Luther, Türken und Islam : eine Untersuchung zum Türken- und Islambild Martin Luthers (1515-1546) 9783579053714, 357905371X

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Luther, Türken und Islam : eine Untersuchung zum Türken- und Islambild Martin Luthers (1515-1546)
 9783579053714, 357905371X

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
A. Einführung
B. Die Verlegung als interpretatorische Leistung Luthers
C. Luthers Stellung zum Islam in ihrer historischen undtheologischen Entwicklun
D. Gesamtergebnis: Luther, Türken und Islam
E. Quellen- und Literaturverzeichnis
F. Personenregister (in Auswahl

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GÜTERSLOHER VERLAGSHAUS

G Q te rs lo h e r V e rla g s h a u s . Dem Le b e n v e rtra u e n

Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte Im Auftrag des Vereins flir Reformationsgeschichte herausgegeben von Irene Dingel

Band 80

Gütersloher Verlagshaus

Johannes Ehmann

Luther, Türken und Islam Eine Untersuchung zum Türken- und Islambild Martin Luthers (1515-1546)

G ütersloher Verlagshaus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage Copyright © 2008 by Verein für Reformationsgeschichte, Heidelberg Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außer­ halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fiir Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Einband: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978-3-579-05371-4

www.gtvh.de

Hoc possum testari: Cortex meus essepotest durior, sed nucleus meus mollis et dulcis est. Nem ini enim male vob, sed omnibus opto mecum quam optime consultum. Martin Luther (1521)1 Die religions- und turcken handlung nicht können, mögen noch sollen voneinander getaik und abgesindert werden, dieweil alzeit aine an der andern hengt und alzeit aine die ander jurdert oder verhindert. Ruprecht von Moshaim (1542)2

Vorwort

Die Auseinandersetzung mit »dem Türken« gehört zu den Problemen, die Martin Luther von den reformatorischen Anfängen bis zu seinem Lebensende begleitet haben. Von den politischen Implikationen des Ablaßkampfes bis hinein in die Bekämpfung seiner theologischen Gegner sind die Türken präsent: als Reichsfeinde, als Zerstörer der von G ott gesetzten Ordnung, als gewalttätige Häretiker und irrgläubige »Mahometisten«. Während die Türken und ihre Rolle in der Geschichte des Reichs und der Territo­ rien schon häufig Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung waren, hat die Frage des Islam als des »türkischen« Glaubens in der Theologie Luthers bisher eine der Fra­ gestellung angemessene Darstellung nicht gefunden. Dies mag darauf zurückzufuhren sein, daß sachlich und teils methodisch verwandte Fragestellungen durch die Dring­ lichkeit der Aufarbeitung deutscher Geschichte nach 1945 zwangsläufig stärker in den Vordergrund traten, insbesondere die Frage »Luther und die Juden«, deren Horizont zum einen unserer Fragestellung entspricht3 - u.z. nicht nur formal fur die Unter­ suchung des Stellenwerts einer nichtchristlichen Religion in den Schriften des Refor­ mators, sondern auch substantiell, wenn »Türken, Juden und Papisten« bei Luther oft in einem Atemzuge genannt werden. Zum andern aber ist die Fragestellung »Luther und die Juden« mit der »Türkenfrage« gerade nicht kompatibel, wenngleich metho­ dische Parallelen durchaus zu erkennen sind. Luther hat in seinen Türkenschriften

1. 2. 3.

WA 8,47, 3-5 (Rationis Latomianae confucatio). Zitat nach Winfried Schulze, Reich und Türkengefahr, 131. Als jüngste Monographie zum Thema s. Peter v. d. Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden (2002). Die Bezüge zur »Türkenfrage«, die dort aufscheinen, konnten nicht eigens gewürdigt werden. Auf wichtige Teilaspekte ist in den Fußnoten verwiesen.

6

Vorwort

kein innergesellschaftliches Problem4 erörtert, sondern primär ein innzxkirchlichcs* dann außenpolitisches, das rasch zu einem seelsorglichen und ethischen Problem her­ anwuchs, welches seinerseits darauf drängte, den türkischen Glauben zu erfassen. Der Islam als religiöses Phänomen ist Luther nahezu ausschließlich im historischen Kon­ text der politischen Bedrohung durch die Türken begegnet. Bereits 1948 hat Heinrich Bornkamm zu Recht geurteilt: »Luthers Kenntnis der außerchristlichen Religion beruht auf drei Quellen: der Antike, dem Islam und den in der Bibel mitgeteilten und bekämpften Zügen heidnischer Religion. Von diesen Quellen stand er dem Islam, obwohl er mancherlei von ihm wußte, räumlich und sprachlich zu fern, um sich ein wirkliches Bild von der Praxis und dem Wesensgehalt einer heidnischen Religion machen zu können«5. Um so deutlicher ist damit der Sach­ verhalt beschrieben, daß Luthers lebenslange Auseinandersetzung mit den Türken und dem Islam ständig von dem Anliegen bestimmt war, mehr über den Islam in Erfahrung zu bringen, da Antike und biblische Botschaft hier keine direkte Religionskunde zu liefern imstande waren - unabhängig davon, daß Luthers Islambild eindeutig von sei­ nem Schriftverständnis und Deutungswillen auf biblischer Basis bestimmt ist. Daß dennoch auch im Ergebnis Parallelen in der Haltung Luthers zu Juden und Muslimen vorhanden sind, die beide Fragen - man vergleiche aber Luthers unter­ schiedliche Ratschläge: einerseits zur Drucklegung des Koran und andererseits zur Verbrennung des Talmud - in gewisser Weise wieder aneinander rücken, ist dabei nicht zu bestreiten. Allerdings ist dies nicht die Fragestellung, der sich die vorliegende Untersuchung widmet6. Nicht »Luther und die nichtchristlichen Religionen« ist das Thema; vielmehr geht es darum, den Weg nachzuzeichnen, den Luther in der Erfah­ rung der durch die Türken hervorgerufenen Krise theologisch beschreitet bis hin zu einer wie immer gearteten und im folgenden zu erhellenden Wertung der Türken und des Islam. Als diesem Thema verwandt könnte sich dabei durchaus die Frage nach Luthers Stellung im Bauernkrieg erweisen, insofern und insoweit sich der Reformator einem gesellschaftlichen Problem in einer Weise zuwendet, die von der Schroffheit seiner Formulierungen her die ethische oder gar allgemein theologische Relevanz problema­ tisieren dürfte. Auch für die oft harte antitürkische Polemik Luthers gilt jedoch der wissenschaftliche Anspruch, zunächst dem historischen Befund gerecht zu werden, um dann mit der nötigen Freiheit die Aussagen des Reformators zu prüfen. Beide genannten Fragestellungen (Juden, Bauern) - sie ließen sich erweitern durch Täufer, Schwärmer, Sakramentierer, Papsttum usf. - weisen also Verwandtschaften zum hier untersuchten Thema auf: Dennoch erscheint die Fragestellung des Verhält­ nisses Luthers zu Türken und Islam, wie es sich in seinen Schriften - nicht nur den sog. »Türkenschriften«, sondern auch in Kommentaren, Briefen und Predigten - darstcllt, auch nach der Feststellung verwandter Themen als so eigenständig und kon-

4. 5. 6.

Von Problemen mit den wenigen absehen, die das Regiment der Türken - aus welchen Gründen auch immer - herbeisehnen mochten. Luther und das Alte Testament, 38. Es sei aber darauf hingewiesen, daß dem Verfasser gerade aus heutiger Sicht das Verhältnis Chri­ sten und Juden ein anderes, näheres und konstruktiv-spannungsvolleres zu sein scheint - ins­ besondere w'cgen der gemeinsamen und unaufgebbaren Basis der Hebräischen Bibel.

Vorwort

7

sistcnt, daß es sinnvoll erscheint, Luthers Türken- und Islambild methodisch nicht a priori aus den übergreifenden Frontbildungen zu gewinnen, sondern genetisch und systematisch erst zu entwickeln. Dasselbe gilt mutans mutandis auch fur das Problem »Luther und die Mission«. Daß die im Bezug auf den Islam fiir notwendig erachtete religions- und missions­ wissenschaftliche Analyse einen Teil der Studie (zumindest forschungsgeschichdich) beanspruchen muß, bedeutet zugleich nicht, die Frage nach Luthers Stellung zur Mis­ sion zum sachlichen Ausgangspunkt zu erheben. Die Berücksichtigung des Missions­ gedankens hat bei dem im folgenden gebotenen Forschungsüberblick entsprechend zunächst heuristischen Charakter, insofern die Frage nach Luthers Stellung zum Islam in der Vergangenheit zunächst im Rahmen missionstheologischer Studien überhaupt Berücksichtigung gefunden hat. Luther hat terminologisch nicht zwischen Türken und Islam bzw. Muslimen, Osmanischem Reich und »Reich« Mohammeds unterschieden - und dennoch finden sich Ansätze einer Differenzierung. Diese Möglichkeit zur Differenzierung scheint in der Theologie Luthers selbst begründet zu liegen; daraus erklärt sich die umfängliche Berücksichtigung der Zwei-Reichelehre im Zentrum und die Erörterung ihrer Trag­ fähigkeit fiir das interreligiöse Gespräch am Ende der Untersuchung. In Vom Kriege wider die Türken ( 1529) hat Luther seiner Gewißheit Raum gegeben, daß er »mit diesem Buche keinen gnedigen herrn am Turcken finden werde«7. Diese Gewißheit Luthers hat auch den Verfasser immer wieder daran erinnert, daß die vor­ liegende Untersuchung keineswegs den Anspruch erheben kann, »über der Sache« zu stehen, sondern allenfalls einen Aspekt der schwierigen christlich-islamischen wie auch der deutsch-türkischen Beziehungen darstellt - mit all den Komplexen und Äng­ sten, Mißverständnissen und Fehlwahrnehmungen, auch berechtigten Anfragen. Zu deren Klärung kann eine historische und theologiegeschichtliche Arbeit durchaus bei­ tragen. Jedenfalls wäre dies zu hoffen. Damit ist nicht nur ein atmosphärisches, sondern auch sachliches Problem ange­ deutet: Entweder wird Luthers Stellung zu Türken und Islam allein aus der Geschichte der Auseinandersetzungen des Reichs mit der türkisch-islamischen Bedrohung im 16. Jahrhundert begriffen. Dann ist Luthers Stellung zum Islam für eine zeitgemäße theo­ logische Stellungnahme zum Islam (oder im weitesten Sinne einer Theologie der Re­ ligionen) a priori historisch relativiert und nahezu wertlos. Oder: Luthers Stellung zum Türken wird in ihrer ganzen rhetorischen Schroffheit und religionswissenschaft­ lichen Beschränktheit zum Ausgangs- und Zielpunkt auch heutiger kirchlicher Bezie­ hung zum Islam erklärt. Dann wird man zweifellos dem Islam nicht gerecht werden. Es geht entsprechend methodisch um eine dialektische Würdigung zwischen Zeitbe­ dingtheit und zugleich verbindlicher Tendenz der Theologie Luthers. Beide stehen nicht statisch nebeneinander; ebensowenig wie aus Luthers Theologie eine Theologie der Religionen (im pluralistischen oder gar nivellierenden Sinn) erhoben werden kann - dies nicht aus Mangel an Material, sondern von Luthers theologischem Ansatz her. Eine zeitgenössische Theologie der Religionen - in diesem Falle eine Theologie des Islam - die sich Luthers theologischem Denken verpflichtet weiß, wird deshalb den (religionswissenschaftlich) analytischen Weg der Erhellung von Luthers Türkenschrif7.

WA 30/2, 148.23 f.

8

Vorwort

ten gehen müssen und zugleich den systematisch (theologischen) Schritt wagen, reformatorische Theologie (auch außerhalb der Türkenschriften) im Blick auf den Islam zu rekonstruieren, um auf der Basis reformatorischer Theologie Aussagen über das christ­ liche Verhältnis zum Islam zumindest zu ermöglichen. Der Entwurf zu einer Theologie der Religionen oder des Islam liegt jedoch außerhalb des im Rahmen einer histori­ schen Untersuchung Leistbaren. Könnte es aber nicht sein, daß die Frage nach dem Islam eine unsachgemäße wäre, welche Luther historisch überforderte? Die Antwort lautet: Luther selbst schreitet von der bußtheologischen über die ethisch-politische Frage der Bekämpfung der Türken weiter zum Versuch einer sicherlich apologetisch und polemisch gehaltenen theologi­ schen Würdigung des Islam in der Verlegung (Widerlegung) des Alkoran (1542). Eine Herausforderung liegt dabei in der Schwierigkeit, daß Luther in der Verlegung eine theologische Tradition aufgreift, die er meist nur polemisch bedacht hat, nämlich die Tradition der Scholastik, um sie jetzt in seinem Sinne zu interpretieren und zu modifi­ zieren. Erschwert wird dieser Schritt wiederum dadurch, daß Luther davon ausgeht, in der Confutatio Alcorani (1300) des Ricoldus de Montecrucis O.P., die der Verlegung zugrunde liegt, nicht nur unsinnige und billige Polemik (so im Grunde ein früheres Urteil des Reformators) vor Augen zu haben, sondern auf das Selbstverständnis des Islam nach dem Koran selbst gestoßen zu sein. Diese Ausgangsposition Luthers bedarf der kritischen Rückfrage, der Weg des Reformators zur schließlich polemischen Bewer­ tung des Islam der einfühlsamen Nachzeichnung. Dies soll im folgenden geschehen. Die Untersuchung hat mich ein Jahrzehnt begleitet - in Jahren, in denen die Not­ wendigkeit und die Schwierigkeiten des christlich-islamischen Gesprächs in eindring­ licher Weise zutage getreten sind, sei es während meiner Tätigkeit als Gemeindepfar­ rer, sei es während meines Dienstes in der Arbeitsgemeinschaft Chrisdicher Kirchen in Baden-Württemberg (ACK). Vielen bin ich persönlich verpflichtet für Mithilfe und Ermutigung, Begleitung und Kritik. Gerne nenne ich Prof. Dr. Gottfried Gerner-Wolfhard (Karlsruhe), in tiefer Dankbarkeit Prof. Dr. Gottfried Seebaß (Heidelberg) wie auch Prof. Dr. Her­ man J. Selderhuis (Apeldoorn/NL). Die beiden letztgenannten haben die Gutachten erstellt, die im Sommer 2005 die Annahme der Untersuchung als Habilitationsschrift durch die Theologische Fakultät der Universität Heidelberg ermöglicht haben. Herzlich zu danken ist auch der Luthergesellschaft mit ihrem Ersten Präsidenten Prof. Dr. Dr. Johannes Schilling (Kiel), welche die Erstfassung der jetzt gekürzt er­ scheinenden Untersuchung mit dem Lutherpreis 2006 ausgezeichnet hat. Besonderen Dank schulde ich Prof. Dr. Irene Dingel (Mainz) wie dem Verein für Reformationsgeschichte für die Aufnahme in die Quellen und Forschungen zur Re­ formationsgeschichte. Um die Korrekturfahnen hat sich in präziser Arbeit Frau Tanja Marek (ebenfalls Mainz) gekümmert und damit dem Verfasser manch peinlichen Feh­ ler erspart. Weiterer Dank gebührt der Evangelischen Landeskirchen in Baden sowie der ACK in Deutschland fur die finanzielle Unterstützung zur Drucklegung. Widmen möchte ich die Untersuchung meiner Frau Annette. Ohne sie wäre die Untersuchung wohl nie ans Ziel gelangt. Ludwigshafen/Rhein, im Sommer 2008

Johannes Ehmann

Inhalt

A.

E in fü h ru n g .............................................................................................................

15

1.

M ethode und Aufbau der U n te r s u c h u n g ....................................................... a) Formale Annäherung .................................................................................... b) Inhaltliche A n n ä h e r u n g ................................................................................ Historisch-genetische oder systematische D a rste llu n g ............................. Chronologische oder sachlich gewichtete D a rstellu n g ............................. Integrierte (religionswissenschaftliche und theologische) Darstellung c ) Z i e l ....................................................................................... ' ...........................

15 15 17 17 18 18 19

2.

F o rsc h u n g sü b e rb lic k ........................................................................................... a) D ie Forschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts ........................................ Hermann Barge (1916) Gottfried Simon ( 1 9 1 8 ) ............................................................................ Herbert Vossberg (1 9 2 2 )............................................................................ b) D ie Forschung der dreißiger u n d vierziger J a h r e ........................................ Walter Holsten (1 9 3 2 )................................................................................ Helmut-Wolfhardt Vielau ( 1 9 3 6 ) .............................................................. Helmut Lamparter ( 1 9 4 0 ) ......................................................................... C Umhau Wolf ( 1 9 4 1 ) ............................................................................ George Wolfgang Forell (1 9 4 5 ).................................................................. Hans Pfeffermann ( 1946) c) D ie Forschung der fünfziger u n d sechziger J a h r e ........................................ Rudolf Pfister (1953-56)............................................................................ Norman Daniel (1960) Richard W. Southern ( 1 9 6 2 ) ..................................................................... Hans-Jürgen Uhl (1 9 6 5 )............................................................................ Hartmut Brenner (1 9 6 8 )............................................................................ d) D ie Forschung der siebziger J a h r e .................................................................. Carl Göllner (1943-75) ............................................................................ C. Bernd Sucher ( 1 9 7 7 ) ......................................................................... Siegfried Raeder ( 1 9 7 8 ) ............................................................................ Carl Heinz Ratschow ( 1 9 7 9 ) ..................................................................... Willem Nijenhuis (1979) e) D ie Forschung der achtziger u n d neunziger J a h r e .................................... Rudolf Mau ( 1 9 8 3 ) .................................................................................... Walter Beltz ( 1 9 8 3 ) .................................................................................... Johannes Wall mann (1986) Ludwig Hagemann (1 9 8 3 /1 9 9 4 ).............................................................. Reinhard Klockow ( 1 9 9 4 ) ......................................................................... Hartmut Bobzin ( 1 9 8 5 ) ............................................................................ Herben Blöchle (1995) ............................................................................

20 20 20 23 24 27 27 30 33 35 37 39 40 40 42 42 43 46 47 47 50 52 54 56 58 59 61 62 64 65 66 69

10

Inhalt

0

Karl-Josef Kuschel (1998) Martin Brecht (1997/2000) Ergebnis ............................................................................................................

70 72 72

B.

D ie Verlegung als interpretatorische Leistung Luthers

..................................

75

1.

Beobachtungen zur lateinischen u n d deutschen Textüberlieferung . . . . Methodische E rw ä g u n g e n ........................................................................... Beobachtungen zu Luthers Glossen zum lateinischen und deutschen Text Verworfenheit .............................................................................................. Multiple Häresie des Koran bzw. M o h a m m e d s.......................................... Konkupiszenz bzw. »Fleischlichkeit«............................................................ Ironische Beipflichtung ............................................................................... Ethnische Polemik ....................................................................................... Antikatholische P o le m ik ............................................................................... Theologische P o le m ik ................................................................................... Zusammenfassung .......................................................................................

75 75 76 82 83 83 84 86 87 89 92

2.

Luthers interpretatorische M i t t e l ....................................................................... a) Textkürzungen .................................................................................................. b) T exterw eiteru n g en.............................................................................................. c) Stilistische M i t t e l .............................................................................................. Metaphorische Sprache ............................................................................... Erweiternde E rläuterungen........................................................................... Wiedergabe lateinischer Termini durch mehrere deutsche Wörter . . . . Reihungen gleichbedeutender W ö r t e r ........................................................ Aflfektiv-empathische Sprache .................................................................... Einbeziehung des L e s e r s ............................................................................... Assonanzen und Reime ............................................................................... I r o n i e ............................................................................................................. Wortwahl ..................................................................................................... Zusammenfassung ...................................................................................... d) D as rhetorische genus ...................................................................................... Form und Aufbau (G liederung).................................................................... P red ig t............................................................................................................. Genus elocutionis - sermo humilis ............................................................ e) Ergebnis .............................................................................................................

94 94 99 102 102 104 107 108 108 109 110 110 112 112 113 115 125 126 128

3.

L uther u n d der Islam nach der V e rle g u n g ........................................................ a) G la u b e ................................................................................................................. b) T r in itä t................................................................................................................. c) Christologie u n d In k a rn a tio n ........................................................................... d) M ariologie ......................................................................................................... e) W ahrheit, Schrift u n d O ffenbarung (H eiliger G e is t) .................................. Exkurs 1: Die Confuuitio und die Traditionen der Legenda aurea . . . . f) M o h a m m e d ......................................................................................................... »B iographie«.................................................................................................. Der P r o p h e t .................................................................................................. Der »Grobe.......................................................................................................

131 132 136 139 142 144 149 152 153 155 159

Inhalt

g) h) i) k) l)

m)

C.

Der »Narr«.............................................................................................. Die »faustische« G e s ta lt......................................................................... Wunder und V e rn u n ft................................................................................ Buße und Rechtfertigung(V orschriften)..................................................... Ehe und Sexualität ................................................................................... Eschatologie................................................................................................. Gesetz und Gesellschaft................................................................................ Exkurs 2: Luthers Verlegung und Heinrich Knausts Herkunft M ohammeds............................................................................ Ergebnis ....................................................................................................

11 160 162 164 168 171 176 179 183 189

Luthers Stellung zum Islam in ihrer historischen und theologischen E n tw ick lu n g ............................................................................

191

1.

Die Verlegung des Alcoran in geschichtlicher P e rsp e k tiv e ............................

191

2.

Die Türken als Kristallisationspunkt bußtheologischer Auseinander­ setzungen beim jungen Luther (Kreuzzugsidee u. Ablaßfrage 1513-1321) 193 a) Die Türken in Frühschriften desjungen Luther (bis ca. 1 5 2 0 ) .............. 193 Theologische Einsichten: Die theologia crucis in den frühen Auslegungen 193 Ablaßfrage und Streit um den Türkenkrieg............................................. 204 Briefwechsel...............................................................................................208 Der Streit um den Bann und die Bannandrohungsbulle Papst Leos X. . . 211 b) D ie Hauptschriften des Jahres 1520 und weitere Schriften bis 1521 . . . 216 An den christlichen Adel ............................................................................. 216 Von der babylonischen Gefangenschaft der K ir c h e .......................................... 219 Von den guten W e r k e n .................................................................................220 Luthers Auseinandersetzung m it den Universitäten Löwen, Köln und Paris 223 c) Ergebnis .........................................................................................................224

3.

Die Bekämpfung der Türken als ethisches Problem in den Relationen der Theologie Luthers (Zwei-Reiche-und Drei-Stände-Lehre 1521-1529) . . 227 a) Historische und theologiegeschichtliche H in fu h r u n g ....................................227 Die Türkengefahr in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts . . . . 227 Theologische Einsichten: Von weltlicher Obrigkeit (1523) und ethische Konsequenzen der Zwei-Reiche-Lchre...........................................232 Theologische Einsichten: Drei-Stände-Lehre ( 1523/1528)..................... 236 b) Schriften der zwanziger Jahre ...................................................................... 239 Antimonastische Polemik: De votis monasticis iudicium ( 1 5 2 1 ) .............. 239 Antiklerikale Polemik Luthers: Wider den falsch genannten geistlichen Stand des Papstes und der Bischöfe (1 5 2 2 ) .......................................................... 242 Eheverständnis und Stände-Lehre: An die Herren deutschen Ordens (1523) 244 Eschatologie und Bildungsauftrag: An die Ratsherren aller Städte ( 1524) . . 245 Wunderzeichen und Wort: Wider den neuen Abgott ( 1 5 2 4 )..................... 247 Eschatologisch-apokalyptisch akzentuierte (ständische) Büßpredigt: Ein B riefan die Fürsten zu Sachsen ( 1524) und Ermahnung zum Frieden ( 1525) 248 Briefwechsel ( 1520-29) 251 Seelsorge: Vier tröstliche Psalmen ( 1 5 2 6 ) ................................................ 255

12

Inhalt

Friedensethik: Ob Kriegsleute auch in seligem Stand sein können ( 1526/27) 259 Ein Unterrichtung wie sich die Christen ynn Mose sollen schicken ( 1527) . . 260 Unterricht der Visitatoren ( 1 5 2 7 /2 8 )............................................................ 262 Summarium und Vermächtnis: Vom Abendmahl Christi ( 1 5 2 8 ) ............... 264 Summarium und Bekenntnis: Der Deutsch (Große) Katechismus ( 1529) . . 265 c) Luthers S chrift » Vom kriege w idder die Türcken« ( 1 5 2 9 ) ........................... 268 Entstehung und Veranlassung .................................................................... 268 Theologische Systematik ( 10 T h e s e n ) .........................................................271 d) »D efätism us,, Glaubenskrieg«? - Anfragen an H . J. Kissling. J. Engel u n d W S c h u lz e ....................................................................................................... 284 e) Ergebnis ............................................................................................................. 289 4.

T ü rk en u n d Islam: theologische (eschatologisch-apokalyptische) D eutung un d geschichdiche E rfahrung ( 1 5 2 9 - 1 5 3 9 ) ..................................................... 292 a) Historische u n d theologiegeschichtliche H in fiih r u n g ....................................... 292 Protestantismus und Türkengefahr in den dreißiger J a h r e n .......................292 Theologische Einsichten: Eschatologie und Apokalyptik bei Luther . . . 296 Theologische Einsichten: Prophetie bei Luther (Zeichen, Vernunft, Schrift) 302 b) Vier Türkenschriften L u th e r s ................................................................................ 311 (I) Die Heerpredigt ( 1 5 2 9 ) ........................................................................... 311 Georg von Ungarns Tractatus de moribus, condictionibus et nequicia turcorum (1481) und Luthers Heerpredigt ...................................................... 319 (II) Luthers Vorrede zum Libellus de ritu et moribus Turcorum ( 1530) . . 324 (III) Vorrede zu Johannes Brenz Homiliae viginti duae sub incursionem Turcarum ( 1 5 3 2 ) .......................................................................................... 327 (IV) »Christlicher Bericht« (1532) und Briefwechsel bis 1532 ............... 329 c) Vorreden zu r B ibel u n d S c h rifta u sle g u n g ..................................................... 332 Vorrede zur Johannesapokalypse ( 1 5 3 0 ) ......................................................... 332 Vorrede über den Propheten Daniel ( 1 5 3 0 ) ................................................. 335 Luthers Auslegung von Ezechiel 38 und 39 ( 1530) .................................. 337 Vorrede auf die Propheten ( 1532) ................................................................ 341 In Esaiam Scholia ( 1 5 3 2 / 3 4 ) ........................................................................ 343 Große Galaterbriefauslegung ( 1531/35) 344 Vier Psalmenauslegungen (15311 3 3 /3 5 )..........................................................349 Von der Winkelmesse und Pfaffen weihe ( 1 5 3 3 ) ............................................. 351 d) Briefwechsel, Predigten, T isc h re d e n ................................................................ 353 Briefwechsel der späten dreißiger Jahre ( 1 5 3 5 -3 9 )...................................... 353 Predigten zu Mariae Heimsuchung (1525/32/35) - Türken und Mariologie 356 Tischreden ( 1 5 3 2 - 3 7 ) ................................................................................... 358 e) K a m p f gegen Türken, Schw ärm er u n d P a p is te n ......................................... 361 Übersicht (1534-39) 361 Theologische Einsichten: Verwerfung der Schwärmer ( 1. Johannesbrief und Genesisauslegung)................................................................................... 362 Theologische Einsichten: Vernunft - die Disputatio de homine ( 1536) . . 367 Schmalkaldische Artikel ( 1 5 3 6 -3 8 )................................................................ 370 Auslegung des Johannesevangeliums ( 1537-40) 371 Bulla de indulgentiis contra Turcam ( 1 5 3 7 ) ................................................. 389 Von den Konziliis und Kirchen ( 1539) ......................................................... 391 Disputationsthesen über M t 19,21: Recht a u f Widerstand gegen den Kaiser? ( 1 5 3 9 )........................................................................................... 393

Inhalt

0

Ergebnis

13

.....................................................................................................400

3.

Innerer und äußerer Kampf gegen Türken und den Islam (1540-1346) 403 a) historische und theolopegeschichtliche Hinfiihrung:»Luther's last battles* 403 b) Luthers Predigten über Psalm 72 ( 1 5 4 0 ) ............................................... 406 c) Die »Vermahnung zum Gebet wider den Türken*( 1 5 4 1 ) ..................... 409 d) »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort* (1541/42) und die »Verlegung* ( 1 5 4 2 ) ..................................................................................................... 415 Ein Kinderlied ........................................................................................ 415 Die Verlegung (Genese) ........................................................................... 417 Authentische Koranrezeption? .................................................................419 e) Die Gutachten zur Basler Koranausgabe ( 1 5 4 3 )..................................... 422 Das briefliche Gutachten...........................................................................422 Die Vorrede zur Konranausgabe Theodor Biblianders ( 1543)................. 424 Humanistisches Denken und humanistische Rhetorik (Reuchlin und Luther).............................................................................. 427 0 Letzte Äußerungen L uthers...........................................................................429 Von den letzten Worten Davids.................................................................429 Vermahnung an die Pfarrherm in der Superattendenz Wittenberg ( 1543) 433 Kurzes Bekenntnis vom heiligen Sakrament ( 1 5 4 4 ) .............................. 434 »,Miliesimo Sexcentesimo veniet Turms*: eine Inschrift Luthers im Lutherhaus; zwei Briefe und Auslegung zu Psalm 2 (1545/46) .............. 435 g) Die Türken als E p ik u re e r................ 437 h) Ergebnis ......................................................................................................442

D.

Gesamtergebnis: Luther, Türken und I s la m ................................................... 445

1. Die Verlegung in historisch-genetischer Perspektive der Theologie Martin L u th e rs..............................................................................................

445

2.

Die Verlegung in systematischer Perspektive - verdichtete Einsichten . . . 450 a) Buße und Rechtfertigung.............................................................................. 450 b) Zwei-Reiche- und Drei- Stände-Lehre.......................................................... 453 c) Geschichts- und Prophetieverständnis.......................................................... 455 d) Glaube und V e r n u n ft..................................................................................459 e) Inkamationstheologie und Schwärm erkritik................................................ 460 0 Wort und R hetorik........................................................................................ 463

E.

Quellen- und Literaturverzeichnis

E

.................................................................467

Personenregister (in Ausw ahl)............................................................................ 497

A. Einführung

1. Methode und Aufbau der Untersuchung a) Formale Annäherung Die Verlegung des Alcoran (1542) darf innerhalb der Schriften Martin Luthers einen besonderen Stellenwert beanspruchen. Zwar gehört sie sicherlich nicht zu den be­ kannteren oder gar zu den in Kirche und Gemeinde zu besonderem Einfluß gelangten Werken des Reformators, auch zeigt sie Luther wie in vielen anderen Schriften sowohl in der Rolle des Prüfenden und polemischen Kämpfers wie auch seelsorglich be­ stimmten Mahners - dies allerdings in einem für die Lutherforschung und -kenntnis bisher eher marginalen Bereich, den zeitgenössische Theologie oft der Religionswis­ senschaft und der Theologie der Religionen zuweist: der Auseinandersetzung mit dem Islam. Kann als Ausgangsfrage der Verlegung formuliert weiden, »was Mahmets Glau­ be were«1, so liegt ihr Ziel in der polemischen Widerlegung und apologetischen Zu­ rückweisung aller offenbarungstheologischen Ansprüche Mohammeds, des Koran und damit des Islam selbst. Nun ist jedoch mit Fug und Recht zu fragen, ob es sich bei der Verlegung überhaupt um eine Schrift Martin Luthers handelt. Die Frage ist nicht etwa dadurch verursacht, daß die Autorschaft des Reformators im Zusammenhang der Verlegung zweifelhaft wäre, sondern zunächst vom Charakter der Conjutatio Alcorani, auf der Luthers Ver­ legung basiert und bei der es sich um das - naturgemäß lateinische - Werk eines scho­ lastisch gebildeten Dominikaners, Ricoldus de Montecrucis, im Übergang vom 13. zum 14. Jahrhundert handelt. Ist also die Verlegung gar keine originale Schrift Luthers? Zweifellos ist sie das nicht, insofern Luther selbst keinen Zweifel daran läßt, daß es sich bei der Verlegung um die Übersetzung eines Textes »Bruder Richards«2 - eben der Confutatio Alcorani3 (um 1300) - handelt, deren Übertragung ins Deutsche Luther 1542 aus bestimmten, noch näher zu erhellenden Gründen sinnvoll erschien. Wieder­ um leidet es jedoch keinen Zweifel, daß es sich bei der Verlegung um eine Schrift handelt, die, wiewohl von der Conjutatio ausgehend, ganz die Züge des Reformators trägt und aus dem kreativen Umgang Luthers mit dem lateinischen Text erwachsen ist. Dieser kreative Umgang geht jedoch über die direkte Übertragung weit hinaus: Die willendich interpretierende Wortwahl des Übersetzers, die teils erheblichen Auslas­ sungen und Erweiterungen in der Übertragung, auch die Rahmung der Conjutatio durch das Vor- und Nachwort der Verlegung sind als Eigenleistung Luthers zu bewer-

1. 2.

3.

WA 53, 272,13. Vgl. WA 53, 272,3. Im Zusammenhang wörtlicher Rede Luthers ist Richard(us) als Eigenname des Dominikaners Ricoldus de Montecrucis bcibehalten. Im historischen Zusammenhang ist von Ricoldus die Rede. Die lateinische Überlieferung des Ricoldus wird künftig mit Conjutatio bezeichnet, auch wenn dieser Titel nicht auf Ricoldus zurückgeht, die deutsche Luthers mit Verlegung.

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Einführung

ten, die soweit reicht, daß schließlich eine von der Confutatio in Sprache, genus und Theologie klar zu unterscheidende Schrift vorliegt. Aus diesem Sachverhalt ergibt sich für die Untersuchung die Notwendigkeit, Con­ futatio und Verlegung zunächst vergleichend einander gegenüber zu stellen. Dies ist in Ansätzen bereits in der von Heinrich Barge besorgten kritischen Ausgabe der Ver­ legung geschehen. Da es jedoch sinnvoll erschien, über die in WA geleistete Arbeit hinaus der Verlegung eine deutsche Übersetzung zur Seite zu stellen, welche durch Vergleich auch der beiden Übersetzungen, der modernen, wie der Luthers, die Erhe­ bung von Rezeption und Interpretation der Confiitatio durch Luther erleichtert, hat der Verfasser 1999 eine synoptische Präsentation samt Übersetzung vorgelegt und mit einem Sachkommentar versehen. Auf diese Ausgabe456wird aus Platzgründen im fol­ genden mehrfach verwiesen. Der Sicherung der kreativen und interpretatorischen Leistung Luthers in der Re­ zeption der Confiitatio ist Teil B gewidmet. Eine ausgebildete Methode zur literari­ schen Analyse von Lutherschriften liegt bisher nicht vor; so mußte (und konnte) die Analyse durchweg von Kriterien bestimmt sein, die aus der formalen Beobachtung im Vergleich der (lateinischen) Confutatio und der (deutschen Fassung als) Verlegung ihre Kriterien gewinnt. Es gehört allerdings zum Anliegen der Untersuchung, diese Analy­ se auch mit Hilfe rhetorisch-germanistischer Methodik durchzufuhren. Wem bei der Lektüre die diesbezügliche Einzelanalyse der Confutatio6 zu detailliert erscheint, mag erst die Ergebnisse zu Kenntnis nehmen, die im Inhaltsverzeichnis am Ende eines je­ weiligen Abschnitts ausgewiesen sind, und die Analyse zum Einzelbeleg heranziehen. Über die Zielsetzung der Teile C und D gibt die folgende Inhaltliche Annäherung Auskunft. Der nach diesen methodischen Erwägungen gebotene Forschungsüberblick (Teil A) dient der Orientierung hinsichtlich einer repräsentativen Auswahl der For­ schung bezüglich des näher zu beleuchtenden Fragekomplexes »Luther und die Tür­ ken«. Dies ist darin begründet, daß die Untersuchung den politischen Horizont der Türkenfrage im 16. Jahrhundert für die Bewertung der Stellungnahmen Luthers kaum ausblenden kann; zugleich - und dies ist stärker zu gewichten - dient die Aus­ wahl aber auch der Profilierung der Aufgabenstellung als Frage nach dem Verhältnis Luthers zum Islam als religiöse Erscheinung. Ausgangspunkt ist dabei die Forschung Heinrich Barges (1916), dessen Studien zum Themenkomplex Luther-Türken-Islam aus den Arbeiten zur Herausgabe der Verlegung im Rahmen der kritischen Gesamt­ ausgabe der WA erwachsen sind, so daß die Orientierung über die Forschungslage sich vom Beginn bis zum Ende des 20. Jahrhunderts - endend mit den Untersuchungen Martin Brechts zum Islambild Luthers (1997/2000) - erstreckt. Weitere über den Überblick hinaus wesentliche Einsichten und Forschungsergebnisse werden in den jeweils einschlägigen Zusammenhängen genannt. Die Literaturangaben in den Fußnoten sind in Kurzform notiert, d.h. nur mit 4. 5.

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WA 53, 272-396. Ricoldus de Montecrucis, Confutatio Alcorani (1300). Martin Luther, Verlegung des Alcoran (1542). Kommentierte lateinisch-deutsche Textausgabe von Johannes Ehmann, Würzburg-Al­ ten berge 1999; im folgenden zitiert mit: Confutation ed. Ehmann. WA 53, 272-396; vgl. Confutation ed. Ehmann, 26-182, mit Luthers Nachwort (184-189). Eine gute Zusammenfassung der Confutatio bietet Ludwig Hagemann: Der Kur’an im Verständnis und Kritik bei Nikolaus von Kues, 55-67.

Methode und Aufbau der Untersuchung

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Nennung des Haupttitels7; alle weiteren bibliographischen Daten sind im Literatur­ verzeichnis auffindbar. Häufiger genannte Titel sind mit dem Kürzel angeführt, unter dem sich im Literaturverzeichnis der ausgewiesene Gesamttitel findet. Die Darstellung der Position Luthers macht eine umfangreiche Belegung der Zitate unabdingbar. Häufig kommt, wenn es vom Umfang vertretbar scheint, Luther im fordaufenden Text selbst zu Wort. Darstellung und Belege sind - darin Heinrich Bomkamm folgend - so gehalten, daß deudich wird, welche Lutherschrift gemeint ist - »anstelle der sinnlosen Wiederholung des Siegels W. A.«8. Als nicht lösbar erwies sich die Frage der Umschrift islamischer Termini (türkisch bzw. arabisch). Zwar bietet die Fachliteratur häufig Umschrifttabellen; diese sind aller­ dings nicht einheitlich und deshalb bei Beibehaltung der in den Zitaten ebenso unter­ schiedlich wiedergegebenen Termini sinnlos. Die Präsentation orientiert sich deshalb im allgemeinen an der ungefähren Aussprache; in wenigen Fällen (z. B. mirag/miradsch) ist ein Terminus in doppelter Schreibweise aufgenommen. Gleiches gilt für den umgangssprachlichen Gebrauch mancher Namen und Begriffe (z. B. Mohammed statt Muhammad oder Koran statt kur an). Schließlich - auch hier ist in der Literatur keine Einheitlichkeit (mehr) anzutrefFen - hält sich die Darstellung an die konservative Deklination fremdsprachiger Termini. Der Genitiv bei Koran und Islam wird entspre­ chend ohne Schluß-S gebildet. Auch ist die »alte« Rechtschreibung beibehalten.

b) Inhaltliche Annäherung Die zweite Besonderheit von Luthers Verlegung besteht im expliziten Vorsatz Luthers, den Islam - sicherlich ausgelöst durch die Türkenfrage, aber in den Türkenschriften des Reformators noch nicht hinreichend im Blick - als Religion zu widerlegen. Was heute selbstverständlich erscheint, den Islam als Weltreligion zu würdigen, ist Luther fremd. Besonderes Augenmerk liegt deshalb - dies in Rechnung stellend - in der Ana­ lyse und Bewertung, die Luther hinsichtlich der religiösen Überzeugung der ihm als politische Bedrohung begegnenden Türken aufgrund seiner eigenen theologischen Vor­ aussetzungen und seines religionsgeschichtlichen Wissensstandes über islamischen Glauben vornimmt - einen Glauben, der sich auf den Koran stützt und in Spannung zu den Fundamentalartikeln des christlichen Glaubens steht. Diese Überlegungen bilden den sachlichen Ausgangspunkt, der hineinfuhrt in eine Fülle weiterer methodischer Fragestellungen, die den Aufbau der Untersuchung be­ treffen und in Einklang zur formalen Annäherung zu bringen sind: Historisch-genetische oder systematische Darstellung9 Eine systematische Darstellung unter Absehung des historisch-genetischen Prozesses in der Theologie Luthers würde der Themenstellung nicht gerecht. Zum einen bilden 7. 8. 9.

Die vollständige Bibliographie findet sich allein im Überblick zur Forschungsliteratur. Heinrich Bornkamm, Luther und das Alte Testament, V. Vgl. dazu auch Bernhard Lohse, Martin Luther, 149-151 (»Die Frage des Aufbaus einer Dar­ stellung von Luthers Theologie; systematische oder historisch-genetische Darstellung«).

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Einführung

»die Türken« - eine Bezeichnung, die sehr häufig, jedoch nicht in allen Fällen, als synonym mit »Muslime«10 gelten kann - ein Thema der Schriften und Predigten Lu­ thers, das sein gesamtes Lebenswerk von der Frühzeit der Reformation bis hin zum Lebensende durchzieht, woraus die Hypothese erwächst, daß eine theologische Ent­ wicklung, vielleicht Veränderung, mindestens aber Reifung verfolgt und nachgewie­ sen werden kann. Zum andern gibt es bei Luther selbst Hinweise darauf, daß seine Sicht des Islam Wandlungen unterworfen ist, deren Motive in der geschichtlichen Erfahrung der Türkennot einerseits und der im Laufe seines Lebens recht späten Wahrnehmung überlieferter Kontroversliteratur zum Islam andererseits liegen. Dies bedeutet, daß die gesamte theologische Entwicklung des Reformators in Augenschein zu nehmen, insbesondere aber auf evtl. Veränderungen des Türken- und Islambildes hin zu überprüfen ist: vom Marginalthema der reformatorischen Anfänge über die Türkenschriften bis hin zur Verlegung (Teil C). Diese Perspektive bedarf freilich der Ergänzung. Chronologische oder sachlich gewichtete Darstellung Tendiert das eben Angeführte zu einer methodischen Lösung unter dem historischgenetischen Aspekt, so ist zugleich eine gegenläufige Betrachtung sinnvoll, die sich auch im Aufbau der Untersuchung niederschlägt. Dies bedeutet näherhin, daß, ent­ gegen einer rein historisch-genetischen Darstellung, der Beschäftigung Luthers mit der C onfutatio des Ricoldus ein besonderer Stellenwert eingeräumt wird, der die Re­ zeption eines Textes aus der Scholastik durch den Reformator ins Z en tru m der Unter­ suchung rückt und nicht an deren Ende, worin jene unter rein historisch-genetischen Gesichtspunkten im Rahmen einer Theologie des »späten« Luther einzuordnen wäre. Gerechtfertigt ist diese gegenläufige Betrachtung durch das Gewicht, das Luthers Ver­ legung als expliziter Auseinandersetzung mit dem Islam zukommt. Luther hat die Verlegung nicht im Elfenbeinturm verfaßt. Aus ihr selbst heraus ist allerdings zu zeigen, daß dem Werk in Rezeption sowie in theologischer und rhetori­ scher Adaption grundsätzlicher Charakter eignet, der über die bekannten Türken­ schriften des Reformators und schon gar über Fragen der Türkenabwehr an vielen Stellen seines Schrifttums hinausführt. Aus diesem Grunde ist die umfassende Analyse der Verlegung Luthers (Teil B) der historisch-genetischen Betrachtung des übergeord­ neten Themas vorangestellt. Kapitel D. I faßt die Ergebnisse der beiden Hauptteile B und C zusammen, während Kapitel D.2 bestrebt ist, in Aufnahme der Ergebnisse der Lutherforschung den aktuellen Horizont der Fragestellung zu beschreiben. Integrierte (religionswissenschaftliche und theologische) Darstellung Die Bearbeitung der Verlegung (Rezeption und Interpretation) führt notwendig zu einer Darstellung, welche zunächst die Quellen (Tradition) Luthers zur Kenntnis nimmt. Das Interesse liegt dabei nicht nur auf der rcligionsgcschichtlichen bzw. reli­ 10.

Vgl. dazu Luther seihst im Nachwort zur Verlegung. *So mlisten die TTircken oder Mahmetisten solche l.eute sein, die sich mit dem Teutfel verbinden, verpflichten und verschreiben ...«■ WA S3. 389,16-18. Auf die lêrminologie wird noch mehrfach eingegangen werden.

M ethode und Aufbau der Untersuchung

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gionswissenschaftlichen Überprüfung der Luther vorliegenden Tradition11, sondern in der theologiegeschichtlichen Frage des Stellenwerts scholastischer Tradition fiir den Reformator, der in seinem theologischen Denken zweifelsohne mit dieser Tradition und deren philosophischen Voraussetzungen gebrochen hat12. Die Sicherung sowohl religionswissenschaftlicher Erkenntnisse wie auch erster Beobachtungen hinsichtlich des Rezeptionsverfahrens Luthers muß durch eigene methodische Schritte vollzogen werden, wie bereits in der o.g. Präsentation und Kommentierung versucht wurde13.

c) Ziel In Teil D wird das Gesamtergebnis präsentiert, und zwar unter dem besonderen Ziel­ aspekt der Tragfähigkeit von Luthers Theologie fiir theologisches Denken, das sich dem Gespräch mit dem Islam nicht verschließen will und kann. Die Untersuchung versteht sich somit als historische, auf die Person Luthers bezogen: theologiegeschicht­ liche Arbeit; theologisch ist ihr Anliegen darin, daß die aus der Erfahrung Luthers mit Türken und Islam zu gewinnenden Einsichten zumindest als Frage an zeitgemäßes kirchlich-theologisches Denken weitergegeben werden und ihre Aufgabe nicht nur in der Erhellung des Vergangenen finden sollen. Entsprechend wird die Verlegung als historischer wie systematischer Zielpunkt der Entwicklung des Türken- und Islam­ bildes Luthers vorgefuhrt werden - aufbauend auf den zuvor herausgearbeiteten Er­ gebnissen zur theologischen Systematik Luthers, die gegenüber Türken und Islam seit 1515 zu veranschlagen sind.

11.

12. 13.

Eine solche Betrachtung dürfte lediglich zu dem Ergebnis kommen, daß bzgl. der antiislamischen Polemik kein grundsätzlicher Unterschied zwischen Luther und dem allgemeinen Strom der abendländischen Sicht des Islam festzustellen ist - ein Ergebnis, über das die vorlie­ gende Untersuchung hinausfuhren will. Zur religionswissenschaftlichen Überprüfung vgl. auch Confidtario, ed. Ehmann, 9-11 und 192-322 (Kommentar). Immer noch maßgebliche Darstellung des Verhältnisses Luthers zur scholastischen Tradition bei Wilhelm Link, Das Ringen Luthers um die Freiheit der Theologie von der Philosophie. S.o. Anm. 5. Es ist dort der ausführliche Kommentar, der die islamischen Traditionen zu klären versucht - und zwar als Traditionen, wie sie Ricoldus einerseits als Glied in der Kette der antiisla­ mischen Polemik aufnimmt und durch eigene Erfahrung angereichert weitergibt, andererseits als Traditionen, die Luther teils reflektiert, teils unreflektiert übernimmt, um sie im Horizont der eigenen reformatorischen Theologie und Verkündigung fruchtbar zu machen.

2. Forschungsüberblick14 a) D ie Forschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Hermann Barge (1916)15 Die theologische Erforschung des Islam steht, soweit sie nicht der Orientalistik ver­ pflichtet ist, bis in die dreißiger Jahre und teilweise darüber hinaus in Licht und Schat­ ten der zeitgenössischen Missionstheologie. So erstaunt es nicht, daß die kirchenhisto­ rischen Forschungsarbeiten Hermann Barges, die offenbar nach Abschluß der Vorarbeiten zur kritischen Ausgabe der ConfutatiolVerlegung im Rahmen der WA (je­ doch vor deren Erscheinen16) in der Allgemeinen Missionszeitschrift erschienen, an einen weiteren Leserkreis gerichtet sind. Barge hat, was die von den Fragen der Textedition unabhängige historische Analyse und Wertung betrifft, der Überlieferung der C onfutatio sowie Luthers Stellung zum Islam einen weiteren Raum widmen können. Es ist auch plausibel, daß Barge neben der Einführung zum 53. Band der WA zwei Beiträge lieferte, deren erster sich ganz mit der C onfutatio des Ricoldus, der zweite mit Luthers Stellung zum Islam aufgrund der Verlegung befaßt. Die Würdigung des Ricoldus durch Barge ist wohlwollend. Der Dominikaner gilt, obwohl scholastischem Zeitgeist verhaftet, als nüchterner Theo­ loge, der sich als Prediger in Florenz einen Namen macht und einem übersteigerten Wunderglauben entgegentritt17. Die besondere Bedeutung des Ricoldus liegt jedoch im Bericht über seine Missionsreise1819,die ihn einerseits als naiven Besucher der heili­ gen Stätten des Christentums, andererseits als unbefangenen und interessierten Beob­ achter der religiösen Phänomene des Orients erweist. Insbesondere würdigt Barge die Leistung des Dominikaners, der sich eine gründliche Kenntnis des Arabischen zur Forschung im Koran und der Koranwissenschaft verschafft, um seine Eindrücke vom Islam und den Muslimen aus erster Hand sammeln und niederlegen zu können. Teil­ weise sind diese Reiseerfahrungen auch in sein Propugnaculum 19 eingegangen. Bereits der Reisebericht zeigt ein differenziertes Bild: So äußert sich Ricoldus abfällig über die Lehren des Koran, jedoch anerkennend über Leben und Zivilisation der Muslime, 14.

15.

16. 17. 18. 19.

Aus der Fülle sowohl der auf Luther als auch der reformationsgeschichtlich bezogenen Türkenforschung sind lediglich die Titel ausgewählt, die einen substantiellen und exemplarischen Beitrag zur oben methodisch näher umrissenen Fragestellung «»Luther und der Islam« leisten. Die rein historisch orientierte Forschung, sei es im profan-, sei es im kirchenhistorischen Bereich, ist ins­ besondere in den Hauptteil C einbezogen. Ansonsten vgl. Ludwig Hagemann, Zur Auseinander­ setzung des Christentums mit dem Islam im Mittelalter und in der Reformationszeit, in: VuF 1/ 87, 43-62. Hermann Barge, Der Dominikanermönch Ricoldus und seine Missionsreise nach dem Orient, in: AMZ 43 (1916), 27-40: ders., Luthers Stellung zum Islam und seine Übersetzung der Con­ futatio des Ricoldus, cbd. 79-82.108-121; ders., Einführung zur Verlegung in WA 53. 261-269. Vgl. die Fußnote AMZ 43 (1916), 27*); ders., Luthers Stellung, 81*). Ricoldus, 32. Liber peregrinationis, hg. von J. C. M. Laurent, Peregrinatores medii aevi quattuor, Leipzig 1864, 101-141. So der bezeichnende Titel eines Venetianer Drucks der Confutatio von 1607, vgl. Barge in WA 53, 265.

Forschungsüberblick

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insbesondere ihr Bildungswesen. Diesen gleichsam objektiven Standpunkt des Domi­ nikaners erkennt Barge auch im Propugnaculum. Zwar vertritt Ricoldus hier den stren­ gen kirchlichen Standpunkt, aber das Werk weist über den »gebundenen Geist des Zeitalters« hinaus auf »objektive Beherrschung der ungewöhnlich schwierigen sach­ lichen Materie«20. Dabei bewegt Barges Bewertung sich in psychologisierenden Bah­ nen: Die Grundsätze des Islam werden nicht nur durch scholastische Beweisführung bekämpft, sondern auch durch »Innerlichkeit des religiösen Gefühlslebens«21. Versucht man Barges Würdigung nüchtern zu beurteilen, so bleibt - neben der Kritik an »weltfremder« scholastischer Argumentation - die zutreffende Schilderung religionsgeschichdichen Wissens bezüglich der Redaktion des Koran, ein hohes Maß an Korankenntnis, die sich in den ca. 150 Koranzitaten des Propugnaculums belegen läßt, und eine beachdiche Vertrautheit mit islamischen Legenden. Spätestens hier wird jedoch Kritik an Barges Bewertung einsetzen, wenn nun doch der Verdacht ge­ hegt werden muß, daß eine Reihe von schwerwiegenden Mißverständnissen im Islam­ bild der Confutatio dem Dominikaner selbst anzulasten ist, die auch seine gründliche Kenntnis des Arabischen in Zweifel ziehen22. Barges Würdigung des Ricoldus bildete die Vorarbeit zu seiner Untersuchung »Lu­ thers Stellung zum Islam«. Von der allgemein gehaltenen, wenn auch zutreffenden hi­ storischen Einordnung der VerlegungVajm hier abgesehen werden. Im Mittelpunkt des Interesses steht die geschichdiche Einordnung der theologischen Entwicklung Luthers. Barge benennt als Stationen dieser theologischen Entwicklung die Abwehr des Kreuz­ zugsgedankens sowie die ersten Hinweise auf die bußtheologische Interpretation der Türkengefahr als »Rute gegen die Missetat«23 der Christen, zu finden in der 5. der Resolutiones zu den 95 Thesen (1518); dann die Beibehaltung dieses doppelten Grundsatzes in den Türkenschriften des Jahres 1529, die zugleich den Aufruf zum militärischen Widerstand beinhalten. Dabei läßt Bargt erkennen - dies wird nicht sy­ stematisch, sondern in umfangreichen Zitaten votgestellt - , daß die Schriften Vom Kriege wider die Türken und die Heerpredigt won der Unterscheidung der beiden Regimente getragen sind, die insbesondere die Rolle des Kaisers nicht als die eines Hauptes der Christenheit oder Beschirmers des Evangeliums wie des Glaubens erblicken kann2425. Lediglich am Rande bemerkt Barge, daß die Frage der äußeren Bedrohung fur Luther nicht den Anlaß bildete, die innenpolitische Frage der Duldung der Pro­ testanten diplomatisch ins Spiel zu bringen. Mit den beiden o. g. Türkenschriften sieht Barge ferner eine Tendenz gegeben, die später profiliert in Erscheinung treten wird: die Verbindung der römischen Lehre mit der islamischen und Luthers Vorsatz, aufgrund der äußeren Bedrohung durch Muslime, die auch eine Bedrohung des christlichen Glaubens darstellt, eine gründliche Kenntnis vom Islam selbst zu gewinnen23. Nur kurz streift Barge die Kenntnisnahme der Cribratio Alcorani des Nikolaus von Kues und Luthers Vorwort zum LibeUus de ritu et moribus Turcorum (1530), um sich 20. Ricoldus, 36. 21. Ebd. 22. Die summarische Charakterisierung des opus RicoUi kann hier vernachlässigt weiden; vgl. dazu Confittatio, ed. Ehmann, 11-14. 23. Luthers Stellung, 109. 24. Ebd. llOf. 25. Ebd. 11.

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Einführung

der Verlegung Luthers zuzuwenden. Barge erkennt in Luthers Übersetzung der Confittatio eine Rückwendung des Reformators zu kontroverstheologischer Literatur, die er bislang wegen ihres scheinbar billig-polemischen Charakters abgelehnt hatte. In der Würdigung des Komplexes Confutatio/Verlegung kommt Barges Einschätzung derjeni­ gen recht nahe, die oben im Zusammenhang der methodischen Erwägungen getroffen wurde: »Obschon es als Übertragung eines fremden Werkes nicht eine im vollen Sinne eigene sachliche Leistung des Reformators darstellt, verleugnet es doch keineswegs dessen geistige Eigenart«26. Und wenn Barge fortfahrt, es sei »äußerst reizvoll, das Ver­ hältnis der Lutherschen Übersetzung zu seiner Vorlage genauer zu verfolgen«, so ist damit ein Anliegen der vorliegenden Untersuchung präzise benannt. Barge selbst kann dieses Anliegen nur exemplarisch verfolgen, insbesondere durch Würdigung der krea­ tiven Leistung des Übersetzers durch Kürzung, Konzentration und - die Wortwahl betreffend - die Kunst, »aus dem tauben Gestein lateinischer Formeln Feuer heraus­ zuschlagen«27. Zutreffend ist auch Barges Feststellung einer Tendenz Luthers, die sich in Ansätzen bereits bei Ricoldus findet, nämlich die Polemik gegen den Islam als Po­ lemik gegen Mohammed zu personalisieren, vor allem in der Bewertung von dessen Sinnlichkeit. Insgesamt sieht Barge Luthers Stellung zum Islam geprägt von der Tat­ sache, daß »durch die Erfahrungen der zurückliegenden Jahre ... Luthers Wesen schroffer und bitterer geworden«28 sei. In der Würdigung des Nachworts erfaßt Barge Luthers Überzeugung von der Verstocktheit der Muslime, der die Sündhaftigkeit der Christen zur Seite steht, welche im antichristlichen Wesen des Papstes als dem Ober­ haupt der Altgläubigen kulminiert. Barge schließt seine Studie mit der kurzen Analyse des Vorworts Luthers zur Basler Koranausgabe (1543) ab. Er sieht dessen Ton milder gestimmt als den der Verlegung. An die Stelle einer Zukunft in schwärzesten Farben sei »hoffnungsfreudige Stimmung« getreten.29 Diese Hoffnung sei begründet im Gedanken, christliche Gefangene könn­ ten unter der Herrschaft des Islam zu Missionaren werden30. In der Herausstellung dieses Gedankens sieht Barge jedoch nicht nur das Spezifikum des letzten Wortes Lu­ thers zum Islam, sondern auch den Bogen zur Gegenwart, und das meint zu den mis­ sionstheologischen Aufgaben, geschlagen. Unterzieht man die Ergebnisse Barges der Kritik, so ist vom methodischen Ansatz her zunächst eine - trotz des zeitlichen Abstands von mehr als 80 Jahren - große sachliche Nähe zum Ziel der vorliegenden Untersuchung festzuhalten. Es wäre unsin­ nig, von zwei kurzen Aufsätzen die gesamte Erarbeitung der Stellung Luthers zum Islam zu erwarten. So bedeutet es also weniger Kritik als vielmehr Aufnahme der An­ liegen Barges, wenn im weiteren der Versuch unternommen wird, die verschiedenen bisweilen unterschiedlichen - Äußerungen Luthers zum Islam zu systematisieren und in seine Theologie einzuordnen. Ebenso ist es verdienstvoll, wenn bereits Barge den methodischen Weg des direkten Vergleichs der Confutatio mit der Verlegung weist über die wenigen Beispiele hinaus, welche »Luthers Stellung« und die Einführung der 26. 27. 28. 29. 30.

Luthers Stellung. 115. Ebd. 116. Ebd. 117. Ebd. 121. Ebd.

Forschungsüberblick

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WA bieten. Kritik an Barges Darstellung rührt weniger von der missionstheologischen Perspektive her. Sie kann durchaus als Zugeständnis an den O rt der VeröfFendichung gewertet werden. Auch mag die fehlende Beachtung von Luthers Gebet wider den Tür­ ken durch die Kürze der Studie bedingt sein. Problematisch erscheint jedoch die durchgängige Vernachlässigung der eschatologisch-apokalyptischen Motive - auch und gerade in den von Barge benannten späten Texten - , die zur Klärung und Ver­ anschaulichung der Lutherschen Stellung zum Islam unabdingbare Interpretamente darstellen. Neben dem Desiderat einer sachgemäßen W ürdigung der Leistung des Ricoldus ist es entsprechend der eschatologisch-apokalyptische Horizont, der über die Forschung Barges hinaus geltend zu machen ist. Schließlich ist die Einordnung der Äußerungen Luthers aus der psychologisierenden Interpretation Barges zu lösen und in bezug auf die Systeme reformatorischer Theologie (u. a. Zwei-Reiche-Lehre, DreiStände-Lehre) systematisch zu leisten. Gottfried Simon (1918)}1 »Luthers Gedanken über die moslemische Welt« - so der Titel des Aufsatzes - begrün­ den für Simon die »Mohammedanermission« der evangelischen Christenheit des 19. Jahrhunderts. Da sich die Missionstheologie dieses Zusammenhangs zur Theo­ logie Luthers nicht bewußt ist (51), besteht Simons Anliegen offenbar darin, diesen Zusammenhang mehr systematisch als historisch darzulegen. Das Verdienst seiner Studie besteht darin, daß Simon (implizit) verschiedene Motive der Stellung Luthers zu Türken und Islam benennt, die er zutreffend zumindest in Ansätzen den Motiven reformatorischer Theologie zuordnet. Dies gilt (1.) für die frühe Theologie Luthers in der Herausstellung des Bußgedankens: »Schon 1518 erklärte er [Luther] die Heim­ suchungen der Christenheit durch die Türkenkriege für eine >Rute unserer Missetä­ tern, und schon damit zeigte er eine von seiner Zeit grundsätzlich abweichende Stel­ lung zum Islam« (52). In ihrer Bedeutung kommt (2.) zwar die Tragweite der Zwei-Reiche-Lehre zu kurz, die er aktuell-politisch (1918!) und missionstheologisch vereinnahmt: »Die Verbindung von geistlicher und weltlicher Macht zum Kampf ge­ gen Andersgläubige ist ihm durchaus unsympathisch gewesen. Damit tut Luther einen großen Schritt vorwärts, ja, er macht damit grundsätzlich die Bahn für eine zukünftige Mohammedanermission frei. Denn eine Christenheit, die der gewaltsamen Auftei­ lung der moslemischen Staatengebilde [- Simon denkt offenbar an die im Weltkrieg alliierten Türken -] das W ort redet, ist heute wie damals für Mohammedanermission nicht geeignet« (ebd.). Allerdings hat Simon damit vollkommen zu Recht in der ZweiReiche-Lehre den Schlüssel zur Unterscheidung von Türken krieg und religionstheo­ logischer Auseinandersetzung bei Luther erkannt, wenngleich der theologische Aspekt gänzlich dem Missionsgedanken verpflichtet bleibt. Als weiteres (3.) Motiv benennt Simon »die geistige Auseinandersetzung mit dem Islam« (ebd.), die Luther in der Ver­ legung vorträgt. Simon ist damit der erste, der den systematischen Ertrag der Verlegung31 31.

Gottfried Simon, Luthers Gedanken Uber die moslemische Welt, in: Kirchliche Rundschau 33 (1918), 51-61.74-78; Belege im Text. Vgl. zu Simon auch dessen Aufsatz: Die durch die gegen­ wärtige Lage dem Mohammedanismus gegenüber der Christenheit gestellten Aufgaben, in: AMZ37 (1910), 153-163.219-233.

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Einführung

zutreffend w ürdigt52: So nennt er Luthers Schriftprinzip, die Kritik der Sittlichkeit des Islam, das Problem der Werkgerechtigkeit und der Schwertmission, insbesondere aber die Kritik Luthers an der »Lehre von der Leichtigkeit des göttlichen Gesetzes« (53 f.). Trotz der vielen Irrtüm er, die Luther aufgrund seiner geringen Islamkenntnis unter­ laufen sind, habe »L uther... ehrlich darnach gestrebt, einen wirklichen Einblick in die islamische Welt zu gewinnen« (54). Schließlich ist das (4.) M otiv relativer Toleranz zu nennen, das Simon in Luthers Befürwortung (1542) des Basler Korandrucks Biblianders zu erkennen glaubt. Simon folgt selbst der H erm eneutik Luthers, nach der die Kenntnis des Koran bei Christen und Moslems (!) in der Auseinandersetzung m it dem Islam den C hristen keineswegs zum Schaden gereicht. »Luther ahnte nicht, daß er hier einen Gedanken ausspricht, der für die M oham m edanerm ission noch einmal von gro­ ßer Bedeutung werden sollte« (55). Es ist aber in den Augen Simons offenbar (5.) die Apokalyptik Luthers, die den Reformator hindert, ein tempus gratiae vor dem Ende der Welt zu postulieren, das einen eigenen Missionsgedanken sich hätte entfalten las­ sen können (58 f.). D ennoch ist und bleibt Luther ein Theologe der praktischen M is­ sion, wenn er häufig das Schicksal der christlichen Kriegsgefangenen bedenkt (59). Allerdings scheint Simon christliche Apologie, die M öglichkeit der Evangeliumsver­ kündigung und Bekehrung allesamt unter dem Begriff der M ission und ihrer Praxis zu erfassen, weswegen Luthers Äußerungen häufig instrum entalisiert wirken. Beispiels­ weise heißt es zu der von Luther befürworteten Koranausgabe Biblianders und ihrer Verbreitung unter den C hristen im Bereich der O sm anen: »Hier taucht leise der Mis­ sionsgedanke auf, wenigstens wird die M öglichkeit einer erfolgreichen Evangeliums­ verkündigung an die Moslem m it Hilfe der neuen Waffen, die die Dürftigkeit des Koran dem Christen an die H and gäbe, ernsthaft erwogen« (60). Überzeugend ist Simons oft nur m it wenigen Strichen angedeutete Rückbindung von Luthers Stellung zu T ürken und Islam an die reformatorischen Motive. Proble­ matisch erscheint dagegen, daß die zeitgenössische Auseinandersetzung m it dem Islam 1918 (Missionsauftrag) sowohl als Transform ierung des Türkenkrieges wie auch der reformatorischen Apologetik im Sinne des sola fid e durch die Kirchengeschichte hin­ durch entwickelt wird. Ein solcher Eindruck m uß entstehen, wenn Simon endet: »Der W eckruf G ottes an die evangelische C hristenheit, auch den Jüngern M oham m eds das reformatorische »allein durch den Glauben< zu verkünden, ist ... nie ganz verstummt in der evangelischen Kirche ... Die großen Ereignisse des Weltkrieges haben die Au­ gen der evangelischen deutschen C hristenheit wieder einmal wie zu Luthers Zeit auf die Türkei gerichtet, nur, daß inzwischen aus Feinden Freunde wurden. Das sollte aber unsere heilige Missionsverpflichtung nur vertiefen« ( 78 ). H erbert Vossberg ( 1922)3233 Vossbergs Anliegen, »eine theologiegeschichtliche U ntersuchung zu einem systemati­ schen Hauptproblem « vorzulcgcn, weckt gerade deshalb Interesse, weil als systematic 32. 33.

Unberücksichtigt bleiben die missionstheologischen Folgerungen, die Simon jeweils aus seiner Analyse zieht. Herben Vossberg. Luthers Kritik aller Religion. Eine theologiegcschichtliche Untersuchung zu einem systematischen Hauptproblem, Leipzig/Erlangen 1933. Belege im Text.

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sehet Hauptproblem das Problemfeld Religion und Religionen in den Blick genom­ men wird, während die grundsätzliche Kennzeichnung seiner Untersuchung als einer religionsgeschichtlichen für Vossberg den Anspruch enthält, über den biographischen, auch reformationsgeschichdichen Horizont hinauszufuhren34. Sinnvoll ist die Kon­ zentration auf drei Zusammenhänge: die W ürdigung des Islam durch Luther, die theologisch-phänomenologische Einordnung und die Frage des Verhältnisses von Ver­ nunft und Religion. Vossberg ist es gelungen, auf wenigen Seiten (90-100) Luthers Stellung zum Islam anhand der größeren Lutherschriften in ungefähr chronologischer Abfolge zu skizzie­ ren. Benannt werden sämdiche Perspektiven, die dir eine W ürdigung Luthers von Relevanz sind: der Bußcharakter der Türkengefahr, die Ablehnung des Kreuzzugs­ gedankens und die biblisch-eschatologischen Motive. W ährend dabei jedoch der hi­ storische H inteigrund nahezu ausgeblendet bleibt - es handelt sich ja um eine theo/ogrcgeschichtliche U ntersuchung-, widmet sich Vossberg ausdrücklich der Frage: »Was hat Luther von der Religion der Türken gewußt oder in Erfahrung gebracht« (91)? Diese Frage wird allerdings weniger material beantwortet, sie dient m ehr dem Nachweis des religionswissenschaftlichen Interesses Luthers: Hingewiesen wird auf Luthers Kritik an der Verzeichnung der Muslime, geäußert in der Schrift Vom Kriege wider die Türken (1529), auf den nach Luthers Urteil im Vorwort zum Libellus (1539) festgestellten unzureichenden Charakter der Cribratio des Nikolaus von Kues, sowie der Confiitatio des Ricoldus und schließlich auf die Übersetzung der Confittatio durch den Reformator (1542). Hier sind dem Autor jedoch auch Fehldeutungen unterlau­ fen. Vossberg unterschätzt die Verlegung Luthers, wenn er deren Bedeutung lediglich in der durch ein Vorwort bereicherten Übersetzung und Herausgabe der Confiitatio erkennt, das »im wesentlichen die praktische Verwendbarkeit betont, also nicht so sehr das religionswissenschaftliche Interesse herauskehrt, das doch offenbar bei Luther vor­ handen war«35. Dieses Interesse scheint Vossberg mit Luthers Kritik an der unzurei­ chenden Differenzierung in der Beschreibung der Türken belegen zu wollen, in keiner Weise aber auf die kreative Leistung der Verlegung selbst - und nicht nur des Vor­ worts! - zu beziehen. Daß jedoch die Verlegung Luthers möglich war aufgrund der von Luther 1542 erkannten scheinbaren Übereinstimmung der Confiitatio m it dem Koran, sie aber auch notwendig wurde aufgrund von dessen »übel verdolmetschten«36 Charakters, bringt Vossberg nicht dazu, eben in diesem Prozeß der Übertragung der Confiitatio ein eigens zu würdigendes Interesse des Reformators zu vermuten und aus diesem G runde die Verlegung einer genaueren Analyse zu unterziehen. O hne Beleg bleibt auch die These, Luther habe im Frühjahr 1542 einen Koran zu lesen bekom­ 34.

