Seite stand. Mein besonderer Dank gilt Martin Lenz (Groningen), der mit großer Verbindlichkeit das Erstgutachten übernahm. Auch Hans Poser (Berlin) danke ich sehr herzlich für die hilfreichen Gespräche und weiterführenden Überlegungen in der Anfangsphase meiner Arbeit. Zudem verdanke ich Thomas Bedorf (Hagen), Arnd Hoffmann (Köln) und Paolo Rubini (Berlin) anregende Diskussionen und Kommentare. Für die technische Unterstützung danke ich Gottfried K. Deck. Dem Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort möchte ich meinen Dank für die großzügige Druckkostenfinanzierung aussprechen. Mein herzlicher Dank gilt auch der Konrad-Adenauer-Stiftung für die großzügige Promotionsförderung.

VIII

Vorwort

Außerdem danke ich sehr den Herausgebern der Reihe Quellen und Studien zur Philosophie sowie Gertrud Grünkorn, Johanna Wange und Nancy Christ vom Verlag Walter de Gruyter für die Annahme meiner Arbeit und ihre stets kompetente Hilfe bei allen Fragen zur Druckvorbereitung. Ella und Tilda danke ich unermesslich für ihre glücksvollen Gegenwarten. Unaussprechlich ist mein Dank an Barbara Janßen für Raum und Zeit, die sie mir gewährte, ihr Vertrauen und für ihre Achtsamkeit. Berlin, im Juni 2015

Jens Maaßen

Inhalt  Einleitung 1 . Zur Fragstellung und Methode der Untersuchung . Hinweise zur Interpretation und Gliederung 7

I. Teil: 

2

Aristoteles

Die wissenschaftliche Zielsetzung

15

 Die ersten Axiome 20 . Der Nichtwiderspruchssatz 21 . Satz vom ausgeschlossenen Mittleren  Rechtfertigung 32 . Wortebene 34 . Noetische Notwendigkeit der Einheit 38 . Satzebene . Gegner 43

29

37

 Die Empirie der Prozessualität: Das Problem der Veränderung . Ein legitimes Mittleres 53 . Veränderung zwischen Widerspruchsgliedern 56 60  Die Notwendigkeit der Substanz 61 . Eine neue Konzeption von οὐσία: εἶδος . Das σύνολον und die Unteilbarkeit des εἶδος

74

78  Vermögen und Möglichkeitsbegriff . Begriffsklärung: Potentialität und Possibilität 78 . Kontingenz 82 . Δύναμις als kinetischer und ontologischer Vermögensbegriff . Der ambivalente Raum des Möglichen 103 . Der kosmologische Primat der reinen ἐνέργεια 116  Dimensionen des (menschlichen) Denkens . Mögliche und tätige Vernunft 125 . Systematisierung 127

125

50

89

X

. .

Inhalt

Kontingenzausschluss 129 Menschliches Denken: Begriffsteleologie und 130 Möglichkeitsstrukturen

II. Teil:

Nikolaus von Kues

 Die Epistemologie des Unendlichen 147 . Die Methode des wissenden Nichtwissens . Wahrheit 151

147

 Begriffstheorie 155 . Das nomen ineffabile: die unendliche Möglichkeit der 158 Signifikation . Der conceptus absolutus 162  Der erste Gottesbegriff: maximum 169 . Das cusanische maximum und der Gottesbeweis des Anselm von 169 Canterbury . Maximum – minimum 174  Theorie der mens humana 183 . Geist als Verstand: die Grenze des Möglichen 184 188 . Geist als Vernunft in De docta ignorantia . Die Assimilationsleistungen der mens humana 198 . Die innere Dynamik der mens humana 216 . Die hierarchisch-operative Unterscheidung der mentalen Ebenen 217 . Die innermentale Dynamik als Bedingung der Vollendung des Geistes 221 . Die Möglichkeit der Vollendung als Welterkenntnis 224 . Die Möglichkeit der Vollendung als Gotteserkenntnis 227 . Zusammenfassung 230  Der letzte Gottesbegriff: posse ipsum 233 . Reform der aristotelischen Substanz – die quiditas ipsa . Das posse ipsum – der philosophische Gehalt des neuen Gottesnamen 240 . Schluss

268

234

Inhalt

Literaturverzeichnis 278 Antike und mittelalterliche Texte: Ausgaben, Übersetzungen, 278 Kommentare Sonstige Literatur 280 291

Personenregister Sachregister

295

XI

1 Einleitung „Freilich heißt für den wissenschaftlichen Geist, deutlich eine Grenze zu ziehen, bereits, sie zu überschreiten.“¹ „Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müßten wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müßten also denken können, was sich nicht denken läßt).“²

Metaphysik und Möglichkeitsbegriff sind auf je unterschiedliche Weise zwei Grundbegriffe des philosophischen Denkens. Wie aber hängen diese Grundbegriffe zusammen? Bestimmt die Wirklichkeit des Seienden notwendigerweise das, was es auch sein oder nicht sein könnte? Oder bestimmt umgekehrt das Mögliche das, was wirklich ist? Gibt es überhaupt Dimensionen des Möglichen oder ist alles ausschließlich und notwendig das, was der Fall ist? Ist der Raum des Möglichen größer und mehr zu gewichten, als derjenige des Wirklichen?³ Während die Metaphysik nach Aristoteles’ allgemeiner Bestimmung die ausgezeichnete Wissensdisziplin von den ersten Prinzipen und Ursachen mit dem Anspruch auf Letztbegründung jenseits des Sinnlich-Wahrnehmbaren ist und gerade darum als einzige frei genannt werden muss, weil sie im betrachtenden Wissen – der θεωρία – Erkenntnis um ihrer selbst willen sucht⁴, hat der Möglichkeitsbegriff eine komplexe Semantik und eine umfangreiche Anwendung in allen Wissengebieten. So sind Möglichkeitsdenken und Möglichkeitsaussagen eine zentrale Bedingung zur Bildung von Hypothesen, für Skepsis an bestehendem Wissen und für neue Theorien. Schon allein unsere Alltagssprache bezeugt die zentrale Bedeutung dieses Terminus als Ausdruck einer „reflektierende[n] Sprachschicht“⁵, wenn wir von dem sprechen, was sein kann bzw. möglich ist, ob

 Bachelard 1993, 26. – Zur Zitierweise: Sekundärtexte und moderne Literatur nach 1900 werden unter Angabe des Nachnamens, des Erscheinungsjahrs und der Seitenzahl zitiert. Verweise auf ältere Texte erhalten eine Kurztitelangabe und die gängigen Abkürzungen. Die alte Rechtschreibung wurde ggf. belassen. Aristoteles wird mit den bekannten Bekker-Zahlen unter Angabe des Titel sowie der Ordnungsnummer des Buches und des Kapitels angeben. Die Zitate aus den Schriften des Nikolaus von Kues werden nach den Opera Omnia der Heidelberger Akademie unter Angabe des jeweiligen Kurztitels, Kapitels, Numerus, der Seiten- und Zeilenzahl zitiert.  Wittgenstein 1984, 9.  Robert Musil hat dies treffend formuliert „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben“ und im gleichnamigen Kapitel reflektiert; R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1987, 16.  Vgl. Aristoteles, Met. I 2, 981b27– 983a11.  Poser 1969, 1.

2

1 Einleitung

etwas gemäß seiner Disposition z. B. essbar, reparierbar oder fassbar ist, und wenn wir fragen, was getan oder erkannt werden kann. Insbesondere die Philosophie ist auf die Möglichkeitssemantik angewiesen, wenn sie im Kontext ihrer Argumentationen Gedankenexperimente über mögliche Sachverhalte oder Theorien entwickelt und bei ihrer Kritik prinzipiell von der Möglichkeit anderer Begründungen, besserer Argumente oder zutreffender Begriffe ausgeht. Die Geschichte der Philosophie zeigt dort, wo es um das gedanklich und begrifflich Mögliche geht, wie bestehende Probleme und Lösungen, Fragen und Antworten modifiziert oder bezweifelt und verändert oder gar neu formuliert werden. Folgt man einem solchen Philosophieverständnis, so ist Philosophie gleichsam der ausgezeichnete gedankliche Raum, in dem die Möglichkeiten des Denkens und das Denken der Möglichkeit aufeinander verweisen. In diesem Raum werden Begründungsansprüche und deren Infragestellungen zu wesentlichen Aufgaben des Philosophierens: Ist es möglich, dass etwas ist oder nicht ist? Können wir das Wesen der Dinge erkennen oder nicht? Ist es möglich, dass wir Wissen von einer extramentalen Welt haben oder nicht? Können wir uns frei entscheiden oder nicht? Kann es einen Gott geben und wie können wir ihn erkennen? Was können wir überhaupt erkennen oder denken? Vor allem metaphysische Aussagen sind aufgrund ihrer besonderen Wissensinhalte Gegenstand der Auseinandersetzungen. Denn erste Prinzipien und Ursachen sind per definitionem nicht zufällig oder subjektiv, sondern notwendig und uneingeschränkt gültig bzw. wirksam. Sie sind die Fixsterne, die den Horizont des Möglichen erleuchten und auf die hin das, was der Fall sein kann, geordnet ist. Anders formuliert: Prinzipientheoretische Aussagen beanspruchen mit Notwendigkeit eine Erst- bzw. Letztbestimmung, die an und für sich absolut, mithin unbedingt ist und alles andere strukturiert. Bemerkenswerterweise sind derart ausgezeichnete Prinzipien nicht nur an die Unterscheidung zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit gekoppelt, sondern auf die Semantik des Möglichkeitsbegriffs für die zu konstituierende Ordnung angewiesen. An diesen Zusammenhang von Ordnung und Möglichkeit für die Metaphysik richtet sich die vorliegende Arbeit aus.

1.1 Zur Fragstellung und Methode der Untersuchung Das Untersuchungsinteresse geht von der Annahme aus, dass ohne den modalen Begriff der Möglichkeit Theoriebildung überhaupt und insbesondere Metaphysik nicht möglich ist. Hans Poser ist dieser Annahme bereits im Anschluss an ältere Forschungsliteratur nachgegangen und auch jüngere Arbeiten bestätigen, dass der Möglichkeitsbegriff für die verschiedenen (nicht) metaphysischen Systeme

1.1 Zur Fragstellung und Methode der Untersuchung

3

letztlich unverzichtbar ist.⁶ Im Anschluss an diese Ergebnisse lässt sich die Leitfrage der Untersuchung zu den zwei ausgewählten Metaphysiken des Aristoteles und des Nikolaus von Kues wie folgt formulieren: Wie sehen die Beziehungen zwischen dem oder den ersten Prinzipien oder Ursachen und dem Möglichkeitsbegriff in diesen unterschiedlichen Philosophien aus? Die Beantwortung dieser Frage ist an der impliziten und expliziten argumentativen Funktion des Begriffs für die Theoriebildung interessiert; insofern kann die Frage auch anders formuliert werden: Inwieweit kann die komplexe Semantik des Möglichkeitsbegriffs für die jeweilige prinzipientheoretische Ebene der Metaphysiken nachgezeichnet werden? Ein zentrales Vorhaben der Arbeit liegt mithin in der Klärung der Verwendung des Begriffs ‚Möglichkeit‘ innerhalb der konkreten Argumentationen und Konzeptionen. Dabei ist zu beachten, dass der Terminus in unterschiedlichen Erklärungszusammenhängen steht und seine Semantik unterschiedlich weit oder eng gefasst wird. Diese Bedingung schließt in methodischer Hinsicht eine rein abstrakte bzw. formale Bedeutungsreduktion, wie sie etwa eine modallogische Darstellung zum Ziel hätte, aus und fordert stattdessen eine Rekonstruktion der jeweiligen Kontexte in Form einer genauen Textanalyse, die mit unterschiedlicher Gewichtung in die Bereiche der Ontologie, der Theorie des Geistes, der Bedeutungs- und Erkenntnistheorie führt. Eine umfassende Darstellung der aristotelischen und cusanischen Philosophie ist allerdings nicht das Ziel der Arbeit. Es geht um den Nachweis der konstitutiven Funktion des Begriffs in verschiedenen Theorieelementen. Von besonderem Interesse ist hierbei die implizite Verwendung, bei der die Möglichkeitssemantik gleichsam im Hintergrund wirksam ist. An diesen Stellen ist es die Aufgabe der Interpretation, den versteckten, in der Verwendung liegenden philosophischen Gehalt des Möglichkeitsbegriffs – sein theoretisches Potential – offen zu legen und in die jeweilige Metaphysik einzuordnen. Maßgeblich für die Untersuchung ist die bereits oben skizzierte und jede Metaphysik bestimmende Grundkonzeption, sowohl Letztbegründung im Sinn des Absoluten als auch Erklärung der Welt zu sein, wodurch die Erfahrung divergierender Vielheiten nicht ignoriert wird. ‚Welt‘ bedeutet hier alles, was der Fall ist oder sein kann. Der Begriff des Absoluten wird von mir in der Bedeutung von ‚voraussetzungslos‘ oder ‚unbedingt‘ verwendet; gemeint ist also ein für sich selbst voraussetzungsloses Prinzip oder voraussetzungsloser Grund, der alles  Vgl. Poser 1969; ders. 1983, 129 – 147, bes. 131 f.; Faust 1931– 1932; Pape 1966; Buchheim/ Kneepkens/Lorenz 2001. Dies zeigt nicht zuletzt die aktuelle Diskussion um die Bedeutung von Dispositionen; vgl. Vetter, B./Schmid, S., Dispositionen. Texte aus der zeitgenössischen Debatte, Berlin 2013.

4

1 Einleitung

andere prinzipiiert bzw. begründet und anderes in seiner Unterschiedenheit existent sein lässt. Ob das Absolute als Vielheit oder als Einheit konzipiert ist, ob es allem anderen immanent oder transzendent ist, bleibt fürs Erste offen. Wichtig ist zunächst die formale Kennzeichnung der Voraussetzungslosigkeit, Superiorität und Notwendigkeit. Indem die Metaphysik eine Theorie vom Absoluten und von der Weltwirklichkeit sein will, formuliert sie einen umfassenden Rationalitätsanspruch. Hierbei hat sie ihren primären Gegenstand jenseits phänomenaler Faktizität, um diese auf die zugrunde liegende nicht-phänomenale Ordnungsstruktur zurückzuführen. Das, was der Fall ist, wird nicht geleugnet, sondern von seinen grundlegenden nicht-empirischen Voraussetzungen her gedacht. In Bezug auf diese Erklärungsabsicht ist die Leitfrage der Untersuchung nach der Funktion des Möglichkeitsbegriffs an die Frage nach der Realisierung des Rationalitätsanspruchs gekoppelt: Zu welchen Problemlösungen und damit zu welchen Konzeptionen des Absoluten und der Weltwirklichkeit trägt die Möglichkeitssemantik bei? Für Aristoteles will die vorliegende Untersuchung die philosophische Bedeutung des Möglichkeitsbegriffs in dem Zusammenhang von Ontologie – Semantik – Denken weiterführend erschließen, wobei zu zeigen sein wird, inwiefern die Grundrelation zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit eine eigene strukturelle Problematik erzeugt. Gleiches gilt für die Position des Cusanus. Allerdings muss bei ihm die Trias um die besondere Position des göttlichen Absoluten, für dessen Benennung der Möglichkeitsbegriff in anderer Weise in Anspruch genommen wird, erweitert werden. Das historische Interesse an zwei Vertretern der abendländischen Metaphysik ist verbunden mit dem systematischen Interesse an Theoriebildung und an dem, was innerhalb der Philosophie den Raum des Möglichen ausmacht, ihn erweitert und begrenzt. Dabei ist die Wahl für Aristoteles (384 – 322 v.Chr.) und Nikolaus von Kues (1401– 1464), zwei auf den ersten Blick weit auseinander liegende Denker, eine von vielen möglichen, aber keine beliebige. Gemessen an der Fragestellung der Arbeit könnte jede Philosophie oder Theorie in den Blick genommen werden, die, wenn nicht auf ihre metaphysischen Bedingungen, so doch immer auf ihren implizit oder explizit verwendeten Möglichkeitsbegriff befragt werden kann. Allerdings haben die hier ausgewählten Positionen des Aristoteles und des Nikolaus von Kues exemplarischen Charakter für die Geschichte der Metaphysik, insofern sie, wie die Analysen zu zeigen haben, in unterschiedlicher Weise philosophiehistorisch entscheidende Neuerungen und Veränderungen markieren, die sich über die jeweiligen Verwendungen des Möglichkeitsbegriffs nachzeichnen lassen. Um in einem ersten Zugang den Unterschied zwischen beiden Positionen zu veranschaulichen, bietet es sich an, auf je eine ausgewählte Metapher der Selbstbeschreibung, die beide Denker in ihren Texten gebrauchen, einzugehen:

1.1 Zur Fragstellung und Methode der Untersuchung

5

Aristoteles können wir, wie es zu Beginn von Buch Β der Metaphysik heißt, als „Wanderer“ charakterisieren, der Ziel und Weg seines wissenschaftlichen Vorhabens genau kennt. Seine Wanderung führt ihn vom anfänglichen „Staunen“ über das nächstliegende Unerklärte zur sicheren Erkenntnis dessen, was unveränderlich und um seiner selbst willen gewusst wird.⁷ Dank seiner exakten Fragestellung generiert er die zielführenden Wegmarken – seine philosophischen Aporien – und löst den „Knoten“, der den Fragenden ansonsten nicht fortkommen ließe. Das Bild des Wanderers charakterisiert Aristoteles als einen Denker, der systematisch sein Ziel verfolgt und es auf sicherem Weg zu erreichen beabsichtigt. Cusanus hingegen beschreibt sein Philosophieren als „Jagd nach der Weisheit“.⁸ Er ist ein Jäger, der zwar seine Beute kennt, ihrer aber nicht endgültig habhaft wird, sie nicht erlegt. Für ihn gibt es nicht nur immer weitere Jagden, sondern auch verschiedene Jagdgründe – insgesamt zehn –, in denen die Weisheit zu suchen ist. Was in Aristoteles’ Metaphysik durch den umfangreichen Fragekatalog abgesichert und eingegrenzt wird, entwickelt sich bei Cusanus zu einem in sich differenzierten Forschungsprojekt über das adäquate Wissen vom göttlichen Absoluten; ein Projekt, das in immer neuen Versuchen sein Scheitern reflektiert. Der durch den christlichen Glaubenskontext motivierte Denker ist nicht weniger zielorientiert als sein antiker Vorgänger, aber sein besonderer Wissensgegenstand ist gemäß der Metaphorik der Jagd ein sich entziehender, ohne je ganz abwesend zu sein. Wo Aristoteles einer klaren Wanderroute folgt, muss sich Cusanus auf die Unwägbarkeiten bzw. besonderen Paradoxien seiner Jagd einstellen.Während der erste trotz aller Schwierigkeiten seiner Planung folgen kann, muss der zweite immer neue Strategien der Verfolgung entwickeln. Die Anschaulichkeit von Wanderung und Jagd markiert in nuce die Verschiedenheit beider Metaphysiken. Der Wanderer muss die richtigen Wegmarken kennen; der Jäger muss mit immer neuen Begriffen das Sich-Entziehende zu fangen versuchen. Vor diesem Hintergrund gewinnt die historisch-systematische Fragestellung der vorliegenden Untersuchung noch einmal an Kontur. Denn, um im Bild zu bleiben, worin unterscheiden sich die Möglichkeiten des Wanderers von denen des Jägers, und worin sind sie sich ähnlich oder gleich? Meine Leitthese lautet: Weder die aristotelische Metaphysik der Substanz noch die cusanische des Unendlichen kommt ohne eine starke Möglichkeitssemantik aus.Was genauer mit dem Ausdruck ‚stark‘ gemeint ist, haben die Analysen im Einzelnen zu zeigen. Aristoteles ist nicht der erste Philosoph, der den Terminus ‚Möglichkeit‘ in seiner Philosophie verwendet, aber er ist der erste, der die differenzierte Bedeu-

 Vgl. Aristoteles, Met. III 1, 995a28 – 995b2 u. Met. I 2, 982b11– 21.  So der programmatische Titel der Schrift De venatione sapientiae.

6

1 Einleitung

tung des Begriffs systematisch für seine unterschiedlichen philosophischen Konzeptionen nutzt.⁹ Hierin ist zweifellos seine originäre Leistung zu sehen. Seine Anwendungen der Begriffssemantik für die Bereiche der Logik, der Aussageweisen und der Metaphysik ist bis heute fundamental und bildet die Folie, auf der die meisten weiteren Reflexionen eingeschrieben werden. Die aristotelische Position bildet gleichsam die historisch-systematische Ausgangsbedingung, die bei einer Untersuchung zu dem Verhältnis zwischen Metaphysik und Möglichkeit nicht ausgeblendet werden kann. Zudem sind in wirkungs- und problemgeschichtlicher Hinsicht zentrale Theoreme, wie das Nichtwiderspruchsprinzip, die Substanzoder die Satzkonzeption, von grundlegender Bedeutung. Dies gilt insbesondere mit Blick auf Nikolaus von Kues, der die Theoreme des antiken Philosophen kritisch rezipiert und transformiert. Die philosophiehistorische Stellung des Denkers aus dem 15. Jahrhundert wurde in dem besonderen Verhältnis zur Problematik der spätmittelalterlichen Theologie, die Trias ‚Gott – Mensch – Welt‘ in einer konsistenten Einheit zu denken, gesehen. Diese Einschätzung ist richtig, wenn man nicht ausschließt, dass Aspekte seiner Philosophie über die historische Einordnung zu einer „Epochenschwelle“ hinausweisen können.¹⁰ Die Diskursbedingungen des Christentums trennen die Metaphysik des Cusanus mindestens in einem Punkt grundsätzlich von der des Aristoteles. Cusanus geht es im Kern seiner Überlegungen um die philosophische Möglichkeit oder Ermöglichung der Erkenntnis Gottes als Unendlichkeit oder unendlicher Einheit (infinitum/unum). Dabei dokumentieren insbesondere seine späten Werke, wie die Möglichkeitssemantik in der Bedeutung von Können (posse) eine zentrale Stellung gewinnt und zu einer eigenen Spekulation über die Möglichkeit führt. Alfons Brüntrup hat für diese Entwicklung den zutreffenden Begriff der „posse-Metaphysik“¹¹ geprägt, den auch ich für meine Untersuchung als Interpretament übernehme. Allerdings ist der Ausdruck ‚posse‘ im gesamten Werk bis hin zu den Gottesnamen ‚possest‘ (Können-Ist) und ‚posse ipsum‘ (Können selbst) nachweisbar und macht, wie in Ergänzung zu Brüntrup zu zeigen sein wird, die eminente Stellung des Möglichkeitssemantik auch schon vor dem Spätwerk greifbar.

 Vgl. z. B. für Platon Souilhé 1919; Arnold 1965; Stallmach 1959, 21 ff.; Wolf 1979, 17.  So Hans Blumenbergs 1976 titelgebende Begriffsbildung und seine Gegenüberstellung von Nikolaus von Kues und Giordano Bruno; vgl. zur Kritik an dieser philosophiehistorischen Einordnung Meier-Oeser 1989, 216 f.  Brüntrup 1973, 63. Brüntrups Arbeit ist immer noch die ausführlichste und fundierteste Studie zur Bedeutung der Möglichkeitssemantik bei Nikolaus von Kues. Die vorliegende Arbeit versteht sich auch als eine Weiterführung dieses Interpretationsansatzes.

1.2 Hinweise zur Interpretation und Gliederung

7

Während also Cusanus fragt, wie wir überhaupt Wissen von Gott als unendlicher Einheit haben können und dieses Wissen sprachlich fassen müssen, geht es Aristoteles um die Frage, was das Seiende als Seiendes, was die Substanz (οὐσία) ist. Die epistemologischen und methodischen Schwierigkeiten, wie sie die spätmittelalterliche Metaphysik mit der Gotteserkenntnis zu bewältigen hat, stellen sich für den antiken Philosophen nicht. Andererseits besteht gerade über den Substanzbegriff eine enge konzeptionelle Verbindung zu Cusanus, der in diesem zentralen Terminus eine notwendige, aber zu kritisierende Voraussetzung für seinen eigenen Ansatz sieht. Im Horizont der vorliegenden Untersuchung lassen sich die zentralen Fragen der beiden Metaphysiken präzise formulieren: Wie ist es möglich, dass etwas überhaupt als Eines in seiner Veränderung besteht (persistiert) und wir wahrheitsfähige Sätze darüber bilden können? Wie ist es möglich, dass im Unendlichen Endliches existiert und Endliches Unendliches erkennen oder benennen kann? Die hier skizzierten Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen beiden Positionen markieren in einem ersten Zugang, in welchem Spannungsfeld sich die Arbeit bewegt und in welchen philosophischen Theoremen die Möglichkeitssemantik Bedeutung haben wird.

1.2 Hinweise zur Interpretation und Gliederung Da der Möglichkeitsbegriff zu den fundamentalen Termini der Philosophie und auch des Alltagsdenkens gehört, ist eine Untersuchung über ihn nicht möglich, ohne ihn zugleich vorauszusetzen und eigens anzuwenden. Bestimmte Begriffe können erst im Verlauf einer Darstellung an Bedeutung und Klarheit gewinnen, sie werden hermeneutisch gebraucht und ihr Gehalt erst durch die Untersuchung erschlossen. Zu diesen Ausdrücken zählen hier neben dem der Möglichkeit auch der der Substanz, der Begriff Gottes oder der des Unendlichen; sie werden zunächst vorausgesetzt. Es ist daher auch nicht Absicht der vorliegenden Arbeit, die oben angegebene Bedeutung von Möglichkeit als Modalbegriff und im Sinn der Strukturunterscheidung den relevanten Begriffsverwendungen und Überlegungen in den Texten einfach zuzuweisen. Dieses Vorgehen bliebe relativ abstrakt und verfehlte das Besondere der jeweiligen Aussagen sowie ihrer Zusammenhänge. Stattdessen wird die Arbeit die metaphysischen Positionen Schritt für Schritt in ihren Argumentationsverläufen rekonstruieren. Sollte es hierbei zu eventuellen Redundanzen kommen, erklären sich diese durch bestimmte Überschneidungen in der Sache, die beide Metaphysiken freilich in verschiedenen Theoriekontexten behandeln.

8

1 Einleitung

1.2.1 Aristoteles Die Arbeit nimmt ihren Ausgang von der Rechtfertigung der ersten Prinzipien – dem Nichtwiderspruchssatz und dem Satz vom ausgeschlossenen Mittleren – in der Metaphysik des Aristoteles. Diese Eröffnung legt insbesondere mit dem Nichtwiderspruchssatz fest, was das Erste oder der Anfang sowohl des Denkens, der Sprache als auch des Seienden und damit universell notwendig ist. Gerade auch mit Blick auf die Kritik des Cusanus an dem rational geprägten Einheits- sowie Vernunftverständnis ist die ausführliche Darstellung der Prinzipienrechtfertigung erforderlich. An sie schließt sich eine knappe, aber in historisch-systematischer Hinsicht wichtige Berücksichtigung der Positionen des Heraklit und des Anaxagoras an, die als Antipoden zu Aristoteles andere Letzterklärungen formulieren und dessen Axiome unterlaufen.Vor dem Hintergrund der vorsokratischen Ansätze ist die Erklärungsproblematik der empirischen Prozessualität, wie sie in der Physik ausgeführt wird, zu sehen. Entsprechend ist die Schwierigkeit, die das wahrnehmbare Phänomen der Veränderung gerade für die Geltung der Axiome mit sich bringt und eine Einschränkung erfordert, zu skizzieren. Erst in diesem Kontext gewinnen die ersten Prinzipien ihre volle Bedeutung und lässt sich nachvollziehen, warum Aristoteles die Notwendigkeit der Substanz zum Kernthema seiner Metaphysik macht. Von daher bildet diese Theorie auch den zweiten Schwerpunkt im Aristoteles-Teil neben der Prinzipienrechtfertigung. Nach der Einordnung der Substanzkonzeption in der Metaphysik gegenüber derjenigen in den Kategorien wird die in sich komplexe Priorität der Form (εἶδος) gegenüber der sinnfälligen Substanz, der οὐσία αἰσθητή genau bestimmt, um dann die zweite Substanz unter dem Begriff der zusammengesetzten Einheit (σύνολον) zu analysieren. Erst in Verbindung mit der Metaphysik der οὐσία lassen sich die Funktionen des Möglichkeitsbegriffs in Gänze entfalten. Diese Funktionen detailliert aufzuweisen, stellt den dritten Schwerpunkt dar; auch hier gilt es wieder, die Aussagen eines historischen Gegners des Aristoteles – der Megariker – sowie deren (konstruiertes) Extrem – die Antimegariker – systematisch zu berücksichtigen. Für die Konsistenz der Substanztheorie wird die ontologische Bedeutung des Möglichkeitsbegriffs analysiert. Daran schließt sich ein umfassendes Kapitel zum ‚ambivalenten Raum des Möglichen‘ an, der noch einmal das Phänomen der Veränderung mit den Möglichkeiten der modalen Satzbestimmung zusammenführt. Darüber hinaus wird die kosmologische Dimension des Möglichkeitsbegriffs im Sinn der Kontingenz differenziert betrachtet. Schließlich bildet das Kapitel ‚Dimensionen des (menschlichen) Denkens‘ in Verbindung mit dem Prozess der dihairetischen Begriffsbildung den letzten Schwerpunkt zum Möglichkeitsbegriff bei Aristoteles. Gerade hier wird sich zeigen, dass ‚Begriffsteleologie und Möglichkeitsstrukturen‘ einen funktional bedenkenswert engen Zusammenhang bilden.

1.2 Hinweise zur Interpretation und Gliederung

9

1.2.2 Cusanus Mit Nikolaus von Kues wendet sich die Untersuchung in ihrem zweiten Teil einem Philosophen zu, der unter anderen Voraussetzungen als Aristoteles gedacht hat. Der Unterschied zwischen beiden Philosophen lässt sich bei allen sachlichen Bezügen, die Cusanus bewusst zur Metaphysik des Stagiriten herstellt und die zudem in bestimmten Problem- oder Sachfragen bestehen, mit der historischen Diskursbedingung des Christentums und dessen spezifischer Theologie angeben. In dem exponierten Gottesverständnis kulminieren Erklärungen für die innergöttliche Relationalität mit Schöpfungs-, Heils- und Allmachtsanforderungen. Ganz im Unterschied zu Aristoteles ist Cusanus’ Denken also von einem Gottesverständnis motiviert, das die Besonderheit der innertrinitarischen Relationalität ebenso zu berücksichtigen hat wie die creatio ex nihilo und die omnipotentia Dei. Das neuralgische Thema, dem sich auch Cusanus stellen muss, ist die Vereinbarkeit von einer rationalen Schöpfung und der Freiheit göttlicher Allmacht oder, wie Hans Blumenberg es treffend charakterisiert hat, von anthropozentrischem und theozentrischem Motiv, die zusammen die Ambivalenz der christlichen Theologie ausmachen: Wie sind einerseits Gott, die Einmaligkeit der Welt und die heilsgeschichtliche Stellung des Menschen in ihr miteinander zu vermitteln, wenn Gott andererseits in seiner Absolutheit von nichts, auch nicht seiner Schöpfung, eingeschränkt sein kann?¹² Die auch Cusanus bekannte Lösung der mittelalterlichen Philosophie bestand in einer Unterscheidung innerhalb der göttlichen Schöpfungsmacht zwischen dem unbegrenzten posse creare Dei und dem begrenzten posse creari creaturae für diese Welt; eine Unterscheidung, die sich dann in potentia Dei absoluta und potentia Dei ordinata darstellte. Die Problematik der christlichen Theologie verschärft sich für einen Denker wie Nikolaus von Kues, der das in dem Gottesverständnis angelegte Konfliktpotential in seiner Zeit aufbrechen sah und der Gott strikt als Unendlichkeit ohne jede räumliche oder zeitliche Begrenzung dachte. Die Konsequenz ist eine sublime Metaphysik der Einheit oder der Unendlichkeit, die in Anknüpfung an neuplatonische Gedanken die widerstrebenden Elemente zu integrieren versucht. Cusanus denkt dabei in dezidiert philosophischer Terminologie, um eine begrifflich begründete und theoretisch ausweisbare Einsicht in die Relationen Gott,Welt und Mensch zu erreichen; eine Einsicht, die auf diesem Wege dem Glauben letztlich nicht möglich ist. Für ihn muss die unendliche Einheit, weil ihr nichts äußerlich und sie Ursache bzw. Prinzip von allem ist, sowohl Allheit als auch, da alles in ihr

 Vgl. Blumenberg 1976, 35; vgl. für eine theologische Lesart des cusanischen Denkens: Thurner 2001; Wolter 2004; vgl. moderater Beierwaltes 2011.

10

1 Einleitung

sie selbst und sie somit nichts bzw. die Negation von allem Begrenztem ist, im radikalen Sinn Einheit oder Eines sein. Während unter der Allheit der Aspekt der Immanenz, das Insein des Prinzips im Prinzipiat, in den Vordergrund tritt, verfolgt die Einheit als Einheit den Aspekt der Transzendenz, das Hinaussein des Absoluten auch über sein Prinzipsein und das von ihm Prinzipiierte. Theologisch formuliert – und zugleich theologisch problematisch – ist Gott unendlich mehr als Schöpfer und Erschaffenes.¹³ Cusanus will die theologische Problematik in einer neuen Metaphysik aufheben; das impliziert eine prinzipientheoretische Korrektur der bisherigen Ersten Philosophie, des Denkens und der Logik selbst. Für ihn sind alle bisherigen Versuche, die Unendlichkeit Gottes zu denken und zu benennen, unzureichend, weil sie entweder im Bereich des disjunktiven und konjunktiven Sprechens rationaler Metaphysik und positiver Theologie verbleiben oder einer negativen Theologie, die Gott zu einem gänzlich innominablen und impartizierbaren Anderen macht, folgen. Daher ist die Grundfrage seiner Philosophie, ob und wie der menschliche Geist die unendliche Einheit erkennen kann.¹⁴ Für ihn steht fest, wir müssen die Grundprinzipien unseres Denkens hinterfragen und einen anderen Weg als die bisherigen Philosophien gehen, wenn wir Gott in seiner völligen Nichtgegenständlichkeit erfassen wollen. Um dies leisten zu können, braucht Cusanus sowohl ein Verfahren als auch ein Prinzip, das den Doppelaspekt der Einheit ebenso wie unser Denken dieser Einheit ermöglicht: Er entwickelt zum einen die Lehre vom wissenden Nichtwissen (docta ignorantia) und die Lehre vom Zusammenfall der Entgegengesetzten – der coincidentia oppositorum –, die konträre und kontradiktorische Gegensätze (coincidentia contradictoriorum) umfasst. Während Cusanus mit der docta ignorantia, dem wissenden Nichtwissen, eine Denk- und Erkenntnismethode einführt, die in besonderer Weise dem Problem der Nichtgegenständlichkeit des Unendlichen gerecht zu werden versucht, ohne den epistemischen Anspruch auf Wahrheit aufgeben zu müssen, und eine spezielle Begriffs- und Namenstheorie entwickelt, ist die Koinzidenzlehre die Kritik am Nichtwiderspruchsprinzip sowie am eleatischen Dualismus und den daraus folgenden Philosophien. Beide Elemente zusammen sind die innovativen Grundgedanken der cusanischen Metaphysik. Da die docta ignorantia im ersten Kapitel meiner Interpretation eingehender Be-

 „Et ultra hanc coincidentiam creare cum creari es tu, deus absolutus et infinitus, neque creans neque creabilis, licet omnia id sint, quod sunt, quia tu es.“ De vis. c. 12, n. 49, 43, 14– 16.  „Omnis vis mentis nostrae circa ipsius debet unitatis conceptum subtiliando versari, quoniam omnis cognoscibilium multitudo ab eius dependet notitia, quae est in omni scientia omne id quod scitur.“ De con. I c. 10, n. 44, 48, 3 – 5.

1.2 Hinweise zur Interpretation und Gliederung

11

rücksichtigung findet, soll hier die coincidentia oppositorum kurz skizziert werden. Die Koinzidenztheorie korrigiert die auf ausschließenden Unterscheidungen oder Gegensätzen basierenden Konzeptionen der Identität und des Denkens: Weder unterliegt alle Identität noch alles Denken dem Nichtwiderspruchsprinzip. Für die coincidentia oppositorum ist das erste Axiom des Aristoteles nicht uneingeschränkt gültig. Gegensätzlichkeiten und kategorial bestimmtes Einzelnes werden damit nicht einfach eliminiert, sondern relativiert und zur besseren Begründung ihrer Distinktionen in die allübergreifende Einheit zurückgeführt: Gottes (Nicht‐)Andersheit ist die zu denkende Koinzidenz.¹⁵ Das prinzipientheoretische Vorhaben impliziert, dass der Koinzidenzbegriff unterschiedlich gewichtete Bedeutungen hat. Für das Verständnis der cusanischen Metaphysik ist es daher wichtig, diese Bedeutungen mitzudenken und sich nicht auf eine Anwendung hin festzulegen. Will man das Denken der Einheit und der Koinzidenz verstehen, muss man der einheitsstiftenden Bewegung dieses Denkens folgen: Für das menschliche Denken gilt, dass es die koinzidentale Struktur der All-Einheit nur erkennt, wenn es selbst koinzidental denkt. So ist auch die philosophische Gotteserkenntnis nur dann möglich, wenn die unendliche Einheit sowohl als gegensatzausschließend (Eines) wie auch als gegensatzeinschließend (Allheit) gedacht wird und Begriffe oder Namen gebildet werden, die diesen Doppelaspekt darzustellen vermögen.¹⁶ Es bleibt offen, inwiefern sich dieser Anspruch erfolgreich einlöst und eine adäquate Erkenntnis des Unendlichen gelingen kann. Vor diesem Hintergrund ergibt sich das Vorgehen für den zweiten Teil der Arbeit. Die Darstellung beginnt mit der methodologischen Grundüberlegung der docta ignorantia, die diese spätmittelalterliche Position in besonderer Weise auszeichnet und ihre gesamte Metaphysik bereits als Möglichkeitsdenken charakterisiert. Die Versuche, einen adäquaten Namen für das Absolute zu konzipieren, sind ebenso grundlegend an die wissenstheoretischen Konsequenzen vom wissenden Nichtwissen gebunden wie der Wahrheitsbegriff. Dementsprechend schließt sich die Wahrheitsbestimmung und die Spezifität der cusanischen Begriffsreflexion an, die im Ausdruck des conceptus absolutus – des absoluten Begriffs – ihre philosophiehistorische Sonderstellung beweist. Die in diesem ersten Abschnitt gewonnenen Ergebnisse werden dann im zweiten Schwerpunkt für die Analyse des ersten und letzten Gottesnamen – des Größten (maximum) und des Könnens selbst (posse ipsum) – genutzt. Beide markieren Anfang und Ende des spekulativen Vorgehens, um das Unendliche in

 Vgl. Mojsisch 1996, 437– 454.  Vgl. für eine systematisierte Darstellung der Koinzidenzbedeutungen: Flasch 1973; Grotz 2009.

12

1 Einleitung

semantisch endlichen Formen zu erfassen. Dabei ist die Theorie über den menschlichen Geist, die einen eigenen, dritten Schwerpunkt bildet, in die Namenskonzeptionen eingebettet. In diesem weit gespannten Bogen soll die Frage nach der zunehmenden Bedeutung der Möglichkeitssemantik und dessen argumentativer Funktion für die spekulative Metaphysik des Cusanus beantwortet werden. Meine These wird dabei sein: Das posse ipsum ist nicht als kontingenter, sondern als systematischer Abschluss der im Spätwerk entwickelten Könnensspekulation zu lesen.

I. Teil: Aristoteles

1 Die wissenschaftliche Zielsetzung „The mind and the world jointly make up the mind and the world.“¹⁷

Wie muss die Wirklichkeit beschaffen sein, damit Wissen möglich ist? Wie muss unser Denken und Erkennen strukturiert sein, damit Wissen von der Wirklichkeit möglich ist? Diese fundamental philosophischen Fragen führen zu der zentralen Aufgabenstellung der Metaphysik des Aristoteles, die weder durch empirische Untersuchungen noch durch Abstraktion zu lösen ist: die Suche nach den „ersten Ursachen und Prinzipien“¹⁸ alles Seienden. Indem sich die Metaphysik diese Aufgabe stellt und sowohl eine Theorie über die Struktur des Wissens als auch über die des Seienden formuliert, ist sie die erste Wissenschaft oder die „Erste Philosophie“¹⁹. Sie hat, weil sie über die phänomenale Gegebenheit des Einzelseienden hinausgeht und dessen formale Konstitution untersucht, das „Seiende als Seiendes“ (ὂν ᾗ ὄν) oder die Substanz (οὐσία) und die ersten Prinzipien oder Axiome des Seienden und des Wissens zum Gegenstand.²⁰ Dieser systematische Erklärungsanspruch unterscheidet die Metaphysik von den Einzelwissenschaften, die ihre Prinzipien nicht zu beweisen brauchen, sondern sie voraussetzen und innerhalb ihrer Wissensbereiche anwenden. Die besondere Aufgabenstellung begründet die Superiorität der Ersten Philosophie über die Naturphilosophie.²¹ Die Substanztheorie in den Büchern Ζ, Η und Θ und die Rechtfertigung der ersten Prinzipien in Buch Γ – der Satz vom auszuschließenden Widerspruch oder Nichtwiderspruchssatz (im Weiteren: NWS) und der Satz vom ausgeschlossenen Dritten bzw. Mittleren (im Weiteren: SAD) – machen das wissenschaftliche Programm der Metaphysik aus und formulieren zugleich die Rationalitätsstruktur der Wirklichkeit und des Denkens. In diesem Komplex ist – so die Aufgabe der Untersuchung – in unterschiedlichen Hinsichten die Bedeutung des Möglichkeitsbegriffs zu verorten und zu prüfen, inwieweit die Möglichkeitssemantik das wissenschaftliche Programm sowie die Rationalitätsstrukturen mitbestimmt. Es bietet sich an, die Untersuchung mit einer Frage zu eröffnen, die das metaphysische Vorhaben des Stagiriten maßgeblich bestimmt: Muss unser Den-

 Putnam 1981, XI.  Met. I 1, 981b27– 29.  Phys. I 9, 192a35 f.  Vgl. Met. IV 1, 1003a21– 32; 1003b15 – 18; IV 3, 1005a19-b5; vgl. auch An. post. I 9, 76a16 – 19.  Aufgrund ihres Anspruchs,Wissen vom Göttlichen zu erlangen, ist sie „frei“ und versteht sich selbst als „göttlich“; vgl. Met. I 2, 983a5 – 11.

16

1 Die wissenschaftliche Zielsetzung

ken von der stabilen Existenz von Entitäten ausgehen, oder gibt es diese Entitäten nicht? Die Frage zielt sowohl auf das bereits genannte wissenschaftliche Programm, diese Entitäten in axiomatischer und ontischer Hinsicht aufzudecken, als auch auf die Möglichkeit einer philosophischen Position, die diese Entitäten für nicht notwendig oder für nicht erkennbar hält. Historisch sieht Aristoteles diese Position bei einigen Vorsokratikern formuliert, mit deren Theoremen er sich daher auch in der Physik und Metaphysik explizit auseinandersetzt. In den (meta‐)physischen Ansätzen der älteren Philosophen macht er bei allen Unterschieden den Grundgedanken der Alleinheit aus. „Dass alles Eines sein würde (ἓν πάντα ἔσται)“²², ist für Aristoteles eine Erklärung, die, weil sie alles indifferent sein lässt, weitreichende Konsequenzen für ein auf nicht-relative Wahrheit ausgerichtetes Welt- und Sprachverständnis hat. Demgegenüber geht es in der Metaphysik um die Notwendigkeit abgegrenzter und differenzierter Einheiten in semantischer, noetischer und ontischer Hinsicht. Dieses Vorhaben verbindet Prinzipien und Ontologie mit der assertorischen Logik. Die Binarität von wahr oder falsch wird nicht einfach als gegeben angenommen, sondern auf ihre ontologischen und axiomatischen Bedingungen hin gedacht. Mit seiner Kritik an dem Alleinheitstheorem wendet sich Aristoteles gegen beinahe alle Philosophen, die vor ihm gedacht haben, ausgenommen Sokrates und Platon. Im Rahmen der Rechtfertigung der Axiome in Buch Γ, aber auch schon in der Physik sind es namentlich Demokrit, Empedokles, Protagoras, Heraklit und Anaxagoras. Insbesondere die beiden letztgenannten Denker vertreten für Aristoteles destruktive Einheitskonzeptionen, gegen die zu argumentieren ist und deren Widerlegung, wie zu zeigen sein wird, integraler Bestandteil der Rechtfertigung der ersten Prinzipien ist. Doch es sind gerade auch die vorsokratischen Theoreme, die die Einbeziehung des Phänomens der Bewegung bzw.Veränderung in die Überlegungen von Physik und Metaphysik einfordern. Dabei kommt Aristoteles den gegnerischen Positionen weit entgegen und transformiert sie in seinem Sinne. Er nimmt ihre Anregungen auf und legt zugleich deren destruktives Potential offen. Im Anschluss an die oben formulierte Frage können wir daher das zentrale metaphysische Problem in dem Begründungsverhältnis von der Prozessualität des

 Met. IV 4, 1007a6. Mit der Formulierung nimmt Aristoteles auch Bezug auf den Grundsatz der Eleaten. Deren These von der Wirklichkeit als einer unbeweglichen Einheit des Seienden ist für Aristoteles unhaltbar; vgl. Phys. I 2, 185a20 ff. Die eleatische Metaphysik ist auch für die anderen Philosophen wichtig, insofern diese gerade den Gedanken einer absoluten Einheit in unterschiedlichen Formen in ihre eigenen Konzeptionen aufnehmen; auch sie sind daher laut Aristoteles zu kritisieren. Vgl. für diesen Zusammenhang in Aristoteles’ Doxographie Horstschäfer 1998.

1 Die wissenschaftliche Zielsetzung

17

Sinnlich-Wahrnehmbaren und den Konstitutions- bzw. Persistenzprinzipien des Seienden festmachen.²³ Meine These: Dem Möglichkeitsbegriff kommt eine zentrale Funktion für die Explikation dieses Verhältnisses zu. Einerseits geht es um die Erklärung und Analyse der Veränderung oder des Werdens; andererseits um die Bedingungen, unter denen überhaupt etwas als etwas Bestimmtes im Prozess erkannt werden kann. Hier steht die Erklärung der ersten Prinzipien und der Substanz im Mittelpunkt der Überlegungen. Insbesondere die οὐσία muss als nicht-prozessuales Konstituens zugleich in den Prozess einbezogen sein. Diese offenkundig paradoxe Anforderung muss Aristoteles mit seiner Substanztheorie einlösen. Als Hinführung zu der Analyse der Prinzipienrechtfertigung in Metaphysik Γ dient dabei die Satztheorie. In ihr wird deutlich, wie Semantik und Ontologie miteinander verbunden sind. Aristoteles denkt wie sein Lehrer Platon Philosophie von der Sprache her.²⁴ Die Begriffe und Theoreme werden durch sprachanalytische Überlegungen gewonnen. Diesem Ansatz liegt die Überzeugung zu Grunde, dass die Wirklichkeit nicht durch die unmittelbare Erfahrung zugänglich ist, sondern nur durch ein Nachdenken über die Sprache, in der über die Wirklichkeit und die Erfahrungen gesprochen wird.Von daher ist Aristoteles der „zweiten Fahrt“ verpflichtet, die der platonische Sokrates im Phaidros für die Philosophie ausrief. Dieses Vorgehen manifestiert sich auf einflussreiche Weise in der Satztheorie, die, in Abgrenzung von der einfachen Wortebene, den Satz als Ausdrucksform von Wahrheitsansprüchen berücksichtigt und so ontologische Zusammenhänge erschließt. Gegenüber der begrenzten Möglichkeit des einfachen Sagens oder Benennens, die dem einzelnen, unverbundenen Nennwort oder Nomen (ὄνομα) und Aussagewort (ῥῆμα) eigen ist (z. B. ‚Mensch‘/‚weiß‘), zeichnet den Aussagesatz (λόγος ἀποφαντικός) die Verbindung aus ὄνομα und ῥῆμα, die einem Subjekt etwas zu- oder absprechen kann, aus. Dabei ist der Satz lediglich die sprachliche Form, die das Ergebnis eines Denkakts – des gedanklichen Urteils – als eine Bejahung (κατάφασις) oder Verneinung (ἀπόφασις) in lautlich verknüpfte Zeichen fasst. Die Struktur des Satzes liegt in der Aussage, die „etwas von etwas anderem“ (τὶ κατά τινος) oder „eines von einem“ (ἓν καθ’ ἑνός) als Verbindung oder Trennung von Gedanken mit Anspruch auf Wahrheit behauptet.²⁵ Entscheidend ist hierbei, dass sich die im Denken konstituierte Einheit auf der logisch-syntakti-

 Zu Recht ist, wie Bröcker 1987, 44 festhält, „die aristotelische Philosophie in ihren Grundzügen als Frage nach der Bewegung auszulegen“.  Vgl. richtungsweisend Wieland 1962; Düring 1966, der sich Wielands Interpretation im Wesentlichen anschließt; vgl. zur Kritik an Wieland Liske 1985, 215, Fn. 1.  Vgl. insgesamt für den hier skizzierten Begriffszusammenhang Aristoteles, De Int. 5, 17a8-b22; für ἓν καθ’ ἑνός Met. IV 7, 1011b24; VI 4, 1027b23 – 25.

18

1 Die wissenschaftliche Zielsetzung

schen Ebene des Satzes als in sich differenzierte Einheit aus Subjekt (Nennwort) und Prädikat (Aussagewort) darstellt, wobei Aristoteles die nominale Prädikation in der Form ‚Subjekt-Kopula-Prädikat‘ favorisiert. Der Wahrheitsanspruch auf Satzebene besteht nun darin, dass das Subjekt mit dem Prädikat affirmierend oder negierend verknüpft ist (‚Dieser Mensch ist weiß.‘/‚Dieser Mensch ist nicht weiß.‘) und der jeweilige Sachverhalt als zutreffend behauptet wird.²⁶ Ungeachtet der möglichen Prädikationsweisen, durch die das Subjekt bestimmt werden kann, ist der Aussagesatz der Ort, an dem die apophantische Bezugnahme auf die Wirklichkeit als semantische Einheit organisiert und mit der Ontologie zusammengebracht wird. Denn dass etwas von etwas ausgesagt wird, hat nicht nur eine syntaktische Dimension, sondern erschließt die Begründungsverhältnisse zwischen Seinsstrukturen, Denken und assertorischer Rede.²⁷ Das Subjekt (κατά τινος) steht für etwas, das durch das Prädikat (τί) in einer bestimmten Form von Identität expliziert wird, so dass es auf semantischer Ebene von dieser intensionalen Explikation abhängig ist, aber auf ontischer Ebene anzeigt, worüber überhaupt etwas ausgesagt wird. Der Sinn von τὶ κατά τινος erschließt sich erst in Bezugnahme auf ein reales Seiendes. Ernst Tugendhats Bestimmung des λόγος ἀποφαντικός als „aufzeigende Rede“ und als „Präsenz von Vorliegendem“ bringt diesen Bezug deutlich zum Ausdruck.²⁸ Was als Subjekt eines Satzes fungiert, verdankt sich, vermittelt durch das Denken, der Seinsstruktur, und zwar einem Zugrundeliegenden, auf das referiert und das in den verschiedenen Prädikationsweisen zur Sprache gebracht wird. Die enge Verbindung zwischen Semantik und Ontologie ordnet sich in den vier bekannten Typen, nach denen Seiendes unter Einbeziehung der Inhärenzabhängigkeit ausgesagt werden kann: – Die konkrete Substanz (z. B. Aristoteles) als zugrunde liegende Entität, von der etwas ausgesagt wird. – Die Art- und Gattungsbegriffe (‚Mensch‘/‚Tier‘/,Lebewesen‘) als prädizierbare zweite Substanz.

 Vgl. De Int. 8, 18a12 f.; vgl. Weidemann 2002, 193 ff. Dass Aristoteles mit seiner nominalen Prädikation gegenüber der platonischen Satztheorie eine weitreichende Umstellung vornimmt, darauf weist Flasch 1973, 48 hin. Vgl. auch zur Kritik an Aristoteles ‚Zwei-Therme-Theorie’ Geachs 1968, 34– 36. Wie das Verhältnis von Denken und Satzkonstitution auf der Ebene des Denkens zu verstehen ist, lässt Aristoteles seltsam dunkel und gab damit Anlass zu Spekulationen.Vgl. für die philosophiehistorische Auswirkung der Frage nach der Sprachlichkeit des Denkens bis zu Wilhelm von Ockham Lenz 2003.  Vgl. Rapp 1996c, 177; Liske 1985, 50 f.  Tugendhat 1958, 22; vgl. auch Wieland 1962, 159.

1 Die wissenschaftliche Zielsetzung





19

Die individuellen Akzidentien oder Eigenschaften, die nur von bestimmten Substanzen ausgesagt werden (das Schwarz dieses Pullovers, die Schnelligkeit dieses Pferds, die Klugheit dieser Frau). Die allgemeinen Akzidentien oder Eigenschaften, die allen Entitäten, die diese Eigenschaften haben, zukommen (die Farbe Schwarz, die Bewegungsform Schnell, die Klugheit).²⁹

Zweifellos kann konstatiert werden, dass, weil erst im Aussagesatz bestehende oder mögliche Sachverhalte behauptet werden, es für Aristoteles keinen sprachfreien Zugang zur Wirklichkeit gibt. Doch es ist einschränkend darauf hinzuweisen, dass erstens die ausgesprochene nominale Prädikation ein wesentlich sprachfreies Urteil im Denken voraussetzt und, zweitens, dass Seiendes etwas von der Sprache Verschiedenes ist. Aristoteles reflektiert auch über Sprache, um deren ontische Bedingungen aufzudecken. Die Einzelseienden sind als Entitäten vorausgesetzt, und auf sie bezieht sich die assertorische Aussage. Dass dies in der Sprache geschieht, ändert nichts an der Notwendigkeit von Seiendem und an dem metaphysischen Anspruch, die οὐσία zu bestimmen. Was Seiendes ist, kann nur in einer sprachlichen Ordnung erkannt werden, gleichwohl ist das Subjekt als Seiendes zu bestimmen, das jeder Assertion mit Anspruch auf Wahrheit zugrunde liegt und die logisch-syntaktische Aussagestruktur bestimmt. Dass außersprachliches Seiendes existiert, ist daher die ontologische, genauer gesagt, die transzendental-ontologische Bedingung von apophantischen Aussagemöglichkeiten. Das Verhältnis von Seiendem und nominalem Prädikationsschema führt zu der Frage, inwieweit die ersten Prinzipien für die Strukturen des Seins, des Denkens, der Sprache und vor allem der Semantik von Bedeutung sind.

 Vgl. Cat. 1a 20 ff. Die unterschiedlichen Prädikationsweisen werden neben der Kategorienschrift auch in den An. pr. I 27 und in der Top. I 4– 5, 8 besprochen. Grundunterscheidung ist die zwischen der substantiellen Prädikation des ‚an sich’ (καθ’ αὑτό) und der akzidentellen (συβεβηκός); vgl. Met. V 7, 1017a7– 24.

2 Die ersten Axiome Das allgemeine Merkmal von Prinzipien ist, dass sie innerhalb bestimmter Seinsund Wissensbereiche ein Erstes sind, „von dem her etwas ist, wird oder erkannt wird“³⁰. Doch aufgrund der Verschiedenheit der Wissensdisziplinen und der Bedeutungen des Seienden gibt es unterschiedliche Prinzipien. Im Rahmen seiner Begriffsbestimmung von ‚Prinzip‘ nennt Aristoteles mehrere Erste, u. a. das „Denken“, den „Entschluss“, die „Substanz“ und den „Zweck“. Sie sind nicht aufeinander reduzierbar. Demgegenüber sind die Axiome der Metaphysik in besonderer Weise ausgezeichnet: Sie „gelten von allem Seienden“, nicht nur von „irgendeiner besonderen Gattung“, und „alle bedienen sich ihrer“³¹. Die Prinzipien der verschiedenen Bereiche sind,wie einleitend bereits erwähnt wurde, somit auf grundlegendere Prinzipien angewiesen, die in den unterschiedlichen Disziplinen vorausgesetzt und nicht eigens thematisiert werden. Der NWS und der SAD der Ersten Philosophie sind die universalen Prinzipien.³² Der Begründung der Axiome kommt in Buch Γ eine zentrale Stellung zu, wobei Aristoteles seine Argumentation mehr auf den NWS konzentriert und sich dem SAD erst in den letzten beiden Kapiteln zuwendet. Mit dieser Aufteilung ist nicht der Vorrang des zuerst erörterten Axioms oder der abgeleitete Status des zweiten gemeint. Gemäß der Aufgabenstellung, die universelle Geltung der ersten Prinzipien zu rechtfertigen, ist es in der Sache begründet und somit sinnvoller, das Verhältnis zwischen beiden als komplementär zu verstehen.³³ Für die kürzere, aber keineswegs unwichtige Besprechung des SAD in Metaphysik Γ spricht zudem, dass sich bei diesem Axiom das Kernargument, mit dem die Notwendigkeit des NWS bewiesen wird, wiederholt. Wenn daher im weiteren Verlauf der Untersuchung von den ersten Prinzipien nicht im Plural die Rede ist, so ist das eine dem Darstellungsablauf in Buch Γ geschuldete Beschränkung auf den NWS und keine Entscheidung für die eventuelle Zweitrangigkeit des SAD. Ob die Axiome im strengen Sinne voraussetzungslos, mithin unbedingt sind oder ihrerseits Voraussetzungen oder Bedingungen haben, ist für ihre prinzipientheoretische Bewertung von zentraler Bedeutung. Aristoteles hat bekanntlich in  Met. V 1, 1013a17– 19.  Met. IV 3, 1005a22– 25.  Vgl. zur Universalität des NWS Code 1986, 342 f.; Dancy 1975, 107– 114; Inciarte 1992, 359, 368, 371; kritisch hingegen Łukasiewicz 1993; er hält auch das Identitätsprinzip für ursprünglicher.Vgl. zur älteren Forschungsliteratur den Überblick bei Pietsch 1992, 283 f.  Vgl. Cassin und Narcy 1989, 267, die den SAD für ein Teilprinzip des Nichtwiderspruchsatzes halten. Vgl. hingegen für eine überzeugend komplementäre Lesart der beiden Prinzipien Hafemann 1998, 3 f. u. 118 f.; Kirwan 1971, 116.

2.1 Der Nichtwiderspruchssatz

21

der Zweiten Analytik eine klare Antwort gegeben: Ein Axiom ist demnach genau dann voraussetzungslos, wenn es „durch sich selbst notwendig wahr ist und notwendig als wahr erscheint“³⁴, sich nicht durch einen Beweis begründen lasse, sondern allein in der Seele begründet sei, was allerdings zugleich eine besondere Begründung des Begründungslosen ist. Die Selbstevidenz ergibt sich durch die Identität des Prinzips mit der Vernunft (νοῦς), insofern ist es für Aristoteles ein Apriori für Denken und Erkennen überhaupt. Diese Identität ist allerdings eine besondere Form der Rechtfertigung, um potentiellen Gegnern nicht dogmatisch, sondern mit Vernunftgründen begegnen zu können. Es ist die Aufgabe des Buches Γ der Metaphysik, diese Rechtfertigung zu erbringen. Im Folgenden werden in einem ersten Schritt die Gehalte beider Axiome dargestellt, um dann im zweiten Schritt der umfangreichen Argumentation, die Aristoteles in Γ anstrengt, in ihren wesentlichen Punkten nachzugehen. Ziel des Kapitels ist es, zunächst zu zeigen, dass die Modalitäten ‚Notwendigkeit‘ und ‚Unmöglichkeit‘ auf der prinzipientheoretischen Ebene für die Definition der Axiome unerlässlich sind. Denn – so meine These – die einmalige Vorrangstellung, die den Prinzipien in Buch Γ im Begründungsdiskurs zukommt, hängt von ihrer modalen Kennzeichnung ab. Daher ist in einem dritten Schritt die Notwendigkeit und Möglichkeit der Prinzipien in semantischer, noetischer und ontologischer Hinsicht zu analysieren, wobei hier der Ausdruck ‚Hinsicht’ keine Einteilung in real getrennte Geltungsbereiche bedeutet. Eine derartige Vervielfältigung des Axioms widerspräche dem Begriff des Ersten.³⁵

2.1 Der Nichtwiderspruchssatz Wie sehr Aristoteles von der außerordentlichen Gültigkeit des Axioms überzeugt ist, belegt die für seinen Sprachstil fast schon verschwenderische Verwendung des Superlativs „sicherste“ (βεβαιοτάτη) in der Textpassage von Metaphysik Γ 3, die zu der ersten Formulierung des NWS hinführt. Wie jede Einzelwissenschaft die Erkenntnis ihrer sichersten Prinzipien für ihren jeweiligen Gegenstandsbereich erfordere, so sei es gerade die Aufgabe des Philosophen, das „sicherste Prinzip allen Seienden“ anzugeben: Das sicherste Prinzip unter allen Prinzipien ist dasjenige, bei dem Täuschung unmöglich ist; denn ein solches muss notwendig am einsichtigsten sein, (da sich ja alle nur über das,was sie

 An. post. I 10, 76b24 f.; vgl. An. pr. II 16, 64b34 f.Vgl. für die folgende Aprioritätssthese An. post. II 19; vgl. Liske 1997, bes. 24 ff.; Pietsch 1992, 287; Tugendhat/Wolf 1983, 55 ff.  Vgl. auch Rapp 1995, 225 ff.

22

2 Die ersten Axiome

nicht einsehen, täuschen), und es muss ohne Voraussetzung gelten. Denn ein Prinzip, das jeder notwendig besitzen muss, der irgendetwas von dem Seienden erkennen soll, ist nicht hypothetisch, und was jeder wissen muss, der irgendetwas erkennen soll, das muss er bereits zum Erkennen mitbringen.³⁶

Bereits diese Einleitung macht deutlich, wie stark die Modalbegriffe in die Argumentation eingehen und den Geltungsanspruch auszeichnen. Das oberste Axiom muss,wenn es Seiendes, Denken und Erkennen bestimmt, per definitionem notwendig und dementsprechend unmöglich zu negieren sein; es ist vollkommen gewiss und wahr. Das trifft nach Ansicht des Aristoteles in ausgezeichneter Weise für den NWS zu. Er hat den besonderen Status des ἀνυπόθετον, der unbedingten oder voraussetzungslosen Voraussetzung, und ist in diesem Sinn als Fundamentalaxiom absolut. Für das Denken ist der NWS die erste Möglichkeitsbedingung – mithin das transzendentale Prinzip – einer noetischen und epistemischen Praxis. Dasselbe kann demselben [Gegenstand] unmöglich zugleich und in derselben Hinsicht (und dazu mögen noch die anderen näheren Bestimmungen hinzugefügt sein, mit denen wir logischen Einwürfen ausweichen) zukommen und nicht zukommen… Es ist nämlich unmöglich anzunehmen, dasselbe sei [so] und sei nicht [so].³⁷

Auffallend an dieser knappen Formulierung ist ihre relative Unbestimmtheit. So präzisiert Aristoteles nicht, was der in der Klammer erwähnte Zusatz im Einzelnen heißen soll. Zudem lassen die kontextabhängigen Demonstrativpronomen offen, welche objektsprachlichen Zuschreibungen gemeint sind, auf die sich die Nichtwidersprüchlichkeit bezieht. Dies ist insofern konsequent, als auf diese Weise der formal-universelle Charakter des Prinzips gewahrt bleibt. Bei näherer Betrachtung fällt weiterhin auf, dass in die Formulierung des Prinzips Begriffe eingebunden sind, die selbst komplexe Theoreme implizieren. Das gilt für die Begriffe der Identität, der Zeit, der Negation und Affirmation sowie der Prädikation. Diese begrifflichen Distinktionen sind für die Geltung des Prinzips erforderlich, aber sie sind nicht unmittelbar einsichtig. Daher erfordert die Rechtfertigung des NWS auch eine Klärung der notwendigen Implikationen. Vor dem Hintergrund der anderen Termini ist berechtigterweise die prinzipielle Voraussetzungslosigkeit der ersten Axiome in Frage zu stellen. Dieser Einwand soll aber zunächst zurückgestellt werden, um in einem ersten Zugang den formallogischen Gehalt des Satzes in aufeinander aufbauenden Notationen festzuhalten.

 Met. IV 3, 1005b11– 17.  Met. IV 3, 1005b19 – 22, b23 f.; vgl. 1005bf.

2.1 Der Nichtwiderspruchssatz

23

Die oben zitierte Definition legt fest, dass der NWS nicht aufgehoben werden kann. Wenn es unmöglich ist, dass dasselbe demselben in derselben Hinsicht zugleich zukommt und auch nicht zukommt, ist das erste Prinzip die Bedingung für die Möglichkeit von Unterscheidungen in ontischer, noetischer und semantischer Hinsicht. Allgemein gilt: – U (A und non-A).³⁸

2.1.1 Semantik Daher kann man [einer Sache] doch wohl alles, was [ihr] irgend jemand zugesprochen hat, auch absprechen und alles, was ihr jemand abgesprochen hat, auch zusprechen. Somit ist klar, dass jeder bejahenden Aussage eine verneinende entgegengesetzt ist und jeder verneinenden Aussage eine bejahende. Und wenn eine bejahende und eine verneinende Aussage einander entgegengesetzt sind, so wollen wir sie eine Kontradiktion (d. h. ein kontradiktorisches Aussagenpaar) [ἀντίφασις] nennen. Als einander entgegengesetzt bezeichne ich [eine bejahende und eine verneinende Aussage] dann, wenn sie dasselbe [denselben Begriff] demselben Gegenstand zu- bzw. absprechen …³⁹

Einerseits muss irritieren, dass Aristoteles entgegen der oben gemachten Vorgabe in De interpretatione die Möglichkeit des Widerspruchs auf der Satzebene als Kontradiktion zwischen einer bejahenden und einer verneinenden Aussage explizit einräumt; denn einwenden lässt sich: Wenn das Prinzip gilt, dann ist eine derartige Kontradiktion unmöglich.⁴⁰ Halten wir zunächst fest: Grundsätzlich besteht ein Widerspruch dann, wenn einem Subjekt (einer Substanz) in einem Satz ein prädikativer Gehalt (ein Begriff) zugesprochen wird und demselben Subjekt in einem anderen Satz derselbe Gehalt abgesprochen wird (z. B. „Sokrates ist weiß“ – „Sokrates ist nicht weiß“). Andererseits ist es einsichtig,von einem Ausschluss des Widerspruchs zu sprechen, wenn er prinzipiell auch möglich ist. So beschreibt die Passage im Grunde eine gängige Erfahrung unserer Sprachpraxis, dass Aussagen und Meinungen hinsichtlich einer Sache widersprüchlich sein können. Ist damit die allgemeine Gültigkeit des NWS widerlegt? Folgende Aspekte sind gegen eine Relativierung des Prinzips vorzubringen:  U = Es ist unmöglich, dass …; A/non-A = allgemeine Variable für einfache Denkinhalte, die zwar propositional sein können, aber nicht schon ein Urteil im Sinne der Affirmation und Negation, mithin unbeurteilte Propositionen sind.  De Int. 6, 17a30 – 36.  Die anderen drei Formen der Entgegensetzung – Privation, konträrer Gegensatz und Relation (vgl. Met. X 3, 1054a23 – 27; Cat. 10 – 11) – spielen hier keine Rolle. Der NWS richtet sich primär gegen die Kontradiktion.

24









2 Die ersten Axiome

Die zitierte Passage macht zunächst ohne Einbeziehung eines Wahrheitsanspruchs deutlich, dass durchaus ein semantischer Widerspruch zwischen zwei Assertionen bestehen kann. Die entscheidende Frage nach den Wahrheitswerten, die den Sätzen zukommen, ist damit noch nicht gestellt. Dass es ein kontradiktorisches Aussagenpaar gibt, setzt voraus, dass ein Aussagesatz der Möglichkeit nach grundsätzlich affirmierend und negierend sein kann; der Wirklichkeit nach aber nur affirmierend oder negierend ist. Der Widerspruch setzt weiterhin voraus, dass einer Kontradiktion auf semantischer Ebene notwendig eine Kontradiktion auf noetischer Ebene als unterscheidbare Verbindung oder Trennung von Gedanken bzw. als zwei entgegengesetzten propositionalen Gehalten zu Grunde liegt (…, dass S weiß ist. – …, dass S nicht weiß ist.). Auch hier muss der NWS uneingeschränkt gültig sein. Wenn angenommen wird, dass ein und derselbe Sprecher ein kontradiktorisches Aussagenpaar verbalisiert, dann ist damit nicht gesagt, dass er den Widerspruch auch aktual denkt‚ d. h. die entgegengesetzten Gedanken gleichermaßen affirmiert. Denn, so ist einzuwenden, dieser Sprecher kann sich in Bezug auf dieselbe Sache zwar widersprechen, aber er kann nicht im strikten Sinn des NWS widersprüchlich denken. Eine im Denken affirmierte Kontradiktion kann nach Aristoteles gar nicht sinnvoll gedacht werden, da sich ein Denkakt ausschließlich in einem bejahenden oder verneinenden gedanklichen Urteil vollendet oder, wie es in der Zweiten Analytik heißt: „zum Stehen kommt“⁴¹. Demgegenüber ist ein widersprüchliches Denken, da es die Affirmation negiert und die Negation zugleich affirmieren müsste, nicht nur inhaltsleer, sondern kann überhaupt nicht vollzogen werden. Konsequent widersprüchliches Denken hebt sich selbst auf oder führt sich ad absurdum. Es gibt für Aristoteles kein Denken jenseits des NWS. Schließlich kann die zitierte Passage so verstanden werden, dass Aristoteles ein Argument gegen die These, nichts Falsches könne behauptet werden, formuliert.⁴² Auch hierbei ist der NWS für die distinkte Binarität von ‚wahr‘ und ‚falsch‘ präsupponiert.

Vor dem Hintergrund dieser Argumente können wir sagen: Die Notwendigkeit des ersten Prinzips bestätigt sich gleichsam als Bedingung für die Möglichkeit des semantischen Widerspruchs. Zum einen ermöglicht das Prinzip die Unterscheidung zwischen Affirmation und Negation; eine Unterscheidung, die noch nicht

 An. post. II 19, 100a15-b3.  Vgl. Ackrill 1963, 128.

2.1 Der Nichtwiderspruchssatz

25

Wahrheitswerte zuordnet, so dass beide Assertionen der Möglichkeit nach wahr oder falsch sein können. Ohne Einbeziehung eines widerstreitenden Wahrheitsanspruchs ist zu formulieren: Ein Widerspruch ist möglich, wenn eine Aussage einem Subjekt dasselbe Prädikat in derselben Hinsicht zuspricht und eine zweite Aussage demselben Subjekt dasselbe Prädikat abspricht. Aber es ist unmöglich, dass in einer Aussage demselben Subjekt derselbe Prädikatsgehalt zugleich zuund abgesprochen wird, so dass gilt: – U (p und non-p). Entscheidend für die weitere Auseinandersetzung ist die Einbeziehung des Wahrheitsanspruchs, wonach zwei Aussagen mit Wahrheitswerten demselben Subjekt denselben Prädikatsgehalt zum einen zu- und zum anderen absprechen. Der apophantische Sinn jeder Aussage für sich ist nur bei Geltung des NWS gesichert. Erst unter dieser Voraussetzung kann der propositionale Gehalt eines Satzes wahr oder falsch sein, gedacht und mitgeteilt werden. Somit ermöglicht das Axiom auch die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit. Es ist unmöglich, dass beide Widerspruchsglieder zugleich wahr sind: – U (W[p] und W[non-p]). Diese Auslegung des NWS bildet, insofern sie den Sinn der aristotelischen Satztheorie sichert, den Schwerpunkt der Rechtfertigungsargumentation des ersten Axioms in Buch Γ der Metaphysik. ⁴³ Ob aber die Aussage wahr oder falsch ist, entscheidet sich anhand des im Urteil ausgedrückten Sachverhalts und der Beantwortung der Frage, ob er besteht oder nicht besteht. Durch den Wirklichkeitsbezug löst sich die Struktur τὶ κατὰ τινός der Aussage als gerechtfertigte ein oder nicht. Sie trifft zu, wenn der Sachverhalt besteht, wenn sich die Sachen also so zueinander verhalten, wie es das affirmative oder negative Urteil besagt. Allerdings dürfen wir hier nicht einen ontologischen Wahrheitsbegriff unterstellen. Bekanntlich hat Aristoteles das gedankliche Urteil als den Ort der Wahrheit bestimmt: Das Wahre und Falsche liegt nicht in den Dingen – Seiendes ist nicht wahr oder falsch –, sondern im Denken,

 Allerdings schließt der NWS noch nicht aus, dass beide Glieder falsch sein können. Das ist Aufgabe des SAD. Wie wichtig Aristoteles die Sicherung der Unterscheidung von ‚wahr’ und ‚falsch’ ist,wird am Ende von Kapitel 6 besonders deutlich,wo er mehrmals das Ergebnis in diesem Sinn betont: „Die sicherste Meinung unter allen ist, dass entgegengesetzte Aussagen nicht zugleich wahr sein können …“ (1011b13 f.); „Unmöglich sind widersprüchliche Aussagen vom selben zugleich wahr …“ (1011b16 f.); „Ist es nun unmöglich, etwas [einen Begriff] mit Wahrheit zugleich zu bejahen und zu verneinen, so ist es ebenso unmöglich, dass das Konträre demselben zugleich zukomme …“ (1011b20 f.).

26

2 Die ersten Axiome

da es allein etwas von etwas bestimmt bzw. aussagt und damit einen Sachverhalt behauptet.⁴⁴ Gleichwohl steht, wie schon gesagt, der Wahrheitsanspruch in Abhängigkeit von der möglichen Realität des Sachverhalts. Was als Subjekt und Prädikat des Satzes fungiert, hängt von der Verfasstheit des zugrunde liegenden Gegenstandes – und das heißt für Aristoteles: von der Substanz – ab, auf den die Prädikation referiert. Daher gilt: Der mögliche Sachverhalt ist, indem er in der Subjekt-PrädikatRelation eine bestehende oder nicht-bestehende Identität zwischen der Substanz und dem Prädikat darstellt, die referenztheoretische notwendige Bedingung für das Wahr- oder Falschsein eines Satzes. Aristoteles geht es also bei der semantischen Eindeutigkeit, wie im Weiteren genauer zu untersuchen ist, auch um die Referenzfähigkeit des Aussagesatzes. Damit werden Einheit und Abgegrenztheit der Wirklichkeit selbst, genauer gesagt, das Seiende als Seiendes – die Substanz, zum Gegenstand der Prinzipienrechtfertigung. Spätestens hier drängt sich noch einmal die Frage auf, inwieweit der NWS voraussetzungslos ist. Denn sowohl die logisch-syntaktische Subjekt-PrädikatRelation, die Begriffe ‚Affirmation‘ und ‚Negation‘ als auch die Strukturmerkmale der Substanz gehen offensichtlich in die Bestimmung des ersten Prinzips mit ein. Dieser Einwand ist zum Teil berechtigt.⁴⁵ Ich schlage vor, die genannten Begriffe nicht hierarchisch im Sinn eines Präsuppositionsverhältnisses, sondern hermeneutisch zu verstehen, so dass sich erst im Verlauf der Argumentation zeigt, wie sie als Grundeinheiten sowohl auf den NWS angewiesen als auch Bestandteil seiner Rechtfertigung sind. In diesem Sinn schreibt das Prinzip nicht vor, sondern beschreibt, wie überhaupt gedacht und gesprochen werden kann. Auf diese Weise lässt sich, wie zum Teil schon gezeigt, die Notwendigkeit des Axioms für die prinzipielle Unterscheidung zwischen Affirmation und Negation sowie zwischen Wahrheit und Falschheit, ohne die keine Proposition sinnvoll gedacht werden könnte, nachweisen. Der Frage nach der für die Gültigkeit des Axioms bereits vorauszusetzenden Substanzontologie werden wir im Folgenden zunächst im Rahmen einer Diskus Vgl. Met.VI 4, 1027b25 – 27 u. 29 – 31; IX 10, 1051b6 – 9; De Int. 9, 18b37 f.Wahr ist die gedankliche Meinung, nicht der Aussagesatz, der diese Meinung vermittelt.  So hat Pietsch 1992, 295 eingewendet, der NWS habe logisch-semantische Voraussetzungen; vgl. auch Łukasiewicz 1993, 12. Man kann Aristoteles vorwerfen, dass er Begriffe verwendet, deren Bedeutung und Funktion nicht erklärt, sondern vorausgesetzt werden. Dies betrifft vor allem ‚Substanz’ und ‚Akzidens’, strenggenommen aber auch die Termini seiner Satztheorie. Für einen Gegner, der diese Implikationen nicht akzeptiert und verwendet, ist die Gültigkeit des NWS auf dieser Ebene nicht notwendig überzeugend. Allerdings stellt sich dann die Frage, die Aristoteles mit seinen Prinzipienrechtfertigung beantwortet, erneut: Was und wie Denken, Erkennen, Sprechen und Seiendes (anders möglich) sein sollen?

2.1 Der Nichtwiderspruchssatz

27

sion der ontologischen Bedeutung des NWS begegnen. Eine eingehende Analyse der Substanztheorie wird an späterer Stelle der Untersuchung durchgeführt.

2.1.2 Ontologie Für den wahrheitsrelevanten Zusammenhang zwischen einem behaupteten Sachverhalt und einer realen Substanzverfasstheit gilt ein Dependenzverhältnis zwischen Semantik und Ontologie. ‚Wahr‘ und ‚falsch‘ sind zwar semantische Termini, aber sie werden in Abhängigkeit davon in Anschlag gebracht, ob der behauptete Sachverhalt besteht oder nicht. Daher ist die reale Substanz innerhalb der Satztheorie für eine sinnvolle, das Subjekt explizierende Prädikation von grundlegender Bedeutung und sind die Theorie der Substanz sowie die spezifische Aussagestruktur von Subjekt-Prädikat entscheidend für die Rechtfertigung des NWS; aber eben nicht in der Weise, dass sie diesem unreflektiert vorausliegen. In der Einleitung zur Prinzipienthematik in Buch Γ weist Aristoteles ausdrücklich auf die ontologische Bedeutung des Axioms hin, da es von allem Seienden und vom Seienden als Seiendem gelte.⁴⁶ Gerade auf der Grundlage der Satztheorie ist diese Geltung, insofern die Konstitution des Referenzgegenstandes über die Wahrheit oder Falschheit des Sachverhalts entscheidet, erforderlich. Demnach kann die Bestimmtheit des jeweils vorliegenden Seienden nicht außerhalb der Widerspruch ausschließenden Ordnung liegen; allerdings hat das Seiende eine andere Ordnung als die der Semantik. Für die Ordnung des Seienden muss gewährleistet sein, dass ein Gegenstand und die ihm zukommenden Eigenschaften nicht widersprüchlich existieren, mithin nicht zugleich und in derselben Hinsicht sind und nicht sind, um ein indifferentes Zusprechen oder Absprechen von explizierenden Prädikatsgehalten oder Begriffen auszuschließen. Entsprechend deutlich hält Aristoteles vor Beginn seiner Auseinandersetzung mit den gegnerischen Positionen in Buch Γ fest, das Seiende als solches habe gewisse „Eigentümlichkeiten“ (ἴδια), die ebenfalls von der Ersten Wissenschaft zu erforschen seien. In diesem Sinn sind ‚Nichtwidersprüchlichkeit‘ und in Bezug auf den SAD ‚Nichtmittleres‘ besondere formale Eigenschaften, die dem Seienden, genauer gesagt: der Substanz, notwendig, und zwar als „Akzidentien an sich“ (συβεβηκότα καθἤ αὑτό) zukommen. Ich werde im Weiteren statt ‚Eigentümlichkeiten‘ den Begriff des Proprium verwenden.⁴⁷

 Vgl. Met. IV 3, 1005a22– 25.  Vgl. für ‚Eigentümlichkeit’ Met. IV 2, 1004b15 – 17; für ‚Akzidens an sich’ Met. III 1, 995b20 u. 25; Met. V 30, 1025a30 – 33; An. post. I 7, 75b1; für ‚notwendig’ An. post. I 6, 75a28 f. Vgl. für die Be-

28

2 Die ersten Axiome

Nur unter der Voraussetzung, dass Seiendes nicht widersprüchlich strukturiert ist, lässt sich die Wahrheit einer affirmierenden gegen eine negierende Aussage rechtfertigen und für andere nachvollziehen. Die ontologische Bedeutung des NWS formulieren wir analog zu den bisherigen Bestimmungen: Es ist unmöglich, dass derselbe Gegenstand zugleich und in derselben Hinsicht ist und nicht ist oder ihm dieselbe Eigenschaft in derselben Hinsicht zugleich zu- wie nicht zukommt: – U [‚E‘x (Fx & non-Fx)].⁴⁸ Die Geltung des ersten Axioms auch für den Bereich des Seienden verdeutlicht,wie sehr Logik und Ontologie miteinander verbunden sind. Wenn die Metaphysik von den Strukturmerkmalen des Seienden als Seiendem – der Substantialität der Gegenstände – handelt, dann kann sie dies nicht ohne die ontologische Voraussetzung eines Prinzips durchführen, das diese Struktur bestimmt. Erst unter dieser Voraussetzung lassen sich gedankliche Urteile über Gegenstände falsifizieren. Die ontische Relevanz des NWS formuliert Aristoteles bereits an einer frühen Stelle, wo es heißt, dass es nicht allein darum gehe, ob ‚Mensch‘ und ‚Nicht-Mensch‘ dasselbe benennen, sondern ob der Gegenstand (πρᾶγμα) beides zugleich sein könne.⁴⁹ Zwei systematische Perspektiven werden vor diesem Hintergrund offenbar: Zum einen zeigt sich hier noch einmal die enge Verbindung zwischen Semantik und Metaphysik, wie sie für die Satztheorie und die Begründung des NWS grundlegend ist. Die Möglichkeit eines wahren Sachverhalts setzt die notwendige Geltung des ersten Prinzips und die der Substanz voraus. Zum anderen erklärt sich so meine These, dass die Axiomtheorie eng an die Substanzmetaphysik gekoppelt

deutung des Propriums in der scholastischen Philosophie Liske 1985, 228 ff.; Irwin 1988, §§ 32; 38; 507, Fn. 38.  ‚E’ = Existenzquantor (Es gibt mindestens ein x, für das gilt …). – Im strikten Sinn geht der prädikatenlogischen Schreibweise die besprochene ontologische Bedingung der Nichtwidersprüchlichkeit des Seienden voraus. Von daher ist die gewählte Notation im Rückgriff auf den ontologischen Existenzbegriff zu verstehen.  „Aber das ist gar nicht die Frage, ob dasselbe Mensch und Nicht-Mensch heißen, sondern, ob der Gegenstand beides zugleich sein kann. Wenn nun also Mensch und Nicht-Mensch nichts Verschiedenes bezeichnen, so würde offenbar auch das Nicht-Mensch-Sein vom Mensch-Sein nicht verschieden sein.“ Met. IV 4, 1006b21– 22. Der Ausdruck πρᾶγμα kann nach Weidemann 1994, 138 f. auch im Sinne von Sachverhalt verstanden werden, der bei Aristoteles nicht unbedingt aktuell vorliegen muss. Aber in unserem Fall ist diese Verwendung des Terminus nicht sinnvoll: Die Argumentation bewegt sich noch nicht auf der Satz-, sondern auf der Wortebene, so dass die allgemeine formale Bestimmung des Sachverhalts als nominalisierter Aussagesatz ‚…dass p’ nicht zutrifft (vgl. auch Tugendhat 1976, 62).

2.2 Satz vom ausgeschlossenen Mittleren

29

ist und mit dem Essentialismus Entscheidungen verbunden sind, die für die Rechtfertigung der Axiome Gewicht haben. So erwähnt Aristoteles den Substanzbegriff bereits im Kontext der Prinzipienverteidigung in Γ, aber thematisiert ihn bekanntlich erst in den Büchern Ζ, Η und Θ. Wie bereits oben gesagt, konzentriere ich mich im Rahmen der Prinzipienanalyse auf den NWS. Doch bevor dessen eigentlicher Rechtfertigungsargumentation nachgegangen wird, soll auch das zweite Axiom – der SAD – in begrenzter Hinsicht dargestellt werden. Die Besprechung ist als Ergänzung angelegt, um die systematische Verbindung beider Prinzipiengehalte aufzuzeigen.

2.2 Satz vom ausgeschlossenen Mittleren Der SAD ist ebenfalls ein logisches und allgemein gültiges Gesetz. Er hat dieselben begrifflichen Merkmale – Gewissheit,Wahrheit und Voraussetzungslosigkeit – wie der NWS und ist in gleicher Weise durch die Modalitäten ‚Unmöglichkeit‘ und ‚Notwendigkeit‘ auf der prinzipientheoretischen Ebene ausgezeichnet. Das zweite Axiom schließt aus, dass es zwischen den zwei Gliedern des Widerspruchs ein Drittes, genauer gesagt, ein Mittleres (μεταξύ) gibt. Etwas kann nur auf die eine oder andere Weise bestimmt sein, unmöglich aber in der Weise eines Widerspruchsmittleren. Aristoteles’ erste Fassung des Prinzips legt also fest: „Ebenso wenig kann es zwischen den beiden Gliedern eines Widerspruchs ein Mittleres geben, sondern notwendig ist jeweils Eines von Einem entweder zu bejahen oder zu verneinen.“⁵⁰ Notwendig gilt entweder die Affirmation oder die Negation, und das bedeutet für den Ausschluss eines Mittleren, dass es unmöglich weder Affirmation noch Negation geben kann: – N (A oder non-A) ~ U (weder A noch non-A). Auch für die Gültigkeit SAD ist die Satzkonzeption grundlegend. Das Axiom richtet sich gegen die Möglichkeit einer dritten bzw. mittleren Aussageweise neben den beiden Möglichkeiten der apophantischen Aussage. Nach einer derartigen Möglichkeit wird über das Satzsubjekt weder etwas Bejahendes noch Verneinendes ausgesagt. Das Ergebnis wäre eine semantische Indifferenz, aufgrund mangelnder differenter Bestimmungen. Daher gilt entweder die Affirmation oder die Negation, unmöglich ist es, weder den verbindenden (affirmierten) noch den trennenden (negierten) Gedanken in Bezug auf ein Subjekt zu artikulieren: – N (p oder non-p) ~ U (weder p noch non-p).  Met. IV 7, 1011b23 f.; vgl. Met. III 2, 996b27– 30; De In. 13, 22b12 f.; An. post. I 11, 77a22.

30

2 Die ersten Axiome

Aristoteles liefert auf der Grundlage der notwendigen Unterscheidung bei assertorischen Aussagen eine weiterführende Definition des SAD. Sie bestimmt die Verteilung der Wahrheitswerte bei den Widerspruchsgliedern und ist komplementär zur logisch-semantischen Bedeutung des NWS zu lesen: „Wenn notwendig jede [Prädikation] bejaht oder verneint werden muss, so sind unmöglich beide [Widerspruchsglieder] falsch; denn nur das eine Glied ist falsch.“⁵¹ Der SAD schließt die gleichzeitige Falschheit von Affirmation und Negation aus. Er sichert die notwendige Wahrheit einer der beiden entgegengesetzten Behauptungssätze: – N (W[p] oder W[non p]) ~ U (F[p] und F[non p]).⁵² Ebenso hat das zweite Axiom eine ontologische Geltung. Es spricht, wie zuvor der NWS, jedem Seienden das Proprium des ‚Nichtwiderspruchsmittleren‘ zu, was heißt, dass jedes Seiende nach einer der Widerspruchsseiten bestimmt sein muss, so oder nicht so zu sein.⁵³ Auch hier ist wieder die apophantische Aussage maßgebend, deren Wahrheitsanspruch von dem Bestehen oder Nichtbestehen des behaupteten Sachverhaltes abhängt. Wer etwas Wahres oder Falsches aussagt, sagt Seiendes oder Nicht-Seiendes aus. Zwischen Sein oder Nicht-Sein gibt es kein Drittes: „Wer also Sein oder Nicht-Sein aussagt, muss Wahres oder Falsches aussagen. Denn vom Seienden wird nicht gesagt, es sei nicht oder es sei, und ebenso wenig vom Nichtseienden.“⁵⁴ Die ontologische Relevanz des SAD besteht demnach in der Festlegung, dass von zwei Widerspruchsgliedern eines bestehen muss und der Gegenstand in dieser Form bestimmt ist. Halten wir die Analyseergebnisse mit Blick auf die Bedeutung des Möglichkeitsbegriffs fest: Die Auszeichnung der ersten Axiome durch die zwei Modalitäten unmöglich (ἀδύνατον) und notwendig (ἀναγκαῖον) ist keineswegs trivial. Sie bilden gleichsam die Vorzeichen einer Klammer, in der Logik, Semantik und Ontologie für die Rechtfertigung miteinander verbunden sind. Ihre Funktion ist es, die Gültigkeit der ersten Prinzipien in diesen Ordnungen einheitlich zu kennzeichnen und festzulegen, was für das Denken und Erkennen möglich ist. Die Modalität der Notwendigkeit hat die Funktion, die zentralen begriffslogischen  Met. IV 8, 1012b11– 13 und in 1012b9 – 11: „… So kann unmöglich alles falsch sein; denn notwendig muss das eine Glied des Widerspruchs wahr sein.“ Vgl. auch An. pr. I 13, 32a27; An. post. I 1, 71a14; De In. 9 18b7 f.  Die letzte Bestimmung impliziert wiederum die Notwendigkeit der Bivalenz für die einzelne Aussage, die korrelativ zum Bestehen oder Nicht-Bestehen des behaupteten Sachverhaltes wahr oder falsch ist: Wird etwas von etwas prädiziert, ist die Aussage notwendig wahr oder falsch (vgl. Met. IV 7, 1011b25 – 28).  „Somit ist für alles notwendig, dass es (entweder) ist oder nicht ist, und auch, dass es (entweder) sein oder nicht sein wird …“ De Int. 9, 19a27 f.; vgl. auch Phys. VI 5, 235b15 f. und 240a27 f.  Met. IV 7, 1011b28 f.

2.2 Satz vom ausgeschlossenen Mittleren

31

Kriterien des Axioms (Voraussetzungslosigkeit, Gewissheit, Wahrheit) und damit die prinzipiierende Stellung des ἀνυπόθετον auszuzeichnen: Unmöglich ist dasjenige, was – noematisch nicht zu denken ist, – semantisch nicht/nie wahr oder nicht/nie falsch sein kann, – ontisch nicht sein kann. Durch die modale Kennzeichnung ist ersichtlich, was es heißt, wenn Aristoteles den NWS das sicherste Prinzip von allem Seienden und allen Prinzipien nennt. Damit ist der (Un)Möglichkeitshorizont menschlichen Denkens und Erkennens markiert. Beide Tätigkeiten sind notwendig auf die Einhaltung von Nichtwidersprüchlichkeit (und Nicht-Mittlerem) angewiesen. Aristoteles verlässt sich nicht auf scheinbar intuitive Entscheidungen und behauptet nicht einfach die Evidenz der ersten Prinzipien, sondern macht sich deren Rechtfertigung zur Aufgabe.⁵⁵ Hierbei muss das Ziel sein, die aufgezeigte Notwendigkeit einsichtig zu machen und die destruktiven Konsequenzen aufzuzeigen, die sich umgekehrt ergeben, wenn die Möglichkeit des Widerspruchs (und des Dritten) behauptet wird.

 Anders ist es hingegen in der zeitgenössischen Logik; vgl. dazu Tugendhat/Wolf 1983, 51.

3 Rechtfertigung Aristoteles schultert für die Rechtfertigung des Nichtwiderspruchssatzes eine doppelte Beweislast. Er muss den Beweis so führen, dass die Notwendigkeit im bereits genannten Sinne maximal einsichtig ist und von jedem, insbesondere den Opponenten des Prinzips, akzeptiert wird. Zugleich muss er dabei berücksichtigen, dass sich die ersten Prinzipien nicht in Form eines syllogistischen Schlusses, wie es sein Wissenskonzept in den Analytiken fordert, beweisen lassen, sondern „durch sich selbst notwendig“ sind und erkannt werden.⁵⁶ Ebenso ist eine deduktive Beweisführung ausgeschlossen, da es sonst zu einem unendlichen Regress oder zu einem logischen Zirkel käme.⁵⁷ Weiterhin darf die Methode nicht empirisch oder abstraktiv verfahren. Beide Erkenntnisweisen setzen bereits den NWS sowie den SAD voraus und können von sich aus gar nicht ein ἀνυπόθετον gewinnen.⁵⁸ Um die Schwierigkeiten zu vermeiden und dennoch den NWS als implizites Apriori jedes sinnvollen Sprechens, Denkens und Erkennens aufzuzeigen, verwendet Aristoteles in Metaphysik IV 4 die Form des widerlegenden (elenktischen) Beweises. Dieser Beweistyp setzt das zu Beweisende nicht voraus, was eine petitio principii wäre, sondern weist das von einem potentiellen Kontrahenten negierte Prinzip exemplarisch in dessen eigener Sprachpraxis als notwendige Voraussetzung seiner Praxis nach, wodurch die Gültigkeit des Axioms indirekt bewiesen ist.⁵⁹ Es lässt sich doch ein widerlegender Beweis für die Unmöglichkeit der Behauptung [Leugnung des NWS] führen, sobald der Opponent nur überhaupt etwas sagt. Wenn er dies nicht

 Vgl. An. pr. II 16, 64b34 f.; An. post. I 11, 76b23.  „Denn dass es überhaupt für alles einen Beweis gebe, ist unmöglich, sonst würde ja ein Fortschritt ins Unendliche eintreten …“ Met. IV 4, 1006a7 f. Vgl. für das Argument des logischen Zirkels Met. IV 4, 1006a16 f. u. 1006a20 f.; vgl. zum Letztbegründungsdilemma bei Aristoteles Irwin 1988, Teil I.  Vgl. zu Aristoteles’ Kritik an einem empirischen Vorgehen, das aus „Unkenntnis der Analytik“ die obersten Axiome zu untersuchen meine Met. IV 3, 1005b1– 5; Pietsch 1992, 295.  „Den widerlegenden Beweis aber unterscheide ich vom dem eigentlichen direkten [deduktiven] Beweis; wollte man diesen führen, so würde man das zu Erweisende vorauszusetzen scheinen. Ist aber der andere [der Gegner] Ursache dessen, was vorausgesetzt wird, so ergibt sich eine Widerlegung, nicht jedoch ein Beweis.“ Met. IV 4, 1006a15 – 18. Strenggenommen wird der NWS auch hierbei vorausgesetzt, insofern von der prinzipiellen Notwendigkeit, dass alles entweder nur bejahen oder verneinen muss, ausgegangen wird und das gilt eben auch für die Sprachpraxis des Gegners. – Von „exemplarischer Anerkennung des Satzes vom Widerspruch“ seitens des Gegners spricht Rapp 1993, 535.

3 Rechtfertigung

33

tut, so wäre es lächerlich, gegen jemanden, der überhaupt kein Wort sagt, eine Rede zu versuchen; denn als solcher ist er einer Pflanze gleich.⁶⁰

‚Etwas sagen‘ heißt etwas Sinnvolles sagen. Auch derjenige, der die ersten logischen Axiome ablehnt, muss diese Verständigungsbedingung eingehen, will er nicht, so die wenig verlockende Alternative, in der sprachlichen Apraxie enden. Die bekannte ad hominem-Argumentation des Aristoteles basiert auf der allgemeinen Bedeutungsfunktion von Sprachzeichen. Bereits ein einzelnes Wort oder ein Name im Sinn eines nominalen Ausdrucks (Term) bezeichnet etwas auf der Nennebene. Für die Rechtfertigungsargumentation des Axioms ist es wichtig, dass die Modalitäten, mit denen der prinzipientheoretische Status ausgezeichnet wurde, auch auf der Ebene der Anwendung des Axioms, also der Sprachpraxis, durchgesetzt werden. Wenn sich der NWS in der semantischen Struktur manifestieren soll, so muss er dies mit uneingeschränkter Notwendigkeit tun. Um die prinzipielle Unmöglichkeit der Negation des Prinzips beweisen zu können, muss der Opponent die pragmatische Notwendigkeit des bedeutungshaltigen und daher nichtwidersprüchlichen Sprechakts einlösen, anders gesagt: Er wird mit jedem gesprochen Wort die pragmatische Unmöglichkeit seiner Ablehnung des NWS eingestehen müssen. Die Rechtfertigung wird von Aristoteles auf zwei semantischen Ebenen geführt, auf der Nennebene des singulären Wortes und auf der des assertorischen Aussagesatzes. Auf beiden Ebenen muss nachgewiesen werden, dass die semantische Identität sprachpragmatisch notwendig ist. Es geht um die semantische Einheit und Eindeutigkeit der jeweiligen Sprachgebilde. Dass Aristoteles die Unterscheidung von Wort und Satz macht, hat einen methodischen Grund: Für das Gelingen der Widerlegung dürfen dem Gegner nicht von vornherein die begrifflichen Distinktionen der Satztheorie abverlangt werden.⁶¹ Zum einen braucht der Opponent diese Terminologie nicht zu teilen, zum anderen wäre damit der Fehler eines logischen Zirkels begangen, da die Subjekt-Prädikat-Struktur das erst noch zu beweisende Axiom explizit durch das Zu- oder Absprechen in Anspruch nimmt. Dennoch muss in einem zweiten Schritt über die Nennebene des Wortes hinausgegangen werden. Schließlich ist es erst der gegenstandsbezogene Aussagesatz, der einen Erkenntnis- und Wahrheitsanspruch formuliert. Erst auf der Satzebene wird über Wirklichkeiten entschieden. Auf ihr ergibt sich die Gültigkeit des NWS wie des SAD in ontologischer Hinsicht. Folglich muss die Notwendigkeit

 Met. IV 4, 1006a11– 15; vgl. Met. XI 5, 1062a11– 23.  Vgl. Lear 1980, 110 ff.; Inciarte 1992, 343.

34

3 Rechtfertigung

der Prinzipien auch für das komplexere Wortgefüge der apophantischen Aussage nachgewiesen werden.

3.1 Wortebene Für die ad-hominem-Argumentation reduziert Aristoteles den Kommunikationsvorgang auf den kleinsten gemeinsamen semantischen Nenner, das bedeutungstragende Wort, den Term. Wer sich verständigen will, muss notwendig etwas Bestimmtes sagen. Entscheidend ist, dass dem Gegner, um eine petitio principii zu vermeiden, nicht die Disjunktion ‚Sein oder Nichtsein‘ abverlangt wird. Es geht nicht um eine Entscheidung darüber, was der Fall oder nicht der Fall ist; es geht überhaupt nicht um eine explizite Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten, sondern darum, dass der Opponent für sich wie für einen anderen überhaupt etwas Bedeutungshaltiges sagt, „etwas bedeutet“ (σημαίνει): Der Ausgangspunkt für alle derartigen [widerlegenden] Beweise besteht nicht darin, dass man vom Gegner verlangt, er solle erklären, dass etwas sei oder nicht sei, denn dies würde man schon für eine Annahme des zu Beweisenden ansehen, sondern dass er für sich wie für einen anderen etwas bedeute; denn dies ist mindestens notwendig, wenn er überhaupt etwas sagen will.⁶²

Mit dem Aussprechen eines Wortes wird unterhalb der Satzebene bereits ‚eine Bedeutung von etwas gegeben‘.⁶³ Das ist der nicht hintergehbare sprachpragmatische Grundsatz, der auch für den Opponenten des NWS notwendig gilt. Sollte noch der Grundsatz geleugnet werden, hätte der Gegner überhaupt keinen verständlichen Ausdruck und könnte keine Unterredung führen, weder für sich selbst denken noch für einen anderen aussprechen. ⁶⁴ Die dialogzerstörende Konsequenz muss den Opponenten zu der Einsicht führen, dass bereits die Verwendung eines singulären Wortes notwendig Bedeutungseinheit und -eindeutigkeit impliziert.

 Met. IV 4, 1006a18 – 22.  Irwin 1988, 548 sieht darin irrtümlicherweise schon die Aufforderung zur Bildung einer Aussage. Stattdessen gilt: Ein Wort – im Sinn eines nominalen Ausdrucks – muss, da es bereits, wenn auch nicht vergleichbar mit der Komplexität eines Aussagesatzes, etwas bezeichnet und von anderen abgrenzt, eine implizite Definition haben. So ist z. B. der Ausdruck ‚Mensch’ nur für den verständlich, der weiß, und sei es auch nur oberflächlich, was es heißt, Mensch zu sein. Den Ausdruck der ‚impliziten Definition’ übernehme ich von Mesch 1996, 140.  Vgl. Met. IV 3, 1005a22 f.

3.1 Wortebene

35

„Gibt er aber dies zu, so wird das der Beweis sein, denn es ist dann schon etwas begrenzt.“⁶⁵ Mit dem Ausdruck ‚Abgegrenztheit‘ (ὡρισμένον) gibt Aristoteles das entscheidende Kriterium an, das jedem bedeutungshaltigen Wort zukommen muss. Der Akt des Bedeutens kann nur dann abgeschlossen und das Benannte nur dann verstanden werden, wenn das sprachliche Zeichen eine für sich begrenzte und gegen andere abgegrenzte Bedeutung hat. In diesem Sinne ist die Definition (ὁρισμός) zu verstehen. Sie bestimmt Inhalt und Umfang der Bedeutung: Der Anfang [der Widerlegung] gegen alle diese [Gegner] ergibt sich aus der Definition. Sie entsteht daraus, dass sie ja notwendig etwas bedeuten müsse; denn diejenige Bedeutung (λόγος), deren Zeichen das Wort ist, wird zur Definition.⁶⁶

Aristoteles ergänzt das Kriterium der Abgegrenztheit um das des Einen bzw. der Einheit (ἕν). Etwas Begrenztes bedeuten, heißt immer auch „Eines bedeuten“ (σημαίνειν ἕν)⁶⁷. Das Merkmal der Einheit kennzeichnet den Gehalt des Wortes als in sich abgeschlossen, vollständig und unteilbar. Eine Wortbedeutung ist ein von anderen abgegrenztes einheitliches Ganzes, welches die Pluralität der Bedeutungen voraussetzt.⁶⁸ Die Frage, wie sich die Bedeutung eines Wortes überhaupt realisiert, wird durch die Angabe von Abgegrenztheit und Einheit in formalbegrifflicher Hinsicht zu einem wesentlichen Teil beantwortet. Beide Termini sind notwendige Begriffsmerkmale oder – um einen historisch später entstandenen, in der Sache aber zutreffenden Terminus zu verwenden – Transzendentalien, die mit jeder Bedeutungsbildung und -verwendung erfüllt sein müssen; sie gelten notwendig de dicto. ⁶⁹ Sie sind für die semantische Eindeutigkeit des Wortes und damit auch für die sprachpragmatische Beweisführung des Aristoteles konstitutiv. Wir können überhaupt nur miteinander reden, wenn wir Worte verwenden, die noch vor ihrer Prädikation auf der Satzebene eine bestimmte, voneinander abgegrenzte und

 Vgl. Met. IV6, 1006a24 f.  Met. IV 7, 1012a21– 24. Damit ist noch nicht entschieden, ob eine intensionale oder extensionale Definition verfolgt wird. Klar dürfte allerdings sein, dass für Aristoteles nur der Primat der Intension in Frage kommt; vgl. so auch Hafemann 1998, 175 ff.  Met. IV 4, 1006a31, 1006b1 f., 1006b7.  Das Ganze, so Aristoteles in seinem Begriffslexikon, sei dasjenige, „dem kein Teil fehlt“ und „was das Umfasste so umfasst, dass jenes eine Einheit wird“ Met. V 26, 1023b26 – 28.  Vgl. Liske 1985, 117– 122, bes. 121.Unter Verwendung scholastischer Terminologie kann von den beiden Kriterien auch als Transzendentalien (unum, aliquid) gesprochen werden.Vgl. Pietsch 1992, 231 ff., der allerdings herausstellt, dass bei Aristoteles die „systematische Lösung“ der späteren Transzendentalienlehre „nicht unmittelbar zu finden“ (232) sei; vgl. hingegen Bärthlein 1972.

36

3 Rechtfertigung

einheitliche Bedeutung haben. Ein Wort kann daher unmöglich alles bedeuten und etwas gänzlich Unbestimmtes bezeichnen. Mit dem Nachweis der formalbegrifflichen Kriterien der Abgegrenztheit und Einheit ist die Widerlegung des Opponenten im Grunde abgeschlossen. Durch die Einlösung des sprachpragmatischen Grundsatzes, eine Bedeutung von etwas geben’ zu müssen, ist auch die Gültigkeit des NWS auf der Nennebene eingestanden: In dem Moment, in dem ein Wort als ein so und nicht anders bestimmtes Sprachzeichen verwendet wird, ist ein nichtwidersprüchliches Benennen realisiert. Auch der hartnäckigste Opponent muss die Schlussfolgerung zugeben, „… dass sich nicht alles so und nicht so verhalten kann“⁷⁰. Die abgegrenzte Einheitlichkeit einer Bedeutung, deren Negation nicht zugleich in derselben Hinsicht ausgesprochen werden kann, impliziert die Gültigkeit des logischen Axioms. Ein Wort bedeutet dieses oder nicht-dieses, nicht aber beides. Das erste Axiom sichert die notwendige Nichtwidersprüchlichkeit von Wortbedeutungen: Zuerst nun ist eben dies selbst wahr, dass ein Wort ein Dieses-Sein oder Dieses-nicht-Sein bedeutet, so dass sich nicht alles so und nicht so verhalten kann. Wenn ferner das Wort ‚Mensch‘ eines bedeutet, so mag dies z. B. ‚zweifüßiges Lebewesen‘ sein. Dass es eines bedeutet, meine ich so: Wenn [das Wort] ‚Mensch‘ dies [zweifüßiges Lebewesen] bedeutet, so wird, falls etwas ein Mensch ist, dies das Mensch-zu-sein ausmachen.⁷¹

Selbst wenn das Wort ‚Mensch‘ „Vieles“ (πολλά) bedeutet, so bleibt davon unberührt, dass es einen durch Definition festgelegten Begriff gibt, nämlich den des zweifüßigen Lebewesens.⁷² An diesem Beispiel wird deutlich, wie das Wort ‚Mensch‘ als Zeichen mit der impliziten Definition ‚zweifüßiges Lebewesen‘ seine Doppelfunktion erfüllt, indem es sowohl Symbol für den Gedankeninhalt als auch für die Sache ist, die es als ein Dieses-da denotiert. Eine Wort, das hingegen „unendlich Vieles“ bedeutet, bedeutet gleichsam alles, da es nicht etwas Abgegrenzt-Einheitliches nennt. Die Aufhebung der Bedeutungseinheit würde zur grenzenlosen Verbindung mit Inhalten führen, die zuvor gleichsam durch die  Met. IV 4, 1006a28.  Met. IV 4, 1006a30 – 34.  Aristoteles geht auf die Besonderheit der Homonymie bzw. der Äquivozität in Met. IV 4, 1006a34-b5 ein. Die Vieldeutigkeit eines Wortes wie ‚Mensch’ ist ungefährlich für das Konzept der semantischen Eindeutigkeit.Wichtig ist allein, dass es erstens nicht unendlich viele Bedeutungen gibt; zweitens für die verschiedenen Bedeutungen jeweils ein eigenes Wort bzw. Zeichen angegeben werden kann; drittens unter den vielen eine erste einheitsstiftende Bedeutung ist, die die Bedeutung von ‚Mensch’ maßgeblich für alles andere nach der πρὸς-ἔν-Relation definiert. Ohnehin kann ein homonymer Wortgebrauch nur gelingen, wenn die Kriterien der Einheit sowie Abgegrenztheit und damit die Bedingung der Nichtwidersprüchlichkeit eingelöst sind, andernfalls gäbe es gar nicht die Möglichkeit differenter Bedeutungen.

3.2 Noetische Notwendigkeit der Einheit

37

Klammer der begriffslogischen Negation – in der alles, was ‚Nicht-Menschsein‘ bedeutet, steht – ausgeschlossen waren. Alle Bedeutungen würden dann in einem Wort zusammengehen. Ein derartiges Sprachzeichen wäre vollkommen widersprüchlich und – sprachpragmatisch betrachtet – unmöglich gehaltvoll zu äußern. Aristoteles verweist auf die desaströse Wirkung einer derartigen semantischen Indefinitheit, indem er vor allem das Kriterium des Einen betont. [Es] behauptete aber jemand, [das Wort] bedeute unendlich vieles, so wäre offenkundig kein Begriff [keine Rede] (λόγος) möglich; denn nicht Eines bedeuten ist dasselbe, wie nichts bedeuten; bedeuten aber die Worte nichts, so ist die [Möglichkeit des] Dialogs mit anderen und in Wahrheit auch die [Möglichkeit des] Dialogs mit sich selbst aufgehoben. Denn man kann gar nichts denken, wenn man nicht Eines denkt.⁷³

Das Entscheidende dieser Aussage ist, dass die Konzeption der semantischen Eindeutigkeit auch auf das Denken bzw. auf die Gedanken ausgeweitet wird.

3.2 Noetische Notwendigkeit der Einheit Die Einheit eines Gedankens – als ein Inhalt der Seele – wird mittels der Einheit eines Wortes repräsentiert. Analog zur sprachpragmatisch aufgewiesenen Notwendigkeit der Wortbedeutung ist die noetische Notwendigkeit der Bedeutungseinheit strukturiert. Für das Denken gilt, dass nur sinnvoll gedacht werden kann, wenn etwas abgegrenzt Einheitliches gedacht wird. Ein Gedanke muss im Verhältnis zu anderen schon vor seiner Verknüpfung zu einem gedanklichen Urteil als eine bestimmte bedeutungshaltige Einheit konzipiert und von anderen Einheiten different sein. Die konsequente Negation von Einheit ließe keine distinkten Denkund Wissensbedeutungen zu und führte zur Zerstörung des mentalen Dialogs. Für Aristoteles ist der Begriff der Einheit die notwendige Bedingung für die Möglichkeit des Denkens, als solcher ist er von transzendentaler Valenz.⁷⁴ Berücksichtigen wir weiterhin die in Metaphysik Γ 2 besprochene Konvertibilität von Einem und Seiendem, so lassen sich die formalbegrifflichen Kriterien der semantischen Eindeutigkeit entsprechend um den Begriff des Seins erweitern.

 Met. IV 4, 1006b5 – 10. Wie wir noch sehen werden, nutzt Nikolaus von Kues gerade den Gedanken eines alle Bedeutungen in sich fassenden Begriffs bzw. Worts für seine metaphysische Spekulation.  Vgl. Pietsch 1992, 229, der das ἕν als „transzendentes“ und „transzendentales“ Prinzip des Aristoteles versteht, das noch den NWS begründet (294). Von einem derart transzendenten Ersten kann aber mit Bezug auf die zitierte Stelle der Metaphysik nicht gesprochen werden; vgl. auch Cassin, Narcy 1989, 23.

38

3 Rechtfertigung

Denken hat dann nicht allein im Begriff des Einen seine Möglichkeitsbedingung, sondern auch in der Abgegrenztheit und dem Sein. Demnach sichert der NWS für den noetischen Bereich die Bestimmtheit der Gedankeninhalte auch vor der Bildung einer Assertion. In der Tätigkeit begrifflichen Denkens realisiert sich die Gültigkeit des ersten Axioms, das – um eine Formulierung Platons für das Denken aufzugreifen – eine Bedingung für das „Gespräch der Seele mit sich selbst“ (διάλογος) ist.⁷⁵ Wie die Nennebene des ausgesprochenen Worts, so ist auch dieser innermentale Dialog, insofern er in sich konsistent progrediert und das heißt, etwas von etwas anderem abgrenzt und es als etwas bestimmt, nicht-widersprüchlich konzipiert. Aristoteles beschreibt damit die umfassende apriorische Gültigkeit des ersten Prinzips für das Sprechen und Denken, die schon vor der differenzierten Einheit eines Satzes notwendig aus der semantischen Eindeutigkeit ihrer Inhalte besteht.

3.3 Satzebene Die bisherige Rechtfertigungsargumentation des NWS war ausschließlich am Wort orientiert.⁷⁶ Das fundamentale Faktum der Kommunikation, dass wir uns nicht in unverbundenen Worten über die Welt verständigen, sondern in Sätzen, macht den Wechsel zur semantisch komplexeren Ebene für die Prinzipienrechtfertigung unerlässlich. Wir sprechen in Sätzen und nehmen mit ihnen Bezug auf die Wirklichkeit. Um die Gültigkeit der ersten Prinzipien und deren ontologische Relevanz zu beweisen, muss der Aussagesatz einbezogen werden. Auch für den λόγος ἀποφαντικός muss der sprachpragmatische Grundsatz der semantischen Eindeutigkeit gelten, wenn die Unterredung mit anderen gelingen soll. Zu beachten ist, dass sich die semantische Eindeutigkeit der Aussage als eine komplexere Einheit denn die des singulären Wortes darstellt: Sie ist die Verbindung zwischen Nennwort (nomen, ὄνομα) und Aussagewort (verbum, ῥῆμα) zu einer Affirmation oder einer Negation mit einem bestimmten propositionalen Gehalt. Ein weiterer wesentlicher Unterschied gegenüber der Nennebene des Wortes ist der explizite Wahrheitsanspruch, der mit der Aussage verbunden ist. Die erstmalige Verwendung des Wahrheitsbegriffs in Buch Γ ist klares Indiz für den Wechsel zum Aussagesatz:

 Platon, Soph. 263e3 – 5 u. 264a9 f.; vgl. Platon, Theait. 185e1 f.  Inciarte 1994a, 139 f. und Rapp 1993, 231 ff. gehen über die Wortbedeutung nicht hinaus; ausdrücklich thematisiert wird sie von Pietsch 1992, 293 ff. und von Hafemann, 1998, 73 ff.

3.3 Satzebene

39

Demnach ist es also notwendig, wenn von etwas in Wahrheit gesagt werden kann, dass es ‚Mensch‘ ist, so ist dies ein zweifüßiges Lebewesen; denn dies war es ja, was das [Wort] ‚Mensch‘ bedeutete. Wenn dies aber notwendig ist, so ist nicht möglich, dass dasselbe [Seiende in derselben Hinsicht] auch nicht zweifüßiges Lebewesen ist; denn [der Ausdruck] ‚notwendig Mensch sein‘ bedeutet ja eben die Unmöglichkeit, nicht Mensch zu sein. Also ist es nicht möglich, zu behaupten, dass das dasselbe Mensch und Nicht-Mensch ist, zugleich wahr sei.⁷⁷

Dreierlei ist damit gesagt: Erstens wird die Nennebene überschritten, indem das Wort (‚Mensch‘) in der Prädikatposition mit dem Subjekt verbunden und die definierte Bedeutung ‚zweifüßiges Lebewesen‘ von einem Gegenstand ausgesagt wird. Damit ist die Struktur des τὶ κατὰ τινός, dass etwas (‚Mensch‘) von etwas ausgesagt wird, erfüllt. Zweitens wird der propositionale Gehalt des Satzes, dass etwas ein Mensch ist – ausgedrückt durch die objektsprachliche Affirmation ‚Etwas ist ein Mensch‘ – mit Wahrheitsanspruch vertreten. Drittens wird die logisch-semantische Unmöglichkeit des Widerspruchs ausgesprochen, gemäß der gilt, dass die Wahrheit der objektsprachlichen Negation ‚etwas ist nicht Mensch‘ bei Prädikation desselben Wortes in Bezug auf denselben Gegenstand nicht möglich ist. Die Gültigkeit des NWS ist damit auf der Satzebene klar postuliert. Für die Rechtfertigung des NWS auf der Satzebene verwendet Aristoteles erneut die ad-hominem-Argumentation des ersten Teils. Allerdings ist seine Intention dort eine andere. Ihm geht es im Kern um die Verteidigung seiner Theorie der Referenz und ihrer notwendigen Bedingungen. Auch auf der Satzebene gilt, was die sprachpragmatische Grundoperation schon für die Wortbedeutung einfordert: Der Bedeutungsgehalt einer Aussage muss die Kriterien der Abgegrenztheit und Einheit einlösen. Die Aussage ist ein σημαίνειν ἕν. Auch ein Opponent des NWS kann auf die Frage, „ob man [etwas] mit Wahrheit Mensch nennen kann oder nicht, nur das antworten, was Eines bedeutet, und nicht hinzufügen, dass [es] auch weiß und groß ist.“⁷⁸ Im Unterschied zum einzelnen Wort wird, wie wir bereits in einem früheren Kapitel dargestellt haben, in der Subjekt-Prädikat-Struktur etwas Einheitliches von etwas anderem Einheitlichen – ein bestimmter Gehalt von einem Subjekt – prädiziert. Die Grundoperation des Aussagesatzes lautet gemäß der τὶ-κατὰ-τινός- bzw. der ἒν-καθ’ἑνός-Formel: „Man muss notwendig Eines von Einem bejahen oder verneinen.“⁷⁹ Für die Einlösung der Struktur müssen Prädikat und Aussagesubjekt als jeweils abgegrenzte semantische Einheiten begriffen werden. Sie zusammen bilden nach

 Met. IV 4, 1006b28 – 34.  Met. IV 4, 1007a11– 14.  Met. IV 7, 1011b24.