35. 36.

Vossberg, 8f. Die Untersuchung zeigt, daß der Begriff »religionsgeschichtlich« lediglich in dem Sinne der Überschreitung des innerchristlich-religiösen Denkens Verwendung findet, wie auch der Begriff »Kritik« zunächst nur als phänomenologische Untersuchung verstanden sein will. Vossbergs Untersuchung stellt jedenfalls nach heutiger Terminologie keine Religionskritik auf religionsgeschichtlicher Grundlage dar. Darin ist Vossberg nicht zu kritisieren. Er gibt über seine Methode, deren Durchführung und Anwendung ausführlich Auskunft und legt somit eine zu­ mindest konsistente Untersuchung vor. Eine ausführliche Erörterung, ob und inwieweit diese heute anders angelegt sein müßte, kann hier nicht erfolgen. So Vossberg (93) mit dem Hinweis auf Luthers Kritik an der billigen Verteufelung anderer. Nachweise der Äußerungen Luthers erfolgen im Zusammenhang der eigenen Darstellung.

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men, der sich von der »brauchbaren Koranausgabe« Biblianders, zu der Luther 1543 ein Vorwort beitrug, qualitativ unterschied. Dies ist schon deswegen mehr als unwahr­ scheinlich, als Bibliander zu seiner Zeit und von seinen Voraussetzungen her gar nicht mehr leisten konnte als den Nachdruck der mittelalterlichen Übersetzung Roberts von Ketton37, so daß Vossberg davon ausgehen müßte, Luther habe eine qualitativ (noch) schlechtere Koranausgabe als diese in den Händen gehabt. Es gibt aber keinerlei Hin­ weise darauf, daß eine solche je existiert hat. Ganz ungerechtfertig ist jedoch die Hy­ pothese, »daß Luther außer dem Koran noch andere orientalische [?!] Schriften über Lehre und Geschichte des Islam zu Händen gekommen sind. In dem zuletzt erwähn­ ten Werk sind nämlich mit dem Koran zusammen deren einige herausgegeben, so daß die Annahme nicht zu kühn ist, Luther habe sie auch gelesen« (94). Diese Hypothese ist schlicht nicht beweisbar, weil Luther weder von ihnen spricht, noch zu erkennen gibt, daß er an irgend einer Stelle solche Traditionen aufgenommen hätte. Auch geht die weitere Vermutung, daß Luther aufgrund der Nennung islamischer Gelehrter (im Nachwort zur Verlegung) »von der islamischen Philosophie einige Kenntnis besessen haben muß«38, eindeutig zu weit. Die genannten Gelehrten - Vossberg identifiziert drei von sechs, was an sich schon zur Zurückhaltung gegenüber weiterfuhrenden Schlüssen hätte mahnen sollen - sind Vertreter der in der Scholastik hoch anerkannten klassisch-philosophischen Bildung bzw. die Vermittler der aristotelischen Tradition und eines von der Medizin bis zur Astronomie reichenden Universalgelehrtentums, deren Bekanntheit bei Luther zum einen vorausgesetzt, zum andern kaum in einen besonderen Zusammenhang zu seinem religionswissenschaftlichen Interesse gebracht werden kann. Die theologisch-phänomenologische Einordnung des Islam bei Luther als »beson­ ders krasse(r) Verkörperung der eigenbestimmten Frömmigkeit, speziell des Werk­ glaubens« (99), ist zutreffend, wenngleich unvollständig; zutreffend ist auch die Fest­ stellung der engen Verbindung, die Luther durch die nahezu stereotype Polemik gegen »Juden, Türken und Papisten«39 in der Zusammenschau von Judentum, Islam und römischer Kirche herstellt. Es ist jedoch damit das methodische Problem der Unter­ suchung Vossbergs anzusprechen, ob hier nicht die systematische Struktur des Ganzen einseitig die Einzelanalyse des Islam bei Luther bestimmt. Wohlgemerkt: Vossbergs Einordnung ist richtig, aber unzureichend. Man muß den Eindruck gewinnen, daß der Religionsbegriff, den Vossberg voraussetzt, zum Prokrustesbett wird, das zum einen das Mißverständnis fördert, Luther habe seine Ablehnung des Islam aufgrund eines systematischen Religionsbegriffs gewonnen; zum andern wird die theologische Bedingtheit der Äußerung Luthers von ihrem biographischen und auch reformations­ geschichtlichen Zusammenhang gelöst. Zwar war eben dies Vossbergs erklärtes Ziel (s.o.), aber eine solche methodische Vorentscheidung macht es unmöglich, die Stel­ lung Luthers theologiegeschichtlich - auch dies ein erklärtes Anliegen Vossbergs -

37.

38. 39.

Zur Koran Übersetzung Roberts von Ketton: Ludwig Hagemann, Die erste lateinische Koran­ übersetzung, in: Zimmermann/Craemer-Ruegcnberg (Hg.), Orientalische Kultur und europä­ isches Mittelalter, 45-58. Zum Problem authentischer Koranrezeption Luthers s.u. 460-464. Ebd. Vgl. dazu Confutation ed. Ehmann, 313-322 (Kommentar zum Nachwort Luthers). Die Wendung ist in der Tat bei Luther Legion. Es wird sich wohl kaum eine größere Luther­ schritt nach 1520 finden lassen, in der die Wendung nicht auftaucht.

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einzuordnen, wenn Theologiegeschichte nicht a priori die Möglichkeit der Verände­ rung oder Entwicklung ausschließen soll. Die fiir die vorliegende Untersuchung ge­ troffene (gegenläufige) methodische Entscheidung geht jedoch dahin, die Position Luthers gegenüber dem Islam nicht einem abstrakten Religionsbegriff gegenüber­ zustellen, sondern zu den einzelnen und differenzierten Systemen des Reformators in Beziehung zu setzen4041.Zwar erhebt Vossberg den Anspruch, den Religionsbegriff Lu­ thers aufgrund von dessen reformatorischer Entscheidung darzustellen (vgl. 15)» und kommt hinsichtlich des Religionsbegrifft zu richtigen Ergebnissen; aber die durchgefuhrte Kritik Luthers am Islam orientiert sich an anderen Begriffen als dem der Religion sowie auch an Systemen - letzdich Erfahrungen! - , die ein direktes und durch keinen Religions&gnÿ" getrübtes Licht auf die Äußerungen des Reformators werfen. Schließlich ist als Problemanzeige der Blick auf das Verhältnis von Vernunft und Religion zu richten. Hier ist keine Kritik an Vossberg zu üben, sondern aufgrund seiner zutreffenden Beschreibung (29-36) das Problem aufzunehmen. Es zeigt sich freilich gerade hier, daß präziser von Vernunft und Glaube die Rede sein sollte, inso­ fern sowohl »Religion« in ihrer Beziehung auf die Vernunft ein in der Perspektive des Glaubens höchst ambivalenter Begriff ist, als auch chrisdiche Religion zunächst eben nur als christlicher Glaube eindeutig erfaßt werden kann. Vossberg macht nicht aus­ drücklich darauf aufmerksam, aber seine Ausführungen lassen erkennen, daß systema­ tisch hinter den Begriffen Religion/Vernunft einerseits und Religion/Glaube anderer­ seits v. a. die Zuordnung der Begriffe Gericht und Gnade bzw. Gesetz und Evangelium steht - ein weiterer Hinweis auf die Notwendigkeit, Luthers Stellung zum Islam auf­ grund der seine Theologie kennzeichnenden dynamischen Systeme zu untersuchen.

b) Die Forschung der dreißiger und vierziger Jahre Walter Holsten (1932)4! Ein der Methode Vossbergs ähnliches Verfahren wählt Walter Holsten. Ausgehend vom Religionsbegriff Luthers vor dem Hintergrund der Hollschen Lutherdeutung42 versucht auch Holsten, Luthers Auffassung der nichtchrisdichen Religionen von einem systematischen Punkt her zu begreifen und zu entfalten. Dieser ist gegeben in Luthers Won-Gottes Theologie, näherhin in seiner Erkenntnis der Doppelgestalt des 40.

41.

42.

Ein solches Verfahren, auch was das zeitgenössische Gespräch der Konfessionen und Religionen angeht, erscheint erheblich fruchtbarer als den Rückzug auf einen wie immer gearteten Religionsbegriff, der meist in der Debatte um die sog. Absolutheit des Christentums endet. Es dürfte im Rückblick auf das 20. Jahrhundert - zumeist bedingt durch katastrophale Erfahrungen der Kirchengeschichte - deutlich geworden sein, daß das Gespräch mit dem Katholizismus, dem Judentum und dem Islam auf jeweils verschiedenen Ebenen zu fuhren ist. Walter Holsten, Christentum und nichtchristliche Religionen im Urteil Luthers, Gütersloh 1932 (Allgemeine Missionsstudien 13. Heft). Man beachte wieder den müj/ömrheologischen Kontext. D. h. insb. nach der von Karl Holl vorgetragenen These in seinem Aufsatz »Was verstand Luther unter Religion?« in: ders., Luther, 1-90.

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Wortes als Gesetz und Evangelium. Insofern aber die anthropologische Erfahrung von »Anfechtung und Lösung« (17) der Erfahrung von Gesetz und Evangelium entspricht, bedeutet Luthers Theologie der Anfechtung die Wiederentdeckung des eschatologischen Gerichtsgedankens43. Die Fragen der Trostvermittlung, der Sünde wie der Rechtfertigung rücken deshalb in den Bereich des Absoluten, Letztgültigen, in dem keine Vermittlungen mehr möglich scheinen. Neben dem eschatologischen GmV/ttshorizont entwickelt Holsten sodann den eschatologischen Geschichtshorizont in der Theologie Luthers. Das einende Band der Geschichte ist allein in dem zu begreifen, der in der Geschichte handelt, nicht aus der Geschichte selbst. Ferner ist alle Geschichte auf diesen einenden Punkt bezogen, nicht etwa nur die Religionsgeschichte im engeren Sinne: »Alle Geschichte wird auf Gott als den Punkt bezogen, in dem sie ihre Einheit hat; alle Geschichte wird zur Religions­ geschichte« (20). Diese Erkenntnis gilt allerdings nur coram Deo, coram hominibus geht - so Holsten - auch Luther von der Existenz einer »Religionsgeschichte im enge­ ren Sinne« aus. So ergibt sich für Luthers Wahrnehmung der Religionen eine doppelte Betrachtungsweise: Coram hominibus mit dem Blick der »kühl zuschauenden For­ schung« auf das empirisch religiöse Denken und Leben (ebd.) und coram Deo auf das Verhältnis zu dem wahren Gott. Schließlich ist in der Doppelgestalt des Wortes des Gottes, der in der Geschichte handelt, die Geschichte selbst als Kampfplatz der widerstreitenden Mächte zu begreifen. Dieser Kampf zwischen Gesetz und Evangelium ist ein übergeschichtlicher. D. h. nun nicht, daß er geschichtlich nicht erfahrbar wäre. Im Gegenteil geht dieser Kampf gerade in die Geschichte ein und wird erfahrbar in der Gottesbeziehung des Menschen. Übergeschichtlich bedeutet also der Geschichte vorgeordnet, nicht aber überzeitlich. Mit diesen Unterscheidungen und Zuordnungen wendet sich Holsten einer Inter­ pretation der nichtchristlichen Religionen zu44. Die Stärke Holstens liegt darin, sich mit dem systematischen Prinzip seines Werkes nicht den Zugang zur Historie verbaut zu haben, wenngleich hier auch Kritik zu üben ist (s. u.). So gelangt er zu einer ganzen Fülle von Beobachtungen hinsichtlich der Position Luthers, die sich nicht nur auf die Türkenschriften, sondern auch auf die Tischreden Luthers gründen. Zwar unterliegt Holsten einem Irrtum, wenn er meint, das Original der Confutatio des Ricoldus nach ursprünglicher Terminologie das Propugnaculum - sei verloren gegangen (126), seine religionsgeschichtlichen Summarien sind jedoch im allgemeinen zutreffend. Holstens Systematik findet nun in der Weise Anwendung auf Luthers Verhältnis zum Islam, daß dieser als im Widerspruch zum Schriftprinzip als dem Formalprinzip des Christentums aufgefaßt werden muß. Wo aber kein Wort Gottes ist, da ist Schwei­ gen, Ungewißheit und Herrschaft der Vernunft. Deshalb kann - so Holsten - der Kampf des Christentums gegen den Islam für Luther nur mittels und auf der Basis der Heiligen Schrift geführt werden (127). Die o.g. Inblicknahme des Islam in der Perspektive des coram hominibus erlaubt dem Reformator dann die Beschäftigung mit dem Islam als Religion, die ohne ängstliche Zurückhaltung, ohne Verschleierung 43.

44.

Luthers »Anfechtung ist die Wiederentdeckung des urchristlichen Gerichtsgedankens. Sie trägt wie dieser eschatologischen, d. h. letzten, entscheidenden Charakter; sie ist das Erleben des End­ gerichtes Gottes in der Gegenwart.« Ebd. 17. Die Skizze konzentriert sich auf Holstens Ausführungen zum Islam ( 126-144).

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der Tatbestände oder Verunglimpfung des Gegners erfolgen kann. Welcher Stellen­ wert freilich dieser Beschäftigung zukommt, bleibt unklar. Holsten nennt lediglich das Eintreten Luthers fur den Korandruck Biblianders. Im Hintergrund steht jedoch gerade hier nicht nur das religionswissenschaftliche Interesse Luthers, sondern seine Überzeugung, der Islam endarve sich selbst durch eine Veröffentlichung des Koran. Die Unklarheit setzt sich fort, wenn Holsten zutreffend den Streit um einzelne Schrift­ stellen zwischen Christen und Muslimen bei Luther fiir durchaus möglich erklärt; zugleich aber historisch ebenso zutreffend den christologischen Horizont der Schrift­ auslegung bei Luther zum Schibboleth erhebt. Spätestens hier wird deutlich, daß Hol­ stens Unterscheidung eines Formal- (Schrift) und Materialprinzips (insbesondere das trinitarische und christologische Dogma) nicht greift. Hier ist der sprachliche Cha­ rakter des Evangeliums bei Luther verkannt45, mindestens aber die stille Vorausset­ zung getroffen, es gebe bei Luther historisch-kritisches Bewußtsein im Bereich des Formalen, dem dann im Bereich des Materialprinzips ein christologischer Riegel vor­ geschoben werde. Gerade in den Ansätzen der Bibelkritik Luthers ist jedoch der chri­ stologische Ansatz des Reformators bestimmend. Das »was Christum treibet« bedeutet die Aufhebung der Trennung von Formal- und Materialprinzip. Man gewinnt in Hol­ stens Studie den Eindruck, als schwenkten die Perspektiven coram hominibus, Vernunft und Religion in einen kongruenten Bereich ein, der statisch neben den Perspektiven coram Deo, Glaube und Offenbarung anzusiedeln sei. Das dahinter sich verbergende Problem von Glaube und Geschichte, Theologie und Religionswissenschaft, das als theologisches Problem aufgefaßt und bedacht werden muß, kommt bei Holsten je­ doch zu kurz. Nichtsdestotrotz gelangt im Bereich des Materialprinzips (129-136) Holsten zu weiterfuhrenden Erkenntnissen, wenn er anhand von Äußerungen Luthers die klassi­ schen Kontroversen zwischen Islam und Christentum - Trinitätslehre, Rechtfertigung, Prophetie Mohammeds, Verheißung, Erlösung (Paradiesvorstellung) und Ethik - her­ ausarbeitet und den Zusammenhang zur antirömischen Polemik Luthers herstellt. Es ist dann dieser spezifische Kontext von Ethik, Kultus und Ritus (bezüglich des Islam wie des Katholizismus), der bei Holsten besonderes Gewicht erhält, v. a. in der Analyse von Luthers Vorwort zum Libellus46. Holsten entfaltet hier zutreffend die Rolle der religionsgeschichtlichen Erkenntnis für Luther in der Vergewisserung der Echtheit seines neuen Christentumsverständnisses. Es bleibt aber die Frage an Holsten zu rich­ ten, ob die Rolle der Vernunft nur quasi eine propädeutische sein kann, die dann gleichsam durch die qualifiziert theologische Erfahrung überboten wird, oder ob nicht doch im Zusammenhang der Religionen bei Luther einerseits die Vernunft klar auf den Glauben hingeordnet ist, und zwar so unmittelbar, daß - und dies ist das von Luther erkannte Problem - die vernünftige Wahrnehmung des Islam und seiner Le­ bensäußerungen zunächst einmal zum Zweifel, d. h. in die Anfechtung fuhren muß. Zu sehr scheint Holstens These, »Luthers Erweiterung der religionswissenschaftlichen

45.

46.

Darauf hat mit Recht die hermeneutisch geprägte Lutherforschung aufmerksam gemacht; vgl. Gerhard Ebeling, Luther als Sprachereignis, in: Luther, (1-18.) 19; Ulrich Könner, Theologie des Wones Gottes, 75-79. WA 30/2.205-208.

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Kenntnis... [wirke] sich nicht im geringsten als Gefährdung und Bedrohung aus«47 in die Nähe einer christlichen securitas zu rücken, während der Akt der Vergewisserung, von der Holsten selbst spricht, doch als dynamisches Geschehen der erfahrbaren ccrtitudo zu begreifen ist. Zwar ist das Vertrauen Luthers in die Unschädlichkeit religions­ wissenschaftlicher Forschung zu begrüßen. Es würde aber gerade die Ausblendung des übergeschichdichen und zugleich in die Geschichte hineinwirkenden eschatologischen Horizonts bedeuten, wenn Religion und Glaube, Religionswissenschaft und Theologie beiderseits schlicht nebeneinander stünden. Der neben dem formalen und materialen Widerspruch zum Christentum als drit­ tes dargestellte Aspekt, »die von Luther geforderte praktische Stellungnahme zum Is­ lam« (136-144), fuhrt über das bei Barge Gebotene nicht hinaus. Holstens Erkennt­ nisse sind zutreffend; allerdings erweist sich hier der systematische Ansatz insofern einer Würdigung Luthers als hinderlich, als der Entwicklungsaspekt zu sehr vernach­ lässigt wird. Beispielhaft wird dies deutlich, wenn unter dem Blickwinkel der Erwei­ terung der Kenntnisse Luthers über den Islam einerseits zutreffend die Vorrede zum LibelluSy die Übersetzung der Confutatio des Ricoldus und Luthers Befürwortung der Drucklegung des Koran subsumiert werden, andererseits die durchaus festzustellen­ den Spezifika, besonders aber die je eigenen historischen Veranlassungen keinerlei Be­ rücksichtigung finden. Für die Analyse der Confiitatio/Verlegung als Werk zweier Epo­ chen und zugleich als reifes Werk Luthers trägt Holstens Studie nichts aus. Dennoch ist die Arbeit gerade fur diesen im Mittelpunkt der vorliegenden Unter­ suchung stehenden Zusammenhang zu beachten: Im Unterschied zu Barge ist der sich durchziehende apokalyptische Aspekt in der Auffassung Luthers zur Geltung ge­ bracht, während die historische Herausforderung eindeutig zu kurz kommt. Darüber hinaus ist auch der mögliche Horizont der systematischen Anlage nicht erreicht, wenn Holsten auf die bereits oben im Zusammenhang der Studie Barges als Desiderate be­ nannten Folgesysteme der Zwei-Reiche- und der Drei-Stände-Lehre nicht zu sprechen kommt, die doch einen wichtigen Schlüssel zur Auffassung des Islam bei Luther lie­ fern. Schließlich ist nach der Studie Holstens weiterer Anlaß, dem Verhältnis von Ver­ nunft und Glaube auf der Basis der Verlegung vertieft nachzugehen. H elm ut-W olfhardt Vielau (1936)48

Vielaus historische Dissertation kann als mentalitätsgeschichtliche Untersuchung gel­ ten: Im Mittelpunkt steht - und dies in systematischer, nicht chronologischer Betrach­ tung - das Ringen Luthers mit den Türken als Frage des Glaubens (I. Kap.), der Ethik (II. Kap.) und der Politik, insbesondere der kriegerischen Auseinandersetzung (III. Kap.). Mentalitätsgcschichtlich ist sie insofern zu nennen, als die außenpolitische wie reichspolitische Perspektive ausgeblendet scheint. Lediglich im Spiegel der Äuße­ rungen Luthers, seines Denkens und Handelns sind die Konturen des historisch-poli­ tischen Rahmens abgcbildet. Vielaus Verfahren zeigt darin zunächst offenkundige 47.

48.

Holsten, 135. Holsten ist gewissermaßen a posteriori und unter der Voraussetzung zuzustimmen, daß im Prozeß der Vergewisserung des Glaubens nach den Äußerungen des späten Luther auch und gerade der Vernunft ein hohes Maß an Urteilskraft zugcbilligt wird. Helmuth-Wollhardt Vielau, Luther und der Türke. Diss. Gottingen 1936. Belege im Text.

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Vorteile. So ist die formale Gliederung in der Unterscheidung der dreifachen Betrach­ tung des Phänomens sicherlich hilfreich zum Verständnis der Position Luthers als einer nach eben diesen drei Bereichen zu differenzierenden Anschauung, die in der Tat nur aufgrund des Glaubensverständnisses, der ethischen Grundentscheidungen wie auch deren pragmatischer Applikation bei dem Reformator zu erheben ist. Und ebenso hilfreich ist die individualisierende, zuweilen psychologisierende Methode zur Analyse Luthers zu nennen, insofern als Vielau in der Durchführung eine Vielzahl von Äußerungen Luthers aus Tischreden und Briefen berücksichtigt, deren Bedeutung sonst häufig hinter jener der Türkenschriften zurücksteht. Die Gefahren, die in dieser Methode liegen, sind jedoch nicht vermieden: So bleibt die Analyse Luthers bei der Paraphrase stehen. Weder wird im ersten Kapitel die Frage nach der Herkunft der Kenntnisse Luthers über den Islam der Recherche unterzogen - wiewohl gerade die eifrig zitierten Tischreden förmlich dazu einladen - , noch Luthers Islambild kritisch untersucht. Das theologische Urteil bleibt an der Oberfläche oder wirkt formelhaft49. M uß dieselbe Kritik auch im zweiten Kapitel hinsichtlich der Stellungnahme Luthers zu den Sitten und Lebensgewohnheiten der Türken erhoben werden, so bleibt wenngleich sich auch dieses Kapitel durch kluge Einzelbeobachtungen auszeichnet letztlich unerfindlich, inwiefern »Luthers Äußerungen über die Lebensgewohnheiten der Türken ... zwar kein vollständiges Sittenbild [geben], jedoch ... immerhin wert­ volle Streiflichter [darstellen], die zusammen mit seiner Auffassung von ihrem Glau­ ben den Weg zu einem tieferen Verständnis seiner Stellungnahme zum Türkenkrieg finden lassen« (16)50. Daß gerade Luthers Verständnis des Glaubens und der Ethik zum einen mehr sind als »Streiflichter« und zum andern gerade der theologische Weg Luthers in der Stellungnahme zum Türkenkrieg der Nachzeichnung bedurft hät­ te, wird nicht gesehen. So erscheint in der Tat die Durchführung des dritten Kapitels »Luther und die Türkenfrage« von ganz anderen Voraussetzungen bestimmt, etwa von der Reinigung des Verdachts gegen Luther, »als habe er sich nationalen Dingen gegen­ über ... gleichgültig verhalten« (17) oder »einer pazifistischen, nicht nationalen Ge­ sinnung« (20), überhaupt »einer pazifistischen Gesinnungsschwärmerei« (22) gehul­ digt. Es bleibt aber für die Frühzeit der Auseinandersetzung Luthers mit den Türken bis 1326 das Urteil bestehen, »daß gerade das Bewußtsein von dem starken, verant­ wortungsvollen Charakter seines theologischen Berufs ihm den Blick für die realpoli­ tischen Notwendigkeiten trübte« (18). Deutlich sind die beiden Grundlinien zu er­ kennen, die Vielaus Dissertation durchziehen: Zum einen wird immer wieder der theologische Ernst des Reformators herausgestellt, der ihn zum politischen Zauderer macht, zum andern kommt es einer Befreiung, einem »Durchbruch« gleich, wenn Luther sich zur »politisch-aktivistischen Gesinnung in der Türkenfrage« (24) durch­ ringt. Man muß diese Grundentscheidung Vielaus bedauern, zumal er selbst eine gan­ ze Anzahl grundlegender Lutherschriften nennt, deren konstruktive Funktion keine Würdigung findet, allenfalls in der Erklärung theologischer Skrupel auf seiten des

49. 50.

Z. B. wenn Vielau Luthers theologische Ablehnung des Islam damit begründet, daß dieser »nach Luthers Ansicht die metaphysische Grundlage eines religiösen Glaubens erschüttert« habe (13). Hier wäre an den Verfasser die Frage zu richten, worauf »vollständig« sich bezieht: auf die eigene Paraphrase der geäußerten Position Luthers oder auf die religionswissenschaftliche Phänomeno­ logie islamischer Kultur und Ethik.

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Reformators. So werden die Erkenntnisse der Zwei-Reiche-Lehre wie auch die Problematisierung der römischen Position zwar benannt, auch die bußtheologische Grund­ stimmung Luthers ist Vielau geläufig, aber Zielpunkt ist doch - nach dem Zögern der Frühzeit - »das plötzliche Aufflammen einer allgewaltigen, politisch geradezu feurigen Gesinnung« (ebd.), deren »zündende Sprache ... von dem unerschütterlichen Glau­ ben Luthers an die deutsche Nation und von dem festen Bewußtsein, mit ihr schick­ salhaft verbunden zu sein [zeugt]«51. Vielau kommt von daher zu dem (prinzipiell vertretbaren) Urteil, daß Luthers Türkenschriften von 1529 den »Höhepunkt der Ent­ wicklungslinie der Lutherischen Stellungnahme zum Türkenkrieg« (31) darstellen. Er verfällt jedoch darüber hinaus dem Dezisionismus, der sowohl die Position Luthers als eine theologische entwertet, als auch Vielaus eigene heuristische Bemühungen in Fra­ ge stellt52. M it der sich bei Luther nach 1529 allmählich Raum schaffenden apokalyptischen Glaubensstimmung ist entsprechend der o.g. Höhepunkt überschritten. Es ist die traurige politische Lage, die Luther zu eschatologischen Hoffnungen treibt. »Seine tiefe Religiosität, die alles mit besonders ernsten Augen sah, mußte zwangsweise in ihm auch trübe Stimmungen hervorrufen«53. Wieder ist die Sichtweise Vielaus psychologistisch zu eng, um die Apokaiyptik in der Theologie Luthers angemessen wür­ digen zu können, obwohl Vielau nicht nachgesagt werden kann, daß er die über Lu­ ther hinaus anzutreffende apokalyptische Stimmung nicht wahrgenommen hätte. Die Gespräche Luthers mit Melanchthon und Mykonius über die endzeitlichen Prophe­ zeiungen Johannes Hiltens werden ausdrücklich erwähnt, des Reformators Deutung der Danielüberlieferung ausführlich dargestellt54. Es sind Interpretation und Bewer­ tung, die in Vielaus Studie nicht zufriedenstellen, schließlich sogar in Widersprüch51.

52.

53.

54.

Ebd. Daß Vielau sich hier den Tendenzen des Zeitgeistes nicht entziehen mochte, wird deutlich, wenn er bzgl. der Heerpredig Luthers schreibt: »Diese allmählich aufsteigende Erkenntnis [der Welt des Teufels] wirkte denn auch in dem zweiten Kampfrufe gegen die Türken nach, indem Luther tröstend darauf hinweist, daß cs hauptsächlich auf die Rechtschaffenheit der Oberen, Edlen - wir würden sagen: d ir Führer - ankomme, wenn der Kampf Aussicht auf Erfolg haben solle, da in der Gesamtheit selbst doch keine Rechenschaft vorzufinden sei.« Ebd. 30 (Hervor­ hebung J. E.). Es ist also die theologische Bewertung Vielaus in Zweifel zu ziehen, daß Luther (so müßte man ja schließen) auf die Allgemeinheit der Buße in allen Ständen keinen Wert gelegt hätte zugunsten einer »Besserung« der politischen Führung. Die Türkenschriften des Jahres 1529 »enthüllen uns wie nie zuvor Luthers ganze Persönlichkeit in Fragen, die eine letzte geschichtliche Entscheidung fordern. Sein einzigartiges Bekenntnis zur politisch brennendsten Aufgabe des Reichs greift weit hinaus über seine bisherigen mehr am Erkenntnistheoretischen haftenden Erörterungen zur Frage der Kriegführung gegen die Türken. Waren Luthers frühe Äußerungen für die politische Welt nur »akademische Betrachtungen«, die durch das »Ja - Aber« ihre eigentümliche Prägung erhielten, so sehen wir hier bei ihm eine wirk­ lich streitbare Gesinnung hervortreten, die unzweideutig ist und von höchster Subjektivität ge­ tragen wird.« Ebd. 31 f. Vielau, 36. »Solche trüben Stimmungen treten jetzt [1530] erneut auf, lassen ihn an der Welt verzweifeln, zermartern seinen Geist und treiben ihn zu finsteren Vorstellungen. Gerade bei der Türkenfrage wird diese seelische Niedergeschlagenheit besonders wirksam. Derselbe Luther, wel­ cher kurz vorher noch in kraftvollen Worten sich zur Notwendigkeit des Kampfes gegen die Türken bekannt hatte, vermag jetzt bei der erneut drohenden Türkengefahr dieselbe Entschie­ denheit der Sprache nicht aufzubringen.« Ebd. Vielau, 33. Zu Hilten s. u. 324-330.

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lichkeit enden: So erscheint Luther zum Ende seines Lebens einerseits bedrückt von »Gram und Verzweiflung«, »auf der anderen Seite läßt sein eschatologischer Glaube ihn voll Hoffnung in die Zukunft blicken und den Tag erwarten, an dem das Schicksal des Türken gemäß altmessianischer Weissagungen sich erfüllen wird«55. Zwar wäre diese Einschätzung bei weiterer Differenzierung durchaus zutreffend. Jedoch rächt sich hier ein weiteres Mal der methodische Ansatz Vielaus in der Vernachlässigung der Verlegung^ die eben in diesen biographischen Zusammenhang einzuordnen ist und in Spannung zu »verbitterter Lähmung« steht. Die Verlegung und Luthers Befür­ wortung der Basler Koranausgabe hatten jedoch nur verkürzt und zugespitzt auf die Frage der Vernünftigkeit des Islam Berücksichtigung in Vielaus Einleitung zum ersten Kapitel gefunden - ohne Nachhall in der Charakterisierung der Stellungnahme Lu­ thers in den vierziger Jahren. So steht Luthers theologische Hauptbetrachtung des Islam merkwürdig isoliert neben den Anfangsdeutungen des Reformators und biogra­ phisch-psychologisch gar in Spannung zur Zeit des praktischen Aktivismus. Damit sind die Ansätze Vielaus, die weiter zu verfolgen sind, benannt: insbesonde­ re die Beachtung der Tischreden und Briefe. Die Methode Vielaus muß jedoch ins­ gesamt als verfehlt gelten, zeigt sie doch, daß die systematische Betrachtung nicht ohne den chronologischen Aspekt durchgefuhrt werden kann, bzw. nur die (bei Vielau unzureichende) systematische Zuordnung der Position Luthers zu seiner Theologie unter Berücksichtigung des chronologischen Aspekts auch eine Darlegung einer Ent­ wicklung ermöglicht, die theologiegeschichtlich sinnvoll ist. So kommt Vielau letzt­ lich zu einem theologischen und historischen Fehlurteil hinsichtlich der Auffassung Luthers in der Türkenfrage: »Langsam ansteigend erreicht sie ihren Höhepunkt in den Jahren 1529 und 1530, in denen Luther ein herzhaftes Bekenntnis zur politischen Tat ablegt. Sie sinkt dann allmählich wieder bis zu irdischer Hoffnungslosigkeit herab, die allein durch den Glauben an die Apokalypse überwunden wird« (42). Problematisch ist dieses Urteil besonders darin, daß in der Tendenz der theologische Luther des Glau­ bens zurückstehen muß hinter einem politischen Luther der Tat. Auf wessen Seite der Verfasser als Kind seiner Zeit steht, ist dann keine Frage mehr. Helmut Lamparter (1940)56 Weder der Islam allgemein als religiöses Phänomen in der Reformationszeit, noch speziell Luthers Stellung zum Islam stehen im Interesse der Dissenation Lamparters, sondern die eingehende Analyse der Kriegspredigt57 des Reformators hauptsächlich 55. 56.

57.

Vielau, 41 f. Die Kritik entzündet sich dabei an der Unausgewogenheit der Darstellung; die Einzelbeobachtungen sind durchaus positiv zu würdigen. Helmut Lamparter, Luthers Stellung zum Türkenkrieg, München 1940 (FGLP 9/4). Belege im Text. Die Untersuchung ist stark vom Pathos der Sprache der Bekennenden Kirche bestimmt. Es ist - neben wenigen Anklagen an das Ausland im Zusammenhang des (ersten) Weltkrieges Lamparter gelungen, Luther in der Weise zum Mahner gegen die Kriegshetze seiner Zeit zu beschreiben, daß die zeitgeschichtlichen Bezüge nicht verborgen bleiben. Mag aus heutiger Sicht auch das Pathos kaum erträglich erscheinen, so unterscheidet sich Lamparter doch wohltuend von Vielau und dessen verbalen Kraftakten. Inhaltlich unterscheiden sich beide insb. in der Ein­ schätzung der Geschichtsnotwendigkeit von Kriegen. ln diesem Anliegen verwandt, wenngleich in der Durchführung verschieden, ist ebenfalls 1940

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auf der Basis der Türkenschriften von 1529 und 1541. Dennoch sind einige wenige Beobachtungen Lamparters erwähnenswert, wie auch Anfragen an ihn zu richten sind. Zunächst ist der Ausgangspunkt Lamparters zu nennen: Luthers Schriften zum Türkenkrieg werden unterschätzt, »wenn wir in ihnen nur einen durch seine subjekti­ ve Glaubensüberzeugung vielleicht etwas getrübten Spiegel der zeitgeschichtlichen Er­ eignisse sehen wollten. Wenn Luther zum Türkenkrieg Stellung nimmt, so redet er nicht als beobachtender Chronist, sondern als Theologe, der um das Wächteramt und den prophetischen Auftrag seiner Kirche weiß« (7). Lamparter fuhrt entspre­ chend seine Analyse theologisch durch, d. h. es werden (in dieser Reihenfolge) die Pro­ blemkreise der Schrift (als Verkündigung des Gerichts), der Bußtheologie, des Obrig­ keitsverständnisses, der Friedensethik und schließlich der Eschatologie Luthers entfaltet und somit eine konsistente Würdigung des Reformators erreicht, die metho­ disch durch die jeweilige Zuordnung der Aussagen Luthers gut gelungen erscheint. Eher am Rande stehen von der Themenstellung des Autors seine Beobachtungen hinsichtlich des Islam. Jedoch sind - innerhalb des ersten Problemkreises - im Zusam­ menhang der Türkenschriften auch fur Lamparter grundsätzliche Feststellungen Lu­ thers gegenüber dem Islam getroffen. So ist der Islam für Luther eine Religion der »Leistung« auf dem »Weg der Selbsterlösung« durch die Fehleinschätzung der eigenen Frömmigkeit vor Gott, wie sie »Papisten, Juden, Türcken« kennzeichnet (31). Der Koran »... ist ein >faul schendlich Buch«, »eitel menschliche vernunfft on Gottes Wort und Geist«, »zusamen geflickt aus der Juden, Christen und Heiden glauben«« (32). Der Islam ist Vernunftreligion, die die Geheimnisse des christlichen Glaubens (wie z. B.Trinität, Inkarnation) nicht begreift (32 f.). Mohammed ist ein arianischer Ketzer, der Christus seiner Gottheit beraubt, sich selbst jedoch in den Himmel erhebt, wie die Türken zu seiner Verehrung sich gar auf die Bibel berufen (Joh 5, 43) (33 f.). Lam­ parters Beobachtungen sind weiter zu prüfen. Immerhin enthalten sie Hinweise dar­ auf, daß Luther bereits vor der Kenntnisnahme der Cribratio und der Confutatio Vor­ stellungen von der islamischen */wi«//jiaQaxXvTOÇ-Deutung58 und der sogenannten »Himmelsreise Mohammeds« (mirag/miradsch) gehabt haben könnte59. Getreu seinem anfangs geäußerten Grundsatz gelingt Lamparter in einer kurzen Skizze des Islamverständnisses Luthers die Zuordnung der Islamkritik zum Problem­ kreis Gewalt und Wahrheit, der auf der Basis der Obrigkeitstheologie zur Zwei-Reiche-Lehre weist, zum Eheverständnis und der dahinter stehenden Drei-Stände-Lehre. Nicht befriedigen kann jedoch die Identifizierung des Türken mit dem Antichrist vor dem eschatologischen Horizont des Reformators. Die Bezeichnung des Türken als Antichrist in der Theologie Luthers durchzieht die gesamte Untersuchung, ohne daß ein expliziter Nachweis geführt wäre. Die zu diskutierende Ausnahme besteht in der Heranziehung einer Tischrede Luthers60, deren Bedeutung in Aufnahme der Beobach­ tung Lamparters in der Darstellung noch zu erörtern sein wird.

58. 59. 60.

Richard Linds Lizentiatendissertation Luthers Stellung zum Kreuz- und Türkenkrieg erschienen, die allerdings gegenüber Lamparter nichts neues bietet. Vgl. dazu unten, 161 f. und Confutation ed. Ehmann, 42/43 und 208 (Kommentar). Zur Vision Mohammeds, vgl. in der Verlegung selbst bei Confutation ed. Ehmann, 142-144 und 291 (Kommentar). WA.TR 3, 158,31-35: »Corpus Antichristi est simul papa et Turca, quia corpus constituitur corpore et anima. Spiritus Antichristi est papa, caro ejus Turca, qui corporaliter infestât ecclesi-

Forschungsüberblick

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Schließlich ist auf zwei weitere Beobachtungen Lamparters aufmerksam zu ma­ chen: zunächst auf den inneren Zusammenhang der billigen Polemik gegen den Islam mit der Wesensverwandtschaft des Katholizismus (44 f.). Luther - so Lamparter erklärt sich die Tatsache der bisherigen unzureichenden theologischen Auseinander­ setzung mit dem Islam als Ablenkungsmanöver der Römischen, die, wenn sie sich angemessen äußern wollen, ja die eigene Position angreifen müßten. Abgesehen von den Worten und den Zeremonien unterscheiden sich Türke und Papst in nichts61. Von daher rührt der (endzeidiche) »Zweifrontenkampf« der Christen, die sich zum reinen Evangelium bekennen (45). Deren Existenz im Glauben vor G ott und im Ge­ horsam im Türkenkrieg - hier scheinen die comm-Relationen Luthers durch - mag denn auch, wie Lamparter an anderer Stelle (112-118) hervorhebt, zum Märtyrertum fuhren. Sodann ist mit der Frage des Martyriums ein zweiter wesentlicher Punkt in Luthers Stellung zum Islam angesprochen, der offenbar die Türkenschriften des Re­ formators (wie zu zeigen sein wird) bis hin zur Verlegung bestimmt. Daß Luthers Stel­ lung zum Islam sich aufgrund der späten Äußerungen des Reformators noch einmal anders gewichtet und theologisch konzentriert, liegt außerhalb der thematisch be­ grenzten Sicht Lamparters, dessen teilweise mangelnde Nüchternheit in der Durch­ führung von den Zeitumständen seiner Untersuchung her nicht vorschnell verurteilt werden sollte. C. Umhau W olf (1941)61 Wolfe Untersuchung ist die erste, die ausdrücklich der Frage nach dem Verhältnis Luthers zum »Mohammedanismus«63, also zur islamischen Religion gewidmet ist. Entsprechend treten die Frage der Türkennot und der Türkenkriege in den Äußerun­ gen Luthers ganz in den Hintergrund. Sandessen fragt Wolf nach den Motiven Lu­ thers, sich mit dem Islam auseinanderzusetzen, sowie nach Luthers Islamkenntnis64. Zur Durchführung seiner Untersuchung bemüht Wolf eine Fülle an Äußerungen Lu­ thers - Tischreden, Predigten, kleinere Schriften - außerhalb der bisher in der For­ schung begegnenden Türkenliteratur aus den Händen des Reformators. Dennoch ste­ hen letztere zweifellos im M ittelpunkt auch seiner Analyse. W olf führt hier implizit den Nachweis, daß und wie weit Luthers Türkensàinhen zur Gewinnung seines IsZumbildes herangezogen werden können. Dabei geht der Verfasser gegenüber der bis­ herigen Forschung gänzlich neue Wege: Ausgangspunkt ist Luther als M ann der Re­ naissance, der sich einreiht in deren »broad interest« und die herrschende Unkenntnis über die Türken und die Religion Mohammeds beklagt (161). W olf sieht darin nach

61. 62. 63. 64.

am, ille spiritualiter. Sunt tarnen ambo ex uno domino, Diabolo, cum papa sit mendax et homicida Turca.« Bei Lamparter 40 f., Anm. 65. Lamparter, 45 mit Hinweis auf WA.TR 3, 179,22 f.: »Turca et papa in forma religionis nihil differunt neque variant nisi vocabulis et ceremoniis.« C. Umhau Wolf, Luther and Mohammedanism, The Moslem World, XXXI (1941), 161 ff. Be­ lege im Text. Es wird künftig auch bzgl. der Untersuchung Wolfs von Islam, nicht von Mohammedanismus gesprochen. Letztere Bezeichnung ist weder authentisch noch sachlich zutreffend. Vgl. Wolfs Gliederung: »1. Luthers Attitude Towards the Turks and Mohammedanism« (161164); »II. Luthers Knowledge of Mohammedan Doctrines and Practices« (165*177).

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Einführung

dem Scheitern der Pläne, eine Übersetzung des Koran vorzulegen, das Hauptinteresse Luthers an Veröffendichungen von den Islam betreffenden Werken wie sie im Vor­ wort zum Libellus de ritu et moribus Turcorum (1530), der Vorrede zu Theodor Biblianders Koranausgabe (1543) und insbesondere in der Verlegung des Alcoran Bruder Richardi (1542) zum Ausdruck kommen65. Man mag darüber streiten, ob Wolfs Fest­ stellung eines im Menschen der Renaissance begründeten Interesses an breiter Kennt­ nis auch fur Luthers Sicht des Islam Gültigkeit beanspruchen kann, zumal Wolf selbst wenig später als Mittelpunkt der Islamdeutung des Reformators dessen Lehre von der Rechtfertigung veranschlagt. Es ist jedoch zunächst festzuhalten, daß sich fur die Zeit der gereiften Theologie Luthers (1530-1546) eine Reihe von Veröffentlichungen fest­ stellen läßt, die sich dem (apologetischen) Interesse Luthers am Islam verdankt. Aller­ dings postuliert Wolf darin eine veränderte Einstellung Luthers gegenüber Äußerun­ gen aus der Frühzeit der Reformation: »In the early days o f the Turkish »threat«, he opposed war and urged tolerance« (162). Diese Interpretation ist nicht zu halten. Wolf läßt außer acht, daß die frühen Äußerungen Luthers gegen den Türkenfeldzug aus seiner Bußtheologie zu erklären sind und deshalb gegen den Türkenkrieg als Kreuzzug polemisieren. Der Wandel bzw. die Entwicklung der Position Luthers sind ja gerade darin zu erheben, daß die Islamfrage fiir den Reformator aufgrund der Türkenfrage gestellt ist und sich - herausgefordert durch die militärischen Erfolge der Türken - aus der binnenkirchlichen Kritik heraus entwickelt zur selbständigen Befassung mit dem Islam aufgrund reformatorischer Erkenntnis. Wolfs Deutung wirkt irenisch, wenn er den Wandel Luthers darin erkennen will, daß Luther den Türkenkrieg »zulasse« - »he did permit war against the Turks in later years« (ebd.) - und zugleich dem »Geist der Toleranz« verpflichtet bleibe66. Auch dieser These Wolfs ist nur insoweit zuzustim­ men, als Luther den äußeren Kampf gegen die Türken und den inneren Kampf um den Glauben - dieser ist binnenkirchlich zu fuhren - unterscheidet67. Im zweiten Teil seiner Studie widmet sich Wolf der Islamkenntnis Luthers. Wolf traut dem Reformator eine breite Islamkenntnis zu (»unusually accurate«), ausgehend von der kaum nachweisbaren Vermutung, daß Luther im aktuellen Zusammenhang nicht all das zur Sprache bringe, was er tatsächlich über den Islam wisse und was er nicht nur aus der Koranlektüre, sondern auch aus anderen Quellen schöpfe (vgl. 165). Überschätzt hierin Wolf nicht den Reformator? Gerade Luthers Korankenntnis muß als umstritten gelten, wie auch seine Abhängigkeit von den ihm zu Verfügung stehen­ den Quellen - dies zeigt insbesondere die in der Islamdeutung weitgehend unkritische Übernahme der Confutatio des Ricoldus - kaum Ansätze zur eigenständigen Kritik erkennen läßt. Daß die Grundannahme Wolfs hier zu Fehldeutungen fuhren muß, zeigt die Äußerung: »Luther was one of the early scholars to recognize the syncretistic aspects of Islam« (ebd.). Dabei zeigt doch nicht nur der frühe Luther, daß sein Islam­ bild offenkundig von der mittelalterlichen Tradition abhängig ist.

65.

66. 67.

Wolf, 162: »The most important ... was the reissue o f a work several centuries old, to which Luther appended a lengthy Introduction and a Conclusion. His »Verlegung des Alcoran Bruder Richardi« is required reading if one would understanding Luthers attitude towards Islam.« Wolf, 163: »Even while advocating the propriety of fighting the Turk, Luther held out for a spirit of tolerance in matters of faith.« In diesem Zusammenhang kommt Wolf zutreffend auf Luthers Eschatologie zu sprechen.

Forschungsübeiblick

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Ebenso klärungsbedürftig ist Wolfe Charakterisierung der Lutherschen Sicht Mo­ hammeds» wenn er feststellt: »Mohammed as an individual personage did not interest Luther« (166). Zeigt nicht Luthers interpretierende Übersetzung der Confutatio eine klare Tendenz zur polemischen Personalisierung der Korankritik als »Machmet«-Kritik68? Auf die Darstellung der Einzelbeobachtungen Wolfe zur Islamkritik Luthers kann hier verzichtet werden. Entscheidend ist die Grundlegung der Position Luthers in der »Justification by Faith alone« (172)» welche die Kritik am Islam als einer »doctrine of works« zusammenschließt mit der Kritik an Juden und Katholiken (172-174). Ist die­ ser Würdigung zuzustimmen» so ist schließlich im Rückgriff auf Wolfe Anfangsthese zumindest eine Spannung in der Interpretation des Verfassers festzustellen» wenn er unter Einschluß der Eschatologie Luthers formuliert: »To Luther the enemity of the Turk for the Church was not only a matter of literary allusion but was one of practical importance for spiritual and temporal life. Luther believed the end came soon after the Turks, so the Mohammedans are equated by Luther with the sixth angel in the second woe of Revelation« (175). Verträgt sich diese zutreffende Deutung Luthers tatsächlich mit dem Interesse des Renaissancemenschen an breiter Erkenntnis? Oder ist nicht vielmehr Luthers Interesse an der Aufklärung über den Islam seelsorgliches und zugleich der biblischen Wahrheit verpflichtetes Gebot? An Fragen wie diesen bricht die methodische Schwäche der Untersuchung Wolfe auf, wenn die Applikation reformatorischer Theologie, wie sie Luther in der Wahrnehmung des Islam leistet, ausgeblendet bleibt. Zu nennen sind (wieder) die interpretatorischen Systeme Luthers (insbesondere Zwei-Reiche- und Drei-Stände-Lehre), denen Wolf keinen Raum widmet. So bleibt sein Gesamturteil69 einerseits in der Schwebe, andererseits - bei beachtenswerten Einzelerkenntnissen - zu sehr dem Wunschbild der Toleranz verhaftet, die als Grundzug des Verhältnisses Lu­ thers zum Islam zweifelsohne einen Anachronismus darstellt. Es ist aber Wolfe Ver­ dienst, die Islamfrage methodisch von der Türkenfrage (wenngleich unzureichend) unterschieden zu haben. George Wolfgang Forell (1945)70 Forell, emigrierter Lutherforscher jüdischer Herkunft, versteht seine im Jahr des Kriegsendes erschienene Studie im weiteren Sinn als Beitrag zur Frage des Krieges innerhalb ethischer Systeme71. Sicherlich ist diese Fragestellung zeitgeschichtlich ver­ 68. 69.

70. 71.

Wolf wäre allenfalls beizupflichten, wenn er den Nachweis fuhren wollte, daß die Personalisierung sich in Typen vollzieht und nicht aufgrund eines biographischen Interesses. Wolf, 176: »ln conclusion, we must state that Luthers attitude toward Islam was partly charac­ teristic of the unfair polemic atmosphere of the age, but partly in advance of his age with regard to self-judgment and the urging of tolerance.« George Wolfgang Forell, Luther and the War against the Turk, in: Church History. XIII (1945), 256-271. Belege im Text. Forell, 256: »Because the attitude toward war growing out of an ethical system has peculiar significance, it is of considerable value to study Luthers attitude toward the war against the Turks. His attitude as expressed here will throw some light upon his theological presuppositions and will serve to illustrate his ethical system.«

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ursacht. Insofern Forell nun die Bearbeitung nicht ohne Darstellung der »theological presuppositions« leisten will, nähen sich seine Fragestellung methodisch - teils auch inhaltlich - der hier aufgeworfenen, wenngleich der Islam außerhalb des Themas liegt. Forells Interesse liegt insbesondere auf den »three major works« zur Türkenfrage, wor­ unter Vom Kriege wider die Türken, die Heerpredigt (beide 1529 abgeschlossen) und die Vermahnung zum Gebet wider den Türken (1541) zu verstehen sind; daneben sind die frühen Äußerungen in der Buß- und Kreuzzugsfrage, Tischreden und das Vorwort zum Libellus (1530) herangezogen. Die Untersuchung ist - wie zu erwarten - be­ stimmt von den klassischen Themen, die anzusprechen sind, wiederum also Bußtheo­ logie (gegen den Kreuzzugsgedanken), die erste Türkenschrift (gegen das Mißver­ ständnis, Luther lehne den Verteidigungskrieg ab), die zweite Türkenschrift (als Dokument der Eschatologisierung der Türkenfrage), das Vorwort zum Libellus (als erste Beschäftigung mit dem religiösen Leben der Türken) und schließlich die Ver­ mahnung (als Dokument des zu führenden geistlichen Kampfes) (vgl. 257-260). Forell ist sich dabei bewußt, daß die frühen Türkenäußerungen Luthers aus der Aus­ einandersetzung mit dem Papsttum erwachsen sind. Erst mit den großen Türken­ schriften erhält die Frage ihren eigenen Stellenwert. Darüber hinaus - hier ist die ethische Perspektive wirksam - erkennt Forell in den Türkenschriften eine ethische Betrachtung, die Luther ungeachtet der faktischen Unterstützung der Reformation durch die anhaltende Türkengefahr dazu bringt, den Krieg gegen die Türken zu for­ dern72. Als Grund hierfür vermutet er die schriftbezogene Sicht der Türkenfrage bei Luther, einerseits in der eschatologischen Interpretation, andererseits in Luthers schriftbezogener Dogmatik und Ethik, die den Türken aufgrund der Leugnung der christlichen Zentraldogmen, aber auch der Verwerfung der ethischen Grundlinien in die Nähe des Antichrist rückt73. Bemerkenswert ist auch die Beobachtung, daß die Türkengefahr in ihrem teuflischen Charakter Werkzeug Gottes ist und bleibt74. Aus­ führlicher wendet sich Forell der Kriegsfrage zu und erkennt als maßgeblich eine Pflichtenethik Luthers auf der Basis der Obrigkeitstheologie und der Zwei-ReicheLehre, der sich die eschatologische Sicht der Türkengefahr zugesellt (vgl. 265-270). Leitend und im Ergebnis erwiesen ist die Erkenntnis: »Luthers attitude toward the war against the Turks is an integral part of his entire theology. It is especially important because of his persistent denial o f the right to proclaim a war, even a religious war, or a crusade. But we cannot fully understand Luthers position on the war against the Turks unless we realize that for Luther there was also an eschatological element involved in this war« (269). Die ausführliche Paraphrase der Untersuchung Forells ist methodisch begründet: Forells Bearbeitung der Frage stellt sich in ihrer Kürze und treffenden Prägnanz als 72. 73.

74.

Forell, 260: »Although by all rules of strategy and power politics Luther and the Turks should have been allies, Luther urged war against the Turks.« Forell, 262: »As saints of the devil the lurks were also destroyers of Christian faith and morals.« Hinsichtlich der Bezeichnung des Türken als Antichrist ist Kritik anzumelden. Wenn - nicht nur bei Forell (264) - die Beobachtung benannt wird, bezieht sie sich auf die eine Äußerung Luthers in den Tischreden (WA.TR 3. 158,31 ), die nicht so eindeutig ist, daß sie zu solch weitreichenden Schlußfolgerungen Anlaß böte. Forell, 261 : »For Luther the devil was always Gods devil, i.e., in his attempt to counteract God he ultimately serves God.« Der bußtheologische Charakter ist also beibehalten.

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vorbildlich für die vorliegende Untersuchung dar75. Festzuhalten ist auch Forells Er­ kenntnis der »Konsistenz« der Position Luthers angesichts der sein ganzes Leben be­ gleitenden Türkengefahr als einer theologischen Erfahrung, die jeweils ihre aktuale Ausgestaltung findet, aber eben darin der theologischen Grundüberzeugung verpflich­ tet bleibt. »He was concerned with the Turkish danger most of his life. The Turks played a pan in his first teaching? as well as in his last. But with an amazing consisten­ cy Luther never changed his basic attitude. The Turks were God’s punishment of a proud and sinful Germany in 1541 as in 1517. Never did the political exigencies of the time change Luthers statements concerning these enemies« (270). Forells Unter­ suchung ist hier weiterzufiihren: über das Jahr 1541 hinaus und bezogen auf die ex­ plizite Herausforderung des Islam als religiöses Phänomen im Denken des Reforma­ tors. Hans PfefFermann (1946)76 PfefFermanns auf das Papsttum konzentrierte historische Untersuchung hat auch der Reformation und dabei insbesondere Luther ein eigenes Kapitel eingeräumt77. Zu sprechen ist dabei weniger von den minierweile beinahe schon stereotyp anmutenden Begriffen wie Bußtheologie, Verwerfung des Kreuzzugsgedankens oder apokalyptischer Horizont Luthers, sondern von den wenigen Einzelbeobachtungen des Verfassers, die bisher nicht zur Sprache gekommen sind. Dazu gehört die Überzeugung PfefFermanns von der politischen Bedeutung der Äußerungen Luthers, der im Zusammenhang der Schlacht von Mohics (1526)78 doch erhebliches Gewicht zukomme, »wenn auch die häufig aufgestellte Behauptung, diese [Äußerungen Luthers] seien an der Niederlage von Mohics schuld, stark übertrieben ist« (159). Überhaupt neigt der Autor zu der Annahme, den Türken sei durch den von der Reformation verursachten Wandel in der Einstellung ihnen gegenüber »nicht sofort, aber mit der Zeit nicht unbedeutender Nutzen erwachsen«79. Jeden Nachweis dieses Nutzens bleibt der Autor allerding? schuldig. Politisch kann er sich jedenfalls bei Luther nicht im Sinne einer »Wehrkraft­ zersetzung« ausgewirkt haben. Ist doch eben die Niederlage von Mohics nicht auf die theologische Auseinandersetzung Luthers zurückzufïihren wie auch fur PfefFermann selbst die Schlacht und der Sturm auf Wien Luther angeblich zur Änderung seiner Auffassung nötigt (vgl. 159).

75.

76. 77. 78. 79.

Die konsequente Einordnung der Fragestellung in die Theologie Luthers zum Verständnis des Reformators ist keineswegs selbstverständlich, wie die Kritik an C. Göllner (s.u.) zeigen wird. Der bei Forell erreichte theologische Horizont wird nur noch von R. Mau und M. Brecht (s. u.) erreicht bzw. übertroffen. Hans Pfeffermann, Die Zusammenarbeit der Renaissancepäpste mit den Türken, Winterthur 1946. Belege im Text. 11. Kapitel: »Die Reformation und die Türken«, 154-173. Zur Schlacht von Mohics und ihrer Rezeption bei Luther s. u. 242 f. und 273 f. PfefFermann, 157 (Hervorhebung J. E.). Die Behauptung wird durch die Äußerungen eines pro­ testantischen Geistlichen im Jahre 1550 (!) belegt, der sich anerkennend über die Freiheit der evangelischen Verkündigung im türkisch besetzten Ungarn äußert. Daß damit jedoch nur eine Einzelstimme zum Tragen kommt und überhaupt die politische Widerstandskraft gegen die Türken im Protestantismus keinen Schaden litt, läßt Pfeffermann außer acht.

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Die Unklarheiten in der Darstellung Pfeffermanns liegen begründet in einer Bü­ schen Perspektive seiner Betrachtung. Luther war nie daran gelegen, sich defätistisch zur Bedrohung durch die Türken zu äußern. Es war seine bußtheologische Überzeu­ gung, welche die Bedrohung des Evangeliums der Bedrohung durch die Türken vor­ ordnete, eine Bewertung, die er nie preisgegeben, sondern eschatologisch vertieft hat. Der »Wandel« in seinen Anschauungen besteht lediglich in dem Anliegen Luthers und vornehmlich dadurch ist die erste große Türkenschrift initiiert - , die Mißver­ ständnisse bei der politischen Rezeption seiner theologischen Äußerungen zu bereinigen. Dabei spricht Pfeffermann selbst von der Präzisierung des Standpunktes durch den Reformator (was etwas anderes ist als Wandel), wenn er die Türkenkriegsfrage in der Bekräftigung der Absage Luthers an den Kreuzzugsgedanken und die Notwendigkeit des Krieges als Akt der Verteidigung auf der Basis der Zwei-Reiche-Lehre entfaltet. Gänzlich zu kurz kommt in der Untersuchung Pfeffermanns der islamkundliche Aspekt der Türkennot. Wiederum ist dieser einerseits von der Themenstellung eines Autors nicht zu erwarten, der sich der historischen, teils auch schon in Ansätzen sozialgeschichdich geprägten Fragestellung widmet. Andererseits ist die starke eschatologische Färbung der Äußerungen Luthers nicht völlig losgelöst von der islamischen, d. h. religiösen Frage denkbar. Führte sie doch Luther zu der auch von Pfeffermann beton­ ten apokalyptischen Gesamtschau von Türken und »Papisten«. Zwar haben die Tür­ ken lediglich den »leiblichen« und nicht den »geistlichen« Part bei der Verwüstung der Christenheit zu spielen, aber Luther hat immerhin mit dieser eschatologischen Sicht der Dinge ein Interesse an der Lehre des Islam mit dem Ziel der Stärkung des christ­ lichen Glaubens zu verbinden gewußt, was zur Gesamteinschätzung der Position des Reformators nicht unerwähnt hätte bleiben dürfen. So bleibt Luthers Kenntnisnahme des Islam in der Untersuchung Pfeffermanns außen vor und ebenso vermißt man die Stringenz der theologischen Bewertung. Für die vorliegende Untersuchung besteht Pfeffermanns Verdienst lediglich darin, ein weiteres Mal auf das Problem »Wandel oder Entwicklung« in der Theologie Lu­ thers aufmerksam gemacht zu haben, eine Problemstellung, die dann aber explizit in theologiegeschichtlicher und in Ansätzen religionswissenschaftlicher Perspektive wahrzunehmen ist.

c) Die Forschung derfiinjziger und sechziger Jahre Rudolf Pfister (1953-56)80 Pfisters Beitrag bedeutet in der Konzentration auf die Themenstellung der Unter­ suchung methodisch einen Meilenstein. Zu vernachlässigen sind die Ausführungen zur Türkengefahr, zu Luthers Stellung zum Türkenkrieg, zur theologischen Deutung Luthers, die sich ebenso in den Bahnen des bereits Geschilderten bewegen wie die Erkenntnisse Pfisters hinsichtlich anderer Reformatoren oder auch Gelehrter in hu­

80.

Rudolf Pfister, Reformation, Türken und Islam, Zwingliana 10 ([1954-1958] 1956), 345-375. Belege im Text.

Forschungsüberblick

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manistischer Tradition81. Besondere Aufmerksamkeit verdient jedoch der entschei­ dende zweite Abschnitt seines Aufsatzes, »Die Islamkenntnis der Reformationszeit« (353-356). Pfister nennt dabei zunächst die Quellen, die dem umfassendsten Kenner des Islam in der Reformationszeit, Theodor Bibliander, zur Verfügung standen: die mittelalterlichen Werke des Johannes Kantakuzenos, des Petrus Venerabilis und schließlich die Confutatio des Ricoldus, die Bibliander in seine Koranausgabe auf­ genommen hat. In diesem Zusammenhang wird auch Luther gewürdigt, dessen Kenntnis des Islam sich jedoch auf die in der Cribratio und Confiitatio aufzufindenden Traditionen beschränkt habe - bis zur Lektüre des Koran im Februar 1542, die dann den Anlaß zur Übersetzung der Confiitatio durch Luther gebildet habe. Diese Sicht ist mitderweile überholt, weil unvollständig. Auf die weiterreichende Kenntnis Luthers ist aufgrund der Forschung Reinhard Klockows (s. u.) einzugehen. Es ist das Verdienst Pfisters, aufgrund der ihm vorliegenden Traditionen im dritten Abschnitt seines Aufsatzes - »Die Doctrina Machometi als Verfälschung des christli­ chen Glaubens« (356-360) - eine Typologie islamischer Theologie nach dem Kennt­ nisstand der Reformationszeit vorgelegt zu haben. Diese ist zwar weder auf Luther konzentriert noch vollständig, aber es ist der methodische Schritt vollzogen, die Islam­ kenntnis in ihrer damals möglichen Reichweite, d. h. sicherlich auch in ihrer Unzuläng­ lichkeit und ihrem polemischen Charakter darzustellen. Diese Kenntnis besteht im »Wissen« um die Biographie Mohammeds, seine Verbindung mit Häretikern als Grundlage seiner eigenen Lehre, die Widersprüchlichkeit zu den drei grundlegenden Glaubensartikeln des Christentums in der Bestreitung der Trinität (Gotteslehre), der Bedeutung des Erlösers Christus (Christologie) und der Rechtfertigung wie auch des Glaubens (Pneumatologie). Die Frage der Ethik ist geprägt von der Ambivalenz einer­ seits einer hohen Sittlichkeit, andererseits aber der Auflösung rechter Obrigkeit und Ehe. Es zeigt sich, daß Luthers Islamkritik, sofern sie sich in diesen Bahnen bewegt, im Ansatz nicht originell ist, jedoch ihre spezifische Färbung, ihre Vertiefung wie Ver­ änderung in der Entfaltung reformatorischer Theologie erfährt. Wie bereits angedeutet liegt das Hauptaugenmerk der Untersuchung Pfisters auf den methodischen Errungenschaften, weniger in den Ergebnissen, die sicherlich - es handelt sich bei seiner Studie um die Überarbeitung eines Vortrags - zu kurz greifen. Diese Errungenschaften bestehen nun zweifellos darin, daß die Frage der Herkunft der Islamkenntnis der Reformationszeit - und somit auch Luthers - explizit gestellt und nicht nur aus den Lutherschriften selbst (und dies wiederum meist in der Konzentra­ tion auf die Türkenkriege) erhoben wird. Damit ist jedoch der Weg offen zur klaren Differenzierung der religionswissenschaftlich zu würdigenden Tradition neben der theologischen Interpretation, die den methodischen Weg auch der vorliegenden Un­ tersuchung bestimmt.

81.

Antistes Heinrich Bullinger über den »Türgg«, in: EMM 98 (1954), 69-78; und: Das Türkenbüchlein Theodor Biblianders, in: ThZ 9 (1953), 439-454. Pfister bringt in seinem o.g. refor­ mationsgeschichtlichen Aufsatz eine Reihe wertvoller Mitteilungen bzgl. Zwingli, Bucer, Bullin­ ger und Melanchthon, auch Erasmus und Bibliander werden genannt. Letzterem gilt das Interesse im Zusammenhang seiner Koranausgabe.

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Norman Daniel (I960)82 In zehn systematisch gegliederten Kapiteln widmet sich Daniel in seinem epochalen Werk83 dem Verhältnis des Islam als religiöse, kulturelle und politische Erscheinung zum »Westen«, d. h. zum chrisdichen Abendland. Dabei ist der Versuch unternom­ men, die im Abendland, insbesondere im chrisdichen Mittelalter geläufigen Traditio­ nen über den Islam herauszuarbeiten, also beispielsweise über Mohammed, den Ko­ ran, das Prophetieverständnis u. s. f. Wie ernst ihm dieses Ziel vor Augen steht, beweist seine Bitte im Vorwort um Verständnis bei Muslimen, die in den dargestellten Tradi­ tionen aufgrund des polemischen und verzeichnenden Charakters die eigene Religion als in Verruf gebracht empfinden müssen84. In seinem zehnten Kapitel »The survival of mediaeval concepts« (271-307) befaßt sich Daniel mit dem Zeitraum nach 1330 und dementsprechend auch mit Luther und der Reformation. Daniels umfassende und flächendeckende Darstellung räumt jedoch Luther nur eine halbe Seite ein und nennt im Zusammenhang des Reformators kei­ nerlei Einzelheiten; sie bietet auch so gut wie keine Nachweise. Es bleibt bei der Be­ nennung des apokalyptischen Horizonts und bei der Beziehung der (in diesem Zu­ sammenhang unklaren) Antichristvorstellung Luthers auf die Türken. Dennoch trifft im weiteren Kontext der Gesamtdarstellung und im näheren Kontext des Islambildes der Renaissance in der Untersuchung Daniels dessen grundsätzliche Bewertung zu: »The Refomers do not seem to have conceived Islam any differently; in some ways Luther felt more strongly than his mediaeval predecessors, perhaps of the Turkish military danger, which was still pressing« (280). Daniel erbringt den Nachweis hierzu allerdings nicht - wie ein solcher von der umfassenden Themenstellung seiner Unter­ suchung auch kaum zu erwarten ist. Sachlich ist er jedoch geboten und bleibt Deside­ rat. Dann aber wird zu zeigen sein, daß Luther eben nicht nur die ihm vorliegenden naturgemäß mittelalterlichen - Traditionen aufnimmt, sondern in einer Weise inter­ pretiert, die ihn von den mittelalterlichen Vorläufern aufgrund der ihn leitenden Vor­ aussetzungen reformatorischer Theologie abhebt. Damit und darin ist der vorliegen­ den Studie das Ziel vorgegeben, dem sich auch aufgrund der Untersuchung Daniels ergebenden Desiderat abzuhelfen. Richard W. Southern (1962)85 Anders angelegt86, jedoch aus reformationsgeschichtlicher Perspektive durchaus ver­ gleichbar, stellt sich die Untersuchung Southerns dar. Auch hier steht das Mittelalter 82. 83. 84.

85.

86.

Norman Daniel, Islam and the West. The Making of an Image, Edinburgh 1960. Belege im Text. Hagemann, Auseinandersetzung, 52, nennt cs das »Standardwerk schlechthin Für die Kontrover­ se der Lateiner mit dem Islam«. »1 hope that Muslim readers will not be scandalised by some of the things in this book, or consider that I have been wrong to revive the memory of, among other things, certain silly and unpleasant libels of their religion and their Prophet. My primary purpose has been the scientific one of establishing a series of facts, and this 1 believe to need no justification.« Daniel, V. Richard W. Southern, Das Islambild des Mittelalters, Stuttgart u.a. 1981. Southerns Unter­ suchung ist der Forschungslage der sechziger Jahre zugehörig. Das englische Original stammt von 1962 und erschien 1978 nur unwesentlich verändert. Belege im Text. Vgl. die Würdigung im Forschungsbericht bei Hagemann, Auseinandersetzung, 52.

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im Zentram der Darstellung. Luther sind im Zusammenhang des dritten und letzten Kapitels »Der Augenblick der Vision« (49-73) lediglich zwei Seiten gewidmet (70 f.). Auch Southern kann und will nicht den Anspruch erheben, eine nur von lerne aus­ reichende Interpretation des Islambildes Luthers zu liefern. Dennoch bieten seine we­ nigen Äußerungen ausreichend Anlaß sowohl zur W ürdigung als auch zur Kritik. Southern bezieht sich - gegenüber den deutschsprachigen Untersuchungen ein No­ vum - explizit auf Luthers späte Übersetzung der Confutatio des Ricoldus, der er die Absage Luthers an den Kreuzzugscharakter eines Türkenkriegs, die doch aus den frü­ hen Türkenäußerungen Luthers zu erheben ist, zur Seite stellt. Zutreffend ist seine Beschreibung des Bußcharakters und des apokalyptischen Denkens beim Reformator, in deren Zusammenhang Southern auch die Nichtanwendung der Antichrist-Katego­ rie auf die Türken feststellen kann. Ebenso ist Luthers schwindende Hoffnung auf eine Bekehrung der Muslime als zutreffende Einschätzung zu vermerken. Dagegen erscheinen die eher subjektiven Bewertungen des späten Luther als die eines zornigen alten Mannes im thematischen Zusammenhang unnötig eingetragen. Mag diese Be­ wertung als rhetorisches Zugeständnis noch leicht wiegen, so erscheint es als Verzeich­ nung des Anliegens Luthers, wenn diesem unterstellt wird, er habe es aulgegeben, »eine politische oder intellektuelle Lösung für das Islamproblem zu finden« (71). Der Verfasser unterläßt es mitzuteilen, worin fiir den Reformator der Islam ein politi­ sches Problem darstellte. Sollte darunter die 7wnte«gefahr zu verstehen sein, so hat sich Luther dieses Problems ohne Zweifel intensiv angenommen - allerdings im Licht (und gegebenenfalls Schatten) seiner Theolope und der ihn ihr gereiften Systeme. Geht es aber daneben auch um die Frage der »intellektuellen« Bewältigung des »Islamptoblems«, so ist - dies geschieht bei Southern nicht - fur vorliegende Untersuchung die Aufgabe gestellt, die (modern gesprochen) religionswissenschaftlichen Momente der Türkenschriften Luthers genauer in den Blick zu nehmen als dies in Southerns »Islambild« geschehen ist. Es wird entsprechend auch aufgrund der Folgerungen Sout­ herns zu prüfen sein, wieweit der Vernunft in der Auseinandersetzung mit dem Islam auch und gerade bei Luther ein erheblicher Stellenwert zukommt. Hans-Jürgen Uhl (1965)87 Uhls Wiener Dissertation nim m t ihren sachlichen Ausgangspunkt in der (bei diesem nicht ausgefuhrten) These Lamparters, »daß Luthers Stellungnahmen zum Türken­ krieg ihrer eigendichen Intention nach Predigten sind« (2), die Uhl nun gerade in diesem Charakter würdigen möchte. In Ergänzung zu den Arbeiten Richard Linds (»historisch«) und Helmut Lamparters (»systematisch«) ist Uhls Anliegen darin zu erkennen, in Aufnahme des historischen Aspekts (Einleitung) sowie der systemati­ schen Aspekte Obrigkeit, Kreuzzug, Untertanenpflichten (1. Hauptteil) und Ge­ schichtshandeln Gottes unter Einschluß von Buße und Eschatologie (2. Hauptteil) die Fragestellung auf die systematische Grunderfahrang Luthers mit dem Wort Gottes in der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium (4. Hauptteil) zuzuspitzen. So sind die beiden Fixpunkte der Untersuchung zu bestimmen im historischen Problem der Türkenpredigt Luthers und dem systematischen des Wortes Gottes, das wiederum 87.

Hans-Jürgen Uhl, Luthers Predigt zum Türkenkrieg, Diss. theol. Wien 1965. Belege im Text.

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durch eine dogmatische Perspektive (Gesetz und Evangelium) und eine praktisch­ theologische bestimmt ist. Im Übergang der zu schildernden Systeme zur Frage nach Luthers Predigtpraxis fugt Uhl einen eigenen (3.) Hauptteil ein: »Luthers Urteil über Religion und Leben der Türken in seiner Predigt zum Türkenkrieg« (vgl. 174-209)» der hier zur weiteren Darstellung herangezogen wird: Zunächst ist allerdings der Predigtbegriff Uhls methodisch zu erörtern, der indirekt auch die Gesamtfragestellung berührt. Es bleibt letztlich bei einem unpräzisen Predigtbegriff, wenn Uhl unter dem Stichwon Predigt die gottesdienstliche Verkündi­ gung im direkten Zusammenhang zur Schriftauslegung, dann diese ohne diesen direk­ ten Zusammenhang, dann wiederum die Sermo-Literatur, schließlich auch die gesamten Verkündigungsaspekte in Luthers Schriften verhandelt88. Uhl verfolgt damit offenbar den Ansatz, auch und gerade Luthers Äußerung gegen die Türken vom Wort Gottes-Verständnis des Reformators her zu entfalten. Freilich bleibt der Begriff »Tür­ kenpredigt« unscharf. Zwar kann damit zutreffend ausgesagt werden, daß Luthers die Türkengefahr thematisierende Verkündigung ganz von seinem Verständnis des Wortes Gottes geprägt ist. Es ist aber zugleich mit dieser zutreffenden dogmatischen Bestim­ mung eine Einebnung der Gattungen verbunden, deren zweifellos bewußte Differen­ zierung durch Luther zum nicht zu vernachlässigenden Interpretament gerade seiner Äußerungen über die Türken gehört. Es läßt also gerade der Begriff »Türkenpredigt« offen, ob Luthers Stellung zu den Türken (und zum Islam) anhand seiner gottes­ dienstlichen Verkündigung und anhand der Schriften zu gewinnen ist, die den Titel Predigt tragen - wobei wiederum zu fragen wäre, ob etwa bei der Heerpredigt Luthers der Titel Predigt im eigentlichen oder uneigentlichen Sinne zu verstehen ist - oder ob die Türkenschriften Luthers gleich welcher Gattung auf ihren Verkündigungscharak­ ter untersucht werden sollen. Uhl verfährt hier inkonsequent. Neigt man bei der Lek­ türe seiner Dissertation methodisch zur zweiten Alternative, so zeigt die Durch­ führung wenig Interesse am Nachweis seines Ansatzes im gesamten Spektrum der Türkenschriften Luthers. Vielmehr sind die Erkenntnisse aus den Türkenschriften Luthers erhoben, die am ehesten (im Sinne der ersten Alternative) am genus der Heer­ predigt bzw. der Schrift Vom Kriege wider die Türken orientiert sind. Dies bedeutet aber in letzter Konsequenz, daß Uhl das Anliegen Luthers einer authentischen Wahrneh­ mung des Islam faktisch theologisch ausklammert89. Zwar nimmt der Verfasser durch­ aus dies Anliegen Luthers wahr und erkennt zutreffend als wesentliches Motiv die Überzeugung des Reformators, daß die unverstellte Kenntnis des Islam gegen diesen selbst spreche. Und ebenso zutreffend wird festgestellt, daß der Islamkenntnis Luthers zeitbedingt Grenzen gesetzt waren. Es fehlen jedoch nicht nur die religionswissen­ schaftliche Analyse und Begründung, wie sie eben aus Luthers Bearbeitung der Confutatio zu erheben sind, sondern auch die Bewertung des von Luther selbst hergestell­ ten Zusammenhangs von Islamkenntnis und Islamkritik. Wieder kommt hier mangelnde methodische Präzision zum Tragen: Ginge es Uhl um Luthers Urteil über den Islam anhand seiner Predigten (oder predigtartiger Literatur), so läge die ange­ mahnte Analyse in der Tat außerhalb seiner Fragestellung. Indem aber die systemati­ sche Fragestellung Uhls über die Predigt hinausgreift und einerseits den Verkündi­ 88. 89.

Vgl. dazu den gesamten 4. Hauptteil, 210-260. Vgl. die unspczifische Einleitung Uhls zum 3. Hauptteil. 174.

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gungscharakter der (aller?) mit den Türken befaßten Schriften nachweisen möchte, andererseits eben diesen Verkündigungscharakter in Schriften wie der Confiitatio au­ ßer acht läßt (die sich dem engeren genus von Predigt, Verkündigung oder Sermo entziehen) bleibt sie hinter den Erwartungen zurück. Überraschen muß auch, daß Uhl - angesichts der konsequenten Rückbindung der die Türken betreffenden Äußerungen Luthers auf dessen Theologie - in der histori­ schen Bewertung zu Urteilen kommt, die entweder einen steten Wandel in Luthers Theologie voraussetzen, oder aber Luthers theologische Mitte angesichts seiner jewei­ ligen Äußerungen gegenüber den Türken nicht mehr erkennen lassen, was doch nach dem oben Geschilderten als Hauptanliegen des Verfassers gelten muß. So ist für Uhl Luthers Position »rein formal gesehen keineswegs einheidich«, sondern läßt »einen deudichen Wechsel der Einstellung zum Türkenkrieg erkennen ... Dieser Bruch [!] läßt sich ungefähr auf das Jahr 1526 festlegen. Bis dahin nimmt Luther grundsätzlich negativ zum Türkenkrieg Stellung, während er hernach bemüht ist, angesichts der Bedrohung Deutschlands durch die Türken, mit allen ihm zu Gebote stehenden M it­ teln Fürsten und Untertanen zum Türkenkrieg aufzurufen. Diese Uneinheidichkeit der Äußerungen Luthers hat verschiedene theologische Gründe ...« (13). Uhl konstatiert also vom ethischen Ergebnis der jeweiligen Stellungnahme Luthers »Uneinheit­ lichkeit« statt von der M itte reformatorischer Theologie (Wort Gottes) aus die diffe­ renzierte Stellungnahme Luthers zum Türkenkrieg zu entfalten. Daß diese Wertung so nicht zutreffen kann, ist dem Verfasser selbst bewußt, wenn er umgehend feststellt: »Sachlich sind ... Luthers Stellungnahmen zum Türkenkrieg ganz und gar nicht un­ einheitlich. Sie müssen allerdings, um recht beurteilt zu werden, von der historischen Situation her gesehen werden, in welcher Luther gesprochen und gehandelt hat« (14). Die Spannung, um nicht zu sagen Widersprüchlichkeit dieser Einschätzung ist Uhl selbst offenbar nicht verborgen geblieben, wenn er sprachlich »formal« und »sachlich« voneinander abhebt, um die Uneinheitlichkeit (formal) und die Einheitlichkeit (sach­ lich) der Äußerungen Luthers sinnvoll miteinander in Beziehung zu setzen. Das Pro­ blem bleibt. Gewiß sind aber die Kategorien »formal« und »sachlich« ganz unglücklich gewählt zur Kennzeichnung der theologischen Mitte (einerseits), aus der heraus dem Reformator (andererseits) unterschiedliche Ratschläge zum Türkenkrieg möglich und geboten scheinen. Und ebenso wenig geglückt erscheint die Kennzeichnung beider Seiten als »einheitlich« bzw. »uneinheitlich«. Wiederum müßte es im theologischen Ansatz Uhls begründet sein, die widerspruchsfreie Kohärenz der Äußerungen Luthers herauszuarbeiten, was er denn auch faktisch durchfuhrt. Die Frage erhält ihre Relevanz keineswegs nur durch ihre gegensätzliche Beantwortung in den hier gesichteten Bei­ trägen. Sie muß überhaupt methodisch so gestellt werden, daß der sachliche Bezugs­ punkt reformatorischer Theologie, von dem Luther auch seine Position zu den Tür­ ken (und dem Islam) gewinnt, erhalten bleibt. Nur dann, wenn an diesem Punkt Klarheit herrscht, kann auch - jenseits der Kategorie eines »Bruchs« - ein Wandel bzw. eine Entwicklung in Luthers Theologie nachgewiesen werden. Trotz der diesbezüglichen methodischen Kritik ist Uhls Untersuchung wertvoll, die systematische Zuordnung von Einzelaussagen und die Einbeziehung von Predigten Luthers erhellend. Gerade in Ergänzung seiner Untersuchung erscheint es jedoch ge­ boten, im Rahmen der literarischen und rhetorischen Analyse der Confiitatio den Ver­ kündigungscharakter der interpretierenden Übersetzung Luthers (einschließlich des

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Vor- und Nachworts) herauszuarbeiten, der zweifellos den von Uhl in Anschlag ge­ brachten Rahmen von »Luthers Predigt zum Türkenkrieg« weitet, wenn nicht sprengt. Hartmut Brenner (1968)90 Das Problemfeld »Luther und der Islam« liegt außerhalb des Schwerpunktes der Hei­ delberger Dissertation Brenners. Allerdings ist im Rahmen der geschilderten Vorge­ schichte (vgl. 1-35) der dritte Abschnitt, »Herausforderung der türkischen Religion«, Luther gewidmet (vgl. 26-35). Indem Brenner nicht primär nach der Türkengefahr, sondern nach der islamischen Herausforderung fragt, sieht er Luther zunächst in star­ ker Abhängigkeit von der mittelalterlichen antiislamischen Polemik. Aber: »Mehr als andere Reformatoren ... versucht er, sich ein möglichst vollständiges Bild über diese Religion zu machen« (26). Genannt werden die Confutatio des Ricoldus und die CWbratio des Kusaners, besonderes Interesse erweckt jedoch eine Bemerkung Luthers zum Charakter der gegen Mohammed selbst gerichteten mittelalterlichen Polemik als ftir die Frage der Lehre und des Dogmas letzdich belanglos: »Personalia, quae dicunt de Mahomet, me non movent, aber die lehre der Turcken müssen wir angreiffen. Dogma mus man ansehen. Wenn es schon mitt seiner person so were, wie man schreibet oder wie er saget se spiritu quodam afflari divino, doch frag ich nach den personalibus nichts; es ist vmb die 1er zuthun«91. Dieser Beobachtung Brenners ist nachzugehen, insbesondere weil - wie jetzt schon zu bemerken ist - Luthers Polemik in der Überset­ zung der Confutatio stark personalisierte Züge annimmt, also gegen die Person Mo­ hammeds gerichtet scheint. Übergangen werden können die summarischen Betrach­ tungen bei Brenner zu Luthers Korankritik, zum Vernunftcharakter des Islam, zum Vorwurf der Selbsterlösung und der Werkgerechtigkeit, zur Befürwortung des Basler Korandrucks, zum Bußcharakters wie zur Ablehnung des Kreuzzugsgedankens und zum endzeitlichen Horizonts der Äußerungen Luthers92. Hinzuweisen ist allerdings auf die Kritik Brenners an Pfeffermanns Einschätzung eines Sinneswandels Luthers in der Kriegsfrage (vgl. 32 £), eine Kritik, der zuzustimmen ist. Schließlich ist auf eine Unklarheit bei Brenner selbst aufmerksam zu machen, die offenbar auf die unkritische Übernahme der Ergebnisse Pfisters und Pfannmüllers93 zurückgeht. Brenner identifiziert nämlich den Verfasser des Libellus de ritu et moribus Turcorum, Georg(ius) von Ungarn, fälschlich mit Bartholomäus Georgievits (Georgievic). Dessen Werke von De Turcarum Ritu et Caeremoniis (1544) und De Turcarum moribus Epitome (1555!) hat Luther nicht zur Kenntnis genommen bzw. gar nicht nehmen können.

90.

91. 92.

93.

Hartmut Brenner. Protestantische Orthodoxie und Islam. Die Herausforderung der türkischen Religion im Spiegel ev. Theologen des ausgehenden 16. und 17. Jahrhunderts, Diss. theol, Hei­ delberg 1968. Belege im Text. WA.TR 5, 221,4-7 (1542/43); bei Brenner, 26. Vgl. Brenner, 27-31. Die summarische Aufzählung zeigt, daß sich Ende der sechziger Jahre auf­ grund der vorangegangenen Untersuchungen - von denen Brenner sich deutlich abhängig zeigt - ein fester Kanon an Fragestellungen ergeben hat. Vgl. Pfister, 354, und Pfannmüller, Handbuch, 156.

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d) Die Forschung der siebziger Jahre Carl Göllner (1943/1975)* Göllners Verdienste um die Erforschung der türkischen Expansion und ihre mentali­ tätsgeschichtlichen Folgen können hier nicht von ferne ausreichend dargestellt werden. Die Skizze beschränkt sich daher streng auf die »Türkenfrage im Spannungsfeld der Reformation« und hierin wiederum auf die Ausführungen zu Luther. Die sonstigen einschlägigen Untersuchungen Göllners sind in den jeweiligen Zusammenhängen insbesondere bei dem von Luther 1530 herausgegebenen Libellas - berücksichtigt9495. Göllners Ergebnis enttäuscht, wenn er formuliert: »Versucht man die Gesamtheit von Luthers Äußerungen zur Türkenfrage ins Auge zu fassen, so weiden eklatante Widersprüche sichtbar, die nicht nur entwicklungsgeschichdich bedingt sind. Es ist wohl kaum gerechtfertigt zu behaupten, Luther habe in seinen frühen, noch im augustinischen Geist abgefaßten Schriften den Türkenkrieg grundsätzlich abgelehnt und später aus praktischen Erwägungen die Notwendigkeit eines »gerechten Kriegcs< erkannt. Vielmehr zieht sich durch das gesamte Schrifttum Luthers über die Türken­ frage eine Spannung zwischen einer bedingten Bejahung des rein weltlichen Verteidi­ gungskrieges und einer tief resignierenden Haltung gegenüber jeder Gewaltanwen­ dung, die in der klar erkannten Aussichtslosigkeit aller Türkenkriegspläne und in der Erwartung des nahen Weitendes wurzelt«96. Wie kommt Göllner zu einem solchen Ergebnis? Luthers Verwerfung des Kreuzzugsgedankens und der apokalyptische Hori­ zont seiner Überlegungen stehen nicht in Frage. Es ist Göllner jedoch anzulasten, daß seine Lutherinterpretation vom Gedanken einer Trennung zweier Bereiche gekenn­ zeichnet ist, die Luther nie getrennt, wohl aber klar unterschieden hat - eben die der zwei Regimente. So sind (mit weitreichenden Folgen) Interpretationsmuster wirksam, die dem Reformator nicht gerecht werden. Bereits zu Beginn äußert Göllner sich zu Luthers »recht zwiespältiger Einstellung zur Türkenfrage zwischen der Hochachtung vor dem türkischen Heer und Staatswesen und einer absoluten Verurteilung der T ür­ ken« (61) dahingehend, daß Luthers Urteil über die Türken anders ausgefallen wäre, wenn dieser sich von rein politischen Erwägungen hätte leiten lassen - was Luther nicht tat, wie auch Göllner feststellt. Dabei kommt es dem Verfasser jedoch nicht in den Sinn, nach den Motiven zu fragen, warum dies Luther nicht möglich gewesen ist. 94.

95.

96.

Carl Göllner, Die Türkenfrage im Spannungsfeld der Reformation, in: Südost-Forschung 34 (1975), 61-78; der Aufsatz stellt eine komprimierte Fassung des 3. Bandes der »Turcica« dar, vgl. Anmerkung 95. Im folgenden nur mit der Angabe des Namens und der Seitenzahl zitiert. Vgl. Carl Göllner, Der »Tractatus de ritu et moribus Turcorum« des Ungenannten Mühlbächers, in: Deutsche Forschung im Südosten 2 (1943), 600-634; Betrachtungen zur öffentlichen Mei­ nung Uber die Schlacht von Mohacs (1526), in: Revue roumaine d ’histoire 6 (1967), 67-76; Turcica. Bd. 3, Die Türkenfrage in der öffentlichen Meinung Europas im 16. Jahrhundert, Bu­ karest und Baden-Baden 1978. Göllner, öffentliche Meinung, 77 f.; wörtlich so auch in Turcica 3,198. In Fonsetzung heißt es ebd.: »Der Widerspruch zwischen früheren pazifistischen [?] Äußerungen und seinem späteren Ruf zu den Waffen läßt sich nur zum Teil durch die Unterscheidung zwischen Kreuzzug und Türkenkrieg erklären, die er nunmehr machte. Er hatte wohl auch zu viel über die Türkengefahr gesprochen und geschrieben und nicht auf die Widersprüche innerhalb seiner Aussagen geach­ tet.« Die weiteren Belege im Text immer nach Göllner, öffentliche Meinung.

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Es ist keineswegs ehrenrührig, Luthers Haltung gegenüber den Türken theologisch und politisch zu hinterfragen; es ist jedoch eine Forderung historischer Gerechtigkeit, die Voraussetzungen zu prüfen, d. h. mindestens zu benennen. Göllner tut eben dies nicht oder allenfalls unzureichend. So wird der Eindruck erweckt, als sei die römische Kreuzzugsideologie, die Luther verwirft, sowohl theologisch als auch politisch eindeu­ tiger als die reformatorische Position, während für die (!) Reformatoren selbst angeb­ lich gilt: Ihre Erwägungen »verlagerten sich aus dem metaphysischen Kontext auf eine national-politische Ebene« (73). Träfe dieses Urteil auf Luther zu, so wäre in der Tat mit der Eschatologisierung (und damit wieder Theologisierung) in den Äußerungen des späten Luther ein Schwanken seiner Anschauungen festzustellen. Göllner bringt sich selbst jedoch methodisch dadurch um die angemessene Würdigung, daß Äuße­ rungen des jungen wie des späten Luther unreflektiert nebeneinander gestellt werden, was die Einzeichnung in eine Entwicklung an sich schon erschweren muß. Ganz un­ möglich wird aber nicht nur der Nachweis einer Entwicklung innerhalb der Anschau­ ungen Luthers, sondern auch einer Entwicklung aus den reformatorischen Erkennt­ nissen heraus, die so etwas wie eine Mitte markieren könnten, aus der heraus Luther argumentierte. So entsteht der Eindruck, Luther habe sich zunächst gegen den T ür­ kenkrieg gewandt, um später (nach der Schlacht von Mohäcs) aus nationalen Grün­ den einen anderen, gegenteiligen Standpunkt einzunehmen. Daß Luther einerseits die Verwerfung des Kreuzzugsgedankens beibehalten und andererseits die Legitimität des Kriegs gegen die Türken aus seinem Obrigkeitsverständnis neu und anders entwickelt hat, ist für Göllners Wertung irrelevant. Dies überrascht um so mehr, als Göllner selbst - in Teilen allerdings abhängig von Lamparter - die einschlägigen Texte be­ nennt, weitgehend zutreffend interpretiert (vgl. 71-73) und Luther selbst Anteil am Wandel der Vorstellungswelt vom Kreuzzug zum Türkenkrieg (74) gibt. Es ist nur aus dieser faktischen Nichtwahrnehmung der theologischen Grundanschauungen Luthers erklärlich, wenn Göllner offenbar nur mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen kann, daß Luther und die Mehrheit des Protestantismus die Nützlichkeit der Türkengefahr fur die Duldung der Protestanten nicht zu würdigen wissen (61 f.) und den Türken theologisch, d.h. als Zuchtrute Gottes »metaphysisch« deuten (62). Auch hier hätte in den Blick genommen werden müssen, daß für Luther - gerade aus theologischen Gründen - die Aufkündigung der Loyalität gegenüber dem Kaiser nicht denkbar ge­ wesen ist. Nicht ohne Grund ist Luthers erste große Türkenschrift dem Landgrafen Philipp von Hessen gewidmet, der mit dem Gedanken spielte, die innenpolitischen Freiräume durch das Spiel mit der außenpolitischen Bedrohung durch die Türken zu erweitern. Göllner selbst hätte durchaus die Plausibilität und Konsequenz des Den­ kens Luthers vor Augen treten können, wenn er ganz richtig feststellt: »Der Gedanke, den Streit mit Rom zurückzustellen, um in einer gemeinsamen Kampffront gegen den Islam anzutreten, liegt Luther völlig fern. So wenig er daran dachte, sich vor den An­ griffen des Papstes unter den Schutz der Türken zu stellen, ebensowenig zog er in Erwägung, bei der drohenden Türkengefahr einen Burgfrieden mit der Kurie zu schließen. Es hieße - nach Luther - den Teufel mit Beelzebub austreiben, wenn er versucht hätte, mit den Türken gegen den Papst oder mit dem Papst gegen die Türken ein Bündnis zu schließen« (63). Dies ist jedoch durchaus konsistent gedacht, denn der Ungehorsam gegen den Kaiser schied für Luther aus o. g. Grunde aus, ein Burgfrieden mit dem Papst konnte für Luther nicht nur aus den Gründen seiner Kritik am Papst­

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rum nicht in Betracht kommen, sondern insbesondere deshalb, weil in der Frage der militärischen Abwehr das Papsttum aufgrund des (welt-)obrigkeidichen Charakters eines Krieges gar nicht Ansprechpartner sein konnte. Man mag Luther darin kritisie­ ren, daß in seiner eschatologischen Sicht die Identifizierung des Feindes des Evangeli­ ums eine doppelte ist: des Türken und des Papsttums, und aus heutiger Sicht wird man diese Vorstellung nicht mehr teilen. Die Kritik Luthers an der zeitgenössischen Papstkirche aber als »von einer Fiktion besessen« (64) abzutun, erscheint mehr als oberflächlich. Und es beweist schlichte Unkenntnis, wenn Luthers Wertung des Pap­ stes als »Antichrist«, der »in Rom seinen Wohnsitz aufgeschlagen habe und als Papst die ganze Christenheit bedrohe« (ebd.), als skurrile Meinung apostrophiert und damit weggewischt wird. Wie bereits bemerkt, muß man Luthers Ansicht nicht teilen, noch kann man sie heute noch in der Weise vertreten. Daß aber Luther in seiner Kritik und Polemik hier auch in Traditionen des Mittelalters steht, mithin in dieser Kritik gar nicht originell ist, scheint Göllner entgangen zu sein. Es hieße umgekehrt, das Anlie­ gen der Protestanten selbst, nämlich die Freiheit der Verkündigung und die Überzeu­ gung Luthers von der Kirche als creatura verbi geringschätzen, wenn das Anliegen der Reformation mit leichter Hand zur fixen Idee stilisiert würde. Göllners Fehlwahrnehmungen fuhren denn auch zwangsläufig zu Fehlurteilen: »Bis zur Schlacht von Mohäcs (1526) hatte Luther hemmungslos gegen das Papsttum ge­ eifert und es selbst fur diese Niederlage verantwortlich gemacht; er hatte daher wie erwähnt, seinen Anhängern empfohlen, den Widerstand gegen die Türken allein in die geistige Sphäre (Gebet, Buße) zu verlegen. Solche Behauptungen und Empfehlun­ gen hatten aber einen bedenklichen Klang, da sich aus ihnen letzten Endes die Kon­ sequenz ergab, kampflos vor der Heeresmacht der Osmanen zu kapitulieren« (69). Man mag hier theologisch Göllners unpolitischen Begriff des Gebets und der Buße kritisieren; man mag auch die implizite These vom defätistischen Charakter der reformatorischen Äußerungen verneinen. Weitreichender ist das Mißverständnis, daß Ge­ bet und Buße fur Luther Ersatzleistungen für den Türkenkrieg dargestellt hätten. Viel­ mehr bildeten diese die Voraussetzungen der Überwindung der Türkengefahr; in der Tat also ein geistliches Junctim, jedoch in einem komplementären und nicht in einem kontradiktorischen Verhältnis. Göllner verkennt - er hat ja den Entwicklungsgedan­ ken ausgeschieden - , daß die bußtheologischen Äußerungen Luthers und die mit die­ sen in Zusammenhang stehende Verwerfung des Kreuzzugsgedankens am Anfang der Äußerungen Luthers zur Sache stehen. Luthers Bußtheologie ist also kein Ausdruck allgemeiner Resignation, die an die Stelle der Aufforderung zum Kriege stünde, son­ dern die sich durchhaltende Grundlage in der Wahrnehmung der Türkengefahr. Die Resignation Luthers gründet entsprechend nicht in der Aussichtslosigkeit des Kamp­ fes gegen die Türken, sondern im Unwillen von Volk und Obrigkeit, die Bedrohung als Bußruf Gottes zu erkennen und entsprechend zu handeln. Die Kritik an Göllners diesbezüglichen Äußerungen97 kann damit enden. Der Be­ 97.

Es kann Göllner der Vorwurf einer flüchtigen Bearbeitung eines reformationsgeschichtlichen Themas nicht erspart werden, wenn er (75) Papst Leo X. am 24. Oktober 1518 einen Brief an Ferdinand [?!] den Weisen von Sachsen schreiben läßt. Auch basiert Göllners Erörterung in Tur­ cica 3, 187-215 (»Bellum iustum«; »Islampolemik«), bzgl. Luthers nahezu ausschließlich auf Sekundärliteratur.

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griff Islam taucht bei Göllner im Zusammenhang der Machtbefugnis des Kaisers im Türkenkrieg auf (73). Ansonsten ist die Frage der Stellung Luthers zum Islam nicht berührt. Auch Luthers Übersetzung der Confutatio steht am Rande, insofern als sie lediglich dem Nachweis dient, daß Luther letztlich dem Papst die Funktion des Anti­ christ zuschreibt (64). In diesem Zusammenhang ist auch Luthers (solitäre) Äußerung zu finden, nach der Papst und Türke Spiritus und caro des Antichrist darstellen. Zwar ist auch von der Themenstellung Göllners die Darstellung der Position Luthers zum Islam nicht zu erwarten. Es kann aber vermutet werden, daß Göllner, da er die theo­ logischen Voraussetzungen Luthers historisch nicht würdigen kann, auch Luthers theologischem Interesse an einer möglichst objektiven Darstellung der muslimischen Religion kein Interesse hätte entgegenbringen können. An Göllners Darstellung und Würdigung war massive Kritik zu üben. Aus ihr er­ gibt sich die Forderung einer klaren Verknüpfung der theologischen und historischen Fragestellung hinsichtlich der Äußerungen Luthers, die unten (Teil C.) hergestellt werden soll. Sollte die Vermutung zutreffen, daß sich von der frühen Bußtheologie bis hin zur theologischen Befassung mit dem Islam beim späten Luther, auch und gerade im Horizont der Türkengefahr und ihrer eschatologischen Deutung, ein roter Faden zieht, der im wahren Sinn des Wortes >entwickelt< werden muß, so wäre Göll­ ners methodischer Weg wie sein Urteil davon direkt betroffen. C. Bernd Sucher 197798 Obwohl Suchers Studie nicht der Stellung Luthers zum Islam gewidmet ist, ist sie aus zwei Gründen im Forschungsüberblick zu berücksichtigen. Der erste Grund liegt dar­ in, daß Suchers themenverwandte Studie »Luthers Stellung zu den Juden« ausdrück­ lich die Bedeutung germanistischer Analyse zur Interpretation von Lutherschriften herausstellt99, der zweite Grund liegt in der Bedeutung des Entwicklungsgedankens in Luthers Theologie. Suchers 1977 abgeschlossene Dissertation versucht neue methodische Wege einer quasi textphänomenologisch orientierten Interpretation zu gehen, die allerdings so­ wohl in ihren Voraussetzungen als auch Folgerungen problematisch erscheint. Sucher schreibt (in einer nicht paginierten Vorbemerkung): »Wir gehen bei unserer Unter­ suchung so wenig wie möglich auf Luthers Theologie ein, um uns nicht dem Vorwurf auszusetzen, wir hätten uns in einen fachfremden Bereich eingemischt; stattdessen nehmen wir - als Germanist - Luther beim Wort, weil wir der Überzeugung sind, daß es möglich sein muß und sinnvoll ist, Luthers Schriften, Briefe und Tischgesprä­ che - und selbst die verstreuten Bemerkungen, die Luther in den frühen Vorlesungen zu den Juden macht, ohne die in anderen Werken und Vorlesungen ausgearbeitete Theologie zu betrachten und (zu] interpretieren«. Weitreichend ist diese Vorentschei­ dung, wenn Luthers Stellung zu den Juden sich primär als Frage nach einem etwaigen

98. 99.

C. Bernd Sucher, Luthers Stellung zu den Juden. Eine Interpretation aus germanistischer Sicht, Nieuwkoop 1977. Belege im Text. Die Bedeutung germanistischer Methodik zur Lutherinterpretation ist in den letzten Jahren un­ terstrichen worden, insbesondere durch die Studien von Anneliese Jeremias, Helmar Junghans, Ute Mennecke-Maustein, Ulrich Nembach, Brigitte Stolt und Herbert Wolf.

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Wandel in den Anschauungen Luthers stellt. »Dabei ist die These, daß Luther in seiner Meinung, wie man praktisch mit den Juden umgehen solle, einen Wandel durch­ gemacht habe, er aber im Ganzen eine theologische Kontinuität wahre, in den letzten zwanzig Jahren die meist vertretene.« Forschungsgeschichdich scheint gerade diese von Sucher bezweifelte These von theologischer Tragweite, wenn ihm auffallt, »daß der Interpretationstypus »Wandel und Kontinuität« bevorzugt von Theologen einge­ nommen wird, während dem quantitativ überlegenen Interpretationstypus »Wandel« zwar auch Theologen angehören, er aber in weit größerem Maße Historikern, Psycho­ logen und anderen Wissenschaftlern adäquater Interpretationstypus ist« (198). Damit ist die eigendiche methodische Zielsetzung Suchers am Ziel angelangt: die Konstatierung eines grundlegenden Wandels von Luthers Anschauung als einer Ent­ wicklung, die in ihrer Dynamik durch die Analyse des Grobianismus beim späten Luther bestätigt zu werden scheint, letzdich aber nur mit Hilfe »der Psychologen«100 eine plausible Erklärung findet: »Diese Beiträge sind es, die es uns erlauben, unseren Terminus »Entwicklung«, den wir für die Beschreibung von Luthers Stellung zu den Juden als den richtigsten herausarbeiteten, zu modifizieren, so daß [?!] wir von einer Regression sprechen können« (290). Gerade dadurch will Sucher der nicht angebrach­ ten Trennung von theologischer Überzeugung (Rechtfertigung) und praktischer Fol­ gerung entgehen. »Half uns der Begriff »Entwicklung«, Luthers Haltung zu den Juden als Ganzes zu sehen, nicht nach Theologie und Praxis zu trennen, oder zu beurteilen nach den Höhe- und Tiefpunkten, 1523 und 1543101, so haben wir fur unser Thema mit dem Begriff »Regression« einen Typus von Entwicklung gefunden, der Luthers Äußerungen zu den Juden in jeder Weise trifft. In praktisch-politischer Hinsicht geht der Luther von 1543 auf eine Stufe vor 1513, zu einem katholischen Standpunkt zurück; in theologischer Hinsicht ... unterscheidet sich der Luther von 1546 nicht von dem der ersten Psalmenvorlesung [1513/15]« (290 f.). Suchers Ergebnis zeigt, daß auch er eine »Trennung von Luther, dem Theologen, und Luther, dem Politiker« (289), die er theologischer Forschung ankreidet, nun selbst vollzieht bzw. eine Würdigung vornimmt, die der theologischen Bewertung im Schema von Kontinuität und Wandel wieder sehr nahe kommt. Luthers theologische Regression reichte dann bis 1513, die politische ins (katholische) Mittelalter zurück. Träfe die Feststellung einer Regression als interpretatorischem Schlüssel zu, dann müßte jedoch davon auch seine Stellung zum Islam bzw. den Türken gekennzeichnet sein - mit dem Ergebnis: Luthers Absage an die (mittelalterliche) Idee des Kreuzzugs gegen die Ungläubigen wäre die maßgebliche Stellung des jungen Luther, von dem sich (eben aufgrund der Regression) der Wille zur Widerlegung des Islam und zur militärischen Abwehr der Türken als quasi pathologischer Befund beim alten Luther abheben müßte.

100. Sucher bezieht sich auf Erik H. Erikson, Der junge Luther. Vgl. zu Erikson auch die (kurzen) Bemerkungen Lohses, Martin Luther, 38. Die Verbindung von Grobianismus und Regression wird über Erikson hinaus hergestellt mittels der Untersuchungen von Paul Reiter, Martin Lu­ thers Umwelt, Charakter und Psychose sowie die Bedeutung dieser Faktoren für seine Entwick­ lung und Lehre. Eine historisch-psychiatrische Studie. Dazu Lohse, ebd. 37 f. 101. Die Jahreszahlen beziehen sich offensichtlich auf die beiden Schriften Luthers (1.) D aß Jesus Christus ein geborenerJude sei; und (2.) Von den Juden und ihren Lügen.

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Der methodische Vorwurf gegenüber Sucher geht dahin, daß er konsequent alle Schritte unternimmt, um die Entwicklung praktischer Stellungnahmen des Reforma­ tors des theologischen Horizonts zu entkleiden102. Damit ist nicht nur das Problem angezeigt, wie Luther, der praktische Bezug seiner Theologie, die biblische Begrün­ dung wie auch die Rechtfertigung allein aus Glauben, überhaupt angemessen zu er­ fassen sind; es stellt sich auch die hermeneutische Frage, nach welchen Kriterien Su­ cher die Interpretation von Texten vornehmen will, wenn er das erkenntnisleitende Interesse eines Autors grundsätzlich vom Inhalt der Texte abstrahiert. Und mehr als kühn erscheint dann der Hinweis, daß eben in diesem Verfahren (allein?) der Germa­ nist in der Lage sei, Luther »beim Wort« zu nehmen (s. o.). Es ist kein unangemessener Eintrag religiöser Fragestellungen, wenn ein »Beim-Wort-Nehmen« Luthers auf der Wahrnehmung der Quellen zu insistieren hat, bei denen der Reformator zu behaften ist und auch behaftet werden will. Theologisch gesprochen: Wer Luther beim Wort nehmen will, wird ihn auch bei dem Wort behaften müssen, auf das Luther sich be­ zieht: d. i. beim Glauben schaffenden Wort Gottes, das Glaube und Unglaube in Be­ ziehung zueinander setzt und auch zu einer ethischen Entsprechung drängt. Die »ger­ manistische Sicht« Suchers scheint sich von daher methodisch zu reduzieren auf eine Abstraktion der Texte von der Anschauungswelt des Autors bzw. der Subtraktion theo­ logischer Fragen von einer unklaren Textphänomenologie aus. Es überrascht nicht, daß die Ergebnisse der letztlich forschungsgeschichtlich orientierten Untersuchung dürftig bleiben; die Neuerung besteht offenbar allein in der methodisch recht unver­ mittelt eingetragenen Regressionsthese. Der Ausweis der Regression im »Grobianismus« des späten Luther (268-275)103 dürfte wohl den einzigen Zusammenhang bilden, in dem eine germanistische Analyse überhaupt angelegt hätte sein können. Der Autor bleibt die Analyse durchweg schul­ dig, wenn Luthers Grobianismus mit Hilfe der Sekundärliteratur referierend und be­ wertend, nicht aber aufgrund des Wortbestandes systematisch erhoben und belegt wird. Die einzige Ausnahme (274) eines wörtlichen Zitates, die Inhalt und Form der Polemik Luthers in ihrer didaktischen Abzweckung hätte beleuchten können, steht isoliert da und hat heuristisch keinerlei Bedeutung. »Eine Interpretation in germa­ nistischer Sicht« genannt zu werden - dies im übrigen ohne jegliche Analyse des Wort­ bestandes - verdient die Studie Suchers nicht. Siegfried Raeder ( 1978)104 War bisher - und nicht nur bei Göllner - stellenweise ein methodischer Mangel im Verzicht auf die theologische Analyse zu beklagen gewesen, so stellt sich mit dem Beitrag Raeders die umgekehrte Frage, ob nicht gerade der theologisch gesetzte Rah­ men zu einer Verengung des Problemhorizonts fuhrt, die letztlich weder dem Islam

102. So auch die Kritik Obermans, Luthers Beziehungen, in: Junghans (Hg.). LWML, 896, Anm. 10 und 15. 103. *»8. Luthers Grobianismus in den Schriften von 1543«. 104. Siegfried Raeder, Glaubensgewi (sheir und Islamverständnis bei Luther, in: Christentum und Is­ lam 10, Brcklum 1978, 11-27; danach Belege im Text.

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noch Luther gerecht wird10*. Es ist Raeder zwar zuzustimmen, wenn er gerade das Islamverständnis Luthers von den reformatorischen Grunderfahrungen und -entscheidungen bestimmt sein läßt und diese in der Glaubensgewißheit kulminieren sieht105106, es ist aber zugleich zu fragen, ob nicht die Position Luthers gegenüber dem Islam eine in sich stärkere Dynamik aufweist als Raeder erkennen will. Der Tübinger Kirchenhi­ storiker scheint - und dies verdient grundsätzlich Beifall - von dem Anliegen be­ stimmt, ein auch gegenüber dem Islam profiliertes christliches Zeugnis im Licht der Glaubensgewißheit Luthers umreißen zu wollen. Im Ergebnis kommen jedoch nach leiser Kritik an Luther dessen Glaubensgewißheit angesichts des Islam und die biblizistische Deutung der »religiöse[n] Welt außer Christus« merkwürdig statisch neben­ einander zu stehen; bzw. es scheint dem Leser überlassen, die zu ahnende Diastase (missionarisch?) zu überwinden. So bleibt unklar, ob die Kritik an Luthers Islamver­ ständnis auch in der Weise zu üben ist, daß sie dem Verhältnis von Christentum und Islam über die Positionen Lutherscher Theologie hinaus dienlich sein kann. Metho­ disch ist diese Unklarheit darin begründet, daß die weithin zutreffenden Schilderun­ gen der Theologie Luthers und die sich daraus ergebende Islamkritik offenbar als kaum zu hinterfragende Erfahrung, d. h. als auch in der heutigen Auseinandersetzung mit dem Islam unanfechtbares Paradigma dienen können und sollen. Es kommt also der Zeitbedingtheit der Kritik Luthers, sei es die Veranlassung seiner Türkenschriften, sei es die unzureichende Islamkenntnis betreffend, keinerlei hermeneutische Relevanz zu. Wenn (zu Recht) Luthers Kritik am Islam in der Statuierung des »Scheines« ange­ sichts der Sitdichkeit und des Erfolgs der Türken, der Aufhebung des weltlichen Re­ giments und der Ordnungen und letztlich im rechten Glauben zusammengefaßt wird (vgl. 22 f.), dem aber unvermittelt die Überzeugung entgegengestellt wird: »Nur der Christ ist im Glauben an Christus der Gnade Gottes gewiß« (23), so scheint die Ge­ fahr gegeben, die fundamentale Interpretation Luthers doch unter der Hand in eine fundamentalistische Satzwahrheit zu transformieren, woran Raeder selbst sicherlich nicht gelegen ist. Für die Islamkritik Luthers bedeutet dies: Es fehlt die Kritik der Kritik. Dies gilt in der Hauptsache fiir die Äußerungen Raeders zur Confutatio in der Lesart Luthers (24), deren Gehalt in keiner Weise religionswissenschaftlich hinterfragt wird. Es sind entsprechend die zutreffenden Interpretationen Raeders, welche die Fra­ ge nach der theologischen Relevanz der Islamdeutung Luthers zuspitzen, insbesondere 105. Die Anfrage gilt auch den vielen weiteren Untersuchungen Raeders: Die mittelalterliche Kirche des Abendlandes angesichts des Islam, in: Christentum und Islam 2, 51 -72; Prophetentum im Koran, in: Christentum und Islam 5, 26-37. Raeder hat 2001 eine umfängliche historische und theologische Einführung unter dem Titel »Der Islam und das Christentum« vorgelegt, die in ihrem historischen Teil vorbildlich zu sein scheint; zugleich sind im systematisch-theologischen Teil weiterhin die im folgenden zu schildernden Probleme der Studie von 1978 nicht gelöst. Die letzten Äußerungen Raeders zur Sache, Luthers Verhältnis zum Islam. Zeitbedingtes und Bedenlcenswertes, in: Luther 1 (2005), 11-27, und sein Beitrag im Luther Handbuch, ed. Albrecht Beutel, 224-231, gehen über o.g. Studien nicht hinaus. 106. So erklärt sich auch der Aufriß von Raeders Beitrag, der den reformationsgeschichtlichen und theologischen Zusammenhängen den weit überwiegenden Teil seines Aufsatzes einräumt: »1. Luthers Ringen um einen gnädigen Gott« (11-13) - »2. Die Entdeckung der »Gerechtigkeit Gottes«« (13-16) - »3. Der seines Heils gewisse Glaube« (16-18) - *4. Glaubensgewißheit als Quelle des christlichen Lebens und Inbegriff wahrer Religion« (18-20) - »5. Christusglaube und Islamkritik« (20-25). Dem letzten Abschnitt gilt besonderes Interesse.

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dann, wenn mit Raeder (implizit) gesagt werden kann, daß sich für den Reformator die Frage einer Theologie der Religionen nicht stellt, sondern die Frage der Kritik aller Religion(en) als Frage nach dem einen rechten Glauben, die Luther in Frontstellung ebenso zu den Altgläubigen bringt wie zu Heiden, Juden und Muslimen (19). Liegt also das Verdienst Raeders in der konsequenten Beschreitung des Weges von der reformatorischen Erkenntnis (Gnade und Gerechtigkeit Gottes) zur Islamkritik, so liegt zugleich ein Defizit darin, daß dieser Weg nicht auch in umgekehrter Richtung be­ gangen wird. Darüber hinaus ist bei Raeder der apokalyptische Horizont mancher Äußerungen Luthers, von denen seine Islamkritik nicht zu trennen ist, konsequent ausgeblendet. Man muß vermuten, daß dies in der Nichtübertragbarkeit genau dieses Horizonts auf die Moderne begründet ist. Das heißt aber letztlich: Luthers Islamver­ ständnis ist (nur) insoweit von Relevanz, als es sich einfugt in den Erwartungsrahmen des angesichts des Islam nach Glaubensgewißheit suchenden Zeitgenossen. Doch wird eine solche Interpretation dem Reformator kaum mehr gerecht, da Luther zunächst aus sich selbst heraus verstanden werden muß. Dies bedeutet dann weiterhin ange­ sichts der notwendigen Kritik an Luthers Islamverständnis den Verzicht auf die Suche danach, wie ein Weg ausgehend von dieser Kritik hin zum bleibend gültigen Erfah­ rungsschatz reformatorischer Theologie - insbesondere zur Glaubensgewißheit - ge­ bahnt und beschritten werden könnte. Es ist die Tiefe reformatorischer Theologie wie auch Luthers eigene Initiative zur Gewinnung eines authentischen Islambildes, welche die religionswissenschaftliche Analyse seiner Islamkenntnis und -deutung einerseits ermöglicht, andererseits aber auch aufgrund der polemischen Tendenz notwendig macht. Beide Perspektiven müssen zum Tragen kommen. Carl Heinz Ratschow (1979)107 Ratschows kurze Ausführungen zu Luther im Kontext einer Theologie der Religionen nehmen ihren Ausgangspunkt im Grunde wieder bei der Fragestellung Holstens, wenngleich sich der methodische Rahmen von der missions- hin zur religionswissen­ schaftlichen Frage verschoben hat. Ratschow leitet seine Darstellung mit drei Be­ obachtungen (15) ein: (1.) Luther nennt als Vertreter außerchristlicher Religionen konkret nur die Turci als Repräsentanten des Islam, deren Alcoranus er kennt. (2.) Muslime (Turci), Juden und Papisten werden immer gleichbedeutend nebeneinander genannt, sie gehören in einen Sachzusammenhang. (3.) Dieser Sachzusammenhang beschreibt jedoch keine dem Christen äußerliche Perspektive, sondern die Fleischlich­ keit menschlichen Wesens selbst. Damit ist die Glaubensfrage als Gottesfrage gestellt. Rechter Glaube erweist sich als rechte Verehrung des Gottes, der sich fur Luther allein christologisch erschließt. D .h. von der christologischen Bestimmung ist alles abhän­ gig: »Der Glaube an Gott als den Schöpfer bei den Türken besagt nicht dasselbe wie eben dieser Glaube im Zusammenhang des christlichen Glaubens.« Oder: »Die Tür107. Carl Heinz Ratschow, Die Religionen, Gütersloh 1979, insb. 15-19(1. Luther). Danach Belege im Text. Das Verdienst Ratschows um eine Theologie der Religionen kann hier nicht annähernd gewürdigt werden kann. Zum Lebenswerk vgl. Reinhard Hempelmann, Zur Religionsthematik bei Carl Heinz Ratschow (1916-1999), in: ders./Ulrich Dehn (Hg.), Dialog und Unterschei­ dung, 77-88.

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ken glauben vergebens an G ott als Schöpfer, da sie nicht wissen, daß dieser G ott der Vater Jesu Christi ist« (16 f.). Zugleich ist damit bei Luther ein allgemein religiöser Horizont beschrieben, innerhalb dessen die Ordnungen des Türken menschlich anzu­ erkennen sind und offenbar auch bei G ott Anerkennung genießen. Man wird klärend hinzufugen müssen, daß diese »allgemeine Religiosität« nun keineswegs den religions­ wissenschaftlichen Begriff »der Religionen« abbildet, sondern bei Luther die Perspek­ tiven von Vernunft und Natur erkennen läßt. D. h. Bestand und Gewähren des Islam durch G ott sind begründet in der götdichen Anerkennung »bürgerlicher« Tüchtigkeit. Dennoch bleibt die Gottesverehrung vordergründig. Luther bleibt nach Ratschow bei dieser philosophischen Deutung der Religionen nicht stehen, die Religion und Glaube, Religionen und Christentum im Grunde in ein Überbietungsschema einordnet. Der Reformator deutet theologisch, d. h. kritisch, in der Einreihung des Islam, des Judentums wie des Katholizismus in die Religion des Gesetzes. Damit ist - so wäre wieder klärend den Ausführungen Ratschows hinzuzufü­ gen - jedoch die islamische Religion keineswegs in das religionswissenschaftliche Schema einer Gesetzes- oder Erlösungsreligion eingetragen, sondern theologisch u.a. der Islam als Religion des freien Willens und der Erfüllung des Gottesgehorsams aus menschlichen Kräften bestimmt. Muslime sind Pelagianer, die G ott herausfordern (18). Damit ist die Möglichkeit rechten Glaubens verneint, wenn einerseits die Werke an die Stelle des Glaubens treten, andererseits gerade darin die Sünde nicht emst­ genommen wird. Zugleich ist die problematische Rolle des Naturbegrifls der Religio­ nen angesprochen, da in solchem Denken die Zerrüttung der menschlichen Natur durch die Sünde verneint werden muß, wie auch der ebenso problematische Vemunftgedanke, der nicht fähig ist, die Tragweite der Sünde zu begreifen. Indem der Mensch darin ganz auf sich allein gestellt ist angesichts eines nackten, stummen und statischen Gottes gegenüber einem dynamischen, in seinem W ort handelnden Gott, »führen [die Religionen] letztlich in die Verzweiflung und nicht zur Gewißheit« (19). Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Ratschow Luthers Position zutreffend beschrieben hat. Es ist aber einerseits zu fragen, ob damit Luthers einziges und letztes W ort gesprochen ist, und andererseits, ob die Methode der Fragestellung nicht sach­ lich zu kurz greift108. Denn es ist die Methode, die nicht nur den Rahmen der Fragen, sondern auch den Charakter der Antworten bestimmt. Luthers Position ist nahezu ausschließlich aus Disputationsthesen erhoben. Die bisher begegnenden Türkenschrifren sind grundsätzlich nicht berücksichtigt. Es stellt sich das bis in die Gegenwan reichende Problem, ob die Frage einer Theologie der Religionen das Phänomen der Ernze/religion überhaupt zu fassen im Stande ist. Damit ist das Recht religionswissen­ schaftlicher Forschung in keiner Weise bestritten, aber zeigt sie sich nicht zwangsläufig immer wieder auf die vermeintliche oder tatsächliche Notwendigkeit der Destruktion des chrisdichen Absolutheitsanspruchs zurückgeworfen?! Ratschows zutreffende Schilderung der Position Luthers ist es gerade, die es nahelegt, die Zusammenschau Luthers von Katholizismus, Judentum und Islam aufzubrechen. Intendiert ist der Nachweis, daß eine differenzierte Stellungnahme zu den jeweiligen Größen, wie sie heute geboten scheint, auch m it Luther möglich ist, wenngleich die tatsächlich immer 108. Es ist also bei aller Unterschiedlichkeit des Ansatzes und der Durchführung eine Strukturähn­ lichkeit zur Untersuchung Raeders gegeben - mit allen sich daraus ergebenden Fragen.

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wieder sich manifestierende Gesamtschau des Reformators in seinen Schriften nicht beiseite geschoben werden kann. Es wäre jedenfalls verfehlt, auf der einen Seite die analytische Sicht des Islam bei Luther religionswissenschaftlich den überkommenen mittelalterlichen Vorstellungen zuzuweisen (und damit fiir obsolet zu erklären), und auf der anderen Seite bei den theologischen Aussagen Luthers in der Gesamtschau von Türken, Juden und Papisten zustimmend oder ablehnend stehen zu bleiben. Damit wäre nur im Zusammenhang der geschichtlichen Fragestellung, die die Untersuchung bestimmen soll, das statische und oft genug problematische Nebeneinander von Reli­ gionswissenschaft und Theologie als Korsett der historischen Fragestellung auf­ gezwungen. Dies würde aber bedeuten, daß Luthers Bemühungen um konkrete Islam­ kenntnis in seiner Zeit nicht mehr gewürdigt werden müßten (da fiir heute religionswissenschaftlich irrelevant), wie auch und darüber hinaus, daß die Unmög­ lichkeit einer bleibenden theologischen Bedeutung der Sicht Luthers behauptet wäre, der ein Impuls fiir heute a priori abgesprochen würde. Willem Nijenhuis (1979)109 Nijenhuis' Überlegungen - vorgetragen im Zusammenhang eines Projektes zur Theo­ logie der Religionen - nehmen ihren Ausgangspunkt bei der hilfreichen Unterschei­ dung der Position Luthers zum Türkenkrieg und dessen Urteil über den Islam als Religion110. Es bleibt entsprechend nicht bei der Paraphrase von Lutherschriften zur Türkengefahr, sondern Luthers Position kann zunächst eingeordnet werden in das geistesgeschichtliche Gefälle der Ablösung des Kreuzzugsgedankens durch Mission und Apologetik, als deren Vertreter Petrus Venerabilis und Theodor Bibliander be­ nannt sind, also der Auftraggeber der Kettonschen Koranübertragung sowie der Auf­ traggeber der Wiederauflage, die Luther befürwortet hat. Die Kenntnisnahme des Koran gehört also wesenhaft zu den Motiven, die Luthers Stellung zum Islam bestim­ men, erst dann ist von der zunehmenden militärischen Bedrohung durch die Türken zu sprechen, die Luther zur Stellungnahme nötigt. Nijenhuis sieht dabei Luthers Äu­ ßerungen durchgehend von der Ablehnung des Kreuzzugsgedankens getragen und diese wiederum ganz vom Missionsgedanken durchdrungen111. Hinzu gesellt sich das apokalyptische Motiv in der Theologie Luthers. Es ist so das besondere Profil der Untersuchung Nijenhuis' in dem Postulat eines Wechsels in der Perspektive bei Luther gegenüber der mittelalterlichen Theologie von »Mission und Apologetik« hin zu »Mission und Apokalyptik« zu erkennen112, aus der heraus die jeweilige Stellungnah­ me des Reformators in drei Phasen erwächst. Ist hier aber nicht der Missionsgedanke bei Luther überschätzt? Für die Spätzeit Luthers überwiegt doch die tiefe Skepsis des Reformators bezüglich der Mission unter den Türken; auch wäre zu fragen, ob für die 109. W. Nijenhuis. Luther en de Islam, in: Ncderlands Theol. Tijdschrift 33 (1979), 195-211. Belege im Text. 110. Nijenhuis, 195: »Aan Luthers uitspraken over de oorlog tegen de Türken is tot nu toe meer aandacht geschonken, dan aan zijn oordel over de Islam als rcligic.« 111. Nijenhuis, ebd., spricht unter Rückgriff u.a. auf Karl Holl von »de blijvende zendingsopdracht der kerk«. 112. Hier ist pointiert formuliert. Die Formulierung »Mission und Apokalyptik« ist bei Nijenhuis so nicht zu finden, doch erscheint sie zur Kennzeichnung des Perspektivwechsels sinnvoll.

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Frühzeit Luthers Aufforderung an den Papst, das Evangelium bei den Türken zu ver­ kündigen, wirklich ihren Skopus in der Mission findet und nicht in der Ablehnung einer päpstlichen Türkenpolitik, die auch den Kreuzzug umgreift. ln der Beschreibung und Charakterisierung der drei Phasen verfahrt Nijenhuis ei­ genwillig: Es ist die Schlacht von M ohics (1526) nicht als Zäsur zu betrachten, die eine neue Phase der auch den Islam bestimmenden Wertung der Türken auslöste, sondern eine erste Phase findet bei Nijenhuis ihr Ende vor der expliziten Auseinander­ setzung Luthers mit den Türken in den großen Türkenschriften der Jahre 1528/29. Die erste Phase (vor 1529) wäre demnach ganz vom im Grunde marginalen Charakter der islamischen Frage im Zusammenhang der Auseinandersetzung Luthers mit dem Kreuzzugsgedanken bestimmt. Diese Charakterisierung ist zwar zutreffend, dennoch ist zu fragen, ob nicht die massive Konfrontation des Abendlandes mit den militäri­ schen Erfolgen der Türken, die in der Niederlage Ludwigs II. von Ungarn bei M ohics gipfelte, zumindest die zweite zu erkennende Phase spätestens 1526 beginnen lassen muß, die dann auch Äußerungen Luthers integrieren könnte, die vor 1529 anzusetzen sind - insbesondere dann, wenn die reformationstheologische Struktur in den großen Türkenschriften, die Nijenhuis durchaus erkennt, auf Erkenntnisse Luthers vor 1529 bzw. 1526 zurückzufiihren ist. Aufmerksamkeit verdient nun Nijenhuis’ Anliegen, bereits in den Türkenschriften Ansätze zur Stellung Luthers zum Islam als Religion zu erkennen, welche wiederum die Kenntnisnahme auch des Koran umschließt. Ziel der »phänomenologischen« Betrachtung Luthers ist es, durch die Wahrnehmung des Koran den Islam als eklektisch-synkretistische Religion zu entlarven, welche die Grunddaten des christlichen Glaubens teils integriert, teils abrogiert - strukturähnlich dem chrisdichen Umgang mit dem Alten Testament (vgl. 199 f.). Gerade vor diesem Hintergrund vollzieht sich jedoch Luthers Auseinandersetzung mit den Türken im Bereich der politischen Ethik. Somit bleibt Nijenhuis seiner systematischen Unter­ scheidung, die keine Trennung impliziert, treu. Wiederum ist jedoch gerade für diesen ethischen Zusammenhang der apokalyptische Zug der Äußerungen Luthers wahr­ zunehmen, der den Rahmen der seelsorglichen Ratschläge des Reformators für Chri­ sten in türkischer Gefangenschaft bildet, die sich von den offenbaren Vorzügen der türkisch-islamischen Gesellschaft nicht blenden lassen sollen (vgl. 201). Die Zielset­ zung einer Kenntnisnahme des Islam und die seelsorgliche Abzweckung der Ermah­ nung an die Christen im apokalyptischen Horizont finden zusammen in Luthers Her­ ausgabe des Libellus (1530), mit der Luthers zweite Phase (1529-1541) in seiner Stellung zum Islam ihr Ende findet. Die dritte Phase (ab 1541) sieht Nijenhuis beginnen mit Luthers Vermahnung zum Gebet wider den Türken (1541), veranlaßt durch die Einnahme Budapests und die Aufforderung Kurfürst Johann Friedrichs zur Abfassung einer tröstenden und ermuti­ genden Äußerung an die Bevölkerung. Das sachliche Gewicht dieser Phase erkennt Nijenhuis jedoch in Luthers Übersetzung der Confutatio des Ricoldus, die »Een dra­ stische wending in zijn denken over de Islam« (205) anzeigt. Die Bedeutung liegt dabei insbesondere in Luthers Eindruck von der Zuverlässigkeit der Confutatio., die er aufgrund seiner »Koran«-Lektüre gewonnen hat. Mohammeds Glaube ist demnach schändlich, er ist ein Teufel, nicht aber der Antichrist. Der Islam leugnet, so Luther, die Trinität, die Christologie; er ist modalistisch, arianisch, rationalistisch (206). Es ist - so kann dem Beitrag Nijenhuis entnommen werden - also nicht die Confutatio als

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solche» der Luther Respekt zollt, sondern die Confiitatio in ihrem auf den Koran ver­ weisenden Charakter. Nijenhuis bleibt hier unnötig vage. Denn gerade seine Schil­ derung des Sachverhalts legt doch nahe, Luthers Verlegung geradezu die Funktion einer Koranübersetzung zuzuweisen, ein Unternehmen, das Luther offenbar aufgrund der sprachlichen Mängel der ihm vorliegenden Korantraditionen unmöglich erschien. Das Problem ist im Verlauf der Untersuchung weiter zu verfolgen. Jedenfalls könnte eine solche Hypothese plausibel erklären, weshalb Luther einerseits die Confiitatio an­ gesichts des ihm vorliegenden Koran (?)113 diesem vorgezogen, andererseits eben die Herausgabe des Koran im Basler Druck Biblianders befürwortet hat. In seiner Zusammenfassung kommt Nijenhuis zu dem Ergebnis, daß bei Luther kein Anknüpfungspunkt fur den Dialog mit Menschen anderer Religionen zu finden sei (209). Dennoch will der Verfasser Luther gegen den Vorwurf in Schutz nehmen, er vertrete »een merkwaardige en intense belangstelling op wetenschappelijk en godsdienstig terrein«114. Eine solche Sicht des Reformators sei nicht nur unhistorisch, son­ dern verkenne auch die vorübergehend islamfreundlichen Tendenzen Luthers in der Würdigung seiner Sittlichkeit und Spiritualität. Entsprechend seien drei wesentliche Erkenntnisse im Blick auf Luthers Islambild bleibend wichtig: 1. die aufgrund der Zwei-Reiche-Lehre gewonnene Unterscheidung vom »Türken« als militärischer Macht und dem Islam, dem nicht mit militärischer Macht begegnet werden kann und darf. Die Auseinandersetzung mit dem Islam als Religion gehöre in das Kampf­ geschehen des Wortes Gottes. 2. ist Luthers konsequentes Verlangen zu würdigen, den Islam aus eigenen Quellen kennenzulernen. Daß dies nach heutigen Maßstäben nicht zu einem gerechten Urteil fuhren konnte, ist dem Reformator nicht anzulasten. Und 3. gebührt Luther das Verdienst, gerade in seiner Auseinandersetzung mit dem Islam, »de essentie van zijn eigen reliegie adaequaat geformuleerd zu hebben ...« (210). An Nijenhuis Beitrag ist kaum Kritik zu üben. Seine Untersuchung erweist sich jedoch an etlichen Stellen als offen zur Vertiefung und Akzentuierung. So bedarf ins­ besondere der apokalyptische Horizont einer tieferen Durchdringung sowie der Zeit­ raum 1517 bis 1526 einer genaueren Darstellung des Zusammenwirkens von histori­ scher Veranlassung und theologischer Entwicklung Luthers, nicht nur bezüglich der Türken, sondern auch hinsichtlich der Kritik am Islam.

e) Die Forschung der achtziger und neunziger Jahre Mit dem Ende der siebziger Jahre ist eine sich abzeichnende Auffächerung der Fragestellung zu beobachten, und zwar religionswissenschaftlich bezogen auf die Theologie der Religionen, als deren Vertreter und in Konzentration auf Luther C. H. Ratschow herangezogen wurde, und (wiederum religionswissenschaftlich) durch Be­ zugnahme auf den Islam selbst bei Hartmut Bobzin. Dazwischen steht die Forschung des katholischen Theologen Ludwig Hagemann, der einerseits als ausgewiesener Is­ lamkenner, andererseits als Kenner der christlich-theologischen Rezeption der isla­ mischen Herausforderung in historischer Perspektive in Erscheinung tritt; und 113. Falls Luther tatsächlich eine Ausgabe vor Augen gehabt gaben sollte. Dazu s. u. 419-422. 114. Vgl. den Vorwurf Kraemers, Nijenhuis, 209, Anm. 73.

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schließlich und bleibend die Türkenfrage bei Luther als Gegenstand reformationsgeschichtlicher Forschung, für die Rudolf Mau stehen soll. Johannes Wallmanns Bei­ trag belegt die praktisch-ethische Tagweite der Fragestellung, der mit der multireligiö­ sen gesellschaftlichen Situation in Deutschland mittlerweile gegeben ist. Einen Sonderstatus nehmen die Veröffentlichungen Reinhard Klockows ein, der religions­ wissenschaftlich geprägte Anfragen mit der Präsentation wertvoller Beobachtungen verbindet. Rudolf Mau (1983)m Mit Maus Aufsatz in der Festschrift zum Lutherjahr 1983 ist im Bereich der reforma­ tionsgeschichtlichen Forschung sicherlich ein Höhepunkt im Niveau der Analyse von Luthers Stellung zu den Türken erreicht. Sein Beitrag kann als beispielhaft gelten. Zwar ist auch hier nicht der Islam in der Sicht des Reformators der Forschungsgegen­ stand, aber die Verflechtung der chronologischen Darstellung mit den jeweils ein­ zublendenden systematischen Perspektiven der Theologie Luthers, und dies in einer Offenheit der Bearbeitung, die einen methodischen Weg zur Frage nach dem Islam weist, ist durchweg überzeugend: Maus Darstellung erhellt im ersten Teil seines Auf­ satzes (647-649) den Zusammenhang der ersten Äußerungen Luthers zum antichrist­ lichen Charakter des Papstes und Luthers Ablehnung eines Türkenkreuzzuges in der Beziehung von Bußtheologie und Papstkritik. Die Mißverständlichkeit der frühen Äußerungen Luthers zum Türkenkrieg liegt nicht in einer Unklarheit in der Position des Reformators, sondern zunächst in ihrer Funktion als Teil der Papstkritik, dann aufgrund der unklaren konfessionell-innenpolitischen Verhältnisse im Zusammen­ hang der Abschiede von Worms (1321) und Nürnberg (1324). Selbst die Schlacht von Mohics (1326) - in edichen der hier besprochenen Untersuchungen der Wende­ punkt Luthers - veranlaßt diesen nicht zum öffentlichen Eingreifen. Es komme doch nur zu spät, die Deutschen fragten nicht mehr danach. D. h. Luther kennt - so ist aufgrund der Schilderung Maus festzustellen - als Kairos seines schriftstellerischen Wirkens im Zusammenhang der Türkenfrage noch anderes als die Erfahrung der mi­ litärischen Niederlage. Es geht offenbar auch um so etwas wie die Mentalität der Deutschen, die Luther bußtheologisch beeinflussen will. Allenfalls wäre Luther eine Fehleinschätzung der Lage zu bescheinigen, zum einen hinsichtlich der Polemik der Altgläubigen, welche Reformation und Türkengefahr in Zusammenhang bringt, zum andern hinsichdich der Überzeugung, daß im Blick auf die nun von ihm erwartete ethische Äußerung zum Türkenkrieg sein Obrigkeitstraktat (1323) vollauf genüge. Damit ist von Luther selbst die Frage des Türkenkriegs mit seiner Obrigkeitstheologie bei Mau explizit in Verbindung gebracht. So stellt (649-633) Luthers erste Türkenschrift (1328/29) zunächst nichts anderes dar, als des Reformators konsequente Anwendung der Obrigkeitsethik auf den Krieg gegen einen äußeren Feind. Mit der Schrift Vom Kriege ist allerdings insofern ein Fort­ schritt bei Luther gegeben, als er - zwischen den Ämtern des »Carol« und »Christia-15

115. Rudolf Mau, Luthers Stellung zu den Türken, in: Junghans (Hg.), LWML, (1) 647-662 und (II) 956-966, Berlin und Göttingen 1983. Belege im Text.