40

3 Rechtfertigung

De Interpretatione (5, 17a22– 24) die logisch-syntaktische Voraussetzung für die sprachliche Darstellung eines Sachverhalts. Nur wenn die Satzteile und ihre Verbindungen semantisch eindeutig sind, kann die Eindeutigkeit eines Sachverhalts in einer apophantischen Aussage behauptet werden. Ich nenne das den ersten von zwei referenztheoretischen Grundsätzen, insofern der Satz und nicht einzelne Termini einen Sachverhalt zur Sprache bringen. Für die Argumentation ist damit Wesentliches erreicht. Denn auch ein Gegner des NWS muss, will er auf etwas in der Wirklichkeit Bezug nehmen, einen abgegrenzten, einheitlichen Sachverhalt behaupten. Auch für ihn gilt, dass er entweder einen positiven oder einen negativen Prädikatsgehalt von einem Subjekt aussagt und dass nur eine der beiden Möglichkeiten in Bezug auf den Gegenstand wahr sein kann. Um den zweiten referenztheoretischen Grundsatz bestimmen zu können, müssen wir die ontologische Seite der Satztheorie in den Blick nehmen. Da die Wahrheit des Aussagegehalts von der Voraussetzung abhängt, ob das Behauptete existiert oder nicht existiert, ist die semantische Eindeutigkeit des Sachverhalts gleichsam das Scharnier zwischen Satz und Wirklichkeit. Der Sachverhalt ist der Grund für Wahrheit oder Falschheit auf der Satzebene. Entsprechend definiert Aristoteles in Buch Γ 7 die Bedeutung der Wörter ‚wahr‘ und ‚falsch‘ und bestätigt damit für die Prinzipienrechtfertigung die grundlegende Relation von Semantik und Ontologie: Vom Seienden zu sagen, es sei nicht, oder vom Nicht-Seienden, es sei, ist falsch; hingegen zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-Seiende sei nicht, ist wahr. Es wird folglich derjenige, der ein Sein oder ein Nicht-Sein behauptet, wahr oder falsch aussagen. ⁸⁰

Die Relation zeichnet sich durch ein klares Begründungsverhältnis aus: Der Wahrheitswert des propositionalen Gehalts gründet in der syntaktisch-semantischen Struktur des Sachverhalts, die wiederum der ontologischen Struktur des Seienden korrespondiert. Ist die semantische Eindeutigkeit des ersteren die notwendige Bedingung für die Bildung einer Wahrheitsbehauptung – wahr und falsch liegen nicht in den Dingen, sondern im Denken –, so ist es die Struktur des Seienden, an der sich entscheidet, ob der Sachverhalt zutrifft oder nicht zutrifft – mithin der Fall ist oder nicht – und sich damit der Geltungsanspruch erfüllt. Wahrheit und Falschheit des Aussagegehaltes und der Erkenntnis hängen von der Wirklichkeit der Gegenstände ab. Nur ein wirklicher Sachverhalt ist ein wahrer.⁸¹

 Met. IV 7, 1011b25 – 27; vgl. IX 10, 1051b1– 9.  Dass Aristoteles auch das Theorem des möglichen Sachverhalts kennt, beweist seine Erörterung singulärer Aussagen über Zukünftiges in De Int. 9. Eine Proposition über noch nicht realisierte

3.3 Satzebene

41

In der Relation von Semantik und Ontologie entscheidet die Wirklichkeit des Referenzgegenstandes über den Explikationswert des auf ihn bezogenen propositionalen Gehalts. Um allerdings den Opponenten von einem derart ontologisch dominierten Begründungsverhältnis zu überzeugen, muss Aristoteles auf der Seite des Gegenstandes eine allgemeingültige Grundstruktur des Seienden so etablieren, dass sie für gelingende Sprachpraxis grundsätzlich notwendig ist. Es geht um die Frage der Metaphysik: Wie Seiendes als Seiendes, als Grund der Referenz, vorliegt. Erst dann ist auch der Nachweis der ontologischen Relevanz des NWS gegeben. Aristoteles antwortet mit der Fundamentalunterscheidung von Substanz und Akzidens. Beide Begriffe liegen der logisch-semantischen Struktur des τὶ κατὰ τινός sowie der sprachpragmatischen Grundoperation des ἒν καθ’ ἑνός auf der ontologischen Ebene und damit auch der referentiellen Sprachpraxis zugrunde. Zentral ist die Substanz. Konvertibel mit den Transzendentalien ermöglicht sie die Einheit und Abgegrenztheit des Gegenstandes gegenüber anderen Gegenständen. Sie konstituiert ihn in seinem So-sein (τί ἦν εἶναι): Denn Eines war es, was [das Wort] bedeutete, und diese [Bedeutung, dieser Begriff] war die Substanz von etwas. Etwas als Substanz zu bezeichnen heißt, dass es sein So-sein in nichts anderem habe.⁸²

Als eine abgegrenzte, erste Einheit liegt die Substanz dem assertorischen Explikationsprozess über ein reales Seiendes voraus. Sie hängt weder von der Sprachpraxis konventioneller Zeichen noch von ihren Akzidentien ab. Letzteres ist entscheidend. Aristoteles zeigt, wie schon in seiner Argumentation für die Wortbedeutung, die destruktiven Folgen auf, die sich diesmal für die assertorische Sprachpraxis ergeben, wenn die ontologische Notwendigkeit der Substanz geleugnet wird: In Folge der Negation substantieller Einheit herrschte universelle Akzidentalität und semantische Indifferenz.⁸³ Läge die Substanz nicht zugrunde, führten die Akzidentien, „da ihrer unendlich viele sind“⁸⁴, zu einer unendlichen Prädikation von Eigenschaften. Denn auf die Frage, was etwas sei, würde nicht mehr mit einem Ersten geantwortet werden können: „Wird alles nur in akzidenteller Weise ausgesagt, gäbe es gar nichts Erstes, von welchem ausgesagt würde, wenn das Akzidens immer das

Gegenstände oder Ereignisse behauptet einen möglichen Sachverhalt, insofern er sein oder nicht sein und die Aussage wahr oder falsch sein wird. Vgl. hierfür Frede 1970, 34 f.  Met. IV 4, 1007a25 – 27.  Mit dieser Begrifflichkeit arbeitet auch Hafemann 1998, 66 ff.  Met. IV 4, 1007a14 f.

42

3 Rechtfertigung

Prädikat von einem Subjekt ist.“⁸⁵ Ohne substantielle Einheit des Seienden gäbe es aber kein Subjekt der Aussage, stattdessen einen Regress, in dem das „Akzidens eines Akzidens“ (συμβεβηκὸς συβεβηκότι)⁸⁶ ad infinitum ausgesagt werden müsste. Ein derart hybrider Sachverhalt vereinte in sich positive und negative Bestimmungen, die gleichzeitige Wahrheit von Affirmation und Negation wäre gegeben: alles wäre Eines.⁸⁷ Der Gegner des NWS würde dann aber nichts mehr Bestimmtes aussagen und erneut in der sprachlichen Apraxie enden.⁸⁸ Für Aristoteles ist daher Akzidentalität ad infinitum unmöglich: Denn das Akzidens ist nicht Akzidens eines Akzidens, außer wenn beide Akzidentien an derselben [Substanz] sind. Ich meine z. B., dass ‚Weiße ist gebildet‘ und ‚das Gebildete ist weiß’, weil beides Akzidentien des Menschen sind.⁸⁹ Folglich wird nicht alles als Akzidens ausgesprochen. Es muss also etwas [ein Zeichen] geben, das die Substanz bedeutet. Es ist daher bewiesen, dass unmöglich die Widersprüche zugleich ausgesagt werden können.⁹⁰

Die zwei zentralen Beweisziele sind damit erreicht: Erstens muss jeder λόγος ἀποφαντικός an Subjektstelle eine Substanz haben, um auszuschließen, dass sich durch die akzidentelle Modifikationen (weiß, gebildet, etc.), auf die Bezug genommen wird, die Einheit und Abgegrenztheit des Gegenstandes (dieser Mensch) auflösen und er in einen indifferenten Zustand des ‚Alles-Eines-sein‘ verfällt. Die Substanz sichert die Ordnung der Dinge und die der prädikativen Referenz. Die Semantik-Ontologie-Relation lässt sich dahingehend präzisieren, dass der semantischen Eindeutigkeit des Sachverhaltes, soll die Aussage wahr sein, die ontische Eindeutigkeit des Seienden entsprechen muss. Als zweite referenztheoretische Grundbedingung gilt die ‚ontische Eindeutigkeit des Seienden gemäß der Substanz‘. Auf dieser Grundlage ist zweitens entschieden, dass der NWS ontologische Gültigkeit hat. Dem Gegenstand muss das Proprium der Nichtwidersprüchlichkeit (und auch des Nicht-Dritten) notwendig zukommen, um ihn als einen und als unterschieden von anderen bestimmen zu können. Seiendes kann nicht in derselben Hinsicht zugleich widersprüchlich angeordnet sein. Wie zu Beginn postuliert: Die Eigenschaft kommt allem Seienden zu.

 Met. IV 4, 1006b33 – 36.  Met. IV 4, 1007b3.  „Wenn zugleich alle Widersprüche über denselben Gegenstand wahr sind, so wird offensichtlich alles Eines sein. Denn es würde dasselbe Schiff und Mauer und Mensch sein, wenn man von jedem Ding etwas bejahen oder verneinen kann.“ Met. IV 4, 1007b19 – 22.  Vgl. Met. IV 4, 1008b7– 11.  Met. IV 4, 1007b2– 5.  Met. IV 4, 1007b16 – 18.

3.4 Gegner

43

Zusammenfassend ergibt sich für die Anwendung des NWS innerhalb der Relation von Semantik und Ontologie: Unter der Voraussetzung der Subjekt-Prädikat-Struktur des assertorischen Satzes ist für die Wahrheit auf der Satzebene Nichtwidersprüchlichkeit eine semantische Notwendigkeit, Widersprüchlichkeit eine semantische Unmöglichkeit. Unter der Voraussetzung der Substanz-Akzidens-Struktur ist Nichtwidersprüchlichkeit für das Seiende eine Notwendigkeit, Widersprüchlichkeit eine ontologische Unmöglichkeit. Das Axiom kennzeichnet in der Semantik die Einheit der Wortbedeutungen und die Definitheit des propositionalen Sachverhaltes, in der Ontologie die Einheit des Seienden selbst sowie die der Eigenschaften.

3.4 Gegner In der eigentlichen Rechtfertigung des NWS hat Aristoteles den Opponenten unbestimmt gelassen, um seinen indirekten Beweis nicht frühzeitig an bestimmte Konzeptionen binden zu müssen und seiner Argumentation größtmögliche Allgemeingültigkeit geben zu können. Im weiteren Verlauf von Buch Γ fällt hingegen die häufige Nennung vorsokratischer Naturphilosophen auf, die mit unterschiedlicher Gewichtung als Gegner der Axiome angeführt werden. Aristoteles bietet keine detaillierten Einzeluntersuchungen der anderen Ansätze, einzelne Aspekte werden vielmehr resultativ erwähnt.⁹¹ Dennoch sind die Hinweise in Metaphysik Γ von Bedeutung, insofern mit ihnen die desaströsen Konsequenzen einer Negation der ersten Prinzipien philosophiehistorisch exemplifiziert werden. Die Einbeziehung der älteren Positionen ist weiterhin sinnvoll, weil durch sie theoretische Ansätze in den Blick kommen, die andere Möglichkeiten des Prinzipiendenkens und damit andere Metaphysiken formuliert haben. Für unsere Untersuchung ist allein von Interesse, unter welchen anderen Bedingungen und in welcher Weise die älteren Philosophien für die Axiome bedrohlich sind. Im Mittelpunkt stehen die Aussagen des Heraklit bzw. seiner Anhänger, der Herakliteer, und des Anaxagoras. Beide Ansätze teilen, wenn auch auf unterschiedliche Weise, das destruktive Einheitsverständnis des ‚Alles-Eins-Sein‘, gegen das Aristoteles seine Prinzipien in Stellung bringt. Im Folgenden soll auf

 Aristoteles stützt sich hierbei auf die Ergebnisse seiner Auseinandersetzung mit den Prinzipientheorien seiner Vorgänger in der Physik (vgl. Ross 21958, 262). Aristoteles’ Auseinandersetzung mit den Vorsokratikern und die Diskussion der einzelnen Positionen innerhalb der Forschung ist ein eigenes Thema. Die Frage, ob Aristoteles den Positionen letztendlich gerecht wird und sich seine Kritik aus philosophiehistorischer Forschung bestätigen lässt, fällt für die folgende Darstellung nicht ins Gewicht. Schließlich geht es gerade um seine Sicht auf die Theorien.

44

3 Rechtfertigung

diesen doxographischen Exkurs eingegangen und die Flusstheorie des Heraklit, das πάντα ρεῖ sowie die Allvermischungstheorie, das ὁμοῦ πάντα des Anaxagoras vorgestellt werden.

3.4.1 Heraklit „Es scheint nun die Lehre des Heraklit,welche besagt, dass alles ist und auch nicht ist, alles für wahr zu erklären …“⁹² Unter dem Vorzeichen der Allquantifikation sind der ontische und semantische Widerspruch gültig: – Etwas ist und ist nicht. – Affirmation und Negation eines Sachverhaltes sind wahr. Heraklit verkehrt die Unmöglichkeit, dass beide Widerspruchsglieder zugleich bestehen können, in die prinzipielle Möglichkeit des Widerspruchs als den Grundsatz seiner Metaphysik. Die ontologische Bedingung für den Widerspruchsatz – also für die These, dass Widersprüchliches zugleich besteht und behauptet werden kann – ist die Flusstheorie des Heraklit, nach der sich die Wirklichkeit in einem Zustand universeller Bewegung befindet, indem Entgegensetzungen simultan in den sich verändernden Dingen existieren. Unter dieser Voraussetzung kann es insofern keine falschen Aussagen geben, als sich alles Bewegende im Übergang befindet und notwendig gegensätzlich bestimmt sein muss. Was aber gegensätzlich konstituiert ist, kann nicht – was die Unmöglichkeit des NWS für Heraklit ausmacht – durch eine einzelne assertorische Aussage, die entweder einen positiven oder negativen Gehalt hat, erfasst werden. Stattdessen sind notwendigerweise beide Prädikationen wahr, sowohl die Affirmation als auch die Negation. Universelle Prozessualität begründet universelle Wahrheit. In ontologischer wie semantischer Hinsicht ist Einheit für Heraklit ein dem aristotelischen Verständnis entgegengesetztes Konzept, das sich durch das Zugleichsein und Ineinanderübergehen des Entgegengesetzten und nicht durch Abgegrenztheit oder Einheitlichkeit konstituiert: Die bekannte Wendung des πάντα ρεῖ lässt sich als der Zusammenfall der Gegensätze – cusanisch gesprochen als coincidentia oppositorum – begreifen, in dem sich alles in einem kontinuierlichen Fließzustand befindet und letztlich eine aus Widersprüchen bestehende dynamischen Einheit bildet.⁹³ Heraklits Position  Met. IV 7, 1012a24– 26.  Vgl. Met. I 6, 987a33 f.; Kratylos 402 A (=DK22 A6). Röd 1988, 104 bestreitet, dass Heraklit mit seinem Zusammenfall der Gegensätze die Gleichzeitigkeit von Affirmation und Negation meint; so auch Pleger 1991, 94 f.

3.4 Gegner

45

lässt sich als Umkehrung des NWS formulieren. Nach ihr ist alles Wirkliche richtig bzw. wahr bezeichnet und ausgesagt, wenn es zugleich affirmiert und negiert wird: – N (p und non p) anstelle von U (p und non p) und: – N (W[p] und W[non p]) anstelle von U (W[p] und W[non p]). Allerdings schlägt für die aristotelische Konzeption definiter Aussagen der Zustand universeller Wahrheit in sein Gegenteil, in universelle Falschheit um.⁹⁴ Im Allfluss des Seienden kann nicht mehr etwas Abgegrenztes von etwas anderem Abgegrenzten behauptet werden. Während aber bei Heraklit zumindest die Entgegensetzungen noch als ontische und semantische Fixpunkte, nur eben zugleich bestehen, löst eine radikaler gedachte Flusstheorie jegliche Grenze auf. Das Ergebnis ist eine ontische wie semantische Indifferenz, da nicht einmal mehr simultan existierende Entgegensetzungen erkannt und benannt werden können. Aristoteles sieht diese Folge bei dem Schüler Heraklits, Kratylos, dessen Meinung er die „überspannteste“ nennt, da er Heraklit in der Radikalität der Flussmetapher noch überbietet, indem er sie konsequent ausformuliert.⁹⁵ Nach ihm ist alles Seiende gänzlich unnennbar und sind Aussagen über etwas Bestimmtes sinnlos. In einem derartigen indifferenten Zustand ist weder die Affirmation noch die Negation noch die Konjunktion beider wahr, sondern prinzipiell falsch. In letzter Konsequenz führt das zu der gänzlichen Aufhebung sinnvollen Sprechens, wie bereits Platon in seiner Kritik an den Herakliteern im Dialog Theaitetos darstellte.⁹⁶

3.4.2 Anaxagoras Aristoteles zitiert einen zentralen Grundsatz des Anaxagoras, nach dem „alles sich in allem gemischt finde“ (μεμῖχθαι πᾶν ἐν παντί)⁹⁷. Das Theorem der Allvermi-

 Vgl. Met. IV 5, 1010a7– 9.  Vgl. Met. IV 5, 1010a7– 15.  Vgl. Platon, Theait. 179e-183b.  Met. IV 5, 1009a27; vgl. Phys. I 4, 187a22– 187b4. – Zweifellos formuliert Anaxagoras eine anspruchsvolle Position, was allein schon sein Ansatz beweist, die eleatischen Theoreme von Seiendem und Nichtseiendem mit der Veränderlichkeit der sinnlichen Dinge zu verbinden. Eine ausführliche Darstellung der Theorie kann hier nicht geleistet werden. Nicht zuletzt bestätigen die divergierenden Deutungen in der Forschungsliteratur die Komplexität der anaxagoreischen Grundgedanken; vgl. für einen Überblick: Hafemann 1998, 286 ff. Dass Anaxagoras für Aristoteles ein außerordentlicher Denker war, beweist nicht zuletzt seine Übernahme der νοῦς-Konzeption. Für die folgende Skizzierung der anaxagoreischen Position beschränke ich mich auf die Dar-

46

3 Rechtfertigung

schung entspricht dem destruktiven Leitmotiv des ‚Alles-Eins-sein‘, welches Aristoteles wiederholt als Kontrapunkt seiner Prinzipien anführt. Im Unterschied zu der herakliteischen Prozessualität geht Anaxagoras von der ontologischen Prämisse einer universellen Präsenz der Prinzipien aus, die sich in allen Gegenständen befinden, aber nicht alle in gleicher Menge im phänomenalen Bereich ausgebildet und sichtbar sind. Bei den Prinzipien handelt es sich um „Gleichteiliges“ (ὁμοιομερῆ) – im Sinne von Grundstoffen – und um „Gegensätze“ (τἀναντία), deren Zahl unendlich ist. Da Anaxagoras die eleatische Prämisse, dass aus Nichtseiendem nichts entsteht, teilt, ist es verständlich, wenn er in allem alles enthalten sein lässt und Veränderungsprozesse durch Aussonderung oder durch „Vermischung“ (σύγκρισις) und „Entmischung“ (διάκρισις) des schon Vorhandenen erklärt. Die Gegensätze gehen auseinander hervor. Der Skopus der Allquantifikation ist insoweit zu relativieren, als nicht jedes konkrete phänomenale Seiende aus jedem anderen hervorgehen kann, vielmehr trifft dies allein auf die zugrunde liegenden Bestimmungen (Stoffe und Gegensätze) zu, die in jedem Seienden sind. Die Allvermischung beschreibt somit die ontische Grundausstattung der Welt. Differenziert erscheint uns die phänomenale Wirklichkeit nur aufgrund ungenügender Sinneswahrnehmung, aus metaphysischer Perspektive ist sie eine sich gleich bleibende und alles zugleich seiende Einheit, in der unendlich Vieles zugleich ist oder „alles an allem Anteil hat“ (πάντα παντὸς μοῖραν μετέχει)⁹⁸. Verkürzt gesagt: Alles ist in allem und alles ist Eines. Dementsprechend, so Aristoteles, lautet die erkenntnistheoretische Maxime des Anaxagoras, dass die Dinge so für uns seien, wie wir sie auffassen wollten.⁹⁹ Das anaxagoreische Wirklichkeitsganze kann als eine „inhomogene Einheit“ oder ein „μιχθῇ“ der Wirklichkeit bestimmen werden.¹⁰⁰ Für Aristoteles ist diese Konzeption unhaltbar: Wenn zugleich alle Widersprüche über denselben Gegenstand wahr sind, so wird offensichtlich alles Eines sein. Denn es würde dasselbe Schiff und Mauer und Mensch sein, wenn man von jedem Ding etwas bejahen oder verneinen kann… Und so kommt es zu dem Allzusammen (ὁμοῦ πάντα) der Dinge bei Anaxagoras, so dass nichts in Wahrheit existiert. Sie scheinen also das Unbestimmte zu behaupten, und während sie glauben, vom Seienden zu

stellung in Phys. I 4, 187a20 – 187b7 u. III 4, 203a20 – 33. Vgl. für eine detaillierte Analyse der aristotelischen Kritik Horstschäfer 1998, 129 ff. u. Hafemann 1998, 132 ff.; insgesamt auch Furth 1991, 95 – 127.  DK59, B6, S. 35 Z. 14– 16; vgl. DK59 B1.  Vgl. Met. IV 5, 1009b25 – 28.  Horstschäfer 1998, 127; Cassin/Narcy 1998, 155.

3.4 Gegner

47

reden, reden sie vom Nichtseienden; denn was nur als potentiell Seiendes, nicht aber als Wirklichkeit ist, das ist das Unbestimmte.¹⁰¹

Aristoteles’ entscheidender Argumentationsschritt besteht in der Identifizierung des ‚Allzusammen‘ zuerst mit dem Unbestimmten oder Unabgegrenzten (ἀόριστον), mit dem Nicht-Seienden (μὴ ὄν) und schließlich dem potentiell Seienden (δυνάμει ὄν). Durch diese Gleichsetzung wird das Allzusammen der Wirklichkeit entgegengestellt und mit dem Nichtsein und einer pejorativ verstandenen Potentialität gleichgesetzt. Inwieweit Aristoteles dem vorsokratischen Theorem damit noch gerecht wird, kann hier nicht diskutiert werden.¹⁰² Für unsere Rekonstruktion des Arguments ist letztlich relevant, dass sich in dem Ausdruck des ὁμοῦ πάντα die eleatische Prämisse gegen ein Werden aus Nichtseiendem erneut bestätigt, so dass für Anaxagoras alle Vielheit in einer Einheit präsent sein muss, unabhängig davon, ob sie ursprünglich oder als andauernd gedacht wird. Im ‚Allzusammen‘ liegen die gesamten Bestandteile der Welt und der Prinzipien ungetrennt vor. Der Ursprung ist gleichbedeutend mit einer totalen Indifferenz oder Indefinitheit.¹⁰³ Aus Sicht des Stagiriten ist daher die Philosophie des älteren Naturphilosophen eine Metaphysik des potentiell-indefiniten Seienden, die immer auch das Nicht-Sein impliziert.¹⁰⁴ In der Allvermischung fehlen die Formalbegriffe, die durch die sprachpragmatische Rechtfertigung als transzendental notwendig für die semantische und ontische Ebene ausgewiesen wurden: Abgegrenztheit und Einheit. Die Konsequenzen einer derartigen Theorie sind:

 Met. IV 4, 1007b19 – 29; vgl. Met. IV 5, 1009a22– 27, DK 59 B17.  Es ist fraglich, die Einheit des Anaxagoras so zu interpretieren, da es vielmehr um die Totalität einer Wirklichkeit geht. Weiterhin ist kritisch anzumerken, dass Anaxagoras mit dem Ausdruck des ὁμοῦ πάντα wahrscheinlich einen vergangenen Ursprungszustand meint und nicht den Wirklichkeitszustand der Welt. Aristoteles verwischt, gewollt oder ungewollt, diesen Unterschied. Weiterhin ist darauf hinzuweisen, dass Anaxagoras den Ausdruck πᾶν ἐν παντί oder ἐν παντί πάντα für die Allvermischung verwendet, nicht aber das von Aristoteles gebrauchte ὁμοῦ πάντα; vgl. Hafemann 136, Fn. 18; Rapp 1997, 194. Da es uns aber primär um Aristoteles’ Darstellung der gegnerischen Position geht, wird diese Abweichung nicht diskutiert.  Schmitz 1985, 470 spricht gar vom „absolut chaotischen Mannigfaltigem“ aufgrund der „überreichen Fülle und Dichte seines Inhalts“. Er schlußfolgert, dass Aristoteles das ‚Alles-Zusammen’ „seinem Verständnis hylischer Dynamis zu Grunde“ legt und zur „Kennzeichnung des Urstoffes durch alles potentiell“ ersetzt.  Dass das ὁμοῦ πάντα potentiell Seiendes und damit Nicht-Sein bedeutet, ist die Fundamentalkritik des Aristoteles, die er noch in Met. XII 7, 1072a19 f. bei der Rechtfertigung des unbewegt Bewegenden anführen wird. Hafemann 1998, 143 spricht sogar von einer Art „ontologischem Nihilismus“, der alle Positionen umfasse, die von einer „Einheit aller Bestimmungen“ ausgingen und „Differenzen als Negationen des Einen“ begriffen.

48

1

2

3

3 Rechtfertigung

Die Notwendigkeit der Substanz ist aufgehoben. Die Wirklichkeit ist nicht durch stabile Grenzen und Einheiten konstituiert. Einzelnes Seiendes ist nur als Teil oder Phase von Vermischung oder Entmischungsvorgängen zu verstehen. Ohne Substantialität und Akzidentalität lässt sich keine begriffliche, numerische und diachrone Identität gemäß der Substanz-Akzidens-Struktur aussagen. Die Notwendigkeit der logischen Gesetze ist aufgehoben. Aufgrund der ontologischen Bedingung der Allvermischtheit kann es keine semantische und referentielle Eindeutigkeit mehr geben. Dementsprechend, so konstatiert Aristoteles, müssen in einem ersten Schritt sowohl objektsprachliche Affirmation (Mensch) als auch Negation (nicht Mensch) zugleich ausgesagt werden, in einem zweiten Schritt verkehrt sich diese Verbindung allerdings in den Ausschluss, da weder das eine noch das andere definit vorliegen kann.¹⁰⁵ Damit ist aber in semantischer Hinsicht die Möglichkeit einer dritten bzw. mittleren Aussage zugelassen. Ein gegenstandsbezogener Wahrheitsanspruch ist unmöglich. Unter der Prämisse indefiniter Realität herrscht auch begriffliche Indefinitheit: „… die Lehre des Anaxagoras hingegen [scheint] ein Mittleres zwischen den Gliedern des Widerspruchs zu setzen, so dass alles falsch wird; denn wenn Gutes und Nicht-Gutes gemischt wird, so ist die Mischung weder gut noch nicht gut, so dass niemand etwas Wahres von ihr aussagen kann.“¹⁰⁶ Ausschließlich widerspruchsmittlere Aussagen müssen in der Ausschlussform des ‚WederNoch‘ oder des ‚Nicht-eher-dies-als-das‘ formuliert werden, was letztlich eine inhaltsleere Zeichenverwendung ist und eine universelle Falschheit zur Konsequenz hat. Denn die Wendungen des ‚Weder-Noch‘ oder des ‚Nicht-eherdies-als-das‘ markieren, weil sie keine positiv abgegrenzten Inhalte ermöglichen, eine semantische und ontische Indifferenz.Weder kann etwas von etwas ausgesagt noch auf etwas Bestimmtes referiert werden. Wie überhaupt über die Dinge in einer latent indifferenten bzw. ineinander vermischten Wirklichkeit gesprochen werden kann, überlässt Anaxagoras bezeichnenderweise der subjektiv-pragmatischen Entscheidung des Sprechers selbst: Die Dinge seien das, als was wir sie auffassen wollten.¹⁰⁷

 „Findet nun die Bejahung statt, so muss notwendig auch die Verneinung stattfinden …“ Met. IV 4, 1007b34. „In diese Folgerungen geraten also diejenigen, welche diese Behauptung aufstellen, und ferner auch dahin, dass gar nicht notwendig Bejahung und Verneinung stattfinden muss. Denn wenn es wahr ist, dass der Mensch zugleich nicht Mensch ist, so müsste er offenbar auch weder Mensch noch nicht Mensch sein.“ Met. IV 4, 1008a2– 6.  Met. IV 7, 1012a26 – 28; vgl. Met. XI 6, 1063b27– 30; Cassin/Narcy 1989, 155; Inciarte 1994b, 5.  Vgl. Met. IV 5, 1009b27 f.

3.4 Gegner

49

Auf Protagoras, den Aristoteles als einen weiteren Gegner des NWS anführt, sei an dieser Stelle nur verwiesen. Seine Position wird in der Weise dargestellt, dass aufgrund des konsequenten subjektiven Sensualismus alles wahr ist. Zwar gibt es nach dem Homo-mensura-Satz wahre und falsche Wahrnehmungen oder Meinungen, aber aufgrund des implizierten ontologischen Relativismus kann es letztlich keine falschen Entgegensetzungen geben, mithin sind auch die kontradiktorisch entgegengesetzten Wahrnehmungsurteile alle wahr. Damit gehört Protagoras nach Ansicht des Aristoteles zu jenen Philosophen, die wie Heraklit oder Anaxagoras eine Alleinheit (πάντα ἕν) vertreten, allerdings unter dem Vorzeichen universeller Wahrheit.¹⁰⁸ Die hier nur skizzierten vorsokratischen Positionen sind von zentraler Bedeutung für die Rechtfertigung der Axiome und für die Metaphysik insgesamt: Vergewissern wir uns daher noch einmal der Reichweite dieser Philosophien, um dann im nächsten Untersuchungsschritt auf die von Aristoteles entwickelte Konzeption der Prozessualität einzugehen. Die beiden gegnerischen Theorien sind nach Aristoteles von einer umfassend destruktiven Wirkung, da sie die für seine Metaphysik tragenden Bedingungen unterlaufen: Sie widersetzen sich der Logik der Aussageformen und etablieren andere ontologische Bedingungen, die keine referenzfähige Ordnung des Seienden zulassen. Dies hat für die Geltung der ersten Prinzipien des Denkens und Erkennens vernichtende Folgen, wie die Verkehrung der modalen Kennzeichnung der Axiome beweist. Es kommt zu einer semantischen und alethischen Indifferenz: In der allumfassenden Bewegung herakliteischer Provenienz existieren die Gegensätze zugleich, sodass die Aussagen über die Wirklichkeit nur alle zugleich wahr sein können, widerspruchausschließende Sätze aber im Sinne des τὶ κατὰ τινός falsch sind. In der Allvermischtheit des Anaxagoras gehen in einer indefinitpotentiell strukturierten Wirklichkeit die Gegensätze auseinander hervor, wonach ebenfalls abgrenzende Aussagen über sie falsch sind. Allerdings ist entscheidend, dass Aristoteles die Erklärungsansätze der genannten Autoren nicht gänzlich verwirft, sondern sie in bestimmter Hinsicht als begründet ansieht, und zwar für das Problem der Veränderung.

 Vgl. Met. IV 4, 1008a23.

4 Die Empirie der Prozessualität: Das Problem der Veränderung Wie kann etwas ständig Bewegtes überhaupt erklärt werden? Wie wird etwas zu etwas anderem, was es vorher noch nicht war oder dann nicht mehr? Bestätigen unsere Sinneseindrücke nicht eindeutig, dass alles im Fluss und ohne Persistenz ist? Kann es ein Wissen von den Veränderungen geben, wenn alles in Bewegung ist? Diesen naturphilosophischen Grundfragen über die Prozessualität der sinnlichen Gegenstände versuchen auch Heraklit, Anaxagoras und die anderen Vorsokratiker gerecht zu werden, indem sie mit dem Widerspruchstheorem oder der Allvermischung antworten. Für Aristoteles sind ihre ontologischen Konsequenzen und epistemologischen Lösungen inakzeptabel, doch sie erfassen wichtige Strukturmerkmale der Bewegung. Sie erkennen, dass Veränderung zwischen Gegensätzen stattfindet und ihre Dynamik demnach nicht völlig willkürlich sein kann; sie sind sich darin einig, dass Entstehen aus einem reinen Nichtseienden unmöglich ist, und erfassen die Schwierigkeit der Zwischen- oder Übergangsphase zwischen den Gegensatzgliedern, wo der eigentliche Prozess abläuft und das sich Bewegende nicht eindeutig zu bestimmen ist.¹⁰⁹ Aristoteles’ Zugeständnis relativiert nicht seine Kritik. Was er mit seinen Vorgängern teilt, ist die Grundannahme von der Bewegtheit und Vielheit der wahrnehmbaren Welt. Gegensätzlichkeit und das die wissenschaftliche Erkenntnis irritierende Phänomen der Unbestimmtheit lassen sich im Veränderungsbereich nicht ignorieren. Aber für eine metaphysische Konzeption des Seienden, die die Voraussetzung gesicherter Naturerkenntnis untersuchen und etablieren will, kann diese Indifferenz nicht als ein irrationaler Rest hingenommen werden. Aus aristotelischer Sicht haben die Vorsokratiker es versäumt, ihren an der Empirie ausgerichteten Zugang auf eine sichere Metaphysik zu stellen. Aristoteles will demgegenüber eine Theorie entwickeln, die sowohl die Notwendigkeit von beständigen bzw. persistierenden Entitäten im Wahrnehmungsprozess als auch die Vagheiten der Phänomene, wie sie die Vorsokratiker berücksichtigten, erklärt. Die Aufgabe besteht darin, der empirischen Welt gerecht zu werden, ohne bloß empirisch zu verfahren. Veränderung muss auf eine Weise gedacht werden, die die gegnerischen Aporien vermeidet, ohne deren Grundeinsichten auszuschließen. Wie Aristoteles das sich verändernde Seiende als empirische Bedingung des Philosophierens annimmt, um zugleich das Seiende als Seiendes zu bestimmen, entscheidet über den Anwendungsbereich der ersten

 Vgl. insgesamt Phys. I 4– 5; bes. I 5, 188a19 u. I 4, 187a4 f.

4 Die Empirie der Prozessualität: Das Problem der Veränderung

51

Prinzipien. Von der Lösung für das „Rätsel der Bewegung“¹¹⁰, wie Walter Bröcker es genannt hat, hängt ab, in welchem Umfang die assertorischen Aussagen und damit die ersten Axiome für den Bereich des prozessualen Seienden gelten. Im Folgenden soll zunächst die Schwierigkeit phänomenaler Veränderung skizziert werden, wie sie in der Physik dargestellt ist, um dann in einem zweiten Schritt den daraus resultierenden Konflikt von assertorischen Aussagen in Bezug auf prozesshaftes Seiendes aufzuzeigen. Empirische Wirklichkeit unterliegt dem Wandel oder der Veränderung (μεταβολή). Veränderung gibt es nach Aristoteles in ebenso vielen Erscheinungsformen, wie es kategorial aussagbares Seiendes gibt.¹¹¹ Ein Hauptanliegen der Physik und der Metaphysik ist die Erklärung der formalen Struktur dieses Prozesses; ein Vorhaben, das sich, wie Aristoteles zugesteht, als problematisch erweist, da Veränderung „schwierig“ (χαλεπός) zu bestimmen ist.¹¹² Sie ist ein „Mittleres“ (μεταξύ) zwischen der Ausgangs- und Endbestimmung eines Prozesses, insofern lässt sie sich nicht eindeutig zuordnen und ist gleichsam ein Übergangs- oder Grenzphänomen, das die Theorie vor die Frage stellt, wie es überhaupt begrifflich erfasst werden kann. Bezeichnenderweise ist in der Physik von dem „Unbestimmbaren“ (ἀόριστόν) die Rede: Und der Übergang in dieses oder aus diesem hat überhaupt keinen Vorrang vor dem aus dem jeweiligen Entgegengesetzten. Ursache davon, dass man sie hier eingeordnet hat, ist die Tatsache, dass Veränderung etwas Unbestimmbares zu sein scheint, und die Anfangsgründe der einen Seite der Zuordnung sind es aufgrund ihrer Noch-nicht-Bestimmtheit auch; keins von ihnen ist ein ‚dieses‘ oder ein ‚solches‘ und gehört auch nicht den übrigen Kategorien an.¹¹³

Es muss zunächst überraschen, wenn Aristoteles zur Charakterisierung der Veränderung neben dem Begriff des μεταξύ – gegen den doch der SAD gerichtet ist – auch den Terminus ‚ἀόριστόν‘ verwendet, der im Kontext seiner Kritik an Anaxagoras eindeutig negativ bestimmt ist. Wie ist also diese Begriffsverwendung zu verstehen, wenn sich Physik und Metaphysik gerade gegen die Welt- oder Wirklichkeitsbeschreibung der vorsokratischen Naturphilosophien wenden und es im Gegenteil um Persistenz und Grenzen der Dinge geht? Wie genau und umfassend ist das Mittlere?

   

Bröcker 51987, 44; vgl. auch Dudley 2012. Vgl. Phys. III 1, 201a8 f. Phys. III 2, 201b33 – 35. Phys. III 2, 201b24– 27 (Hervorhebung J.M.).

52

4 Die Empirie der Prozessualität: Das Problem der Veränderung

Anzunehmen ist, dass es – so eine Aussage in der Metaphysik ¹¹⁴ – alle anderen möglichen Farben oder alle Grautöne oder im Fall der Musik alle möglichen anderen Töne umfasst. Demnach kann ein Mittleres sowohl die gesamte Menge aller möglichen Mittelzustände als auch nur ein bestimmter möglicher Zustand zwischen Anfangs- und Endzustand sein (so hat z. B. eine Ortsbewegung von A nach B eine Mittelphase – den Weg –, ist unterteilbar in viele mittlere Phasen – eventuell die Schritte – oder lässt sich genau in einem Raum-Zeitpunkt bestimmen – Schritt x in der Raum-Zeitkoordinate [R/Z]n). Aber kann ein Prozess zu jedem Zeitpunkt seines Verlaufs adäquat beschrieben werden? Wie exakt können die Mittleren bei Umwandlungen (z. B. von roh zu gar oder beim Reifungsprozess einer Frucht), beim Bildungsgang oder beim Wachsen eines Menschen, bei Bewegungen von schnell zu langsam, bei Veränderungen von jung zu alt oder von gut zu schlecht erkannt und bestimmt werden? Wie lassen sich zwischen den Extremen Mittlere bzw. Mittelzustände voneinander abgrenzen? Und zu welchem Zeitpunkt oder ab welchem Zustand ist ein Mittleres von dem Anfangszustand unterschieden und findet der Übergang oder Umschlag in den Endzustand statt? Rekapitulieren wir zunächst die systematisierende Antwort des Aristoteles, um dann auf die Problematik der Veränderung als eines Mittleren näher eingehen zu können. Drei Grundsätze sind für die Erklärung von Veränderung zentral: Erstens gilt, dass Umwandlung „aus etwas zu etwas hin“ erfolgt;¹¹⁵ zweitens gibt es dasjenige, was sich verändert (oder verändern kann) als das dem Prozess „Zugrundeliegende“ (ὑποκείμενον), und drittens verläuft der Prozess nicht beliebig, sondern innerhalb zweier Entgegensetzungen und hat daher notwendig eine Begrenzung¹¹⁶. Anzumerken ist: Die Notwendigkeit einer Begrenzung setzt ein nichtempirisch Begrenzendes voraus, das die Finalität des Prozesses und die Einheit des Zugrundeliegenden gewährleistet. Aristoteles entwickelt hierfür seine Theorie der Substanz, die wir im zweiten Teil untersuchen werden. Dabei wird zu zeigen sein, wie Prozessualität nicht ohne Substantialität erklärt werden kann. Grundsätzlich kann eine Veränderung durch die „Ab- oder Anwesenheit“ (ἀπουσία καὶ

 Vgl. Met. X 5, 1056a21– 26.  Phys.V 1, 225a1 u.VI 5, 26b2– 4.Veränderung hat drei Strukturmerkmale:Was sich woraus und wozu ändert.  Entsprechend unterscheidet Aristoteles drei Weisen der μεταβολή: 1. aus Zugrundeliegendem in Zugrundeliegendes, 2. aus Zugrundeliegendem in Nicht-Zugrundeliegendes, 3. aus Nicht-Zugrundeliegendem in Zugrundeliegendes. – Das Zugrundeliegende meint auch im grammatikalischen Sinn das Subjekt der Veränderung (vgl. Phys. V 1, 225a6 f.). In der Physik bleibt noch offen, was genau das Zugrundeliegende ist; aus Sicht der Metaphysik ist es entschieden: die Substanz. Vgl. zur Begrenzung Phys. VIII 2, 252b9 – 12.

4.1 Ein legitimes Mittleres

53

παρουσία) eines der beiden Entgegengesetzten bewirkt werden.¹¹⁷ Im Anschluss an diese Grundsätze unterscheidet Aristoteles zwei Hauptformen von Veränderung oder Wandel: Es gibt Prozesse, die zwischen kontradiktorisch Entgegengesetzten, also über einen „auszuschließenden Widerspruch“ – hierunter fallen Werden oder Entstehen sowie Vergehen – stattfinden, und solche, die in keiner widersprüchlichen, mithin in einer nichtkontradiktorischen Entgegensetzung stattfinden; dieser Prozess bedeutet in einem weiteren Sinn Wandel (hier: κίνησις)¹¹⁸. Die erste Form betrifft die Existenz und Identität der Sache selbst; die zweite Form umfasst die Veränderungsarten im Bereich der Qualität, Quantität und der Bewegung.¹¹⁹ An dieser Stelle ist auf eine begriffliche Unklarheit hinzuweisen. Obwohl in Physik Ε 1 ausdrücklich von einem kontradiktorischen Gegensatz als Anfangs- und Endbestimmung für Entstehen und Vergehen die Rede ist, finden beide nicht in dieser Art der Entgegensetzung statt. Für Aristoteles ist es wie für die schon erwähnten Vorsokratiker unmöglich, dass aus dem Nichts schlechthin etwas wird oder darin vergeht, da immer etwas aus etwas (mindestens aus Materie) wird und etwas dem Prozess vorhergeht bzw. zugrunde liegt.¹²⁰ Nichtsein ist hier also konträr zum Sein zu verstehen und hat die Bedeutung der Privation (στέρησις), insofern ist der kontradiktorische als ein privativer Gegensatz aufzufassen.Werden ist dann ein Mittleres zwischen ‚etwas Bestimmtes zu sein‘ und ‚etwas Bestimmtes nicht zu sein‘ (z. B. Mensch sein und nicht Mensch sein); Gleiches gilt umgekehrt für das Vergehen. Dennoch stellt sich die Frage, wie die Aussage in der Physik über die Kontradiktion zu verstehen ist, zumal auch an anderen Stellen von einem Wandel zwischen einander ausschließenden Widerspruchsgliedern die Rede ist. Wir werden auf diese Konstellation später noch eingehen, zunächst soll der Begriff des Mittleren weiter verfolgt werden.

4.1 Ein legitimes Mittleres Auf der Grundlage der getroffenen Prozessunterscheidung kann Aristoteles bei Veränderungen in der einen Hinsicht ein legitimes oder natürliches Mittleres, und zwar zwischen den Extremen des konträren Gegensatzes zulassen, während es für die Kontradiktion ausgeschlossen bleibt. In Physik Ε lautet die Definition für μεταξύ:    

Vgl. Phys. I 8, 191a7. Vgl. Phys. V 1, 225a12– 20 u. a34-b3. Vgl. Phys. V 1, 225b7– 9; Met. XII 1, 1069b9 – 14. Vgl. Met. II 2, 994a27– 29.

54

4 Die Empirie der Prozessualität: Das Problem der Veränderung

Das, was ein Mittleres [oder: inmitten] ist, befindet sich in einer Abfolge mit mindestens drei Aspekten: Bei der Veränderung sind die Außenpunkte [sc. die Extreme] die konträr Entgegengesetzten und ist das Mittlere das, bei dem ein Sichveränderndes früher ankommen muss, bevor es sich in naturgemäß zusammenhängender Weise in das andere Extrem verändert.¹²¹

Ein Mittleres markiert somit die lineare Durchgangsphase zwischen den inhaltlich positiv bestimmten Gegensatzgliedern und ist dadurch bestimmt, dass es zeitlich wie räumlich in einem Kontinuum abläuft. Es ist eine privative Negation, die sich im Unterschied zur reinen Negation der Kontradiktion auf die zwei Extreme ihres konträren Gegensatzes innerhalb derselben Gattung bezieht, wobei die Veränderungsrichtung auf den Endzustand abzielt. Sie negiert zugleich die Inhalte der beiden Glieder und bildet dadurch einen eigenständigen mittleren Gehalt. Dass hier ein positiver Inhalt in Abgrenzung von den beiden Extremen etabliert wird, ist vor allem gegenüber dem vermischenden Widerspruchsmittleren des Anaxagoras von entscheidender Bedeutung. Zwar ist auch bei Aristoteles ein Mittleres durch ein ‚Weder-Noch‘ der Kontrarietäten strukturiert, aber so, dass der Begriff eine eigene abgrenzte Bedeutung in derselben Gattung wie die Extreme hat. Zum Beispiel ist ein legitimes Mittleres weder groß noch klein, sondern gleich; weder weiß noch schwarz, sondern grau; weder Ober- noch Unterton, sondern Mittelton). Entsprechend deutlich wendet er sich gegen die Ansicht, es gebe zwischen allem ein indifferentes Mittleres:¹²² Ungerecht ist also der Tadel derer, die meinen, es müsse zwischen Schuh und Hand dasjenige ein Mittleres sein, was weder Schuh noch Hand ist, insofern dasjenige, was weder gut noch schlecht ist, ein Mittleres zwischen dem Guten und dem Schlechten ist, gleich als müsste es dann bei allem ein Mittleres geben. Aber diese Folgerung ist gar nicht notwendig. Die [gleichzeitige] Negation nämlich der beiden Glieder des [konträren] Gegensatzes findet nur da statt, wo es ein Mittleres und eine bestimmte Entfernung der Natur der Sache nach gibt …¹²³

Allerdings formuliert Aristoteles wenig später auch, das Mittlere sei aus den Extremen der Kontrarietät „zusammengesetzt“ (σύνθετα/σύνθετον): Nun wird aber etwas aus dem (konträren) Gegensatz auf die Weise, dass ein Übergang in dieses [Mittlere] früher stattfinden muss als in das [jeweilige] Extrem selbst, da es mehr als das eine [und] weniger als das andere sein muss. Also muss dies ein Mittleres für den [konträren] Gegensatz sein. Somit ist auch alles übrige Mittlere zusammengesetzt; denn was

 Phys. V 3, 226b22 – 25; vgl. Met. X 7, 1057a21 f.  Vgl. Met. IV 7, 1011 b21– 32; Met. X 7, 1057a18 – 28; Met. 6, 1063b15 – 19; Phys. V 1, 224b1– 35; Phys. V 3, 227a1– 27; die angeführten Beispiele finden sich in den zitierten Passagen.  Met. X 7, 1056a30 – 36.

4.1 Ein legitimes Mittleres

55

mehr ist als das eine [und] weniger als das andere, das ist irgendwie aus dem zusammengesetzt, mit dem verglichen ihm ein Mehr und Weniger zugeschrieben wird.¹²⁴

Nach diesen Passagen scheint nun eine zusätzliche Sowohl-als-auch-Bestimmung zu bestehen. Vermutlich will Aristoteles mit dieser Angabe den dynamischen Charakter des Mittleren innerhalb des Kontinuums verdeutlichen, dessen Position in einen zielgerichteten kontinuierlichen Prozess eingebunden und notwendig von den Gegensatzgliedern abhängig ist. Es steht immer „im Verhältnis zu“ (πρός τι)¹²⁵ den Extremen, deren einer Position es sich annähert, während es sich von der anderen zugleich entfernt. Im Vergleich mit diesen beiden kommt ihm, von Beginn bis zum Abschluss des Prozesses, immer qualitativ oder quantitativ ‚ein Mehr und Weniger‘ sowohl von der Ausgangs- als auch von der Endbestimmung zu. Im Rahmen der Kontinuumstheorie des Aristoteles ist dann das Mittlere der Gesamtzustand, der aus sukzessiven Teilungsvorgängen besteht, die wiederum als zunehmende Identität (Annäherung) und Differenz (Entfernung) beschrieben werden können. Wenn diese Bezüge berücksichtigt werden, erklärt sich das Attribut des Zusammengesetztseins und die Sowohl-als-auch-Bestimmung des Mittleren im Sinn der dynamischen linearen Kontinuität. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob das nicht der Weder-noch-Struktur der Definition widerspricht? Für den Einwand lässt sich folgendermaßen argumentieren: Da „Veränderung ein Kontinuum bildet“¹²⁶ und ein Kontinuum einen potentiell unendlichen Teilungsprozess erlaubt, unterliegt das Sichverändernde der Möglichkeit nach einer unendlichen Differenzierung und ist letztlich nicht als Ganzes an einer bestimmten Stelle oder in einem Zustand zu identifizieren; es ist infinitesimal immer noch ein anderes Teilstück des Prozesses. Aristoteles hat diesen Umstand in Bezug auf das Raum-Zeit-Verhältnis der Bewegung hinreichend klar formuliert: Es ruht und bewegt sich alles in der Zeit; es gibt aber keine ‚erste Zeit‘, und auch bei der Größe nichts dergleichen und überhaupt bei keinem Zusammenhängenden [sc. Kontinuierlichem]: Alles ist ins Unendliche teilbar. Da sich alles, was sich verändert, in der Zeit bewegt und von etwas weg zu etwas hin sich verändert, [gilt]: In der Zeitphase, in welcher es sich verändert, … kann das Sichverändernde unmöglich im genauen Sinn an einer bestimmten Stelle sein [oder: eine Bestimmung haben]. Denn ‚Ruhen‘ ist doch definiert als ‚eine bestimmte Zeit lang als Ganzes für sich und bezogen auf jeden Teil an derselben Stelle sein‘… Wenn das Ruhen

 Met. X 7, 1057b23 – 29; vgl. Phys. V 1, 224b31– 35.  Phys. V 1, 224b34.  Phys. VI 5, 235b24 f.

56

4 Die Empirie der Prozessualität: Das Problem der Veränderung

bedeutet, kann das Sichverändernde in Bezug auf das unmittelbare Zeitstück [der Veränderung] nicht an einer bestimmten Stelle sein.¹²⁷

Die Textstelle lässt keinen Zweifel daran, dass etwas Sichveränderndes aufgrund der Unabgeschlossenheit des Wandlungsprozesses nicht vollständig bestimmt sein kann und damit ein gewisses Maß Indifferenz oder Unterbestimmtheit notwendig mitbringt, anders gesagt: Alles,was sich verändert, ist und ist nicht, weil es sich verändert. Es ist, so eine klare Formulierung in der Metaphysik, „inmitten von Sein und Nichtsein“.¹²⁸ Das Ende des Veränderungsprozesses ist erst dann erreicht, wenn, wie Aristoteles sagt, es das geworden ist, zu dem hin es sich gewandelt, wenn also kein Prozess mehr abläuft.¹²⁹

4.2 Veränderung zwischen Widerspruchsgliedern Um die Problematik zu verschärfen, greifen wir noch einmal auf den anderen Umwandlungsbegriff zurück, der Veränderung zwischen Widerspruchsgliedern angibt. Wenn explizit gilt, dass es hier kein Mittleres geben kann, wie sollen in diesem Fall Übergangsphasen bestimmt und erkannt werden?¹³⁰ Eine Lösung ist bereits genannt worden: Der Widerspruch ist als konträrer Gegensatz zu verstehen, so dass die Kontradiktion zur Privation wird und die Extreme nur formal als Widerspruchsglieder beschrieben werden. Nehmen wir aber Aristoteles an den entsprechenden Textstellen beim Wort, so ist Veränderung hinsichtlich der Anfangs- und Endbestimmung auch unter der Bedingung des auszuschließenden Widerspruchs zu denken;¹³¹ ein Beispiel ist die Kontradiktion Mensch- und Nicht-Mensch. Begriffslogisch fällt unter Nicht-Mensch alles, was nicht Mensch ist (z. B. Baum, Computer, Regen, Steinhaufen etc.), hier kann es

 Phys.VI 8, 239a23 – 31; vgl. Phys. 6, 237b3– 7. Ruhe- und Bewegungsphasen sind somit nie als Ganzes je für sich gegeben; das trifft also auch für alles zeitlich ausgedehnte Seiende (Ereignisse oder Sachverhalte) zu; vgl. dazu insgesamt Phys. VI 8; bes. 239a10 – 14; auch Phys.V 1, 227a10 – 12, wo das Kontinuum als eine Art ‚Identität der Ränder’ bestimmt ist. Zu verweisen ist noch auf die Einschränkung, die Aristoteles macht, dass gemäß seiner Kontinuitätsbestimmung kein Prozess während seines Ablaufs in einen real abgetrennten Teil fixiert werden kann, da es keine kleinsten Zeit-/Raumpunkte im Kontinuum gibt; in einem punktuellen ‚Jetzt’ findet keine Bewegung statt; vgl. Phys. IV 13, 222a10 – 20; Phys. VI 3, 233b33 – 234a3.  Met. II 2, 994a27– 29.  Vgl. Phys. VI 5, 235b25 – 29 u. 236a5 ff.; das Ende der Veränderung ist die „Grenze“ (236a13).  Vgl. zum Ausschluss des Mittleren: Phys. V 3, 226b23 – 26; Met. X 4, 1055b1– 3; Met. X 7, 1057a33 – 37.  Vgl. z. B. Phys. VI 5, 235b13 – 17 u. 27– 30; Phys. VI 6, 237a35-b7; Phys. VI 8, 240a19 – 29.

4.2 Veränderung zwischen Widerspruchsgliedern

57

keine Umwandlung der Entgegengesetzten geben.¹³² Entweder ist die Affirmation oder die Negation wahr. Aristoteles selbst nennt exemplarisch das Werden zwischen den Kontradiktionsgliedern weiß und nicht-weiß oder seiend und nichtseiend. Seine Erklärung des Wechsels fällt vor dem Hintergrund seiner Kontinuumslehre ausgesprochen knapp aus: Auch beim Wandel im Bereich des Widerspruchs [aus dem einen Glied in das andere] wird sich uns nichts Unmögliches ergeben; z. B. wenn [etwas] sich aus ‚nicht-weiß‘ zu ‚weiß‘ verändert und [dabei] in keinem der beiden [Zustände] ist, dass es dann also weder weiß noch nicht-weiß wäre. Es ist ja nicht so, dass es, wenn es nicht ganz in einem der beiden [Zustände] ist, dann nicht mehr ‚weiß‘ oder ‚nicht-weiß‘ genannt werden dürfte: als ‚weiß‘ und ‚nichtweiß‘ sprechen wir es ja nicht nur dann an, wenn es gänzlich diese Eigenschaft hat, sondern aufgrund dessen, dass es den meisten oder hauptsächlichen Anteilen nach so ist; und es ist nicht das Gleiche [zu sagen]: ‚Nicht-in-diesem-Zustand-sein‘ und ‚Nicht-ganz-in-diesemZustand-sein‘.¹³³

Auch hier zeigt sich, dass die Konzeption der Substanz von Bedeutung ist. Denn um von einem ‚Nicht-ganz’ sprechen zu können, braucht es eine Form von Identität und Finalität, die es erlaubt, in antizipierender Weise einen Endzustand anzunehmen. Während des Prozesses existiert nicht wie beim konträren Gegensatz vermittels privativer Negation ein dritter Gehalt, der weder mit der Ausgangs- noch der Endbestimmung identisch ist, sondern wie bei der Sowohl-als-auch-Bestimmung eine Beinahe- oder Teil-Identität mit einem der beiden Entgegengesetzten. Das Sichverändernde befindet sich in einem von beiden, aber eben nicht als Ganzes oder nur in eingeschränkter Weise und soll dadurch nicht als ein Drittes bestimmt werden können. Demnach spricht man schon während des Wechsels von dem Sichverändernden als weiß/seiend oder nicht-weiß/nicht-seiend, obwohl die jeweilige kontradiktorische Endbestimmung noch nicht in toto erfüllt ist. Lässt sich Aristoteles’ Ansatz an dieser Stelle kritisieren? Schließlich kann ihm der Vorwurf gemacht werden, er unterlaufe seine ersten Axiome, und das berechtigt zu der Frage, ob er ein Widerspruchsmittleres nicht geradezu etabliert. Dem sich verändernden Gegenstand kommt in gewisser Hinsicht, da er nicht vollständig seine Anfangs- oder Endbestimmung ist, jeweils die Teil-Identität mit beiden Widerspruchsgliedern zu. Damit kommen ihm aber Identität und Nicht-

 Die Kontradiktion umfasst alles, was das Negierte nicht ist, mithin nicht nur wie bei der Kontraität das, was mit ihm in derselben Gattung ist. In Met. IV 7, 1011b29 – 31 ist das Beispiel angeführt, dass ein Widerspruchsmittleres zwischen Mensch und Pferd (sic Nicht-Mensch) weder Mensch noch Pferd sei und an einem solchen Mittleren keine Veränderung stattfinde.  Phys. VI 9, 240a19 – 26.

58

4 Die Empirie der Prozessualität: Das Problem der Veränderung

identität bzw. Teile des jeweiligen Entgegengesetzten zugleich zu und nicht zu. Eine assertorische Aussage lässt sich in diesem Fall nicht uneingeschränkt behaupten. Stattdessen ist ein widersprüchlicher Satz, der an Anaxagoras erinnert, zu formulieren: Was (zu einem Großteil) weiß/seiend ist, verhält sich zugleich und in derselben Hinsicht auch nicht-weiß/nicht-seiend. Halten wir fest: Aristoteles vermeidet die Vermischung oder Koinzidenz der Entgegengesetzten einerseits durch den Ausschluss des Widerspruchmittleren bei der Kontradiktion, andererseits durch die Einrichtung eines philosophisch legitimen, weil abgegrenzten Mittleren beim konträren Gegensatz. Allerdings verdeutlicht unsere Analyse eine grundlegende Schwierigkeit bei Aussagen über prozessuale Wirklichkeit: Veränderungen implizieren ein prinzipielles Maß an Ungenauigkeit bei der Zuweisung von Anfangs- und Endbestimmung sowie der Abgrenzung eines Mittleren. Dabei gewinnt man den Eindruck, als trete bei der Etablierung des eigenen Mittleren ein Problem der kritisierten vorsokratischen Naturphilosophie erneut auf, insofern sich die Sowohl-als-auch-Formulierung dem herakliteischen Zusammenfall der Gegensätze annähert. Für die assertorische Aussage ergibt sich das Problem, wie sich ein derart Veränderndes erfassen lässt und ob der Sachverhalt oder das Ereignis zu bejahen oder zu verneinen ist. Wenn allem prozessualen Seienden ein gewisses Maß an Indifferenz zukommt, kann die Aussage zumindest in bestimmten Zeitphasen der Veränderung die Phänomene nicht angemessen erfassen. Affirmation und Negation eines Sachverhaltes können zugleich möglich sein, insofern sie auf etwas referieren, das gleichsam ‚unscharfe Ränder‘ hat oder eine Interferenz darstellt. Das bedeutet, NWS und SAD sind für Aussagen über sinnlich-wahrnehmbare Gegenstände in bestimmten Übergangszuständen und Zeitabschnitten einzuschränken, da weder das eine noch das andere Glied der Entgegensetzung voll aktualisiert ist und auch ein Widerspruchsmittleres nicht ausgeschlossen werden kann. Das prozessuale Seiende ist ein problematischer Bereich für die Gültigkeit der Axiome und des assertorischen Satzes. Vor diesem Hintergrund stimmt Aristoteles den Herakliteern zu: Ist es nun unmöglich, etwas [hier: das Prädikat] mit Wahrheit zugleich zu- und abzusprechen, so ist es auch unmöglich, dass konträre Bestimmungen [hier: Eigenschaften] demselben zugleich zukommen. [Möglich ist dies nur,] wenn entweder beide nur in gewisser Weise (πῇ) oder die eine nur in gewisser Weise, die andere schlechthin [dem Subjekt zukommen].¹³⁴ Wir werden auf diese Behauptung [sc. die Flusstheorie] erwidern, dass bei dem Sichverändernden, während es sich verändert, allerdings ein Grund gegeben ist, es [sc. das Sichverändernde] für nicht-seiend zu halten. Doch selbst dies könnte in Frage gestellt werden, denn

 Met. IV 6, 1011b20 – 22.

4.2 Veränderung zwischen Widerspruchsgliedern

59

das Werdende, indem es eine Eigenschaft eben verliert, hat noch etwas von dem [sc. der Eigenschaft], was es verliert, und muss schon etwas von dem sein, was es wird …¹³⁵

Entscheidend ist hier, dass erstens die Zustimmung in gewisser Weise bzw. Hinsicht (πῇ) erfolgt, mithin nur eine eingeschränkte Geltung der gegnerischen Position zugestanden wird. Gleichwohl ist der Anwendungsbereich des NWS für das prozessuale Seiende zu relativieren – die Möglichkeit widersprüchlicher Aussagen besteht durchaus. Zweitens wird auch die Gültigkeit des SAD beschnitten. Denn, wie oben bereits gesagt, besteht in dem Prozess des Vergehens und Werdens einer Eigenschaft oder eines Gegenstands ein Maß an Indifferenz, bei dem nicht genau bestimmt werden kann, ob Anfangs- oder Endbestimmung dominieren, so dass beide Zuschreibungen temporär falsch sein können. Allerdings belässt es Aristoteles nicht bei diesem Zugeständnis. Der Empirie der Prozessualität und der Schwierigkeit für assertorische Aussagen setzt er eine komplexe Theoriestrategie entgegen, die dazu dient, das Phänomen der Veränderung zu erklären, ohne die Konsistenz des Seienden oder die Gültigkeit der Axiome aufgeben zu müssen. Neben der vorgestellten Konzeption eines legitimen Mittelbegriffs ist vor allem auch die Substanztheorie zu nennen. In ihrem Rahmen wird, wie zu zeigen sein wird, auf unterschiedliche Weise der Möglichkeitsbegriff in Anspruch genommen.

 Met. IV 5, 1010a15 – 18.

5 Die Notwendigkeit der Substanz Die Auseinandersetzung mit den vorsokratischen Theorien ist richtungweisend für die zentrale Substanzthematik. Dabei läuft die partielle Zustimmung zu den gegnerischen Theoremen auf die entscheidende metaphysische Differenz hinaus: Nicht alles Seiende ist sinnlicher Natur und Gegenstand der Wahrnehmung. Der Fluss der Phänomene ist nicht identisch mit der Ordnung der Dinge, genauer gesagt, er ist nicht identisch mit der Struktur des Seienden. Die Ursache dieser Meinung [sc. der Vorsokratiker] bestand nun darin, dass sie bei der Forschung nach der Wahrheit des Seienden nur das Wahrnehmbare für Seiendes hielten; in diesem ist aber die Natur des Unbestimmten … Daher sprechen sie zwar begreiflicherweise so, aber Wahres sprechen sie nicht.¹³⁶

Die Abgrenzung ist deutlich formuliert: Wenn es nur Sinnliches gäbe und Erkenntnis ausschließlich auf Sinnesqualitäten bezogen wäre, dann wären sowohl Heraklits Flusstheorie als auch Anaxagoras’ Allvermischung richtig, und Wahrheit hinge an der Entscheidung des jeweiligen subjektiven Wahrnehmungsakts, wie es Protagoras postuliert hatte. Aristoteles setzt einer auf allein sinnlicher Wahrnehmung basierenden Prozessontologie seine Persistenzontologie der οὐσία entgegen, freilich ohne die Veränderungen in der Sinnenwelt auszugrenzen. Bereits in Buch Γ werden auf sprachphilosophischer Ebene maßgebliche Angaben zur Substanz gemacht, die auf die Überlegungen in den sogenannten Substanzbüchern (Ζ, Η, Θ) verweisen: – Die Notwendigkeit der Substanz wird über den sprachpragmatischen Ansatz aufgezeigt: Jeder assertorische Satz, dessen Termini auf etwas referieren, setzt voraus, dass dieses Etwas in der Welt aufgezeigt werden kann, es also existiert (bzw. nicht existiert). Referieren kann nur gelingen, wenn es in bestimmter Weise eine dauerhafte oder invariante Wirklichkeit gibt, die das Bezugnehmen auf etwas als etwas Bestimmtes ermöglicht. Die Extension wird durch ein fundamentum in re gesichert. Nach Aristoteles ist die Unterstellung reiner Veränderungsvorgänge sinnlos und würde, wie schon gesagt, alle Aussagen zu falschen Aussagen werden lassen.¹³⁷ – Prozessualität setzt, um überhaupt im Prozess etwas Einzelnes erkennen und assertorisch über die Welt reden zu können, Substantialität als Bedingung für

 Met. IV 5, 1010a1– 5.  Ebenso klar ist, dass wegen der Wahrnehmung nicht alles in Ruhe sein kann; in diesem Fall würde alles wahr und falsch sein; vgl. Met. IV 8, 1012b22– 25.

5.1 Eine neue Konzeption von οὐσία: εἶδος



61

Stabilität voraus. Daher müssen auch den Gegenständen unserer Wahrnehmung die bereits genannten Merkmale des Nichtwidersprüchlichen und Nichtmittleren, der Einheit und Abgegrenztheit in irgendeiner Form zukommen. „Soll etwas vergehen, so muss es als ein Seiendes vorhanden sein, und wenn dagegen etwas wird, so muss es notwendig etwas geben, woraus und wozu es wird, und dies kann nicht ins Unendliche gehen.“¹³⁸ Das Verbot des infiniten Regresses zeigt an, dass Veränderung nicht universell ist. Die älteren Naturphilosophen hypostasierten für Aristoteles hingegen das Sinnlich-Wahrnehmbare in Allaussagen über den Kosmos.

Das metaphysische Vorhaben ist damit vorgegeben: Explikation der οὐσία als persistierendes Einheitsprinzip des veränderlichen Seienden. Allerdings hat sich Aristoteles damit eine höchst komplexe Aufgabe gestellt. Da er den Prozesscharakter und die phänomenale Seite des Seienden nicht leugnet, muss er beides in seine Substanztheorie integrieren. Die Metaphysik stellt sich der schwierigen Aufgabe, Persistenz und Prozessualität miteinander zu verbinden. Welche Probleme sich daraus ergeben und inwiefern der Möglichkeitssemantik eine zentrale Rolle bei der Lösung dieser Probleme zukommt, ist nun im Einzelnen zu untersuchen.

5.1 Eine neue Konzeption von οὐσία: εἶδος Die zentrale Frage der Metaphysik, die sich weder durch Empirie noch durch Abstraktion beantworten lässt, ist die nach der Substanz: „Was ist die Substanz (τίς ἡ οὐσία)?“.¹³⁹ Um die Reichweite dieses Vorhabens zu erfassen, ist es sinnvoll, den Unterschied zum ontologischen Ansatz der Kategorien zu nennen. Die veränderte Perspektive der Metaphysik gegenüber dem frühen Substanzbegriff besteht darin, dass Aristoteles gerade über das konkrete wahrnehmbare Einzelseiende, welches in den Kategorien als erste Substanz etabliert wurde, hinausgeht und dieses selbst noch einmal auf seine Konstitution hin befragt. Auf Grund des neuen begründungstheoretischen Anspruchs der Metaphysik kommt nicht mehr diesem Konkretum der Primat zu, sondern, wie die Bücher Ζ und Η erörtern, der Neube-

 Met. IV 5, 1010a19 – 22.  Met.VII 1, 1028b4. Tugendhat 1994, 38, spricht in Bezug auf die Substanz von der Frage nach der „Gegenständlichkeit“ des Gegenstandes; vgl. auch Rapp 1996c, 166.

62

5 Die Notwendigkeit der Substanz

stimmung der οὐσία als Form (εἶδος); sie ist das „erste Seiende“ (πρώτως ὄν)¹⁴⁰ oder die „primäre Substanz“ (πρώτη οὐσία)¹⁴¹. Gegenüber seiner früheren Stellung in den Kategorien hat das εἶδος nun in der Ersten Philosophie eine grundsätzlich andere Verwendung: Es ist nicht mehr ein Artprädikat oder eine Spezies, das eine wahrnehmbare Substanz als Zugrundliegendes präsupponiert, um diese in bestimmter Weise zu spezifizieren, sondern selbst die Ursache oder Prinzip für dessen Existenz. Die Form ist das geforderte fundamentum in re für den als logisches Subjekt fungierenden Referenzgegenstand. Das Problem zweier konträrer Theorien stellt sich indes nicht. Vielmehr liegt der Ansatz der Ersten Philosophie dem der Kategorien aus systematischer Sicht voraus, indem sie das Prinzip oder die Ursache des Seienden expliziert.¹⁴² Das Einzelseiende ist damit nicht aus dem metaphysischen Diskurs ausgeblendet. Schließlich geht es gerade um dessen ontologische Verfasstheit als prozessuale Substanz: die οὐσία αἰσθητή.¹⁴³ Ihre numerische Einheit und diachrone Identität zu erklären ist eine der wesentlichen Aufgaben der Metaphysik. Das Ziel der komplexen Argumentation in Ζ und Η besteht demnach darin, die Form sowohl definitorisch-begrifflich wie auch ätiologisch als das Erste zu etablieren. In erster Hinsicht setzt Aristoteles den Terminus des τί ἦν εἶναι ein, um dann in zweiter Hinsicht das εἶδος als Prinzip oder primäre Ursache des Seins (πρώτη αἰτία τοῦ εἶναι) auszuweisen, das in Verbindung mit der Materie die konkrete Substanz als σύνολον (zusammengesetztes Ganzes) konstituiert.¹⁴⁴ Fassen wir beide Hinsichten zusammen, lässt sich das Anliegen der Substanztheorie in der Metaphysik auf zwei Schwerpunkte konzentrieren: erstens die Bestimmung der Form als primäre Substanz in ihrem definitorisch-ätiologischen Doppelcharakter, und zweitens die damit verbundene Konzeption der sekundären sinnlich-wahrnehmbaren Substanz (οὐσία αἰσθητή) als σύνολον. In der Darlegung des Zusammenhangs zwischen Form, Materie und zusammengesetztem Ganzen hat die Aufgabe, Persistenz und Prozessualität zu vermitteln, ihren systematischen Ort. Für diese reifere Ontologie des Aristoteles ist, wie  Met. VII 1, 1028a14 u. a31: „ἁπλῶς ὄν“.  Met. VII 7, 1032b2; 11, 1037b2.  Vgl. Met. IV 2, 1003b16 – 18. Diese Ansicht vertritt auch überzeugend Code 1997, 357– 378.  Vgl. Met. VII 11, 1037a13 – 16. Allerdings ist, was schon Tugendhat 1958, 25, Fn. 22 kritisch anmerkte, die οὐσία αἰσθητή nicht mit dem unmittelbar konkreten Gegenstand identisch. So hat Liske 1985, 157 f. zu Recht herausgestellt, das τόδε τι bezeichne nicht ein „individuum signatum“, sondern ein „individuum vagum“. Das Individuum ist nach Aristoteles’ wissenschaftstheoretischer Prämisse nicht definier- und wissbar.  Vgl. für die primäre Ursache Met. VII 17, 1041b28; vgl. für den Begriff des σύνολον erstmals Met.VII 3, 1029a3 – 5; synonym spricht Aristoteles auch von σύνθετος οὐσία; vgl. exemplarisch Met. VIII 3, 1043a30; XII 3, 1070a14.

5.1 Eine neue Konzeption von οὐσία: εἶδος

63

zu zeigen sein wird, die Möglichkeitssemantik unter besonderer Berücksichtigung des Vermögensbegriffs von weitreichender Bedeutung. Zunächst ist dafür der komplexe Begriff des εἶδος zu entfalten, um dann über die Konstitution des σύνολον zum Begriffsfeld der Möglichkeit zu kommen. Da hierfür der Begriff der Materie grundlegend ist, werden wir ihn erst in diesem Zusammenhang eingehend berücksichtigen. Bis dahin wird ‚Materie‘ einfach als Gegen- oder Relationsbegriff zu Form verwendet. In einer anderen Weise heißt das ‚Substanz‘, was Ursache des Seienden ist und dabei demjenigen innewohnt, was so beschaffen ist, dass es nicht von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird … Ferner die Teile, die den so Beschaffenen innewohnen und sowohl begrenzen als auch ein bestimmtes Dies bedeuten; mit deren Aufhebung wird das Ganze aufgehoben … Ferner das wesentliche Sein (τί ἦν εἶναι), dessen Begriff eine Definition ist, auch das wird als Substanz eines jeden bezeichnet.¹⁴⁵

Die Passage dient als Ausgangspunkt unserer weiteren Auseinandersetzung mit der Substanztheorie. Ihr lässt sich sowohl die Neuerung gegenüber dem SubstanzBegriff aus den Kategorien entnehmen, dass nämlich die hier gemeinte Substanz nicht nur Subjekt einer Aussage ist, sondern dieses Subjekt überhaupt erst in seiner Existenz verursacht und erhält, als auch die Definierbarkeit dieser Substanz. Aristoteles führt hier, ohne es explizit zu nennen, das εἶδος als die neue πρώτη οὐσία ein.

5.1.1 Definitorische Bestimmtheit der Form Die Form wird „in begrifflicher Weise“ als τί ἦν εἶναι erklärt.¹⁴⁶ Die Bedeutung dieses Terminus erschließt sich im Ausgang von der jeder Definition zugrunde liegenden Frage nach dem τί ἐστι: ,Was-etwas-ist‘ bestimmt die Identität einer Sache.¹⁴⁷ In der Metaphysik wird mit dem speziellen Ausdruck die vollständige Antwort auf die besondere Definitionsfrage nach dem Seienden als Seienden, mithin nach der οὐσία gegeben, so dass wir den Terminus im Weiteren als ‚defi-

 Met. V 8, 1017b14– 23.  Mit dieser Formulierung eröffnet Aristoteles seine Erörterung in Met. VII 4, 1029b13. Sie wird in 7– 9 und später in Buch Η durch die physikalische Perspektive, mit der die Form innerhalb des Bereichs des Werdens bestimmt wird, ergänzt. Vgl. zu diesem Wechsel der Theorieperspektive schon Owen 1951, 358; Buchheim 1996, 107 f.; Hübner 2000, 125 ff.  Vgl. An. post. II 3, 91a1; An. post. I 10, 93b29 – 32 u. 94a11– 14.Vgl. Für den Zusammenhang von τί ἦν εἶναι und τί ἐστι auch Viertel 1982, 165 – 191 sowie immer noch grundlegend Arpe 1938 [ND 1976].

64

5 Die Notwendigkeit der Substanz

nierendes‘ oder ‚begriffliches Sein‘ übersetzen.¹⁴⁸ Die Definition expliziert das wesentliche Sein oder das Wesenswas eines jeweiligen Einzelnen (ἕκαστον): „Unter Form verstehe ich das begriffliche Sein eines jeden und die primäre Substanz.“¹⁴⁹ So werde auf die Frage, wie etwas sei, geantwortet, es sei gut oder schlecht, weiß oder warm, auf die Frage, was es sei, dass es ein Mensch oder Gott sei. Daher kommt das τί ἦν εἶναι „primär (πρώτως) und ohne Einschränkung (ἁπλῶς) der Substanz“ zu.¹⁵⁰ Der Sinn des Begriffs lässt sich annähernd mit der Wendung ‚Was zu sein etwas immer war‘ wiedergeben, wobei das Imperfekt den Aspekt der Unveränderlichkeit betont, den die Form hat, um Identität und Einheit einer Sache sowie ihrer Definition dauerhaft zu gewährleisten. Hilfreich für das Verständnis ist auch der Vorschlag von Michael Frede und Günther Patzig, den Terminus als „definitorische Regel“ oder „Definitionsformel“¹⁵¹ zu verstehen, in der das εἶδος einer Sache angegeben ist und soviel bedeutet wie: ‚Was es (z. B. für den einzelnen Menschen) heißt, dies (z. B. Mensch) zu sein‘, modifiziert können wir auch sagen: ‚Was es für ein Einzelnes immer schon hieß, dies Einzelne von dieser Art zu sein‘. Das τί ἦν εἶναι muss die prinzipiierende Vorrangstellung der Form auf begrifflicher Ebene eindeutig aussagen; auf diesem Weg wird auch ihr Doppelcharakter einsichtig: Die Form ist das definitorisch Primäre, weil und insofern sie das ätiologisch Primäre ist: „Es ist also offensichtlich, dass man nach der Ursache fragt. Dies ist aber, um es allgemein zu formulieren, das begriffliche Sein.“¹⁵² Die definitorische Eigenständigkeit des εἶδος ist noch einmal besonders zu betonen. Sie sichert die Intension des Begriffs der primären Substanz gegenüber dessen prädikativem Bezug auf die konkreten Gegenstände. Für Aristoteles hat die

 Letzteren Ausdruck übernehme ich von Hübner 2000, 124.  Met.VII 7, 1032b1 f.Vgl. zur Gleichsetzung von εἶδος und τί ἦν εἶναι Met.VII 5, 1031a12– 14; VII 10, 1035b32; VII 11, 1036a28 f.; VIII 3, 1043b1 f.; Phys. II 3, 194b26 – 29.  Vgl. für das ‚Was’ Met. VII 1, 1028a15 – 20; hier: Met. VII 4, 1030a29 f. – Aristoteles hält in diesem Zusammenhang fest, dass analog zu der vielfältigen Bedeutung von ‚sein’ auch nach dem τί ἐστι in allen anderen Kategorien gefragt werden kann, so z. B. nach dem, was das Quantitative oder Qualitative ist. Entscheidender Unterschied ist aber, dass den nicht-substantiellen Seinsweisen das τί ἐστι nur in „abgeleiteter“ und eingeschränkter“ Form zukommt. Dies entspricht der Hierarchisierung der πρὸς-ἔν-Relation.  Frede/Patzig 1988, Bd. II, 60 u. 113; vgl. auch Bd. I, 19. Dass die Übersetzung und Interpretation des Ausdrucks τί ἦν εἶναι Schwierigkeiten bereitet, zieht sich durch die Forschungsliteratur; vgl. hierfür exemplarisch: Arpe 1938; Liske 1985, Schmitz 1985; Steinfath 1991; Weidemann 1996; Mesch 1994, 163, Schneider 2001, 208 f. Ob dem Begriff überhaupt ein tieferer Sinn zu unterstellen ist oder ob er nicht als eine einfache sprachliche Konvention zu lesen ist,wird u. a.von Mesch 1994, 162 f. vertreten.  Met. VII 17, 1041b27 f.

5.1 Eine neue Konzeption von οὐσία: εἶδος

65

Form keine extensional bestimmte Bedeutung, da sie nur so unabhängig gegenüber ihren Exemplifikationen bleibt und das Maß vorgibt, nach dem einem Seienden ein bestimmtes Wesenswas zukommt oder nicht zukommt. Die Bedeutung des τί ἦν εἶναι definiert sich aber nicht über dieses Zukommen. Aristoteles hat dies am Beispiel des Begriffs ‚Mensch‘ ausgeführt: Zuerst nun ist eben dies selbst wahr, dass das Wort Dieses-Sein oder Dieses-nicht-Sein bedeutet, so dass sich nicht alles so und nicht so verhalten kann.Wenn ferner das Wort ‚Mensch‘ eines bedeutet, so mag dies z. B. ‚zweifüßiges Lebewesen‘ sein. dass es eines bedeutet meine ich so: Wenn [das Wort] ‚Mensch‘ dies [zweifüßiges Lebewesen] bedeutet, so wird, falls etwas ein Mensch ist, dies das Mensch-zu-sein ausmachen.¹⁵³

Selbst wenn das Wort ‚Mensch‘ „Vieles“ bedeutet, so bleibt davon unberührt, dass es eine definitorische Bestimmtheit ‚zweifüßiges Lebewesen‘ gibt, und nur dieses begriffliche Sein bestimmt, als was ein Seiendes existiert und in Abgrenzung von seinen sonstigen Attributen instantiiert ist. In diesem Sinn zeichnen die beiden folgenden Kriterien die Priorität der Form in besonderer Weise aus.

5.1.1.1 καθ’ αὑτό Der Ausdruck ‚von sich selbst her‘ oder ‚an sich‘ bedeutet im strikten Sinn die Selbständigkeit einer Sache, so dass er zum einen dasselbe wie τί ἦν εἶναι meint und zum anderen dem zukommt, „für das nichts anderes Ursache ist“.¹⁵⁴ Demnach ist die Form sowohl in begrifflicher als auch in ätiologischer Hinsicht durch den Terminus gekennzeichnet, indem sie in ihrem Definitions- und ihrem Seinsmodus als selbständig oder an sich bestimmt und selbstverursacht gilt. Die Erklärung der ätiologischen Selbstständigkeit der Form stellen wir an dieser Stelle zurück, um zunächst das begriffliche An-sich-Sein genauer einzuordnen. Dabei zeichnet das καθ’ αὑτό den inhaltslogischen Zusammenhang von Subjekt und Prädikat in der Definition der Form, der sogenannten Wesendefinition aus. Für das begriffliche Sein an sich gilt: Es legt die Identität eines Gegenstands nicht von etwas anderem her oder in Bezug auf anderes fest, sondern in der Weise, dass es die Sache unter Absehung von allen individuellen, kontingenten Merkmalen bestimmt.¹⁵⁵ Die Identität eines Subjekts ist nicht über seine akzidentellen Be-

 Met. IV 4, 1006a30 – 34; vgl. dazu Liske 1985, 276; Rapp 1993, 535.  Vgl. Met. V 18, 1022a25 f. u. 1022a33.  „Das begriffliche Sein ist für jedes dasjenige, was von ihm selbst her ausgesagt wird (λέγεται καθ’ αὑτό). Denn das Du-sein ist nicht dasselbe wie das Gebildet-sein; denn du bist nicht an sich gebildet. Was du also von dir selbst her bist, [ist dein begriffliches Sein].“ Met. VII 4, 1029b13 – 16;

66

5 Die Notwendigkeit der Substanz

stimmungen erfassbar, da diese von ihr grundsätzlich abhängen. Würde eine derartige Definition versucht werden, käme es immer zu einer zirkulären Bestimmung, insofern eine Erklärung, die auf Akzidentien gestützt ist, das begriffliche Sein notwendig voraussetzt. Aristoteles geht es um den Ausschluss interkategorialer Verbindungen. Allein das τί ἦν εἶναι legt gegenüber allen nichtsubstantiellen Aussageweisen zirkelfrei fest, was etwas als es selbst ist: „Denn in dem Begriff eines jeden muss der Begriff der Substanz enthalten sein.“¹⁵⁶ Akzidentien hängen ontologisch wie begrifflich von der Substanz ab: Attribute wie z. B. das Gehen, Sitzen oder Gesundsein können weder von sich selbst her und abgetrennt von der konkreten οὐσία existieren noch ohne Bezug auf sie expliziert werden. Sie sind daher auch nicht Gegenstand der beweisenden Wissenschaft. Die Definition des εἶδος expliziert nicht wie beim kategorialen Aussagen etwas von etwas anderem, sondern ist die Darlegung eines „Ersten“ (πρώτον τινὸς): Das definierende Sein wird also nichts als den spezifischen Formen einer Gattung (γένους εἰδῶν) zukommen, sondern allein diesen; denn diese werden ja nicht nach der Teilhabe und als Widerfahrnis, auch nicht als Akzidens ausgesagt.¹⁵⁷

Aristoteles legt an dieser Stelle eindeutig fest, dass erstens nur die Formen definierendes Sein haben und zweitens nur sie „definitorische Priorität“¹⁵⁸ gegenüber allen nichtsubstantiellen Aussageweisen besitzen. In diesem Sinn ist die Wesensdefinition zu verstehen. Sie sagt καθ’ αὑτό, was etwas – z. B. im Fall des einzelnen Menschen das Menschsein – ausmacht oder worin es besteht; das ‚ist‘ in der Definition bedeutet dann die artspezifische oder wesentliche Seinswirklichkeit und die Identität jedes Einzelnen der Art mir ihr.

5.1.1.2 χωριστός Der Ausdruck χωριστός ist komplementär zu καθ’ αὑτό zu verstehen.¹⁵⁹ Mit ihm ist die Selbständigkeit der Substanz nach außen hin, ihre Unabhängigkeit betont, während das An-sich mehr die innere Geschlossenheit hervorhebt. Dieses Krite-

vgl. auch An. post. I 4, 73b5 – 10; für die folgende Ausführung An. post. I 4, 73a34-b4; Met. V 18, 1022a26 – 32.  Met. VII 1, 1028a35 f.; vgl. für das Folgende Met. VII 1, 1028a20 – 30; Met. VI 2, 1026b2– 5; An. post. I 6, 75a18 – 35.  Met. VII 4, 1030a10 – 14.  Rapp 1996b, 39 f. sieht darin zu Recht die Neuerung des Substanzbegriffs der Metaphysik gegenüber dem älteren in den Kategorien.  Vgl. z. B. Met.VII 1, 1028a23; 14, 1039a30 – 32; Met. XI 2, 1060a11– 13; vgl. Steinfath 1991, 133 f.; Fonfara 2003, 54.

5.1 Eine neue Konzeption von οὐσία: εἶδος

67

rium kommt sowohl der primären als auch der sekundären Substanz zu. Aristoteles differenziert an bekannter Stelle in Metaphysik Η 1 zwischen der ‚begrifflichen‘ Abgetrenntheit der Form bzw. Gestalt und der ‚uneingeschränkten‘ Abgetrenntheit des σύνολον, der konkreten Substanz eines sinnlichen Seienden.¹⁶⁰ Einerseits bestätigt er damit die in den Kategorien etablierte ontologische Eigenständigkeit der οὐσία αἰσθητή, von anderem unabhängig zu sein, andererseits betont er die definitorische Eigenständigkeit des εἶδος, die, obwohl sie das Konstituens der wahrnehmbaren Substanz bestimmt,von ihr und der Materie different ist. Dass die Form ohne Bezug auf wahrnehmbare Materie definiert wird, ist ein zentrales Postulat der Argumentation in den Büchern Ζ und Η.¹⁶¹ Zugleich gilt aber auch, dass sie als Ursache in Materie ist, um, wie noch darzustellen sein wird, die konkrete Substanz zu realisieren. Mit dem Kriterium der Abgetrenntheit zeigt sich die Nähe der Form zur platonischen Idee, auch wenn Aristoteles deren Getrenntheit von den Gegenständen wiederholt in aller Schärfe kritisiert.¹⁶² Hierin liegt zweifellos die Ambivalenz des aristotelischen Formbegriffs: Wie sind begriffliche Abgetrenntheit und Immanenz zu vereinbaren? Wenn die definitorische Bestimmtheit den ätiologischen Status des εἶδος expliziert, muss strenggenommen die Formulierung „dem Begriff nach getrennt sein“ (τῷ λόγω χωριστόν) ontologisch relevant sein. Es wäre sonst nicht einsichtig, warum die Form als Prinzip des Seienden von der Materie und dem σύνολον distinkt ist. Die angedeutete Zwiespältigkeit der primären Substanz ist auch bei der epistemologischen Priorität zu beobachten.

 „Substanz ist das Zugrundeliegende, in einer Weise die Materie …, in anderer Weise aber der Begriff und die Gestalt, was ein ‚dieses Etwas’ und dem Begriff nach getrennt ist; drittens das aus beiden Zusammengesetzte, welches allein Werden und Vergehen ausgesetzt, und das uneingeschränkt getrennt ist (χωριστὸν ἁπλῶς).“ Met. VIII 1, 1042a26 – 31.  „Die Substanz ohne Materie nenne ich das definierende Sein.“ Met.VII 7, 1032b16 und VII 11, 1037a24– 26, wo Aristoteles erklärt, „… dass im Begriff der Substanz die materiellen Teile nicht enthalten sind, denn sie sind ja nicht Teile von dieser Substanz, sondern von dem zusammengesetzten Konkretum.“ Allerdings ist diese Forderung nicht unproblematisch, wie noch zu zeigen sein wird. Vgl. hierfür das Beispiel der Stülpnase für eine konkrete Substanz, deren definierbare Form die Hohlheit ist (vgl. Met.VII 5, 1030b15 – 34; VII 10, 1035a4– 6 u.VII 11, 1037a29-b3). Fraglich ist, inwieweit ‚Hohlheit’ wirkliche als immanente Form gelten kann. Allerdings gibt es für Aristoteles auch Definitionen wahrnehmbarer Substanzen; diese seien aber, so betont er, Gegenstand der Physik. Die Definition im strikten Sinn hat allein das πρώτως ὄν unter Ausschluss der sinnlichen Materie zum Gegenstand; vgl. Met. VII 11, 1037a13 – 17.  Vgl. Spellman 1995, 60 f, 121; Hübner 2000, 87 ff.

68

5 Die Notwendigkeit der Substanz

5.1.2 Epistemologische Priorität des εἶδος Das εἶδος hat als Folge ihrer definitorischen auch epistemologische Priorität. Nach Aristoteles’ restriktivem Wissensbegriff kann es „Wissen im uneingeschränkten Sinn“ nur vom dem geben, was existiert¹⁶³. Weiterhin müssen in Verbindung mit dem καθ’ αὑτό die Kriterien der Notwendigkeit und des Allgemeinen erfüllt sein. Vom Individuell-Partikulären gibt es kein Wissen; das Singuläre ist nicht definierbar. Wir erkennen etwas, wenn wir die Ursache erkennen, warum oder wodurch etwas ist. „Denn Wissenschaft gibt es von einem Jeglichen dann, wenn wir sein definierendes Sein erkennen.“¹⁶⁴ Ohne Wissen des τί ἦν εἶναι ist ein Gegenstand der Erkenntnis nicht zugänglich. Für Aristoteles muss daher ein jeweiliges Einzelnes (ἕκαστον), um als selbständig und eines erkannt zu werden, mit dem begrifflichen Sein in gewisser Hinsicht identisch sein.¹⁶⁵ Eine Individualität der Form ist damit allerdings nicht behauptet. Zu beachten ist, insofern unter ἕκαστον die konkrete Substanz verstanden wird, dass die Identität allein in Hinsicht auf die Form dieses Konkretums gültig ist, nicht in Hinsicht auf das σύνολον. Anders gesagt: Das Wissen von einer numerischen Identität setzt begrifflich-definitorische Identität voraus, in der das εἶδος als Prinzip des jeweiligen Seienden erfasst ist. Unter der epistemologischen Priorität bestätigt sich, dass die primäre Substanz Erkenntnis- und Seinsprinzip ist. Das begriffliche Sein ist Gegenstand des Wissens und identisch mit dem, was etwas in Wirklichkeit ist. Dass die Faktizität des Seienden nicht in dieser Identität aufgeht, hat seine Ursache in der Materie. Aufgrund der materiell bestimmten Realität bleibt eine Differenz, die eine strenge Identität von Wissen und konkreter Substanz nicht zulässt. Aristoteles hat diese Differenz mit seiner Konzeption des σύνολον, die noch zu untersuchen ist, berücksichtigt.

 An. post. I 2, 71b9 ff. So kann man auch nicht wissen, was ein Fabelwesen wie der „Bockhirsch“ ist, weil es nicht existiert; vgl. An. post. II, 92b4– 8. Der hermeneutische Zirkel von der vorgängigen Faktizität eines Dass und einem impliziten Was, das in der definitorischen Bestimmtheit expliziert wird, macht die wissenschaftstheoretische Grundannahme des Aristoteles aus; vgl. An. post. II 8, 93a16 – 29; II 10, 93b13 – 15; Met. VII 17, 1041a15; Steinfath 1991, 20 ff.  Met.VII 6, 1031b6 f.; vgl. auch An. post. I 6, 75a35; II 8, 93a4 oder die Anfangssentenz in Phys. I 1, 184a10 – 14.  Vgl. Met. VII 6, 1031a17– 19, b18 – 22; 1032a5 f.; VII 7, 1032b1 f. In der Forschung ist umstritten, was unter ἕκαστον zu verstehen ist; davon hängt ab, für welche Entitäten die Identität gilt. Vgl. exemplarisch für die Identität von konkreter Substanz und begrifflichem Sein: Ross 1924 II, 176; Liske 1985, 284– 326; Spellman 1995, 46 f.; vgl. für die Identität von allgemeiner Form und begrifflichem Sein z. B. Loux 1991, 103; Frede/Patzig 1988 II, 103 behaupten die Identität mit der individuellen Form; vgl. zur Kritik an ihnen Steinfath, 1991, 277 ff.; Fonfara 2003, 114.

5.1 Eine neue Konzeption von οὐσία: εἶδος

69

Gleichwohl zeigt sich hier eine grundlegende Schwierigkeit der metaphysischen Konzeption: Die epistemische Differenz zwischen der Form an sich als primärem Wissensgegenstand und dem sinnlichen prozessualen Seienden als sekundärem depotenziert die für uns primär zugängliche empirische Wirklichkeit zu einem prinzipiell nicht adäquat wissbaren Bereich. Die Etablierung der Substanz als Form soll sichern, was sie zugleich verunsichert und abwertet.

5.1.3 Ätiologische Bestimmtheit des εἶδος Die grundlegende Intention des Aristoteles ist es, die ontologische Selbstständigkeit und Pluralität der Referenzgegenstände angemessen zu begründen. Dabei ist die empirische Ausgangsbedingung der Physik, dass alles wahrnehmbare Seiende in Bewegung ist und sich verändert, auch für die οὐσία αἰσθητή der Metaphysik maßgebend. „Denn alles Wahrnehmbare vergeht und ist in Bewegung.“¹⁶⁶ Da nichts, was existiert, ohne Materie (ὕλη) ist, muss sie notwendig in die Überlegung einbezogen werden. Von vorrangig theoretischer Bedeutung ist daher auch der Terminus des τόδε τι, den wir in der bisherigen Untersuchung noch nicht thematisiert haben. Auf ihn konzentriert Aristoteles seine Intention, das εἶδος als immanentes Prinzip oder Ursache begrifflich zu fassen, um eine Hypostasierung der Form als getrennte Entität zu vermeiden. Die Funktion, die dem Ausdruck in der Theorie der οὐσία zukommt, besteht darin, das εἶδος nicht allein als allgemeingültige definitorische Bestimmung dessen, was etwas ist, zu etablieren, sondern als Konstituens eines jeweiligen Seienden. Die Übersetzung mit ‚dieses Etwas‘ zeigt an, dass in dem Terminus definitorische und numerische Einheit miteinander verbunden sind; im τόδε τι ist der Doppelcharakter von definitorisch und ätiologisch Primärem gleichermaßen berücksichtigt: Als ein dieses Etwas ist die wahrnehmbare Substanz immer durch ein Wesenswas bestimmt, entsprechend kann Aristoteles vom τί ἦν εἶναι sagen, es sei ein τόδε τι.¹⁶⁷ Für jede οὐσία αἰσθητή gilt daher, dass sie nur dann als zugrunde liegendes Subjekt einer Aussage und für die anderen kategorialen Seinsweisen existiert, wenn sie qua Form ein τόδε τι ist. Für Aristoteles – so seine Wendung gegen Platon – gibt es keine Form an sich: „… überhaupt findet sich Materie bei allem, was nicht ein begriffliches Sein und eine Form von

 Met. III 4, 999b4 f.; vgl. exemplarisch Phys. I 2, 185a12– 14.  Vgl. Met. VII 4, 1030a3; vgl. auch Weidemann 1996, 101; Rapp, 1996c, 174– 178; Frede/Patzig 1988, Bd. II, 147.

70

5 Die Notwendigkeit der Substanz

sich selbst her ist, sondern ein bestimmtes dieses Etwas.“¹⁶⁸ Es gibt daher eine metaphysische Notwendigkeit, dass ein ätiologisch Erstes den wahrnehmbaren Dingen, damit sie dauerhaft als ein jeweils bestimmtes Etwas angesprochen werden können, immanent ist. Aristoteles veranschaulicht die einheits- und differenzstiftende Stellung des εἶδος, indem er den qualitativen Unterschied zwischen einem Ganzen (πᾶν) und einem aggregativen Haufen (σωρός), dessen Teile in beliebiger Anordnung zueinander stehen, am Beispiel von ‚Silbe‘ und ‚Fleisch‘ anführt: Dasjenige nun, was in der Weise zusammengesetzt ist, dass das Ganze eines ist, aber nicht wie ein Haufen, sondern wie die Silbe – die Silbe ist aber nicht ihre Buchstaben, und die Silbe ‚ba‘ ist auch nicht dasselbe wie ‚b‘ und ‚a‘ zusammen, noch ist das Fleisch Feuer und Erde; denn wenn sie aufgelöst werden, existiert das eine – Fleisch und Silbe – nicht mehr, die Buchstaben, das Feuer und die Erde existieren aber noch. Also ist die Silbe etwas Bestimmtes und nicht bloß die Buchstaben, die Vokale und die Konsonanten, sondern noch etwas anderes (ἕτερόν τι); und das Fleisch ist nicht nur Feuer und Erde oder das Warme und das Kalte, sondern noch etwas anderes.¹⁶⁹

Die Textpassage liefert einander ergänzend ein Einheits- und Differenzargument für das εἶδος: 1. Analog zu dem Ganzen oder der Silbe, die beide nicht bloß die additiven Einheiten ihrer Bestandteile sind, konstituiert die Form nicht eine akzidentelle, sondern substantielle Einheit und ist das organisierende, integrierende und einigende Prinzip eines jeweiligen Seienden. 2. Das Einheitsargument setzt voraus, dass die Form prinzipiell von der Materie, die sie gestaltet, unterschieden ist, um ihre Auflösung in materiegebundene Konstitutionsprozesse zu vermeiden. Wäre die Form kein ἕτερόν τι und stattdessen nur ein Teil des Haufens, könnte sie keine distinkte Einheit stiften. Als Alternative bliebe dann nur ein konsequenter Atomismus. Für Aristoteles muss daher notwendig das εἶδος in seinem ätiologischen Status immateriell und unbewegt sein: Es ist also klar, dass die Form, oder wie man sonst die Gestalt in dem Wahrnehmbaren nennen soll, nicht wird und auch kein Werden derselben stattfindet, und ebenso wenig das

 Met.VII 11, 1037a1 f. Dies entspricht auch der Kernaussage der 15. Aporie, wonach die οὐσία in ihrer prinzipiierenden Stellung immer ein ‚dieses Etwas’ und nichts Allgemeines (καθόλον) sein müsse; vgl. Met. III 6, 1003a8 – 10. So sieht Mesch 1994, 153 im τόδε τι das Motiv für Aristoteles‘ Ideenkritik.  Met.VII 17, 1041b12– 19; vgl. auch Met.VIII 3, 1043b5 – 13. Die Beispiele sind insofern schlecht gewählt, als weder eine Silbe noch ein Stück Fleisch im strikten Sinn eine Form ist. Erst wenn die Silbe eine definierte Intension hat bzw. ein ganzes Wort ist, das eine definite Bedeutung bezeichnet, und erst wenn das Fleisch durch eine Seele ein lebendiger einheitlicher Körper ist, kann sinnvoll von Form gesprochen werden.Vgl. zum Argument Scaltsas 1994a, 113 – 123; Hübner 2000, 173 – 179.

5.1 Eine neue Konzeption von οὐσία: εἶδος

71

begriffliche Sein, denn dieses [sc. die Form] ist dasjenige, was in einem anderen entweder durch Kunstfertigkeit oder durch Natur oder ein Vermögen wird (γίγνεται).¹⁷⁰

Die Aussage scheint paradox zu sein, bestätigt sie die Aprozessualität der Form und führt zugleich deren Werden an. Der vermeintliche Widerspruch löst sich auf, wenn wir berücksichtigen, dass hier von einem Werden der Form „in einem anderen“ die Rede ist, es also nicht um die Form an und für sich geht, sondern in der Materie; das Werden bezieht sich auf das, was die Form konstituiert. Mit dieser Wendung soll die platonische Hypostasierung zu einer selbständigen Entität neben der wahrnehmbaren Substanz vermieden werden. Hilfreich ist auch die alternative Übersetzung des Ausdrucks γίγνεται mit ‚auftreten‘¹⁷¹. Die metaphorische Bedeutung veranschaulicht den Vorgang, in dem die Form gleichsam wie der Auftritt einer Figur auf dem Theater als Ganzes präsent ist. Die in begrifflicher Hinsicht eher unbefriedigende Interpretation ist im Anschluss an die folgende Stelle präziser zu fassen. Es ist notwendig, dass diese [sc. die Form] entweder ewig ist oder vergänglich, ohne zu vergehen, und geworden, ohne zu werden …, dass niemand die Formen hervorbringt oder erzeugt.¹⁷²

Auch diese Überlegung mutet paradox an. Dennoch steht der Gedanke nicht im Widerspruch zur Unbewegtheit und Immaterialität des εἶδος. Nehmen wir beide Zitate zusammen, so lässt sich auch die Metapher des ‚Auftretens‘ so erklären, dass die Form als Ursache de facto in einen Prozess eingebunden ist, da sie nicht getrennt von der Materie Ursache von etwas sein kann; auch sie entsteht und vergeht wieder in gewisser Weise. Allerdings nur in der Weise, als es der Konstitutionsprozess des Einzelseienden ist. Aber sie selbst unterliegt in dem, was sie von sich selbst her ist, nicht einer Konstitutionsgenese.¹⁷³ Noch einmal meta-

 Met.VII 8, 1033b5 – 8; auch Met.VIII 3, 1043b13 – 18;VIII 5, 1044b2123; Phys.V 2, 224b10 – 13,wo Aristoteles festhält, dass Formen keiner Veränderung unterliegen bzw. unbewegbar sind; vgl. auch Tugendhat 1958, 77 f.  Vgl. Frede/Patzig, 1988, Bd. II, 136 f., die hier eine Verbindung zur Poetik sowie zu Platons Phaidon ziehen.  Met. VIII 3, 1043b14– 17; vgl. auch Met. VII 10, 1035a29 f.; VIII 5, 1044b21– 23.  In Met.VII 8, 1033a28 – 31 bemerkt Aristoteles, dass die Form bei der technischen Herstellung einer „ehernen Kugel“ ebenso wenig hergestellt werde wie das Zugrundeliegende, das Erz; gemacht werde allein die konkrete Kugel. Er räumt aber ein, dass die Form „akzidentell“ (κατὰ συμβεβηκός) gemacht werde, insofern der Handwerker sie in die Materie einfüge. – Es ist nicht ganz unproblematisch, wie hier ‚akzidentell’ zu verstehen ist. So könnte man darin Aristoteles’ Abgrenzung gegenüber einer Herstellung der Form an sich sehen. Ich halte das für irreführend,

72

5 Die Notwendigkeit der Substanz

phorisch gewendet: Die Figur auf dem Theater tritt eindeutig definiert als diese eine Figur auf und entsteht – trotz aller Dramatik – nicht erst. Das ‚Auftreten‘ und ‚Verschwinden‘ beschreibt die An- und Abwesenheit des εἶδος als einer nicht gewordenen und vergehenden Einheit; wobei die Abwesenheit gleichbedeutend mit „Gestaltlosigkeit, Formlosigkeit und Ungeordnetheit“ ist, die Anwesenheit hingegen „begrenzt“ und „umgibt“ die Materie, so dass ein einheitliches τόδε τι entsteht.¹⁷⁴ Allerdings stellt sich auch hier wieder eine kritische Frage: Wie kann die Form nach ihren Kriterien notwendig selbständig und abgetrennt von der Materie und zugleich das ihr immanente Prinzip oder ihre Ursache sein? Mit der Verbindung zur Materie ist die Konsistenz der ersten Substanz auf die Probe gestellt und erlaubt es, den problematischen Doppelcharakter des εἶδος zu formulieren:¹⁷⁵ – Einerseits muss, wie gesagt wurde, die Form selbst ohne Materie (definiert) sein, um ihre ätiologische und epistemische Priorität zu wahren. In Bezug auf Letzteres gilt, dass Erkenntnis, die sich ausschließlich über Rückbindung an Materie realisiert, nach der Konzeption des Aristoteles nicht im strikten Sinn Wissen, sondern Wahrnehmung und damit eine schwache bzw. ungenaue Wissensweise ist. Ein Wissen, das Allgemeines und Notwendiges erfordert, wäre nicht möglich. Für die ursächliche Priorität ist der Ausschluss der Materie ungleich wichtiger. Denn besäße die Form Materie, wäre sie gemäß der empirischen Ausgangsbedingung, dass alles in Bewegung Befindliche materiell ist, ebenfalls prozessual bestimmt. Sie wäre dann ein Kompositum, das entstünde und verginge. Die Frage nach der Verursachung dieser zusammengesetzten Form müsste erneut gestellt werden und würde, sollte es keine Form ohne Materien geben, ad infinitum weiter gestellt werden können. Der Status getrennter Entitäten, die an sich selbst nicht der Bewegung unterliegen, aber jedem prozessualen Seienden immanent sind, ist gerade vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit den vorsokratischen Positionen für den epistemologischen und ontologischen Anspruch der Metaphysik unabdingbar. Prozessualität muss, so das Anliegen des Aristoteles, etwas Unverän-

weil es diese Weise des Entstehens bei dem εἶδος nicht gibt. Vgl. für diese Interpretation Shields 1990, 367– 390, bes.: 373 – 378. Aristoteles betont hier vielmehr die Sichtweise des Herstellenden, der die Form in die Materie einbringt. Dieser Vorgang ist in gewisser Weise ein Machen der Form. Zu beachten ist allerdings, dass die Form selbst vor,während und zum Ende der Herstellung immer dieselbe bleibt und nicht erst hergestellt werden muss.  Zitate der Reihenfolge nach: (1.) Phys. I 7, 190b15; (2.) Phys. III 6, 207a35-b1; IV 4, 211b10 – 14  Vgl. Met. III 1, 995b31– 36 u. 4, 999a24-b23. Die Aporie bestätigt Aristoteles in Met. VII 11 1036b21, wenn er mit besonderem Blick auf die Lebewesen konstatiert, dass es manches gebe, was nicht ohne eine bestimmte Materie sein könne.

5.1 Eine neue Konzeption von οὐσία: εἶδος



73

derliches, Persistierendes beinhalten, das „Grenze“ und „Ziel“¹⁷⁶ einer Sache bestimmt, und kann ohne das nicht verstanden werden. Andererseits dürfen die Form als primäre Substanz und materielles Einzelseiendes nicht schlechthin differieren, da sonst nicht rational erklärt werden kann, wie das εἶδος prozessuales Seiendes überhaupt konstituiert. Prinzip und Prinzipiiertes dürfen nicht identisch, dürfen aber auch nicht völlig getrennt sein: Was die primäre Substanz an sich oder von sich selbst her ist, muss sie zugleich als seins- und einheitsbestimmende Ursache einer οὐσία αἰσθητή sein.

Aus systematischer Perspektive spitzt sich in dem Verhältnis von Form und Materie die schwierige Aufgabe der Substanztheorie, Prozessualität und Persistenz miteinander zu verbinden, zu: „Wie wird die Materie zu jedem Einzelnen, und wie kann das zusammengesetzte Ganze beides [Materie und Form] in sich enthalten?“¹⁷⁷ Bevor wir der Frage weiter nachgehen, ist festzuhalten: Bezüglich der Form ist aufgrund ihrer dreifachen (definitorischen, epistemologischen, ätiologischen) Priorität nicht mehr zu fragen, wodurch oder warum sie das ist, was sie ist. Aristoteles geht es um den Ausschluss des infiniten Regresses oder Progresses in definitorisch-begrifflicher, epistemischer und ontologisch-ursächlicher Hinsicht.¹⁷⁸ Würde man versuchen, die Form weiter zu begründen, dann löste sich jede distinkte Einheit und Identität auf. Für das τί ἦν εἶναι wäre ein weiteres τί ἦν εἶναι oder für das εἶδος ein weiteres εἶδος ad infinitum erforderlich. Begrifflich und ontisch hätte das die Aufhebung der Pluralität getrennter Entitäten in einem konsequenten Monismus zur Folge, bei dem alles auf eine Substanz reduziert wurde, und selbst diese wiederum – konsequent gedacht – aufgehoben werden müsste. Explikations- und Verursachungsprozesse müssen für Aristoteles ein Erstes haben, das von sich her bestimmt ist und existiert. Entsprechend erklärt Aristoteles rückblickend in Ζ 11, er habe allgemein erklärt, was das begriffliche Sein, mithin die Form „selbst an sich selbst“ (αὑτό καθ’ αὓτό) sei.¹⁷⁹

 Met. III 4, 999b5 – 11.  Met. III 4, 999b23 f. So spricht Steinfath 1996, 231 daher von den „fundamentalen Spannungen der Substanzlehre“ zwischen der Einheit der primären und der Einheit der konkreten Substanz.  Aristoteles verweist in Met. VII 4, 1030b34 f.; 6, 1031b28 – 1032a4 und 17, 1041b19 – 22 auf die Gefahr des infiniten Regresses.  Met. VII 11, 1037a1 f.

74

5 Die Notwendigkeit der Substanz

5.2 Das σύνολον und die Unteilbarkeit des εἶδος Mit seiner Konzeption des σύνολον bietet Aristoteles eine Antwort auf die schwierige Frage nach der Vermittlung zwischen Persistenz und Prozessualität der Einzelsubstanz. In ihm nimmt er das Faktum der veränderlichen Realität, seine Kritik an den abgetrennten Ideen Platons und seine Forderung eines notwendigen fundamentum in re auf. Das zusammengesetzte Ganze soll die ontologische Genese des Einzelseienden über die Dauer seiner Existenz erklären, ohne den Primat der Form zu relativieren oder von dem phänomenalen Prozessbereich auszuschließen und ohne die Materie zu marginalisieren. Entscheidend ist, Aristoteles etabliert das σύνολον als ein aus ὕλη und εἶδος zusammengesetztes Drittes. Dadurch bleiben Form und Materie als Konstituenten unterschieden und bilden die Binnendifferenzierung der wahrnehmbaren Substanz. Das so gebildete Ganze existiert als eine differenzierte Einheit, die sowohl in Hinsicht auf ihr substantielles Werden – ihr Entstehen und Vergehen als spezifisches Individuum – als auch in Hinsicht auf ihre akzidentellen Veränderungen gedacht werden kann; beides Weisen der diachronen Identität von unterschiedlicher Dauer und von unterschiedlichen Erfordernissen.¹⁸⁰ Die Einheit des σύνολον verdankt sich der ätiologischen Priorität der Form, ohne freilich mit ihr identisch zu sein, und der zugrunde liegenden Materie: „Denn die [primäre] Substanz ist die inneseiende Form (εἶδος τὸ ἐνόν), aus welcher zusammen mit der Materie die konkrete Substanz besteht.“¹⁸¹ Die durch das τὸ ἐνόν angezeigte Immanenz der Form in der Materie ist ein bekanntes Charakteristikum der Substanztheorie. Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass Aristoteles nicht von einem ‚Innensein‘ des εἶδος im σύνολον spricht. Dies ist von Bedeutung, um klarstellen zu können, dass das Kompositum nicht im Sinn einer bloß zufälligen Aufzählung, sondern seiner Konstitution nach und zu jedem Zeitpunkt seiner Existenz ein Drittes ist, das auf keines seiner Konstituenten reduzierbar oder mit einem von ihnen identisch ist: „Man sucht also nach der Ursache für die Materie, [das aber ist die Form,] aufgrund deren sie jeweils etwas Bestimmtes ist. Dies aber ist die Substanz …“¹⁸². In Bezug auf das σύνολον ‚Mensch‘ heißt das: „Das Ganze nun, die so beschaffene Form in diesem Fleisch und diesen Knochen, ist Kallias und Sokrates; und verschieden ist es durch die Materie, denn diese ist

 „Das Werdende muss immer teilbar sein, und das eine muss dies, das andere dies sein, ich meine das eine Materie, das andere Form.“ Met. VII 8, 1033b12 f.  Met. VII 11, 1037a29 f; vgl. Buchheim 2002.  Met. VII 17, 1041b7– 9.

5.2 Das σύνολον und die Unteilbarkeit des εἶδος

75

verschieden, dasselbe aber durch die Form; denn die Form ist unteilbar (ἄτομον).“¹⁸³ Zwei zentrale Gedanken sind hier genauer darzustellen: 1. Die Unteilbarkeit der Form bedeutet in einem nicht-trivialen Sinn, dass eine weitere Teilung nicht möglich ist, ohne dadurch die Identität und Einheit der jeweiligen Sache zu negieren, positiv gesagt: Das ἄτομον εἶδος ist das ätiologische Erste oder die πρώτη οὐσία, weil es im Sinn des καθ’ αὑτό nicht weiter auf andere Ursachen zurückgeführt oder differenziert werden kann; es ist von sich selbst her vollständig determiniert und damit als Ursache oder Prinzip selbständig. Aus definitorischer Perspektive ist die Unteilbarkeit der Form in dem τί ἦν εἶναι begrifflich erfasst. Sehen wir die ätiologische und definitorische Hinsicht zusammen, so erfüllen sich beide im ἄτομον εἶδος auf sinnvolle Weise. Allerdings ist es wichtig, den Unterschied zwischen den Hinsichten zu wahren: Die begrifflich-definitorische Bestimmung erschließt, was die Form als Ursache oder Prinzip begründet. Das εἶδος ist als begriffliches Sein das Erste auf der explikativen Ebene und ist als ätiologisch Erstes der Gegenstand dieser definitorischen Erfassung, liegt ihm aber, da es das Konstituens auf der ontologischen Ebene ist, voraus. Im Grunde also fasst Aristoteles erschließende und konstituierende Funktion des εἶδος unter einem Begriff zusammen, wobei ein implizites Begründungsverhältnis besteht. Demnach lässt sich die Persistenz nicht über Angabe eines Sortalbegriffs erklären, vielmehr ist dieser abhängig von einem Seins- und Einheitsprinzip, das auf ontologischer Ebene dem sprachlichen Sortalbegriff vorgängig ist. Darin beweist sich der Essentialismus des Aristoteles: Die Essenz eines Gegenstandes wird in dem Begriff erfasst, aber der Begriff begründet nicht vorgängig die Essenz. 2. Wie ist die Individuation eines Seienden wie Kallias oder Sokrates zu begründen? In der Forschung hat man wiederholt die Materie als Individuationsprinzip bezeichnet.¹⁸⁴ Aus Sicht des Aristoteles ist dies zumindest insoweit irreführend, als allein die Form die Identität einer existierenden Sache ermöglicht. Erst das ἄτομοη εἶδος macht ein Seiendes zu einer spezifisch gestalteten Ganzheit und damit zu einem Verschiedenen eines Verschiedenen.¹⁸⁵ Die ebenfalls in der Forschung vertretene Position, dass Individuation allein durch die Form verursacht

 Met. VII 8, 1034a5 – 8. Das ist mit antiplatonischer Haltung formuliert, wie Aristoteles einen Satz zuvor klar macht, wenn er sagt, dass es unnötig sei eine „Form als Paradigma“ (10134a2 f.) aufzustellen, womit das εἶδος der Platoniker gemeint ist, das für mehrere Dinge eine einzige Form ist; vgl. auch Buchheim 1999.  Vgl. für einen Überblick Hübner 2000, 235 f. u. 298; Frede/Patzig 1988, Bd. II, 147 f.  „Denn das, dessen Substanz eine einzige und dessen begriffliches Sein eins ist, ist selbst eins.“ Met. VII 13, 1038b14 f.

76

5 Die Notwendigkeit der Substanz

ist, wird damit aber nicht geteilt. Eine derartige These ist wenig sinnvoll. Erstens erklärt sie nicht, warum Aristoteles die ὕλη in seine Theorie mit einbeziehen sollte und in dem zitierten Passus für die Verschiedenheit explizit mitverantwortlich macht. Zweitens prinzipiiert umgekehrt das εἶδος zwar die Identität eines jeweiligen Seienden, ist aber als Prinzip nicht selbst individuell. Seine Bedeutung hängt nicht von der temporal begrenzten Existenz der singulären Sache ab; andernfalls könnte es formgleiche Reproduktionen dessen, was etwas ist – was es heißt, etwas seiner Art nach zu sein –, nicht geben. Die Individualität eines Seienden bildet sich erst in dem Wirkungsverhältnis zwischen Form und Materie, da beide Konstituenten für die Existenz eines Gegenstandes notwendig sind. Das εἶδος ist in Materie die Ursache für die Abgegrenztheit des einen gegenüber anderen Seienden. Die ὕλη ist der Ermöglichungsgrund dafür, dass diese Identität zeitlich sowie räumlich von anderen differiert und nichtsubstantielle Bestimmtheiten besitzt. In diesem Sinn ist sie als notwendige Voraussetzung der Individuation oder der Plurifikation zu verstehen.¹⁸⁶ Numerische Identität lässt sich ohne ὕλη nicht sinnvoll denken, da durch sie oder in ihr die akzidentiellen Differenzen entstehen, wobei gilt: Sie muss erst durch die Form in spezifischer Weise gestaltet bzw. angeordnet sein, damit die unterschiedlichen Akzidentien möglich sind. Demnach ist die prinzipielle Unterscheidung zwischen εἶδος und ὕλη als Konstituenten des σύνολον zentral für die Substanztheorie, um die ontologische Genese der οὐσία αἰσθητή zu erklären. Allein das Dritte entsteht und vergeht, weil es als zusammengesetzte Einheit seine Form innerhalb eines Werdeprozesses erhält und verliert,¹⁸⁷ wohingegen die materiellen Bestandteile, wie z. B. Buchstaben oder Fleisch und Knochen, nach dem Verschwinden der einheitsstiftenden Form übrig bleiben. Die auf diese Weise existierende sinnfällige Substanz ist als ein ‚dieses Etwas‘ eine einzelne, individuierte, identifizierbare und zählbare Entität im Bereich der Prozessualität. Sie ist für eine assertorische Sprachpraxis der empirische Referenzgegenstand. Dessen diachrone Identität bleibt so lange erhalten, wie sie als σύνολον existiert, und dies ist der Fall, solange die Form der Materie immanent ist, anders gesagt: solange sie persistiert und als einheitsstiftendes Prinzip anwesend ist. Der ätiologische Status der Form als fundamentum in re wird dadurch nicht relativiert. „Was keine Materie hat, ist uneingeschränkt dasjenige, was Einheit ist“,¹⁸⁸ und das ist allein die Form καθ’ αὑτό.

 Vgl. Loux 1991, 234 f.  Vgl. Hübner 2000, 319, der in dieser Konzeption die Lösung sieht.  Met. VIII 6, 1045b23; 1045a36-b4.

5.2 Das σύνολον und die Unteilbarkeit des εἶδος

77

Doch gerade vor dem Hintergrund der σύνολον-Konzeption bleibt das Verhältnis von εἶδος und ὕλη spannungsreich. Bisher wurde insbesondere die Irreduzibilität und prinzipielle Unterschiedenheit beider Prinzipien analysiert, für die Konstitution der wahrnehmbaren Substanz sind sie aber zugleich korrelativ bestimmt. Wie ist dieses Verhältnis zu denken, das unter dem Vorzeichen der Prozessualität nicht ausschließlich statisch, sondern dynamisch sein muss, um eine entsprechend dynamische Einheit zu realisieren? Wie sind Prozesssteuerung und -organisation in und für ein σύνολον zu erklären? Um dieses Fundamentalverhältnis ausreichend erklären zu können, muss Aristoteles, so die These der weiteren Untersuchung, den Möglichkeitsbegriff und den ihm korrespondierenden Begriff der Wirklichkeit für Materie und Form in die Substanztheorie einbeziehen.

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff 6.1 Begriffsklärung: Potentialität und Possibilität 6.1.1 Materie als Ausgangspunkt Die besonderen Eigenschaften der Materie ergeben sich aus ihrer Stellung im Entstehungsprozess. Als das „Zugrundeliegende“ und als diejenige Ursache, „woraus“ etwas wird, darf sie weder statisch noch invariant, aber auch nicht von sich selbst aus geordnet sein und verändernd wirken, um nicht unabhängig von der Form einheitsstiftende Distinktionen zu etablieren; sie muss daher passiv sein. Aristoteles erklärt wiederholt, die ὕλη sei indefinit (ἀόριστος) oder ein Indefinites; dementsprechend ist sie „niemals an sich zu bestimmen“ und „unerkennbar“.¹⁸⁹ Insbesondere mit der Eigenschaft ἀόριστος ist die Materie defizitär charakterisiert. Was im strikten Sinn unbegrenzt ist, bleibt auf anderes angewiesen, das begrenzt und bestimmt. Die Materie muss daher notwendig im Verhältnis zur Form konzipiert sein. Um die genannten Merkmale der Passivität, Indefinitheit und Relationalität miteinander verbinden zu können, muss die ὕλη in besonderer Weise ausgezeichnet werden. Aristoteles führt dafür den Begriff des Vermögens in seine Überlegungen ein. Erst mit der Bedeutung von δύναμις lässt sich hinreichend erklären, dass und wie die Materie ihre besondere Funktion in der ontologischen Genese einnimmt und das Verhältnis zur Form mitbestimmt.¹⁹⁰ Vor dem Hintergrund dieser Theorieabsicht ist der folgende Satz für die Substanztheorie und die metaphysische Konzeption insgesamt von maßgeblicher Bedeutung:

 Vgl. zur Materie als Zugrundeliegendes Phys. I 7, 190b19 f.; 9, 192a31 f.; Met. VII 3, 1029a1 f., a23 f.; vgl. zur Materie als dem Woraus u. a. Phys. II 3, 194b23 – 26; VII 7, 1032a17; vgl. für die Abhängigkeit der Materie Met. V 4, 1014b26 – 28; vgl. für deren Indefinitheit Met. VII 11, 1037a27; IX 7, 1049b1 f.; Phys. III 6, 207a26 – 32; vgl. schließlich für ihre Unerkennbarkeit Met. VII 10, 1035a8 f.; 1036a8 f. Allerdings liegt uns Materie nie als reines Vermögen, das heißt als völlige Indifferenz vor, sondern trivialerweise immer schon als etwas begrenzt Wirkliches. So ist z. B. irgendein Holz, ein Steinhaufen oder eine Fleischmenge immer ein bestimmtes existierendes Quantum, das dann dem Vermögen nach Statue, Haus oder ein Leib sein kann. Eine rein ungeformte ὕλη wäre schlechthin unbestimmt und unerkennbar. Als solche hat sie allenfalls die Funktion eines hypothetischen Grenzbegriffs. Eine derartige Materie wäre absolut, also uneingeschränkt und unbedingt vermögend, was für Aristoteles unsinnig ist.  Happ 1971, 678 und Viertel 1982, 284 ff. liegen daher falsch, wenn sie behaupten, die Materie sei letztlich nicht ‚stofflich’, sondern geistig.

6.1 Begriffsklärung: Potentialität und Possibilität

79

Alles, was wird, sei es durch Natur, sei es durch Kunstfertigkeit, hat Materie. Denn jedes [Werdende] ist vermögend (δυνατόν), sowohl zu sein als auch nicht zu sein, [dieses Vermögen] ist die Materie.¹⁹¹

Im dem kurzen Passus legt Aristoteles in nuce seine Konzeption von Materie dar: Erstens ist Materie als Zugrundliegendes die notwendige Bedingung für jedes Werden; zweitens ist sie selbst ein Vermögen, und drittens ist sie vermögend, etwas zu sein oder nicht zu sein. Für unsere Thematik ist insbesondere die hier erstmals in der Metaphysik angegebene Verknüpfung von Vermögendsein mit der modallogischen Bedeutung des Nichtnotwendigen, die durch die kopulative Konjunktion des ‚Sowohl-als-Auch‘ angezeigt ist, hervorzuheben. Nichtnotwendig ist das, was kontingent ist und, wie die konjunktionale Aussagestruktur anzeigt, die zwei Möglichkeiten des Seinkönnens und Nichtseinkönnens umfasst. Grundsätzlich gilt für die Materie, dass sie qua Vermögen alle Bestimmungen annehmen und nicht annehmen kann. Mit dieser modallogischen Bestimmung der Kontingenz ist die Materie und durch sie die Ontologie in grundlegender Weise bestimmt. Im Weiteren werden wir im Ausgang von einer ersten Bedeutungsklärung die inhaltlichen Aspekte des Möglichkeitsbegriffs für die Metaphysik des Aristoteles analysieren.

6.1.2 Prädikative und propositionale Möglichkeit Für das Verständnis von Materie innerhalb der ontologischen Genese ist es hilfreich, zuerst auf die grundlegenden Bedeutungsunterschiede einzugehen, wie sie Aristoteles in seinem Begriffslexikon in Buch Δ festhält: Das Verbaladjektiv δυνατόν und seine substantivierte Form τὸ δυνατόν sind primär in ihrem Bezug auf „Vermögen“ (δύναμις) oder „[zu etwas] vermögend sein“ (δύνασθαι) bzw. ‚fähig sein‘ und ‚können‘ zu verstehen; sekundär können sie ohne diese Verbindung, und damit gemäß einer modallogischen Bedeutung von ‚möglich‘ und ‚Mögliches‘ verwendet werden. Diese logische Bestimmung von δυνατόν ergibt sich in der

 Met.VII 7, 1032a20; vgl. auch Met.VII 15, 1039b29 – 31 u. ö. Die Übersetzung des Satzes ist nicht unproblematisch: Das Adjektiv δυνατόν kann auch als Subjekt gelesen werden, so dass es heißt: „… Denn ein Vermögendes, je eines dieser [werdenden] Dinge sowohl zu sein als auch nicht zu sein, das ist dafür die Materie.“ Für diese Alternative entscheiden sich vor allem Buchheim 1996, 118 sowie Hübner 2000, 229. Der Vorteil dieser Übersetzung wird darin gesehen, dass die Materie nicht mit dem Werdenden insgesamt identisch, sondern etwas an ihm ist. Das ist richtig. Doch aufgrund der Distinktion zwischen ὕλη und εἶδος, die Aristoteles zu Beginn von Met. VII 7 macht, dürfte das ohnehin klar sein. Die von mir gewählte Übersetzung wird auch von Ross 21958, Bd. II, 180; Bostock 1994, 124 und Frede/Patzig 1988, Bd. I, 79 vertreten.

80

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

Darstellung des Aristoteles zuerst durch die Verneinung von δύναμις, dem Unvermögen (ἀδύναμις), die zu dem nicht vermögensgebundenen Gegensatz von möglich und unmöglich (ἀδυνατόν) führt.¹⁹² Im Ausgang von dieser Begriffsbestimmung hat Ursula Wolf maßgeblich die Teilbedeutungen von δυνατόν nach dem prädikativ gebrauchten „kinetischen und ontologischen Möglichkeitsbegriff“, der primär ein Vermögen oder Vermögendsein bedeutet, und dem „propositionalen Möglichkeitsbegriff“, der sich primär auf den ausgesagten Sachverhalt bezieht, unterschieden.¹⁹³ Auch wenn beide Bedeutungen nicht aufeinander reduzierbar sind, ist dennoch zu prüfen, inwieweit eine Beziehung zwischen modallogischer Möglichkeit und Vermögensbegriff in der Philosophie des Aristoteles besteht. So gilt zumindest für Vermögen, dass ihre Verwirklichungen im nichtwidersprüchlichen Sinn möglich sein müssen; und bei der propositionalen Möglichkeitsaussage wird mit dem modalisierten Sachverhalt zumindest angenommen, dass es eine Welt gibt, in der etwas sein oder nicht sein kann, mithin vermögend ist, verwirklicht oder nicht verwirklicht zu werden, und damit die ontologische Voraussetzung der zweiseitigen Möglichkeit für Kontingentes gegeben ist.¹⁹⁴ Für die Konzeption der Materie und unsere leitende Frage nach der Erklärung der ontologischen Genese ist der prädikative Gebrauch von δύναμις/δυνατόν zentral. Dessen Grundform lässt sich in der Weise ‚S ist vermögend/fähig zu F‘ oder ‚S kann F‘ (= ‚S ist δυναμει/δυνατόν/δύνασθαι F‘) aussagen.¹⁹⁵ Im Unterschied zur

 Vgl. insgesamt Met.V 12, 1019a15 – 1020a6. Die modallogische Bedeutung erörtert Aristoteles vor allem in De Int. 12 und 13 sowie in An. pr. I 3 und 13.  Wolf 1979, 16; vgl. 76. Zutreffend schreibt Wolf, der Vermögensbegriff spiele „eine fundamentale Rolle für den gesamten Möglichkeitsbegriff“ des Aristoteles (14). vgl. weiterhin Stallmach 1959, 39 f.; Seel 1982, 165, Fn. 38; Jedan 2000, 36 ff., Jansen 2002. Zu einem gegenteiligen Urteil kommt Liske 1996, 256, 264: Aristoteles habe primär eine „(…) Theorie des Vermögens entwickelt …, die nur indirekt Rückschlüsse auf seine Auffassung der Möglichkeit“ zulasse.Von daher könne nicht von „einem ontologischen Möglichkeitsbegriff“ gesprochen werden, sondern Vermögen meine „eine dispositionelle Eigenschaft von Individuellem.“  Möglichkeitsaussagen wie z. B. ‚Es ist möglich, dass es morgen regnet.’; ‚Es kann sein, dass es Elfen gibt.’ oder ‚Es ist möglich, dass ich den Bus verpasse.’ setzen spezifische Vermögen für die jeweiligen Wirklichkeitsbereiche voraus. So ist für die Möglichkeit des Regens ein Klima vorauszusetzen, das Regenwolken bilden kann; für die mögliche Existenz von Elfen ein Wesen, das die besonderen Eigenschaften des Elfenseins ausbilden kann; für das mögliche Verpassen des Busses mein Vermögen (nicht schnell genug) zu rennen und jenes des Busfahrers (mich nicht) zu sehen. – Dass eine „große Ähnlichkeit“ zwischen den Begriffen δυνατόν/δύνασθαι und ἐνδεχόμενον/ἐνδέχεσθαι und damit auch zwischen der Überlegung in der Metaphysik und der Ersten Analytik besteht, hat Weidemann 2002, 399 hervorgehoben.  ‚S’ = Subjektterm und ‚F’ = Infinitivergänzung; vgl.Wolf, 36 u. 38. In diesem Sinn formalisiert auch Jansen 2001, 29 u. 34: „(dynF)(x)“.

6.1 Begriffsklärung: Potentialität und Possibilität

81

propositionalen Verwendung, bei der in der Formulierung ‚Es ist möglich, dass p’ δυνατόν als Modaloperator der Aussage fungiert und das veritative Sein der Assertion, mithin den Sachverhalt als möglichen modifiziert, bezieht sich die prädikative Einsetzung auf eine kategoriale Bestimmung, die dem von dem Subjekt bezeichneten Gegenstand qua Prädikation zukommt und das entsprechende Prädikat modifiziert.¹⁹⁶ Die sprachliche Darstellung einer solchen Vermögenszuschreibung nenne ich eine Prädikatsmodalisation. ¹⁹⁷ Streng gesprochen wird nicht das Prädikat allein modalisiert, sondern das Prädikat in seiner Beziehung zum Subjekt. So stellt Michael-Thomas Liske klar, dass der prädikativ eingesetzte Modaloperator „das Verhältnis zwischen Prädikat und Subjekt“ im Sinn von Aussagen über „Fähigkeiten und dispositionelle Eigenschaften“ bestimme, die sich als „Möglichkeit de re“ formulieren lassen, wie z. B. „Sokrates kann sprechen“, „Salz ist in Wasser löslich“.¹⁹⁸ Es ist daher auch zulässig, ohne damit Aristoteles zu widersprechen, eine Vermögenszuschreibung mit dem Modalausdruck der Möglichkeit auszusagen, solange nicht der Sachverhalt oder die Aussage als Ganzes modifiziert wird. Die Bedeutung von ‚vermögend‘, ‚fähig‘ oder ‚können‘ (δυνατόν/δύνασθαι) lässt sich dann in die Formulierung ‚Für S ist es möglich zu …‘ oder ‚S hat die Möglichkeit zu …‘ übersetzen. Festzuhalten ist: Aristoteles unterscheidet in seiner Philosophie zwischen „vermögensbezogenen Möglichkeiten“ und „nicht vermögensbezogenen Möglichkeiten“; erstere lassen sich – erinnert sei an die Unterscheidung von Klaus Jacobi – mit dem Begriff der Potentialität, in der Funktion der Prädikatsmodalisation, letztere mit dem Begriff der Possibilität in der Funktion des Aussagenoperators oder als „Sachverhaltsmöglichkeit“¹⁹⁹ bezeichnen. Kehren wir noch

 Vgl. zum Modalausdruck in Bezug auf Sachverhalte Wolf 79 ff., 98 ff.; weiterhin zur Unterscheidung Weidemann 1994, 396, 411, 415, 439; vgl. auch Seel, 1982, 135 – 145, der aber nur die propositionale Verwendung gelten lässt, was Weidemann zu Recht kritisiert und in De Interpretatione vorrangig den „prädikative(n) Modalausdruck“ behandelt sieht (396). Nach Weidemann 1994, 411 kennzeichnen Modalausdrücke das Prädikat und nicht die ganze Aussage (vgl. für die hier verwendete Aussageformel 415; Weidemann spricht allerdings nicht von einem konjunktiven ‚oder’).  Jansen 2000, 28 ff. spricht von der „Prädikatsmodifikation“ und vermeidet strikt den Begriff der Modalität, um eine propositionale Interpretation auszuschließen. Meiner Ansicht nach spricht aber nichts dagegen, von einer prädikativen Modalität auszugehen.  Liske 1986, 261 f.; vgl. auch Weidemann 1994, 411.  Nortmann 2001, 46, 49 f. orientiert sich hier an der programmatischen Position von Klaus Jacobi 2001, 9 – 23, der in Bezug auf Aristoteles die „Aussagestrukturen“ Potentialität und Possibilität unterscheidet. Auch Jacobi kommt es darauf an, zwischen beiden Bereichen keine strikte Trennung zu etablieren. Jacobis und Nortmanns Positionen lassen sie wieder auf die grundlegende Untersuchung von Ursula Wolf zurückführen.

82

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

einmal zu der am Ende des letzten Kapitels zitierten Bestimmung der Materie zurück, so ist das dort verwendete ‚δυνατόν‘ prädikativ zu lesen: ‚Die Materie ist vermögend, etwas Bestimmtes zu sein und etwas Bestimmtes nicht zu sein’ (kürzer: ‚M kann F sein und M kann non-F sein‘). Δυνατόν legt, indem es sich gleichermaßen auf die Möglichkeit zu sein und die Möglichkeit, nicht zu sein, bezieht, die symmetrische Distribution des zweiseitigen Vermögens fest. Mit dieser Bestimmung knüpfen wir an den im vorausgegangenen Kapitel eingeführten Begriff der Kontingenz an, der nun anschließend weiter verfolgt werden soll.

6.2 Kontingenz Dem zweiseitigen Vermögen ist, wie schon gesagt, die Struktur der Kontingenz eigen. Der Begriff der Kontingenz (ἐνδεχόμενον/ἐνδέχεσθαι) lässt sich in seiner formalen Struktur als „unbestimmter Modus“²⁰⁰, oder genauer gesagt, als „gemischte Modalität“²⁰¹ bezeichnen. Er ist primär negativ bestimmt: Möglich ist das, was nicht notwendig und nicht unmöglich ist, oder logisch äquivalent: was möglich und nicht notwendig ist.²⁰² Gemäß den beiden Teilaussagen schließt die Kontingenz die Extreme der Unmöglichkeit und der Notwendigkeit, die konträr zueinander stehen, aus. Unmöglich ist das begrifflich Widersprüchliche, mithin das, was als Kontradiktion zu einer möglichen Bestimmung notwendig nicht sein darf. Notwendig ist das, dessen Negation nicht möglich, also unmöglich ist. Aufgrund der doppelten Ausgrenzung ist Kontingenz der symmetrische Begriff der zweiseitigen Möglichkeit und von der „einseitigen Möglichkeit“ abzugrenzen.²⁰³ Letztere unterscheidet sich dadurch, dass ihr lediglich der Begriff der

 Jacobi 1979, 932.  Poser 1989, 544.  Aristoteles hat diese modallogische Bestimmung in der Ersten Analytik grundlegend formuliert: „Unter ‚kontingent sein’ (ἐνδέχεσθαι) und ‚Kontingenz’ (ἐνδεχόμενον) verstehe ich das, was nicht notwendig ist und wegen dessen, wenn es als vorhanden angenommen wird, nichts Unmögliches sein wird.“ An. pr. I 13, 32a18 – 20.  Aristoteles verwendet den Terminus insbesondere in der Modalsyllogistik der Ersten Analytik sowie in den modallogischen Kapiteln von De Interpretatione. Vgl. zum Begriff der beidseitigen sowie zweiseitigen Möglichkeit: Becker-Freyseng 1938, 32, 49, 69; Schepers 1963; Frede 1970, 53 ff.; Detel 1993, Bd. 3/II, 2. Halbb., 182– 184; Buddensiek 1994, 1– 25; Seel 1982, 174– 177; Jansen 2002, 150; Weidemann 2002, 278. – Auch wenn Weidemann 2002, 397 f. berechtigte philologische Bedenken an der Übersetzung von ἐνδεχόμενον/ἐνδέχεσθαι durch Kontingenz/kontingent anmeldet, halte ich diese Ausdrücke für sinnvoll. Erstens ist dieser Sprachgebrauch im Sinn einer Rezeptionsgeschichte der „transformierenden Übernahme“, wie Poser 1989, 545 es nennt, gerechtfertigt, und zweitens ist er in der Sache zutreffend, wenn der Unterschied zwischen zweiseitiger und

6.2 Kontingenz

83

Unmöglichkeit entgegengesetzt ist, den der Notwendigkeit aber nicht ausschließt; sie ist damit entsprechend weiter gefasst als die zweiseitige Möglichkeit. Aristoteles hat die einseitige Möglichkeit in der Metaphysik innerhalb der Erörterung des physischen Vermögens bestimmt: Vermögend [oder: möglich] (δυνατόν) ist etwas, bei dem, wenn die Wirklichkeit (ἐνέργεια) dessen vorliegt, wozu es das Vermögen hat, nichts Unmögliches (ἀδύνατον) sein wird.²⁰⁴

Aristoteles gibt mit dem Ausschluss von ἀδύνατον das zentrale „Prüfkriterium“ oder „Konsistenz-Kriterium“²⁰⁵ der Möglichkeit an, das sowohl für die zweiseitige Möglichkeit zutrifft als auch für das Vorliegen von Vermögen allgemein erforderlich ist: Aus einem Möglichen folgt unter Annahme seiner Verwirklichung nichts Unmögliches. Dies gilt in logischer und ontologischer Hinsicht. Entscheidend ist, in beiden Hinsichten geht es um die Vermeidung des Widerspruchs unter der Annahme der Verwirklichung. Ein Widerspruch liegt dann vor, wie die Argumentation in Buch Γ ergeben hatte, wenn zwei entgegengesetzte Bestimmungen derselben Sache aktual zugleich und in derselben Weise zukommen. Für das zweiseitige Vermögen, etwas Bestimmtes zu sein und nicht zu sein, heißt das, die beiden kontradiktorischen Bestimmungen des Seins und Nichtseins können unmöglich zugleich aktual existieren bzw. wirklich sein. Das Können unterliegt dem Konsistenz-Kriterium in Bezug auf seine denkmögliche Wirklichkeit. Demnach ist auf ontologischer Ebene Nichtwidersprüchlichkeit ein Proprium des Vermögens bei Annahme der Verwirklichung. Auch hierbei ist zu beachten, dass die symmetrische Distribution von δυνάμει/δυνατόν, etwas Bestimmtes sein zu können und etwas Bestimmtes nicht sein zu können, nur dann sinnvoll auf ihre nichtwidersprüchliche Realisierbarkeit geprüft werden kann, wenn das Vermögen gemäß dem prädikativen Möglichkeitsbegriff in einer zweiseitigen Potentialitätsaussage modalisiert wird: ‚S kann F und S kann nicht-F‘ oder: ‚Für S ist es möglich zu … und: Für S ist es möglich nicht zu …‘. (z. B.: Ich kann laufen und ich kann nicht laufen; für einen Stein ist es möglich, zu einem Haus verarbeitet zu werden, und für ihn ist es möglich, nicht zu einem Haus verarbeitet werden.) Dadurch wird ein und dieselbe Disposition zu einem gegenwärtigen Zeitpunkt als indifferent gegenüber seiner möglichen zukünftigen Verwirklichung und Nichteinseitiger Möglichkeit, die den Begriff der Notwendigkeit nicht ausschließt, gewahrt bleibt. Weidemanns Übersetzungsalternative „angängig“ anstelle von ‚kontingent’ ist dagegen eher verwirrend als hilfreich.  Met. IX 3, 1047a24– 26. Auch in dieser kurzen, aber gewichtigen Aussage zeigt sich der enge Zusammenhang von modallogischer und vermögenstheoretischer Reflexion.  Liske 1995, 365 und Jansen 2002, 154 f.; Jansen bezieht sich auf Jacobi 2001, 17, der einen Konsistenz-Test vorstellt; vgl. weiterhin Weidemann 1997, 431– 435.

84

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

verwirklichung gedacht, ohne auszuschließen, dass beide Möglichkeiten zeitlich getrennt realisiert werden können. Der Aussagenform fehlen noch die Zeitangaben. Wir werden sie daher später wieder aufgreifen. Während es also bei der prädikativen zweiseitigen Potentialitätsaussage um zwei kontradiktorische Möglichkeiten eines Vermögens in Hinsicht auf zwei differente Zeitpunkte oder -phasen geht, ist es hingegen nicht sinnvoll, gemäß der propositionalen Möglichkeitsaussage zu formulieren ‚Es ist möglich, dass F(a) und nicht-F(a)‘²⁰⁶, weil es dann um die eine Möglichkeit eines Sachverhalts mit zwei nicht zeitdifferenten entgegensetzten Bestimmungen, deren mögliche Wirklichkeit zugleich behauptet wird, geht. Die Aussage ist in Bezug auf ihren Wahrheitsanspruch widersprüchlich: Entsprechend schließt der NWS die Wirklichkeit eines solchen möglichen Sachverhalts aus: ‚Es ist unmöglich, dass F(a) und nicht F(a)‘.²⁰⁷ Das zweiseitige Vermögen lässt sich nur dann angemessen in der propositionalen Schreibweise darstellen, wenn die symmetrische Distribution von δυνατόν gewahrt bleibt: ‚Es ist möglich, dass F(a), und: ‚Es ist möglich, dass nicht F(a)‘.²⁰⁸ In dieser Formulierung ist die Struktur des zweiseitigen Vermögensbegriffs korrekt ausgedrückt. Halten wir fest: Die zusammengesetzte prozessuale Substanz ist aufgrund des zweiseitigen Vermögens durch den Kontingenzmodus gekennzeichnet. Daher ist Kontingenz als ein Grundbegriff der aristotelischen Ontologie zu verstehen: Dessen Bedeutung ist im Einzelnen noch genauer zu untersuchen. Hierbei soll wie schon bei der Prinzipienrechtfertigung zuerst der philosophische Problemkontext gegnerischer Positionen erhellt und dann die Aneignung des Vermögensbegriffs in der Metaphysik nachgezeichnet werden, um schließlich über die endgültige Bestimmung des εἶδος zur vertiefenden Darstellung der Möglichkeitsbedeutung zu kommen.

6.2.1 Gegner Die philosophische Bedeutung des zweiseitigen Vermögens und der Modalität der Kontingenz gewinnt deutlichere Konturen, wenn der Kontext berücksichtigt wird,

 Unter Verwendung des üblichen Ausdrucks ‚F(a)’, wobei ‚F’ das Prädikat und ‚a’ den Subjektterm symbolisiert.  Wolf 1979, 76 versteht ‚unmöglich’ in dem zitierten Passus (Met. IX 3, 1047a24– 26) als „propositionale[n] Möglichkeitsausdruck“ der sich auf ganze Sachverhalte bezieht. Ich folge ihr in dieser Einschätzung.  Kürzer formuliert Weidemann 1994, 445: M(Px) & M(~Px); vgl. Detel 1993, 183; Jacobi 2001, 17 f.; Wolf 1979, 127; Jansen 2002, 152.

6.2 Kontingenz

85

in dem Aristoteles argumentiert. Ähnlich wie bei der Verteidigung der ersten Prinzipien in Buch Γ geht es ihm auch in Buch Θ 3 und 4 um die Auseinandersetzung mit gegnerischen Konzeptionen, die seinem Ansatz fundamental widersprechen. Zum einen sind es die Megariker, die die Ansicht vertreten, dass ein Vermögen nur für die Dauer seiner Verwirklichung bestehe; zum anderen eine Position, die als die der ‚Antimegariker‘ bezeichnet werden kann und die den Begriff der Unmöglichkeit nivellieren.²⁰⁹ Aufgrund ihrer jeweils weitreichenden Konsequenzen sollen beide Gegenpositionen vorgestellt werden, um dann anschließend die weitere Verwendung des δύναμις-Begriffs in der Metaphysik zu analysieren.

6.2.1.1 Die Megariker Es gibt einige, die wie die Megariker behaupten, dass etwas nur dann ein Vermögen habe, wenn es dies wirklich tut, wenn es aber dies nicht wirklich tut, habe es auch das Vermögen nicht.²¹⁰

Für die Megariker ist nichts vermögend oder möglich, ohne zugleich verwirklicht oder wirklich zu sein. Die Differenz von Vermögen und Verwirklichung – oder von Möglichkeit und Wirklichkeit – ist zugunsten der Wirklichkeit aufgehoben. Demzufolge ist ein Vermögen prinzipiell unmöglich, das noch nicht wirklich ist, und ist die Behauptung einer noch möglichen Wirklichkeit sinnlos. Nur dann, wenn etwas wirklich ist, ist es auch vermögend oder möglich. Hinreichende und notwendige Bedingung dafür, dass etwas vermögend ist, fallen in der Wirklichkeit gleichsam zusammen. Die radikale Konsequenz dieser Position lässt sich in der Aussage zusammenfassen, dass eine wirklichkeitsdifferente δύναμις unmöglich ist. ‚S δυναμει/δυνατόν F‘ ist notwendig äquivalent mit ‚S ἐνέργεια F‘, oder anders gesagt: Ein Vermögen ist notwendig nur als aktualisiertes zu haben. Für die megarische Sicht auf die Welt ist eine Modalisation des Prädikats, wie Aristoteles es für seinen Vermögensbegriff einführt, oder ein propositionaler Gebrauch von

 Ob es sich hierbei um eine historische Position handelt, ist für die Argumentation unerheblich. Ich übernehme den Ausdruck ‚Antimegariker’ von Weidemann 1997; vgl. auch Bärthlein 1956, 38 und McClelland 1981, 131, die von einer historischen Lehrmeinung ausgehen.  Met. IX 3, 1046b29 f. Für die Frage der historischen Zuordnung und zur Forschungslage vgl. Jansen 2002, 139 ff. Nach Ide 1988, 64, geht es in der megarischen These sowohl um Möglichkeit („possibility“) als auch um Vermögen („potentiality“). Wie wichtig Aristoteles die Modalität der Kontingenz ist, zeigt sich gerade in seiner Auseinandersetzung mit den Megarikern; vgl. auch Liske 1995, 360.

86

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

Möglichkeit in Hinsicht auf mögliche Sachverhalte überflüssig, womit auch der Kontingenzbegriff sinnlos ist. Die für ihn inakzeptablen Konsequenzen verdeutlicht Aristoteles anhand von vier Beispielen vor dem Hintergrund alltäglicher Erfahrung:²¹¹ – Kompetenz: Kunstfertigkeiten, wie die des Bauens, beständen nur dann, wenn sie aktual ausgeübt werden; ein nichtausgeübtes Können (eine Kompetenz), das erlernt und vergessen werden kann, gibt es für die Megariker nicht. – Dispositionen: In gleicher Weise hätten die Dinge keine spezifischen Eigenschaften, wie kalt, warm oder süß, wenn sie nicht gerade wahrgenommen werden, was dem Homo-mensura-Satz des Protagoras entspreche. – Umgekehrt wäre eine Wahrnehmungsfähigkeit nur in ihrem aktualen Vollzug gegeben, was die absurde Folge hätte, das, wer nicht wahrnimmt, mehrmals am Tag blind oder taub sein müsste. – Schließlich, so Aristoteles’ wichtigster Einwand, „heben diese Aussagen [der Megariker] Bewegung und Entstehung auf“²¹², da es einen Wechsel von Bestimmtheiten, allgemein von sein und nicht sein, mithin ein zweiseitiges Vermögen, das dies ermöglicht, nicht gibt. Indem sich ein derartiges Vermögen ins Unvermögen verkehrt, ist Veränderung unmöglich: Wer aktual steht, wird immer stehen, wer sitzt, immer sitzen, da keiner zu einer entgegengesetzten Tätigkeit vermögend ist. Die Beispiele zeigen, dass die Leugnung von Vermögen, die vor dem Zeitpunkt ihrer Verwirklichung als Vermögen bestehen und auf Gegensätzliches gehen können, absurde Konsequenzen für eine plausible Erklärung von Bewegungsphänomenen hat.

6.2.1.2 Die antimegarische Position

Wenn aber, wie gesagt, etwas vermögend/möglich (δυνατόν) ist, dann ist es offensichtlich, dass es nicht wahr sein kann zu sagen, dass jenes zwar vermögend/möglich ist, aber nicht wirklich sein wird, wenn uns auf diese Weise das unvermögende Seiende/das Unmögliche (ἀδύνατον) entgeht.²¹³

 Vgl. insgesamt zu den Beispielen Met. IX 3, 1046b30 – 1047a17.  Met. IX 3, 1047a14.  Met. IX 4, 1047b3 – 6; vgl. auch An. pr. I 13, 32a-20.

6.2 Kontingenz

87

Mit dem Eingangssatz von Buch Θ 4 greift Aristoteles das Problem der zukünftigen Verwirklichung oder Nichtverwirklichung von Vermögen auf. Er unterstellt hierbei ohne weitere Ausführungen eine Annahme, die das Prüfkriterium der Unmöglichkeit ausschließt und damit alles Unverwirklichte für möglich bzw. vermögend erklärt. Diese Annahme kennzeichnen wir als antimegarische Position, die von dem aristotelischen Vermögensbegriff unterschieden werden muss. Wortlaut und Interpretation des zitierten Satzes sind in der Forschung umstritten.²¹⁴ Im Kern geht es um die Frage, ob Aristoteles die These vertritt, dass jedes Vermögen und jede Möglichkeit irgendwann einmal wirklich sein wird, und er demnach einen strikten Determinismus behauptet, oder ob es für ihn grundsätzlich die Möglichkeit von Vermögen und Möglichkeiten gibt, die nie verwirklicht sein werden, was eine strenge Form der Nezessität von Wirklichkeit ausschließt, ohne Determinismus prinzipiell zu negieren.²¹⁵ Worauf es Aristoteles an dieser Stelle seiner Argumentation aber insbesondere ankommt, und was auch beide Interpretationsrichtungen zu berücksichtigen haben, ist, dass der Verlust des Prüfkriteriums droht, wenn die hypothetische Verwirklichung des Vermögens nicht mehr als Maß genommen wird. Die antimegarische Position nivelliert genau dieses Kriterium, so dass, zugespitzt formuliert, nichts Unverwirklichtes unmöglich und alles möglich scheint, bzw. dass es nichts Unvermögendes gibt. Damit sind im Gegensatz zu den Megarikern δύναμις und δυνατόν gleichsam verabsolutiert. Die Absurdität einer solchen Behauptung, die darin besteht, dass sie den auszuschließenden Widerspruch zulässt, macht Aristoteles anhand des mathematischen Beispiels von der Inkommensurabilität der Diagonale mit der Seitenlänge des Quadrats deutlich.²¹⁶ – Wenn gemäß der Beweisform der reductio ad absurdum angenommen werde, die Diagonale sei mit der Seitenlänge kommensurabel, dann hätte dies zur Folge, dass die ungeraden Zahlen mit den geraden gleich sein müssten. Ein und dieselbe Zahl wäre sowohl gerade als auch ungerade. Diese Annahme ist aber aufgrund der logisch-begrifflichen Bestimmung absolut unmöglich und

 Was insbesondere an der Bedeutung von ὥστε liegt. Einen Überblick über die Textkonstitution und Interpretation bietet Jansen 2001, 162, Fn. 255.  Die erste These vertritt in der Aristoteles-Interpretation bekanntlich Hintikka 1973, 93 – 113 mit seiner frequentativen oder statistischen Interpretation der Modalbegriffe. Unter Berufung auf das „Fülleprinzip“ („principle of plenitude“) von Lovejoy 1993, nach dem keine „Seinsmöglichkeit unverwirklicht bleiben darf“ (70), behauptet Hintikka, dass die aristotelischen Modalbegriffe in Sinn des „principle of plenitude“ zu verstehen sind; vgl. dazu auch Wolf 1979, 201, 161, 94.  Vgl. Met. IX 4, 1047b6 – 12, An. pr. I 23, 41a26 f-30; 44, 50a35 – 38.Vgl. zum Beweis Jansen 2002, 159 ff.

88

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

zu keinem Zeitpunkt als möglich zu denken oder von den Diagonalen als vermögend auszusagen. In gleicher Weise gilt von konträren Vermögen, dass sie nicht zugleich, in derselben Hinsicht in ein und demselben Subjekt wirklich sein können. Was vermögend ist, zu sitzen und zu stehen, verfügt zwar der Möglichkeit nach über beide Optionen – jemand hat zugleich das Vermögen zu sitzen und das Vermögen zu stehen –, kann aber jeweils nur eine von beiden unter Wahrung der Nichtwiderspruchshinsichten realisieren.²¹⁷ Das Argument gilt, wie oben schon ausgeführt, für jeweils ein zweiseitiges Vermögen, das beide Möglichkeiten seiner Kontradiktionsglieder umfasst, aber in Wirklichkeit nur eines sein kann: Was vermögend ist, etwas Bestimmtes zu sein (z. B. zu sitzen), und vermögend, etwas Bestimmtes nicht zu sein (nicht zu sitzen), kann nicht beides zugleich sein. Die Vorstellung der gleichzeitigen Verwirklichung ist eine logisch-begriffliche Unmöglichkeit, die immer unmöglich bleibt, so dass es auch nie ein Vermögen dazu geben wird. Unproblematisch ist hingegen die zeitlich unterschiedene Verwirklichung der beiden Vermögen. Aristoteles argumentiert mit dem modallogischen Konsistenz-Kriterium. Unmögliches ist aufgrund begrifflicher oder inhaltslogischer Zusammenhänge nicht konsistent vorstellbar oder denkbar. Es ist demnach auch unter keinen Umständen möglich und mithin etwas prinzipiell Unverwirklichbares: „Es wird ja nichts von dem, dem es unmöglich ist, zu sein.“²¹⁸ In Anlehnung an Gerhard Seel können wir einerseits von der Denkmöglichkeit und -unmöglichkeit, andererseits von der Seinsmöglichkeit und -unmöglichkeit sprechen, wobei gilt: Das Denkunmögliche schließt das Seinsunmögliche ein, aber nicht umgekehrt, und das Seinsmögliche schließt das Denkmögliche ein, aber nicht umgekehrt.²¹⁹ Gegen die antimegarische Position verweist Aristoteles auf die unbedingte Geltung des ersten Prinzips in begrifflicher bzw. intensionaler und ontologischer Hinsicht. Die Leugnung des Prinzips führte zu einer völligen Verkehrung unseres Weltverständnisses, da Unmögliches möglich sein müsste. Beide gegnerischen Positionen – die megarische und die antimegarische – kommen in ihrer Radikalität darin überein, dass sie die Zweiseitigkeit des aristotelischen Vermögensbegriffs und damit die Bedeutung der Kontingenz negieren. Bewegung oder Veränderung können dann aber nicht mehr erklärt werden. Die Megariker heben die Unterscheidung von Vermögen und Wirklichkeit auf, da

 Vgl. Met. IX 3, 1047a26 – 29.  Met. III 6, 1003a5 f.  Vgl. Seel 1982, 212, 190 ff.

6.3 Δύναμις als kinetischer und ontologischer Vermögensbegriff

89

nur vermögend ist, was auch der Fall und notwendig ist; die Antimegariker verwerfen das Prüfkriterium der Unmöglichkeit, so dass gar nicht mehr konsistent über Mögliches und Vermögendes in Bezug auf Wirklichkeit gesprochen werden kann. Wenden wir uns nach diesem Exkurs, der die Möglichkeitssemantik noch einmal klar konturiert, den weiteren Überlegungen zur δύναμις zu.

6.3 Δύναμις als kinetischer und ontologischer Vermögensbegriff Zu Beginn von Buch Θ nennt Aristoteles das Thema der weiteren Abhandlung zur Substanz: Es gehe um das Sein „dem Vermögen (δύναμις), der Vollendung (ἐντελέχεια) und dem Werk (ἔργον) nach“²²⁰. Es überrascht zunächst, dass nach der Substanzabhandlung in Ζ und Η die Untersuchung unter Einführung der neuen Termini fortgesetzt wird. Vor dem Hintergrund unserer Ergebnisse zur Konzeption des σύνολον ist das aber hinreichend: Aristoteles beabsichtigt mit den Begriffen ἐντελέχεια, der synonym mit ἐνέργεια verstanden wird, und δύναμις das Problem der Binnendifferenzierung der zusammengesetzten Substanz und deren ontologischer Genese zu lösen. Der Diskurs in Buch Θ ist gleichsam eine Fortführung der Abhandlung über die Substanz mit anderen Begriffen. Aristoteles’ Hinführung zum ontologischen Vermögen (δυνάμει ὄν) in Buch Θ verläuft nach der für ihn charakteristischen Argumentationsstrategie: Er geht von dem für uns Bekannteren aus und führt zu dem weniger Bekannten, aber von der Sache her Grundlegendem.²²¹ Die Untersuchung zum Vermögensbegriff nimmt ihren Ausgang von der Alltagsprache, der „am meisten und hauptsächlich“ verwendeten Ausdrücke, und gewinnt durch Deskription, Analyse und Abstraktion den für die metaphysische Theorie eigenständigen Gehalt.²²² Aristoteles philosophiert, indem er von dem alltäglichen Gebrauchskontext der Worte zum theoretischen Begründungskontext übergeht. Da das δυνάμει ὄν eine Erweiterung der kinetischen δύναμις ist – „denn Vermögen und Wirklichkeit gehen über das hinsichtlich der Bewegung Ausgesagte hinaus“²²³ –, werden wir von dessen Definition in den Büchern Δ 12 und Θ 1 ausgehen: „Das Prinzip der Bewegung oder

 Met. VIII 6, 1045b32– 34.  Vgl. Met. IX 1, 1045b35 f.; Phys. I 1, 184a16 – 21.  Met. VIII 6, 1045b36. Ich will hier dem Gedankengang in Met. IX nicht im Einzelnen nachgehen. Zuletzt hat dies Jansen 2002 getan. Seine Darstellung erinnert, auch wenn er sie nicht erwähnt, an die Arbeit von Wolf 1979.  Met. VII 6, 1046a1 f.

90

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

Veränderung, in einem anderen oder insofern es selbst ein anderes ist“²²⁴. Als Beispiele führt Aristoteles an: Die Baukunst ist nicht ein Vermögen des Gebauten, sondern in einem anderen, dem Baukundigen. Die Heilkunst hingegen ist das Vermögen eines Arztes; ist dieser Arzt krank, so heilt er sich nicht als Arzt, sondern sich selbst als einen anderen, nämlich als Kranken, beides aber ist derselbe Mensch.²²⁵ Aristoteles unterscheidet das im Modus der Aktivität bestimmte Vermögen von dem passiven, welches als „Prinzip der Veränderung von einem anderen her oder insofern es selbst ein anderes ist“ vorliegt und später der Materie zugewiesen wird. Danach ist etwas vermögend, etwas durch anderes oder gemäß der Hinsichtenunterscheidung durch sich selbst zu erleiden (πάσχειν), neutraler gesagt, etwas zu erfahren oder zu empfangen.²²⁶ So sei das Fette brennbar und das Nachgebende zerbrechbar.²²⁷ Mit der Analyse des physischen Vermögens werden grundlegende Merkmale gewonnen, die auch für den ontologischen Vermögenscharakter der Materie von Bedeutung sind: – Δύναμις ist ein Prozessprinzip und liegt im Modus der Aktivität wie der Passivität vor. – In seiner prinzipiierenden Stellung ist δύναμις entweder transeunt, da sie ‚in einem anderen‘ Bewegung oder Veränderung ermöglicht, oder immanent, insofern sie in demselben Subjekt, wie beispielsweise die Heilkunst, Prinzip ist, aber ‚sofern es selbst ein anderes ist‘.²²⁸ – Δύναμις ist damit grundsätzlich relational bestimmt. Alles, was vermögend ist, zu bewegen oder bewegt zu werden, ist auf das hin oder von dem her bestimmt, was es bewegt oder durch das es bewegt wird. Aristoteles nennt in Buch Δ 15 vor allem das Verhältnis von wirkendem und leidendem Vermögen

 Met.V 5, 1019a15 f. Die verschiedenen Bedeutungsaspekte, die in Δ 12 und Θ 1 von δύναμις und δύνασθαι gegeben werden, ordnen sich gemäß der paronymischen Prädikationsstruktur an. Vgl. Liske 1996, 274, der dies zutreffend feststellt und damit Seel 1982, 264– 268 kritisiert.  Vgl. Met. V 12, 1019a16 – 18; IX 1, 1046a26 f.  Met. V 12, 1019a20 – 23.  Vgl. Met. IX 1, 1046a24 f. Die hier verwendeten Adjektive machen deutlich, wie Aristoteles die normale Sprache zum Gegenstand seiner Reflexion nutzt. Die passivisch-modalen Suffixe zeigen an, was mit der Sache gemacht werden kann, was sie also durch Bewegung von außen zu erleiden fähig ist. Aristoteles verwendet auch an anderen Stellen passivisch-modale Adjektive; vgl. z. B. die substantivierten Formen „das Messbare“, „das Wissbare“, „das Denkbare“ in Met. V 15, 1021a29 f. Entsprechend gibt es auch aktivisch-modale Bedeutung wie „das Wärmende“ oder „das Schneidende“ (a16 – 19).  Unterscheidung von immanent und transeunt nach Seel 1982, 272 f.

6.3 Δύναμις als kinetischer und ontologischer Vermögensbegriff

91

(δύναμις ποιητικός/παθητικός)²²⁹, bei dem das erstere tätig ist und eine Bewegung oder Veränderung beim zweiten herbeiführt, wie z. B. „das Wärmende“ zum „Erwärmbaren“²³⁰. Das Zusammenwirken tritt bei bestimmten Vermögen regelmäßig und mit einer gewissen Notwendigkeit auf. Das Verhältnis ist temporal bestimmt, da Veränderung Zeit voraussetzt.²³¹ Weiterhin differenziert Aristoteles zwischen den aktiven Erkenntnisvermögen und ihren spezifisch disponierten Erkenntnisgegenständen. Jene Vermögen gehen ebenfalls notwendig auf anderes, bestimmen dieses aber nicht wie ein passives Vermögendes im ersten Verhältnis. Das „Messbare“, „Wissbare“, „Denkbare“ oder „Wahrnehmbare“, von dem Aristoteles spricht, ist jeweils vermögend, erkannt zu werden, aber die Dispositionen und die ihnen zugrunde liegenden Entitäten sind nicht von der Erkenntnisrelation und dem aktiven Vermögen des Erkennenden abhängig, sondern sind in dem, was sie sind, unabhängig von diesem Bezug.²³² So sind beispielsweise Farbe, Größe, Anzahl oder Form eines Gegenstandes auch dann gegeben, wenn sie nicht gesehen bzw. erkannt werden; zugleich aber gilt, dass sie als Wahrnehmbares oder Erkennbares nur dann verwirklicht sind, wenn sie aktual wahrgenommen oder erkannt werden. Aristoteles versteht die Verwirklichung beider Vermögen als notwendige Korrelation, bei der weder das Wahrnehmbare noch die Wahrnehmung alleine realisiert sein können.²³³ Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten: Erstens ist δύναμις eine intrinsische Eigenschaft eines Gegenstandes.²³⁴ Zweitens ist sie grundsätzlich auf ihre Verwirklichung hin bezogen, auch wenn diese unter bestimmten Umständen nicht eintreten sollte; sie ist daher immer Teil eines Prozesses. Entsprechend beginnt mit Buch Θ 6 auch die Relation zur ἐνέργεια und diese selbst zum zentralen Gegenstand der Untersuchung zu werden.

 Vgl. Met. V 15, 1021a15 f.  Met. V 15, 1021a16 – 19.  Vgl. Phys. III 1, 200b21, ebenso sind „Ort“ und „Leere“ vorauszusetzen.Wolf, 1979, 26 weist auf die Schwierigkeit des implizierten Notwendigkeitsbegriffs hin, der mit der Regelmäßigkeit von korrelativ wirkenden Vermögen gegeben ist.  Vgl. insgesamt Met. V 15, 1021a28-b3; Met. IV 5, 1010b30 – 1011a2; Phys. IV 14, 223a16 – 29. Aristoteles wendet sich damit gegen die Gefahr eines Relativismus protagoreischer Provenienz.  Vgl. Met. IV 5, 1010b37– 1011a2; De An. III 2, 425b26 – 426a26.  Vgl. Liske 1996, 257.

92

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

6.3.1 Korrelation von δύναμις und ἐνέργεια Mit der programmatischen Ankündigung, nun „über die Wirklichkeit (ἐνέργεια)“²³⁵ nachdenken zu wollen, gibt Aristoteles das philosophische Anliegen des sechsten Kapitels von Buch Θ vor. In diesem Kontext ist der über die physische Bedeutung hinausführende ontologische Anwendungsbereich von δύναμις verortet:²³⁶ Wirklichkeit ist das Vorliegen (ὑπάρχειν) einer Sache (πρᾶγμα), jedoch nicht in der Weise, wie wir sagen, es liege dem Vermögen nach vor; denn dem Vermögen nach verstehen wir z. B. den Hermes im Holz und die halbe in der ganzen Linie, weil sie abgeteilt werden könnte, sowie den Wissenschaftler [dem Vermögen nach], der keine Betrachtungen anstellt, aber dazu fähig ist.²³⁷

Der Passus ist zentral. Er legt die Relation von δύναμις und ἐνέργεια in Bezug auf das faktische Vorliegen oder Vorhandensein, wie das Wort ‚ὑπάρχειν‘ anzeigt, fest. Aristoteles grenzt beide Relata negativ voneinander ab. Einerseits schließen sie sich aus: Ein Gegenstand kann nicht zur selben Zeit dem Vermögen und der Wirklichkeit nach vorliegen. Was dem Vermögen nach ist, existiert nicht wirklich, was der Wirklichkeit nach ist, existiert nicht als bloß vermögend. Andererseits sind δύναμις und ἐνέργεια in ihrer Unterschiedenheit zugleich notwendig aufeinander bezogen: Was vermögend ist, wird verwirklicht, was wirklich ist, war vorher vermögend oder wird wieder vermögend sein. Daher wird die Unterschiedenheit von δύναμις und ἐνέργεια in der Forschung allgemein als Korrelation bezeichnet.²³⁸ Allerdings ist hierbei, wie noch auszuführen sein wird, die klare Prädominanz der ἐνέργεια zu bedenken. Unter dieser Hinsicht ist die Bezeichnung ‚Korrelation‘ zu kritisieren, da Korrelationalität die wechselseitige und gleichberechtigte Bezogenheit beider Relata betont, also gerade nicht den eindeutigen Primat der einen Position und die hierarchische Dependenz der anderen festlegt. Die entscheidende Bedeutungserweiterung von der physischen zur ontologischen δύναμις besteht demnach darin, dass letztere, ebenso wie die ἐνέργεια, die Existenz eines Gegenstandes als ganze bestimmt. Damit bezieht sich das δυνάμει ὄν grundsätzlich auf alles kategoriale Seiende; in der Metaphysik vor-

 Met. IX 6, 1048a26.  „Wir bezeichnen nicht nur dasjenige als vermögend (δυνατόν), was fähig ist, anderes zu bewegen oder von anderem bewegt zu werden, entweder schlechthin oder auf bestimmte Weise, sondern wir verwenden vermögend auch in anderer Bedeutung.“ Met. IX 6, 1048a28 – 30.  Met. IX 6, 1048a30 – 35.  Von Korrelation sprechen z. B. Tugendhat 1958, 90; Seel 1982, 279 ff.; Viertel 1982, 363 f; Berti 1996, 299 f.; Lewis 1996, 55 – 60.

6.3 Δύναμις als kinetischer und ontologischer Vermögensbegriff

93

rangig auf die konkrete Substanz der ersten Kategorie. Für die ontologische Betrachtung gilt: Die Korrelation von δύναμις und ἐνέργεια fungiert als eine Unterscheidung von Seinsweisen, die es ermöglicht, ein Seiendes sowohl nach seinen potentiellen oder aktualen Bestimmtheiten als auch nach potentieller oder aktualer Existenz zu differenzieren. In einem zweiten Argumentationsschritt präzisiert Aristoteles den Bezug der Seinsweisen auf die wahrnehmbare Substanz, indem er mittels der Induktion und der Analogie die Geltung von δύναμις und ἐνέργεια für verschiedene Seinsbereiche aufzeigt und mit ihr schließlich die Proportion zwischen Materie und Form bestimmt.²³⁹ Davon unterschieden ist das Verhältnis zwischen physischem Vermögen und Bewegung. Dass ἐνέργεια nicht mit κίνησις identisch ist, hat, wie im weiteren Verlauf von Buch Θ deutlich wird, für die Substanztheorie eminente Bedeutung. Für unsere jetzige Analyse ist aber die Einführung der Analogie eingehender zu untersuchen. Als Proportionalitätsanalogie hat sie einen hohen Stellenwert, da sie nicht nur den unmittelbaren Zusammenhang zwischen, sondern auch die Übereinstimmung mit den beiden ontischen Konstituenten der wahrnehmbaren Substanz stiftet. Ich nenne diesen methodischen Schritt die begriffliche Konvergenz der Korrelation δύναμις/ἐνέργεια mit der Differenz ὕλη/ εἶδος. Mit diesem Schritt verbindet sich zugleich eine metaphysische Überlegung, denn der Metaphysik ist damit eine Theorieperspektive eröffnet, die es ermöglicht, die ontologisch differenten Größen in ihrem Verhältnis zueinander und damit in Hinsicht auf das Entstehen der konkreten Substanz genauer zu bestimmen. Wie wichtig die Konvergenz über die analoge Zusammenschau hinaus ist, zeigt sich allerdings nicht erst in Buch Θ 6, sondern schon in Η 6. In diesem Kapitel stellt sich Aristoteles noch einmal der Schwierigkeit (ἀπορία), „was in Bezug auf die Wesensdefinition die Ursache des Eins-Seins“ ist, oder anders gesagt: „Was ist es also, was den Menschen zu einem einzigen macht, und wodurch ist er eine Einheit und nicht Vieles, zum Beispiel Lebewesen und Zweifüßiges?“²⁴⁰ Es ist für die Gesamtargumentation von Buch Ζ und Η von Gewicht, dass Aristoteles die Frage nach der begrifflichen Einheit der Definition mit der nach der ontischen Einheit der Substanz verbindet und beantwortet, um die beiden zentralen Problemstellungen der Metaphysik zu erklären. Diese Zusammenführung ist bekanntlich nicht unproblematisch, da sich, wie insbesondere die Ausführungen in Η 6 zeigen, die ontische Einheit auf das εἶδος und auf das σύνολον beziehen kann.²⁴¹  Vgl. insgesamt zu diesem Argumentationsschritt Met. IX 6, 1048a35-b9.  Met. VIII 6, 1045a7 f.; a14 f.  Dies wurde von Steinfath 1996, 249 ff. als Krux der gesamten Substanztheorie zwischen der „Einheit als Einfachheit“ und „Einheit als differenzeinschließend“ herausgestellt; anders hin-

94

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

Wir stellen an dieser Stelle unserer Überlegungen die Frage nach der Definitionseinheit zurück und gehen der weiteren Bestimmung der Seinsweisen nach, um eine Lösung für das Einheitsproblem zu finden. Der entscheidende Gedanke für diese Lösung ist die explizite Verbindung der als notwendig erwiesenen ontologischen Differenz von εἶδος und ὕλη mit den korrelativen Seinsweisen; eine Verbindung, die in dieser exponierten Weise erstmals in der Argumentation der Substanzbücher vorgetragen wird: Wenn hingegen, wie wir behaupten, das eine Materie und das andere Form ist, und das eine dem Vermögen nach und das andere der Wirklichkeit nach, dann dürfte die Frage keine Schwierigkeit mehr darstellen.²⁴²

Zu beachten ist, dass dies nicht im Sinn der Analogie geschieht, sondern von Aristoteles als eine prinzipielle Zuordnung verstanden wird. Der explanatorische Theoriegewinn besteht für die metaphysische Betrachtung darin, dass die Konstitution einer οὐσία αἰσθητή auf der Grundlage von δύναμις und ἐνέργεια präzise als Verwirklichungsprozess dargestellt werden kann. Aristoteles beansprucht auf diese Weise, das Problem der Binnendifferenzierung der zusammengesetzten Einheit und deren ontologische Genese zu erklären. Denn durch die korrelativen Seinsweisen ist es möglich, die ontologische Differenz von Materie und Form in ein dynamisches Bezugsverhältnis zu übersetzen, in dem die Materie dem Vermögen nach bereits das ist, was erst durch die Form zu einer aktual konkreten Substanz geformt wird: Es gibt keine Schwierigkeit mehr, weil das eine Materie ist, das andere Gestalt [sc. Form]. Dafür nun, dass das dem Vermögen nach Seiende in Wirklichkeit ist, ist in dem Fall, wo es Werden gibt, nichts anderes als das Tätige die Ursache. Denn es gibt keine andere Ursache dafür, dass die dem Vermögen nach seiende Kugel in Wirklichkeit ist, sondern das war ja das für jedes von beiden definierende [sc. begriffliche] Sein.²⁴³

Aristoteles’ Lösungsansatz zielt auf die Einheit des σύνολον. Für unsere Überlegungen wird an dieser Stelle hinreichend klar, dass die Potentialität der Materie bestimmt wird, so dass sie bereits vor der faktischen Entstehung der wahrnehmbaren Substanz als eine so und so bestimmte Einheit ausgesagt werden kann: Die ὕλη kann als δυνάμει ὄν ein geformtes Konkretum sein, oder anders

gegen Hübner 2000, 311 ff., der in dem Kapitel gerade die genuine Lösung des Aristoteles sieht, die Definition und ihre Bestandteile „ins Verhältnis zum substantiellen Werden zu setzen“ (318) und damit die definitorische mit der physischen Perspektive verbindet.  Met. VIII 6, 1045a23 – 25.  Met. VIII 6, 1045a29 – 33.

6.3 Δύναμις als kinetischer und ontologischer Vermögensbegriff

95

formuliert: Für sie ist es möglich, zu einem Konkretum zu werden. Zugleich bleibt sie aufgrund ihres δύναμις-Charakters von der konkreten Einheit unterschieden, zu der sie erst durch die Form realisiert wird.²⁴⁴ Die Materie ist nicht im aktiven Sinn vermögend, Veränderungen in einem anderen oder in sich selbst herbeizuführen, sondern passiv vermögend, durch anderes Veränderungen zu erfahren. Aristoteles hat dies in thetischer Kürze schon zu Beginn von Buch Η angegeben, indem er die ὕλη als „ein dieses Etwas dem Vermögen nach (δυνάμει τόδε τι)“ und als „Substanz dem Vermögen nach (δυνάμει οὐσία)“ bezeichnet hat. Der Entstehungsprozess eines σύνολον – das „Werden schlechthin“ – besteht somit darin, dass die potentielle Substanz zur aktualen Substanz (ἐνέργεια οὐσία)²⁴⁵ wird. Die Materie wird durch die ihr inhärierende Form zu einer differenzierten Einheit gebildet, und dieser Entstehungsprozess ist durch die Form gesteuert. Das Seinkönnen der Materie hatten wir bereits in Bezug auf den prädikativen Gebrauch von δυνατόν formuliert. Hier können wir nun in Bezug auf die konkrete Substanz präzisierend sagen: ‚Materie [M] ist vermögend (kann) eine konkrete Substanz [S] zu sein (sein)‘ (‚M δυνάμει ὄν S‘ oder ‚M δυνάμει οὐσία‘). Durch die potentielle Prädikation wird die Materie, die als Subjekt des Satzes fungiert, in Hinsicht auf ihre mögliche Verwirklichung qua Form ausgesagt.²⁴⁶ Damit ist zum einen berücksichtigt, dass ein hyletisches Vermögen immer auf seine zukünftige ἐνεργείᾳ οὐσία ausgerichtet ist, und zum anderen, dass vor Abschluss des substantiellen Konstitutionsprozesses – erinnert sei an die zweiseitige Potentialitätsaussage – die Möglichkeit des Nicht-Seinkönnens prinzipiell nicht ausgeschlossen bleibt. Um den zweiten Aspekt angemessen zu berücksichtigen, muss daher die Formulierung erweitert werden, so dass gilt: ‚M [i. d. R.] δυνάμει ὄν S‘ und ‚M δυνάμει ὄν nicht S‘, wobei die Klammer anzeigt, dass der erste Fall normalerweise eintritt. Nur für das Ergebnis oder das Ziel des Entstehungsprozesses lässt sich sagen: ‚M ist S‘ im Sinn von: ‚M ἐνεργείᾳ ὄν S‘ oder ‚M ἐνεργείᾳ οὐσία‘. Die letzten beiden Formulierungen sind allerdings mit Einschränkung zu verwenden und haben nur in Bezug auf die Genese der Substanz ihre Berechtigung, da im Fall des Vorliegens

 Seel 1982, 295 spricht von der „Identität bei gleichzeitiger Differenz der beiden Größen. Die Identität bezieht sich auf das ‚Was’ der Existenz, während sich das ‚Wie’ auf den Existenzmodus bezieht.“ Ich halte Seels Ansatz für sinnvoll, auch wenn ich seine strikte modaltheoretische Interpretation von Θ nicht teile.  In Reihenfolge der Zitate: (1.) Met. VIII 1, 1042a27 f.; (2.) 2, 1042b10; (3.) b8; (4.) b11.  Der Form-Materie-Prädikation und ihrer Problematik kann nicht weiter nachgegangen werden. Ich schließe mich hier der Überlegung von Schneider 2001, 215 f. an, der ebenfalls von einer potentiellen Prädikation spricht; vgl. dazu auch die Arbeiten von Lewis 1991 und Loux 1991.

96

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

der aktualen Substanz die Materie durch die Form zu einer bestimmten konkreten Substanz organisiert ist und damit nur noch von dieser ausgesagt werden darf.²⁴⁷ Aristoteles hat diesen Wechsel an der Subjektstelle deutlich gemacht und darauf verwiesen, dass ein existierender Gegenstand nicht von seiner Materie ausgesagt wird. So sei der Kasten eben nicht Holz, sondern hölzern, wohingegen das Holz dem Vermögen nach ein Kasten sei.²⁴⁸ In dem abschließenden Textpassus von Η 6, den Wolfgang Viertel nicht zu Unrecht als „Angelpunkt der gesamten aristotelischen Metaphysik“²⁴⁹ bezeichnet hat, wird der theoretische Stellenwert der Korrelation von δύναμις und ἐνέργεια in Bezug auf Differenz von ὕλη und εἶδος sowie für das Einheitsproblem noch einmal pointiert zusammengefasst: Es ist aber wie gesagt, die letzte Materie und die Gestalt [sc. Form] ein und dasselbe (ταὐτὸ καὶ ἕν), nur das eine dem Vermögen und das andere der Wirklichkeit nach … Denn ein jedes [Seiendes] ist eine Einheit, und das dem Vermögen nach Seiende ist mit dem in Wirklichkeit Seienden in gewisser Hinsicht (πώς) eine Einheit. Es gibt also keine andere Ursache als das, was von dem Vermögen zur Wirklichkeit bewegt.²⁵⁰

Aristoteles scheint zunächst einen Widerspruch zu formulieren, indem er die notwendige Unterschiedenheit der Konstituenten zugunsten ihrer Identität aufhebt. Würde dies aber der Fall sein, wäre die gesamte Substanztheorie hinfällig. Dass Aristoteles’ Argumentation nicht in einen Selbstwiderspruch führt, liegt zum einen an der Tatsache, dass die Identität nur unter der Prämisse der nichtidentischen Seinsweisen behauptet wird, und zum anderen daran, dass es ihm im sechsten Kapitel nicht um Identität im strikten Sinn, die allein der Form zukommt, geht, sondern um die differenzierte Einheit des σύνολον.²⁵¹ Die prozesserklärende Bedeutung von δύναμις und ἐνέργεια ist in der Schlussaussage eindeutig festgehalten. Die Korrelation ist, wie der Ausdruck πώς zu verstehen gibt, eine ontologische Hinsichtenunterscheidung: Die Materie ist in Hinsicht auf die Einheit dasselbe, was die Form ist, dies aber nur potentiell und bleibt dadurch zugleich von der Form unterschieden, die jene Einheit erst aktual in der Materie verursacht.

 Vgl. auch Wolf 1979, 46, 53.  Vgl. Met. IX 7, 1049a18 – 24.  Viertel 1982, 328. Der Komplexität der Metaphysik wird man allerdings gerechter, wenn, wie schon die Ausführungen zu den ersten Prinzipien eindrücklich beweisen, von mehreren ‚Angelpunkten’ gesprochen würde.  Met. VIII 6, 1045b18 – 23.  Vgl. so auch Liske 1985, 375; Steinfath 1996, 240.

6.3 Δύναμις als kinetischer und ontologischer Vermögensbegriff

97

Die ontologische Genese einer physischen Substanz ist nichts anderes als der Übergang von einem δυνάμει ὄν zu einem ἐνεργείᾳ ὄν.²⁵²

6.3.2 Primat des εἶδος als ἐνέργεια Ein letzter entscheidender Theoriegewinn, den Aristoteles durch die begriffliche Konvergenz erreicht, ist die Übertragung der prinzipiellen Dependenz der Materie von der Form in die dreifache Priorität der ἐνέργεια vor der δύναμις. Dadurch ist es möglich, das anfangs statische und auf die strikte Differenz angelegte Verhältnis von Materie und Form noch stärker als ein dynamisches und zielgerichtetes zu denken. Die Wirklichkeit erweist sich dem Begriff, der Substanz und in bestimmter Hinsicht auch der Zeit nach als vorrangig. Diese dreifache Priorität entspricht jener der Substanz in Buch Ζ 1 und relativiert noch einmal die korrelative Bestimmung des Verhältnisses zwischen δύναμις und ἐνέργεια. – Dem Begriff und damit der Erkenntnis nach ist die Wirklichkeit primär, insofern Vermögendes nur von seiner Realisation her definitorisch erfasst und gewusst werden kann. – Temporal Erstes ist die ἐνέργεια beim Entstehen eines Einzelseienden nur in Hinsicht auf die artspezifische Identität, die zeitlich vorgängig in einem anderen der Art realisiert sein muss; in Hinsicht auf die je konkrete numerischen Identität oder Einheit, die erst noch entsteht, ist das hyletische Vermögen, zu sein und nicht zu sein, früher. Würde aber nichts Wirkliches dem Vermögen vorausgehen, würde entweder nichts entstehen oder aus Nichts, was für Aristoteles unmöglich ist. – Entscheidend ist die Priorität gemäß der primären Substanz, der Form. In ihr findet die Argumentation der Substanztheorie ihren Zielpunkt. Der metaphysische Primat der Form gegenüber der Materie wird als prinzipielle Dependenz der δύναμις gegenüber der ἐνέργεια offen gelegt: „… Das definitorische Sein kommt der Form und der Wirklichkeit zu.“²⁵³ Dieses Ergebnis, das sich schon zu Beginn von Buch Η ankündigte, wird nun in Θ 8 konsequent ausgeführt. Die zentrale Begründung ist die teleologische und prinzipiierende Struktur des Entstehungsprozesses: „Prinzip ist das Weswegen, und

 Vgl. Wolf 1979, 59.  Met. VIII 3, 1043b1 f.

98

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

um des Ziels willen ist das Werden, Ziel (τέλος) aber ist die Wirklichkeit, und um ihretwegen wird das Vermögen erlangt.“²⁵⁴ Aristoteles bestätigt einerseits die in der achten Aporie genannte Forderung, nach der jedes Entstehen und jede Bewegung, da sie nicht unendlich sind, notwendig auf „eine Grenze“ und „ein Ziel“ hin verlaufen müssen;²⁵⁵ andererseits legt er die Abhängigkeit der δύναμις von der ἐνέργεια und damit der Materie von der Form fest: Erstere ist nur in Hinsicht auf die zweite von Bedeutung; entsprechend präzisiert er in einem weiteren Schritt: Ferner ist die Materie dem Vermögen nach, weil sie zur Form gelangen kann, wenn sie aber in Wirklichkeit ist, dann ist sie in der Form. Ebenso auch bei den anderen [Entstehungsvorgängen], auch wenn das Ziel eine Veränderung ist.²⁵⁶

Dass die Form selbst in eminenter Weise Wirklichkeit ist, ergibt sich notwendig mit ihrem ätiologischen Charakter: das seins- und einheitsstiftende Prinzip, die Wirkursache und das Ziel einer Sache in einem zu sein. Die zitierte Aussage darf nicht missverstanden werden: Aristoteles meint nicht, dass die Materie, wenn ihr Vermögen, etwas zu sein, realisiert ist, mit der Form zusammenfällt – dieses Ergebnis widerspräche der gesamten Theorie des σύνολον –, sondern dass sie nur dann etwas aktual Bestimmtes sein kann, wenn sie durch die Form geordnet, mithin ‚in der Form‘ ist. In Buch Θ 8 argumentiert er deshalb auch mit der Identität von ἔργον, τέλος und ἐνέργεια, wobei letztere als bedeutungsgleich mit dem Terminus ἐντελέχεια im Sinn von Vollendung oder ‚Ins-Ziel-gekommen-Sein‘ ausgewiesen wird.²⁵⁷ Ich gehe davon aus, dass zwischen den Bedeutungen von ἐνέργεια und ἐντελέχεια kein relevanter Unterschied besteht. Aristoteles betont mit ἐντελέχεια den Aspekt der Vollendung im Sinn des Abgeschlossenseins und des ‚In-sicherfüllt-Seins‘ der Wirklichkeit, ohne sich damit auf eine ‚statische‘ Bedeutung festzulegen.²⁵⁸ Es kommt vielmehr auf die Identität von Wirklichkeit und dem Weswegen bzw. Ziel an. In diesem Sinn ist in Buch Θ 6 die Abgrenzung der ἐνέργεια gegen die κίνησις, deren Ziel und Werk nicht zugleich wirklich ist, sondern außerhalb ihres Vollzuges liegt und daher als „unvollendet“ bewertet  Met. IX 8, 1050a7– 10; vgl. zur Teleologie Wieland 1962, 254– 277; Nussbaum 1978, 59 – 99; Kullmann 1979.  Met. III 4, 999b5 – 11.  Met. IX 8, 1050a15 – 17.  „Denn das Werk ist das Ziel, die Wirklichkeit aber ist das Werk. Deshalb wird auch die Bezeichnung ‚Wirklichkeit’ gemäß dem Werk ausgesagt und geht in die Bedeutung von Vollendung über.“ Met. IX 8, 1950a21– 23.  Vgl. Berti 1996, 296.

6.3 Δύναμις als kinetischer und ontologischer Vermögensbegriff

99

wird, zu verstehen. So seien z. B. das Abmagern, Lernen, Gehen oder Bauen unvollendet, dagegen das Sehen und Denken oder das Leben und Glücklichsein vollendete Wirklichkeiten gemäß der ἐντελέχεια.²⁵⁹ In gleicher Weise handlungsorientiert argumentiert Aristoteles in Buch Θ 8, um die Priorität der ἐνέργεια gemäß der Substanz abzuschließen: Bei denjenigen Tätigkeiten, bei denen es nicht ein Werk neben der Wirklichkeit gibt, liegt die Wirklichkeit in ihnen selbst vor, wie das Sehen im Sehenden und die Betrachtung im Betrachtenden und das Leben in der Seele, und daher auch die Glückseligkeit, denn sie ist ein Leben von einer bestimmten Beschaffenheit. Es ist also offensichtlich, dass die Substanz und die Form Wirklichkeit ist.²⁶⁰

Die Form ist die ausgezeichnete, weil vollendete Wirklichkeit, auf die die δύναμις bezogen ist. Wie aber ist diese Wirklichkeit zu verstehen, die die Merkmale der Immaterialität und Aprozessualität erfüllen muss, von den akzidentellen Veränderungen der konkreten Substanz unterschieden bleibt und dennoch in den Prozess eingebunden ist? Da die Form nicht mit der materiehaltigen Substanz, dem σύνολον, identisch ist, unterscheidet sich ihre Wirklichkeit noch einmal vom dem ἐνεργείᾳ ὄν der zusammengesetzten Einheit, das wir bisher im Sinn einer Seinsweise verwendeten. Die Wirklichkeit des εἶδος ist eine instantan vollendete Tätigkeit oder Aktivität und ist insofern keine Seinsweise, sondern die konstituierende Ursache oder das Prinzip für das Einzelseiende. Mit der Wendung ‚instantan vollendet‘ wird die Tätigkeit, indem sie zeitlich unteilbar und nur als Ganzes existiert, klar von der Bewegung, die notwendig zeitlich ausgedehnt, von ihrem Ziel unterschieden und für sich vor Erreichen des Ziels nicht vollendet ist, abgegrenzt. Die wirkliche Tätigkeit hingegen ist, was die Aprozessualität und Immaterialität des εἶδος erklärt, in sich selbst ihr Werk oder Ziel und das, was sie immer schon war, ohne zu werden.²⁶¹ Im Anschluss an die genauere Bestimmung der eidetischen Wirklichkeit ist auf die Unterscheidung zwischen den lebendigen, natürlich entstandenen und den nicht-lebendigen bzw. künstlich erzeugten oder technischen Substanzen einzugehen. Die Argumentation in der Metaphysik stützt sich auf beide Einheiten, und es stellt sich die Frage, ob für beide Substanztypen gleichermaßen ἐνέργεια ‚instantan vollendete Tätigkeit‘ bedeuten kann. Wir beschränken uns im Folgenden auf die zentralen Unterscheidungsaspekte.

 Vgl. insgesamt Met. IX 6, 1048b18 – 35.  Met. IX 8, 1050a34-b2.  Vgl. für den Begriff der instantanen Vollendung auch Pickering 1977, 41; Kosman 1984, 124– 127; Liske 1991, 167; Polansky 1992, 219; Heinaman 1995, 201– 204; Hübner 2000, 217.

100

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

Bei den Artefakten wird die Materie, wie z. B. beim Anfertigen einer Bronzekugel oder beim Erbauen eines Hauses, zu Funktionseinheiten oder geometrisch beschreibbaren Gestalten gebildet. Der Entstehungsprozess wird mittels der Form durchgehend von außen gesteuert und findet im Ersetzen von Zuständen statt. Eine Realisierung der konkreten Einheit ist nur durch menschliches Handeln möglich, da sich die Formwirklichkeit eines künstlichen Gegenstands – wie die mathematische Kreis- oder Kugelform für die Bronzekugel oder die Größenverhältnisse für das Haus – vor Abschluss des Herstellungsprozesses als Abstraktum in der Seele bzw. im Denken des Konstrukteurs befindet, nicht aber in toto in der zu strukturierenden Materie. Die Form wird sukzessive in die Materie übertragen, so dass gerade nicht von einem den Artefakten immanenten τέλος gesprochen werden kann; sie haben ihre Form nicht von sich selbst her. Das trifft für die Konstitution einer natürlichen Substanz nicht zu. Einem Lebewesen ist, insofern es lebt, das εἶδος notwendig von Anfang an als instantan vollendete Tätigkeit immanent und organisiert die Materie oder den Körper. Die eidetische Aktivität ist die Seele, die die basalen und höchsten Leistungen des Organismus (z. B. Ernährung, Wachsen oder das theoretische Denken) verursacht. Sie ist die πρώτη οὐσία und prinzipiiert die organische Selbsterhaltung des Lebewesens, indem sie anders als bei den Artefakten die Einheit von Zweck-, Ziel- und Formursache ist. Entsprechend hat Aristoteles das εἶδος in De anima als „die primäre Wirklichkeit eines physischen Körpers, der dem Vermögen nach Leben besitzt“ definiert.²⁶² Während ein Artefakt sein τέλος immer in einer Funktion für etwas anderes hat, lässt sich das Lebendig- oder Beseeltsein eines Lebewesens nicht in dieser Weise aussagen; sein Ziel ist sein Lebendigsein. ²⁶³ Ein Körper ist oder ist nicht lebendig, es gibt hier kein Mittleres. So kann zwar sinnvoll von einer ‚halbfertigen‘ Statue oder Kugel gesprochen werden, nicht aber von einem ‚halbfertigen‘ Menschen. Auch kann kein Teil eines Lebewesens, wie z. B. das Blut beim Menschen oder die Staubgefäße der Blume, für sich existieren,

 De An. II 1, 412a27 f.; ebenso hält Aristoteles in Met. VII 10, 1035b14– 16 fest, „die Seele der Lebewesen“ sei „die Form und das begriffliche Sein für den so beschaffenen Körper“. Vgl. zum Begriff der Selbsterhaltung auch Hübner 2000, 191 ff.; Liske 1985, 304 f. bezeichnet die Form treffend als „Tätigkeitsprinzip“ oder „Bewegungsprinzip“.  „Denn die Hand ist nicht in jedem Fall ein Teil des Menschen, sondern nur die, welche ihr Werk [oder ihre Funktion] ausführen kann, also die lebendigen [oder beseelte]; wenn sie dagegen nicht lebendig ist, ist sie nicht ein Teil.“ Met. VII 11, 1036b30 – 32. Auch wenn in der Übersetzung alternativ ‚Funktion’ angegeben ist, darf dies nicht auf die Seele übertragen werden. Die Seele ist entgegen verschiedener Interpretationsversuche in der analytischen Philosophie keine Funktion des Körpers. Sie wäre dann nur ein Akzidens (im Sinn eines Epiphänomens), was gänzlich ihrer Bestimmung als substantielle, primäre Form widerspricht.Vgl. Perler 1996, 343 ff. für eine Kritik an dieser Interpretationsrichtung.

6.3 Δύναμις als kinetischer und ontologischer Vermögensbegriff

101

anders hingegen die Teile eines hergestellten Gegenstandes, wie die Steine auch ohne ein Haus Steine sind. Für Aristoteles ist daher auch die eidetische Wirklichkeit eines Lebewesens nicht durch Abstraktion zu erschließen. Festzuhalten ist, dass zwar sowohl Artefakte als auch Lebewesen unter den einheitlichen Begriff der οὐσία αἰσθητή fallen und die ἐνέργεια konstitutiv für die Verwirklichung ihrer jeweiligen konkreten Einheiten ist, sie sich aber in der Art und Weise, wie sich die Form in der Materie etabliert und ein σύνολον verursacht, unterscheiden. Die Herstellung und Existenz eines künstlichen Gegenstands ist nicht identisch mit der organischen Selbsterhaltung eines Lebewesens. Beide Substanztypen unterliegen dem Werdeprozess, aber in verschiedener Weise.²⁶⁴ Die Verschiedenheit in der Immanenzetablierung und dem Wirkungs- oder Persistenzmodus spricht dafür, die Bedeutung von ἐνέργεια als ‚instantan vollendete Tätigkeit‘ in Bezug auf die künstlichen Gegenstände entweder auszuschließen oder weiter gefasst zu verstehen. Ich halte die zweite Interpretationsvariante für angemessener. Nach Abschluss des Herstellungsvorgangs gilt auch für die eidetische Wirklichkeit einer Statue oder Kugel, dass sie als Wirklichkeit zu keinem Zeitpunkt der Existenz der Sache nicht nicht sein kann. Daher ist es sinnvoll, auch hier von Aktivität oder Tätigkeit des εἶδος zu sprechen, und zwar im Sinn der instantanen Aufrechterhaltung eines dem begrifflichen Sein der Form entsprechenden spezifischen Zustands. ²⁶⁵ Doch im strikten Sinn trifft die Bedeutung nur auf die natürlichen Substanzen zu. Sie sind in ausgezeichneter Weise durch die Aktivität der Seele konstituiert, die den Körper ab dem ersten Moment und weitgehend autonom als selbstorganisierende Einheit lebendig erhält.²⁶⁶ Nach dem bisher Gesagten ist noch einmal zu betonen: Vermögendes oder Mögliches ist immer, auch dann, wenn es nie verwirklicht werden sollte, auf seine Verwirklichung bezogen und durch diese Dependenz bestimmt. Aristoteles widerspricht damit nicht seiner Position gegenüber den Megarikern, weil für ihn auch die Nicht-Wirklichkeit der Möglichkeit möglich bleibt. Aus dieser ontologischen Perspektive ist alles, was sein kann, die Seinsweise der Nicht-Identität eines Seienden und alles, was wirklich ist, die der Identität. Der Primat der ἐνέργεια besteht darin, dass sie ein Seiendes von anderen Seienden trennt, indem sie es ihrer spezifischen Weise gemäß konstituiert und als materielle Einheit dauerhaft

 Vgl. Met. VII 7, 1032a20 – 28 für die Unterscheidung eines Werdens durch Natur (φύσις) und eines durch Herstellen bzw. Hervorbringen (ποιήσεις).  Mit dem Ausdruck ‚Zustand’ soll betont werden, dass es im Unterschied zur Einheit des Lebewesens um die statische oder starre Einheit eines Seienden geht, die keine selbstorganisierte Entwicklung und Erhaltung darstellt.  Ob letztlich nur diese „physische Form“ Gültigkeit hat, wie Hübner 2000, 191, 247 ff. vertritt, sei dahingestellt.

102

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

erhält. Es sind die Kriterien der Abgetrenntheit, Konstituenz oder Verursachung und Erhaltung, die im prinzipiellen Unterschied zum Vermögen der Materie und ihrem Charakteristikum der Indefinitheit notwendig durch eine wirkliche Tätigkeit oder Aktivität gewährleistet sind. Damit sind auch Plurifikation und Monismus aus der Substanzmetaphysik des Aristoteles ausgeschlossen: Weder besteht die primäre noch die konkrete Substanz aus anderen Substanzen oder koinzidieren andere Substanzen zu einer.²⁶⁷

Exkurs: Das Unbegrenzte als δυνάμει ὄν Zu ergänzen ist noch, dass Aristoteles auch das „Unendliche“ (ἄπειρον) und das „Leere“ (κενόν) innerhalb des Analogiearguments von Buch Θ 6 nennt.²⁶⁸ Im Rahmen unserer Thematik ist an dieser Stelle nur das ἄπειρον in Bezug auf das Denken von Interesse. Das Unendliche ist in der Weise ein δυνάμει ὄν, als es nie als eine aktuale Einheit, die für sich „abgetrennt“ ein τόδε τι ist, vorliegt. Das Unendliche ist ausschließlich das Mögliche, da sich seine unbegrenzt möglichen Teilungen nicht in den tatsächlich realisierten erschöpfen. Vielmehr progrediert die jeweils realisierte Teilung oder Begrenzung unter der Bedingung unendlicher Teilbarkeit oder Begrenzbarkeit. Zutreffend ist daher das Unendliche als die „unendliche Möglichkeit der Verwirklichung“ zu verstehen, „die sich in der Verwirklichung unaufhörlich erneut, stets neue Möglichkeiten erzeugt“.²⁶⁹ Dies gilt für die Unbegrenztheit der Zeit, die unendliche Teilbarkeit der Größen und die unendlich fortsetzbare Reihe der natürlichen Zahlen; wobei zu beachten ist, dass Aristoteles die Unbegrenztheit nicht uneingeschränkt für Größen und Zahlen akzeptiert. So gibt es mit der Eins eine kleinste, nicht weiter teilbare Anzahl und keine unbegrenzte Größe, da diese, weil sie größer als die Fixsternsphären wäre, mit dem endlichen Kosmos kollidierte.²⁷⁰ Das Unbegrenzte ist aber nicht in der Weise der Möglichkeit nach, dass es in Wirklichkeit selbständig getrennt sein wird, sondern es ist nur in der Erkenntnis. Denn dass die Teilung

 „Es ist unmöglich, das eine Substanz aus Substanzen bestehe, die im Modus der Wirklichkeit innewohnen, denn was auf diese Weise zwei ist, ist niemals eines in Wirklichkeit, sondern wenn es dem Vermögen nach zwei sind, können sie eines werden, wie z. B. das Doppelte aus zwei Hälften besteht, die freilich nur dem Vermögen nach sind; denn die Wirklichkeit trennt (εντελέχεια χωρίξει).“ Met. VII 13, 1039a3 – 7.  Vgl. insgesamt Met. IX 6, 1048b9 – 17; vgl. zum Leeren Burnyeat 1984, 127.  So prägnant Bareuther 1983, 130 (Hervorhebung J. M.).  Vgl. Phys. III 6, 206a9 – 12; 7, 207a33-b21; vgl. insgesamt zum Unbegrenzten Phys. III 4– 8.

6.4 Der ambivalente Raum des Möglichen

103

nicht aufhört, ergibt sich daraus, dass diese Wirklichkeit [die Tätigkeit der Teilung] nur der Möglichkeit [dem Vermögen] nach, aber nicht in selbständiger Abgetrenntheit sein wird.²⁷¹

Für die Frage, warum Aristoteles überhaupt das ἄπειρον in seine Ausführungen zu ἐνέργεια und δυνάμει ὄν einbezieht, da es ohnehin nur als Möglichkeit Bedeutung hat, ist der Zusammenhang mit dem Denken entscheidend. Denn nur durch das Denken werden die genannten Teilungen realisiert, in eine ἐνέργεια überführt und das Unbegrenzte, indem es immer weiter, aber nie als Ganzes aktual begrenzt wird, als unendliche Möglichkeit gedacht. Das ἄπειρον ist allein dem Denken zugänglich, weil sich das Denken selbst nicht in seinen Teilungen erschöpft und den Teilungsprozess immer weiter fortführen kann. Denken ist auf vergleichbare Weise ein Mögliches oder Vermögendes, das seine Totalität nicht in Wirklichkeit ist, sondern für seine je aktuale Tätigkeit die Möglichkeit bzw. das Vermögen seiner weiteren Tätigkeit voraussetzt.²⁷²

6.4 Der ambivalente Raum des Möglichen Vor dem Hintergrund der bisherigen Ergebnisse auch zur Prinzipienrechtfertigung im ersten Teil sowie der skizzierten gegnerischen Positionen und ihrer Zurückweisung im zweiten Teil soll nun der explanatorische Gehalt der aristotelischen Konzeption von δύναμις/δυνατόν eingehender bestimmt werden. Hierbei sind unterschiedliche Aspekte zu untersuchen, die zusammen die Bedeutung des Möglichkeitsbegriffs für die Metaphysik ausmachen. Insbesondere der Kontingenz, ihrer Zulassung und der Abgrenzung von ihr kommt, wie zu zeigen ist, eine besondere Rolle zu.

6.4.1 Die Möglichkeit der Verhinderung Die Eigenständigkeit und Unterschiedenheit des Vermögens gegenüber seiner Verwirklichung ist wesentlich für die Theorie der Prozessualität. Daher ist in Abgrenzung von den Megarikern entscheidend, dass ein zweiseitiges Vermögen auch dann als Vermögen vorliegt, wenn die zu seiner Ausübung oder Realisierung erforderlichen Bedingungen nicht oder nur teilweise bestehen, und dass es un-

 Met. IX 6, 1048b14– 17.  Vgl. auch Wieland 1970, 296 – 299; Wolf 1979, 72, die an Wieland anknüpft und von der Dihairesis spricht, die „nie an ein Ende kommt“.

104

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

verwirklicht bleiben kann, nicht weil es, wie im Argument gegen die Antimegariker, begrifflich-logisch unmöglich ist, sondern weil die erforderlichen Bedingungen zu seiner Realisation nicht oder nur teilweise erfüllt sind oder es durch bestimmte äußere Einflüsse oder innere Instabilitäten aufgehalten ist,verwirklicht zu werden. So betont Aristoteles am Anfang von Buch Θ 7, dass ein Hindernis den Prozess der Verwirklichung stören könne, und zwar sowohl bei Handlungen, die auf Willensentschluss basierten, als auch bei einem Entstehen, das sein Prinzip außerhalb seiner selbst habe, wie z. B. beim Bau eines Hauses, oder bei einem Entstehen, das sein Prinzip in sich selbst habe,wie z. B. der menschliche Same, der aber „noch in ein anderes kommen muss“, um dem Vermögen nach Mensch zu sein. Entscheidend ist, dass die Möglichkeit der Ver- oder Behinderung in systematischer Hinsicht weiterreichende Folgen für die Ontologie des Aristoteles hat, da sie prinzipiell jedes Seiende betrifft, das durch ein zweiseitiges Vermögen ausgezeichnet ist. Die Begründung ist: Jedes Vermögen ist zugleich [Vermögen] für das kontradiktorisch Entgegengesetzte. Denn was einerseits nicht vermögend ist, wird nie existieren, andererseits kann aber alles, was vermögend ist, auch nicht verwirklicht sein. Also kann das, was vermögend ist zu sein, sowohl sein als auch nicht sein. Für dasselbe ist es also möglich, sowohl zu sein als auch nicht zu sein. Das aber, was vermögend ist nicht zu sein, kann auch nicht sein; was aber nicht sein kann, das ist vergänglich.²⁷³

Die Passage bietet nichts wesentlich Neues, aber sie macht in verdichteter Form noch einmal klar, dass die zweiseitige Vermögenszuschreibung an die modallogische Bestimmung der Kontingenz gekoppelt ist: Alles, was als ein Sichveränderndes existiert und einem Prozess ausgesetzt ist, hat immer die doppelte Möglichkeit des Seins und Nichtseins, da es weder notwendig verwirklicht noch immer wirklich sein muss. Auch die Einheit des σύνολον ist wie ihre akzidentellen Bestimmungen nicht im strikten Sinn notwendig. Kontingenz hat eine universellontologische Geltung; das bedeutet aber auch: Wenn alles Prozessuale aufgrund seines Potentialitätscharakters ambivalent ist, braucht Aristoteles, wie noch zu zeigen sein wird, eine „Theorie der notwendig existierenden Gegenstände“²⁷⁴. Es ist gerade dieser Aspekt, wodurch der von Aristoteles eingeführte Möglichkeitsbegriff die kosmologisch-theologische Ausrichtung seiner Metaphysik mitbestimmt. Zu beachten ist: Der Vermögensbegriff wird auch den ewigen, unveränderlichen Dingen zugesprochen. Damit dies widerspruchsfrei möglich ist, muss

 Met. IX 8, 1050b8 – 13.  Wolf 1979, 88.

6.4 Der ambivalente Raum des Möglichen

105

eine veränderte Bedeutung vorausgesetzt werden, die von Zwei- auf Einseitigkeit umstellt. Wir werden auf diese Modifikation an entsprechender Stelle eingehen.

6.4.2 Vermögen als indefinite Inhärenz Auch dem Problem der ‚unscharfen Ränder‘ oder der unterbestimmten Phasen, wie wir das Phänomen beim Veränderungsprozess genannt haben – erinnert sei an die genannten Übergangsbeispiele von roh zu gar, der Reifungsprozess einer Frucht oder die Veränderungen von jung zu alt –, begegnet Aristoteles mit seiner δύναμις-ἐνέργεια-Unterscheidung; ein Zugang, der, wie er betont, den Vorsokratikern unbekannt war.²⁷⁵ [Das Wort] Seiendes wird in zwei Bedeutungen verwendet, so dass auf die eine Weise [der Wirklichkeit nach] zwar etwas aus dem Nicht-Seienden entstehen kann, auf die andere Weise [dem Vermögen nach] jedoch nicht, und dasselbe kann zugleich sein und nicht sein, allerdings nicht in der Bedeutung [gemäß der ersten Weise]. Dem Vermögen nach kann dasselbe nämlich zugleich Entgegengesetztes sein, nicht aber nach der vollendeten Wirklichkeit.²⁷⁶

Diese Passage hat für die Prinzipienrechtfertigung einen besonderen Stellenwert, insofern das zweiseitige Vermögen die Möglichkeit bietet, die gegnerischen Theoreme zu entschärfen und in die eigene Metaphysik zu integrieren. Δύναμις und δυνατόν markieren zu einem Zeitpunkt, da weder die eine noch die andere Möglichkeit entschieden ist, mithin die Verwirklichung noch aussteht, eine Phase oder einen Zustand der Unterbestimmtheit oder Indifferenz. Hinsichtlich der entgegengesetzen Möglichkeiten seiner Realisierung entspricht das Vermögen der Sowohl-als-auch- und der Weder-noch-Bestimmung des Mittleren. In Anlehnung an Burkhard Hafemann nenne ich es daher auch die Voraussetzung für die „indefinite Eigenschaftsinhärenz“ bei prozessualen Gegenständen.²⁷⁷ Aristoteles kann eine οὐσία αἰσθητή, weil sie zweiseitig vermögend ist und immer auch die Möglichkeit zum Anders- oder Nichtseinkönnen ihrer selbst und vor allem ihrer Akzidentien hat, in einem Prozessverlauf und in bestimmten Hinsichten als ein (Widerspruchs‐)Mittleres zulassen. Damit nähert sich die Substanzkonzeption des σύνολον durchaus den vorsokratischen Positionen an, ohne deren ontologische Konsequenzen zu teilen.

 Vgl. Phys. I 3, 185b34– 186a3. Tatsächlich werden die Begriffe hier das erste Mal und fast beiläufig in der Argumentation um die Axiome verwendet.  Met. IV 5, 1009a32– 36.  Hafemann 1998, 206; vgl. auch 210.

106

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

Dies zeigt sich auch beim Kernproblem in der Auseinandersetzung mit den Vorgängern: der Erklärung von Veränderung. Greifen wir für die Antwort und als Ergänzung zu der oben zitierten Passage noch einmal auf die Physik zurück. Aristoteles definiert bekanntlich Veränderung unter Verwendung des Möglichkeitsbegriffs als „das Zur-Wirklichkeit-Kommen des Möglichen, insofern es möglich ist …“²⁷⁸ Veränderung ist ein Verwirklichungsakt, der so lange andauert, wie die mögliche Endbestimmung nicht vollständig erfüllt ist. Während des Prozesses bleibt die Indifferenz des Vermögens – eben auch nicht sein zu können – bis zum Ende gegenwärtig. Dass sich hieraus für die metaphysische Gesamtkonzeption weitreichende Folgen ergeben, werde ich an späterer Stelle weiter ausführen. Prozessuales Seiendes kann während einer Prozessphase in Bezug auf seine jeweilige Veränderung sowohl als ein „unvollendetes Mögliches“ (ἀτελὲς τὸ δυνατόν) wie auch als eine „unvollendete Wirklichkeit“ (ἐνέργεια ἀτελής) angesprochen werden.²⁷⁹ Dabei lässt sich die Dynamik des Prozesses in Graden oder Intensitäten von zunehmender Wirklichkeit oder in solchen von abnehmender Potentialität beschreiben.²⁸⁰ Erst mit Abschluss des Prozesses bzw. einer jeweiligen Phase ist dann die vollendete Wirklichkeit im erklärten ontischen Sinn als das ‚Vorliegen bzw. Vorhandensein der Sache’ (ὑπάρχειν τὸ πρᾶγμα) erreicht. Der Theoriegewinn, der durch den ontologischen Möglichkeitsbegriff erreicht wird, lässt sich gleichsam paradox zusammenfassen: Das zweiseitige Vermögen schließt die aktuale Etablierung eines Widerspruchsmittleren aus und erlaubt es zugleich, allerdings nur im Bereich des Möglichen. Zum einen kann Aristoteles jenes Maß an Unterbestimmtheit, das einem sich verändernden Gegenstand im Prozess zukommt und ihn, wie die frühere Formulierung in der Metaphysik es zuspitzte, zwischen Sein und Nichtsein stellt, durch seinen Möglichkeitsbegriff als indefinite Inhärenz erklären und als zulässiges Mittleres in seine Konzeption aufnehmen. Zum anderen kann er das Dilemma der anaxagoreischen Allvermischung unter Bedingung seines zweiseitigen Vermögensbegriffs lösen und in seine Substanzkonzeption aufnehmen: Die Allvermischung als Einheit aller widersprüchlichen Bestimmungen ist nur potentiell, nicht aber aktual möglich.²⁸¹ Durch  Phys. III 1, 201b4 f. Der Definition gehen zwei modifizierte Fassungen voraus; vgl. 201a10 f. u. 27– 29. Ich übersetze in diesem Zusammenhang den von Aristoteles verwendeten Ausdruck κίνησις mit Veränderung; κίνησις umfasst alle Arten von Veränderung. Die dritte Definition bestätigt noch einmal die enge Verbindung von logischer und ontologischer Möglichkeit bzw. Vermögen. Während in den ersten beiden von δύναμις die Rede ist, wird in der letzten δυνατον verwendet.  Vgl. insgesamt Phys. III 2, 201b26 – 33.  Vgl. Phys. VI 9; 240a19 – 29; so spricht Liske 1995, 355 von „Wahrscheinlichkeitsgraden“.  Vgl. Met. XII, 1069b20 – 23, wo im Zusammenhang mit Anaxagoras auch Empedokles, Anaximander und Demokrit genannt werden, die alle nicht über die problemlösende Unterscheidung von δύναμις-ἐνέργεια verfügen.

6.4 Der ambivalente Raum des Möglichen

107

diese Übersetzung des ὁμοῦ πάντα in die eigene fundamentale Begriffsunterscheidung bestätigt Aristoteles noch einmal den Primat der Aktualität gegenüber der Potentialität; ein Primat, der gerade Vermischung konsequent ausschließt. Im Anschluss an dieses Ergebnis stellt sich nun allerdings die Frage nach dem Wahrheitsanspruch von assertorischen Bestimmungen bei ‚unscharfen Rändern‘.

6.4.3 Indefinite Prädikation Affirmation und Negation eines Sachverhaltes schließen einander gerade in Phasen der Interferenz nicht eindeutig aus, wenn sie jeweils auf etwas referieren, das im Sinn der indefiniten Eigenschaftsinhärenz noch nicht oder nicht mehr voll verwirklicht in seiner Anfangs- oder Endbestimmung vorliegt. Der jeweils entgegengesetzte Prädikationsgehalt ist nicht allein wahr. Wenn aber beide Bestimmungen mit Wahrheit behauptet werden können, widerspricht das dem NWS. Aristoteles setzt hier mit seinem bereits vorgestellten prädikativen Möglichkeitsbegriff der Kontingenz an und erweitert die assertorische Logik um die modale. So wird die noch unvollendete Inhärenz auf der Gegenstandsseite durch Modalisierung des Prädikats berücksichtigt. Wir können hier von der potentiellen „prädikativen Inhärenz“ im Unterschied zur aktual vollendeten sprechen.²⁸² Der Aussagegehalt der Subjekt-Prädikat-Struktur wird mit der zweiseitigen Möglichkeit ausgezeichnet und dadurch, dass beide entgegengesetzten Bestimmungen auf das Seiende bezogen werden und wahr sein können, zu einer indefiniten Prädikation. Hatten wir Vermögen als eine temporär befristete Unterbestimmtheit auf der Seite des Seienden bezeichnet, so wird die Wahrheit der assertorischen Aussage durch das modalisierte Prädikat (in zeitlich begrenzter Form) aufgehoben.²⁸³ Zu beachten ist auch hier, dass die Gültigkeit des NWS im Rahmen dieser Modalität – Affirmation und Negation können beide wahr sein – aufgehoben wird. Der SAD bleibt hingegen anwendbar, da mit der indefiniten Prädikation nicht ein ‚Weder-Noch‘ der entgegengesetzten Wahrheitsansprüche angenommen wird.²⁸⁴ Bei vollendeter Verwirklichung einer der entgegengesetzten Möglichkeiten gilt der

 Auch hier nach Hafemann, 1998, 208; vgl. auch Schneider 2001, 215 f. In einer Aussage wird dem Subjekt gemäß der zweiseitigen Potentialitätsaussage der mögliche Prädikatsgehalt zu- und abgesprochen: ‚Für S ist es möglich, zu … und Für S ist es möglich, nicht zu …’ äquivalent mit prädikatenlogischer Formulierung: ‚Es ist möglich, dass F(a), und: Es ist möglich, dass nicht F(a)’.  Vgl. Hafemann 1998, 210; Liske 1995, 353 ff.  Von daher wird auch nicht das Bivalenzprinzip aufgehoben, wie Łukasiewicz 1993, 22 ff. meint.

108

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

NWS wieder uneingeschränkt. Aristoteles negiert nicht die unscharfen Ränder bzw. die Indefinitheit des sinnlich Seienden, auf das mit einer assertorischen Aussage referiert wird, sondern kompensiert sie durch die Modalisierung der affirmierenden und negierenden Prädikation. Damit wird der Wahrheitsanspruch nicht aufgegeben, sondern bis zu der Prozessphase unentschieden gehalten, wo eine eindeutige Aussage gemacht werden kann; anders gesagt: Mittels der Kontingenz wird der Wahrheitsanspruch der prädikativen Inhärenz temporalisiert. Dennoch ist kritisch zu fragen, ob mit der potentiellen prädikativen Inhärenz dem prinzipiellen Maß an Ungenauigkeit, wie wir es für die Anfangs- und Endbestimmungen sowie der Abgrenzung eines Mittleren bei Prozessen nannten, hinreichend begegnet werden kann. Die ersten Axiome gelten für nicht modalisierte Aussagen in der assertorischen Logik, die auf faktische und nicht auf mögliche Sachverhalte referieren. Aber aufgrund der ontisch irreduziblen Vermögen und der zweiseitigen Potentialitätsstruktur, die gerade das faktisch veränderliche Seiende mitbestimmen, gibt es Prozessphasen, in denen der NWS und der SAD nicht uneingeschränkt gültig sein können. So kann aufgrund nicht vollendeter Aktualität weder immer von der eindeutigen Wahrheit eines der Widerspruchsglieder gesprochen noch ein Widerspruchsmittleres während einer Phase immer ausgeschlossen werden. Dessen ungeachtet gilt: Das prinzipielle Maß an Indefinitheit im SinnlichProzessualen negiert nicht die metaphysische Konzeption der primären Substanz, die, weil sie vollendete Aktualität oder Tätigkeit ist, immer die Seinsmerkmale der Nichtwidersprüchlichkeit und des Nichtwiderspruchsmittleren hat. Allerdings ist das εἶδος nicht etwas Sinnlich-Wahrnehmbares, sondern dessen nicht-empirisches Konstitutionsprinzip. Ebenso ist das τί ἦν εἶναι als Intension der primären Substanz von der Indefinitheit ausgenommen. Das trifft nach Aristoteles auf alle Wörter zu, die, indem sie ‚etwas bedeuten‘ (σημαίνειη), klar definierte Bedeutungen haben und nicht von ihren Referenzgegenständen abhängen. Die Intension eines Worts hat gegenüber dessen prädikativem Gebrauch eine definite Eigenständigkeit. Nur wenn in einer assertorischen Aussage die verwendeten Wortbedeutungen distinkt sind, kann auch falsch prädiziert werden. Indefinitheit kommt allein der Extension zu, mithin der ungenauen Prädikation.²⁸⁵ Doch ist auch hier auf eine Schwierigkeit hinzuweisen: Wenn Intensionen u. a. durch Abstraktionsprozesse gewonnen werden, diese aber von einem SinnlichGegebenen ausgehen, so wird u.U. von etwas ausgegangen, das sich gemäß dem

 Zutreffend führt Hafemann 1998, 249 ff. gegen die Positionen von Quine und Russell an, dass für Aristoteles z. B. die Wörter ‚Glatze’ und ‚Haufen’ eine „extensionale Vagheit“ haben, ihre Intension aber definit sei. Vgl. auch Geach 1972, 86; Searle 1971, 16 ff.

6.4 Der ambivalente Raum des Möglichen

109

prinzipiellen Maß an Ungenauigkeit in der konkreten Prozessphase als unterbestimmt oder unbestimmt zeigt. Das Problem der Indefinitheit aufgrund von Prozessualität wird somit in den Abstraktionsvorgang aufgenommen und, indem eine Menge von Eindrücken für die zu abstrahierende Bestimmung von anderen ebenfalls möglichen Eindrücken abgetrennt wird, beibehalten. In der Entscheidung,wann und wo eine Abstraktion beginnt und endet, liegt eine gewisse Willkür und Ungenauigkeit. Das heißt aber, dass Intensionen, die sich Abstraktionsprozessen verdanken, mit Einschränkung nicht eindeutig sind; das lässt sich insbesondere für die Abstraktion eines Mittelbegriffs sagen, der gleichsam einen extensionalen Grenzfall darstellt.²⁸⁶

6.4.4 Zeitrelative Verwirklichung Aristoteles vertritt mit dem Kontingenzbegriff die Ansicht, dass es nicht-aktualisierte Vermögen und Möglichkeiten im Bereich des Veränderlichen oder der Bewegung gibt. Dies widerspricht nicht seiner Grundüberzeugung, dass jedes Vermögen auf seine Verwirklichung hin zu verstehen ist, und zwar auch dann, wenn dieses Ziel im Einzelfall nicht erreicht wird.²⁸⁷ Die ἐνέργεια bleibt die prädominierende Bedingung seiner Vermögensexplikation. Die Schwierigkeit von prinzipiellem Verwirklichungsbezug und faktischer Nichtverwirklichung löst sich auf, wenn δύναμις zeitrelativ unter den Bedingungen ihres Vorliegens zum Zeitpunkt t1 und unter den Bedingungen ihrer konkreten Realisation zum späteren Zeitpunkt tx>1 bestimmt wird.²⁸⁸ Mit dieser Unterscheidung ist erstens der Grundsatz be Vgl. auch Hafemann 1998, 250 f. Gegen Hafemanns Vorschlag, eine Abstraktion gehe nur von denjenigen Einzelfällen aus, die „eindeutige Exemplifikationen bilden“, lässt sich einwenden, dass diese Eindeutigkeiten bereits Ergebnisse von Abstraktionen, also dem Problem der Ungenauigkeit nachträglich sind. So betont Hafemann zu Recht, extensionale Grenzfälle könnten nur durch „Akte der Willkür“ entschieden werden.  Hintikka 1973, bes. Kap. VIII, hier: 94 ff. (auch ders. 1977 u. 1981) hat mit seinem „statistical model of modalities“ eine modaltheoretische Interpretation vorgelegt, nach der Aristoteles ein Vertreter des ‚Prinzips der Fülle’ („principle of plenitude“) sei – eine Formulierung, die Hintikka von Lovejoy 1993, 69 f. übernimmt –, wonach dasjenige, was möglich sei, zu irgendeiner Zeit einmal wirklich sein wird. Diese Interpretation wurde zutreffend u. a. von Wolf, 1979, 119 f. kritisiert, die darauf hinweist, dass Hintikka den Unterschied zwischen teleologischen und nicht-teleologischen Kontexten vernachlässige und seine Theorie zu sehr an der zyklischen Bewegung und dem Status der ewigen Entitäten ausrichte; vgl. so auch Jansen 2002, 166.  Das Argument einer zeitrelativen Unterscheidung von Bedingungen steht im Kontext der auf Nicolai Hartmann 1957 zurückgehende Interpretation von der „Totalmöglichkeit“ und „Partialmöglichkeit“ und der Streitfrage, welche Position Aristoteles in Θ 3 und 4 vertrete (vgl. hierzu auch Bärthlein 1963; Stallmach 1965; Seel 1982).Weidemann 1986, 112 ff.vertritt im kritischem Anschluss

110

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

rücksichtigt, dass Vermögen allgemein auf ihre noch ausstehende Verwirklichung bezogen sowie situationsabhängig sind und zweitens die Bedingungen von t1 und tx>1 nicht notwendig dieselben sind, sondern differieren. Mit der Beschreibung einer zeitrelativen δύναμις ist strukturell festgelegt, dass der Übergang von dem Haben oder der Möglichkeit eines Vermögens zu dessen Verwirklichung als Übergang von dem Bedingungskomplex zum Zeitpunkt t1 zu dem Bedingungskomplex zu tx>1 verstanden werden kann. Damit sind zwei explanatorische Perspektiven in der Theorie der Prozessualität berücksichtigt, die beide mit dem Begriff der zweiseitigen Möglichkeit erfasst werden: – Strukturell: Weil zu t1 die erforderliche Komplexität der Voraussetzungen für die Realisation zu tx>1 noch nicht vollständig bestimmt ist, ist ein zweiseitiges Vermögen zum Zeitpunkt t1 grundsätzlich für beide Seiten des Gegensatzes, etwas zu sein oder etwas nicht zu sein, offen. Es ist damit nicht notwendig festgelegt, in tx >1 aktualisiert zu sein; in unserer prädikatenlogischen Schreibweise heißt das: ‚Es ist möglich zu t1, dass F(a)/tx >1, und: Es ist möglich zu t1, dass nicht F(a)/tx >1.’ Eine δύναμις, die gemäß der Kontingenz ausschließt, nicht notwendig wirklich zu sein, ist die ontologische Voraussetzung für Aussagen über mögliche bzw. kontingente Sachverhalte oder Ereignisse.²⁸⁹ – Exzeptionell: Aristoteles schließt die Möglichkeit nicht aus, dass nach t1, aber noch vor tx>1 eine oder mehrere Bedingungen hinzukommen können, die in t1 noch nicht als notwendig bestimmte vorlagen. Als eine Sonderform dieser Bedingung kennt Aristoteles die akzidentelle Verursachung durch eine nicht

an Seel eine modifizierte Theorie der Totalmöglichkeit, die den Determinismus Hartmanns nicht teilt: Er unterscheidet zwischen der Gesamtheit der notwendigen Bedingungen, die zu t1 und t2>1 vorliegen müsse, damit eine Verwirklichung möglich sei, und der zureichenden Bedingung, die in t2>1 hinzukommen müsse, damit die Verwirklichung unvermeidlich verursacht werde. Ich orientiere mich mit meiner Unterscheidung an dem Ansatz von Weidemann, über nehme aber nicht seine strikte Bedingungszuschreibung. Mir erscheint es sinnvoll, den Bedingungskomplex in t1 von dem in t2>1 so zu unterscheiden, dass klar ist, ein Vermögen liegt auch dann vor, wenn nicht alle notwendigen Bedingungen zur seiner möglichen Verwirklichung in t2>1 bereits in t1 erfüllt sind, und das Bedingungsverhältnis bis zu einem gewissen Maß noch nicht festgelegt ist. Damit ist der Offenheit Rechnung getragen, dass unerwartete Bedingungen bzw. Ursachen hinzukommen können. In ähnlicher Weise unterscheidet auch Jedan 2000, 53 – 56 die Bedingungssituationen. Vgl. zur Kritik an der Theorie der Totalmöglichkeit als eine Form notwendiger Ableitungszusammenhänge Liske 1996.  Vgl. Hafemann 1998 257 ff., der sich der schon von Boethius und von Rescher übernommenen Interpretation anschließt: Einer von zwei kontradiktorischen Zukunftsaussagen komme bereits eine „indefinite Wahrheit“ im Sinn von „Wahrscheinlichkeitsgrad“ zu, so dass der entsprechend Aussagegehalt vor Eintritt des Prognostizierten prädizierbar sei; anders hingegen Ackrill 1963, 142 und Weidemann 1994, 294 ff.

6.4 Der ambivalente Raum des Möglichen

111

genau abgegrenzte oder unbestimmte Ursache (αἴτιον ὡρισμένον, ἀόριστον)²⁹⁰, die die ausstehende Realisation im Einzelfall verzögern oder verhindern kann. Diese Möglichkeit einer nach t1 hinzukommenden Bedingung nenne ich den exzeptionellen Faktor, der sowohl ontologisch als auch epistemisch eine Ausnahme bezeichnet, die in t1 noch nicht gegeben ist und gewusst wird.²⁹¹

6.4.5 Vermögen und hypothetische Notwendigkeit Von Notwendigkeit kann bei zweiseitigen Vermögen erst gesprochen werden, wenn eine der Möglichkeiten, zu sein oder nicht zu sein, entschieden und der Fall ist. Das, was sich als Kontingentes zu einem bestimmten Zeitpunkt tx>1 realisiert oder nicht realisiert hat, ist unabänderlich das, was es ist oder nicht ist; die jeweils entgegengesetzte Bestimmung ist unabänderlich ausgeschlossen. Aristoteles hält in dem bekannten Abschnitt von De Interpretatione über die morgige Seeschlacht diese Grunddifferenz fest und unterscheidet zwei Notwendigkeitsbedeutungen, die auch für den Vermögensbegriff relevant sind: Freilich ist es für das, was ist, notwendig, dass es ist, wenn es ist, und für das, was nicht ist, notwendig, dass es nicht ist, wenn es nicht ist. Aber es ist weder für alles, was ist, notwendig, dass es ist, noch ist es für alles, was nicht ist, notwendig, dass es nicht ist. Denn dass alles, was ist, dann mit Notwendigkeit ist, wenn es ist, und das es schlechthin mit Notwendigkeit ist, ist nicht dasselbe; und ebenso verhält es sich auch mit dem, was nicht ist. Und dasselbe gilt für die (Glieder einer) Kontradiktion.²⁹²

Für unseren Zusammenhang sind zwei Aspekte von Interesse: Erstens argumentiert Aristoteles mit dem NWS. Die Kontradiktionsglieder eines zweiseitigen Vermögens sind unmöglich zugleich aktualisiert. Die Geltung des NWS beweist sich auch hier für die ontologische Ebene, indem, wie wir bereits früher schon gesagt haben, Verwirklichung oder Wirklichkeit widerspruchsfrei ist. Demnach ist Nichtwidersprüchlichkeit auch ein notwendiges Proprium jeder δύναμις, wenn sie aktualisiert wird, nicht aber, insofern sie in ihrer Potentialität gemäß der zweiseitigen Möglichkeit gedacht wird. Zweitens unterscheidet Aristoteles zwischen

 Vgl. Met.V 30, 1025a24– 30; vgl. zur akzidentellen Verursachung auch Phys. II 5, 196b23 – 29; 9, 199b22– 26.  Auf diese Art lässt sich die Wirkung des Zufalls in Prozessen beschreiben; vgl. dazu Jedan 2000, 20 ff., von dem ich den Ausdruck ‚exzeptioneller Faktor’ übernehme.  De In. 15, 19a23 – 27 (Hervorhebungen J. M.). Auf die Problematik der contingentia futura kann hier nicht weiter eingegangen werden; vgl. dazu Gaskin 1995 und Weidemann 2002 sowie immer noch grundlegend Frede 1970; weiterhin Jansen 2002, 172 ff.

112

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

einer „bedingten“²⁹³ oder „hypothetischen Notwendigkeit“²⁹⁴, die, wie die temporale Konjunktion ‚wenn‘ anzeigt, zeitrelativ zum Bestehen oder zur Wirklichkeit einer Sache bestimmt ist, und einer Notwendigkeit, die schlechthin bzw. absolut ist, da sie keiner temporalen Einschränkung unterliegt. Die zeitrelative Bestimmung der hypothetischen Notwendigkeit trägt der Definition von Kontingenz Rechnung, so dass alles, was in diesem Sinn strukturiert ist, erst ab dem konkreten Zeitpunkt tx seiner jeweiligen Verwirklichung als notwendig gilt, nicht aber schon vorher. Dies bedeutet allgemein für die linearteleologische Veränderungsweise: Alle Prozesse, die auf ein noch zu verwirklichendes τέλος gerichtet sind und Potentialität beinhalten, lassen sich bis zum Erreichen ihres Ziels nicht im strikten Sinn als determiniert bezeichnen. Vor dem Hintergrund der temporalen Bedingungsdifferenz von t1 und tx >1 besteht zwischen zwei Bestimmungen, Zuständen oder Phasen in den beiden Zeitpunkten kein schlechthin notwendiger Zusammenhang. Die Irreversibilität und begrenzte Determination eines Prozesses lässt sich nur im Rückblick, wenn das Ziel zum Zeitpunkt tx>1 verwirklicht ist, aussagen. Von bedingt notwendigen Handlungen, Ereignissen oder Sachverhalten, insofern sie Ergebnisse teleologischer Vorgänge sind, kann daher nur gesprochen werden, wenn sie abgeschlossen, also der Fall sind. Zutreffend spricht Ursula Wolf daher auch von der „teleologischen Notwendigkeit“²⁹⁵. Entsprechend sind individuelle Entitäten, akzidentelle Veränderungen oder Umwandlungsvorgänge vor ihrer vollendeten Realisation zu einem Zeitpunkt tx nicht endgültig determiniert und damit auch nicht eindeutig erkennbar.²⁹⁶ Mit der hypothetischen Notwendigkeit berücksichtigt Aristoteles ebenfalls, dass ein zweiseitiges Vermögen nicht immer aktualisiert sein muss. Etwas, für das es möglich ist, zu sein und nicht zu sein, und das in tx >1 realisiert ist, kann zu einem späteren Zeitpunkt unter veränderten Bedingungen nicht verwirklicht sein; dies trifft auf Eigenschaften genauso wie auf Substanzen zu. Ein zweiseitiges Vermögen bleibt, auch wenn es in einer Hinsicht verwirklicht ist, zweiseitig, weil die andere Seite des Gegensatzes nicht völlig aufgehoben ist. So wird ein Mensch, der jetzt sitzt, auch weiterhin das Vermögen haben, nicht zu sitzen, und er kann es zu einem späteren Zeitpunkt realisieren. Vergangenheit und Gegenwart sind daher die Zeithorizonte, die Aristoteles für die hypothetische Notwendigkeit in Bezug auf die Verwirklichung eines zweisei-

 Frede 1970, 65.  So Aristoteles‘ eigene Formulierung in De Gen. et Corr. II 11, 337b2 ff.; vgl. auch Liske 1995, 363 f. u. 370.  Wolf 1979, 90.  Vgl.Wolf 1979, 114, 118, Fn. 24, 414, Fn. 11; vgl. Jedan 2000, 43, Fn. 24 für eine Kritik an Hintikka.

6.4 Der ambivalente Raum des Möglichen

113

tigen Vermögens angibt. Nach der zeitrelativen Notwendigkeit ist die symmetrische Möglichkeitsstruktur von δύναμις ab dem Zeitpunkt der Realisation einer der Möglichkeiten aufgehoben. Das,was zu einem gegenwärtigen Zeitpunkt t1 wirklich ist, wird es auch für alle zukünftigen Zeitpunkte tn>1 unveränderlich gewesen sein, wie auch das bereits Vergangene in t1 unabänderlich gewesen ist. „Denn, dies allein ist auch der Gottheit nicht vergönnt: Vollbrachte Taten ungeschehen zu machen.“²⁹⁷ Die Offenheit des nicht-aktualisierten Vermögens, auf beide Kontradiktionsglieder gehen zu können, ist an den Zeithorizont der Zukunft gebunden.²⁹⁸

6.4.6 Die Möglichkeit der nicht-hypothetischen Notwendigkeit Von strikter Notwendigkeit spricht Aristoteles in ontologischer Hinsicht bei reiner ἐνέργεια. Daher ist der Begriff der nicht-hypothetischen Notwendigkeit äquivalent mit dem der vollendeten Aktivität oder wirklichen Tätigkeit. Notwendig ist das, was immer, mithin nicht zeitlich begrenzt wirklich und unvergänglich ist. In diesem Sinn werden in Buch Θ 8 fast beiläufig drei Formen des Notwendigen angeführt und gegen die durch die Materie bedingte Vergänglichkeit abgegrenzt:²⁹⁹ – Das „notwendig Seiende“, ohne das nichts anderes wäre. Was genau damit gemeint ist, wird an der Stelle nicht weiter ausgeführt. Es liegt aber nahe, dass Aristoteles darunter vor allem auch die Formen der Lebewesen versteht, die in den vielen Individuen durch Reproduktion die spezifischen Identitäten der jeweiligen Arten auf unbegrenzte Dauer garantieren. Bei jedem Werden einer individuellen Substanz ist die artgleich konstituierende Form aktual immer schon vorausgesetzt. Das Wesenswas des Menschseins bleibt in der Reproduktionsabfolge der unterschiedlichen Artindividuen immer wirklich (ein Mensch zeugt einen Menschen, der einen Menschen voraussetzt, der einen Menschen zeugte usw.). – Die „ewige Bewegung“, womit die spezielle Kreisbewegung des Fixsternhimmels gemeint ist, die zwischen dem vergänglich Bewegten und dem absoluten Ursprung aller Bewegung steht.³⁰⁰ – Schließlich als „ewig Bewegtes“ die Gestirne selbst, die auf ihren Kreisbewegungen zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen, zyklisch wiederkeh-

 EN VI 3, 1139b10 f.  Vgl. zu den Zeithorizonten: Cael. I 12, 283b11– 14; EN VI 3, 1139b5 – 9; Jansen 2002, 173 ff.  Vgl. auch für die folgenden Zitate Met. IX 8, 1050b18 – 24.  Vgl. Phys. VIII 7, 259b32 ff. Der absolute Ursprung der Bewegung wird im nächsten Kapitel berücksichtigt.

114

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

renden Orten immer dieselben aktual existierenden Entitäten sind, aber aufgrund ihrer räumlichen Bewegung „Ortsmaterie“ (ὕλη τοπική)³⁰¹ haben. Aristoteles skizziert mit diesen Angaben in aller Kürze die kosmologische Dimension seiner Metaphysik. Zwei Aspekte sind hierbei von besonderem Interesse für unsere Untersuchung. Zunächst einmal wird deutlich, dass Wirklichkeit und mit ihr die nicht-hypothetische Notwendigkeit an die besondere Form der zyklischen Bewegung gebunden ist, die sich, weil sie zu aller Zeit gilt, ewig vollzieht. Die Kreisbewegung zeichnet sich gegenüber allen anderen dadurch aus, dass sie in sich vollkommen ist, da jeder Punkt auf dem Kreis Anfang und Ziel in einem ist und somit die Bewegung immer schon in ihrem Ziel oder ihrem Ende verwirklicht ist.³⁰² In der zyklischen Bewegung ist die ἐνέργεια anders als in einem linearen Prozessverlauf jederzeit in ihrem τέλος. Bekanntlich trifft Aristoteles mit der kosmologischen Verortung dieses Bewegungsmodells eine weitreichende Entscheidung zwischen dem sublunaren Bereich der irdischen Dinge und dem supralunaren Bereich des Universums mit seinen Planeten und Sternen.³⁰³ Nur in der zweiten Dimension gibt es Prozesse, die mit nicht-hypothetischer Notwendigkeit ablaufen und in diesem Sinn ein determiniertes Gesamtgefüge darstellen, das, wie in De Caelo ausgeführt, mathematisch beschrieben werden kann; wohingegen Prozesse im sublunaren Bereich nicht in dieser Weise exakt erfasst werden können.³⁰⁴ Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Möglichkeitsbegriff? Entscheidend ist, dass Aristoteles die Differenz zwischen beiden Bereichen nur etablieren kann, wenn er die mit dem Vermögen gegebene Bedeutung der zweiseitigen Möglichkeit auf die der einseitigen einschränkt, die zwar die Unmöglichkeit, nicht aber die Notwendigkeit ausschließt: Die für den sublunaren Bereich bestimmende Kontingenz darf für supralunare Vorgänge nicht gelten, da ansonsten der zyklische Prozessverlauf der Möglichkeit nach nicht aktualisiert sein könnte und für das Universum im Ganzen die Möglichkeit des Nichtseinkönnens bestände.³⁰⁵ Wie aber ist dies mit der immer noch bestehenden Orts Met. VIII 1, 1042b6; vgl. auch 4, 1044b7 f.; in XII 2, 1069b24– 26 spricht Aristoteles von der Materie für Bewegung.  Vgl. Phys. VIII 8, 264b28; 9, 265a15 – 17; 33-b1; Met. XII, 7, 1072a21– 23.  Vgl. für die Kosmologie des Aristoteles Phys.VIII 8 – 10; Met. XII 8, 1073b1– 1074a17; Cael. I 12; II 3 u. 14.  Vgl. Wolf 1979, 117; Liske 1995, 363.  „Auch strengt [die Gestirne ihre Bewegung] nicht an, da bei ihnen die Bewegung nicht wie bei den vergänglichen Dingen mit dem Vermögen/der Möglichkeit des Widerspruchs verbunden ist …“ Met. IX 8, 1050b24 f. Bemerkenswert ist, dass Aristoteles die Möglichkeit einer creatio ex nihilo formuliert, und zwar genau unter der hypothetischen Annahme, es gäbe kein Erstes, das Ursache der ewig gleichen Bewegung wäre; vgl. dazu Met. XII 7, 1072a15 – 20.