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nus« unterscheidend116178- die Notwendigkeit erkennt, zur Tröstung des Gewissens des Christianus verläßliche Kenntnis über die Türken zu bekommen. Darin, auch in den ersten Urteilen Luthers über den Islam, ist die türkische Frage auch als islamische dem Reformator gestellt und aufgenommen. Die Papstkritik (wie auch die Bußtheologie) werden beibehalten. Verdienstvoll ist, daß Mau im Übergang Luthers zur Heerpredigt (653-655) eine Zäsur setzt. Die Ausfuhrungen legen nahe, die Steigerung der apokalyptischen Dik­ tion in Erörterung der Türkenfrage bei Luther nicht unter Irrationalität zu verrech­ nen, sondern konkret mit dem Libellas de ritu et moribus Turcorum zu verbinden, den Mau freilich erst im folgenden Teil behandelt. Hier wird über Mau hinaus eine prä­ gende Rolle in der Erörterung der Türkenfrage zu suchen sein, die darin bestehen dürfte, daß der Libellas, z. B. in der Beziehung auf Joachim von Fiore, den apokalyp­ tischen Charakter der Heerpredigt Luthers mitbedingt, auch wenn sein literarisches Verhältnis zur Heerpredigt differenzierteret Analyse b e d a rf17. Mau benennt lediglich die Anfrage Luthers an Myconius in Gotha hinsichtlich der Endzeitvisionen des Fran­ ziskaners Johannes Hilten11S. Jedenfalls ist die Heerpredigt gegenüber Vom Kriege deut­ lich stärker eschatologisch geprägt, ohne daß bisher bezogene Positionen Luthers auf­ gegeben würden119. Im vierten Teil (656-658) umreißt Mau eine Zwischenphase Luthers, in der sich die neueren Erkenntnisse des Reformators in weiteren Schriften manifestieren. Der Wahrnehmung des Islam dient nunmehr die Herausgabe des Libellas, dem Luther ein Vorwort beifügt (1530); die Eschatologisierung der Theologie Luthers wird faßbar in seiner Auslegung zu Ezechiel und Daniel (1530). Innere Buße und äußerer Kampf sind Gegenstand der Vermahnung zam Gebet wider den Türken (1541). Mit dieser Schrift Luthers stellt sich für Mau die Frage: »Vollzieht Luther mit dieser von der apokalyptischen Sicht der Dinge her bekenntnisartig vertretenen Deutung des Tür­ kenkrieges eine Rückwendung zu den Voraussetzungen des Kreuzzugsgedankens?« Die Frage ist unten wieder aufzunehmen120. Im fünften und vorletzten Teil seines Aufsatzes (659-661) widmet Mau sich schließlich den Spätschriften Luthers zur Türken- und Islamfrage. Hier ist Luthers Verlegung zu nennen. Mau bezieht den Titel Verlegung zwar nur auf Luthers Nachwort zur Confutation charakterisiert jedoch kurz und treffend den Umgang der Lutherschen Übersetzung mit der Vorlage. Treffend ist auch die wichtige Beobachtung Maus hin­ sichtlich der Veränderung des Zweckes der Verlegung gegenüber dem der Confutation Daneben benennt Mau Luthers briefliches Gutachten und Vorwort zur Basler Koran­ ausgabe, die er bereits deutlich durch die Auseinandersetzung Luthers mit den Juden bestimmt sieht. Dem gegenüber tritt die eschatologische Frage etwas zurück. Die Darstellung der Schriften Luthers ist abgeschlossen mit Luthers letzter Äuße­ rung zur Sache in der Vermahnung an die Pfarrherm in der Superattendenz der Kirchen

116. 117. 118. 119.

Hier spielt die Ständelchre, wie von Mau angegeben, eine erhebliche Rolle. Vgl. dazu das Referat zur Untersuchung Klockows, u. 65 f , und die Analyse u. 319-324. S.o. 32 Anm. 54. Zum apokalyptischen Charakter von Luthers Eschatologie und zur begrifflichen Unterschei­ dung von Eschatologie und Apokalyptik s. u. 296-302. 120. Dazu s. u. 315-318 u. ö.

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zu Wittenberg vom Februar 1543. Auch die letzten Schriften zeigen für Mau die Bei­ behaltung der grundsätzlichen Positionen Luthers121, von denen aus der Reformator in der jeweiligen historischen Herausforderung durch Türken und Islam literarisch agiert. Walter Beltz (1983)122 Ebenfalls im Lutherjahr hat der Hallenser Orient- und Altertumsforscher Walter Beltz eine kurze Studie zu »Luthers Verständnis von Islam und Koran« vorgelegt. Die Be­ deutung der Studie liegt darin, daß sie sich explizit mit dem Islamverständnis Luthers auseinandersetzt und nicht (allein) mit der Türkenfrage. Beltz sieht sich dazu befähigt, weil auch der Reformator »zwischen des Mahmet Lehre und der Türken Krieg [unter­ schied]« (85). Beltz würdigt insbesondere Luthers Eintreten fur den Basler Koran­ druck 1543 und die Verlegung, weist aber im folgenden der Confutatio des Ricoldus ein zu hohes Maß an Authentizität in der Darstellung des Islam zu: »Sein [Ricoldus] lateinischer Text, den die Herausgeber in der WA [53] dem deutschen Texte Luthers gegenübergestellt haben, um sichtbar zu machen, wie Luther seinen Autor bearbeitet und wo er ihn gekürzt hat, zeigt, daß er den Koran sorgfältig referiert und nur gelegentlich außerkoranisches Legendengut eingefügt hat. Luther konnte die theologi­ schen Grundlagen des Koran, wie Ricoldus sie dargestellt hatte, deshalb mit Fug und Recht so benutzen, als hätte er eine Koranausgabe gelesen« (86). Die bei der Inter­ pretation auftretenden Mißverständnisse sind deshalb Luther kaum anzulasten (88). Zutreffend benennt Beltz die Rezeptionskriterien Luthers und - was er zugleich problematisiert - die theologische Funktion der Verlegung: »Seine [Luthers] Bemü­ hungen um Islam und Koran haben ... das eingestandene [!] Ziel, die schwachen Christen zu bestärken, ihren Glauben besser zu begreifen, und ihnen zu zeigen ..., daß die wahre Kirche von Adam bis heute besteht, ohne des Papstes oder Mahmets Zutun« (87). Richtig ist auch die Charakterisierung der Gotteslehre Luthers, die nicht einen allgemeinen Gottesbegriff für Juden, Muslime und Christen anerkennt, sondern immer trinitarisch gebunden bleibt: »Seine Christologie ist fiir Luther das Kriterium für eine Verständigung mit Andersgläubigen wie auch für die Beurteilung der bibli­ schen Episoden des Koran« (ebd.). Zustimmend nimmt Beltz (unter Rückgriff auf Harnack!123) dabei die häresiologische Einordnung des Islam bei Luther wahr (90), die er dogmengeschichtlich als richtig einschätzt. Luthers Leistung liegt in der Befürwortung des Basler Korandrucks, die Beltz (al­ lein? und ohne Luthers »Humanismus« näher zu kennzeichnen) auf das humanistische Erbe der Reformation zurückführt, wenngleich er den polemisch-apologetischen Cha­ rakter der Koranausgabe und ihrer Befürwortung durch Luther nicht verkennt (88). Die Bedeutung der Studie Beltz’ liegt in der impliziten Struktur, die seine Unter­ suchung durchzieht: Zwar tritt in der Darstellung der Bußgedanke Luthers kaum in Erscheinung - was durch die Beschäftigung insbesondere mit dessen Spätwerk be­ 121. Übergangen werden kann hier: »VI. Geschichtsanschauung und Geschichtsschreibung«. 662. 122. Walter Beltz, Luthers Verständnis von Islam und Koran, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Halle 32 (1983), Heft 5, 85*91; danach Belege im Text. 123. Vgl. Adolf v. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte II, 529-538.

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gründet sein mag - aber in der Luther zuerkannten Unterscheidung von Türke und Islam steckt die wesentliche Erkenntnis des Hinweises auf die Zwei-Reiche-Lehre. Ebenso ist das apokalyptische Motiv genannt, ohne - wie häufig - überbewertet zu werden. Gewürdigt wird ferner Luthers Versuch zur (vernünftigen) islamkundlichen Auseinandersetzung. Die explizit theologische Auseinandersetzung wird allerdings als problematisch empfunden: Im Blick auf Luthers Vermahnung zum Gebet wider den Türken (1541) sieht Beltz nur eine »simplifizierende Ineinssetzung seiner theologi­ schen Gegner« (86) vorliegen. Die Frage des prophetischen Selbstverständnisses Lu­ thers (88) klingt an. Auf einzelne Fragen - etwa den Vorwurf von Beltz, Luther habe seine theologischen »Kontroversen mit Koran und Islam« in den vierziger Jahren kirchenpolitischen Rück­ sichten untergeordnet (89) - ist hier nicht einzugehen. Schwerer wiegt das Mißver­ ständnis, Luther habe zum Kampf gegen die Türken aufgerufen, da diese nicht wert seien, Menschen zu heißen (ebd., vgl. auch WA 53, 388,33). Nicht erkannt ist die Bedeutung der Rechtfertigungslehre für Luthers Stellung zur islamischen Ethik und der christologischen Rückbindung von Rechtfertigung und Heiligung, weshalb die Herabwürdigung der islamischen Ethik durch Luther Beltz unverständlich erscheinen muß (88). Dies ist insofern verständlich, als Luthers Verwerfung islamischer Ethik und seine Hochschätzung des türkischen Staatswesens beim Reformator selbst kaum eine konstruktive Vermittlung findet. Johannes Wallmann (1986)124 Es ist bei der Würdigung des Beitrags Wallmanns zwei Umständen Rechnung zu tra­ gen: Zum einen handelt es sich um einen Gemeindevortrag, der den Rahmen seiner Untersuchung naturgemäß begrenzt. Zum andern beleuchtet Wallmann »Luthers Stellung zu Judentum und Islam«, was den Zugang zu der begrenzten Fragestellung des Verhältnisses Luthers zu Türken und Islam erschwert. Es ist an dieser Stelle nicht zu diskutieren, wieweit (sowohl für Luther als auch als Problem zeitgenössischer Theo­ logie) beide Fragestellungen sinnvoll zusammengefaßt werden können und wo die Grenze einer sinnvollen Zusammenschau beider Religionen liegen dürfte. Im Vortrag Wallmanns ist jedenfalls der maßgebliche Horizont in der Haltung Luthers zu den nichtchristlichen Religionen überhaupt gegeben125. Zu skizzieren sind die Ausführun­ gen Wallmanns allein zum Problemfeld Luther und Islam, und zwar unter Verzicht auf die mittlerweile geläufigen historischen Fakten und in Konzentration auf etwa neu zu beobachtende Fragestellungen. Zu diesen gehört sicherlich die soziologische Wahrnehmung, daß der Islam in Deutschland zu einer gesellschaftlichen Realität geworden ist. Der Islam bringt sich ins Gespräch und befragt die ihn betreffenden abendländischen Traditionen. So haben im Jahre 1986 dessen offizielle Vertreter »von der Evangelischen Kirche in Deutsch-

124. Johannes Wallmann, Luthers Stellung zu Judentum und Islam, in: Luther 57 (1986), 49-60: danach Belege im Text. 125. Dies geschieht wenige Jahre später vor dem Hintergrund des Religionspluralismus Asiens bei J. Paul Rajashekar, Lutherand Islam. An Asian Perspektive, in: LuJ 57 (1990), 174-191.

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land ein klärendes W ort zu Martin Luthers Äußerungen über den Islam erbeten«126. Und im Zusammenhang der seinerzeit zu beobachtenden ausländerfeindlichen Ten* denzen referiert Wallmann die Beobachtung des Islamischen Weltkongresses, gewisse Kreise orientierten sich an Luther, »um ihre Angriffe gegen die in Deutschland leben* den Moslems zu rechtfertigen« (50). Wallmann sucht der Anfrage zu begegnen in der Aufgabenstellung der historischen Sichtung von »Hypotheken«, aber auch von zu* kunftsweisendem »Kapital«. Wallmann erkennt in Luthers Auseinandersetzung mit dem Islam die mit den Tür* ken; des Reformators Urteil über den Islam ist abhängig von seiner Erfahrung mit der türkischen Bedrohung. Dennoch findet Luther lobende Worte fur das türkische Ge* meinwesen, in der Bekämpfung der Türken scheidet die Kategorie des Kreuzzuges als unbiblisch aus (53). Wallmann wagt die These: »Die Wiederentdeckung des Evangeli* ums durch Martin Luther fü h rte... auch zu einer neuen, veränderten Einstellung zum Islam« (54). Sollte damit mehr intendiert sein als Luthers Absage an den Kreuzzugs­ gedanken, so erfahrt die These leider keine nähere Begründung. Es wird jedenfalls nicht der Versuch unternommen, Luthers weitere Äußerungen zum Islam, abgesehen von denen zu den Türken, darzustellen127. Stattdessen konzentriert sich Wallmann auf die ethische Frage der Türkenkriege und die dahinter stehende Zwei-Reiche-Lehre wie auch auf das Problem der eschatologischen Deutung der Bedrohung durch die Türken. Hier ist zwar die islamische Frage impliziert, sie wird jedoch nicht ausgefuhrt. Viel­ mehr bemüht Wallmann - anknüpfend an die Studie Brenners - die Wirkungs­ geschichte der Äußerungen Luthers, die den Gedanken zweier Antichristen, Papst und Türke, fortfuhre. Die türkenfeindliche Tendenz sieht Wallmann mit dem Ende der Türkengefahr und dem entsprechenden Ende der apokalyptischen Deutung selbst am Ende. Hier ist jedoch - so Wallmann - der evangelischen Christenheit kritische Wachsamkeit empfohlen. »Sie kann gar nicht entschieden genug allen Versuchen wi­ derstehen, durch das Auskramen von Luthers zeitbedingten endzeitlichen Äußerungen über den Islam Angriffe gegen die unter uns lebenden Moslems zu rechtfertigen« (56). Dem ist vorbehaltlos zuzustimmen. Zugleich ist jedoch an Wallmann die Frage zu richten, ob die islamische Frage innerhalb der Türkenfrage des 16. Jahrhunderts über­ haupt zur Sprache gekommen ist. Es ist gerade der unauflösliche Zusammenhang der islamischen mit der außenpolitischen Frage der Türkengefahr, der hier zur klärenden sprachlichen Unterscheidung nötigt und zugleich die Möglichkeit eröffnet, Luthers Anliegen, den Islam neben der Erfahrung mit den Türken und über diese hinaus kennenzulernen. Solche Gedanken sind sicherlich nicht von einem Gemeindevortrag zu erwarten, aber das sachliche Desiderat bleibt bestehen. Es ist doch eine der zu untersuchenden Wandlungen Luthers in der Auseinandersetzung mit den Türken, daß er die religiöse Lebenswelt der Türken überhaupt so authentisch wie möglich hat wahrnehmen wollen. Bezüglich dieser Wandlungen ist Wallmann prinzipiell bei­ zupflichten, wenn er feststellt: »Obwohl es keinen grundsätzlichen Wandel in Luthers theologischem Denken gibt, gibt es doch erhebliche Wandlungen in den Handlungs126. Wallmann, 50, mit Hinweis auf eine epd-Meldung vom 26. Mai 1983. 127. Nicht erklärlich ist, daß Walimann (51) davon auszugehen scheint, Luther habe sich als einziger der Reformatoren mit dem Islam befaßt. Man denke nur an Brenz, Bucer, Bugcnhagcn, Jonas und v. a. Melanchthon.

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an Weisungen, die er den Christen für das Verhalten gegenüber Moslems und Juden gegeben hat« (54 f.). Nur geht die Frage nach solchen Handlungsanweisungen gegen­ über Muslimen über die ethische Frage im allgemeinen und die der Türkenkriege im speziellen hinaus. Ludwig Hagemann (1983/94)128 Hagemanns Untersuchung - nach eigenem Verständnis eine fragmentarische Ergän­ zung eines katholischen Theologen im Lutherjahr angesichts einer zu wenig zur Spra­ che gekommenen Thematik (4) - ist es gelungen, mit wenigen Strichen Luthers Denkgebäude in Bezug auf den Islam zu umreißen. Sicherlich nimmt sein Beitrag in mehrfacher Hinsicht eine besondere Stellung ein: Zum einen spricht hier ein katho­ lischer Theologe, der zugleich als ausgewiesener Islamexperte gelten kann, zum an­ dern steht ftir Hagemann der Reformator außerhalb des interkonfessionellen Streits, wenn es - gleichsam als Arbeitshypothese - heißt: »Martin Luther steht in diesem Zusammenhang [der Auseinandersetzung zwischen Islam und Christentum] ganz und gar in der christlichen antiislamischen Tradition, wenn auch ihm - aus gegebe­ nem Anlaß - eigene Nuancierungen zukommen« (ebd.). Hagemann würdigt Luther also als Exponenten eines in der Islamfrage prominen­ ten Vertreters des abendländischen Christentums. Innerhalb des mainstream abend­ ländischer Theologie in ihrer antiislamischen Haltung kommt dem reformatorischen Ansatz der Stellenwert einer (nicht unerheblichen) Nuancierung zu. Diese These ist weitreichend und ftir protestantische Ohren durchaus provokativ. Weitreichend ist sie zunächst darin, daß vom Ergebnis Hagemanns her Luthers Beitrag zum Islam reli­ gionsgeschichtlich vor allem anderen als »von der damaligen militärischen Bedrohung Europas durch die muslimischen Osmanen« und »von seiner [Luthers] eigenen exi­ stentiell ausgetragenen Kontroverse mit Rom« (32) gekennzeichnet gelten muß, was auf eine historische Relativierung der Lutherschen Position und ihrer Verzeichnung des Islam hinauslaufen könnte. Dann besteht ihr provokativer Charakter darin, daß Hagemann dazu nötigt, den ggf. originären Charakter der Ausführungen Luthers zu begründen - zumindest, was den Denkweg Luthers betrifft, wenn wirklich seine Stellungnahme zum Islam nicht einfach aus der Mitte der reformatorischen Theologie isolierbar und für heutige, der Reformation verpflichtete Theologie obsolet erscheinen soll. Hagemann benennt die Ambivalenz: »Luthers Deutung des Islam als einer endzeit­ lichen antichristlichen Macht versperrte ihm den Blick für die dem Islam eigene Glau­ bensursprünglichkeit und -Originalität. Sein Blick konzentrierte sich vielmehr auf die theologia crucis als das unterscheidend Christliche in der theologischen Auseinander­ setzung mit dem Islam« (ebd.). Nun kann einerseits am apokalyptischen Charakter der Islamdeutung Luthers kein Zweifel bestehen; auch nicht an der Bedeutung der Kreuzestheologie. Andererseits bestehen berechtigte Zweifel, ob solche Deutung damals wie heute als hilfreich ver­ anschlagt werden kann; gleichwohl ist aber auch an Hagemanns treffende Skizzierung die Anfrage zu richten, ob denn die Würdigung Luthers allein bei der Würdigung der 128. Ludwig Hagemann, Martin Luther und der Islam, Altcnberge 1983. Belege im Text.

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Theologie der Anfangszeit - eben der theolopa crucis - stehen bleiben darf. Ist der Reifeprozeß Luthers und seiner Theologie nicht gerade auch an seiner Sicht des Islam nachzuweisen? Und ist seine späte Theologie nicht zu komplex und differenziert, als daß man sie - auch in der Islamfrage - unvermittelt und allein auf die theologia crucis zurückfuhren könnte? Mit der Skizzierung der Position Hagemanns und der formu­ lierten Rückfragen ist ein klarer Problemhorizont gegeben, der wohl auch auf die un­ terschiedliche theologische Herkunft von katholischer und evangelischer Theologie im Zusammenhang religionstheologischer Fragen verweist, der aber zugleich für Me­ thode und Ergebnis dieser Untersuchung nicht außer acht bleiben kann. D. h. Hage­ manns Studie nötigt dazu, Luthers Äußerungen über den Islam im einzelnen mit den aus reformatorischer Theologie erwachsenden Strukturen seines Glaubens und Den­ kens zu vermitteln. Reinhard Klockow (1994)129 Bei dem Beitrag Klockows handelt es sich weder um eine reformationsgeschichtliche noch um eine islamwissenschaftliche Untersuchung. Vielmehr hat Klockow den Trak­ tat des sogenannten »ungenannten Mühlbachers« aus dem Jahr 1481 kritisch vor­ gelegt und die Autorschaft Georgs von Ungarn gezeigt, die schon früher vermutet, jedoch nicht nachgewiesen war130. Der kritischen Ausgabe sind eine Übersetzung und eine Einleitung beigefiigt, in der die besondere Rolle des Traktats deutlich wird. Es handelt sich nämlich in Georgs Traktat um nichts anderes als den Libellus, den Luther vielleicht 1529 kennenlernte und 1530 mit einem eigenen Vorwort versehen herausgab. Klockow ist beizupflichten, wenn er die besondere Hochschätzung der Schrift bei Luther in der Objektivität der Darstellung der Türken begründet sieht (58). Es han­ delt sich bei der Herausgabe des Libellus durch Luther um eine der ersten öffentlichkeitswirksamen Darstellungen türkischer Sitten, durch die Luther die Kenntnis auch des Islam objektiv verbreitet wissen wollte, wiewohl er die theologische Deutung Ge­ orgs fur überholt hält (58). In der Identifizierung des Autors ist jedoch die Leistung Klockows auch fur die Lutherforschung nicht erschöpft. Vielmehr weist der Libellus in seiner Interpretationsstruktur eine gewisse Nähe zur inhaltlichen Deutung des Islam bei Luther auf. Dazu gehört die Schilderung der religiösen Sitten, deren Würde und Ernsthaftigkeit für Georg zum Problem der theologischen Deutung des Islam wird und den Anlaß zur innerchristlichen Kritik an der Kirche bildet. Georgs schließliche Widerlegung des Islam bewegt sich in interpretatorischen Bahnen, die auch bei Luther begegnen: Das hohe sitdiche Niveau des Islam ist auch bei Georg nur Schein zur Ver­ suchung der Christen, die Beglaubigungswunder der Heiligen im Islam sind letztlich Teufelszauber. Der Islam selbst ist eine antichristliche Macht im eschatologisch-apo-

129. Georgius de Hungaria, Tractatus de moribus, condictionibus (sic) et nequicia Turcorum, hg. von Reinhard Klockow, Köln/Weimar/Wien 1994. Belege im Text. Vgl. auch R. Klockow, Theologie contra Erfahrung. Die Argumentationsstruktur des »Tractatus de moribus, condicionibus et nequitia Turcorum« des Georg von Ungarn, in: ZBalk 25 (1989), 60-75. 130. Vgl. neben den Veröffentlichungen Göllners auch WA 30/2, 198. Niienhuis, 204, hat die Ent­ stehung des Werkes noch zwischen 1475 und 1481 angesiedelt.

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kalyptischen Geschehen131. Militärischer Kampf hat kaum Aussicht auf Erfolg132. Sind aber diese Interpretamente auch bei Luther anzutreflfen und ist nach dessen Ur­ teil die theologische Position Georgs überholt, so ist als Aufgabe dieser Untersuchung die Prüfung anzusehen, in welcher Weise Luthers Anschauung des Islam von Georg abhängig ist bzw. sich von der Georgs unterscheidet. Es ist also - neben der Oribratio des Kusaners oder der umstrittenen Korankenntnis Luthers - keineswegs nur die Confutatio des Ricoldus als einzige mittelalterliche Quelle der Islamkenntnis des Reforma­ tors anzusehen. Und wiederum kann die Confutatio nicht als alleiniger Fundort eines kreativen Umgangs Luthers mit den Islam betreffenden Traditionen angesehen wer­ den, wenn Klockow behauptet, daß Luther in seiner Heerpredigt - d. h. vor dem neu­ erlichen Erscheinen des Libellus 1530 - auf die Darstellung Georgs zurückgegriffen habe: »Luthers >Heerpredigt< besteht in ihrem zweiten Teil, der >Vermahnung< der Christen und besonders der Gefangenen gegen die Verführung durch die Türken, weitgehend aus Tractatus-Paraphrasen (ohne Quellenangabe), manchmal bis hin zur wörtlichen Übersetzung« (60). Luther wäre demnach in der Rezeption des Tractatus/Libellus einer Doppelstrategie verpflichtet. Die ihm wesentlichen Erfahrungen Georgs wären zum einen in die Heer­ predigt eingegangen, zum andern hätte Luther zeitlich parallel sein Interesse, die ihm objektiv erscheinende Darstellung des Islam bekannt zu machen, verfolgt. Entspre­ chend ist unten beiden Verfahren Luthers nachzugehen: der Rezeption Georgs in der Heerpredigt und ihrer Tragweite (auch mit der Frage, ob und wieweit einer der Impulse der Eschatologisierung der Islamfrage bei Luther mit Georg von Ungarn in Zusam­ menhang zu bringen ist), und der im Vorwort des Reformators vorliegenden Deutung des Libellus und ihrer religionstheologischen Voraussetzungen bzw. Folgerungen. Hartmut Bobzin (1985)133 Für die von Bobzin vorgelegten kenntnisreichen wie systematisch wertvollen Unter­ suchungen gilt in besonderer Weise, was bereits mehrfach angesprochen wurde: Im Rahmen des Forschungsüberblicks geht es allein - in Konzentration auf die metho­ dische Frage - um die Darstellung der formulierten Probleme und deren Lösungsver­ suche. Gerade die Fülle an Informationen in den Beiträgen Bobzins zwingt ohnehin, im jeweiligen Zusammenhang auf dessen Hypothesen und Folgerungen zu verweisen und gegebenenfalls einzugehen. Vorzustellen ist deshalb hier allein »Martin Luthers Beitrag zur Kenntnis und Kritik des Islam«134: Bereits der Titel läßt erkennen, daß 131. Als Gewährsmann nennt Georg mehrfach Joachim von Fiore. 132. Vgl. Klockow, 39-42 (»Die theologische Konstruktion«). 133. Hartmut Bobzin, Martin Luthers Beitrag zur Kenntnis und Kritik des Islam, in: NZSTh 27 (1983), 262-289; Über Theodor Biblianders Arbeit am Koran, in: ZDMG 136 (1986), 347363; Der Koran im Zeitalter der Reformation. Studien zur Frühgeschichte der Arabistik und Islamkunde in Europa. Herangezogen wird nur das Erstgenannte; danach Belege im Text. 134. Bobzins Habilitationsschrift (Der Koran im Zeitalter der Reformation) fuhrt im Zusammen­ hang der hier darzustellenden Frage über den »Beitrag« nicht wesentlich hinaus. Die weitere Untersuchung zeigt, welche Erkenntnisse Bobzin zu verdanken sind, aber auch, daß insgesamt methodisch nur geringe Überschneidungen vorliegen, wie auch in der systematisch-historischen Würdigung durchaus unterschiedliche Akzente zu setzen sind.

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sich die Fragestellung gegenüber den Beiträgen früherer Autoren verschoben hat. Nicht mehr die Türkengefähr als solche, und auch nicht die Haltung Luthers zum Türkenkrieg stehen zur Debatte, sondern die Wahrnehmung des Islam als die Reli­ gion der Türken in der Sicht Luthers. Die religiösen und theologischen Motive der Türkengefähr in der Reformationszeit sollen zur Sprache kommen135. Bobzin erkennt diese Aufgabe als bisher nicht gelöst - für ihn um so erstaunlicher, als es sich dabei keineswegs um ein Randthema handelt, wie er durch die umfangreiche Darlegung von Äußerungen Luthers zu zeigen sucht (264-268). Festzuhalten sind als Erkenntnis Bob­ zins der eher beiläufige Charakter der ersten Befassung Luthers mit der Türkenfiage (266), der Zusammenhang von Islamkritik und Kirchenkritik im Kontext der Buß­ theologie (267), die knappe, wenngleich konsequente Einordnung der Lutherschrif­ ten zum Türkenkrieg in den Zusammenhang der Obrigkeits- und Zwei-Reiche-Lehre136137wie auch die Metaphorik »des Türken« in der binnenkirchlichen Kritik (269). Bobzins Hauptinteresse liegt jedoch auf der Wahrnehmung des Islam durch Luther und auf dessen Motiven. Der Verfasser nennt dazu die Confittatio und die Cribratio, Luthers Kenntnis des Koran selbst bezieht er auf die Kettonsche Koranübersetzung aus dem Corpus 1bletanumw . Es ist die mangelnde Güte dieses lateinischen Koran, die Luther zum einen sein Urteil über Ricoldus revidieren läßt, zum anderen den Refor­ mator nötigt, von einer Übersetzung dieses Koran Abstand zu nehmen (270). Ausführ­ lich widmet sich Bobzin der Darstellung der Ereignisse um die Basler Koranausgabe und der Rolle Luthers bei der Befürwortung des Drucks138, der den Reformator of­ fenbar von der Aufgabe einer eigenen Wittenberger Ausgabe - im Falle eines Basler Druckverbotes - endastet hat. Vermutlich kam aber überhaupt die Übersetzung der Confiitatio des Ricoldus durch Luther dessen Anliegen stärker entgegen: »Da sich Lu­ ther mit einer deutschen Übersetzung ja v. a. an Laien wandte, mag ihm die Confutatio, die nach seiner Ansicht von 1542 den Inhalt des Koran zutreffend wiedergab, als geeigneter erschienen sein, als der komplizierte und ungeordnete Text des Koran sel­ ber« (279). Nach der kurzen Würdigung des Ricoldus - es ist hier auch an Bobzin die Frage zu richten, ob er die Islamkenntnis des Dominikaners nicht zu hoch ver­ anschlagt - charakterisiert der Verfasser Luthers Übersetzung der Confiitatio. Summa­ risch behandelt Bobzin dabei das Verfahren Luthers: Streichung der scholastischen Stellen, Erweiterung durch eigene Zusätze zur Verdeudichung, Erweiterungen aber auch durch Eintrag neuer Gesichtspunkte und schließlich - nur angedeutet - die pole­ mische Verschärfung (279 f.). Bobzins Wahrnehmungen sind aufs Ganze gesehen zu­ treffend. Maßgeblich ist die in diesem Zusammenhang geäußerte Feststellung, daß »Luthers Übersetzung der Confiitatio ... bislang noch nicht genauer untersucht wur­ de ...» (ebd.) Darin findet die Untersuchung Bobzins eine ihrer Aufgaben, nicht nur formal diesem Desiderat abzuhelfen, sondern Luthers Islamkenntnis und Islamdeu­ 135. Vgl. Bobzin, Beitrag, 262. Der Verfasser bezieht sich dabei auf den Marburger Kirchenhistoriker Ernst Benz, der bereits 1949 die Bearbeitung dieses Problems als Desiderat benennt. 136. Bobzin, Beitrag, 268. Hier ist dem Verfasser ein Versehen unterlaufen, wenn er die großen T ür­ kenschriften dem Jahr 1539 (statt 1529) zuweist. 137. Zum Corpus Toletanum, der von Petrus Venerabilis besorgten Sammlung lateinischer Überset­ zungen arabischer Schriften vgl. die Kurzinformation bei Reinhold Glei, Petrus Venerabilis. Schriften zum Islam, XV-X1X (Lit.); auch Hagemann, Der Kur’an, 15-68. 138. Vgl. die Erörterung bei Bobzin, 271-278, die Frage ist u. 422-426 wieder aufgenommen.

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tung aufgrund seiner Übersetzung zu erheben und sodann in den biographischen und theologischen Kontext einzuordnen. Bobzin selbst unternimmt auf wenigen Seiten eine geraffte Darstellung der Islamdeutung Luthers (280-283), die insbesondere im Zusammenhang der Apokalyptik auf mittelalterliche Traditionen hinweist. Er sieht Luther zwar von mittelalterlichen Traditionen abhängig, erkennt aber zugleich eine Verlagerung der Motive. »Von diesem Ausgangspunkt [sc. der heilsgeschichtlich-apokalyptischen Deutung] aus wird auch klar, warum Luther ebensowenig an einer »Wi­ derlegung« des Islam (so die traditionelle mittelalterliche Islampolemik) wie an einer breit angelegten Missionierung der Muslime interessiert ist: Ihm geht es in erster Linie um Erkenntnis und Auslegung dessen, was in der Schrift geweissagt ist, und damit um die »Entlarvung« des Islam als des großen endzeitlichen Gegenspielers Christi. Von daher ist Luthers Urteil über den Islam auch nicht christologisch bestimmt, sondern eschatologisch; die christologische Argumentation ist der eschatologischen unterge­ ordnet, sie dient der »Enttarnung«, nicht der Widerlegung des Islam« (283). In der Verlagerung der Motive vom Mittelalter zur Reformation in der Sicht und Deutung des Islam bei grundsätzlicher Beibehaltung des antiislamischen Kanons ist Bobzin zweifellos beizupflichten. Diese Verlagerung muß jedoch methodisch aus den Schrif­ ten Luthers selbst erhoben werden. Auch inhaltlich sind an Bobzin Anfragen zu rich­ ten. Zum einen wird man nicht an der Tatsache vorbeikommen, daß Luthers Überset­ zung der Conjutatio eben den Titel Verlegung (= Widerlegung) trägt, zum andern ist doch gerade in der gewiß eschatologisch-heilsgeschichtlich bestimmten »Entlarvung« des Islam dessen Widerlegung zugunsten einer existentiellen, geschichdichen Vergewis­ serung nicht aufgegeben. Theologisch gesprochen: Die von Bobzin eingetragene Span­ nungen zwischen Eschatologie und Christologie fuhrt zu falschen Alternativen, die Luther nicht gerecht werden und auch die theologische Schlußfolgerung Bobzins139 ausschließen. Daß die christologische Frage sich unter eschatologischen Voraussetzun­ gen verändert, steht außer Frage, eine Unterordnung im Sinne der sachlichen Sub­ ordination scheint damit jedoch in keiner Weise gegeben. Es ist aber dem Verfasser wiederum zuzustimmen, wenn er Luthers Islamdeutung angemessen theologisiert und historisiert. Die historische Verflochtenheit der Islamdeutung Luthers in die Zeit der Türkengefahr wie auch die historisch-theologische Verknüpfung der Kritik Luthers am Islam wie an den Altgläubigen aufgrund seiner Erfahrung des Evangeliums schafft Raum zur unverstellten Nachzeichnung der Position Luthers wie auch zur Überprü­ fung dieser Position aus heutiger Sicht und mit der Islamkenntnis der Moderne. So gilt ganz zukunftweisend: »Wenn Luther aus zeitbedingten Gründen kein Protagonist eines friedlichen christlich-muslimischen Dialoges war bzw. sein konnte, dann weist zumindest die von ihm betriebene Selbstkritik ... in die Richtung, in der ein verant­ wortungsvoller theologischer Dialog zwischen Kirche(n) und Islam heute möglich sein könnte« (288).

139. Vgl. Bobzin. Beitrag, 288 mit der kurzen Bemerkung zur Christologie.

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Herben Blöchle (1995)140 Blöchles Dissertation scheint das Verhältnis Luthers zum Islam wieder vor dem über­ greifenden Horizont seines Verhältnisses zum Heidentum anzusiedeln - die Fragestel­ lung erinnert also an die Vossbergs bzw. Holstens. Auch von daher ist grundsätzlich zu fragen, ob diese Kategorie historisch oder systematisch anzuwenden ist und ob sie in beiden Fällen überhaupt heuristisch hilfreich sein kann. »Luthers Stellung zum Islam und zu den Türken«141 wird mit einer Fülle von Belegen in kompendienhaften Über­ sichten entwickelt, deren Reihenfolge allerdings nicht ganz einsichtig ist. So wird Lu­ thers Islambild nach seinen Bemühungen um näheres Kennenlernen des Islam entwikkelt, obwohl Blöchle mit Recht von der traditionellen Prägung der Anschauungen des Reformators ausgeht (vgl. 156). Dies ist insofern von Belang, als zu prüfen wäre, ob Luthers Bemühungen um nähere Islamkenntnisse über die traditionellen Urteile hin­ ausfuhren oder gar einen reformatorisch bedingten Paradigmenwechsel anzeigen. Ebensowenig dient im methodischen Aufbau - dies entspräche wohl am ehesten einer an der chronologischen Reihenfolge orientierten Darstellung - die Türkengefahr als Auslöser theologischer Überlegungen Luthers, obwohl Blöchle selbst die ernsthaf­ ten Bemühungen, den Islam kennen zu lernen, in »der unmittelbaren Bedrohung des Abendlands durch die Türken« (151) veranlaßt sieht. Die methodische Vernachlässi­ gung dieses Faktums rächt sich spätestens dann, wenn die ersten Auseinandersetzun­ gen um den Islam respective d it Türken nicht im Zusammenhang der historisch-kon­ kreten Auseinandersetzungen um Luthers frühe Bußtheologie angesiedelt werden, d. h. als innerkirchliche Auseinandersetzung um den Stellenwert des Kreuzzugsgedan­ kens angesichts der türkischen Bedrohung Betrachtung finden142. So muß Blöchles Würdigung der Stellung Luthers zum Islam zu statisch ausfallen. Zwar wird die be­ sondere Bedeutung der Fragestellung für Theorie und Praxis des (reformatorischen) Christentums erkannt (190), dennoch scheint in der Würdigung von Luthers religi­ onsgeschichtlicher Stellung, die Leitfrage nach der historischen Stellung des Reforma­ tors von der aus heutiger Sicht notwendigen Funktion der Dialogfähigkeit, untermi­ niert zu sein - in Spannung zur historiographischen Aufgabe. So nimmt das Ergebnis nicht wunder, wenn in Abwägung der Polemik Luthers und des »toleranten Grundtenor[s] des Nikolaus von Cues« Luther angesichts der Eindeu­ tigkeit seiner Äußerungen gerechterweise nicht das Verdienst zuerkannt werden kann, das Verhältnis des Christentums zum Islam auf eine völlig neue Verstehensebene ge­ stellt zu haben (191)143. Dies wäre in der Tat zu viel verlangt und würde dem Refor­ 140. Herben Blöchle, Luthers Stellung zum Heidentum im Spannungsfcld von Tradition, Humanis­ mus und Reformation, Frankfurt am Main u.a. 1995. Belege im Text. 141. Überschrift des IV., hier herangezogenen, Kapitels, 151-192. 142. Blöchles Darstellung widmet sich diesen Fragen erst im 5. Unterkapitel 0» 171-183. 143. Nicht zu bezweifeln ist die Plausibilität dieses Urteils (vgl. dazu auch die Studien Hagemanns), wenn der methodische Horizont nicht weiter gesteckt ist; die Frage ist nur, ob die Erhebung von •Luthers »religionsgeschichtlichcr Stellung« genügt, oder ob nicht - nach klarerer Unterschei­ dung der historischen und religions-theologischcn Fragestellung gerade reformatorische Theo­ logie im Sinne Luthers Wege zum Dialog der Religionen aufweist, die sich zum ersten von der zeitbedingten Polemik Luthers lösen, zum zweiten die Frage von Glaubenszuversicht und Heils­ gewißheit nicht unterschlagen und zum dritten nicht auf das System von Natur und Gnade, wie es auch den Kusaner bestimmt, angewiesen sind.

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mator in Zustimmung wie Kritik nicht gerecht. Dennoch bleibt die Frage virulent, ob nach der historischen Analyse der Äußerungen Luthers zum Islam und ihrer Einord­ nung in den jeweiligen und unterschiedlichen Kontext, modern gesprochen: in ihrer kirchlichen, »interkonfessionellen« und interreligiösen Perspektive, diese offen sind für das christlich-islamische Gespräch. Gerade die Dialogfunktion theologischen Denkens darf jedoch methodologisch die historische Fragestellung nicht untergraben, sonst müßte das theologische Urteil beim Verdikt über Luthers Polemik und ihrer affirmativen Funktion stehen bleiben. Karl-Josef Kuschel (1998)144 Kuscheis Bemerkungen zu Luther sind Teil einer Monographie über G. E. Lessing angesichts der Herausforderung des Islam. Von daher ist zum Islambild Luthers keine umfassende Analyse zu erwarten. Luther wird entsprechend nicht eigens behandelt, sondern seine Stellungnahmen zu Türken und Islam eingereiht in »das Islam-Bild von Mittelalter und Reformation« (53-73). »Typologisch« abgehandelt erscheint Lu­ ther als Vertreter »reformatorischer Islam-Theologie« (62) mit der Charakterisierung des »Islam als Teufelswerk« (62-70). Die Charakterisierung wird erläutert mit den Stichworten »Dämonisierung« (63 f.), »Apokalyptisierung« (64 f.) und »Innerchristli­ che Funktionalisierung« (65-70). Kuscheis Darstellung reiht sich somit in die gängi­ gen Referate ein, teilt aber auch deren Mangel an Präzision. Unverdrossen wird Luther als Verfechter des »Antichristentums« Mohammeds bemüht (66), die historische Richtigstellung durch die irreführende Differenzierung verhindert, »nicht Moham­ med, sondern der Papst sei der wahre Antichrist« (67), ohne anzudeuten, was in die­ sem Zusammenhang »wahr(er)« heißen könnte. Weitreichend ist auch das Mißver­ ständnis der »innerchristliche(n) Funktionalisierung: »Innerprotestantisch wurde die Verunglimpfung von Gegnern als Türken oder Mohammedaner ebenso hemmungslos betrieben wie interkonfessionell« (65). Zwar ist weder Luthers (oder etwa Cochläus’ oder Fabris) Polemik noch die Apostrophierung mancher Gegner als Türken schön zu reden, die Grundfrage jedoch, welches Islambild eben hinter dieser Polemik steht bzw. ob aufgrund reformatorischer Theologie und nicht nur verbaler Polemik diese Apo­ strophierung (nicht nur im polemischen Sinne) plausibel sein könnte, diese Frage wird nicht einmal erwogen. Keineswegs bedeutet jedoch die Apostrophierung z. B. des Papstes als Türke die Austauschbarkeit der polemischen Begriffiichkeit und ihrer theologischen Hintergründe. Papst und Türke sind in ihrem bedrohlichen Charakter in ihrer endzeitlichen Funktion vergleichbar, nicht aber identisch, auch und schon gar nicht als »Antichrist«. Kuschel gerät nicht in den Blick, daß auch antiislamische Kritik und Polemik nicht primär der konfessionellen Auseinandersetzung, sondern der binnenkirchlich-protestantischen Stärkung fur Glauben und Handeln dienen. Dies ent­ bindet bei Luther zunächst aber die gemeindebezogene Gerichtspredigt und die Erin­ nerung an die Abwehr der Türken als äußerem Feind. Türke und Papst, Türke und Mohammed scheinen in Kuscheis Bewertung der Position Luthers ausschließlich auf einer Linie zu liegen, womit er bei aller denkbaren und auch notwendigen Kritik an 144. Karl-Josef Kuschel, Vom Streit zum Wettstreit der Religionen. Lessing und die Herausforderung des Islam, Düsseldorf 1998. Belege im Text.

Forschungsüberblick

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Luther dessen Zwei-Regimenten-Lehre methodisch nicht zur Kenntnis nimmt und so zu Fehluneilen kommen muß. So gilt im Duktus der Äußerungen Kuscheis das be­ kannte Lied Luthers »Erhalt uns» Herr» bei deinem Won« als Ausdruck von dessen antiislamischer Überzeugung - in dieser Form ein krasses Fehluneil. Aufgrund der mangelnden Differenzierung kommt Kuschel zu weiteren Verzeich­ nungen» wenn Luthers Verwerfung des Koran angeblich in der Erkenntnis dessen als »Buch der Vernunft« (68) gründet. Kuschel unterschlägt die Position Luthers» die als erstes Sachargument gegen den Koran gerade dessen Unvernunft herausstellt145. Lu­ ther kennt tatsächlich einen doppelten Vernunftbegriff, der dem »zu Lessings Zeiten« (ebd.) kaum vergleichbar sein dürfte und sowohl Vernunft als Gegenspielerin des Glaubens als auch Vernunft im Sinne des gesunden Menschenverstandes, der sich wohl mit dem Glauben verträgt, integriert. Daß Luthers Verwerfung der natürlichen Vernunft als Erkenntnisprinzip des Glaubens oder als Befähigung des Menschen zur Gottesbeziehung in seiner Ablehnung aller Autonomie gründet, es zugleich aber einen kreatürlich gewollten guten Gebrauch der Vernunft gibt» die beide mit fleischlicher Vernunft der Konkupiszenz (wie Luther sie in der Tat im Koran zu finden meint) gar nichts gemein haben, ist offenbar ohne Belang. N ur so ist jedoch das (Friedrich Niewöhner entliehene) Fehlurteil zu verstehen: »Gerade Luthers vernunftfeindliche Hal­ tung ermöglichte die Publikation des vernünftigen Korans« (69). Im Hinblick auf die Verlegung wie auch Luthers Haltung im Basler Koranstreit (1543) trifft mit größerem Recht genau die gegenteilige Aussage zu: Gerade Luthers Zutrauen in die gottgegebene Vernunft eines Christenmenschen ermöglichte die Publikation des vernunftwidrigen Koran. Es zeigt sich, daß der Frage nach Vernunft und Vernünftigem, nach Beweiskraft und Selbstendarvung des Koran genauer nachzugehen ist. Kaum Beachtung findet bei Kuschel der jeweilige allgemein-historische Zusam­ menhang, in dem die Türkenschriften Luthers entstanden sind. Es wird lediglich auf die gegenüber dem Mittelalter »umgekehrte weltpolitische Ausgangslage« (62) verwie­ sen. Entsprechend gibt es auch keine Hinweise auf eine etwaige Entwicklung von Lu­ thers Islam-Theologie im Rahmen der biographischen oder kirchengeschichtlichen Kontexte. An Kuscheis Darstellung muß enttäuschen, daß sie als jüngere Studie, die (angege­ benen!) Vorarbeiten etwa Rudolf Maus oder Herbert Blöchles nicht rezipiert und zu würdigen weiß. Darüber hinaus sind Unklarheiten vorprogrammiert, wenn es zur Confutatio heißt, Luther habe sich um deren Übersetzung »gekümmert« [?!], sie redi­ giert und zur Veröffendichung ein Vorwort beigesteuert (67). Luther hat nicht nur die Übersetzung selbst vorgenommen, die kaum nur als Redaktion zu bewerten ist, son­ dern ein wesentliches (zitiertes!) Nachwort beigesteuert, dessen Unterschlagung den Anschein einer recht flüchtigen Bestandsaufnahme des Islambildes Luthers erweckt.

145. Vgl. dazu das Vor- und Nachwort der Verlegung Luthers.

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Einführung

Martin Brecht (1997/2000)'46 Den Zielpunkt dieser Übersicht bildet der Vortrag Martin Brechts, der 1997 im Rah­ men eines Forschungsprojekts in Wolfenbüttel gehalten wurde146147. Brecht zeichnet die Türkenfrage sowohl in die Theologie des Reformators ein (theologische Fragestel­ lung) wie er zugleich Luthers Schrifttum mit Hilfe statistischer Angaben zu einer »Fundgrube für die Wahrnehmung und Einschätzung der Türken im mitteleuropäi­ schen Horizont zu seiner Zeit« (9) erklärt (historische Fragestellung). In ausführlicher Darbietung des einschlägigen Materials (noch über die Studie Rudolf Maus hinaus) kommt Brecht zu rundum zutreffenden Erkenntnissen zur Bußtheologie (versus Kreuzzugsgedanke), Zwei-Reiche-Lehre und Friedensethik, teilweise in deutlicher Korrektur des historisch so nachhaltigen Defätismusvorwurfs gegenüber dem Refor­ mator (23). Ebenso zutreffend ist die Rolle Luthers innerhalb der zeitgenössischen Türken- und Islamkunde herausgestellt (19-21). In diesem Zusammenhang wird ne­ ben der Rezeption des Tractatus und der Cribratio die Verlegung allerdings etwas knapp gewürdigt (20); eine besondere Rolle mißt der Münsteraner Theologe jedoch der Un­ terstützung des Basler Korandrucks durch Luther zu (21). Überhaupt finden Luthers vielfältige Äußerungen der vierziger Jahre eine stärkere Beachtung gegenüber der bis­ herigen Forschung (22-26). Die Frage nach der Substanz der Islamkenntnis Luthers und ihrer Herkunft tritt dagegen zurück. Ohne Zweifel liegt die Stärke des Beitrags in der konsequenten Einzeichnung des Türkenbilds Luthers in reformatorische Theo­ logie. Differenziert fällt schließlich das Ergebnis aus, das nicht nur die Türken als militärische Aggressoren und Muslime, sondern auch die aus heutiger Sicht problema­ tische Wahrnehmung von Papst und Türke durch den Reformator skizziert: Es war »Luther klar, daß die Türken ... eine nichtchristliche Religion ausbreiteten. Darin mußte man sich auskennen, um sich damit auseinandersetzen zu können. Dies kam der Islamkunde zugute. Luthers Urteil über den türkischen Synkretismus und die da­ mit verbundene Moral fiel sehr kritisch aus, wiewohl er auch die Stärken und die Ernsthaftigkeit durchaus wahrnahm. Faktisch qualifizierte er den Islam wie den »Pa­ pismus« als eine gesetzlich-verdienstliche Religion auf Kosten des Christusglaubens sowie großer Teile der christlichen Ethik. Weil sich jedoch der Papismus innerhalb der Kirche etabliert hatte und gegen das Evangelium richtete, traf diesen stets die härtere Kritik. Der innerkirchliche Konflikt ist vom heutigen ökumenismus her kaum mehr nachvollziehbar. Luther jedoch erlebte den Papst bis in seine letzten Jahre als seinen und der Evangelischen Feind« (26).

f ) Ergebnis Zunächst ist anerkennend festzustellen, daß die Frage des Verhältnisses Martin Lu­ thers zum Islam bzw. zu den - den Islam verkörpernden - Türken vor dem Horizont der militärischen Bedrohung im 16. Jahrhundert eine beeindruckende Fülle von For­ 146. Martin Brecht, Luther und die Türken, in: Bodo Guthmüller/Wilhelm Kiihlmann (Hg.). Euro­ pa und die Türken in der Renaissance, 9-27. 147. Flier wird eine neue, vom Europagedanken bestimmte Sicht der Türken erkennbar. Vgl. dazu Marco Frenschkowskis Rezension des Sammclbandes; in: Ebernburg-hielte 34 (2000), 108f.

Forschungsüberblick

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schungsergebnissen zutage gebracht hat, welche die Lutherforschung des 20. Jahrhun­ derts prägen. Weiterhin verdient Beachtung, daß die Breite der mit der Fragestellung angesprochenen Probleme einer erheblichen Weite (zuweilen auch Unklarheit) mög­ licher methodischer Ansätze korrespondiert. Erkennbar wird dies sicherlich in der Verlagerung von der missionstheologischen (im älteren Sinne) zur dialogischen und religionswissenschaftlichen Frage, auch von der religionspsychologischen zur systema­ tischen Fragestellung - nicht zu vergessen die weitreichende Anfrage nach einer etwai­ gen Engführung der christlich-islamischen Gesprächsgrundlagen durch den Rückgriff auf Luthers Theologie überhaupt. Mängel sind dann zu verzeichnen, wenn metho­ disch die systematische die historische Frage dominiert und umgekehrt, d. h. die theo­ logische Frage - fokussiert im Problem der Heilsgewißheit - in Spannung tritt zum Problem der religionswissenschaftlichen Sachgemäßheit der Äußerungen Luthers über den Islam bzw. die muslimischen Türken.

B. Die Verlegung als interpretatorische Leistung Luthers

1. Beobachtungen zur lateinischen und deutschen Textüberlieferung Methodische Erwägungen Die folgende systematische Betrachtung dient der Analyse1, die im Vergleich der Lu­ ther vorliegenden lateinischen Vorlage (ConfitUttio) mit seiner Übersetzung (Ver­ legung) eine Fülle an Beobachtungen ermöglicht, deren sachliches Gewicht und inhaldiche Tendenz im einzelnen zu beschreiben sind2. Vorauszuschicken ist, daß innerhalb der komplexen Traditionsgeschichte der ConfitUttio die Übersetzung Lu­ thers auf der lateinischen Rückübersetzung des Bartholomäus Picenus3 (1506) beruht, die wiederum auf die griechische Übertragung durch Demetrius Kydonius4 (ca. 1350) zurückgeht. Bereits Luther übersetzt also auf der Basis einer teilweise entstellten Über­ lieferung, die einen freien Umgang mit dem lateinischen Text geradezu notwendig macht. Der von Barge in WA 53 auf der Basis von Luthers Handexemplar edierte Text läßt nun die Arbeitsweise des Reformators im Umgang mit der ConfitUttio nachvoll­ ziehen: Nachdem ihm spätestens 1530 die ConfitUttio - deren Polemik er kritisiert bekannt gewesen sein m uß5, hat Luther - offenbar im Zusammenhang seiner Koran­ lektüre an Fastnacht (21. Februar) 15426 - im März den Entschluß gefaßt, die Con­ fitUttio ins Deutsche zu übersetzen. Der Übertragung geht anscheinend zunächst eine kommentierende Lektüre des lateinischen Textes voraus7, den Luther mit erschließen­

1. 2. 3.

4.

5.

6.

7.

Es mag an dieser Stelle empfohlen sein, die Gliederung der Confietatio bzw. Verlegung (s.u. 115 f.) vorläufig wahrzunehmen. Auf die Textgeschichte der Confutatio ist an dieser Stelle nicht ausführlich einzugehen; vgl. dazu Confutatio, ed. Ehmann, 15-19; H. Bobzin, Koran, 22-29. Ober Bartholomäus ist wenig bekannt. Der Beiname Picenus verweist wohl auf die Abstammung aus dem Umland Anconas. Vgl. dazu. J.-M. Mérigoux O.P., Fede e controversia nel *300 e *500, Pistoia o.J., 53 f. Demetrius Kydonius oder Kydones (1324-1397/98?) dürfte die Confutatio des Ricoldus um 1350 ins Griechische übertragen haben; auch eine Übersetzung von De rationibus fidei des Tho­ mas ist ihm zu verdanken. Die Übersetzungstätigkeit hat einen kirchenpolitischen Hintergrund. Demetrius erhoffte sich von der Annäherung an Rom eine Stärkung Ostroms gegen die Osmanen. 1364 schließt Demetrius sich der lateinischen Kirche an. Vgl. B. Kotter, Art. Demetrios Kydones, LThK2 3, Sp. 217; J.-M. Mérigoux O.R, Fede e controversia, 51-53. Aus der Vorrede zum Libeüus de ritu ... (Januar 1530): »Hactenus enim cum vehementer cuperem nosse religionem et mores Mahometistarum, nihil offerebatur quam quaedam confutatio Alkorani et item Cribratio Alkorani N. de Cusa; Alkoranum vero etiam num frustra cupio lege­ re.- WA 30/2,205,6 f. »Aber itzt diese Fastnacht hab ich den Alcoran gesehen Latinisch, doch seer übel verdolmetscht, das ich noch wünschet einen klerem Zusehen.« WA 53, 272,16 f. Zur Entstehung der Verlegung und zur Frage der Authentizität der Koranrezeption Luthers s. u. 460-464. Luther selbst bringt zum Ausdruck, daß er die Schrift häufiger zu Rate gezogen hat. Vgl. ebd. 272,3 f.: DJs Buch Bruder Richards, prediger Ordens, Confutatio Alcoran genant, hab ich vor­ mals mehr[mals] gelesen ...«

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Die Verlegung als interpreiacorische Leistung Luthers

den, erklärenden und polemischen Randbemerkungen versieht8. Diese Randbemer­ kungen stimmen teils überein, zu großen Teilen jedoch unterscheiden sie sich von den Bemerkungen, die Luther in sein deutsches Handexemplar einträgt, welche von Hans Luft wiederum als Randglossen gedruckt worden und von Barge in WA 53 nachgewie­ sen sind. Diese sind nicht nur eine Fundgrube fur Luthers Polemik, sondern bilden auch den Hinweis darauf, daß Luther mit der Drucklegung der Verlegung per Rand­ glosse polemische Bezüge hersteilen wollte. Zu welchem Zweck dies geschehen ist, soll später diskutiert werden. Jedenfalls zeigt der Vergleich der Randbemerkungen zur Confutatio mit denen zur Verlegungy daß letztere deutlich emotionaler und pole­ mischer ausgefallen sind. Von daher stellt sich die erste Aufgabe, die Randbemerkun­ gen Luthers analytisch zu sichten und einer Bewertung zu unterziehen. Die zweite Aufgabe besteht in der Auswertung des direkten Vergleichs der lateini­ schen Vorlage der Confutatio mit Luthers Verlegung,. Dieser Vergleich zur Erhebung der interpretatorischen Mittel Luthers macht augenscheinlich, daß Luther zum einen teils kürzere, zum anderen auch längere Passagen der Confutatio ausgelassen hat9. Hier ist sowohl im einzelnen nach den Gründen zu suchen als auch insgesamt und exempla­ risch weiter zu fragen, ob diese Kürzungen systematisch zu erfassen sind (a). Zu den Kürzungen in Spannung steht Luthers gleichzeitige Tendenz zur (gelegentlich umfäng­ lichen) Erweiterung seiner Übersetzung gegenüber der Vorlage. Auch hier ist nach der Erhebung im Text zu fragen, welches Anliegen Luthers für diese Tendenz verantwort­ lich sein könnte (b). In einem dritten Abschnitt soll gefragt werden, welche weiteren Stilmittel Luthers Verlegung über die Confutatio hinaus aufweist (c) - mit dem Ziel, die bisherigen Beobachtungen zur Behauptung eines spezifischen rhetorischen genus zu ver­ dichten (d). Darüber hinaus zeigt bereits der flüchtige Blick in die Verlegung die Not­ wendigkeit, im Übergang zur religionswissenschaftlichen Analyse der Islamkenntnis Luthers10 dessen Polemik und deren Funktion näher zu untersuchen (e). Beobachtungen zu Luthers Glossen11 zum lateinischen und deutschen Text Wenn oben von erschließenden, erklärenden sowie polemischen Randbemerkungen Lu­ thers gesprochen wurde, ist als Aufgabe zunächst die Sichtung der lateinischen Vorlage (Confutatio) vorzunehmen; diese hat der Reformator zusätzlich zu den dort vorzufm-

8.

9.

10. 11.

O b diese erneute und intensive Lektüre mit Randbemerkungen ebenfalls erst 1542 zu datieren ist, oder ob bereits zuvor, nämlich 1540, Luther seine Bemerkungen eintrug, kann nicht rekon­ struiert werden. Jedenfalls macht der Eintrag Luthers, ebd. 277,16 f., bzgl. des Kaisers »Heraclius in hoc anno. 1540 praecise 900 iar tod gewest« die Wiederaufnahme der Lektüre bereits für das Jahr 1540 höchst wahrscheinlich. Von daher wäre mit drei Phasen der Beschältigung Luthers mit der Confutatio zu rechnen. In der Confutatio. ed. Ehmann, ist der Versuch unternommen worden, die Auslassungen und Erweiterungen Luthers gegenüber der Vorlage durch synoptische Darstellung im einzelnen kenntlich zu machen; dabei nicht immer der Edition Barges (WA) folgend. Einen groben Über­ blick gibt auch Bobzin, Koran, 142-152. Die Ausnahmen gehören bezeichnenderweise immer in einen polemischen Zusammenhang. In der lateinischen Vorlage stammen alle nicht antiqua gesetzten Glossen von Luther, in der deutschen Übersetzung gehen alle Glossen auf den Reformator zurück, beide mit Ausnahmen der biblischen Belege. Vgl. Barges Editionsbericht, hierzu; WA 53, 269.

Beobachtungen zur lateinischen und deutschen Textüberlieferung

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denden Glossen mit teils deutschen, teils lateinischen, teils gemischten Randbemer­ kungen versehen. Unter erschließenden Randbemerkungen sind solche zu verstehen, die bereits die Vorlage bietet, und mit deren Hilfe Luther offenbar sich selbst den lateinischen Text gegliedert und thematisch fixiert hat, um danach die Übersetzung einzuteilen. Zu diesen Bemerkungen gehören entsprechend Zahlzeichen12, die Kennzeichnung von Sachreihen oder Argumentationsketten13 und Inhaltsangaben in kürzester Form14. Zu den erklärenden Randbemerkungen zählen alle Verifizierungen, die Luther ei­ nerseits vorgefunden, andererseits vorgenommen hat, seien es die allein 21 biblische Bücher umfassenden15 Stellenangaben16, seien es die bloßen und meist im Text ange­ legten Herausstellungen von Väterzitaten ohne weitere Nennung des Fundorts17. Als »erklärend« können die biblischen Verifizierungen insofern gelten, daß sie in vielen Fällen nicht als Schriftzitate im lateinischen Text ausgewiesen sind, sondern auf Konnotationen des Editors zurückgehen, und anschließend von Luther auf­ genommen wurden18. Nur selten ist im lateinischen Exemplar die Klärung von Rea­ lien über die Verifizierung biblischer Namen hinaus anzutreffen19. Dagegen weisen die Randbemerkungen eine Anzahl polemischer Äußerungen des Reformators auf, die im folgenden einzeln erörtert werden sollen, auch unter der Fragestellung, ob und gegebenenfalls wie sie in Luthers Übersetzung - sei es im Text, sei es als Randglosse eingegangen sind: »So kompt man dauon«20. Luther interpretiert das koranische Verbot der Annahme fremder Lehre (Altes Testament, Neues Testament, Philosophen) als Strategie der Ab­ sicherung, welche sich dem offenen Diskurs - im näheren Zusammenhang: dem ethi­ schen - entzieht. Es bleibt jedoch bei der wörtlichen Übertragung der Confutatio ohne inhaldiche Erweiterung. 12. 13.

14. 15.

16. 17. 18. 19.

20.

Z. B. die Gliederung mit »1, 2,3« WA 53, 295; »i., ii.« ebd. 311 f. Z.B. »Fabula de luna - Fabula de verme et morte salomonis - AJia fabula de prohibito vino Saracenis - Conclusion ebd. 297; vgl. auch die neunfache Reihung von »aliud argumentum« in Luthers Erarbeitung des VI. Kapitels der Confutation ebd. 301 -305. wiederum mündend in eine »Condusio«, oder auch die Aufzählung von »Dezem genera mendaciorum in Alcorano«; ebd. 327-335. Z. B. »Translatio crucis christi in hierusalem«; zu ebd. 355,14-16. Bei den Randglossen sowohl zur lateinischen Confutatio wie auch zur deutschen Verlegung bilden Psalmen und Johannesevangelium einen klaren Schwerpunkt des biblischen Bezugs, der in dieser Gewichtung auf Luther zurückgeht, also nicht nur durch die Vorlage (Ricoldus) veranlaßt ist, wie die Verifizierungen in der WA zeigen. Z. B. »loh 5 scilicet Alius veniet in nomine suo«, zu 283,30. Z.B. 313.16 f. Versuche, die Väterzitate genau zu verifizieren, sind schon in Barges Edition zu finden; vgl. darüber hinaus auch Confutation ed. Ehmann. Z. B. »Rhoma. xiij. a.«; zu ebd. 345,14. Die Textstelle ist Bestandteil der deutschen Übersetzung Luthers, vgl. ebd. 346,18. Zu nennen wäre ebd. 287 zu Z. 23, die zutreffende Klärung des Namens Goliath gegen die verderbte Textgrundlage, die aber kaum auf Recherche zurückgeht, sondern spontan erfolgt sein dürfte. Als einzige Stelle kommt somit nur 277,16 ff. die Bemerkung in Frage: »Heradius in hoc anno. 1540 praecise 900 iar tod gewest«, die jedoch zur Person des Kaisers Heraklius nichts austrägt, sondern eher den Leser (Luther) ins geschichtliche Verhältnis setzt. Ebd. 283,25.

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Die Verlegung als incerpretatorische Leistung Luthers

Es ist der gleiche Zusammenhang von Ethik und Eschatologie, der Luther zum Vorwurf der Besessenheit Mohammeds treibt: »occupatio«21. Bei Luther scheinen je­ doch nicht etwa ethische Erwägungen im Vordergrund zu stehen, sondern der ihm unerträgliche Gedanke einer Vergleichbarkeit koranischer Bilder vom Paradies und neutestamentlicher Gleichnisreden vom Reich Gottes als Gastmähler eines König? bzw. Vaters. Der Begriff der Besessenheit taucht als polemische Abgrenzung in Luthers Übersetzung nicht auf; er grenzt dagegen die evangelischen Gleichnisse als in ihrer geistlichen Bedeutung2 vom Koran unterschieden ab und fugt diesen Unterschied in die Übersetzung ein. Noch im selben Zusammenhang ist eine der deutschen Bemer­ kungen Luthers zum lateinischen Text zu finden, die zeigt, daß Luther in der Überset­ zung andere Wege als die unklare lateinische Überlieferung geht. Seine Bemerkung »hie reucht der teuffei meüse«23 läßt eine gegenüber Ricoldus neue Interpretation der Äußerungen Mohammeds erkennen. Während in der Überlieferung der Confutatio die Termini »vera et insignia« zur Kennzeichnung der islamischen Vorstellungen vom Paradies Verwendung finden, die doch zugleich in ihrem Wahrheitscharakter bezwei­ felt werden - bzw. die unfreiwillig bezeugte Wahrheit über die Verwerfung der Mehr­ zahl aller Muslime beschreiben - und dies unter Wirkung des Heiligen Geistes ge­ schieht24, hat Luther mit solcher Charakterisierung offenbar Mühe. Für ihn ist in den Prophezeiungen Mohammeds nicht der Heilige Geist Subjekt, der jenen unfrei­ willig Wahrheit verkünden läßt, sondern eben der Teufel, der sich freut, die ihm zu­ stehenden 72/73tel aller Muslime einzutreiben. Vergleichbares gilt für die weiteren Ausfuhrungen des Kapitels. Ricoldus* Anliegen in diesem Kapitel war der Nachweis der Widersprüchlichkeit des Koran gegenüber der biblischen und philosophischen Tradition und die Zurückweisung des Anspruchs, Gottes Gesetz darzustellen. Luthers Anliegen dagegen ist der Aufweis der »Fleischlichkeit« des Koran. Ricoldus sucht materialiter nach Übereinstimmung dieses Gesetzes mit dem Gesetz Gottes und kontra­ stiert entsprechend zwei Gesetze. Für Luther hingegen ringen nicht zwei Gesetze mit­ einander, sondern Geist und Teufel, bzw. Geist und Fleisch. Entsprechend ist Luthers Notiz »nihil nisi caro«25 keineswegs nur als Abscheu vor Menschenraub und Ent­ ehrung von Frauen im Krieg zu sehen, sondern als theologische Selbstentlarvung des Koran in seinem »fleischlichen« Charakter. Die Überschrift des 8. Kapitels der Confutatio scheint in der Übersetzung Luthers am stärksten von unvermittelter Polemik geprägt zu sein. Der Reformator übersetzt »irrationalis« mit »viehisch und Sewisch«26. Wie kommt es zu solcher Polemik? Auch hier sind Erkenntnisse aus den Randbemerkungen zu gewinnen. Zunächst ist jedoch 21. 22. 23.

24. 25. 26.

Ebd. 299.29. Vgl. ebd. 300.6. Ebd. Luther vermerkt genau dasselbe am Rand der deutschen Übersetzung; ebd. 300,16 f. Zur Klärung des Ausdrucks gibt Luther selbst Anhaltspunkte: Am 7. März 1329 berichtet er brieflich an Wenzeslaus Link über Erasmus, der ausgerechnet bei den Evangelischen Zuflucht gefunden habe: »Cur non it ad suos Hollandos, Gallos, halos, Anglos? Er reucht meuse.« WA.BR 3. 28,7 f. Ebd. 301,1. Ebd. 301.21. Ebd. 312, 34. Hagemann sicht darin Luther »einen viel schärferen Ton in der Polemik gegen Muhammad und den Koran als vor ihm Ricoldus« anschlagen. Vgl. Hagemann, Christentum und Islam, 93.

Beobachtungen zur lateinischen u n d deutschen Textüberlieferung

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festzuhalten, daß Ricoldus - ausgehend von der Übereinstimmung der lex Dei mit der ratio — mit dem Erweis der »Irrationalität« des Koran kein logisches Werturteil fällt, sondern eben aufgrund des Zusammenhangs von Gottesgesetz und Vernunftgesetz einen Generalangriff auf den Koran auf vier Argumentationsebenen führt27. Luther ist dies nicht entgangen. Die in der Vorlage den jeweiligen Neuansatz der Argumen­ tation hervorhebenden Randzeichen und Überschriften sind als Durchzählung der Argumente und sinngemäß in die auch optisch gegliederte Übersetzung übernommen worden, die dadurch übersichdicher wirkt als die Vorlage. Zugleich zeigt sich, daß Übereinstimmung mit der theologischen Vernunft im Sin­ ne des Ricoldus für Luther kein Argument zur Widerlegung des Koran darstellen kann. Stattdessen konzentriert sich Luther auf die den Beispielen aus der Confutatio inne­ wohnenden ethischen Probleme, insbesondere den Fragen nach Ehe und Ehebruch. Einen Anhalt hat dieses Interesse Luthers in einer Randbemerkung, die das ethische Problem des Ehebruchs Mohammeds verschärft. Luther ersetzt respuit durch periit28. D. h.: Nicht der seine Frau Verschmähende, sondern der sie Begehrende muß auf diese zugunsten Mohammeds verzichten. Auf dieser Schiene des Erweises Mohammeds als Ehebrecher nähert sich Luther den Ausführungen zur Ehescheidung nach »koranischem« Verständnis, die den Reformator nur empören können, da bereits die Confittatio die islamische Überlieferung im Sinne von Befürwortung der Promiskuität und Förderung der Rechtsunsicherheit der Ehe mißversteht. Außerdem sind Luther offen­ bar Andeutungen zur religionsgesetzlichen Relevanz männlicher Potenz anstößig, die von Ricoldus tatsächlich recht willkürlich an dieser Stelle eingetragen sind. Die Ab­ scheu vor dem Ganzen hat Luther als Randglosse zur Übersetzung festgehalten: »Was das sey, das verdeudsche an meiner su t, der Teuffel oder Mahmets unfletigs saw maul selbs, pfu dich du schendlicher Teuffel und verfluchter Mahmet«29. Luthers Interesse bei der Übersetzung zeigt sich also gegenüber der Grundlage des Ricoldus verschoben. Ricoldus dient die ethische Problematik als Vehikel zum Erweis der Unvernunft und damit der Unvereinbarkeit mit dem wahren Gesetz Gottes. In Luthers Argumentation kommt der Vernunft dagegen keine gewichtige Rolle zu. Das Problem der Bestim­ mungen rechter Ehe und Ehescheidung gerät in direkte Berührung und dadurch Konftontation m it der Versuchung des Teufels und dem Willen Gottes. Welche Rolle aber sollte für Luther gerade die ratio in diesem Kampf spielen: Wenn irrationalis als for­ males Kriterium für den Reformator ausfällt, so ist die Lücke durch ein ethisches Ur­ teil (material) zu schließen, und Luther tut dies in durchaus polemischer Zuspitzung. Es gibt keine Ehe im Sinne ihrer göttlichen Stiftung - »Ergo nullum coniugum ibi«30; dann aber gilt für Luther weiterhin: »Das ist hunde und saw hochzeit, keine Ehe«31. Wird schließlich dieser unethische Charakter des Koran zum Kriterium des Urteils, so kann »irrationalis« von Luther entsprechend und folgerichtig nur mit »viehisch und sewisch« übersetzt werden. Der überzogen-polemische Charakter der Übersetzung ist

27. 28. 29. 30. 31.

Vgl. Confutatio, ed. Ehmann, 240 f. »petijt« zu WA 53.313,9. Ebd. 320,30. Zu »pfu« bzw. »pfui« s. u. 82, Anm. 61. Ebd. 317.9. Ebd. 320,26f.

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Die Verlegung als interpretatorische Leistung Luthers

dabei nicht zu bestreiten; zugleich ist Luthers Polemik jedoch durchaus mit der Vor­ lage der Confutatio zu vermitteln. Auch die Aufzählung der koranischen »Lügen« in ihrer zehnfachen Beziehung ist zweifellos polemischer Natur; die Randbemerkungen »Primum mendacium de seipso« bis »Decimum mendacium de deo«32 dienen jedoch eher der Sinngliederung des 9. »Lügenkapitels« und sind nicht in die Übersetzung übernommen33. Die Charakte­ risierung stammt also ursprünglich nicht von Luther. Allerdings zeigt ein Beispiel, daß Luther solche Glossen polemisch aufnimmt, indem er sie ergänzt: »non solum mendacia, sed etiam stulta«34; der Tendenz der gedruckten Glossen entspricht dann auch Luthers Charakterisierung des Koran als Lügenbuch. Diese wirkt sich in der Über­ setzung Luthers aus, wenn nun nicht mehr von Lügen des Koran, sondern »von ungereimpter narrenteiding« (närrische Geschichten) in den »Glo[s]sen oder Comment[aren]«35 zum Koran die Rede ist. Im Zusammenhang des Vorwurfs der Gewaltverherrlichung durch den Koran (Kap. 10) und insbesondere der Erziehung der Assassinen zu gedungenen Mördern, assoziiert und konnotiert Luther »Tattern«, also »Tartaren«36 als Inbegriff der die Chri­ stenheit verheerenden Gewalt ohne genauere Bezugnahme auf den Tartarensturm. Im Deutschen ist jedoch die Übertragung »Assessinij« beibehalten. Die Conclusio des Kapitels läßt dagegen erkennen, daß die gedruckte Randglosse »violentum quid sit«37 in die Übersetzung Luthers eingeflossen ist: Der multiple Cha­ rakter der koranischen Gewaltverherrlichung ist wiedergegeben als mörderische und teuflische W ut38. Ähnlich verhält es sich mit der Übersetzung der 12. Kapitelüberschrift, in der Lu­ ther »iniqua« mit »unrecht und b&se« wiedergibt39. Diese Übersetzung ist angelegt durch die Randbemerkung zur Vorlage »Bose schedlich«40. Ebenfalls ins Deutsche übernommen ist die Randbemerkung »non solum mendacia, sed etiam stulta«41, wenn Luther nicht allein »Lögen«, sondern »Nerrische lögen«42 übersetzt. Luthers Übersetzung der 14. Kapitelüberschrift bietet fur »De fictione improbatissimae visionis«43 die zugespitzte Formulierung »Von einer sonderlichen, schendlichen grossen Lögen und gesicht«4445. Der Eigenart Lutherscher Polemik ist unten weiter nachzugehen43. Hier ist festzuhalten, daß auch diese Polemik sich zumindest ansatz­ 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40. 41. 42. 43. 44. 45.

Ebd. Z. 329-335. Dies gilt ebenso fur die weitere Strukturierung des Textes mit »Aliud mendacium« bzw. »alia mendacia«. Ebd. 353,3 f. Ebd. 337,28 (lat.) und 336.30 ff. Ebd. 343,38. Ebd. 345,10. »ein Mördisch wütiges Gesetz, nicht Gottes, sondern des Tcuffcls ...«, ebd. 346,14 f. Ebd. 349,32 (lateinisch) und 348,9 (deutsch). Ebd. 349.9. Ebd. 353,5 f. Ebd. 350,26. Ebd. 359,14. Ebd. 360,21. Sie ist zunächst dem genus elocutionis zuzuordnen, s. u. 126-128.

Beobachtungen zur lateinischen und deutschen Textüberlieferung

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weise widerspiegelt in der Randglosse »Fabula de Mahometo«46 zur hadith47-Überlieferung. Wiederum ist es also weder Ricoldus bzw. dem Editor noch Luther entgangen, daß die zu kritisierende fabulöse Überlieferung nicht genuin koranischen Ursprungs ist, wie Ricoldus durch die Charakterisierung der Tradition als »expositio ... Alcorani«48 deutlich macht. Luther hat zwar den Begriff der fabula nicht direkt in die deut­ sche Übersetzung einfließen lassen, ist jedoch auch nicht bei der Übertragung von »improbatissima visio« mit »gesicht« stehen geblieben, sondern hat versucht, den un­ wahrhaftigen Charakter derselben durch die Übersetzung zu verstärken. Ausgehend von der mehrfachen Widersprüchlichkeit der Selbstaussagen Moham­ meds495012346hat Luther im 15. Kapitel einen eigenen kleinen Absatz in die Übersetzung der Confiitatio eingefügt, der direkt auf eine Randbemerkung zum lateinischen Text zurückzufuhren ist. Im Zusammenhang widersprüchlicher Aussagen des Korans zur Pneumatologie bemerkt Luther: »hic iterum verbis sibi contradicit pro nobis«30 - um später in der Übersetzung ausführlicher und interpretierend zu formulieren: »Also mus aber mal Mahmet, wiewol unwissend, mit Worten wider sich selbs unsere Glau­ bens höhesten Artickel bezeugen, und verstehet nicht, was er saget«31. Eine besondere Weise polemischer Glossierung stellt das emphatische »O Parisia similis Turce«32 dar. Die scheinbar dunkle Bemerkung, die nicht in die Übersetzung eingeflossen ist, jedoch signifikant fur Luthers theologischen Zugang auch zum Islam sein dürfte, findet ihre Erläuterung durch Luther selbst. Denn eben zur eigenen Über­ setzung glossiert der Reformator: »Da ligts Parisiense hoc est«33. Luther identifiziert also die Praxis der Gebotserleichterung im Islam mit der Außerkraftsetzung des Ge­ setzes Gottes34 durch die altgläubige Bußpraxis und bringt diese wiederum in Zusam­ menhang mit der Verurteilung von 104 Sätzen seiner Lehre durch die Sorbonne am 15. April 1521, deren Verwerfungssätze jeweils mit »Hoc est« begannen33. Luther hält jedoch am ungeschmälerten Forderungscharakter des Gesetzes fest. Auf eben dieser theologischen Linie liegt Luthers letzte Randbemerkung zum latei­ nischen Text, die sich zwischen Polemik und Sinnerhellung bewegt. Zu beziehen ist der Satz »id est nulla potius hanc enim seruarent«36 auf leic, die es zu wahren gilt, jedoch nicht im islamischen (Mohammed), auch nicht im scholastischen (Ricoldus), 46. 47. 48. 49. 50. 51. 52. 53. 54. 55.

56.

Zu WA 53, 359.17 f.

hadith(e): außerkoranische verbindliche Tradition(en) im Islam. Vgl. Hadith, IL, 325-329. WA 53,359,16. Vgl. ebd. 365,10-14: dazu die Randbemerkung »quam dispar in dictis sibi ipsi Mahometus.« Ebd. 369,21 f. Ebd. 368, 21-23. Ebd. 385,13. Ebd. 384,21 f. Luther notiert am Rande der deutschen Übersetzung Lev 19, 18; Mt 5, 44, außerdem: »1st doch des Moses Gebot.« und: »O heilsam Gesetz.« Ebd. zu 384,23-27. Von Luther selbst mit einer Widerlegung Melanchthons herausgegeben, vgl. WA 8, 255-312. Vgl. dazu auch die Erläuterungen Barges, ebd. 384, Anm. 6 und Brecht, Luther II, 19. Psycho­ logisch mag die Nachhaltigkeit des Zorns Luthers auf Paris nach über 20 Jahren überraschen. Daß die Pariser Verurteilung aber präsent war, belegt auch eine Tischrede vom Juni 1542; vgl. WA.TR 4, 527,3-6. - Die theologische Würdigung auf der Basis des Gesetzesbegriffs Luthers zu erhellen aus den Antinomerdisputationen - kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Ebd. 387,24 f.

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sondern im biblischen Sinn. Luther streicht entsprechend seiner Randnotiz die Rede vom erfüllbaren Gesetz und ersetzt diese durch ein Bibelzitat (Koh 12, 13): »Fürchte Gott, und halt seine gebot, das gebärt allen Menschen«57. Alle weiteren - teils polemisch anmutenden - Randglossen sind Teil der lateini­ schen Vorlage des Ricoldus; dienen somit Luthers Textverständnis und Texterarbei­ tung und sind an dieser Stelle nicht eigens zu analysieren. Nicht nur die lateinische Vorlage, sondern auch seine deutsche Übersetzung hat Luther mit (jetzt gedruckten) Marginalglossen versehen. Diese Glossierung der eigenen Übersetzung erhellt die Arbeitsweise Luthers: Danach ist nicht nur die Vorlage zur Übersetzung kommentiert, sondern in einem eigenen Arbeitsschritt die Übersetzung der Sichtung unterzogen worden - nur sinnvoll zu erklären als Gliederungshilfe und Gedächtnisstütze fur den Leser im Hinblick auf das die LeitbegrifFe der Confutatio aufnehmende Nachwort Luthers, welches wie das Vorwort selbst keine Randglossen aufweist. In Analogie zur Glossierung des lateinischen Textes verzeichnen auch die Rand­ glossen zur deutschen Übersetzung erschließende, erhellende und polemische Bemer­ kungen. Dabei treten die formalen zurück, die Nennung von Realien entspricht den Marginalien zur Vorlage58. Die Sichtung der polemischen Glossen zeigt eine invektive Intensität, welche die der Glossen zum lateinischen Text übertrifft. Sie sind in beson­ derer Weise geeignet, Luthers persönliche Einschätzung und Bewertung der isla­ mischen Glaubenswelt (Koran, Traditionen, Mohammed) zu erheben. Die Fülle der Glossen legt es dabei nahe, diese sieben Kategorien zuzuordnen und summarisch zu behandeln. Die Kategorien sind indes nicht exklusiv zu verstehen; in Einzelfällen sind die Glossen mehreren Kategorien zugewiesen. Verworfenheit Hierzu zählt der häufige und stereotype Vorwurf gegenüber Mohammed, er sei der Teufel, Satan, oder stehe mit diesem im Bunde. Die Polemik wird nicht analytisch erhoben, sondern emphatisch eingetragen: »O Teuffel«59, mit Verwünschungen60 und/oder apotropäischen Formeln61 begleitet. Auf der selben Linie liegt der pole­ misch-ironische Eintrag »Humel Beelzubub«62 angesichts der vermeintlichen Urhe­ 57. 58. 59. 60. 61.

62.

Ebd. 388,5 f. Wenngleich vereinzelt andere biblische Konnotationen zu verzeichnen sind. Zu ebd. 284,7 und 384,31: vgl. auch zu 318,3: »Vox Diaboli.« Zu ebd. 298,16-19 »Ey nun straff dich Gott, leidiger, lesterlichcr Teuffel.« Und 338,10-12: »O Satan, o Satan, du soles bezalen.« Zu ebd. 336.27 »Ey pfti dich Teuffel.« LJnd zuvor 320: »pfu dich du schcndlicher Teuffel und verfluchter Mahmct.« »Pfui!« bedeutet keineswegs nur die Abscheu, sondern Aufforderung zum Schämen verbunden mit archaischen Vorstellungen von der heilenden und einen Fluch bannen­ den Kraft des Speichels. Beide Komponenten sind Luther geläufig: vgl. im Zusammenhang einer biografischen Rückschau WA.TR 4, 446 f.: »Ich habe mich offte selbst angespeiet, wan ich vom predigtstuel körnen bin: Pfuc dich an, wie hastu gepredigt?« Vgl. auch DWb VII, 1808f. mit Hinweis auf Luthers Tischreden. Ebd. 296.5 f. Vgl. auch WA 8, 45,11-13 (Rationis Latomianae 1521): »Confortare igitur et esto robustus, et Baal phogor istum |Papam] ne metuas, cum vix sit Baal zebub. hoc est, vir muscae. si credimus tarnen, quoniam Iesus Christus est dominus benedictus in secula Ame(n) ...«; sowie

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berschaft Mohammeds einer bereits von Ricoldus falsch überlieferten und deshalb abstrusen Fabel, in der eine anmaßende Fliege dem König Salomo gegenübertritt. Außerdem ist hierzu die Glosse »Hoc est frigidulum«63 anzuführen, hinter der sich Luthers Vorwurf der Anmaßung Mohammeds verbirgt, auf gleicher Stufe wie Gott zu stehen. Multiple Häresie des Koran bzw. Mohammeds Entgegen der Tendenz des Ricoldus, den Islam in die Geschichte der zunehmenden Häresien einzuordnen - eine Tendenz, die in der Übersetzung Luthers zurücktritt64 konzentriert sich Luther mit der Randbemerkung »Das hat er von den Arianern [-] Das hat er von den J&den, die reden also noch heutigen tages [-] Das hat er von jm selbs, als der dritte Meister«63 gewissermaßen auf die Eckpunkte Arianismus bzw. Is­ lam, um logisch dazwischen seine aktuelle Erfahrung mit den Juden zu positionieren. Dies verdient Erwähnung, weil Luthers Nachwort zur Confutatio deudich von anti/ödischer Polemik geprägt ist. Konkupiszenz bzw. »Fleischlichkeit« Luthers persönlich gegen Mohammed vorgebrachte Polemik ist inhaltlich häufig und beinahe durchgängig bestimmt vom Vorwurf der Konkupiszenz, der Sinnlichkeit und - nach neutestamentlichem Sprachgebrauch - der »Fleischlichkeit« (oàçi;). Den the­ matischen Zusammenhang bilden dabei die »diesseitigen« Paradiesvorstellungen im Islam, insbesondere aber die Luther authentisch scheinenden Überlieferungen zur Ehe bzw. sexuellen Beziehungen, vor allem Mohammeds selbst, dessen Zügellosigkeit offenbar in die muslimische Lehre Eingang gefunden habe. Von daher ist Mohammed nicht nur Teufel (s.o.), sondern fluchwürdig, ein Schwein66. Daneben nimmt sich die Feststellung »Weib ist Mahmets Gott, Hertz und ewiges Leben. M. L.«67 vergleichs­ weise zurückhaltend aus. Nur einmal dient die Kategorie der Konkupiszenz in diesem Zusammenhang auch der innerchristlichen Selbstkritik, wenn Luther bei der Charakterisierung einer als libertinistisch - »so umb des freien leben willen«68 - einzustufenden Gruppe im Islam am Rande notiert: »Sicut apud nos«69.

63. 64. 65. 66.

67. 68. 69.

Luthers Randglosse zu Mk 3, 22 (1546): »»(Beelzebub) Ist so viel, als ein Ertzfliege, humel oder Fliegen König. Denn also lesset sich der Teufel durch die seinen verachten [verächtlich ehren], als die grossen Heiligen.« WA.DB 6, 145. E bd.zu374.19f. Luther hat hier erheblich gekürzt, vgl. ebd. 280 f. Ebd. 280. Ebd. zu 304,12 f. »O saw Abt und rangen Prior.«; ebd. zu 320,26 ff. »Das ist hunde und saw hochzeit, keine Ehe. [-] volkörnen Was das sey, das verdeudsche an meiner stat, der Teuffel oder Mahmets unfletigs saw maul selbs, pfu dich du schendlicher Teuffel und verfluchter Mahmet.«; ebd. zu 322,5 f. »Nemlich den Sewen und Hunden.« Schließlich zu ebd. 352,7-9: »Sic facile est, esse Prophetam ctiam pore is. « Ebd. 334,26-30. Ebd. 344.9. Ebd. 344,12 f.

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Ironische Beipflichtung Luthers Bewertung des Islam - gemäß der Darstellung der Conjutatio des Ricoldus trägt nicht nur den Charakter der sachbezogenen Polemik, sondern auch des persön­ lichen Affekts, der ironischen, ja sarkastischen Stellungnahme. Hierzu zählen die ein­ fachen Emphasen der vermeintlichen Zustimmung »O klugheit«70, »das ist wahr«71 in sprachlicher (Connotation des quasi-liturgischen Abschlusses »Amen«72 - in anderem Zusammenhang auch »forte«73 - , vor allem aber die Kommentare zu Überlieferun­ gen, Begebenheiten bzw. Erzählungen, deren absurder Charakter durch Luthers Wort­ wahl verstärkt wird. So wird die islamische Paradiesvorstellung mit dem Attribut »Schlauraffenland« belegt7475, die »Fliegengeschichte« (s.o.) nicht nur dem Beelzebub als Herrn der Fliegen zugeordnet, sondern mit der so harmlos wie lästigen »Humel« in Verbindung gebracht73. Ironisch wird gefolgert, daß nach Gesagtem eine Fliege klüger als Salomo sein müsse76. Spannungen der islamischen Erlösungslehre (nach der Conjutatio) lassen nur den Schluß zu, daß der Teufel zum Gott erhoben werde77. Die schlecht überlieferte Erzählung von der Täuschung der Teufel wird aufgenommen mit einer nahezu Mitleid erweckenden Anteilnahme an deren Unerfahrenheit: »Das sind alber und junge Teufel gewest«78, wie überhaupt Luther seine Freude auch an volkstümlichen Bildern zur Kennzeichnung des Teufels und seines Tuns zum Aus­ druck bringt79. Freude zeigt Luther auch daran, gleichsam als kindlicher, gar närri­ scher Zuhörer Zeuge der Wahrheit zu werden - zur Entlarvung des Unhaltbaren im Koran. Von daher weist das Stilmittel der Ironie Züge der Überzeichnung des Geschil­ derten und des kaum intendierten wortwörtlichen Verständnisses auf: Die Spekula­ tion, daß die Körper der Seligen im Paradies lediglich über den Schweiß entgiftet werden, gibt Luther mit der Bemerkung »O ein starcker schweis mus das sein«80 der Lächerlichkeit preis. Gleiches gilt für die »Frage« Luthers hinsichtlich des endzeit­ 70. 71. 72. 73. 74.

75. 76. 77. 78. 79. 80.

Ebd. 280.22. Ebd. 282,2 f. Zu den vermeintlichen Bestätigungen zu zählen sind auch Feststellungen wie: »Hie stehet das züchtige Mahmets wort.« Zu ebd. 298,11>13. Vgl. a. »Das ist gewislich war.« Zu ebd. 348,12. Ebd. 350,29. Ebd. 300,12 und 322,10. Der Zusammenhang weist auf den eindeutig polemischen Charakter der Marginalien hin. Dabei ist das Exempel des Schlaraffenlandes bei Luther sonst keineswegs polemisch zu verstehen: Vgl. Luthers Erzählung vom Paradiesgarten, WA.BR 5, 377 f., und Lu­ thers Äußerung, WA.TR 2, 497 von 1532: »lohannes Luther, filius meus, puer ad mensam sedens serio semel dicebat summum gaudium in coelis esse edendo, saltando etc. Illic flu men esse, quod lacte manaret, et ibi similagines sporne crescere. Hoc genus vitae omnium est beatissimum. Non enim habet curas politicas neque videt ecdcsiastica monstra neque patitur terrores mortis aut futurarum infirmitatum; tantum bona speculantur pueri.« Auch für den Glauben kann also die Erzählung vom Schlaraffenland durchaus propädeutische Funktion wahrnehmen oder steht für einen ungeprüften und unbeschwerten Kinderglauben. Ebd. 296,5 f. »Salomo ist nicht so klug, als eine Fliege.« Zu ebd. Z. 13-16. »Id est, Diabolus est etiam deus.« Zu ebd. 310,14 f. Ebd. 298,1-3. Z. B. zur Kennzeichnung des Appetits des Teufels nach Verdammten: »Hie reucht [riecht) der Tcuffel Meuse.« Ebd. 300,16 f. Ebd. 323,23-25.

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liehen Szenarios, das den Tod alles Geschaffenen impliziert, und des entsprechend nur sinnlos erscheinenden Rufens Gottes vor der Neuerschaffung, denn: »Wer wirds hö­ ren, wenn niemand da ist«81. Die »realistische« Zuspitzung pleophorer Rede ist es auch, die Luther den virtuellen Leser seiner Glosse angesichts der Vielsprachigkeit des Engellobes Gottes zum rechnerischen Erfassen solchen Sprachphänomens auffor­ dern läßt: »Rechen, Wie viel sprachen ein Engel habe«82 - immerhin bei der Vierer­ potenz der Zahl 700000. Mag die Zuordnung der Luther fabulös anmutenden Traditionen zur klassischen Mythologie noch wohlwollend genannt werden83, so läßt der Reformator keinen Zweifel über den letzdich doch nur dubiosen und schließlich lächerlichen Charakter der Überlieferung. Dies zeigt der Vergleich mit der Kunz Hellebrand-Tradition84, der Brandanlegende8’, Sebastian Brants »Narrenschiff«86 bzw. mit Lukians »Flug des Menippos«87. Luther bemüht ein breites Spektrum an klassischer wie zeitgenössischer Unterhaltungsliteratur, rechnet also mit Rezipienten, die immerhin lese- und schrei­ bekundig vorgestellt werden müssen. Die Torheit »Mohammeds« - gemeint sind hier die Mohammed zugeschriebenen außerkoranischen Traditionen, die hadithe - wird in ihrer Unsinnigkeit für Luther in 81. 82. 83.

84.

85.

86. 87.

Ebd. 338.24-26. Ebd. 362,32-34. Bzgl. der unvorstellbaren Zahlen (Lebensalter) in der Bibel urteilt Luther an­ ders, vgl. H. Bornkamm, Luther und das Alte Testament, 161. »Poeticum est, ut de Joue et Satumo, de Sole et Phaetonte. M. L« zu ebd. 336,11-14, wobei zu erkennen ist, daß weniger der poetische Charakter, als der Streit zwischen Göttern die Pointe der Randglosse bildet. Zur Stelle s.a. Confutation ed. Ehmann, 263 (Kommentar). Vgl. dazu O. Brenner, Kunz Hildebrand. Eine Wortgeschichte, in: Zeitschrift für Deutsche Wortforschung 14 (1912/13); 132-137. Luther hat sich des »Kuntz« in der Auslegung gerne bedient, vgl. WA 10/1, 624,8 f. (Kirchenpostille 1322): »Drumb gehet es hie, wie die pawrn sagen: Cuntz hildebrand, der grosse walvisch, tregt die weit auff dem schwantz«; und WA 31/1, 202,30-32 (Auslegung des 82. Psalms 1530): »Und sind freylich [die Pfaffen] der grosse walfissch, Cuntz Hildebrand, der wellt auff seinem schwantze tregt, wie die bäum sagen«. Das Mo­ tiv einer Insel (Welt) auf dem Schwanz des Wals ist Teil der Brandanlegende. Zur Brandanlegende aus dem 12. Jahrhunden vgl. Rupprich, Literaturgeschichte IV/1, 100. D on auch die folgende Inhaltsangabe des Volksbuchs, einer Nachdichtung des 15. Jh. über den Wundem keinen Glauben schenkenden und diese selbst suchenden Brandan: »Der Inhalt des Brandan-Volksbuches ist eine bunte Mischung von Wundem: Drache und Meerweib; Lebermeer und Magnetberg; Insel auf dem Rücken des großen Fisches und Insel der gepeinigten Unbarm­ herzigen; Kloster, dessen Mönche durch eine Taube aus dem Paradies gespeist werden; Gregorius auf der Felsenklippe und Judas auf dem glühenden Stein; Insel der Seligen und das finstere Land; gute, böse und neutrale Engel, ln der deutschen Fassung fällt die possenhafte Figur eines Mönchs auf, der in goldenem Inselsaal einen Zaum stiehlt. Zuletzt kommt auf einem Blatte ein Däum­ ling, der mit einer kleinen Schüssel das Meer ausmessen will, und sein Tun für ebenso vernünftig hält wie Brandans Unterfangen, die Wunder selbst sehen zu wollen. Daraufhin tritt Brandan die Rückfahrt an. Der unterhaltsame Stoff sicherte der Legende große Beliebtheit und langes Fortleben.« Sebastian Brant, Das Narrenschiff, Erstausgabe Basel 1494. Zur Würdigung Brants: vgl. Rup­ prich, Literaturgeschichte, 580-585 u. ö.; zum »Narrenschiff vgl. 583 f Zu den Traditionen vgl. Confutation ed. Ehmann, 264 f. (Kommentar). Belege der Glossen in WA 53, 338, zu Z. 3-5. Luthers Urteil über Lukian ist hart und aus einer Bemerkung Luthers über Erasmus zu gewinnen, den er dem Atheisten und Epikureer Lukian gleichsetzt; vgl. WA. BR 5.28,11.

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der Weise evident, wie auch der Kuckuck nicht anders kann, als sich selbst im eigenen Rufen zu entlarven88. Der Koran selbst enthält Banalitäten wie bspw. die Aussage, Gott habe die Welt nicht zum Scherz erschaffen, was Luther zur Anführung eines (nicht nur ihm89) geläufigen Sprichworts reizt90. Unwahrhaftig ist aber zunächst einmal Mohammed als angeblicher Prophet selbst: Denn er läßt sich bezaubern: »Einen Propheten bezaubern«91! Er verlangt Lächer­ liches: »Vel an velit omnes Arabicam liguam [sic] discere«92, seine Gottesbeziehung und Gebetspraxis ist oberflächlich: »Er ist des Betens m&de worden, drumb wil er sich so los feylen [kaufen] mit LSgen«93. Schließlich ist festzuhalten, daß die Ironie der vermeintlichen Zustimmung hin­ sichtlich der Spannung von vorsätzlicher Lüge und unfreiwilliger Wahrheit durchaus Anhalt am Text findet. Ist es nicht der Koran, ja selbst Mohammed, die Zeugnis ge­ ben, »Wie der Teuffel Christum Gottes son lobet«9495? Der Ausruf »O heilsam Gesetz99« weist bereits auf die Gesetzesproblematik und damit auf die antikatholische und theo­ logische Polemik hin (s. u.). Ethnische Polemik Luther bedient sich keineswegs nur der persönlichen Invektiven gegen Mohammed, sondern auch der summarischen gegenüber Gruppen. Zu erinnern ist zunächst an die Eintragung der Juden in die Geschichte der Häresien. Dann werden Teufel, Sarazenen und Türken gleichgestellt96. Allerdings ist zugleich zu fragen, ob Sarazenen und Tür­ ken tatsächlich gleichgesetzt werden, oder ob nicht vielmehr in ihrer Gleichstellung auch die Differenzierung zwischen islamischer (Sarazenen) und kriegerischer (Tür­ ken) und deren zweifache teuflisch Bedrohung zumindest mitschwingt. Luthers Ein­ trag der Türken an dieser Stelle ergibt wenig Sinn. Eindeutig ethnischen Bezug, der sich auch in der Übersetzung niedergeschlagen hatte, hat die Glosse »Araber Lands­ leute Mahmeti«97*. Luther kennzeichnet - über die Vorlage des Ricoldus hinaus - die

88. 89. 90.

91. 92. 93. 94. 95. 96. 97.

Ebd. WA 53, 340,2, sprichwörtlich: »Kuckuc seinen namen.« Vgl. das »ut nos tri«, ebd. zu 350,33, das wohl eher für sprachliches Gemeingut stehen dürfte. »Er [Gott] hat den Himel nicht den Gensen gemacht.« zu ebd. Z. 34-36. Vgl. auch WA 18. 636,21 ff. (De servo arbitrio 1525). Zum Mißverständnis der koranischen Tradition vgl. Confiétatio, ed. Ehmann, 281 (Kommentar); zum Sprichwort selbst vgl. Thiele, Luthers SprichwörterSammlung, 37; vgl. auch im »Narrenschiff« (Lemmer) 38,8 f. Zur Konstatierung der Banalität dient die rhetorische Frage: »Was ist das gesagt«? WA 53, 347,31 f. Ebd. 376,5 f. Ebd. 380,17-19. Ebd. 363,1-5. Ebd. 378,25-28. Ebd. 384,26. Ebd. 282,1-4: »das ist war, TeufFel [und] Sarracen, T&rck sind ein Ding.« Zu ebd. 282,25 f. Vgl. auch Luthers Randglosse zu Jes 18, 1, die eher theologisch als ethnisch bestimmt zu sein scheint, in der Bibelausgabe von 1545: »Das Land [sc. Kusch] ligt zwischen Egypten vnd dem Rothenmeer, die [Bewohner] man heißt Troglodyten, Egyptios, Arabes, Ismaeliten. Ein wüste, wild, reubisch Volck, die sich auch rh&men, daß sie von Reuberey vnd freuel sich necren sollen.« WA.DB 11/1,67.

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Araber »als die wilden, rohen leute«98, die als Landsleute Mohammeds offenbar dessen schlechte Charaktereigenschaften, »fleischliche Lust, Raub und Mord«99, teilen. Mordlust der Sarazenen ist auch der Anlaß der rhetorischen Frage, ob nicht angesichts der durch sie in alle Welt geschickten gedungenen M örder100 vermutet werden könne: »Wie? wenn das die Zigeunen oder Tattern weren«101?! Schließlich werden die Araber mit der schwarzen Kunst in Zusammenhang ge­ bracht102. Es dürfte kaum zu klären sein, ob hier reine Polemik vorherrscht oder Lu­ ther auf die besonderen medizinischen Kenntnisse der Araber im Mittelalter an­ spielt103. Für den polemischen Charakter spricht die mehrfache Apostrophierung Mohammeds als eines Menschen, der »mit schwartzer Kunst umb gieng«104. Antikatholische Polemik Von besonderer Bedeutung ist Luthers antikatholische Polemik. Die diesbezüglichen Glossen belegen und illustrieren zum einen die in nahezu allen größeren Lutherschrif­ ten stereotyp wiederkehrende Polemik gegen Altgläubige und Muslime bzw. Türken, denen häufig die Juden (s.o.) beigesellt werden. Zum anderen besitzt die Frage her­ meneutische Tragweite: Ist, wie insbesondere Hagemann vermutet105106, Luthers Islam­ bild von seiner antikatholischen Polemik her entworfen, hat also Luthers Theologie als reformatorische Theologie nahezu zwangsläufig antiislamischen Charakter, oder argu­ mentiert der Reformator vom spezifischen Zentrum seiner Theologie aus nach ver­ schiedenen Seiten, die zugleich als die zwei Seiten einer Medaille zu gelten haben? Die Frage ist hier nur aufzuwerfen und an späterer Stelle zu diskutieren. Im Zusammenhang der Erörterung des Verhältnisses von Tugend und Bekenntnis bzw. dem Aufweis der schreienden Untugenden im Islam und der Untauglichkeit zur Rettung durch die Rezitierung des spirituell entleerten Bekenntnisses zu G ott und Mohammed (shahada,06J trägt Luther massive Kritik am römischen Ablaß vor107: Sünde und Schuld werden kaschiert, wenn es dem Mörder durch formelles Genügen religiöser Pflicht (shahada - RosenkranzMw M aria) gelingt, sich der Verantwortung 98. 99. 100. 101. 102. 103. 104. 105.

Vgl. ebd. 282,26. Ebd. 282,25. Vgl. ebd. 346,1-5. Ebd. 346.4-6. Vgl. ebd. 352,26; dazu »Ut Arabes.« Vgl. wieder Hunke, Allahs Sonne. 109-190 (»Heilende Hände«). Ebd. 276,32 f. Hagemann, Der Islam in Verständnis und Kritik bei Martin Luther, MS, 19f.: »Die Ausein­ andersetzung Martin Luthers mit dem Islam ist im wesendichen von zwei Faktoren bestimmt: 1. Sie ist geprägt von der damaligen Bedrohung Europas durch die muslimischen Osmanen. 2. Sie steht ganz und gar im Zeichen seiner eigenen existentiell ausgetragenen Kontroverse mit Rom. ... Die Parallelisierung von Papsttum und Islam ... wirkte sich verhängnisvoll aus: Denn dadurch projizierte Luther das Bild eines seinerzeit entstellten und verzerrten Katholizismus in der ihm eigenen Weise der Zuspitzung auf den Islam und qualifizierte ihn als Religion der Werk­ gerechtigkeit papistischer Couleur ab.« 106. Das islamische Bekenntnis zur Einzigartigkeit Allahs und Sendung Mohammeds. Vgl. dazu u. 136 u.ö. 107. WA 53, 300,1-4: »Ut in Rosario, Mörder, sprich ein Ave Maria, so bisru selig.«

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vor Gott zu entziehen und gar Gottes Gebot verachtend (dennoch) Seligkeit zu er­ wirken. Die schon erwähnte polemische Glosse »O saw Abt und rangen Prior«108 ist zu nennen wegen ihrer antikatholischen Tendenz durch Einkleidung des durch sitt­ liche Verfehlung ausgezeichneten Mohammed in die monastische Hierarchie. Luther knüpft damit an die antiklerikalen Affekte seiner Zeit a n 10910.Die islamische Zeremonie des Waschens, d.h. der rituellen Reinigung (wudu) uo, wird bei Ricoldus als »unver­ nünftig«111 bezeichnet, bei Luther als »nerrisch und lecherlich«112 aufgenommen, dann aber - in Aufnahme der Islamkritik des Ricoldus gegen dessen Intention - anti­ katholisch gefärbt durch Übertragung der Kritik auch auf den römischen Weihwasser­ ritus, eingetragen wieder als emphatischer Einwurf (Seufzer oder rhetorische Frage): »O Weiwasser wo bistu«113. Als »päpstlich« wird die Ungewißheit der Botschaft Mo­ hammeds charakterisiert, d. h. die Frage der Heilsgewißheit in antirömischer Tendenz in die Kritik an Mohammed eingetragen11415. Luthers stark erweiternde Übersetzung zeigt, daß er die Confutatio dabei mißverstanden hat: Es geht um die ungewisse Zu­ kunft der Anhänger Mohammeds - »der Seinen«113 - , nicht um die Frage des Heils seiner Eltern116 nach dem Tode. Aus der islamisch-»heilsgeschichtlichen« Frage auch noch bei Ricoldus ist bei Luther eine christlich-existentielle geworden. Schließlich ist auch unter dieser Kategorie zu nennen die Identifizierung des unwahrhaftigen Umgangs mit dem Willen Gottes im Koran und der auf unwahrhaftiger Verdrehung seiner Lehre fußenden Verurteilung Luthers durch die altgläubige Sor­ bonne117.

108. Ebd. 304,12 f. 109. Vgl. Hans Jürgen Goertz, Antiklerikalismus und Reformation. 110. Oberblick bei Raeder, Der Islam und das Christentum 264 f. In der Confutatio! Verlegung ist von der sog. »kleinen« Waschung (umdu) die Rede» ergänzt durch die Bestimmungen zur »Staub­ waschung« (tayammun). 111. »irrationabilis est omnino«, ebd. 315,38. 112. Ebd. 320,17 f. 113. Ebd. 320,18 f. 114. Ebd. 376,1-5: »Papale, Nescit homo, utrum amore an odio dignus sit.« (vgl. Pred 9, 1 ®). Der Sinn der Glosse ist insofern nicht ganz klar, als »homo« sowohl auf Mohammed als auch auf den Papst, als auch auf den Menschen an sich bezogen sein könnte, wodurch die in der Tendenz gleiche Aussage sich in Nuancen verändert. Die Frage der Hcilsgewißheit bleibt in jedem Fall Skopus der Bemerkung Luthers. Die Glosse rührt als Zitat aus Pred 9 nicht nur am Problem der Hcilsgewißheit im Islam oder Papsttum, sondern führt in die Anfänge von Luthers reformatorischem Durchbruch: Luther veranschaulicht sein (neues) Verständnis der Gewißheit in der He­ bräervorlesung (1517/18), u.z. in der Auslegung von Hebr 9, 24. ln diesem Zusammenhang ist Pred 9, 1 herangezogen als Beleg des Versuchs, die Menschen ungewiß über Gottes Barmherzig­ keit und Heilszuversicht zu machen Vgl. WA 57/3, 216,2-8. Zum Gewicht der Stelle beim frü­ hen Luther vgl. Mau, Heilsnotwendigkeit, 50 f. 115. »fiet ac suis« ebd. 377,32. 116. Vgl. Luthers Zusatz: »Daher man auch redet, Er habe gesagt von seinem Vater und Mutter: »Ich wolt gern wissen, wie sie gelebt haben oder wie es jnen gienge.Bulle so betont Luther weniger die Neigung, als den Charakter des Ausgeliefert-Seins: »der in fleischlicher Unzucht ersojfirn«207. Gesteigert wird der Affekt der Trauer des Dominikaners - »ut tristiciaplenus essem« 204. Die Analyse basiert methodisch insbesondere auf den germanistischen Studien Birgit Stolts. Zu nennen sind neben der bereits angegeben Literatur auch die Konferenzberichte: Luthers Sprachschaffen, hg. von Joachim Schildt, 3 Bde.; zur Terminologie der Rhetorik wird v. a. zurückgegrif­ fen auf: Heinrich Lausberg, Elemente, und: ders., Handbuch der literarischen Rhetorik, 2 Bde.; daneben weiterhin auf Wolfgang Babilas, Tradition. Zu nennen ist darüber hinaus Bernhard Sowinski, Stilistik, sowie wieder Ueding/Steinbring, Grundriß der Rhetorik; zur Sprachanalyse ist Guchmann, Sprache, erneut herangezogen. Die rhetorischen Elemente werden belegt nach Lausberg, Elemente, mit Nennung der jeweiligen Kurzparagraphen. Zur grundsätzlichen Cha­ rakterisierung der Stilistik Luthers, vgl. Wolf, Luther, 126: »Je nach Anlaß und Kontext benutzt er bei seinem literarischen Engagement eine differenzierte Skala stilistischer und rhetorischer Gestaltungsmöglichkeiten sowie verbaler Ausdrucksweisen. Dazu kommt sein Einsatz affektgetragener Abtönungen, die als Widerspiegelung der unmittelbaren Erregung und des persön­ lichen Temperaments den Schriften des Reformators ein charakteristisches Gepräge verleihen. Welch schöpferische Kraft ihm gerade im Affekt zuströmt, vor allem in Gestalt wirkungsvoller Bilder, weiß L. wohl zu schätzen: »Nunquam mihi melius procedit orare, praedicare, scribere, quam cum irascor. Ira enim erfrischt mir mein gantz geblut, aeuit ingenium, propellit tentationes.«... WATR 2. (Nr. 2410a)« (WA.TR 2, 455,33-35). 205. Dabei ist erneut zu beachten, daß die Sprachfiguren häufig mehreren Kategorien zuzuordnen sind. Methodisch vertretbar erscheint, bereits an dieser Stelle auch die sprachliche Analyse des Vor- und Nachwortes Luthers zur Verlegung einzubeziehen. 206. Lausberg, Elemente, §§ 228-231. 207. WA 53, 277,17 und 276,32 (Hervorhebung J. E.). Die Rede ist stereotyp und steht im Zusam-

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im bildlichen Ausdruck völliger Vcreinnahmung: »das ich mit grosser trawigkeit über­ schüttet v/vd***. Für Ricoldus steht bezüglich der altkirchlichen Häresien fest, »quod omne coenum ... in Mahometum comprehensim eu(an)uit«. Luther übernimmt aus einem Neben­ satz diabolus als Subjekt. Bildhaft wird die unappetidiche Fülle der Irrlehre geschil­ dert: Den »unflat... den hat er durch M ahmet auf einen hauffen heraus gespeiet«209. W ährend Ricoldus die Widersprüche Mohammeds mit der rhetorischen Frage würdigt: »Quomodo autem rursus rcmisit hos Mahometus ad falsa testimonia, si quidem verus fuit propheta, ut dicunt?«, nimmt Luther die Frage auf, um den sachlichen Widerspruch als Selbstwiderspruch Mohammeds zu veranschaulichen: »Sind nu die B&cher der Biblia verfeischt, warumb weiset er seine Sarracener zu fälschen Büchern, ist er ein Prophet der warheit? und hewet sich hie selbs in die Backen«210. Im gleichen Zusammenhang der Glaubwürdigkeit des Evangeliums gibt Luther »quomodo tationabile« mit »wie reimet sichs« wieder, das blasse »addi« mit »geflickt«. Damit sind künsderische (Poet) und handwerkliche (Schneider) Tätigkeiten eingetragen. Ebenso wird der Mangel an logischer O rdnung in der Argumentation Mohammeds - »et neque ordinem habet argumentationum« - von Luther bildhaft vor Augen geführt: »Viel weniger bleibt er auff dem wege, Wenn er soi etwas nacheinander bewei­ sen ...« 21‘. »Ab eo [Mohammed] dicitur« übersetzt Luther mit »Als da er stets daher wesscht«212, womit das sprichwördiche Gerede der »Waschweiber« assoziiert ist. Aus­ geführte Sprichwörter tauchen nur als Randglossen auf213. Bereits im Nachwort, also nicht als Teil der Übersetzung, finden sich weitere Bei­ spiele metaphorischer Rede: Dem Koran Glauben schenken, von dem Mohammed selbst (angeblich) bekennt, nur ein Viertel davon sei wahr, bedeutet »im Sack keuffen« oder »drey lot giflft unter einem lot zucker gemischt«214. Die »Hucken oder Sarracenen ... sind ... nicht werd, das sie Menschen heissen, als die gemeiner Menschlichen vernunfit beraubt, lauter ummenschen, Stein und Klotz worden sind«213 In der sprichwördichen Rede von Stein und Klotz - auch im Lateinischen in der Rede von tapis et

208.

209. 210.

211. 212.

213. 214. 215.

menhang mit »säuischem« Wesen, vgl. Luthers Randglosse zu M t 7, 6 (1546), WA.DB 6,37: »Sew sind, die ersoffen in fleischlicher lust, das wort nicht achten.« WA 53,277,35 und 278,18 (Hervorhebung J. E.). Daß Luther hier aufgrund von Textverderbt­ heit einem Mißverständnis erlegen ist, berührt die Analyse nicht. Vgl. Confiuatio, cd. Ehmann, 34 und 200 (Kommentar). Ebd. 279,27 f. und 278,25-27. Ebd. 289,17 f. und 288,1-3. Das Bild gebraucht Luther bereits 1527 im Sinne des sich selbst Lügcnstrafens gegen die Schwärmer, vgl. WA 23, 2 14,17 f. (D aß diese Wort Christi ... noch fest stehen). Ebd. 349,1 f. und 347,12f. Ebd. 349,5 und 347,14. Strittig ist, ob es sich dabei auch um ein Beispiel metaphorischer Spra­ che handelt, vgl. Stolt, Rhetorik, 74. Luther hat zum Terminus in der Auslegung des 101. Psalms (1534/35) selbst eine Erklärung geliefert: »züngen dresscher oder (aüff Deudsch) Wesscher«, ebd. 673,16f. S.o. 86 die beiden genannten Beispiele, Anm. 88 und 90. Ebd. 388,22 f. Das Motiv des Giftes spielt auch im 12. Kapitel eine Rolle, wo »magna et mala mendacia« mit solch grosse gifftige lägen« übersetzt. Vgl. ebd. 353.4 f. und 350.24. Ebd. 3 8 8 .3 3 -3 8 9 ,2 .

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truncus geläufig216 - wird die Unfähigkeit zur Vernehmung (Vernunft!) der Wahrheit anschaulich. Schließlich wird die »Reinheit« des Papstes bildhaft ironisiert in der Aus­ sage, er sei »lilienweiß«217218. Erweiternde Erläuterungen (expolitio/illustratio)m Häufig anzutreflfen sind erweiternde Erläuterungen, wenn fur Luther die Ausführun­ gen der Conjutatio zu knapp gehalten sind, um tieferes Verständnis zu wecken: Im Zusammenhang pluralischer Gottesrede im Koran und der Bestreitung der Trinitäts­ lehre fuhrt Ricoldus die koranische Rede ein mit »deum pluraliter loquentem«. Luther dupliziert den Terminus, um ihn mit wörtlicher Rede des Subjekts im Beispiel zu erläutern: »das er [Gott] in zweier personen namen redet und sich jrzet und spricht: »Wir haben das gethan, wir haben das geboten< etc.«219. »Deum autem secundum veritatem dici, omnino ridiculum putat« übersetzt Luther mit: »Aber das er sott ein rechter, Natürlicher, wesentlicher Gott sein, das ist jm seer lecherlich, Und heit die Christen fur lecherliche grobe narren, die solchs gleuben«220. Das Beispiel steht einerseits fur die häufige Praxis Luthers, einen lateinischen Termi­ nus durch mehrere deutsche Wörter zu übersetzen2212 - secundum veritatem durch »recht, natürlich und wesentlich« - andererseits fur die Übertragung eines statischen Begriffs (veritas) - in personale und aktive Kategorien tätiger Subjekte (Christen als vermeintliche Narren, die doch Wahrheit glauben). Stellenweise finden sich Erläuterungen, die im theologischen Interesse Luthers be­ gründet sind: Die thetische Überschrift des 3. Kapitels lautet bei Ricoldus: »Quod lex haec non est lex dei propterea, quod neque vetus, neque nouum testamenturum hanc testamur.« Luther legt hier offenbar besonderen Wert auf den Verheißungscharakter der Schrift. Für den Reformator ist entsprechend zu zeigen, »das der Alcoran nicht sey Gottes gesetz, weil weder alt noch new Testament, dauon zeugen noch Weissagern111. Auch diese Erweiterung verläßt die res der Vorlage nicht, im Mittelpunkt steht die Glaubwürdigkeit der biblischen Überlieferung, die sich für Luther jedoch nicht in der Bezeugung des Vergangenen erschöpft. In den direkten Zusammenhang der Stelle gehört das weitere Beispiel klärender Erweiterung: »Solus autem Mahometus consti­ tu é seipsum et de seipso testimonium perhibet« übersetzt Luther mit »... er selbs und allein zeuget von sich selbs, on wunderzeichen und on schrifft, darumb kan er von Gott nicht sein, und ieuget, da er sich rh&met, Er sey der gantzen Welt Prophet«223. Das Falschzeugnis Mohammeds wird dadurch hervorgehoben, daß weder Wunder noch Schrift ihn als Propheten bezeugen und verheißen. Die Folgerung folgt auf dem Fuße. 216. Die früheste derartige Wendung (hier alliterativ: lapis et lignum) findet sich bei Luther wohl in den Decem praecepta (1516), dort in der Auslegung des ersten Gebots, vgl. WA 1, 400,27. 217. »Der Lielien weisse ... Babst« cbd. 396,4. 218. Lausberg, Elemente, §§ 365-377. 219. Ebd. 279.31 f u n d 280,4-6. 220. Ebd. 281,12 f. und 280,12-14. 221. S.u. den folgenden Abschnitt 107f. 222. Ebd. 287,23 f. und 286,19f. (Hervorhebung J. E.) 223. Ebd. 287,29 f u n d 286,22 f.

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»Calyphas« gibt Luther wider mit »Sarracenischer Calyphas oder Soltan«224, womit nicht nur der Begriff /^///erläutert, sondern auch der zeitgenössische Bezug zum tür­ kischen Sultan hergestellt wird. Illustration und aktualisierende Konkretion wecken Aufmerksamkeit. Naturgemäß häufig finden sich die besonderen Stilmittel Luthers in den eigenen ergänzenden Abschnitten. Hier liegt ein klarer Hinweis auf Luthers Übersetzungs­ theorie und -praxis im Befolgen einer frei adaptierenden Übertragungsmethode vor225. Die Orientierung am Leitgedanken (res) bleibt erhalten, die sich an der Ziel­ gruppe orientierende Wortwahl226 (verba) dient der Veranschaulichung. Wird des Ricoldus Argumentation als untauglich oder zu schwierig angesehen, so versucht Luther, in eigener Stillage den Gehalt auch in seinem logischen Gefälle mit eigenen Worten nachzuzeichnen. Dazu drei Beispiele: (a) Während Ricoldus durchweg daran interessiert ist, die Wahrheit des götdichen Gesetzes und die Unwahrheit des Koran aufgrund von dessen Nichtübereinstimmung mit der Schrift rational und logisch zu erweisen, betont Luther den personalen Ent­ scheidungscharakter. Nicht Sachwahrheiten stehen im Vordergrund, nicht Rationali­ tät, sondern die Frage von Lüge und entsprechendem Verdammungsurteil. So rückt an die Stelle der Ausführungen des Ricoldus, der Conclusio des Kapitels: »Manifestum igitur, quod Alcorani non est lex dei, propterea quod neque vetus lex neque euangelium, quae diuini leges sunt, et Mahometus confitetur, hanc testamur, sed potius aduersatur« die Quintessenz Luthers: Sie »müssen l&gener sein, Und sch&ldig mit uns die Biblia, so in aller weit gleich ist, zu halten, oder jren Alcoran durch sein selbs urteil verdamnen als ein L&gen buch«227. (b) Im Zusammenhang der poetischen Gestaltung (Metrik, Sprachrhythmus) des Koran macht Ricoldus selbst darauf aufmerksam, daß diese aufgrund sprachlicher Eigenheiten des Arabischen im Lateinischen nicht veranschaulicht werden kann. So beschränkt er sich darauf, den Anspruch der Göttlichkeit des Koran aufgrund seiner metrischen Sprachform zu bestreiten. Tragend ist das Argument, auch die biblischen Schriften redeten nicht so: Alcoran us »(est) igitur stilo rhythmicum vel metricum ... Quod autem stilo rhythmicum sit, per totum librum manifestum est legentibus. Exemplum autem huius non possum apponere, propterea quod non potest saluari rhythmus vel versus vere et secundum omnia, cum in latinum transfertur«228. Luther hin­ gegen unterschlägt das Problem der Wiedergabe aus dem Arabischen, vermeidet die W örter »rhythmisch« und »metrisch«, stellt auch die Frage der Metrik biblischer Bü­ cher zurück und bezieht das Problem auf die Frage der Seriosität einer Lehre, ins­ besondere der Predigt und Gerichtsrede: »Denn er [der Koran] ist durch aus auff Reim weise und Poetisch gestellet, wie man die Lieder zu singen macht. Solche weise aber zu reden, ist nicht allein wider die heilige Schrifft, Sondern auch wider aller Philosophen, Rechte und andere lere Bücher, on wo die gesenge sind. Denn es schickt sich nicht,

224. Ebd. 293,4 und 292,1. Die Stelle war Luther besonders wichtig, vgl. die bisher nicht genannte Glosse an den Leser »Nota«, zu ebd. 293,3. 225. Ergänzend s.u. 132. 226. S.u. 112. 227. WA 53, 293,27-29 und 292,17-20. 228. Ebd. 293,33-37.

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wenn einer predigen, leren oder fur gericht reden soit, das er daher keme mit reimen gefasst, als wolt er ein Lied singen oder Lotterböbisch spielen .. .«229. Und kurz darauf, ebenfalls in Erweiterung der Vorlage (Ricoldus spricht nur von Propheten und Phi­ losophen): »Denn nie kein Prophet, Rechtlerer oder Philosophus hat Poetisch oder reim weise geredt, wo er hat reden solen und dem gemeinen volck predigen«230. Hier wird nicht nur die Verständlichkeit von Lehre zum Kriterium erhoben, sondern Spra­ che am gemeinen Volk orientiert, wenn Lehre überhaupt sinnvoll oder gar heilsnot­ wendig sein soll. Die Frage der Verständlichkeit hat entsprechend rhetorischen und theologischen Rang, wenn die Einfachheit von Sprache am Beispiel Jesu selbst zu ler­ nen ist. Biblische Sprache und eloquentia simplex entsprechen einander, wie Luther in den Tischreden formuliert: »Christus hat am aller einfeltigsten geredt vnd war doch eloquentia selbst. Die propheten machens auch nicht hoch, sindt doch vill schwerer. Drumb ist am besten vnd die höchste eloquentia simpliciter dicere«231. (c) Wie sehr Luthers Stilmittel dabei mit theologischen Fragen verknüpft sind, zeigt das dritte Beispiel: Ricoldus übt Kritik an der Sprachform Mohammeds, der Gott in einer Weise sprechen lasse, als rede er von einem andern: »... hic est mos in deo, eum de seipso tanquam de altero dicere, quod deus est magnus et excelsus ...«232. Luther wendet die Kritik am islamischen Gottesbild in positive Aussagen über das chrisdiche Gottesbild als Selbstoffenbarung Gottes - Sätze, die leichter verständlich sind, und durch eine Reihung den zuwendenden Charakter Gottes betonen: »Denn es ist Gottes weise nicht zu reden also, in seiner eigen person: Wisset das Gott gros ist etc., Sondern die Propheten und andere reden von Gott also, Gott aber von sich selbs also redet: Ich bin dein Gott, ich habe alles gemacht, Mein ists alles, Ich bin gnedig etc.« Erst dann folgt die Abgrenzung: »Nicht also auff Alcoranisch: Gott ist dein Gott, also redet er von einem andern, das er nicht were ...«233. Schließlich ist auf das weiterfïihrencle Beispiel hinzuweisen, in dem Reihung, Illustration und indirekte Einbeziehung des Lesers (»Wir«), auch Ironie und grobe Volkstümlichkeit zusammenfinden234: Ricoldus hat - ausgehend von den Endzeitvor­ stellungen des Islam - die rhetorische Frage aufgeworfen, ob nicht aufgrund der in­ stinktgeleiteten Triebbefriedigung von Tieren gerade diese - im Sinne des Islam »selig« werden können235. Auch hier nimmt Luther wiederum die rhetorische Frage erweiternd auf. Der Frage »Und warumb halten wir nicht die unvern&nfftigen thiere 229. Ebd. 292,25*31. 230. Ebd. 292,34-294,1 f. 231. WA.TR 4, 664,21-24: Einfache und anschauliche Rede gehört zum Wesen der Apostel und des Heiligen Geistes selbst, vgl. auch WA 2, 603,38 - 604,3 (kleine Galaterbriefvorlesung 1319): »Ecce verba Apostoli non solum documento sed simul exemplo sunt. Apud Rhetores secul i gloriosissimum est verba ita ponere, ut in eis rem ipsam simul observari et geri videas, quod Paulus, immo spiritussanctus proprium habet.« 232. WA 53, 295,24 f. 233. Ebd. 294,16-21. 234. Vgl. auch den Abschnitt, der oben unter Ergänzungen angeführt wurde. Deutlich ist, daß die unter formalem Aspekt zu nennenden Ergänzungen Luthers in klarer Korrespondenz zu den material gewichtigen Stilmitteln stehen. Hier sind - im Zusammenhang massiv obszöner Spra­ che-gleich mehrere Reihungen anzutreffen. Stil und Inhalt münden rhetorisch geschickt in die emphatische Reihung des Schlußsatzes: »es mus alles fleisch, fleisch, fleisch sein.« 235. »(Q)uid prohibet et reliqua animalia irrationalia foelicia esse ...?«; ebd. 321,32f.

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selig« folgt die Illustration solcher »Seligkeit« in der Beschreibung des Trieblebens der »Hirschen und Eberschweine in der Brunst, und Hunde und Füchse, wenn sie laufFen oder rammeln«2362378.Letztendlich ist die (verzeichnete) Eschatologie des Islam nicht nur rhetorisch abgetan (Ricoldus), sondern - als Mittel der Rhetorik - der Lächerlichkeit preisgegeben (Luther). Wiedeigabe lateinischer Termini durch mehrere deutsche W örter als »Mittel der Parteilichkeit« (amplificatio)137 und der Emphase23* Auch die mehrfache Wiedergabe eines lateinischen Terminus bietet Luther die Mög­ lichkeit, die Verlegung gegenüber der Confutatio zu verschärfen. Bereits hingewiesen wurde auf das krasseste Beispiel der Übertragung von »irrationalis« durch »viehisch und Sewisch«. Auch hier ist die res - bei aller Polemik - nicht verlassen239. In gleicher Weise verfahrt Luther, wenn er »Nugatur autem« mit »da er aber gauckelt und narret« übersetzt240, ebenso in der Übertragung von »quod valde curiosi sunt« mit »das sie seer nigern und kfitzel sind«24'. Daß diese häufige Praxis wiederum im Zusammenhang mit erläuternden Erweiterungen steht, wird im folgenden deutlich: Während nach Ricoldus der Koran »turpissima et carnalia nomina« benutzt, wie sie nur »humi depressi« eigen sind, übersetzt Luther, der Koran gebrauche »unuerschempter, grober, unz&chtiger wort, ... wie Huren und Buben im hurhause oder sonst grobe unverschampte leute thun«242. Als Beispiel dreifacher Übertragung eines einzigen Terminus kann die Überschrift zum 10. Kapitel herangezogen weiden: »Quam violenta sit lex Saracenorum« gibt der Reformator wieder mit: »das Mahmets Gesetz M&rdisch, Ty­ rannisch und wütig ist«243. Mit dieser Übersetzung geht stillschweigend ein Subjekt­ wechsel einher, wenn die Zuordnung des Koran zu den Sarazenen hinter den Charak­ ter Mohammeds und dessen Urheberschaft zurücktritt. Die von Luther eingetragenen Eigenschaften sind schwerlich zur Charakterisierung eines Gesetzes geeignet, wohl aber von dessen Urheber. Luthers Übersetzung der Stelle ist deutlich von der auch sonst anzutreffenden Tendenz zur Personalisierung der Streitfragen (Teufel, Moham­ med, Satan usf.) getragen. Beispiele einer deutenden Wiedergabe im Sinne der Emphase sind zu finden, wenn Luther zusätzlich zum Nomen aus eigenem Antrieb adjektivische Ergänzungen vor­ nimmt. Die Überschrift zum 9. Kapitel lautet bei Ricoldus lapidar: »Quod lex Sara­ cenorum commet mendacia.« Luther nennt das Kapitel »von öffentlichen, groben

236. EM. 324,23-25. 237. Lausberg, Elemente, $$71-83. Die amplificatio ist hier in ihrer rhetorischen, nicht in überset­ zungstheoretischer Perspektive betrachtet. In rhetorischer Perspektive gilt: »Die amplificatio ist ... ein Mittel der Parteilichkeit..., und zwar sowohl im intellektuellen ... als auch im affektischen Bereich.« EM. $ 71. 238. Lausberg, Elemente, $$208-210. 239. S.o. 78 f. 240. WA 53.283,7 und 282,11. 241. EM. 285.2 und 284,20. 242. EM. 295,26-28 und 294.22-24. 243. EM. 341.1 und 340,30.

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Lögen des Alcorans«244. Der notorische Charakter des Koran ist Luther offenbar we­ sentlich, er bietet an das Kapitel anknüpfend den Einstieg in die Ausführungen des Nachworts. Das gleiche Verfahren - hier noch stärker entfaltet - ist bei der Überset­ zung der Überschrift zum 14. Kapitel festzustellen: Während Ricoldus »De fictione improbatissimae visionis« spricht, also von der Erfindung einer höchst unredlichen Vision, spricht Luther »Von einer sonderlichen, schendlichen grossen Lögen und ge­ sicht«245. Während »visio« einfach mit »gesicht« übersetzt wurde, ist »improbatissimus« zergliedert in einen exzeptionellen, ästhetischen und ethischen Aspekt, der Su­ perlativ mit »groß« wiedergegeben. Reihungen (enumeratio)246 gleichbedeutender Wörter (synonyma)1*7 Die Stilform der Illustrierung und Betonung erscheint häufig eingebettet in Reihun­ gen, wie sie sich bereits in der rhetorischen Anlage bei Ricoldus in Fülle finden. Luther folgt diesen Reihen, sie werden zuweilen ergänzend fortgefuhrt, vor allem jedoch bild­ haft erweitert. Besteht die islamische Paradiesvorstellung fur Ricoldus »in cibis videlicet et in intemperantia, et in hortis et vestibus sumptuosis«, so formt Luther offenbar eine die Aufmerksamkeit steigernde Klimax: »So setzt er auch die Seligkeit des Menschen in fleischlicher lust, in essen, trincken, schönen Kleidern, Lustigen garten, Höbschen reinlichen frawen ...«248 - geradezu ein Szenario höfischen Lebens. Daß die Reihungen von Luther bewußt als rhetorische Stilmittel eingesetzt sind, zeigen Beispiele aus dem Nachwort, in dem Luther unabhängig von einer Vorlage for­ muliert: »Glück« wird in Apposition erläutert durch Sieg, Gut, Ehre, weltlich fleisch­ liche Herrlichkeit und Lust; das Herz der Türken ist voller »Mammon, zeitlich Gewalt, ehre und Lust«, Sünde wird veranschaulicht durch »Ehebruch, Raub, Diebstal, geitz, wucher, fluchen, Gott verachten«249. Reihungen korrespondieren einander, wenn die »Mahmetisten« als solche beschrieben werden, »die sich mit dem Teufel verbinden, verpflichten und verschreiben, das er jnen solle bey stehen, helffen und raten ...«25°. Affektiv-empathische Sprache251 Bereits die angeführten Beispiele belegen den emotionalen Charakter von Luthers Übersetzung. Psychologische Einfühlung, aber auch Ironie und Polemik wecken Af­ fekte, die zur Realisierung der persuasio gehören: Im Zusammenhang einer die angeb244. 245. 246. 247. 248. 249. 250. 251.

Ebd. 327,24 und 326.2. Ebd. 359,14 und 360.22. Lausberg. Elemente. §§ 298-305. Lausberg. Elemente, §§ 282-285. WA 53, 299.28 und 300.2-4. Ebd. 390.7 f. 19. 22 f. Ebd. 389,17 f. Lausberg, Elemente, §§68-70. Aufschlußreich zur Kennzeichnung des Duktus der Verlegung ist §68: »Die sich aft'ektischer Mittel bedienende Herstellung einer affektischen Zustimmung ... des Situationsmächtigen zur Parteimeinung des Redners geht von der Annahme aus, daß die aftcktische Zustimmung ein sicherer Handlungsimpuls für die Durchführung der vom Redner

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liehe Abstrusität des Koran belegenden Erzählung ist bei Ricoldus von »daemones currentes« die Rede. Luther bildet aus dem Partizip einen Aussagesatz, es ist jedoch nicht mehr von herbei eilenden Dämonen die Rede, sondern »die Teuffel ließen frhlieh zu .. .«252. Die Anekdote hat an Affekt gewonnen. Ein weiteres Beispiel belegt die theologische Tragweite: Ricoldus berichtet vom Mandat Jesu an die Jünger, »daß sie wirksam (efficaciter) auf der ganzen Welt das Evangelium predigen sollten«253. Luther ersetzt »wirksam« durch »getrost«254 und ver­ legt so das Gewicht vom kaum erfüllbaren »Gebot« der Wirksamkeit einer Predigt auf die Verheißung getrosten Predigern durch die Jünger. Eine Emphase eigener Art findet sich im eschatologischen Kontext des »letzten Endlichen zorn[es]« Gottes, dem gegen­ über Luther erschüttert in ein Stoßgebet flieht: »Ah HErr Gott, bete, seufftze, schreie doch, wer beten, seuffzen, schreien kann, das der zorn ein mal, wie Daniel sagt, ein Ende neme, Amen«255. Einbeziehung des Lesers (apostrophe)1** Mehrfach versucht Luther, den Leser selbst einzubeziehen. Dies geschieht durch per­ sönliche Anrede: »lieber«257 oder mit rhetorischer Entschuldigung fur die Peinlichkeit des Geschilderten: »mit Urlaub«258. M it »Sage mir« wird eine rhetorische Frage zur Got­ tesvorstellung eingeleitet259. Im Zusammenhang von eigenen Conclusiones verallgemei­ nert Luther die gewonnene Erkenntnis in Wir-Sätzen260. Nicht die Christen verschlie­ ßen sich islamischer Lehre, sondern wir Christen. Insbesondere das Nachwort ist von dieser Einbeziehung im Wir-Stil geprägt, wiederum mit direkter Anrede des Lesers261. Ferner ist in der Verlegung eine Menge an Partikeln zur Weckung der Aufmerksam­ keit zu finden. Dazu gehören insbesondere »wohlan«262, aber auch »nu«263 sowie frei­ gestelltes »wie« als Fragepartikel264.

252. 253. 254. 255.

256. 257. 258. 259. 260. 261. 262. 263.

264.

gewollten Situationsänderung durch den Situationsmächtigen ... ist und daß die affektische Zustimmung die etwaigen Lücken der intellektuellen Überzeugung ... ausfüllen kann.« Ebd. 297,17 und 298,3. WA 53,381,27 f. Ebd. 380,9. Ebd. 392,27-29. Anklang an Dan 11, 36: »Und gegen den Gott aller Götter wird er [der König] Ungeheuerliches reden, und es wird ihm gelingen, bis sich der Zorn ausgewirkt hat; denn es muß geschehen, was beschlossen ist.« Lausberg, Elemente, §§ 442 f. WA 53, 318,28; 320,14 und 363,12 (hier nicht als Anrede an den Leser, sondern zur Belebung des Dialogs in einer Erzählung). Ebd. 320,19. Ebd. 348,29. Vgl. ebd. 366,31-35: Hier ist von Worten »unsers Glaubens« die Rede, »Denn wir auch sagen, das Gott einig sey ...«. »Wiltu wissen ... So wirstu wol sehen ...«. Ebd. 395,25-27. Ebd. 342,25 und 388,9. Ebd. 338,25.27 und 340,2. »Nu« kann auch in der Anrede Mohammeds der affektiven Anrede dienen: »Nu sage, wie leugestu denn [behauptest du lügnerisch], das die Jöden das alte Testament g?felscht haben?« Ebd. 288,13 f. Ebd. 350,29.