6.4 Der ambivalente Raum des Möglichen

115

materie vereinbar? Um keine grundlegende Inkonsistenz in seiner Theorie zu begehen, muss Aristoteles an dieser Stelle einen modifizierten Vermögensbegriff verwenden, der nach der einseitigen Möglichkeit strukturiert ist, die nur die Unmöglichkeit, nicht aber die Notwendigkeit ausschließt. Unter dieser modalen Voraussetzung und dem Ausschluss der Kontingenz kann die mögliche Wirklichkeit des Fixsternhimmels als notwendig und unvergänglich realisiert bestimmt werden, wohingegen alles subralunare Seiende dem zweiseitigen Vermögen in Form kategorialer Veränderung und substantieller Vergänglichkeit unterliegt.³⁰⁶ Was aber nicht sein kann, das ist vergänglich, entweder schlechthin oder auf die Weise, in der gesagt wird, dass es nicht sein kann, sei es dem Ort oder der Quantität oder der Qualität nach; schlechthin aber [vergänglich ist] das, was der Substanz nach auch nicht sein kann.³⁰⁷

Strenggenommen, so ist einzuwenden, bleibt auch der supralunare Bereich wegen seiner materiegebundenen Ortsbewegung – ein Himmelskörper wechselt seine Position – defizitär. Absolute Notwendigkeit ist in ontologischer Hinsicht letztlich nur dann gegeben, wenn keine Materie und damit auch kein Vermögen vorausgesetzt ist. Hinzu kommt, dass alles, was prozessual verfasst ist, unter dem Paradigma des Bewegtwerdens steht und trotz bestehender Eigenaktivität nicht völlig autark ist. Hierin liegt eine grundlegende Anfälligkeit aller Prozessgegenstände, mithin auch der supralunaren Entitäten für die ontologische Kontingenz. Auch die Bewegung der Fixsterne kann im strikten Sinn nicht schlechthin notwendig sein.³⁰⁸ Daher richtet sich die ganze Bewegungsordnung nach einem Ersten aus, dass, selbst nicht von anderem bewegt, frei ist von materiegebundenem Vermögen und dem die Modalität ‚Notwendigkeit‘ uneingeschränkt zukommt: das unbewegte Bewegende (πρῶτον κινοῦν ἀκίνητον).³⁰⁹

 Vgl. auch De In. 13, 23a6 – 16, wo Aristoteles die zwei Verwendungsweisen von δύναμις und δυνατόν vorstellt; vgl. Jansen 2002, 254 f.; Wolf 1979, 415, Fn. 13.  Met. IX 8, 1050b13 – 16.  „Wenn nun etwas bewegt wird, so ist es möglich, dass es sich auch anders verhalte. Wenn also Ortsbewegung, da das Bewegte sich bewegt, die erste wirkliche Tätigkeit ist, so ist es auch möglich, dass es sich anders verhält, und wenn nicht der Substanz, dann dem Ort nach.“ Met. XII 7, 1072b4– 7.  Die Übersetzung ‚unbewegter Beweger’ halte ich für unpassend, insofern damit eine anthropomorphe Bedeutung und die Vorstellung eines personalisierten Ersten, das im Sinn eines präformierten monotheistischen Gottes gedacht werden kann, assoziiert wird.Wenn das unbewegt Bewegende als aristotelischer Gott interpretiert wird – wofür nur Metaphysik Λ 7 angeführt werden kann –, so muss die grundsätzliche Differenz zu einem personalen Gott bedacht werden. Sie besteht allein schon darin, dass es Aristoteles um ein metaphysisch-teleologisch notwendiges Prinzip geht, das keine schöpferische oder für sich selbst freie und keine moralische Instanz, die straft oder belohnt, darstellt. So gibt es für Aristoteles auch keine Zeit des Chaos oder der Nacht,

116

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

6.5 Der kosmologische Primat der reinen ἐνέργεια Mit dem Begriff des unbewegten Bewegenden kommt Aristoteles zu dem metaphysischen Ursprung aller Bewegung und damit zum Prinzip der φύσις selbst.³¹⁰ Bereits das Ende der Prinzipienrechtfertigung in Buch Γ deutet auf dieses Erste hin, wenn es heißt, dass Prozessualität notwendig ein Seiendes erfordere, das aprozessual sein müsse.³¹¹ In der Gesamtkonzeption des Kosmos steht es noch außerhalb der ewigen Kreisbewegung der Gestirne, die es in Gang hält, und damit jenseits der Veränderungsprozessualität. Im Ausgang von dem paradigmatischen Bewegungsgrundsatz, dass alles, was sich bewegt, von etwas anderem bewegt werde,³¹² muss zur Vermeidung des unendlichen Regresses ein Erstes postuliert werden, das notwendig nicht mehr durch anderes bewegt ist und von dem aus alles Bewegte, ganz unabhängig davon, in welchem Bereich es sich befindet und ob es darüber hinaus zur Selbstbewegung fähig ist,³¹³ seinen Impuls erhält. In der

aus der heraus ein göttliches Wesen den wohlgeordneten Kosmos geschaffen hat; vgl. dazu Met. XII 6, 1072a7– 9. Eine eindeutig monotheistische Position kann Aristoteles, berücksichtigt man das Kapitel acht des Buchs Λ der Metaphysik und die 55 Sphärenbeweger, ohnehin nicht attestiert werden. Gleichwohl hatte das πρῶτον κινοῦν ἀκίνητον für die christliche Gottesvorstellung wegen seiner Attribute der Ewigkeit, Transzendenz und Finalität eine große Attraktivität und konnte entsprechend umgedeutet werden.Vgl. Düring 1966, 211; Flashar 2004, 263; de Garay 1992, 180; von Arnim 1969, 63; Jaeger 1923, 230.  Eine umfassende Auseinandersetzung mit der Konzeption des unbewegten Bewegenden führt über den Rahmen der Untersuchung hinaus. An dieser Stelle geht es allein um die Funktion des Möglichkeitsbegriffs für diese Konzeption des Absoluten. Aspekte der Theorie des unbewegt Bewegenden finden sich mit unterschiedlicher Gewichtung in der Physik VIII 5 f., 8 – 10, in De Caelo und der Metaphysik XII 6 – 9. Das Problem der Datierung der Werke und die sich daraus ergebenden divergierenden Erklärungsmodelle zur Bedeutung des ersten Prinzips werden, da sie für meine Interpretation irrelevant sind, unberücksichtigt gelassen. Ohnehin sind Datierungshypothesen insbesondere für die Physik und die Metaphysik nicht hilfreich; vgl. dazu auch Flashar 2004, 263 u. 257; anders bekanntlich Jaeger 1923. Ich gehe im Folgenden von einer kohärenten Lesart der entsprechenden Passagen aus beiden Werken aus.  Vgl. Met. IV 8, 1012b29 – 31; 5, 1010a33 – 35.  Phys. VIII 4, 256a2 f. In der Metaphysik werden diese Merkmale bestätigt und ergänzt: Das erste Prinzip ist von allem sinnlich Wahrnehmbaren abgegrenzt, ohne jede Affektion und Qualitätsveränderung und hat ein unendliches oder unbegrenztes Vermögen (besser: Kraft) zu bewegen; vgl. Met. XII 7, 1073a5 – 11. Dass Aristoteles in diesem Zusammenhang den Begriff Vermögen verwendet (δύναμιν ἄπειρον, a8), irritiert gerade vor dem Hintergrund unserer bisherigen Untersuchung. Sollte dem unbewegt Bewegenden Vermögen eigen sein? Die Annahme widerspräche der gesamten Theorie der ersten Substanz. Es ist daher konsistenter, wenn hier δύναμις mit Kraft übersetzt wird; vgl. so auch Bordt 2006, 123.  Vgl. zum Verbot des infiniten Regresses Met. XII 8, 1074a29 f.; vgl. auch schon 3, 1070a2– 4. – Lebewesen haben die Fähigkeit zur Selbstbewegung als Ortsbewegung. Gleichwohl werden sie

6.5 Der kosmologische Primat der reinen ἐνέργεια

117

Physik wird das Prinzip, indem es Prozessualität für eine unendliche Zeit initiiert und selbst weder teilbar noch begrifflich weiter differenzierbar ist oder Ausdehnungsgröße hat,von allem anderen unterschieden.³¹⁴ Für die Metaphysik lässt sich kaum bestreiten, dass die Ausführungen zur Theorie der οὐσία auf die Darstellung dieses Prinzips in Buch Λ zulaufen, das von Aristoteles schon zu Beginn seiner Überlegungen als die „ewige unbewegte Substanz“, die „Aktivität“ oder „wirkliche Tätigkeit ist“ (ἐνέργεια οὖσα), bestimmt wird.³¹⁵ Das κινοῦν ἀκίνητον ist die erste Substanz (πρώτη οὐσία) und der Primat der reinen Aktualität. Es bildet den konsequent ausgeführten Endpunkt der metaphysischen Kritik an einem rein physikalischen Modell von Prozessualität und etabliert ein einziges voraussetzungsloses, selbstbezügliches Prinzip, dem trotz und wegen des Dependenzverhältnisses der supralunaren Kreisbewegungen sowie aller physischen Substanzen in beiden Bereichen das Attribut ‚absolut‘ zukommt. In diesem Sinn ist seine Existenz schlechthin notwendig. Aristoteles führt, um den kosmischen Ausnahmestatus des unbewegten Bewegers zu sichern, explizit die modallogische Definition von Notwendigkeit in Metaphysik Λ 7 an: „Also existiert es notwendig … als das, was nicht anders möglich, sondern absolut ist. Von einem solchen Prinzip hängen der Himmel und die Natur ab.“³¹⁶ Die hier an zentraler Stelle eingeführte Modalisierung ist in zwei Hinsichten genauer zu bestimmen.

6.5.1 Transzendental-ontologisch Die metaphysische Bedeutung der Notwendigkeit wird im Rückblick auf die gewonnene Substanzontologie und ihrer Konzeption des σύνολον offensichtlich. Wie unsere Analyse gezeigt hat, existiert alles, insofern es bewegt und damit veränderlich ist, als σύνολον und ist durch seine Materie immer auch vermögend im Sinn der zweiseitigen Möglichkeit, so dass gilt: Alles, was vermögend ist, ist kontingent und kann sich anders verhalten oder auch nicht sein. Wir hatten dies als einen der Grundsätze der aristotelischen Ontologie festgehalten, bezeichnenderweise wird er auch in Buch Λ angeführt: „Wenn nun etwas bewegt wird, so

immer auch von außen durch, wie Aristoteles in der Physik festhält, ihre „Umgebung“ oder „Umwelt“ (τὸ περίεχον) bewegt, die dann das Denken oder Begehren in Bewegung ersetzen. So verstanden ist das unbewegt Bewegende vermittelt über die Kreisbewegungen die antreibende Ursache für diesen ‚Einfluss’ der Umwelt; vgl. Phys. VIII 3, 253a11– 18, hier: a13.  Vgl. Phys. VIII 10, 267b24– 26.  Met. XII 6, 1071b4 f. u. 7, 1072a25 f.  Met. XII 7, 1072b10 – 14.

118

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

ist es möglich, dass es sich auch anders verhalten kann.“³¹⁷ Das aber heißt, alle Entitäten des aristotelischen Kosmos sind, da sie vermögend sind, prinzipiell so zu denken, dass sie der Möglichkeit nach auch nicht sein können oder sich zumindest anders, als sie de facto sind,verhalten können.Wie oben schon gesagt, trifft dies in eingeschränkter Weise auch für die Kreisbewegung und die Gestirne zu. Diese Entitäten unterliegen zwar wegen ihres Ewigkeitsattributs per definitionem nicht der zweiseitigen Möglichkeit, sind also nicht kontingent, haben aber dennoch Materie und können aufgrund ihres ortsbezogenen Bewegtwerdens als veränderbar gedacht werden. Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die hypothetische Überlegung, die Aristoteles einleitend zur Theorie des κινοῦν ἀκίνητον macht und die dem Prinzip selbst in der Form eines Gedankenexperiments Vermögen und damit Materie zuspricht, um die sich daraus ergebenden Folgen für die Theorie insgesamt aufzuzeigen: Wenn es nun etwas gäbe, das ein Prinzip des Bewegens oder Hervorbringens, aber das nicht in wirklicher Tätigkeit wäre, so fände keine Bewegung statt; denn es ist möglich (ἐνδέχεται), dass das, was nur das Vermögen hat, auch nicht in wirklicher Tätigkeit ist …; denn insofern sich die Substanz nicht in wirklicher Tätigkeit befände, fände keine Bewegung statt. Ferner, wenn es sich in wirklicher Tätigkeit befände, seine Substanz aber Vermögen hätte, würde auch dann keine ewige Bewegung stattfinden; denn für das, was dem Vermögen nach ist, ist es möglich (ἐνδέχεται), auch nicht zu sein. Also muss ein solches Prinzip vorausgesetzt werden, dessen Substanz wirkliche Tätigkeit ist. Also muss diese Substanz ohne Materie sein.³¹⁸

Während Aristoteles in diesem Abschnitt klar die Immaterialität des Prinzips und dessen Vorstellung als reine wirkliche Tätigkeit von der Verwirklichung eines Vermögens abgrenzt, geht er im Anschluss noch weiter, indem er versuchsweise der ontologischen Möglichkeit den Primat vor der Wirklichkeit einräumt: Doch hier entsteht eine Schwierigkeit. Denn das, was wirklich ist, meint man, ist alles möglich, das, was möglich ist, ist aber nicht alles wirklich, so dass demnach die Möglichkeit das Frühere wäre. Aber wenn dies so wäre, würde nichts von dem Seienden sein; denn es ist möglich, dass etwas der Möglichkeit nach ist, aber doch noch nicht ist.³¹⁹

Die Argumentation ist genauer aufzulösen: In einem ersten Schritt führt Aristoteles die modalontologisch richtige Aussage an, dass alles, was ist, auch möglich

 Met. XII 7, 1072b4 f.; vgl. vorher schon 6, 1071b13 f.  Met. XII 7, 1071b12– 14, b17– 21.  Met. XII 7, 1071b22– 26.

6.5 Der kosmologische Primat der reinen ἐνέργεια

119

sein muss, da, so ist zu ergänzen, nichts Unmögliches existiert. Daraus lässt sich aus gegnerischer Sicht der ontologische Vorrang der Möglichkeit ableiten, zumal nicht alles, was möglich ist, auch verwirklicht, aber umgekehrt alles Wirkliche möglich sein muss. Es ist gerade dieses modalontologische Argument gegen die Priorität der Wirklichkeit, das für Nikolaus von Kues und seine Metaphysik des Könnens von Bedeutung sein wird. Im zweiten Schritt wird dann das Argument gegen diesen Primat formuliert, wonach, wenn die Möglichkeit prädominierte, etwas zwar sein könnte, aber nicht nur nicht notwendig, sondern (irgendwann) auch gar nicht existierte. Kontingent-Verwirklichtes ist nicht immer wirklich. Mit Blick auf das Thema der vorliegenden Untersuchung verdichtet sich in dem Gedankenexperiment noch einmal die Bedeutung des Möglichkeitsbegriffs in besonders radikaler Weise. Gewissermaßen im Kernbereich der aristotelischen Metaphysik wird die zweiseitige Möglichkeit, nach der nichts notwendig ist oder sein kann, zu einer (wenn auch hypothetisch formulierten) Bedrohung der gesamten Ontologie. Unter dem Primat der ontologischen Möglichkeit käme es, weil auch das erste Prinzip darunter fiele, zur Kontingenz des Universums im Ganzen und zur prinzipiellen Möglichkeit seiner universellen Nichtexistenz zu irgendeinem Zeitpunkt: „Wenn alle [Substanzen] vergänglich sind, so ist alles vergänglich.“³²⁰ Aristoteles spricht sich entschieden gegen die Option universeller Kontingenz aus. Gerade in der Verneinung dieser Möglichkeit ist die Theorie des unbewegten Bewegers am weitesten von der eines freien Schöpfergottes entfernt. Das erste Prinzip hat nicht die Freiheit, die kosmische Prozessualität einzustellen oder die Existenz der Welt zu beenden. So wie alles von ihm abhängt, ist es selbst notwendig relational zur Kreisbewegung bestimmt. Für Aristoteles hängt die Möglichkeit einer Ontologie wahrnehmbarer Substanzen von der transzendental-ontologischen Notwendigkeit des unbewegt Bewegenden und, so ist zu ergänzen,von den immateriellen Formen in den Seienden ab, obwohl und gerade weil mindestens im sublunaren Bereich alle physischen Substanzen ihrer Prozessualität wegen unter dem Vorzeichen der Kontingenz stehen. Bezeichnenderweise ist das unbewegt Bewegende das primäre τί ἦν εἶναι: Das erste Wesenswas hat aber keine Materie, denn es ist vollendete Wirklichkeit (Tätigkeit). Eines also ist dem Begriff und der Zahl nach das erste bewegende Unbewegte.³²¹

Notwendigkeit schlechthin ist nur bei reiner Aktualität (Tätigkeit), die keine Realisierung eines materiellen Vermögens darstellt und damit in vollkommener Unveränderlichkeit existiert, gegeben. Der Vorrang der ἐνέργεια schränkt zudem

 Met. XII 6, 1071b6.  Met. XII 8, 1074a35 – 37.

120

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

den Geltungsbereich der σύνολον-Konzeption ein. Gegenüber den physischen Substanzen wird mit der reinen Aktualität der prinzipientheoretische Status der Form in der Ersten Philosophie hervorgehoben. Im Rahmen dieser Substanzontologie ist es nur konsequent, wenn Aristoteles das erste Prinzip, da es wegen seiner vollkommenen ἐνέργεια der Inbegriff von Substantialität ist, als Gott ausweist. Der Primat der wirklichen Tätigkeit ist das Absolute, ohne dass damit der Usiologie im Ganzen widersprochen wird: Die πρώτη οὐσία ist ἐνέργεια ist θεῖον. Darin äußert sich, wie Ernst Vollrath es formuliert, „der Triumph der Metaphysik“.³²² Entscheidend für die Identifikation mit dem Göttlichen ist die Bestimmung des κινοῦν ἀκίνητον als Intellekt- oder Vernunfttätigkeit; eine Tätigkeit, die ihre angemessene Form in dem „betrachtenden Wissen“ (θεωρία) hat und „das Angenehmste und Beste“ ist; ihr kommt somit auch „Leben“ im vollkommenen Sinn zu. Dabei erfolgt die Einführung des Gottesbegriffs beinahe beiläufig und erst über die Darstellung der menschlichen Vernunfttätigkeit, mit der dann die Tätigkeit des ersten Prinzips erklärt wird. Die Vernunfttätigkeit an sich geht aber auf das an sich Beste, die höchste auf das Höchste. Sich selbst aber denkt die Vernunft im Ergreifen des Gedachten [sic des Objekts der Vernunft]; denn sie wird das Gedachte [das Objekt der Vernunft], indem sie es berührt und denkt, so dass Vernunft und Gedachtes [Objekt der Vernunft] dasselbe werden. Denn die Vernunft ist das aufnehmende Vermögen für das Denkbare [die Objekte der Vernunft] und die Substanz. Sie ist in wirklicher Tätigkeit, indem sie das Gedachte [das Objekt der Vernunft] hat, so dass jene Tätigkeit noch mehr als dieses Gedachte [das Objekt der Vernunft] das ist, was die Vernunft Göttliches zu haben scheint, und das betrachtende Wissen ist das Angenehmste und Beste.Wenn sich nun so gut, wie wir zuweilen, Gott immer verhält, so ist es bewundernswert, wenn aber noch besser, dann noch bewundernswerter. So verhält er sich aber. Und Leben kommt ihm zu; denn die wirkliche Tätigkeit der Vernunft ist Leben, jene aber ist die wirkliche Tätigkeit. Ihre [sic der Vernunft] Wirklichkeit an sich ist aber bestes und ewiges Leben.³²³

Die Passage ist der Ausgangspunkt für die Überlegungen im anschließenden Kapitel. Vorher ist kurz auf die Frage, wie überhaupt das erste Prinzip die Bewegung der Sphäre des Fixsternhimmels verursacht, einzugehen. Aristoteles’ berühmte Antwort ist ebenso einfach wie irritierend: Dass unbewegt Bewegende bewegt „wie ein Geliebtes (ἐρώμενον)“. Die Bewegung des Fixsternhimmels entsteht, indem dieser das erste Prinzip als „das Erstrebte und das Denkbare [das Objekt der Vernunft]“ anstrebt.³²⁴ dass es sinnvoll ist, den Ausdruck in nicht

 Vollrath 1969, 61.  Met. XII 7, 1072b18 – 28.  Met. XII 7, 1072a26. Wörtlicher übersetzt muss bei ἐρώμενον von einem ‚erotisch Angestrebten’ gesprochen werden. Die Interpretation der Stelle ist umstritten. In der Forschung lassen sich mindestens zwei Ansätze unterscheiden: die Standardinterpretation, die für eine wörtliche

6.5 Der kosmologische Primat der reinen ἐνέργεια

121

metaphorischer Bedeutung zu verstehen, verdeutlichen die bereits zitierten Begriffe, mit denen die Vernunfttätigkeit als das ‚Höchste‘, ‚Angenehmste‘ und ‚Beste‘ sowie als das ‚beste Leben‘ charakterisiert werden; alles Attribute, die ein anzustrebendes, begehrtes Ziel auszeichnen. Zudem gilt, dass die Natur immer das für sie Beste anstrebt. Dass κινοῦν ἀκίνητον ist dadurch unmissverständlich teleologisch als die erste Finalursache, die auch Wirkursache ist, bestimmt.

6.5.2 Noetische Notwendigkeit In der Identifikation des κινοῦν ἀκίνητον mit der Tätigkeit der Vernunft findet die Erste Philosophie ihren letzten und maßgeblichen Inhalt. Warum aber die Vernunft? „Unter den Phänomenen gilt sie zwar als das Göttlichste, inwiefern aber und durch welche Eigenschaft sie dies sei, ist schwierig anzugeben.“³²⁵ Aristoteles’ Antwort ist für unsere Thematik von besonderer Bedeutung. Denn einmal mehr geht es darum, die beunruhigende Möglichkeitssemantik aus dem Zentrum der Metaphysik auszuschließen und die Notwendigkeit des ersten Prinzips, von dem der Himmel und die Natur abhängen, inhaltlich auszuführen. Ich nenne diese Notwendigkeit noetische, weil es um die Gleichsetzung der reinen Wirklichkeit mit der Vernunft- oder Denktätigkeit geht. Damit auch der intellektuale Akt uneingeschränkt notwendig ist, muss alles Mögliche negiert werden, das ein Andersseinkönnen im Sinn der Kontingenz zulässt. Die gesuchte Eigenschaft der Vernunft ist, wie bereits in der zitierten Passage aus Buch Λ 7 deutlich wurde, ihre Selbstbezüglichkeit. Aristoteles führt zunächst zwei Argumente für deren Notwendigkeit an:³²⁶ – Der Selbstbezug ist in der autonomen Stellung des ersten Prinzips, das keine Reduktion auf ein weiteres Prinzip erlaubt, begründet. Denn bezöge sich die Vernunft auf ein anderes Objekt als sich selbst oder würde sie durch etwas anderes erst aktiviert werden, wäre sie in ihrer Erkenntnis- oder Denktätigkeit wiederum von etwas, das nicht sie selbst ist, abhängig und wäre ein Vermögen, das verwirklicht werden müsste.

Lesart des Ausdrucks und die Strebethese eintritt, und die revisionäre Interpretation, die hierin lediglich einen Vergleich und die Bewegung in der Weitergabe eines Bewegungsimpulses durch das Prinzip sieht.Vgl. für die Auseinandersetzung mit der revisionären Position Bordt 2006, 106 ff. S. dort auch zwei gute Beispiele für etwas Unbewegtes, das anderes bewegt wie Gerechtigkeit oder ein geliebter Mensch, der den Liebenden anzieht. Ich teile mit Bordt die Standardinterpretation.  Met. XII 9, 1074b15 – 17.  Ich beziehe mich für die folgenden Punkte auf Met. XII 9, 1074b17– 33 u. 1075a7– 11.

122



6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

Da das unbewegte Bewegende außerhalb jeder Veränderung ist, muss auch die Vernunft etwas denken, das keiner Veränderung unterliegt, sondern immer dasselbe ist. Ein derartiges materieloses und unteilbares Objekt kann, insofern nicht nichts gedacht wird, nur die Vernunft in ihrer Tätigkeit selbst sein. Die ontische und epistemische Hierarchie schließt grundsätzlich aus, dass die Vernunft etwas anderes als das „Göttlichste und Würdigste“³²⁷, mithin sich selbst, denkt.

Somit besteht die notwendige und vollkommenste Tätigkeit der Vernunft darin, sich selbst zu denken oder, wie es in der berühmten Formulierung in Λ 9 heißt: „Die Vernunfttätigkeit [oder das Denken] ist ein Denken des Denkens“ – νόησις νοήσεως (ηοεί).³²⁸ In dieser zentralen Wendung koinzidieren Wirklichkeit und Denken in zwei die Notwendigkeit erklärenden Hinsichten: – Der Form nach kann die Vernunft erst dann unmöglich nicht sein, wenn sie immer denkt, wenn sie also immer die Wirklichkeit ihres Denkens selbst ist. – Ihr Denkinhalt kann erst dann unmöglich etwas anderes sein, wenn die Vernunft nichts anders als immer dasselbe denkt. Dies ist dann der Fall, wenn der Inhalt die Tätigkeit des Denkens selbst ist, das Denken sich also in einem immerwährenden Selbstbezug befindet. Die Vernunfttätigkeit des unbewegten Bewegenden kann unmöglich die Aktualisierung eines Vermögens sein, da ansonsten die Möglichkeit der Nichttätigkeit oder des Nichtdenkens gegeben wäre. Die Tätigkeit der Vernunft ist die Identität zwischen Denken und dem Gedachten oder dem Objekt des Denkens als reines, auf unbegrenzte Dauer tätiges Denken. Darin besteht die noetische Notwendigkeit, die jede Möglichkeit ausschließt. Was aber wird in diesem identischen Selbstbezug erkannt oder gedacht? Die νόησις νοήσεως als Selbstbezüglichkeit zu interpretieren ist in der Forschung nicht unumstritten.³²⁹ Gleichwohl halte ich diese Bestimmung für ange Met. XII 9, 1074b26.  Met. XII 9, 1074b34 f. Diese berühmte Formulierung in Λ 9 markiert zusammen mit den Attributen – das Beste, das Angenehmste und das vollkommene Leben zu sein – den Fortschritt gegenüber den Ausführungen in der Physik, wo es primär um die nicht kategoriale Bestimmung, mithin die Unbestimmbarkeit des ersten Prinzips ging. Bordt 2006, 143, Fn. 187 weist zutreffend daraufhin, dass die berühmte Formulierung korrekterweise auch mit „die Vernunfttätigkeit ist Vernunfttätigkeit der Vernunfttätigkeit“ übersetzt werden könne, da es im Deutschen kein Verb zum Substantiv ‚Vernunft’ gebe.  Gegen diese Interpretation, die vor allem Oehler 1984, 97 als „totale Selbstreflexion“ vertreten wurde, haben sich in der jüngeren Forschung u. a. Schneider 2001, 266 f. u. Bordt 2006, 147 ff. gewendet.

6.5 Der kosmologische Primat der reinen ἐνέργεια

123

messen, ohne damit zuzugestehen, dass die intellektuale Tätigkeit deshalb inhaltsleer sein müsste. Denn, so die prinzipientheoretische Erklärung in den Zweiten Analytiken, die reine Vernunft ist der Ursprung der Wissenschaft und der Prinzipien. Indem nun das Denken sich selbst denkt, denkt es sich als Ursprung und damit zugleich die Prinzipien, die für jede Wissenschaft vorauszusetzen sind. Die selbstreflexive Vernunfttätigkeit ist, indem sie denkt, die obersten Prinzipien: der NWS und der SAD. Das Denken des Denkens als inhaltlich bestimmtes Prinzipiendenken zu verstehen ist eine Begründung für meine Inhaltsthese des absoluten Selbstbezugs. Weiterhin lässt sich anführen: Aristoteles nennt in dem Abschnitt nach der νόησις-νοήσεως-Wendung das hervorbringende und theoretische Wissen (oder die jeweiligen Wissenschaften) als Modell selbstbezüglichen Denkens, von denen das erste die immaterielle Form an sich oder das τί ἦν εἶναι, die zweite den Begriff (λόγος) und die Vernunfttätigkeit zum Gegenstand haben. In beiden Wissensformen bezieht sich Denken auf sich selbst, da es Objekte ohne Materie oder Vermögen denkt, die nur im Denken aktual existieren.³³⁰ Verbinden wir diese Überlegung mit der früheren Aussage aus Buch Λ 7, in dem die theoretische Untersuchung – die θεωρία – als die beste und angenehmste Tätigkeitsbestimmung der reinen Vernunft angegeben wurde, so lässt sich annehmen, dass auch das absolute Denken in seinem Selbstbezug zumindest die Begriffe, wenn nicht auch die immateriellen Formen denkt. Eine Aussage in De anima stützt diese These: Die Vernunft sei in der Seele „der Ort der Formen“³³¹. Inwiefern diese Aussage nur für die menschliche Vernunft ihrem Vermögen oder der Möglichkeit nach gilt, ist hier nicht weiter relevant. Für die absolute, weil immer tätige Vernunft lässt sich schlussfolgern, dass in ihr alle Formen wirklich sind und sie selbst – ebenfalls in Bezug auf eine Stelle aus De anima – „die Form der Formen“ ist.³³²

 Die anderen Erkenntnisweisen – Wahrnehmung, Meinung, gegenständliches Denken (διάνοια), empirisches Wissen (ἐπιστήμη) – sind von ihren Erkenntnisobjekten unterschieden. Sie beziehen sich immer auf etwas anderes, das in seinem Objektstatus kontingent ist (vgl. Met. XII 9, 1074b35 f.). Auch in der Nikomachischen Ethik grenzt Aristoteles bekanntlich praktisches Wissen von dem theoretischem durch das Merkmal der Kontingenz ab (vgl. EN VI 5, 1140a35 f.). – Zur Übersetzung von διάνοια: Ich wähle diese Übersetzung, um deutlich zu machen, dass Aristoteles hier das auf Wahrheit und Falschheit bezogene Denken meint. Hiervon ist die homonyme Übersetzung der Vernunft und ihrer Tätigkeit mit ‚Denken’, das gerade nicht bivalent, sonder immer wahr ist, zu unterscheiden (vgl. auch De an. III 6, 430a26 – 28). Statt der gängigen Übersetzung von ἐπιστήμη mit Wissenschaft scheint mir in diesem Zusammenhang ‚Wissen’ sinnvoller zu sein.  De an. III 4, 429a27 f.  Vgl. De an. III 8, 432a2. Allerdings führt Aristoteles diesen Gedanken weder in De anima noch in der Metaphysik konzeptionell aus; ganz anders sein Lehrer Platon. So ist kritisch einzuwenden,

124

6 Vermögen und Möglichkeitsbegriff

Halten wir fest: In der Metaphysik ist philosophisches Denken, indem es eine umfassende Theorie der Substanz entwickelt, die ausgezeichnete theoretische Wissenschaft, die in einem letzten Schritt zu einer Theorie der reinen Vernunft oder des reinen Denkens in nuce führt. Erste Philosophie ist, insofern sie dieses Denken als absolutes denkt, nichts anderes als eine θεωρία über das immerwährende reine Denken. Metaphysik kann dann unter der Voraussetzung der Identifikation des ersten Prinzips mit Gott als Theologie verstanden werden. Zu betonen ist, dass trotz und wegen der herausragenden Stellung des νόησις νοήσεως in der Metaphysik für Aristoteles kein kategorialer Unterschied zwischen menschlicher und göttlicher Vernunfttätigkeit besteht. Das zeigte sich bereits in der oben zitierten Passage aus Λ 7, wo der Selbstbezug des Denkens durch die vermögende Vernunft erklärt und dann dem Absoluten zugesprochen wird. Dennoch differieren beide grundsätzlich in der zeitlichen Dauer ihrer Tätigkeiten. Die Kontinuität eines Denkens des Denkens ist der menschlichen Vernunft nur begrenzt möglich. Entsprechend heißt es zu Beginn der genannten Passage, dass dies „eine Art zu leben“ (διαγωγή) sei, wie sie die beste für uns, aber „in kurzer Zeit“ darstelle, für das unbewegt Bewegende hingegen „immerwährend“:³³³ Wieder ist es die Möglichkeit, die per definitionem einschränkend wirkt. Deren grundlegende Bedeutung für die menschliche Vernunft soll mit Bezug auf die Kapitel 4– 5 aus dem dritten Buch von De anima aufgezeigt werden.

dass Aristoteles in dieser Sache nicht dachte, was gedacht werden konnte, und nicht berücksichtige, was bereits gedacht worden war. Platon hat in seiner Spätphilosophie, im Dialog Sophistes die Vernunfttätigkeit als eine notwendige Korrelation oberster oder wichtigster Begriffe entwickelt. Das aristotelische Theorem der νόησις νοήσεως lässt hingegen mehr als die von mir angeführte These über den Inhalt des Selbstbezugs nicht zu.Vgl. zur Analyse der Begriffsdialektik bei Platon Mojsisch 1986.  Vgl. Met. XII 7, 1072b14– 16. Die Bezugnahme des Ausdrucks ‚διαγωγέ’ und dessen Übersetzung ist nicht einfach. Ich schließe mich hier der sinnvollen Übertragung von Bordt 2006, 100 an. Vgl. zur Kritik an der traditionellen, auf Alexander von Aphrodisias zurückgehenden Auslegung: Schneider 2001, 259 ff., der statt einer Identität eine Korrelation zwischen Denken und Objekt des Denkens vertritt.

7 Dimensionen des (menschlichen) Denkens 7.1 Mögliche und tätige Vernunft In De anima entwirft Aristoteles im Rahmen seiner „Forschung über die Seele als Prinzip der Lebewesen“ eine Theorie des menschlichen Intellekts, die wohl zu den meistkommentierten in der Philosophiegeschichte gehören dürfte.³³⁴ Für unser Untersuchungsinteresse ist allein entscheidend, dass sich die konstitutive Funktion der Möglichkeit bestätigt: Menschliches Denken – definiert durch das Nachdenken und Annahmen-Machen³³⁵ – wird unter der Voraussetzung der modal (‐ontologischen) Differenz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit oder zwischen Vermögen und Tätigkeit erklärt. Diese Differenz ist, da sie Denken gleichermaßen als empirisch wie nicht-empirisch bestimmt, eine metaphysische. Aristoteles hat sie in den νοῦς selbst hineinverlegt: Die Vernunft „ist vermögend“ (δυνατόν), „alles zu denken“ (πάντα νοεῖν), aber „nichts von dem Seienden, das wirklich existiert, bevor sie denkt“ und nur „dem Vermögen [der Möglichkeit] nach die Formen“; sie ist der „νοῦς δυνάμει“.³³⁶ Wegen ihres unbegrenzten Denk- und Erkenntnispotentials kann sie nicht wie bestimmte Wahrnehmungsformen von bestimmten organischen Dispositionen und Gegenstandsbereichen abhängig oder auf diese begrenzt sein. Demnach ist sie „nicht mit dem Körper vermischt“, „leidensunfähig“, aber „aufnahmefähig“.³³⁷ Wenn wir dieses Vernunftvermögen gemäß der mittelalterlichen Tradition als intellectus possibilis bezeichnen, so soll damit ihr Möglichkeitszustand betont werden: Erstens hat sie „keine andere Natur“³³⁸ als denken und erkennen zu können; zweitens ist sie darauf angewiesen, in die Wirklichkeit des tätigen Denkens überführt zu werden. Drittens muss berücksichtigt werden, dass mögliches  De an. I 1, 402a3 f. u. 6 f. – Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten der Intellekttheorie, der Forschungsliteratur und der Rezeptionsgeschichte kann hier nicht geleistet werden.  Vgl. De an. III 4, 429a23.  De an. III 4, 429a22, a18, a24, a29, b30 f. (Stellenangaben in Abfolge der Zitate).  De an. III 4, 429a24 f., a15 (Stellenangaben in Abfolge der Zitate). Mit dem Ausdruck ‚leidensunfähig’ wird das Vernunftvermögen von Entitäten, Zuständen oder Prozessen abgegrenzt, bei denen etwas durch etwas anderes ersetzt bzw. vergeht und folglich erlitten wird. Die Vernunft hingegen bewahrt oder erhält sich als Vernunft ganz unabhängig ihrer Inhalte und geht von dem Möglichkeits- bzw. Vermögenszustand in die Wirklichkeit bzw. Tätigkeit über (vgl. De an. II 5, 417b2– 6). Leidensunfähigkeit meint hier also Unaffizierbarkeit. Das Vernunftvermögen ist wegen seiner Unkörperlichkeit und im Unterschied zum Wahrnehmungsvermögen nicht von willkürlichen oder übermäßig intensiven Affektionen unabhängig (vgl. De an. III 4, 429a29-b5).  De an. III 4, 429a22.

126

7 Dimensionen des (menschlichen) Denkens

Denken, wenn es verwirklicht wird, nicht völlig von körperlichen Zuständen abgetrennt sein kann, da die Denkinhalte im abstrahierenden Rückgriff auf körperlich vermittelte „Vorstellungsbilder“³³⁹ gebildet werden. Das in dieser Weise verwirklichte Denken ist, weil es „nicht immer denkt“³⁴⁰ und folglich vergänglich ist, empirisch, fehlbar und kontingent. Unter dieser Rücksicht ist es am weitesten vom dem νόησις νοήσεως der Metaphysik entfernt, wobei jedoch zu differenzieren ist: Das Denkvermögen vermag, wenn es tätig ist, auch Unfehlbares, nämlich die ersten Prinzipien und die immateriellen primären Substanzen – das τί ἦν εἶναι – zu denken. Das in dieser Weise wirkliche Denken ist in dem „betrachtenden Wissen“ mit seinen gedachten Denkinhalten „identisch“ und in der Lage, sich selbst zu denken.³⁴¹ Die Angabe deckt sich mit den oben zitierten Aussagen aus Metaphysik Λ 7. In dieser Hinsicht ist menschliches Denken metaphysisches Denken; der νοῦς ist „die Form der Formen“.³⁴² Wie aber wird mögliches Denken zu wirklichem bzw. tätigem Denken? In der von Aristoteles vertretenen Hierarchie der Erkenntnisweisen können Wahrnehmungen und Vorstellungsbilder nicht von sich aus das Denken aktivieren, da jede Wahrnehmung oder Vorstellung bereits Denkprozesse und -inhalte, wie die ersten Prinzipien, voraussetzt, ohne die nichts wahrgenommen und vorgestellt werden könnte. Die Verwirklichung kann nur durch das Denken bzw. die Vernunft selbst, und zwar auch da,wo es um die empirische Ausrichtung geht, bewirkt werden.Von daher ist es durchaus sinnvoll, die Differenz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit oder Vermögen und Tätigkeit in das Denken selbst zu verlegen. Doch ist die konsistente Einordnung des tätigen Intellekts, wie er am Ende von Γ 5 dargestellt wird, nicht einfach. Aristoteles unterscheidet die wirkende Vernunft, „die alles bewirkt (πάντα ποιεῖν)“ – den νοῦς ποιητικός –, von der Vernunft, „die alles wird (πάντα γίνεσθαι)“ und zuletzt als „erleidende“ gekennzeichnet ist: dem νοῦς παθητικός.³⁴³ Der bewir-

 De an. III 7, 431a16 f., b2. Angemerkt sei nur, dass die θεωρία zugleich auch die höchste Form der Praxis, nämlich Weisheit und vollendetes Glück ist. Dieser eudämonische Akt der theoretischen Schau kommt unter Vorzeichen der temporalen Differenz Gott wie Mensch zu; vgl. dazu Schneider 2001.  De an. III 4, 230a5 f.  Vgl. De an. III 4, 430a2– 6; vgl.weiterhin 5, 430a19 f. Die Vernunft vermag sowohl Unfehlbares, das nicht teilbar ist – die Wesenserkenntnis (τί ἦν εἶναι) –, als auch in Gedanken Zusammengesetztes, das der Bivalenz von wahr oder falsch unterliegt, zu denken und zu erkennen; vgl. De an. III 6, 430a26 – 28; vgl. auch Met. XII 9, 1075a7 f., wo explizit von der „menschlichen Vernunft“ die Rede ist, die auf „Zusammengesetztes“ gerichtet ist.  De an. III 8, 432a2.  De an. III 5, 430a14 f. u. a24 f. Die wenigen Zeilen zu dieser Unterscheidung und dem wirkenden Intellekt sind ausgesprochen problematisch; so urteilte schon Theiler 61983, 142 über das

7.2 Systematisierung

127

kenden Vernunft – nach der mittelalterlichen Terminologie: dem intellectus agens – kommen alle Attribute zu, die auch den göttlichen Intellekt in der Metaphysik auszeichnen: Sie ist „abgetrennt“, „leidensunfähig“, „unvermischt“ und ihrer „Substanz nach Wirklichkeit“, vor allem aber ist sie, weil sie immer in wirklicher Tätigkeit denkt, „unsterblich und ewig“³⁴⁴. Die Tätigkeit dieses Denkens ist in seiner Abgetrenntheit immer schon über die empirische Gegenstandsbezogenheit hinaus, weil es nichts als die Wirklichkeit des Denkens ist und daher mit der göttlichen νόησις νοήσεως identisch. Allerdings ist diese Vernunft aufgrund ihrer Identität mit dem Absoluten keine menschliche mehr.³⁴⁵ Betrachten wir rückblickend noch einmal unter der Thematik unserer Untersuchung die Intellekttheorie in Γ 4– 5, so sind zwei Überlegungen anzustellen, von denen die erste als Kritik und die zweite als Plausibilisierungsversuch der Vernunftkonzeption zu lesen ist.

7.2 Systematisierung Aristoteles’ Intellekttheorie unterliegt seinem Systematisierungsanspruch. Die exponierte Einführung des intellectus agens ist der systematischen Anwendung der Fundamentaldifferenz ‚Möglichkeit/Vermögen‘ oder ‚Wirklichkeit/Tätigkeit‘ geschuldet. Denn ungeachtet der seit den ersten antiken Kommentaren gestellten Frage, ob nun der νοῦς δυνάμει aus III 4 mit dem νοῦς παθητικός aus III 5 identisch ist oder nicht, gilt für beide, dass sie wesentlich durch den Möglichkeitsbegriff in Kombination mit dem Indefinitpronomen ‚alles‘ bestimmt sind. Sie lassen sich unter die Potentialitätsformulierung fassen: – Für den νοῦς δυνάμει ist es möglich, alles zu denken. – Für den νοῦς παθητικός ist es möglich, alles zu werden. Die Formulierung macht deutlich, dass beide Intellekte wie ein unbegrenzter Raum des Möglichen oder ein unendlicher Möglichkeitshorizont zu verstehen

Kapitel III 5, es sei „wegen seiner Dunkelheit und übermäßigen Kürze berüchtigt“. Die Bezeichnungen νοῦς ποιητικός und νοῦς παθητικός sind bekanntlich nicht von Aristoteles selbst, sondern von den spätantiken Kommentatoren gebildet worden.Wedin 1988, 77 sieht in der Unterscheidung eine Strukturbeschreibung der νοῦς-Funktionen. Vgl. immer noch repräsentativ für die Auseinandersetzung mit De anima Nussbaum/Rorty 1992.  De an. III 5, 430a17 f., a23.  Umgekehrt lässt sich sagen, dass die wirkende Vernunft das Göttliche im Menschen ist. Dennoch bleibt das Problem bestehen: Mit diesem Vernunftbegriff steht die individuelle Unsterblichkeit in Frage; ein Skandalon nicht nur für die mittelalterliche Theologie.

128

7 Dimensionen des (menschlichen) Denkens

sind, in dem bzw. vor dem sie ihre Leistung entfalten. Ihnen ist potentiell nichts äußerlich, und sie sind insofern unbegrenzt, aber die Allheit des Denkbaren muss erst aktualisiert werden. Für die zentrale Differenz zwischen bewirkender und erleidender Vernunft führt Aristoteles zu Beginn von Kapitel III 5 noch einmal die fundamentale Unterscheidung von δύναμις-ἐνέργεια an. Da es aber, wie in der gesamten Natur, einerseits die Materie für jede Gattung gibt – und sie ist das,was alles jenes (Natürliche) dem Vermögen nach ist –, andererseits aber die Ursache und das Wirkende …, so gibt es diese Unterschiede notwendig auch in der Seele.³⁴⁶

Wir brauchen an dieser Stelle nur synonym für ‚Ursache‘ ‚Wirklichkeit‘ oder ‚Tätigkeit‘ einsetzen, um zu verdeutlichen, dass die Fundamentaldifferenz auch für das menschliche Denken gilt und es in einer letzten reinen Wirklichkeit begründet. Dieser Geltungsanspruch führt zur Etablierung einer Vernunft, die zwangsläufig nicht mehr menschlich und unter dem Vorzeichen des Vermögens oder der Möglichkeit bestimmt sein darf. Die Schwierigkeit dieser Konzeption hat ihren Grund in dem metaphysischen Primat der reinen ἐνέργεια, den Aristoteles als unbedingtes Prinzip in seine Intellekttheorie einführt, um auch hier die δύναμις zu dominieren. Wie die Argumentation in der Metaphysik Λ zeigte, kann diese ewige Wirklichkeit des Denkens nur in der Form des absoluten noetischen Selbstbezugs bestimmt sein, der, wie Aristoteles abschließend in De anima noch einmal betont, abgetrennt von jedem empirisch bestimmten Denkvermögen ist. Da das Attribut der ‚Abgetrenntheit‘ ontologisch zu verstehen ist, stellen sich in Bezug auf die Konsistenz der Theorie zwei Fragen: Wie ist das Verhältnis zwischen der wirkenden Vernunft, insofern sie göttlich ist, und der erleidenden im Menschen genauer zu bestimmen? Wie lassen sich zwei voneinander unterschiedene Intellekte in der Seele mit der Vorstellung von einer noetischen Einheit verbinden? Aus systematischer Perspektive ist die Unterteilung des νοῦς in zwei Intellekte irritierend. Aber ist es umgekehrt sinnvoller, von zwei Zuständen oder Weisen des Denkens zu sprechen, in denen sich die Vernunft selbst aus der Möglichkeit oder ihrem Vermögen in die Wirklichkeit oder Tätigkeit ihres Denkens bringt? Nach diesem Vorschlag wäre sie, um die berühmte Metapher aus De anima aufzugreifen, als möglicher Intellekt die „Schreibtafel“³⁴⁷, die sich als tätiger Intellekt mit ihren Denkinhalten selbst beschreibt.

 De an. III 5, 430a10 – 14.  De an. III 4, 430a4 f. Ein alternativer Interpretationsvorschlag lässt sich unter Anwendung des Vermögensbegriffs in der Weise formulieren, dass die Vernunft nicht nur passive, sondern zugleich auch aktive δύναμις ist. In Metaphysik Δ 15 erklärt Aristoteles das korrelative Verhältnis zwischen

7.3 Kontingenzausschluss

129

Wir wollen an dieser Stelle die Fragen zur Systematisierung nicht weiter verfolgen, sondern sie als eine Zuspitzung der Problematik verstanden wissen.³⁴⁸ Wenden wir uns nun der zweiten Überlegung zu, die im Unterschied zur ersten die Konsistenz des bewirkenden Intellekts und seiner besonderen Auszeichnungen vertritt.

7.3 Kontingenzausschluss Die Einführung des ewig tätigen Intellekts ist im Rückblick auf die noetische Bestimmung des unbewegten Bewegenden durchaus sinnvoll. Wenn das erste Prinzip in einer von Kontingenz geprägten Welt neben den immateriellen Substanzen der einzige Garant für Prozesskontinuität und Erhalt der Ordnung ist, muss dies in analoger Weise auch in Bezug auf die menschliche Vernunft gelten, die weder immer denkt noch alles, was sie denken kann, aktual denkt. Ihre Kontingenz muss durch die noetische Notwendigkeit der ewig tätigen Vernunft in der Weise begrenzt sein, dass bloßes Nicht-Denken unmöglich ist und kontingente Denkinhalte wie -aktivitäten durch ein nicht kontingentes Prinzip abgesichert sind. Dafür, dass der intellectus agens nicht menschlich und damit auch nicht individuell ist, lassen sich zwei Gründe anführen: Erstens kann er als universelles Prinzip, das den intellectus possibilis und letztlich jeden menschlichen intellectus possibilis aktiviert, nicht mit seiner jeweiligen Instantiierung identisch und zeitlich begrenzt sein; er muss demnach nicht menschlich und nicht individualisiert gedacht werden.³⁴⁹ Zweitens ist er mit „dem Bewirkenden (ποιητικά) und dem Leidenden (παθητικά)“ – Begriffe, die in der Intellekttheorie zentral sind – durch das „bewirkende und leidende Vermögen“ (insgesamt Met. V 15, 1021a15 – 19). Zum Beispiel ist das, was die Fähigkeit zu erwärmen hat, gegenüber dem, was erwärmt werden kann, das tätige Vermögen; wenn es aber nicht aktiv ist, bleibt auch sein Korrelat unverwirklicht. Übertragen auf die Vernunft bedeutet das: Das Denken bleibt mögliches Denken, so lange wie Denken als bewirkendes Vermögen nicht aktiv ist und sich auf sich selbst als leidendes, genauer: aufnahmefähiges Denken, das alles werden kann, bezieht. Ein derartiger Ansatz betont, da eine ewige Tätigkeit des Denkens keine Berücksichtigung findet, die empirische Ausrichtung der aristotelischen Vernunft.  So ist auch die Interpretation in Frage zu stellen, die, wie z. B. Perler 1996, 347 u. 355, die Seele lediglich als einen „nichtreduzierbaren Aspekt des natürlichen Körpers“ verstanden wissen will. Diese Angleichung passt nicht zu den Substanzkriterien des εἶδος: Selbständigkeit und Abgetrenntheit.  Zudem, so ist mit Bezug auf eine frühere Textstelle in De anima zu ergänzen, hat jedes Lebewesen auf seine spezifische Art an dem Ewigen und Göttlichen Anteil. Das Spezifikum des Menschen ist – allerdings unter der Perspektive der Gattung – die Vernunft. Als solche ist sie nicht individuell, sondern Wesensbestimmung des Menschen, insofern er Teil der Menschheit ist, und

130

7 Dimensionen des (menschlichen) Denkens

der νόησις νοήσεως aus Metaphysik Λ identisch, weil er die notwendigen Prinzipien, die für keine endliche Vernunft beliebig sind und universell-ontische Relevanz haben, überindividuell gewährleistet. Der tätige Intellekt in De anima sichert die metaphysische Normativität: Erste Prinzipien, wie der NWS und der SAD, die von der menschlichen Vernunft zwar induktiv erschlossen werden, aber nicht empirischen Ursprungs sind, können nicht nicht wirklich sein, ganz unabhängig davon, ob sie von einer kontingenten menschlichen Vernunft gedacht werden. Gleiches gilt für die Formen, die, ganz unabhängig davon, ob der intellectus possibilis alle und auf korrekte Weise erkennt, in nicht kontingenter Weise bestehen. So argumentiert ist der intellectus agens notwendig etwas Göttliches im Menschen, damit menschliche Vernunft überhaupt Notwendiges denken kann.³⁵⁰ Im Folgenden werden wir die Tätigkeit des menschlichen Denkens eingehender betrachten. Dabei soll in Anknüpfung an den Begriff der primären Substanz oder der Form, wie er zu Beginn unserer Substanzanalyse thematisiert wurde, die Arbeitsweise der Vernunft in Bezug auf das Definitionsverfahren für das τί ἦν εἶναι untersucht werden. Leitend sind auch hierbei das systematische Interesse an der Funktion des Möglichkeitsbegriffs und die Frage, inwieweit dessen Semantik zur Lösung der Definitionsproblematik und zur Erklärung von Denkprozessen beiträgt.

7.4 Menschliches Denken: Begriffsteleologie und Möglichkeitsstrukturen Menschliches Denken, insofern es sich über Vorstellungsbilder und Abstraktionen auf die Realität des prozessualen Seienden bezieht, ist empirisches Denken. Nicht nur der noetische Status ist, da die Vernunft nicht ewig denkt, kontingent, sondern auch ein Großteil der Gegenstandsbezüge ist es aufgrund des Prozesscharakters alles Seienden und der Standortbestimmung des jeweiligen Denkenden; nicht alle Menschen denken notwendig dieselben Inhalte. Gleichwohl wird gerade deswegen auch Notwendiges, insofern es gedacht wird, notwendigerweise gedacht: die ersten Prinzipien und die primären Substanzen. Letztere sind in den Wesensde-

ewig (vgl. De an. II 4, 415a28-b7). Freilich kann dieses Argument auch auf die mögliche Vernunft beschränkt werden; auch ist die Wesensbestimmung der Art zwar überindividuell, aber nicht nicht-menschlich –, letzteres wäre ein Widerspruch in sich.  Vgl. De an. I 4, 409b29.

7.4 Menschliches Denken: Begriffsteleologie und Möglichkeitsstrukturen

131

finitionen, die das τί ἦν εἶναι einer Sache zum Ausdruck bringen, erfasst.³⁵¹ Aber insofern die Definition eine semantisch komplexe Einheit (ein Satz) ist, die aus sprachlichen Teilen besteht und der Form nach etwas von etwas anderem aussagt³⁵², stellt sich zugleich die Frage, wie diese zusammengesetzte Einheit die primäre Substanz, die gerade nicht von etwas anderem ausgesagt wird und eine einfache Einheit sein soll, adäquat darstellen kann, oder ob die Einheit der Substanz nicht doch eine zusammengesetzte ist.

7.4.1 Dihairesis als Begriffsteleologie Die Frage [ist], wodurch dasjenige wohl eine Einheit ist, von dessen Begriff (λόγος) wir sagen, es ist seine Definition, zum Beispiel beim Menschen ‚zweifüßiges Lebewesen‘ – denn das mag seine Bestimmung sein –, wodurch ist dieses Eines und nicht Vieles, nämlich Lebewesen und Zweifüßigkeit?³⁵³

Die Frage verdeutlicht, wie sich das für die Metaphysik zentrale Einheitsproblem auf begrifflich-definitorischer und ontologischer Seite stellt. Während wir die usiologische Ausrichtung bereits in den ersten Kapiteln als Spannungsverhältnis zwischen εἶδος und σύνολον verfolgten, geht es nun um die Einheit der Definition in Abhängigkeit von der zu definierenden Substanz.³⁵⁴ In Buch Ζ 10 führt Aristoteles die komplementären Seiten des Problems in der Annahme zusammen, dass, wenn die Definitionsteile den Teilen des Definierten entsprächen, die Substanz selbst über Teile verfügen müsse, und zwar so, dass ihre Teile durch die

 „Denn die Wesendefinition ist ein Begriff mit einer bestimmten Einheit, so dass sie der Begriff von etwas mit einer bestimmten Einheit sein muss, denn die Substanz bedeutet ja ein bestimmtes Dies, wie wir behaupten.“ Met. 1037b25 – 27; vgl. auch Top. I 5, 101b38.  Vgl. Met. VIII 3, 10543b30 – 32.  Met.VII 12, 1037b11– 13. „Was ist die Ursache, dass sie [sic die Definitionen] eines sind? … Was ist es nun also, das den Menschen zu einem macht? Wodurch ist er eine Einheit und nicht Vieles, zum Beispiel Lebewesen und Zweifüßiges, zumal dann, wenn, wie manche behaupten, es ein Lebewesen selbst und ein Zweifüßiges selbst gibt?“ Met. VIII 6, 1045a8 u. a14– 17.  Vgl. auch Kap. 1.3.1 Im Vergleich mit unseren ersten Analysen der Subtanzontologie liegt somit keine völlig neue Frage vor, sondern vielmehr ein Wechsel der Perspektive auf dasselbe Problem. Denn ob die zu definierende Substanz das εἶδος oder das σύνολον meint, macht einen wesentlichen Aspekt der Schwierigkeiten im Rahmen der Einheitsfrage aus. So ist schon ‚Lebewesen’ ambivalent und kann sowohl das εἶδος als auch das σύνολον bezeichnen; vgl. Met. VIII 3, 1043a29 – 35. In der Forschung wird daher immer wieder, zumal Aristoteles auch Definitionen von zusammengesetzten Substanzen nennt, die Ausführung in Η 6 der Erörterung in Ζ 12 vorgezogen.

132

7 Dimensionen des (menschlichen) Denkens

der Definition definiert würden.³⁵⁵ Das Isomorphieverhältnis zwischen semantischer und ontischer Einheit erfordert einen Definitionsbegriff, bei dem die Teile der Definition wesentlich die zu definierende Einheit der Form selbst ausmachen und, um deren Einfachheit zu erfassen, maximal reduziert sein müssen. Aristoteles wählt in Buch Ζ 12 bekanntlich die dihairetische Definition. Die Dihairesis zählt neben anderen möglichen Weisen zum Grundinstrumentarium des Denkens. Wenn daher im Weiteren genauer auf die Funktion des Möglichkeitsbegriffs für die Definitionsbildung eingegangen wird, so geschieht dies auch in Bezug auf die Frage, wie Denken denkt, wenn es Begriffe denkt. Orientieren wir uns für unsere Analyse an dem Beispiel ‚zweifüßiges Lebewesen‘, das er für die Wesensdefinition des Menschen wählt.³⁵⁶ Für die begrifflich-definitorische Seite sind die in Frage stehenden Definitionsteile zum einen die Gattung oder der Gattungsbegriff ‚Lebewesen‘, der alle Lebewesen klassifiziert, und die spezifische Differenz oder der Unterscheidungsbegriff ‚Zweifüßigkeit‘. Ihnen korrespondiert auf ontischer Seite alles, was durch seine immanente Form ein zweifüßiges Lebewesen ist, wobei hinreichend klar ist, dass erst die Form die Art der ‚zweifüßigen Lebewesen‘ und deren Instantiierungen konstituiert. Die Definition ist ontologisch fundiert. Gleichwohl geht es um die intensionale Eigenständigkeit des Begriffs, der das εἶδος angibt. So ist die Intension von ‚Mensch‘ eindeutig als ‚zweifüßiges Lebewesen‘ für die Form des Menschen definiert, und für jedes Individuum dieser Art gilt, dass es ‚dieses Einzelne von dieser Art ist‘, mithin die Extension bildet. Die Dihairesis umfasst den gesamten Prozess des Differenzierens, der im Ausgang von einer „ersten Gattung“ (πρῶτον γένος) in dichotomischen Unterscheidungen auf eine „letzte“ (τελευταία διαφορά) oder „unteilbare Differenz“ (ἀδιάφορα)³⁵⁷ zurückführt. Die Zwischendifferenzierungen bestimmen, auch wenn sie am Ende, wie noch zu erklären ist, zu vernachlässigen sind, die Komplexität der Abgrenzung von anderen Seienden derselben Gattung und somit die Einheit der definierenden Form. Die letzte Differenz ist die Wesensdefinition und die primäre Substanz: ἀδιάφορα und ἄτομον εἶδος sind dasselbe:

 Vgl. Met. VII 10, 1034b20 – 24; vgl. auch Mesch 1996, 135 – 156. Gegen Frede/Patzig 1998/II, 223 f., 230 ist daher zu betonen, dass auch die Einheit des Definierten von Aristoteles berücksichtigt wird.  Das Definitionsbeispiel kann nur Anschauungscharakter haben, so widerspricht schon die maßgebliche Differenz ‚Zweifüßigkeit’ der strengen Forderung nach Immaterialität des zu definierenden εἶδος.  Met. VII 12, 1037b30 für „erste Gattung“; 1038a29 u. 36 für „letzte Unterschied“; Met. VII 12, 1038a16 für „unteilbare Differenz“; vgl. 1037b30 – 38a4 für die Zwischendifferenzierungen.

7.4 Menschliches Denken: Begriffsteleologie und Möglichkeitsstrukturen

133

Wenn sich das nun so verhält, ist offensichtlich, dass der letzte Unterschied die Substanz der Sache und die Differenz sein muss, da man in den Definitionen ja nicht oft dasselbe sagen soll, denn das ist überflüssig… Wenn sich demnach vom Unterschied ein Unterschied ergibt, so muss der eine letzte die Form und die Substanz sein …³⁵⁸

Bei der Differenzierung kommt vor allem der Gattung eine wichtige Rolle zu. Sie darf, um sowohl einen infiniten Unterscheidungsprogress als auch eine begriffliche Indifferenz in der Definitionseinheit zu vermeiden, nicht als selbständig gedacht werden. Wäre sie eine Substanz, bildete sie mit den Differenzen entweder eine nur akzidentelle Einheit und ihr kämen die entgegengesetzten Differenzen zugleich zu oder „alle“ möglichen Differenzen wären ihr immanent und eines; damit aber wäre die Position des Anaxagoras gleichsam im Kernland der Metaphysik realisiert.³⁵⁹ Wie ist also das Verhältnis von Gattung und Differenz zu denken, damit diese Gefahr ausgeschlossen wird? Wenn nun die Gattung nicht schlechthin neben den Formen der Gattung ist, oder wenn sie es ist, aber als Materie – denn der gesprochene Laut ist Gattung und Materie, während die Unterschiede die Formen, und zwar die einzelnen Buchstaben aus diesem [sc. Laut] bilden –, dann ist es offensichtlich, dass die Definition der aus den Unterschieden [durch Dihairesis] gebildete Begriff (λόγος) ist.³⁶⁰

Der Bezug zur Materie dient an dieser Stelle nicht bloß der Veranschaulichung, sondern der Beantwortung des gestellten Problems.³⁶¹ Die zentralen Merkmale der ὕλη – von sich aus passiv, indefinit, notwendig relational zur Form – kommen der Analogie nach auch dem γένος zu. Der hier angebrachte Vergleich mit der Lautbildung ist zwar hinreichend klar, bedarf aber mit Blick auf unsere weiteren Überlegungen der genaueren Darstellung: Gattung und Differenzen bzw. Unter-

 Met. VII 12, 1038a18 – 26.  Vgl. für die Argumentation Met. VII 12, 1037a14– 24; „alle“ in 1037b24; vgl. zur Entwicklung des Gattungsbegriffs bei Aristoteles Granger 1992.  Met. VII 12, 1038a5 – 9. Um den Vergleichscharakter zu betonen, kann auch mit ‚wie Materie’ übersetzt werden. Der Gattung kommt keine selbständige Existenz neben den Formen zu; vgl. so u. a. Tricot 1966, 421; Reale 1968, 621; Happ 1971, 639. Vgl. für weitere Stellen, in den Aristoteles Materie und Gattung vergleicht oder identifiziert: Met.VIII 6, 1045a22– 25; De gen. et corr. I 7, 324b8.  „Es gibt geistig erfassbare [denkbare] und wahrnehmbare Materie, und vom Begriff ist stets das eine Materie, das andere Wirklichkeit …“ Met.VIII 6, 1045a34 f.Vgl. Steinfath 1996, 235 sieht in dem Vergleich zwischen Gattung mit Materie „keine eigenständige argumentative Funktion“; dieser diene nur zur Veranschauung der Ausdifferenzierung. Allerdings ist eine Veranschaulichung bereits ein Argumentationsmittel. Ganz anders hingegen z. B. Rorty 1973, 403 f., der meint, dass sich der Gattungsbegriff wörtlich auf die reale Materie beziehe und die Form dadurch definiert werde. Diese Interpretation missachtet freilich das Immaterialitäts-Merkmal des εἶδος und die prinzipielle Unterscheidung von der ὕλη. Vgl. zur Kritik an Rorty Hübner 2000, 305.

134

7 Dimensionen des (menschlichen) Denkens

schiede verhalten sich zueinander wie das Lautvolumen (= Materie) – oder die Stimme (φωνή) – und die artikulatorischen Merkmale der Buchstaben (= Formen). So wie es keinen artikulierten Laut ohne artikulatorisches Merkmal und entsprechenden Buchstaben gibt (z. B. Labial für ‚m‘; Dental für ‚f‘), existiert auch keine Gattung ohne Differenz. Wie ein Buchstabe einen Laut und eine Buchstabenfolge ein Wort strukturiert, so unterteilen die Differenzen die Gattung bis in eine letzte Differenz, die als Definition in einem Begriff angegeben werden kann. Der phonetische Verweis macht also zwei Aspekte deutlich: Erstens hat die Gattung keine eigenständige Existenz, sondern besteht wie der gesprochene Laut allein in Bezug auf oder durch seine Differenzen. Auf ontologischer Seite wird sie durch gegensätzliche Differenzen in substantiell verschiedene Arten unterschieden, und obwohl diese Unterscheidungen zur selben Gattung gehören, ist die Gattung, wie schon gesagt, nicht mit ihnen identisch. Für Aristoteles gibt es weder ein an sich existierendes Lebewesen ohne jede Formbestimmung noch einen von jeder Unterscheidung abgetrennten Gattungsbegriff.³⁶² Auf begrifflich-definitorischer Seite gibt zwar der Terminus ‚Lebewesen‘ eine für die Substanz erste grundlegende Antwort – nämlich: Lebewesen sein –, aber er tut es auf unbestimmte Weise. So macht er keine spezifizierende Aussage, und die Anwendung der eidetischen Definitionsformel ‚Was es für das einzelne Lebewesen heißt, dies (Lebewesen) zu sein’ oder ‚Was es für ein Einzelnes immer schon heißt, dies Einzelne von dieser Gattung zu sein‘ führt beim reinen Gattungsbegriff zu der tautologischen Bestimmung ‚Ein Lebewesen ist ein lebendiges Lebewesen‘. Wir können in Bezug auf De anima II 2 einwenden, dass sich die Gattung der Lebewesen sehr wohl definieren lässt, und zwar als ein zumindest dem Tastsinn nach ‚wahrnehmungsfähiges Seiendes‘.³⁶³ Damit ist eine Antwort auf das τί ἐστι, die ‚Was-etwas-ist‘-Frage der Definition gegeben. Freilich ist mit ‚Wahrnehmungsfähigkeit‘ schon eine erste Differenz angegeben und ein Seiendes gemeint, das der Möglichkeit nach genauer spezifiziert werden muss: ‚In welcher Weise oder als was ist dieses Lebewesen wahrnehmungsfähig?‘. Zweitens zeigt das Beispiel der Lautbildung, dass die Definition wie bei der Artikulationsstruktur eines Wortes das Ergebnis einer Genese ist, bei der die Differenzierung erst zusammen mit allen gattungsimmanenten Differenzen die Einheit bildet. Daher verwende ich synonym für den Begriff der Dihairesis den der definitorischen Genese und verbinde damit die These, dass dieser Definitionstypus eine Begriffsteleologie, mithin eine Konzeption von Begriffsbildung darstellt,

 Vgl. Met. VIII 6, 1045a16 f.  De an II 2, 413b2 u. 4 f.

7.4 Menschliches Denken: Begriffsteleologie und Möglichkeitsstrukturen

135

die eine definite Intension und Extension nicht von Anfang hat, sondern erst verwirklichen muss. Aristoteles führt, indem er die Gattung mit der Materie vergleicht, per definitionem den Vermögensbegriff und die Möglichkeitssemantik zur Lösung des Einheitsproblems ein. Auch wenn die Begriffe δύναμις und ἐνέργεια nicht in Buch Z 12, sondern erst in Η 6 mit der Definitionsfrage in Verbindung gebracht werden, lässt sich bereits in dem früheren Kapitel das Verhältnis von Gattung und Differenz wie das von Vermögen-Wirklichkeit denken. Vor dem Hintergrund unserer Analyseergebnisse insbesondere zum Vermögensbegriff und der Analogie zur Materie können wir die Gattung und ihr Verhältnis zur Differenz nun weiterführend bestimmen. Hierbei folgt die Darstellung dem dihairetischen Verlauf; ein Verlauf, der, wie gesagt, ein Begriffstelos realisiert.

7.4.1.1 Anfang Der erste Gattungsbegriff hat, wie das Beispiel ‚Lebewesen‘ zeigt, eine weit gefasste Extension und eine weitgehend unbestimmte Intension. Am Anfang der Dihairesis sind alle möglichen, noch ausstehenden Differenzierungen von ihm aus zu denken, und zwar so, dass sie gemäß der einseitigen Möglichkeit widerspruchsfrei realisiert werden können. Zudem ist das γένος das Ununterschiedene, da es am Anfang alle Unterscheidungen oder Entgegensetzungen der Möglichkeit nach, und zwar im Sinn der Potentialität, nicht aber realiter umfasst. Thomas Buchheim hat daher die Gattung „das Feld der noch unentschiedenen Verzweigungen“ genannt und sich von H. Grangers Bezeichnung der Gattung als „unbestimmte Potentialität“ abgegrenzt.³⁶⁴ Meiner Einschätzung nach ist Grangers Deutung mit Einschränkung sinnvoll und durchaus mit Buchheims Deutung vereinbar, wenn ‚Unbestimmtheit‘ hinreichend eingegrenzt wird. Grangers Formulierung ist in dieser Hinsicht zu offen. Erstens ist die Gattung nicht völlig unbestimmt, und zweitens impliziert Potentialität schon von sich her Indefinitheit. Granger können wir insofern zustimmen, als die ‚unentschiedenen Verzweigungen‘ vor der Differenzierung potentiell angelegt sind. Sie lassen sich in der Weise der potentiellen Prädikation von der Gattung aussagen: Unter der Potentialitäts-Voraussetzung, dass die Gattung ‚Lebewesen‘ bis in den letzten Unterschied differenziert werden kann, ist sie auch als Subjekt in den Formulierungen ‚Ein Lebewesen ist der Möglichkeit nach (potentiell) ein Mensch‘ oder ‚Es ist für ein  Buchheim 1996, 110 grenzt sich damit von Grangers „unbestimmte[r] Potentialität“ ab (Granger 1992, bes. 79 – 84). Der Abgrenzung kann ich nur insoweit zustimmen, als der Ausdruck von Granger eine unnötige Zuspitzung ist. Die Gattung ist ja, wie dargestellt wurde, nicht unbestimmt. Ähnlich auch Rapp 1996, 176.

136

7 Dimensionen des (menschlichen) Denkens

Lebewesen möglich, Mensch zu sein oder nicht Mensch zu sein‘ zulässig. Damit zeigt sich, dass Aristoteles das Denken zwar an die Subjekt-Prädikat-Struktur bindet, es aber unter Anwendung der Möglichkeitssemantik nicht ausschließlich eine Substanz an die Subjektstelle setzen muss, sondern flexibel ist.

7.4.1.2 Verlauf Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen gilt, dass die „Ausdifferenzierung der Gattung“³⁶⁵ selbst eine Potentialitäts- und Possibilitätsstruktur hat. Zum einen müssen die einzelnen Differenzierungen ebenfalls widerspruchsfrei möglich sein; zum anderen muss jede realisierte Bestimmung selbst wieder das Vermögen haben, weiter unterschieden zu werden. Entsprechend ist jede erreichte Unterscheidung die jeweilige Gattung für die anschließende Unterscheidung, so dass alle Differenzen, die bis zur letzten für die Definition maßgebliche bestimmt werden müssen, auch als Gattungen1-n bezeichnet werden können.³⁶⁶ Indem diese Differenzen oder Gattungen unter dem modalen Vorzeichen der Potentialität gedacht werden, ist die Dihairesis der dynamische Prozess zunehmender Verwirklichung der von Beginn an potentiell angelegten Differenzen. In diesem Prozess wird immer nur eine Seite, genauer gesagt, ein Differenzierungsstrang der Dichotomie realisiert und weitergeführt – Aristoteles nennt das Verfahren „den Unterschied des Unterschieds zerlegen“³⁶⁷ –, während der andere Strang zwar gedacht, aber von dem weiteren Verlauf und der angestrebten Definition ausgeschlossen bleibt. Die Bildung der Definition ist durchaus vergleichbar mit dem Werden des prozessualen Seienden. Denn das Definiens befindet sich während der Differenzierung in einem ähnlichen Veränderungsvorgang wie eine konkrete Substanz und kann zumindest der Analogie nach auch ähnlich angesprochen werden: Es ist in Bezug auf die letzte Unterscheidung sowohl ein „unvollendetes Mögliches“ (ἀτελἐς τὸ δυνατόν) als auch eine „unvollendete Wirklichkeit“ (ἐνέργεια ἀτελἐς).³⁶⁸ Diese zusammenführende Betrachtung verweist aber auch auf Schwierigkeiten der dihairetischen Definition, die wir nach Darstellung des Gesamtverlaufs berücksichtigen werden.

   

Steinfath 1996, 235. Met. VII 12, 1037b30 – 33; vgl. auch Viertel 1982, 245, Fn. 1. Met. VII 12, 1038a9 f.; vgl. auch Cohen 1996, 117. Vgl. insgesamt Phys. III 2, 201b26 – 33.

7.4 Menschliches Denken: Begriffsteleologie und Möglichkeitsstrukturen

137

7.4.1.3 Ziel Wie schon gesagt hat die Dihairesis ihr Ziel in der Realisierung der Definition, die in der Form ontisch fundiert ist. Die Forderung nach der Einfachheit der Definitionseinheit und der maximalen Reduzierung ihrer Teile kann nun im Ergebnis mit dem dynamischen Verwirklichungsprozess eines Begriffs erklärt werden. Der Prozess ist zielgerichtet, weil das Verhältnis von Gattung und Form ein hierarchisches ist, das von der Potentialität und Unbestimmtheit zur Aktualität und Definitheit verläuft. Die durchführbaren Unterscheidungen, die zwischen einer ersten Gattung und einer letzten Differenz liegen, stehen unter dem Vorzeichen der unvollendeten Wirklichkeit; sie müssen, um das εἶδος in einem Begriff erfassen zu können, weiter spezifiziert werden.Vom Ende her gesehen sind sie zwar als Teile der definitorischen Genese notwendig, doch nur insofern sie als Durchgangsstadien zur Bildung des einen unteilbaren Unterschieds (ἀδιάφορα) fungieren, der das εἶδος begrifflich vollständig erfasst hat. Als Ziel des Verwirklichungsprozesses sind in der ἀδιάφορα gleichsam alle Differenzen eines Differenzierungsstrangs aufgehoben, genauer gesagt, in ihr als einer letzten Bestimmung verwirklicht. Ihre Wirklichkeit ist die „vollendete Differenz“ (διαφορὰ τελεία)³⁶⁹ und das ‚Ins-Ziel-gekommen-Sein‘ aller vorausgegangenen Differenzen, die aus rückblickender Sicht klar determiniert erscheinen. Es gibt keine weiteren Teile, die in der Definition anzugeben wären, weil keines der vorausgegangen Teile eine neue Information gegenüber der letzten Differenz erbringt. Die Angabe alle übrigen Differenzen wäre schlicht redundant.³⁷⁰ Aristoteles bezeichnet die letzte Differenz auch als das „Anderssein“ der Gattung, was diese selbst zu einem anderen mache. Dieses Anderswerden realisiert sich durch den Prozess, in dem ‚Lebewesen‘ bis zur letzten Unterscheidung fortlaufend bestimmt wird und schließlich im Gegensatz zum Anfang eine spezifische Einheit ist, so sei z. B. für Mensch und Pferd die Bestimmung ‚Lebewesen‘ je etwas anderes.³⁷¹ Das Anderswerden der Gattung ist auch über die Möglichkeitssemantik zu erklären: Für die erste Gattung trifft zu, dass sie das, was sie ihrer Potentialität nach im ‚Feld der noch unentschiedenen Verzweigungen‘ alles sein kann, am Ende eines Differenzierungsdurchgangs auch ist, allerdings nur in der

 Met. X 8, 1058a11.  „Aber eine Wiederholung ergibt sich ja; wenn man nämlich ‚befußtes zweifüßiges Lebewesen’ sagt, so hat man nichts anderes gesagt als ‚Lebewesen, welches Füße hat, welches zwei Füße hat’; und wenn man das durch die eigentümliche Zerlegung weiter zerlegt, so wird man es oft sagen, nämlich so oft, wie Unterschiede da sind.“ Met. VII 12, 1038a21– 23.  Vgl. Met. X 8, 1058a2– 8, hier: 7; vgl. auch Viertel 1982, 247; vgl. für eine berechtigte Kritik der strikten Abtrennung der Arten unter Einbeziehung evolutionstheoretischer Hinweise: Steinfath 1996, 236 f.

138

7 Dimensionen des (menschlichen) Denkens

jeweils spezifischen Wirklichkeit einer letzten Differenz. In ihr sind nicht alle möglichen Verzweigungen, sondern nur jene, die für die jeweilige Substanz relevant sind, differenziert.³⁷² Der zielgerichtete Prozess überführt ein der Gattung nach potentielles τί ἦν εἶναι in ein der primären Substanz entsprechendes aktuelles τί ἦν εἶναι. Insofern ist der erste Gattungsbegriff bereits die letzte Differenz, freilich nur der Möglichkeit nach: „Er ist ein Wesensbegriff, aber nicht der aktuelle, sondern der potentielle.“³⁷³ Wie das Dispositionsattribut ‚unteilbar‘ anzeigt, kann die ἀδιάφορα nicht noch einmal differenziert werden. Sie hat kein Unterscheidungspotential, das die zu definierende Form genauer spezifizierte; vielmehr würde eine weitere Unterscheidung die primäre Substanz verfehlen. Ihre Wirklichkeit ist die maximale begriffliche Bestimmtheit des ἄτομον εἶδος, die die größtmögliche Extension bei größtmöglicher Intension angibt. Mit der Wirklichkeit der letzten Differenz erfüllt sich das Telos der Begriffsbildung; in ihr „kommt das Denken zum Stehen“³⁷⁴. ‚Mensch‘ ist die maximale Verwirklichung von ‚Lebewesen‘.

7.4.2 Schwierigkeiten Gehen wir im Anschluss auf die Schwierigkeiten der Definitionskonzeption ein.³⁷⁵ Die Darstellung der definitorischen Genese hat die Aprozessualität und Immaterialität des εἶδος bisher ausgespart. Sind diese zentralen Kriterien überhaupt mit der Deutung der Gattung als Materie sowie der Differenz als Form vereinbar? Widerspricht die aprozessuale Aktivität des zu definierenden εἶδος nicht der Potentialitätsstruktur des dihairetischen Verlaufs? Drei mögliche Antworten sind abzuwägen: 1 Der definitorischen Genese muss eine ontologische im Sinn der Selbstentfaltung oder Selbstverwirklichung des εἶδος korrespondieren. Dieser Ansatz widerspricht jedoch gänzlich den genannten Kriterien. Die Form wäre dann selbst ein Werdendes und ein Zusammengesetztes, was absurd wäre.³⁷⁶

 Vgl. Part. An. I 2– 4 (bes. 643b12– 14),wo Aristoteles ein Vorgehen, das von Anfang an mehrere Differenzierungen für eine Gattung durchführt, empfiehlt.  So zutreffend Liske 1985, 429, auch 430 u. 432.  De In. 16b20 f. Wenn Aristoteles in De Interpretatione mit Bezug auf die Nennwörter von dem ‚Zum-Stehen-Kommen’ des Denkens bei der „gemeinten Sache“ spricht, so gilt dies in besonderem Maße und vorrangig von dem Wort, dessen Bedeutung ein τί ἦν εἶναι ist.  Bekanntlich wurde die Definitionskonzeption von Ζ 12 wiederholt kritisiert; vgl. für einen Überblick Steinfath 1996, 238 ff. und Hübner 2000, 276 ff.  So bereits schon Tugendhat 1958, 78.

7.4 Menschliches Denken: Begriffsteleologie und Möglichkeitsstrukturen

2

3

139

Das Werden vollzieht sich allein auf begrifflicher Ebene des Denkens und zeichnet für sich nach, was das εἶδος seiner ätiologischen Bestimmtheit nach immer schon war. In diesem Fall entspricht der definitorischen Genese keine ontologische, sondern die Dihairesis erklärt allein, wie das Denken zur definiten Aktualität der Form kommt. Diese Antwort ist unter der Voraussetzung, dass die primäre Substanz ihrer Definition vorgängig ist, plausibel. Dennoch muss das Denken in diesem Fall eine nachvollziehbare Genese des Seienden voraussetzen, durch die in derselben Gattung eine Art von einer anderen substantiell unterschieden wird. Die Form ist überhaupt nicht ohne Materie zu definieren,weil sie immer in und mit der Materie eine zusammengesetzte Einheit (σύνολον) verursacht. Sie ist daher, auch wenn sie selbst nicht Veränderungen ausgesetzt ist, notwendigerweise in einen materiellen Entstehungs- und Veränderungsprozess eingebunden. Das gilt in herausragender Weise für die von Aristoteles bevorzugte Einheit der natürlich entstehenden oder lebendigen Substanzen, die Lebewesen. Hier ist eine sinnvolle Abtrennung der Form von der Materie im Unterschied zu mathematisch und technisch hervorgebrachtem Seienden kaum möglich, so dass auch die Definition des εἶδος nicht ohne Bezug auf die ὕλη auskommt. Bei dem gewählten Beispiel ‚Zweifüßigkeit‘ für die Form ist das offensichtlich. Gleiches gilt aber auch für die Seele, wie deren Bestimmung in De anima und die Probleme bei der Verortung der Vernunft zeigen. Demnach korrespondiert der definitorischen Genese die ontische der zusammengesetzten Einheit. Allerdings kollidiert dieser Vorschlag, weil die Substanz über die prinzipielle Binnendifferenz von Form und Materie konstituiert ist, mit der geforderten Einfachheit der Definition: Statt der Verwirklichung eines potentiellen τί ἦν εἶναι geht es um die eines potentiellen σύνολον oder einer οὐσία αἰσθητή.

Einiges spricht dafür, die Schwierigkeiten in der Definitionsproblematik als Bestätigung für die Aporie zwischen den zwei Substanzeinheiten – εἶδος und σύνολον – zu sehen; berechtigt ist auch die Annahme, Aristoteles ist sich der durch die Analogisierung mit der Materie auftretenden Probleme möglicherweise nicht bewusst gewesen. Einerseits lässt sich die Einfachheit der Form nicht durch Hinzunahme der differenzeinschließenden Materie und deren Vermögen – auch Potentialität und Aktualität sind in ihrem Bezugsverhältnis notwendig different – definieren. Andererseits ist die zusammengesetzte Einheit der wahrnehmbaren Substanz im strengen Sinn nicht definierbar.

140

7 Dimensionen des (menschlichen) Denkens

Man kann daher die Dihairesis als unzureichendes Verfahren abtun und auf die intuitive Erkenntnis der immanenten Form verweisen.³⁷⁷ Der Vorschlag ist verlockend, löst aber das Problem nicht. Erstens ist auch dann die Frage nach dem Verhältnis zur Materie zu beantworten; zweitens gilt auch für diese Erkenntnisweise, dass sie ein implizit propositionales Wissen und in einer Definition aussagbar ist;³⁷⁸ drittens stellt sich die Frage, warum Aristoteles überhaupt die Dihairesis an zentraler Stelle der Metaphysik einbringt, wenn sie unwichtig ist. Um die vorgestellte Definitionskonzeption und die Funktion des Möglichkeitsbegriffs gegen die berechtigten Einwände stark zu machen, schlage ich einen Erklärungsansatz vor, der unter Wahrung der Immaterialität und Aprozessualität der Form die definitorische Genese mit der ontologischen verbindet. Dafür beziehe ich mit Einschränkung auf die zweite und dritte der vorgeschlagenen Antworten. Allerdings ist dieser Ansatz in Übereinstimmung mit Aristoteles auf die natürlich hervorgebrachten Substanzen der Lebewesen angewiesen: Die Form ist, weil sie Ursache, Ziel und Bewegungsgrund in sich vereint, von Anfang an in der Materie der lebendigen Substanzen tätig. So lebt ein Körper nur dann, wenn er vom ersten Moment an eine Seele hat, und zeugt ein Mensch nur dann einen Menschen, wenn die Form des Menschen dem Erzeugten ab dem Zeitpunkt der Zeugung immanent ist. Hierbei ist zu beachten: Das εἶδος ist auf die Weise immanent, dass seine persistierende Aktualität die Materie erst kontinuierlich von einfachen zu komplexen Strukturen einer zusammengesetzten Einheit gestalten bzw. verwirklichen kann. Daher kann ausschließlich im diachronen Sinn von einer ‚Ausdifferenzierung‘ der Form gesprochen werden.³⁷⁹ Aus diachroner Sicht ist zwar mit Existenzbeginn eines Seienden die Form als wesentliches Sein aktiv, aber nicht alles, was das wesentliche Sein bewirkt, ist auch unmittelbar simultan in der Materie für die zusammengesetzte Substanz realisiert. Das Werden

 Vgl. Met. VII 17, 1041b9 – 11 u. IX 10, 1051b17– 32.  Vgl. Liske 1985, 423 ff. Freilich ist damit nicht ausgeschlossen, dass es andere Arten des Definierens gibt.  Hübner 2000 erklärt in ähnlicher Weise das Werden der zu definierenden Formen von Lebewesen. Er prägt hierfür den Begriff der „generische[n] Form als vorläufige Stufe der spezifischen Form“, wobei der erste Terminus für die „psychischen Fakultäten“ als „Teile der Seele“ steht, die sich im organischen Werden ausbilden. Die „Ausdifferenzierung der Seele“ ist demnach die Genese zunehmender Spezifikation (307). Am Anfang des Werdens ist die generische Form am geringsten spezifiziert und mit der Gattung identisch. Übertragen auf die Einheit von Gattung und letzter Differenz heißt das, dass „die generische Form durch das Werden in die Differenz, d. h. die spezifische Form überführt wird“ (320). Problematisch scheint mir bei dieser Interpretation der Begriff der ‚generischen Form’ zu sein, insofern dadurch das εἶδος selbst einen Entwicklungsprozess durchläuft, um an Ende vollständig bestimmt zu sein. Das widerspricht jedoch seiner Unveränderlichkeit. Vgl. Liske 1985, 392.

7.4 Menschliches Denken: Begriffsteleologie und Möglichkeitsstrukturen

141

betrifft also nicht das εἶδος in seiner konstituierenden Prinzipwirklichkeit – das Prinzip selbst durchläuft keinen Verwirklichungsprozess –, sondern dessen kontinuierliche Wirkung in der sich entwickelnden οὐσία αἰσθητή, und dies trifft in herausragender Weise auf die Gattung der Lebewesen zu. Das Denken vollzieht nun, wenn es im Ausgang von einem Gattungsbegriff die Form definieren will, diesen diachronen Verwirklichungsprozess nach – oder rekonstruiert ihn durch begriffliche Analyse der dichotomischen Baumstruktur – und kann sich dabei, ohne in Widerspruch zu seinem Vorhaben zu kommen, an den materiell ausgeprägten nicht-akzidentellen Spezifizierungsmerkmalen orientieren, da alle derartigen Merkmale von der zu definierenden immanenten Form verursacht sind. Zusammenfassend gesagt: Es geht im dihairetischen Prozess um die Verwirklichung des τί ἦν εἶναι einer Sache, indem auf die Verwirklichung des σύνολον Bezug genommen wird. Die definitorische Genese expliziert auf begrifflicher Ebene die durch die Form verwirklichte Differenziertheit eines Seienden.

7.4.3 Denken als dynamische Einheit Das Differenzieren der Gattungen ist eine intellektive Tätigkeit. Es liegt daher nahe anzunehmen, dass die dihairetischen Potentitalitätsstrukturen auch für das Verständnis von intellektiven Prozessen von struktureller Bedeutung sind. Wenn Aristoteles „sämtliche Arten und ihre Gattung zusammen als eine strukturelle Einheit zu fassen bemüht“ ist³⁸⁰, kann das Denken, wenn es in Bezug auf seine Inhalte mit der Unterscheidung von γένος und διαφορά operiert, selbst als eine dynamische Einheit beschrieben werden. Dynamisch ist diese Einheit, insofern die Differenzierungen entweder noch nicht realisiert oder schon abgeschlossen sind oder gerade durchgeführt werden. Denk- und Erkenntnisprozesse lassen sich zu einem wesentllichen Teil als Vorgänge beschreiben, die zwischen der Potentialität intensional extrem unter- oder unbestimmter Begriffe und der Aktualität definitorisch vollständig bestimmter Begriffe ablaufen. So sind auch die „Widerfahrnisse“ und Gedanken „in unserer Seele“³⁸¹ zu einem Teil Inhalte des definitorischen Denkens, und zwar sowohl im Sinn von potentiellen, mithin relativ unbestimmten Bedeutungen, die erst noch zu verwirklichen sind oder verwirklicht werden – hier ist der Übergang von begriffslosem zu begrifflich exaktem Denken zu markieren –, als auch im Sinn von aktual vollständig definierten Bedeutungen.

 Buchheim 1996, 111.  De Int. 1, 16a7– 12.

142

7 Dimensionen des (menschlichen) Denkens

Aus Sicht der Dihairesis sind Gedanken Ausgangspunkte, Verzweigungspunkte und Ergebnisse von Bedeutungsgenesen, so dass die distinkte Einheit eines Gedankens die Einheit eines definierten Begriffs sein kann. Aufs Ganze der intellektiven Tätigkeit gesehen kann Dynamik als eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen bezeichnet werden, da Unterbestimmtheiten und Bestimmtheiten oder begriffliche Potentialitäten und Wirklichkeiten auf verschiedene Weisen in der Einheit des Denkens zugleich gegeben sind. Dabei kann die strukturelle Einheit aller Gattungen und Arten im Sinn einer vollständigen systematisierenden Begriffsordnung der Formen nur als mögliche Einheit intendiert werden. Indem das definitorische Denken während der Zergliederung jeweils die eine Möglichkeit der Entgegengesetzten realisiert und die andere ausschließt, muss es im Verlauf einer Dihairesis deren Possibilitäten prüfen und entscheiden,welche zu den anderen, bereits durchgeführten Differenzen in nichtwidersprüchlicher Weise realisiert werden kann. Aus der Vereinbarkeit oder Kompossibilität der in einem Differenzierungsstrang verwirklichten Differenzen ergibt sich am Ende die ἀδιάφορα, in der dann „das Denken zu Stehen kommt“.³⁸² Anders gewendet: Das Denken muss, bevor es entscheidet, die Bedeutungen beider Unterscheidungsmöglichkeiten wissen (z. B. befußt – nicht-befußt; zweifüßig – nicht-zweifüßig), um sich für eine entscheiden zu können. An jedem dihairetischen Verzweigungspunkt verhält sich das Denken, so lange es nicht eine von beiden Optionen realisiert, wie ein Widerspruchsmittleres: Es kann die erreichte Bestimmung sowohl in die eine als auch in die andere Verzweigung differenzieren, hat sich aber weder für die eine noch für die andere entschieden. Das erste Axiom des NWS ist dadurch nicht aufgehoben. Erstens werden die beiden differenten Bestimmungen nicht in derselben Hinsicht aktual als Widerspruch gedacht. Zweitens werden sie nicht aktual und zugleich als Entgegengesetzte für denselben Begriff in einem Definitionssatz behauptet, sondern in ihrer möglichen Vereinbarkeit mit den erreichten Bestimmungen geprüft, um eine von ihnen in den weiterführenden Verwirklichungsprozess des εἶδος-Begriffs aufzunehmen. Drittens ist das progredierende Denken – erinnert sei an den möglichen Intellekt, der alles werden kann – das Vermögen, welches die begrifflichen Entgegensetzungen selbst „hervorbringt“ (ποιεῖν).³⁸³ Auch hier ist die Beschreibung des Denkens als dynamische Einheit mittels der Unterscheidung von Potentialität und Aktualität sinnvoller Weise beizube De Int. 2, 16b20 f.  Vgl. Met. IX, 1046b18 – 24, hier: b18. Nur scheinbar wird dieser Aussage in 1048a8 – 10 widersprochen, dort geht es um das Hervorbringen in der Wirklichkeit des Seienden; vgl. zu dem Wissen aus und in Entgegensetzungen auch Met. IV 2, 1005a 3 – 5.

7.4 Menschliches Denken: Begriffsteleologie und Möglichkeitsstrukturen

143

halten: Der Möglichkeit nach ist das Denken alle Gegensätze, aber erst durch die Aktivität in Bezug auf das, was der zu definierende Fall bzw. die Form ist, werden die Entgegensetzungen in den Gattungen aktual differenziert und gewusst. Für das widerspruchsfreie Gelingen dihairetischer Denkakte müssen während des Prozesses die Axiome uneingeschränkt gültig sein. Gerade in der Genese beweist sich die fundamentale Stellung des NWS und des SAD, indem sie als logische Gesetze notwendig für die Hervorbringung der Gegensätze bzw. die ‚Ausdifferenzierung‘ der Gattung aktiv sein müssen und im Ergebnis die definitorische Bestimmtheit des τί ἦν εἶναι sichern.

7.4.4 Begriffstelos und Kontingenz Abschließend ist die These von der Begriffsteleologie mit der Potentialitätsstruktur der Dihairesis in Verbindung zu bringen. Die Wirklichkeit distinkter Wesensdefinitionen zielt auf eine klassifikatorisch systematisierende Begriffsordnung ab, die ontologisch durch die Formen fundiert ist. Aber inwiefern sind die Definitionen notwendig und immer wahr? Vom Ende eines korrekt durchlaufenen dihairetischen Prozesses her gesehen ist eine Definition zweifellos immer dann wahr, wenn das εἶδος erfasst wurde. Das hat jedoch zur Voraussetzung, dass alle erforderlichen vorausgegangenen Differenzierungen richtig durchgeführt bzw. gedacht wurden. Aufgrund der Potentialität, die der ersten Gattung und deren Ausdifferenzierung eigen ist, kann aber, so ist die weiterführende These zu formulieren, nicht prinzipiell ausgeschlossen werden, dass hierbei trotz der Methode, den Unterschied des Unterschieds im selben Differenzierungsstrang zu zerlegen, Fehler unterlaufen können. „Jede Art“ enthält zwar „in sich selbst den Gliederungsprozess zu einem determinierten Endpunkt“,³⁸⁴ aber diese Determination besteht zu Beginn der Ausdifferenzierung nur der Möglichkeit nach und wird unter Voraussetzung richtiger begrifflicher Zerlegung eintreten. Doch jeder Verzweigungspunkt markiert in dem Verwirklichungsprozess eine Alternative, von der gerade nicht mit strikter Notwendigkeit gesagt werden kann, dass immer in der richtigen Hinsicht unterschieden wird. Ein dihairetisch verfahrendes Denken, das im ‚Feld der noch unentschiedenen Verzweigungen‘ ein Begriffstelos realisieren will, kann sich der Möglichkeit nach bei einer ausstehenden Unterscheidung irren, auch wenn die Wahrscheinlichkeit des Irrtums gering ist und mit zunehmender Verwirklichung richtiger Bestimmungen sowie der Annäherung an die letzte Differenz abnimmt. Daher kann eine

 Buchheim 1996, 111.

144

7 Dimensionen des (menschlichen) Denkens

Wesendefinition, wenn sie ihr Ziel – die letzte Differenz – nicht oder inadäquat erreicht, falsch sein, und zwar unabhängig davon, dass es auf ontologischer Ebene notwendigerweise eine primäre Substanz mit dem τί ἦν εἶναι als ihre wahre begriffliche Bestimmtheit gibt. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann Kontingenz für die definitorische Verwirklichung eines Begriffstelos nicht prinzipiell ausgeschlossen werden. Damit ist die Eigenständigkeit des intensionalen Gehalts des Begriffs nicht in Frage gestellt, sondern die Möglichkeit zugestanden, dass es zwar einen Gehalt gibt, der aber nicht das wahre Wesenswas eines εἶδος erfasst. Das ändert nichts an der sprachpragmatischen Notwendigkeit der Eigenständigkeit der Begriffsbedeutung: Die einmal definierte Intension ‚zweifüßiges Lebewesen‘ für ‚Mensch‘ ist für uns notwendigerweise das begriffliche Sein für jedes reale Seiende, auf das es explikativ bezogen wird, und zwar auch dann, wenn diese Intension nicht wahr sein sollte. Am Ende müssen wir daher unsere zu Beginn des zweiten Teils (s. Theorie der Substanz) gemachte Aussage in bestimmter Hinsicht korrigieren: Primäre Substanzen sind ontologisch Notwendiges, aber ihre Definitionen haben wegen der Potentialitätsstruktur eine kontingenterweise notwendige Wahrheit.

II. Teil: Nikolaus von Kues

1 Die Epistemologie des Unendlichen 1.1 Die Methode des wissenden Nichtwissens „Als Schranke, Mangel wird etwas nur gewußt, ja empfunden, indem man zugleich darüber hinaus ist.“³⁸⁵

Gott ist, so ein auch von Cusanus vertretener Topos der mittelalterlichen Philosophie, unendlich, das Unendliche oder die Unendlichkeit (infinitum). Die Grundfrage nach der Erkennbarkeit Gottes lässt sich somit als Frage nach dem Unendlichen stellen: Wie kann das Unendliche als Unendliches gewusst werden, wenn es sich im Gegensatz zu den endlichen, begrenzten Erkenntnisgegenständen nicht durch die Forschungsweise des begrenzenden und begrenzten Vergleichens – wie es paradigmatisch in der Mathematik und den von ihr bestimmten Naturwissenschaften der Fall ist – ermitteln lässt?³⁸⁶ Das Unendliche – oder die unendliche Einheit – ist jeder Grenze transzendent und stellt damit selbst eine absolute Grenze dar, an der jedes vergleichende sich in Distinktionen bewegende Erkenntnisverfahren scheitert. Paradoxerweise ist also das Unendliche eine nicht-begrenzte oder eine unbegrenzte Grenze (interminus terminus).³⁸⁷ Wenn demnach eine Gotteserkenntnis angestrebt wird, ist die Grenze immer mitzudenken; wo dies nicht der Fall ist, verfängt sich theologisches Wissen in unaufgeklärten Einseitigkeiten oder in Dogmatismen, die ihre epistemischen Voraussetzungen nicht kennen. Das epistemologische Dilemma, das Unendliche wissen zu wollen und es nicht wissen zu können, lässt sich – so meine These – mit Hilfe des Möglichkeitsbegriffs in einer grundlegenden modalen Differenz fest-

 Hegel Enzykl. I § 60, 144, weiterhin: „Es ist daher nur Bewußtlosigkeit, nicht einzusehen, dass eben die Bezeichnung von etwas als einem Endlichen oder Beschränkten den Beweis von der wirklichen Gegenwart des Unendlichen, Unbeschränkten enthält, dass das Wissen von Grenze nur sein kann, insofern das Unbegrenzte diesseits im Bewußtsein ist.“ (Alte Rechtschreibung beibehalten.)  De doct. ign. I c. 1, 5 – 6, 14– 2: „Omnes autem investigantes in comparatione praesuppositi certi proportionabiliter incertum iudicant. Comparativa igitur est omnis inquisitio medio proportionis utens … uti haec in mathematicis nota sunt … Omnis igitur inquisitio in comparativa proportione facili vel difficili existit. Propter quod infinitum ut infinitum, cum omnem proportionem aufugiat, ignotum est.“  S. z. B. Apol. doct. ign. n. 12– 13, 10, 2 f.; De ven. sap. c. 26, n. 79, 76, 19; c. 27, n. 80, 76, 3 f.; 77, 9 f.; 77, 13 f. – Der interminus terminus ist einer der bedeutsamen Gottesbegriffe des Cusanus, der auf besondere Weise das Absolute sowohl unter dem Aspekt der Immanenz als auch unter dem der Transzendenz darzustellen erlaubt. Vgl. für eine luzide Interpretation dieses Begriffs Mojsisch 2004.

148

1 Die Epistemologie des Unendlichen

halten: Für die menschliche Erkenntnis ist es möglich, alles zu wissen, was relational bestimmt werden kann; unmöglich ist es, etwas zu wissen, was nicht relational bestimmt werden kann, also unendlich ist. Cusanus hat diese Unterscheidung in dem bekannten Satz von der prinzipiellen Disproportionalität des Unendlichen gegenüber dem Endlichen festgehalten: Quoniam ex se manifestum est infiniti ad finitum proportionem non esse, est et ex hoc clarissimum quod, ubi est reperire excedens et excessum, non deveniri ad maximum simpliciter, cum excedentia et excessa finita sint. Maximum vero tale necessario est infinitum.³⁸⁸

Entscheidend für die philosophische Position des Cusanus ist nun: Für ihn ergibt sich aus der Disproportionalität nicht der resignative Schluss, das Wissenwollen um das Unendliche aufzugeben, was mit der Aufgabe der philosophischen Theologie und von Wahrheit überhaupt gleichbedeutend wäre, sondern die epistemologische Forderung, ein Wissen um unser Nicht-Wissen anzustreben. Cusanus teilt mit Aristoteles – und wohl mit jeder Erkenntnistheorie – die epistemologische Prämisse, dass das menschliche Verlangen nach Wissen nicht sinnlos sein kann, und zwar auch dann nicht, wenn nach dem Absoluten gefragt wird. Die paradox anmutende Verbindung aus Wissen und gleichzeitiger Negation des Wissens beschreibt die Bewegung einer Erkenntnis, die in der Exklusivität ihres Gegenstandes begründet ist. Das Metaphysikum ‚Gott‘ fordert, genauer gesagt, impliziert eine Epistemologie, die sich gegenüber ihrem Gegenstand als methodisch angemessen ausweisen muss. Daher ist Cusanus Disproportionalitätssatz eine dezidierte Kritik an den bisherigen metaphysischen Ansätzen zur Gotteserkenntnis.³⁸⁹ Zu erklären, was das unendlich Eine ist, und zugleich zu erklären, wie menschliches Denken dies überhaupt wissen und aussagen kann, sind notwendig aufeinander bezogene Ansprüche des Denkens, die in der Konzeption der docta ignorantia als für die menschliche Erkenntnis notwendige Relation von Gegenstandsbestimmung und Verfahrensexplikation oder Erkenntnisgegenstand und Erkenntnismethode eingeholt sind. Für ein angemessenes  De doct. ign. I c. 3, 8 – 9, 20 – 1. Der Gedanke der Disproportionalität des Unendlichen war auch vor Cusanus bekannt; vgl. Hirschberger 1975, bes. 41; Aristoteles, Phys. I 4, 187b8 ff. Cusanus geht es nicht um den Bezug des Unendlichen zum Endlichen im Sinn der Konstitution, sondern um die Vergleichbarkeit, die, weil sie auf Proportionalität beruht, nicht möglich ist. So behauptet Cusanus von der Kunst der Berechnung, sie entbehre gerade in der Astronomie der Genauigkeit, Gleiches gelte auch für die geometrischen Figuren der Mathematik; vgl. De doct. ign. II c. 1, 61, 14– 26.  Vgl. Beierwaltes 1980, 11.

1.1 Die Methode des wissenden Nichtwissens

149

Verständnis dieser Intention ist darauf zu achten, dass die Relation nicht einseitig aufgelöst wird. Die Frage, ob Cusanus selber Einseitigkeiten in Kauf nimmt, um die Absolutheit Gottes zu erklären, ist, weil es sich um eine immanente Problematik seiner Philosophie handelt, davon zunächst zu unterscheiden. Bereits in der Widmung zu seiner philosophischen Erstschrift, De docta ignorantia, an den befreundeten Kardinal Julian Cesarini legt er das Verhältnis fest: Er wolle dem Leser „eine Denkweise“ (modus ratiocinandi) „in göttlichen Dingen“ (in rebus divinis) vorführen. Die Denkweise ist das im Titel der Schrift programmatisch genannte wissende Nicht-Wissen.³⁹⁰ Die modale Differenz von der Möglichkeit zu wissen und der Unmöglichkeit zu wissen charakterisiert die Epistemologie des Cusanus in besonderer Weise. Unter ihrer Voraussetzung können wir sagen: Das Maß für die Möglichkeit des Wissens ist die Unmöglichkeit, das Unendliche als Unendliches an sich wissen zu können. Gerade aus dieser widersprüchlichen Grundkonstellation gewinnt die cusanische Philosophie ihr innovatives Potential für eine Korrektur der mittelalterlichen Metaphysik. Der Gegensatz zwischen Wissen und Nicht-Wissen oder zwischen der Möglichkeit zu wissen und der Unmöglichkeit zu wissen ist koinzidental zu denken. Nur wenn die Kontradiktion als Koinzidenz gedacht wird, ist die Bedingung menschlicher Erkenntnis erkannt und lässt sich über das Unendliche als interminus terminus sinnvoll sprechen; nur auf diese Weise kann sich ihm als Ziel des Erkenntnisstrebens angenähert werden. Gegenüber den Ansätzen der affirmativen und negativen Theologie ist die docta ignorantia ein Verfahren, das Einseitigkeiten zu vermeiden sucht, weil es die epistemischen Entgegensetzungen von Wissen

 De doct. ign. I prol., 2, 7. Zwei Aspekte sind an dieser Stelle zu beachten: 1. Die Formulierung modus ratiocinandi ist hier mit Cusanus zu kritisieren. Wie seine weiteren Ausführungen beweisen, geht es ihm gerade um die Überschreitung des Geltungsbereichs der ratio. So entspricht die Ankündigung in der Widmung nicht dem Vorhaben seines Haupttextes. – Vgl. zur Kritik an einer Übersetzung von res divinae als „theologische Dinge“ Flasch 2001, 139 f. Angemessener sei es, so Flasch, die ‚göttlichen Dinge’ im Sinn der philosophischen Theologie nach Platon zu verstehen. Flaschs Einwand ist aus philosophischer Perspektive zutreffend und entspricht dem in dieser Arbeit vertretenen Begriff von Metaphysik. Anders als Flasch (a.a.O., 138; s. auch ders. 1998, 61) bin ich allerdings der Ansicht, dass bei modus ratiocinandi sehr wohl von Methode gesprochen werden kann, ohne dadurch historisch ungenau in die cartesianische Diktion verfallen zu müssen. Wesentlich für ein methodisches Vorgehen des Cusanus ist schon seine fortlaufende Konzeption und Explikation der Begriffe für Gott. 2. Die Übersetzung von ‚docta ignorantia’ als ‚belehrte Unwissenheit’ halte ich,wie die Analyse der Intellektkonzeption zeigen wird, für zu einengend und wenig sinnvoll. Vgl. zur Problematik der Übersetzung Flasch 1998, 97 u. 518. Der Begriff der docta ignorantia lässt sich auf Augustinus zurückführen; vgl. dazu Augustinus, De Trin. XV, II, 2; Mountain/Glorie 1968, 461, 14– 23.

150

1 Die Epistemologie des Unendlichen

und Nicht-Wissen reflexiv in dem koinzidental zu denkenden Wissensbegriff einholt.³⁹¹ Die Disproportionalität zwischen infinitum und finitum lässt sich demnach folgendermaßen fassen: Weil Unendliches jede Proportionalitätsbestimmung transzendiert, kann es von ihm kein Wissen geben. Indem dies aber als NichtWissen gewusst wird, begreift das Denken in der Reflexion auf sich selbst den Status seines Wissens als Nicht-Wissen und erkennt, dass es das Unendliche allein auf die Weise des Nicht-Wissens wissen kann. Die Methode der docta ignorantia vereint beide Momente in einer Reflexionsbewegung: Erst im Nachvollzug dieser Bewegung erhellt sich der nicht-paradoxale Sinn des neuen Ansatzes, dass nämlich die Negation des Wissens zugleich das Wissen dieses Nicht-Wissens ist. Unter Einbeziehung des Möglichkeitsbegriffs heißt das: docta ignorantia ist ein Wissen von der Unmöglichkeit des adäquaten Wissens, aber auch der Unmöglichkeit eines völligen Nicht-Wissens des Unendlichen, so dass es zugleich die Möglichkeit hat, das Unendliche als Unmögliches auf nicht-wissende Weise wissen zu können; was aber so gewusst werden kann, ist ein mögliches Wissen.³⁹² Meine These der modalen Differenz lässt sich daher so formulieren: Die Unendlichkeit wissen zu können ist eine mögliche Unmöglichkeit menschlicher Erkenntnismöglichkeit. Der Erkenntnisgewinn wird gerade aus der Koinzidenz von Wissen – Nicht-Wissen, Möglichkeit – Unmöglichkeit gewonnen. Cusanus artikuliert diesen Punkt wie folgt: … Profecto cum appetitus in nobis frustra non sit, desideramus scire nos ignorare. Hoc si ad plenum assequi poterimus, doctam ingorantiam assequemur. Nihil enim homini etiam studiosissimo in doctrina perfectius adveniet quam in ipsa ignorantia, quae sibi propria est, doctissimus reperiri. Et tanto quis doctior erit, quanto se sciverit magis ignorantem. ³⁹³

Cusanus will mit seiner Methode Einsicht in das Absolute gewinnen, ohne dessen Unendlichkeit zu verendlichen oder dessen Unverfügbarkeit zu verdinglichen. Der Modus der docta ignorantia gibt zu verstehen, dass die prinzipielle Unverfügbarkeit des Absoluten die Fundamentalprämisse der neuen auf das Unendliche hin finalisierten Epistemologie ist. Cusanus spricht später von der „regula docte ignorantiae“.³⁹⁴ Sie impliziert aufgrund ihrer koinzidentalen Struktur eine starke  Vgl. zu Cusanus’ Kritik an den anderen Philosophen z. B. De ven. sap., c. 12, n. 31, 31 f., 5 – 15 u. n. 33, 34, 16 – 21.  Vgl. Mojsisch 1998, 471.  De doct. ign. I c. 1, 6, 17– 22. Der letzte Satz bringt Cusanus’ Anliegen auf den Punkt: „Man wird um so wissender sein, je mehr man seine Unwissenheit weiß.“  De ven. sap. c. 26, n. 79, 76, 1. Die Frage, ob es im Unendlichen Größenunterschiede geben kann, wurde schon vor Nikolaus von Kues erörtert; vgl. Gericke 1990, 138 – 144.

1.2 Wahrheit

151

Dynamik, die, da das Unendliche in seiner Unendlichkeit nicht erreicht, sich ihm aber ständig angenähert werden kann, als ein unbegrenzter Progress oder Regress angelegt ist. Somit ist das wissende Nichtwissen ein Verfahren der Negation und kein mystischer Vorgang. Es ist die Arbeit des Denkens am Denken, um zu immer exakteren Ergebnissen zu kommen, nicht um in passiver Ekstase mit dem Einen geeint zu werden.³⁹⁵ Die Disproportionalität ist keine starre Voraussetzung, sondern Antrieb für die Selbstreflexivität der Erkenntnis, im zunehmenden Wissen immer unwissender und im Unwissen zugleich immer wissender zu werden. Entlang der unbegrenzten Grenze findet die venatio sapientiae, die Jagd der Vernunft nach der Weisheit, statt: „Der Transzendenz als Prozess entspricht das Transzendieren als Verfolgung des sich Entziehenden …“³⁹⁶ Diese entschiedene Dynamik hat Konsequenzen für den Wahrheitsbegriff und für die Begriffstheorie der cusanischen Metaphysik.³⁹⁷ Daher sollen nun zunächst der Wahrheitsbegriff und dann die Begriffstheorie näher untersucht werden.

1.2 Wahrheit Cusanus vertritt eine monistische Konzeption der Wahrheit, die mit dem Unendlichen identisch ist. Im Bereich des Endlichen kann Wahrheit nach der neuen Methode der docta ignorantia nur approximativ angegeben werden. Unter der Bedingung der Proportionalität wird Wahrheit nicht an sich, ohne jede Ähnlichkeit oder Andersheit begriffen; sie ist inkommensurabel. Im Vergleich mit der Satzwahrheit des Aristoteles – oder modern formuliert: mit dem Wahrheitswert eines Satzes – ist die Wahrheit hier nicht die Eigenschaft eines Urteils, sondern die metaphysische Bedingung für die Möglichkeit des alethischen Aussagens und Erkennens.³⁹⁸ So kann von ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ nur

 Vgl. Gandillac 1953, 278; Flasch 1973, 329.  Blumenberg 1976, 38; vgl. Flasch 1998, 484; vgl. Cürsgen 2007 u. Enders 2009.  Vgl. Benz 1999, 95 zur Kritik an dem Begriff ‚Dynamik’ als Interpretationskategorie in der Cusanus-Forschung. Gegen Benz ist einzuwenden: Dynamik muss nicht ausschließlich als neuzeitliche Kategorie gelesen werden. Auf der Grundlage der Analysen zur Metaphysik des Aristoteles und dem dort verwendeten Möglichkeitsbegriff ist es philosophisch angemessen und sinnvoll, Cusanus’ Theorie des wissenden Nicht-Wissens als dynamische zu interpretieren. Zudem stellt sich die Frage, wie überhaupt sinnvoll von der Differenz, die Cusanus aufstellt, gesprochen werden kann, wenn sie nicht dynamisch begriffen wird. Auch muss damit nicht der Begriff des Subjekts in die Analyse eingeführt werden, wie dies in der neueren Forschung der Fall ist und – wo es um allzu modernisierende Lesarten geht – von Benz zu Recht kritisiert wird.  Dass auch Aristoteles einen metaphysischen Wahrheitsbegriff hat, ist vor dem Hintergrund der im ersten Teil der Arbeit untersuchten Substanztheorie unzweifelhaft.

152

1 Die Epistemologie des Unendlichen

sinnvoll gesprochen werden, wenn vorausgesetzt ist, dass es die Wahrheit gibt, und zwar gerade auch dann, wenn ihre Erkennbarkeit negiert wird. In diesem Sinn ist sie absolut, weil sie vor dem Gegensatz von Sein und Nichtsein, von Affirmation und Negation liegt. Jedes Erkennen und Aussagen ist ganz unabhängig davon, ob etwas bejaht oder verneint wird, immer auf die Wahrheit bezogen, genauso wie jedes Wissen- und Erkenntnisstreben voraussetzt, dass Wissen bzw. Erkenntnis an sich nicht vergebens ist. Als voraussetzungslose Voraussetzung jedes Maßstabes und jedes Gemessenen kann die absolute Wahrheit keiner kontingenten oder relativistischen Vorgabe unterliegen; die praecisa veritas ist daher auch die absolutissima necessitas, die absolute Notwendigkeit. Cusanus will die Wahrheit allerdings keinesfalls von dem Bereich des Messbaren abgetrennt verstanden wissen. Gerade weil sie die Bedingung für Erkenntnis und die Pluralität begrenzter Wahrheitsaussagen ist, kann sie gegenüber dem, was aus der Perspektive des Endlichen als wahr oder falsch bestimmt wird, nicht völlig anders sein.³⁹⁹ Zugleich aber – und das kennzeichnet das Paradoxe dieser Position – bleibt die Wahrheit für uns nur im Modus der Andersheit oder Ähnlichkeit, die den Aspekt der Gleichheit freilich impliziert, erkennbar. Demnach hat die menschliche Erkenntnis einerseits immer ein irreduzibles Moment an Ungenauigkeit, sie kann nur konjektural und damit ein Nicht-Wissen der praecisa veritas sein, andererseits aber ist sie immer schon in der Wahrheit und auf sie bezogen, so dass wir die Wahrheit auf bestimmte Weise immer auch kennen: Non potest finitus intellectus rerum veritatem per similitudinem praecise attingere. Veritas enim non est nec plus nec minus in quodam indivisibili consistens, quam omne non ipsum verum existens praecise mensurare non potest … Intellectus igitur qui non est veritas numquam veritatem adeo praecise comprehendit, quin per infinitum praecisius comprehendi possit … Patet igitur de vero nos non aliud scire quam quod ipsum praecise uti est scimus incomprehensibile veritate se habente ut absolutissima necessitate …⁴⁰⁰

Es ist ausdrücklich zu betonen, dass Cusanus in dieser frühen Passage von De docta ignorantia den infiniten Regress oder Progress für seine Epistemologie zulässt, zulassen muss, um zu vermeiden, dass die Distanz zwischen praecisa veritas und menschlichem Erkenntnisvermögen zu einem Abgrund zu werden droht, in dem alle Erkenntnis versinkt. Der Gedanke hat demnach eine zentrale Bedeutung für die Inkommensurabilität von infinitum und finitum. Er beschreibt für die docta ignorantia die Idee unbegrenzter epistemischer Perfektibilität. Die Leitfrage nach

 Vgl. für eine typisch negative Bewertung Stadelmann 1929, der Cusanus „Verzicht auf Wahrheit“ (52) und einen „schrankenlosen Relativismus“ (53) attestiert.  De doct. ign. I c. 3, 9, 10 – 24.