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Die Verlegung als interpretatorische Leistung Luthers

Vereinzelt sind auch in der Erweiterung der Übersetzung rhetorische Fragen einge­ bracht, um in der Überzeugung des Lesers Ergebnisse zu sichern: »Wie schilt er sie [die biblischen Bücher] denn verfelscht wider Gottes erhaltung, der heilige Prophet?«26’, oder auch: »Denn wie kan Warheit und Seligkeit weichen? oder wem sollen sie wei­ chen?«266. Assonanzen und Reime (unorganische annominatio - alliteratio)267 Hier ist v.a. auf das Nachwort268 Luthers zurückzugreifen: »Lügende« für Legende269 findet sich ebenso wie die Bezeichnung »Drecktal« (ur Dekretalen270. Für Luther ist der Koran aufgrund seiner Entstehungsgeschichte nicht nur verderbt, auch nicht nur »verbrand« und »geflickt«, sondern »verst&mpelt und verh&mpelt«271. Assonanzen sind auch gegeben, wenn die römischen Kardinale hochmütig »sich rösseln und brü­ sten«272; eine doppelte Alliteration findet sich, wenn die »Mahmetisten« zum Liberti­ nismus neigen als zur »W&sten, wilden leute Lust«273. Ebenso findet sich die Form der figura ethymobgicam : »viel schendlicher lfigen leuget er«275. Ironie (ironia)276 Auf Luthers Polemik ist im Grundsatz an dieser Stelle nicht einzugehen277. Die pole­ mische, ironisch verzeichnende Darstellung des Islam wie auch antirömische und an­ tijüdische Polemik, die bereits bei der Analyse der Randglossen278 begegnete, steht in engem Zusammenhang zur häufig anzutreffenden hyperbolischen279 und emphati­ schen Sprache der Verlegung. Im Zusammenhang der Untersuchung der Stilmittel ist nur zweierlei zu vermerken: die binnenpolemischen Andeutungen und die Tendenz zur Personalisierung, die beide der affektiven Stilisierung zuzuordnen sind. Dazu ist zunächst noch einmal der bereits angeführte Abschnitt heranzuziehen, in dem Luther in Erweiterung der Vorlage die islamischen Paradiesvorstellungen ver­ urteilt. Eingebaut in diesen Abschnitt erscheint neben der antitürkischen auch anti­ deutsche Polemik: »fressen und saufen auflfs allerbeste« wird den Deutschen zugeord-

265. 266. 267. 268. 269. 270. 271. 272. 273. 274. 275. 276. 277. 278. 279.

Ebd. 288,8 f. Ebd. 386,6-8. Lausberg, Elemente, §§277 und 278 bzw. §458. Für das Vorwort wäre auf die Formulierung »schänden und schaden« hinzuweisen. WA 53, 274.12. Ebd. 391,39; 392,4. Ebd. 395,10. Ebd. 391,31. Ebd. 392.12. Ebd. 393,19. Lausberg, Elemente, §281. WA 53, 334,22. Lausberg, Elemente, §§426-430. Vgl. dazu: Wolf, Luther, 50 f. S. o.76-93. Lausberg, Elemente, §§ 212-215.

Luthers interpietatorische Mietet

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net (»Wie wir deudschen thun«), »viel Weiber nehmen« den Türken (»Wie die T&rcken thun«)280. Merkwürdig ist Luthers Übersetzung von »superstitiosi et contentiosi«281 im Zu­ sammenhang des Gebotscharakters des Willens Gottes. W ährend in der Conjutatio damit ernst zu nehmende islamische Gesprächspartner bezeichnet werden, hat Luther die Übersetzung »zenckische und geistliche«282 gewählt. Damit hat Luthers Überset­ zung die Grundlage der Conjutatio zweifellos verlassen; hier ist nicht von geistlichen Würdenträgern die Rede. Im Hintergrund dürfte wiederum antirömische Polemik stehen, wenn Luther im Zusammenhang der Gebotserleichterung offenbar die Ablaßund Dispenspraxis der römischen Kirche assoziiert, jedoch nicht weiter aus führt283. Zum polemischen Gesamtduktus gehört darüber hinaus die durchgängige Personalisierung der Kritik. Steht bei Ricoldus häufig der Koran im Vordergrund des Geschilderten und daneben die Person Mohammeds, so vollzieht Luther oft einen Subjektwechsel. »Mahmet« ist der Urheber des Koran. Er ist als Mensch ethisch verantwordich zu machen und - bezogen auf chrisdiche Lehre - häretisch und als Teufel und Erstgeburt des Satans erwiesen284. An die Stelle der Auseinandersetzung m it dem Islam und dem ihn begründenden Koran tritt die Auseinandersetzung mit Moham­ med. Dem dient auch die ironische Apostrophierung als »heiliger wahrhafftiger Pro­ phet285, »Wansinniger«286, als »der grobe gesel«287, »grober, unz&chdger«288, »hohmfrtig und berömbt in der schwänzen kunst«289.

280. 281. 282. 283.

284.

285. 286. 287. 288. 289.

WA 53 324,28-30. Ebd. 385,7. Ebd. 384,17. Trifft diese Vermutung zu, so ist hier Luthers Polemik nicht von antiislamischen Invektiven, sondern am ehesten von den früheren Auseinandersetzungen mit seinen Gegnern, v.a. Alfeld, Cochläus, Eck oder Emser, geprägt. Zu den Genannten vgl. Iserloh, Theologen 1, 37-46 (Emser); 47-55 (Alfeld); 65-72 (Eck); 73-81 (Cochläus). Vgl. dazu auch: Martin Brecht, Der Streiter Martin Luther, in: Wartburg-Jb Sonderband 1996,120-148. Vgl. ebd. 276,30 f. Auch angesichts der personal entfalteten antiislamischen Polemik ist aller­ dings zu beachten, daß die Personalisierung bzw. die Identifizierung von Lehre und Person, Bot­ schaft und Botschafter für Luther gerade auch im christlich-theologischen Bereich, näherhin im Zusammenhang des Wortes gegeben ist. Vgl. WA.TR 1, 229,9-14. 17-19: »Deus enim semper habuit in mundo sunder person und stet. Misit Mosen, sed si musten sagen, cum aliquid diceret: Hoc non Mose, sed Deus dixit. Post Mosern misit Christum; da ist auch ein gewisse lahr und gewisse person, ut non fällamur, cum audimus aliquid ex eo, quod Deus id dixerit, sic enim de coelis dicit: Hic est Filius meus, hune audite.... Sic saepe dixit mihi laboranti aliquid Pomeranus, Philippus, immo etiam Ketha mea; ibi acquicvi et sensi: Hoc Deus dicit, quia dicit frater vel ex officio vel charitate.« Gottes Wahrheit ist also nie persönlich-subjektiv, wohl aber immer per­ sona) bezeugt. WA 53,288,15. Ebd. 294,16. Ebd. 370,30. Ebd. 316,21 f. Ebd. 352,24 f.

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Die Verlegung als imerpretatorische Leistung Luthers

Wortwahl290 Die Stilistik von Luthers Verlegung ist eindeutig geprägt durch die Einbeziehung von Elementen der niederen Umgangssprache291. Damit ist (noch) keine Sachkritik an der Verlegung intendiert, vielmehr ist im Hinblick auf die Zielgruppe des gemeinen Man­ nes der spezifische Wortschatz der Zielsprache zu umreißen. Die zu treffende Auswahl orientiert sich an den von Guchmann herangezogenen Exempeln292. Zu nennen sind an Nomina: Gewesch, unflat, Beischlefferin, Huren, Buben, Hurhaus, Brunst (bei Menschen), schwartzk&enstler, narrenteiding, grobe Sewe, Eber­ schweine293, Kebsweiber, Staupe (Schläge), l&gen maul, farre (Bulle fur Lüstling), dreck, loch, schalck, Falubel294 oder die fallende seuche, grober gesel, Dale (Dohle), fabeln, mehrlin, Pobel, Hum wirt, H um jeger und Hurntreiber, Hunde und Sew, Poltergeister und Walfarts Teufel, Endechrist (Antichrist), misten (Misthaufen). An Verben tauchen auf: we(s)schen, speien, gauckeln, narren, hewen, Bauch füllen, die nasen krümmen, schwensten (schwitzen), stincken, lauffen (läufig sein), rammeln, fressen, (sich voll) saufen, rotzen, kacken, pissen, untereinander hacken (verdrehen). Für umgangssprachliche Adjektive und Partizipien können gelten: grob, lustig, kützel, nerrisch, lotterbübisch, viehisch, sewisch, nerricht, m&rdisch, wütig, verlauffen(er), ersoffen, schampar (schändlich), gemein (allgemein) und zenckisch. Es bedarf der Umstand keiner näheren Erläuterung, daß die genannten Wörter ausnahmslos in polemischem Zusammenhang Verwendung finden. Zusammenfassung Zusammenfassend zeigt sich Luthers Übersetzung der Confutatio durchdrungen von einer Fülle stilistischer Mittel, die einerseits der klassischen - humanistisch vermittel­ ten - Rhetorik zuzuordnen sind, andererseits sich der spezifischen sprachlichen Kraft 290. Vgl. dazu: M. Guchmann, Sprache, 141-162 (»Die Differenzierung der Sprache der politischen Literatur im Hinblick auf Gattung und Stil«). 291. Die häufige Rede von der »Volkstümlichkeit« der Sprache Luthers ist unpräzise. Z. B. ist Luthers Bibelübersetzung durchaus als volkstümlich zu bewerten, kennt aber keine Obszönitäten. Luther selbst macht in einer Texterweiterung gegenüber der Confiitatio auf den Unterschied zwischen obszöner und biblischer Sprache aufmerksam, wobei Obszönität in diesem Zusammenhang der Sprache des Koran bzw. Mohammeds polemisch entgegengehalten wird: Es »braucht der Alcoran unuerschempter, grober, unzüchtiger wort, wenn er von dem fleischlichen werck redet, wie die Huren und Buben im hurhause oder sonst grobe unverschampte leute thun. Aber der heilige Geist gar züchtig in der Schrift davon redet. Als: Adam erkandte sein weib Heva. Item: David gieng hinein zu Beth-Saba. Item: Elisabeth ward schwanger, etc.«, WA 53,294,22-27. - Gleiches gilt für die Predigt, deren Kraft des Ausdrucks doch die Grenzen des Anstands kennt. Ganz anders dagegen die Streitschriften, die Derbheit eben auch im Sinne des Obszönen sprachlich auszeichnet. Luther ist sich der Abstufung seiner Stilistik hinsichtlich der Zielgruppe offenbar genau bewußt. Derbheit der Sprache ist weniger Entgleisung als Methode. Dasselbe gilt für seine Gegner. 292. Guchmann, Sprache. Wir verzichten auf einzelne Nachweise. 293. Man denke dabei auch an Emsers Streitschrift: Wyder das wild Geyffemd Eberschwein Luthem (1524). 294. Fallsucht (Epilepsie). »FaKDubel« wird in WA.TR 6, 667 (Register) sogar unter die Sprichwörter bzw. zum Sprichwortstamm gerechnet.

Luthers interpretatorische M ittel

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Luthers verdanken und sich in dessen gesamten Sprachwerk überhaupt und in ver­ gleichbarer Dichte beobachten lassen295.

d) Das rhetorische genus Zur Würdigung ist in Erinnerung zu rufen: Luthers Bearbeitung296 der Confutatio besteht zunächst in der Übernahme eines per Randglossen gegliederten Textes: Dessen Argumente erscheinen gezählt, vereinzelt auch gewichtet, sei es in ihrem logischen Charakter (»objectio«297298>»contrarietas«* »alteration »confutatio«19*)* sei es in ihrem rhe­ torischen Wert (»argumentatio apta«). Gleiches gilt fur die Wahrnehmung der Über­ zeugungskraft der Ausführungen des Ricoldus und dessen biblischen Quellen (»verbum essentiale«) durch den Editor der Confutatio2919. Sachlich-logische Bemerkungen (»simile« - »dijferens«) sind ebenso zu finden wie Verifizierungen biblischer Grund­ lagen300. Auch die Urheberschaft von Aussagen ist vermerkt: »Opinio Mahometi«r301 bzw. »opinio Ariannorum«302 oder auch »Hieronymus [u.] Aristoteles«r303 bzw. »Augusti­ nus«r304305. Der »Quaestio«303, auch »Inquisitio«r306 entspricht die »Solutio«3073089 und die »Conclusio«m . Zutreffend ist die Bündelung der Argumente ab dem 16. Kapitel ge­ kennzeichnet, wenn der Editor dem folgenden den Charakter des »Epilogus«m zuer­ kennt. Damit ist nicht nur der rhetorische Bogen jedes einzelnen Kapitels, sondern der Confutatio als ganzer kenntlich gemacht. Bereits die Darstellung des Ricoldus in der Confutatio lebt also von der konsequenten Stilisierung des Textes als einer Über­ zeugung (persuasio) intendierenden Streitschrift310 mit Entfaltung der Fragestellung oder These, der Darbietung angemessener Argumente, Erörterung etwaigen Wider­ spruchs, Auflösung desselben, Lösung und Bekräftigung. Für Luthers Verlegung gilt nun, daß diese Einteilung sich in der Absatzbildung wi295. Vg). hierzu insbesondere wieder die Untersuchungen Stolts, die in den »Studien zum Freiheits­ traktat« wie auch in ihrer Analyse von Luthers P redig daß man die Kinder zur Schulen halten solle ebenfalls methodisch lateinisches Original und deutsche Übersetzung vergleichend verfährt, wenngleich hier die lateinischen Erstfassungen von Luther selbst stammen. 296. Vgl. dazu die Beschreibung der Arbeitsweise Luthers bei Wolf, Luther, 112-114. 297. Z. B. zu 361,31: »Obiectio sarazenorum«. 298. Alle cbd. 357. 299. Eine erhebliche Anzahl solcher Randbemerkungen ist bereits im Original (CLS) anzutreffen; ob diese auf Ricoldus selbst zurückgehen, ist hier nicht zu diskutieren. 300. Zu den letztgenannten Beispielen vgl. bspw. WA 53, 371. 301. Z.B. zu 371,29. 302. Z .B .z u 281,10. 303. Z. B. zu 313,16F. 304. Z.B. zu 342.26. 305. Durchgängig im 15. Kapitel, das »De quibusdam sex quaesitis in Alcorano communibus« erör­ tert. ebd. 365,22-379,34. 306. Z.B. zu 285,36. 307. Vgl. auch zu 365,1 »Solutio vana Mahometi«. 308. Z.B. zu 353.23. 309. Z.B. zu 379,37. 310. Zu erinnern ist an den originalen Titel der Confutatio als »Propugnaculum« im Venezianer Druck von 1607, vgl. Barge. WA 53, 265.

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Die Verlegung als interpretatorische Leistung Luthers

derspiegelt. Von den Kürzungen Luthers ist die stilistische Struktur in keiner Weise berührt. Im Gegenteil: Luther verstärkt diese Tendenz, wie sich anhand seiner Bear­ beitung des 15. Kapitels zeigen läßt: Dieses besteht in der Bearbeitung von sechs Fra­ gen, die aus der Perspektive des christlichen Glaubens an den Islam zu richten sind. Im Aufbau der Confutatio bzw. der Verlegung nimmt das Kapitel einen besonderen Stel­ lenwert ein: Es schließt an die vorausgehenden Lehrkapitel 3- 12( 13. 14) an, bildet einen eigenen prägnanten Block in der Gliederung von Quaestiones, der sich wieder­ um von dem redundanten Kapitel 16 (samt Schlußkapitel) abhebt, das Luther selbst wohl auch aufgrund der Randglosse als Epilog bewertet hat311. Im Duktus der Streit­ schrift stellt das Kapitel den Höhepunkt dar, wenn sich - angesichts der Vorwürfe des Islam gegenüber dem Christentum - nun der Gegenangriff312 formiert, eben in sechs Quaestiones. Luther verstärkt den überführenden Charakter der Vorlage, indem er den ersten fünf Fragekomplexen313 aus eigenem Antrieb je eine eigene faßliche Schluß­ betrachtung einfiigt, denen jeweils die Kürzung der umständlichen Ausfuhrungen des Ricoldus entspricht. Diese Schlußbetrachtungen orientieren sich durchaus an der Vorlage, münden jedoch in Aussagen, die einerseits den Irrtum Mohammeds und der Muslime bekräftigen, andererseits bekenntnis- undpredigthafte Züge tragen314. Dar311. »Epilogus«, Glosse zu ebd. 379.37, übernimmt Luther in die Übersetzung zu Beginn des 16. Ka­ pitels: »Aus allem, das droben gesagt ist ...« Ebd. 378,14. 312. Vgl. Luthers Ergänzung zur Überschrift des 15. Kapitels: »Wider die Sarracenen.« Ebd. 364,5. 313. Zur sechsten Frage besteht keine Notwendigkeit eines eigenen Summariums von seiten Luthers, da hier Ricoldus selbst eine kurze Conclusio als Schluß des gesamten Kapitels bietet. 314. 1. »Also hat jn [Mohammed] der heilige Geist vermanet und getrieben, das er hat mÖsscn mit Worten unsere Glaubens höchsten Artickel aussprechen, und doch falschen verstand da wider hinein gcfÜrt. Denn wir auch sagen, das Gott einig sey, und doch Gottes Wort und Heiliger geist bey Gott sind, und nicht drey Götter.« Ebd. 366,31-35. 2. »Also mus aber mal Mahmet, wiewol unwissend, mir Worten wider sich selbs unsere Glaubens höhesten Artickel bezeugen, und verstehet nicht, was er saget.« Ebd. 368,21-23. 3. (in Aufnahme dreier Sätze der Confutatio): »Das mercke dabey, da er gesagt hatte, das Christus Gottes wort sey, Setzt er da zu, das Christus bey Gott sey. gleich wie Adam, zu dem er sprach, da er jn machet aus erden: >EstoEstoEstmodi praedicandi« kommt drittens die Aufgabe der illustratio, die Erläuterung durch Schriftstellen, Beispiele und andere rhetorische Möglichkeiten, die der Wirkung des Predigtwortes beim Hörer dienen«, ebd. 236 f.

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Die Verlegung als interpretatorische Leistung Luthers

rung der Situation (gerade in rhetorischer Perspektive358) kennzeichnen die Predigt Luthers, der im Sinne der Rhetorik als »Situationsmächtiger« (Lausberg, $68) anzu­ sehen ist, im Sinne reformatorischer Theologie als Prediger des Gerichts (Gesetz) und der Gnade Gottes (Evangelium) als Weg zu endzeitlichem Heil und zeitlicher Gerech­ tigkeit, die ihrerseits Leiden und Widerstand umgreifen. Der Hinweis auf die Predigt ist dabei nicht nur theologisch zu behaupten, sondern auch literarisch über das Schlußwort Luthers hinaus nachzuvollziehen. Zu nennen sind nicht nur die biblische Durchdringung des Vor- und Nachwortes359, sondern auch die Ergänzungen zur Confutatio36°, die ihrerseits schon eine Fülle an biblischen Bezügen und Zitaten aufweist. Darüber hinaus sind in der Verlegung selbst Predigt, Lehre und Gerichtsrede als litera­ risch-rhetorisches Kriterium rechter Vortragsweise als Exempel angeführt361362. Kein Prophet, Jurist oder Philosoph - so Luther - redete je in der Form der Poesie, »wo er hat leren sollen und dem gemeinen volck predigen« (294,1 f.). Die Rede vom »Gemei­ nen Volk« entspricht der Rede Luthers vom »Gemeinen man« des Proömiums. Ver­ ständlichkeit und Ernst kennzeichnen entsprechend schriftgemäße Rhetorik, poeti­ sche Rede (wie im Koran) wäre »wider die heilige Schrift« (292,27). Die Wahrheit des Evangeliums kennt als Kriterium ihrer Verkündigung die Orientierung am Leser bzw. Hörer! Genus elocutionis - sermo humilis Logische Gliederung, Überführung des Gegners und Vergewisserung der eigenen Par­ tei in Aufnahme klassischer Rhetorik kennzeichnen sowohl die Confiitatio wie auch die Verlegung. Luther hat den Charakter der Widerlegung (Verlegung!) des Koran und Vergewisserung der Christen gestärkt. Erkennbar wird entsprechend das rhetorische genus der Gerichtsrede, an dem bereits die Confutatio orientiert ist (genus iudiciale). Luthers Übertragung ins Deutsche verstärkt den rhetorischen Charakter der Confiita­ tio als persuasio. Die sprachlichen und stilistischen Mittel, die Luther anwendet, ermöglichen nun weitere Zuordnungen, die zugleich die einlinige Beziehung auf eines der klassischen genera elocutionis362 sprengen. Birgit Stolt hat in der Analyse einer Predigt Luthers als dessen rhetorisch-didaktische Zielsetzung »docere, delectare, movere«363 herausgear­ beitet. Dieselben Zielsetzungen sind ohne weiteres fur die Verlegung zu behaupten, wenn in der Widerlegung des Koran falsche und wahre Lehre einander gegenüberge­ stellt, also selbst gelehrt wird (docere)* die Illustration falscher Lehre durch Erzählun­ gen und Schilderung von skurrilen Traditionen erfolgt, welche vom rhetorischen Standpunkt zweifellos der Kurzweil des Lesers dienen (delectare) - und schließlich die Zielgruppe zur rechten Buße, d. h. nicht nur zu logisch-intellektueller Erkenntnis, die im Rahmen der Lehre verbliebe, sondern zur personal zu bewährenden Umkehr 358. Vgl. dazu Lausberg, Elemente, §§3 und 4. 359. Sechsfach im Vorwort, vierzchnfach im Nachwort, vornehmlich Gerichtsworte. 360. Hier auffällig seltener, aber an herausragender Stelle, so z. B. am Ende der Übersetzung (Zwi­ schensumme), WA 388,5 f., aber auch 294 (mehrfach). 361. Ebd. 292,29 f. 362. Lausberg, Elemente, §§ 465-469. 363. Stolt, Docere, Delectare und Movere bei Luther.

Luthers incerpretatorische M ittel

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angesichts der Bedrohung durch die Türken angeleitet werden soll (movere). Diese Charakterisierung verweist einerseits ganz auf »die intellektuelle und affektische Rea­ lisierung der persuasion**, andererseits ist die dreifache Zielsetzung zugleich drei zu unterscheidenden genera elocutionis zuzuordnen: Dem docere entspricht dabei der durchsichtige Duktus des genus humile, dem delectare die Kurzweil des genus medium, dem genus grande die Erschütterung des movere**. Alle drei genera sind bereits bei Ricoldus zu finden; gegenüber Luther unterscheiden sie sich jedoch deudich in ihrem Stellenwert. Die Confiitatio besitzt eindeutig lehrhaften Charakter (docere), die Ein­ arbeitung der skurrilen Traditionen dient dem delectare, dem die rationale Erkenntnis des gebildeten Lesers entsprechen soll. Die Erschütterung des movere tritt dem gegen­ über weit zurück und ist - wie des Ricoldus Vorwort zeigt - eher auf die Bedrohung der Kirche in ihrer Geschichte bezogen. Luther dagegen reduziert den lehrhaften Teil der Verlegung nahezu auf die Widersprüchlichkeit, den Selbsterweis des Koran als Lü­ ge und die Erfassung des unethischen Charakters. Die Aufnahme skurriler Traditio­ nen bleibt dem zugeordnet, steht aber zugleich sprachlich in Korrespondenz zu den Texterweiterungen und Marginalien, die in ihrer derben, anschaulichen und aktuali­ sierenden Stillage rhetorisch dem delectare zuzuweisen sind. In der rhetorischen Trans­ formation von Ricoldus zu Luther schließlich ist auch die deudiche Verlagerung zum movere zu erkennen. Zielpunkt Luthers ist nicht die bessere Erkenntnis des Ordens­ bruders oder der Gebildeten, sondern die Buße des Gemeinen Mannes als stark affek­ tiv bestimmtem Akt des Glaubens, der die ebenso affekdven Tugenden der Demut, der Leidensbereitschaft und der Tapferkeit integriert. Luthers Rhetorik der Verlegung, die Verständlichkeit der Lehre, die Kurzweiiigkeit der Diktion samt der ihr dienenden sprachlichen Stilistik, insbesondere aber der überfuhrende Ernst der anklingenden Gesetzespredigt stehen somit im Dienst der theologischen Verkündigung und damit wiederum in integralem Zusammenhang reformatorischer Theologie. Damit ist als Ziel der Analyse zugleich die rhetorische Tradition angedeutet, in der Luther und seine Verkündigung auch in der Verlegung stehen: die Tradition des sermo humilis366. Die Verlegung hat verkündenden Charakter, die notwendige Verkündigung in der Verlegung bedient sich des transformablen genus der Confutatio. Sollen nun das genus elocutionis und die Sprache der Verkündigung zusammengefuhrt werden, so kommt der sermo humilis in den Blick. Neben anderen hat Birgit Stolt als Kennzeichen des auf Augustin zurückzufuhren­ den genus des sermo humilis eben diese Sprengung der drei klassischen Gattungen bzw. die Integration derselben in die eine neue Gattung gezeigt, deren Einfachheit den rhetorischen Schmuck dennoch ermöglicht, ja notwendig macht, und darüber hinaus die Variation des Pathos zuläßt36435367: »Indem es um das Ergreifen jeder einzelnen Seele ging, deren Heil auf dem Spiel stand, floß sehr viel an Emotion in die Lehre ein, so daß sich das Mitreißende, Aufwühlende, das dem erhabenen Stil zukam, mit der Leh­ re vermischte. Besonders in der abschließenden Paränese hatte das Pathos seinen

364. Lausberg. Elemente. §§67-70. 365. Ebd. §§466-468. 366. Auerbach. Literatursprache, hier Kap. 1: Sermo humilis, 25-53; auch: Ueding/Steinbrink, Grundriß der Rhetorik, 69-73. 367. Stolt, Rhetorik des Herzens, 65.

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Die Verlegung als interpretacorische Leistung Luthers

Platz«368. Lehre und Leben finden im sermo humilis zusammen: doctrina als Beleh­ rung, exhortatio als Trost, Warnung und Ermahnung, wie sie gerade Luthers volks­ tümliche Verkündigung auszeichnet369. Denn Luther weist der Predigt in Anlehnung an Röm 12 gerade diese beiden kriteriologischen Funktionen zu370. Es bereitet keine Mühe, beide Funktionen anhand der Verlegung zu verifizieren: Die Entlarvung des Koran und seines Anspruchs auf Wahrheit ist der doctrina, Trost und Bestärkung ge­ gen die Muslime der exhortatio zuzuweisen. Anthropologisch verankert (beim Prediger wie beim Adressaten) ist die doctrina im Verstand und in der Kunst der Dialektik, die exhortatio im Willen und der rhetorischen Kunst, zu der Luther auch die illustratio zählt371.

e) Ergebnis Ziel des Reformators ist die Übertragung eines scholastisch geprägten und in seiner Substanz 250 Jahre alten Textes in den Lebenszusammenhang christlicher Gemeinde seiner Zeit. Die Analyse zur Übersetzungspraxis372hat gezeigt, daß hinsichtlich des Islam Luthers Rezeption der Conjutatio keine sachlich bedingten Korrekturen vor­ nimmt. Luthers Übersetzung kann von daher durchaus als sachliche Aneignung ver­ standen werden. Nur modernes Bewußtsein wird in der Titelei zum Ganzen, dem Titel des Nachworts und dem gleichzeitigen Hinweis auf die Conjutatio als »B&chlin Richardi«373 eine Spannung erblicken. »Bruder Richard« ist Gewährsmann der Islam­ kenntnis Luthers, sachliche Distanzierungen des Reformators vom Dominikaner sind nicht zu finden. Sich vorzustellen, wie Luthers Verlegung des Koran ausgesehen hätte, wenn er nicht auf die Conjutatio gestoßen wäre, ist müßig. Deutlich ist, daß die Verlegung in Rezep­ tion, Tradition und Interpretation ein eigenständiges Werk darstellt, das zugleich die Quelle weitgehend integriert, trotz der rhetorischen und theologischen Transforma368. Ebd. 369. Ebd. 64-70 (»Sermo humilis«): dazu auch Nembach, Predigt. 25-39 (»Die Predigt als Lehre und Ermahnung - doctrina et exhortatio«). 370. »S. Paulus teylet das predigerampt ynn rzwey stôck Ro. 12. Doctrinam et exhortationem, laro und vormanen. Laro ist, Iso man predigt, das unbekandt ist und die leutt wissend odder vorsten­ dig werden. Vormanen ist, ßo man reytzt und anhclli an dem, ßo yderman schon woll weyß. Bcyde stuck sind not einem prediget, drumb sic auch beyde S. Paulus ubett. Darumb auch das die vormanung sey deste stcrcker und lieblich eyngche, braucht er vil hubscher vorblümeter wort [utitur aliquot clcgantibus et figuratis locutionibus] und macht eyn feyne bundfarbe rode ...« WA 10/1,2, 1 ,1 9 -2 ,5 (Adventspostillc 1522); [ ] beziehen sich auf 2, Anm. 1. 371. WA.TR 2, 359,18 f. 21 f. 25 f.: »Dialect ica docet, rhetorica movet. Ilia ad intellectum port inet, haec ad voluntatem ... Et haec duo conficiunt modum praedicandi ... Accedit autem et tertium, illustrans pracdicationcm ... Est autem exhortatio, quando di cas: Ach, ich wolt gern, das yhr mir folgt und gleubt.« 372. Luthers Übersetzungstheorie und -praxis ist in den meisten Veröffentlichungen mit der Frage der £/£r/übcrsetzung befaßt. Die Stilmittel sind aber vergleichbar. Zur Bibelübersetzung neben dem bereits genannten: Siegfried Raeder, Luther als Ausleger und Übersetzer der Heiligen Schrift, in: Junghans (Hg.), LWML, 253-278. 800-805. 373. WA 53. 389,22.

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tionen. Luthers Rezeptions- und Traditionsmodus der Confutatio ist somit nicht ver­ wunderlich; er orientiert sich allein an der Sachdienlichkeit des durch die Übersetzung (Interpretation) Intendierten. Von daher ist die Wahrnehmung Jean-Marie Mérigouxs O.P. verfehlt, der mit leichter Verwunderung feststellt, Luther habe in Übernahme der Sicht des Ricoldus anerkennen müssen, daß ein »Papiste« recht gehabt habe374. Dies war des Reformators Frage eben nicht, ob die Confutatio aufgrund ihrer altgläubigen Herkunft hinsichdich des Islam und seiner Kenntnis zuverlässig sei. Trifft die Analyse zu, so zeigt sich in der Verlegung die materia der Confutatio bei­ behalten, die res transformiert, die verba der Übersetzung neu gewonnen. Luthers Übersetzung ist frei, nicht im Sinne der Willkür, sondern in dem erkennbaren Willen zur Wahrung der materia wie zur Transformation der res, wie (beides) die verba erken­ nen lassen. Gehört aber zur freien Übersetzung375 nicht nur die Zielgruppe (bedrängte Gemeinde), sondern auch die Zielkultur (evangelisches Kirchenwesen der vierziger Jahre des 16. Jahrhunderts), so manifestiert sich die Freiheit des Übersetzers in der Freiheit zur Zielsprache der Gemeinde (docere%delectare%movere oder auch docere et exhortare). Luthers Übersetzung stellt von daher einen Akt der sprachlichen Inkultura­ tion dar. Sowohl soziologisch wie auch theologisch kann dies belegt werden, wenn Luthers Übersetzung zum Konkreten tendiert, wo Abstrakta vorliegen. Ergänzend zur obigen Analyse seien drei Beispiele genannt: (1.) Während Ricoldus in der Confutatio Zayd, den Adoptivsohn Mohammeds zutref­ fend als Zögling (alumnus) einfuhrt, übersetzt Luther »Schaffner«376, womit die tätige Rolle Zayds herausgestellt (für die Mohammed ihm hätte dankbar sein müssen) und entsprechend das »Alumnat« der dem Leser unbekannten Person mit Leben gefüllt wird. Der »Zögling« wird zum »Verwalter«; die Tätigkeit eines Verwalters gehört jedoch zur ökonomischen Erfahrungswelt des Lesers. (2.) »opifex et inuentor« des Koran ist Mohammed nach den Worten der Confutatio. Luther übersetzt beide mit dem einem Wort »Meister«377. Ohne weiteres wäre es mög­ lich gewesen, sowohl die Verfertigung als auch die Erfindung des Koran in die Überset­ zung einfließen zu lassen. An wertneutralen Tätigkeiten zeigt Luther in diesem Zusam­ menhang jedoch kein Interesse: Mit dem Begriff des Meisters ist wiederum ein auf Tätigkeit bezogener und sozial geläufiger Begriff gewählt, der die Erfindung und Bewerkstelligung eines Produktes umfaßt, zugleich aber auch die Herrschaft über das Pro­ dukt und die dazu notwendigen Fertigkeiten beschreibt. Der nähere Zusammenhang des Hochmuts Mohammeds und seiner Berühmtheit in der »Schwarzen Kunst«378 wekken Assoziationen des arroganten »Hexenmeisters«. (3.) Schließlich ist ein theologisches Beispiel heranzuziehen, bei dem Luther in der Übersetzung selbst einen gängigen (lateinischen!) Grundsatz - »Quia commune dictum est: >Fidei non potest falsum subesse«« - angibt, der nur mittelbar auf ein Augustinzitat 374. CLS, 38. 375. Andreas Gardt, Luthers Übersetzungstheorie, 89: »Als »frei« gelte ein Übersetzen, bei dem sich der Übersetzer an Zielsprache und Zielkultur in der Weise orientiert, daß er ausgangssprachliche Spezifika durch Spezifika der Zielsprache ersetzt...» 376. WA 53. 313.7 und 316,8. 377. Ebd. 353,26 und 352,13. 378. Vgl. ebd. 352,23-25.

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Die Verlegung als interprctatorischc Leistung Luthers

der Confutatio Zurückzufuhren ist, um diesen sogleich existentiell entfaltend zu über­ tragen: »Lügen kan nicht selig machen, Sondern verdampt, darumb kann der Glaub auff keiner Lügen stehen«379. Es geht also nicht um die Frage einer logischen nécessitas, son­ dern - aus der Sicht reformatorischen Glaubens - um die Unvereinbarkeit von selig­ machendem Glauben und zur Verdammnis führender Lüge. Der Veranschaulichung dessen und der daraus zu ziehenden Konsequenzen fur ein christliches Leben dient die rhetorisch-homiletische Diktion der Verlegung.

379. Ebd. 340.11-13.

Luther und der Islam nach der Verlegung

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3. Luther und der Islam nach der Verlegung Ausgangspunkt der folgenden islamkundlichen Analyse ist, daß - wie oben geschil­ dert - Luther keine inhaldichen Korrekturen bezüglich des Islam im Zuge seiner Übersetzung der Confiitatio vorgenommen hat und sich - mit der einen Ausnahme der Identifizierung des Nestorianermönches Bahira mit Sergius380 - auch keine sach­ lichen Ergänzungen finden. Die Untersuchung des Vorworts hatte vielmehr gezeigt, daß Luther davon ausgeht, in Ermangelung eines verständlichen Koran nun in der Confiitatio die bestmögliche und damit eine letztlich verläßliche Quelle seiner Islam­ kenntnisse zu finden. Die Frage, ob der Reformator das ihm vorliegende Islambild des Mittelalters durch seine polemischen und theologischen Einlassungen verändert hat, ist im einzelnen zu prüfen. Die Analyse vollzieht sich zunächst anhand der traditionell vorgegebenen Typologie der chrisdich-islamischen Auseinandersetzungen des Mittel­ alters381, aus der sowohl die Confiitatio als auch ihr vorgängige Traditionen stam­ men382. In den meisten Fällen wird bei der Sichtung die Reihenfolge: Verlegung 380. S.o. 86 f. 381. Die Analyse ist allerdings nur bzgl. der klassischen (dogmatischen) Kontroversen zu erheben, die Luthers Polemik aufnimmt und zugleich überschreitet. Herangezogen sind: Petrus Venerabilis, Summa totius haeresis Saracenorum (1143), STH, 1-5, nennt: Trinitätslehre, Christologie und Inkarnation, Eschatologie. Das Vorwort seiner Schrift Contra sectam Saracenorum (1156), CSS, stellt in sich eine einzige häresiologische Einordnung des Islam dar. Thomas, De rationibus fielet (nach 1264), RF, Kap. 1-6, bringt Trinitätslehre, Christologie, Eucharistie, Eschatologie, Präde­ stination. Wilhelm von Tripolis, Notitia de Machometo (1271?), NM , diskutiert die Eschatologie (Kap. 8), Mariologie und Christologie (9f.); Wilhelms De statu Sarracenorum (1272?), DSS, nennt Schriftverständnis (Kap. 26), Mariologie (27-36), Christologie (39-46), Altarsakrament (47), Eschatologie (52), Trinität (53), Inkarnation (54). Die Auswahl dieser drei hochmittelalter­ lichen Theologen ist darin gerechtfertigt, als Petrus Venerabilis (1092-1156) überhaupt als In­ itiator ernstzunehmender Islamstudien im Abendland gelten kann. Auf seine Anregung ging die lateinische Koranübersetzung (1142/43) des Robert von Ketton zurück, zu dessen Basler Druck Luther 400 Jahre später ein Vorwon schrieb (s. u. C.5.e). Vgl. zum Kettonschen Koran: Rein­ hold Glei, in: Petrus Venerabilis, Schriften zum Islam, IX. Wilhelm von Tripolis (1220? - 1280?) war wie Ricoldus Dominikaner und wirkte lange Jahre wahrscheinlich in Akko(n). Seine beiden Schriften gegen Mohammed und die Sarazenen sind als durchaus sachkundig anzusehen; viel­ leicht hat Ricoldus De statu Sarracenorum des Wilhelm benutzt. Vgl. dazu: Peter Engels, in: Wilhelm von Tripolis, Notitia de Machometo. De statu Sarracenorum, 103-105. Thomas von Aquin (1225-1274) steht mit seinem kleinen Werk De rationibus fid ei (1264?/1273?) der Con­ fiitatio des Ricoldus zeitlich am nächsten. Nähe besteht auch im missionstheologischen Ansatz. Auch scheint die Durchführung in Teilen Vorbild fur die Confiitatio gewesen zu sein, was bei der Hochschätzung des Thomas unter den Dominikanern nicht verwundert. Zu letzterem vgl. auch: Martin Grabmann, Die Schrift: De rationibus fidei contra Saracenos, Graecos et Armenos ad Cantorem Antiochenum des Heiligen Thomas von Aquin, in: Scholastik 17 (1942), 187-216. Heranzuziehen ist ferner des Thomas Summa contra gentiles (SCG). Zum geistesgeschichtlichen Gesamtkomplex: Southern, Islambild des Mittelalters; Hagemann, Christentum und Islam, 6297 (Überblick); Klinge, Die Beziehungen zwischen christlicher und islamischer Theologie im Mittelalter, in: ZKG 56 (1937), 43-58. Die islamkundlichen Belege sind unten jeweils einzeln aufgefuhrt. Allgemein sei hier lediglich verwiesen auf: Adel Theodor Khoury u.a., Handbuch Recht und Kultur des Islams in der deutschen Gesellschaft. 382. Nachweis jeweils heranzuziehender Traditionen (Petrus Venerabilis, Thomas von Aquin, Wil­ helm von Tripolis) in Confiitatio, ed. Ehmann (Kommentar).

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Die Verlegung als interpretatorische Leistung Luthers

mittelalterlich-christliche Tradition383 - (tatsächliche) islamische Tradition (Koran/ hadith) beachtet.

a) Glaube Luther begnügt sich in der Auseinandersetzung mit dem Islam nicht damit, es genüge zu wissen, daß »Mahmet ein Feind Christlichs Glaubens were«384385. Dennoch oder ge­ rade deshalb fuhrt der Reformator den Streit als Streit um den Glauben von Christen und Muslimen. Das Anliegen der Verlegung besteht darin, auf verschiedenen Ebenen zu zeigen und darzustellen, »was Mahmets Glaube were«383, ohne beim reinen Verdikt stehen zu bleiben. Die Übersetzung der Confutatio hat entsprechend heuristische und pastorale Funktion: »Darumb ichs fur nützlich und not angesehen, dieses B&chlin zuverdeudschen ..., Das doch bey uns deudschen auch erkand werde, wie ein schendlicher Glaube des Mahmets Glaube ist, Da mit wir gesterckt werden in unserm Christ­ lichen Glauben«386. Der rhetorischen Transformation und der inhaldichen Abzwekkung der Verlegung entspricht die Wahrnehmung, daß der GlaubensbegrifF in der Con/utatio so gut wie keine Rolle spielt. Ricoldus bedenkt die christliche Wahrheit als geschlossenes System: Irrtum und Häresie kennzeichnen den Islam, während fur Luther christlicher Glaube in Erfahrungssätzen387 (Kreuz, Zorn, Leiden) bzw. Bezie­ hungssätzen (Gott als Liebender, Richter, Erlöser)388 beschrieben wird, dem als scheinbarer Glaube die konkupiszente Existenz (Selbstsucht, Lust, Reichtum, Gewalt) in und außerhalb des Islam antitypisch korrespondiert. Erst im Fortgang des Proömiums gelangt Luther vom Glauben (als Erfahrung) zu den Artikeln des Glaubens (Lehre)389: Türken, Sarazenen, Mohammed »sind so hart verstockt, das sie fast alle unsere Glaubens Artickel spotten und h&nisch verlachen, als werens Nerrische von unmöglichen dingen gewesche«390. Erfahrung und Lehre gehö­ ren zusammen. Zur Lehranalyse ist die häresiologische Einordnung des Islam im 1. Kapitel zu zählen, zum komplexeren Befund der Erfahrung gehören die Zusam­ menhänge der vermeintlichen Vernunft des Islam und der Unvernunft (Schwierigkeit, Härte, Emst) des christlichen Glaubens, die hinüberepielt zur Frage der (Ge­ 383. 384. 385. 386. 387. 388.

Meist lediglich in der Anführung von Belegen und ohne weitere Würdigung im Haupttext. WA 53. 272,14. Ebd. 272,13 (Hervorhebung J. E.). Ebd. 272.30-32. 274,1. Vgl. Althaus, Theologie Luthers, 58-65. Lohse, Luthers Theologie, 219: Glaube »betrifft vor allem das Gottesverhältnis des Menschen, und zwar unter dem Gesichtspunkt von Gericht und Gnade.« 389. Beide Aspekte des Glaubens sind bei Luther zu unterscheiden, keinesfalls aber zu trennen. Vgl. Martin Seils, Glaube, 64 f.; Walter Mostert, Luthers Verhältnis zur theologischen und philoso­ phischen Überlieferung, in: Junghans (Hg.), LWML, 347-368. 839-849, dort 350 (bzgl. der Aufnahme der Glaubensartikel in die Schmalkaldischen Artikel 1537): »Daß Luther das Symbol in drei Artikel einteilt, also gegen die Tradition der Aufteilung in zwölf Artikel die trinitarische Struktur hervorhebt, hängt mit Luthers Verständnis der Beziehung von Gon und Glaube zusam­ men: Der »Glaube« (= das Symbol) ist nicht Aufzählung einer bestimmten Quantität von Tatsa­ chenwahrheiten, sondern Zueignung der Liebe des dreieinigen Gottes.« 390. WA 53. 276,14 f.

Luther u nd der Islam nach der Verlegung

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bots-)Nachlässe im Islam und der Dispens- und Ablaßpraxis im Bereich der Altgläu­ bigen, d. h. letztlich zur Bußtheologie. Komplex ist der Zusammenhang, da in ihm sich die Frage nach der Verborgenheit des Handelns Gottes einerseits, andererseits die Fra­ ge nach dem Kreuz Christi als Zentrum des Glaubens und zugleich die Frage nach Buße und Leiden als Antwort gläubiger Existenz verbergen. Dieser dreifache Zusam­ menhang ist genauer zu betrachten: Glaube bedeutet fur Luther hier zunächst die Erfahrung der Strafe Gottes fur die Sünden und deren Annahme als Gericht durch sein Volk (Israel, Kirche). Die Zuwen­ dung Gottes im Gericht wird erlebt als vermeindiche Abkehr des gnädigen Gottes. Seine Strafe dient der Buße der Gläubigen, zugleich als Drohung auch gegen die Un­ gläubigen. Beide aber kulminieren im christologisch und biblisch-apokalyptisch be­ gründeten Märtyrertum der Christen unter der Bedrückung durch Mohammed und in der Gerichtsansage an die Muslime391. Glauben heißt Aushalten der zeitlichen (und damit zeidich begrenzten) N ot392: »Wir wollen lieber, ist auch besser, seinen [Gottes] zorn zeitlicher straffe und Blutvergissens leiden, denn mit dem Teufel und seinem Apostel Mahmet und seinen Heiligen, den Tftrcken, die Heilige Schriflft verleugnen und ewiglich mit jrem sieg, gl&ck und gewalt, ehre und gut in den ewigen zorn Gottes fallen«393. Dem Teufel als Abgott mit seinem Apostel und Heiligen dienen wird zum Andtypus chrisdichen Glaubens. Luther charakterisiert den Islam als Religion des Wohlergehens. Darin liegt die Gefährdung fiir Christen394. Das islamische Glaubensbekenntnis - die shahada395 wird nicht gewürdigt, obwohl dieses im 4. Kapitel angedeutet und im 5. wörtlich angeführt wird396397.Vielmehr wird das Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes (tawhid/wahdaniyam ) und zur Sendung Mohammeds als dessen anmaßende Selbstoffenbarung interpretiert und in ihrem theologischen Gehalt nicht erkannt, wenn umgehend der »fleischliche« Charakter seiner Botschaft herausgestellt wird398. Kriegerischer Expan­ 391. Vgl. ebd. 274,14-39. Zum christologischen Verständnis des Märtyrertums bei Luther richtig Asendorf, Eschatologie, 213: »Das Leiden ist Frucht der Predigt des Wortes Gottes ... Der Wi­ derstand, der sich gegen dieses Wort erhebt, ist nicht mit theoretischen Worten zu überwinden, sondern allein im Zeugnis, im Martyrium. Der Märtyrer ist in exemplarischer Weise in die Kon­ formität des Christusleidens hineingenommen.« Heils- und Unheilsgeschichte entsprechen ein­ ander. Im Hintergrund stehen Traditionen wie 1 Kor 11 und 1 Tim 4; treffend Norbert Brox, Pastoralbriefe 167: »Die Ketzerei gehört zum heilsgeschichtlichen >MußEs ist kein Gott denn Gott«, und »gleubet Gott und seinem Apostel« (mei-

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sionsdrang (Mord), Unterdrückung der Andersgläubigen (Erpressung) und Unzucht (Vielehe) sind Belege solchen »Glaubens«. Luther übernimmt die methodische Anlage der Confutation islamische Lehre399 und zeitgenössische Erfahrung nicht zu differen­ zieren, d. h. die »Anstrengung« zur Mission (d j i h a d die Forderung der Kopfsteuer (djizyam ) für Nichtmuslime (dhimmi402) und die komplexe Frage der Vielehe403 wer­ den nicht als religiös motivierte Rechtsetzung der geschlossenen islamischen Gesell­ schaft (umma404) verstanden und danach beurteilt. Im Hintergrund der genannten und von Luther inkriminierten Phänomene steht die bis heute brennende Frage nach der Universalität religiös bestimmter Gesellschaftssysteme. Luther läßt erkennen, daß Muslime nicht alle christlichen Glaubensartikel verwer­ fen. Diese Erkenntnis Luthers ist festzuhalten, wenngleich die meisten Übereinstim­ mungen auf Mißverständnisse des Ricoldus bzw. christliche Interpretation koranischer Lehrsätze zurückgehen. Sie zeigt zugleich, daß sich Wahrheit an traditioneller Lehre, d.h. an den altkirchlichen403 Dogmen orientiert bzw. sich darin erschließt. Entsprechend übernimmt Luther die häresiologische Typologie des Ricoldus zum Er­ weis der Unwahrheit islamischer Lehre. Genannt werden Modalisten (Sabellianer), Arianer, Manichäer, Macedonier, Anhänger des Kerinth und Ebioniten, denen in ethi­ scher Zuspitzung noch Polygamisten und Befürworter der Sodomie angefugt wer­ den406. Luther bleibt jedoch nicht bei der dogmengeschichtlichen Zuordnung stehen, sondern zieht (mit Ricoldus) hinsichtlich des Glaubens die Quintessenz: »Alles, was in der Schrift schwerlich zugleuben und sawer zuthun ist, das schneit er abe, und lesst zu, wo zu man geneiget ist in diesem zeitlichen leben, Als fleischliche Lust, Raub und Mord ...«407. Diese Charakterisierung des Islam kommt fraglos einer Verwerfung gleich, die sich dem Gespräch verschließt. Dennoch verzeichnet auch Luther Anknüpfungspunkte, die freilich in den meisten Fällen wiederum polemisch überlagert sind: Die Muslime

399.

400. 401. 402. 403. 404. 405.

406.

407.

nei sich selbs damit). Und [Mohammed] vergisst hierin, wie ein Wansinniger, das er solchs selbs rodet von Gotte.« Die islamische Lehre kann an dieser Stelle natürlich nicht dargestellt werden. ZurückgegrifFen wird insbesondere auf das bereits zitierte Werk Hermann Stiegleckers, Die Glaubenslehren des Islam, und die Beiträge von Hagemann, ferner: Khoury, Islam; und ders., Einführung in die Grundlagen des Islams; Tilman Nagel, Geschichte der islamischen Theologie. Kurzbelege sind entnommen aus: Khoury, Hagemann, Heine, IL (Seitenangabe ohne Verfasser). LIW, Heiliger Krieg, 349-359 LIW, Abgabe der Schutzbürger. 27 f. LIW, Toleranz, darin: Schutzbefohlene, 721-723. LIW, Ehe und Familie, 190-197. LIW, Frieden, 259-265; vgl. auch: Hagemann, Christentum und Islam zwischen Konfrontation und Begegnung, 46-49 (Die islamische Gesellschaft: aJ-umma al-islanrmya). Vgl. dazu: W. Mostert, Luthers Verhältnis zur theologischen und philosophischen Überliefe­ rung, 350-359; zur Gotteslehre: Lohse, Luthers Theologie, 223-227 (»Luthers Stellung zum überkommenen Dogma«). Als Quellen dienen v.a. Luthers Vom Abendmahl Christi (1528) und die Schmalkaldischen Artikel {1537). In beiden Schriften betont Luther seine Übereinstimmung mit der römischen Kirche in der Trinitätsichre und in der Abwehr aller Ketzereien. Auf dogmengeschichtliche Belege zum 1. Kap. (WA 53, 278-284) wird hier verzichtet; im 3. Kap. werden Nestorianer und Jacobiten erwähnt. Vgl. dazu Confittatio. ed. Ehmann (Kom­ mentar). WA 53, 282,23-25.

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sind einerseits neugierig auf die christlichen Lehren der Trinität und der Inkarnati­ on408, sie schätzen die Psalmen, Christus und Maria hoch. Andererseits macht es we­ nig Sinn, mit ihnen über Glaubensartikel zu diskutieren, da sie sich weigern, über Dinge zu reden, die über den menschlichen Verstand und Vernunft hinausgehen409, was weniger eine Absage an die Disputation über den eigenen Glauben darstellt als vielmehr die folgende Analyse des Koran begründen soll. Zugleich ist damit zugestan­ den, daß christlicher Glaube schwer zu vermitteln ist: »Denn nach dem der glaube uns solche ding leret, die nicht begreiflich sind, lassen wir uns begn&gen, das er durch das Euangelium (welchs der Alkoran auch selbs lobet) und durch Wunderwerck bestettigt ist«410. Luthers von Hebr 11, 1 bestimmter Glaubensbegriff scheint hier durch, der wiederum transparent wird für die Folgeprobleme der Beglaubigung von Offenbarung durch die Schrift selbst, eine Frage, die Luther von der Auseinandersetzung mit den Täufern und den Altgläubigen her kennt und die auch die Verlegung durchzieht411. Die Absage an die Disputation über Glaubensartikel weist auf methodische Span­ nungen der Verlegung hin, wenn in der Analyse des Koran die Widerlegung sich durchgängig - mit Ausnahme der angeführten Vernunftgründe - anhand chrisdicher Lehrtopoi vollzieht: d.h. aufgrund von recht (orthodox) verstandener traditioneller christlicher Lehre (und zugleich falsch verstandener islamischer). Auf die einzelnen loci ist weiter einzugehen; die grundsätzlichen Beobachtungen der Confiitatio ergeben das folgende Bild: (1.) Islamischer Glaube ist diesseitig orientiert. Er zielt ab auf die fleischliche Existenz des Menschen. Vemunftübersteigende Fragen kennt er nicht. Deshalb ist seinem Wahrheitsanspruch zunächst mit Vemunftgründen zu begegnen. Bei Licht besehen sind diese Vemunftgründe chrisdich dogmatisch bestimmt. (2.) Chrisdicher Glaube ist jenseitig orientiert und übersteigt die Vernunft (Trinitäts­ lehre, Christologie, Inkarnation). Dies macht es schwer zu glauben, sowohl für Musli­ me wie auch für (fälsche) Christen, die sich beide an äußeren Schein halten412. In der Auseinandersetzung m it dem Islam und in der zeidichen Bedrückung durch die Tür­ ken bedeutet Glaube die Übernahme des Leidens in der Nachfolge Christi sowie Ge­ horsam gegenüber dem R uf zur Buße als Einwilligung in Gottes Gebot und Gericht.

408. Vgl. WA 53,284,20-22. 409. Ebd. Hier mag der erneute Hinweis auf den mehrfach begegnenden doppelten Vernunftbegriff bei Luther genügen. Das Problem wird unten, 417-420 und 505-507 weiter erörtert. 410. WA 53,284,32 f. 286,1 f. 411. S. u. 146-148 (d). Als früher Beleg zur Rezeption von Hebr 11, 1 ist die gegen Alfeld gerichtet Schrift Vom Papsttum tu Rom (1520), WA 6, 322,15 f.. zu nennen. Vgl. auch die 5. der Resolu­ tionen von Jen Gelübden und geistlichem Leben der Klöster vom 9. September 1521, WA 8, 323,9 f., in der Luther zur Definition des Glaubens lediglich das Zitat Hebr. 11,1 bringt: »Est autem fides substantia rerum sperandarum, argumentum non apparentium ...«; vgl. außerdem den Bezug in De servo arbitrio (1525): »Altera est, quod fides est rerum non apparentium.« WA 18,633,7; dazu auch Rudolf Mau, Der Gedanke der Heilsnotwendigkeit bei Luther, 36-41. 412. Daß diese Erkenntnis Luthers Theologie entspringt und nicht allein in der Begegnung mit der Confiitatio begründet ist, zeigt WA 40, 392,16 ff.: »Papa et Turca facile credunt, quia apud illos tanti successus sunt, et tanta florent potentia, sapientia, specie sanctitatis, religione, ut nihil su­ pra.«

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(3.) Über islamischem und christlichem Glauben steht Gottes Regiment als Trost für die Glaubenden (Christen) und als Drohung an die Nicht-Glaubenden (Muslime). (4.) Luther ist Kreuzestheologe. Der Glaube an die Treue Gottes bewährt sich tub contrario in der Erfahrung des Gerichts. Noch ist Gottes Zuwendung hinter dem Ge­ richt und dem Leiden verborgen413.

b) Trinität Glaube und Gott gehören zusammen414. Christliches Reden von Gott ist wesenhaft Rede vom dreieinigen bzw. dreifältigen Gott. Damit ist zugleich im christlichen, geist­ gewirkten Glauben der Vernunft eine Grenze und dem Glauben selbst in Jesus Chri­ stus Ziel und Mitte gewiesen. Christlicher Glaube ist entsprechend kein Glaube an (irgend) einen Gott, sondern Glaube an den einen Gott, der sich als Vater, Sohn und Heiliger Geist offenbart und als solcher verkündigt und bekannt werden will415. Auch im Zusammenhang trinitätstheologischer Erwägungen betont Luther die christologischen Zusammenhänge. Trinitätslehre und Inkarnation sind nicht zu trennen, die Be­ tonung liegt entsprechend auf der zweiten Person: An einen Gott glauben alle Men­ schen. »Wenn es aber um Christus geht, so leugnen ihn die Türken als den wahren Gott ebenso wie die Juden und Rotten, denn für den Verstand ist >dreifeltig< nicht dasselbe wie >einfeltig zont ist festzustellen, daß der scholastischen wie der reformatorischen Theologie der eine mögli­ che konstruktive Zugang offenbar verwehrt war: der Wille, die eigene Botschaft in die Kontinuität der biblischen Botschaft zu stellen, statt Übereinstimmung und Widerspruch zur Bibel unterschiedslos der Fehlleistung Mohammeds anzulasten. 485. Sure 5,15b. 16: »Gekommen ist zu euch von Gott ein Licht und ein offenkundiges Buch, mit dem Gott diejenigen, die seinem Wohlgefallen nachgehen, die Wege des Friedens leitet und sie aus den Finsternissen ins Licht herausbringt mit seiner Erlaubnis; und Er leitet sie zu einem geraden Weg.« 486. Zu denken wäre an Joh 8, 12; 12, 36.46; 14,6. 487. Zu Rhythmus, Metrik und Reim im Koran vgl. Tilmann Nagel, Der Koran, 16f. Nagel bietet zur Illustration einen Auszug der 53. Sure nach der Übersetzung Friedrich Rückens. 488. Khoury, Islam, 39: Die »Einmaligkeit des Korans bezieht sich auf seine Sprache und zugleich auf seinen Inhalt. Die Sprache des Koran ist fiir den Muslim eine göttliche Sprache, sie ist heilig, erhaben, geheimnisvoll und faszinierend.« Hagemann, Die erste lateinische Koranübersetzung, 47: »Nur Gott als alleiniger Autor des Korans konnte ein derartiges Werk vollbringen, dessen absolute (Jnüberbietbarkeit nicht nur in seiner literarischen Schönheit, in seiner Sprache, seinem Rhythmus und Stil, sondern vor allem in seiner göttlichen Herkunft liegt.« 489. Vgl. Sure 21,5 Die Propheten (al-Anbiya’), auf die Ricoldus sich in WA 53, 295,11 bezieht. Der Zusammenhang der Besessenheit und Verzückung in der Confutatio macht jedoch eher Sure 37, 35 f. Die sich reihen (al-Saffat) einschlägig: »W'enn zu ihnen [den Gegnern] gesagt wurde: »Es gibt keinen Gott außer Gott«, verhielten sie sich hochmütig und sagten: »Sollen wir denn unsere Götter verlassen wegen eines besessenen Dichters?««

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dem gehört gerade zu den Schätzen seiner eigenen Bibelübersetzung. Zu Luthers Ent­ lastung kann kaum veranschlagt werden, er folge notgedrungen der Confutation wenn die Verlegung den Aspekt der Unvernunft gereimter Rede gegenüber der Vorlage noch verstärkt. Trotz mangelnder Korankenntnis hätte Luther hier durchaus gerechter ur­ teilen können. (2.) Gleiches gilt ftir die plerophore Struktur koranischer Aussagen, wie sie orientalischen Sprachen eigen ist. Luther abstrahiert die Struktur von den Inhalten, um erstere einem quasi pathologischen Befund beim Autor zuzuschreiben. (3.) Ähn­ lich verhält es sich mit dem ethischen Vorwurf, der Koran gebrauche »unuerschempter, grober, unzöchtiger wort, wenn er von dem fleischlichen werck redet, wie die Hu­ ren und Buben im hurhause oder sonst grobe unuerschampte leute thun. Aber der heilige Geist gar zfichtig in der Schriflft davon redet ... Denn auch die Rechte und Philosophi, als öffentliche redener, züchtig und schamhafftig davon reden. Aber Mahmet war so tieff in der unzucht ersoffen, das er öffentlich gern von solcher elenden notturft oder böser söndlicher lust schendlich redet und reden leret«490. Luther bringt hier keinen expliziten Nachweis aus dem Koran; die Spannung zwischen der Vorhal­ tung unangebrachter Lyrik und dem Vorwurf niedersten sprachlichen Niveaus im Ko­ ran bleibt unausgeglichen. Auch wird die Conjutatio polemisch erweitert, wenn in der Verlegung Heiliger Geist und öffentliche Rede einerseits, Mohammed und öffentliche Unzucht andererseits einander gegenübergestellt werden. Hier treibt die eigene Pole­ mik Luther über das an sich schon fehlgehende Sachurteil des Ricoldus noch hinaus! (4.) Weiter verstärkt wird der Charakter sich verselbständigender Polemik beim Re­ formator in der Aufnahme von vier vermeintlich koranischen Traditionen491, die den christlichen Leser gewiß machen sollen, daß der Koran voller Fabeln und unnützer Märchen stecke492. Die vier Geschichten sind in der Luther vorliegenden und von ihm weiter entstellten Form nicht nur grotesk, sondern absurd493. An der Frage der Authentizität der Überlieferung494 äußert Luther jedoch keinen Zweifel. Zielpunkt ist der Nachweis der Unglaubwürdigkeit495 und die Sclbstentlarvung des Koran, verbun­ den mit dem Vorwurf magischer Praktiken496 gegen Mohammed. D. h. gerade das Problem der Schriftoffenbarung wird von Luther personalisiert im Sinne eines Mach­ werks durch einen lügnerischen, fleischlichen Magier. Allein zu den genannten Tradi­ tionen belegen fünf Randglossen Luthers Sarkasmus. 490. WA 53, 294,22-30; 296,1. 491. Mit Ausnahme der Geschichte von Haruth und Maruth (Luther: »Aroth und Maroth«), die Luther einem »Capitel von Enden«, ebd. 298,6, zuweist - ohne zu durchschauen, daß Ricoldus hier auf narrative Traditionen (hadithe?) und nicht auf den Koran selbst hinweist. 492. Vgl. ebd. 296,3 f. 493. Dies gilt insb. für die Geschichte von Salomo und den »Fliegen«. Material dazu bei Bobzin, Koran, 103, Anm. 209, u. 132-143. Grundtext ist Sure 27,17-24 Die Ameisen (al-Naml). Zu Salomos Tod vgl. Stieglccker, GL, Nr. 415. 494. Vgl. dazu Confiitatio, ed. Ehmann, 221-223 (Kommentar). 495. Die Nachweise einzelner Widersprüchlichkeiten im Koran in den folgenden Kap. 5 und 6 wer­ den nicht weiter berücksicht. Aufgrund der starken Pcrsonalisierung der Polemik werden die Fragen der Wunderbcglaubigung (Kap. 7) und des »viehischen und Sewischen« Charakters des Koran bzw. Mohammeds (Kap. 8) unter Buchstabe g), 171-175. mitbehandelt. Die Kap. 12 bis 14 bringen wenig neue Aspekte. Zu Kap. 11 s. u. 496. Der Vorwurf, Mohammed sei ein Zauberer, Magier bzw. Schwarzkünstler gewesen, reicht bis ins Mittelalter zurück; vgl. dazu Southern, Das Islambild des Mittelalters, 26.

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Exkurs 1: Die Confutatio und die Traditionen der Legenda aurea Die Absurdität der angeblich koranischen Überlieferung nötigt zum genaueren Blick auf die Traditionsgeschichte und damit die Zuverlässigkeit des Ricoldus. Auffällig ist jeden­ falls, daß neben einer phantastischen Biographie Mohammeds und traditioneller, teils authentischer Motive sich eine erhebliche Anzahl der herangezogenen Skurrilitäten auch in der Legenda aurea des Jacobus de Voragine findet. Zu nennen sind folgende Über­ lieferungen497498: 1. Die Erschaffung des Schweins aus dem Kot des Kamels (965) als Ätio­ logie des Verbotes des Genusses von Schweinefleisch, 2. Mohammeds Leiden unter Epilepsie (ebd.), 3. seine wundersame Unterweisung durch Sergius (966), 4. Die Schil­ derung der Waschung (967), 5. Die Erlaubnis zur dreimaligen Verschmähung der Frau (ebd.), 6. Anklänge an die Mohammed-Zainab-Tradition, 7. Die wunderbare Zusammenfugung des Mondes durch Mohammed (969) und 8. sein Tod durch Gift (ebd.). Die traditionsgeschichdiche Analyse der in der Legenda verarbeiteten Motive kann hier nicht geleistet werden. Festzuhalten sind jedoch die folgenden Beobachtungen: 1. Die Legenda kennt islamische Traditionen (Ziffer 4-6), die zum mittelalterlichen Stand der Islamkenntnis gehören und den Anspruch auf weitgehende Authentizität gel­ tend machen können. Soweit diese bei Ricoldus auftauchen, beruht die Vermutung überlieferungsgeschichtlicher Abhängigkeit der Confutatio von der Legenda auf Speku­ lation. 2. Die Legenda kennt und verarbeitet Traditionen (Ziffer 2, 3, 8), die verbreitet sind, ohne den Anspruch auf Authentizität erheben zu können. Sofern diese von Ricoldus verarbeitet sein sollten, stünden sie in klarer Spannung zum Anspruch des Dominika­ ners auf Widergabe eines authentischen Islambildes, wie er es bei seinem Aufenthalt in Bagdad gewonnen haben will. Eine Abhängigkeit des Ricoldus von Jacobus wäre aber fur diese Fälle nicht auszuschließen. 3. Die Legenda kennt und bietet Traditionen (7, 8), die ebenfalls in der Confutatio auf­ tauchen, deren Herkunft aber ungewiß ist. In diesen beiden Fällen könnte die Legenda durchaus eine der Quellen für die Confutatio gebildet haben. 4. Die Legenda kennt schließlich die Tradition (1), die in der uns bekannten antiisla­ mischen Überlieferung des Mittelalters nur auf die Doctrina Mahumet(i)499 zurückzufuhren ist. Für die Confutatio bedeutet dies dreierlei: Zum einen ist das Niveau der behaupteten Erkenntnis bei Ricoldus aus dem Gespräch mit islamischen Theologen als insgesamt gering einzuschätzen, wenn fast die gesamte Materie seines Werkes überliefe­ rungsgeschichtlich aus der Tradition gewonnen werden konnte, wie sie parallel und we­ nige Jahrzehnte vor der Confutatio in die Legenda Eingang fand499. Zum andern ist die spezifische Tradition von der Erschaffung des Schweins in der Confutatio selbst als nichtkoranische Tradition kenntlich gemacht, wenn Ricoldus diese als »in libro Mahometi de expositionibus«500 verortet und dieser liber wiederum als die Doctrina verifiziert weiden kann501502. Und schließlich zeigt Luthers Übersetzung »Comment Mohammed«*02, daß 497. 498. 499. 500. 501. 502.

Belege nach der Ausgabe von Benz, mit Angabe der Seitenzahlen im Text. Zur Doctrina vgl. die Hinweise bei Glei, Petrus Venerabilis, XVf. Die Legenda ist zwischen 1263 und 1273 entstanden, vgl. Benz* Einführung, XXIX. WA 53, 337,27 f. Vgl. CLS (Mérigoux), 107,224: »in libro Narrationum Mahometi«. Verifikation in CLS (Mérigoux), ebd. Anm. 83. WA 53, 336,32, auf Z 31: »Glosen oder Comment«. Es ist allerdings höchst unwahrscheinlich, daß Luther mit islamischer Tradition und der Legenda (deren Possen und Lügen er bereits in

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Die Verlegung als intcrpretacorischc Leistung Luthers

Luther kaum in der Lage war zu erkennen, daß die authentische Basis des Koran in der Confiitatio verlassen wurde. Die Haupdinien des 9. Kapitels sind bereits dargestellt worden. Eine weitere Textstelle zeigt, daß die Polemik der Verlegung über die der Confiitatio hinausgeht: Luther ist vom durchgängig lügnerischen Charakter des Koran überzeugt. Während Ricoldus dem Koran zugesteht, das er viel Wahres enthalte (»multa quidem vera«503), was auch im Gesetz, in den Propheten und im Evangelium zu finden sei, anerkennt Luther lediglich die Aufnahme biblischer Traditionen im Koran, das Wort vera ist gestrichen. Für Ricoldus ist der Koran aufgrund der Einfügung eigener Traditionen Mohammeds beinahe (totum fire) ganz zweifelhaft und falsch, für Luther dagegen nur verdächtig und falsch504. Offenkundig ist dem Reformator am Nachweis der grundsätzlichen Verderbtheit des Koran gelegen. Luther folgt der Confiitatio505 auch mit dem Vorwurf, der Koran kenne keine Ord­ nung. Richtig daran ist, daß der Koran in der Tat weder eine heilsgeschichtliche An­ ordnung der Suren kennt noch eine systematische oder eine historische. Der Aufbau orientiert sich (in der Gesamttendenz) an der Länge der Suren506. Ricoldus sieht in der Anordnung der biblischen Bücher und ihres Stoffs offenbar eine übernatürliche Ord­ nung walten. Die an der Vulgata orientierte Randglosse »Rhoma xiij.a«507 verweist auf Röm 13, 1 und die Ordnung des Alten wie Neuen Testaments. Luther übernimmt in der Übersetzung diesen Schriftbezug, ohne den Sachbezug zu entfalten. Schwerwie­ gender erscheint, daß der Reformator seinen selbst gewonnen Eindruck mangelnder Ordnung in biblischen Schriften hier gänzlich zurückstellt508. Was dort jedoch eine

503. 504. 505.