1.2 Wahrheit

153

der Funktion des Möglichkeitsbegriffs setzt hier an, und die weitere Analyse wird zeigen, inwiefern die Möglichkeitssemantik gerade auch für die explizite Zulassung des infiniten Regresses in der Metaphysik des Cusanus konstitutiv ist. Was wir demnach von der absoluten Wahrheit wissen, ist, dass wir ihre Genauigkeit nicht wissen. In allen proportional bestimmten Aussagen ist die eine Wahrheit nicht das, was sie an sich ist, so dass unsere Aussagen immer zugleich auch nicht wahr sind. Anders gesagt: Die Wahrheit zeigt sich für uns in der Vielheit der assertorischen Möglichkeiten, aber ist für sich die Negation dieser Divergenzen. Cusanus lehnt das Wissen, welches sich durch Verhältnisbezüge bildet, also nicht ab. Für ihn steht der Sinn kategorialer Wirklichkeitsbestimmung gemäß dem aristotelischen Wissenschaftsbegriff außer Frage. Er hält aber ebenso fest, dass derartige Erkenntnisse Näherungsverhältnisse sind, deren Ähnlichkeiten sich in Bezug auf die Genauigkeit der absoluten Wahrheit und dadurch in bezug auf den jeweiligen Gegenstand ad infinitum steigern lassen. In dem unendlichen Progress zunehmend präzisierbarer Ähnlichkeit oder Gleichheit ist das Maß einer absoluten Wahrheit anwesend und abwesend. Cusanus’ Wahrheitsbegriff irritiert allerdings: Woher wissen wir, dass es eine absolute Wahrheit gibt, die, obwohl und gerade weil wir sie nicht in unseren alltäglichen Weltbezügen erreichen, dennoch die unbedingte Bedingung dieser Bezüge ist? Warum sollen wir überhaupt eine solche Wahrheit voraussetzen, wenn die Alltagserkenntnisse auch ohne diese Voraussetzung funktionieren? Mit Verweis auf das theologische Motiv der Gotteserkenntnis und damit auf die historische Bedingtheit dieser Konzeption kann eingewendet werden, dass ein derart monistischer Wahrheitsbegriff nicht mehr sinnvoll zu vertreten ist. Wir setzen, wenn wir etwas als wahr aussagen, keine absolute Wahrheit voraus, die alle Proportionalität und Aussagen absichert; zumal dann nicht, wenn sie nicht erkannt werden kann, so dass ihre unfassbare An- und Abwesenheit eine Fiktion bleibt. Gleichwohl lässt sich Cusanus’ Wahrheitsbegriff angemessen erklären, indem wir den Sinnlosigkeitsverdacht gegen die nicht-metaphysische Position selbst wenden. So wie jedes Erkenntnisbemühen nicht ohne die epistemologische Prämisse der sinnvollen Realisierbarkeit von Erkenntnismöglichkeit auskommt, ist auch die Möglichkeit wahrer oder falscher Aussagen nicht sinnvoll, wenn nicht von der grundsätzlichen Bedingung ausgegangen wird, dass wir etwas als wahr erkennen können. Cusanus setzt hier an, wenn er von einem Wahrheitsgrund spricht, der nicht über das Exemplifizieren von Aussagen und Gegenständen erklärt und verstanden wird, sondern als metaphysische Voraussetzung den alethischen und ontologischen Status von Aussagen und Gegenständen gewährleistet. Wahrheit ist nach diesem Verständnis nicht relativ. Das subjektive Fürwahrhalten und die relativ zum jeweiligen Sachverhalt objektive Satzwahrheit

154

1 Die Epistemologie des Unendlichen

präsupponieren die absolute Wahrheit; sie garantiert die Wahrheit für uns. Cusanus geht also davon aus, dass jede Aussage ihrer Referenz oder Korrespondenz nach eine Welt und ein Erkenntnisvermögen voraussetzt, die so strukturiert sind, dass etwas für uns überhaupt der Fall und damit wahr sein kann. In De docta ignorantia spricht er von der einen universalen, aber verborgenen und unfassbaren Proportion des Universums.⁴⁰¹ Der monistische Wahrheitsbegriff verdeutlicht, dass die Dynamik der cusanischen Epistemologie neben ihrer optimistischen auch eine skeptische Tendenz hat; eine Tendenz, die für seine Philosophie insgesamt charakteristisch ist. Der Möglichkeit eines prinzipiell korrigierbaren und präzisierbaren Wissens korrespondiert die Unmöglichkeit eines wirklichen Wissens der absoluten Wahrheit. Der Idee unbegrenzter epistemischer Perfektibilität läuft die Idee der Inkommensurabilität entgegen. So ist es nicht möglich, die Wesenheiten der Dinge – die Formen oder Ideen – adäquat zu erkennen. Was etwas an sich ist, bleibt unerkennbar. Darin zeigt sich die relative, aber nicht hintergehbare Skepsis des Cusanus gegenüber einer letztgültigen Substanzerkenntnis. Die Distanz zwischen der praecisa veritas und unserem Erkenntnisvermögen ist latent anfällig für ihre Auflösung, insofern unbegrenzte epistemische Perfektibilität auch ohne die Annahme einer absoluten Wahrheit vertreten werden kann. Unter Aufgabe des theologischen Motivs und der Intention diese Wahrheit erreichen zu wollen, bliebe dann eine pragmatische Teleologie des Wissens. Die Nicht-Erkennbarkeit oder das Nicht-Wissen der Form ist ein wissenschaftstheoretisches Axiom seiner Metaphysik: Quiditas ergo rerum, quae est entium veritas, in sua puritate inattingibilis est et per omnes philosophos investigata, sed per neminem uti est reperta. Et quanto in hac ignorantia profundius docti fuerimus, tanto magis ipsam accedimus veritatem.⁴⁰²

 Vgl. De doct. ign. I c. 11, 22, 9 – 11.  De doct. ign. I c. 3, 9, 24– 28; vgl. auch De ven. sap. c. 29, n. 87, 83, 7– 11.

2 Begriffstheorie Cusanus’ Wahrheitsbegriff und seine neue Konzeption des Wissens führen zu seiner Sprachphilosophie. Sie zeichnet sich durch die Eigenheit aus, einerseits im strengen Sinn keine Philosophie über Sprache zu sein, insofern die Frage nach dem, was Sprache ist und wie sie funktioniert, nicht zentral ist, andererseits aber Sprache in besonderer Weise nutzt, um das, was über das Unbegreifliche gedacht wird, in den Gottesnamen zu veranschaulichen. Sprache hat demnach eine zentrale Stellung, aber sie hat sie in sekundärer Form: Sprachliche Zeichen veranschaulichen, vermitteln oder beschreiben in funktionaler Weise, was in spekulativer Weise gedacht werden kann, und passen sich dem Denkergebnis an. Aber Denken und die Möglichkeiten des Denkens erschöpfen sich nicht in den sprachlichen Zeichen. Dieses Anpassungsverhältnis zwischen Sprache und Denken kann dazu führen, dass die sprachlichen Formen und ihre Verwendungsweisen modifiziert werden. Grammatik kann verändert werden, rationale Logik kann sich – wie Cusanus immer wieder zeigt – als nur begrenzt gültig erweisen. Veränderungen oder Verschiebungen in der gewohnten rationalen Zeichenverwendung und in der Semantik sind für Cusanus vielmehr legitime Eingriffe, um die Metaphysik des Unendlichen zu versprachlichen. Die Begriffe und Namen werden als Ergebnisse des approximativen Erkennens des Absoluten gebildet.⁴⁰³ Cusanus’ Epistemologie wirkt sich unmittelbar in seiner Namens- oder Begriffstheorie aus. Wenn unter der Prämisse der Disproportionalität und der Unmöglichkeit adäquater Wahrheitserkenntnis eine Bezeichnung für die unendliche Einheit zu finden ist, dann lässt sich die Intention seiner Metaphysik in einer Frage zuspitzen, die wir im Weiteren das semantische Paradoxon der cusanischen Metaphysik nennen werden: Wie lässt sich das Unendliche oder die absolute Einheit mit endlichen sprachlichen Repräsentationsmitteln darstellen?

 So betont Senger 1979, 94, Cusanus verändere, wenn es um die sprachliche Darstellung neuer Denkmöglichkeiten gehe, die „Syntax der Grammatik“ oder die „Tempus-Struktur der Zeitwörter“. Eine dezidierte Auseinandersetzung mit grammatischen und logischen Problemen der Sprache findet sich in seiner Philosophie nicht. Mojsisch 1998b, 72 hält zutreffend fest, dass Sprache auf ihre „Benennungsfunktion“ restringiert sei und „deskribiert, was die Spekulation originaliter eruiert“. Dennoch steht außer Frage, dass Cusanus sprachphilosophische Probleme im Blick hat, wenn er das Verhältnis von Bezeichnendem und Bezeichneten, bedeutungshaltiger Sprachzeichen und Gegenstand thematisiert (vgl. auch Apel 1995, insbes. 210). Die Sprachphilosophie des Cusanus wurde wiederholt als zentral angesehen; vgl. u. a. Cassirer 1927 u. 1906 [ND 1974]; Hennigfeld 1993; Thiel 1994; Senger 2002; Elpert 2002.

156

2 Begriffstheorie

Für die Beantwortung der Frage ist zunächst die ihr vorausgehende Frage nach der Zeichenverwendung für den Bereich des endlichen Seienden zu klären. Cusanus ist an der Signifikationsfunktion von Sprache interessiert. Seine Theorie beschränkt sich auf die repräsentationale Ebene der Worte – der vis vocabuli –, da es ihm vorrangig um die Bedeutung der Gottesnamen bzw. -begriffe geht. Mit Aristoteles stimmt er darin überein, dass die notwendige Bedingung für die assertorische Sprachpraxis das Vorliegen von distinkten ontischen wie semantischen Einheiten ist. Dabei ist gemäß der docta ignorantia das wahre Verhältnis von der Form einer Sache und des ihr zukommenden Namens bzw. Begriffs für die menschliche Erkenntnis keineswegs einsichtig. Grundlegend für die Signifikationstheorie sind die Schriften Idiota de sapientia und Idiota de mente; sie liegen den weiteren Überlegungen zugrunde. Zum einen vertritt Cusanus – auch hier besteht Übereinstimmung mit Aristoteles – die Konventionalitätsthese der Bezeichnung. Die Namensgebung erfolgt nach Belieben („ad beneplacitum“) und impliziert kontrafaktisch, dass immer auch ein anderer Name möglich wäre.⁴⁰⁴ Entsprechend ist die Eigentümlichkeit oder Angemessenheit eines Namens einer prinzipiellen semantischen Vagheit – Cusanus spricht von dem „Mehr und Weniger“ (maius et minus) – ausgesetzt, die analog zur ontischen Vagheit der prozessualen Wirklichkeit besteht. Das „genaue Wort“ der Sache (vocabulum praecisum) wird nicht gewusst, eingesetzt werden kann aber ein „passender Name“ (nomen congruum).⁴⁰⁵ Weiterhin nach aristotelischer Vorgabe erfolgt die Bedeutungsbildung eines Namens im Ausgang von den sinnlichen Eindrücken durch Abstraktionsverfahren, in denen der Verstand vermittels Unterscheidung, Übereinstimmung und Verschiedenheit die Gattungen und Arten – die entia rationis – konzipiert. Sie bestimmen, was eine Sache ist, bleiben aber selber nur Abbildungen der Sache. So stimmt Cusanus mit dem älteren Philosophen auch darin überein, die Definition ermögliche auf Verstandesebene, indem sie die Bedeutung eines Wortes erkläre,

 De mente c. 2, n. 64, 98 – 99, 4– 7; vgl. De ven. sap. c. 33, n. 97– 100; vgl. dazu auch Apel 1955 210.  De mente c. 2, n. 58, 93, 16 – 18; n. 59, 93 – 94, 5 – 9. Eine sinngleiche Aussage findet sich bereits in De docta ignorantia: „Es lässt sich nichts benennen, wo sich nicht ein Mehr oder Weniger (maius aut minus) ansetzen lässt. Die Benennungen sind ja doch durch eine Verstandesbewegung den Gegenständen zuerteilt, die im Sinn einer gewissen Proportion ein Mehr oder Weniger (excedens aut excessum) zulassen“. De doct. ign. I c. 5, 12, 1– 4. Auch Aristoteles verwendet die Formulierung ‚Mehr und/oder Weniger’, um die Natur des Seienden zu bestimmen, vgl. Met. IV 4, 1008b31– 32.

2 Begriffstheorie

157

Wissen und Wissenschaft. Gemäß diesem empiristisch-abstraktiven Ansatz schlussfolgert er, nichts sei im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen wäre.⁴⁰⁶ Zum anderen aber bleiben die vom Verstand produzierten Namen der Dinge „Mutmaßungen und Meinungen“.⁴⁰⁷ Bemerkenswert ist dabei nicht der seit der Antike bekannte ad placitum-Topos von der konventionellen Namensgebung, sondern die Konsequenz, mit der die Kernfrage der aristotelischen Metaphysik – τίς ἡ οὐσία – als nicht beantwortbar beurteilt wird. Eine Wesensdefinition ist nicht möglich. Die Intension des Begriffs ist nicht das Wesen der Sache. Aber ist damit die Frage nach dem Wesen überhaupt noch sinnvoll zu stellen? Ist – aristotelisch gesprochen – das τί ἦν εἶναι noch zugänglich? Charakteristisch für die cusanische Signifikationstheorie ist die Einführung des „natürlichen Namens“ und „natürlichen Wortes“ (nomen naturale/vocabulum naturale), das die Form oder das Wesen der Sache selbst ist. Die Bedeutung dieses Ausdrucks – der mit dem bereits genannten vocabulum praecisum synonym ist⁴⁰⁸ – kann zwar nicht adäquat gewusst werden, „widerstrahlt“ (relucet) aber in allen ad placitum eingesetzten Namen.⁴⁰⁹ Cusanus erklärt über diese eigenwillige Formulierung die Angemessenheitsrelation zwischen Wortbedeutung und Sache, wobei mit dem ‚relucere‘ veranschaulicht wird, dass es in allen konventionellen Differenzen gleichsam einen wahren unverfügbaren Bedeutungskern oder Sinngehalt gibt, der erst die Differenzen ermöglicht. Dass sich die Richtigkeit

 Vgl. für den Wissenschaftsbegriff De ven. sap. c. 14, n. 39, 3, 3 – 7; vgl. a.a.O. auch Kapitel 33 über die vis vocabuli,wo Cusanus sagt, keiner sei mehr als Aristoteles darauf bedacht gewesen, die Wortbedeutungen zu erforschen und in der Definition zu erklären.Vgl. für die Sinne De mente c. 2, n. 64, 99, 10 f.; freilich bleibt es nicht dabei. Für sein spekulatives Vorhaben braucht Cusanus eine Form der nicht-abstraktiven Erkenntnis, die nicht auf die Sinne oder den Verstand zurückzuführen ist. Cusanus verhandelt in dem vorliegenden Abschnitt die Sprach- und Erkenntnispositionen der Platoniker und Aristoteliker, ohne eine von beiden zu favorisieren. Seine eigene Position versucht eine Vermittlung. Auf die Erkenntnis der Formen werde ich in einem anderen Kapitel näher eingehen. Cusanus ist hier zu kritisieren: Er interpretiert die Begriffsbildung des Aristoteles zu einfach, wenn er ein Abbildverhältnis zwischen genera, species und res sensibilis behauptet.  De mente c. 2, n. 64, 100, 13 f.  Die Identität von vocabulum naturale und vocabulum praecisum ist nicht unbestritten. Während Stadler 1983, 25 – 27 und Elpert 2002, 155 – 158 sich dafür entscheiden, spricht sich Meinhardt 1979, bes. 120 dagegen aus und meint, beide Begriffe klar zu trennen. Diesem Urteil schließt sich auch Mojsisch 1998b, 78 an; unklarer formuliert Hennigfeld 1993, 297 f. Ich folge hingegen den beiden erstgenannten Autoren. Eine strikte Trennung scheint mir mit den Aussagen Cusanus’ nicht haltbar. Was sollte das vocabulum praecisum neben der Form selbst sein? Dass dennoch zwischen den vielen ‚natürlichen’ Namen und dem einen ‚präzisen’ Gottes zu unterscheiden ist, wird mit der angezeigten Identität nicht ausgeschlossen; vgl. hierzu auch Rombach 1956, 165.  De mente c. 2, n. 64, 99, 7.

158

2 Begriffstheorie

der Namensgebung nicht in völliger Beliebigkeit auflöst, verdankt sich also nicht primär der konventionellen, empirischen, sondern der metaphysischen Bedingung des natürlichen Namens, der dieselbe Form des jeweiligen Seienden für alle möglichen divergierenden Namen dieses Seienden ist. Festzuhalten ist: Unter der metaphysischen Voraussetzung des nomen naturale bildet der Mensch gemäß dem Konventionalismus und mittels des Verstands relativ distinkte durch Abstraktion gewonnene Wortbedeutungen. Die natürlichen Namen der Dinge sichern die Möglichkeit wahrer Bezeichnung für die konventionellen Wörter bzw. Namen ab. Dadurch stehen die Bedeutungen der ‚Mutmaßungen und Meinungen‘ im Bezug zum Wesen oder zur Form. Allerdings stellt sich die Frage, ob dann noch Falschheit möglich ist. Kann die Angemessenheitsrelation grundsätzlich verfehlt werden? Strenggenommen kann das nicht sein. Nach dieser Signifikationstheorie kann es nur Grade der Angemessenheit, der Genauigkeit geben. Falschheit wäre dann extreme Ungenauigkeit oder Unpassendheit, die im Widerspruch zu anderen Benennungen stände. So lässt Cusanus eine fundamentale Ungenauigkeit oder Unbestimmtheit zwischen rationalem Zeichen und dem, was ein Bezeichnetes an sich ist, gelten. Anders gesagt: Es gibt eine universelle Kontingenz, die im Ausdruck des ‚Mehr und Weniger‘ festgehalten ist und sowohl phänomenal wie begrifflich gilt. Das Nicht-Wissen der genauen Wahrheit ist identisch mit dem Nicht-Wissen des natürlichen Namens, der nur auf nicht-wissende, genauer gesagt, nicht-nennbare Weise genannt werden kann. Das Wesen der Dinge bleibt gemäß dem wissenschaftstheoretischen Axiom dieser Metaphysik inkommensurabel. Cusanus bewegt sich signifikatorisch zwischen den Extremen ‚X kann auf alle möglichen Weisen benannt werden‘ und ‚X kann nur auf eine Weise, in der X immer schon seinem Wesen nach wirklich ist, benannt werden‘. Vor diesem Hintergrund kann die Unbestimmtheit als Grundlage für die Idee einer semantischen oder begrifflichen Perfektibilität ad infinitum verstanden werden. Dem korrespondiert eine Ontologie, in der die „Dinge oder Zustände im Universum weder absolut geschieden noch absolut identisch gesetzt werden können“.⁴¹⁰

2.1 Das nomen ineffabile: die unendliche Möglichkeit der Signifikation Cusanus führt in einem weiteren Schritt die Vielheit der Formen auf die eine „unendliche Form“ (infinita forma) zurück. Sie ist der „unaussprechliche Name“

 Winkler 1991, 1074.

2.1 Das nomen ineffabile: die unendliche Möglichkeit der Signifikation

159

(nomen ineffabile) oder das „unaussprechliche Wort“ (verbum ineffabile), der oder das noch über die natürlichen Namen hinaus die ontologische wie semantische Erstbedeutung in allen Dingen und allen Namen darstellt. Hae omnes et quotquot cogitari possent modorum differentiae facillime resolvuntur et concordantur, quando mens se ad infinitatem elevat … tunc infinita forma est solum una et simplicissima, quae in omnibus rebus resplendet tamquam omnium et singulorum formabilium adaequatissimum exemplar. Unde verissimum erit non esse multa separata exemplaria ac multas rerum ideas. Quam quidem infinitam formam nulla ratio attingere potest. Hinc per omnia vocabula rationis motu imposita ineffabilis non comprehenditur. Unde res, ut sub vocabulo cadit, imago est ineffabilis exempli sui proprii est adaequati. Unum est igitur verbum ineffabile, quod est praecisum nomen omnium rerum, ut motu rationis sub vocabulo cadunt.⁴¹¹

In der Reduktion sieht Cusanus die radikale, im Wortsinn: die an die Wurzel gehende Lösung für das Verhältnis von Wort und Sache, Zeichen und Sein, über das bisher in der Metaphysik gestritten wurde. Die infinita forma ist der Ursprung der ontischen wie signifikatorischen Vielheit und ist als Ursprung zugleich in dieser Vielheit eines. Anders gesagt: Das nomen ineffabile ist die Einheit der Unterscheidung bzw. Vielheit von Wort und Sache, das diese Unterscheidung oder Vielheit erst ermöglicht. Cusanus’ Ursprungsaxiom erklärt erstens, warum es trotz und in aller Divergenz der Wortbedeutungen eine durchgehende Angemessenheit zwischen Sprache und Sein gibt; es erklärt zweitens, inwiefern die von uns verwendeten begrifflichen Instrumentarien immer nur sekundär gegenüber der Einheit sowohl eines jeweiligen Seienden als auch der Einheit von Denken und Sein im unendlichen Einen sind. Zentral für die Funktion des Möglichkeitsbegriffs in diesem Zusammenhang ist die Erklärung, warum das nomen ineffabile allen Verstandesworten (vocabula rationis) immanent ist: „Unum est igitur verbum ineffabile, quod est praecisum nomen omnium rerum, ut motu rationis sub vocabulo cadunt. Quod quidem ineffabile nomen in omnibus nominibus suo modo relucet, quia infinita nominabilitas omnium nominum et infinita vocabilitas omnium voce expressibilium, ut sic omne nomen sit imago praecisi nominis.“⁴¹² Für das Verständnis dieser These kommt es vor allem auf die Übersetzung der Ausdrücke infinita nominabilitas und

 De mente c. 2, n. 67– 68, 103 f., 1 f. Cusanus kritisiert die Auffassung der Platoniker, die eine Vielzahl von Ideen bzw. Urbildern annahmen. Seine Signifikationstheorie ist,wie er in De mente (c. 2, n. 65 – 77) sagt, die Lösung des Universalienstreits zwischen Peripatetikern und Akademikern. Notwendig ist dafür die Einbeziehung des Unendlichen, das noch den Einzelseienden und den platonischen Ideen zugrunde liegt.  De mente c. 2, n. 68, 104, 1– 6.

160

2 Begriffstheorie

infinita vocabilitas an. Auch wenn die wörtliche Wiedergabe mit ‚unendliche Benennbarkeit‘ und ‚unendliche Aussprechbarkeit‘ richtig ist, bleibt die von Cusanus gemeinte Erklärung ihrem Sinn nach relativ unklar. Renate Steigers Übersetzung, der unaussprechliche Name sei „für alle Namen die unendliche Möglichkeit, Name zu sein, und für alles mit der Sprache Ausdrückbare die unendliche Möglichkeit, ausgedrückt zu werden“⁴¹³, wird dem dispositiven Charakter der Ausdrücke nominabilitas und vocabilitas zwar durchaus gerecht, dennoch ist eine freiere, den Sinn besser erfassende Übersetzung geboten. In Anlehnung an Steiger schlage ich daher vor: „Das nomen ineffabile strahlt in allen Namen wider, weil es die unendliche Möglichkeit des Benennens aller Namen und die unendliche Möglichkeit des Aussprechens alles Aussprechbaren ist, so dass auf diese Weise jeder Name das Abbild des genauen Namens (praecisi nominis) ist.“⁴¹⁴ Ich halte die Verwendung des Möglichkeitsbegriffs an dieser Stelle nicht nur für hilfreich, sondern für notwendig, um den philosophischen Gehalt der Begründung klar herauszustellen. Cusanus erklärt die Immanenz des unaussprechlichen Namens in allen aussprechbaren Namen über die Möglichkeitssemantik, die hier sowohl unbegrenzte Possibilität als auch Potentialität umfasst. Dies impliziert auch, dass es unmöglich ist, den unaussprechlichen Namen nicht in irgendeiner Weise auszusprechen. Der philosophische Gehalt von Cusanus’ Begründung kann in der folgenden Weise expliziert werden: – Für die Intension: Weil das nomen ineffabile als unendliche Möglichkeit keine distinkte Bedeutung hat, kann es unbegrenzt benannt bzw. ausgesagt werden. Zugleich bleibt es aber unter der rationalen Bedingung begrenzter und begrenzender Wortinhalte nicht adäquat bestimmbar. Es ist in Bezug auf die nomina rationalia die unendliche Möglichkeit allen Benennens und Aussprechens, an sich ist es die reine Wirklichkeit aller möglichen Namen.⁴¹⁵ Der Möglichkeitsbegriff erlaubt somit eine Perspektivunterscheidung. – Für die Extension: Die unendliche Möglichkeit ist auch das Maß für die Extension. Weil das nomen ineffabile allem, was ontisch möglich ist, auch immanent ist – erinnert sei an die mit ihm identische infinita forma –, umfasst es alle möglichen Namen bzw. alles mögliche Seiende. Umgekehrt ist die Finalisierung aller Namen auf den einen unaussprechlichen Namen die Bedingung für die unbegrenzte Variabilität und Komplexität der rationalen Ausdrücke oder Namen (vocabula rationalia/nomina rationalia), die der Verstand bilden kann. In dieser Ausrichtung ergibt die doppelte Bedeutung von vis  Steiger 1995, 21 (Hervorhebung J. M.).  Das nomen praecisum ist mit dem oben genannten vocabulum praecisum identisch, weil das nomen ineffabile in allen nomina naturalia ist.  So spricht Senger 2002, 70 f. auch von der Unmöglichkeit, das nomen ineffabile zu begreifen.

2.1 Das nomen ineffabile: die unendliche Möglichkeit der Signifikation

161

vocabuli als ‚Wortbedeutung‘ und ‚Kraft der Bedeutung‘ Sinn. Letztere betont die mit dem Benennen verbundene Denkbewegung, die in ihrer Dynamik über die jeweils aktualisierte Bedeutung hinausgeht, um andere Bedeutungen zu bilden.⁴¹⁶ Aus der unaufhebbaren Differenz zwischen den rationalen Namen und dem genauen Namen wird die Dynamik einer unbegrenzten Signifikationspraxis freigesetzt, die der Idee semantischer bzw. begrifflicher Perfektibilität folgt. In dieser Praxis können wir einen mehr oder weniger passenden Namen (nomen congruum) für die Form einer Sache finden. Das Verständnis der Rolle des Möglichkeitsbegriffs in der cusanischen Sprachphilosophie lässt sich durch eine Passage aus De docta ignorantia vertiefen: „… Tamen manifestum est eum [sc. deus] nec aliam formam induere, cum sit forma omnium formarum, nec in positivis signis apparere, cum ipsa signa pariformiter in eo quod sunt alia requirerent in quibus et ita in infinitum.“⁴¹⁷ Cusanus nennt hier in aller Kürze, wie sich eine konventionelle Sprache konstituiert oder wie sie als ganze besteht: über Differenzen. Dass die infinita forma – hier: die forma formarum – dabei als metaphysisches Ziel und Voraussetzung immer mitzudenken ist, trennt seine Überlegung von modernen, ausschließlich funktional-strukturell konzipierten Theorien. Dennoch ist die Behauptung, die positiven Zeichen setzten in dem, was sie sind, immer andere positive Zeichen, und zwar bis ins Unendliche,voraus, bedenkenswert. Das nomen ineffabile als die unendliche Möglichkeit allen Benennens und Aussprechens ist die Bedingung dafür, dass mit Cusanus eine konventionelle Sprache als quasiunendliche Möglichkeit der Bedeutungsdifferenzierung verstanden werden kann: Die signa positiva – synonym mit den nomina rationalia – konstituieren ihre Identität in einem unabschließbaren Differenzierungsprozess von allen anderen Zeichen, so dass ein Name seine Bedeutung erst durch die Unterschiedenheit von allen anderen bzw. im Verweis auf alle anderen Namen derselben Sprache gewinnt und dadurch erst mit sich selbst identisch ist. Er steht in einem dynamischen und nicht statischen Gesamtzusammenhang aller Namen. Weil der Differenzierungsprozess in seiner Unbegrenztheit von uns nicht aktual gewusst wird, können wir die Voraussetzungen bzw. Implikationen oder Konnotationen einer einzelnen Zeichenbedeutung nur im Rahmen einer potentiellen Unendlichkeit verfolgen und

 Aufschlussreich ist hier das griechische Äquivalent zu vis vocabuli, auf das Steiger 1988, 129, Fn. zu n. 33,4 verweist: die δύναμις τῶν ὀνομάτων aus den Sophistischen Widerlegungen des Aristoteles.  De doct. ign. II c. 2, 68, 10 – 13.

162

2 Begriffstheorie

angeben, nie aber vollständig aktualisiert abschließen.⁴¹⁸ Das heißt auch, keine Wortbedeutung ist inkorrigibel und absolut präzise. Die aktuale distinkte Bedeutung setzt mögliche andere unbegrenzt voraus.

2.2 Der conceptus absolutus Das semantische Paradoxon, wie eine Darstellbarkeit des Undarstellbaren mit endlichen Zeichen möglich ist, motiviert vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen zu einer ungewöhnlichen Signifikationstheorie. Menschliche Erkenntnis, die auf begrenzte Zeichen angewiesen ist, wird mit dem unendlichen Einen oder Gott vor ihre eigene aporetische Natur gestellt. Cusanus reagiert darauf, indem er unter dem Vorzeichen der docta ignorantia eine begriffstheoretische Neuorientierung verfolgt, nach der das „Unbegreifliche auf unbegreifliche Weise begriffen“ und das Unbenennbare „auf unbenennbare Weise“ benannt werden soll (incomprehensibile incomprehensibiliter comprehendere; innominabile innominabiliter nominare).⁴¹⁹ Was aber heißt das? Cusanus’ Forderung richtet sich im Kern gegen eine Verstandessprache, die nicht in der Lage ist, auszuführen, was die docta ignorantia beansprucht, nämlich koinzidental vorzugehen und Namen oder Begriffe zu bilden, die Entgegengesetztes in sich vereinen. Weil die Möglichkeiten des rationalen Benennens für das Metaphysikum ‚Gott‘ nicht ausreichen – das Unendliche ist kein Etwas –, muss die Sprache selbst erweitert werden.⁴²⁰ Die Funktion der Objektsprache ist es, die

 Das ist im Kern Aristoteles’ Position gegen Anaxagoras: Wo Begrenztes bezeichnet wird, ist per definitionem nicht alles in einem bezeichnet und unbegrenzt Vieles ausgeschlossen. Stadler 1983, 28 f., 33, 36 formuliert einen vergleichbaren Ansatz; allerdings unterscheidet sich meine Interpretation grundlegend, da der Differenzierungsprozess nicht in einer ‚Subjektivität’ begründet ist. Vgl. zur Kritik an Stadler Benz 1993, 373. – Im Anschluss an meine Überlegung lässt sich eine Parallele zu Derridas Theorie der Dekonstruktion ziehen, insofern auch seine Theorie auf den Begriff der Möglichkeit angewiesen ist, mit dem das aktuale Zeichen auf seine potentiell unendliche Differenzierungsvoraussetzung angewiesen ist. Allerdings lehnt Derrida gerade die finale, absolute Instanz, das „unaussprechliche … Wesen, dem kein Name nahe kommen könnte: Gott zum Beispiel“ für die Bestimmung der „différance“ ab (Derrida 1988, 51). Für Cusanus ist diese absolute Instanz evident, die er aber gerade nicht unter der Prämisse der negativen Theologie – unter der Derrida Gott denkt – einordnet, sondern unter der Bedingung seiner docta ignorantia und damit als Koinzidenz von Wissen und Nicht-Wissen.Vgl. zur Abgrenzung Derridas von der Tradition der negativen Theologie: Wagner-Egelhaaf 1991.  Vgl. De doct. ign. I c. 5, 11, 25 – 27; vgl. De ven. sap. c. 12, n. 31, 31, 3 f.  Zutreffend schreibt Senger 2002, 86, Cusanus gehe es um „Erweiterungsmöglichkeiten von Sprache“. Senger erwägt unter Verweis auf Apel 1955, dass Cusanus die Möglichkeit einer exakten, formalisierten Sprache im Sinn der symbolischen Logik, wie z. B. Leibniz sie später versuchte,

2.2 Der conceptus absolutus

163

Dinge im Bereich ‚Mehr und Weniger‘ zu bezeichnen. In der semantisch-syntaktischen Struktur des Satzes, wie sie Aristoteles vorgibt, heißt das: Der Subjektterm wird durch das jeweilige Prädikat begrenzt und definiert. Diese prädikative Limitation ist für das Vorhaben des Cusanus völlig unzureichend. Unendliches lässt sich auf diese Weise nur verfehlt bestimmen. Die objektsprachliche Ausrichtung kann für die Benennungsaufgabe nicht relevant sein, deren Satzstruktur muss gleichsam spekulativ unterlaufen und verändert werden. Die primäre Signifikationsrelation zwischen Zeichen und Sache wird sekundär gegenüber der Relation zwischen Zeichen und dem Unendlichen bzw. dem unaussprechlichen Namen Gottes. Cusanus reagiert auf das semantische Paradoxon mit einer Art metasprachlichen Strategie, indem er den Namen als Namen oder den Begriff als Begriff in den Mittelpunkt stellt. Seine Frage ist, wie muss ein Name oder Begriff beschaffen sein, der absolut Nichtgegenständliches, Unbegrenztes benennt? Wenn Gott nicht wie etwa ein Mensch, Baum, Philosoph oder Tisch bezeichnet und abgegrenzt werden kann, muss der ihn betreffende Begriff in besonderer Weise konzipiert sein. Aufgabe ist es, die „normalsprachliche Rede zu transformieren“, wobei es nicht um „eine Sondersprache“ gehe, sondern um „methodische Regeln“ für das Denken.⁴²¹ Der geforderte Begriff muss die Unbegrenztheit, Allheit und Einheit des Unendlichen in- und extensional erfassen. Wie soll das gelingen? Cusanus’ begriffsspekulative Antwort ist eng mit seiner Philosophie des Geistes verbunden, in der sich das hierarchische Begründungsverhältnis von Vernunft (intellectus) und Verstand (ratio) in den Begriffen und ihrem Verhältnis zueinander manifestiert. An dieser Stelle der Untersuchung lasse ich die innermentale Unterscheidung unberücksichtigt und bleibe bei der Begriffskonzeption innerhalb der Signifikationstheorie. Die Antwort auf die oben gestellte Frage ist der „absolute Begriff“ (conceptus absolutus); ein Ausdruck, der systematische Bedeutung für alle anderen Namen hat und von Cusanus erstmals in die Begriffsgeschichte eingebracht wird:⁴²²

durch seine Beschäftigung mit der Mathematik kannte, diese aber für sich ausschloss, weil er sich der aus der Übersetzbarkeit in die Objektsprache erwachsenden Aporie bewusst gewesen sei (84 f.). Senger kritisiert zu Recht das Urteil Peukerts 1964, 49 – 65 von der „Entsprachlichung der Metaphysik“ durch die Philosophie des Cusanus. Schon Jacobi 1969, 42– 46 hat ausgeführt, dass Cusanus die bestehende Wissenschaftssprache der Scholastik als ungenügend empfand und deswegen einen neuen Ansatz anstrebte. Vgl. auch Mojsisch 1998, 71.  Jacobi 1979, 39.  Flasch 1998, 259 hat auf diese philosophiehistorische Besonderheit hingewiesen. Vgl. zur Bedeutung von ‚absolutus’ Flasch 1973, 170; Beierwaltes 1980, 12 f.

164

2 Begriffstheorie

Idiota: Nam absolutus conceptus aliud esse nequit quam idealis forma omnium quae concipi possunt, quae est omnium formabilium aequalitas./ Orator: Hic conceptus, ut puto, dei verbum seu ratio dicitur./ Idiota: Qualitercumque a doctis dicatur, in eo conceptu sunt omnia …⁴²³

In dieser Passage ist neben der von mir kursiv hervorgehobenen formalen Bestimmung des absoluten Begriffs zunächst auf die Haltung des Laien hinzuweisen. Denn wie beiläufig, aber bestimmt er die Meinungen der „Gelehrten“, auf die der Redner hinweist, abtut, beweist, wie sehr er sich bewusst ist, dass er Neues formuliert. Das bestätigt sich auch im Rückblick auf das der bisherigen Analyse zugrunde liegende nomen ineffabile. Dieser Ausdruck verbleibt – ungeachtet der Analyseergebnisse – in der theologischen Tradition von der Innominabilität Gottes und kann nur ex negativo, eben ‚unaussprechlich‘ genannt werden. Der absolute Begriff ist hingegen weder negativ formuliert noch ist er ein Name. Neben der selbstbewussten Haltung des Laien ist vor allem die Bestimmung des Begriffs bedeutsam: Er ist alles, was begriffen werden kann und in ihm ist alles enthalten. In beiden Formulierungen hat das Indefinitpronomen ‚omnia‘ einen besonderen Stellenwert. Aufgrund seiner unbestimmten Semantik und seiner grammatikalischen Funktion bestimmt ‚omnia‘ die Intension und Extension des absoluten Begriffs: Er ist inhaltlich alles und umfasst alles, so dass er sich nicht im aristotelischen Sinn spezifizieren lässt. Der absolute Begriff ist für sich absolute Genauigkeit (absoluta praecisio)⁴²⁴, zugleich aber der für uns unbestimmteste Begriff, da wir nur wenige seiner Merkmale erfassen. Er ist maximal unbestimmt, weil er maximal bestimmt ist und maximal bestimmt, weil er maximal unbestimmt ist. Der absolute Begriff ist die Einheit von Indefinitheit und Definitheit, von Indistinktheit und Distinktheit; pointiert formuliert: Die Indistinktheit ist seine Distinktheit bzw. die Indefinitheit seine Definitheit.⁴²⁵ Auch hier trägt der Möglichkeitsbegriff entscheidend zum Verständnis der Einheit als Koinzidenz von Indefinitheit und Definitheit bei. ‚Omnia‘ bezeichnet alles, was möglich ist und sein kann. Begriffslogisch heißt das: Alle möglichen Merkmale, die den Inhalt des conceptus absolutus ausmachen, sind identisch mit allem Möglichen, was unter ihn fällt und umgekehrt. Intension und Extension sind identisch. Der absolute Begriff ist demnach der immanente Maßstab für jeden

 De sap. II, n. 34– 35, 67, 12– 2.  Vgl. De sap. II, n. 31, 63, 15 – 18; n. 35, 68, 9 f.  Flasch 1998, 260 lässt Cusanus gegen den Vorwurf, er gebe „das Feste“ preis, eine fiktive Verteidigungsantwort vorbringen, die mit den Worten endet: „Der Begriff des Begriffs verliert eo ipso jeden speziellen Inhalt; insofern können wir nie sagen, was der Begriff des Begriffs ist. Wir vollziehen ihn; wir legen ihn nicht fest.“

2.2 Der conceptus absolutus

165

Begriff, der von uns gebildet werden kann. Denn für jeden konstruierten Begriff gilt, dass er als Begriff bzw. in seinem Begriffsein immer ein intensional wie extensional begrenzt Mögliches oder begrenzte Möglichkeiten realisiert, die der absolute Begriff immer schon ist. Aus diesem Grund gibt es keinen Begriff, der außerhalb des absoluten existieren könnte. Cusanus nennt Gott daher auch den „Begriff vom Begriff“ (conceptus de conceptu), der in jedem (konstruierten) Begriff als das Unbegreifbare (inconceptibilis) mitbegriffen werde. Gott ermöglicht das Begriffsein unserer Begriffe. Ein zweiter wichtiger Gedanke ist zu ergänzen: Ohne den Geist entsteht kein Begriff. Das gilt auch für den absoluten Begriff. Weil der göttliche oder absolute Geist nichts anderes als dieser Begriff ist, denkt der Geist sich selbst als Begriff oder denkt sich der absolute Begriff selbst. Idiota: Sine mente non fit conceptus. / Orator: Concipere igitur cum sit mentis, tunc concipere absolutum conceptum, non est nisi artem absolutae mentis concipere… Sed ars absolutae mentis non est nisi forma omnium formabilium. Sic video, quomodo conceptus de conceptu non est nisi conceptus ideae divinae artis.⁴²⁶

Im Kern bestätigt die Analyse zum absoluten Begriff die Ergebnisse zum nomen ineffabile als unendlicher Möglichkeit des Benennens und Aussagens.⁴²⁷ Einerseits erlaubt es der neu gewählte begriffliche Ansatz, die Distanz gegenüber der aristotelischen Theorie herauszustellen: Für den älteren Philosophen ist es unmöglich, so sein Verdikt gegen Anaxagoras, dass alles Eins ist, weil dann universelle Indistinktheit oder Indifferenz bestände.⁴²⁸ Für Cusanus hingegen ist das Eine als absoluter Begriff alles und entspricht damit in ausgezeichneter Weise dem Gedanken des Anaxagoras vom ὁμοῦ πάντα oder πάντα ἕν. Er vertritt eine Konzeption holistischer Repräsentation, die sowohl semantisch als auch ontisch eine interdependente Einheit darstellt.⁴²⁹ Andererseits steht Cusanus mit seiner Formulierung von der ars absolutae mentis und dem Gedanken, dass sich absolutes Denken im absoluten Begriff selbst denkt, Aristoteles’ Theorem der νόησις νοήσεως nahe.⁴³⁰ Auch der conceptus absolutus ist eine Einheit im Sinn des ‚Sich-selbst-Begreifens‘ oder ‚Sichselbst-Denkens‘, die – das unterscheidet ihn zugleich wieder von dem Prinzip des Aristoteles – alles, was begriffen werden kann, mithin alle denk- und seinsmög De sap. II, n. 34, 66 f., 5 – 11.  Winkler 2001, 84 bezweifelt, dass Cusanus ein Aussagen im Sinn der aristotelischen Theorie zulässt. Es gehe nur noch um eine Zuweisung, eine Zeigehandlung von Bezeichnung und Bezeichnetem.  Vgl. Flasch 1973, 55.  Vgl. Winkler 1991, 1072; vgl. auch Blumenberg 1976, 85.  Vgl. dazu Beierwaltes 1985, 444 f.; ders. 1980, 144– 175.

166

2 Begriffstheorie

lichen Inhalte in actu ist, weil es von der Einheit gedacht wird. Der absolute Begriff ist die Identität von Epistemologie und Ontologie, von Denken und Sein; anders formuliert: Das Absolute schafft, indem es denkt: „Divina mens concipiendo creat …“⁴³¹ Was heißt das nun für die cusanische Namensmetaphysik? Sie ist vor das Problem gestellt, einen Namen oder Begriff zu konzipieren, der die Kriterien des absoluten Begriffs einlöst. Die Jagd nach der Weisheit ist die Jagd nach einem möglichst angemessenen Namen oder Begriff für den absoluten Begriff: „Qui igitur in simplicitatem absolutae rationis in se omnia prioriter complicantis intuetur profunda mente, hic facit conceptum de per se seu absoluto conceptu.“⁴³² Eine auf rationale Unterscheidung basierende Benennungspraxis, wie sie in der rationalen Metaphysik mit den Kategorien des Aristoteles gegeben ist, muss daher unterlaufen, oder genauer gesagt: transformiert werden. Die transrationale Metaphysik muss einen Begriff entwickeln, der zwar materialiter singulär bleibt, aber nicht etwas in Abgrenzung von etwas Anderem bezeichnet, wenn er das unendliche Eine bezeichnet. Seine Bedeutung soll idealiter zu verstehen geben, dass das Absolute allen Unterscheidungen vorgängig ist und nur auf diese nicht-gegensätzliche Weise bezeichnet werden kann. Gefordert ist eine Semantik indefiniter Definitheit. Die Forderung nach dieser Semantik ist – so meine These – das Grundmotiv für die in den späteren Werken entwickelte Könnens- oder Möglichkeitsmetaphysik; sie findet, was zu zeigen sein wird, in der Theorie des posse ipsum ihre angemessenste Konzeption. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen erklärt sich auch Cusanus’ Kritik an dem rationalen Begriff der Einheit, der, solange er von ihm unterschiedene Bedeutungsinhalte wie die Vielheit und das Viele voraussetzt, für einen Gottesbegriff unzureichend bleibt: Hinc unitas deo non convenit sed unitas, cui non opponitur aut alteritas pluralitas aut multitudo. Hoc est nomen maximum omnia in sua simplicitate unitatis complicans, istud est nomen ineffabile …⁴³³

Es geht um die Transformation der rational-endlichen Inhalte der Verstandesbegriffe, mithin der aristotelischen Kategorien: Das Absolute ist sich inkommen De mente c. 7, n. 99, 149, 5; vgl. Beierwaltes 1980, 27 f.; Winkler 2001, 132 spricht vom „infiniten Selbstbegreifen“. Besser ist es, vom Selbstdenken zu sprechen, da in De princ. n. 9, 10, 1 f. der absolute Ursprung noch das sich selbst Erkennende transzendiert. Cusanus kann daher auch sagen, dass im absoluten Sein alle Formen eine unterschiedene Form („indistincta“) sind.  De sap. II, n. 35, 67 f., 5 – 8.  De doct. ign. I c. 24, 49, 10 – 13. Cusanus wendet sich damit gegen die Schule von Chartres; vgl. Flasch 1973, 295.

2.2 Der conceptus absolutus

167

surabel für das kategoriale Sprechen. Aber Cusanus weiß ebenso gut, dass wir den rationalen Diskurs keinesfalls aufgeben können.Wir kommunizieren nur in ihm und unter seinen Bedingungen – vor allem unter der des Nichtwiderspruchssatzs –; auch die ‚metasprachlichen‘ Begriffsinhalte müssen in ihm erklärt werden. Die Überlegungen zum coneptus absolutus und die Forderung nach einer Semantik indefiniter Definitheit – so meine weiterführende These – bilden die Grundlage für die zunehmende Berücksichtigung eines starken Möglichkeitsbegriffs in der Philosophie des Cusanus. Er legt in der unbestimmten Bedeutung von ‚omnia‘ und von ‚posse‘ fest, dass dem zu konzipierenden Namen in ontischer und epistemischer Hinsicht nichts äußerlich bleibt. Das erklärt die Entwicklung einer eigenen posse-Metaphysik. In der Spätschrift De venatione sapientiae, die er kurz vor seinem Tod verfasst und als eine Art Testament angesehen hat, führt Cusanus die Erträge seiner philosophischen Jagd noch einmal auf. Die zehn Begriffsfelder sind eine systematische Zusammenschau der Themen aller anderen Schriften.⁴³⁴ Dass Cusanus derart viele Gottesnamen erfand, beweist die Dynamik seines Denkens unter der Bedingung der docta ignorantia: Die von uns konzipierten Gottesnamen bzw. -begriffe bleiben notwendig vorläufig und korrigierbar; sie tragen, so Alfons Brüntrup, „ihre immanente Kritik mit sich“⁴³⁵. Zum einen ist es wieder der Optimismus, dass mit dem spekulativen Begriffs- und Bedeutungsverständnis das Unbegreifbare oder Unbenennbare besser erfasst wird und sich jeder neu konzipierte Ausdruck der möglichen Unmöglichkeit präziser Bezeichnung annähert; zum anderen ist es der Skeptizismus, dass die in einer konventionellen Sprache gebildeten Begriffe nie völlig ihren Ursprung, den absoluten Begriff oder den unaussprechlichen Namen einholen können. Endliches Denken und Sprechen exekutiert, indem es sich vollzieht, die Differenzierung seiner Zeichenbedeutungen ad infinitum. Dies hat einen metaphysischen Grund: Würde das nomen naturale einer Sache gewusst werden, ließe sich nicht nur deren Wesen, sondern dadurch auch die infinita forma, die in allem ist, benennen. Die docta ignorantia wäre überwunden.⁴³⁶ Alle Gottesnamen eint aber, dass sie gerade in dieser Differenz nicht völlig Unmögliches intendieren, sondern ihre Bedeutungen und ihr Begriffssein gewinnen. In exemplarischer und systematischer Absicht sind zwei Begriffe ins Zentrum der weiteren Untersuchung zu rücken: Der Begriff des Größten (maximum) und

 Die Felder sind: das wissende Nicht-Wissen, das Können-Sein, das Nicht-Andere, das Licht, das Lob, die Einheit, die Gleichheit, die Verbindung, die Grenze, die Ordnung. Vgl. für einen Überblick Wolters 2004, 205 – 276.  Brüntrup 1973, 16.  Vgl. De mente c. 3, n. 69, 106, 9 – 14; n. 70, 107, 15 f.; De ven. sap. c. 33, n. 97, 93, 5 – 11.

168

2 Begriffstheorie

des Können selbst (posse ipsum). Zudem geht es um den Ort der Begriffsbildung und dessen Konzeption: den menschlichen Geist (mens humana). Denn wie deutlich wurde, ist die Begriffsmetaphysik des Einen nicht von einer Metaphysik des Geistes zu trennen. Ohne eine dezidierte Theorie der mens humana ergäbe die Frage nach der Erkennbarkeit und Benennbarkeit des unum keinen Sinn.

3 Der erste Gottesbegriff: maximum Das Größte (maximum) ist der erste Gottesname oder -begriff der cusanischen Metaphysik und notwendiger Bestandteil der „Wissenschaft des Nicht-Wissens“ (ignorantiae doctrina). Von Anfang an ist damit festgelegt, dass es nicht um irgendeine Begriffsbestimmung geht, sondern zugleich um die Denkweise, die diesen Begriff konzipiert. Dass der Zusammenhang für Cusanus fundamental ist, wurde bereits in der Einleitung hervorgehoben; in der Theorie vom Größten löst er sich ein. Die Anforderungen an den Begriff sind klar: Er muss die metaphysische Bedeutung des ‚omnia‘ einlösen und darf nicht durch gegensätzliche Distinktionen bestimmt sein. Gleich zu Beginn wird daher das unum als dasjenige bestimmt, was ohne jeden Bezug sowie ohne jede Begrenzung und herausgelöst aus allen Kontraktionen ist: … si ipsa talis unitas ab omni respectu et contractione universaliter est absoluta, nihil sibi opponi manifestum est, cum sit maximitas absoluta.⁴³⁷

Wenn also das Größte das Kleinste (minimum) als sein Entgegengesetztes ausschließt, verbleibt es in einer Verhältnisbestimmung, genügt aber nicht der koinzidental zu denkenden Einheit. Cusanus muss demnach das Kleinste in seine Analyse des Größten mit einbeziehen. In diesem Zusammenhang lässt sich zeigen, dass in seiner Argumentation der Möglichkeitsbegriff eine tragende Bedeutung hat. Mit einem Verweis auf den Gottesbeweis Anselms von Canterbury soll die Rolle dieses Begriffs mit deutlicheren Konturen entwickelt werden, wobei es gleichermaßen auf Gemeinsamkeiten wie Unterschiede ankommt.

3.1 Das cusanische maximum und der Gottesbeweis des Anselm von Canterbury Cusanus bestimmt das Größte als das, „über das hinaus nichts Größeres sein kann“ (quo nihil maius esse potest); es ist die Überfülle (abundantia) und Einheit, die mit dem Sein (ens) koinzidiert.⁴³⁸ Die neuplatonische Identitätssetzung von Größtem und Sein mit der Einheit als Einheit ist grundlegend für die Theorie des maximum und für die Metaphysik des Cusanus insgesamt.

 De doct. ign. I c. 2, 7, 6 – 8; vgl. für den Ausdruck „ignorantiae doctrina“ 7, 3.  De doct. ign. I c. 2, 7, 4 f.; vgl. auch „quo maius esse nequit“ De doct. ign. I c. 4, 7, 19 f.

170

3 Der erste Gottesbegriff: maximum

Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass Cusanus den Ausdruck ‚quo nihil maius esse potest‘ in bewusster Anlehnung an Anselms Gottesbegriff ‚aliquid, quo nihil maius cogitari possit‘ vorbringt, nach dem Gott „etwas ist, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“⁴³⁹, oder das ist, „über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann“ (id, quo maius cogitari non potest)⁴⁴⁰. Auch ohne die implizierten Argumentationsschritte der älteren Konzeption an dieser Stelle im Einzelnen nachzuvollziehen, können wir uns dem Ergebnis der Beweisführung, wie es Anselm in seiner Erwiderung auf die Kritik Gaunilos von Marmoutiers vorbringt, zuwenden. Anselm sieht in seiner Formulierung eine argumentativ zwingende „Kraft“ (vis) eingebunden, der sich keiner, der den Ausdruck ‚aliquid, quo nihil maius cogitari possit‘ denkt und seinen Inhalt versteht, entziehen kann. Wer demnach das Argument denkt, so Anselms Überzeugung, unterliegt dessen Überzeugungskraft und hat nicht mehr die Möglichkeit, Gottes Nicht-Sein, sondern nur die Möglichkeit, Gottes notwendige und wirkliche Existenz zu denken, genauer gesagt: Derjenige denkt die Unmöglichkeit des Nicht-Seins Gottes:⁴⁴¹ Dum ergo cogitatur quo maius non possit cogitari, si cogitatur, quod possit non esse, non cogitatur quo non possit cogitari maius. Sed nequit idem simul cogitari et non cogitari. Quare qui cogitat quo maius non possit cogitari, non cogitat, quod possit, sed non possit non esse. Quapropter necesse est esse, quod cogitat, quia, quidquid non esse potest, non est, quod cogitat.⁴⁴²

Wer hingegen das Nicht-Sein behauptet, hat die Bedeutung des Ausdrucks nicht richtig gedacht: ‚Etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann‘ ist unmöglich ohne notwendiges Sein zu denken, andernfalls gäbe es etwas, das größer ist als das, was der Ausdruck ‚über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann‘ bedeutet, nämlich das davon unterschiedene notwendige Sein; dies zu behaupten, widerspricht aber gerade dem Inhalt des Beweises. Die Selbstentfaltung des Argumentes erlaubt, indem es gedacht wird, keinen Zweifel an der Notwendigkeit der Existenz des Wesens, das durch diesen Ausdruck erfasst ist. ‚Etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann‘ ist unmöglich kontingentes Sein.

 Anselmus, Proslogion 2, 101, 5. Vgl. zu Anselms Argument Flasch/Mojsisch 1989, 50 – 55 u. 118 – 123. Vgl. Flasch 1973, 161– 163 zur Bewertung des Verhältnisses zwischen beiden Denkern.  Anselmus nach Flasch/Mojsisch 1989, 52.  „Tantam enim vim huius prolationis in se continet significatio, ut hoc ipsum, quod dicitur, ex necessitate eo ipso, quod intelligitur vel cogitatur, et revera probetur existere et id ipsum esse, quidquid de divina substantia oportet credere.“ Anselmus nach Flasch/Mojsisch 1989, 122.  Anselm nach Flasch/Mojsisch 1989, 121– 123.

3.1 Das cusanische maximum und der Gottesbeweis des Anselm von Canterbury

171

Festzuhalten ist: Für Anselm ist das Denken oder das Gedacht-Werden wesentliches Moment seiner Beweisformel; es hat außerordentliche Valenz. Immer unter der Prämisse, dass der zentrale Ausdruck ‚etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann’ gedacht und verstanden wird, verläuft das Argument von dem Denken des Seins über das Denken der Extramentalität des Seins zum Denken der Notwendigkeit des extramentalen Seins. Anselm von Canterbury ist ein „Theoretiker des Denkbaren“⁴⁴³. Darüber hinaus ist er aber auch ein Theoretiker des Nicht-Denkbaren, wenn das 15. Kapitel des Proslogion berücksichtigt wird. Dort korrigiert er seine erste Formel für das Wesen Gottes mit einer neuen Wendung: Ergo, Domine, non solum es, quo maius cogitari nequit, sed es quiddam maius, quam cogitari possit, quoniam namque valet cogitari esse aliquid huiusmodi. Si tu non es hoc ipsum, potest cogitari aliquid maius te, quod fieri nequit.⁴⁴⁴

Der Grund für diese Korrektur: Anselm will die absolute Andersheit Gottes aufzeigen. Absolut anders ist aber das, was als Grund von allem auch noch das Denken transzendiert, indem er noch etwas Größeres ist als das ‚etwas über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann‘ (quiddam maius, quam cogitari possit). Anselm überschreitet die im zweiten Kapitel des Proslogion gesetzte Grenze des Denkbaren um das Nicht-Denkbare und bestimmt Gott jenseits dieser Grenze. Freilich wird auch diese absolute Andersheit durch den neuen sprachlichen Ausdruck noch gedacht.⁴⁴⁵ Das Nicht-Denkbare kann gedacht werden, wenn auch die dadurch bezeichnete extramentale Wirklichkeit Gottes, wie Anselm selber sagt, nicht mehr gedacht und verstanden wird.⁴⁴⁶ Für uns geht es im Folgenden nicht um eine abschließende Bewertung des Anselmianischen Arguments, sondern um die Frage, was das Gemeinsame und Trennende gegenüber der Formulierung des Cusanus ist.⁴⁴⁷

 Mojsisch 1998, 484.  Anselmus, Proslogion 15, 112, 14– 17.  Mojsisch 1996, 441 f. hat die versteckte Dynamik, die dem Ausdruck ‚quiddam maius, quam cogitari possit’ immanent ist, klar herausgestellt. Gegen Anselms eigene Intention erlaubt die Formel den unendlichen Regress, so dass wiederum ein Größeres als das, was größer ist als das, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, zu behaupten möglich ist.  Anselm ist „… der Urheber der Theorie, dass selbst das Nicht-Denkbare gedacht werden kann“, so fasst Mojsisch 1996, 442 treffend zusammen.Vgl. hier Flasch/Mojsisch 1989, 118 – 121 für Anselms Erwiderung auf Gaunilo von Marmoutiers Kritik.  Vgl. Flasch/Mojsisch 1989, 7– 48 für eine kritische Bewertung des ‚aliquid, quo nihil maius cogitari possit’.

172

3 Der erste Gottesbegriff: maximum

1. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass Cusanus keinen Beweis führt, sondern das Größte als das unendliche Eine voraussetzt. Er geht daher auch nicht von dem absolut Denkbaren als das, ‚über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann‘, aus, sondern von der Existenz des Größten, ‚über das hinaus nichts Größeres sein kann‘.⁴⁴⁸ So führt Cusanus seinen Beweis für die Notwendigkeit des Größten auch zu einem Teil anders als Anselm. Er stellt das Verbot des infiniten Regresses auf, um ex negativo die Notwendigkeit des maximum in ontologischer und wissenschaftstheoretischer Hinsicht zu schlussfolgern: „Nec in principiis et causis est, ut regula patet, possibile ire in infinitum.“ Das aktual Größte ist Ursprung und Ziel alles Endlichen, womit zugleich eine klare Teleologie für alle Endliches besteht: „Igitur necessario est maximum actu omnium finitorum principium et finis.“⁴⁴⁹ Cusanus argumentiert gemäß dem axiomatischen Wissenschaftspostulat des Aristoteles. Freilich kennt Cusanus, wie zu Beginn von I 4 deutlich wird, auch Anselms zweite Formulierung und gebraucht sie für seine Argumentation, wenn er schreibt, das absolute Größte sei über allem, was von uns begriffen werden könne: „Maximum, quo maius esse nequit, simpliciter et absolute cum maius sit, quam comprehendi per nos possit“, und: „Nam cum non sit de natura eorum, quae excedens admittunt et excessum, super omne id est, quod per nos concipi potest.“⁴⁵⁰ Wie nah oder fern Cusanus damit Anselm tatsächlich ist, soll im nächsten Kapitel geklärt werden, wenn es in Verbindung mit dem minimum um den Koinzidenzgedanken geht. 2. Cusanus vertritt wie Anselm die absolute Andersheit Gottes. Doch ist der methodische Unterschied zu beachten: Cusanus verfolgt mit seiner docta ignorantia ein anderes Ziel, wenn er voraussetzt, das Größte bzw. die absolute Wahrheit können von uns zwar nicht an sich begriffen werden, aber wir können sie, weil sie wegen ihrer Absolutheit nicht völlig anders gegenüber unserem Denken und unseren Begriffen sein kann, auf nicht-wissende oder unbegreifliche Weise begreifen.Wäre die Wahrheit radikal anders, dann wäre es nicht nur für uns sinnlos, sie vorauszusetzen, sondern sie müsste, da selbst durch Andersheit begrenzt, als unendliche Einheit in sich widersprüchlich sein. Gemeinsam ist beiden Philosophien: 3. Sie ermitteln die konstitutive Funktion der absoluten Grenze, die gleichermaßen oberstes Ziel und Movens der philosophischen Theologie ist. Für Anselm ist es die  Vgl. Mojsisch 1998, 484, Fn. 4 für eine Kritik an Cusanus mit dem Argument Anselms.  De doct. ign. I c. 6, 13, 20 f.  De doct. ign. I c. 4. In De ven. sap. c. 26, n. 77, 74, 5 verweist Cusanus explizit auf den Gedanken Anselms.

3.1 Das cusanische maximum und der Gottesbeweis des Anselm von Canterbury

173

Bewegung des Denkens (cogitare/cogitatio) in Bezug auf das höchste Denkmögliche und noch darüber hinaus auf das Nicht-mehr-Denkbare. Für Cusanus ist es die Bewegung der Erkenntnis bzw. des Wissens (comprehendere/scire) in Bezug auf das Unendliche, das sich aller Proportionalität entzieht und somit zur Selbstkorrektur des Wissens und zum wissenden Nicht-Wissen führt. Der Gegensatz von möglichem und unmöglichem Wissen wird als Koinzidenz in die neue Epistemologie aufgenommen. Für beide Ansätze ist entscheidend, dass eine Aussage über Gott nicht ohne eine fundierte Reflexion über die logischen Prozesse, innerhalb derer sich diese Betrachtung vollzieht, möglich ist. Sie unterscheiden sich in der Weise, wie sie die Möglichkeit und die Unmöglichkeit des Denkens oder Denkbaren und des Wissens oder Wissbaren ausführen. 4. Beide Philosophen argumentieren unter zentraler Verwendung des Möglichkeitsbegriffs, der in den zentralen Ausdrücken ‚posse cogitari‘, ‚posse esse‘ und ‚posse comprehendi‘ vorliegt. Das Modalverb ‚posse‘ hat in seiner modifizierenden Funktion für beide Konzeptionen sowohl die Bedeutung von ontischem Vermögen ‚etwas kann sein/existieren‘ als auch von noetischem oder epistemischem Vermögen ‚etwas kann gedacht/erkannt werden‘, das die logische Möglichkeit umfasst. Potentialität (‚a kann …‘, oder: ‚Für a ist es möglich zu …‘) und Possibilität (‚Es ist möglich, dass, oder: ‚Es kann sein, dass …‘) sind daher in den Formulierungen beider Philosophen nicht streng unterschieden. In diesem doppelten Sinn von Potentialität und Possibilität bestimmt der Möglichkeitsbegriff in Verbindung mit der Negationspartikel ‚non posse‘ die Grenze des Denk- und Erkenntnisprozesses und folglich den Prozess selbst. Was über das maximum gedacht und nicht mehr gedacht werden kann – so Anselm – oder gewusst und nicht mehr gewusst werden kann – so Cusanus –, erhält durch den Möglichkeitsbegriff seinen theoretisch-argumentativen Gehalt. Über das Modalverb ‚posse‘ erschließt sich sowohl die Dynamik des Gedankensganges als auch der exponierte Status der Sache selbst. Die philosophische Bedeutung des Ausdrucks ist demnach dem oben erklärten ‚omnia‘ vergleichbar. Bei Anselms ist dies offensichtlich. Er argumentiert modallogisch. Die uneingeschränkte Gültigkeit seines Gottesbeweises beruht auf der Anwendung der Modalität ‚Unmöglichkeit‘ für das Denken selbst, wenn es den Beweis denkt: Das Nicht-Sein des höchsten Denkmöglichen ist im Rahmen seiner Formel nicht möglich bzw. unmöglich zu denken (‚non posse cogitari‘). Logisch äquivalent zur Unmöglichkeit des Nicht-Seins muss daher das Sein Gottes als notwendig gedacht werden. Für Cusanus’ maximum und das entgegengesetzte minimum ist die Bedeutung des Modalverbs noch genauer zu analysieren. Bereits jetzt ist aber zu sagen,

174

3 Der erste Gottesbegriff: maximum

dass Cusanus die Unmöglichkeit des Nicht-Seins des Größten über die Koinzidenz begründet und damit anders als Anselm vorgeht. 5. Beide Philosophen sind sich in ihrer Kritik an jeder dogmatischen Metaphysik darin einig, dass sie entweder deswegen defizitär ist, weil sie die Anselmianische Denkmöglichkeit des Nicht-Sein-Könnens unbedacht lässt, damit aber gezwungenermaßen die Existenz Gottes der Kontingenz aussetzt, oder weil sie in Bezug auf das Unendliche die Möglichkeiten der Erkenntnis nicht radikal genug prüft, als dass sie, wie Cusanus, zu einer neuen Erkenntnismöglichkeit gelangen könnte. Demnach wird Gott innerhalb der dogmatischen Metaphysik zu einer agnostischen Glaubenssache, weil er entweder nicht mehr philosophisch-begrifflich erklärt werden kann oder, indem er einseitig proportional bestimmt ist und mithin vergegenständlicht wird. Abschließend ist noch einmal auf einen bereits genannten Unterschied hinzuweisen: Während Anselm mit seiner zweiten Formel die absolute Andersheit Gottes, die noch das Denken transzendiert, ausdrückt, um über alles, was sein und gedacht werden kann, hinaus zu sein, bleibt hingegen für Cusanus entscheidend: Die Andersheit Gottes ist nicht von der Welt und dem Denken abgekoppelt. Anselm will alles, schließlich sogar das Denken aus dem Bereich des Absoluten ausschließen. Cusanus will diesen Ausschluss nicht, will aber gleichzeitig die Andersheit des maximum wahren. Anders gesagt: Ihm geht es gleichermaßen um Transzendenz wie Immanenz des Absoluten. Um diesen Anspruch einlösen zu können, misst er dem Möglichkeitsbegriff bereits in der Frühschrift eine zentrale Bedeutung zu, wie die weitere Untersuchung zeigen wird.

3.2 Maximum – minimum Wenn die Koinzidenz die für Cusanus einzig angemessene Form ist, um die metaphysische Geltung der mit dem maximum benannten absoluten Einheit zu begreifen, dann muss in die Bedeutung des maximum die Bedeutung des minimum einbezogen werden. Für Verständnis und Konsistenz des Theorieentwurfs in De docta ignorantia ist es maßgeblich, nicht nur zu klären, was der Begriff des maximum, sondern gerade auch was der des minimum bedeutet. Systematisieren wir Cusanus’ Begründung, so ergeben sich folgende, allerdings nicht in dieser Abfolge im Text vorkommende Argumente für die Koinzidenz: Erstens kommen das Größte und das Kleinste darin überein, Extreme bzw. Superlative in der Kategorie der Quantität und damit nicht mehr steigerungsfähig zu sein, so dass beide als maximale Quantitäten dasselbe sind. Aber da es sich hier allenfalls um eine formale Einheit unter der Voraussetzung der Kategorie der Quantität und damit unter der Bedingung der Proportionalität handelt, ist dies ein

3.2 Maximum – minimum

175

schwaches Argument. Zweitens weist Cusanus die Termini wenig später als „transzendente Termini mit absoluter Bedeutung“ aus, die jenseits aller empirischen Einschränkung in ihrer „absoluten Einfachheit alles umfassen“ und damit nicht nur jenseits jeder „Zusammenziehung zur Quantität“, sondern jenseits jeden Gegensatzes sind. Auch diesem Argument fehlt es an Überzeugungskraft, insofern der transzendentale Status eine Behauptung ist und keine Erklärung liefert.⁴⁵¹ Drittens bezeichnet Cusanus das minimum mit derselben sprachlichen Wendung, die auch dem Größten zukommt: Auch für das Kleinste gilt: Es ist das, „über das hinaus ein Kleineres nicht sein kann“ (quo minus esse non potest).⁴⁵² Ein wichtiger Aspekt für die Erklärung der Koinzidenz ist damit genannt. Denn die Irreduzibilität und Nichttranszendierbarkeit des Kleinsten erklärt sich wie schon beim Größten über die Verbindung des Modalverbs ‚posse‘ mit ‚esse‘ und dem Negationspartikel; auch hier entspricht ‚posse‘ einer Möglichkeitssemantik, die Potentialität und Possibilität umfasst. Cusanus wendet den von Anselm übernommenen Ausdruck für das Nicht-Denkbare des maximum nicht explizit auf das minimum an, doch ist das mitgedacht, so dass wir ergänzend sagen können, ‚das Kleinste ist zu klein, als dass es von uns begriffen werden könnte‘ (cum minus sit, quam comprehendi per nos possit). Sowohl für das Größte als auch für das Kleinste gilt daher, dass es nicht möglich ist, dass es ein Größeres oder ein Kleineres gibt. Die Begründung der Koinzidenz reicht aber noch nicht aus. Eine inhaltliche Bestimmung des maximum und minimum fehlt. Cusanus führt daher ein viertes Argument an, mit dem er nicht bei der negativen Formulierung ‚quo maius/minus esse non potest‘ stehen bleibt, sondern positive Bestimmungen angibt. Die zwei zentralen Aussagen in I 2 und 4 sind in ihren Zusammenhängen zu zitieren: Maximum itaque absolutum unum est quod est omnia; in quo omnia, quia maximum. Et quoniam nihil sibi opponitur, secum simul coincidit minimum. Quare et in omnibus. Et quia absolutum, tunc est actu omne possibile esse, nihil a rebus contrahens, a quo omnia.⁴⁵³ Quare maximum absolute cum sit omne id quod esse potest, est penitus in actu. Et sicut non potest esse maius, eadem ratione nec minus, cum sit omne id quod esse potest. Minimum autem est, quo minus esse non potest. Et quoniam maximum est huiusmodi, manifestum est minimum maximo coincidere.⁴⁵⁴

 „Maximum autem et minimum, ut hoc libello sumuntur, transcendentes absolutae significationis termini existunt, ut supra omnem contractionem ad quantitatem molis aut virtutis in sua simplicitate absoluta omnia complectantur.“ De doct. ign. I c. 4, 11, 18 – 22.  De doct. ign. I c. 4, 10, 14 f.  De doct. ign. I c. 2, 7, 7– 12.  De doct. ign. I c. 4, 10, 12– 16.

176

3 Der erste Gottesbegriff: maximum

Wieder ist es der Möglichkeitsbegriff, der in den Wendungen ‚omne id quod esse potest‘ sowie ‚omne possibile esse‘ die positive Bedeutung ausmacht. Wie die häufige Verwendung in De docta ignorantia und im Gesamtwerk des Cusanus belegt, ist insbesondere die erste Formulierung von zentraler Bedeutung. Beide Wendungen sind als die Begründungsformeln der Koinzidenz in der Theorie des Größten zu verstehen, wobei der Wirklichkeitsbegriff, der in beiden Aussagen für das maximum verwendet wird, notwendig einzubeziehen ist. In I 4 lautet der Begründungssatz: Das Größte ist absolut, weil es die eine Wirklichkeit von allem ist, was überhaupt sein kann.⁴⁵⁵ Was das minimum positiv bedeutet, wird in I 2 ausgesprochen: Das Kleinste ist absolut, weil es alles mögliche Sein oder die Möglichkeit allen Seins ist.⁴⁵⁶ Das minimum hat einen hohen theoretischen Stellenwert, weil es die Absolutheit des maximum sichert. Allerdings ist zu betonen, dass die Formulierung ‚quo minus esse non potest‘, nach der ein Kleineres als das Kleinste nicht sein kann oder nicht möglich ist, auch eine abgrenzende Funktion hat, und zwar gegenüber dem Nichts schlechthin, das noch alles mögliche Sein negiert. Man kann darin eine Schwäche der cusanischen Argumentation sehen, da dass Nichts dem Größten entgegengesetzt und somit äußerlich bleibt; man kann aber auch, wie von Bredow das tut, in dem Nichts schlechthin das Kleinste als isolierten Begriff sehen; eine Isolierung, die Cusanus jedoch vermeidet, wenn er das maximum als minimum und damit als gegensatzlos denkt. Zu Recht weist von Bredow darauf hin, dass sich die Begriffe nicht voneinander trennen lassen, ohne zugleich den Sinn der Koinzidenz zu verlieren.⁴⁵⁷ Wenn Cusanus in I 6 von dem Zusammenfall von Sein und Nicht-Sein (nonesse) im Größten spricht, dann widerlegt das nicht den Verweis auf die Abgrenzungsfunktion des minimum. Das Nicht-Sein wird von Cusanus auch an dieser Stelle nicht im Sinn des Nichts schlechthin, sondern als geringstes Sein (minime esse) oder Sein, das noch nicht, mithin möglich ist,verstanden.⁴⁵⁸ Die Bestimmung

 Vgl. Bredow 1970, 360.  Cusanus bezieht sich ausdrücklich auf das Sein, meint also vor allem eine ontologische Totalität. Das in dieser Ausrichtung bereits ein Mangel der minium-maximum-Konzeption verborgen ist und die Anforderung an den conceputs absolutus nicht erfüllt wird, bestätigt, wie meine Analyse noch zeigen wird, die späte Theorie des posse ipsum.  Vgl. Bredow 1970, 365. Von Bredow bietet eine der wenigen Einzeluntersuchungen zur Bedeutung des minimum; ein Text, der kaum Berücksichtigung findet, so z. B. auch nicht in der für den Begriff der Möglichkeit bzw. des Könnens immer noch grundlegenden Arbeit von Büntrup 1973.  „Maximo esse nihil opponitur, quare nec non esse nec minime esse. Quomodo igitur intelligi potest maximum non esse posse, cum minime esse sit maxime esse? Neque quidquam intelligi

3.2 Maximum – minimum

177

ist bedenkenswert, weil sie das minimum als eine Bedingung der Schöpfungsontologie ausweist. Hierbei spielt der Begriff der absoluten Möglichkeit (possibilitas absoluta), wie er im zweiten Buch von De docta ignorantia verwendet wird, eine Rolle. Cusanus argumentiert: Für die Aristoteliker sei die possibilitas absoluta identisch mit der prima materia und sei aufgrund ihrer völligen Indefinitheit die Gesamtheit aller möglichen Dinge; sie sei unbegrenzt und unendlich. Die „privative Unendlichkeit“ der Materie sei der „negativen Unendlichkeit“ Gottes, in der alles in der Wirklichkeit Gottes Gott selbst ist, entgegengesetzt.⁴⁵⁹ Entscheidend ist nun: Cusanus lehnt diese Entgegensetzung ab, da eine außerhalb Gottes bestehende absolute Möglichkeit unmöglich sei (impossibile). Denn, so seine Begründung, eine als privativ Unendliches verstandene absolute Möglichkeit lasse, da kein mögliches endliches Seiendes weniger Sein als sie habe, die Angabe eines Kleinsten oder Größten in ihrem Bereich (der kontingenten Wirklichkeit) außerhalb Gottes bzw. des maximum zu, was dem Begriff des Absoluten widerspreche. Zudem sei es unmöglich, dass sich aus einer „absoluten Potenz“ (potentia absoluta) etwas ergebe. Die Materie verwirklicht sich nicht selbst. Daher gebe es in der kontingenten Wirklichkeit des ‚Mehr oder Weniger‘ nur die „eingeschränkte Möglichkeit“ (possibilitas contracta); die absolute Möglichkeit ist allein in Gott.⁴⁶⁰ Die Bedeutung des minimum ist synonym mit der der possibilitas absoluta. Das Kleinste ist ‚alles mögliche Sein‘ (omne possibile esse) und damit die Gesamtheit der möglichen Dinge. Entsprechend kann Cusanus von der Welt sagen, sie sei in der absoluten Möglichkeit in Gott und die Ewigkeit selbst.⁴⁶¹ Über die Identifi-

potest esse sine esse. Absolutum autem esse non potest esse aliud quam maximum absolute. Nihil igitur potest intelligi esse sine maximo.“ De doct. ign. I c. 6, 14,1– 6.  „Sic in possibilitate absoluta universitatem rerum possibiliter dixerunt. Et est ipsa possibilitas absoluta interminata et infinita … Et ista infinitas contraria est infinitati Dei, quia ista est propter carentiam, Dei vero propter abundantiam quoniam omnia in ipso ipse actu. Infinitas materiae est privativa, Dei negativa“. De doct. ign. II c. 8, 87, 13 – 19. – Die Unterscheidung von negativer und privativer Unendlichkeit ist für die Bestimmung des Universums wichtig; vgl. hierfür De doct. ign. II c. 1 und c. 4– 8. Bezeichnenderweise ist auch das Universum ein maximum, da zum einen alles in ihm und es in allem ist, zum anderen, weil kein größeres Universum möglich und es selbst – in Ermangelung zusätzlicher Materie – auch nicht größer sein kann, als es ist. Wesentliches Unterscheidungskriterium gegenüber dem absoluten maximum ist: Das Universum bleibt immer „eingeschränkt“ (contractum), also ein „eingeschränktes Größtes“ oder „Unendliches“ und kann ohne diese Einschränkung nicht existieren.  Vgl. De doct. ign. II c. 7, 87– 88, 21– 9.  „Unde cum possibilitas absoluta sit deus, si mundum consideramus ut in ipsa est, tunc est in deo et est ipsa aeternitas.“ De doct. ign. II c. 8, 89, 16 – 18; vgl. auch II c. 7, 84, 8 f., wo die absolute Möglichkeit die „unterste Seinsweise“ ist, in der „alle Dinge sein können“. Bereits in I c. 4, 11, 9 – 11

178

3 Der erste Gottesbegriff: maximum

zierung von minimum, possibilitas absoluta und prima materia wird die erste Materie im maximum oder in Gott begründet. Zusammenfall von Sein und Nicht-Sein im Größten ist aber nicht allein schöpfungstheoretisch zu verstehen. Die Koinzidenz der kontradiktorischen Begriffe ist die Bedingung der Möglichkeit des Denkens und führt über die ontologische Bestimmung hinaus: Sie ist das tranzendentalphilosophische Prinzip des Denkens. Erst indem ihre Koinzidenz gedacht wird, begreifen wir das Größte. Entgegengesetzte Positionen schließen sich in ihm nicht aus, sondern sind Eines. Um diesen Gedanken zu fassen, bedient sich Cusanus keiner ontologischen Argumentation, sondern logischer Denkmöglichkeiten und demonstriert, dass sie in ihrer Begrenztheit die Einheit nicht erfassen, oder positiv gesagt, dass sie alle, ohne dass es widersprüchlich ist, von ihr ausgesagt werden können: „Maxime igitur verum est ipsum maximum simpliciter esse vel non esse vel esse et non esse vel nec esse nec non esse (Das schlechthin Größte ist oder ist nicht oder ist und ist nicht oder weder ist es noch ist es nicht).“⁴⁶² Erst durch die Koinzidenz der logischen Möglichkeiten im Denken, und das unterscheidet Cusanus’ wiederum von Anselms Vorgehen, folgt die Denkunmöglichkeit, dass das Größte oder die absolute Wahrheit auch nicht sein könnte. Zu betonen ist: Der Ausdruck ‚absolutus‘ bedeutet nicht Koinzidenz im Sinn des Zusammenbestehens oder der Kompatibilität der Gegensätze, sondern das vollkommene Herausgelöstsein. Das maximum ist die Einheit über allen Gegensätzen – „supra omnem oppositionem est“, und: Quia igitur maximum absolute est omnia absolute actu, quae esse possunt taliter absque quacumque oppositione, ut in maximo minimum coincidat, tunc super omnem affirmationem est pariter et negationem. Et omne id quod concipitur esse non magis est quam non est. Et omne id quod concipitur non esse, non magis non est quam est. ⁴⁶³

ist das Größte die von nichts begrenzte Grenze von allem (terminus omnium) und aktuell alles mögliche Seiende (omnia possibilia).  De doct. ign. I c. 6, 14, 7– 9.  De doct. ign. I c. 4, 10 – 11, 27– 5. Diese und die vorausgehenden Passagen enthalten in nuce die Metaphysik des Cusanus. Vgl. dazu auch die bedeutsame Formulierung „oppositio oppositorum sine oppositione“, die die gegensatzlose Gegensätzlichkeit des Unendlichen bzw. Absoluten zu den Entgegensetzten begrifflich exakt fasst; vgl. dazu Beierwaltes 1964, 175 – 185; ders. 1988. – Angemerkt sei nur, dass Cusanus erst in der Schrift Directio speculantis seu de non aliud mit dem Ausdruck non-aliud über den philosophisch fundierten Begriff verfügt, der eine Theorie der Gegensatzlosigkeit entfaltet, die zugleich das Entgegengesetzte zu begründen vermag; vgl. dazu Mojsisch 1996.

3.2 Maximum – minimum

179

Fassen wir die Bedeutung des Möglichkeitsbegriffs für die Theorie des maximum zusammen: – Der Möglichkeitsbegriff ist sowohl in dem Modalverb ‚posse‘ (‚omne id quod esse potest‘) als auch in dem Adjektiv ‚possibile‘ (‚omne possibile esse‘) und im Terminus der possibilitas absoluta präsent. Seine theoriekonstitutive Funktion besteht darin, die Koinzidenz und die erforderliche Immanenz des Größten zu begründen. Strenggenommen wäre die Wirklichkeit des Größten ohne die in der Bedeutung des Kleinsten genannte Möglichkeit nicht absolut, weil sie als Wirklichkeit für sich alles mögliche Sein und damit auch die Materie ausschlösse, damit aber gerade im Gegensatz zu dem Begründungssatz ‚omne id quod esse potest‘ und dem ‚omne possibile esse‘ stände. Die Formulierungen entscheiden darüber, inwiefern von dem Größten als AllEinheit sinnvoll gesprochen werden kann, oder anders gesagt: Von der Bedeutung des minimum als ‚alles mögliche Sein‘ bzw. absoluter Möglichkeit hängt es ab, ob die Absolutheit und Andersheit Gottes gedacht werden kann, ohne dass sie von allem, was sein kann, abgetrennt ist. ‚Abgetrenntheit‘ im Sinn eines actus purus widerspräche aber gänzlich der Intention des Cusanus. Zutreffend schreibt von Bredow, das minimum vertrete „die Negation der negativen Theologie“. Wird hingegen die Bedeutung des minimum ‚omne possibile esse‘ ausschließlich als innergöttlich verstanden und ‚omne id quod esse potest‘ mit ‚was es (das Größte) sein kann‘, übersetzt, so vertritt man die Konzeption des actus purus und dessen Abgetrenntheit. Damit verkürzt man die cusanische Metaphysik des Einen aber gerade um ihr wesentliches Kriterium der Gegensatzlosigkeit oder Ununterschiedenheit gegenüber allem anderen. Das Größte ist dann nicht das Kleinste. In der von mir favorisierten Übersetzung bleibt der ontologische und epistemologische Aspekt im Möglichkeitsbegriff und damit in der Theorie des maximum aufgehoben.⁴⁶⁴ Mit dem minimum lässt sich das Absolute als Prinzip in allem, was sein kann, denken – maximum est in omnibus (I 4) –, ohne dass es mit dem Prinzipiierten identisch ist. Dass Cusanus das maximum ebenso als transzendent versteht – in quo omnia sunt (I 4) –, ist kein Widerspruch, sondern möglich, weil es immer zugleich die eine nicht-prinzipiierende Wirklichkeit ist, in der alles nur Eines oder Gott ist. So ist das maximum in seiner Absolutheit einerseits nichts von allem und andererseits das absolute Prinzip in allem, weil nichts ohne das

 Bredow 1970, 362, Meine Übersetzung von ‚omne id quod esse potest’ mit ‚alles, was sein kann’ folgt Flasch 1973, 168 – 71, der diese Lesart überzeugend gegen Paul Wilpert verteidigt hat; vgl. Stallmach 1965, 413; vgl. Beierwaltes 1980, 11, der beide Übersetzungen für richtig hält.

180



3 Der erste Gottesbegriff: maximum

maximum für sich selbst sein kann. Auf das hierbei verwendete neuplatonische Begriffspaar ‚complicatio-explicatio‘ wird noch genauer eingegangen. Aufgrund des im minimum impliziten Möglichkeitsbegriffs ist das maximum nicht als das Ergebnis einer Steigerung oder als der höchste Grad einer Komparation, sondern jenseits proportionaler Zuordnungen zu verstehen. Die mögliche Gefahr eines dem Größten opponierenden Kleinsten – wie dies einleitend als ein konzeptionelles Problem für die Theorie des maximum angenommen wurde – ist damit ausgeschlossen. Stattdessen ist der vermeintliche Widerspruch in den Begriff selbst aufgenommen und als unbegründet aufgezeigt: „Maximum … non maior quia minimum, non minor quia maximum.“⁴⁶⁵ Die Aussage, dass zwei gegensätzliche Bestimmungen koinzidieren, ist nur dann widersprüchlich, wenn die Reflexion über deren Bedeutungen nicht mitgemacht wird. Wer sie nicht nachvollzieht, denkt nicht koinzidental, sondern nach dem Prinzip der Proportionalität – dem NWS.

Kritisch anzumerken ist: – Trotz und gerade wegen der Koinzidenzeinheit ist die Unterscheidung von maximum und minimum auf die strikte metaphysische Unterscheidung von Wirklichkeit und Möglichkeit zurückzuführen. Dies ist gegen Cusanus’ explizite Angabe, die absolute Einheit sei vor jeder Unterscheidung, also auch vor der genannten, vorzubringen.⁴⁶⁶ Durch diese Differenz gewinnt die Koinzidenzargumentation ihre Stärke, aber, so ist zu ergänzen, auch ihre Schwäche. Das maximum ist deswegen absolut zu denken, weil es die Wirklichkeit aller Möglichkeiten ist, und es nur deswegen nicht größer und nicht kleiner sein (gedacht werden) kann. Die Schwäche besteht darin, dass die Wirklichkeit, wie aus den Sätzen in I 2 und I 4 hervorgeht, die notwendige Prädominanz vor der Möglichkeit hat und auf diese bezogen bleibt. Das entspricht der aristotelischen δύναμις-ἐνέργεια-Korrelation. Strenggenommen ist damit die Koinzidenz nur aus der Position des maximum als Wirklichkeit aussagbar, nicht aber aus der Position des minimum als Möglich-

 De doct. ign. I c. 16, 32, 11– 14; De ven. sap. c. 7, n. 18, 19, 2– 6: „Et dico: Inaugmentabile magis esse nequit; maximum igitur est. Imminorabile minus esse non potest; est igitur minimum. Unde cum sit maximum pariter et minimum, nullo uitque est minus, quia maximum, neque maius, quia minimum.“  So resümiert er in De ven. sap. c. 13, n. 35, 35, 1– 17 noch einmal die Begründung von I 2 und I 4. Freilich ist zu beachten, dass Cusanus hier von potentia spricht, was er in den Begründungssätzen nicht tut. Dass der Möglichkeitsbegriff auch diese Bedeutung umfasst, wurde aber bereits gesagt. ‚Potentia’ ist für den zweiten Kritikpunkt in Bezug auf die Prozessualität wichtig.

3.2 Maximum – minimum





181

keit.⁴⁶⁷ Die Bedeutung des Kleinsten ist auf die des ‚omne possibile esse‘ beschränkt; das Größte ist ‚penitus in actu‘. Damit ist eine Differenzierung vorgegeben, ohne die die Theorie des Größten nicht haltbar wäre. Vor dem Hintergrund unserer Analyse ist das maximum als eine dynamische Einheit zu denken. Die Differenz ‚Wirklichkeit-Möglichkeit‘ impliziert in ontologischer und in epistemologischer Hinsicht ein teleologisches Prozessdenken. Cusanus bleibt auch damit an die aristotelische Konzeption gebunden. Die Frage ist, inwieweit Cusanus diese Dynamik unter dem Aspekt der Immanenz ausreichend erklärt. De docta ignorantia bietet letztlich keine befriedigende Antwort. Auch wenn einerseits mit der Möglichkeitssemantik (‚posse‘, ‚omnia possibile esse‘) die zentralen Begriffe geliefert werden und andererseits der Begriff der unendlichen Grenze (infinitus terminus) und die Verortung aller endlichen Seienden zwischen absolut Größtem und Kleinsten die Dynamik implizieren, bleibt die Theorie des maximum zu statisch.⁴⁶⁸ Wesentlich dafür ist, dass mit dem ‚omne id quod esse potest‘ die Verbindung von ‚Sein-Können‘ unter dem Aspekt des Seins dominiert. Eine der zentralen Aufgaben der Entwicklung der cusanischen Metaphysik muss in der Explikation der Prozessualität der absoluten Einheit gesehen werden. In der Spätphilosophie wird die statische Auffassung zunehmend korrigiert, indem der Möglichkeitsbegriff – wie die weitere Untersuchung zeigen wird – in seiner Bedeutung als ‚posse‘ zunehmend in den Mittelpunkt der Theorie der Namensbildung rückt.⁴⁶⁹ So macht Cusanus in der Schrift Trialogus de possest die genannte Verbindung ‚Sein-Können‘ zum eigenständigen Thema, bleibt aber im Kern trotz aller Modifikationen der Konzeption des maximum verbunden. Weiterhin ist entscheidend, dass die Dynamik an einen Begriff von göttlichem Geist gebunden wird, der als aus sich selbst heraus tätig bzw. schaffend verstanden wird. Eng verbunden mit der Dynamik ist ein modallogischer Aspekt, der der Idee der coincidentia oppositorum zu widersprechen scheint: Die Begründungsformeln der Koinzidenz – ‚maximum est omne id quod esse potest‘ – ist durch

 Auf die Nichtumkehrbarkeit wies erstmals Bredow 1970, 360 hin.  Alles endliche Seiende fällt zwischen das absolut Größte und Kleinste: „Omne autem mensurabile cadit inter maximum et minimum.“ De doct. ign. I c. 16, 32, 13 f. Für das endliche Seiende löst Cusanus dies im Wesentlichen im zweiten Buch von De docta ignorantia im Rahmen seiner Kosmologie ein. Dangelmayr 1969, 34 versucht die Dynamik aufzuzeigen, indem er das minimum „Anfang“ nennt, von dem alles Seiende ausgehe und das maximum „die begrenzende Grenze“, zu der alles hingehe, so dass „principium und finis“ zusammenfielen. Abgesehen davon, dass die Formulierung ‚begrenzende Grenze’ falsch ist, weil die Grenze unbegrenzt ist, entwickelt Cusanus diese Dynamik nicht.  Vgl. Büntrup 1973, s. hier bes. 131; vgl. auch Winkler 2001, 68.

182

3 Der erste Gottesbegriff: maximum

die Modalität der Unmöglichkeit bestimmt. ‚Möglich – unmöglich‘ schließen einander kontradiktorisch aus. Was nicht sein kann, ist unmöglich – nichts Unmögliches ist wirklich. Cusanus sagt selbst, das Prinzip seines Forschens sei, dass Unmögliches nicht geschehe (quod impossibile fieri non fit).⁴⁷⁰ Allerdings muss differenziert werden: Der Ausschluss des Unmöglichen gilt a) uneingeschränkt für die Ontologie, also für die Immanenz des maximum in allem, was sein und daher unmöglich nicht sein kann;⁴⁷¹ b) uneingeschränkt für alles rationale Denken, Erkennen und Aussagen. Cusanus folgt hier dem NWS der aristotelischen Logik und Ontologie;⁴⁷² c) als Grundmodalität allen Forschens und Wissenswollens, insofern die intendierte Sache selbst nicht als unmöglich angenommen wird. Das trifft auch für die Methode der docta ignorantia zu, die aber, wie gezeigt worden ist, das Unmögliche ihres Wissensanspruchs – das Unendliche zu erkennen – in ihren Vollzug aufnimmt und nicht ausschließt. Positiv muss daher gesagt werden: Zwar hat auch für die cusanische Epistemologie die Modalität der ‚Unmöglichkeit‘ eine weitreichende, aber dennoch begrenzte Gültigkeit. Das, was logisch unmöglich ist, kann nicht uneingeschränkt für die Ebene der Vernunft (intellectus) beansprucht werden. Daher ist die Differenzierung zwischen ratio und intellectus sowie eine Theorie des Geistes, die das angemessen berücksichtigt, wesentlich für Cusanus’ Metaphysik.

 De ven. sap. c. 2, n. 6, 9, 14. Zu Recht sieht Stadler 1983, 90 f. in diesem Satz das Axiom der Philosophie des Cusanus. Allerdings muß präzisierend gesagt werden, dass dieses Axiom der Nichtwiderspruchssatz des Aristoteles ist und nur für einen Bereich der cusanischen Metaphysik zutrifft.  Das Gegenteil bedeutete, dass alles mögliche Sein – mithin das Universum bzw. die Schöpfung – unmöglich wäre.  Vgl. De ven. sap. c. 14, n. 41, 40, 1– 6, wo Cusanus ausdrücklich sagt, außerhalb des NichtAnderen (non-aliud) sei der Gegensatz zwischen Bejahung und Verneinung gültig.

4 Theorie der mens humana Die metaphysische Dignität des menschlichen Geistes wurde bereits als die Fähigkeit zur Begriffsbildung charakterisiert. In Idiota de mente spricht Cusanus von der „Gesamtheit“ oder der „Welt der Begriffe“ (universitas notionum)⁴⁷³, die der Geist hervorbringt. Er charakterisiert ihn in fundamentaler Weise, wenn er ihn in bewusster Anbindung an den homo-mensura-Satz des Protagoras als das Maß aller Dinge auszeichnet. Im Gegensatz zur traditionellen Kritik, die in dem Satz des Vorsokratikers vor allem einen relativistischen Skeptizismus sieht, versteht Cusanus die Aussage, da sie die eminente Erkenntnisleistung der mens humana philosophisch würdigt, grundsätzlich positiv: Der Geist ist, indem er erkennt, das Maß aller Wirklichkeitsbestimmung, weil die Wirklichkeit gar nicht ohne die Bedingung der menschlichen Erkenntnisweise erfasst werden kann. Daher lasse sich seine Bedeutung auch etymologisch aus seiner Bezeichnung ablesen. „Mentem esse, ex qua omnium rerum terminus et mensura. Mentem quidem a mensurando dici conicio.“⁴⁷⁴ Messen ist hier nicht in einem trivialen Sinn zu verstehen. Gemeint ist der Geist selbst, der durch und in sich die Maßstäbe schafft, um Extramentales zu messen.⁴⁷⁵ Die mens humana ist mensura und mensurare in einem, wobei ‚Messen‘ Begriffsbildung und die Methode des Quantifizierens bedeutet. Cusanus spricht auch von der „lebendigen Substanz“ (viva substantia) oder der „substantiellen Form oder Kraft“ (forma substantialis sive vis), um sich von einer starren, nichtdynamischen Konzeption des menschlichen Geistes abzugrenzen.⁴⁷⁶ Auf die theoretisch zentrale Bedeutung des Begriffs der vis wird an späterer Stelle genauer eingegangen werden. Wenn wir uns im Folgenden zunächst auf De docta ignorantia konzentrieren, so mag das insofern überraschen, als Cusanus erst in den späteren Schriften seine philosophia mentalis entwickelt, die sich in dieser Form nicht in dem Frühwerk findet. Dennoch ist der frühe Ansatz zu berücksichtigen. In ihm wird die konstitutive Binnendifferenzierung des Geistes von Verstand (ratio) und Vernunft

 De mente c. 3, n. 72, 109, 6.  De mente c. 1, n. 57, 90, 5 f.; vgl. auch De beryl. V n. 6 …, wo Cusanus explizit das Theorem des Protagoras erwähnt.  In De mente c. 15, n. 157, 214, 8 f. resümiert Cusanus unmissverständlich, dass der Geist Grenze, Maß und Bestimmung alles Messbaren sei: „[Mens] manebit ut omnium mensurablilium terminus, mensura et determinatio.“ De beryl. V n. 6: „Unde in se homo reperit quasi in ratione mensurante omnia creata.“  De mente c. 5, n. 80, 121 f., 8 – 13.

184

4 Theorie der mens humana

(intellectus) erstmals für die weitere Entwicklung festgelegt.⁴⁷⁷ Es wird zu zeigen sein, dass dabei der Begriff der Möglichkeit eine maßgebliche Bedeutung hat, indem er diese Differenzierung und den Leistungsunterschied beider Instanzen für die Theorie mitträgt. Im Ausgang von De docta ignorantia werden wir dann auf die Ausführungen in Idiota de mente und De coniecturis in Bezug auf die Assimilationsweisen der mens sowie die Konzeption ihrer inneren Dynamik eingehen.

4.1 Geist als Verstand: die Grenze des Möglichen Wie dargestellt wurde, verortet Cusanus alles Messbare zwischen dem absoluten maximum und minimum. In diesem Zwischenbereich der kontingenten Wirklichkeit bewegt sich der Verstand. Seine Leistung besteht gerade in dem, was der Disproportionalitätssatz für die Erkenntnis des unendlich Einen ausschließt: Größenrelationen zu erstellen, in denen die Variabilität des Seienden quantifiziert wird. Die Zahl hat sowohl als Erkenntnismethode wie auch als Strukturbestimmung der ratio paradigmatische Bedeutung: Rationalis fabricae naturale quoddam pullulans principium numerus est; mente enim carentes, uti bruta, non numerant. Nec est aliud numerus quam ratio explicata.⁴⁷⁸

Entsprechend versteht Cusanus den Geist auch als „sich selbst bewegende“ oder „lebendige Zahl“, die von sich aus die Unterscheidungen mache, einteile und wieder zusammenfasse.⁴⁷⁹ Bei dieser Charakterisierung, die nicht allein den Verstand meint, wird noch genauer zu klären sein, was es mit Bezug auf die Kraft der mens heißt, ‚lebendig‘ bzw. ‚selbstbewegend‘ zu sein. Cusanus stellt bereits in De docta ignorantia eine klare Unterscheidung auf: Der Verstand produziert und strukturiert sein Wissen über die Welt in quantitativen Verhältnisbestimmungen, die in distinkten Begriffen erfasst und kommuniziert werden. Demgegenüber ist das unendlich Eine, weil es unendlich ist, nicht Zahl – die unendliche Zahl wäre ein Widerspruch in sich –, sondern ist als minimum deren Ursprung sowie als maximum deren Grenze und damit jenseits aller Proportionalität:

 Die Unterscheidung gehört zur philosophischen Tradition, die Cusanus kannte. Entscheidend ist, dass er die Differenz gemäß seinem Koinzidenzgedanken in besonderer Weise bestimmt und für seine Metaphysik in Anspruch nimmt; vgl. zur Unterscheidung Hoffmann 1989, 74 f.  De con. I c. 2, n. 7, 3 – 5, 11.  Vgl. De mente c. 7, n. 97, 146, 9 – 11; c. 6, n. 93, 138, 5 f.: „Nam sola mente numerat; sublata mente numerus discretus non est.“

4.1 Geist als Verstand: die Grenze des Möglichen

185

Non potest autem unitas numerus esse, quoniam numerus excedens admittens nequaquam simpliciter minimum nec maximum esse potest. Sed est principium omnis numeri quia minimum. Est finis omnis numeri quia maximum. Est igitur unitas absoluta, cui nihil opponitur, ipsa absoluta maximitas …⁴⁸⁰

Das dem Verstand zukommende Messverfahren kann von dem absoluten Ursprung und der absoluten Grenze nicht gänzlich abgetrennt, aber auch nicht identisch sein. Messen als Methode zur Welterschließung gelingt nur unter der metaphysischen Voraussetzung der universalen Proportion, nach der das Universum strukturiert ist.⁴⁸¹ Unter der Bedingung der einen Proportion, die einen universalen Strukturzusammenhang ermöglicht und sichert, sind Sein und Denken aufeinander abgestimmt, nicht aber, was zu betonen ist, identisch und für uns epistemisch völlig transparent. Denn der Disproportionalitätssatz ist nicht aufgehoben. Die Theorie des maximum erklärt, dass nichts außerhalb der unendlichen Einheit ist und die Erkenntnisse sowie Bezeichnungen der Welt gegenüber nicht völlig willkürlich sein können. Umgekehrt sind die Dinge gegenüber den rationalen Verhältnisbestimmungen nicht indifferent oder etwas völlig Fremdes. Cusanus’ Epistemologie ist auch deswegen Metaphysik, weil sie von einem Parallelismus zwischen Denken bzw. Erkenntnisleistung und Seinsordnung ausgeht. Parallelität bedeutet per definitionem Differenz. Bei Cusanus ist es die epistemologische Unterscheidung von mutmaßendem Wissen und absoluter Wahrheit.⁴⁸²

 De doct. ign. I c. 5, 12, 22– 26. In dem ‚Mehr oder Weniger’ bestätigt sich die aristotelische Definition der Zahl (vgl. Met 994b30 – 31; vgl. Gericke 1990, 139). Cusanus stimmt dem Stagiten zu, in der unbegrenzten Fortführung der Zahl die Manifestation des potentiell Unendlichen zu sehen. Eine aktual unendlichen Zahl enspräche der Bestimmung des maximum („maior esse non potest“), sie koinzidierte mit dem Kleinsten und höbe jedes Größenverhältnis auf. Aufstieg und Abstieg der Zahl sind daher potentiell unendlich.  „… quoniam omnia ad se invicem quandam nobis tamen occultam et incomprehensibilem haben proportionem, ut ex omnibus unum exsurgat universum et omnia in uno maximo sint ipsum unum.“ De doct. ign. I c. 11, 8 – 11. – Aufgrund dieser Passage ist es schwer nachvollziehbar, wie Benz 1993, 76 – 83 grundsätzlich die Interpretationsrichtung in der Cusanus-Forschung kritisieren kann, die gerade auch die universale Relationalität stark macht. Auch wenn man die funktionalistische Deutung von Rombach 1965 in ihrer Entschiedenheit nicht teilen muss, dürfte die Verwerfung dieses Ansatzes wenig sinnvoll sein.  So setzt Wahrnehmen etwas Wahrzunehmendes, Erkennen etwas zu Erkennendes in der Weise voraus, dass es erfolgreich wahrgenommen bzw. erkannt werden kann. Wenn ‚X’ ein Baum ist und kein Mensch, dann muss ‚X’ so konstituiert sein, dass es ein Baum und kein Mensch ist. Hier wirkt das Verhältnis von nomen naturale oder vocabulum praecisum und nomen congruum, mit dem wir die Dinge benennen. Flasch 1998, 148 spricht von der „Parallelismusformel“.

186

4 Theorie der mens humana

Die Zahl hat, wie sich ebenfalls in De docta ignorantia I 5 bestätigt, epistemologische und ontologische Bedeutung. Cusanus hält gemäß der Idee einer prästabilierten Harmonie fest, ohne die Zahl könne eine Vielheit des Seienden nicht existieren, denn höbe man die Zahl auf, verschwände die Ordnung, die Proportion, die Harmonie und damit die Vielheit der Dinge.⁴⁸³ Der Geist hat, insofern er als Verstand operiert, wegen seiner konstruktiven Leistung des Messens und Benennens Zugang zu dieser Ordnung. Den Aspekt der Konstruktivität des menschlichen Denkens hebt Cusanus analog zur ontischen Kreativität des unendlichen Einen hervor, wobei Zahl und Benennungen gleichermaßen entia rationis sind, die sich einer Distinktionen produzierenden Verstandesbewegung (motus rationis) verdanken.⁴⁸⁴ Für den Verstand erweist sich die epistemische und begriffliche Perfektibilität nach Maßgabe seiner Differenzierungstätigkeit: Je genauer die entia rationis entwickelt sind und angewandt werden, umso mehr wird von der Welt und vermittelt durch sie auch von dem Einen als Ursprung (principium) und Grenze (finis) der Zahl wie des Seienden gewusst. Der Erkenntnisoptimismus des Cusanus bestätigt sich somit auch auf der operativen Ebene des Verstandes. Allerdings ist in De docta ingorantia und in anderen Schriften die positive Bewertung konterkariert mit der negativen Einschätzung, der Verstand habe gar nicht die Möglichkeiten, angemessene Namen bzw. Begriffe für Gott zu entwickeln. Warum aber ist er gleichsam per definitionem für die Jagd nach Weisheit zu sehr eingeschränkt? Der Grund dafür ist das Maß, welches ihn in seiner Unterscheidungstätigkeit im Bereich des ‚Mehr oder Weniger‘ bestimmt: die Möglichkeit. Cusanus macht erstmals in I 3 eine unmissverständliche Bestimmung, mit der er zwischen der „absoluten Notwendigkeit“ der Wahrheit der Dinge und der „Möglichkeit“, die unseren Verstand auszeichnet, unterscheidet:

 „Et quoniam omnia sunt eo meliori modo quo esse possunt, tunc sine numero pluralitas entium esse nequit; sublato enim numero cessant rerum discretio, ordo, proportio, harmonia atque ipsa entium pluralitas.“ De doct. ign. I c. 5, 12, 3 – 6. Vgl. auch De mente c. 6, n. 89 – 95, wo Cusanus von dem Geist als einer gewissen lebendigen göttlichen Zahl spricht, die bestens proportioniert sei, um in sich die göttliche Harmonie widerstrahlen zu lassen.  „Nihil est nominabile, quo non possit maius aut minus dari, cum nomina his attributa sint rationis motu, quae quadam proportione excedens admittunt aut excessunt.“ – „Nam uti numerus, qui ens rationis est fabricatum per nostram comparativam discretionem, praesupponit necessario unitatem pro tali numeri principio, ut sine eo impossibile sit numerum esse, ita rerum pluralitates ab hac inifinita unitate descendentes ad ipsam se habent, ut sine ipsa esse nequeant.“ De doct. ign. I c. 5, 12, 1– 3; 13, 6 – 10.

4.1 Geist als Verstand: die Grenze des Möglichen

187

Patet igitur de vero nos non aliud scire quam quod ipsum praecise uti est scimus incomprehensibile veritate se habente ut absolutissima necessitate, quae nec plus aut minus esse potest quam est, et nostro intellectu ut possibilitate. ⁴⁸⁵

Dass hier von intellectus die Rede ist, darf nicht in der Weise missverstanden werden, als würde Cusanus die Unterscheidung zur ratio einziehen.Vielmehr ist es so, dass er zu Beginn von De docta ignorantia und insbesondere in diesem Abschnitt des Kapitels I 3 den Begriff ‚intellectus‘ für den menschlichen Geist insgesamt verwendet. Cusanus verfolgt hier noch keine strenge Unterscheidung der Begriffe. Dafür spricht auch, dass der Terminus ‚mens humana‘ – der beide Erkenntnisweisen umfasst – erst in den nachfolgenden Werken verwendet wird. Zwar spricht Cusanus im zweiten Buch von De doct ingorantia von der mens, aber dann primär im Sinn des neuplatonischen Weltgeistes oder der Weltseele, eine Zwischeninstanz-Konzeption, die er gemäß seiner Einheitsmetaphysik kritisiert. Der Ausdruck ‚Möglichkeit‘ kann in dem zitierten Satz in zwei Bedeutungen verstanden werden: a) als Potentialität des Verstandes (Der Verstand kann … / Für ihn es möglich zu …) und b) als Possibilität gemäß der logischen Möglichkeit (Es ist möglich, dass … / Es kann sein, dass …). Beide Bedeutungen müssen, da Cusanus die Defizienz des Verstandes betont, pejorativ gelesen werden. Ich halte es für sachlich angemessener, die zweite Lesart zu wählen. Denn das, was der Verstand denken kann bzw. was für ihn möglich ist zu denken (Potentialität), hängt davon ab, ob es möglich ist, dass er das denken kann (Possibilität). Daher können wir sagen, dass die logische Möglichkeit entscheidend für die Philosophie des Geistes ist, weil sie den Geist auf das festlegt, was widerspruchsfrei möglich ist. Als Verstand vermag er alles im Sinn der Widerspruchsfreiheit zu tun. Seine mentalen und sprachlichen Operationen unterliegen dem NWS: Logisch möglich ist das,was entweder eines oder anderes, aber nicht beides zugleich ist. Der motus rationis in der cusanischen Philosophie ist ohne Einschränkung vom dem ersten Prinzip des Aristoteles abhängig. Das wird bereits in I 4 klar gesagt und zugleich auf die Denkmöglichkeit verwiesen, die oberhalb des „Verstandesweges“ und des „rationalen Diskurses“ liegt, auch wenn das nicht ausgeführt wird: Hoc autem omnem nostrum intellectum transcendit, qui nequit contradictoria in suo principio combinare via rationis … Supra omnem igitur rationis discursum incomprehensibiliter absolutam maximitatem videmus infinitam esse, cui nihil opponitur, cum qua minimum coincidit.⁴⁸⁶

 De doct. ign. I c. 3, 9, 21– 24.  De doct. ign. I c. 4, 11, 12– 18.

188

4 Theorie der mens humana

Wenn Cusanus in seinem philosophischen Frühwerk den menschlichen Geist – oder wie es anfänglich noch heißt: den intellectus,verstanden aber als ratio – über den Begriff der logischen Möglichkeit bestimmt, dann berücksichtigt er damit die Position der traditionellen Metaphysik bzw. Theologie und zeigt zugleich deren Grenze auf. Aus Sicht unserer Analyse hat die Bestimmung daher historischsystematisches Gewicht. Die Zuweisung des Möglichkeitsbegriffs ist nicht allein modallogisch zu verstehen, sondern ist eine metaphysische Positionsbestimmung. Sie macht deutlich, wie sehr die Erkenntnis- oder Wissensmöglichkeiten des menschlichen Geistes begrenzt sind, wenn sie von dem NWS abhängig bleiben. Der Geist denkt nicht, was er denken kann, und scheitert an der zentralen Frage, wie das unendlich Eine in seiner Gegensatzlosigkeit erkannt werden kann. Er erfasst nicht alle seine Möglichkeiten. In dem Begriff der possibilitas kristallisiert sich gleichsam der Konflikt von spekulativer Gotteserkenntnis unter der Bedingung rationaler Logik; ein Konflikt, der, wie Kurt Flasch gezeigt hat, die mittelalterliche Philosophie wesentlich bestimmte und der in Cusanus einen ihrer genuinen Kritiker und Überwinder fand.⁴⁸⁷ Unter dem NWS bleibt Gott für den menschlichen Geist tatsächlich ein Anderes. Wenn diese Andersheit aber noch begreifbar sein soll – und das ist, wie die Theorie des maximum zeigt, die erklärte Intention des Cusanus –, dann muss der menschliche Geist mehr sein als possibilitas. Hier setzt der Vernunftbegriff an.

4.2 Geist als Vernunft in De docta ignorantia Bezeichnend für De docta ignorantia ist die ambivalente Bewertung der Vernunftleistung. Aus Sicht einer historisch-genetischen Analyse des Gesamtwerkes zeigt sich darin Cusanus’ eigene Ambivalenz, sich gegenüber dem Vorrang der negativen Theologie, das absolut Eine von allen Erkenntnismöglichkeiten abzulösen und reines Nicht-Wissen allein gelten zu lassen, zu positionieren. In dem Frühwerk ist die Intention, diesen Primat zu überwinden, zwar ebenso klar erkennbar wie die Kritik an der dem Verstand verpflichteten positiven Theologie und deren gegenstandsorientierten Bestimmungen, aber die Intention wird nicht konsequent verfolgt. Am Ende des ersten Buches dominiert daher auch die negative Theologie, für die noch die Trinität eine defiziente und aufzugebende Unterscheidung ist. Erst im Verlauf der philosophischen Entwicklung gewinnt die Kritik an der theologia negativa klare Konturen. Inwiefern allerdings die Ambivalenz gegenüber der negativen Theologie letztlich wirklich überwunden wird,

 Vgl. Flasch 1973.

4.2 Geist als Vernunft in De docta ignorantia

189

bleibt fraglich. Anzunehmen ist, dass sich in der Grundfrage nach der (Nicht‐) Erkennbarkeit des unendlichen Einen die Ambivalenz durchhält. Dies ist gleichsam die konstruktive Krux der cusanischen Metaphysik.⁴⁸⁸ Im Folgenden ist zu zeigen, dass im ersten Buch von De docta ignorantia trotz aller Ambivalenz ein positiver Vernunftbegriff etabliert wird, der für die spätere philosophia mentalis zentral ist. Auch im zweiten und dritten Buch gibt es klare Aussagen über die metaphysische Dignität der Vernunft, sie können aber, da keine genetische Analyse des Werkes verfolgt wird, unberücksichtigt bleiben. Im Prolog zu den mathematischen Übungen in I 10 beginnt Cusanus mit der Feststellung, das maximum stehe über allen vollkommenen geometrischen Figuren (Kugel, Kreis, Dreieck, Linie), deswegen müsse man alles, was die Sinne, die Vorstellung und der Verstand erfassten, „ausspeien“, um zur „einfachsten und abgetrenntesten Vernunfteinsicht, in der alles eins ist, zu gelangen“: Sed ipsum super omnia illa est, ita quod illa, quae aut per sensum aut imaginationem aut rationem cum materialibus appendiciis attinguntur, necessario evomere oporteat, ut ad simplicissimam et abstractissimam intelligentiam perveniamus, ubi omnia sunt unum, ubi linea sit triangulus, circulus et sphaera, ubi unitas sit trinitas et e converso, ubi accidens sit substantia, ubi corpus sit spiritus, motus sit quies et cetera huiusmodi.⁴⁸⁹

Der Abschnitt ist in drei Hinsichten bedenkenswert: a) Im Kern wird die differenzierte Einheit des menschlichen Geistes angegeben, wie sie später auch De coniecturis oder Idiota de mente zugrunde liegt. Die mens ist sinnliche Wahrnehmung, Vorstellung, Verstand und Vernunft. Der dynamische Zusammenhang der Erkenntnisinstanzen oder -weisen wird von Cusanus in der frühen Phase seines Philosophierens theoretisch nicht befriedigend begründet; er setzt sie voraus. Allerdings verweist die drastische Wortwahl des Ausspeiens (evomere) auf die besondere Tätigkeit der Vernunft, die sie sowohl von den anderen Erkenntnisweisen abgrenzt als auch mit ihnen verbindet: die Tätigkeit des Negierens. b) Die Vernunft hat die Möglichkeit, die materiegebundenen Inhalte der anderen Erkenntnisweisen zu negieren, um so zu sich selbst als der von empirischen Voraussetzungen vollständig freien Instanz zu kommen. Umgekehrt – so ist zu schlussfolgern, andernfalls ergäbe die Forderung des Ausspeiens wenig Sinn – kann der Intellekt mit den anderen Weisen verbunden sein und sind deren Er-

 Vgl. De doct. ign. I c. 26, 54– 56; vgl. auch Beierwaltes 1980, 30; Flasch 1973, 318 ff.; ders. 1998, 107 ff.  De doct. ign. I c. 10, 20, 4– 11.

190

4 Theorie der mens humana

gebnisse auch seine Inhalte. Negieren ist primär eine reduktive Denkbewegung.⁴⁹⁰ Cusanus beabsichtigt in der zitierten Passage die Entgrenzung eines gegenständlichen und in Gegensätzen sich bewegenden Denkens und Erkennens hin zu einem konsequent nicht-gegenständlichen Denken und Erkennen. Aufgrund dieser Zielsetzung ist die Vernunft als Negativität zu verstehen und kommt zu der nur ihr möglichen Erkenntnis der Einheit. c) Cusanus spricht von der einfachsten und abgetrenntesten Vernunfteinsicht (simplicissima et abstractissima intelligentia). Die Bezeichnung ist wichtig. Sie gibt zu verstehen, dass es um die äußerste oder höchste Möglichkeit der Erkenntnis geht, die Erkenntnis des maximum. Die Attribute ‚simplicissima‘ und ‚abstractissima‘ verweisen auf die Nicht-Gegenständlichkeit dieser Erkenntnis.Weil das, was die Vernunft einsieht, weder aus mehreren real unterschiedenen Teilen oder Wesenheiten zusammengesetzt noch durch anderes Seiendes begrenzt ist, muss auch ihre Erkenntnis dieser Sache maximal einfach und abgelöst oder abgetrennt sein.⁴⁹¹ Hilfreich ist weiterhin, dass Cusanus diese exklusive Erkenntnis im Anschluss als „einfachen intellektualen Erkenntnisakt“ (simplicissima intellectio) bezeichnet, der auch als das einfache Sehen der Vernunft verstanden werden kann und das ‚Ausspeien‘ der Vorstellungs- und Verstandesinhalte voraussetzt.⁴⁹² Für unser Analyseinteresse ist an dieser Stelle zunächst wichtig, nachgewiesen zu haben, dass schon in De docta ignorantia die Reduktionsbewegung der Vernunft und ihr Sehen, das in den späteren Schriften als visio intellectualis präzisiert wird, bekannt ist. Cusanus behauptet damit nicht die Aufhebung der Methode des wissenden Nicht-Wissens. Das intellektuale Sehen ist vielmehr der genaue Sinn von docta ignorantia und die höchste Form der Vernunfterkenntnis.⁴⁹³ Festzuhalten ist: Cusanus spricht der Vernunft jenseits der den rationalen Diskurs bestimmenden Distinktionen die Erkenntnismöglichkeit der Einheit zu,

 Damit ist weder ausgeschlossen, dass Negieren bzw. Negation auch andere Funktionen hat, noch dass diese Tätigkeit allein dem intellectus eignet. Auch der ratio ist das Negieren wesentlich, insofern sie ja Distinktionen erzeugt und folglich Etwas von Etwas abgrenzt bzw. negiert. Dieser Aspekt wird später genauer berücksichtigt werden.  Flasch 1998, 130 weist zureffend daraufhin, dass abstractum für das griechische χωριστόν stehe und von Meister Eckhart mit „ledic“ übersetzt wurde: „Die Trinität abstractissime denken, das bedeutet, sie gänzlich als absolutum denken …“  De doct. ign. I c. 10, 21, 11– 13.  Aber weil dieses Sehen intellektual ist, bleibt es zugleich eingeschränkt. Cusanus wird genau diese Einschränkung in der nachfolgenden Schrift De coniecturis kritisieren und in seinem Werk einmalig die divinale Denk- und Sprechweise anführen, die, indem sie reine Negation ist, es erlaubt, noch über den Intellekt hinauszugehen. Cusanus steigert gleichsam noch einmal die Möglichkeit des (nicht-denkbaren) Denkens. Inwiefern diese Negation aber zu sehr der negativen Theologie verpflichtet ist, sei hier nur kritisch angemerkt.

4.2 Geist als Vernunft in De docta ignorantia

191

weil die Vernunft durch ihre Negationstätigkeit zu sich selbst als Einheit kommt, deren Inhalte ganz offensichtlich nicht dem Nichtwiderspruchssatz unterliegen. Demnach ist auch der Zusammenfall von maximum und minimum ein ihr notwendig eigener Gedanke und nicht allein ein Charakteristikum der unendlichen Einheit. Cusanus führt auch das nicht explizit aus, doch seine Ausführungen in I 10 implizieren unzweifelhaft diesen Zusammenhang. Dies ist gegen eine Auffassung in der Forschung vorzutragen, die in De docta ignorantia das Koinzidenztheorem noch jenseits der Vernunft verortet sieht. In der Regel wird sich dabei, wie das erstmals Joseph Koch mit seiner Entwicklungshypothese getan hat, der sich auch Kurt Flasch anschließt, auf die Selbstkritik des Cusanus in De coniecturis gestützt: So habe er in der Frühschrift von der unendlichen Einheit gesprochen,wie man vom intellectus sprechen müsse. Meine Interpretation will nicht der Selbstkritik des Cusanus widersprechen, aber aufzeigen, dass Cusanus bereits in De docta ignorantia diesen Gedanken mindestens formuliert, wenn er ihn auch nicht theoetisch zufriedenstellend ausführt.⁴⁹⁴ Zudem ist gemäß der Reduktionsbewegung davon auszugehen, dass die ‚einfache intellektuale Schau‘ notwendig an die Selbsterkenntnis der Vernunft gekoppelt ist; eine These, die ich später wieder aufgreifen werde. Ganz in diesem Sinn ist auch die anschließende Trintitätsspekulation zu verstehen, wenn Cusanus die innere Differenzierung des maximum mit der Triade von Erkennendem, Erkennbarem und Erkennen der Vernunfteinheit veranschaulicht und wiederum analog dazu die Momente der Ungeteiltheit (indivisio), Unterscheidung (discretio) und Verbindung (conexio) nennt. Gleiches gilt für die Begriffstriade ‚unitas – aequalitas – conexio‘.⁴⁹⁵ Die theologisch motivierte, aber philosophisch vorgetragene Form der trinitarischen Struktur als nicht-numerische relationale Selbstidentität des unendlichen Einen erhellt auch die Besonderheit der Vernunft. Sie ist für sich selbst weder etwas Gegenständliches noch auf extramental Gegenständliches bezogen und ist gemäß der Einheitlichkeit der Dreiheit, indem sie erkennt, in sich unterschieden und zugleich ununterschieden. Als Einheit ist sie immer zugleich Ungeteiltheit, Unterschied oder Gleichheit und Verbindung, oder anders gesagt: Die intellektuale Tätigkeit geht von sich als indivisio aus, indem sie sich als discretio setzt, und kehrt im verbindenden Er-

 Vgl. für die Selbstkritik De con. I c. 16, n. 24, 1– 6, 30 – 31; vgl. für die Entwicklungshypothese z. B. Flasch 1998, 113 f. u. 158.  Vgl. z. B. De doct. ign. I c., 20, 17– 26. Cusanus knüpft hier an die Korrelativen-Lehre des Raimundus Lullus an, die er seit seiner ersten Predigt kennt; vgl. auch Colomer 1961, 89 ff. Dass Cusanus die metaphysische Erklärung der Trinität auch auf die Vernunfteinheit anwendet, bestätigt sich vor allem in De coniecturis. Vgl. für eine philosophische Interpretation der Trinität als göttlicher Einheit Flasch 1998, 352– 359, 482 f.