506. 507. 508.

einem Brief vom 24. August 1516 an Spalatin verabscheut, vgl. WA. BR 1, 50,8 f. so weit vertraut gewesen ist, daß er die Parallelität hätte erkennen können. WA 53,327,33. Vgl. ebd. 327.35 u. 326,10-12. Auch hier ist der Beitrag des Ricoldus nicht originell: Wilhelm kennzeichnet den Koran als Buch, »ubi non est ordo« (NM Kap. 8,39). Nach Ricoldus fuhrt Nikolaus von Kues (CribA 16,8) den Koran als »Über confusissimus« an. Zum Aufbau und zur Überlieferung des Koran vgl. Nagel, Koran, 15-34. Zu WA 53, 345,3. ln der angegebenen Stelle CB) findet sich »(potestates) ordinatae«. Luther spricht im großen Galaterbriefkommentar (1531) im Zusammenhang der Verleugnung des Petrus und der Passion Jesu von den Geschichten als »confusissimae«; vgl. WA 40 I, 126,5. Die kaum durchschaubare Systematik in der Komposition der gesetzlichen Bestimmungen im Pentateuch erfährt in der Vorrede auf das Alte Testament (1523/1545) eine lediglich psycho­ logische Deutung: »... Mose schreybt, wie sichs treybt, das seyn buch cyn bild vnd exempel ist des regiments vnd lebens, Denn also gehet es zu, wenn es ym schwanck gehet, das itzt dis werck itzt ihenes gethan seyn mus, Vnd keyn mcnsch seyn leben also fassen mag (so es anders göttlich seyn soi) das er disen tag eytrel geystlich, den andern eyttel weltlich gesetze vbe, sonder Gon regirt also alle gesetz vntereinander wie die stern am hymel, vnd die blumen auff dem felde stehen, das der mensch mus alle stund zum iglichen bereyt seyn, vnd thun wilchs yhm am ersten fur die hand kompt, Also ist Mose buch auch vntereinander gemenget.« WA.DB 8, 18,35-38; 20,1-5. Und in der Vorrede zu Jeremia (1532) heißt es: Der Prophet »weissagt von Christo vnd seinem Reich, sonderlich im .23. vnd .31. Capitel, da er gar Iderlich von der person Christi, von seinem Reich, vom Newen testament, vnd vom ende des alten testaments weissagt, Aber diese drey stftek. gehen nicht jnn Ordnung nach einander, vnd sind nicht geteilet im buch, wie sie jnn der that vnd wesen nach einander gangen sind, Ja im ersten stück, stehet oftt im folgenden Capitel, etwas, das doch ehe geschehen ist, weder das im vorigen Capitel, das sichs ansihet, als

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(im übrigen wenig plausible) Begründung findet, dient hier erneut der Polemik gegen Mohammed: Denn dieser »hacket ... so un&rdig unternander, das niemand sagen kann, warumb dis forne, jenes hinden, oder ie mitten stehe«. Er ist ein »wahnsinni­ ger«, »bleibt nicht auff dem wege«, er »wesscht« daher509. Auffällig ist, daß im Rahmen der Erörterung über die Schrifi(en) die Pneumatologie völlig zurücktritt. Wort und Geist Gottes tauchen lediglich im Zusammenhang der trinitätstheologisch falsch verstandenen Rede vom Geist im Rahmen der Verkündigungsgeschichte auf510. Fest steht fiir Luther, daß die alleinige Verbindung des Geistes Gottes zu Mohammed bzw. dem Koran darin besteht, gerade diesen selbst als unfreiwil­ ligen Bekenner des christlichen Glaubens zu erweisen: »Also hat jn [Mohammed] der heilige Geist vermanet und getrieben, das er hat müssen mit Worten unsers Glaubens höchsten Artickel aussprechen, und doch falschen verstand da wider hinein gefürt«511. Für das Verständnis des Koran bedeutet dies: Die Substanz des Glaubensartikels wird in einzelnen Fällen vom Koran bewahrt. Dem jedoch steht die subjektive Verweigerung bzw. Leugnung des Glaubens durch Mohammed entgegen. Die Schwäche der Argu­ mentation Luthers wird allein durch die Rezeption der Conjutatio nicht entschuldigt. Auffällig ist insbesondere die Uneinheitlichkeit der Kritik, die in letzdich unkritischer Polemik Luthers gründet. Deudich sucht Luther zu beweisen, Mohammed lüge bewußt gegen die Wahrheit des Evangeliums. Eine erhebliche Spannung entsteht jedoch, wenn Luther in Treue zur Vorlage behauptet, Mohammed habe sein eigenes Gesetz nicht verstanden und auslegen können, da Gott allein den Koran verstehe512. Damit hätte jedoch die Frage der Autorschaft des Koran, also die Frage nach Gott als Urheber der Offenbarung bis hin zur Autorschaft Gottes erörtert werden müssen. Wirft man von daher den Blick auf die einzige (polemische) Definition des Koran513 in der Verlegung^ so zeigt sich zunächst ein Mißverständnis des Terminus quran51\ dann aber das Ver-

509. 510.

511. 512.

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hab Jeremias solche bûcher nicht selbs gesrellet, Sondern seien stücklich aus seiner rede gefasset vnd auffs buch verzeichnet» Darumb mus man sich an die Ordnung nicht keren, vnd die unordenung nicht hindern lassen.« WA.DB 11/1, 192,7-16. Explizit inhaltliche und formale Kritik an der Ordnung treffen beim Jakobusbrief dessen Verfassen der »wirfft so vnordig eyns yns an­ der«, WA.DB 7. 386,2. Vgl. WA 53,347,8-18. Sure 4,171 Die Frauen (al-Nisa'): »... sagt über G ott nur die Wahrheit. Christus Jesus, der Sohn Marias, ist doch nur der gesandte Gottes und sein Wort, das er zu Maria hinüberbrachte, und ein Geist von Ihm.« In Übertragung der Confiitatio gibt Luther die Sequenz wieder mit: »»Sagt nichts von Gott denn die warheit, das Christus Jhesus Marien son, ein Apostel Gottes sey, Und Gottes Wort sey, das er in sie gelegt hat durch den heiligen Geist.«« Vgl. den gesamten Zusammenhang WA 53, 369 (Confiitatio) und 366/368 (Verlegung). Ebd. 366,31-33. Vgl. auch den gesamten Kontext derselben Seite. Vgl. WA 53,318,4 und 378,2 f. mit Bezug auf Sure 3,5 (?) Die Sippe 'Imrans (AI 'Imran). Trifft der Beleg (so auch Barge, 318, Anm. 3 und 378, Anm. 4) zu, so ist der Vers von Ricoldus und entsprechend von Luther mißverstanden, da hier vom Allwissen Gottes die Rede ist. Aus dem von Luther übernommen Teil der Vorrede 276,35f. - 278,1: »ein Gesetz ... voller lögen und Unrechts, doch mit dem schein, als were es aus dem Munde Gottes gesprochen ... gen en net Alcoran, das ist ein Summa oder versamlung, nemlich der Göttlichen Gebot.« Zur Wortbedeutung »Lesung, Rezitation« vgl. Nagel, Koran, 15. Luthers Verständnis des Wort­ sinns von Alcoran (al qur'an) als »ein Summa oder versamlung, nemlich der Göttlichen Gebot« (vgl. vorige Anmerkung) beruht auf der Charakterisierung des Ricoldus »diuinorum mandatorum collectionum« (WA 53,277,21 - CLS 62,47 f.: »collectaneum preceptorum«), die durchaus

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säumnis, den OflFenbarungsanspruch und gegebenenfalls Offenbarungscharakter des Koran zu erörtern, deren sachgemäße Aufnahme auch die pneumatologische Frage ge­ stellt hätte. Nun könnte die pneumatologische Zurückhaltung darin begründet sein, daß bereits Ricoldus die Übertragung allein der Frage auf den Koran als eines häreti­ schen Buches als theologisch unangemessen empfunden hat. Wahrscheinlicher ist, daß die jeweilige Besonderheit von Bibel und Koran christo\opsch bzw. »mohammedanisch« begründet, d. h. in beiden Fällen personalisiert wird als Frage nach der Wahrheit Chri­ sti bzw. Mohammeds: Die Frage nach der Wahrheit der Schriftoffenbarung verweist in der Verlegung nicht auf eine ausgeftihrte Schriftlehre oder auf Erwägungen zur Offen­ barung aus dem Geist Gottes, sondern auf die Frage der Beglaubigung und des Wahr­ heitsanspruchs des Offenbarungsträgersw . Die Polemik der Verlegung richtet sich we­ niger gegen den Koran als vielmehr gegen Mohammed selbst.

f ) Mohammed Im folgenden geht es nicht darum, welche Biographie oder welche Lehre von Moham­ med, seiner Person und Sendung, der Islam entwirft516. Vielmehr geht es um das Bild, das Luther in der Confutatio vorgefunden und in der Verlegung weiter entwickelt hat. Es läßt sich zeigen, daß Luthers Polemik in einer Weise die des Ricoldus übersteigt, daß von einer sachlichen Veränderung zu sprechen ist. Luthers Bild des Propheten

Zweifel an der authentischen Wahrnehmung des Islam durch den Dominikaner weckt, da gerade diese Charakterisierung nicht nur falsch ist, sondern Teil der Typologie der mittelalterlichen Auseinandersetzung. Petrus Venerabilis (STH Kap. 1,15) spricht vom Koran ebenfalls als einer »collectio praeceptorum« und kennt die Bezeichnung »Alfurcan« ijurqan) in CSS 26,16. - Wil­ helm von Tripolis verrät dieselbe Kenntnis der verschiedenen Umschreibungen des Koran (NM Prolog 13f.: liber legis, Alcoran, Forcan, und bietet in Kap. 5 weitere Titel). Furqan bedeutet zunächst Trennung, auch Erlösung. Die entsprechende Benennung des Koran geht wahrschein­ lich auf die gleichnamige Sure 25 zurück. Vgl. dazu Paret, Kommentar, 19. Wilhelm erwähnt den Koran (DSS 24,4) mit den Termini lexseu liber, »Meshaf seu Hatine« (Buch oder Sprüche). Im Gegensatz zu Peter Engels, DSS, Kommentar, 434, Anm. 342, ist hinter »Hatine« Verderbheit aus hadith zu vermuten. Am genauesten äußert sich Nikolaus von Kues, CribA 20,2-4: »Est liber legis Arabum Alkoranus ob praeceptorum collectionem atque Alfurkanus ob discretam capitulorum seperationem nominatus. Habet et alia nomina.« Vgl. dazu auch die Erläuterungen Hagemanns, ebd. 108, Anm. 56. 515. Die personalisierende Tendenz ist in der Einführung zum 3. Kapitel am stärksten ausgeprägt. Luther übersetzt »ncque enim vetus testamentum, neque euangelium hanc [legem = Alcoranum] testantur ... Solus autem Mahometus constituit seipsum et de seipso testimonium perhibet: ... [universalem esse prophetam]«, ebd. 287.27-29, erweiternd mit: »Von Mahmet ist kein Zeugnis, weder im alten noch newen Testament, Sondern er selbs und allein zeuget von sich selbs, on wunderzeichen und on schrillt, darumb kan er von Gott nicht sein, und leuget, da er sich rhömet, Er sey der gantzen Welt Prophet.« Ebd. 286,21 -24. Ricoldus unterscheidet lex, testimonium und Mahometus, Luther bezieht testimonium allein auf Mohammed. 516. Die Literatur zu Mohammed ist unübersehbar. Zu nennen sind die Standardwerke von Tor Andrae, Die Person Muhammeds in Lehre und Glauben seiner Gemeinde: Johann Fück, Muhammed - Persönlichkeit und Rcligionsstiftung, in: Arabische Kultur und Islam im Mittelalter, 153-175: Hans Haas, Das Bild Muhammeds im Wandel der Zeiten; Rudi Paret, Mohammed und der Koran. Eine gute Übersicht bietet Khoury, Islam, 77-84.

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kulminiert in dem für muslimische Ohren unerträglichen Urteil: »M ahm et... ist ein Abgöttischer, ein Mörder, Frawenschender, Reuber und aller Laster vol gewest«317. Das Bild Mohammeds in der Verlegung wird durch Nachzeichnung der polemischen und in Teilen legendarischen »Biographie«, die auf der Confutatio beruht, gewonnen, dann Luthers spezifische Polemik in vier Abschnitten anhand der Charakterisierungen der Verlegung erarbeitet318. »Biographie« Mohammed - von Zeit und Umständen der Geburt wird nichts berichtet319 - ist zur Zeit des Kaisers Heraklius öffentlich aufgetreten, der im Jahr 612 die Herrschaft über­ nahm (330) 32°. Sein Wirken321 beginnt im Jahre 598 (302) und ist gegen die Wahr­ heit und die Kirche gerichtet. Er ist nicht nur ein fleischlicher Mensch und Teufel, sondern ein Schwarzkünstler (325)322, auf den der Koran zurückgeht (276). Im 15. Regierungsjahr des Heraklius, als dieser die Perser unter Chosrau II. schlug und 625323 das heilige Kreuz wieder nach Jerusalem brachte, erhebt324 sich Mohammed, ein Araber (282)323, der durch Heirat einer Witwe326 reich geworden ist. Zunächst Hauptmann von Straßenräubern327 wird sein Ziel, die Königsherrschaft in Arabien328 an sich zu reißen. Als ihm das nicht gelingt, gibt er sich als Prophet aus. Er leidet unter Epilepsie329. Der - wie er selbst gesteht - ungebildete Laie (348)330 zieht abtrünnige

517. WA 53* 376,16t 518. Die Nachweise sind in den Unterabschnitten wieder in den Text aufgenommen und beziehen sich ausschließlich auf WA 53. 519. Mohammed dürfte um 570 geboren sein; Paret, Mohammed, 36. 520. Die Angaben treffen ungefähr zu, wenn mit Paret, ebd., die Berufung ca. 610 anzusetzen ist. 521. Unklar ist, worauf sich die Confutatio bezieht. Der Jahresangabe am nächsten kommt die Heirat Mohammeds mit Khadidja (gegen 595); vgl. Paret, ebd. 37. 522. Die Polemik gegen Mohammed als »Schwarzkünstler«, Zauberer oder Wahrsager hat ungeachtet ihres topischen Charakters Anhalt im Koran. Vgl. dazu Paret, Mohammed, 54-57. 523. ln Wirklichkeit 628. 524. Mit der »Erhebung« dürfte die Hidjra gemeint sein (622). 525. Mohammed entstammt der Sippe der Hashim\ Paret, ebd. 36. 526. Khadidja (ca. 550-620) war 20 Jahre älter als Mohammed. 527. Wohl eine Anspielung auf die Überfälle auf mekkanische Karawanen 624 und 625 in der Aus­ einandersetzung mit Mohammeds Heimatstadt Mekka vor den 630 endenden Kriegen. Wilhelm fuhrt die Räuberei auf die Sitte der Araber zurück, NM Kap. 3, 3: »Arabum more«. 528. Luthers Glosse »Münster« (zu 354,11) zeigt die Parallelisierung zur präsumtiven Errichtung des Täuferreichs von Münster. Zum Königtum Mohammeds findet sich ein Hinweis auch bei Petrus Venerabilis, STH, Kap. 11,1. 529. Die nicht verbürgte Kunde von der Epilepsie Mohammeds geht auf (teils) außerkoranische Tra­ dition der Offenbarungen zurück. Berichtet wird von schmerzhaften Visionen und Auditionen; vgl. Stieglecker, GL, Nr. 633*641. Die in der Verlegung angedeuteten Erfahrungen (»glocken­ weise«, WA 53, 354) dürften auf einen hadith aus dem Munde Aishas zurückgehen: »Al-Harith Ibn Hisham fragte den Gesandten Gottes: »O Gesandter Gottes, wie erreicht dich die göttliche Offenbarung?« Der Gesandte Gottes erwiederte: »Manchmal kommt sie über mich wie Glokkengeläute.««, Buhari, 23. Die Kunde gehört zum Grundbestand christlicher Polemik; vgl. Petrus Venerabilis, STH, Kap. 16, 11, und Daniel, Islam and the West, 69 f. 530. Koran, Sure, 7,157. Vgl. dazu Raeder, Christentum und Islam, 35.

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Juden und chrisdiche Ketzer an sich, darunter den Jakobiten Bahira531. Dieser ist ihm treu bis zum Tod. Es bestehen allerdings Gerüchte, Mohammed selbst habe ihn um­ gebracht (354). Auf dreifache Weise hat Mohammed die Kirche verfolgt: durch Gewalt (Tyrannei), falsche Lehre (Lüge, Häresie) und betrügerischen Anschein von Heiligkeit (Ethik) (278). Alle chrisdichen Häresien der Alten Kirche begegnen in seiner Lehre (278), die christliche Wahrheit ist ihm lächerlich (281). Mohammed behauptet, er habe von Gott Offenbarungen empfangen (282); er nennt sich Prophet (289), er ist ein Waisenkind532, das lediglich die arabische Sprache (302) kennt. Angeblich hat er viele Zeichen vollbracht, in Wahrheit handelt es sich um unglaubwürdige Fabeln. Auf Wunderzeichen angesprochen, antwortet er mit Androhung von Gewalt. Gleich an­ deren Tyrannen hat er bei seinen vielen Feldzügen nicht nur gewonnen, sondern auch Schlachten verloren und wurde verwundet (308)533. Mohammed besaß viele Frauen534, die er betrogen hat; er ist ein Ehebrecher (314). Seine fleischliche Existenz wird schon daraus ersichtlich, daß er sich selbst die Potenz von vierzig M ännern535 zuschreibt; dabei hat er nur eine Tochter536. Er empfindet Freude an unzüchtiger Sprache (316) und läßt den Umgang mit Knaben und (frem­ den) Frauen zu (302). Mohammed hat ein Buch geschrieben mit zwölftausend Wor­ ten, von denen er selbst bekennt, nur dreitausend entsprächen der Wahrheit (338). Er vermeidet und verbietet die Disputation537 (348) und zwingt andere zu seinem Glau­ ben (340/342); selbst seine Verwandten hat er nur durch Todesandrohung zu seinem Glauben bekehrt (342/344). Wenn er vereinzelt Duldung predigt, so stehen doch seine Taten gegen die Worte (348). In den Feldzügen hat er sich bereichert538 (348).

531. »Die Überlieferung berichtet, Muhammad sei in Bosra mit dem Mönch Bahira zusammen­ getroffen; dieser habe ihn visionär als den zukünftigen Propheten der Araber erkannt und im Glauben an den einen Gott unterrichtet, ln dieser Geschichte steckt als wahrer Kern die Tatsa­ che, daß der Islam Elemente aus dem Christentum aufgenommen und selbständig verarbeitet hat. Mit der dem Mönch zugeschriebenen Prophezeiung wird eine außerislamische Autorität fur die göttliche Herkunft von Mohammeds Sendung gewonnen.« Heribert Busse, Grundzüge der islamischen Theologie und der Geschichte des islamischen Raumes, in: Ende/ Steinbach, 19. Eine positive Würdigung Bahiras bietet Wilhelm von Tripolis, NM, Kap. l,6f. 532. Mohammeds Vater (Abdallah?) starb bereits vor der Geburt des Propheten, im Alter von sechs Jahren verlor er die Mutter Amina; Paret, Mohammed, 36. Vgl. auch Sure 93,6-11. 533. Hier ist an die verlorene Schlacht am Berg Uhud (625) und die Verwundung Mohammeds gedacht; vgl. Busse, Türkentraktat, in: Scholia 1981, 24. Petrus Venerabilis, CSS, Kap. 119. 534. Khadidja und Aisha sind fur die Geschichte des Islam von Bedeutung. Neben ihnen hatte Mo­ hammed neun (nicht gleichzeitig) weitere Frauen. Die Verlegung nennt Aisha und Hafsa (314), später Zainab (316). Paret, Mohammed, 156-159; Fatima Mernissi, Harem, 135-187. 535. Aus der Au/r'r/r-Literatur, die andere Zahlen tradiert, bspw. Buhari, 75: »Anas Ibn Malik erzählte: »Im Laufe einer Nacht und eines Tages ging der Prophet bei allen seinen Frauen ein! Und er hatte elf Frauen.« Ich fragte ihn: »Hatte er denn so viel Kraft?« - »Ja. Wir sagten immer: Er hat die Kraft von dreißig \Confutatio\ vierzig] Männern!«« und ebd. 328: »Gewöhnlich wohnte der Prophet in einer Nacht allen seinen Frauen bei. Und er hatte neun Frauen.« 536. Mit Khadidja hatte Mohammed drei Söhne und vier Töchter. Nur eine Tochter überlebte den Propheten; Paret, ebd. 37. 537. Der Vorwurf ist Ixrgion; exemplarisch: Petrus Venerabilis, CSS, Kap. 39 und 43-47. 538. Nach damaligem Recht stand dem Heerführer ein Fünftel der Beute zu; vgl. Paret, ebd. 122.

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Es sind antichrisdiche Greuel des Teufels, die mit seinem Auftreten ihren Anfang ge­ nommen haben (352). Im Blick auf sein Ende539 heißt es, er sei vergiftet worden (358), als eine Jüdin ihn zur Ader ließ. Vielleicht hängt sein Tod auch zusammen mit magischen Praktiken jüdischer Frauen, die ein wächsernes Abbild Mohammeds erstellten, das mit Nadeln gespickt in einen Brunnen geworfen wurde (374) 54°. Welche Traditionen Ricoldus im einzelnen aufgenommen hat, ist hier nicht zu untersuchen. Deudich aber bildet der zutreffende historische Kern (frühe Verwaisung, Heirat einer reichen Witwe, Offenbarungserlebnisse, Zeit des Auftretens, Aufstieg im Zusammenhang kriegerischer Auseinandersetzungen) den Kristallisationskern sich anlagemder polemischer Traditionen. Dieser wird in in den ricoldischen Rahmen dreifacher Bedrückung der Kirche durch Mohammed eingefugt. Die Verlegung bietet gegenüber der Confutatio nichts Neues. Luther bleibt in mit­ telalterlicher Tradition541, seine Verschärfung der Polemik gegen Mohammed hat einerseits Anhalt an der Confutation erfahrt jedoch andererseits ihre ganz eigene Dyna­ mik in der pädagogisch-rhetorischen Abzweckung der Verlegung und der theologi­ schen Einordnung durch den Reformator, wie das folgende zeigt. Der Prophet (der Gesandte) Zutreffend spricht die Verlegung von der Verehrung Mohammeds als Propheten542 bzw. Gesandten Gottes. Die erste Textstelle der Verlegung, in der von der Sendung Mohammeds die Rede ist, zeigt bereits, in welchem theologischen Zusammenhang der Reformator diesem »apostolischem Anspruch im Koran begegnen will. Dazu ist auf die komplexe Überlieferung einzugehen: Zunächst übernimmt Luther die Aus­ sagen der Confutation »Christus hab im Euangelio viel von jm [Mohammed] geweis-

539. Mohammed stirbt am 8. Juni 622. Die näheren historischen Umstände sind nicht bekannt. 540. Über eine solche invultatio-Vvzxis ist bzgl. Mohammeds nichts bekannt. Zur invultatio im Abendland bringt Johan Huizinga Beispiele, Herbst, 349 f. 541. Petrus Venerabilis berichtet in CSS, Kap. 11,1 der Herkunft Mohammeds von arabischen Ismaeliten und betont den kriegerischen Charakter (11,7). Bzgl. STH muß offen bleiben, ob in der anscheinend unvollständig überlieferten oder nicht vollendeten Schrift (vgl. Reinhold Glei, Pe­ trus Venerabilis, XXIII) ein eigenes (III.) Buch sich der Biographie Mohammeds in polemischer Absicht gewidmet hätte. Eine Inhaltsübersicht dieses Buches von der Hand des Petrus von Poi­ tiers (STH, ed. Glei, 232-239) liegt vor, deren Inhalt verblüffend den verstreuten Ausführungen der Confutatio gleicht. Vergleichsweise unpolemisch äußert sich Wilhelm von Tripolis in NM, vornehmlich in den Kap. 1. 2 u. 5. DSS setzt in den Kap. 1-4 ein mit einer ausführlichen bio­ graphischen Skizze, die sich von der Schilderung der Confutatio unterscheidet, insb. in der po­ sitiven Bewertung des Mönches Bahira. - Der polemischen Traditionsgeschichte, die in die an­ gezogenen Schriften des Mittelalters mündet, kann hier nicht nachgegangen werden. Im Hintergrund dürfte u.a. die Topik von Maleachi 3, 5 als eschatologischem Text stehen: »Und ich [Gott] will zu euch kommen zum Gericht und will ein schneller Zeuge sein gegen die Zau­ berer, Eheberecher, Meineidigen und gegen die, die Gewalt und Unrecht tun ...« 542. Dazu: Siegfried Raeder, Prophetentum im Koran, in: Christentum und Islam. Heft 5. Petrus Venerabilis weist in CSS, Kap. 102; 127 - 130; 151 den prophetischen Anspruch Mohammeds mithilfe einer umfänglichen biblischen Prophetologie zurück. Zum islamischen Verständnis: Heribert Busse, Rangstufen im Prophetenamt aus der Sicht des Islams, JBTh 14, 175-193.

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sage den Kindern Israel, da er spricht: >Ich verk&ndige euch einen Apostel Gottes, der nach mir komen wird, der heisst Mahmet« (284,7-9). Die unklare Überlieferung der Confutatio läßt Luther nicht erkennen, daß die Sure nicht explizit von Mohammed spricht, auch nicht die passivische Partizipialform von hm d (muhammad) in der an­ geblichen Verheißung Jesu verwendet, sondern Ahm ad M3. Verschiedene Traditionen sind miteinander verbunden: auf christlicher Seite die johanneische Paraklet-Tradition (Joh 14, 16.26; 15, 26) mit der Verheißung Jesu »eines andern«, auf islamischer Seite die Identifizierung des Parakleten mit Mohammed. Erklärbar ist dieses Ver­ ständnis durch die im Arabischen nicht vokalisierte Transskription des griechischen JiaQaxX,T|TOÇ (»Beistand, Tröster«) und der möglichen Lesung als JtaQâxA.UTOÇ, das dann aber dem arabischen ahmed!ahm ad entspricht, dem wiederum im Wortstamm nun »Mohammed« (muhammad) zugeordnet werden kann543544. Geht man bei der Be­ rührung von Christen und Muslimen von zunächst mündlicher Auseinandersetzung aus, so entspricht die itazistische bzw. die sich daraus entwickelnde griechische Ausprache von JiaQ àxX .iytoç als paraklitos noch stärker der Jia.Qà'KkvTOÇ-ahmad-Tradition. Luthers Verständnis des Abschnitts - und damit auch der Sendung Mohammeds wird deutlich durch seine Randglossen, welche die koranische Verheißung ins Gegen­ teil wenden. So nimmt der Reformator keine Identifizierung eines Gesandten mit einem Verheißenen als Zeugen der Wahrheit vor (Verbindung von Sure 61 mit Joh 14), sondern die Identifizierung des Gekommenen (Mohammed) mit dem im Rah­ men einer Scheltrede an »die Juden« (Joh 5) von Jesus verheißenen »anderen«, der obwohl doch nur kommend in eigenem Namen - Glauben finden wird545. Das bedeu­ tet: Christus hat nicht etwa Mohammed verheißen, sondern »einen anderen«, der zu Unrecht Glauben finden wird; d.h. aus der Perspektive Luthers: der seit Jahrhunder­ ten zu Unrecht Glauben gefunden hat und derzeit wieder den Glauben der Christen anficht. Im Hintergrund steht Joh 5 und nicht Joh 14; der Koran bietet entsprechend eine »teuflische Verdrehung«546. Damit sind die Verheißung und die Sendung Mo­ hammeds zurückgewiesen. Der Reformator scheint dabei hinsichtlich Mohammeds die beiden Begriffe »Ge­ sandter« (»Apostel«) und »Prophet« nicht zu unterscheiden547. Im allgemeinen über­ nimmt Luther die Bezeichnung »Prophet« gerade dann, wenn der prophetische An­ spruch Mohammeds sarkastisch durch emphatischen Bericht oder als Anrede Mohammeds selbst widerlegt werden soll (288: »ein Prophet der Wahrheit« - »der heilige Prophet« - »du heiliger warhafitiger Prophet«). Nur selten scheint hier authen­ tische Islamkenntnis durch. Diese ist zwar gegeben, wenn die Tradition des »Siegels

543. Sure 61,6 Die Reihe (al-Saff): »Und als Jesus, der Sohn Marias, sagte: »O Kinder Israels, ich bin der Gesandte Gottes an euch, um zu bestätigen, was von der Tora vor mir vorhanden war, und einen Gesandten zu verkünden, der nach mir kommt: sein Name ist Ahmad.« Vgl. dazu auch: Johan Bouman, Christen und Moslems, 96-99. 544. Vgl. dazu auch Schumann, Christus der Muslime, 25. 545. Vgl. Luthers Glosse zu WA 53, 284,8: »Joh. 5. Alius veniet in nomine suo.» Vgl Joh 5, 43. 546. »O Teuffel.« steht vor der Passage; zu ebd. Z 7. 547. Auch Ricoldus unterscheidet nicht rasul und nabyu Die Bezeichnung rasul ist neben Mose und Jesus meist an den Propheten (Mohammed) gebunden.

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des Propheten«*4* zunächst zutreffend wiedergegeben wird: »Von jm selbs leuget er also, Das er sey das Ende, Sigel und Schweigen (oder auffliören) aller Propheten« (326,18 f.). Das Mißverständnis der Tradition wird erst durch den Gegenbeweis deut­ lich, wenn Manifestationen prophetischen Geistes bei Juden (!) und Christen nach Mohammeds Zeiten das angeblich behauptete Aufhören alles Prophetischen widerle­ gen. Die Bezeichnung Mohammeds als rasul beschreibt jedoch weniger die Gabe des Vorherwissens als die Trägerschaft von Offenbarung. Das Auftreten prophetischer Ge­ stalten ist im Christentum aber - man denke nur an Joachim von Fiore oder die »Zwickauer Propheten« - zum einen durchweg mit Mißtrauen betrachtet worden; zum andern treten »legitime« Propheten naturgemäß nicht in Konkurrenz zu Trägern der Schriftoffenbarung (alttestamentliche Propheten) oder gar zur Offenbarung Got­ tes in Christus und zu dessen prophetischem Amt548549. Dennoch ist hier auch Richtiges gesehen. Die Funktion Mohammeds als rasul steht im integralen Zusammenhang zur Universalität seiner Sendung. Diese weist sich jedoch für Luther nicht an propheti­ schen Erscheinungen aus, sondern in der mangelnden Beglaubigung durch Verhei­ ßungen der Bibel wie in der fehlenden Übereinstimmung von W on und Tat Moham­ meds selbst. Die Frage vertagen sich entsprechend zum Problem wunderhafter Beglaubigung. »Solchs aber zu beweisen, das mans gleuben müsse, hat er kein Wunder je gethan, Sondern zoch ein schwen aus und sprach, Er sey von Gott gesand, nicht mit krefften der wunderwerck, Sondern mit krefften des schwerts oder woffen« (284,1114). Den Anspruch auf Beglaubigungen der Sendung und Botschaft Mohammeds lehnt der Koran allerdings ab - mit der dreifachen Begründung: »... daß Gott zur Zeit Moses solche Ansprüche bestraft hat (4,153), daß die Vorfahren der Juden auch bei Feuerwundern den Glauben an die Propheten doch nicht gefunden haben, sondern die Gesandten Gottes töteten« (3,183). Im übrigen gilt: »Du magst zu denen, denen das Buch [Koran] zugekommen ist, mit jedem Zeichen kommen, sie werden deiner Gebetsrichtung nicht folgen« (2,145)550. Weitreichend ist die Uminterpretation in christlicher Theologie, wenn unter Vernachlässigung der Tradition neutestamentlicher Gerichtsankündigungen angesichts des Unglaubens551 insbesondere die Ansage des Gerichts (Gottes!) als Gewaltandrohung gedeutet wird, ln den Worten Luthers, die durchaus noch die koranische Substanz erkennen lassen: »Denn da er keine Wunder gethan hatte und solchs beweisen wolt, furet er G on ein, der mit jm redet und spricht: »Der herr sprach zu mir: Darumb las ich dich keine Wunderzeichen thun, das dirs nicht umb der Wunderzeichen willen gehe, wie es andern Propheten gangen ist«. Also ist durch sein eigen Zeugnis uberweiset, das er kein Wunderzeichen gethan hat. Und er Mahmet, im Alcoran offt spricht, wie die Leute zu jm gesagt haben: »zeige doch ein Wunder, wie Moses mit Zeichen kam, und wie Christus und andere Propheten gethan 548. Sure 33,40 Die Parteien (al-Ahzab): »Muhammad ist nicht der Vater irgendeines von euren Männern, sondern der Gesandte Gottes und das Siegel der Propheten.« 549. Ausführlich zu den Formen rechten und falschen Prophetentums außen sich Petrus Venerabilis in seiner Prophetologie (SCC, Kap. 89*147) mit klugen und sinnvollen Differenzierungen: rech­ te und falsche bzw. universale und panikulare Prophetie, Prophetie und Inspiration. 550. Khoury, Einführung, 81. Die Angaben in Klammern bezogen sich auf die einschlägigen Koran* suren. 551. Vgl. etwa antijüdische Traditionen des NT, die dem Ablöseprozeß der frühen Christen vom Judentum zuzuordnen sind: z. B. Mt 12, 38-42; 13, 14*17; 13, 53*58; 16, 1-4; 21, 33-41.

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Habens darauff er antwortet: »Moses und die Propheten sind von Gotte gesand, Son­ derlich Christus, der mit grossen Zeichen kam, Aber die weit gleubte jnen nicht, Son­ dern hies sie Zeuberer und schwartzkönstler. Darumb hat mich Gott kein Zeichen thun lassen, Denn sie hetten doch nicht gegleubt, Sondern hin körnen mit gewalt der woflfen« (308,11-22). Luthers Bewertung folgt hier einem zu einfachen Schema: Entweder verweigert Mohammed die wunderhafte Beglaubigung und droht mit Ge­ walt; oder er beglaubigt sich selbst mit Fabeln. Beides ist abzulehnen. Nicht gesehen wird, daß Mohammed tatsächlich Zeichenforderungen zurückweist und daß dem Ko­ ran Mirakel eben nicht als Beglaubigungen des Propheten dienen552. Statt sich an der koranischen Überlieferung zu orientieren, legt Luther (über die Confutatio hinaus) den Schwerpunkt auf den Widerspruch zwischen Koran und Volksfrömmigkeit, aus der die Mirakel-Überlieferung stammt553. Unklare Visionen, unseriöse Überlieferung, fehlende Wunder, sie alle bezeugen die fehlende Beglaubigung Mohammeds, der sich dem Zweifel der Gegner nur mit Dro­ hungen erwehren kann (363). All dies dient für Luther dem Selbsterweis Mohammeds und der leichten Widerlegung seines prophetischen Anspruchs: »Hie höret nu jr Sarracenen, so den Alcoran fur warheit halten, Er selbs Mahmet zeuget, das er kein wunderzeichen gethan habe, Und der ist viel mehr, die das schwert aufgefressen hat, denn die so jm williglich gefolgt haben ... Und diese schendliche Lögen und falsch geticht soit allein gnugsam sein zu verlegen, alles was Mahmet gesagt und gethan hat, Denn wie nu oflft gesagt, hat jn der heilige Geist so gröblich lassen liegen [lügen], das ein jglicher sein falsch geticht leichdich erkennen möchte; jtzt sagt er von sich selbs un­ erhörte wunder, jtzt sagt er, das er kein Wunder gethan habe, jtzt sagt er, das er sey ein

552. »Und ob die Sarracencn sagen wollten, Mahmet hette viel und grosse Zeichen gethan, als da er den zerteileten Mond wider gentzet, und einen Wasserquell aus seinem Finger fliessen lies, Das sind Fabulen, und auch wider den Alcoran selbs.« WA 53, 308,3-6. 553. Ricoldus gesteht nicht nur zu, daß dem Koran die Differenzierung zwischen Wunder und Mira­ kel vertraut ist - heranzuziehen wäre etwa Sure 43,46-49, eine Erzählung von den Wundern des Mose vor Pharao, die als Mirakel nur Gelächter ernten und Mose vor seinen Gegnern nur als Zauberer erscheinen lassen - , sondern auch, daß mirakclhafte Traditionen über Mohammed nicht im Sinne des Koran sind. Im Islam wird als das Wunder Mohammeds die Übergabe des Koran an den rasul durch Gon selbst gesehen, um die Spekulationen über den Propheten zu vermeiden, die dann aber doch in die islamische Volksfrömmigkeit eingedrungen sind. Luthers Verfahren der Beurteilung des Islam aufgrund mirakelhafter Überlieferung entspräche einer Be­ urteilung der ncutestamcntlichen Christologie im Heranziehen außerkanonischer Traditionen. Man vergleiche dazu die Jesus- und Apostelüberlieferung bspw. der Petrusakten; vgl. auch Viel­ hauer, Urchristlichc Literatur, 697. Von Interesse dürfte in der islamischen Sicht des Christen­ tums sein, daß die christlich nicht kanonisierte Überlieferung des Thomasevangeliums vom Lebendigmachen der tönernen Vögel durch das Kind Jesus Eingang in den Koran gefunden hat; vgl. Sure 3,49. Die hermcneutische Frage der Wunderbeglnubigung ist also auch der christlichen Theologie nicht fremd. Als eine Antwort kann die weitgehende Ausscheidung mirakelhafter Überlieferung aus der Christologie gelten. Die dogmatische Fragestellung bleibt jedoch erhalten, ob die Wunderzeichen Jesu nach den Evangelien Hinweis aufseine Gottessohnschaft sind, oder vielmehr Ausdruck der dem Sohne Gottes eigenen Vollmacht. Fline sicherlich ernster zu neh­ mende Christologie im letzteren Sinn erscheint implizit sogar im Islam, wenn Christus nicht nur Zeichen vollbringt, sondern selbst Zeichen ist; vgl. dazu Schumann, Christus der Muslime, 30 f.

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Mensch und Bote, jtzt sagt er, das er mehr denn ein Engel und über die Engel sey« (363,24-33)554. Der »Grobe« (»wild, roh«) Die Charakterisierung Mohammeds in der Verlegung als »grob« hat aus mehreren Gründen besondere Bedeutung: Zum ersten, weil es sich dabei durchweg um einen sprachlichen Eintrag Luthers handelt, der nicht unmittelbar in der Vorlage der Confutatio angelegt ist, zum zweiten, weil Luther seine eigene Grobheit im sprachlichen Umgang mit Mohammed mit dessen wesenhafter Grobheit begründet, zum dritten, weil nach Meinung des Reformators die Grobheit der Vorstellungen des Koran mit Hilfe des Heiligen Geistes in die Selbstüberfuhrung des Islam mündet, schließlich aber, weil Luthers Überzeugung, Mohammed sei nicht der Antichrist, damit begrün­ det wird: »Er machts zu grob ...«555. Luthers Sprachgebrauch orientiert sich offensichtlich noch nicht an der entwick­ lungsgeschichtlich wirksam gewordenen Bedeutung »massig, dick«, sondern an der abstrakten und im übertragenen Sinn verwendeten Bedeutung des Wortes als »un­ eben, rauh«556. Die genaue Bedeutung wird erhellt durch die Parallelisierung zu Ge­ gensätzen. Als »fein« gilt Luther »Moses« und dessen »gar feine Ordnung« wie die des Evangeliums557; der (plumpen) Grobheit Mohammeds korrespondiert die (um so ge­ fährlichere) Subtilität des Papstes558. »Grob« bedeutet danach »niedrig, grobschläch­ tig, häßlich«559 - im rhetorischen Sinne: »was sich dem erkennen nicht entziehen kann; [und als] »augenfällig, am tage liegend, plumpTeufelsbündnereiIch hab gesündigt«, sprach Nathan aus Gottes munde: >Der HErr hat dir deine sunde vergeben«. Aber von Mahmet stehets nirgent, das er seine sunde bösset oder bekennet. Sondern bestetigt sie viel mehr, durch sein lesterlich schendlich Gesetze« (314,8-13). Die Kritik konzentriert sich auf die koranische Tradition der sogenannten »Nachtbzw. Himmelsreise Mohammeds«, nicht aufgrund ihres Charakters »einer sonder­ lichen, schendlichen grossen Lögen und gesicht [Vision]« (360,22), sondern bezüglich der bußtheologischen Implikationen. Die Tradition (islamisch: isra und mirag) von der Entrückung des Propheten und seine Schau Gottes haben als Ursprung einige wenige Belege im Koran591 und gehen auf frühe und offensichdich beliebte Aus­ schmückungen zurück592593, die wiederum mit koranischen Traditionen der Erleichte­ rungen gesetzlicher Bestimmungen591 durch Mohammed verbunden sind. Trotz der teils unklaren Überlieferung der Confiitatio ist der Skopus der islamischen Tradition in ihrem offenbarungstheologischen Anspruch und ihrer Kritik an Thora und Evangeli­ um getroffen: »Zwar war die Thora als Artikulation der einen Uroffenbarung gött­ lichen Ursprungs, hatte aber lediglich vorläufigen Charakter. Jesus hat mit seiner Bot­ schaft das Gesetz des Moses ergänzt, zu strenge Vorschriften der Thora gelockert sowie unter den Juden kontroverse Meinungen beigelegt. Doch auch das Evangelium war in seiner Art noch zu rigoristisch; es trug der menschlichen Schwäche noch zu wenig Rechnung. Die definitiv-gültige Offenbarung Gottes brachte Mohammed. M it ihr wurde aller Rigorismus aufgehoben, will doch G ott dem Menschen keine drückende Last aufbürden«594. Ohne Zweifel ist die zu Grunde liegende Vorstellung von der Gültigkeit des Gesetzes Gottes der Anschauung Luthers vom Gesetz und seines theo­ logischen Gebrauchs (usus theologicus/elenchticus) diametral entgegengesetzt. Auf Lu­ thers Lehre vom Gesetz ist hier nicht einzugehen595. Festzuhalten ist lediglich die Be­ hauptung der unabdingbaren Erfahrung von Gericht (Gesetz) und gnädigem Freispruch (Evangelium), die im Zuspruch der Vergebung theologisch und existentiell kulminiert und den gnädigen Willen Gottes gegen die Sünde bekräftigt und ins Recht setzt. In seiner Kritik abstrahiert Luther von der vorliegenden Tradition der Gebets-, 591. Sure 17,1 und 53.1. 592. Zusammenstellung bei Stieglecker, GL, Nr. 645*650. Von Interesse dürfte hierzu auch der »Li­ ber Scale Machometi«, ed. Edeltraut Werner, als »Die lateinische Fassung des Kitab al mi’radj« (mirag), sein. Darin findet sich ebenfalls die Tradition der von Mohammed erwirkten Gebets­ erleichterung (Dist. L), deren Schilderung an Anschaulichkeit die Confiitatio übertrifft, zugleich aber von sachlicher Nähe zu dieser - wiederholte Bine um Nachlaß, Ermäßigung von fünfzig auf sieben, Zwischengespräch mit Mose - geprägt ist. Werner, 12-18, zeigt darüber hinaus, daß der Liber scit 1264 in Abschriften des Corpus Toletanum (Werner: Coliectio Toletana) auftaucht. »Die Legende von der Jenseitsreise Mohammeds ist seit dem ersten Viertel des 13. Jahrhunden in westeuropäischen Literaturen nachweisbar.« Ebd. 11. 593. Vgl. Sure 3.50; 4,26.28. 594. Hagemann, Christentum und Islam, 44. Vgl. a. Khoury, Islam, 90. 595. Dazu: Althaus, Theologie Luthers, 218-238; Ebeling, Erwägungen zur Lehre vom Gesetz, in: WuG I, 255-293; ders., Zur Lehre vom triplex usus legis in der reformatorischen Theologie, ebd. 50-68; Hans Joachim Iwand, Gesetz und Evangelium; ders., Die Predigt des Gesetzes, in: ders., Glaubensgerechtigkeit, 145-170; Albrecht Peters, Gesetz und Evangelium.

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nicht der Gebotserleichterung, ohne den Grundgedanken zu verfehlen. Die Motive Mohammeds sind für den Reformator eindeutig: »Er ist des Betens müde worden, drumb will er sich so los feylen [kaufen] mit Lögen« (Glosse zu 363,1-5)596. Daß Luther zugleich auch das koranische Grundmotiv der Gebotserleichterung präsent ist, belegen Ausführungen im letzten Kapitel der Verlegung. Luther weist den Gedanken zurück, »das man sage, das, nach dem Gott das Euangelium gegeben hatte, aller erst hernach gemerckt habe, das die weit [es] nicht halten köndte; Und darumb sein wort geendert und die gebot gelindert habe, gerade als w&ste Gott nicht, was wir weren oder vermöchten, bis ers hernach erfure, so doch ein Mensch wol zuvorweis, was sein Vieh ertragen kan oder nicht. Viel mehr hat Gott zuvor gewust, ob das Euangelium zu schwer sey, und was die Menschen tragen können« (386,9-15). Die Aussage Luthers mag überraschen, weil sie den Anschein hat, der Mensch könne dem Evangelium ge­ nügen. Allerdings weist Luther hier die Spekulation eines durch menschliche Praxis erzwungenen Wandels597 in Willen und Wesen Gottes zurück. Zielpunkt der Kritik Luthers ist jedoch ein anderes, nämlich die »antinomisrische« Tendenz des Koran: »Ists nu den Menschen not gewest, das die gebot des Euangelij erleichten, und der Alcoran als ein leichter Gesetz gegeben würde, So möcht einer fîir geben, Es were not, das man noch ein leichter Gesetz gebe, welchs die Menschen halten köndten, und also beide [!], Euangelium, Alcoran, Moses und zuletzt alle Gesetz weg gethan würden, bis wir theten, was jederman gelästet. Darumb bleibe es da bey, wie Salomon sagt, Ecc. ultimo [12, 13] »Fürchte Gott, und halt seine gebot, das gebürt allen Menschen«« (386,36 f. 388,1-6). Damit ist der Horizont der Gesetzestheologie Luthers in ihrem überfuhren­ den (usus théologiens) und ordnungspolitischem Gebrauch (ususpoliticus) erreicht. Das Ziel liegt - aufgrund rechter Unterscheidung der usus - in der Hinleitung zur Buße und in der Gewißheit der Vergebung, d. i. der Heilsgewißheit. Wer wie Mohammed sagen muß »Ich weis nicht, ob ich oder jr am Rechten sind« (376,2), verscherzt die Gewißheit der Liebe Gottes wie zu Zeiten Luthers der Papst. So reden, ist »Papale, nescit homo, utrum amore an odio dignus sit«598. 596. Kritik an der römischen Ablaß- und Dispenspraxis läßt sich an dieser Stelle nur vermuten, nicht aber am Text belegen. Daß - bei allem Ernst des Willens Gottes und der Notwendigkeit der impletio legis (durch Christus) - die Frage einer seelsorglichen Gebotsmilderung (zur Tröstung der Gewissen!) auch von Luther gnädiger beurteilt werden kann, zeigt die besondere Bewertung Johannes Gersons unter den scholastics doctores durch den Reformator ( 1532): »Solus Gerson valet ad mitigandas conscientias. Ipse eo pervenit, ut diceret: Ah, es muß jhe nitt alles ein todt sund sein: facere contra papam, nicht ein schepler anziehen, horas nicht petten etc.; es ist nicht so gross sindt. Ita extenuando legem multos liberavit, ne desperarent ... Fuit autem Gerson vir optimus, qui non fuit monachus, sed non pervenit eo, ut conscientias Christo et promissione consolaretur sed tantum extenuatione legis dixit: Ah, es mus nicht alles so hart sundt sein; et ita solatur manente lege. Christus autem stest dem vaß den boden aus; ille dicit non esse fidendum in lege, sed in Christo: Bistu nicht frumb, so bin ich frumb. Hoc est artis, transilire a meo peccato ad iustitiam Christi, das ich so gewiß weis, das Christi frumkeitt mein se i...« WA.TR 2 .6 4 ,3 0 -6 5 ,1 0 . 597. Dagegen stünde bspw. Röm 8, 3 als Eingreifen Gottes in Liebe und Freiheit; vgl. auch Luthers Lied »Nun freut euch, lieben Christen g'mein«, AWA 4, (56-58)154-157, Strophe 4. Vgl. dazu auch: Bayer, Das Sein Jesu Christi im Glauben, in: Gott als Autor, 112-127. 598. Glosse zu WA 53, 376,1 -4. Homo ist wohl zugleich auf Mohammed, den Papst und den unbuß­ fertigen Menschen schlechthin zu beziehen.

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i) Ehe und Sexualität Unvernunft und Fleischlichkeit, ja die Auflösung aller Ordnung kulminieren für Lu­ ther in den vermeindich islamischen Vorstellungen und Normen zu Ehe und Sexuali­ tät, wie sie dem Reformator in der Confiitatio begegnen. Bereits Ricoldus’ Anliegen besteht offenbar darin, den Irrglauben Mohammeds auch durch die sitdiche Verwor­ fenheit des Propheten zu untermauern’99. Bei aller polemischen Ausgestaltung der Verlegung, die sich besonders in Luthers Randglossen findet, zeigt der Zusammenhang erneut die klare Abhängigkeit Luthers von der ihm vorliegenden mittelalterlichen Tra­ dition. Die Tendenz der theologischen Interpretation Luthers ist nach der Sichtung der Materie darzulegen. Das sitdiche Grundproblem Mohammeds ist im 1. Kapitel präludiert: »Er lesst zu, viel Eheliche weiber zu haben, Dazu Beischlefferin und Megde, Und so viel einer derselben im kriege fangen und erneeren mag, Und der andern Eheffawen im Kriege rauben und nehm en.... Und sihet sich an, im Capitel Vacca (das ist Kue), als erleube er beide Mannen und Weibern die stummen S&nden, Wiewol die Nachk&mlinge solchs schm&cken mit schönen glosen« (282,15-17. 20-22)59600. Signifikant ist die Ein­ ordnung der Polygamie: Ricoldus unterscheidet uxores, pellices und ancillae, tadelt im­ plizit den Umgang mit den pellices wie ancillae und fugt als Vorwurf wiederum impli­ zit den Ehebruch mit Frauen (als Kriegsbeute) hinzu, um mithilfe seiner ethischen Kritik den dogmatischen Beweis des Nikolaitentums Mohammeds zu fuhren. Der Vorwurf ist insofern klassisch, als die Verbindung Mohammed - Nikolaus sich auch bei Petrus Venerabilis findet601. Die Vermutung der »Sodomie« ist - wohl von der Confiitatio unabhängig - erst wieder nach Ricoldus, nämlich um 1323 bei Simeon Semeonis (von Irland) bezeugt602. Luther tilgt die häresiologische Einordnung und bezieht die ethische Praxis Mohammeds allein auf »fleischliche Lust, Raub und Mord« (282,25). Bestehen bleibt der koranische Beleg603. Damit ist in der Confiitatio wie in der Verlegung die islamische Sexualethik gründlich verzeichnet: »Nur unter Eheleuten ist der Geschlechtsverkehr erlaubt ([Koran] 24,33). Das frühere Sklavenrecht erlaubte damals den Männern, mit ihren Konkubinen unter den Sklavinnen zu verkehren (vgl. [Koran] 70,29-30; 23,5-6). In den anderen Fällen gebietet der Koran die Keuschheit sowohl den Männern ([Koran] 70,29; 23,5; 24,30) als den Frauen ([Koran] 24,60)«604. Die »Sünde Sodoms« steht außerhalb jeglicher Diskussion. Auch die im

599. So auch Petrus Venerabilis, STH, Kap. 10,7-12: »Super haec omnia, quo magis sibi allicere carnales mentes hominum posset, gulae ac libidini frena laxavit, et ipse simul decem et octo uxores Habens atque multorum aliorum uxores velut ex responso divino ...« 600. Luther dürfte dabei an Onanie bzw. Masturbation denken. 601. ST, Kap. 3,4-8: »Putant enim quidam hunc Nicolaum ilium unum e septem primis diaconibus exstitisse et Nicolaitarum ab eo dictorum sectam, quae et in Apocalypsi Iohannis arguitur, hanc modernorum Saracenorum legem exsistere.« Ricoldus fuhrt also den Vorwurf des Nikolaiten­ tums als libertinistischer Sekte offenbar weiter mit Hilfe der ihm im Islam begegnenden erzäh­ lenden Traditionen (»expositionibus«, WA 53, 283,18). 602. Allerdings nur als Schimpfwon gegenüber den Muslimen, vgl. Southern, Islambild. 50. 603. Dessen Überprüfung trägt erwartungsgemäß wenig aus, mit Ausnahme der Passage (223): »Eure Frauen sind fur euch ein Saatfeld. Geht zu eurem Saatfeld, wo immer ihr wollt.« 604. Sexualität, IL, 672 f., hier: 673 (Lit.). Vgl. auch L. Hagemann, Normen, 21-23.

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weiteren herangezogene Tradition aus Sure 24605, in welcher der Zwang von Sklavin­ nen zur Unzucht verboten wird, liest Luther mit Ricoldus gegen den Sinn: »... im Capitel Elmir, das heisst Liecht, Verbeut er wol, das man die Weiber nicht zwingen soi, keuscheit zu verlassen, Wenn sie aber drein bewilligen, möge [kann] man sicher bey jnen schlaffen« (300,26-29). Der dem Koran fremde Nachsatz betont also nicht das Verbot, sondern spekuliert über den Charakter des Zwanges - jenseits der sicher­ lich gegebenen Gefahr sexueller (männlicher) Gewalt im Zuge von Eroberungen. Das gleiche Interpretationsmuster findet sich in der Verzeichnung der Bejahung menschlicher Sexualität nach Sure 2,223: »Eure Frauen sind fur euch ein Saatfeld«, die im Sinne drastischer Abartigkeit verstanden und - bei falscher Angabe - im Zu­ sammenhang homosexueller Praxis (Lot) gedeutet wird606. Die bereits häufiger anzu­ treffende Personalisierung der Polemik kennzeichnet auch den Nachweis des angeb­ lich zugelassenen Ehebruchs Mohammeds, der in engem Zusammenhang mit dem Erweis der Unvernunft des Koran steht. Im 8. Kapitel (314,14-34. 316,1-13) bietet Luther (mit Ricoldus) zwei Erzählungen über Maria bzw. Zainab. Beide Traditionen sind nicht koranischen Ursprungs. Im Hin­ tergrund steht wahrscheinlich der Erzählstoff von der Eifersucht der Hafsa - einer der Frauen Mohammeds - wegen des Zusammenseins des Propheten mit seiner koptischen Nebenfrau Maria im Gemach der Hafsa. Zur Rede gestellt verpflichtet sich Moham­ med, Maria künftig zu meiden, wenn Hafsa Stillschweigen bewahre. Als diese ihr Schweigen gegenüber Aischa, einer weiteren Frau Mohammeds bricht, fühlt sich auch Mohammed nicht mehr an sein Versprechen gebunden607608.Theologisch zugespitzt wird die Anekdote durch den intendierten Nachweis des lüsternen Eidbruchs, der in die »of­ fenbarungstheologische« Aufhebung des Eides durch Mohammed mündet. Vergleich­ bare Traditionen zum Eifersuchtsmotiv finden sich im hadithim. - Auf derselben pole­ mischen Linie liegt die Bedrohung seiner Frauen durch Mohammed, der diese zu Unrecht zur Entschuldigung zwingt. Der zur zweiten Erzählung (Zayd und Zainab) herangezogene Vers aus Sure 33 bezieht sich auf das Verhältnis von Gottes- und Men­ schenwort ohne jeglichen Bezug zu der Tradition, der gemäß Mohammeds Adoptivsohn Zayd sich ihm zuliebe von seiner Frau getrennt habe609. Das Verschmähen (313,9: respuit) ist offenbar als (legitime) Verzichtleistung zu werten. Luther ersetzt im Text je­ doch respuit durch petijt (Glosse zu ebd.), so daß Zayd in der Sicht des Reformators offenbar seine Frau nach wie vor begehrt und nur gezwungenermaßen auf seine Ehefrau verzichtet. Damit dringt Mohammed (auch nach islamischem Recht) in eine rechtsgül­ tige Ehe ein und wird so als Ehebrecher erwiesen. Der Zusammenhang zeigt, daß Luther

605. Das Licht (al-Nur), 33: »Und zwingt nicht eure Sklavinnen, wenn sie sich unter Schutz stellen wollen, zur H urerei...« 606. »Der Koran verurteilt die Homosexualität und fordert die Züchtigung des Schuldigen (4,16; vgl. 7,80>81: Geschichte des Lot).« Khoury, Sexualität, 1L, ebd.; Hagemann, Normen, 22. Ähnliche Mißdeutungen bietet auch Wilhelm von Tripolis, NM, Kap. 12, 50-53, der daraus die Ehe mit neun Frauen ableiten will. Allerdings steht - worauf Fatima Mernissi aufmerksam macht - die angezogene koranische Tradition tatsächlich im Diskussionszusammenhang sexueller Praktiken bis zum Problem der (gewährten!) Erlaubnis des Analverkehrs mit Frauen auch gegen deren Willen, vgl. Harem, 194-197. Von daher ist die Polemik der Confiuatio also nicht willkürlich. 607. Vgl. dazu Stiegleckcr, GL, Nr. 800; zu dieser Tradition: CLS Mlrigoux, 91, Anm. 9 und 10. 608. Buhari, 367. 609. Vgl. dazu Parct, Mohammed, 156; Mernissi. Harem, 137f. u. 234 f.

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nicht nur ungeprüft die Confutatio als Quelle nutzt, sondern auch in seinem Sinne polemisch verschärft. Schärfste Polemik bietet Luther gegenüber den religionsgesetzlichen Bestimmungen des Koran zur Rechtmäßigkeit einer Ehe und zur Ehescheidung, nicht zuletzt aus dem Grunde, daß der Reformator sie (wie er selbst zugibt) nicht versteht: »Aber das ist über aus grosse, grobe unvernunflft, das er von der Ehescheidung leret. Denn ein Sarracen mag sein Weib verstossen und wider an nemen, so offt es jm geliebet, doch so fern, das er die, zum dritten mal verstossen, nicht mus wider an nemen. Es were denn, das sie der ander Man nicht recht oder volkomen beschaffen hette. Darumb wenn sie jre Weiber gern wider hetten, so geben sie geld dem, der die verstossen zu sich genomen hat (der zu weilen ein Blinder oder sonst geringe person ist), das er solle Öffentlich sich lassen hören, Er wölle sich von jr scheiden. Wenn das geschehen ist, so kann sie der erste wider zu sich nemen. Es geschieht aber auch wol, das der selb ander man der frawen so wol gefeit, das er darnach spricht, Er könne sich nicht von jr scheiden. So hat denn jener beide, geld, Braut und hoffnung verloren. Aber solche Gesetze soit man nicht Menschen, sondern unvern&nfftigen thieren stellen« (320,23-31; 322,1-6). Die Verifizierung der Realien zeigt die Grenze des Verständnisses Luthers, das hier von einem tiefen Abscheu des Reformators gegenüber dem Islam geprägt ist. Die von Lu­ ther aufgenommene Überlieferung ist dabei bezüglich des islamischen Eheverständ­ nisses zweifellos mißverstanden und findet sich in dieser Weise im Koran nicht. Mög­ licherweise bezieht sich Ricoldus, dem Luther (in Fehlübersetzung61061) folgt, auf zwei hadithe*n , die Scheidungsrecht und die Frage der Gültigkeit einer Ehe diskutieren. Danach ist es einem Mann zwei Mal möglich, seine Frau zu verstoßen (d.h. ohne Scheidung), um sie nach einer Karenz (zur Klärung etwaiger außerehelicher Schwan­ gerschaften) wieder als vollgültige Ehefrau aufzunehmen. Erst die dritte Verstoßung fuhrt zur Scheidung; diese ist dann unwiderruflich. Eine erneute Heirat ist nur mög­ lich, wenn die Frau zwischenzeitlich mit einem anderen Mann verheiratet war, woraus sich die Frage der Rechtsgültigkeit dieser Ehe ergibt. Dies setzt wiederum den rechts­ gültigen Vollzug der Ehe voraus, d. h. den Geschlechtsverkehr außerhalb der Men­ struation der Frau612. Bei etwaiger (zwischenzeitlich eingetretener) Impotenz des Mannes wäre die Ehe nicht rechtsgültig, und der betroffenen Frau wäre es religions­ gesetzlich nicht erlaubt, aus diesem Grunde zu ihrem früheren Mann zurückzukehren. Die komplexe Zusammenstellung erweckt den Eindruck einer Kasuskonstruktion und -diskussion unter islamischen Juristen, wie Ricoldus sie in Bagdad durchaus hat erleben können. »Ergo nullum coniugium ibi« (Glosse zu 317,8 Confutatio) und polemisch ver­ stärkt als Glosse zur Verlegung. »Das ist hunde und saw hochzeit, keine Ehe« (zu 320,26-29)613. Das sich ihm darbietende Eheverständnis bedeutet nun fur Luther of­ 610. Vgl. WA 53,320, Anm. 7. 611. Vgl. z. B. Buhari, 364 und 366. 612. Vgl. Sure 2,222. Zur Ehescheidung vgl. Khoury, Handbuch, 138 f.; Hagemann, Normen, 2123. 613. Vgl. dazu die Predigt vom Ehestand: »Das ist ein Predigt vom heiligen Ehestand fast hoch von nheen, fumemlich bey den Christen, das alle menschen wissen m6gen, was doch der heilige Ehestand fur ein stand sey und woher er kome, das wir nicht also angefehr jnn tag dahin leben

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fenbar das Ende der Ehe und (in ihr) verantworteter Sexualität614: Den Bestimmun­ gen zur religionsgesetzlichen Bedeutung des Geschlechtsverkehrs für die Ehe bringt er im eigendichen Sinne kein Verständnis mehr615 entgegen, es bleibt nur Entrüstung, wenngleich Impotenz des Mannes ftir den Reformator wie auch für kanonisches Recht einen legitimen Scheidungsgrund darstellt616. Luthers Polemik entzündet sich offen­ bar an der detaillierten Beschreibung des Kasus617, insbesondere an der Bedeutung und Illustration des juristisch notwendigen sufficienter beim Geschlechtsverkehr: »volkomen) Was das sey, das verdeudsche an meiner stat, der Teuffel oder Mahmets unfletigs saw maul selbs, pfu dich du schendlicher Teuffel und verfluchter Mahmet« (Glosse zu 320,30 f.). Luther selbst nimmt fur die Verlegung den Ausdruck dieses Ab­ scheus vor Mohammed und dem Teufel ernst. Die Verlegung kennt die einschlägigen Passagen zum islamischen Eherecht (wie Luther es versteht) nicht, der Reformator weigert sich, sie ins Deutsche zu übertragen. Geblieben ist die Polemik. Luther hat in der Verlegung sein eigenes Verständnis von Ehe und Sexualität nicht entwickelt und bietet nur an wenigen Stellen (unabhängig von Ricoldus) vereinzelte Hinweise: Zunächst ist Sexualität »fleischliches Werk«, Koran und Bibel (Heiliger Geist) unterscheiden sich auch und gerade in der Sprache über sexuellen Umgang: Der Koran gebraucht »unuerschempter, grober, unz&chtiger wort, wenn er von dem fleischlichen werck redet, wie die Huren und Buben im hurhause oder sonst grobe unverschampte leute thun. Aber der heilige Geist gar z&chtig in der Schriflft davon redet. Als: Adam erkandte sein weib Heva. Item: David gieng hinein zu Beth-Saba.

614.

615. 616. 617.

wie die Heiden und unvem&nfftige thier, die darnach nicht fragen noch dencken, Sondern leben on unterscheid aller Vermischung und vormengungdahin ... Also sollen die Christen leben jnn heiligung, nicht nach sewischer und viehischer, nicht noch Heidnischer weis, die den stand nicht achten noch ehren.« WA 49, 797,19-24. 30 f. Die Wortwahl entspricht genau der Überschrift zum 8. Kapitel der Verlegung (»viehisch und Sewisch«, WA 53, 312,34). Zum Eheverständnis Luthers vgl. u. a.: Ein Sermon von dem ehelichen Stand (1519), WA 2, 166171; Predigt Vom ehelichen Leben (1522), WA 10/2, 275-304; Ein schöner Sermon oder Predigt von dem Ehestande Joh 2, 1 ff. (1525), WA 17/1, 8-12; (Predigt) Vom Ehestand aus Hebr 13, 4 (1545), WA 49, 797-805. Luthers Eheverständnis ist im Rahmen der Drei-Stände-Lehre weiter nachzugehen; s. u. 244. »Nescio quid sit.« Glosse zu WA 53, 317,10. Vgl. WA 10/2, 278 f. und 287 ( Vom ehelichen Leben. 1522). Dies gilt nicht nur für den Islam, sondern auch für die Kritik an der römischen Kanonistik und Predigtpraxis zum sexuellen Umgang in der Ehe »[Ich] Will aber schwevgen und lvgen lassen die ehelich pflicht, wie die zu reychen und tzu we[i]gern sey, alls ettliche sew prediget an dißem stuck unverschampt gnug sind, die unlust tzururen.« WA 10/2, 292,10-13. Vergleichbares gilt fiir die Kritik an logisch, nicht sittlich zweideutiger Rede des Erasmus, die Luther am 11. (?) März 1534 in einem Brief an Amsdorf zum Ausdruck bringt: »Velut. ubi in quadam Epistola de incarnatione filii Dei turpissimo verbo loquitur, vocans »coitum dei cum virgine«. Hic est iudicandus horribilis blasphemator Dei et Virginis. Nec eum quiequam iuverit, si coitum postea exponat ad formam doctrinae christianae. Cur ante non est locutus ad formam doctrinae christianae? Sciebat enim, hoc verbo coitus christianos non posse non vehementer oftendi, imo. nisi offendi voluisset, non sic locutus fuisset. Decet autem nos eo offendi. et impius esto, qui non fucrit ofVensus ista turpitudine verbi obscoeni in re tarn sacra, Etiam si non ignoremus, quid coire praeterea [auch Unanstößiges] signifie«, sed, quia amphibologia semper ad detcriorem sententiam spectat...« WA.BR 7, 35,274-284.