192

4 Theorie der mens humana

kenntnisakt (connexio) zu sich zurück. Die Vernunft ist lebendige Selbstbezüglichkeit. Da ihre Binnenstruktur zumindest der Analogie nach mit der des unum identisch ist, kann nur sie die angemessene Instanz des Geistes sein, um die göttliche Einheit auf bestimmte Weise, und das heißt auf nicht-berührbare Weise zu berühren. Anzumerken ist: Weil Cusanus das unum als trinitarisches erklärt, erklärt er es nicht in seiner absoluten Unendlichkeit. Als solches ist es, so Cusanus wörtlich zum Ende von De docta ignorantia, nicht einmal Trinität. Trinität ist demnach gegenüber dem absoluten Einen in gewisser Weise defizitär, weil sie es auf seine schöpfungstheoretische Bedeutung begrenzt denkt. Darin zeigt sich das Übergewicht der negativen Theologie vor allem in seinem philosophischen Erstlingswerk.Wie schon angemerkt wurde, bleibt die Sogwirkung der negativen Theologie auch über diese Schrift hinaus virulent.⁴⁹⁶ Wie aber ist das Verhältnis von intellectus und ratio zu verstehen? Muss sich die Superiorität des intellectus nicht durch Kritik an der Verstandestätigkeit selbst erst beweisen? Cusanus setzt die geometrischen Übungen an, um diesen Beweis zu führen.

4.2.1 Mathematische Übungen – der Weg zur Vernunft Für die visio intellectualis müssen Verschiedenheit und Unterschiede der Dinge sowie der mathematischen Figuren übersprungen werden (transilire). Cusanus räumt ein, dass dem am Verstand orientierten Leser dies erstaunlich vorkommen (admirari) müsse und daher zunächst Übungen den Geist schärfen (acurere) und in einer „unbezweifelbaren Anleitung zur Erkenntnis der Notwendigkeit und Wahrheit dieser Behauptung führen“⁴⁹⁷ sollen. Cusanus’ geometrische Modelle haben eine propädeutische Funktion für sein erkenntnismetaphysisches Ziel. In ihrer Anschaulichkeit fungieren sie, wie auch andere sichtbare Dinge, als Spiegel (speculum), Gleichnis (aenigma) oder Symbol (symbolum) für das für uns NichtAnschauliche, Unberührbare. Freilich ist diese Bildfunktion nur möglich, auf-

 Vgl. zur Selbstbezüglichkeit Beierwaltes 1980, 25 – 27; Haubst 1952, 145 ff. Die Ähnlichkeit von unum und intellectus wird in den Kapiteln über die Assimilationsweisen eingehender analysiert werden.  Vgl. De doct. ign. I c. 10, 21, 14– 19; vgl. auch Hofmann 1965, 98 – 133, bes. 117– 119, der die geometrica speculativa Thomas Bradwardines als Quelle des Cusanus angibt. Dass Cusanus’ Überlegungen nicht mit einem „neuzeitlichen Mathematizismus“ gleichzusetzen sind, darauf weist Böhlandt 2002, 36 hin; vgl. auch Gericke 1990, 203; Grell 1965; Gandillac 1953, 190 ff.

4.2 Geist als Vernunft in De docta ignorantia

193

grund der einen Proportion des absolut Einen, das, indem es alles ist, die Bedingung alle Verweisungszusammenhänge ist: Hoc autem, quod spiritualia per se a nobis inattingibilia symbolice investigentur, radicem habet ex his, quae superius dicta sunt, quoniam omnia ad se invicem quandam nobis tamen occultam et incomprehensibilem habent proportionem, ut ex omnibus unum exsurgat universum et omnia in uno maximo sint ipsum unum.⁴⁹⁸

Hierbei gilt für Cusanus in Übereinstimmung mit der Tradition, dass die Mathematik die bestmöglichen Symbole für die symbolica investigatio zur Verfügung stellt, weil sie der menschliche Geist, ähnlich wie Gott das Seiende, selbsttätig hervorbringt und weil sie eine „unverrückbarer Gewißheit“ (certitudo incorruptibilis)⁴⁹⁹ haben. Der Aufstieg (ascensus) oder der Überstieg (transcensus) zum Unendlichen vollzieht sich in drei Schritten: a) Im Ausgang von dem bekannten Anschauungsgehalt der endlich quantitativ bestimmten Figuren wird die Bedeutung auf die b) unendlich nicht-quantitativen Figuren übertragen und dann auf das c) nicht mehr anschaulich fassbare unendlich Einfache (infinitus simplex), das jede Figürlichkeit und Quantität negiert, in dem alle geometrische Identität und Gesetzmäßigkeit in einem zusammenfällt. Cusanus sagt explizit, wer beim symbolischen Verfahren die Aufmerksamkeit auf die mathematischen Zeichen wende, der müsse die einfache Ähnlichkeit (simplex similitudo) überspringen.⁵⁰⁰ Von einfacher Ähnlichkeit sind die Proportionen zwischen den endlichen Dingen; die mathematische Symbolik für das Unendliche bleibt nicht beim gegenstandsgebundenen Denken, sondern geht von ihm aus, um es zu überwinden. Diese transsumptio ad infinitum soll, wie für die Vernunft gezeigt, eine Entgrenzung und Entgegenständlichung des Denkens bewirken. Die Transsumption intendiert also nichts anderes als den Rückgang der Vernunft zu sich selbst, und zwar im Ausgang vom Verstand, um dadurch „auf unbegreifliche Weise wissender zu werden“.⁵⁰¹ Die geometrischen Beispiele begründen aber weder die Unterscheidung der Geistinstanzen noch die Koinzidenz, sondern exekutieren die Selbstkorrektur des Verstandes zur Vernunft mit dessen eigenen Mitteln. Grundlage aller infinitesimalgeometrischen Figuren in Buch I ist die „größte und unendliche Linie“ (linea maxima et infinita), in der die anderen Figuren enthalten sind oder die diese anderen ist:

 De doct. ign. I c. 11, 22, 6 – 11.  De doct. ign. I c. 11, 24, 8 f.  Vgl. De doct. ign. I c. 12, 24, 15 f.; vgl. für die drei Schritte u. a. De doct. ign. I 12, 24.  „… transumere ad infinitum simplex absolutissimum etiam ab omni figura. Et tunc nostra ignorantia incomprehensibiliter docebitur …“ De doct. ign. I c. 12, 24, 22– 23.

194

4 Theorie der mens humana

Si igitur in potentia lineae finitae sunt istae figurae, et linea infinita est omnia actu, ad quae finitae est in potentia, sequitur infinitam esse triangulum, circulum et sphaeram … Et quia fortassis clarius hoc videre velles, quomodo ea, quae sunt in potentia finiti, est actu infinitum …⁵⁰²

Cusanus stützt seine Erklärung auf die aristotelische Differenz von potentia-actus, die im Kontext seiner Metaphysik gleichbedeutend mit der Differenz finitum-infinitum ist. Die aus I 2 und I 4 bekannten Begründungsformeln für das maximum – ‚omne id quod esse potest‘ – und die Bedeutung des minimum – ‚omne possibile esse‘ – finden sich in dieser Aussage gespiegelt: So wie das Größte alles mögliche Sein in Wirklichkeit ist, so ist die linea maxima die Aktualität von allen möglichen Linien und damit von allen begrenzten geometrischen Figuren. Wie das Größte in allem ist, so die unendliche Linie in jeder endlichen Linie und jede von diesen in ihr. Aus der Perspektive des Begrenzten heißt das: Die jeweils gezogene Linie ist in ihrer Faktizität nie alle ihre Möglichkeiten, sie realisiert immer nur eine bestimmte mögliche Abmessung: Über ihre jeweils endliche Wirklichkeit hinaus besteht aber die Möglichkeit, dass andere Abmessungen und Figuren realisiert werden können, so dass in der Begrenztheit die Möglichkeiten zu anderen möglichen Begrenzungen gegeben sind. Wir können auch sagen: Die Potentialität des Linie-Seins erschöpft sich nicht in der Linie, die de facto ist, sondern ist in ihr und weist über sie hinaus. Denn nach Maßgabe der Possibilität ist es logisch möglich, dass alle anderen nicht-realisierten Linien realisiert werden können, weil sie nicht im Widerspruch zu der jeweils faktisch gezogenen Linie stehen. Allerdings haben wir zu beachten: Cusanus überschreitet gerade diese Perspektive des Begrenzten, wenn im Unendlichen alles, was in der Potentialität des Endlichen liegt, in einer Wirklichkeit ist – genauer: koinzidiert –, so dass auch der Bereich der Possibilität bzw. des NWS überschritten ist. Diese Transsumption vom Quantitativ-Bestimmten zum Nicht-Quantitativ-Bestimmten veranschaulichen insbesondere die Figuren des Koinzidenzwinkels und der Dreiecksfläche. Beide Exemplifikationen sollen in das Denken der coincidentia oppositorum einüben, indem sie die Grenze des rationalen Denkens unter der Bedingung der logischen Möglichkeit aufzeigen. – Der Koinzidenzwinkel ist der gekrümmte Winkel zwischen der Peripherie eines Kreises und einer in einem Punkt anliegenden Tangente, der unendlichen Linie. Wird nun der Kreisumfang bis ins Unendliche vergrößert, verkleinert sich entsprechend die Krümmung des Winkels; beim Übergang ins Unendliche fallen der Kreisbogen des größtmöglichen Kreises (circulus ma De doct. ign. I c. 13, 25, 16; I c. 13, 27, 14– 19.

4.2 Geist als Vernunft in De docta ignorantia



195

ximus) und Linie zusammen; der Winkel ist 0°: „Coincidit igitur cum maximo minimum, ita ut ad oculum videatur necessarium esse, quod maxima linea sit recta maxime et minime curva.“⁵⁰³ Der Gedanke einer unendlichen geometrischen Figur erscheint absurd, da Figürlichkeit per definitionem eine definite Form hat, also ein unendlicher Kreis o. ä. ein Widerspruch in sich ist. Aber es ist gerade der Sinn der mathematischen Übungen, das vorstellungsgebundene, rationale Denken zu überwinden, um über den auszuschließenden Widerspruch hinaus denken zu lernen. So sagt Cusanus ausdrücklich, weil die Vorstellung den Bereich des Sinnlichen nicht übersteige und in Proportionen operiere, vermöge sie auch nicht zu begreifen, dass die Linie Dreieck sein könne. Für die Vernunft sei dies aber leicht: „Erit tamen apud intellectum hoc facile.“⁵⁰⁴ Das Beispiel der Dreiecksfläche forciert noch einmal das Bemühen, das Verstandesdenken über seine Grenze hinauszuführen und mit dem Koinzidenzgedanken vertraut zu machen. Ausgang der Überlegung ist ein quantitativ bestimmtes Dreieck: Je größer ein Winkel gedacht wird, desto kleiner werden die anderen beiden und die eingeschlossene Fläche. Wird nun ein Winkel infinitesimal bis an seinen maximalen Grenzwert (180°) erweitert, nähern sich auch die drei Seiten infinitesimal an; sie werden aber niemals koinzidieren. Für den Verstand ist es unter Wahrung des NWS möglich, die unbegrenzte Annäherung der Seiten bzw. die Vergrößerung des einen Winkels zu denken, unmöglich aber, deren Zusammenfall in einer einfachen Linie (linea simplex) zu erfassen; es bleibt ein potentiell unbegrenzter Iterationsprozess. Entsprechend fällt Cusanus’ Schlussfolgerung aus: „Unde cum hac positione, quae in quantis impossibilis est, iuvare te potes ad non-quanta ascendendo, in quibus, quod in quantis est impossibile, vides per omnia necessarium.“⁵⁰⁵

Die gleichsam beiläufig gemachte Aussage ist mit Blick auf den Möglichkeitsbegriff eine der bemerkenswertesten in De docta ignorantia. Wenn gemäß der Zusammenhänge in der Modallogik davon auszugehen ist, dass Notwendigkeit und

 De doct. ign. I c. 13, 26, 9 – 11.  De doct. ign. I c. 14, 27, 25. Die infinitesimalgeometrischen Modelle haben gewissermaßen eine vergleichbare Funktion wie Wittgensteins Leiter in § 6.54 des Tractatus logico-philosophicus. Auch die geometrischen Figuren werden funktional eingesetzt, um durch sie über sie hinaus zu gehen. – Ob die geometrischen Exemplifikationen überzeugen, kann bezweifelt werden, da sich die distinkten Begriffsinhalte von ‚Dreieck’ auflösen. Allerdings, so lässt sich mit Cusanus erwidern, ist das im Sinn der Transformation gerade beabsichtigt.  De doct. ign. I c. 14, 29, 1– 4.

196

4 Theorie der mens humana

Unmöglichkeit konträre Modalbegriffe sind, weiterhin Unmögliches und Mögliches einander kontradiktorisch ausschließen, dann spitzt Cusanus die coincidentia oppositorum auf ein modallogisches Paradoxon zu, um so die Grenze zwischen Verstandes- und Vernunftdenken freizulegen: Das, was rational unmöglich ist, ist intellektual notwendig. Man kann einwenden, dass es sich nicht um ein echtes Paradoxon handelt, da die beiden Modalitäten für zwei unterschiedene Geistinstanzen oder Erkenntnisweisen, die schon vorausgesetzt sind, gelten. Der Einwand bestätigt aber den von Cusanus intendierten transcensus, rationales Denken über sich hinausführen zu wollen. Das Paradoxon besteht als Paradoxon für den Verstand, nicht aber für die Vernunft. Im Paradoxon manifestiert sich die Begrenztheit des Verstandes. So ist aus Sicht des Verstandes, Unmögliches als Notwendiges zu denken und zu wissen, die provokanteste Weise, den NWS zu verletzen; aus der Perspektive der Vernunft ist es die radikalste, das Prinzip überwunden zu haben. Im Nachvollzug der geometrischen Übungen zeigt sich: die Vernunft denkt die auf rationaler Ebene maximal entgegensetzten Denkbestimmungen nicht als maximal entgegengesetzt. Freilich ist damit nicht gesagt, dass die Vernunft in sich widersprüchlich progrediert – dies ist eine Annahme, die unter dem NWS auf der rationalen Ebene verbleibt –, sondern dass sie über die modallogische Ordnung insofern ‚immer schon‘ hinaus ist, als sie deren Grund oder Einheit darstellt. Sie unterliegt demnach auch nicht den modallogischen Abhängigkeiten. Dennoch und gerade deswegen lässt sich mit Hilfe des Möglichkeitsbegriffs folgende formale Bestimmung für die Vernunft angeben: Weil der intellectus Unmögliches als Notwendiges zu denken vermag, ist er transrational oder translogisch strukturiert. Seine Tätigkeiten sind nicht an den NWS oder die logische Möglichkeit gebunden. Entscheidendes ist damit für die Konzeption des menschlichen Geistes und mithin auch für die genetische Betrachtung der cusanischen Metaphysik gewonnen: Die modallogische Bindung der mens an die possibilitas erfährt bereits in De docta ignorantia eine Korrektur oder Erweiterung: Die intellektuale Denk- und Erkenntnisweise hat einen eigenen, transrationalen Modalbegriff, den ich im Rahmen meiner Untersuchung neu bestimme und die koinzidentale Möglichkeit (possibilitas coincidentiae) nenne. In ihr fallen auf bestimmte Weise – und zwar gemäß der Kompatibilität – die konträr und kontradiktorisch zu einander stehenden Modaloperatoren des rationalen Diskurses zusammen. Der Terminus erlaubt auf begrifflicher Ebene eine klare Abgrenzung zur Logizität des Verstandes: Da die Vernunft nicht von dem Prinzip der inneren Widerspruchsfreiheit abhängt, ist sie als Einheit nur koinzidental zu begreifen: Sie ist die Einheit der Entgegengesetzten. Die koinzidentale Möglichkeit ist daher auch das Maß für alles, was die Vernunft umfassen, also denken und wissen kann. Die

4.2 Geist als Vernunft in De docta ignorantia

197

von ihr produzierten Begriffe schließen gerade nicht notwendig aus, was modallogisch unmöglich oder widersprüchlich ist. Dass es gegenüber den rationalen Begriffen besondere intellektuale Begriffe gibt, ist für Cusanus’ Konzeption der Gottesnamen grundlegend. Allerdings qualifiziert Cusanus, wie später noch zu untersuchen ist, den Verstand in keiner Weise ab; ihm geht es um Kompetenzklärung der Erkenntnisinstanzen bzw. -weisen, ohne deren konstitutiven Zusammenhang aufzuheben. Festzuhalten ist: Koinzidenz ist nicht allein ein Kriterium der absoluten Einheit, sondern des menschlichen Geistes selbst; ein Kriterium, das ihm notwendig zukommt, wenn er sich als Vernunfterkenntnis vollzieht, und ihm notwendig zukommen muss, um überhaupt sinnvoll vom Absoluten auf nicht-wissende oder nicht-begriffliche Weise sprechen zu können. Dieser für die Metaphysik des Cusanus zentrale Gedanke sowie die visio intellectualis ist bereits in De docta ignorantia Thema und nicht erst in den Spätschriften nachzuweisen.⁵⁰⁶ Gerade in der charakteristischen Bestimmung, dass Unmögliches als Notwendiges gewusst werden kann, besteht eine Kontinuität in der Radikalität, Koinzidenz zu denken und für die Vernunft in Anspruch zu nehmen. Dass der Zusammenfall der logischen Modalitäten in der koinzidentalen Möglichkeit keineswegs marginal und auf ihren exemplifikatorischen Status innerhalb der symbolica investigatio zu reduzieren ist, sondern einen hohen theoretischen Stellenwert für die Metaphysik des Einen und die philosophia mentalis hat, zeigt sich in der Schrift De visione dei. In ihr spricht Cusanus von der Möglichkeit, dass Gott enthüllt (revelate) geschaut werden könne: Et animasti me, domine, qui es cibus grandium, ut vim mihi ipsi faciam, quia impossibilitas coincidet cum necessitate. Et repperi locum in quo revelate reperieris, cinctum contradictoriorum coincidentia. Et iste es murus paradisi, in quo habitas, cuius portam custodit spiritus altissimus rationis, qui nisi vincatur, non patebit ingressus. Ultra igitur coincidentiam contradictoriorum videri poteris et nequaquam citra. Si igitur impossibilitas est necessitas in visu tuo, domine, nihil est, quod visus tuus non videat.⁵⁰⁷

Ohne auf die Darstellung an dieser Stelle im Einzelnen einzugehen, ist hervorzuheben: Die bekannte Metapher von der „Mauer der Koinzidenz“ oder der „Mauer des Paradieses, in dem Gott wohnt“ veranschaulicht die Grenze zwischen ratio-

 So ist Flasch 1998, 113 u. 151 sowie 2001, 37 zu widersprechen, der die Koinzidenz erst ab 1442, also nach De docta ignorantia dem Intellekt zuspricht. Gegen diese Datierung spricht u. a. auch eine Passage in De docta ignorantia I c. 19, die weiter unten Erwähnung finden wird.  De vis. c. 9, n. 37, 34 f., 5 – 13; vgl. auch De ven. sap. c. 13, n. 35, 35 f., 1– 17. Vgl. für eine umfassende Bedeutungsanalyse der ‚Mauer’-Metapher Haubst 1989; vgl zur Koinzidenz in De visione Dei Flasch 1973, 194– 197; Beierwaltes 1989, 91– 118.

198

4 Theorie der mens humana

naler und intellektualer Erkenntnisweise. In beeindruckender Weise ist von dem „höchsten Geist“ oder „Engel des Verstandes“ die Rede, der, weil er das Tor zum Paradies bzw. zur Koinzidenz bewache, besiegt werden müsse, denn nur jenseits der Mauer könne Gott gesehen werden. Bemerkenswert für unseren Zusammenhang ist nun, dass das Verhältnis von Verstand und Vernunft in derselben Weise beurteilt wird wie schon in der Frühschrift, auch wenn die Unterscheidung dort weitaus beiläufiger ist und in den Kontext der geometrischen Beispielüberlegungen eingebunden bleibt. Wie in der zitierten Passage deutlich wird, hat auch in De visione dei die modallogische Entgegensetzung von Unmöglichkeit und Notwendigkeit zentrale Funktion. Auch hier gilt für die Vernunft, sie könne das mit Notwendigkeit denken, was für den Verstand eine Unmöglichkeit sei, nämlich das unendlich Eine erfassen: Die Unmöglichkeit ist die Notwendigkeit. Die koinzidentale Möglichkeit ist die neue begriffliche Einheit für den Zusammenfall der Modalitäten und seit De docta ignorantia grundlegend für den Begriff der Vernunft.

4.3 Die Assimilationsleistungen der mens humana Die metaphysische Ähnlichkeit von menschlichem Geist und göttlichem Geist thematisiert Cusanus durchgehend in seinem Werk. Exemplarisch dafür ist die Schrift Idiota de mente, auf die wir uns im Folgenden hauptsächlich beziehen werden. In ihr findet sich die nur zu einem Teil traditionelle Bezeichnung ‚viva imago dei‘ – lebendiges Bild Gottes – für den menschlichen Geist.⁵⁰⁸ Die mit dieser Metapher verbundene Ursprungsanalogie bzw. -relation von Urbild-Abbild bildet den Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen: „Divina mens concipiendo creat, nostra concipiendo assimilat notiones seu intellectuales faciendo visiones. Divina mens est vis entificativa, nostra mens est vis assimilativa.“⁵⁰⁹ So wie die mens divina alles mögliche Sein ist, so ist die mens humana alle möglichen Begriffe; beide sind auf je verschiedene Weise produktiv. Maßgeblich ist die fundamentale Unterscheidung zwischen seinsverleihender und angleichender Kraft, zwischen creare und assimilare.⁵¹⁰ Bei der innermentalen Produktivität der mens humana ist zwischen Begriffsbildung und dem intellektualen Sehen – das bereits in De docta ignorantia als visio intellectualis vorgestellt wurde – zu unter-

 Vgl. zum Begriff der viva imago dei von Bredow 1978, 58 – 67.  De mente c. 7, n. 99, 149 f., 5 – 7; vgl. für eine Zusammenstellung von weiteren Textstellen Velthoven 1977, 63, Fn. 48.  Vgl. Kremer 1978, 42, Fn. 105; 106; vgl. insgesamt zum Assimilationstheorem Benz 1999, 317– 346, dort auch weitere Forschungsliteratur.

4.3 Die Assimilationsleistungen der mens humana

199

scheiden. Es sind zwei differente Weisen der Assimilation, wobei für die Begriffsbildung weiterhin die Unterscheidung von ratio und intellectus zu beachten ist. Im Folgenden ist zu zeigen, wie sich in den Assimilationsweisen die Dynamik des wissenden Nicht-Wissens vollzieht und die Größe wie Grenze die metaphysische Dignität der mens humana bestimmt.

4.3.1 Die assimilatio rationis Die Assimilationsweise des Verstandes braucht hier nur kurz vorgestellt zu werden, da sie die bereits erreichten Ergebnisse bestätigt.⁵¹¹ Überraschend ist allerdings, dass die Materie als Grund für epistemische und auch begriffliche Ungenauigkeit angeführt wird. Cusanus geht zunächst davon aus, dass die assimilatio rationis eine Begriffsentwicklung und -anwendung in Abhängigkeit von Wahrnehmung sowie Vorstellung in Bezug auf die Dinge ist. Er nennt daher die Ergebnisse der Angleichung „Begriffe von Sinnlichem“, die „eher Mutmaßungen als Wahrheiten“ seien. Der Grund – Cusanus spricht hier als Aristoteliker – ist die Materie. Die Form sei aufgrund der „Veränderlichkeit der Materie verdunkelt“, so dass jede Assimilation nur konjekturale Erkenntnis sein könne. Rationale Begriffe seien in der Regel „unsicher“: Sed nostra vis mentis ex illis talibus notionibus sic per assimilationem elicitis facit mechanicas artes et physicas ac logicas coniecturas et res attingit modo, quo in possibilitate essendi seu materia concipiuntur, et modo, quo possibilitas essendi est per formam determinata. Unde cum per has assimilationes non attingat nisi sensibilium notiones, ubi formae rerum non sunt verae, sed obumbratae varabilitate materiae, tunc omnes notiones tales sunt potius coniecturae quam veritates. Sic itaque dico, quod notiones, quae per rationales assimilationes attinguntur, sunt incertae, quia sunt secundum imagines potius formarum quam veritates.⁵¹²

Bemerkenswert an der Begründung ist: Cusanus führt nicht, wie es eigentlich zu erwarten wäre, die prinzipielle Unerkennbarkeit der Formen oder der Wesenheit der Dinge an, sondern macht mit der Materie – der possibilitas essendi – ein ontologisches Konstituens für den Begriffs- und Erkenntnisrelativismus der rationalen Assimilation verantwortlich und folgt damit der Substanzkonzeption des Aristoteles. Denn ganz wie in der Theorie des σύνολον sieht Cusanus offen-

 Angemerkt sei nur, dass der Geist in all seinen Erkenntnisweisen, d. h. in allen Wahrnehmungen, in der Vorstellung und allgemein im Denken assimilativ tätig ist; vgl. De mente c. 8, n. 100, 150 f., 1– 4.  De mente c. 7, n. 102, 153 f., 11– 20.

200

4 Theorie der mens humana

sichtlich in der Verbindung aus Form und Materie die Ursache für die ontologische Kontingenz alles Seienden, so dass die Erkenntnis der prozessualen Wirklichkeit immer auch vage bleibt. Der Prozesscharakter des Seienden macht eine völlig sichere Gegenstandserkenntnis für den Verstand unmöglich. Entsprechend eindeutig ist schon in De docta ignorantia von der „fortwährenden Unbeständigkeit“ aller sinnlich wahrnehmbaren Dinge infolge der in ihnen liegenden „materiellen Möglichkeit“ oder „fluktuierenden Möglichkeit (possibilitas fluctuans)“ die Rede;⁵¹³ sie ist wesentlich verantwortlich für die ontische Kontingenz, die Cusanus als den Bereich des ‚Mehr oder Weniger‘ markiert hat. Steht diese Begründung im Widerspruch zu dem paradigmatischen und durchweg positiven Stellenwert der Mathematik als besonderer Verstandesleistung? Cusanus bleibt an der zitierten Stelle äußerst knapp. Aber offensichtlich unterscheidet er zwischen der Geltung bestimmter Begriffsordnungen bzw. Theorien höherer Ordnung, die nicht auf einfache Abstraktion zurückgeführt werden können, die aber in Anwendung auf empirische Sachverhalte, die jener Kontingenz unterliegen, zu divergierenden Ergebnissen führen können; dies trifft für die mechanischen Künste, die physikalischen und logischen Mutmaßungen zu.⁵¹⁴ Die Bewertung der Assimilationsleistung des Verstandes fällt also keineswegs negativ aus. Auch wenn sie die Wahrheit bzw. das Wesen der Dinge nicht erschließt, liefert sie für uns, was bereits gezeigt wurde, wirklichkeitsstrukturierende Begriffe. Cusanus hält ebenso fest: Die Assimilation der ratio ist, indem sie sich auf wahrnehmbares Seiendes bezieht, von der ontologischen Möglichkeit abhängig, was in Entsprechung zur aristotelischen Begriffstheorie bedeutet: Intensional eindeutige Begriffe haben eine durchaus vage Extension.

4.3.2 Zwei Assimilationsweisen der Vernunft Cusanus spricht im Anschluss von der mens per se, dem Geist an sich. Auch wenn in dem zugrunde liegenden Textabschnitt der Ausdruck intellectus nicht ver-

 Vgl. De doct. ign. I c. 11, 22, 17– 24.  Auch für die mathematischen Entitäten gilt, sie sind für sich unwandelbar und für uns gewiss, können aber nicht ohne Materie vorgestellt werden. So ist z. B. die Definition des Kreises von der ‚fluktuierenden Möglichkeit’ unabhängig, jede Kronkretisierung auch in unserer Vorstellung auf Materie angewiesen. Cusanus spricht in diesem Zusammenhang auch von den „abstrakteren Gegenständen“, um mit dem Komparativ die höhere Ebene bzw. Mentalleistung anzuzeigen; vgl. De doct. ign. I c. 11, 22, 21 f.

4.3 Die Assimilationsleistungen der mens humana

201

wendet wird, kann damit nur die Vernunft gemeint sein.⁵¹⁵ Anders als der Verstand hat sie zwei Assimilationsweisen, die sich zum einen auf die Formen der Dinge, zum anderen auf die göttliche Einheit selbst richten.

4.3.2.1 Assimilatio formarum Post haec mens nostra, non ut immersa corpori, quod animat, sed ut est mens per se, unibilis tamen corpori, dum respicit ad suam immutabilitatem, facit assimilationes formarum non ut sunt immersae materiae, sed ut sunt in se et per se, et immutabiles concipit rerum quiditates utens se ipsa pro instrumento sine spiritu aliquo organico …⁵¹⁶

Der Geist an sich gleicht sich in seiner ersten Assimilationsweise den Formen an sich an, indem er seine eigene Unveränderlichkeit anschaut und die unwandelbaren Wesenheiten der Dinge begreift. Zunächst fällt auf, dass die behauptete Wesenserkenntnis im Widerspruch zur Disproportionalitätsbedingung und der Nicht-Erkennbarkeit der Formen steht, sie kann daher unter dem Vorzeichen der Assimilation nur als Ziel, nicht als verwirklicht verstanden werden.Wie aber kann es Formen an sich geben, die nicht mit den Begriffen der Vernunft identisch sind? Der Grund ist die bekannte Finalisierung auf das absolut Eine: Da Gott die forma formarum aller Formen und als solche die Wahrheit von allem ist, bleibt die Begriffsbildung menschlicher Erkenntnis, solange sie Begriffsbildung ist, konjektural. Diese Grundvoraussetzung der Nicht-Identität unseres Wissens mit der absoluten Wahrheit ist daher, was ausdrücklich zu betonen ist, auch als innermentale Differenz in unserem Geist zwischen den Formen an sich und den Begriffen, die wir von ihnen konzipieren, gültig. Ohne diese Differenz bräuchte es keine Angleichung zu geben; sie begründet die besondere Dynamik der Vernunfterkenntnis. Die technische Metapher des Instrumentes, nach der sich der Geist seiner selbst bedient, um die Wesenheiten zu begreifen, veranschaulicht in diesem Zusammenhang die selbstbezügliche Tätigkeit der Vernunft, alle ihre Inhalte in Bezug auf die Formen zu gewinnen. So zeigt der Ausdruck per se unmissverständlich an, dass die Vernunft durch sich und mit sich selbst die Angleichung an die Formen vollzieht. Da sie selbst weder etwas Gegenständliches ist noch von Extramentalem abhängt, kann sie sich in ihrer Unwandelbarkeit, indem sie Be-

 Dieser Geist ist somit nicht mit dem der mens ipsa aus De coniecturis zu identifizieren. Mens ipsa meint dort eine mentale Einheit, die selbst noch über den göttlichen Geist bzw. Einheit hinausgeht. Auf die Bedeutung werde ich weiter unten eingehen.  De mente c. 7, n. 103, 154 f., 1– 5.

202

4 Theorie der mens humana

griffe produziert, den unwandelbaren Formen angleichen. Ich nenne das die begriffliche Selbstdifferenzierung der Vernunft. Entsprechend heißt es an anderer Stelle, der Geist – gemeint ist die Vernunft – „subsistiere in sich selbst“ (mens in se subsistens) und unterscheide sich von seiner belebenden Körperfunktion als Seele.⁵¹⁷ Dass also die Vernunft wie in der oben zitierten Aussage mit dem Körper vereint sein kann, ist für die assimilatio formarum nicht entscheidend, auch wenn die körpergebundenen Wahrnehmungen keineswegs unwichtig sind. Sie haben die Funktion, die Assimilationssprozesse, allerdings nur vermittelt durch Verstandesbegriffe (genera/species), Vorstellungen (phantasmata) und Bilder (imagines), „anzuregen“ (incitare). Cusanus nennt im vorliegenden Zusammenhang nur zwei Beispiele für Formen: das Urbild (exemplar) des Kreises als das Maß jedes sinnlichen Kreises und die Schönheit eines Bildes, die dazu anrege, nach dem Urbild, der Schönheit an sich, zu suchen.⁵¹⁸ Cusanus geht es um die Autonomie der Vernunft gegenüber der materiegebundenen Erkenntnis des Verstandes. In De venatione sapientiae sagt er daher pointiert: „Nihil enim apprehendit intellectus, quod in se ipso non repperit.“ Um dann einschränkend zu ergänzen, dass nicht die Wesenheiten selbst in ihr sind, sondern nur die Begriffe der Dinge: „Essentiae autem et quidditates rerum non sunt in ipso ipsae, sed tantum notiones rerum quae sunt rerum assimilationes et similitudines.“⁵¹⁹ Wenn Cusanus hier von der Angleichung an die Dinge schreibt, so ist darin eine sprachliche Variante der assimilatio formarum zu lesen, gemeint sind die Wesenheiten der Dinge. Cusanus ist in seiner Erkenntnismetaphysik einerseits dem Apriorismus der Formen bzw. den Ideen Platons verpflichtet und lehnt eine abstraktiv gewonnene Erkenntnis, wie sie für den Verstand durchaus zutrifft, ab; andererseits aber distanziert er sich von der platonischen Auffassung angeborener Ideen – die er „angeborene Begriffe“ (notiones concreatae) nennt –, wie auch von der aristotelischen Vorstellung von der Seele – genauer: der Vernunft – als einer tabula rasa, die ihre Eindrücke erleidet.⁵²⁰  Vgl. De mente c. 1, n. 57, 91, 9.  Vgl. De mente c. 7, n. 104, 156, 5 – 8. Die Beispiele zeigen, dass Cusanus der sokratisch-platonischen Konzeption verpflichtet ist, die nach den Ideen, dem An-sich-Sein der Dinge fragt.  De ven. sap. c. 29, n. 86, 82, 8 – 10.  Vgl. Aristoteles, De an. II, 4 429b31– 430a2. Vgl. zur Auseinandersetzung mit Platon und Aristoteles und zur Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft De mente c. 2, n. 64– 65, u. c. 4, n. 77, wo von notiones concreatae und tabula rasa die Rede ist. Kremer hat mit Koch gegen Wilpert und Bormann von De docta ignorantia zu De coniecturis einen Wechsel in der Grundorientierung von Aristoteles zu Platon konstatiert; vgl. ders. 1978, 31, 51 f., vgl. dort auch Kremers Kritik an Cusanus’ Platoninterpretation (24– 27).

4.3 Die Assimilationsleistungen der mens humana

203

Der Grund für Cusanus’ Distanzierung ist, wie Klaus Kremer bereits hervorgehoben hat, die Bestimmung des Geistes und insbesondere der Vernunft als Kraft (vis).⁵²¹ Dass Cusanus alternativ, wenn auch seltener den aristotelischen Begriff des Vermögens oder Könnens (potentia) verwendet, ist für unsere Frage nach der Funktion des Möglichkeitsbegriffs von besonderem Interesse, soll aber zunächst zurückgestellt werden. Der Begriff der vis ist genauer durch das Attribut der ‚Einfaltung‘ (vis complicationis) bestimmt, wie es in eminenter Weise auch dem göttlichen Geist zukommt. Maßgeblich ist somit die Urbild-Abbild-Relation, in der die mens divina als „Einfaltung der Einfaltungen“ (complicatio complicationum), „unendliche, alles einfaltende Einfachheit“ (infinita simplicitas omnia complicans) oder „absolute Einfaltung“ (absoluta complicatio)⁵²² die Selbstprojektion des menschlichen Geistes legitimiert. Die Leistung, die der mens humana insgesamt und der Vernunft im besonderen zukommt, ist analog zur göttlichen Schöpferkraft zu verstehen, freilich auf begrifflicher und nicht auf ontologischer Ebene: Dabei bleibt zu beachten, die Begriffsproduktivität ist die Angleichung an die Formen; sie hängt nicht primär von den wahrnehmbaren Dingen ab. In Übereinstimmung mit Kremer können wir festhalten: Cusanus intendiert mit dem Begriff der Kraft eine Neubestimmung des menschlichen Geistes und vor allem der Vernunft, indem er auf Spontaneität und Produktivität abzielt. Hierbei bilden Angleichung und Begriffsbildung keinen Widerspruch. Die Assimilationstätigkeit gleicht der plastischen Gestaltung. Allerdings mit dem Unterschied, dass die mens per se wie die aus aller Materie herausgelöste „Kraft lebendiger Bildsamkeit“ (vis suae flexibilitatis vivae) ist, die sich als „geistiges Leben“ (vita mentalis) allen Figuren, wie sie in sich sind, angleichen kann. ⁵²³ Bevor wir Cusanus’ Neubestimmung des menschlichen Geistes weiter folgen, ist zu fragen, ob es neben den Wesenheiten der Dinge noch andere Formen oder exemplaria für die Vernunft gibt. Anders gewendet: Produziert der intellectus Begriffe, die für jede Erkenntnis gleichsam a priori notwendig sind?

 „Untersucht man die Schrift De mente eingehender, dann stößt man sozusagen auf Schritt und Tritt auf diese Bezeichung des Geistes als vis bzw. potentia, oder auch als virtus.“ Kremer 1978, 32– 38, hier: 32, wo auch umfangreiche Textbelege zu den genannten Begriffen aufgeführt sind; vgl. auch im Index zu Idiota de mente.  De mente c. 4, n. 74, 114, 20; n. 75, 115, 9 – 11.  Vgl. De mente c. 7, n. 104, 156 f., 8 – 13.

204

4 Theorie der mens humana

Exkurs: Oberste Begriffe Cusanus ist kein Systematiker; in seinen Schriften findet sich daher auch keine ausführliche Antwort auf diese Frage. Aufschlussreich sind einzelne Passagen,wie die in Idiota de mente IV, wo Cusanus die Bestimmungen Punkt, Einheit, Jetzt, Ruhe, Einfachheit, Selbigkeit (Identität), Gleichheit und Verbindung in der „angleichenden Kraft der Einfaltung“ (vis assimilativa complicationis) des Geistes, genauer gesagt, in der Vernunft verortet. Ex hoc elice admirandam mentis nostrae virtutem. Nam in vi eius complicatur vis assimilativa complicationis puncti, per quam in se reperit potentiam, qua se omni magnitudini assimilat. Sic etiam ob vim assimilativam complicationis unitatis habet potentiam, qua se potest omni multitudini assimilare, et ita per vim assimilativam complicationis nunc seu praesentiae omni tempori et quietis omni motui et simplicitatis omni compositioni et identitatis omni diversitati et aequalitatis et nexus omni disiunctioni.⁵²⁴

Nach Kurt Flasch handelt es sich hierbei um „Erstbestimmungen“ im Sinn der platonischen Ideen oder „Stammbegriffe“ des Geistes, die „… in ihrer formalen Allgemeinheit den Vorzug [haben], allumfassend zu sein: Es kann keine Realität gedacht werden, in der sie nicht enthalten wären“.⁵²⁵ Mit Blick auf die grundlegende innermentale Differenz von Begriff und Form stellt sich allerdings die Frage, ob diese Erstbestimmungen Begriffe oder Formen an sich sind? Doch welchen Sinn sollte eine Angleichung haben, bei der sich beispielsweise der Begriff ‚Identität‘ der Form der Identität assimiliert? Muss es demnach Erstbestimmungen geben, die von der innermentalen Differenz ausgenommen und gegeben sind? Im vorliegenden Textabschnitt findet sich keine Antwort, allerdings wird auch die Differenz nicht erwähnt. Cusanus bietet keine klare terminologische Zuordnung oder sie interessiert ihn an dieser Stelle nicht. Eine eindeutige Lösung lässt sich unter Voraussetzung der innermentalen Unterscheidung nicht angeben.⁵²⁶ Dass es um die Apriorizität oberster Erkenntnismaßstäbe geht, steht aber außer Zweifel.

 De mente c. 4, n. 75, 114 f., 26 – 8.  Flasch 1998, 297– 302, hier: 298. Steiger 2002, 144 (Fn. zu n. 75) hingegen meint in den Begriffen die sensibilia communia der scholastischen Erkenntnislehre und des Aristoteles ausmachen zu können. Vor dem Hintergrund der Frage nach weiteren Formen a priori halte ich Flaschs Interprertation für überzeugender. Dies gerade auch in Bezug auf die späte Ideenkonzeption Platons im Parmenides und Sophistes sowie den Parmenideskommentar des Proklos. Vgl. auch Hirschberger 1975, 39 – 54, der ebenfalls von „apriorischen Stammbegriffen des Geistes“ und von einer „transzendentalen Deduktion“ spricht, hier: 50 – 52 (vgl. dazu auch die Diskussion in 59 – 61).  Bei Flasch 1998, 297 f. findet die innermentale Differenz von Begriff und Form keine Berücksichtigung. Er spricht von Ideen und exemplaria. – Möglich ist auch, dass Cusanus zwischen den Begriffen, die sich auf die Wesenheiten der Dinge beziehen, und den besonderen Begriffen als Erstbestimmungen des Denkens unterscheidet.

4.3 Die Assimilationsleistungen der mens humana

205

Die vis assimilativa complicationis erzeugt als Ergänzung zu den oben genannten Erstbestimmungen noch die Bestimmungen Größe, Vielheit, Zeit, Bewegung, Zusammensetzung, Verschiedenheit (Nicht-Identität), Ungleichheit und Trennung. Sie werden gebildet – oder, wie Cusanus wiederholt sagt, „ausgefaltet“⁵²⁷ –, indem sich die Erstbestimmungen in Erkenntnisprozessen auf die Wirklichkeit beziehen, also gleichsam instantiieren. Wenn Cusanus auch hier von Angleichung spricht, meint er nicht die assimilatio formarum, sondern die Angleichung der ‚Stammbegriffe‘ an die Wirklichkeit. Erst in diesem Prozess wird – was begriffstheoretisch von Bedeutung ist – die Reihe der zweiten Bestimmungen ausgefaltet. Wir haben also am Anfang die erste Reihe der Stammbegriffe oder Erstbestimmungen, aus denen sich dann die zweite Reihe der ihnen korrespondierenden Begriffe entfaltet. Sie bilden zusammen die grundlegenden Begriffsgegensätze und bestimmen die Struktur der Erfahrungswelt.⁵²⁸ Damit bestätigt sich weitaus klarer als in De docta ignorantia, dass die Vernunft als höchste mentale Instanz die koinzidentale Einheit der entgegengesetzten Erstbestimmungen a priori ist, die jede Wirklichkeitserkenntnis konstituieren. Dass sie konstitutiv sind und wahrnehmbares Einzelseiendes nicht anders als nach ihnen strukturiert sein kann, bestätigt eine Passage in De venatione sapientiae XXII. Cusanus führt in aller Kürze aus, beim Erkennen des Einzelseienden müssten die entgegengesetzten Bestimmungen zugleich bejaht und verneint werden. Er nennt in diesem Zusammenhang die Gegensatzpaare: Selbigkeit (Identität)-Verschiedenheit, Gleichheit-Ungleichheit, Einzahl-Vielzahl, Einheit-Vielheit, Gerade-Ungerade,

 Vgl. z. B. De mente c. 9, n. 121, 175, 4– 8; c. 15, n. 158, 215 f., 1– 11.  „Die Welt ist aufgebaut aus Erstbestimmungen, die Gegensatzpaare bilden. Daher stehen wir nicht zufällig vor der Welt; wir gehen nicht in sie hinaus zu etwas ganz Fremdem.“ Flasch 1998, 300. – Kritisch ist anzumerken: Cusanus vertritt keine Korrelationalität der Begriffe. Die Erstbestimmungen prädominieren und implizieren eine metaphysische Hierarchie. So bestimmt die Einheit die Vielheit, die Ruhe die Bewegung, das Jetzt die Zeit. Das Fehlen einer Theorie notwendiger Wechselseitigkeit der Begriffe unterscheidet den Ansatz des Cusanus von der platonischen Spätphilosophie. Platon entwickelt in seinem Dialog Sophistes eine Dialektik der sogenannten obersten oder wichtigsten Gattungen bzw. Begriffe, der megista gene (vgl. u. a. Soph. 254d4). Erst im Durchgang durch die wechselseitige Bedeutungskonstitution der Begriffe ensteht das Denken – mit Cusanus könnte man sagen: der Geist an sich. Die Theorie einer vis complicationis, die ihre Begriffe einfaltet, versucht in gewisser Weise den platonischen Lösungsansatz wieder aufzunehmen, ohne ihn allerdings gekannt zu haben oder dessen Plausibilität zu erreichen. Grundsätzlich gilt aber, was Flasch 1998, 301 bei aller historischen Abgrenzung gegenüber Kant und Hegel für die philosophia mentalis des Cusanus konstatiert: Sie enthalte „… Elemente, die zu einer transzendentalphilosophischen Theorie der Erkenntnis bzw. zu einer dialektischen Theorie der Stammbegriffe weiterentwickelt werden könnten.“ Vgl. auch Flasch 1973, 231 f.; vgl. für eine detaillierte Interpretation der megista-gene-Theorie bei Platon vor allem Mojsisch 1986 sowie 1988, 1996.

206

4 Theorie der mens humana

Differenz-Einigkeit.⁵²⁹ Auch hier gilt, die Vernunft ist die Einheit dieser Entgegensetzungen, die sie selbst produziert und zugleich anwendet. Der intellectus ist das Prinzip, das über jeden konträren wie kontradiktorischen Gegensatz hinaus ist, hinaus sein muss, um die Welt in ihren Bezügen überhaupt erst erkennbar zu machen. Koinzidenz ist somit nicht allein ein philosophisches Theorem, sondern eine Erfahrung des Denkens und Erkennens von Welt. Dabei muss sich die Apriorizität der Erstbestimmungen an die (extensionalen) Abweichungen der Phänomenwelt gleichsam angleichen, da in der realen Welt der Dinge die Reinheit der Begriffe nie absolut, sondern immer nur in Verhältnissen vorliegt. In der vis assimilativa complicationis beweist sich das Ursprungsaxiom der cusanischen Metaphysik für die Theorie des Geistes: Die Kraft der Einfaltung ist maximal komprimierte Komplexität, in der alles in einem und aus einem hervorgeht. Unser Geist hat als „Bild der absoluten Einfaltung“ die Kraft, sich „jeder Ausfaltung anzugleichen“⁵³⁰ oder, wie es an späterer Stelle in Idiota de mente heißt, der Geist als Vernunft sei das Zusammenfallen von Einheit (unitas) und Andersheit (alteritas), er falte das Selbe (idem) und das Verschiedene (diversum) ein, so wie jemand, der bis zehn zähle, zugleich aus- und einfalte.⁵³¹ Doch wirft die Bestimmung als ‚einfaltende Kraft‘ die Frage auf, ob der Geist oder die Vernunft alle Begriffe in Wirklichkeit ist. Sollte aber die maximale Komplexität aller Begriffe schon in actu gegeben sein, erwiesen sich die Assimilationsprozesse als überflüssig, da die Welt vollständig bestimmt und die mentale Kapazität – das Wissen um alle Begriffe – vollständig ausgeschöpft wäre. Gerade die Nicht-Aktualität aller Begriffe stellt ein Grundmotiv für Erkenntnisfortschritt bzw. Wissenserwerb dar und ist ein wesentliches Unterscheidungskriterium zur göttlichen Einheit. Cusanus’ geistmetaphysische Reduktion auf eine produktive Kraft erfordert daher die Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit. Die vis complicationis ist zwar aus sich selbst heraus tätig, aber es sind nicht alle der in ihr eingefalteten Begriffe bereits wirklich. Einfaltung ist daher als begriffliche Potentialität zu denken. Diese Potentialität ist auf die vermittelnde Anregung durch die Sinne angewiesen, um sich dann von sich aus in begriffliche Aktualität auszufalten. Die Verwirklichung der Begriffe findet in jeder Assimilation an die Formen an sich –

 Vgl. De ven. sap. c. 22, n. 67, 65, 4– 10.  „Et per imaginem absolutae complicationis, quae est mens infinita, vim habet, qua se potest assimilare omni explicationis.“ De mente c. 4, n. 75, 115, 9 – 12. Auch hier ist die Nähe zur göttlichen Einheit offensichtlich, von der es in De docta ignorantia II 3 n. 107 heißt, sie sei die Einfaltung von allem und die Ausfaltung von allem.  Vgl. De mente c. 15, n. 158, 215 f., 1– 10.

4.3 Die Assimilationsleistungen der mens humana

207

der intendierten Wesenserkenntnis – und in jeder durch die Erstbestimmungen strukturierten Erkenntnis der Erfahrungswelt statt. In Bezug auf die Erfahrungswelt ist die begriffliche Selbstdifferenzierung, wie sie zuerst für die Vernunft bestimmt wurde, das Merkmal des menschlichen Geistes insgesamt, da Wirklichkeitserkenntnis nicht ohne den Verstand und die Sinne möglich ist. Für die assimilatio formarum können wir zusammenfassen: – Die Vernunft verfügt nicht aktual und simultan über alle Begriffe, weil sei nicht alle Formen aktual und simultan weiß. Die Begriffe sind in ihr potentialiter oder auf potentielle Weise eingefaltet, sie verwirklichen sich erst in der Assimilation. Dabei variiert die je verwirklichte Komplexität in Abhängigkeit von der Intensität und Extensität der Welterschließung, und damit von der Menge der Dinge, nach deren Wesenheiten gefragt werden kann. Das erklärt auch, warum es Wissens- bzw. Erkenntnisunterschiede zwischen den Menschen gibt: Sie aktualisieren ihre Begriffe individuell oder in kontingenter Weise. Für die Erstbestimmungen stellt sich die Bestimmung schwieriger dar. So sind sie einerseits davon auszunehmen, als sie jeder Erkenntnis notwendig zugrunde liegen, also schon in der Einfaltung aktual gegeben sein müssen. Andererseits gilt, dass sie zwar der Natur nach primär sind, aber erst durch die sinnliche Anregung zur aktualen Anwendung kommen. Von daher ließe sich auch bei ihnen von einem Status in potentia sprechen. Entsprechend bezeichnet Cusanus den Geist auch als einen „gewissen göttlichen Samen“, der mit seiner Kraft die Urbilder aller Dinge begrifflich einfalte und der Natur nicht der Zeit nach früher als die Sinnesorgane sei, um angeregt durch sie, „die Gesamtheit der Dinge begrifflich auszufalten“.⁵³² – Infolge der monistischen Wahrheitskonzeption gibt es keine Identität von Begriff und Form an sich. Der Angleichungsprozess verläuft ad infinitum. ⁵³³ Er ist auf die transkonjekturale Erkenntnis finalisiert und zugleich, da dieses Ziel im Unendlichen liegt, mindestens für den individuellen Erkennenden nicht abschließbar. Eine Konsequenz dieser Dynamik ist eine unbegrenzte epistemische Perfektibilität, d. h. dass ein einmal realisierter Begriff prinzipiell

 De mente c. 5, n. 81, 123, 1– 7. Kremer 1978, 38 verweist in diesem Zusammenhang nicht auf Kant, sondern auf Leibniz, der ähnlich wie Cusanus die Anwesenheit aller Formen im menschlichen Geist vertritt, aber auf virtuelle Weise, was dem virtualiter oder in virtute bei Cusanus entspricht. Vgl. zu Leibniz auch Poser 2001. – Die modale Differenz lässt sich auch mit den Begriffspaaren ‚implizit-explizit’ oder ‚Kompetenz-Performanz’ beschreiben, die freilich die Unterscheidung von möglich bzw. in virtute und wirklich bzw. in actu implizieren. – Auch Descartes kennt – allerdings angeborene – Ideen bzw. Begriffe, die in potentieller Form gegeben sind; vgl dazu Perler 1996, 38 ff.; vgl. ders. 2001, 255 – 272.  Vgl. auch Kremer 1978, 47.

208

4 Theorie der mens humana

korrigierbar ist oder andere mögliche Begriffe entwickelt werden können. Damit ist eine epistemische Kontingenz bei der assimilatio formarum einzuräumen, die gewissermaßen analog zur ontologischen Kontingenz bei der assimilatio rationis besteht. Eine derartige Kontingenz könnte erklären, warum ein und dieselbe Idee nicht notwendig von allen Menschen denselben Begriff erhält oder warum Wesensfragen und Wesensbestimmungen nicht abschließend beantwortet werden können.

4.3.2.2 Intuitio veritatis absolutae Mit der Angleichung an die Formen ist – wie Cusanus wörtlich sagt – die mens per se „noch nicht gesättigt“; sie ist noch nicht an die Grenze des ihr Denkmöglichen gekommen: das Sehen der absoluten Wahrheit (intuitio veritatis absolutae).⁵³⁴ Dieses Ziel ist nur in der zweiten Assimilationsweise erreichbar. In ihr geht es nicht mehr um den Bezug auf die Formen, sondern, wie zu zeigen sein wird, um die Besonderheit des Selbstbezuges der Vernunft. Grundsätzlich ist dabei vorauszusetzen, dass die intuitio oder visio nicht das Ergebnis oder die Aufforderung zu einer affektiven mystischen Erfahrung, sondern eine philosophische Denkweise ist, die ihre ‚Sättigung‘, mithin ihr Verlangen nach Wissen im Erlangen der Weisheit hat.⁵³⁵ So heißt es in der späteren Schrift De visione dei, erst von der „unendlichen Nahrung“ werde der intellectus gesättigt sein. Klaus Kremer sieht die für die Wahrheitsschau erforderliche Erkenntniskraft der Vernunft noch übergeordnet und bezieht sich auf die vis intellectibilis oder die intellectibilitas, die Cusanus im fünften Kapitel von Idiota de mente die oberste der Geisteskräfte nennt.⁵³⁶ Die Schwierigkeiten bei der Übersetzung des Ausdrucks zeigen bereits das philosophische Problem an: Was ist unter einer mentalen In-

 „Et quia adhuc modo mens non satiatur, quia non intuetur praecisam omnium veritatem, sed intuetur veritatem in necessitate quadam determinata cuilibet, prout una est sic, et quaelibet ex suis partibus composita, et videt, quod hic modus essendi non est ipsa veritas, sed participatio veritatis, ut unum sic sit vere et aliud aliter vere, quae quidem alteritas nequaquam convenire potest veritati in se in sua infinita et absoluta praecisione considerata.“ De mente c. 7, n. 105, 157, 1– 7. Auch in De doct. ingorantia I 18 n. 52 ist bereits von der „Unersättlichkeit der Vernunft“ die Rede; vgl. Kremer 1992 zur Weisheit als Voraussetzung und Ziel des menschlichen Geistes.  Cusanus hat explizit in seinem Brief vom 22.09.1452 an die Mönche von Tegernsee festgehalten, dass es ihm nicht um ein affektives Erleben von mystischer Einigung gehe, ja, dass ihm derartige Sonderfahrungen gefährlich seien. Vgl. für einen gut begründeten Ausschluss einer mystischen Cusanus-Interpretation Flasch 1973, 199 ff.; ders. 1998, 50 – 53, 410 – 412, 440 – 443.  Kremer 1978, 48.

4.3 Die Assimilationsleistungen der mens humana

209

stanz zu verstehen, die noch über der Vernunft liegt?⁵³⁷ Sinnvoll ist die Übersetzung Renate Steigers von intellectibilitas mit „Vernünftigkeit“. Der Ausdruck macht deutlich: Die höchste Geisteskraft ist nicht etwas vom intellectus Unterschiedenes, sondern, wie die lateinische Dispositionalform bereits anzeigt, eine Möglichkeit oder ein Potential der Vernunft selbst. Ich verstehe daher unter intellectibilitas die Möglichkeit der Vernunft – ihre Potentialität –, sich in radikaler Weise selbst zu reflektieren oder sich selbst anzuschauen.⁵³⁸ Die Verwirklichung der ‚Vernünftigkeit‘ ist die bereits erwähnte visio intellectualis. Was aber für De docta ignorantia erstmals und nur implizit aufgezeigt werden konnte, ist in der späteren Schrift explizit und in differenzierter Form Gegenstand der geistphilosophischen Überlegungen: Unde mens respiciendo ad suam simplicitatem, ut scilicet est non solum abstracta a materia, sed ut est materiae incommunicabilis seu modo formae inunibilis, tunc hac simplicitate utitur ut instrumento, ut non solum abstracte extra materiam, sed in simplicitate materiae incommunicabili se omnibus assimilet.⁵³⁹

Wir haben in der Analyse der zweiten Assimilationsweise drei Aspekte zu unterscheiden: a) Der Geist schaut auf seine eigene Einfachheit zurück, um sich b) durch sie der absoluten Einfachheit anzugleichen – auch hierfür verwendet Cusanus die Instrumenten-Metapher, um den mentalen Vorgang zu veranschaulichen –, und, indem er dies tut, sieht er c) in sich die absolute Wahrheit. Die drei Aspekte der Einfachheit (simplicitas), des Zurücksehens (respicere) und der Schau (intuitio) sind nicht voneinander zu trennen. Die Bedeutung von ‚Einfachheit‘ für den menschlichen Geist entspricht zunächst der seit Anaxagoras bekannten Auszeichnung der Vernunft, von der Materie vollkommen abgetrennt zu sein. Anders als bei der ersten Assimilationsweise ist hier eine Verbindung zu den Sinnen grundsätzlich ausgeschlossen. Einfachheit  Dass es mit der mens divina eine exponierte Instanz über dem intellectus und der mens humana gibt, steht außer Frage, ist aber hier zunächst nicht Gegenstand der Analyse, da es um die Assimilationsweisen des menschlichen Geistes geht. In De coniecturis verwendet Cusanus erstund einmalig den Begriff der mens ipsa und nennt damit eine Instanz, die noch die göttliche mentale Einheit umfasst. Dieser Terminus, der mit ‚Geist selbst’ zu übersetzen ist, geht somit noch über die mens divina hinaus, insofern diese eine Einheit ist, die sich in jene differenziert. Zutreffend hält Winkler 2001, 124 fest, Cusanus habe damit die immanente Grenze des im Mittelalter gängigen Platonismus und der negativen Theologie überschritten. S. für eine luzide Interpretation der Geistphilosophie in De coniecturis vor allem Mojsisch 1998.  ‚Radikal’ ist hier im Wortsinn von radicitus als ‚an die Wurzel’ bzw. ‚auf den Grund gehend’ zu lesen. So nennt Cusanus in De coniecturis n. 14 u. n. 2 die Vernunft die „wurzelhafte Einfachheit“ und „wurzelhaft ohne Wurzel“.  De mente c. 7, n. 105, 157, 7– 12.

210

4 Theorie der mens humana

kann in Materie nicht mitgeteilt werden und ist, was überrascht, auch mit der Form unvereinbar.Warum aber ist die Einfachheit nicht in der Form mitteilbar? Cusanus begründet seine Aussage nicht. Aus dem Kontext können wir zwei mögliche Erklärungen geben: Simplicitas im radikalen Sinne ist von jeder materiegebundenen Vermittlungsweise losgelöst, somit auch von jeder Form, die zur Konstitution von etwas als etwas auf Materie angewiesen ist.⁵⁴⁰ Die Vernunft, insofern sie als intellectibilitas zu denken ist, ist jenseits einer hylemorphistischen Konzeption zu denken. Weiterhin ist Einfachheit mit der Form unvereinbar, weil die Form – auch in ihrer Besonderheit als intellektuale Erstbestimmung – immer eine unter anderen, damit unterschieden von anderen und eine in vielen ist. Diese Aspekte der Vermittlung durch die Form widersprechen der Einfachheit des Geistes. Die Vernunft hat von ihrer eigenen Begriffsproduktion als Assimilation an die Formen sowie der begrifflichen Selbststrukturierung des Geistes insgesamt und damit von Verstandesinhalten und Wahrnehmungen abzusehen. Entsprechend schreibt Cusanus an einer früheren Stelle, der Geist sei „einfache Einheit“⁵⁴¹. Für die philosophische Argumentation bestätigt sich in diesem Zusammenhang die Funktion des Negationsbegriffs, wie er bereits in der frühen Vernunftkonzeption in De docta ignorantia unter der Metapher des ‚Ausspeiens‘ Geltung erhalten hat. Die Negationstätigkeit führt gleichsam auf die Spitze der innermentalen Reduktions- oder Einfaltungsdynamik der mens humana. Einfachheit ist die visio intellectualis.⁵⁴² Indem sich die Vernunft auf diese radikale Weise denkt, weiß sie sich immer auch als Nichts von all dem, was sie begrifflich ausfalten kann. Der intellectus ist nicht allein von jeglicher Materie abgetrennt, sondern ist in reduktiver Hinsicht die Negation aller realisierten Begriffsinhalte. Daher werden auch die Formen noch überstiegen und ist die Einfachheit unter diesem Gesichtspunkt nicht mit ihnen vereinbar. Nur auf diese Weise kann er zugleich die einfaltende Kraft aller seiner Inhalte und in der Ausfaltung diese Inhalte selbst sein. Nur so ist er der Ursprung maximaler begrifflicher Komplexität, der nicht auf eine Teilkomplexität reduziert werden kann. In der visio intellectualis weiß sich daher die Vernunft als Einheit, die, da sie alle ihre möglichen

 Wenn davon auszugehen ist, dass auch Sprachzeichen qua Laute oder Schrift immer materiell sind, stellt sich die Frage, wie unter Absenz jeder Materie der Selbstvollzug kommuniziert und überhaupt gewusst werden kann. Die Antwort ist die Konzeption einer mentalen Sprache. Cusanus führt diesen Ansatz, der im philosophischen Diskurs seiner Zeit durchaus bekannt war, nicht aus; vgl. dazu Lenz 2003.  Vgl. De mente c., 7, n. 98, 148, 10; vgl. Koch 1956, 16 f.  Der Ansatz ist mit einer transzendentalen Reflexion vergleichbar, da es um die Rückwendung auf die Bedingung selbst geht. Flasch weist 1998, 400 darauf hin, dass die Ausdrücke des Sehens und Berührens (visio, intuitio, attingere) „das Achten auf die Voraussetzungen“ umschreiben.

4.3 Die Assimilationsleistungen der mens humana

211

Begriffe umfasst, keiner rational-ausschließenden Distinktion unterliegt. So gilt auch die Entgegensetzung von Bestimmtheit-Unbestimmtheit für sie nicht.⁵⁴³ Die Vernunft ist als einfaltende Kraft, die alle Entgegensetzungen produziert, und als Einheit, die diese Entgegensetzungen ist, sowohl bestimmt als auch unbestimmt. Vor dem Hintergrund dieses Ergebnisses wird noch einmal die Bedeutung der koinzidentalen Möglichkeit erhellt: Weil sie nicht wie die logische Möglichkeit an den NWS gebunden ist, fundiert sie auf translogischer Ebene die Gleichzeitigkeit oder Kompatibilität von Distinktheit und Indistinktheit der Vernunft. Analog zur Funktion der possibilitas für den Verstand lässt sich entsprechend über die possibilitas coincidentiae sagen, sie bestimmt sowohl die Intension der Vernunfteinheit, indem sie diese nicht auf eine rationale Unterscheidung festlegt, als auch deren Extension, weil sie das Maß für die gleichzeitige Gültigkeit von Entgegengesetztem in den Vernunftinhalten für die Erfahrungswelt ist. In Anknüpfung an die Mauer- bzw. Paradies-Metapher aus De visione dei heißt das: Indem die Vernunft auf ihre eigene einfaltende Einfachheit zurückschaut, erkennt sie nicht nur, dass sie aus dieser Perspektive den Möglichkeitsbereich des ‚Verstandesengels‘ immer schon überwunden hat, sondern dass sie selber – um im Bild zu bleiben – in ihrer Einfachheit der Erbauer der Koinzidenzmauer ist und daher weiß, dass sie über diese hinaus bzw. durch diese hindurch ist. So spricht Cusanus in diesem Zusammenhang von der „geheimsten Gotteserkenntnis“ (secretissima theologia)⁵⁴⁴, die nur zu erreichen sei, wenn man den NWS überwunden habe; wenn man also den Zusammenfall der Modalitäten notwendig-unmöglich in der begrifflichen Einheit der koinzidentalen Möglichkeit zu denken bereit ist. Dementsprechend ist der Assimilationsprozess, wie er in Idiota de mente aufgezeigt wird, auch noch nicht beendet. Die Vernunft bedient sich – erinnert sei an die Instrumenten-Metapher – ihrer eigenen Einfachheit, um sich der veritas absoluta anzunähern. Weiterhin bleibt die simplicitas oder die visio intellectualis grundlegend; durch sie und in ihr wird die Wahrheit gesehen. Die Wortwahl ist zu beachten: Cusanus schreibt explizit, die Vernunft schaue in ihrer Einfachheit die absolute Wahrheit jenseits der Kompossibilität und Andersheit, über aller Teilhabe, Verschiedenheit, Zahl und Größe in absoluter Notwendigkeit:

 Bestimmt-Unbestimmt gilt als Entgegensetzung auch nicht für das Unendliche; gälte die Ausschließung beim göttlichen Einen, wäre es rein unbestimmt.  „Vernunft wird im Denken der Gegensätze zur ‚visio intellectualis’ und ist insofern schon über die Gegensätze hinaus.“ Beierwaltes 1988, 23; vgl. auch ders. 1980, 151. „Die Erkenntnis der Koinzidenz ist das Hinaussein über die Koinzidenz.“ Flasch 1973, 220. S. für das Zitat: Brief vom 14.9.1453; Vansteenberghe 1915, 116.

212

4 Theorie der mens humana

Et hoc modo in simplicitate sua omnia intuetur, sicut si in puncto omnem magnitudinem et in centro circulum, et ibi omnia intuetur absque omni compositione partium et non ut unum est hoc et aliud illud, sed ut omnia unum et unum omnia. Et haec est intuitio veritatis absolutae. Quasi si quis in proxime dicto modo videret, quomodo in omnibus entibus est entitas varie participata, et post hoc modo, de quo nunc agitur, supra participationem et varietatem omnem ipsam entitatem absolutam simpliciter intueretur, talis profecto supra determinatam complexionis necessitatem videret omnia, quae vidit in varietate, absque illa in absoluta necessitate simplicissime, sine numero et magnitudine ac omni alteritate.⁵⁴⁵

Wenn aber die Wahrheit auf diese empathische Weise gesehen wird, welchen Sinn sollte dann noch eine Angleichung haben? Entweder befindet sich die Vernunft im Assimilationsprozess, erkennt dann aber – analog zu den Formen an sich – die Wahrheit nicht, oder sie erkennt die Wahrheit in ihrer Absolutheit, ist dann aber über den Modus der Angleichung hinaus. Verfällt Cusanus also an diesem Punkt seiner Darstellung in einen Widerspruch? Da die zweite Assimilationsweise die höchste Erkenntnisleistung der Vernunft ist, kann ihr Erkenntnisziel nicht von ihr verschieden sein, sondern muss sich in ihr und durch sie zeigen. Bereits in der assimilatio wird die Wahrheit gesehen, vollzieht sich die intuitio veritatis. Denn das Ziel der Angleichung muss in der Angleichung auf bestimmte Weise immer schon gewusst werden, um sich überhaupt angleichen zu können. Cusanus’ philosophisches Argument ist: Weil sich die Vernunft in ihrer einfaltenden Einfachheit als Ursprung und Einheit aller Entgegensetzungen weiß, sieht sie in sich auch den göttlichen Grund oder die Wahrheit, da diese in ihrer Unendlichkeit nichts anderes als die Einheit aller Entgegensetzungen sein kann. In der Selbsterkenntnis der Vernunft erweist sich somit die Immanenz des Absoluten. Zu Beginn von De coniecturis heißt es programmatisch, wir steigen umso höher zur Verähnlichung mit dem „unendlichen Verstand“ (infinita ratio; hier aber in der Bedeutung von Vernunft) auf, je tiefer wir in unseren Geist eindringen. Demnach ist Gott so in der Vernunft, dass diese durch ihn sie selbst ist.⁵⁴⁶ Konsequenterweise hat daher in der letzten Assimilationsweise das Universum keine Vermittlungsfunktion mehr zwischen Mensch und Gott. In diesem Sinn ist die Wendung von dem „Widerstrahlen Gottes“ in der Vernunft zu verstehen:

 De mente c. 7, n. 105 f., 157 f., 12– 8.  Vgl. De con. I c. 1, n. 5, 7, 3 f.; 8, 13 – 16; vgl. De ven. sap. c. 17, n. 50, 47, 5 – 6, wo der Geist,wenn er in sich eintritt, in sich Gott als sein Urbild schaut: „… ideo, cum in se intrat et sciat se talem esse imaginem, quale est suum exemplar in se speculatur.“

4.3 Die Assimilationsleistungen der mens humana

213

Utitur autem hoc altissimo modo mens se ipsa ut ipsa est dei imago, et deus, qui est omnia, in ea relucet, scilicet quando ut viva imago dei ad exemplar suum se omni conatu assimilando convertit.⁵⁴⁷

Das Ziel ist freilich immer noch nicht erreicht. Entscheidend bleibt die durch den Schöpfungsakt begründete Differenz zwischen Urbild und Abbild. Der Ausdruck ‚relucere‘ ist also zugleich begrenzend zu lesen. Er veranschaulicht weder die Getrenntheit noch die völlige Identität aus der Perspektive der Vernunft. Gerade in dem Widerstrahlen Gottes weiß sich die Vernunft selbst noch einmal begründet und zurückgeführt auf das Absolute. Dieser Gedanke erklärt sich in der cusanischen Metaphysik aber nicht primär über ein Glaubensdogma, sondern ebenfalls philosophisch: In ihrer Selbsterkenntnis weiß die Vernunft, dass sie als der Ursprung aller Begriffe nicht der Ursprung allen möglichen Seins ist, und weiß damit, dass der eigenen Kraft zur Begriffsproduktion eine seinskonstituierende Kraft vorausgeht. Pointiert gesagt, die größtmögliche Übereinstimmung bzw. Annäherung von mens humana und mens divina bleibt zugleich die kleinstmögliche Divergenz bzw. Differenz; das ist es, was die Metapher von der viva imago dei verdeutlicht. Innerhalb der Urbild-Abbild-Relation führt die Selbstreflexion der Vernunft zum Wissen um die Ursprungsähnlichkeit sowie der Abkünftigkeit von dem unendlichen Einen.⁵⁴⁸ Auch in der höchsten Weise bleibt Angleichung ein Prozess ad infinitum bis zum Ursprung als „Ziel aller Begriffe“; die Aufgabe der „theologischen Betrachtungen“: Et hoc modo intuetur omnia unum et se illius unius assimilationem per quam notiones facit de uno quod omnia. Et sic facit theologicas speculationes, ubi tamquam in fine omnium notionum quam suaviter ut in delectabilissima veritate vitae suae quiescit, de quo modo numquam satis dici possest.⁵⁴⁹

Sehen ins Angesicht Gottes – die transkonjekturale Möglichkeit Die Assimilation erfüllt sich in der noch über die Selbstanschauung der Vernunft hinausgehenden visio absoluta oder visio facialis. Das absolute Sehen ist, auch  De mente c. 7, n. 106, 158 f., 8 – 10.  Cusanus unterscheidet sich in diesem Punkt von Meister Eckhart. Während dieser mit dem ‚Seelgrund’ oder ‚Seelenfunken’ Etwas in der Seele dachte, was ungeschaffen und unerschaffbar und von jeder Schöpfungsrelation ausgeschlossen ist, weil es die Gottheit selbst ist, hält Cusanus an der Schöpfungsrelation fest. Eckhart hat letztlich Vernunft radikaler gedacht, wenn er das Ich zum Grund Gottes macht. Cusanus wird von Eckharts Philosophie gewusst haben. Vgl. für eine detaillierte Analyse der Theorie Meister Eckharts Mojsisch 1983; ders. 1997.  De mente c. 7, n. 106, 160, 11– 15.

214

4 Theorie der mens humana

wenn es in De concieturis und Idiota De mente keine Erwähnung findet, nichts anderes als die intuitio veritas absolutae unter Aufhebung der Assimilation. Cusanus thematisiert es bekanntlich in der späteren Schrift De visione dei. ⁵⁵⁰ In dem göttlichen Sehen, dem Sehen Gottes von Angesicht zu Angesicht, bei dem das Angesicht Gottes das des Menschen ist, hat die Urbild-Abbild-Relation und damit auch die docta ignorantia keine Gültigkeit mehr. Die Sehweise ist transassimilativ und transkonjektural; in ihr ist die Vernunft (als sie selbst) nichts anderes als Gott. Der unendliche Blick koinzidiert mit dem endlichen. Erst dann ist das Verlangen nach Weisheit ‚gesättigt‘ oder – gemäß dem Leitmotiv der cusanischen Philosophie – die Jagd nach Gott beendet.⁵⁵¹ Allerdings bleibt das absolute Sehen so lange eine ausstehende Möglichkeit für die Vernunft, wie diese ihre Perspektive beibehält und sich im letztlich differenten Modus der Angleichung befindet. Während die visio facialis – ganz im Sinn der Theorie des maximum – in sich die Wirklichkeit alles Möglichen und die Voraussetzung aller möglichen Perspektiven ist, bleibt sie aus intellektualer Sicht als transkonjekturale Möglichkeit das Ziel der obersten Assimilationsbewegung. Das absolute Sehen ist „die Zusammenziehung der Zusammenziehungen“ (contractio contractionum)⁵⁵². Alle begrenzten Sichtweisen sind in der einen unbegrenzten auf unbegrenzte Weise enthalten. Wie aber kann diese Identität mit der göttlichen Einheit überhaupt erreicht werden, wenn bereits die visio intellectualis das Äußerste des menschlichen Denkens ist?⁵⁵³ Erst indem das Denken gegen sich selbst denkt, und das heißt, erst wenn die Vernunft ihre letzte Begrenztheit als geschaffene Vernunft negiert und damit ihren assimilativ-konjekturalen Erkenntnishorizont transzendiert, kann sie in dem von allen Begrenzungen freien Unendlichen sein. Die Selbstnegation oder Selbsttranszendierung der Vernunft führt nicht in das Nichts als Nichts, sondern in

 Vgl. Velthoven 1977; Beierwaltes 1980, 105 – 175; ders. 1988; Flasch 1998, 383 – 443. Von Bedeutung für die Selbstinterpretation des Cusanus sind auch die Briefe an den Abt der Mönche von Tegernsee vom 22.09.1452 und 14.09.1453, die vor und nach der Entstehung von De visione dei geschrieben wurden; vgl. Flasch 1998, 439 – 443.  Beierwaltes 1988, 34 stellt das absolute Sehen in die Tradition des Neuplatonismus: „Die philosophische Implikationen der Entfaltung dieses Gedankens [sc. visio facialis] durch Cusanus zeigen sich vor allem in der Denkform eines nicht-intentionalen, nicht vergegenständlichen oder objektivierend-vorstellenden Denkens, eines differenz-losen, sich mit seinem Ziel ‚intuitiv’ einenden Sehens.“ Wichtig sind die Kriterien der Nicht-Intentionalität und Differenzlosigkeit, die anderen gelten schon für das intellektuale Denken unter Assimilationsbedingungen. Vgl. auch Flasch 1998, 430 ff.  De vis. c. 2, n. 7, 11, 14 f.  Beierwaltes 1988, 28, Fn. 57 nennt die visio intellectualis die „höchste und letzte menschliche Möglichkeit ‚vor’ der göttlichen ‚visio absoluta’“.

4.3 Die Assimilationsleistungen der mens humana

215

den absoluten Ursprung selbst.⁵⁵⁴ Da sich aber menschliches Denken oder die Vernunft nicht dauerhaft selbst negieren kann, muss die visio facialis eine begrenzte Möglichkeit bleiben. Die Vernunft und mit ihr die mens humana kann nur ein Moment im Absoluten sein, nicht dauerhaft dieses selbst.⁵⁵⁵ Sie kann theoretisch denken, was sie ontisch nicht sein kann: absolutes oder göttliches Sehen. Demnach gilt, und darin besteht der eminente Stellenwert der philosophia mentalis für die Metaphysik des Einen, dass bis zu und auch nach jenem Moment der unmittelbaren Schau die Vernunft gemäß ihrer Bestimmung als koinzidentale Möglichkeit die entscheidende Instanz für ein Wissen von Gott gemäß der Methode der docta ignorantia ist. Indem sie sich in ihrer Selbstanschauung oder Selbstreflexion als Koinzidenzeinheit weiß, ist sie aus der Perspektive der mens humana die notwendige Bedingung dafür, dass überhaupt sinnvoll von der unendlichen Einheit gesprochen und gedacht werden kann. Ohne intellektuale Tätigkeit wäre – das belegt eindrücklich das Sehen der absoluten Wahrheit bzw. das ‚Widerstrahlen Gottes‘ in der Assimilation – die visio facialis unmöglich. Die Vernunft ist die philosophische Bedingung für die Möglichkeit der Transrationalität und durch ihre Selbstnegation noch die Bedingung für die Möglichkeit der Selbstranszendierung im Sinn der Transintellektualität. Werner Beierwaltes ist daher zuzustimmen, wenn er die Bedeutung von Mystik darin bestimmt sieht, dass es der Versuch sei „… durch den Begriff über den Begriff hinauskommen, [um] des Absoluten als des dem begreifenden Denken Inkommensurablen dennoch ‚ansichtig‘ zu werden …“⁵⁵⁶ Dass dieser ‚Überstieg‘ nur im

 Mojsisch 1991, 692 f. hat in Anschluss an seine Interpretation zum Begriff des Nichts und der Negation bei Eckhart und Cusanus die Möglichkeit der Selbstaufhebung der Vernunft als „notwendigen Gedanken“ skizziert, den die Vernunft denken können müsse, wenn sie „alles denken kann“. In kritischer Absetzung führt Mojsisch aus, dass das Nichts als Nichts von den beiden älteren Philosophen nicht gedacht wurde und damit auch nicht die Möglichkeit, „dass Vernunft als Vernunft über sich hinausweist, ein Nichts als Nichts anerkennt, um dadurch, dass sie dieses Nichts denkt, ihre Prozessualität zu legitimieren …“ (Vgl. auch Mojsisch 1995, 170 f.) Ich schließe mich mit meiner Ausführung zur Selbsttranszendierung der Vernunft an Mojsischs Überlegung an. Im Unterschied zu ihm meine ich aber, dass sich der Gedanke des Nichts zumindest insoweit auf Cusanus’ Vernunftkonzept applizieren lassen muss, um die visio facialis aus der Perspektive der Vernunft ‚vernünftig’ nachvollziehbar erklären zu können. Dennoch ist Mojsischs Kritik zuzustimmen, da es bei der Selbstnegation gerade nicht um das Nichts schlechthin geht, sondern um das absolute Sehen Gottes.  Vgl. De vis. c. 17, n. 79, 63, 9 – 11; vgl. Flasch 1998, 417; Beierwaltes 1998, 28, 32 f.  Beierwaltes 1998, 49, 48. Beierwaltes verweist auf die Philosophie Schellings, die mit ihrer Konzeption einer ‚intellektualen Anschauung’ gewissermaßen als Erbe der cusanischen visio facialis verstanden werden kann.Vgl. zu dem Verhältnis zwischen Vernunft und visio mystica auch Kremer 2002, 5 – 34. Hierzu ist kritisch anzumerken: Kremer unterscheidet im Anschluss an Haubst 1989 zwischen mystischer und unmittelbarer Schau Gottes; erstere sei „… bloß der Anfang der

216

4 Theorie der mens humana

Begriff kommuniziert werden kann, ist die Grundparadoxie, der sich Cusanus sehr wohl bewusst ist, wenn er sie reflexiv in seiner Methode des wissenden NichtWissens einholt und seine Metaphysik im Wesentlichen als eine Theorie spekulativer Gottesbegriffe versteht. Mit seiner Vernunftkonzeption und ihrer Bestimmung als koinzidentale Möglichkeit kritisiert Cusanus massiv alle philosophischen Theologien, die auf der Ebene der ratio von Gott reden. Die Einseitigkeiten einer entweder nur affirmativen oder nur negativen Theologie müssen letztlich vor der Mauer des Paradieses scheitern, weil sie dem Verstandesengel folgen und im Bereich der logischen Möglichkeit bleiben.⁵⁵⁷

4.4 Die innere Dynamik der mens humana Hat sich die bisherige Untersuchung auf die Einzelleistungen des Verstandes und insbesondere der Vernunft konzentriert, so soll im Folgenden die innere Strukturiertheit des menschlichen Geistes Berücksichtigung finden. Wie erklärt Cusanus, dass der Geist nicht eine bloß statische Anordnung der Einheiten sensusratio-intellectus(‐intellectibilitas), sondern ein dynamisches Ganzes ist? Der Beantwortung der Frage sind in einem ersten Analyseschritt die zwei innermentalen Ebenen voranzustellen, die das Gefüge der mens humana ausmachen. Sie fassen zu einem wesentlichen Teil die bisherigen Ergebnisse zur Theorie des Geistes in systematisierender Absicht zusammen. In einem zweiten Schritt wird dann zu zeigen sein, dass für die Erklärung der innermentalen Dynamik der Begriff der Möglichkeit zentrale Bedeutung hat.

Enthüllung des unbekannten Gottes … am Eingang des Ineinsfalls der Gegensätze [sc. des Paradieses]“. Kremer schlussfolgert, dass dieses Sehen nicht mehr das der Vernunft sei (22). Mir ist diese Unterscheidung nicht einsichtig.Wie die Analyse der zweiten Assimilation gezeigt hat, ist es gerade die Vernunft, die, wenn sie sich auf ihre Einfachheit zurückwendet, vor der Mauer der Koinzidenz nicht scheitert, sondern sie überschreitet; demnach müsste sie in Kremers Zuordnung das mystische Sehen sein. Meine Interpretation entspricht Cusanus’ eigenem Verständnis in De visione dei, wenn er eingangs sagt, er wolle „die Leichtigkeit der mystischen Theologie“ beweisen (facilitatem mysticae theologiae, Prologus n. 1, 5, 3).Vgl. auch seine programmatischen Aussagen in dem Brief vom 14.09.1453. Leinkauf 2006, 98 ist zu widersprechen, der die Schau des Ursprungs aller Gegensätze mit der mystischen Erfahrung identifiziert.  Exemplarisch ist hier Thomas von Aquin zu nennen (Summa theologicae [= Sth] I 25 a. 3 c.).

4.5 Die hierarchisch-operative Unterscheidung der mentalen Ebenen

217

4.5 Die hierarchisch-operative Unterscheidung der mentalen Ebenen Cusanus vertraut auf das neuplatonische Theorem einer von der obersten zur untersten Einheit und umgekehrt verlaufenden Struktur. Für die Darstellung verwendet er neben dem bekannten Begriffspaar ‚complicatio-explicatio‘ die neuplatonischen Begriffspaare ‚descensus-ascensus‘, ‚progressus-recessus‘ und ‚unitas-alteritas‘, die wir im Weiteren unter der Relation von Progress und Regress zusammenfassen.⁵⁵⁸ Der Begründungszusammenhang von Wahrnehmung (Körper) → Verstand (Seele) → Vernunft → göttlichem Geist ist im aufsteigenden Regress-Modus eine Abfolge zunehmender Vereinheitlichung mit dem Ziel maximaler Einfaltung und Uneingeschränktheit.⁵⁵⁹ Dass der göttliche Geist bzw. die absolute Einheit im Begründungszusammenhang der Erkenntnisinstanzen des menschlichen Geistes genannt wird, erklärt sich schlüssig auf der Grundlage der bisherigen Ausführungen. Im absteigenden Progress-Modus geht es um zunehmende Ausfaltung und maximale Einschränkung, die in der Wahrnehmung erreicht wird.⁵⁶⁰ Die Erkenntniseinheiten haben in Abstufung an der absoluten Wahrheit teil, sie haben unterschiedlich begrenzte Zeitbestimmungen und eine unterschiedliche Zuordnung der Begriffe ‚Affirmation‘ und ‚Negation‘, die auf der horizontal-operativen Ebene die Geltungsbereiche der jeweiligen Einheiten regeln.⁵⁶¹ Systematisiert lässt sich unterscheiden: Erste Ebene: Wahrnehmung als Wahrnehmung ist reine Affirmation der unmittelbar präsenten Sinneseindrücke, die ohne Unterscheidung und ungeordnet rezipiert werden. Die sinnlichen Eindrücke sind am stärksten und unmittelbarsten der materiebedingten, fluktuierenden Möglichkeit und damit, wie De docta ignorantia gezeigt hat, der ‚fortwährenden Unbeständigkeit‘ der Wirklichkeit ausgesetzt. Jede Unterscheidung und somit jede Vereinheitlichung ist bereits eine Leistung des Verstandes und seiner Urteilskraft.Wahrnehmung an sich leistet keine Synthesis. Dennoch hat die „Sinneseinheit“ ihren notwendigen Eigenwert,

 Vgl. in Bezug auf die beiden zuletzt genannten Begriffspaare De con. I c. 9, n. 37, 42 f.  Vgl. zur Abfolge der Erkenntniskräfte De con. I c. 4, n. 14, 19; c. 8, n. 30, 36 f. Während Beierwaltes 1988, 28, Fn. 57 von „synthetisierendem Potential“ spricht, lehnt Kremer 1978, 57 die Anwendung des Teminus ‚Synthesis’ ab.  Die symbolische Darstellung ist entsprechend umzukehren: Wahrnehmung (Körper) ← Verstand (Seele) ← Vernunft ← göttlicher Geist.  Vgl. zur Wahrheit De con. I c. 16, n. 15, 20; c. 8, n. 33, 38 f. zu den anderen Bestimmungen. Cusanus unterscheidet aus grammatikalischer Perspektive zwischen zeitlosen Wörtern und Zeitwörtern, die sich wiederum auf Gegenwart und Nicht-Gegenwart beziehen sowie zwischen den Extremen der absoluten Negation und der reinen Affirmation.

218

4 Theorie der mens humana

weil nur sie wahrnimmt und feststellt, „dass etwas Sinnliches da ist, aber nicht, ob es dieses oder jenes ist“.⁵⁶² Zweite Ebene: Der Verstand (oder auch die Seele) leistet die Ordnung des sinnlichen Materials mittels seiner Begriffe und Urteile, indem er sich der Sinne als Werkzeug bedient. Er ist die Einheit der Wahrnehmungen. Cusanus findet für seine Tätigkeit die gelungene Formulierung, dass die Mannigfaltigkeit seiner Einschränkungen die Mannigfaltigkeit der Wahrnehmungen erst bewirke.⁵⁶³ Gemäß dem NWS bestimmt die Disjunktion von Affirmation oder Negation den Geltungsbereich des Verstandes, in dem kontradiktorische Aussagen unmöglich koinzidieren bzw. kompatibel sein können.⁵⁶⁴ Die Prozessebene des Verstandes umfasst das, was logisch möglich ist, so dass er selbst, wie in De docta ignorantia gezeigt, possibilitas ist, anders gesagt: Die logische Möglichkeit bestimmt die Intension des Verstandesbegriffs und dessen Extension, der gemäß er alles denken und wissen kann, was keinen Widerspruch einschließt. Entsprechend ist auch der Verstand eine einfaltende Kraft, die die aristotelischen Ordnungsstrukturen (Kategorien, Gattung, Art) sowie die Mathematik und Logik ausfaltet. In der Einheit der ratio koinzidieren aufgrund der einfaltenden Kraft die konträren, nicht aber die kontradiktorischen Entgegengesetzten. Dritte Ebene: In der Vernunft als der „wurzelhaften Einfachheit“ (simplicitas radicalis) oder „einfaltenden Wurzel“ (radix complicativa) sind hingegen nicht nur die konträren, sondern auch die kontradiktorischen Gegensatzglieder zugleich gegeben. Keine Gegensätze liegen der Vernunft voraus, wie Cusanus unmissverständlich sagt, sondern sie entstehen mit ihr und koinzidieren in ihr gemäß der Kompatibilität. Sein und Nicht-Sein, Ruhe und Bewegung sowie nicht zuletzt Notwendigkeit und Unmöglichkeit sind in ihr zusammengefaltet. Für die Einheit der Vernunft gilt daher die Konjunktion von Affirmation und Negation.⁵⁶⁵

 De con. I c. 8, n. 32– 33, 38 f., hier: n. 32, 38, 8.  „Diversa igitur, alia atque opposita sensibiliter, unam habent rationem, quae varie contracta varietatem sensibilium efficit.“ De con. I c. 7, n. 28, 35, 15 f.; vgl. De mente c. 5, n. 82– 84, 124– 127.  „Iudicia igitur animae sunt ut numeri, quorum alter par est, alter impar, et numquam simul idem par et impar. Quapropter non iudicat anima in sua ratione opposita compatibilia, cum eius iudicium numerus sit eius.“ De con. I c. 7, n. 28, 35, 16 – 19; vgl. auch De con. II c. 1, n. 76 – 78, 75 – 77: Dem Verstand ist das „Zusammenfallen der Gegensätze unerreichbar“ (n. 76, 75, 6 f.). Wenn ihm dennoch das Zusammenfallen von Einfaltung und Ausfaltung zukommt, dann freilich nicht, wie Cusanus betont, im Sinn des intellectus, sondern so, dass sie die Einfaltung der Andersheit der Wahrnehmungen und Ausfaltung der Andersheit der Vernunft ist.  Vgl. insgesamt De con. I c. 6, n. 22– 24, 28 – 32. Auffallend ist, wie häufig Cusanus in diesen Passagen die Metapher der Wurzel verwendet, um den Vorrang der Vernunfteinheit deutlich zu machen.Vgl. auch De con. I c. 4, n. 14, 19, 2 f.,wo von der intellektualen Einheit als der „Wurzel ohne vorausgehende Wurzel“ die Rede ist.

4.5 Die hierarchisch-operative Unterscheidung der mentalen Ebenen

219

Als Einheit kompatibler Entgegengesetzter unterliegt sie nicht dem NWS, sondern weist, weil intellektuales Denken und Erkennen das rational Widersprüchliche zu denken und erkennen vermag, das Axiom der Verstandeseinheit als bedingt aus. Vernunft ist durch die koinzidentale Möglichkeit (possibilitas coincidentiae) bestimmt und umfasst auf ihrer Prozessebene das, was koinzidental möglich ist. Dazu gehören die Ausbildung und Anwendung der Erstbestimmungen sowie die intellektualen Begriffe. Zudem ist die translogische Verfasstheit die Bedingung dafür, dass die Vernunft das unendlich Eine, wenn auch auf nicht-wissende Weise wissen kann, weil Unendliches notwendig nicht auf einseitige Entgegensetzungen festgelegt ist und somit mindestens eine Ähnlichkeit zwischen intellectus und dem unum geben muss. Das dürfte auch der Grund sein, warum Cusanus in Idiota de mente nur vom menschlichen und göttlichen Geist spricht. Mit Blick auf die Unterscheidung der Geistinstanzen ist noch einmal hervorzuheben: Die doppelte Modalbestimmung – logische vs. koinzidentale Möglichkeit – steht nicht für einen theorieimmanenten Widerspruch der philosophia mentalis, sondern markiert die für die Metaphysik notwendige Differenzierung zwischen Möglichkeiten des Denkens und Erkennens. Indem die Vernunft die Gegensätze als Einheit ist und sie als einfaltende Kraft erst hervorbringt, wird der die Gegensätze voraussetzende und in ihnen progredierende Verstand zusammen mit der Wahrnehmung in der höheren Geistinstanz begründet. Daher spricht Cusanus auch von der Vernunft als „Richterin“, die über den Verstand und seine Unterscheidungen urteilt.⁵⁶⁶ Für den rationalen Diskurs oder die Methode ist die Ordnung der Gegensätze notwendig, der intellectus begründet sie. Cusanus kommt es auf diesen konstitutiven Zusammenhang der Geistinstanzen an. Das seit De docta ignorantia aufgestellte modallogische Paradoxon – die Unmöglichkeit ist die Notwendigkeit – fokussiert Zusammenhang und Differenz: Zum einen hat es die Funktion, den Unterschied zwischen den Möglichkeitsbereichen beider Geistinstanzen in radikaler Form festzulegen; zum anderen zeichnet es die Besonderheit des intellektualen Denkens aus, weil es das, was der rationalen Logik unmöglich ist, nicht nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit zulässt und an die intellektuale Logik zurückbindet: Die ratio muss, weil sie im Bereich der kontingenten Wirklichkeit etwas als etwas Begrenztes erkennt, notwendig in Gegensätzen operieren und Unendliches aus ihren Betrachtungen ausschließen.⁵⁶⁷ Für sie ist ein Größtes, welches die Grenze von allem und durch

 Vgl. u. a. De quaer. c. 1, n. 25, 17 f., 4– 12; De vis. c. 22, n. 99, 77, 1 f.Vgl. z. B. für den Begriff der vis iudiciaria, die mit Urteilskraft übersetzt werden kann De mente c. 5, n. 83, 127, 12 f.  Bereits in De docta ignorantia I 24 n. 76 macht Cusanus deutlich, dass der rationale Begriff der Einheit, dem noch die Vielheit opponiert, an dem zu denkenden absoluten Einen scheitert, allerdings gilt das letztlich auch für einen Vernunftbegriff. Es zeigt sich aber ebenso, dass die Ebene

220

4 Theorie der mens humana

nichts begrenzbar ist (terminus omnium et per nullum omnium terminabilis), nicht zu bestimmen. Demgegenüber muss der intellectus über diese Ebene hinaus sein, damit wir sinnvoll von dem unendlich Einen denken können. Vierte Ebene: Die erste Einheit des Geistes ist die göttliche. Sie ist keine der Erkenntnisweisen des menschlichen Geistes; sie ist aber, wie gezeigt wurde, deren voraussetzungslose Voraussetzung. Die Vernunft schafft wiederum mit ihrer Selbstanschauung – der visio intellectualis – die Bedingung, diese Einheit approximativ erkennen zu können. Die Besonderheit in De coniecturis ist, dass Cusanus die intellektuale Ebene überschreitet und in der Form einer Selbstkritik explizit fordert, man müsse vom Göttlichen nicht in der Weise der Vernunft, sondern göttlich (divinaliter) sprechen und denken.⁵⁶⁸ Diese Möglichkeit bestand in De docta ignorantia nicht und findet auch in den späteren Schriften keine Beachtung mehr. Umso bemerkenswerter ist es, dass Cusanus diese Möglichkeit als Möglichkeit des Denkens zulässt und damit sein methodisches Prinzip des wissenden Nicht-Wissens missachtet. Denn divinaliter sprechen heißt aus der absoluten Einheit selbst sprechen, die noch über die Kompatibilität der Entgegengesetzten und damit über die Bedingung der koinzidentalen Möglichkeit hinaus ist. Cusanus gibt das begriffliche Denken damit nicht auf, im Gegenteil: Der philosophische Begriff für diese Einheit ist der der absoluten Negation. Die absolute Negation negiert und ermöglicht alle Entgegengesetzten, das heißt: Sie ist gegensatzloser Gegensatz gegen die Entgegengesetzten oder die übergegensätzliche Koinzidenz aller Entgegensetzungen, da sie sowohl die Disjunktion als auch die Konjunktion von Affirmation-Negation verneint. Auf diese Weise ist einsichtig, dass das Absolute jeder Begrenzung transzendent und immanent, folglich im eigentlichen Sinn ‚koinzidental‘ zu nennen ist. In De visione dei bildet Cusanus dafür den Ausdruck der oppositio oppositiorum sine oppositione. Ebenso kann aber auch unter Betonung der ontologischen Bedeutung von der indistincta forma oder dem indistinctum die Rede sein.⁵⁶⁹

der ratio für eine Theorie des Einen notwendig ist, um einerseits die Bewegung des Denkens und andererseits die Gegensatzlosigkeit des Einen erklären zu können.  Vgl. zur Selbstkritik De con. I c. 6, n. 24, 30 f.; vgl. auch Mojsisch 1998a, 476 f. u. Flasch 1998, 153 f., die auf das philosophische Novum dieses Gedankens hinweisen.  Vgl. für die indistincta forma De doct. ign. II c. 9, 94, 17– 19, wo sie das „göttliche Wort“ ist.Vgl. für die Formel „oppositio oppositiorum sine oppositione“ Beierwaltes 1964, 175 – 185.Vgl. dazu vor allem auch Mojsisch 1991, 688 – 691, der überzeugend deutlich gemacht hat, dass die absolute Negation translogisch-transkonjekturale Geltung hat, so dass die Verneinung der jeweiligen logischen und translogisch-konjekturalen Verbindungen nicht ihr Gegenteil zur Folge hat (Disjunktion wird nicht zur Konjunktion und umgekehrt). Mojsisch interpretiert die absolute Negation im Unterschied zur bekannten Formulierung Hegels als „Nicht-Identität von Identität und Nicht-

4.6 Die innermentale Dynamik als Bedingung der Vollendung des Geistes

221

Allerdings ist gegen diese Sprechweise aus Perspektive des rationalen Diskurses einzuwenden: Wenn Dialogizität und Kommunikation auf finite, differente Bedeutungseinheiten basieren, welche Bedeutung vermittelt die divinale Einheit noch? Einerseits lässt sich mit Verweis auf den Negationsbegriff erwidern, sie ist alle Differenzen und damit auch immanente Bedingung aller Bedeutungen. Andererseits aber radikalisiert gerade diese Negation die Transzendenz hin zu einem Indifferenzabsolutum, das keine Unterscheidungen mehr zulässt.⁵⁷⁰ Absolute Negation ist nicht kommunizierbar. Kommunizierbar ist sie nur dann, wenn sie sich als Differenzierungsagens der rationalen und intellektualen Sprache in diesen Sprachen vermittelt. Daher kann von ihr sinnvoll und zugleich nur in begrenzender Weise aus der Perspektive des Verstandes und der Vernunft gesprochen werden.

4.6 Die innermentale Dynamik als Bedingung der Vollendung des Geistes Kommen wir vor dem Hintergrund der innermentalen Ebenenunterscheidung auf die anfangs gestellte Frage zurück: Wie kann das Gefüge der Geistinstanzen ein kontinuierliches tätiges Ganzes sein? Einen wesentlichen Teil der Antwort liefert bereits das neuplatonische Strukturgesetz von Progress und Regress. Es beschreibt die notwendige Verlaufsform der in sich gegenläufigen Bewegung als eine Bewegung, erklärt aber nicht hinreichend, warum sie sich überhaupt vollzieht. Maßgeblich für die weiterführende Antwort bleibt die vis complicationis oder vis complicans. Sie initiiert insgesamt die Dynamik zur begrifflichen Produktivität und zur noetisch-epistemischen Differenzierung nach Wahrnehmungs-, Verstandes-, Vernunfteinheit aus Einem und in einer Einheit. Auch wenn Cusanus in Bezug auf die verschiedenen Erkenntnisweisen von je verschiedenen, relativ eigenständigen Kräften spricht, geht es ihm um die eine Kraft, die alle anderen einund ausfaltet. Er nennt den Geist auch einen „gewissen göttlichen Samen“, dessen Kraft alle Urbilder begrifflich einfalte sowie die Gesamtheit aller Dinge begrifflich ausfalte, wenn seine Tätigkeit durch sinnliche Eindrücke ausgelöst werde. Die Angewiesenheit auf die Sinneseindrücke steht dabei nicht im Widerspruch zu der Abgetrenntheit der Vernunft, wie sie für die zweite Assimilationsweise gilt. Cusanus unterscheidet klar zwischen der Geltung der Natur und der Zeit nach. Erstere

Identität“ (ders. 1995, 168; Hervorhebung J. M.); anders hingegen Winkler 1991, 1071, der den Gehalt des cusanischen Begriffs ganz im Sinn Hegels versteht.  Vgl. auch Flasch 1973, 227; Winkler 1991, 1082.

222

4 Theorie der mens humana

ist die Apriorizität des Prinzips, das jegliche Einheit und Verschiedenheit erst ermöglicht und daher nicht auf Wahrnehmungsdaten zurückgeführt werden kann.⁵⁷¹ Der Differenzierungsprozess von Ein- und Ausfaltung wird in Rückgriff auf den Begriff der Möglichkeit, und zwar in der Bedeutung von Potentialität bzw. Können (potentia) erklärt. Erst mit der Grundunterscheidung von potentia-actus sind die Instanzen nicht voneinander abgetrennte Größen, sondern stehen sowohl auf hierarchischer wie auch operativer Ebene in einem Prozessverhältnis, das auf die Verwirklichung der Denk- und Erkenntnismöglichkeiten der mens abzielt. Die Differenz macht verständlich, warum die einfaltende Kraft überhaupt tätig wird, um nämlich ihre begriffliche Potentialität in begriffliche Aktualität zu überführen. Damit ist auch das Ziel der innermentalen Dynamik klar bestimmt: Selbstvervollkommnung bzw. Vollendung all dessen, was dem menschlichen Geist als einfaltender Kraft zu denken oder zu erkennen möglich ist. ⁵⁷² Cusanus vertritt folglich mit der Selbstvervollkommnung eine noetisch-epistemische Teleologie, die – wie schon beim maximum – gemäß der potentia-actus-Differenz die Mentaldynamik auf die aristotelische Prozessualität verpflichtet. In dem Kapitel ‚Über die menschliche Seele‘ von De coniecturis wird die Dynamik vorrangig als Vollendung der Vernunft in Verbindung mit den anderen Instanzen erklärt. Sie verläuft gemäß dem Progress-Regress-Schema in einer Kreisbewegung von der Möglichkeit zur Wirklichkeit. Die Vernunft steigt durch den Verstand in die Wahrnehmung ab und wieder zu sich auf, wobei gleichermaßen gilt, dass in derselben Bewegung die Wahrnehmung und der Verstand in die Vernunft aufsteigen, um sich ihrerseits zu vollenden, so dass eine „wechselseitige Kreisbewegung“ bestehe: Adverte etiam, ut intellectum ob suam perfectionem descendere et ‚reditione completa‘ ad se reverti audisti, ita de sensu concipe. Nam ob perfectionem vitae sensitivae sursum ad intellectum pergit. Conectuntur igitur duo appetitus, naturalis et accidentalis, qui mutua circulatione adimplentur.⁵⁷³

Wir nennen das die Selbstdurchdringung der Einheiten oder Erkenntnisweisen, wodurch die Einheit der mens humana im Ganzen konstituiert wird. Gemäß der Kreisfigur kann jede der anderen Erkenntnisweisen Anfang und Ziel dieser Be-

 Vgl. zu dem Verhältnis der Kräfte zu bzw. in der einen Kraft („in se virtualiter“) De con. II c. 16, n. 156, 155, 19; c. 17, n. 176, 177, 14 f.: „Hae quidem participatae virtutes in tuae humanitatis virtute complicantur.“  Vgl. zum potentia-Begriff De con. II c. 16, n. 156, 154 f.; vgl. auch Winkler 2001, 144.  De con. II c. 16, n. 161, 162, 1– 5.

4.6 Die innermentale Dynamik als Bedingung der Vollendung des Geistes

223

wegung sein, was Cusanus bereits mit dem ‚Anregungscharakter‘ der Wahrnehmung oder auch der einfaltenden Kraft der ratio bestätigt. Dass er sich hier auf die Vernunft konzentriert, ist freilich nicht zufällig, sondern verdeutlicht noch einmal ihren noetisch-epistemischen Primat innerhalb der hierarchischen Ebenenunterscheidung. Da die Vernunft Progress und Regress in sich einfaltet, ist sie zugleich Anfang und Ziel dieser Bewegung; eine Bewegung, die – was von zentraler theoretischer Bedeutung ist – nach der potentia-actus-Differenz unterschieden wird. Die Vernunft geht von sich als Möglichkeit oder Vermögen aus, um zu sich als Wirklichkeit zurückzukehren, wobei sie, um zu erkennen, notwendig die anderen beiden Einheiten durchläuft bzw. ihnen immanent ist, oder wie es an einer Stelle heißt, sich ihrer als Mittel bediene: Complica igitur ascensum cum descensu intellectualiter, ut apprehendas. Non est enim intentio intellectus, ut fiat sensus, sed ut fiat intellectus perfectus et in actu; sed quoniam in actu aliter constitui nequit, fit sensus, ut sic hoc medio de potentia in actum pergere queat. Ita quidem supra se ipsum intellectus redit circulari ‘completa reditione’ …⁵⁷⁴

Mit der Kreisbewegung macht Cusanus deutlich, dass die Vernunft, um den menschlichen Geist als differenzierte Einheit von Einheiten organisieren und damit sich selbst vollenden zu können, nicht bei sich bleiben kann, sondern als oberste einheitsbildende Kraft vermittels des Verstandes in der heterogenen Wirklichkeit der Wahrnehmung wirken muss, ohne jedoch mit der Wahrnehmung oder den anderen Instanzen identisch zu sein: „Intellectus autem, qui secundum regionem intellectualem in potentia est, secundum inferiores regiones plus est in actu. Unde in sensibili mundo in actu est, nam in visu visibile, in auditu audibile actualiter apprehendit. In sensu autem sensus est, in imaginatione imaginatio, in ratione ratio.“⁵⁷⁵ Besonders hervorzuheben ist hierbei die Formulierung, mit der Cusanus die Vernunft in Bezug auf ihre eigene Ebene als im ‚Bereich der Möglichkeit‘ beschreibt und sie offensichtlich an sich im Sinn der Potentialität bestimmt. Das ist eine Zuordnung, die vor dem Hintergrund der Intellekttheorie der aristotelischen Tradition an den intellectus possibilis (νοῦς δυνάμει) erinnert und keineswegs nebensächlich ist. Cusanus übernimmt für seine Konzeption des Geistes nicht die von Aristoteles festgelegte hierarchische Dualität von tätiger und möglicher Vernunft. Zudem ist seine Vernunft nicht wie der νοῦς παθητικός passiv und leidensfähig. Offensichtlich ist die Charakterisierung durch den ‚Möglichkeitsbereich‘ auch nicht mit der Vorstellung einer tabula rasa gleichbedeutend, sondern

 De con. II c. 16, n. 159, 159 f., 10 – 15.  De con. II c. 16, n. 157, 157, 20 – 24.

224

4 Theorie der mens humana

meint unter der Bedingung der einfaltenden Kraft, dass die mögliche Vernunft, ohne auf die Instanz einer tätigen angewiesen zu sein, die gegenläufige Mentalprozessualität bis in die Sinne hinein und zurück von sich aus initiieren kann. Die mögliche Vernunft ist in der cusanischen Metaphysik keine passive Seelenpotenz, sondern die oberste produktive Kraft des menschlichen Geistes.⁵⁷⁶

4.7 Die Möglichkeit der Vollendung als Welterkenntnis Cusanus gibt in De coniecturis II 16 klar zu verstehen, dass die Vollendung der Vernunft ohne die Erkenntnis der extramentalen Wirklichkeit nicht erreichbar ist; diese ist nur dann möglich, wenn die Vernunft mittels des Verstandes die Sinnendaten zu etwas Bestimmtem macht. Daher sind auch die rationalen Kategorien, die Gattungen und Arten wichtig, bleiben aber Mittel für die Vervollkommnung der Vernunft. Entsprechend hält Cusanus in einer programmatisch zu nennenden Passage von De coniecturis II 14 fest, die mens humana insgesamt – hier die „menschliche Natur“ (humanitas) – umfasse „kraft ihrer Einheit“ alles, so dass nichts ihrem Vermögen entfliehe; eine zweite Aussage charakterisiert die Einheit als eine Kraft, die alles „aus dem Vermögen ihres Mittelpunktes“ heraushole: Humanitatis igitur unitas cum humanaliter contracta existat, omnia secundum hanc contractionis naturam complicare videtur. Ambit enim virtus unitatis eius universa atque ipsa intra suae regionis terminos adeo coërcet, ut nihil omnium eius aufugiat potentiam. Quoniam omnia sensu aut ratione aut intellectu coniecturatur attingi atque has virtutes in sua unitate complicari dum conspicit, se ad omnia humaniter progredi posse supponit…Quoniam autem unitatis condicio est ex se explicare entia, cum sit entitas sua simplicitate entia complicans, hinc humanitatis exstat virtus omnia ex se explicare intra regionis suae circulum, omnia de potentia centri exserere. ⁵⁷⁷

In beiden Formulierungen ist der Möglichkeitsbegriff mit dem Indefinitpronomen ‚alles‘ verbunden, dessen philosophische Funktion schon in Verbindung mit dem conceptus absolutus aufgezeigt wurde. Um eine zirkuläre Bestimmung zu vermeiden, die nur besagte, dass die mens alles sein kann, wozu sie vermögend ist, sind die (trans‐)logischen Bestimmungen von Verstand und Vernunft zu berücksichtigen, wonach sich der Ausdruck ‚alles‘ auf das bezieht, was die logische und die koinzidentale Möglichkeit zulassen: das Universum und Gott.

 Mit diesem Ansatz formuliert sich auch eine Kritik an der dualistischen Intellekt-Konzeption; vgl. Winkler 2001, 140 f.  De con. II c. 14, n. 143, 143, 1– 8; n. 144, 144, 5 – 8.

4.7 Die Möglichkeit der Vollendung als Welterkenntnis

225

Damit wird noch einmal deutlich: Der Möglichkeitsbegriff forciert entschieden die Tendenz, den menschlichen Geist analog zum Gottesbegriff des maximum zu bestimmen, um bei prinzipiell unterschiedlichen Leistungen – der menschliche Geist erzeugt Begriffe, der göttliche erzeugt Seiendes – für beide den gleichen Umfang kenntlich zu machen. Konsequent spricht Cusanus daher von dem Menschen als dem „menschlichen Gott“, der gemäß seiner begrifflichen Potentialität eine „eingeschränkte Unendlichkeit“ (infinitas contracta) oder, wie es in De venatione sapientiae heißt, eine „grenzenlose Grenze“ (interminus terminus), freilich „auf seine Weise“ (suo modo), ist. So wie das unendliche Eine alles mögliche Sein ist, ist die mens humana die Einheit von allen logischen sowie translogischen Erkenntnis- und Denkmöglichkeiten. Cusanus unterscheidet zwischen der Ausfaltung des Geistes, die dem Universum, und der Einfaltung, die Gott gleicht.⁵⁷⁸ Diese und andere Passagen sind exemplarisch für die programmatische Bestimmung des Menschen. In ihnen sind Größe und Grenze des Geistes gegenüber dem unendlich Einen immer zugleich ausgesprochen. Cusanus vermeidet die Identität mit Gott, so ist der Geist nicht schlechthin unendlich oder grenzenlos; dennoch versucht Cusanus die größtmögliche Ähnlichkeit zur Sprache zu bringen. Die Vollendung der Vernunft sowie des menschlichen Geistes insgesamt hat mit der Welterkenntnis einerseits und der Gotteserkenntnis andererseits zwei Ausrichtungen. Beide Hinsichten ergänzen einander notwendig, da auch die Welt und jedes Seiende das unendlich Eine zur Voraussetzung hat und, wie sich in der Substanz- und Begriffstheorie zeigte, mittelbares Ziel der Wirklichkeitserschließung ist. Dennoch sind die Hinsichten aus der Perspektive des intellectus zu unterscheiden. Während die Wirklichkeit der Dinge eine permanente Ausfaltung bzw. Progression der Kraft und ihres begrifflichen Potentials in die unteren Erkenntnisweisen erfordert, muss für die Schau Gottes eine konsequente Einfaltung oder Regression auf das (trans‐)koinzidentale Eine intendiert werden. Dabei ist zu betonen: In beiden Hinsichten geht es immer auch um die Vervollkommnung im Sinn der dynamischen Selbsterkenntnis der mens humana als ganzer. Dies steht nicht im Widerspruch zu dem Theorem der Selbstanschauung  „In humanitate igitur omnia humaniter, uti in ipso universo universaliter, explicata sunt, quoniam humanus exsistit mundus. Omnia denique in ipsa complicata sunt humaniter, quoniam humanus est deus.“ De con. II c. 14, n. 144, 144, 1– 4. Weiterhin: „Homo enim deus est, sed non absolute, quoniam homo; humanus est igitur deus. Homo etiam mundus est, sed non contracte omnia, quoniam homo. Est igitur homo microcosmos aut humanus quidem mundus.“ De con. II c. 14, n. 143, 7– 9; vgl. auch De ber. 4 n. 7, wo Cusanus mit Verweis auf Hermes Trismegistus vom Menschen als zweiten Gott (deus secundus) spricht. „Mens enim humana, quae est imago mentis absolutae, humaniter libera omnibus rebus in suo conceptu terminos ponit, quia mens mensurans notionaliter cuncta … Neque cuncta quae facit ipsam terminant, quin plura facere possit, et est suo modo interminus terminus.“ De ven. sap. c. 27, n. 82, 79, 13 – 20.

226

4 Theorie der mens humana

der Vernunft. Die visio intellectualis ist vielmehr die höchste Stufe dieser Selbsterkenntnis, die zugleich, erinnert sei an die Erstbestimmungen, Bedingung jeder Welterkenntnis ist.⁵⁷⁹ In der Realisierung welterschließender Erkenntnis, und das heißt, im Durchlaufen der gegenläufigen Mentalprozessualität hat sich die eingeschränkte unendliche Einheit des Geistes selbst zum Ziel. Explizit spricht Cusanus der humanitas bzw. der mens die traditionell Gott vorbehaltene Schöpfertätigkeit zu und hält fest, dass nichts Neues bewirkt werde, sondern sie alles nur ausfalte, was in ihr eingefaltet sei.⁵⁸⁰ Dabei bleibt für die gegenläufige Mentalprozessualität im Ausgang von und mit dem Ziel der Vernunft die potentia-actusDifferenz maßgeblich. Ergänzend ist auf die Klimax der Erkenntnisweisen in De coniecturis, die parallel zu den modalontologischen bestimmten Seinweisen der Dinge verlaufen, hinzuweisen. Cusanus differenziert gemäß den Mentalebenen bzw. -einheiten zwischen den sinnlich-undeutlichen und den rational-wahren Mutmaßungen aufgrund von Prinzipien – hier ist an die aristotelischen Axiome NWS und SAD zu denken – sowie den intellektual-wahren Mutmaßungen, die als epistemische Vollendungen unter der Bedingung der Muße möglich sind.⁵⁸¹ Ihnen korrespondieren die Seinsweisen der Möglichkeit (possibilitas) offensichtlich für die Materie – Cusanus verwendet nicht den Begriff der Kontingenz (contingentia) –, der Wirklichkeit (actualitas) der existierenden Dinge und der Notwendigkeit in der Bedeutung von necessitas secundae seu consequentiae; absolute Notwendigkeit kommt allein der unendlichen Einheit zu.⁵⁸² Cusanus legt mit den modi essendi eine traditionelle, wieder an Aristoteles’ Kosmologie angelehnte Abstufung von Beständigkeit oder Veränderlichkeit für seine Metaphysik fest, die in modalontologischer Hinsicht zwei Extreme hat: Einheit als absolute Notwendigkeit vs. Andersheit als Möglichkeit. Was bedeutet das für den menschlichen Geist? Ontologisch ist er zwischen beiden Polen verortet, da er als geschaffener nicht absolut notwendig und als Geist nicht bloß möglich im Sinne der Materie ist. Er und seine oberste Einheit, die Vernunft, bleiben daher ontisch different von dem, was die unendliche Einheit ist. Andererseits aber – und das ist hervorzuheben – schreibt die modalontologische Differenzierung keine modalepistemische statisch

 Zutreffend schreibt Beierwaltes 1988, 28, Fn. 57, diese Schau sei die „höchste und letzte menschliche Möglichkeit ‚vor’ der göttlichen ‚visio absoluta’ …“  Vgl. De con. II c. 14, n. 144, 144, 12 f.  Cusanus schreibt wörtlich in De con. II c. 9, n. 117, 113, 8 f. von den Mutmaßenden, die „… intellectualibus absolutionibus vacent.“  Vgl. De doct. ign. II c. 7; vgl. auch II c. 8 zum Materiebegriff und zur Auseinandersetzung mit den Platonikern und Aristotelikern.

4.8 Die Möglichkeit der Vollendung als Gotteserkenntnis

227

undurchlässige Struktur fest. Aufgrund der innermentalen Vollendungsdynamik kann, wie die gegenläufige Kreisbewegung veranschaulicht, jede der Erkenntniseinheiten bzw. -weisen zu jeder anderen werden, genauer gesagt, in jede andere auf- und absteigen. Jede hat also prinzipiell die Möglichkeit zur Verwirklichung auf höherer Ebene oder in einer höheren Einheit. So kann Cusanus sagen, der Verstand sei der Möglichkeit oder dem Vermögen nach Vernunft und diese Möglichkeit oder dieses Vermögen sei das Licht des Verstandes;⁵⁸³ gleiches ließe sich auch von der Wahrnehmung in Bezug auf den Verstand behaupten. Umgekehrt gilt, dass das, was für eine untere Einheit notwendig ist – mithin nicht anders sein kann –, für die obere eine Möglichkeit darstellt: „Hosque essendi modos trium regionum ad invicem continuari coniecturatur, ut unum sit universum. Hinc summam sensibilem necessitatem rationalem admittit possibilitatem summamque atque necessariam rationem intellectualem affirmat possibilitatem.“⁵⁸⁴ Der epistemische Gewinn dieser Transformation wurde für ratio und intellectus mit der Unterscheidung zwischen logischer und koinzidentaler Möglichkeit aufgezeigt: So ist für den Verstand möglich, aber nicht notwendig, was für die Wahrnehmung nicht anders sein kann, nämlich ausschließlich affirmativ und durch Sinneseindrücke bestimmt zu sein. Für die Operationen der Vernunft hingegen sind die mathematischen und logischen Wahrheiten der rationalen Ebene – entscheidend hier der NWS – nicht notwendig, weil sie die Koinzidenzeinheit der Widersprüche und Entgegensetzungen ist.⁵⁸⁵ Schließlich kann für die göttliche Einheit oder den göttlichen Intellekt als absolute Negation nicht notwendig sein, was die mentalen Einheiten notwendigerweise bestimmt. In Rücksicht auf alle unteren Einheiten ist freilich die jeweils eigene Notwendigkeit nicht negiert, sondern als bedingt aufgewiesen oder auf ihre Bedingung zurückgewiesen, die sie ermöglicht.

4.8 Die Möglichkeit der Vollendung als Gotteserkenntnis Der Geist erschöpft sich nicht in der Wirklichkeitserkenntnis der Dinge. Er ist immer mehr als das Erkennen dessen,was der Fall ist. Das gilt insbesondere für die

 „Ipsa autem humana anima cum sit infima intellectualis natura, intellectualiter in potentia est. Intellectualis autem potentia lumen est rationis.“ De con. II c. 16, n. 157, 156, 1– 3.  De con. II c. 9, n. 119, 114 f., 1– 4.  So führt Cusanus in De docta ignorantia das mathematische Beispiel 2+3 = 5 an, welches für den Verstand notwendig wahr sei, nicht aber für die Vernunft, weil diese nicht nach Größenverhältnissen operiere. Entsprechend weist Cusanus in De mente c. 7, n. 97, 146, 9 – 12, die menschliche mens insgesamt als lebendige, sich selbstbewegende Zahl aus.

228

4 Theorie der mens humana

Vernunft, die im Regress-Modus wieder zu sich als möglicher Vernunft zurückkehrt. Auf ihrer Ebene, die als visio intellectualis dargestellt wurde, ist die Vernunft als intellectus possibilis ohne Einschränkung durch die anderen Erkenntnisweisen und weiß sich analog zur göttlichen Einheit als koinzidentale produktive Einheit aller Begriffe in Bezug auf die Formen. Nur unter dieser Voraussetzung hat sie die transkonjekturale Möglichkeit zur Schau Gottes, ohne diese damit schon verwirklicht zu haben. Mit der Intention, diese Möglichkeit zu verwirklichen und die Einheit als solche zu erkennen, verfolgt die Vernunft ihre höchste oder „letzte Vollendung“: In se ipso igitur intellectus intuetur unitatem illam non, uti est, sed uti humaniter intelligitur, et per ipsam, quam sic intelligit in alteritate, se elevat, ut absolutius in eam, uti est, pergat, de vero ad veritatem, aeternitaten et infinitatem. Et haec est ultima perfectio intellectus, quoniam per theophaniam in ipsum descendentem continue ascendit ad approximationem assimilationis divinae atque infinitae unitatis, quae est vita infinita atque veritas et quies intellectus.⁵⁸⁶

Die Vernunft ist der eminenteste Ort der Theophanie, weil sie sich in der visio intellectualis selbst als coincidentia oppositorum erkennt.⁵⁸⁷ Aber das transintellektuale oder transkonjekturale Ziel ihres Erkenntnisstrebens kann sie nicht allein von sich aus verwirklichen, sondern bleibt von der absoluten Einheit abhängig; erst in ihr ist sie in der Wahrheit, der Ewigkeit, der Ruhe und hat das unendliche Leben. Die Passage verdeutlicht in Bezug auf die Gotteserkenntnis die metaphysische Funktion der potentia-actus-Differenz, nämlich den progressiven wie regressiven Assimilationsprozess ad infinitum zu sichern. Denn das Absteigen des Göttlichen in den intellectus – erinnert sei an das ‚Widerstrahlen Gottes‘ aus Idiota de mente – und dessen Aufstieg als Annäherung an die göttliche und unendliche Einheit ist nicht gleichbedeutend mit der Identität von intellectus und unum. Vielmehr ist es gerade die Identität als noch ausstehende Wirklichkeit oder die Möglichkeit der Identität, aus der sich die Dynamik speist, mit der die Vernunft auf das Absolute approximativ hingeordnet ist. Strenggenommen gehört die assimilative Ausrichtung nicht zur innermentalen Vollendungsdynamik des menschlichen Geistes, sondern bildet aus der Perspektive der Vernunft vielmehr eine Bewegung ad infinitum, die ein transintellektuales Ziel hat. Die potentia-actus-Differenz erweist sich hier in eminenter Weise als metaphysische Valenz und Hierarchisierung zwischen der ‚eingeschränkten Unend De con. II c. 16, n. 167, 169, 15 – 22.  „Denn in dieser Schau erreicht der Geist die Verwirklichung seiner maximalen Möglichkeit.“ Wolter 2004, 280.Wie gezeigt, gibt es aber mit der visio facialis noch eine darüber hinaus gehende Möglichkeit, die eben transintellektual ist.

4.8 Die Möglichkeit der Vollendung als Gotteserkenntnis

229

lichkeit‘ (infinitas contracta) des menschlichen Geistes, genauer gesagt, der Vernunft und der Wirklichkeit des unendlich Einen: Was für den ‚menschlichen Gott‘ möglich, aber noch nicht wirklich ist, ist für Gott immer schon wirklich gewesen. Entsprechend heißt es in einer Passage, man könne an der absoluten Wirklichkeit der göttlichen Natur nur „in der höchsten Möglichkeit bzw. in der höchsten Potentialität“, der des intellektualen Erkennens, teilnehmen: Actualitas est unitas in alteritate tantum participabilis. Non igitur participatur actualitas nisi in potentia, quoniam ipsa eius est alteritas. Divinitas actualitas est absoluta, quae participatur in supremis creaturis in suprema potentia, quae est intelligere, in mediis media, quae est vivere, in infimis infima, quae est esse.⁵⁸⁸

In dem Partizipationsverhältnis, wie es bereits für die hierarchischen Ebenen der mens humana in Bezug auf die Wahrheit festgehalten wurde, ist die absolute Wirklichkeit mit der unendlichen Einheit und die höchste Erkenntnismöglichkeit mit Andersheit identifiziert, so dass ein eindeutiges Dependenzverhältnis vorliegt. Die pejorative Bedeutung des Ausdrucks ‚Andersheit‘ gilt in diesem Zusammenhang auch für den Begriff der Möglichkeit. Gegenüber der „wirklichsten Kraft“ (actualissima virtus) des göttlichen Intellekts bleibt alles menschliche Erkennen noch auf der intellektualen Ebene im Modus der Potentialität und damit defizitär. Wir können an der göttlichen Wirklichkeit nur in der „Mannigfaltigkeit des Möglichen“ (in potentiali varietate) teilnehmen, wobei noch – gemeint sind die Erkenntnisweisen – zwischen „naher, entfernter und weit entfernter Möglichkeit“ (propinqua, remota atque remotissima potentia) unterschieden wird.⁵⁸⁹ Analog zu dem Transformationspotential der innermentalen Einheiten untereinander gilt für die Ausrichtung der Vernunft auf die göttliche Einheit, dass sie sich deren Wirklichkeit annähern kann, sie aber nicht ist und im Modus der Potentialität verbleibt: „Quanto igitur intelligentia deiformior, tanto eius potentia actui, uti est, propinquior.“ Die letzte Vollendung, mithin die Aufhebung der nahesten Möglichkeit ist erst wahre Wesenheitserkenntnis der Vernunft selbst. Widerspricht das der Selbsterkenntnis als visio intellectualis? Zumindest dann nicht, wenn Selbsterkenntnis nicht notwendig Erkenntnis des Wesens einschließt, und wenn unter Vorgabe der metaphysischen Differenz zur absoluten Einheit auch die intellektuale Selbstanschauung unter dem Vorzeichen der docta ignorantia steht. Zudem kann gemäß Cusanus’ Wahrheits- und Begriffstheorie ein nicht-konjekturales Wissen der

 De con. II c. 6, n. 98, 95, 17– 22. Wie deutlich wird, gibt es eine weitere Unterscheidung zwischen der mittleren Potentialität des Lebens und der untersten des Seins.  Vgl. hier und im Folgenden De con. I c. 11, n. 56, 57, 10 – 17.

230

4 Theorie der mens humana

Wesenheiten nur dann realisiert sein, wenn die unendlich-göttliche Einheit als die infinita forma oder die forma formarum auf nicht mehr nicht-wissende Weise und dadurch auch erst die Form der Vernunft oder des menschlichen Geistes an sich gewusst wird.⁵⁹⁰ Wesentlich für die absolute Einheit ist, dass alle phänomenale und mentale Dynamik in ihr ihren Ursprung hat. Auch die differierenden Einheiten des menschlichen Geistes stehen noch über ihr innermentales Gefüge hinaus in „einer vollkommenen Kreisbewegung“, die Anfang und Ziel in Gott hat. Die innermentale Dynamik der mens humana ist eingebunden in eine Dynamik der mens divina. Nur so begründet sich die ebenso progressive, weltoffene wie regressive, auf das Sehen Gottes rückgewendete Assimilationstätigkeit ad infinitum: „Et in hoc regressionis progressiones advertito; redit enim sensus in rationem, ratio in intelligentiam, intelligentia in deum, ubi est initium et consummatio in perfecta circulatione.“⁵⁹¹ Durch die Kreisbewegung sind die Denk-, Erkenntnis- und Sprachmöglichkeiten der drei Erkenntnisebenen in der reinen Wirklichkeit der vierten, göttlichen Einheit begründet, die sie als absolute Negation erst ermöglicht.

4.9 Zusammenfassung Die Selbstvervollkommnung der mens humana ist auf der noetisch-epistemischen Ebene und unter besonderer Berücksichtigung der Vernunft die Konzeption einer zweifachen, weil auf Welt- und Gotteserkenntnis gleichermaßen ausgerichteten gegenläufigen Teleologie ad infinitum. Mindestens vier Aspekte zeichnen die Geistmetaphysik des Cusanus aus: – Sie reflektiert die Denk- und Erkenntnismöglichkeiten des Menschen auf ihre logischen, translogisch-koinzidentalen und translogisch-transkonjekturalen Möglichkeiten hin und deckt damit die Bedingungen oder Regeln der jeweiligen mentalen Operationsebenen auf. Auf höchster mentaler Ebene – der visio intellectualis – besteht dann eine Korrelationalität zwischen menschlichem und göttlichem Intellekt, eine „selbstreferentielle Korrelationalität“⁵⁹².

 „Quanto igitur ipse intellectus a sua alteritate se altius abstrahit, ut in unitatem simplicissimam plus ascendere queat, tanto perfectior alteriorque exsistit. Nam cum omnis alteritas non nisi in unitate attingibilis sit, non potest intellectus se ipsum, qui alteritas est, cum non sit divinus absolutissimus intellectus, sed humanus, nisi in ipsa divinissima unitate, uti est, intueri. Non enim intellectus se ipsum aut aliquod intelligibile, uti est, attingere poterit nisi in veritate illa, quae est omnium unitas infinita …“ De con. II c. 16, n. 167, 168 f., 7– 14.  De con. I c. 8, n. 36, 41, 3 – 6.  Winkler 2001, 141.

4.9 Zusammenfassung







231

Die ontologische Frage nach dem Wesen der mens wird mit dem Begriff der Kraft beantwortet. Die vis complicationis wandelt, indem sie die teleologische Erkenntnisdynamik initiiert, die differenten Einheiten oder Ebenen der mens in ein dynamisches Ganzes um. Die in ihr eingefalteten Begriffe werden erst in den unterschiedlichen Assimilationsweisen oder Erkenntnisprozessen aktualisiert, was auch bedeutet, dass die aktualisierten Begriffe, die sich auf phänomenales Seiendes beziehen, kontingent sind. Cusanus positioniert die mens unter der Leitung des intellectus zwischen der Schau Gottes und der rationalen Erschließbarkeit der Welt in zwei für die cusanische Metaphysik notwendig miteinander verbundene Extreme oder Pole innerhalb der gegenläufigen Kreisbewegung der absoluten Einheit selbst. Diese Position ist freilich nicht ohne Spannung. Gegenüber der reinen Wirklichkeit des unendlichen Einen unterliegt alles andere, somit auch die Vernunft als höchste Mentaleinheit der metaphysischen Grunddifferenz von potentia-actus. Cusanus’ Ansatz entspricht damit im Kern der aristotelischen Theorie der Prozessualität. Die epistemische Tätigkeit des Geistes ist gleichsam situiert zwischen den von ihm realisierten Begriffen und den noch möglichen, die sowohl im Sinn epistemischer Perfektibilität als auch zunehmender Welterkenntnis verwirklicht werden können. Die mens humana folgt dem wissenschaftlichen Telos der Selbstkorrektur, das in der Überwindung von begrifflicher und epistemischer Ungenauigkeit, die sich an der einen Wahrheit misst, besteht. Dabei bleibt sie im Grundmodus des wissenden Nicht-Wissens, der nur in der visio facialis als dem Ziel der Selbstvervollkommnung zu einem transkonjekturalen Wissen überschritten werden kann. Die Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit bestimmt fundamental die epistemische Leistung des Menschen. Intellectus wie ratio sind der unendlichen Perfektibilität verpflichtet und damit einer Dynamik, ohne die kein menschliches Denken und Wissen wäre.

Man kann darin ein Defizit der Vernunft und des menschlichen Geistes sehen oder eine Stärke. Letztere besteht gerade in der Unvollkommenheit, genauer gesagt, in der Nicht-Identität auf höchstem Niveau. Denn die metaphysische Positionierung der mens oder der Vernunft, nicht mit der unendlichen Wirklichkeit des Absoluten identisch zu sein und demzufolge nicht die Wesenheiten der Dinge inklusive der eigenen wissen zu können, bedeutet gerade, sich selbst als begrenzte Unendlichkeit zu wissen und die eigene Leistung gemäß der einfaltenden Kraft in der Potentialität unbegrenzter begrifflicher Ausdifferenzierung zu sehen, und zwar sowohl in Bezug auf die Welt als auch in der Jagd nach einem möglichst adäquaten

232

4 Theorie der mens humana

Gottesnamen: „Nam mens est viva mensura, quae mensurando alia sui capacitatem attingit. Omnia enim agit, ut se cognoscat.“⁵⁹³ Damit konstituiert die Konzeption von der Vollendung der Vernunft den menschlichen Geist gleichsam als eine in ihrer Dynamik offene Einheit, die, um einen aristotelischen Begriff positiv zu wenden, in der Realisierung ihrer Wissensmöglichkeiten potentiell unendlich ist.⁵⁹⁴

 De mente c. 9, n. 123, 177, 5 – 7.  Benz 1999, 342– 346 ist insofern zuzustimmen, dass Cusanus eine bedingte und nicht autonome Subjektivität beansprucht. Gegen Benz ist freilich die Bestimmung der mens als begrenzte Unendlichkeit zu betonen und, ohne einer Entsubstantialisierung der mens Gefahr zu laufen, für die epistemologische Analyse stark zu machen. Vgl. auch Böhlandt 2002, 30; Schwaetzer 2011.

5 Der letzte Gottesbegriff: posse ipsum Bereits in De docta ignorantia sind alle für die Theorie des maximum zentralen Wendungen durch das ‚posse’ modal ausgezeichnet. In der letzten vor seinem Tod formuliert Cusanus eine weiterführende Erkenntnis, die sich in allen seit der Frühschrift relevanten Konzeptionen verborgen hat und die er nun mit dem letzten Gottesnamen zur Sprache bringt. Cusanus stellt in dieser Schrift, dem Dialog De apice theoriae (1464), den Begriff des posse ipsum in den Mittelpunkt seiner spekulativen Überlegungen.⁵⁹⁵ Vor dem Hintergrund der Analyseergebnisse zur Theorie des maximum und im Rahmen einer Begriffsentwicklung des ‚posse‘, die vor allem in dem Gottesnamen ‚possest‘ und der Trias ‚posse facere – posse fieri – posse factum‘ zum Ausdruck kommt, ist die exponierte Stellung der Wortverbindung aus ‚posse‘ und ‚ipsum‘ nur konsequent. Dem letzten Gottesnamen kommt eine besondere Bedeutung zu, weil, so meine These, Cusanus mit ihm einen systematischen Höhepunkt seiner metaphysischen Reduktion erreicht, die sowohl die radikale Transzendenz als auch die Immanenz Gottes umfasst. Dass noch weitere Namen gemäß der Methode der docta ignorantia über diesen letzten hinaus möglich gewesen wären, ist damit nicht in Frage gestellt, im Gegenteil. Meine These steht aber der Ansicht entgegen, der letzte Gottesname sei relativ beliebig, da Gott ohnehin unerkenn- und unbenennbar sei. Es ist gerade dieses Paradox, das, wie zu zeigen sein wird, im posse ipsum eine bedenkenswerte Transformation erlebt. Damit ist nicht behauptet, dass die früheren Möglichkeitsbegriffe, wie Brüntrup schreibt, „überwundene Denkstufen“ sind.⁵⁹⁶ Brüntrup hat Recht, insofern jeder neue Begriff, wie schon gesagt wurde, auch eine Kritik an den vorausgegangenen Konzeptionen impliziert; das entspricht der Idee der begrifflichen Perfektibilität. Dennoch lässt die Metapher eine zu strenge lineare Abfolge von Entwicklungsstadien assoziieren. Zentrale Aspekte der älteren Gottesnamen, insbesondere der vorausliegenden posse-Konzeptionen sind in den letzten Begriff aufgenommen; sie sind nicht negiert, sondern integriert oder, um mit Hegel zu sprechen: aufgehoben. Bezeichnend ist daher, dass Cusanus trotz der bereits in De venatione sapientiae abgeschlossenen Zusammenstellung seiner metaphysischen Betrachtungen die prinzipielle Unabschließbarkeit des philosophischen Denkens betont. Das Nachdenken über das Unbegreifliche unter dem

 Cusanus verwendet den Begriff bereits in Trialogus de possest, der anderen zentralen Schrift zur Könnensmetaphysik. Allerdings wird der Begriff dort nur gelegentlich und synonym mit possest gebraucht.  Brüntrup 1973, 105.

234

5 Der letzte Gottesbegriff: posse ipsum

Vorzeichen des wissenden Nicht-Wissens schließt die Durchsetzung einer definitiven Theorie aus, negiert aber nicht die Weiterentwicklung der Konzeptionen.

5.1 Reform der aristotelischen Substanz – die quiditas ipsa Der letzte Möglichkeitsbegriff wird auf der Grundlage der aristotelischen Substanz entwickelt. Ausgangspunkt bildet die Frageform ‚Was ist x?‘. Allerdings wird in der Eröffnungsszene des Dialogs die Frage nicht in dieser allgemein-formalen Weise gestellt. Der Gesprächspartner im Dialog, der Sekretär Peter von Erkelenz, fragt den Kardinal, was er denn suche („Quid quaeris?“), worauf jener nicht, wie zu erwarten wäre, mit etwas Konkretem antwortet, sondern die Frage selbst als Antwort ausweist.⁵⁹⁷ Cusanus geht es zunächst auf der Satzebene um die Funktion des Interrogativums, das die Frage ermöglicht und eine epistemische Struktur impliziert, nach der a) wissen zu wollen, was etwas ist, voraussetzt, dass es nicht unsinnig ist, dies auch wissen zu können; b) ein Vorwissen vorausgesetzt ist, ohne das kein Suchen auskommt; und c) voraussetzt, dass es das, was ‚x‘ ist, auch in irgendeiner Weise gibt. Der Nachweis dieses hermeneutischen Zusammenhanges dient freilich der metaphysischen Argumentation.⁵⁹⁸ Die Herausstellung des Fragepronomens soll aufzeigen, dass in jeder Frage nach der Form ‚Was ist x?‘ – die Cusanus traditionell als die Frage nach der Wesensdefinition versteht – das „Was selbst“ (ipsum quid) bzw. die „Washeit“ (quiditas) schon notwendig vorausgesetzt ist. Das Gesuchte ist der Suche von Natur aus vorgängig. Anders fomruliert: Jeder Frage nach der Wesensbedeutung einer Sache ist der conceptus absolutus als Bedingung der Antwort bereits immanent. Der absolute Begriff oder der unaussprechliche Name sind daher auch die Bedingung für die auf die Nominaldefinition abzielende Frageform ‚Was bedeutet F?‘. Dass Cusanus die Washeit in De apice theoriae für erkennbar hält, ist gegenüber früheren Äußerungen eine beachtliche Wendung und beweist die optimistische Haltung, die in der letzten Schrift des Kardinals dominiert. Bis zu diesem Punkt der Überlegung unterscheidet sich Cusanus nicht von dem wissenschaftlichen Ansatz des Aristoteles, für den ebenso fraglos ist, dass es unabhängig von unserem Fragen vorgängige Substanzen gibt.Was aber macht den Unterschied zwischen beiden Ansätzen aus, wenn Cusanus zudem mit dem

 Vgl. De ap. th. n. 2, 118, 19 – 12.  Vgl. De ap. th. n. 2, 118, 13 – 17. Cusanus trägt seine Hermeneutik eher implizit vor, sie erinnert an Heideggers Fragestruktur; vgl. Heidegger 1993, 5 – 8.

5.1 Reform der aristotelischen Substanz – die quiditas ipsa

235

Ausdruck ‚quiditas‘ bewusst an die Konzeption der aristotelischen Substanztheorie anknüpft? Entscheidend ist, dass der Traditionsbezug in kritischer Absicht hergestellt wird. Cusanus verfolgt eine reduktive Bestimmung der Substanz. Im Gegensatz zu Aristoteles – und auch zu Platons Ideenpluralität –, der die Vielheit des Seienden auf eine Vielheit an Substanzen gründet, die allein auf formal-theoretischer Ebene dieselben Aspekte aufweisen, geht es Cusanus um eine metaphysische Reduktion auf eine Substanz, die Prinzip alles anderen ist. Von den beiden Aspekten der aristotelischen οὐσία – das τί ἐστι und das τόδε τι – wird allein der erste zur Grundlage der weiteren philosophischen Betrachtungen. Es geht primär nicht um die Diversität der Einzelsubstanzen, sondern um die Frage, was das Wassein – die quiditas ipsa bzw. das τί ἦν εἶναι – an sich selbst oder in absoluter Weise ist:Was ist die Washeit als Washeit, die Form als Form oder die Idee als Idee?⁵⁹⁹ Einzelseiendes wird erst hinreichend begriffen, wenn sein Subsistenzgrund erkannt ist. Nur unter Ausblendung jeder gegenständlichen Konkretisierung lässt sich für Cusanus die Absolutheit der Substanz angemessen denken. Die Frage nach der quiditas ipsa nicht gestellt zu haben, sieht Cusanus als den Fehler der aristotelischen und aller Philosophien an, die zwar alle nach ihr suchten und in eingeschränkter Weise auch erkannten, aber letztlich scheiterten, weil sie immer Etwas mit ihr identifizierten und sie damit als ein kategorial bestimmtes Einzelnes qualifizierten.⁶⁰⁰ Das bleibt eine gegenständlich gedachte Ontologie. Solange die Frage nach der Washeit an sich unausgesprochen bleibt, geht metaphysisches Denken eine Voraussetzung ein, die, obwohl jeder Frage immanent, unhinterfragt bleibt und jede Theorie über das Absolute defizient sein lässt. Cusanus erklärt diese Voraussetzung zur ‚Spitze‘ der Theorie. Freilich wird die Spitze nicht erst mit der letzten Schrift zum Gegenstand der Spekulation. Die ganze Metaphysik des Einen und ihre verschiedenen Gottesnamen drehen sich gleichsam um diese Spitze. Ob mit der höchsten Stufe der Betrachtung auch das Ziel erreicht ist, bleibt eine zunächst offene Frage; die Spitze der Theorie muss nicht mit dem, auf das sie zielt, identisch sein. Kritisch ist aber anzumerken, dass Cusanus mit dem Begriff der Washeit strukturell an die aristotelische SubstanzTheorie gebunden ist.

 Vgl. so auch Senger 1986, 67 f. sowie 68 – 70 zur philosophiehistorischen Entwicklung des Begriffs ‚quiditas’; vgl. auch Leinkauf 2006, 132 ff. und Halfwassen 2012. Flasch 2001, 125 betont zu Recht, dass es Cusanus mit der Frage nach der quidditas ipsa um eine „neue Metaphysik der Form“ gehe. Vgl. auch Santinello 1993 als eine der wenigen Interpretationen von De apice theoriae.  Vgl. zur Kritik an Aristoteles Flasch 1973, 260 ff. u. 276 ff.

236

5 Der letzte Gottesbegriff: posse ipsum

… non attendi quiditatem in se subsistentem esse omnium substantiarum invariabilem subsistentiam; ideo nec multiplicabilem nec plurificabilem, et hinc non aliam et aliam aliorum entium quiditatem, sed eandem omnium hypostasim. Deinde vidi necessario fateri ipsam rerum hypostasim seu subsistentiam posse esse.⁶⁰¹

Das Neue gegenüber den früheren Entwürfen ist, dass in De apice theoriae die Auffassung einer Pluralität von selbständigen Washeiten oder Wesenheiten im Sinne der πρώτη οὐσία fallengelassen und das Grundverhältnis von Einheit und Vielheit noch einmal radikal angesetzt wird. Die Reduktion transformiert die aristotelische Substanz. Zu Recht spricht Senger von der „höchsten und letzten Reduktionstheorie“ des Cusanus.⁶⁰² Im modernen Sinne können wir auch sagen, Cusanus betreibt Komplexitätsreduktion. Allerdings mit dem gravierenden Unterschied, dass es ihm um eine metaphysische Erklärung von maximaler Komplexität durch und in einem Prinzip geht. Zentrale Bedeutung hat das reflexiv eingesetzte Demonstrativpronomen ‚ipsa‘, das in metaphysischer Hinsicht die letztbegründende Stellung der quiditas gegen die Möglichkeit des unendlichen Regresses anzeigt. Cusanus präzisiert diesen Selbstbezug mit dem Terminus ‚subsistentia in se‘, der ausschließlich der absoluten Washeit zukommt und zu verstehen gibt, dass allein sie in und durch sich selbst begründet ist: Die Washeit selbst kann nicht noch einmal der Unterscheidung nach Washeiten unterliegen, weil diese nur wiederholten und voraussetzten, was die eine Washeit schon ist. Indem sich die quiditas ipsa durch sich selbst begründet, ist sie die voraussetzungslose Voraussetzung und damit notwendig absolute Voraussetzung (praesuppositio absoluta) aller voneinander differenten, sinnlich wahrnehmbaren Substanzen.⁶⁰³ Da sie für sich weder Vieles noch unterschieden ist, bleibt sie in dem Vielen das Eine selbst. In ihrer Immanenz ist sie die eine Subsistenz oder Hypostasis aller begrenzten Substanzen, deren Selbständigkeit in letzter Konsequenz ihren Grund allein in ihr und erst dann in den artunterscheidenden Formen haben. In aristotelischer Terminologie formuliert: Zwar ist jedes σύνολον aufgrund seines εἶδος ein einzelnes Etwas, das mit seiner Art und mit sich selbst identisch ist, aber dies ist es nur, insofern es durch die ihm immanente eine Washeit konstituiert ist. Das ist ein Grundgedanke der Theorie des Einen. Cusanus spricht in seiner Metaphysik immer wieder von der Form der Formen, der Substanz der Substanzen oder der Washeit aller Washeiten. Deutlich markiert er damit den Unterschied zur

 De ap. th. n. 4, 119, 3 – 7.  Senger 1986, 73.  Dieser Terminus findet sich nicht in De apice theoriae; aber in Idiota de sapientia V, n. 30, 61, 10; vgl. auch Jacobi 1969, 241 ff. u. ders. 1979, 37 ff.

5.1 Reform der aristotelischen Substanz – die quiditas ipsa

237

Metaphysik des Aristoteles: Während dieser von einer Pluralität selbständiger, Einheit und Differenz begründender Formen ausgeht, geht jener über diese Pluralität hinaus und führt sie auf einen einzigen Grund zurück. Die eidetischen Differenzen und ihre phänomenalen Ausbildungen sind „verschiedene Modifikationsweisen ihres einen und einzigen Subsistenzgrundes“.⁶⁰⁴ Bis jetzt ist die reduktive Konzeption der einen Washeit allerdings nur formal dargestellt. Noch nicht erklärt ist, in welcher Weise ein derart Erstes seine Aufgabe erfüllen kann. Wie ist die quiditas ipsa inhaltlich zu denken, so dass der metaphysische Einheits- und Begründungsanspruch überzeugt? Die Antwort liegt in der sprachlichen Engführung auf und durch den Ausdruck ‚posse‘; in ihm erreicht die Spekulation die Spitze der Theorie und erklärt die Subsistenz der quiditas ipsa. Bevor wir die Spekulation weiterverfolgen, ist auf den Gottesnamen einzugehen, der noch vor De apice theoriae die Könnensmetaphysik explizit in einem Begriff konzentriert: das possest. Einerseits formuliert Cusanus bereits hier zentrale Überlegungen, die auch für das posse ipsum von Belang sind, andererseits wird er in seiner letzten Schrift den früheren Ansatz kritisieren.

Exkurs: Possest Der Trialogus de possest entwickelt die Bedeutung der koinzidental zu denkenden Verbindung zwischen Können und Sein als „zusammengesetztes Wort“ für das Unendliche, das nur ein „einfaches Bezeichnetes“ sein kann.⁶⁰⁵ Der entscheidende Gedanke, der bereits die Konzeption des posse ipsum vorzeichnet, ist hierbei, das possest als Einfaltung von allem Tätigsein und Erleiden, allem Machen- und Werden-Können zu verstehen; diesen Ursprung nennt Cusanus bereits das absolute Können oder das Können selbst: Intelligo te dicere quomodo hoc nomen compositum possest de posse et esse unitum habet simplex significatum … Et capis posse absolutum prout complicat omne posse supra actionem et passionem, supra posse facere et posse fieri. Et concipis ipsum posse actu esse. Hoc autem esse quod actu est omne posse esse dicis, id est absolutum. Et ita vis dicere quod ubi omne posse actu est, ibi pervenitur ad primum omnipotens principium.⁶⁰⁶

 So zutreffend Senger 1986, 74.Vgl. für Cusanus‘ Kritik an Aristoteles und auch Platon: De ap. th. n. 27, 135– 136, 1– 5.  Eine Gesamtinterpretation des Trialogus de possest wird nicht verfolgt; vgl. dazu u. a. Thiel 2006; Li 2013. Mir geht es um die Aussagen, die auch für die Konzeption des posse ipsum relevant sind.  De poss. n. 27, 32– 33, 1– 10; vgl. auch n. 14, 17– 18, 1– 7. Dass mit dem neuen Gottesnamen die sprachtheoretische Unterscheidung von „signans und signatum“ aufgehoben und die „Dicho-

238

5 Der letzte Gottesbegriff: posse ipsum

Folgende Überlegungen sind im Anschluss an die Passage und mit Blick auf die spätere Konzeption des posse ipsum besonders hervorzuheben: Die metaphysische Bedeutung des Möglichkeits- bzw. Könnensbegriffs wird durch die neue Verbindung aufgewertet. Auch wenn diese Aufwertung schon in der Wendung ‚omne possibile esse‘ für das maximum erfolgte, so wird sie nun im possest klarer und entschiedener formuliert. Durch die Verknüpfung mit dem ‚Ist‘ gewinnt das Können die Bedeutung von „Sein in Wirklichkeit“ und wird aus der traditionell-aristotelischen Dependenz von actus einerseits und der Verschränkung mit dem Nichtsein gelöst. Es verliert „seine topologische Komponente, ist nicht mehr das gegenüber dem realen Sein Inferiore …, sondern gewinnt einen prinzipientheoretischen signifikanten Status als mit dem Sein verknüpftes Absolutes“.⁶⁰⁷ Cusanus nennt die Einheit von Möglichkeit bzw. Vermögen und Wirklichkeit das „Sein selbst“, wobei Sein hier die unendliche Einheit bedeutet. Dementsprechend ist das possest die absolute Einheit, die über die Kontradiktion von Sein und Nichtsein hinaus und in der das Nichtsein nichts anderes als „alles Sein“ ist.⁶⁰⁸ Allerdings ist mit dieser Bestimmung weiterhin eine gewisse Präponderanz des Seins gegenüber dem Können angezeigt. Auch die Materie stellt, insofern sie die „Seinsmöglichkeit“ der Welt ist, kein Anderes oder Entgegengesetztes dar, sondern ist als Seinsmöglichkeit im KönnenIst immer schon ungeschaffen gewesen.⁶⁰⁹ Das possest ist die „absolute Notwendigkeit, da es nicht nicht sein kann“.⁶¹⁰ Mit dem neuen Begriff für das Absolute wird auch eine weitere Entgegensetzung, in der das Können oder die Möglichkeit traditionell inferior positioniert ist, transformiert: So ist das Können gegenüber der begrenzenden und bestimmenden Wirklichkeit unbegrenzt und unbestimmt. Dieser Gegensatz ist für alles, was je ein Anderes ist, konstitutiv; im Absoluten aber ist er ununterschieden. Finitum und infinitum, distinctum und indistinctum, determinatum und indeterminatum sind im Können-Ist eines:

tomie von Zeichen und Bezeichnetem“ aufgelöst werde,wie Thiel 2006, 48 behauptet, widerspricht der gesamten Namenskonzeption und Signifikationstheorie des Cusanus und ist nicht richtig.  Mojsisch 2007, 147. S. für das vorausgegangene Zitat De poss. n. 14, 18, 5 – 7. Das absolute Können ist auch mit der Wirklichkeit vertauschbar: „… absolutum posse, quod cum actu convertitur …“ De poss. n. 29, 34, 3.  Vgl. De poss. n. 12, 14, 3 – 5; n. 25, 31, 15 f.  „Quia mundus potuit creari, semper ergo fuit ipsius essendi possibilitas. Si essendi possibilitas in sensibilibus materia, dicitur. Fuit igitur semper materia. Et quia numquam creata, igitur increata.“ De poss. n. 28, 34, 1– 4.  „Est igitur absoluta necessitas, cum non possit non esse.“ De poss. n. 27, 33, 20 f.

5.1 Reform der aristotelischen Substanz – die quiditas ipsa

239

… Cum posse sit infinitum et indeterminatum et actus finitus et terminatus, inter quae non cadit medium. Sed videmus illa in deo esse indisticta, et ideo supra nostrum conceptum.⁶¹¹

Innovativ ist der Gedanke, den Cusanus relativ spät im Zusammenhang mit der innertrinitarischen Einheit vorbringt, dessen spekulativen Gehalt er aber nicht eingehender verfolgt. Es ist eine Formulierung, die, insofern hier das Können dem Sein vorgängig gedacht wird und sich durch sich selbst prinzipiiert, mithin Subsistenz hat,– im Kern die posse-Metaphysik von De apice theoriae antizipiert: Non per non-esse pater non est filius, cum ante omne non-esse sit deus unitrinus, sed quia esse praesupponit posse, cum nihil sit nisi possit a quo est, posse vero nihil praesupponit, cum posse sit aeternitas… Ideo sicut video ipsum absolutum posse in aeternitate esse aeternitatem et non video ipsum esse in aeternitate ipsius posse nisi ab ipso posse, sic credo ipsum posse aeternum habere hypostasim et esse per se … ⁶¹²

Im Ausgang von dieser Bestimmung des possest erklärt Cusanus auch die ideale Bewegung über den Könnensbegriff. Er konzipiert sie triadisch, wobei zuerst das Können, dann, daraus erzeugt (generari), die Wirklichkeit und als Verknüpfung der beiden zuletzt das Bewegen (movere) hervorgeht.⁶¹³ Hierbei sind zwei Aspekte besonders hervorzuheben: Indem das Können der Wirklichkeit vorgängig ist, kehrt Cusanus die aristotelische Abfolge von Akt und Potenz um; dieser außergewöhnliche Ansatz wird für die weitere Könnensmetaphysik maßgeblich bleiben. Ebenfalls wird die triadische Konzeption, allerdings mit veränderter Begrifflichkeit, zum zentralen Gegenstand der weiteren Spekulation in De venatione sapientiae werden und bis zum posse ipsum von Bedeutung sein. Dennoch ist mit Blick auf die spätere Distanzierung in De apice theoriae kritisch anzumerken: Die Konzeption des Gottesbegriffs im Trialogus de possest bleibt in gewisser Weise unentschieden. Cusanus spricht zwar im Sinn der implicatio bereits von dem absoluten Können oder auch von dem Können selbst, aber die Konsequenzen, die sich mit diesem Begriff verbinden, werden nicht weiter ausgeführt. Dies liegt auch an den theologischen Implikationen, die das possest zu erfüllen hat. So hat das Können-Ist eine der innergöttlichen Univozität verpflichtete triadische Einheitsstruktur aus potentia – actus – nexus oder aus posse – actus – movere, mit der die innergöttliche Prozessualität, aber auch der Schöpfungsvorgang nach-

 De poss. n. 42, 51 f., 15 – 18.  De poss. n. 49, 60, 7– 19 (Hervorhebungen J. M.). Auffallend ist, dass in De apice theoriae der theologische Terminus ‚Gott’ im Unterschied zum Trialogus kaum Verwendung findet und fast völlig hinter den des posse ipsum zurücktritt. Tatsächlich spricht Cusanus nur einmal, in der letzten Proposition des Memoriale, von Gott; vgl. De ap. th. n. 28, 136, 1.  Vgl. De poss. n. 52, 63, 1– 4.

240

5 Der letzte Gottesbegriff: posse ipsum

vollzogen werden soll.⁶¹⁴ Die hierbei verwendeten Begriffe machen zudem deutlich, dass Cusanus trotz der eben genannten Umkehrung des Akt-Potenz-Verhältnisses im Rahmen der aristotelischen Metaphysik bleibt, indem er deren Zentralbegriffe actus-potentia verwendet.⁶¹⁵ In seiner letzten Schrift, in De apice theoriae wird er sich auch von dem Begriff des possest distanzieren.

5.2 Das posse ipsum – der philosophische Gehalt des neuen Gottesnamen Die inhaltliche Bestimmung der einen Washeit ist der Begriff „Können selbst“ (posse ipsum)⁶¹⁶, synonym verwendet Cusanus auch „Können allen Könnens“ (posse omnis posse)⁶¹⁷, „Können schlechthin“ (posse simpliciter) oder „absolutes Können“ (posse ipsum absolutum)⁶¹⁸. Wie erklärt sich die Bedeutung des neuen Gottesnamens, der auf sprachlicher Ebene nicht mehr zu sein scheint als ein substantiviertes und durch ein Demonstrativpronomen reflexiv ausgezeichnetes Modalverb? Deinde vidi necessario fateri ipsam rerum hypostasim seu subsistentiam posse esse. Et quia potest esse, utique sine posse ipso non potest esse. Quomodo enim sine posse posset? Ideo posse ipsum, sine quo nihil quicquam potest, est quo nihil subsistentius esse potest. Quare est ipsum quid quaesitum seu quiditas ipsa, sine qua non potest esse quicquam.⁶¹⁹

Das Neue der letzten Spekulation ist hier konzentriert ausgesprochen. Die Klärung der philosophischen Relevanz steht noch aus. Dabei gilt es zu bedenken, dass in der Kürze der letzten Schrift nicht alle Bedeutungsaspekte des neuen Begriffs ausreichend expliziert sind und die Analyse implizite Aspekte freilegen muss. Die Passage zeigt in zwei Argumentationsschritten, wie die Bedeutung des posse ipsum gewonnen wird und den Begründungsanspruch der quiditas ipsa erklärt. Das Argument führt das Interesse an einer Reduktionstheorie konsequent aus. Bemerkenswert ist dabei, dass Cusanus im ersten Schritt nicht inhaltlich, sondern

 Vgl. z. B. De poss. n. 6, 7 f., 16 f.; n. 8, 9, 17– 19; n. 47, 57 f., 1– 13.  Vgl. Brüntrup 1973, 56. Die von mir erähnte Unentschiedenheit in dieser Konzpetion hat Hua 2013 nicht berücksichtigt.  De ap. th. n. 8, 122, 1; n. 10, 124, 5 u. 8; n. 11, 125, 17 u. ö. Da es sich um den von Cusanus am häufigsten verwendeten Ausdruck handelt, werde ich ihn als den zentralen Begriff der Theorie gebrauchen.  De ap. th. n. 7, 122, 17; n. 12, 125, 3; n. 17, 125, 2 u. ö.  De ap. th. n. 9, 123, 2.  De ap. th. n. 4, 119, 6 – 11.

5.2 Das posse ipsum – der philosophische Gehalt des neuen Gottesnamen

241

formal, genauer gesagt, modalontologisch vorgeht.⁶²⁰ Der so aufgezeigte Modalzusammenhang dient im zweiten Schritt der metaphysischen Bestimmung: 1. Die Aussage, die quiditas ipsa kann die Subsistenz aller Dinge sein, impliziert den modalontologischen Gedanken, nach dem das, was ist, auch sein kann bzw. möglich ist, weil nichts, was unmöglich ist, sein kann und wirklich ist.⁶²¹ Die formale Struktur ist die der Implikation a → Ma. Bemerkenswert ist: Cusanus argumentiert nicht mit der Notwendigkeit (Na → a) oder für das Verhältnis von Notwendigkeit und Möglichkeit: Na → Ma. Der Grund dürfte in dem modallogischen Zusammenhang zu finden sein: Er argumentiert mit der einseitigen Möglichkeit, die, da sie sich nur von der Unmöglichkeit abgrenzt, am weitesten gefasst ist und noch für die Notwendigkeit voraussetzt, dass diese möglich ist, so dass insgesamt das Modalgefälle impliziert ist: Na → a → Ma. Die Implikationen werden für die metaphysische Begründungsargumentation inhaltlich funktionalisiert und erweitert. Doch zuerst ist hervorzuheben, dass die angegebene Implikation für jede Einzelsubstanz wie auch für die absolute Washeit gilt: Wenn eine Substanz ist, was sie als Substanz für sich selbst ist, dann ist das nur, insofern es möglich ist, dass sie das ist. Gleiches gilt für die quiditas ipsa. Sie ist, was sie an und für sich selbst ist, insofern sie dies sein kann, oder: Es ist möglich, dass sie an und für sich selbst ist. Der Rückgang von der Wirklichkeit, zu sein, auf die Möglichkeit, sein zu können, ist das erste Ergebnis der Reflexion. Cusanus bewegt sich damit, wie schon der Grundsatz in De venatione sapientiae zeigte, im Rahmen der aristotelischen Modaltheorie. Auch für Aristoteles ist gemäß der einseitigen Möglichkeit alles, was wirklich ist, möglich, da nichts Unmögliches wirklich sein kann. Allerdings bewegt sich Cusanus von vorneherein auf anderem Gebiet: Ihm geht es prinzipientheoretisch um die substanzmetaphysische Begründung des Absoluten selbst und nicht um die Unterscheidung von Seinsmodi. Die quiditas ipsa ist mit dem ersten Schritt noch nicht hinreichend bestimmt. Die Frage nach dem ersten Prinzip ist erst dann beantwortet, wenn die Washeit ihre Möglichkeit, sein zu können, durch sich selbst notwendig begründet. 2. Im zweiten Argumentationsschritt nutzt Cusanus die modalontologischen Implikationen für die Begründung des absoluten Prinzips und geht auf transformierende Weise über den aristotelischen Rahmen hinaus. Cusanus reflektiert die Verbalverbindung ‚posse esse‘ bzw. ‚potest esse‘ auf das ‚posse‘ hin und gewinnt durch die Exponierung des Modalverbs ‚können‘ gegenüber dem ‚sein‘ den letzten Gottesnamen und damit einen neuen Ansatz für das Denken des Unbegreiflichen.

 Vgl. auch Senger 1986, 74.  Vgl. De ap. th. n. 6, 121– 122, 2– 4.

242

5 Der letzte Gottesbegriff: posse ipsum

Der Grund für diese Vorrangstellung erklärt sich zunächst negativ: Würde die Verbindung zugunsten der Prädominanz des Seins aufgelöst, bliebe die Letztbegründung defizient, weil das Sein seine Voraussetzung, warum es selbst sein kann, nicht erklärt. Nicht nur jedes Seiende lässt sich auf sein implizites Können oder auf seine Möglichkeit, sein zu können, zurückführen, sondern selbst das absolute Sein impliziert strenggenommen, dass es möglich ist oder sein kann, so dass sich im radikalen Sinn die Frage stellt: Warum ist überhaupt Sein? Vor diesem Hintergrund ist auch Cusanus’ explizite Distanzierung von seinem früheren Gottesnamen, dem Können-Ist, zu verstehen. … Posse ipsum, quo nihil potentius nec prius nec melius esse potest, longe aptius nominare illud, sine quo nihil quicquam potest nec esse nec vivere nec intelligere, quam possest aut aliud quodcumque vocabulum. Si enim nominari potest, utique posse ipsum, quo nihil perfectius esse potest, melius ipsum nominabit. Nec aliud clarius, verius aut facilius nomen dabile credo.⁶²²

Denn obwohl auch hier das Modalverb ‚posse‘ zentral ist, bleibt es in die Konjunktion mit dem ‚esse‘ eingebunden und durch dessen finite Indikativform ‚est‘ bestimmt. Der Konnex restringiert das Können auf die koinzidentielle Einheit mit dem Sein und letztlich auf die präponderante Bedeutung des Seins.⁶²³ Aus der Theorieperspektive des posse ipsum ist das Können-Ist als „zusammengesetztes Wort“ (nomen compositum) zweifellos unzureichend für eine metaphysische Letztbestimmung, da es auf der Begründungsebene koinzidental auf das Sein bezogen ist. Bliebe Cusanus bei der Verbalverbindung des posse-est stehen, so wäre die quidditas ipsa durch die Ambivalenz von Sein und Können restringiert. In ihr bliebe die Washeit primär vom Seinkönnen her bestimmt; ein Sein, das freilich seine eigene Defizienz dadurch ausweist, dass es seine Voraussetzung, warum es sein kann, nicht aufklärt und als Möglichkeit unausgesprochen voraussetzt. In De apice theoriae ist sich Cusanus der Begrenzung bewusst geworden und hat das Können aus der Konjunktion befreit. Mit dem Ausdruck ‚posse‘ ist daher positiv zu formulieren: Die quiditas ipsa kann nur dann absolute Voraussetzung für alles sein, was sein kann, wenn sie keine Voraussetzung hat. Voraussetzungslose und damit absolute Voraussetzung ist sie, wenn sie als Möglichkeit oder Können ihr eigenes Sein-Können begründet. Die Reduktion lässt sich als Erweiterung der modalen Implikation veranschaulichen: Na → a → Ma → Mipsum. Die inhaltliche Bestimmung der Washeit folgt aus diesem Modalgefälle. Die Übersetzung kann man mit logischen Mitteln freilich nur begrenzt darstellen, was

 De ap. th. n. 5, 120, 1– 6.  Vgl. De poss. n. 14, 18, 5 – 7; De ven. sap. c. 13, n. 34, 35, 12 f.; vgl. auch Oeser 2001, 252.

5.2 Das posse ipsum – der philosophische Gehalt des neuen Gottesnamen

243

die Spekulation mit dem reduktiven Ansatz verfolgt,– hier zeigt sich erneut die sprachphilosophische Besonderheit des Cusanus: Sprache und Begriffsbildung dienen der Spekulation über das Absolute; sie passen sich dem Denken an und nicht umgekehrt. Die Veränderungen in der gewohnten rationalen Zeichenverwendung sind daher auch für die Metaphysik des posse zu beachten. Schließlich sagt die dritte Implikation eine metaphysische Folgerung aus, die sich, weil sie spekulativer Natur ist, der rational-logischen Darstellung entzieht und sich nur um den Preis der anschaulichen Verkürzung auf diese Weise darstellen lässt. Der Anspruch auf Letztbegründung – die voraussetzungslose Voraussetzung – wird dadurch aber hinreichend deutlich: Das posse ipsum (Mipsum) transzendiert und begründet die klassische modallogische Struktur (Possibilität) und führt jeden Versuch, es selbst noch einmal begründen zu wollen, auf die vorauszusetzende Möglichkeit, es begründen zu können (Potentialität), zurück. Possibilität und Potentialität sind als Bereichsunterschiede dem posse ipsum nachgeordnet. Dieser Gedanke der Nichtreduzierbarkeit auf anderes wird durch die Selbstbezüglichkeit des Begriffs angezeigt und ist genauer auszuführen.

5.2.1 Die Selbstdefinition des Begriffs Die mit dem identitätsanzeigenden Demonstrativpronomen ‚ipsum‘ angezeigte Selbstbezüglichkeit des posse ist – so mein Interpretationsvorschlag – als implizite Selbstdefinition zu lesen, die ausformuliert den Satz ergibt: Das Können ist nichts anderes als das Können, oder: Das Können selbst kann nichts anderes als Können.⁶²⁴ Die Wendung bildet gewissermaßen den spekulativen Kern der letzten Schrift des Cusanus. Eine mögliche Kritik könnte dieser Überlegung unsinnige Sprachverwirrung oder Hypostasierung vorwerfen, aber sie verfehlte damit deren Intention.⁶²⁵ Denn die spekulative Bedeutung ist unter der sprachtheoretischen Prämisse einer Metaphysik des Absoluten zu entfalten. Cusanus orientiert sich auch bei diesem Gottesnamen an seinem semantischen Paradoxon – Unendliches in seiner Unbestimmbarkeit mit endlich bestimmten Sprachmitteln zu erfassen –, wenn er sich mit der Möglichkeit des ‚Sichselbst-Definierens‘ gegen die vorstellungsgebundene Satzkonzeption, in der eine

 Die Selbstdefinition verstehe ich im Sinne einer rekursiven Definition: Ein Objekt heißt rekursiv, wenn es durch sich selbst definiert ist, oder sich selbst ganz oder teilweise enthält. Eine sich selbst definierende Definition war dem aristotelisch geprägten Mittelalter unbekannt (vgl. Mojsisch 1998, 79). Bekannt ist Cusanus‘ Gebrauch dieser Definition für das non-aliud; vgl. dazu Mojsisch 1996; vgl. Rusconi 2103, 170 f.  Vgl. so auch Senger 1986, 75.

244

5 Der letzte Gottesbegriff: posse ipsum

Eigenschaft von einem Subjekt ausgesagt wird, wendet. Die Unendlichkeit des Absoluten erlaubt keine begrenzte und begrenzende Prädikation. Alles Benennen trennt ab.Weil das Unbegreifliche sich nicht als etwas Bestimmtes definieren lässt, kann es strenggenommen auch nicht mit einem Lexem oder einem Behauptungssatz ausgesagt werden. Die Problematik der Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit ist in der Theorie des nomen ineffabile und des conceptus absolutus hinreichend reflektiert worden. Indem das posse ipsum sich durch sich selbst definiert, sagt es weder Gegenständliches noch nichts, sondern nur sich selbst aus. Es lässt sich einwenden, dass diese rekursive Definitionsform mit jedem Ausdruck gelingen kann. Formal gedacht mag das zutreffen. Cusanus hat diese Form bereits überzeugend für den Begriff des Nicht-Anderen (non-aliud) verwendet. Entscheidend beim posse ipsum ist aber dessen semantische Besonderheit. Denn in seiner Defintion lässt das auf sich selbst verweisende ‚posse‘ nicht nur formal, sondern auch inhaltlich keine oder nur eine minimale prädikative Limitation des Subjektterms zu. Im eigentlichen Sinn ist das posse keine prädikative Begrenzung, da es das Subjekt im oben ausformulierten Definitionssatz auf seine gleichsam transzendentale Bedingung zurückführt. Die Selbstdefinition liefert keine zusätzliche begrenzende Bedeutung, sondern eine, die das Subjekt bereits ist und wiederholend als es selbst bestimmt, genauer gesagt, begründet. Die damit gegebene analytische Satzkonzeption ist nicht inhaltsleer, sondern nutzt gerade die Semantik des Ausdrucks ‚posse‘ und bietet eine bedenkenswerte Konzeption für die Benennung des Unbenennbaren. Folgende Bedeutungen sind zu berücksichtigen: 1. Maßgeblich ist die sprachliche Besonderheit des Modalverbs ‚können‘, im engeren Sinn keine lexikalische Bedeutung zu haben, aber über die Bedeutung von ‚Möglichkeit‘ bestimmt zu sein und den Inhalt jeden Vollverbs modifizieren zu können; diese Besonderheit ist in das posse ipsum aufgenommen. Man kann einwenden, das hier ‚posse‘ substantiviert gebraucht wird und damit als ‚das Können‘ durchaus eine lexikalische Bedeutung hat. Dieser Einwand ist nur begrenzt berechtigt. Denn, so ist zu erwidern, natürlich hat ‚das Können‘ durch die Substantivierung seine zugrunde liegende Bedeutung von dem Modaloder Vollverb ‚können‘. Außerdem wird mit der oben gewählten Formulierung ‚im engeren Sinn‘ gerade nicht bestritten, das ‚Können‘ auch ein lexikalischer Eintrag ist und entsprechende Bedeutungen hat, nur sind diese nicht so eng spezifiziert wie andere Bedeutungen, und genau das, so meine These, wird von Cusanus in seiner Spekulation genutzt. Auf grammatischer Ebene ist ‚können‘ in der Regel uneingeschränkt verwendbar, wobei der Grund für die Verwendung verschieden sein kann: etwas als ontologische Möglichkeit, als Fähigkeit oder Handlungsabsicht, als Ereignis, als Grund-Folge-/Ursache-Wirkung-Beziehung oder als Form

5.2 Das posse ipsum – der philosophische Gehalt des neuen Gottesnamen

245

der Vermutung und der Erlaubnis. Cusanus nutzt die Semantik sowie die grammatikalische Funktion, um auf der metaphysischen Begründungsebene deutlich zu machen, dass das posse ipsum Bedingung oder Grund für Ontisches, für Vermögen, Handlungen, kontingente oder geplante Ereignisse, für Wirkungs- und Folgeverhältnisse ist. 2. ‚Posse‘ ist auch in der Bedeutung von Kraft zu lesen. Cusanus hat dies zweifellos intendiert, zumal er, wenn auch selten, explizit von der Kraft (virtus) und der Macht (potestas) des Könnens selbst spricht, um das Moment der Dynamik in seine Konzeption aufzunehmen und dadurch den Aspekt der Selbstentfaltung des posse ipsum und dessen alleinige prinzipiierende Stellung für alle innerweltlichen Potentialitäten zu verdeutlichen.⁶²⁶ Während Brüntrup im posse ispum den Begriff sieht, mit dem Cusanus die „absolute, unumschränkte Macht Gottes auszudrücken“⁶²⁷ in der Lage ist, lehnt Meier-Oeser diese Interpretation, die in dem letzten Gottesnamen des Cusanus einen vermeintlich „radikalen Neuansatz“ sieht, ab und versteht den letzten Namen statt dessen als Ergebnis einer „komplizierten Akzentverschiebung“ innerhalb der seit De docta ignorantia und schon den Sermo I von Cusanus verfolgten Trinitätsspekulation.⁶²⁸ Aus meiner Sicht ist beiden Interpreten mit Einschränkung Recht zu geben: Erstens kann der Begriff des posse ipsum sowohl aufgrund der nachweislichen Textstellen als auch aufgrund seines metaphysischen Erklärungsanspruchs nicht ohne die Bedeutung von Macht verstanden werden; zweitens schließt Cusanus an die erreichten Ergebnisse seiner früheren Überlegungen an, in denen, wie auch die Untersuchung zum maximum und zur mens gezeigt haben, die schöpferische Kraft Gottes als Macht verstanden wird; drittens ist ein Gottesverständnis ohne einen eminenten Machtbegriff wenig sinnvoll. Brüntrups Deutung ist also zutreffend und nur da zu kritisieren, wo er den Erkenntniswert aller anderen Gottesnamen im Sinn einer Begriffsteleologie zu sehr auf die „Vorbereitung des Gottesnamens schlechthin, des posse ipsum“⁶²⁹ reduziert. Dass der Gedanke jedoch nicht falsch ist und durchaus von einer Entwicklung geredet werden kann, beweist nicht zuletzt Cusanus’ Selbstkritik. Meier-Oeser hingegen verweist zutreffend auf die innertrinitarische Relevanz des Begriffs, die Brüntrup nicht im Blick hat: „Cusanus vollzieht einen Perspektivwechsel von der Dreiheitlichkeit der Einheit, wie sie sich innerweltlich in den Ternaren von potentia –

 Vgl. De ap. th. n. 7– 8; vgl. auch De ven. sap. c. 29, n. 86, 82, 17– 19: Gott ist die Kraft und hat als ursächliche Macht die Wesenheiten in sich; vgl. für auffallende Ähnlichkeiten mit Leibniz Poser 2001, 276 u. 286 f.  Brüntrup 1973, 107.  Meier-Oeser 2001, 240 u. 251.  Brüntrup 1973, 106.

246

5 Der letzte Gottesbegriff: posse ipsum

actus – nexus, posse fieri – posse facere – nexus usw. manifestiert, hin zu der im Begriff des posse ipsum explizierten Einheitlichkeit der Dreiheit“⁶³⁰. Allerdings ist gegen Meier-Oeser zu sagen, dass in De apice theoriae Überlegungen zur trinitarischen Struktur kaum in Erscheinung treten, wie überhaupt der Begriff ‚Gott‘ nur am Ende des Dialogs Verwendung findet. Es stellt sich daher die Frage, ob die Trinitätsspekulation wirklich dieses Gewicht hat und ob es Cusanus nicht vielmehr um eine davon freizuhaltende Spekulation über den Begriff ‚posse ipsum‘ geht. Auffallend ist auch, dass Cusanus den Terminus ‚potentia‘ nicht zur Beschreibung des posse ipsum verwendet. Soll dies kein Zufall sein, so vermeidet er ihn offensichtlich, um dessen starke relationale Bindung an den actus-Begriff und damit die aristotelische Dynamisierung des δυνατόν zur ἐντελέχεια aus seinen Überlegungen zum posse ipsum auszuschließen. Das absolute Können ist der Differenz von δύναμις-ἐνέργεια, von Möglichkeit-Wirklichkeit ebenso transzendent wie der von Können und Sein. 3. Der Möglichkeitsbegriff, der das posse ipsum maßgeblich bestimmt, umfasst die zwei Bedeutungsaspekte ‚Possibilität‘ (Es ist möglich/kann sein, dass p) und ‚Potentialität‘ (Für a ist es möglich/kann es sein, dass p). Sowohl das logisch Mögliche als auch das ontisch Mögliche sind im letzten Gottesnamen koinzidental aufgehoben, wobei die Koinzidenz hier absolut und nicht im Sinn der Kompatibilität zu verstehen ist. Im Absoluten sind beide Möglichkeiten nicht mehr in der Weise des rationalen Denkens unterschieden, sondern gemäß dem cusanischen Sprachgebrauch die Möglichkeit selbst. Zu beachten ist: Die Koinzidenz beider Möglichkeitsbedeutungen in einem Begriff erhält vor dem Hintergrund der philosophischen Theologie und ihrer rational geprägten Gotteskonzeptionen besonderes historisch-systematisches Gewicht. Die Unterscheidung von logischer und ontologischer (realer) Möglichkeit – possibilitas und potentia – war für die Metaphysik und Theologie des Mittelalters in den Fragen nach den Voraussetzungen oder Prinzipien der creatio ex nihilo und der Allmacht (omnipotentia) Gottes grundlegend. Die Schöpfungsmöglichkeiten Gottes und die Möglichkeit der Welt vor der Schöpfung wurden über die Unterscheidung von Potentialität und Possibilität geordnet. Exemplarisch ist hier Thomas von Aquin zu nennen, der gerade durch das widerspruchsfreie Verhältnis der Begriffe (cohaerentia terminorum) die Allmacht Gottes bestimmt und begrenzt sah. Die omnipotentia dei definiert sich über die logische Möglichkeit und bewirkt

 Meier-Oeser 2001, 251.

5.2 Das posse ipsum – der philosophische Gehalt des neuen Gottesnamen

247

als potentia activa das Werden der Welt.⁶³¹ Aus Sicht des Cusanus sind damit auf eine höchst unbefriedigende Weise die Metaphysik und das Nachdenken über Gott an die rationale Logik und den NWS gebunden. Gegen diese traditionell vorherrschende Differenzierung in zwei Möglichkeitsbereiche wendet sich Cusanus mit seinem Begriff des posse ipsum. Im Können selbst führt er Potentialität und Possibilität auf einen Ermöglichungsgrund jenseits des NWS zurück, ohne allerdings die doppelte Semantik von ‚Möglichkeit‘ für den rational strukturierten Bereich damit aufzugeben. Anders als bei Thomas ist Gott, insofern er als das posse ipsum begriffen wird, nicht abhängig von der possibilitas absoluta, sondern deren Grund, genauso wie er der Grund aller aktiven und passiven Potentialitäten ist; in diesem Grund sind Possibilität und Potentialität ununterschieden. Das Können selbst ist ein translogisches und transontisches Können oder eine translogische und transontische Möglichkeit: Metaphysik und Logik sind im posse ipsum eins. Für das posse ipsum trifft daher nicht zu, was bei Thomas der Fall ist, dass nämlich „das possibile absolutum … der korrespondierende Begriff zur omnipotentia Dei“⁶³² ist. Die Washeit ist, da sie sich als Können bzw. Möglichkeit selbst ermöglicht, der eine Subsistenzgrund von allem und ist dadurch zugleich alles, was überhaupt sein kann, weil alles in seinem Sein möglich oder sein können muss. Die Frage, warum es möglich ist, ontische, alethische, epistemische und deontische Bereiche modal als ‚möglich‘ oder ‚vermögend‘ zu kennzeichnen, ist, folgt man dem metaphysischen Reduktionismus des Cusanus, in letzter Konsequenz nur mit Verweis auf das Können selbst zu beantworten. Dass Cusanus seinen letzten Begriff so verstanden hat, bestätigt die wiederholt von ihm gestellte Frage, wie etwas „ohne Können könne“ (sine posse posset). Nec est quisquam mentem habens adeo ignarus, qui sciat sine magistro nihil esse quin possit esse, et quod sine posse quicquam potest sive esse sive habere, facere aut pati. Quis adulescens, interrogatus si posset portare lapidem, et responso facto quod possest, ulra interrogatus an sine posse posset, utique diceret ‚nequam‘.⁶³³

Im Rückblick auf den früheren Begriff des possest wird deutlich: Cusanus traut der Idee der Selbstdefinition mehr spekulatives Potential zu als der Konjunktion des

 Vgl. Faust 1932, §§ 33 – 35; Honnefelder 1989, Sp. 1127; vgl. für Thomas von Aquin, Sth I q. 46 a. 1 ad 1.; ders., Summa contra Gentiles [= ScG] II 37; ders., Quaestiones disputatae de potentia [= Qdp], qu. 3, art. 14 concl.; vgl. hierzu Meier-Oeser 2001, 237– 239.  Jacobi 1973, 939.  De ap. th. n. 6, 120 – 121, 2– 7. Die Frage hat zentrale Bedeutung. Cusanus stellt sie im Memoriale an den Anfang seiner Merksätze.

248

5 Der letzte Gottesbegriff: posse ipsum

posse-est. Die Wendung ‚posse posset‘ spitzt die Bedeutung der Selbstdefinition in der folgenden Aussage zu: Das absolute Können kann sich selbst können bzw. ermöglichen. Das Können selbst holt die Bedingung seines Seinkönnens explizit in seiner reflexiven Struktur ein. Die Regression auf das Können ist die Progression in der Theorie der Gottesnamen. Der Unterschied ist nicht bloß eine sprachliche Nuancierung, sondern Ausdruck einer Präzisierung des metaphysischen Vorhabens, das Unendliche trotz seiner Innominabilität angemessen denken und versprachlichen zu können. Die Selbstbezüglichkeit des Begriffs ist nicht allein formal, sondern beschreibt gerade durch und in der Semantik des Möglichkeitsbegriffs die reflexive Selbstbegründung des Absoluten als zirkuläre Letztbegründung. Auf diese Weise erklärt sich die absolute Transzendenz und Immanenz des posse ipsum.

5.2.1.1 Transzendenz Das Können selbst liegt als absolute Voraussetzung vor jeder Unterscheidung und Andersheit. Ihm kann nichts Anderes und Einfacheres entgegengesetzt, hinzugefügt oder vorausgesetzt werden. Entsprechend betonen die drei ersten Thesen des Memoriale: I. Ad posse ipsum nihil addi potest, cum sit posse omnis posse. Non est igitur posse ipsum posse esse seu posse vivere sive posse intelligere; et ita de omni posse cum quocumque addito … II. Et quia posse cum addito ad posse ipsum nihil addit … III. Nihil potest esse prius ipso posse. Quomodo enim sine posse posset?⁶³⁴

Eine weitere Reduktion des absoluten Könnens ist nicht möglich. Cusanus’ zentrales Anliegen ist die Vermeidung des unendlichen Begründungsregresses. So führt die Behauptung, dass ein anderes Prinzip sein könnte, nur wieder auf die Voraussetzung dieses Prinzips zurück, als anderes Prinzip sein oder gedacht werden zu können: „Si enim aliud posset esse quam posse ipsum, quomodo sine posse posset? Et si sine posse non posset, utique a posse ipso haberet quod posset.“⁶³⁵ Die absolute Voraussetzung und der beanspruchte Regressausschluss lassen sich unter Verwendung des Möglichkeitsbegriffs gemäß der Selbstdefinition in der folgenden Weise formulieren: Die Möglichkeit selbst ermöglicht sich als Möglichkeit, weil sie nichts anderes als die Möglichkeit ist, und ermöglicht alles, was möglich ist, weil anderes nicht anders möglich ist. In dem Begriff des posse

 De ap. th. n. 17– 19, 5 – 1.Vgl. De doct. ign. II c. 7, 82, 21 f., wo bereits der Gedanke von der NichtHintergebarkeit des posse formuliert wird.  De ap. th. n. 12, 125, 3 – 5.

5.2 Das posse ipsum – der philosophische Gehalt des neuen Gottesnamen

249

ipsum koinzidieren die Möglichkeiten mit der Bedingung der Möglichkeit. Mit dem Könnensbegriff formuliert heißt das: Das Können selbst ermöglicht sich als Können, weil es nichts anderes als das Können ist, und es kann alles, was sein kann, ermöglichen, weil anderes nichts anderes und nicht anders sein kann.⁶³⁶ Unter dieser Voraussetzung sind alle Entgegensetzungen im posse ipsum nichts als Möglichkeit oder Können und ist das posse ipsum allen realen sowie gedachten Entgegensetzungen transzendent. Umgekehrt gilt für alle Entgegensetzungen, dass sie als Entgegengesetzte nur sind, insofern sie möglich sind. Die Rückführung von allem Determinierten auf die Bedingung seiner Möglichkeit überschreitet alle Entgegensetzungen, indem diese Bedingung selbst nichts anderes als die absolute Möglichkeit ist. Das posse ipsum ist der ununterschiedene Ermöglichungsgrund vor der Differenz von Differenz und Indifferenz und vor jeder Entgegensetzung.⁶³⁷ Cusanus nennt paradigmatisch die Kontradiktion von Sein und Nichtsein, ebenso sind aber auch Möglichkeit und Unmöglichkeit oder Notwendigkeit und Unmöglichkeit anzuführen: „Hinc posse ipsum est omnium quiditas et hypostasis, in cuius potestate tam ea quae sunt quam quae non sunt necessario continentur.“⁶³⁸ Dass Sein und Nichtsein sowie Unmöglichkeit und Notwendigkeit im absolut Einen eines sind, ist seit De docta ignorantia klar. In De apice theoriae liegt aber mit dem posse ipsum eine anders gelagerte Erklärung für diese Einheit vor, da alle Entgegensetzungen auf ihre Möglichkeit, entgegengesetzt sein zu können, zurückgeführt werden. Die basalen Gegensätze ‚Sein‘ und ‚Nichtsein‘, ‚Unmöglichkeit‘ und ‚Notwendigkeit‘ sind, weil sie möglich sind. Auch für die aristotelische Unterscheidung zwischen disjunktiver und konjunktiver Möglichkeit gilt, das Können selbst ist weder disjunktiv noch konjunktiv. Es ist weder die Möglichkeit von Sein oder Nichtsein noch die Verbindung beider. Es ist folglich noch vor der Koinzidenz, da auch diese möglich sein muss. Auf die fundamentalontologische Frage, warum überhaupt etwas sei und nicht vielmehr nichts, ist, wie bereits erwähnt wurde, zu antworten: Es ist etwas, weil es dies sein kann, und es kann sein, weil das Können selbst es in seinem Sein  Inwiefern diesem Gedanken ein Potential immanent ist, das mit dem Anspruch der Regresslosigkeit kollidiert, sei hier nur angemerkt; vgl. dazu u. a. Mojsisch 2004, 263.  „Est enim ante differentiam omnem … ante differentiam indifferentiae et differentiae …“ De ven. sap. c. 13, n. 35, 35, 5 – 9. Die Aufhebung weiterer Entgegensetzungen, wie sie dann in De ap. th. wieder genannt werden, findet sich hier ebenfalls.  De ap. th. n. 8, 122, 1– 3. Den Gegensatz von Sein und Nichtsein hatte Cusanus bereits im possest aufgehoben (s.o.). Die Reduktion auf das eine Können bzw. die eine Möglichkeit und nicht mehr auf die Konjunktion des Können-Ist erfolgt aber erst hier. – Vgl. zur Koinzidenz von Unmöglichkeit und Notwendigkeit De poss. n. 59, 71, 14– 17 oder De doct. ign. I c. 14, 29, 1– 3, wo Cusanus explizit sagt, das,was im Endlichen unmöglich sei, habe im Unendlichen Notwendigkeit.

250

5 Der letzte Gottesbegriff: posse ipsum

ermöglicht. Das reale Sein zeichnet sich gleichsam durch den metaphysischen Mangel aus, sich einerseits in seinem Sein – warum es selbst sein kann – nicht begründen und andererseits den Gegensatz zum Nichtsein nicht von selbst überwinden zu können. Das absolute Können transzendiert das reale Sein, weil dieses immer nur in realen oder möglichen Gegensätzen besteht und gedacht werden kann. Durch das posse ipsum wird es auf seine metaphysische Bedingung ‚sein zu können‘ zurückgeführt. Gleiches gilt für das Sein an sich auf prinzipientheoretischer Ebene: Dieses kann als es selbst nur gedacht werden und sein, insofern es möglich ist, es zu denken, und dass es sein kann. Vergleichen wir die frühe Namenskonzeption aus De docta ignorantia mit der späten aus De apice theoriae, so können wir feststellen: Während bereits in der Frühschrift alle für die Theorie des maximum zentralen Wendungen durch den Ausdruck ‚posse‘ ausgezeichnet sind, aber dessen Semantik nicht explizit oder genauer gesagt: nicht konsequent für die Spekulation erschlossen wurde, konzentriert sich Cusanus in De apice theoriae ausschließlich auf sie und setzt sie für seine metaphysische Reduktion ein. In De docta ignorantia ist das Potential der posse-Spekulation nur funktional in Bezug auf das maximum genutzt, beim letzten Gottesnamen wird sie zum alleinigen Thema. So gewinnt die frühe und für das Gottesverständnis zentrale Formel von der vollkommenen Wirklichkeit, das ‚omne id quod esse potest‘, durch das posse ipsum eine andere Gewichtung: Auch die absolute Wirklichkeit des maximum impliziert, dass sie nur dann jenseits jeder Einschränkung ist, wenn sie sich selbst in ihrem Wirklichsein ermöglicht und gemäß der sich selbst definierenden Definition ihr eigener Ermöglichungsgrund ist. Dass es kein Größeres geben kann ‚quo nihil maius esse potest‘, ergibt sich ebenfalls durch die Reduktion auf die Möglichkeit, da ein Größeres wiederum die Möglichkeit seines Größerseins voraussetzt. Und für die epistemische Wendung, das maximum sei zu groß, ‚als dass es von uns begriffen werden könnte‘ (‚quam comprehendi per nos possit‘/‚quod per nos concipi potest‘), lässt sich nun ergänzend sagen: Es wird deswegen nicht vollständig begriffen, weil es als absolute Möglichkeit oder absolutes Können das Prinzip jedes begrenzten, determinierten Begreifen-Könnens ist, das wiederum vom Prinzipiierten nicht auf die Weise des Prinzips begriffen und erkannt werden kann.⁶³⁹ Alles Denken, Wissen und Begreifen setzt die Möglichkeit des Denkens,

 Von der hier genannten Unterscheidung ist die innertrinitarische, insofern sie univok gedacht wird, ausgenommen; vgl. Mojsisch 2002, 263. – Auch der Gottesbeweis Anselms von Canterbury lässt sich in seiner zweiten Fassung mit dem posse ipsum verbinden: Wenn Gott etwas Größeres ist als das ‚Etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann’, und zwar deshalb, weil das gedacht werden kann, dann setzt das voraus, dass a) etwas Größeres, als das ‚Etwas, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann’, möglich ist; und b) dass es möglich ist, dies zu

5.2 Das posse ipsum – der philosophische Gehalt des neuen Gottesnamen

251

Wissens und Begreifens voraus. Auch die Sprache kann ihren Ermöglichungsgrund nicht einholen. Ihr Prinzip ist nicht mit sprachlichen Mitteln völlig zu erfassen. Was bedeutet das für das posse ipsum? Schließlich ist es als Name ein sprachliches Zeichen innerhalb einer konventionellen Sprache, und die Differenz zwischen Name und Benanntem trifft, wie für alle früheren Bestimmungen, auch für das posse ipsum zu. Lässt sich dennoch die optimistische Haltung des Cusanus, den bestmöglichen Namen für das Unbegreifliche gefunden zu haben, teilen? Erlaubt es die dargestellte semantische Besonderheit des letzten Gottesnamen, obwohl und gerade weil es selbst nur ein sprachliches Zeichen ist, den unerkennbaren Ursprung auf die bestmögliche Weise zu denken? Halten wir zunächst fest: Die gemäß der neuplatonischen Tradition geforderte Innominabilität und Impartizipierbarkeit des absoluten Prinzips wird bereits mit der besonderen Wissensmethode der docta ignorantia, auf der die Namenskonzeptionen beruhen, transformiert. Mit dem posse ipsum ist Cusanus in seiner letzten Schrift eine besondere Signifikationskonzeption gelungen, welche die Differenz zum Absoluten, die Differenz zwischen Namen und Benanntem in dem Gottesnamen einholt. Wie ist das zu verstehen? Erinnern wir uns an die Signifikationstheorie und die zentralen Termini ‚nomen ineffabile‘ und ‚conceptus absolutus‘. Das nomen ineffabile als unendliche Möglichkeit des Benennens und Aussagens ist mit der Semantik des posse ipsum auf besondere Weise repräsentiert: Alle möglichen Namen und Begriffe für Gott setzen – gerade auch in ihren möglichen Entgegensetzungen – voraus, dass sie möglich sind. Der unendliche Signifikationsprozess, der in der metaphysischen Sprachkonzeption des Cusanus die zentrale Rolle spielt, ist in dem letzten Gottesbegriff gleichsam reflexiv berücksichtigt: Das posse ipsum erfüllt aufgrund seiner sich selbstdefinierenden Möglichkeitssemantik die intensionalen und extensionalen Anforderungen, die, wie wir ausgeführt haben, das nomen ineffabile auszeichnen. Sowohl die possibilitätstheoretische (‚Es ist möglich, dass …‘) als auch die potentialitätstheoretische (‚Für a ist es möglich‘/‚a kann …‘) Dimension ist in einem Namen gebündelt und zur Darstellung gebracht. So kann die infinita forma, die Ursprung der ontischen wie signifikatorischen Vielheit ist, als unendliches Können oder unendliche Möglichkeit bezeichnet und spekulativ entwickelt werden. Dennoch, so lässt sich einwenden, bleibt das posse ipsum ein Name. Damit ist weder die Differenz zwischen Name und dem zu benennenden Absoluten auf-

denken (oder: dieser Gedanke gedacht werden kann). Beide Möglichkeiten lassen sich auf das Können selbst zurückführen.

252

5 Der letzte Gottesbegriff: posse ipsum

gehoben noch ausgeschlossen, dass es über das posse ipsum hinaus neue und vielleicht bessere Namen geben kann. Cusanus hätte diesem Gedanken wohl zugestimmt, freilich ohne darin einen Einwand zu sehen. Auch wenn der letzte Gottesname nicht nur faktisch, sondern auch systematisch einen Endpunkt in seiner posse-Metaphysik darstellt, wird er unter dem Vorzeichen der docta ignorantia, dem konjekturalen Wissen vom Absoluten, konzipiert. Gleichwohl ist damit in Rahmen – darin mag die wiederum semantische Begrenzung liegen – der Möglichkeitssemantik ein Maximum – eben des explizit rekursiv Möglichen (an sich) – erreicht. Zudem gilt für alle noch möglichen Namen, nicht nur dass sie möglich sein müssen, sondern dass sie im Sinn der Perfektibilität genauer und besser sein können als der zuletzt erreichte Begriff. Die Finalisierung aller noch möglicher Namen auf das eine nomen ineffabile hat aus Sicht der spekulativen Signifikationstheorie seine Bedingung in dem in De apice theoriae konzipierten Können bzw. in der Möglichkeit selbst. Die Dynamik einer unbegrenzten Signifikationspraxis ist im posse ipsum als potentielle Signifikation bedacht. Die Semantik des posse ipsum erklärt auch, warum die unendliche Form in ihrer Transzendenz auch nicht die Einheit schöpfungsvorgängiger, aber bereits differenzierter logischer Seins-Möglichkeiten (possibilia) ausmacht, sondern diesen noch vorgängig ist. Gleiches gilt für den absoluten Begriff, der – wie dargestellt – die Einheit von Indefinitheit und Definitheit ist. Mit dem posse ipsum lässt sich diese Einheit und ihre Semantik der Unbestimmtheit erfassen. So ist alles Benennen und NichtBenennen nichts als die eine übergegensätzliche Möglichkeit oder das eine Können und sind die jeweiligen Namen konkretisierte bzw. realisierte Möglichkeiten, oder genauer gesagt: Manifestationen der einen Möglichkeit auf der gegensätzlich-relationalen Ebene des Denkens und der Sprache. Das posse ipsum ist nicht die Negation aller Namen, sondern die Möglichkeit aller Namen und, weil die Negation ebenfalls voraussetzt, möglich zu sein, die Möglichkeit der Negation aller Namen. Es ist Grenze und Ursprung von Sprache und Begriffen und kann von ihnen, da sie sowohl möglich als auch voneinander unterschieden sein müssen, nicht begrenzt und begriffen werden. Aus der Perspektive des posse ipsum gibt es keine Bedeutungsunterschiede, da diese erst möglich sein müssen, um realisiert zu werden.

5.2 Das posse ipsum – der philosophische Gehalt des neuen Gottesnamen

253

5.2.1.2 Unmöglichkeit des Zweifelns Nam cum posse ipsum omnis quaestio de ‚potest‘ praesupponat, nulla dubitatio moveri de ipso potest; nulla enim ad ipsum posse pertinget. Qui enim quaereret an posse ipsum sit, statim, dum advertit, videt quaestionem impertinentem, quando sine posse de ipso posse quaeri non posset. Minus quaeri potest an posse ipsum sit hoc vel illud, cum posse esse et posse esse hoc et illud posse ipsum praesupponant.⁶⁴⁰

Die Geltung des posse ipsum als absolute Voraussetzung will Cusanus über die (Un‐)möglichkeit des Zweifelns beweisen. In seiner knappen Ausführung lassen sich drei Aspekte unterscheiden: Erstens ist jede Frage unabhängig von ihrem Fragegegenstand in der Weise der Möglichkeitssemantik strukturiert, so dass entweder implizit oder explizit gefragt wird, ob a) ‚Es möglich ist, dass …‘, oder ob b) ‚Es für a möglich ist zu …/a … kann‘. Possibilität und Potentialität sind in unterschiedlicher Weise dem sinnvollen Fragen vorausgesetzt. Ob eine Frage sinnvoll ist, hängt trivialerweise davon ab, ob prinzipiell die Möglichkeit einer Beantwortung besteht, die Antwort also nicht unmöglich ist. So implizieren Informationsfragen (‚Wie oft in der Stunde fährt der ICE von Berlin nach Hamburg?‘), Fragen zu kontingenten Sachverhalten (‚Hast du sie heute um 17 Uhr gesehen?‘) oder zu notwendigen Sachverhalten (‚Wie viel ist fünf mal fünf?‘) die Möglichkeitsbedeutung der Possibilität, denn für sie gilt die modallogische Aussageform: ‚Es ist möglich, dass … z. B. der ICE mehrmals in der Stunde fährt; er sie gesehen oder nicht gesehen hat; fünf mal fünf 25 ist. Die Beispiele verdeutlichen, dass auf der semantischen Ebene des Fragens die modallogische Möglichkeit nicht hintergangen wird. Zweitens kann weiterhin im Rahmen der cusanischen Konzeption eine Frage nur dann sinnvoll sein, wenn vorausgesetzt ist, dass die Sachverhalte, auf die sich die Frage bezieht, in bestimmter Weise strukturiert sind; zu diesen Strukturaspekten gehören spezifische ontologische Potentialitäten. Bleiben wir bei den Beispielen: Wie oft ein Zug fährt, setzt voraus, dass es – vereinfacht gesagt – für den Zug überhaupt möglich ist, fahren zu können (Belastbarkeit des Materials, Funktionalität etc.). Ob ich jemanden sehe, setzt voraus, dass ich sehen sowie die Uhr lesen kann (also vermögend bin zu sehen, zu lesen). Dass fünf mal fünf 25 ist, setzt voraus, dass jemand (a) – ganz unabhängig von der logischen Notwendigkeit des Ergebnisses – kognitiv zu rechnen fähig ist. Die ontologische Potentialität kann nicht hintergangen werden. Schließlich kann alles, was ist, sein soll oder sein muss, zum Gegenstand des Fragens werden, weil es als je determiniertes Können in seinem Möglichsein hinterfragt werden kann. Fragestruktur und Ge De ap. th. n. 13, 126, 4– 10.

254

5 Der letzte Gottesbegriff: posse ipsum

genstandskonstitution zeigen, dass jedem Fragen das posse ipsum immanent oder vorausgesetzt ist und es nicht negiert werden kann, ohne auch das Fragenkönnen und den Gegenstandsbezug aufzugeben. In einem letzten Schritt erweist sich für Cusanus die Evidenz der (Un‐)möglichkeit des Zweifels vor allem dann, wenn versucht wird, dass metaphysische Prinzip selbst in Zweifel zu ziehen. Auch hier greift, wie schon an anderer Stelle, die zirkuläre Argumentation des Selbstwiderspruchs: Gerade bei dem Versuch das posse ipsum zu negieren, deckt die Negation ihre Voraussetzung auf, als Negation möglich zu sein. So ist zwar der Gedanke, das posse ipsum zu negieren, möglich, aber paradoxerweise gerade deswegen unmöglich. Die Negation des Begriffs ist nicht möglich, da die Negation selbst möglich sein muss. Die Negation ist somit nur noch in der konventionellen Verbalsprache sagbar, ohne dass sie konsistent gedacht werden könnte. Wieder lässt sich die doppelte Möglichkeitssemantik anführen: Negiert werden kann das posse ipsum nur, weil es a) gemäß der Possibilität möglich ist, den Begriff zu negieren, und es b) gemäß der Potentialität für ein Denken überhaupt möglich ist, Negation zu denken. Et ita posse ipsum omnem quae potest fieri dubitationem antecedere constat. Nihil igitur certius eo, quando dubium non potest nisi praesupponere ipsum, nec quicquam sufficientius aut perfectius eo excogitari potest.⁶⁴¹

Wird also das posse ipsum in Zweifel gezogen, erkennt der Zweifelnde, dass er an der Bedingung seiner Möglichkeit, überhaupt zweifeln zu können, zweifelt, was sein Zweifeln unmöglich macht. Das Können kann bezweifelt werden, aber nur, weil es möglich ist, zu zweifeln. Anders gewendet: Die Möglichkeit des Zweifelns beweist die Unmöglichkeit des Zweifelns an der Möglichkeit selbst. Noch der Gedanke der Unmöglichkeit muss ein möglicher Gedanke des Denkens sein. In diesem Sinn ist das posse ipsum zu Recht als „die metaphysische Präsupposition des Zweifels“ zu verstehen.⁶⁴²

 De ap. th., n. 13, 126, 11– 14.  Senger 1986, 105. Die philosophiehistorische Originalität des cusanischen Zweifel-Argumentes zeige sich, so Senger (104), im Vergleich mit Augustin. Im Gegensatz zu diesem gehe es Cusanus aber nicht um die Selbstgewissheit des Denkens im Zweifel, sondern um die Gewißheit des transzendenten Könnens selbst durch den Zweifel; vgl. auch Brüntrup 1973, 117 f., der auf Descartes verweist. Die Unterscheidung Sengers ist richtig, doch zu schematisch. Denn für Cusanus gilt gleichermaßen, dass Denken, indem es zweifelt, sich selbst als das, was zweifelt, weiß, darüber hinaus aber um die Voraussetzung des Zweifelns weiß, eben das Können selbst. Dieses ist dann aber auch die Bedingung des Denkens, so dass Denken, indem es sich weiß, seine Bedingung wissen kann, und in der Gewißheit des transzendenten Prinzips die Selbstgewißheit aufgehoben ist. – Gegenüber einem „Vermögensskeptizismus“, wie ihn Dominik Perler für Descartes‘ Position

5.2 Das posse ipsum – der philosophische Gehalt des neuen Gottesnamen

255

5.2.1.3 Die Immanenz Die Immanenz des Könnens selbst strukturiert sich gemäß dem neuplatonischen Hierarchisierungsschema in die Bereiche ‚Sein – Leben – Erkennen‘, die zusammen die Ordnung des Universums ausmachen.⁶⁴³ Diese Bereiche, die an sich schon oberste Ordnungen bilden, sind ebenso wie alles, was sich ihnen im Einzelnen zuordnen lässt, jeweils determiniertes Können „mit Hinzufügung“ (posse cum addito) und sind von dem absoluten Können als ihrem Prinzip different. Noch einmal ist die erste These aus dem Memoriale anzuführen, die das Verhältnis zwischen den prinzipiierten Bereichen und dem Absoluten prägnant darstellt: Ad posse ipsum nihil addi potest, cum sit posse omnis posse. Non est igitur posse ipsum posse esse seu posse vivere sive posse intelligere; et ita de omni posse cum quocumque addito, licet posse ipsum sit posse ipsius posse esse et ipsius posse vivere et ipsisus posse intelligere.⁶⁴⁴

Während unter der Rücksicht der Transzendenz die Vermeidung des infiniten Regresses und die Gewährleistung der Letztbegründung maßgeblich sind, gilt es umgekehrt für die Perspektive der Immanenz, die Omnipräsenz des Absoluten als Grund aller innerweltlichen Möglichkeiten und ihrer Verwirklichungen zu begreifen. Bemerkenswert ist, dass die Denkfigur des infiniten Regresses oder Progresses, obwohl sie in der Konzeption des posse ipsum als sich selbst definierender Definition angelegt ist und Cusanus sie sehr wohl in einem früheren Text, in De Principio, für die philosophische Begründung des Unendlichen zugelassen hat, in De apice theoriae keine Berücksichtigung findet.⁶⁴⁵ Für die Immanenz des posse ipsum gilt gemäß der explicatio-Theorie: Es ist in allem und erscheint unter verschiedenen Hinsichten, ohne an sich verschieden zu sein. Entsprechend sind alle Tätigkeits- und Seinsbereiche, alle Erkenntnis- und einführt, der in Frage stellt, ob unsere kognitiven Vermögen überhaupt wahre Urteile bilden können, nimmt Cusanus eine ambivalente Stellung ein: Zum einen gilt das posse-ipsum als metaphysische Präsupposition auch für diesen Zweifel; zum anderen impliziert die Methode konjekturaler, nicht- adäquater Erkenntnis genau diese Skepsis am kognitiven Vermögen des Menschen.Vgl. Perler 2009, hier: 55. Dass Cusanus den philosophischen Skeptizismus nicht weiter methodisch nutzte, zeigt sein Vergleich mit anderen mittelalterlichen Denkern; vgl. hierzu Perler 2006.  Vgl. Senger 1986, 79. Cusanus‘ neuplatonische Konzeption erhellt sich vor allem im Vergleich mit Plotin, der in gleicher Weise das Problem des absoluten Ursprungs als Problem von Immanenz und Transzendenz zu lösen hatte und den Begriff der δύναμις in der Bedeutung von ‚Überfülle‘ und ‚Übermächtigkeit‘ verwendet; vgl. hierzu die Studie von Jens Halfwassen 1992 (ND 2006).  De ap. th. n. 17, 130, 6 – 9.  Vgl. De princ. n. 13, 15, 1– 5. Auf diese Denkfigur soll im Schlusskapitel noch einmal eingegangen werden.

256

5 Der letzte Gottesbegriff: posse ipsum

Handlungsweisen für sich – im Sinne von Fundamentaldispositionen – unterschieden, aber, wie bereits dargelegt, ununterschieden in der Transzendenz des Prinzips. Anders formuliert: Cusanus nutzt die Funktion des Modalbegriffs ‚Möglichkeit‘ – inhaltlich alles modalisieren zu können – gerade für seine metaphysische Explikation der Immanenz des Absoluten: Weil Aussagen logisch möglich, Sachverhalte seinsmöglich, Erkenntnisse erkennbar und Handlungen möglich sind, beweisen sie, zumal in ihren jeweiligen Verbindungen, wie das Können selbst als Bedingung dieser Bereiche zu verstehen ist. Es ermöglicht erst, was unsere alltägliche Ordnung ausmacht. Denn wir setzen erfolgreich für unsere Welt voraus, dass das Seinsmögliche auch logisch möglich und erkennbar ist. Ein kurzer Verweis auf Kant verdeutlicht die Argumentation: Kant knüpft gemäß seinem transzendentalphilosophischen Ansatz die ontologischen Möglichkeiten an die epistemischen Möglichkeiten der Erfahrung. Entscheidend ist hierbei die Übereinstimmung der Bedingungen der Möglichkeiten auf beiden Seiten.⁶⁴⁶ Für Cusanus ist diese Übereinstimmung der Beweis für die Immanenz des Absoluten. Pointiert gesagt: Gegenstands- oder Erscheinungsmöglichkeit und Erkenntnismöglichkeit sind Modi der einen Möglichkeit. Ebenso gelingt Handeln nur im Rahmen dessen, was seinsmöglich, erkennbar und widerspruchsfrei möglich ist. Im Text findet sich ein gleichsam empirisches Argument für den Beweis seines metaphysischen Begründungsanspruchs, wenn er am Beispiel des Tragenkönnens eines Steins die Immanenz des Absoluten verdeutlicht: Quis puer aut adolescens posse ipsum ignorat, quando quisque dicit se posse comedere, posse currere aut loqui? Nec est quisquam mentem habens adeo ignarus, qui non sciat sine magistro nihil esse quin possit esse, et quod sine posse nihil quicquam potest sive esse sive habere, facere aut pati. Quis adolescens, interrogatus si posset portare lapidem, et responso facto quod posset, ultra interrogatus an sine posse posset, utique diceret ‘nequaquam’? Nam absurdam iudicaret atque superfluam interrogationem, quasi nemo sanae mentis dubium de hoc faceret quicquam facere aut fieri posse sine posse ipso. Praesupponit enim omnis potens posse ipsum adeo necessarium, quod penitus nihil esse possit eo non praesupposito.⁶⁴⁷

Die in diesem Zusammenhang eher beiläufig erwähnten Termini ‚posse facere‘ und ‚posse fieri‘ haben systematische Bedeutung. Sie verweisen auf den schöpfungstheoretischen Gehalt des posse ipsum. Um dies erklären zu können, ist ein  Vgl. Kant, KrV, A 158 = B 197.  De ap. th. n. 6, 120 – 121, 1– 12. Allgemein könnte Cusanus mit Verweis auf die Lebenspraxis jedes Einzelnen sagen: Wenn du wissen willst, was das Eine in allem ist, wodurch alles überhaupt jeweils etwas sein, tun, bewirken oder werden kann, dann schau auf das, was du selbst sein, tun, bewirken, werden und erkennen kannst. Indem du etwas bist, tust, wirkst, wirst und erkennst, setzt du schon das Können selbst voraus, damit du dies oder jenes sein, tun, bewirken,werden und erkennen kannst.

5.2 Das posse ipsum – der philosophische Gehalt des neuen Gottesnamen

257

Exkurs über die Trias ‚posse facere (Machen-Können) – posse fieri (WerdenKönnen) – posse factum (Geworden-sein-Können)‘ in der Schrift De venatione sapientiae erforderlich. Auch wenn diese Relation hinter den reduktiven Begründungsanspruch des posse ipsum zurücktritt, erhellt sie im Rückblick dessen Immanenzperspektive. Zudem ist davon auszugehen, dass Cusanus seine Überlegungen zur Trias in De apice theoriae voraussetzt.

5.2.2 Zur Trias von posse facere – posse fieri – posse factum Ausgangspunkt der triadischen posse-Spekulation ist die Frage nach dem Zusammenhang von Gott und Schöpfung. In De venatione sapientiae wird der Schöpfungszusammenhang durch die Relationalität von posse facere (MachenKönnen) – posse fieri (Werden-Können) – posse factum (Geworden-sein-Können) begründet.⁶⁴⁸ Die als Zirkel zu denkende Abfolge erklärt die Differenz zwischen dem göttlichen Schöpfer und den vielheitlichen Verwirklichungen des Geschöpflichen über das Werden-Können, dem die neue Vermittlungsfunktion zukommt.Was sich als einzelnes posse factum realisiert, setzt das posse fieri voraus, das innerhalb des hierarchischen Schöpfungsmodells wiederum das posse facere präsupponiert. Indem Cusanus vom Sein-Können zum Werden-Können übergeht und eine stärkere Dynamisierung erreicht, schafft er eine maßgebliche Wende in seiner Metaphysik des Absoluten. Dabei kommt dem posse fieri eine besondere Vermittlungsfunktion zu. Es umfasst jede artspezifische und individuelle Begrenzung und ist – im Sinne des früheren minimum – alles mögliche Sein oder, wie Cusanus im Dialogus de ludo globi dann präzisiert, synonym mit der „Möglichkeit“ oder der „Materie“.⁶⁴⁹ Im Unterschied zu De docta ignorantia ist in dem jetzigen Ansatz ein Theoriefortschritt zu erkennen, da es mit dem posse fieri weitaus einfacher gelingt, die Materie zu integrieren und im Absoluten zu begründen. Die Bestimmung innerhalb der Triade soll verhindern, die Materie als ein zweites, selbständiges Prinzip neben dem göttlichen Absoluten zu begreifen. Für die Durchsetzung dieser Dependenz ist wiederum der Möglichkeitsbegriff erforderlich: Das Werden-Können unterscheidet sich vom unbegrenzten Können durch seinen Möglichkeitsstatus. Zwar dauert es, einmal begonnen, ewig an, aber es ist geschaffen und hat

 Brüntrup 1973, 103 nennt die Trias zutreffend eine „dynamisch-operative[ ] Korrelation“. Vgl. für eine gelungene Darstellung der triadischen Struktur auch Meier-Oeser 2001, 244 ff.  De ludo I n. 46, 52, 3 – 5.

258

5 Der letzte Gottesbegriff: posse ipsum

im Machen-Können seinen Anfang:⁶⁵⁰ So hat es im posse factum seine jeweils begrenzte, im göttlichen Ursprung seine vollkommene Verwirklichung. Für die theologische Bestimmung der Allmacht des posse facere ist das bedeutsam. Denn Gott ist nur dann allmächtig und unendlich, wenn er das Werden-Können oder die Materie nach seinem Willen erzeugt und begrenzt, so dass sowohl das „WerdenKönnen schlechthin“ (posse fieri simpliciter) als auch alle faktische Verwirklichung eines konkret „eingeschränkten Werden-Könnens“ (posse fieri contractum ad id quod fit) in das göttliche Machen-Können als Ziel und Prinzip zurückfließen.⁶⁵¹ Die Funktion des Möglichkeitsbegriffs zeigt sich innerhalb dieses Kreislaufs in der Strukturierung des posse fieri vor der Überführung ins posse factum: Im Werden-Können ist die Ordnung der Welt gemäß der onto-logischen Möglichkeit (possibilitas) vor ihrem Wirklichsein angelegt. Maßgeblich für die der Schöpfung vorgängige Konzeption von Welt ist auch für Cusanus das Rationalitätsprinzip des Nichtwiderspruchs. Hier folgt er dem Axiom des Aristoteles, denn nichts Un-

 „Posse fieri igitur initiatum in aevum manet et perpetuum est. Et cum non sit factum et tamen initiatum, ipsum dicimus creatum, cum nihil praesupponat ex quo sit, dempto eius creatore.“ Vgl. insgesamt für eine erste Grundbestimmung des hierarchischen Verhältnisses der drei posse-Positionen: De ven. sap. c. 3, n. 7, 9 f., 3 – 21; 10 f., 1– 20. – Eine exakte Bestimmung des posse fieri scheint schwierig zu sein. So kritisiert Brüntrup 1973, 81, Fn. 45 die Interpretation von Dangelmayr, der von der „Bedingung der Möglichkeit des kontingenten Seins“ spreche, und damit außer Acht lasse, dass dem posse fieri das posse facere präsupponiere. Brüntrup selbst bestimmt es zutreffend als die „vom absoluten Ursprung begründete metaphysische Voraussetzung der Welt. Es ist die der Wirklichkeit des Wirklichen voraus- und zugrunde liegende Möglichkeits-Bedingung“ (81), „in der das Möglich-Sein auf Verwirklichung ausgerichtet besteht“ und „die Möglichkeit der Welt … eminent dynamisiert ausgedrückt“ werde (82 f.). Meier-Oeser 2001, 248 nennt das posse fieri das „ersterschaffene, unerschöpfliche Seinspotenzial“ und kritisiert wiederum, allerdings zu unrecht, Brüntrup, der zu wenig berücksichtigt habe, dass mit dem Terminus kein eingeständiges Prinzip gemeint sei. Doch Brüntrup weiß das sehr wohl, wie verschiedene Stellen belegen. So betont er die korrelationale Stellung des posse fieri zu den anderen beiden Positionen der Trias und lehnt die Vorstellung ab, das Werden-Können sei eine der Welt vorgeordnete Wirklichkeit „hypostasierter Possibilien“ (80). Auch die Aussage Winklers 2001, 91, das posse fieri sei nicht ewig, muss eingeschränkt werden. Cusanus sagt beides (s.o. De ludo I n. 46). Hier zeigt sich einmal mehr die Uneinheitlichkeit der cusanischen Begriffsverwendung. Winkler ist bei seiner Bestimmung der Materie als „potentiell unendlich“ (ebd.) zuzustimmen.  Vgl. für die Unterscheidung „Werden-Können schlechthin“ und „eingeschränktes WerdenKönnen“ De ven. sap. c. 38, n. 114, 106 f., 1– 15; vgl. für die Koinzidenz der Ursachen c. 39, n. 115, 107, 3 – 16. Auffallend ist hierbei die Terminologie: Cusanus richtet seinen neuen Dynamismus unter den Vorgaben des aristotelischen Ursachenverständnisses aus. So ist das Machen-Können Wirk-, Form- und Finalursache aller gewordenen und noch möglichen Dinge; allerdings als ihnen immanente „absolute Ursache“ (radix omnipotentiae; De ven. sap. c. 27, n. 80, 77, 7).

5.2 Das posse ipsum – der philosophische Gehalt des neuen Gottesnamen

259

mögliches wird wirklich oder geschieht.⁶⁵² Entsprechend gilt für das WerdenKönnen bzw. die Materie: Es ist nach dem „ewigen Begriff“ oder „Gedanken“ (conceptus aeternus), der alle Begrenzungen umfasst, erschaffen und kann deswegen nicht mit der völlig indifferenten, passiven materia prima gleichgesetzt werden. Für den conceptus aeternus hingegen gilt, dass er vor der Schöpfung gedacht wird und gleichbedeutend mit dem absoluten Begriff oder dem göttlichen Wort ist, die der göttliche Geist in sich von der Welt entwirft.⁶⁵³ Wenn aber das Werden-Können in diesem Begriff unter der Bedingung der nichtwidersprüchlichen Möglichkeiten strukturiert und nur so als Geworden-seinKönnen aktualisiert wird, stellt sich die Frage, ob die Begriffs- und Schöpfungskonzeption noch mit dem Koinzidenzprinzip und der Translogizität vereinbar ist oder ihnen nicht vielmehr widerspricht? Kann noch behauptet werden, Cusanus folge hier nicht der omnipotentia dei-Vorstellung des Thomas von Aquin? Der conceptus aeternus kann zumindest als konstitutiver Gesamtentwurf der Welt nicht gegen das Nichtwiderspruchsprinzip verstoßen, denn nichts Unmögliches geschieht. Cusanus muss da, wo es um die Welt geht, das aristotelische Rationalitätsaxiom uneingeschränkt gelten lassen. Alle Möglichkeiten müssen im Werden-Können hinsichtlich ihrer Verwirklichungen für diese Welt konsistent sein. In dieser Hinsicht kann es keinen Unterschied zwischen Cusanus und Thomas von Aquin und dessen Konzeption eines widerspruchsfreien Begriffsverhältnisses als Maßstab göttlicher Allmacht geben. Allerdings schließt das nicht zwingend die Gültigkeit der Koinzidenz aus. Mit Hilfe des Möglichkeitsbegriffs lassen sich zwei Argumente anführen, die sich freilich darin unterscheiden, dass sie entweder die eine realisierte Welt oder die vielen mögliche Welten im Blick haben: Erstens sind im ewigen oder absoluten Begriff im Sinn des anaxagoreischen πάντα ἕν alle Möglichkeiten aller Geschöpfe dieser Welt aktual enthalten, also auch diejenigen, die innerhalb der Arten oder von den Individuen de facto nicht oder nie realisiert werden, aber der Gesamtkonzeption nach möglich gewesen wären. In diesem Sinn bedeutet Koinzidenz die Kompossibilität der Gegensätze, und zwar in Hinsicht auf ihre Entfaltung als Weltverhältnisse dieser einen gewollten Schöpfung.⁶⁵⁴ Zweitens kann der ewige Begriff, wenn er mit dem conceptus absolutus identisch ist, so verstanden werden,

 De ludo I n. 46, 52, 5 – 10; vgl. De ven. sap. c. 2, n. 6, 9, 13 f.; c. 3, n. 7, 9, 3 f.; vgl. dazu Stadler 1983, 90; vgl. zur Unterscheidung von Materie und Werden-Können Brüntrup 1973, 82; Dangelmayr 1969, 277.  Vgl. De ven. sap. c. 27, n. 82, 78, 1– 6; De ludo I, n. 45, 51, 14 f. Der conceptus aeternus ist mit dem conceptus absolutus aus der Schrift Idiota de sapientia identisch sein. Als Absolutes sind Geist und Begriff nicht unterschieden, da der Geist sich in dem Begriff selbst denkt.  Vgl. auch Schnarr 1973, 107.

260

5 Der letzte Gottesbegriff: posse ipsum

dass er als das ‚Sich-selbst-Denken‘ des Absoluten nicht nur alle Möglichkeiten dieser Welt vor ihrer Schöpfung, sondern aller möglichen Welten beinhaltet. Koinzidenz ist dann auch als Kompossibilität zu begreifen, aber in einer ungleich größeren Komplexität. Gleichwohl stellt sich die Frage, wie es denn zu der ‚Auswahl‘ an zu realisierenden Möglichkeiten kommt. Denn auch die Auswahl muss als solche vorgegeben sein. Gibt es a parte rei Freiheiten oder Unbestimmtheiten, die im Übergang vom posse fiere zum posse factum liegen? Gibt es doch eine ‚Widerständigkeit‘ der Materie, die verantwortlich ist? Thomas Leinkauf führt „innere Bedingungen …, wie etwa die der Materialität, des Substanz-Akzidens-Geflechts etc. …“ an.⁶⁵⁵ Doch diese ‚inneren Bedingungen‘ der Welt verdanken sich letztlich auch dem absoluten oder ewigen Begriff. Sind sie bereits im ewigen Begriff der Welt vorgegeben? Dann müssen die entstehenden Individualitäten auf eine Art Selbstbeschränkung der unendlichen Macht, die ihre eigene Unvollkommenheit und zugleich eine strenge Prädetermination alles Endlichen erzeugt, zurückzuführen sein. Ist der Möglichkeitsüberschuss aber nicht auf den Begriff zurückzuführen, muss er gewissermaßen unkalkuliert entstehen, was der Allmacht des Absoluten widerspricht. Grundsätzlich zeigt sich hier das auch für Cusanus virulente schöpfungstheoretische Dilemma zwischen der Allmacht Gottes und der Einzigkeit der bestehenden Welt.⁶⁵⁶ Ersterer entspricht die These von den unendlich vielen Welten, die Gott generieren könnte, letzterer die von der Unmöglichkeit dieser Unendlichkeit. Darüber hinaus bleibt die Koinzidenz als radikale Einfaltung, in der alle Möglichkeiten der einen oder aller möglichen Welten allein die eine übergegensätzliche Wirklichkeit des Absoluten sind, gültig. So betont Cusanus, dass Gott, da er vor allen Unterscheidungen ist, auch noch vor der Differenz zwischen Machenund Werden-Können liegt. Unter dieser Hinsicht ist Gott das Absolute, das in seiner Transzendenz nichts von allem ist, auch nicht der Schöpfer einer Welt: Est ante differentiam omnem … ante differentiam posse fieri et posse facere … ante differentiam indifferentiae et differentiae … deus est ante omnem differentiam differentiae …⁶⁵⁷

 Leinkauf 2006, 156; vgl. für den wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang von den vielen Welten bei Cusanus Meier-Oeser 1989, 212 ff.  Vgl. Blumenberg 1976, 77 ff.  De ven. sap. c. 13, n. 35, 35 f., 5 – 13; c. 27, n. 81, 77 f., 1– 17; n. 82, 78 f., 1– 20; vgl. De beryl. n. 50; vgl. auch De vis. c. 12, n. 50, 43, 8 f.,wo Cusanus schreibt, Gott sei „unendlich viel mehr als Schöpfer (plus quam creator)“.

5.2 Das posse ipsum – der philosophische Gehalt des neuen Gottesnamen

261

Diese Radikalität ist ihrerseits nicht problemlos. So stellt sich aus der absolut transzendenten Perspektive die Frage, warum es überhaupt eine und gerade diese Schöpfung, die zumal unvollkommen ist, geben sollte? Das Grundproblem von der Kontingenz des Schöpfungswillens und Schöpfungsplans zeigt sich als ungelöst. Im Grunde verschärft es Cusanus noch: Wenn Gott noch vor dieser Unterscheidung ist, dann ist er frei, jede mögliche Welt zu schaffen. Im Folgenden ist der Zusammenhang von Werden-Können und der jeweils konkreten individuellen Verwirklichung für diese realisierte Welt genauer darzustellen. Stephan Meier-Oeser hat das im Anschluss an Alfons Brüntrup überzeugend getan. Er spricht bezeichnenderweise von dem „Konzept des ‚Möglichkeitshorizontes‘“, das Cusanus mit dem posse fieri vertrete, um „aus der Perspektive des Könnens und der Möglichkeit … die Neubestimmung der ontologischen Grundbegriffe von species, individuum, essentia, natura oder substantia zu unternehmen“.⁶⁵⁸ In dem potentiell unendlichen Möglichkeitshorizont des Werden-Könnens finden Differenzierungen gemäß der Arten sowie der unter sie fallenden Individuen in kleinere Möglichkeitshorizonte statt, wobei, wie gesagt, nur das Einzelne oder das Individuum als posse factum wirklich existiert. Die artspezifisch begrenzten Horizonte werden von den Individuen ebenso wenig in Gänze realisiert wie der Horizont des posse fieri von den Arten. So gilt auch von dem Universum, dass es die „unbegrenzte, absolut größte Potenz“ Gottes (infinita absolute maxima dei potentia) nicht ausschöpft.⁶⁵⁹ Die Begrenzung erbringt das Werden-Können nicht aus sich selbst her – Materie bestimmt sich nicht selbst –, sondern wird durch das Machen-Können, die absolute Ursache, verwirklicht. Beide, Arten und Individuen, vollenden sich auch nicht im Werden-Können, sondern erst im göttlichen Geist als dem einzig wahren Urbild.⁶⁶⁰ Cusanus führt als Beispiel das Verhältnis von dem Individuum ‚Platon‘ und dem artspezifischen Werden-Können des Menschen (posse fieri hominem) an: Et est, quod factum cum sequatur posse fieri, numquam est ita factum, quod posse fieri sit in eo penitus terminatum. Nam etsi posse fieri, secundum quod est actu, sit terminatum, tamen non simpliciter. Ut in Platone posse fieri hominem est terminatum, non tantum ille terminandi modus, qui dicitur Platonicus; et restant alii etiam perfectiores innumerabiles modi,

 Meier-Oeser 2001, 248 (Kursivierung im Original). Dies haben auch Blumenberg 1976, 104 f. und von Bredow 1964 u. 1967 so gedacht.  De doct. ign. III c. 1, 120, 17.  Von daher gibt es auch keine artspezifischen Ur-Bilder oder Ideen; vgl. De ven. sap. c. 38, n. 84, 80, 1– 14.

262

5 Der letzte Gottesbegriff: posse ipsum

neque etiam in Platone posse fieri hominis est terminatum. Multa enim homo fieri potest, scilicet musicus, geometricus, mechanicus, quae Platon non fuit.⁶⁶¹

In Platon ist das posse fieri des Mensch-Werden-Könnens als posse factum, ein bestimmter Mensch zu sein, verwirklicht und partikularisiert, damit ist es aber nur auf bestimmte, nämlich ‚platonische‘ Weise und nicht schlechthin begrenzt. Es bleiben zum einen „unzählige andere und sogar vollkommenere Weisen“ des Menschsein-Könnens übrig; zum anderen ist auch für das Individuum ‚Platon‘ das Werden-Können nicht völlig abgeschlossen, insofern er vieles andere hätte werden oder machen können, das über sein aktualisiertes Machen- und WerdenKönnen – sein posse factum – hinausgeht. Für jedes Geworden-Sein besteht demnach im posse fieri ein „Möglichkeitsüberschuss“.⁶⁶² Cusanus berücksichtigt sowohl die Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb der Arten als auch den Aspekt der Kontrafaktizität und Kontingenz in der Entwicklung des Individuums. Was etwas ist, entscheidet sich durch das arteigene posse fieri und durch dessen Maximum an Möglichkeiten, die aber von und in den Individuen nie in Gänze, sondern nur in Ausschnitten und dabei je unterschiedlich realisiert werden. Der metaphysische Eigenwert des Individuums besteht in der irreduziblen Besonderheit seines faktischen Geworden-Seins und damit der kontingenten Entwicklung im Horizont seiner Möglichkeiten.⁶⁶³ Die Möglichkeitshorizonte des Geschöpflichen, die Cusanus in seiner posseMetaphysik berücksichtigt und in seinem letzten Gottesbegriff auf ihr Prinzip zurückführt, lassen sich unter dem Begriff der doppelten Kontingenz zusammenfassen:⁶⁶⁴ Zum einen ist es die schöpfungsontologische Kontingenz, nach der alles, was ist, also das Weltganze, zwar möglich, aber nicht notwendig oder nur kontingenterweise notwendig ist.⁶⁶⁵ Zum anderen besteht die sich aus der ersten ergebende individualontologische Kontingenz. Nach ihr verwirklicht jedes

 De ven. sap. c. 37, n. 108, 101, 4– 12. Cusanus‘ metaphysische Konzeption des Individuums erinnert an die Zwei-Komponenten-Theorie des Johannes Duns Scotus und dessen Begriff der haecceitas, mit dem die Individuation erklärt wird. Vgl. King 1992, 51– 76, der von der „Modalisierung“ (61) der Natur durch die individuelle Form spricht; vgl. auch Alvarez-Gómez 1968, 165, Fn. 201.  Winkler 2001, 92. Freilich stellt sich auch hier wieder die Frage, woher diese Differenzen kommen.  Bredow 1967, 24: „Es bleibt für das Individuum ein gemäß der Regula doctae ingorantiae unabsehbarer Spielraum … offen.“  Dabei ist zu beachten, dass das posse ipsum zwar allem Kontingenten immanent, aber mit nichts Kontingentem identisch ist, so dass es auch nicht vollständig erfasst werden kann. Umgekehrt ist alles Kontingente im Absoluten nichts anderes als das Absolute.  Vgl. Perler 2001, 263, der für Descartes vier Differenzierungen vorschlägt.

5.2 Das posse ipsum – der philosophische Gehalt des neuen Gottesnamen

263

Seiende in Abhängigkeit von seinem jeweiligen Seins-, Lebens- oder Erkenntniskontext immer nur einen Teil seines artspezifischen Könnens bzw. seiner Möglichkeiten und ist damit von dem maximalen Könnens- bzw. Möglichkeitshorizont seines Selbst different. Zugleich schafft diese Differenz der realisierten Möglichkeiten die Verschiedenheiten zu anderen Seienden, die ebenfalls nur begrenzte Bereiche innerhalb ihrer artspezifischen Möglichkeitshorizonte realisieren; Verschiedenheiten freilich, die kontingent sind. Zutreffend schreibt daher Meier-Oeser, gemeinsam sei den Individuen nicht „ein bestimmtes Moment ihres Wirklichseins (im Fall des Menschen z. B. die rationalitas), sondern vielmehr die identische, wenngleich von keinem je erreichbare Außengrenze ihres WerdenKönnens“.⁶⁶⁶ Die Nobilität des Individuums liegt in seiner je besonderen Wirklichkeit im Horizont seiner Möglichkeiten, die ihm durch das Telos vollkommener Verwirklichung prinzipiell zugänglich sind und eine eigene Könnens- oder Verwirklichungsdynamik zusprechen. Bezeichnenderweise charakterisiert Cusanus in De docta ignorantia jedes Geschöpf als „eine endliche Unendlichkeit“ oder einen „nicht vollendeten“ bzw. einen „geschaffenen Gott“, der „auf bestmögliche Weise“ sei: „Quoniam ipsa forma infinita non est nisi finite recepta, ut omnis creatura sit quasi infinitas finita aut Deus creatus, ut sit eo modo, quo hoc melius esse possit.“⁶⁶⁷ Jedes Individuum hat potentiell nicht nur alle Bestimmungen seiner Gattung, sondern auch virtuell das ganze Universum in sich. Diese Bestimmungen sind aber unter der Bedingung der Endlichkeit nicht aktualisierbar. Eine derartige Erfüllung ist allein Jesus Christus vorbehalten.

5.2.3 Posse ipsum als Aufhebung der triadischen Korrelation Die „Trias der Könnensmodalitäten“⁶⁶⁸ erscheint in De apice theoriae mit Ausnahme der weiter oben zitierten Passage nicht mehr. Zum einen kann sie, wie bereits gesagt, vorausgesetzt werden, zum anderen gibt es ein theorieimmanentes Motiv, das sie in den Hintergrund treten lässt: Mit dem letzten Gottesnamen wird

 Meier-Oeser 2001, 249. Maßgeblich bleibt allerdings – und das ist gegenüber einer Interpretation, die die Individualität zu sehr gewichtet, zu betonen – die Entfaltung des Ganzen. Dies hat bereits Blumenberg 1976, 80 festgehalten.  De doct. ign. II c. 2, 68, 15 – 19. Zu erinnern ist auch noch einmal an die bereits in einem anderen Zusammenhang zitierte Stelle aus De venatione sapientiae, wo der Mensch analog zu Gott eine unbegrenzte Grenze ist.  Brüntrup 1973, 90.

264

5 Der letzte Gottesbegriff: posse ipsum

die Ursprungsmetaphysik radikaler gedacht und auf das eine absolute Prinzip, das, wie bereits gesagt wurde, vor der triadischen Unterscheidung liegt, zurückgeführt.⁶⁶⁹ Die Vermittlungsfunktion des posse fieri und ebenso das von Gott noch unterschiedene posse facere treten in den Hintergrund. Cusanus geht es um eine neue metaphysische Unmittelbarkeit im Verhältnis zwischen Schöpfer und Schöpfung. Während die transzendente Perspektive das absolute Können als den Anfang vor dem Schöpfungsanfang in den Blick nimmt, geht es aus Sicht der Immanenz um die Allheit des Geschaffenen. Jedes Individuum hat in sich das Absolute und ist das Absolute, der nicht abgesonderte, dynamische Ursprung von allem. Im posse ipsum verbinden sich daher das non aliud und das possest der früheren Gottesbegriffe zu einer neuen Einheit. So ist das posse ipsum im doppelten Sinn der traditionellen Möglichkeitssemantik das Nicht-Andere in jedem Anderen und bestätigt komplementär, in weltzugewandter Weise, die Ergebnisse zur Transzendenz-Perspektive und der Selbstdefinition als absolute Voraussetzung: Gemäß der Possibilität setzt alles, was ein je Anderes ist, voraus, dass es möglich ist, anders zu sein, und muss auch gemäß der Potentialität die Möglichkeit oder das Können haben, anders oder unterschieden von Anderen zu sein, um anders sein zu können. Bereits in De docta ignorantia stellt Cusanus diesen Zusammenhang her, wo „Einschränkbarkeit“, „Veränderlichkeit“ und „Andersheit“ als Synonyme für Möglichkeit verstanden werden und er konstatiert, „dass sich nichts im Sein hervorbringen lasse, was nicht vorher sein konnte“.⁶⁷⁰ Ein weiteres Argument für die Synthese aus NichtAndersheit und Können-Sein im Können selbst ist mit dem Substanzreduktionismus gegeben: Indem die Washeit jedes Seienden trotz aller artspezifischer Differenzierungen in der einen quiditas ipsa besteht, kann es keine Andersheit geben oder ist alle Andersheit erst unter der Bedingung dieses Prinzips möglich. Aus der Immanenzperspektive wird noch einmal die Bedeutung der Transformation, die Cusanus mit der Substanz durchführt, deutlich. Deren Bestimmung als absolutes Können überführt alle Wesenheiten der Individuen – hier bestätigt sich der Ordnungsgedanke der posse-Trias – in ein dynamisches Gesamtgefüge, das nun freilich den einen antreibenden Subsistenzgrund in die Dinge selbst verlegt. Gerade in der letzten Schrift zeigt sich, wie sehr Cusanus mittels der Reduktion auf das posse ipsum eine Korrektur der traditionellen Ontologie und ihrer

 Dieser Gedanke findet sich bereits in De poss. n. 29, 35, 8: „… possest, in quo facere et fieri sunt ipsum posse.“  „Contrahibilitas vero dicit quandam possibilitatem, et illa ab unitate gignente in divinis descendit sicut alteritates a unitate. Dicit enim mutabilitatem et alteritatem, cum in consideratione principii ‘nihil prius sit unitate. Sed tamen nihil in esse producitur, quod prius esse non possit.’ Nihil enim praecedere videtur posse.“ De doct. ign. II, c. 7, 82, 18 – 21.

5.2 Das posse ipsum – der philosophische Gehalt des neuen Gottesnamen

265

Hierarchie der Wesenheiten herbeiführen will. Wenn jede partikuläre Substanz durch ihr bestimmtes Können und die damit inhärierenden Möglichkeiten des Werden-, Sein- und Wirken-Könnens zu erklären ist, diese wiederum durch das unendliche Können selbst als die einzige Washeit aller Einzelseienden, dann ist das Universum als die Einheit aller Substanzen nichts anderes als die dynamische „Selbstexplikation“⁶⁷¹ des Absoluten, auf das hin alles finalisiert wird. Die posseMetaphysik in der letzten Schrift verzichtet auf Vermittlungsinstanzen. Auf der Spitze der Theorie wird alles Geschaffene zu Modi, zu Erscheinungsweisen des Absoluten: Nec in his, quae aut sunt aut vivunt aut intelligunt, quicquam aliud videri potest quam posse ipsum, cuius posse esse, posse vivere et posse intelligere sunt manifestationes. Quid enim aliud in omni potentia videri potest quam posse omnis potentiae? Non tamen in omnibus potentiis aut essendi aut cognoscendi posse ipsum, uti est, capi potest perfectissime, sed in illis apparet in uno potentius quam in alio …⁶⁷²

In De apice theoriae will Cusanus durch die Immanenzperspektive auch zeigen, dass die Reduktion auf das Können selbst die Erfahrung nicht ausschließt, sondern sich in ihr beweist und den Wahrheitsanspruch der Theorie sichert.Wenn die Wahrnehmung etwas erfasst, der Verstand etwas erkennt oder erklärt, dann setzen wir Wahrnehmbarkeit, Erklärbarkeit und Erkennbarkeit voraus. Die Dispositionsausdrücke verweisen auf die Bedingung, die die Welt für uns in dieser Weise zugänglich sein lässt. Geradezu euphorisch lässt Cusanus den Kardinal von der leicht erfassbaren Wahrheit sprechen, die „in den Straßen“ rufe und die nicht mehr – darin formuliert sich erneut die Selbstkritik an den früheren Konzeptionen – „in der verbergenden Dunkelheit“ zu finden sei. Das Können selbst erweist seinen omnipräsenten Charakter in dem phänomenal zugänglichen Können der Einzeldinge: Veritas quanto clarior tanto facilior. Putabam ego aliquando ipsam in obsuro melius reperiri. Magnae potentiae veritas est, in qua posse ipsum valde lucet. Clamat enim in plateis … Valde certe se undique facilem repertu ostendit.⁶⁷³

 Beierwaltes 1980, 13; Dangelmayr 1969, 283.  De ap. th. n. 10, 124, 1– 7.  De ap. th. n. 5, 120, 9 – 13; vgl. auch Senger 1986, 82.

266

5 Der letzte Gottesbegriff: posse ipsum

5.2.4 Noch einmal: Der menschliche Geist als apex theoriae Auch in De apice theoriae steht die Leistung des menschlichen Geistes im Mittelpunkt; auch hier gelten die epistemische Differenz zwischen der Vernunft und dem Absoluten sowie die (Un‐)Möglichkeit ihrer Aufhebung. Da Cusanus’ Ausführungen, wenn auch in verkürzter Form, auf der bereits vorgestellten Konzeption der mens beruhen, sollen im Zusammenhang mit dem posse ipsum nur zentrale Aspekte hervorgehoben werden.⁶⁷⁴ Cusanus würdigt die Leistungen des menschlichen Geists vermittels einer abgestuften posse-Bestimmung. Die Vernunft ist, da sie alles als Erscheinungsweise (modus apparitionis) des Könnens selbst zu erkennen vermag, vor allem anderen innerweltlichen determinierten Können ausgezeichnet. Ihr primärer Erkenntnisgegenstand ist nicht das Sein, sondern das sich im Sein, im Leben und in der Erkenntnis manifestierende Können. Entsprechend ist für die Vernunft in der Selbsterkenntnis die ausgezeichnete Erkenntnis des posse ipsum möglich.⁶⁷⁵ Hierbei macht sie die Erfahrung, dass sie den Grund ihrer Erkenntnis vermittels ihres „intelligiblen Könnens“ (intelligibile posse) nicht adäquat erkennt. Die Methode der docta ignorantia gilt auch in der letzten Schrift: Die Selbsterkenntnis führt die Vernunft auf ihre Bedingung als die Grenze ihres Erkennens zurück, die sie zugleich, indem sie erkennt, was sie nicht erkennt, auffordert, auf nicht wissende Weise über diese Grenze und jedes Begreifen-Können hinauszugehen: „Id quod intellectus capit intelligit. Quando igitur mens in posse suo videt posse ipsum ob suam excellentiam capi non posse, tunc visu supra suam capacitatem videt … Posse igitur videre mentis excellit posse comprehendere.“⁶⁷⁶ Das wissende Nicht-Wissen ist auch in der letzten Schrift des Cusanus das Agens der Vernunft, sich selbst noch einmal auf das Absolute hin zu überschreiten.Wieder geht es um die Selbstranszendierung der Vernunft, die noch über das ihr eigene posse intelligibile hinausgeht. Mit der Selbstranszendierung erfüllt sich das „höchste Können des Geistes“ (posse supremum mentis). Indem sie sich  Cusanus unterscheidet in De apice theoriae nicht eindeutig zwischen mens und intellectus. Er verwendet überwiegend den erstgenannten Ausdruck, aber so, dass er ihn entweder synonym mit intellectus gebraucht oder mit diesem die mens bestimmt. Diese scheinbare Ungenauigkeit lässt sich vor dem Hintergrund der weiter oben ausgeführten Geistmetaphysik klären. Der Intellekt ist hier also mit dem Geist zu identifzieren.  „Et non videbis varia entia nisi apparitionis ipsius posse varios modos; … Quid enim aliud in omni potentia videri potest quam posse omnis potentiae? Non tamen in omnibus potentiis aut essendi aut cognoscendi posse ipsum, uti est, capi potest perfectissime; sed in illis apparet in uno potentius quam in alio; potentius quidem in intellectuali posse quam sensibili …“ De ap. th. n. 9 – 10, 123 – 124, 7– 8; vgl. zur Bedeutung der apparitio-Lehre Senger, 1986, 94 ff.  De ap. th. n. 10, 124, 11– 13.

5.2 Das posse ipsum – der philosophische Gehalt des neuen Gottesnamen

267

selbst überschreitet, erkennt sie das Prinzip auf die Weise des Prinzips. Cusanus nennt diese Einsicht die „einfache Schau des Geistes“ (simplex visio mentis).⁶⁷⁷ Die visio mentis ist in Abgrenzung von der visio comprehensiva nicht mehr ein Begreifen, da noch das Begreifen-Können ein begrenztes Können ist, das nur Begrenztes und Bestimmtes erkennen kann. Als absolute Voraussetzung alles Begrenzten und Bestimmten ist das posse ipsum ohne alle Einschränkung unbegreiflich (incomprehensibile) und kann nur erreicht werden, wenn die Einsicht auf unbegreifliche Weise und ohne Distinktionen sich ereignet.⁶⁷⁸ Das Sehen-Können der Vernunft ist die apex theoriae, aber sie ist nicht mit dem Gegenstand ihrer Theorie – dem Unendlichen – identisch. Die Differenz zwischen dem Denken des Absoluten und dem Absoluten selbst bleibt bestehen. Die Dignität des menschlichen Geistes begründet sich auch in der letzten Schrift in dieser Nichtidentität mit dem Unendlichen: Die Vernunft ist in ihrem Können und ihrem Möglichkeitshorizont unbegrenzt und kann von nichts Begrenztem eingeschränkt werden, sie ist aber nicht unendlich. Im Denken des Unendlichen kommt sie an die Grenze ihrer selbst, die sie zwar auf unbegreifliche Weise überschreiten, aber nicht als Unendliches selbst aufheben kann.⁶⁷⁹ Unendlich ist allein das Absolute, das menschliche Denken in seinem unbegrenzten Können begrenzt. Entsprechend wird der menschliche Geist von Cusanus genauso wie das Absolute auch als ein interminus terminus bezeichnet, allerdings mit dem Zusatz in suo modo. ⁶⁸⁰

 De ap. th. n. 11, 124, 1; vgl. zu dem Begriff der visio und ihrer Stellung in der Philosophie des Cusanus: Senger, 1986, 97 ff.; vgl. Brüntrup, 1973, 128; vgl. zum Sehen auch Beierwaltes, 1986, 160 f.; Flasch, 1973, 275 u. 335.  In diesem Sinn ist auch die Aussage in Trialogus de possest zu lesen: „Nec altissimus intellectus concipere potest infinitum interminum et unum quod omnia atque ipsum.“ De poss. n. 17, 21 f., 7– 9. Entscheidend ist hier der Ausdruck ‚concipere’, der gerade nicht ausschließt, dass die Vernunft darüber hinaus noch Möglichkeiten der Gotteserkenntnis hat. So weist Flasch, 1973, 274 darauf hin, dass Cusanus die „Begriffe der cognitio und des concipere der gegenständlichen Verstandeserkenntnis“ überlässt.  „(…) Denken, das von sich her primär auf Endliches bezogen ist, [erfasst] Un-Endliches in sich jedoch nur in der Weise der Vorläufigkeit als seinen eigenen apriorischen Grund (…).“ Beierwaltes, 1980, 112. Vgl. auch Brüntrup, 1973, 129 f. Vgl. zur eminenten Bedeutung des Unendlichkeitsbegriffs: Beierwaltes, 1980, 109 ff. u. Flasch, 1973, 324 f.  De ven. sap. c. 27, n. 82, 79, 18 f.

6. Schluss „Denn Zweifel kann nur bestehen, wo eine Frage besteht; eine Frage nur, wo eine Antwort besteht, und diese nur, wo etwas gesagt werden kann.“⁶⁸¹

Wie die zurückliegenden Analysen bestätigen, arbeiten Aristoteles und Nikolaus von Kues mit einer differenzierten Möglichkeitssemantik, um ihre Metaphysiken als in sich konsistente Theorien zu entwickeln und ihre jeweiligen theorieimmanenten Probleme zu lösen. Der Explikationswert des Begriffs zeigt sich in den jeweiligen Kernbereichen von Substanz und Gottesbegriff. Dabei konnte mit der jeweiligen konstitutiven Funktion auch eine spezifische Ambivalenz aufgezeigt werden, die gerade die jeweilige Konzeption von Einheit als Letztbegründung betrifft. Aristoteles entwickelt die für einen gegenstandsgebundenen Realismus bis heute maßgebliche ontologische Konzeption stabiler Entitäten. Mit Hilfe der Möglichkeitssemantik werden Prozessualität und Persistenz in der differenzierten Substanztheorie vereinbart und eng mit der Rechtfertigung der ersten Prinzipien verbunden. In dieser Zusammenführung von ersten Axiomen, Sein und Sprache ist Aristoteles’ Grundinteresse an der Notwendigkeit stabiler Wirklichkeiten für die Gewährleistung eines ontologischen Pluralismus zu sehen. Cusanus entwickelt unter der Bedingung christlicher Theologie eine Metaphysik des Einen, die Gott und Schöpfung, Unendliches und Endliches miteinander vermitteln soll. Die Probleme des aristotelischen Ansatzes liegen in der Einheitskonzeption des σύνολον als wahrnehmbarer Substanz (οὐσία αἰσθητή) und Referenzgegenstand assertorischer Sprachpraxis. Denn diese Einheit ist nicht spannungsfrei mit dem εἶδος als ihrem immateriellen Prinzip zu verbinden. Dass Aristoteles sein platonisches Erbe an sich seiender Formen mit seinem an den Dingen orientierten Realismus abstimmen will, prägt seine Substanzkonzeption. Zur Klärung der daraus erwachsenen Schwierigkeiten erhält, wie gezeigt wurde, das an die modallogische Unterscheidung von ein- und zweiseitige Möglichkeit gebundene Vermögen vor dem Hintergrund der vorsokratischen Ansätze seine systematische problemlösende und stabilisierende Funktion. Mit Einführung der Termini δύναμις/δυνατόν in die metaphysische Argumentation kann Aristoteles das ausschließlich kontradiktorisch zum ‚Sein‘ gedachte ‚Nichtsein‘ modifizieren und in die Korrelation von ‚Potentialität/potentiell‘ – ‚Aktualität/aktual‘ übersetzen. Dadurch kann sowohl dem eleatischen

 Wittgenstein 1984, 85 (Hervorhebung im Original).

6. Schluss

269

Paradox, aus Nichtsein könne nichts entstehen, als auch den Theorien der Prozessualität Heraklits und des anaxagoreischen Allzusammens, die letztlich beide eine für Nikolaus von Kues bedeutsame koinzidentale Einheit vertreten, begegnet werden. Die Etablierung des Verhältnisses von δύναμις und ἐνέργεια schafft ein begriffliches Instrumentarium, das kategoriale sowie substantielle Veränderungsund Entstehungsvorgänge erklärbar macht, ohne auf die Koinzidenz aktualer Entgegensetzungen zurückzugreifen. Damit hat die Korrelation grundlegende Bedeutung sowohl für den Geltungsbereich der ersten Prinzipien als auch für die Substanztheorie. Nichtwidersprüchlichkeit und Nichtwiderspruchsmittleres sind an die Differenz von δύναμις und ἐνέργεια gebunden. Allerdings, so der metaphysische Grundgedanke des Aristoteles, unterliegt alles Mögliche der Prädominanz der Aktualität und bleibt in der Bedeutung von (Noch‐)Nicht-Wirklichkeit, Nicht-Identität oder Nicht-Anwesenheit pejorativ konnotiert. Reine Aktualität oder instantan vollendete Aktivität hat allein die Form, sie garantiert persistierende Einheiten in der Erfahrungswelt. Unter dieser ontologischen Voraussetzung rechtfertigt Aristoteles seine obersten Axiome in der Metaphysik. Auf der semantischen Ebene sind es die begrifflich-definitorischen Gehalte (Intensionen), die, indem sie ‚Eines bedeuten‘ (σημαίνειν ἕν), als semantisch distinkte Einheiten eine vergleichbare Wirklichkeit bilden und sinnvolles Denken wie Sprechen erlauben. Die πρώτη οὐσία organisiert die Existenz der physischen Substanz als teleologischen Wirklichkeitsvollzug unter der Bedingung der Kontingenz. Für die Konzeption der Einheit hat die Verwendung dieser Modalität, wie im Einzelnen analysiert wurde, weitreichende Folgen über die Erste Philosophie hinaus und bestätigt die These der Arbeit, wonach das Verhältnis zwischen Möglichkeitsbegriff und Metaphysik von zentraler theoriekonstitutiver Bedeutung ist. Nikolaus von Kues hingegen ist nicht primär an der Vielheit selbständiger Formen interessiert. Der Begriff der Kontingenz hat hier, obwohl ihm eine systematische Funktion im aristotelischen Sinn zukommt, eine nachgeordnete Bedeutung für die Frage nach Erkenntnis des Unendlichen. Cusanus vertritt einen metaphysischen Monismus, der zu einer ambivalenten Konzeption von Einheit als radikal relationslose Einheit an sich (Transzendenz) und als relationeinschließende Allheit (Immanenz) führt. Einheit und Allheit miteinander zu vermitteln stellt das zentrale Problem der Theorie dar und ist, so das Ergebnis der Untersuchung, der systematische Grund für die zunehmende Bedeutung des Möglichkeitsbegriffs von dem frühen Hauptwerk De docta ignorantia und den zentralen Wendungen ‚omne id quod esse potest‘ sowie ‚omne possibile esse‘ als Begründungsformeln des Koinzidenzprinzips bis zum selbstdefinierenden Begriff des posse ipsum in De apice theoriae. Cusanus’ philosophische Entwicklung lässt sich vor diesem Hintergrund zu Recht als Entwicklung einer posse-Metaphysik

270

6. Schluss

beschreiben. Dabei geht es, wie die Analysen zeigen, im Kern um die Explikation der unendlichen Einheit als dynamische Einheit, in der epistemologische und begriffliche Prozessualität als eine Teleologie der göttlichen Wahrheit ad infinitum organisiert ist. In dieser Metaphysik hat der Möglichkeitsbegriff eindeutig vermittelnde sowie kompensatorische Funktion für den Grundwiderspruch zwischen Transzendenz und Immanenz des Absoluten. Mit dem Möglichkeitsbegriff übersetzt Cusanus den Widerspruch zwischen Endlichem und Unendlichem, konjekturaler und adäquater Erkenntnis in die Idee unbegrenzter epistemischer und begrifflicher Perfektibilität. Diese Idee ist dem aristotelischen Begriff der potentiellen Unendlichkeit vergleichbar, unterscheidet sich aber dadurch, dass sie die Erreichbarkeit des Ziels in Form absoluter Erkenntnis potentialiter einschließt. Die Möglichkeiten des menschlichen Denkens entscheiden somit über das Gelingen des metaphysischen Vorhabens; ein Vorhaben, dem die Extreme zwischen Agnostizismus und Pantheismus, Skeptizismus und Optimismus immanent sind. Der Möglichkeitsbegriff kompensiert die Ablösungstendenz zwischen den Extremen, indem er sie modalisiert. Die Arbeit führte die Konsequenzen für die Methode der docta ignorantia, die Signifikationstheorie und die Geistphilosophie mit folgendem Ergebnis aus: Die Epistemologie des wissenden Nichtwissens impliziert eine modale Differenz, die als mögliche Unmöglichkeit erklärt wurde und die Metaphysik methodisch trägt. Diese Differenz beschreibt das Scheitern als Methode, indem, so hatten wir formuliert, das Maß für die Möglichkeit des Wissens die Unmöglichkeit dieses Wissens ist; zum anderen gibt sie mittels ihrer paradoxalen Struktur eine andere, nämlich die koinzidentale Möglichkeit der Gotteserkenntnis an. Mit dem Koinzidenzprinzip erweitert Cusanus radikal den Raum des Möglichen; ein Raum, für den Aristoteles die Eckdaten mit seiner Modallogik festlegte. Der spätmittelalterliche Ansatz kann über die antiken Vorgaben hinausgehen, indem er sie zugleich als Bedingungen der eigenen Überlegungen nicht negiert: Die rationallogische Möglichkeit, die für den NWS maßgeblich ist, wird um die transrationale oder translogische oder koinzidentale und diese wiederum um die transintellektuale oder transkonjekturale Möglichkeit ergänzt. Erst unter dieser modalen Voraussetzung kann eine Theorie des Intellekts formuliert werden, die den Anforderungen einer Erkenntnis des Absoluten gerecht wird. Ohne den erweiterten Möglichkeitsbegriff und die Relativierung des an die logische Möglichkeit gekoppelten NWS wäre die cusanische Metaphysik nicht möglich. Aristoteles’ Substanzmetaphysik und seine Satzkonzeption stehen diesem erweiterten Möglichkeitsbegriff entgegen. Allerdings nutzt der Stagirit systematisch die modallogische Bestimmung der Kontingenz um das zweiseitige Vermögen jeder physischen Substanz im sublunaren Bereich als einen gegenwärtigen Zustand der Indefinitheit von Sein und Nichtsein zu charakterisieren, der zu-

6. Schluss

271

künftige Möglichkeiten einschließt. Auf diese Weise kann er einerseits die Einschränkung des NWS sowie die Kontradiktion von ‚Sein – Nichtsein‘ ohne die Gefahr der Inkonsistenz in seiner Metaphysik zulassen und Aspekte der vorsokratischen Positionen integrieren. Andererseits bleibt der Primat der Wirklichkeit und damit auch der ersten Prinzipien innerhalb der Korrelation unangetastet. Definitheit ist erst mit der widerspruchsfreien Aktualisierung eines Vermögens und durch die Form gegeben. Anders gesagt: Der Möglichkeitsbegriff erklärt ontologische Indifferenz als eine Temporalisierungs- und Differenzierungsbedingung des Seienden. So hat er auch eine Übersetzungsfunktion innerhalb des σύνολον für die Materie. Sie wird zu einer Seinsweise, in der die Identität einer Sache der Möglichkeit nach bereits vorliegt. Materie erhält den Charakter einer potentiellen Substanz oder eines potentiellen Wesenswas (τί ἦν εἶναι). Allerdings hat der Kontingenzbegriff, wie die Untersuchung deutlich macht, auch seine Schattenseite und trägt, indem der wahrnehmbaren Substanz ein prinzipielles Maß an Indefinitheit (Noch-Nicht- und Nicht-Mehr-Sein) konstitutiv zukommt, ein systematisches Moment der Instabilität in die Metaphysik des Aristoteles: Die Einheit der οὐσία αἰσθητή ist die Einheit der Differenz von Aktualität und Potentialität, Definitheit und Indefinitheit. Sie gehört zwar notwendig einer bestimmten Art an und ist als solche prinzipiiert, dennoch unterliegt sie permanenten Veränderungsprozessen und möglichen störenden Einflüssen, die nicht allein ihre Akzidentien, sondern auch ihre substantielle Existenz selbst betreffen können. Aristoteles kann zwar auf diese Weise den Problemen einer ‚Empirie der Prozessualität‘ begegnen, muss aber im strengen Sinn eine paradoxe Modalbestimmung in Kauf aufnehmen: Die Einheit der physischen Substanz verdankt sich notwendig der eidetischen Aktivität und ist der hyletischen Potentialität wegen zugleich kontingent. In der sublunaren Welt ist sie letztlich eine kontingente Einheit, die zwischen reiner Potentialität – der Materie an sich – und reiner Aktualität – der Form an sich – existiert. Zugleich sichert der Kontingenzbegriff den Kosmos gegen Stagnation und strikte Prädetermination ab. Aristoteles hat der ontischen Kontingenz mit der Einführung der potentiellen Inhärenz bei allem Sichverändernden Rechnung getragen und dadurch das prinzipielle Maß an Indifferenz bedacht. Hier zeigt sich der metaphysische Ursprung der Modalitäten als ‚reflektierende Sprachschicht‘. Der ontologischen Konstellation korrespondiert ein Sprachmodus, der propositional strukturiertes Erkennen flexibel gestaltet, indem er es modalisiert. Aristoteles führt, wie im Einzelnen dargelegt wurde, die bis heute gültige Differenzierung zwischen prädikativer und propositionaler Verwendung der zweiseitigen Möglichkeit ein. Mit der prädikativen Modalisation wird eine indefinite Prädikation erzielt, die auch die noch nicht vollendete Genese einer Substanz erfasst und Störungen der teleologischen Verwirklichung berücksichtigen kann.

272

6. Schluss

Auch für die Wesensdefinition weist die Untersuchung zu Aristoteles die ambivalente Bedeutung des Kontingenzbegriffs nach. Unter der Betrachtung von ‚Begriffsteleologie und Möglichkeitsstrukturen‘ des menschlichen Denkens zeigt sich, dass aufgrund der eigentümlichen Strukturierung von Gattung und Differenz sowie der mentalen Prozesse die Definitionen der Formen eine strukturelle Schwierigkeit aufweisen. Das dihairetische Verfahren kann trotz und wegen seines inhärenten Begriffstelos nicht ausschließen, dass Definitionen gerade auch für primäre Substanzen kontingenterweise notwendige Wahrheit sind. Die Tatsache, dass menschliches Denken bei der Realisierung begrifflicher Intensionen irren kann, ist, wie die Interpretation aufweist, an dessen dynamische Struktur gebunden, die als die ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ charakterisiert wurde. Zudem verdeutlicht die Arbeit, wie analytisch verfahrendes Denken selbst ein Widerspruchsmittleres zwischen den dihairetischen Optionen sein muss, da es Possibilitäten und Kompossibilitäten für die Begriffsbildung generiert und prüft. Somit gilt schon bei Aristoteles, ohne dass dieser den Umstand reflektiert, dass NWS und SAD im bestimmten Denkphasen eingeschränkt sind – eingeschränkt sein müssen, um am Ende widerspruchsfreie Begriffe oder Definitionen zu verwirklichen. Anders wiederum stellt es sich für die spätmittelalterliche Position dar. Hier hat der Möglichkeitsbegriff einen doppelten Explikationswert für die Signifikationstheorie: Zum einen wird der metaphysische Ursprung ontischer wie signifikatorischer Vielheit – das nomen ineffabile – als unendliche Möglichkeit der Signifikation bestimmt und zur Bedingung aller möglichen In- und Extensionen einer konventionellen Sprache. Zum anderen gewinnt die konventionelle Sprache aus der Differenz zu diesem Ursprung ihre Dynamik unbegrenzter Signifikationspraxis und wird selbst zur quasi-unendlichen Möglichkeit der Bedeutungsdifferenzierung erklärt. Cusanus sieht mithin jede begrenzte Wortbedeutung, vor allem für die Namen des Absoluten, in den potentiell unendlichen Verweisungszusammenhang aller Bedeutungen, die nie als ganze in einem Begriff aktualisiert sind, gestellt. Dennoch entwickelt er mit dem conceptus absolutus die Einheit eines Begriffs an sich, die den anaxagoreischen Gedanken vom πάντα ἕν aufnimmt und eine Konzeption des semantischen, ontologischen und epistemologischen Holismus darstellt. Aristoteles hingegen schließt gerade diese Art von Verweisungsholismus mit seinem Negationsbegriff, der alles, was ‚Nicht-X‘ (z. B. Menschsein) umfasst, aus. Ihm geht es um die Sicherung semantischer Distinktheit unabhängig von einem metaphysischen Signifikationsprinzip. Cusanus betont die prinzipielle Vagheit aller Distinktionen ad placitum, die zwar für die rationale Sprachpraxis ausreichend distinkt sind, nicht aber für die realessentielle Benennung des Signifikationsursprungs und der Wesen der Dinge. Hier bleiben alle Begriffe korrigibel.

6. Schluss

273

Konstitutive Bedeutung hat der Möglichkeitsbegriff für die Theorie des menschlichen Geistes (mens humana). Dies gilt, wie die Untersuchung belegt, sowohl für die verschiedenen Assimilationsprozesse als auch für die Gesamtdynamik der innermentalen Ebenen untereinander. Die Leistungen des Geistes lassen sich nach der erweiterten Modallogik in rationale, transrationale/koinzidentale und transintellektuale/transkonjekturale Möglichkeit unterscheiden. Dabei legt die Modalisierung keine statische Struktur fest, sondern spricht jeder der innermentalen Instanzen als Teil der Selbstvervollkommnung des Geistes ein ‚Transformationspotential‘ im Raum des Möglichen bis zur visio absoluta zu. Cusanus entfernt sich hier am weitesten von der gegenstandsgebundenen Logik des Aristoteles. Die Ebenen der mens kommen gleichsam ins Fließen: Was für den Verstand unmöglich ist – die coincidentia oppositorum –, wird der Vernunft zur Notwendigkeit; was den Verstand notwendig bestimmt – der NWS –, ist nur eine Möglichkeit des Geistes. Weiterhin ist die Möglichkeitssemantik entscheidend für die Interpretation der einfaltenden wie ausfaltenden Kraft (vis) des Intellekts: Die Einfaltung ist das maximum begrifflicher Potentialität. Alle Begrifflichkeit hat in ihr ihren einfachen koinzidentalen Ursprung. In dieser Hinsicht ist die mens wie der intellectus possibilis des Aristoteles: nichts von allem und alles Mögliche zugleich. Aristoteles hat erstmals klar herausgestellt, dass die Vernunft sich nicht allein über ihre Tätigkeit erklärt, sondern über ihren prinzipiell unbegrenzten Möglichkeitshorizont. Als νοῦς δυνάμει ist er die reine Potentialität und Possibilität des Denkens. Die antike Konzeption formuliert somit eine wesentliche Voraussetzung für die spätmittelalterliche Geistphilosophie. Gerade der Aspekt des Alles-denken-Könnens, den Aristoteles im νοῦς δυνάμει anlegt, aber philosophisch nicht weiter nutzt, bietet für Cusanus den Begriff, die Vernunft als transrationale Einheit aller Entgegensetzungen zu denken. Die Ausfaltung wurde als Realisierung der Potentialität interpretiert, wobei es sowohl um unbegrenzte Begriffskomplexität für die rationale Welterschließung als auch unbegrenzte Annäherung an das göttlich Absolute geht. Begriffliche Potentialität in begriffliche Aktualität zu überführen ist Ziel der innermentalen Dynamik der mens. Allerdings greift hier die Idee der Perfektibilität ad infinitum, die letztlich nur, wie dargelegt wurde, im Moment der Selbstranszendierung der Vernunft – in ihrer höchsten Möglichkeit (in suprema potentia) – aufgehoben werden kann. Paradox formuliert: Die Möglichkeit der Selbsterfüllung ist die Selbstranszendierung. Aus systematischer Perspektive macht die Untersuchung deutlich, wie radikal Cusanus einerseits mit seinem Koinzidenzprinzip den modallogischen Raum des Aristoteles überschreitet und die Möglichkeiten des Denkens erweitert, wie er aber andererseits die Mentaldynamik insgesamt innerhalb der δύναμις-ἐνέργεια-Dif-

274

6. Schluss

ferenz ablaufen lässt. Die semantische und epistemische Teleologie/Perfektibilität basiert auf dem aristotelischen Prozessmodell. Cusanus verwendet den Möglichkeitsbegriff für eine zweideutige Bewertung des menschlichen Geistes: Er erkennt, dass die größte Nähe und die kleinste Entfernung zum Göttlichen nicht über Wirklichkeits-, sondern über Möglichkeitszuschreibungen erreicht werden. Der möglichen Vernunft kommt noetische und begriffliche Omnipotenz zu, die den ‚menschlichen Gott‘ aber zugleich, da es ihm nicht möglich ist, die reine Aktualität der göttlichen Vernunft zu sein und das Wesen der Dinge zu wissen, begrenzt. Somit ist der Potentialitätsbestimmung der mens humana bei aller Leistungsauszeichnung die Nichtidentität mit der Wirklichkeit des Absoluten eingeschrieben und von ihr abhängig. Dass darin wiederum die besondere Dignität der menschlichen Existenz besteht, legt die Interpretation der ‚Möglichkeitshorizonte‘ und der ‚doppelten Kontingenz‘ nahe. Die Analyse zum Möglichkeitsbegriff in der Geistphilosophie macht deutlich, dass der mens humana mit ihrer spezifischen Kraft ein Potential eigen ist, welches die Idee unbegrenzter Perfektibilität als Annäherung an das transzendent Absolute unterlaufen kann. Die noetische wie begriffliche Omnipotenz und die epistemische Perfektibilität entfalten sich unter Umständen auch ohne Bindung an das theologische Motiv der Gotteserkenntnis. Die Differenz zwischen der göttlichen praecisa veritas und unserem Erkenntnisvermögen ist latent anfällig für ihre Auflösung: Die Potentialität der mens humana lässt sich von der Zielbestimmung, die absolute Wahrheit erreichen zu müssen, abkoppeln. Die Frage, wie Gott möglich sei, löste die religiöse Prämisse des Göttlichen als unhintergehbares Prinzip auf. Gott ist möglich, weil er Möglichkeit des Denkens ist. Nach Aufgabe dieser Prämisse bliebe dann eine pragmatische Teleologie des Wissens, die allein auf die Potentialität der mens und ihrer erfolgreichen Welterschließung bzw. -beherrschung setzte. Damit wird der Sinn des Gottesbegriffs nicht in Frage gestellt, aber prinzipientheoretisch relativiert. Cusanus konnte diese Freisetzung nicht denken. Sie war ihm historisch nicht möglich, ist aber eine theoretische Möglichkeit seiner Metaphysik. Einen besonderen Stellenwert hat daher der letzte Gottesname. Die Analyse bestätigt die These, dass dieser Begriff nicht nur kontingenterweise das Thema der letzten Schrift ist, sondern in systematischer Hinsicht den Kulminationspunkt der zunehmenden Ausformulierung oder Radikalisierung einer Könnens- und Möglichkeitsmetaphysik darstellt. In De apice theoriae beweist sich in besonderer Weise der enge Zusammenhang von Möglichkeitsbegriff und Letztbegründung durch die Koppelung von Substanzreduktionismus und erweitertem Modalgefälle (Na→a→Ma→Mipsum). Aus dieser Perspektive ist jede Metaphysik, die ausschließlich das Sein zum ersten Prinzip erklärt, könnens- oder möglichkeitsvergessen. Cusanus nennt in einer Art philosophiehistorischem Rückblick alle bisherigen

6. Schluss

275

Letztbegründungen oder Erstprinzipien – sogar das Eine selbst – als verwirklichte Möglichkeiten des posse ipsum.⁶⁸² Der Anspruch auf voraussetzungslose Letztbegründung wird dadurch, wie dargestellt wurde, durchaus plausibel vertreten und das problematische Verhältnis zwischen Transzendenz und Immanenz entschärft. Hierfür setzt Cusanus die aristotelischen Modalitäten voraus, um über ihre verschiedenen inhaltlichen Bereiche (Aussagen, Sachverhalte, Erkenntnisse, Handlungen) die Anwesenheit des posse ipsum im Alltäglichen aufzudecken. Darin beweist sich noch einmal die antihierarchische Ausrichtung der cusanischen Metaphysik gegen die aristotelische Kosmologie. Die Immanenz (explicatio) des Absoluten schließt das Prinzip eines externen unbewegten Bewegers grundsätzlich aus. Der Möglichkeitsbegriff hat somit auch die Funktion, Gott gegen die Ausschließlichkeit der Transzendenz abzusichern. Kritisch ist anzumerken: Indem im posse ipsum alle Weltinhalte zu Modi des Absoluten werden, ist Cusanus am Weitesten vom aristotelischen Substanzpluralismus entfernt, bleibt aber zugleich im Rahmen der οὐσία-Konzeption. Er löst daher gerade nicht, wie schon Norbert Winkler gegen Heinrich Rombach und Klaus Jacobi anführt, die Substanz funktional auf, im Gegenteil⁶⁸³: Sein radikaler Reduktionsansatz etabliert das Ein-Substanz-Modell als unendliche Einheit – was an Spinoza erinnert. Es gibt nur ein εἶδος (infinita forma). Damit aber bestätigt sich noch in der letzten Schrift die Ambivalenz zwischen relationseinschließender und relationsloser Einheit. Die Differenz zu allem Endlichen wird substanzintern durch die δύναμις-ἐνέργεια-Relation vermittelt: Reine Aktualität kommt nur der unendlichen Form an sich zu; alles Endliche ist in seiner begrenzten Possibilität und Potentialität auf diese Aktualität bezogen. Die Idee unendlicher Perfektibilität hat hier ihren systematischen Ort und erklärt den Zusammenhang zwischen Möglichkeitsbegriff und Substanzbegriff in der Metaphysik des Einen: Mit ihr dynamisiert Cusanus den gnoseologischen und usiologischen Zusammehang zwischen wissendem Nichtwissen und unendlicher Form als unendlicher Möglichkeit der Signifikation. Zwar ist auch Aristoteles ein Denker der Dynamik. Er braucht den Möglichkeitsbegiff, um die Substanz prozessual beschreiben zu können. Das Unendliche bleibt dabei aber ein Grenzbegriff, ohne theoriekonstitutive Bedeutung, oder genauer gesagt: dessen Bedeutung darin besteht, die metaphysische und sprachpragmatische Notwendigkeit endlicher Substanzen zu verdeutlichen. Aristoteles befriedet das Unendliche, wohingegen Cusanus es im Rahmen des theologischen Diskurses zur Voraussetzung und zum Ziel hat.

 Vgl. De ap. th. n. 14, 127, 9 und n. 15, 128, 5 – 7 sowie 129, 13 – 15. Bemerkenswert ist, dass Gott nur als eine Position in der Aufzählung Erwähnung findet.  Winkler 1991, 1082.

276

6. Schluss

Weiterhin erlaubt es die Semantik des Modalausdrucks ‚posse‘, der Forderung nach indefiniter Definitheit nachzukommen und das Signifikationsproblem des Absoluten sinnvoll zu kompensieren. Verknüpft mit der usiologischen Reduktion ist daher das posse ipsum nicht, wie die Kantische Idee Gottes, als „oberste Bedingung der Möglichkeit …“⁶⁸⁴ zu interpretieren, sondern als die Möglichkeit der Bedingung der Möglichkeit. Das markiert den Unterschied zwischen beiden Metaphysiken: Die transzendentale Idee ist nur logisch möglich, mithin widerspruchsfrei denkbar. Für Cusanus ist das posse ipsum als absolute Möglichkeit, das alle Unterscheidungen oder Widersprüche ermöglicht, die Bedingung für diese Denklogik. Es ist die ununterschiedene Ermöglichung der unterscheidbaren Bedingungen. Die Metaphysik Kants bleibt für Cusanus auf prinzipientheoretischer Ebene defizitär, weil sie gemäß dem NWS und somit unter der Bedingung des Verstandes konzipiert ist. Kants reine Gedankendinge oder Vernunftideen sind die Folge eines ausschließlich rational verfahrenden Denkens, dass aufgrund seines Prinzips nicht in der Lage ist, die koinzidentale Struktur zu erfassen, und hinter dem zurückbleibt, was zu denken möglich und erforderlich ist. Schließlich ist dem posse ipsum als Möglichkeit der Bedingung der Möglichkeiten ein Gedanke immanent, der der Idee eines finalen Prinzips entgegenläuft: der infinite Regress. Die Interpretation des posse ipsum als selbstdefinierenden Begriff und das Argument für die ‚Unmöglichkeit des Zweifelns‘ legen diesen Gedanken nahe. Zum einen beweist die Möglichkeit des Zweifelns die Unmöglichkeit des Zweifelns an der Möglichkeit der Bedingung jeden ZweifelnKönnens; die letztbegründende Stellung des posse ipsum wird dadurch gegen jeden Zweifel immunisiert. Zum anderen beantwortet die modale Selbstdefinition die fundamentalmetaphysische Frage, wie alles andere und der Ursprung von allem anderen überhaupt möglich ist, mit dem Können allen Könnens (posse omnis posse). Verkürzt formuliert: Der Ursprung begründet sich selbst als Möglichkeit der Möglichkeit oder Können des Könnens. Der für die Metaphysik eingesetzte Möglichkeitsbegriff überführt die Unhintergehbarkeit des Absoluten in einen unendlich zirkulären oder iterativen Regress (oder Progress) der Möglichkeit (oder des Könnens). Mit dem letzten Gottesnamen ist damit die adäquate Benennung des Unendlichen und dessen Begründung erreicht. Pointiert formuliert, kann statt von einer Seinsvergessenheit von einer Könnens- oder Möglichkeitsvergessenheit der abendländischen Metaphysik gesprochen werden. Tatsächlich hat Cusanus den infiniten Regress an der früheren Schrift De Principio explizit zugelassen, um das Unendliche als Ursprung des Ursprungs im

 Kant, KrV, B 391.

6. Schluss

277

Sinne unendlicher Selbstentgrenzung zu denken.⁶⁸⁵ Allerdings geht es ihm hier um die Wirklichkeit der Unendlichkeit oder die unendliche Wirklichkeit. Der infinite Möglichkeitsregress ist für ihn, auch wenn der Gedanke in De apice theoriae angelegt ist, eine unzulässige Erklärung des Absoluten. In ihm löst sich jede inhaltliche Fixierung an ein finalisiertes oder ätiologisches Absolutes auf. Semantisch begrenzte Begriffe wie ‚Form‘, ‚Materie‘, ‚Sein‘ oder das ‚Eine‘ sind nur realisierte Möglichkeiten in diesem Regress oder Progress und Ausdruck der unendlichen Möglichkeit der Signifikation und Letztbegründung. Darin verbirgt sich die destruktive Wirkung der posse-Metaphysik und des Möglichkeitsbegriffs für jede Wirklichkeitsmetaphysik. Cusanus scheint das destruktive Potential in seiner letzten Namenskonzeption geahnt zu haben und identifiziert es – erst am Schluss von De apice theoriae – explizit mit dem christlich-theologischen Gehalt Gottes. Gemäß der Logik seiner metaphysischen Spekulation bleibt diese Zuschreibung aber wenig überzeugend. Die Könnensmetaphysik lässt in ihrer Dynamik keine finale Fixierung oder Identifizierung auf eine Wirklichkeit zu. Für Cusanus hingegen ist ‚Gott‘ die absolute Wirklichkeit und nicht eine realisierte Möglichkeit im infiniten Möglichkeitsregress. Er beschränkt die Möglichkeiten seiner letzten Namenstheorie zugunsten der theologischen Vorgabe: Das posse ipsum bleibt ein Name, der trotz aller spekulativen Zugewinne ein aenigma für den unbegreiflichen Gott darstellt, dessen Wirklichkeit man sich nur konjektural annähern kann. In dieser Entscheidung zeigt sich, genauso wie bei der mens humana, die Grenze der historischen Diskursbedingung gegenüber dem philosophischen Potential der posseMetaphysik. Cusanus ist über diese Grenze nicht hinausgegangen, insofern hat er nicht zu Ende gedacht, was er hätte denken können; aber er hat durch seine Spekulation sichtbar gemacht, was noch denkbar ist.

 Vgl. De princ. n. 13, 15, 1– 5. Ein „gänzlich neuartige[r] – um nicht zu sagen: unerhörte[r] Gedanke“, wie Burkhard Mojsisch 2004, 262 zu Recht bemerkt.

Literaturverzeichnis Antike und mittelalterliche Texte: Ausgaben, Übersetzungen, Kommentare Aristoteles Aristoteles, Opera, ed. Academia Regia Borussica [= Bekker-Ausgabe], 5. Bde., Berlin 1831 – 1870. —, Categoriae et Liber de interpretatione, ed. L. Minio-Paluello, Oxford 1949 [Repr. 1992]. —, Categories and De Interpretatione, ed. J. L. Ackrill, Oxford 1963 [Repr. 1979]. —, De Motu Animalium, Transl., Comm., Interpret. by M. Nussbaum, Princeton 1978. —, Metaphysics, ed. W. D. Ross, Oxford 1950 [Repr. 1988]. —, Analytica posteriora, in: Aristotelis, Analytica priora et Posteriora, ed. W. D. Ross, Oxford 1964. —, Analytica priora, in: Aristotelis, Analytica priora et Posteriora, ed. W. D. Ross, Oxford 1964. —, De anima, ed. W. D. Ross, Oxford 1956 [Repr. 1989]. —, De caelo libri quattuor, ed. D. J. Allan, Oxford 1936 [Repr. 2005]. —, De Generatione et Corruptione, ed. C. J. E. William, Oxford 1982. —, Metaphysica, 2 Bde., ed. W. Jaeger, Oxford 1924 [Repr. 1997]. —, Metaphysics, Books Τ, Δ and Ε, ed. C. Kirwan, Oxford 21993. —, Metaphysics, Books Ζ and Η, transl. with Comm. by D. Bostock, Oxford 1994. —, Metaphysik, gr.-dt., 2 Bde., übers. v. H. Bonitz, neubearb., komm. u. hrsg. v. H. Seidl, Hamburg 31989 u. 31991. —, Nicomachean Ethics, Transl., Intro., Comm. by S. Broadie/C. Rowe, Oxford 2002. —, On Coming-to-Be and Passing-Away, ed. H. H. Joachim, Oxford 1922. —, Physica, ed. W. D. Ross, Oxford 1950 [Repr. 1988]. —, The Complete Works of Aristotle, 2 Bde., ed. J. Barnes, Princeton 1984. —, Topica and Sophistici Elenchi, ed. W. D. Ross, Oxford 1958. —, Topik, Übers., Einl., Komm. v. C. Rapp/T. Wagner, Stuttgart 2005. Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, begr. v. E. Grumach, hrsg. v. H. Flashar/C. Rapp, Berlin/Darmstadt 1965 ff. —, Analytica Posteriora, 2 Bde., übers. u. erl. v. W., Bde. 3/II, Berlin 1993. —, Analytica priora. Buch I, übers. u. erl. v. Th. Ebert/U. Nortmann, Bd. 3/I.1, Berlin 2007. —, Kategorien, übers. u. erl. v. K. Oehler, Bd. 1/I, Berlin 42006. —, Nikomachische Ethik, übers. u. komm. v. F. Dirlmeier, Bde. 6, Berlin 101999. —, Peri hermeneias, übers. u. erl. v. H. Weidemann, Bd. 1/II, Berlin 22002. —, Physikvorlesung, übers. u. erl. v. H. Wagner, Bd. 11, Berlin 51995. —, Über den Himmel, übers. u. erl. v. A. Jori, Bd. 12/III, Berlin 2009. —, Über die Seele, übers. u. erl. v. W. Theiler, Bd. 13, Berlin 61983. —, Über Werden und Vergehen, übers. u. erläut. v. Th. Buchheim, Bd. 12/IV, Berlin 2010. Burnyeat, M. (Hrsg.), Notes on Book Ζ of Aristotle’s Metaphysics, Osford 1979. Burnyeat, M. (Hrsg.), Notes on Books Η and Θ of Aristotle’s Metaphysics, Oxford 1984.

Antike und mittelalterliche Texte: Ausgaben, Übersetzungen, Kommentare

279

Diels, H./Kranz, W. (Hrsg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, 2 Bde., Zürich/Hildesheim 6 2004 – 2005. Platon, Theaitet, in: Werke, 8 Bde., griech.-dt., G. Eigler (Hrsg.), Darmstadt 21990. Reale, G., La Metafisica, traduzione, introd. e comm., Neapel 1968. Smith, R., Aristotle. Topics Books I and VIII and Selections, Oxford 1997. Tricot, J, La Metaphysique, nouv. ed. avec comm., 2 Bde., Paris 1966.

Nikolaus von Kues Nicolaus de Cusa, Opera omnia, iussu et auctoritate Academiae litterarum Heidelbergensis ad codicum fidem edita, Leipzig/Hamburg 1932 sqq. —, Apologia doctae ignorantiae, ed. R. Klibansky, Bd. II, Leipzig 1932. —, De apice theoriae, ed. R. Klibansky/J. G. Senger, Bd. XII, Hamburg 1982. —, Compendium, ed. B. Decker/C. Bormann, Bd. XI/3, Hamburg 1964. —, De aequalitate (vita erat lux hominum), ed. J. G. Senger, Bd. X/Fasc. 1: Opuscula II, Hamburg 2001. —, De beryllo, ed. J. G. Senger/C. Bormann, Bd. XI/1, Hamburg 1988. —, De docta ignorantia, ed. E. Hoffmann/R. Klibansky, Bd. I, Leipzig 1932. —, De coniecturis, ed. I. Koch/C. Bormann/J. G. Senger, Bd. III, Hamburg 1972. —, Dialogus de ludo globi, ed. J. G. Senger, Bd. IX, Hamburg 1998. —, Directio speculantis seu de non aliud, ed. L. Baur/P. Wilpert, Leipzig 1944. —, Idiota de mente, ed. L. Baur/R. Steiger, Bd. V, Hamburg 1983. —, Idiota de sapientia, de mente, ed. L. Baur/R. Steiger, Bd. V, Hamburg 1983. —, De principio [Tu quis es], ed. C. Bormann/A. D. Riemann, Bd. X/Fasc. 2b, Hamburg 1988. —, Trialogus de possest, ed. R. Steiger, Bd. XI/2, Hamburg 1973. —, De venatione sapientiae, ed. R. Klibansky/J. G. Senger, Bd. XII, Hamburg 1982. —, De visione Dei, ed. A. D. Riemann, Bd. VI, Hamburg 2000. Schriften des Nikolaus von Kues in deutscher Übersetzung. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. E. Hoffmann/P. Wilpert/K. Bormann, Leipzig/Hamburg 1936 ff. —, Die höchste Stufe der Betrachtung (De apice theoriae), lat.-dt., übers. u. hrsg. v. H. G. Senger, Hamburg 1986. —, Die belehrte Unwissenheit I-III (De docta ignorantia), lat.-dt., übers. u. hrsg. v. P. Wilpert/H. G. Senger, Hamburg 1977 ff. —, Dreiergespräch über das Können-Ist (Trialogus de possest), lat.-dt., übers. u. hrsg. v. R. Steiger, Hamburg, 31991. —, Vom Nichtanderen (De li non aliud), dt., übers. u. hrsg. v. P. Wilpert, Hamburg 31987. —, Der Laie über die Weisheit (Idiota de sapientia), lat.-dt., hrsg. R. Steiger, Hamburg 1988. —, Der Laie über den Geist (Idiota de mente), übers. u. hrsg. v. R. Steiger, Hamburg 1995. —, Über den Beryll (De beryllo), lat.-dt., übers. u. hrsg. K. Bormann, Hamburg 42002. —, Drei Schriften vom verborgenen Gott (De deo abscondito, De quaerendo deum, De filiatione dei), hrsg. E. Bohnenstaedt, Hamburg 31958, unver. ND 1967. —, Kompendium (Kurze Darstellung der philosophisch-theologischen Lehren), lat.-dt., übers. u. hrsg. B. Decker/K. Bormann, Hamburg 31996. —, Mutmaßungen (De coniecturis), übers. u. hrsg. v. J. Koch/W. Happ, Hamburg 21988.

280

Literaturverzeichnis

—, Gespräch über das Globusspiel (Dialogus de ludo globi), lat.-dt., hrsg. v. G. v. Bredow, Hamburg 2000. —, Über den Ursprung (De principio), hrsg. v. K. Bormann, Hamburg 2001. —, Die Jagd nach Weisheit (De venatione sapientiae), lat.-dt., hrsg. v. K. Bormann, Hamburg 2003. —, Von Gottes Sehen (De visione dei), dt., übers. V. E. Bohnenstaedt, Leibzig 21944.

Sonstige Literatur Ackrill, J. L., „Aristotle’s distinction between energeia ans kinesis“, in: R. Bambrough (Hrsg.), New Essays on Plato and Aristotle, London 1965, 121 – 141. Alvarez-Gómez, M., Die verborgene Gegenwart des Unendlichen bei Nikolaus von Kues, München 1968. Apel, K. O., „Die Idee der Sprache bei Nikolaus von Kues“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 1 (1955), 200 – 221. Arnim, H. von, „Die Entwicklung der aristotelischen Gotteslehre“, in: F.-P. Hager (Hrsg.), Metaphysik und Theologie des Aristoteles, Wege der Forschung, Darmstadt 1969, 1 – 74. Arnold, U., Die Entelechie. Systematik bei Platon und Aristoteles, Wien1965. Arpe, C., Das τί ἦν εἶναι bei Aristoteles, Hamburg 1938 [ND 1976]. Bachelard, G., Epistemologie, ausgew. v. D. Lecourt, übers. v. H. Beese, Franfurt a. M., 1993. Bareuther, R., „Aristoteles zum Problem des Unendlichen“, in: J. Irmscher/R. Müller (Hrsg.), Aristoteles als Wissenschaftstheoretiker. Eine Aufsatzsammlung, Berlin 1983, 127 – 130. Bärthlein, K., „Über das Verhältnis des Aristoteles zur Dynamislehre der griechischen Mathematiker“, in: Rheinisches Museum 108 (1965), 36 – 61. Bärthlein, K., „Untersuchungen zur aristotelischen Modaltheorie“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 45 (1963), 43 – 67. Bärthlein, K., Die Transzendentalienlehre der alten Ontologie, I. Teil: Die Transzendentalienlehre im Corpus Aristotelicum, Berlin/New York 1972. Becker, A., Die aristotelische Theorie der Möglichkeitsschlüsse. Eine logisch-philologische Untersuchung der Kapitel 13 – 22 von Aristoteles’ Analytica priora I, Darmstadt 21968. Becker, O., Untersuchungen über den Modalkalkül, Meisenheim a. G. 1952. Becker-Freyseng, A., Die Vorgeschichte des philosophischen Terminus ‘contingens′. Die Bedeutungen von ‘contingere′ bei Boethius und ihr Verhältnis zu den aristotelischen Möglichkeitsbegriffen, Heidelberg 1938. Beierwaltes, W., „Deus oppositio oppositorum (Nikolaus Cusanus, De visione Dei XIII)“, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie 8 (1964), 175 – 1985. Beierwaltes, W., Denken des Einen, Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1985. Beierwaltes, W., Identität und Differenz, Frankfurt a. M. 1980. Beierwaltes, W., Platonismus im Christentum, Frankfurt a. M. 1998. Beierwaltes, W., Visio facialis – Sehen ins Angesicht. Zur Coincidenz des endlichen und unendlichen Blicks bei Cusanus , in: R. Haubst (Hrsg.), Das Sehen Gottes nach Nikolaus von Kues. Akten des Symposions in Trier vom 25. Bis 26. September 1986, Trier 1989, 91 – 124.

Sonstige Literatur

281

Beierwaltes, W., „Das Verhältnis von Philosopie und Theologie bei Cusanus“, in: ders, Fussnoten zu Plato, Frankfurt a. M. 2011, 143 – 179. Benz, H., Individualität und Subjektivität. Interpretationstendenzen in der Cusanus-Forschung und das Selbstverständnis des Nikolaus von Kues, Münster 1999. Berti, E., „Der Begriff der Wirklichkeit“, in: C. Rapp (Hrsg.), Aristoteles, Metaphysik. Die Substanzbücher (Ζ, Η, Θ), Berlin 1996, 298 – 311. Blumenberg, H., Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner, Frankfurt a. M. 1976. Blumenberg, H., Säkularisierung und Selbstbehauptung (= Erweiterte und überarbeitete Fassung von ‚Die Legitimität der Neuzeit‘ Teil I und II, 1966), Frankfurt a. M. 1974. Böhlandt, M., Verborgene Zahl – Verborgener Gott. Mathematik und Naturwissen im Denken des Nikolaus Cusanus (1401 – 1464), Stuttgart 2009. Böhlandt, M., Wege ins Unendliche. Die Quadratur des Kreises bei Nikolaus von Kues, Augsburg 2003. Bordt, M., Aristoteles’ Metaphysik XII. Übersetzung und Kommentar, Darmstadt 2006. Bredow, G. von, „Der Gedanke der singularitas in der Altersphilosophie des Nikolaus von Kues“, in: MFCG 4 (1964), 375 – 383. Bredow, G. von, „Der Geist als lebendiges Bild Gottes (mens viva dei imago)“, in: MFCG 13 (1978) 58 – 67. Bredow, G. von, „Der Sinn der Formel ‚Meliori modo quo‘“, in: MFCG 6 (1967), 21 – 26. Bredow, G. von, „Die Bedeutung des Minimum in der coincidentia oppositorum“, in: Nicolo’ Cusano, Agli inizi del mondo moderno, Firenze 1970. Bröcker, W., Aristoteles, Frankfurt a. M. 51987. Brüntrup, A., Können und Sein. Der Zusammenhang der Spätschriften des Nikolaus von Kues, München/Salzburg 1973. Buchheim, Th., „Funktionen des Physisbegriffs für die Metaphysik des Aristoteles“, URL = http://www.philosophie.uni-muenchen.de/lehreinheiten/philosophie_3/personen/ buchheim/publikationen/buchheim_2001.pdf [Englisch: Oxford Studies in Ancient Philosophy (20) 2001, 231 – 234]. Buchheim, Th., „Genese und substantielles Sein. Die Analytik des Werdens im Buch Ζ der Metaphysik (Ζ 7 – 9)“, in: C. Rapp (Hrsg.), Aristoteles, Metaphysik. Die Substanzbücher (Ζ, Η, Θ), Berlin 1996, 105 – 133. Buchheim, Th., „Was heißt ‘Immanenz der Formen‘ bei Aristoteles?“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 84 (2002), 223 – 231; mit Erweiterungen ebenfalls in: Prolegomena (Journal of Philosophy, Zagreb) 1, 2002, 5 – 17. Buchheim, Th., Aristoteles, Freiburg/Basel/Wien 1999. Buddensiek, F., Die Modallogik des Aristoteles in den Analytica Priora A, Hildesheim/Zürich/New York 1994. Büntrup, A., Können und Sein. Der Zusammenhang der Spätschriften des Nikolaus von Kues, München 1973. Cassin, B./Narcy, M., La Décision du Sens. Le Livre Gamma de la Métaphysique d’Aristote. Introduction, Texte, Traduction et Commentaire, Paris 1989. Cassirer, E., „Die Bedeutung des Sprachproblems für die Entstehung der neueren Philosophie“, in: FS für K. Meinhof, Hamburg 1927, 507 – 514. Cassirer, E., Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. I, Berlin 1906 [ND Darmstadt 1974]. Code, A., „Aristotle’s Metaphysics as a Science of Principle“, in: Revue Internationale de Philosophie 51 (1997), 357 – 378.

282

Literaturverzeichnis

Code, A., „Potentiality in Aristotle’s Science ans Metaphysics“, in: F. A. Lewis/R. Bolton (Hrsg.), Form, Matter and Mixture in Aristotle, Oxford 1996, 217 – 230. Code, A., „Which Science Investigates the Principle of Non-Contradiction?“, Canadian Journal of Philosophy 16 (1986): 341 – 358. Cohen, S. M., Aristotle on Nature and Incomplete Substance, Cambridge 1996. Colomer, E., Nikolaus von Kues und Raimund Lull, Bd. II, Berlin 1961. Cürsgen, D., Die Logik der Unendlichkeit. Die Philosophie des Absoluten im Spätwerk des Nikolaus von Kues, Frankfurt a. M. 2007. Dancy, R. M., Sense and Contradiction. A Study in Aristotle, Dordrecht/New York 1975. Dangelmayr, S., Gotteserkenntnis und Gottesbegriff in den philosophischen Schriften des Nikolaus von Kues, Meisenheim a. G. 1969. Derrida, J., „Die Différance“, in: Ders., Randgänge der Philosophie, hrsg. v P. Engelmann, Wien 1988, 29 – 52. Döring, K., Die Megariker. Kommentierte Sammlung der Testimonien, Amsterdam 1972. Dudley, J., Aristotle’s concept of chance: accidents, cause, necessity, and determinism, Albany 2012. Düring, I., Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, Heidelberg1966. Elpert, J. B., Loqui est revelare – verbum ostensio mentis. Die sprachphilosophischen Jagdzüge des Nikolaus Cusanus, Frankfurt a. M./Berlin/Bern/Bruxelles//New York/Oxford/Wien 2002. Enders, M., Zum Begriff der Unendlichkeit im abendländischen Denken. Unendlichkeit Gottes und Unendlichkeit der Welt, Hamburg 2009 Faust, A., Der Möglichkeitsgedanke. Systemgeschichtliche Untersuchungen, 2 Bde., Heidelberg 1931/1932. Flasch, K., Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277, Mainz 1989. Flasch, K., Einführung in die Philosophie des Mittelalters, Darmstadt 1987. Flasch, K, Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues. Problemgeschichtliche Stellung und systematische Bedeutung, Leiden 1973. Flasch, K., Nicolaus Cusanus, München 2001. Flasch, K., Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung. Vorlesung zur Einführung in seine Philosophie, Frankfurt a. M. 1998. Flashar, H., „Ältere Akademie, Aristoteles, Peripatos“, in: ders. (Hrsg.), Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, Bd. 3, Basel 22004. Fonfara, D., Die Ousia-Lehren des Aristoteles. Untersuchungen zur Kategorienschrift und zur Metaphysik, Berlin 2003. Frede, D., Aristoteles und die ‚Seeschlacht’. Das Problem der Contingentia Futura in De Interpretatione 9, Göttingen1970. Frede, M./Patzig, G. (Hrsg.), Aristoteles ‚Metaphysik Ζ’, Text, Übersetzung u. Kommentar, 2 Bde., Berlin 1988. Furth, M., „A ‚Philosophical Hero?’ Anaxagoras and the Eleatics“, in: Oxford Studies of Ancient Philosophy 9 (1991), 95 – 127. Gandillac, M. de, Nikolaus von Cues. Studien zu seiner Philosophie und philosophischen Weltanschauung, übertr. v. K. Fleischmann, Düsseldorf 1953. Garay, J. de, Diferencia y Libertad, Madrid 1992. Gaskin, R., The Sea Battle and the Master Argument. Aristotle and Diodorus Cronus on the Metaphysics of the Future, Berlin/New York, 1995. Geach, P., Logic Matters, Oxford 1972.

Sonstige Literatur

283

Geach, P., Reference and Genereality. An Examination of Some Medieval and Modern Theories, Ithaca/New York 1968. Gericke, H., Mathematik im Abendland. Von den römischen Feldmessern bis zu Descartes, Berlin/Heidelberg/New York/London/Paris/Tokyo/Hong Kong 1990. Granger, H., „Aristotle on Genus and Differentia, in: A. Preus A./Anton, J. O. (Hrsg.), Essays in Ancient Greek Philosophy, Vol. 2, Albany 1992. Grell, H., „Mathematischer Symbolismus und Unendlichkeitsdenken bei Nikolaus von Kues“, in: Wissenschaftliche Konferenz des Plenums der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin anlässlich der 500. Wiederkehr seines Todesjahres, Berlin 1965, 33 – 41. Grotz, S., Negationen des Absoluten. Meister Eckhart, Cusanus, Hegel, Hamburg 2009. Hafemann, B., Aristoteles’ Transzendentaler Realismus. Inhalt und Umfang erster Prinzipien in der ‚Metaphysik’, Berlin/New York 1998. Hafemann, B., „Indefinite Aussagen und das kontingent Zukünftige. Akzidenzien allgemeiner Gegenstände und gradueller Wahrheiten in Aristoteles’ De Interpretatione 7 und 9“, in: Philosophiegeschichte und logische Analyse 2 (1999), 109 – 137. Halfwassen, J., Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin. München/Leipzig 22006. Halfwassen, J., „Gott als Intellekt: Eckhart als Denker der Subjektivität,“ in: R. Schönberger/S Grotz, Meister-Eckhart-Jahrbuch 5, 2011, S. 13 – 25. Halfwassen, J., „Nikolaus von Kues über das Begreifen des Unbegreiflichen“, in: A. Speer/P. Steinkrüger (Hrsg.), Knotenpunkt Byzanz. Wissensformen und kulturelle Wechselbeziehungen, Berlin 2012, 510 – 525. Happ, H., Hyle. Untersuchungen zum aristotelischen Materiebegriff, Berlin/New York 1971. Hartmann, N., „Der Megarische und der aristotelische Möglichkeitsbegriff. Ein Beitrag zur Geschichte des ontologischen Modalitätsproblems“, in: Ders., Kleinere Schriften II, Berlin 2 1957. Haubst, R., Das Bild des Einen und Dreieinen Gottes in der Welt nach Nikolaus von Kues, Trier 1952. Haubst, R., „Die Erkenntnistheoretische und mystische Bedeutung der ‚Mauer der Koinzidenz‘“, in: MFCG 18 (1989), 167 – 191. Haubst, R., „Zum Fortleben Alberts des Großen bei Heimerich von Kamp und Nikolaus von Kues“, in: Studia Albertina, Suppl. Bd. 4 (1952), 420 – 447. Hegel, G. W. F., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Erster Teil, Die Wissenschaft der Logik mit den mündlichen Zusätzen, in: Werke 8, neu ed. v. E. Moldenhauer/K. Michel, Frankfurt a. M. 31992. Heidegger, M., Sein und Zeit, Tübingen 171993. Heinaman, R., „Activity and Change in Aristotle“, in: Oxford Studies of Ancient Philosophy 13 (1995), 187 – 216. Hennigfeld, J., Geschichte der Sprachphilosophie: Antike und Mittelalter, Berlin/New York 1993. Hintikka, J., „Aristotle on the Realisation of Possibilities in Time“, in: S. Knuuttila (Hrsg.), Reforging the Great Chain of Being. Studies of the History of Modal Theories, Dodrecht 1981, 57 – 72. Hintikka, J., Aristotle on Modality and Determinism, in collab. w. U. Remes/S. Knuuttila. Amsterdam 1977. Hintikka, J., Time and Necessity. Studies in Aristotle’s Theory of Modality, Oxford, 1973.

284

Literaturverzeichnis

Hirschberger, J., „Das Prinzip der Inkommensurabilität bei Nikolaus von Kues“, in: MFCG 11 (1975), 39 – 54. Hoffmann, F., „Die unendliche Sehnsucht des menschlichen Geistes“, in: R. Haubst (Hrsg.), Das Sehen Gottes nach Nikolaus von Kues. Akten des Symposions in Trier vom 25. Bis 26. September 1986, Trier 1989, 69 – 90. Hofmann, J., „Mutmaßungen über das früheste mathematische Wissen des Nikolaus von Kues“, in: MFCG 5 (1965), 98 – 133. Honnefelder, L., Art. „Possibilien“, in: J. Ritter u. a. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel 1989, Sp. 1127. Horstschäfer, T. M., ‚Über Prinzipien’. Eine Untersuchung zur methodischen und inhaltlichen Geschlossenheit der Physik des Aristoteles, Berlin/New York 1998. Hübner, J., Aristoteles über Getrenntheit und Ursächlichkeit. Der Begriff des eidos choriston, Hamburg 2000. Ide, H. A., Possibility and potentiality from Aristotle through the Stoics, Cornell University 1988. Inciarte, F. (1994a), „Aristotle’s Defence of the Principle of Non-Contradiction“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 76 (1994), 129 – 150. Inciarte, F. (1994b), „Die Einheit der aristotelischen Metaphysik“, in: Philosophisches Jahrbuch 101 (1994), 1 – 21. Inciarte, F., „Die philosophische querelle des anciens et des modernes“, in: Philosophisches Jahrbuch 99 (1992), 355 – 376. Irwin, T. H., Aristotle’s First Principles, Oxford 1988. Jacobi, K., „Möglichkeit“, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 2, H. Krings/H. Baumgartner/C. Wild (Hrsg.), München 1973, 930 – 947. Jacobi, K., Die Methode der cusanischen Philosophie, Freiburg/München 1969. Jacobi, K., Nikolaus von Kues, Einführung in sein philosophisches Denken, Freiburg 1979. Jacobi, K., „Ontologie aus dem Geist ‚belehrten Nichtwissens‘“, in: Ders. (Hrsg.), Nikolaus von Kues. Einführung in sein Denken, München/Freiburg 1979, 27 – 55. Jaeger, W., Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin 1923. Jansen, L., Tun und Können. Ein systematischer Kommentar zu Aristoteles’ Theorie der Vermögen im neunten Buch der ‚Metaphysik‘. Frankfurt a. M./Münster/London/Miami/New York 2002. Jedan, C., Willensfreiheit bei Aristoteles?, Göttingen 2000. Kant, I., Kritik der reinen Vernunft, hrsg. v. R. Schmidt, Hamburg 1990. King, P., „Duns Scotus on the Common Nature and the Individual Differentia“, in: Philosophical Topics 20 (1992), 51 – 76. Klaus, J., „Das Können und die Möglichkeiten. Potentialität und Possibilität“, in: Th. Buchheim/C. H. Kneepkens/K. Lorenz (Hrsg.), Potentialität und Possibilität. Modalaussagen in der Geschichte der Metaphysik, Stuttgart/Bad Cannstatt 2001, 9 – 23. Koch, J., Die Ars coniecturalis des Nikolaus von Kues, Opladen 1956. Kosman, L. A., „Substance, Being and Energeia“, in: Oxford Studies of Ancient Philosophy 2 (1984), 121 – 149. Kosman, L. A., „The Activity of Being in Aristotle’s Metaphysics“, in: Th. Scaltsas/D. Charles/M. L. Gill (Hrsg.), Unity, Identity, and Explanation in Aristotle’s Metaphysics, Oxford 1994, 195 – 213. Kremer, K., „Erkennen bei Nikolaus von Kues. Apriorismus – Assimilation – Abstraktion“, in: MFCG (1978), 23 – 57.

Sonstige Literatur

285

Kremer, K., „Gott – in allem alles, in nichts nichts. Bedeutung und Herkunft dieser Lehre des Nikolaus von Kues“, in: MFCG 17 (1986), 188 – 219. Kremer, K., „Größe und Grenze der menschlichen Vernunft (intellectus) nach Cusanus“, in: K. Yamaki, (Hrsg.), Nicholas of Cusa: A Medieval Thinker for the Modern Age, Richmond 2002, S. 5 – 34. Kremer, K., „Weisheit als Voraussetzung und Erfüllung der Sehnsucht des menschlichen Geistes“, in: MFCG 20 (1992), 105 – 141. Kullmann, W., Die Teleologie in der aristotelischen Biologie. Aristoteles als Zoologe, Embryologe und Genetiker, Heidelberg 1979. Lear, J., Aristotle and Logical Theory, Cambridge 1980. Leinkauf, Th., Nicolaus Cusanus. Eine Einführung, Münster 2006. Lenz, M., Mentale Sätze. Wilhelm von Ockhams Thesen zur Sprachlichkeit des Denkens, Stuttgart 2003. Lewis, F. A., „Aristotle on the Unity of Substance“, in: F. A. Lewis/R. Bolton (eds.), Form, Matter, and Mixture in Aristotle, Oxford 1996, 39 – 81. Lewis, F. A., Substance and Predication in Aristotle, Oxford 1991. Li, H., „Der Possest-Gedanke von Nikolaus von Kues“, in: T. Müller/M. Vollet (Hrsg.), Die Modernitäten des Nikolaus von Kues. Debatten und Rezeptionen, Bielefeld 2013, 143 – 159. Liske, M.-Th., Aristoteles und der aristotelische Essentialismus. Individuum, Art, Gattung, Freiburg/München 1985. Liske, M.-Th., „In welcher Weise hängen Modalbegriffe und Zeitbegriffe bei Aristoteles zusammen?“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 49 (1995), 315 – 377. Liske, M.-Th., „Inwieweit sind Vermögen intrinsische dispositionelle Eigenschaften?“, in: C. Rapp (Hrsg.), Aristoteles, Metaphysik. Die Substanzbücher (Ζ, Η, Θ), Berlin 1996, 253 – 287. Liske, M.-Th., „Kinesis und Energeia bei Aristoteles“, in: Phronesis 36 ( 1991), 161 – 178. Liske, M.-Th., „Lassen sich Aristoteles’ Theorie des Nous Erkenntniselemente a priori aufweisen?“, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 27 (1997), 23 – 47. Liske, M.-Th., „Modalitas de dicto und de re. Logische und metaphysische Aspekte der Modalbegriffe“ , in: Zeitschrift für philosophische Forschung 40 (1986), S. 252 – 262 Liske, M.-Th., „Wie soll man Metaphysik betreiben? Deskriptive versus revisionäre Metaphysik“ , in: Philosophisches Jahrbuch (2004/1), 17 – 42 Loux, M. J., Primary Ousia. An Essay on Aristotle’s Metaphysics Ζ and Η, Ithaca/London 1991. Lovejoy, A. O., Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, übers. v. D. Turck, Frankfurt a. M. 1993. Łukasiewicz, J., „Über den Satz des Widerspruchs bei Aristoteles“, übers. V. J. Barski., in: N. Öffenberger (Hrsg.), Zur modernen Deutung der aristotelischen Logik, Bd. 5, Hildesheim/Zürich/New York 1993. McClelland, R. T., „Time and Modality in Aristotle, Metaphysics IX. 3 – 4“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 63 (1981),130 – 149. Meier-Oeser, S., Die Präsenz des Vergessenen. Zur Rezeption der Philosophie des Nicolaus Cusanus vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, Münster 1989. Meier-Oeser, S., „Nicolaus Cusanus“, in: T. Borsche (Hrsg.), Klassiker der Sprachphilosophie, München 1996, 95 – 109. Meier-Oeser, S., „Potentia vs. Possibilitas? Posse! Zur cusanischen Konzeption der Möglichkeit“, in: Th. Buchheim/C. H. Kneepkens/K. Lorenz (Hrsg.), Potentialität und

286

Literaturverzeichnis

Possibilität. Modalaussagen in der Geschichte der Metaphysik, Suttgart/Bad Cannstatt 2001, 237 – 252. Meier-Oeser, S., „Von der Koinzidenz zur coincidentia oppositorum. Zum philosophiegeschichtlichen Hintergrund des cusanischen Koinzidenzgedankens“, in: O. Pluta (Hrsg.), Die Philosophie im 14. und 15. Jahrhundert. In Memoriam Konstanty Michalski (1879 – 1947), Amsterdam 1988, 321 – 342. Meinhardt, H., „Exaktheit und Mutmaßungscharakter der Erkenntnis“, in: K. Jacobi (Hrsg.), Nikolaus von Kues, Einführung in sein philosophisches Denken, Freiburg 1979, 101 – 120. Mesch, W., „Die Teile der Definition (Z 10 – 11)“, in: C. Rapp (Hrsg.): Aristoteles, Metaphysik. Die Substanzbücher (Ζ, Η, Θ), Berlin 1996, 135 – 156. Mesch, W., Ontologie und Dialektik bei Aristoteles, Göttingen 1994. Mojsisch, B., „Die Andersheit Gottes als Koinzidenz, Negation und Nicht-Andersheit bei Nikolaus von Kues – Explikation und Kritik“, in: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 7 (1996) 437 – 454. Mojsisch, B., „‚Dialog‘ und ‚Dialektik‘: Politeia, Theaitetos, Sophistes“, in: Th. Kobusch/B. Mojsisch (Hrsg.), Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Darmstadt 1996, 167 – 180. Mojsisch, B., „Dieses Ich“: Meister Eckharts Ich-Konzeption“, in: K. Flasch/U. R. Jeck (Hrsg.), Das Licht der Vernunft. Die Anfänge der Aufklärung im Mittelalter, München 1997, 100 – 109. Mojsisch, B., „Epistemologie im Humanismus. Marsilio Ficino, Pietro Pomponazzi und Nikolaus von Kues“, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 42 (1995) 152 – 171. Mojsisch, B., „Grenze als Vollkommenheit und Übergang in der Philosophie des Nikolaus von Kues“, in: W. Hogrebe/J. Bromand (Hrsg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress für Philosophie, Bonn, 23.–27. September 2002. Vorträge und Kolloquien, Berlin 2004, 257 – 266. Mojsisch, B. (Hrsg., Übers.), Kann Gottes Nicht-Sein gedacht werden? Die Kontroverse zwischen Anselm von Canterbury und Gaunilo von Marmoutiers, lat.-dt. m. e. Einl. v. K. Flasch, Mainz 1989. Mojsisch, B., Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit, Hamburg 1983. Mojsisch, B., „Nichts und Negation. Meister Eckhart und Nikolaus von Kues“, in: B. Mojsisch/O. Pluta (Hrsg.), Historia philosophiae Mediieavi. FS für Kurt Flasch, Bd. II, Amsterdam/Philadelphia 1991, 675 – 693. Mojsisch, B., „Platon, Plotin, Ficino. ‚Wichtigste Gattungen‘ – eine Theorie aus Platons ‚Sophistes‘“, in: O. Pluta (Hrsg.), Die Philosophie im 14. und 15. Jahrhundert. In memoriam Konstanty Michalski (1879 – 1947), (Bochumer Studien zur Philosophie, Bd. 10) Amsterdam 1988, 19 – 38. Mojsisch, B., „Platons Sprachphilosophie im ‚Sophistes‘“, in: Ders. (Hrsg.), Sprachphilosophie in Antike und Mittelalter. Bochumer Kolloquium, 2.–4. Juni 1982, (Bochumer Studien zur Philosophie, Bd. 3) Amsterdam 1986, 35 – 62. Mojsisch, B. 1998a, „Nikolaus von Kues: ‚De coniecturis‘“, in: K. Flasch (Hrsg.), Interpretationen. Hauptwerke der Philosophie: Mittelalter, Stuttgart 1998, 470 – 489. Mojsisch, B. 1998b, „Philosophie der Sprache bei Nikolaus von Kues – Explikation und Kritik“, in: C. Asmuth/F. Glauner/B. Mojsisch (Hrsg.), Die Grenzen der Sprache. Sprachimmanenz – Sprachtranszendenz, Amsterdam/Philadelphia 1998, 71 – 83. Mojsisch, B., „Possibilitätsphilosophie im Wandel bei Nikolaus von Kues“, in: T. Iremadze/T. Tskhadadze/G. Kheoshvili (Hrsg.), Philosophy – Theology – Culture. Problems and

Sonstige Literatur

287

Perspectives. Jubilee volume dedicated to the 75th anniversary of Guram Tevzadze, Tbilisi 2007, 142 – 152. Moritz, A., Explizite Komplikationen. Der radikale Holismus des Nikolaus von Kues. Münster 2006. Musil, R., Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1987. Nortmann, U., Allgemeinheit und Individualität. Die Verschiedenartigkeit der Formen in ‚Metaphysik’ Z, Paderborn 1997. Nortmann, U., Modale Syllogismen, mögliche Welten, Essentialismus. Eine Analyse der aristotelischen Modallogik, Berlin 1996. Nussbaum, M./Oksenberg Rorty, A. (Hrsg.), Essays on Aristotle’s De anima, Oxford 21995. Oehler, K., Der Unbewegte Beweger des Aristoteles, Frankfurt a. M. 1984. Owen, J., The Doctrine of Being in the Aristotelian Metaphysics, Toronto 1951. Pape, I., Tradition und Transformation der Modalität, Bd. I: Möglichkeit – Unmöglichkeit, Hamburg 1969. Perler, D., „Cartesische Möglichkeiten“, in: Th. Buchheim/C. H. Kneepkens/K. Lorenz (Hrsg.), Potentialität und Possibilität. Modalaussagen in der Geschichte der Metaphysik, Stuttgart/Bad Cannstatt 2001, 255 – 272. Perler, D., Repräsentation bei Descartes, Frankfurt a. M. 1996, 38 ff. Perler, D., „War Aristoteles ein Funktionalist?“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 50 (1996), 341 – 363. Perler, D., Zweifel und Gewissheit. Skeptische Debatten im Mittelalter, Frankfurt a.M. 22012. Perler, D., „Woran können wir zweifeln? Vermögensskeptizismus und unsicheres Wissen bei Descartes“, in: C. Spoerhase/ D. Werle/ M. Wild (Hrsg.), Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550 – 1850, Berlin/New York 2009, 43 – 62. Peukert, K. W., „Die Entsprachlichung der Metaphysik durch den Unendlichkeitsbegriff des Cusaners“, in: PJ 72 (1964), 49 – 65. Pickering, F. R., „Aristotle on Walking“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 59 (1977), 37 – 43. Pietsch, C., Prinzipienfindung bei Aristoteles. Methoden und erkenntnistheoretische Grundlagen, Stuttgart 1992. Platzer, K., Symbolica venatio und scientia aenigmatica. Eine Strukturanalyse der Symbolsprache bei Nikolaus von Kues, Frankfurt a. M. 2001. Pleger, W. H., Die Vorsokratiker, Stuttgart 1991. Polansky, R., „Aristole‘s Treatment of Ouisa in Metaphysics V, 8“, in: Southern Journal of Philosophy 21 (1992), 57 – 66. Poser, H., „Kontingenz I“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 19, Berlin 1990, 544 – 551. Poser, H., „Leibnizsche Handlungsmodi zwischen Ontologie und Deontologie“, in: Th. Buchheim/C. H. Kneepkens/K. Lorenz (Hrsg.), Potentialität und Possibilität. Modalaussagen in der Geschichte der Metaphysik, Stuttgart/Bad Cannstatt 2001, 273 – 292. Poser, H., „Mögliche Erkenntnis und Erkenntnis der Möglichkeit. Die Transformation der Modalkategorien der Wolffschen Schule in Kants Kritischer Philosophie“, in: Grazer philosophische Studien. Internationale Zeitschrift für analytische Philosophie 20 (1983), 129 – 147. Poser, H., Theorie der Modalbegriffe bei G. W. Leibniz (Studia Leibnitiana. Supplementa 6), Wiesbaden 1969. Putnam, H., „Brains in a Vat“, in: Ders., Reasons, Truth and History, Cambridge 1981.

288

Literaturverzeichnis

Putnam, H., Repräsentation und Realität, Freiburg 1981. Rapp, C. (1996a), „Einleitung. Die Substanzbücher der Metaphysik“, in: Ders. (Hrsg.), Aristoteles, Metaphysik. Die Substanzbücher (Ζ, Η, Θ), Berlin 1996, 61 – 26. Rapp, C. (1996b), „Substanz als vorrangig Seiendes“, in: Ders. (Hrsg.), Aristoteles, Metaphysik. Die Substanzbücher (Ζ, Η, Θ), Berlin 1996, 27 – 40. Rapp, C. (1996c), „Kein Allgemeines ist Substanz“, in: Ders. (Hrsg.), Aristoteles, Metaphysik. Die Substanzbücher (Ζ, Η, Θ), Berlin 1996, 157 – 191. Rapp, C., „Aristoteles über die Rechtfertigung des Satzes vom Widerspruch“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 47 (1993), 521 – 541. Rapp, C., „Aristoteles und aristotelische Substanzen“, in: K. Trettin (Hrsg.), Substanz. Neue Überlegungen zu einer klassischen Theorie des Seienden, Frankfurt a. M. 2005, 145 – 170. Rapp, C., „Aristoteles und das Problem der Substanz“, in: A. Beckermann/D. Perler (Hrsg.), Die Probleme der Philosophen, Ditzingen 2004, 38 – 58. Rapp, C., Identität, Persistenz und Substantialität. Untersuchung über das Verhältnis von sortalen Termen und aristotelischer Substanz, Freiburg/München 1995. Rapp, C., Vorsokratiker, München 1997. Rapp, C., „Aristoteles und das Problem der Substanz“, in: A. Beckermann/D. Perler (Hrsg.), Klassiker der Philosophie heute, Stuttgart 2004, 38 – 58. Rapp, C., „Aristoteles und aristotelische Substanzen“, in: K. Trettin (Hrsg.), Substanz: Neue Überlegungen zu einer klassischen Theorie des Seienden, Frankfurt a.M. 2005, 145 – 169. Röd, W. (Hrsg.), Geschichte der Philosophie, Bd. 1: Die Philosophie der Antike. 1: Von Thales bis Demokrit, München 32009. Rombach, H., Substanz, System, Struktur. Die Ontologie des Funktionalismus und der philosophische Hintergrund der modernen Wissenschaft, 2 Bde., Freiburg/München, 1965 (Bd. I) u. 1966 (Bd. II). Rorty, R., „Genus as Matter. A Reading of Metaphysics Ζ-Η“, in: Phronesis Suppl. Vol. 1 (1973), 393 – 420. Rusconi, C., „Die Abgrenzung der Begriffe bei Cusanus“, in: T. Müller/M. Vollet (Hrsg.), Die Modernitäten des Nikolaus von Kues. Debatten und Rezeptionen, Bielefeld 2013, 161 – 174. Santinello, G., „Novità nel pensiero del tardo Cusano“, in: A. Th. Khoury/L. Hagemann (Hrsg.), ΕΝ ΚΑΙ ΠΛΗΘΟΣ. Einheit und Vielheit. FS für K. Bormann, Würzburg/Alteneberge 1993, 161 – 173. Scaltsas, Th. (1994a), „Substantial Holism“, in: Th. Scaltsas/D. Charles/M. L. Gill (Hrsg.), Unity, Identity and Explanation in Aristotle’s Metaphysics, Oxford 1994, 107 – 128. Scaltsas, Th. (1994b), Substance and Universals in Aristotle’s Metaphysics, Ithaca/London 1994. Schepers, H., „Möglichkeit und Kontingenz. Zur Geschichte der philosophischen Terminologie vor Leibniz“, in: Filosofia 11 (1963), 901 – 914. Schmitz, H., Die Ideenlehre des Aristoteles, 2 Bde., Bonn 1985. Schnarr, H., Modi essendi. Interpretationen zu den Schriften De docta ignorantia, De coniecturis und De venatione sapientiae, Münster 1973. Schneider, W., OUSIA und EUDAIMONIA. Die Verflechtung von Metaphysik und Ethik bei Aristoteles, Berlin 2001. Schwaetzer, H., „Nikolaus von Kues als Vordenker der Subjektivität“, in: Ders. (Hrsg.), Zum Subjektbegriff bei Meister Eckhart und Nikolaus von Kues, Münster 2011, 67 – 74. Searle, J. R., Speech Acts, Cambridge 1971.

Sonstige Literatur

289

Sedley, D., „Diodorus Cronus and Hellinistic Philosophy“, in: Proceedings of the Cambridge Philological Society 203 (1977), 74 – 120. Seel, G., Die aristotelische Modaltheorie, Berlin/New York 1982. Senger, H. G., „Die Sprache der Metaphysik“, in: K. Jakobi (Hrsg.), Nikolaus von Kues – Einführung in sein philosophisches Denken, Freiburg/München 1979, 74 – 100. Senger, H. G., Ludus sapientiae. Studien zum Werk und zur Wirkungsgeschichte des Nikolaus von Kues, Leiden/Boston/Köln 2002. Shields, C., „The Generation of Form in Aristotle“, in: History of Philosophy Quarterly 7 (1990), 367 – 390. Spellman, L., Substance and Separation in Aristotle, Cambridge 1995. Stadelmann, R., Vom Geist des ausgehenden Mittelalters: Studien zur Geschichte der Weltanschauung von Nicolaus Cusanus bis Sebastian Franck, Halle/Saale 1929. Stadelmann, R., Vom Geist des ausgehenden Mittelalters. Studien zur Geschichte der Weltanschauung von Nikolaus von Kues bis Sebastian Frank, Stuttgart/Bad Cannstatt 1929 (ND 1966). Stadler, M., Konstruktion einer Philosophie der Ungegenständlichkeit. Zur Struktur des cusanischen Denkens, München 1983. Stallmach, J., „Der Zusammenfall der Gegensätze und der unendliche Gott“, in: K. Jacobi (Hrsg.), Nikolaus von Kues. Einführung in sein philosophisches Denken, Freiburg/München 1979, 56 – 73. Stallmach, J., „Sein und das Können-selbst bei Nikolaus von Kues, in: K. Flasch (Hrsg.), Parusia. Studien zur Philosophie Platons und zur Problemgeschichte des Platonismus, FS für J. Hirschberger, Frankfurt a. M. 1965, 407 – 421. Stallmach, J., Dynamis und Energeia. Untersuchungen am Werk des Aristoteles zur Problemgeschichte von Möglichkeit und Wirklichkeit, Meisenheim a. G. 1959. Stallmach, J., Ineinsfall der Gegensätze und Weisheit des Nicht¬wissens. Grundzüge der Philosophie des Nikolaus von Kues, Münster 1989. Steinfath, H., „Die Einheit der Definition und die Einheit der Substanz. Zum Verhältnis von Met. Ζ 12 und Η 6“, in: C. Rapp (Hrsg.), Aristoteles. Metaphysik. Die Substanzbücher (Ζ, Η, Θ), Berlin 1996, 229 – 251. Steinfath, H., Selbständigkeit und Einfachheit. Zur Substanztheorie des Aristoteles, Frankfurt a. M. 1991. Thiel, D., „‚Scientia signorum‘ und ‚Ars scribendi‘. Zur Zeichentheorie des Nikolaus von Kues“, in: I. Craemer-Ruegenberg/A. Speer (Hrsg.), ‚Scientia‘ und ‚ars‘ im Hochmittelalter, Berlin/New York 1994, 107 – 125. Thiel, D., „Intellekt und Imagination in Cusanus’ Trialogus des possest“, in: J. Maria André/G. Krieger/Harald Schwaetzer (Hrsg.), Intellectus und Imaginatio. Aspekte geistiger und sinnlicher Erkenntnis bei Nicolaus Cusanus, (Bochumer Studien zur Philosophie Bd. 44), Amsterdam/Philadelphia 2006, 43 – 80. Thurner, M., Gott als das offenbare Geheimnis nach Nikolaus von Kues, Berlin 2001. Thurner, M., „Unendliche Annäherung – Zur Bedeutung der Gestalt des Nicolaus Cusanus für die Gegenwart“, in: Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik 3 (2006), 495 – 510. Tugendhat, E., Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt a. M. 1976. Tugendhat, E., ΤΙ ΚΑΤΑ ΤΙΝΟΣ. Eine Untersuchung zu Struktur und Ursprung aristotelischer Grundbegriffe, Freiburg/München1958. Tugendhat, E./Wolf, U. (Hrsg.), Logisch-semantische Propädeutik, Stuttgart 1983.

290

Literaturverzeichnis

Velthoven, Th. van, Gottesschau und menschliche Erkenntnis. Studien zur Erkenntnislehre des Nikolaus von Kues, Leiden 1977. Vetter, B./Schmid, S., Dispositionen. Texte aus der zeitgenössischen Debatte, Berlin 2013. Viertel, W., Der Begriff der Substanz bei Aristoteles, Königstein i. Ts. 1982. Vollrath, E., Die These der Metaphysik. Zur Gestalt der Metaphysik bei Aristoteles, Kant und Hegel, Wuppertal/Ratingen 1969. Wagner-Egelhaaf, M., „Lektüre(n) einer Differenz. Mystik und Dekonstruktion“, in: E. Jain/R. Margreiter (Hrsg.), Probleme philosophischer Mystik. Festschrift für Karl Albert zum siebzigsten Geburtstag, Sankt Augustin 1991, 335 – 352. Waterlow, S., Passage and Possibility. A study of Ariastotle’s Modal Concepts, Oxford 1982. Wedin, M., „Nonsubstantial individuals“, in: Phronesis 32 (1993), 1 – 21. Wedin, M., „Subjects and Substance in Metaphysics Ζ 3“, in: C. Rapp (Hrsg.), Aristoteles, Metaphysik. Die Substanzbücher (Ζ, Η, Θ), Berlin 1996, 41 – 73. Wedin, M., Aristotle’s Theory of Substance. The Categories and Metaphysics Zeta, Oxford 2000. Wedin, M., Mind and Imagination in Aristotle, Yale 1988. Weidemann, H., „‚Aus etwas Möglichem folgt nichts Unmögliches‘. Zum Verständnis der zweiten Prämisse von Diodors Meisterargument“, in: Philosophiegeschichte und logische Analyse 2 (1999), 189 – 202. Weidemann, H., „Aristoteles und das Problem des kausalen Determinismus (Met. E 3)“, in: Phronesis 31 (1986), 27 – 50. Weidemann, H., „Ein drittes modallogisches Argument für den Determinismus: Alexander von Aphrodisias“, in: W. Lenzen (Hrsg.), Das weite Spektrum der Analytischen Philosophie. FS für Franz von Kutschera, Berlin/New York 1997, 429 – 445. Weidemann, H., „Zum Begriff des ti ên einai und zum Verständnis von Met. Z 4, 1029b22 – 1030a6“, in: C. Rapp (Hrsg.), Aristoteles, Metaphysik. Die Substanzbücher (Ζ, Η, Θ), Berlin 1996, 75 – 103. Wieland, W., Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, Göttingen 1962. Winkler, N., „Amphibolien des cusanischen All-Einheitsdenkens – Zwischen Restitution der Metaphysik und Aufbruch in die Dialektik (Zur Problemstruktur eines durch Koinzidenz begründeten platonischen Monismus)“, in: B. Mojsisch/O. Pluta (Hrsg.), Historia Philosophiae Medii Aevi, Bd. II, Amsterdam/Philadelphia 1991, 1065 – 1082. Winkler, N., Nikolaus von Kues zur Einführung, Hamburg 2001. Wittgenstein, L., Tractatus logico-philosophicus, in: Werkausgabe Band I, Frankfurt a. M. 1984. Wolf, U., Möglichkeit und Notwendigkeit bei Aristoteles und heute, München 1979. Wolter, J., Apparitio Dei. Der Theophanische Charakter der Schöpfung nach Nikolaus von Kues, Münster 2004.

Personenregister Alvarez-Gómez, M., 262 Anaxagoras, 45 f., 165 Apel, K. O., 155 f., 162 Aquin, T. v., 216, 246 f., 259 Aristoteles 1, 3–9, 11, 15–43, 45–83, 85– 121, 123–128, 131–141, 148, 151, 156 f., 161–163, 165 f., 172, 182, 187, 199, 202, 204, 223, 226, 234 f., 237, 241, 258, 268–273, 275, 278 Arnim, H. v., 116 Arnold, U., 6 Arpe, C., 63 f. Bachelard, G., 1 Bareuther, R., 102 Bärthlein, K., 35, 85, 109 Becker-Freyseng, A., 82 Beierwaltes, W., 9, 148, 163, 165 f., 178 f., 189, 192, 197, 211, 214 f., 217, 220, 226, 265, 267 Benz, H., 151, 162, 185, 198, 232 Berti, E., 92, 98 Blumenberg, H., 6, 9, 151, 165, 260 f., 263 Böhlandt, M., 192, 232 Bordt, M., 116, 121 f., 124 Bormann, C., 202 Bradwardines, T. 192 Bredow, G. v., 176, 179, 181, 198, 261 f. Bröcker, W., 17, 51 Brüntrup, A., 6, 167, 233, 240, 245, 254, 257–259, 261, 263, 267 Buchheim, Th., 3, 63, 74 f., 79, 135, 141, 143 Buddensiek, F., 82 Burnyeat, M., 102 Cassin, B., 20, 37, 46, 48 Cassirer, E., 155 Code, A., 20, 62 Cohen, S. M., 136 Colomer, E., 191 Cürsgen, D., 151

Dancy, R. M., 20 Dangelmayr, S., 181, 258 f., 265 Demokrit, 16 Derrida, J., 162 Dudley, J., 51 Düring, I., 17, 116 Hoffmann, F., 184 Elpert, J. B., 155, 157 Empedokles, 16, 106 Enders, M., 151 Faust, A., 3, 247 Flasch, K., 11, 18, 149, 151, 163–166, 170 f., 179, 185, 188–191, 197, 204 f., 208, 210 f., 214 f., 220 f., 235, 267 Flashar, H., 116 Fonfara, D., 66, 68 Frede, D., 41, 64, 68 f., 71, 75, 79, 82, 111 f., 132 Frede, M., 41, 64, 68 f., 71, 75, 79, 82, 111 f., 132 Furth, M., 46 Gandillac, M. de, 151, 192 Garay, J. de, 116 Gaskin, R., 111 Geach, P., 18, 108 Gericke, H., 150, 185, 192 Granger, H., 133, 135 Grell, H., 192 Grotz, S., 11 Hafemann, B., 20, 35, 38, 41, 45–47, 105, 107–110 Halfwassen, J., 235, 255 Happ, H., 78, 133 Hartmann, N., 109 f. Haubst, R., 192, 197, 215 Hegel, G. W. F., 147, 205, 220 f., 233 Heidegger, M., 234 Heinaman, R., 99 Hennigfeld, J., 155, 157 Heraklit, 44, 50

292

Personenregister

Hintikka, J., 87, 109, 112 Hirschberger, J., 148, 204 Hoffmann, F., 184 Hofmann, J., 192 Honnefelder, L., 247 Horstschäfer, T. M., 16, 46 Hübner, J., 63 f., 67, 70, 75 f., 79, 94, 99– 101, 133, 138, 140

Mojsisch, B., 11, 124, 147, 150, 155, 157, 163, 170–172, 178, 205, 209, 213, 215, 220, 238, 243, 249 f., 277 Musil, R., 1

Ide, H. A., 85 Inciarte, F. 20, 33, 38, 48 Irwin, T. H., 28, 32, 34

Oehler, K., 122 Owen, J., 63

Jacobi, K., 81–84, 163, 236, 247, 275 Jaeger, W., 116 Jansen, L., 80–85, 87, 89, 109, 111, 113, 115 Jedan, C., 80, 110–112 Kant, I., 205, 207, 256, 276 King, P., 262 Klaus, J., 81, 203, 208, 275 Koch, I., 191, 202, 210 Koch, J., 191, 202, 210 Kosman, L. A., 99 Kremer, K., 198, 202 f., 207 f., 215–217 Kullmann, W., 98 Lear, J., 33 Leibniz, G. W., 162, 207, 245 Leinkauf, Th., 216, 235, 260 Lenz, M., 18, 210 Lewis, F. A., 92, 95 Li, H., 237 Liske, M.-Th., 17 f., 21, 28, 35, 62, 64 f., 68, 80 f., 83, 85, 90 f., 96, 99 f., 106 f., 110, 112, 114, 138, 140 Loux, M. J., 68, 76, 95 Lovejoy, A. O., 87, 109 Łukasiewicz, J., 20, 26, 107 McClelland, R. T., 85 Meier-Oeser, S., 6, 245–247, 257 f., 260 f., 263 Meinhardt, H., 157 Meister Eckhart, 190, 213 Mesch, W., 34, 64, 70, 132

Narcy, M., 20, 37, 46, 48 Nortmann, U., 81 Nussbaum, M., 98, 127

Pape, I., 3 Patzig, G., 64, 68 f., 71, 75, 79, 132 Perler, D., 100, 129, 207, 254 f., 262 Peukert, K. W., 163 Pickering, F. R., 99 Pietsch, C., 20 f., 26, 32, 35, 37 f. Platon, 38, 45 Pleger, W. H., 44 Polansky, R., 99 Poser, H., 1–3, 82, 207, 245 Protagoras, 16, 49 Putnam, H., 15 Rapp, C., 18, 21, 32, 38, 47, 61, 65 f., 69, 135 Reale, G., 133 Röd, W., 44 Rombach, H., 157, 185, 275 Rorty, R., 127, 133 Rusconi, C., 243 Santinello, G,. 235 Scaltsas, Th., 70 Schepers, H., 82 Schmid, S., 3 Schmitz, H., 47, 64 Schnarr, H., 259 Schneider, W., 64, 95, 107, 122, 124, 126 Schwaetzer, H., 232 Searle, J. R., 108 Seel, G., 21, 37 f., 70, 80–82, 88, 90, 92, 95, 99–101, 109 f., 123, 125, 128 f., 139– 141, 202, 213, 217 f., 222 Senger, H. G., 155, 160, 162 f., 235–237, 241, 243, 254 f., 265–267

Personenregister

Shields, C., 72 Spellman, L., 67 f. Spinoza, B. de, 275 Stadelmann, R., 152 Stadler, M., 157, 162, 182, 259 Stallmach, J., 6, 80, 109, 179 Steiger, R. 160 f., 204, 209 Steinfath, H., 64, 66, 68, 73, 93, 96, 133, 136–138 Thiel, D., 155, 237 f. Thurner, M., 9 Tricot, J, 133 Tugendhat, E., 18, 21, 28, 31, 61 f., 71, 92, 138

Velthoven, Th. v., 198, 214 Vetter, B., 3 Viertel, W., 63, 78, 92, 96, 136 f. Vollrath, E., 120 Wagner-Egelhaaf, M. 162 Wedin, M., 127 Weidemann, H., 18, 28, 64, 69, 80–85, 109–111 Wieland, W., 17 f., 98, 103 Wilpert, P. 179, 202 Winkler, N., 158, 165 f., 181, 209, 221 f., 224, 230, 258, 262, 275 Wittgenstein, L., 1, 195, 268 Wolf, U., 6, 21, 31, 80 f., 84, 87, 89, 91, 96 f., 103 f., 109, 112, 114 f. Wolter, J., 9, 167, 228

293

Sachregister Absolute 3 – 5, 10 f., 16, 113, 116, 120, 123 f., 127 f., 147 f., 150, 155, 162, 165 f., 171 f., 174 f., 177 – 181, 184 f., 192, 197, 203, 206, 209, 212 – 215, 217, 219 f., 225, 228 – 231, 235 f., 238, 241 – 246, 248, 250 – 253, 255 – 262, 264 – 267, 270, 272 – 277 → Einheit; Form; Gott; Prinzip absolute Begriff 11, 163 – 167, 234, 252, 259 Abstraktion 15, 61, 89, 101, 109, 130, 158, 200 Affirmation 22 – 24, 26, 29 f., 38 f., 42, 44 f., 48, 57 f., 107, 152, 178, 217 f., 220 Ähnlichkeit 80, 151 – 153, 192 f., 198, 219, 225, 245 Allheit 9 – 11, 128, 163, 179, 264, 269 – Allvermischung 46 f., 50, 60, 106 Ambivalenz 9, 67, 188 f., 242, 268, 275 Andersheit 11, 151 f., 171 f., 174, 179, 188, 206, 211, 218, 226, 229, 248, 264 – Nicht-Andere 167, 182, 244, 264 Annäherung 55, 143, 195, 213, 228, 273 f. Assimilation 184, 192, 199 – 202, 206 – 210, 212 – 216, 221, 231 Aufstieg 185, 193, 228 Ausfaltung 206, 210, 217 f., 222, 225, 273 Axiom 1, 3, 8 – 11, 15 f., 20 – 33, 36 – 38, 43, 49, 51, 57 – 59, 62, 67 – 70, 72 f., 75 f., 88 – 90, 97 – 99, 104 f., 108 f., 115 – 122, 124 f., 128 f., 141 – 143, 154, 158, 165, 178 – 180, 182, 187, 196, 206, 219 f., 222, 226, 235 f., 241, 248, 250 f., 254 – 258, 262, 264, 267 – 269, 274 – 276 Bedeutung 1 – 4, 6 – 8, 11 f., 15, 17 – 20, 23, 26 – 28, 30, 34 – 37, 39 – 43, 49, 53 f., 57, 63 – 65, 69 – 71, 74, 76, 78 – 81, 84, 87 f., 90, 92 f., 96, 98, 101, 103, 105, 108, 114 – 119, 121, 124, 130, 138, 141 f., 152, 155 – 158, 160 – 164, 166 f., 169 f., 173 – 177, 179 – 181, 183 f., 186 f., 192 – 194, 201, 205, 209, 211 f., 214 – 216, 220 – 223, 226, 229, 233, 236 – 240, 242 –

245, 247 f., 250 – 252, 255 f., 264, 266 f., 269, 272 f., 275 f. → Sprache Begriff 2 f., 5 – 8, 10 f., 17, 21 – 23, 25 – 27, 36 – 39, 41, 47, 51, 53 f., 62 – 67, 75, 77 f., 80 – 83, 85, 89, 97, 99 – 101, 105, 110, 113, 116, 119, 121, 123 f., 129 – 135, 137, 140 – 144, 147, 149, 151, 155 – 157, 162 – 167, 169, 172, 174 – 178, 180 f., 183 f., 186 – 188, 197 – 209, 211, 213, 215 – 222, 225 f., 228 f., 231 – 235, 237 – 240, 243 – 248, 250 – 252, 254 f., 259 f., 262, 267 – 270, 272 – 274, 276 f. absolute Begriff 11, 163 – 167, 234, 252, 259 → Definition; Einheit; Gott Benennung 4, 156, 158, 186, 244, 272, 276 → Name Bewegung 11, 16 f., 44, 49 – 53, 55 f., 69, 72, 86, 88 – 91, 93, 98 f., 109, 113 – 118, 120 f., 148, 150, 173, 205, 218, 220 – 223, 228, 239 Definitheit 43, 137, 164, 166 f., 211, 252, 271 f., 276 Definition 2, 21 – 23, 30, 34 – 36, 53, 55, 63 – 67, 89, 93 f., 106, 112, 117 f., 124, 131 – 137, 139 f., 143 f., 156 f., 162, 185 f., 195, 200, 234, 243, 250, 255, 272 → Bedeutung; Begriff Dihairesis 103, 131 – 137, 139 f., 142 f. Disjunktion 34, 218, 220 Disposition 2 f., 83, 86, 91, 125 Disproportionalität 148, 150 f., 155, 184 f. Dualismus 10 Einfaltung 203 f., 206 f., 217 f., 225, 237, 260, 273 Einheit 1 – 12, 15 – 30, 32 – 125, 127 – 144, 147 – 266, 268 – 277 → Absolute; Begriff; Gott; Möglichkeit; Ununterschiedenheit; Wirklichkeit Epistemologie 147 – 150, 152, 154 f., 166, 173, 182, 185, 270

296

Sachregister

Erkenntnis 1, 5 f., 11, 21, 33, 40, 50, 60, 68, 72, 97, 102, 121, 140, 148 f., 151 f., 156 f., 162, 173 f., 184, 188, 190, 192, 199 – 203, 205, 207, 211, 224 – 226, 229 f., 233, 255, 266, 269 f. Existenz → Seiendes Extension 60, 108, 132, 135, 138, 160, 164, 200, 211, 218, 272 Flusstheorie 44 f., 58, 60 Form 3, 8, 12, 16 – 18, 21, 23, 30, 32, 53, 57, 61 – 79, 87, 90 f., 93 – 101, 104, 107, 110, 113 – 115, 118 – 120, 122 f., 125 f., 128, 130 – 134, 137 – 143, 154 – 158, 161, 166, 174, 183, 190 f., 195, 199 – 204, 206 – 210, 212, 219 f., 228, 230, 234 – 237, 240 – 242, 244, 247, 258, 262, 264 – 266, 268 – 272, 277 – Form der Form 123, 126, 236 – unendliche Form 158, 252, 275 → Absolute; Einheit; Substanz; Wirklichkeit Gegensatz 23, 53 f., 56 – 58, 80, 87, 110, 112, 137, 147, 149, 152, 173, 175, 179, 182 f., 206, 220, 235, 238, 249 f., 254 → Koinzidenz; Widerspruch; Einheit; Logik Geist 1, 3, 163, 165, 168, 182 – 184, 186 – 188, 192, 198 – 207, 209 f., 212, 216, 220 f., 223, 225 – 228, 231, 259, 266 f., 273 – göttliche Geist 181, 198, 201, 203, 217, 219, 259, 261 – menschliche Geist 10, 12, 168, 183, 187 – 189, 193, 196 – 198, 203, 207 – 209, 216 f., 220, 222 – 226, 228 – 232, 266 f., 273 f. → Seele; Verstand; Vernunft Genauigkeit 58, 108 f., 148, 152 f., 158, 164, 199, 231, 266 Gott 2, 6 f., 9 – 11, 64, 115, 120, 124, 126, 147 – 149, 157, 162 – 165, 170 – 174, 177 – 179, 186, 188, 193, 197 f., 201, 212 – 216, 224 – 226, 228 – 231, 233, 239, 245 – 247, 250 f., 257 f., 260 f., 263 f., 268, 274 – 277 → Absolute; Form; Einheit Grenze 1, 45, 48, 51, 56, 73, 98, 147, 151, 167, 171 – 173, 178, 181, 183 – 186, 188, 194 –

197, 199, 208 f., 219, 225, 252, 263, 266 f., 277 → Absolute; Einheit; Gott Größte 11, 167, 169, 172, 174 – 181, 193 f., 219, 261, 274 Holismus 272 Homo-mensura-Satz 49, 86, 183 Identität 11, 18, 21 f., 26, 33, 48, 53, 55 – 57, 62 – 66, 68, 73 – 76, 95 – 98, 101, 113, 122, 124, 127, 157, 161, 166, 193, 201, 204 f., 207, 213 f., 220 f., 225, 228, 231, 269, 271 Immanenz 10, 67, 74, 147, 160, 174, 179, 181 f., 212, 233, 236, 248, 255 f., 264, 269 f., 275 Implikation 22, 26, 161, 214, 239, 241 – 243 Indefinitheit 29, 37, 41, 45, 47 – 50, 56, 58 f., 78, 102, 105 f., 108 f., 133, 135, 164 f., 177, 211, 249, 252, 270 f. Individuum 62, 68, 74, 76, 132, 260 – 264 Inkommensurabilität 87, 152, 154 Intellekt 120, 126 – 130, 189 f., 197, 224, 230, 266, 270, 273 – göttlichen Intellekt 127, 227, 229 – menschlichen Intellekt 125 – möglichen Intellekt 142 – tätigen Intellekt 126, 129 – transintellektual 228, 270, 273 → Geist; Seele; Verstand; Vernunft Intension 35, 64, 70, 108 f., 132, 135, 138, 144, 157, 160, 164, 211, 218, 269, 272 Kleinste 34, 56, 102, 169, 174 – 177, 179 – 181, 185, 274 → Absolute; Einheit; Gott Koinzidenz 11, 58, 149 f., 162, 164, 173 – 176, 178 – 181, 193, 197 f., 206, 211, 216, 220, 246, 249, 258 – 260, 269 → Widerspruch; Gegensatz; Einheit Kompatibilität 178, 196, 211, 218, 220, 246 Kompossibilität 142, 211, 259 f., 272 Konjunktion 45, 79, 112, 218, 220, 242, 247, 249

Sachregister

Können selbst 6, 11, 168, 237 – 240, 243, 245 – 251, 254 – 256, 264 – 266 – Geworden-sein-Können 257, 259 – Machen-Können 257 f., 261 – Werden-Können 237, 257 – 263 → Möglichkeit; Kontingenz; Potentialität; Possibilität Kontingenz 8, 79, 82, 84 f., 88, 103 f., 107 f., 110, 112, 114 f., 119, 121, 123, 129, 143 f., 158, 174, 200, 208, 226, 261 f., 269 – 271, 274 → Können; Möglichkeit; Vermögen Korrelation→ Relation Kraft 116, 161, 170, 183 f., 198, 203 f., 206 f., 210 f., 213, 218 f., 221 – 225, 229, 231, 245, 273 f. Kreis 100, 114, 189, 194 f., 200, 202 Logik 6 f., 10, 16, 22, 28, 30 f., 49, 81, 87, 107 f., 155, 162, 182, 188, 195 f., 218 f., 247, 256, 270, 273, 277 Mathematik 147 f., 163, 193, 200, 218 Metaphysik 1 – 12, 15 – 17, 20 f., 25, 28, 32, 37, 41, 43 f., 47, 49 – 52, 56, 61 – 63, 66 f., 69, 72, 79 f., 83 – 85, 92 f., 96, 99, 103 – 106, 114 – 117, 119 – 121, 123 f., 126 – 128, 130 f., 133, 140, 149, 151, 153 – 155, 157 – 159, 163, 166 – 169, 174, 178 f., 181 f., 184 f., 188 f., 194, 196 f., 206, 213, 215 f., 219, 224, 226, 231, 235 – 237, 239 f., 243, 246 f., 252, 257, 262, 265, 268 – 271, 274 – 277 Möglichkeit 1 – 8, 15 – 17, 21, 23 – 25, 28 – 31, 34, 36 f., 40, 43 f., 48, 55, 59, 63, 77 – 88, 95, 101 – 107, 109 – 111, 113 – 119, 122 – 128, 130, 132, 134 f., 138, 140, 142 – 144, 147, 149 – 151, 153 – 155, 158 – 162, 164 f., 167, 169 f., 173 f., 176 – 181, 184, 186 – 190, 194 – 198, 200, 203, 206, 209, 211, 214 – 220, 222 – 229, 231, 233 f., 236, 238, 241 – 244, 246 – 277 – absolute Möglichkeit 177, 179, 249 f., 276 – Ermöglichungsgrund 76, 247, 249 – 251 – Möglichkeitshorizont 31, 127, 261 – 263, 267, 273 f. – Möglichkeitsregress 277

297

– Möglichkeitssemantik 2 – 7, 12, 15, 61, 63, 89, 121, 135 – 137, 153, 160, 175, 181, 251 – 254, 264, 268, 273 – transintellektuale Möglichkeit 228, 270, 273 – transkonjekturale Möglichkeit 213 f., 228, 230, 270, 273 – transontische Möglichkeit 247 – transrationale Möglichkeit 270, 273 – unendliche Möglichkeit 102 f., 158, 160 f., 165, 251, 272, 275, 277 → Können; Kontingenz; Vermögen Monismus 73, 102, 269 natürliche Name 158 f., 161 – Innominabilität 164, 248, 251 – Negation aller Namen 252 – unaussprechliche Name 158, 160, 163, 167, 234 → Absolute; Begriff; Definition; Einheit; Gott Negation 10, 22 – 24, 26, 29 f., 33, 36 – 39, 41 – 45, 47 f., 54, 57 f., 82, 107, 148, 150 – 153, 178 f., 190, 210, 215, 217 f., 220 f., 252, 254 – absolute Negation 217, 220 f., 227, 230 → Absolute; Begriff; Vernunft – Prinzip → Axiom Nicht-Sein 30, 36, 40, 47, 65, 170, 173 f., 176, 178, 218 Nichtwiderspruch 6, 10 f., 20, 258 f. → Absolute; Prinzip (Axiom) Nicht-Wissen 10 f., 147 – 152, 154, 158, 162, 167, 169, 173, 188, 190, 199, 216, 220, 231, 234, 266, 270, 275 Notwendigkeit 2, 4, 8, 16, 19 – 21, 24, 26, 29 – 33, 37, 41, 43, 48, 50, 52, 60, 68, 70, 82 f., 91, 111 – 115, 117, 119, 121 f., 143 f., 170 – 172, 192, 195, 198, 218 f., 226 f., 241, 249, 253, 268, 273, 275 – absolute Notwendigkeit 115, 152, 186, 211, 226, 238 – hypothetische Notwendigkeit 111 – 114 – noetische Notwendigkeit 37, 121 f., 129 – zeitrelative Notwendigkeit 113 → Prinzip (Axiom); Wirklichkeit

298

Sachregister

Ontologie 3 f., 16 – 18, 27 f., 30, 40 – 43, 62, 79, 84, 104, 117, 119, 158, 166, 182, 235, 264 → Metaphysik; Substanz Optimismus 167, 270 Paradox 17, 71, 106, 148, 152, 233, 269, 271, 273 Perfektibilität 152, 154, 158, 161, 186, 207, 231, 233, 252, 270, 273 – 275 Persistenz 50 f., 61 f., 73 – 75, 268 → Identität Philosophie 2 – 7, 9 f., 15, 17, 20, 28, 43, 47, 49, 62, 80 f., 100, 120 f., 124, 147, 149, 154 f., 163, 167, 172, 182, 187 f., 213 – 215, 235, 267, 269 → Metaphysik Possibilität 78, 81, 142, 160, 173, 175, 187, 194, 243, 246 f., 253 f., 264, 272 f., 275 → Können; Kontingenz; Möglichkeit; Vermögen Potentialität 47, 78, 81, 94, 106 f., 111 f., 135 – 137, 139, 141 – 143, 160, 173, 175, 187, 194, 206, 209, 222 f., 225, 229, 231, 243, 245 – 247, 253 f., 264, 268, 271, 273 – 275 → Können; Kontingenz; Möglichkeit; Vermögen Prinzip → Axiom Proportionalität 148, 151, 153, 173 f., 180, 184 Prozessualität 8, 16, 44, 46, 49 f., 52, 59 – 62, 72 – 74, 76 f., 103, 109 f., 116 f., 119, 180 f., 215, 222, 231, 239, 268 – 271 Alphabetische Stellung falsch! (VOR Proportionalität): Regress 32, 42, 61, 73, 116, 151 – 153, 171 f., 217, 221 – 223, 228, 236, 255, 276 f. Relation 9, 23, 26, 36, 40 – 43, 64, 91 – 93, , 96, 124, 148 f., 163, 180, 198, 203, 205, 213 f., 217, 239, 257, 263, 268 f., 271, 275 Relativismus 49, 91, 152 Sachverhalt 2, 18 f., 25 – 28, 30, 40 – 44, 56, 58, 80 f., 84, 86, 107 f., 110, 112, 153, 200, 253, 256, 275 → Satz; Wahrheit; Wirklichkeit

Satz 15, 17 f., 22 f., 25 f., 28, 32 f., 38 – 40, 43, 58, 60, 75, 78 f., 87, 95, 131, 148, 150 f., 163, 182 f., 187, 243 → Bedeutung; Begriff Satz vom ausgeschlossenen Mittleren 8, 15, 29 – Mittlere (Dritte) 15, 29, 31, 48, 51 – 58, 100, 105 f., 108, 229 → Absolute; Prinzip (Axiom) Schau 126, 191, 209, 211, 215 f., 225 f., 228, 231, 256, 267 Seele 21, 37 f., 70, 99 – 101, 123, 125, 128 f., 139 – 141, 202, 213, 217 f., 222 → Geist; Intellekt; Vernunft; Verstand Seiendes 7, 15, 18 f., 22, 25 f., 28, 30, 41 f., 47 f., 50 f., 60 f., 65, 73, 75, 93, 96, 101, 105 f., 116, 134, 177, 190, 200, 225, 231 → Substanz Selbstanschauung 213, 215, 220, 225, 229 – Selbstbezüglichkeit 121 f., 192, 243, 248 – Selbstdefinition 243 f., 247 f., 264, 276 – Selbstdifferenzierung 202, 207 – Selbstdurchdringung 222 – Selbsttranszendierung 214 f. Signifikation 156 – 159, 161 – 163, 238, 251 f., 270, 272, 275, 277 – Signifikationsprinzip 272 – Signifikationsproblem 276 – Signifikationsrelation 163 → Begriff; Name; Satz Skeptizismus 167, 183, 255, 270 Spekulation 6, 18, 37, 155, 235, 237, 239 f., 243 f., 246, 250, 257, 277 Sprache 8, 17 – 19, 40, 90, 155 f., 159 – 162, 167, 210, 221, 225, 233, 243, 251 f., 268, 272 → Bedeutung; Begriff; Satz Substanz 5 – 8, 15, 17 – 20, 23, 26 – 28, 41 – 43, 48, 52, 57, 60 – 64, 66 – 69, 71 – 77, 84, 89, 93 – 97, 99 – 102, 108, 112 f., 115 – 120, 124, 126 f., 129 – 134, 136, 138 – 140, 144, 183, 225, 234 – 236, 241, 260, 264 f., 268 – 272, 275 → Form; Materie; Vermögen; Wirklichkeit

Sachregister

Theologie 6, 9 f., 124, 127, 148 f., 162, 172, 179, 188, 190, 192, 209, 216, 246, 268 Transintellektualität 215 Transrationalität 215 Transzendentalien 35, 41 Transzendenz 10, 116, 147, 151, 174, 221, 233, 248, 252, 255 f., 260, 264, 269 f., 275 Überstieg 193, 215 unbewegt Bewegende 47, 115 – 117, 119 f., 122, 124, 129 → Form; Prinzip; Vernunft; Wirklichkeit Unendliche 5 – 7, 9 – 11, 32, 41, 55, 61, 102, 116 f., 127, 147 – 151, 153, 155, 159 – 163, 166, 171 – 174, 177 f., 181 f., 184 – 186, 189, 191, 193 – 195, 203, 207 f., 211 – 215, 219, 225 f., 228 f., 231, 236 – 238, 243, 248 f., 251, 255, 260 f., 267 – 270, 272, 275 – 277 Unendlichkeit 6, 9 f., 147, 150 f., 161, 177, 192, 212, 225, 229, 231 f., 244, 260, 263, 270, 277 Universum 114, 119, 154, 158, 177, 182, 185, 193, 212, 224 f., 227, 255, 261, 263, 265 Unmöglichkeit 21, 29, 32 f., 39, 43 f., 82 f., 85, 87 – 89, 114 f., 149 f., 154 f., 160, 167, 170, 173 f., 182, 196, 198, 218 f., 241, 249, 253 f., 260, 270, 276 Ununterschiedenheit 135, 179, 191, 238, 247, 249, 256, 276 Urbild 198, 202 f., 207, 212 – 214, 221, 261 Ursache 1 – 3, 9, 15, 32, 51, 60, 62 – 65, 67 – 69, 71 – 76, 78, 93 f., 96, 99, 110 f., 114, 117, 128, 131, 140, 200, 244, 258, 261 Vagheit 50, 108, 156, 272 Vermögen 11, 53, 62 f., 67 – 80, 82 – 98, 100 – 123, 125 – 129, 133 – 136, 138 – 140, 142, 173, 177 – 179, 199 f., 203, 209 f., 223 f., 226 f., 238, 245, 255, 257 – 261, 268, 270 f., 277 – indefinite Inhärenz 105 f. – indefinite Prädikation 107, 271 – Prädikatsmodalisation 81 → Möglichkeit; Kontingenz

299

Vernunft 21, 120 – 130, 139, 151, 163, 182 f., 188 – 193, 195 – 198, 200 – 232, 266 f., 273 f. – Denken des Denkens 122 – 124 – mögliche (erleidende) Vernunft 1 f., 4, 8, 18, 26, 52, 79 – 85, 89, 95, 101 – 103, 106 f., 109 f., 115, 121, 125 – 130, 132 f., 135 f., 138, 142, 150, 158, 160, 162, 164 f., 173, 176 – 180, 182, 184, 190, 194, 196, 198, 208, 210, 213 f., 223 – 225, 228 f., 231, 243, 246, 250 – 252, 254, 257 – 261, 269 – 274 – tätige (wirkende) Vernunft 94, 122 f., 125 f., 128 – 130, 221, 223 f. → Geist; Intellekt; Seele Verstand 24, 28, 35, 68, 73, 89, 94, 110, 117, 124, 129, 152 f., 156 – 158, 160 f., 163, 171, 176, 179, 181, 183 – 190, 192 f., 195 – 202, 207, 211 f., 215 – 219, 221 – 224, 227, 245, 247, 259, 264 f., 273, 276 Vollendung 89, 98 f., 221 f., 224 – 229, 232 → Form; Wirklichkeit Wahrheit 10 f., 16 f., 19, 24 – 31, 37 – 40, 42 – 46, 49, 58, 60, 107 f., 110, 123, 144, 148, 151 – 155, 158, 172, 178, 185 f., 192, 199 – 201, 208 f., 211 f., 215, 217, 227 – 229, 231, 265, 270, 272, 274 Wahrnehmung 49, 60 f., 72, 91, 123, 126, 189, 199, 202, 210, 217 – 219, 221 – 223, 227, 265 Widerspruch 15, 23 – 25, 27, 29 – 32, 39, 44, 48, 53, 56 – 58, 71, 83, 87, 96, 105, 114, 130, 141 f., 158, 179 f., 184, 194 f., 200 f., 203, 212, 218 f., 221, 225, 270 → Gegensatz; Koinzidenz; Einheit; Logik Wirklichkeit 1, 4, 15 – 19, 24, 26, 33, 38, 40 f., 44, 46 – 49, 51, 58, 60, 68 f., 77, 83 – 85, 87 – 89, 92, 94, 96 – 103, 105 f., 111 f., 114 f., 118 – 122, 125 – 128, 133, 135 – 138, 142 f., 156, 160, 171, 176 f., 179 – 181, 183 f., 194, 200, 205 f., 214, 217, 219, 222 – 226, 228 – 231, 238 f., 241, 246, 250, 258, 260, 263, 268 f., 271, 274, 277 – absolute (reine) Wirklichkeit 3 – 5, 10 f., 16, 113, 116, 120, 123 f., 127 f., 147 f., 150, 155, 162, 164 – 166, 171 f., 174 f., 177 – 181, 184 f., 192, 197, 203, 206, 209, 212 – 215, 217,

300

Sachregister

219 f., 225, 228 – 231, 235 f., 238, 241 – 246, 248, 250 – 253, 255 – 262, 264 – 267, 270, 272 – 277 → Einheit; Form; Notwendigkeit; Vernunft

Zahl 1, 46, 87, 102, 119, 184 – 186, 211, 227 Ziel 3, 5, 21, 31, 62, 73, 95, 98 – 100, 109, 112, 114, 121, 137, 140, 144, 149, 161, 172, 192, 201, 207 f., 212 – 214, 217, 222 f., 225 f., 228, 230 f., 235, 258, 270, 273, 275 → Form; Wirklichkeit