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Item: Elisabet ward schwanger, etc« (294,22-27)618. Luther trägt die Kritik nicht will­ kürlich ein, sondern folgt seiner Überzeugung, daß Fleisch und (Heiliger) Geist un­ vereinbar sind619. Wovon Mohammed aber so öffentlich spricht, das redet er von »sol­ cher elenden notturft oder bfiser sfindlicher lust« (294,30; 296,1). »Lust« erfahrt ihre Legitimation allein durch Gottes Ordnung und dem Ziel der Fortpflanzung, wenn Luther fragt: »wo zu soi der fleischlichen lust werck, so dasselbs [im islamischen Pa­ radies, in dem Sexualität nicht der Fortpflanzung dient] keine Kinder oder leibs fr&cht sein sollen, dahin es doch von G on geordnet« (323,17-19)? »Sollen aber nicht Kinder geborn werden, Wo zu soi die Lust des fleischlichen wercks? Vieleicht zu einem ewigen pfu dich an. Wie viel vernönflftiger reden die Philosophi und Heiden hievon, das solch werck nicht zu oder umb der Lust oder Brunst willen geordent, Sondern widerumb die lust zu und umb des wercks willen geordent sey, auff das da durch die Thiere gereitzt weiden, die Natur zu vermehren und zu erhalten, die sonst on solch werck untergienge« (324,16-22). Menschliche Lust ist Teil der Erhaltungsordnung Gottes. Diese natürliche Ordnung wiederum umgreift alle Menschen als Kreatur, also nicht nur Christen, sondern auch Heiden, deren natürliche Vernunft - im Gegensatz zu Mohammed und Muslimen - die Ordnungen Gottes kennt und anerkennt. Auffällig ist, daß Luther im Zusammenhang der Verlegung keine Kritik an der koranischen Vorschrift übt, mit polytheistischen Frauen keine Heirat einzugehen, bis sie gläubig (muslimisch) geworden sind620. Der einschlägige Vers ist von Ricoldus im Woitlaut zutreffend wiedergegeben, zugleich aber gegen den Sinn gedeutet als Erlaub­ nis der Promiskuität (303,21). Luther hat den ursprünglichen Sinn aufgrund der ten­ denziösen und im Kontext unklaren Interpretation des Ricoldus nicht durchschaut. Vergleichbare Bestimmungen der römischen Kanonistik zur Ehe mit nichtchrisdichen Frauen lehnt Luther an anderer Stelle ab621. Der Reformator selbst hat im Nachwon der Verlegung eine zusammenfassende Be­ wertung »islamischer« Sexualethik vorgenommen, welche seine geradezu schmerzhaf-

618. Ähnlich auch im 8. Kapitel: Es »Ist der Alcoran auch an jm selbs ein vihisch und sewisch Gesetze, wider die vermin flft. Denn er braucht der aller unverschämtesten wort, in den Sachen, da es not und billich ist, ehrbarlich und z&chtig zu reden, und die erbliche schände zu decken.« WA 53, 316,31-33; 318,1. 619. Dies fuhrt Luther in der Predigt vom ehelichen Leben zu der eigenwilligen Auslegung: »proverb. 5.[V. 18].: >frew dich mit dem weyb deyner iugent.< Und Ecde. xi [9, 9!]: »brauch des lebens mit deynem weyb, das du lieb hast, deyn leben lang ynn dißer eytteler tzeyt.« Diße wort redet Salo­ mon on tzweyffel nit umb fleyschlicher freude willen, denn [!] der heylige geyst redet durch yhn ...« WA 10/2, 297,20-23. 620. Sure 2,221 Die Kuh (al-Baqara): »Und heiratet nicht polytheistische Frauen, bis sie gläubig ge­ worden sind.« 621. Luther diagnostiziert (mit 1 Kor 7, 12 ff.) im römischen Eherecht Unglaube bzgl. der Bestim­ mung, »das ich keyneTurckyn, Jödyn oder ketzeryn nemen mag ... wisse, das die ehe eyn eußerlieh leyplich ding ist wie andere weltliche hanttierung. Wie ich nu mag mit eym heyden, Juden, Turcken, ketzer essen, trincken, schlaffen, gehen, reytten, kauffen, reden und handeln; alßo mag ich auch mit yhm ehelich werden und bleyben, und kere dich an der narren gesetze, die solchs verpieten, nichts. Man findt wol Christen, die erger sind ym unglawben ynnewendig (und der das mehrer teyll) denn keyn Jude, Heyde odder Turcke oder ketzer. Eyn heyde ist eben ßo wol eyn man und weyb von gott wol und gutt geschaffen als S. Peter und S. Paul und S. Lucia, schweyg denn als eyn loßer, falscher Christ.« WA 10/2,283,1 f. 8-16.

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ten Mißverständnisse islamischer Tradition in ein unhaltbares Maß an Polemik mün­ den lassen. Dort erst ist auch von der Ehe als Stand?11 die Rede: »So soi das auch einen fromen Christen, ja wol auch einen Erbarn Heidnischen man bewegen, das so gar keine zucht oder ehelicher stand bey den Mahmetisten, Sondern eitel frey Huren leben da ist. Denn wer nach Mahmets Gesetz so viel Weiber nimpt als er will, Verst&set sie wider, und nimpt sie wider, so oflft er will, oder verkeufit sie etc., der ist kein Eheman, Sondern ein rechter Hurn wirt oder wilder Hurn jeger. Denn so hat Gott nicht die Weiber geschaffen noch zu halten geordent, wie uns das über die vernunflft auch Mose und das Euangelium leren. Darumb sind solche Mahmetisten eitel H um kinder und Hurn volck gleich wie Hunde und Sew hochzeit haben, da kein Ehe noch schein der Ehe sein kan. Und kein wunder ist, das zu solchem freien sew leben die W&sten, wil­ den leute Lust haben und viel gern Tîrcken werden« (393,9-20).

k) Eschatologie Luthers Kritik an islamischen Jenseitsvorstellungen knüpft unmittelbar am Vorigen an, indem die Confutatio eine islamische Paradieslehre bietet, die ausschließlich als Verlängerung und Übersteigerung menschlicher (d. h. männlicher) Lust in Erschei­ nung tritt62623. Als solche wird sie auch ad absurdum geführt. Es gilt der Leitsatz, »das der Alcoran von tugenden, oder guten wercken, und von des Menschen Seligkeit auch mit den Philosophis nicht über einstimmet, schweige denn mit der Heiligen schlifft. Denn die Philosophi reden doch viel von allerley tugenden, und das des Menschen 622. In der Ehe finden wahrer geistlicher und weltlicher Stand zusammen: »Denn gewißlich ist vater und mutter der kinder Apostel, Bisschoff, pfarrer, ynn dem sie das Euangelion yhn kundt ma­ chen. Und kurtzlich, keyn grosser, edler gewalt auff erden ist denn der elltem über yhre kinder, Syntemal sie geystlich unnd welltlich gewallt über sie haben.« Ebd. 301, 23-27. Damit sind alle drei Stände in der Familie angelegt, indem Hauswirtschaft und Obrigkeit ebenfalls in den Auf­ gaben der Elternschaft begründet liegen. - Vgl. dazu auch wieder (s.o.) Luthers Predigt von 1545 über Hebr 13, 4 mit heftigen verbalen Invektiven gegen das Verständnis von Sexualität wie das unvernünftiger Tiere. Die Polemik ist also nicht primär gegen die Türken gerichtet, sondern gegen die Verachtung des Ehestandes (auch bei Christen). 623. Vgl. auch Petrus Venerabilis, CSS, Kap. 9,2-11: »Paradisum non societatis angelicae nec vision is divinae nec summi illius boni, quod >nec oculus videt nec auris audivit nec cor hominis ascendit«, sed vere talem, qualem caro et sanguis, immo faex carnis et sanguinis, concupiscebat qualemque sibi parari optabat, dcpinxit. Ibi carnium et omnigenorum fructuum esum, ibi lactis et mellis rivulos et aquarum splendentium, ibi pulcherrimarum mulierum et virginum amplexus et luxus, in quibus tota eius paradisus finitur, sectatoribus suis promittit.« Wilhelm von Tripolis, NM, Kap. 8,3-13. 14-16: »Felicitas illius est, dicunt, in summa delectatione cibi et potus et coitus. Ibi enim iste [Koran] promittit copiam omnium fructuum omnimodam, quos gignit humus arboribus semper oneratis, et continue per totum annum tempus autumpnale ibi esse. Non oportcbit, quod homo porrigat manum pro fructu ad ramum, quia bearitudine ipse ramus offeret fructum optatum ad os sine labore nec fiet egestia aliqua nec spurcitiarum emissio, et hoc munus divinum est ... Item promittit singulis beatorum nonaginta novem virgines ad beatam fruitionem; et omni hora reperiuntur virgines sine aliqua corruptione virtuti Dei.« Ähnlich ders., ebd. Kap. 12,71-76. Darüber hinaus wäre auch hier wieder der Liber Scale Machometi zu nennen, der in den Dist. XXX-LIII drastisch alle erdenklichen sinnlichen Genüsse schildert. Zur islamischen Eschatologie bei Ricoldus vgl. auch Confutation ed. Ehmann, 247-252 (Kommentar).

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Seligkeit stehe in Beschaulichkeit, nicht in fleischlichen Ifisten ...« (298,27-31). »Aber Mahmet handelt schier gar nichts von tugenden, Sondern von Kriegen und Rauben, den weiten weg zur Hellen, Und wird sie nichts helffen zur Seligkeit (wie sie meinen), wenn sie diese wort sprechen: >Es ist kein G ott denn Gott, und Mahmet ist Gottes Apostel«, So setzt er auch die Seligkeit des Menschen in fleischlicher lust, in essen, trincken, schönen Kleidern, Lustigen garten, H&bschen, reinlichen fraw en...« (298,36 f.; 300,1-4)624. Betont wird das wortwördiche Verständnis der im Koran verheißenen Seligkeit: »Und niemand kan sagen, das er solchs in gleichnissen rede, die etwas anders geist­ liches bedeuten sotten, wie im Euangelio wol auch gleichnisse stehen, Wie Christus sagt, das die seinen sollen mit jm essen und trincken auff seinem tissche, in seines vaters Reich. Aber das Euangelium deutet selbs solch gleichnisse, das Essen heisse nicht den Bauch fällen, oder das schöne Weiber da sein sollen, Wie jederman wol weis. Aber der Alcoran redet solchs on alle gleichnisse und deutets auch nirgend anders, denn das es sey eine Seligkeit wie ein unz&chtiger fleischlicher mensch begert« (300,3-12). Luther bewertet diese Vorstellung als kindische Sehnsucht nach dem »Schlauraffenland«625 (Glosse zu ebd.) bzw. »occupatio« (handschriftliche Glosse zum lateinischen Text, 299,29). Aus islamischer Sicht626 ist diese Bewertung zu korrigieren: Der Islam kennt zum einen das Gericht nach den Werken, zum andern auch den Gnadenerweis gegenüber den Gläubigen; die von Luther zitierte Rezitation des Bekenntnisses (shahada) hat ihren festen O rt im eschatologischen Drama627. Auch kann der Verzicht auf die (bei Ricoldus aristotelisch geprägte628) Tugendlehre gerade im Islam nicht als Mangel an ethischer Theorie und Praxis gewertet werden. Die theologischen Schulen des mittel­ alterlichen Islam zeichnen sich gerade durch ihre spezifischen Tugendlehren aus629, wie fär den Islam als typisch gelten kann, daß theologische Schulen zugleich Rechts­ 624. Vgl. auch die Paradiesbeschreibung des 8. Kapitels (322,7-27; 324,1-30). 625. Koranischer Grundtext ist Sure 55*37-77 Der Erbarmer (al-Rahman) mit der Schilderung der Paradiesgärten. Offenbar wegen der Betonung des sexuellen Aspektes kann Luther der in der Confutatio präsentierten islamischen Paradiesvorstellung auch keinen propädeutischen oder päd­ agogischen Aspekt abgewinnen, wie dies der Fall ist im berühmten Briefe (19. Juni 1530) Lu­ thers an seinen Sohn Johannes vom Paradiesgarten: »Ich weis ein hübschen, schonen lustigen Garten ...» WA.BR 5 ,3 7 7 ,5 ff. Vgl. auch WA.TR 2,498,6-12: »Sein, des Doctors Söhnlin, eins saß am Tisch und lallete vom Leben im Himmel, sagte, wie ein so große Freude im Himmel wäre mit Essen, Tanzen. Da wäre die größte Lust, die Wasser flüssen mit eitel Milch und die Semme­ lin wüchsen auf den Bäumen. Da sprach D. Man.: »Das Leben der Kinderlin ist am aller selig­ sten und besten, denn sie haben keine zeitliche Sorge ... haben nur reine Gedanken und fröh­ liche Spekulation.« 626. Zur Eschatologie im Islam vgl. Hagemann, Eschatologie, passim; Khoury, Einführung, 144152; ders., Islam, 117-124; ausführliche Präsentation der Traditionen bei Stiegleckcr, GL, Nr. 1341-1476. 627. Sog. »Befragung im Grabe«, vgl. Stieglecker, G L Nr. 1344, Hagemann, Eschatologie, 106. 628. Zur im 5. Kapitel der Confutatio (299,1-29) vorgetragenen Tugendlehre, vgl. Aristoteles, NikEth 1/6, 1098a; 11/9, 1106b; 11/9, 1109a. Die Aristoteles-Rezeption des Ricoldus ist nicht immer schlüssig zu nennen. 629. Zusammenstellung von Tugenden bei Khoury, Einführung, 181-189. Hans Daiber, Die Kreuzzüge im Lichte islamischer Theologie, in: Zimmermann/Gramer-Ruegcnbcrg (Hg.), Orienta­ lische Kultur und europäisches Mittelalter, 77-85, hier 84, bietet die Präsentation eines Tugend-

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schulen sind. Während den theologischen Ausgangspunkt des Ricoldus die chrisdiche Tugendlehre markiert - die einschlägigen Passagen (299) hat Luther gestrichen - re­ kurriert der Reformator erneut auf die Fleischlichkeit der islamischen Eschatologie und die Gerichtsverfallenheit der Werke Mohammeds. Die Paradiesschau des 8. Ka­ pitels dient wiederum Ricoldus und Luther zur Überzeichnung der wörtlich verstan­ denen Vorstellungen, in denen auch Ricoldus von praktischer Vernunft aus argumen­ tiert und der Reformator die Ausführungen der Confutatio ironisch illustriert. Die herangezogenen Beispiele (Genuß und Sinnlichkeit, körperliche Zunahme und Aus­ bleiben der Entleerung, statt dessen Schweiß630) belegen nur die Unhaltbarkeit einer diesseitig ausgerichteten Eschatologie, mit der Mohammed nur ein weiteres Mal sich selbst widerspricht, da auch er einen unsterblichen und unversehrten Zustand kennt, der diesseitigen Lustempfindungen nicht zugänglich sein kann. Sexuelle Lust aber ist göttliche Ordnung (ausschließlich) irdischer Existenz. Luthers eigene Sicht beschränkt sich auf die biblische Überlieferung der GastmahlGleichnisse und der visio beatifica nach Joh 17, 3, verbunden mit der Überzeugung, daß ewiges Leben keine Krankheit, Hunger, Durst, Sterben noch sonstigen Mangel kenne631. Das Gewicht der Eschatologie für christliche Existenz, auch und gerade in Luthers Bewertung des Islam, erfährt entsprechend in der konkreten Auseinanderset­ zung der Verlegungso gut wie keine Berücksichtigung. Luther entwickelt - wie gezeigt den christlichen Gerichtsgedanken nicht im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Eschatologie des Islam, sondern als eschatologische Auseinandersetzung mit fleischlicher Existenz, wie er sie auch in der islamischen Vorstellung des Gerichts und ewigen Lebens vorzufinden glaubt. Zorn, Gericht und Gnade innerhalb islamischer Religiosität zu erörtern liegt außerhalb des Horizonts Luthers. Zorn Gottes und schon ergehendes Gericht an der Welt, dem die »Bestia« Mohammed zuarbeitet, können entkatalogs aus mystisch-hanbalitischer Tradition. Zu den Hanbaliten: Endc/Stcinbach, Islam, 65 u.ö; IL, Sunnismus/Sunniren, 703. 630. Luther ironisiert per Randglosse: *»0 ein starcker schwds mus das sein.« Glosse zu 323.23f. Des Reformators eigene, homiletische Veranschaulichung des ewigen Lebens zeigt sich auch sonst dagegen ganz vom Gegensatz Fleisch - Geist, d. h. vergehende Schwachheit und ewige Stärke bestimmt, die nur im Glauben u.z. gegen die Vernunft schon jetzt ergriffen werden kann: »Eine solche Stärke erwarten wir, während wir jetzt solche Schwäche leiden. So wird der Leib geistlich sein, nicht daß Fleisch und Blut wegkommt, aber daß es leiblicher Notdurft nicht mehr bedarf. Das Leben »springt cs aspectu die ex anima«, später dann in den Leib, daß ich höre und sehe über hunderttausend Meilen, und alle Knochen. Fleisch und Bein sind da, aber in anderer Form, und wie schon die Sterne am Himmel keine warme Srube, Essen und Trinken, Schlafen und Wachen brauchen, so auch wir nicht. Und dennoch sind es himmlische Körper, die aberden körperlichen Zwängen nicht unterworfen sind wie wir. Dann aber wird diese Vision kommender himmlischer Kraft und Herrlichkeit wieder in die irdische Wirklichkeit zurückgeführt: Ich bin getauft und erkenne Christus an, und durch ihn werde ich am jüngsten Tage auferstehen, wie scheußlich ich hier auch aussehe und stinke ... Wie ein Heide und Türke stirbt und begraben wird, so auch der Christ genauso wie eine Kuh oder ein Pferd. Ob wohl Gott einen solchen Bauch gen Himmel führt, der so stinkt? Er soll im Grab verfaulen, und später soll ein Feuer vom Himmel durch alle Gräber fahren, d. h. nicht von Fleisch und Blut, sondern vom Geist wird er leben, weil er der Speise und Notdurft nicht bedarf.« Asendorf, Paraphrase von WA 36,658-662, Theologie, 136 f. Vgl. auch, WA 36, 594 f„ Luthers Rede vom Glauben an die Verwandlung alles Kreatürlichen als leibhafter Schau Gottes. 631. Vgl. WA 53, 322,25: 323,6.14f.; auch WA 49, 391,17-35.

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sprechend nur angemessen gewürdigt weiden als schreckliches Szenario chrisdicher Auseinandersetzung mit Mohammed und dem Papsttum. Nicht die eschatologische Vorstellung einer künftigen Welt steht im Vordergrund des Interesses Luthers, sondern die eschatologische Wahrnehmung dieser vergehenden Welt und der Christen samt ihres allein rettenden Gehorsams, wie Luther im Nachwort betont. »Bestie« und »verführen­ der Falschprophet« belegen den apokalyptischen Horizont nach Apk 19, 20632: »Aus dem allen mögen wir Christen sehen, Welch ein grausamer, schrecklicher, ummeslicher zorn Gottes gangen ist über die undanckbare Welt, So das Euangelium Gottes veracht hat. Dort gegen Morgen hat er verhenget, das die Bestia[,] der schendliche Mahmet hat die weit verföret und zeplagt. Hie gegen Abend hat er den falschen Propheten den lei­ digen Bapst lassen aufflcomen, der die Welt viel subtiler betrogen und zemartert hat, AufFdas die, so dort den Son Gottes nicht haben wollen hören, den Son des Teufels den Mahmet hören musten, Und die, so hie dem heiligen Geist nicht haben wollen gehor­ chen, dem bösen geist im Babst gehorchen musten« (394,9-17).

I) Gesetz und GesellschaftS33 Der Koran ist die Grundlage der islamischen Gesellschaft. Ausgehend von dem An­ spruch, »die beste Gesellschaft, die je unter Menschen hervorgebracht worden ist«634635, zu sein, ist die umma muhammadiya, die Gemeinde Mohammeds, von dem Gedan­ ken durchdrungen, die als universal begriffenen islamischen Lebensordnungen am Willen Gottes auszurichten und als Rechtsordnung (Gesetzgebung) zu etablieren. »Aus der Anwendung und Ausgestaltung der koranischen Satzungen entwickelte sich die islamische Gesetzeswissenschaft (ficjh). Gegenstand ihrer Lehre sind die Pflichten des Muslims in seinem Gottesdienst und in seinem Tun und Lassen, im öffendichen und im privaten Leben. Das Gesetz ist religiöses Gebot (der »deutliche, gebahnte WegInimicos crucis Christi« intellegiunt nisi Turcas et Iudeos, Sicut Colonienses contra lohannem Reuchlin Et Bulle Apostolorum et Iuristarum Glose. Sed ipsi sunt propriissime »inimici crucis Christi««20. Und wenig späten »Nemo debet dubitare, quin sit non Christianus, Sed Turcus et Inimicus Christi, quicunque noluerit tribulari«21. »Feindschaft« - der Zusammenhang mit den Juden macht hier wiederum deren Charakter als Ungläubige und nicht etwa als äußere Bedrohung evident - ist Verleug­ nung des Kreuzes Christi, Flucht vor Anfechtung macht Christen zu »Türken«, deren Feindcharakter fraglos vorausgesetzt wird. Die Türken dienen entsprechend als Illu­ stration einer ekklesiologischen Asymmetrie: Sie sind Feinde der Kirche, aber eine daraus abgeleitete kirchliche Feindschaft gegen die Türken ist kein Zeichen der Kreu­ zesnachfolge, wie Streit und Feindschaft der Christen oder gar Überheblichkeit gegen­ über den Heiden nicht christlichem Glauben entsprechen22. Daß hier eine noch unbe19. 20.

21.

22.

Der Aspekt kommt bei v. Loewenich, Theologia crucis, zu kurz. Vgl. R. Hermann, Theologie, 68 f. WA 56, 301,18-20.25 f. - 392,3 zu Röm 5, 3 (»Wir rühmen uns auch der Trübsale«). Die Ge­ danken finden Eingang in die Resolution zur gewichtigen These 21 der Heidelberger Disputati­ on (1518), WA 1,362,21-33: »Theologus gloriae dicit Malum bonum et bonum malum, Theologus crucis dicit id quod res est. Patet, quia dum ignorât Christum, ignorât Deum absconditum in passionibus. Ideo praefert opéra passionibus et gloriam cruci, potentiam infirmati, sapientiam stulticiae, et universaliter bonum malo. Tales sunt quos Apostolus vocat Inimicos crucis Christi. Utique quia odiunt crucem et passiones, Amant veto opera et gloriam illorum, Ac sic bonum crucis dicunt malum et malum operis dicunt bonum. At Deum non inveniri, nisi in passionibus et cruce, iam dictum est. Ideo amici crucis dicunt crucem esse bonam et opera mala, quia per crucem destruuntur opera et crucifigitur Adam, qui per opera potius aedificatur. Impossible est enim, ut non infletur operibus suis bonis, qui non prius exinanitus et destructus est passionibus et malis, donee sciât seipsum esse nihil, et opera non sua, sed Dei esse.« WA 56, 302,1 Of. Zum angedeuteten Reuchlin-PfefFerkornschen Streit vgl. Antonie Leinz-v. Dessauer, Gutachten, 11-14; Wilhelm Maurer, Art. Reuchlin, Johannes, RGG3 V, 1074 f; ders., Reuchlin und das Judentum, in: ders., Kirche und Geschichte II, 333-346; Gerhard Müller, Art. Antisemitismus VI, TRE 3, 144,34-52, und Heiko A Ober man, Wurzeln des Antisemitismus, 40-47. Vgl. dazu auch den Brief Luthers (Anfang 1514) an Spalatin, in dem er sich gegen die Kölner und zugunsten Reuchlins außen. Der Zusammenhang ist auch aus dem Grunde von Interesse, da Luther bereits hier die Haltung erkennen läßt, die er später gegenüber der Frage des Türkenkriegs einnehmen wird - und zwar in der Unterscheidung einer Binnen- und Außen­ perspektive des Kampfes, der eigentlich innen (geistlich) geführt werden müsse, aber äußerlich geführt wird, und somit dem Rat des Teufels folgt: »Iam vero de hoc quid dicam, quod Beelze­ bub eicere moliuntur, et non in digito Dei? Hoc est, quod saepe plango et doleo, quia nos Christiani incipimus foris sapere et domi desipere. Centuplum peiores sunt blasphemiae per omnes plateas Jerusalem, et omnia spiritualibus idolis plena. Quae cum summo sint studio tollenda tanquam intestini hostes, nos tarnen reliais omnibus illis, quae nos maxime urgent, ad exteras et peregrinas causas converti mur, suadente scilicet Diabolo, ut nostra deseramus a aliéna non emendemus.« WA.BR 1, 23,20-27. Zur Nähe der Befürwortung des Korandrucks durch Luther zur Position Reuchlins gegenüber jüdischem Schrifttum s. u. 427-429. »Hic superfluum est adducere dissensiones, animositates mutuas regnorum, ducatuum, ciuita-

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Luthers Stellung zum Islam in ihrer historischen und theologischen Entwicklung

stimmte und zugleich traditionell geformte Vorstellung der Türken als Ungläubige vorherrscht, macht auch Luthers Scholion zu Hebr 5, 1 deutlich, das denselben Ge­ danken jetzt im Zusammenhang antijüdischen Handelns der Kirche expliziert23. Decern praecepta (1516/17) Ziel ist in den genannten Fällen nicht die bewußte Verunglimpfung der Ungläubigen, sondern binnenkirchliche Kritik, die zugleich - darin unkritisch - den feindseligen Charakter der Ungläubigen voraussetzt. Deutlich wird dies auch in der zeitgleichen Erwähnung der Türken im Rahmen der Auslegung Luthers zum ersten Gebot in den Decem praecepta: »Warum fluchen wir den Türken, von denen gesagt wird, daß sie die Bilder Christi und der Heiligen schändlich besudeln? Oder verstehen wir noch nicht, daß Gott uns durch deren Bild (figura) anzeigt, wie sehr es ihm mißfidle, daß wir Christen seine Heiligen in Wahrheit noch schändlicher besudeln«24? Ebenso bleibt Luther konzentriert auf das Problem vermeintlicher und tatsächlicher Entehrung Got­ tes, wenn er den Türken als »historisches« Phänomen dem wahren »Türken« als reli­ giösen »Typ« gegenüberstellt - so in der Auslegung zum zweiten Gebot: »At nos cum audimus Turcas templa prophanare, altaria et omnia sacra polluere, miro stupore accendimur ad iram et cogitamus iniuriam bello vindicare et querimur quod principes non contra Turcum bellant, sed palpa sinum tuum, et Turcum palpasti. Interim deus eo magis in poenam principes in mutua bella tradit, ut nos magis quam Turcas puniat, quia peius polluimus sacra quam illi«23. Hebräerbrief(1517/18) Positiv gewendet geht es Luther büß- wie kreuzestheologisch um die Integrierung des Zornes und die Annahme der Strafe Gottes, wie in der Hebräerbriefauslegung die Glosse zu Hebr 12, 11 zeigt: »Alle Züchtigung aber, wenn sie da ist, scheint uns nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein; aber hernach wird sie denen eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit geben, die dadurch geübt sind«26. Allein die Kreuzestheolo­ gie ist imstande, die Auferlegung des Leidens als Werk Gottes (opus alienum) anzuneh­ men. Das kreuzestheologische »System« hält den Glauben bußtheologisch offen für die Erfahrung der Vergebung in Christus (opus proprium)> wie auch - darin liegt die

23.

24.

25. 26.

cum, quasi plus quam genrilium, Vt Veneti, Itali, Franci, Germani. Germanos preferunc poete Gcrmani, Gallos Galli. Et hec sunt Virtutes Maxime, [quod soient maximi] facere, penicus obliti, quod Christiani sumus. Ideo Impletur Verbum Christi: »Regnum aduersus regnum, gens contra gencem.« WA 56, 472,8-13. Auslegung zu Röm 12, 16. »At nunc sacrate ille manus et inuncti digiti tinguntur atrocioribus omni veneno furiis, ita ut arma et bumbardas tractent et hec non nisi in et adversus rem sacramenti eiusdem (i.e. contra dilectos filios in Christo optimi patris), gravissime seil, indignantes et anhela pietate comburere festinantes aliquot ludeos, qui hostias sacramenti lanceolis confodiunt aut cultreolis concidunt. Ipsi vero non hostias, sed rem ipsam, nec lanceolis, sed bumbardiis et omni armorum fragore et impetu occidunt.« WA 57/3, 168,1-8. »Cur execramur Turcos, quod imagines Christi et sanctorum faede conspurcare dicuntur? An nondum intcllcgimus, quod illorum figura ostendit nobis deus. quam sibi displiceat, quod nos Christiani sanctos suos in veritate ec foedius conspurcamus?« WA 1, 421,21-24. Ebd. 432,10-15. »Omnis autem disciplina in praesenti quidem videtur non esse gaudii, sed maeroris: ... postea autem fructum pacatissmium ... exercitatis per earn reddet iusticiae.« WA 57/3, 79,5-9.

Die Türken ab Kristallisationspunkt bußtheologischer Auseinandersetzungen

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sachliche Bedeutung - für die theologische Bewältigung äußerer Bedrohung (bspw. durch die Türken): »Das sind zwei Gegensätze, die in der Schrift häufig begegnen: Gericht und Gerechtigkeit, Zorn und Gnade, Tod und Leben, Übel und Gut. Und das sind die großen Taten des Herrn: >Ein ihm fremdes Werk ist es, auf daß er sein (eigenes) Werk tue< (Jes 28,21). Wundersam nämlich macht er das Gewissen fröhlich ... Dies ist die Theologie des Kreuzes ... Das sind die Menschen, die, sobald sie Schwachheit und Armut oder auch irgendwie Gewalt gelitten haben, alsbald klagen, sie könnten G on nicht dienen, während er doch hier gerade sagt, daß die Gerechtig­ keit durch solcherlei (Leiden) vollendet wird«27. Galaterbrief(1519) Luthers binnenkirchliche und antirömische Kritik28 kreist auch in der sog. »Kleinen Galaterbriefauslegung« ganz um die Frage des Leidens der Kirche und der vermeindichen Abhilfe im Kampf gegen Andersgläubige. Die Kirche muß leiden: »Sed quod omnibus lachrymis sit miseria maior, haec a fratribus et patribus in fratres et filios fieri (sicut in Propheta dicit dominus, filios a parentibus voran), quae a Turca vix fierent aut si fierent non tarnen nomen sanctum Christi tarn foedis monstris praetexeretur, quae est omnium intolerabilissima Christi et ecdesiae iniuria— Nullo modo ergo Rhomanae ecdesiae resistere licet: at Rhomanae Curiae longe maiore pietate résistèrent Reges, Principes et quicunque possent quam ipsis Turcis«29. Die Römer - Luther unterschei­ det die römische Kirche von der Kurie - sind also die wahren Bedrücker des Glaubens und der im Glauben geschenkten Freiheit. »Nostro tarnen seculo Turcas, immo et Christianos cogit Rhomana Curia ad fidem, id est ad odium et perniciem sui«30. War bisher von den Türken nur im Zusammenhang von Ungläubigen die Rede, so treten diese in der Galatervorlesung auch als militärische Bedrohung in Erscheinung, wenn Luther in der Erläuterung des Unterschiedes von fleischlichen Werken des Buchstabens und geistlichen Werken zur Illustration das Geschick christlicher Kriegs­ gefangener bemüht: Die Tyrannei des Papstes ist zu ertragen wie die des Türken, wo­ bei die geisdiche Tyrannis des Papstes die schlimmere ist. Eingebettet ist die Erläute­ rung also erneut in Polemik gegen die Gesetzlichkeit der Kurie und zugleich verbunden mit der auch das Islambild Luthers forthin berührenden Unterscheidung von geisdicher (Gewissen - Rom) und leiblicher (Krieg - Türken) Bedrückung: »hoc est, quod gemo, per tot inutiles leges et noxias nihil nisi infinitas offensas dei augeri, cum et spiritu impleri praecepta oporteat et tarnen ex nobis spiritus haberi non possit. Verum consilium tarnen interim dabo. Primum, si spiritum habes, ut volentcr possis omnia ilia tolerare, fac ita et velut si sub Turca aliove tyranno pro voluntate dei pre27.

28. 29. 30.

»Haec sunt duo contraria in Scripturis frequentata: iudicium et iusticia. ira et gratia, mors er vita, malum et bonum. Et »haec magna opera Domini«. »Alienum opus eius ab eo, ut operetur opus suum.« ... Mire enim letificat conscientiam ... Haec theologia crucis est ... Hii sunt, qui vel infirmitate, paupertare, vel quacunque violentia passi queruntur se non posse Deo servile, cum hie dicat iusticiam ex eiusmodi perfectam fieri.« Ebd. 79,13*17.20; 81,12-14. Vgl. dazu Brecht, Rcformatorische Entdeckung und reformatorisches Programm, insb. 71*76. WA 2, 448,31 -36.37 - 449,2. Ebd. 463,4*6 zu Gal 1, 10. Unsicher ist, an welche Ereignisse der (Zwangs-)Bekehrung Luther denkt. Der Zusammenhang macht deutlich, daß Luthers Proprium im Nachweis des Zwangs­ charakters eines legalistischen Glaubensverständnisses beim römischen Hof liegt.

200

Luthers Stellung zum Islam in ihrer historischen und theologischen Entwicklung

mereris. Siquidem legum tyrannis, cum premat conscientias, longe superat Turacarum tyrannidem, quae corpora tantum premit aut resculas corporis, quanquam nec in hac parte Turcas nobis superiores habemus, si rapinas palliorum, annatarum aliasque intolerabiles Bullarum cauponationes expenderis«31. Die Unterscheidung beider ge­ nannten und je eigengearteten Formen der Bedrückung im Zusammenhang der Pole­ mik gegen römische Gesetzlichkeit ist schließlich der Leitgedanke der Auslegung von Gal 4, 10, die zunächst tropologisch einsetzt und in ihrer gesellschaftskritischen Di­ mension Gedanken der Decem ^ra«r/>/a-Auslegung wieder aufhimmt32. Bemerkens­ wert ist auch der Gedanke, der Türke sei die heilsame Zuchtrute Gottes: »Non est excusatus Episcopus aut ullus pastor, si viderit dies festos in sua ecclesia ebrietatibus, ludis, libidinibus, caedibus, otio, fabulis, spectaculis consumi, sicuti fere consumuntur praeter paucos celeberrimos et non eos abrogarit... Non iigat mandatum Rhomanae ecclesiae, nisi ubi cum honore et gloria dei servari potest: quod si servari non ita po­ test, iam impios esse pronuncio, qui illud mandatum cogunt videri, sicut nos impiissimi homines ludunt, qui hominis timorem praeponunt dei timori et sub nomine Papae et s. Petri diabolum coronant in ecclesia Christi, immo adorant. De bello in Turcas cogitamus: de hoc et aliis necessitatibus ecclesiae longe quam Turcarum tyran­ nis sit peioribus securi sumus et in utranque dormimus aurem, quasi non melius sit Turcam vere virgam dei venire et nostris malis vel morte corporis mederi quam tanta licentia populi, tanta segnitie pastorum Ecclesiae populum in peiores Turcas degenerare: ille sane corpora occidet et terra spoliabit, at nos animas occidimus et coelo privamus, si tarnen vera est difTinitio novissimi concilii, animas scilicet esse immortales, praesertim Christianorum«33. Bemerkenswen ist auch Luthers Auslegung zu Gal 4, 25: Der Reformator spricht von der Nachkommenschaft Saras (Isaak) als den Kindern der Freien und somit den Träger der Verheißung, denen als Antityp die Nachkommen Hagars (Ismael) zuzuord­ nen sind - diese aber mit der Bezeichnung Sira-cenen34. Die Auslegung zeigt, daß Luther hier kein Interesse an antitürkischen oder antiislamischen Spekulationen hat. Während alle im Kontext auftauchenden Namen und deren Deutung traditionell der antiislamischen Polemik zugeordnet werden können35, erschöpft sich Luthers Aus­ legung nahezu im Referat der Allegorien der Namen nach Hieronymus36. Ergänzend sind drei Passagen in Augenschein zu nehmen, in denen von den Türken nicht die Rede ist, jedoch Topoi anklingen, die in Luthers Verltgungwtàtv auftauchen und dort polemisch gegen Muslime, v. a. aber gegen Mohammed gewendet werden: 31. 32.

33. 34.

35. 36.

WA 2, 501.4-13. WA 1. 440,12-15: »Et non cogitant, qui sic sabbatissant, quod si hoc esset sabbatissare, quelibet meretrix hoc possit et quilibet Turcus aut paganus, immo equus et sus, Scilicet comedere et bibere, deinde ociari, tandem pompose adornari.« WA 2, 541,3-6.11 -23. Luthers Schlußbemerkung bezieht sich auf die Beschlüsse des V. Lateran­ konzils zur Unsterblichkeit der Seele vom 19. Dezember 1513; vgl. DH, Nr. 1440. Vgl. ebd. 554,35. Wiederholt wird diese Sicht noch um 1540 in der Auslegung zu Gen 25, 16, WA 43, 372, 36 f.: »Sic Ismaelitae dixerunt se ftlios Dei, et hodie non Hagareni, sed Saraccni vocari volunt...» Vgl. dazu, Southern, Islambild des Mittelalters, 8 f. und 75, Anm. 11 und 12. WA 2, 554,28: »Nunc nominum quoque aJIcgorias iuxta Hieronymum.« Erklärt werden Sara, Agar, Arabia, HierusaUm, Isaak.

D ie T ü rk e n als K ristallisaiionspunkc bußtheologischer A useinandersetzungen

201

(1.) Luther entwickelt in der Auslegung zu Gal 1, 13 f. eine ethische These, die fxir die Würdigung des Gebotsgehorsams im Islam weitreichend ist und in der Verlegung unter Hinweis auf Röm 14, 23 und in gleicher Terminologie (»Schein, Heuchelei«) aufgenommen ist: »Corde autem non purificato, quid sunt opera bona sive ceremonialia sive moralia, nisi species ipsa pietatis et hyprocrisis«37? Glaube und Herzensrein­ heit sind Voraussetzung fiir gottgefälliges menschliches Handeln und gute Werke (Gottesdienst und Ethik) ohne Glauben sind theologisch als Schein und Heuchelei zu endarven. (2.) Die Auslegung zu Gal 2, 16 dient Luther zur polemischen Betrachtung aristo­ telischer Sitdichkeit, der die Gerechtigkeit nach paulinischem Verständnis in strengem Gegensatz gegenübergestellt wird: »Nostra enim iusticia de coelo prospicit et ad nos descendit. At impii illi sua iusticia in coelum ascendere praesumpserunt et veritatem illinc adducere, quae apud nos de terra orta est«38. Die im Bild des anmaßenden Auf­ stiegs zum Himmel und im Zusammenhang menschlicher Gerechtigkeit assoziierte weitere Identifikation Mohammeds in der Verlegung stellt sich dann 1342 aufgrund der koranischen Tradition der Himmelsreise (mirag/miradsch) ein. (3.) Darüber hinaus ist Luthers Auslegung zu Gal 3» 19-21 wahrzunehmen, obwohl in diesem Zusammenhang wiederum von den Türken oder Mohammed explizit keine Rede ist: Der von Luther - wieder mit Hieronymus - entfaltete neutestamentliche Lasterkatalog39, dessen Auslegung frei ist von antiislamischen Aussagen, erscheint ge­ radezu als vorlaufendes Raster der 1342 gegen Mohammed gerichteten Polemik: Der fam icatio entspricht das islamische Eheverständnis40, dem Vorwurf abnormer Sexua­ lität (»infanda«) die angebliche Erlaubnis der »stummen Sünden«41, der Unzucht in Worten und Gebärden (obscoenitas) die fleischliche Ausdrucksweise des Koran42, dem Götzendienst (idolatria) die häretische Leugnung aller chrisdicher Glaubensartikel43, der Zauberei (veneficium) die Identifizierung magisch-schwarzkünstlerischer Machen­ schaften Mohammeds4445,der Feindschaft und Streitsucht (inimicitia) die »wütige« Er­ scheinung des Koran43, Neid und Eifersucht (invidia) wiederum Mohammeds Ehe­ bruch mit der Frau seines Zöglings, Zainab46, »Fressen und Saufen« (comessatio, ebrietas) der diesseitig-fleischlichen Orientierung islamischer Eschatologie47. Nicht nur ist die sachliche Übereinstimmung gegeben, es ist zugleich deutlich, daß das Lu­ ther in der Confutatio vorliegende Islambild in der theologischen Bewertung (Ver­ legung) durch den Reformator im plizit biblisch topisch bestimmt wird. Kaum zu er­

37. 38. 39. 40. 41. 42. 43. 44. 45. 46. 47.

WA 2 ,4 6 8 ,3 8 -4 6 9 ,1 . Ebd. 493,12-14. WA 2, 589,28 - 591,15: fornicatio, immundicia (infanda voluptas), luxuria (aselgia, lascivia, obscoenitas), idolatria, veneficium, inimicitia, invidia, ebrietas, comessatio. WA 53,282,15-17. Ebd. 282,20-22. Ebd. 294.22-30; 296,1 f. Ebd. 278,25-27 u.ö. Ebd. 296,17-26; 304,29 f.; 352,23-25. Ebd. 340,30. Ebd. 314,14-34. 316.1-13. Ebd. 300,2-4 u.ö.

202

Luthers Stellung zum Islam in ihrer historischen und theologischen Entwicklung

heben ist, ob es sich bei dieser Form der biblischen Identifizierung um eine bewußte Rezeption von Gal 5, 19-21 handelt - hermeneutisch ist sie gegeben. Luthers Quintessenz der Galaterbriefauslegung liegt in der Gesetzesfreiheit der Evangeliumsverkündigung, die didaktische Zuspitzung im Erweis der Gesetzlichkeit in seiner Kirche. Frühreformatorische Kritik an der gesetzlichen Durchdringung der Kirche, die mit jedem Gesetz doch nur Sünde auf Sünde häuft, fließt ein in ein um­ fängliches Bußgebet nach Jes 63 f. Eben die Bedrohlichkeit des römischen Legalismus wird nicht nur verglichen, sondern wieder identifiziert mit der türkischen Bedrohung, und zwar in einem Zusammenhang, der nicht nur an militärische Gefahr denken läßt: »Alius suo sensu abundet, Turcas nocentissimos omnium leges has hominum intelligo, nec debuit hac plaga insustentabilis irae dei percuti, nisi populus ipse peculiaris dei, ut cuius ingratitudo prae omnibus populis terrae gravissima meruerit etiam poenam prae omnibus populis terrae longe atrocissimam. Neque enim est gens in orbe terrarum, cuius miseria possit in hac plaga nobiscum conferri. O deus, quam diu continebis in ira tua misericordias tuas«48? Operationes in psalmos (1519-1521) Explizit gegen die militärische Bekämpfung von Häretikern und Türken nimmt Lu­ ther Stellung in den Operationes in psalmos: Im Rückgriff auf die Schrift wird die Ver­ geblichkeit des Krieges herausgestellt. Nur durch Leiden und Flehen sind der Teufel und der Feind der Christen zu überwinden: »Sic bella, quae aliquot saeculis contra haereticos et Turcas geri vidimus, quia viribus et hominum decretis praesumpsimus, retuiismus illud lob xli. »Reputabit quasi paleas ferrum et deridebit hastam vibran­ tem«. Non vincitur Satanas et Christianorum hostis nobis operantibus, sed dumtaxat patientibus et clamantibus«49. Solches aus eigenen Kräften versuchen zu wollen, be­ deutete nur Wahn der Kirche50. Daß die Identifizierung von Ungläubigen nicht christlichem Haß Vorschub leisten darf, sondern der bußfertigen Selbsterkenntnis dient, zeigt in den Operationes ein wei­ teres Mal die Auslegung zu Ps 14,7, die dem Haß gegen Juden, Häretiker und Türken keinerlei ethische Qualität zuerkennt: »Si odium Iudaeorum [gen. obj.] et haereticorum et Turcorum facit christianos, vere nos etiam furiosi sumus omnium christianissimi. Si autem amor Christi facit Christianos, sine dubio nos peiores Iudaeis, haereticis et Turcis sumus, cum nemo Christum amet minus quam nos«51. Der Schlüssel zum rechten christlichen Verständnis liegt also nicht im Haß gegen Andersgläubige, sondern in der Lieblosigkeit gegen Christus und sein Kreuz! Hinsichtlich der reformatorischen Entwicklung Luthers ist hier eine der Brücken von der Römerbriefauslegung zu den Ablaßthesen festzustellen, die den gerade im Zusammenhang der Türken illustrierten Verzicht auf Straferleichterung als gläubige Annahme des Leidens schon vor der - aus dem Ablaßstreit erwachsenden - Profilierung der Bußtheologie Luthers belegt52. -

48. 49. 50. 51. 52.

WA 2, 617,9-15. WA 5, 327.10-15. Vgl. cbd. 344,1-6. Ebd. 429.9-13. Vgl. O tto Hermann Pesch (in der Charakterisierung des Beitrags von Lowell C. Green), Neuere Beiträge. 299 f.: »Obwohl Luther sich gegen die niedere Spiritualität wendet, die in den Ablässen

D ie T ü rk en als K ristallisationspunkt bußtheologischer A useinandersetzungen

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Luthers Frühschriften lassen keine Kenntnis vom Islam erkennen - auch nicht von den Türken als historisches Phänomen: Luther kritisiert ihren Lebenswandel, er nennt sie Feinde und Tyrannen, sie stehen auf einer Stufe mit altkirchlichen Häretikern hier zeigen sich in den frühen Auslegungen klare Abhängigkeiten von der Tradition. Auch bedrohen sie durch äußere Gewalt die leibliche Existenz der Christen (nicht aber deren Seele53), die Christen stehen mit den Türken im militärischen Konflikt; als solche sind diese Teil der endzeitlichen Bedrohung. Doch ist die Charakterisierung topisch und beruht nicht auf konkreter Erfahrung. Die Türken illustrieren kirchliches Fehlverhalten, ihr Auftauchen ist Manifestation des Bußrufes Gottes an die Kirche. Luther hat keine genaue historische Kenntnis von den Türken oder scheint an deren Vermitdung (noch) nicht interessiert. Die Frühschriften erweisen sich in der Frage nach der Rezeption der Türkengefahr entsprechend als nur wenig ergiebig. Weder greift Luther die Katastrophe der Erobe­ rung Konstantinopels auf (1433)54, noch ist er um 1317/18 in der Lage, auf authen-

53. 54.

Erlcichtening der Strafe und Verweigerung des Leidens sucht, also Mangel an Liebe zum Kreuz beweist, akzeptiert Luther die katholische Ablaßlehre in allen offiziellen Punkten ... Erst unter dem Eindruck der Kritik seiner Gegner forden er im Sinne seiner theologia crucis den Verzicht auf Erleichterung der Strafe und die Annahme des Leidens.« Green ist also aufgrund der hier zu den Türken herangezogenen Stellen zu widersprechen. Luthers Forderung nach williger Annah­ me des Leidens ist bereits vor dem Ablaßstreit eindeutig. Man beachte aber die wichtige Ausnahme des Glaubenszwangs der Türken, s. o. 196. Vgl. Göllners Schilderung der abendländischen Reaktionen zwischen Entsetzen und Unfähigkeit zur Bewältigung im 16. Jahrhundert, Turcica 3, 35-67. Luthers Supputatio annorum mundi ist erst im Januar 1536 entstanden, vgl. WA 53, 7. Die Supputatio nennt die Eroberung Konstanti­ nopels. ebd. 168, und den Antritt des Sultanats Selims (1513) und Suleimans (1520), ebd. 170. Die Reichstage finden keine Erwähnung. Die beste Übersicht über die türkisch-abendländischen Beziehungen und die türkische Bedrohung bis 1520 bietet Horst Rabe, Deutsche Geschichte, 36-40. Bemerkenswert ist seit der Eroberung Konstantinopels (1453) die Bedrohung der südöst­ lichen österreichischen Herzogtümer Kärnten, Krain und Steiermark (seit 1463), die zeitweilige Errichtung eines Brückenkopfes in Italien (Otranto 1481) durch Mehmed IL, die Eroberung Syriens und Ägyptens nach der Entlastung an der persischen Ostfront (nach 1512) durch Se­ lim I. und die Übernahme der Barbareskenflotte Algirs (1519), welche für Jahrzehnte die strate­ gische Dominanz der Türken im Mittelmeer begründet, auf deren Basis wiederum die für das Abendland einschneidenden Ungarnfeldzüge der zwanziger Jahre unter Suleiman II. geführt werden. Rabe weist zu Recht auf den religiösen Charakter des Konfliktes auf beiden Seiten hin: Zum einen gilt: »Der Konflikt mit den Türken war von prinzipiell anderer Art als die innereuropäischen Auseinandersetzungen der Epoche. Der Grund dafür lag in den tiefen Gegensät­ zen, in denen die Osmanen damals zur abendländischen Welt insgesamt standen, und der Kern dieser Gegensätze war religiöser A rt... Der islamische Charakter des Osmanenreiches gewann zu Anhing des 16. Jahrhunderts sogar ein besonders geschlossenes Gepräge: Selim I. setzte nämlich damals die ausschließliche Geltung der sunnitischen Orthodoxie durch«; Rabe, 37. Zum andern ist festzuhalren: »Es gab allerdings [neben den Projekten eines Türkenkreuzzugcs oder Glaubens­ krieges] auch kräftige Gegenströmungen, die zu mancherlei Brüchen in der Haltung der Chri­ stenheit zu den Osmanen führten. Nach den mittelalterlichen Rechtstraditionen der christlichen Staaten war der Unglaube der Muslime an sich weder ein Kriegsgrund noch auch nur ein grund­ sätzliches Hindernis für eine rechtliche Regelung der gegenseitigen Beziehungen. Im Gegenteil war man seit jeher und immer wieder gerade auf derartige rechtliche Regelungen, in praxi: auf den Abschluß von Verträgen, bedacht gewesen«; ebd. 39. Rabe sieht die Möglichkeit zum Rechtsverkehr im christlich rezipierten Naturrechtsdenken gegeben (ebd.). Dennoch waren die

204

Luthers Stellung zum Islam in ihrer historischen und theologischen Entwicklung

tische Berichte über Erlebnisse im islamisch-türkischen Bereich zurückzugreifen, die allesamt später verfaßt sind oder zumindest später im Druck erscheinen35. Zumal die Anstrengungen König (dann Kaiser) Maximilians nach 1498, einen Kreuzzug ins Werk zu setzen, finden ebensowenig Erwähnung wie die Kreuzzugspläne der Päpste Innozenz und Alexander VI. zwischen 1490 und 150056. Allenfalls die in der Aus­ legung des Galaterbriefs angedeutete Gefangenschaft von Christen im Türkenkrieg erlaubt die Vermutung der Kenntnis Luthers zumindest der Vorgänge beim V. Late­ rankonzil und der Verkündigung eines heiligen Kriegs gegen die Türken durch Leo X. (16. März 1517) - nach umfangreichen propagandistischen Vorbereitungen und Ge­ sprächen zwischen Leo und dem französischen König Franz I.57. Dies überrascht an­ gesichts des hohen protokollarischen und liturgischen Aufwands von seiten der Kurie und des drohenden Scheiterns ihrer Initiative58, die den historischen Hintergrund der Auseinandersetzung Luthers um den Ablaßhandel (1517/18) darstellen. Ablaßfrage50 und Streit um den Türkenkrieg In der fünften der Resolutions zu den 95 Ablaßthesen (Mai 151860) unterscheidet Luther sechs Arten von Strafen, deren vierte61 unter Rückgriff auf Ps 89, 31 als züch-

55. 56. 57.

58.

59. 60.

61.

Verbindungen Venedigs und später Frankreichs mit den Osmanen heikel. Für die Bewertung der Stellung Luthers zum Islam und zum ihn verkörpernden osmanischen Staat ist damit die Frage gestellt, ob - jenseits der spezifisch reformatorischen Attitüde - Luthers Theologie in ihrer Sicht säkularer Macht (Obrigkeitsfrage) nicht »modern« zu nennen ist, wenn sie die faktische Rechtsautfassung theologisch (nicht machiavellistisch!) einholt. Vgl. Göllner, Turcica 3. 11-31. Eine Ausnahme bildet der Druck eines Türkenlicdes von Niklas Wohlgemuth, Pforzheim 1500, Göllner, 17. Ebd. 64-72. Ebd. 72. Göllners weitere Ausfuhrungen (72-74) zeigen zugleich, wie die klassische Kreuzzugs­ idee (Befreiung des Heiligen Grabes) sich gewandelt hatte und selbst ins politische Kalkül der Großmächte, insbesondere um die Vormachtstellung in Italien, geraten war. Göllner, ebd. 74: »Sonderinteressen und die fehlenden Geldmittel vereitelten auch diese Pläne. Zwar erließ der Papst am 6. März 1518 die Bulla considérantes ac animo revolventesgenerale Con­ siliumi, in der er die Dringlichkeit des fünfjährigen Waffenstillstandes [unter den Großmächten] verkündete und sich zur Schlichtung aller Differenzen anbot. Am 13. März verkündete Leo X. in feierlichem Rahmen einen fünfjährigen Frieden und den heiligen Krieg. Am selben Tage bewegte sich eine Prozession mit zahlreichen Reliquien und dem ganzen Hofstaat des Papstes von St. Agostino nach St. Maria in Arcoli. Am zweiten Tag zog eine ähnliche Prozession von St. Lorenzo nach St. Maria del Popolo; am dritten Tag begab sich der Papst in Begleitung der Kardinäle nach der Kirche Santa Maria sopra Minerva. Hier rühmte Kardinal Sadoleto in einer großen Rede das Verdienst des Papstes und der europäischen Fürsten für die Christenheit und verhieß den siche­ ren Sieg.« Zum Ablaßstreit nach 1517: Brecht. Luther 1, 198-215. Zum Ablaß allgemein: Gustav Adolf Benrath, Art. Ablaß, in: TRE 1, 347-367; Nikolaus Paulus, Ablaß (III). Auch Tetzel hatte in seiner zu Frankfurt (Oder) gegen Luthers 95 Thesen gerichteten Disputati­ on vom 21. Januar 1518 die Türken gestreift, wenn er einen »Laien ... oder wenigstens einen unverschämten Menschen« fragen läßt: »Warum läßt er [Gott] unter Türken, Christen und Ju­ den um des Glaubens willen so viel Streit, Todtschlag und Mord zu, da er mit Einem Winke und Worte könnte alle Rotten, Ketzereien und Abfall vom Glauben verhindern?« Zitate nach W 2 XVIII, Sp. 92 f. Die Frage wird als töricht abgewiesen. Vgl. WA 1, 535,8.

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tigende Strafe und Gottes Zuchtrute expliziert wird. Über diese Strafe hat der Papst keine Verfügungsgewalt. Die Strafen sind heilsam, ihre Annahme in der Buße (vgl. das gnädige Geschick der Niniviten) bewirkt Verschonung62. Der Erlaß solcher Strafen Luther zählt darunter auch die Bedrohung durch Türken, Tartaren und andere Un­ gläubige, die, wie jeder, der nicht ein ganz schlechter Christ ist, weiß (!), Gottes Geißel und Rute sind63 - würde Gottes heilsame Züchtigung aufheben und so zum eigentli­ chen Untergang fuhren. Der Versuch, Gottes heilsame Strafen unter die Schlüssel­ gewalt der Kirche zu fassen, d. h. zu erlassen, fuhrt entsprechend zu einer Verdrehung von Strafe und Verschonung: Was als Erlaß der Strafe vermeindich Strafverschonung Gottes schaffen soll, bewirkt das Gegenteil, hindert nämlich die Buße als Annahme der Strafe Gottes zur Verschonung vor Gottes endgültigem Zorn. Sind aber Türken und Tartaren Gottes Zuchtrute und Geißel, so droht der Auseinandersetzung mit den Türken das fundamentale Mißverständnis, deren erfolgreiche kriegerische Abwehr be­ deute bereits Gottes Strafverschonung und sei deshalb mit Hilfe kirchlicher Propagan­ da zu forcieren. Denn: »Licet plurimi nunc et iidem magni in ecclesia nihil aliud somnient quam bella adversus Turcam, scilicet non contra iniquitates, sed contra virgam iniquitatis bellaturi deoque repugnaturi, qui per earn virgam sese visitare dicit iniquitates nostras, eo quod nos non visitamus eas«64. Luthers im Kampf gegen die Ablaßpraxis entwickelte Bußtheologie bildet das sachliche Zentrum, das Verhältnis bußfertiger Annahme der Strafe Gottes durch den Menschen und gnädiger Verscho­ nung des Menschen durch G on sowie die Gefahr seiner Verdrehung an der Frage der Türkenabwehr; die theologische Verwirrung aber macht aus dem vermeindich gebo­ tenen Krieg gegen die Türken einen Streit gegen Gott. Der wahre Bußkampf gegen Untaten und Sünde unterbleibt. Ein weiteres Mal kommt Luther auf die Türken zu sprechen, wenn in der 13. Re­ solution sechs Typen von Menschen geschildert werden, die vom kirchlichen Ablaß auszunehmen sind65: Luther erörtert im vierten Fall die Möglichkeit kanonischen Ge­ horsams und fragt dabei nach der praktischen Möglichkeit zur Gehorsamsleistung. Dazu gehört die Existenz innerhalb einer rechtlichen Institution. Rechtschaffene Exi­ stenz ist dabei im Vorgriff auf die Obrigkeits- und Ständelehre des Reformators als vorrangiger Gehorsam in sozialen Kategorien anzusehen, die auch dann Geltung be­ anspruchen (können), wenn einer bei den Türken und Ungläubigen gefangen wäre66, »illis enim impeditus, non tenetur ea dimittere, immo tenetur ea facere et Canones

62. 63.

64. 65. 66.

Vgl. These 40 der Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum (95 Thesen): »Contritionis veritas penas queric et am at...« WA 1, 235,15. WA 1, 535,30-34: »Alioqui si sacerdos ecclesiae sive sum mus sive infimus potest hanc poenam potestate clavium solvere: pellat ergo pestes, bella, seditiones, terremotus, incendia, caedes, latrocinia, item Turcas et Tartaros aliosque infidèles, quos esse flagella et virgam dei nemo nisi parum christianus ignorât.« Bemerkenswert ist, daß die Türken samt Tartaren und Ungläubigen nicht nur den genannten Unglücksfällen zugeordnet weiden, sondern auch - abgesehen von Pest, Erd­ beben und Feuersbrunst - die Verbrechen begegnen, die in der Verlegung zu à \ als Charakteristika Mohammeds und der Seinen erhoben werden. Ebd. 535,35*39. In der Bulle »Exsurge Domine« vom 15. Juni 1520 inkriminiert, vgl. DH, Nr. 1484. Ebenfalls in »Exsurge Domine« inkriminiert; vgl. DH, Nr. 1472. WA 1, 553,33 f.: »ut siquis captivus esset Turcis et infidelibus«.

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Luthers Stellung zum Islam in ihrer historischen und theologischen Entwicklung

omittere et deo obedire. quare nec remissiones illorum habet nccessarias, quorum non fuit capax impositionis«67. Die 22. Resolution bekräftigt diesen Standpunkt: Es gibt keine Notwendigkeit des Straferlasses durch den Papst für Christen, die außerhalb des kanonischen Machtbereichs leben, wie in der Türkei, im Land der Tartaren oder in Livland68. In der 26. Resolution greift Luther verstärkend den Haupteinwand gegen die Ab­ laßpraxis auf: Wenn die Schlüsselgewalt des Papstes sich auch auf das Fegefeuer er­ streckte, wäre der Papst grausam, wenn er das Fegefeuer nicht endeerte69, und zwar aufgrund der in Liebe ausgeübten Schlüsselgewalt und nicht aufgrund von Ablaßlei­ stungen. Den Einwand, die Vergebung des Papstes sei zur Wahrung der götdichen Gerechtigkeit an rechtmäßige und vernünftige Gründe gebunden, weist Luther zu­ rück: Eine Tat der Liebe kann nicht der Gerechtigkeit Gottes widersprechen. Zudem wird der Ablaß erteilt auch »pro bello contra infidèles«70. Die Konfusion in der Vor­ stellung von Gottes Gerechtigkeit reicht so weit, daß - um der Ablaßforderung zu entgehen! - »fideles debeant malle servire Turcis et corporaliter occidi quam animas non redimi«71. Überhaupt ist die Ablaßpraxis ganz auf die Erwirtschaftung von Geld, nicht aber auf die Rettung der gläubigen, wenngleich sündhaften Seele ausgerichtet, wie die 35. Resolution betont: »Cur ergo non invocamus Turcas et Iudaeos, ut nobiscum etiam suas pecunias imponant, non propter nostram avaritiam, sed propter redemptionem animarum? Nec obstare videtur, quod illi non sunt baptisati, quando hic non est opus nisi pecunia dantis, nequaquam anima pereuntis«72. Dabei kann sogar selbst die Erwirtschaftung von Geld fur Luther als sinnvoll gelten, wie in der 42. Re­ solution deutlich wird. Die Gabe zum Bau der Peterskirche oder zum Rückkauf christ­ licher Gefangener von den ungläubigen Türken ist jedoch nur als uneigennützige Hingabe und nicht als eigennütziges Werk gutzuheißen.73. Die 69. Resolution beleuchtet das Verhältnis von Bindung und Freiheit des Gewis­ sens in bußtheologischer und ethischer Zuspitzung: Die Notwendigkeit, von Gott auferlegte Lasten zu tragen, ist nicht in der päpstlichen Binde- und Lösegewalt auf­ gehoben, auch nicht durch die Differenzierung von Geboten (praecepta) und Räten (consilia evangelica), sondern gründet in der demütigen Annahme der Züchtigung Gottes74. Wäre der Verzicht auf Widerstand nur ein Rat, so wäre der Widerstand gegen die auferlegten Lasten des Papstes auf derselben Ebene zu fassen wie der Wider­ stand gegen die Türken. Man darf sich aber letztlich beiden nicht widersetzen, was

67. 68. 69.

70. 71. 72. 73. 74.

Ebd. Z. 36-38. Vgl. ebd. $71.17-20. Vgl. ebd. 574,31*33 unter Beziehung auf die 82. Ablaßthese: »Cur Papa non evacuat purgatorium propter sanct issimam charitatem et summam animarum necessitatem ut causam omnium iustissimam ebd. 273,22f. Vgl. ebd. 575.1. Ebd. Z. 11 f. Ebd. 591,27-31. Vgl. ebd. 599,11 f. Dieses dient dem Fleisch und der Natur, jene dem Geist und der Gnade, 16 f. Ebd. 618,37 - 619,3: »sicut timere debemus deum in omni alia violentia, etiam prophana, et non per contemptum superbe reluctari. Ita et onera sunt ferenda, non quod recte fiant et approbanda sine, sed ut llagella a deo inüicta et humiliter portanda«.

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nach Luther noch weiter auszufiihren wäre. »Sed haec materia, neccessaria valde, aliud tempus et opus postulat«7’. Die 72. Resolution kommentiert die willkürliche Differenzierung menschlicher Schuld hinsichdich der päpstlichen Reservation bestimmter Verfehlungen, zu denen auch chrisdiche Waffenlieferungen an die Türken7576 gehören. Grund dieser Differen­ zierung ist aber nicht die Wacht über das Wort Gottes, sondern simonistischer Macht­ mißbrauch des Papstes. 1st Waffenlieferung an die Türken als besondere Verfehlung nicht der Vergebungsgewalt der Ablaßprediger anvertraut, wie kann dann die Auslie­ ferung des Wortes Gottes an den Teufel durch die Lehre von den Verdiensten als min­ dere Verfehlung gehandhabt werden77? Wie schon in den frühen Auslegungen zieht Luther das Beispiel der Türken zur Illustration christlichen Verhaltens, d.h. kirchlichen Fehlverhaltens, heran. Theo­ logisch liegt das ganze Interesse bei der Unterscheidung der Fragen von Bußleistung und Türkenkrieg. Deudich ist, daß die Verurteilung der Bußtheologie Luthers - wie sie in der Bannandrohungsbulle zum Ausdruck kommt - von gänzlich anderer Warte her formuliert wird als von dem theologischen Ansatz des Augustinermönchs. Für die Kurie bedeutet Luthers bußtheologische Kritik nur Obstruktion gegen die machtpoli­ tische Behauptung des Papsttums im europäischen Kräftespiel, indem es Rom nicht nur um die Abwehr der Türken von der italienischen Küste, sondern zugleich um die engere Bindung Frankreichs an die Interessen der Kurie zu tun ist. Luther mag diese zunehmende politische Dimension durchaus vor Augen gestanden haben, wenn er in den politischen Zerwürfnissen und machtpolitischen Ränkespielen der Territorien ein Grundübel der zeitgenössischen Christenheit erblickt78.

75.

76.

77. 78.

Vgl. ebd. 619,11 f. Dazu richtig Mau, Luthers Stellung, 956, Anm. 5: »Luther setzt... den Wi­ derstand gegen die Türken als äußere Feinde, die im Unterschied zum Papst nicht in der Rolle der von Gott geordneten potestas auftreten können, zunächst als selbstverständlich gegebenes Recht voraus, klammert dies dann aber durch das Gebot des totalen Widerstandsverzichtes ein, um diesen noch ungeklärten Gedankengang schließlich mit der Problemanzeige abzubrechen.« Bernard Lewis, Kaiser und Kalifen, 130: »Obwohl die Waffentechnik hauptsächlich benötigt wurde, um den Krieg gegen die Christenheit fortsetzen zu können, bestand niemals Mangel an christlichen Kaufleuten, die bereit waren, sie zu liefern und unter Umständen sogar den Kauf zu finanzieren. Im sechzehnten Jahrhunden wimmelte es im europäischen Schrifttum von Ankla­ gen und Beschuldigungen der verschiedensten christlichen Regierungen und Gemeinden, die sich alle gegenseitig bezichtigten, den Türken Waffen und militärisches Know-how zu liefern. Eine päpstliche Bulle, die Clemens VII. im Jahre 1527 erließ, bedrohte mit Exkommunikation und Kirchenbann »alle, die den Sarazenen, Türken und anderen Feinden des christlichen Na­ mens Pferde, Waffen, Eisen, Eisendraht, Zinn, Kupfer, Bandaraspata, Messing, Schwefel, Salpe­ ter und alles bringen, was zur Herstellung von Artillerie und Instrumenten, Waffen und An­ griffsmaschinen geeignet ist, womit sie gegen Christen kämpfen, sowie Taue und Bauholz und anderen Schiffsbedarf und andere verbotene Waren«.« Vgl. ebd. 620,14-20. Es bedeutet keinen Widerspruch, sondern Bestätigung dieser Vermutung, wenn Armin Kohnle, Reichstag und Reformation, 24, feststellt: »Erst allmählich, wohl nicht vor Februar 1518, wurde sich Luther der Wirkung seiner Ablaßthesen bewußt.«

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Luthers Stellung zum Islam in ihrer historischen und theologischen Entwicklung

Briefwechsel Daß in den Auslegungen und Streitschriften Luthers um 1517 die theologische Frage nach der Bußpraxis der Kirche und der römischen Lehre vorherrscht, ist ebensowenig verwunderlich wie es umgekehrt erstaunt, daß - angesichts der gleichzeitigen päpst­ lichen Unternehmungen - die politische Dimension der Türkengefahr fur Luther eine so geringe Rolle spielt. Noch verstärkt wird dieser Eindruck durch die Briefe des Re­ formators, in denen sich wider Erwarten keine Erörterung der politischen Lage findet, wie dies ab den zwanziger Jahren zu beobachten ist. Gerade der Briefwechsel Luthers mit Georg Spalatin zeigt jedoch, daß Luther auf die politische Dimension seiner Buß­ theologie und der in seinen Schriften gegebenen Erläuterung der Bußpraxis (auch) anhand der Türken von außen und mit Gewißheit erst durch eine Anfrage Spalatins gestoßen wird. Wahrscheinlich ist dies jedoch bereits durch eine brandenburgische Anfrage kurz zuvor geschehen (s. u.). Von gleich mehrfacher Bedeutung ist dabei Lu­ thers Brief vom 21. Dezember 1518. Luther äußert darin (privat und unter rhetori­ schem Vorbehalt) zum zweiten Mal den Verdacht, daß es sich - Luther hat in Vor­ bereitung auf die Leipziger Disputation die päpstlichen Dekretalen studiert79 - bei der Herrschaft des Papstes um die des Antichrist in der Kirche handeln könnte80. Für die Frage nach der Stellung Luthers zum Islam ist diese Tatsache erwähnenswert, da die Stellungnahme des Reformators zu Türken und Islam in der Folgezeit nicht vom antichristlichen Horizont und damit von der theologischen Beziehung Islam (Moham­ med) - Papsttum getrennt werden kann. Luthers Schreiben ist zugleich die Antwort auf die an ihn persönlich und von befreundeter Seite herangetragene Frage nach einer theobgischen Stellungnahme zum Türkenkrieg, mithin nach einer theologisch legiti­ men Begründung der Türkenabwehr. Luther unterstreicht darin nicht nur die buß­ theologischen Voraussetzungen der Abwehr, er verweist zugleich auf einen jüngst ge­ haltenen Sermon, in dem er sich zur Sache geäußert habe und übersendet dem Freund zugleich die aus dem Gedächtnis erstellte Abschrift seiner Predigt über M t 18, 1-11 vom Michaelistag (19. September 1518), in welcher von den Türken nicht die Rede ist; dennoch bietet gerade diese Predigt eine frühe Zusammenfassung der für die Tür­ kenfrage maßgeblichen Bußtheologie und den Schlüssel zur Behandlung der Türken und des Islam in der Folgezeit. Luther gibt zu erkennen, daß er auf der Basis der Schrift derzeit einen Türkenzug nicht befürworten könne, selbst wenn dieser nicht aus Geldgier, sondern »vero pietatis Studio« unternommen würde. Auch uneigennüt­ zige Frömmigkeit kann nicht als Argument dienen. Überhaupt wendet sich Luther mit Erasmus81 - gegen derartige Feldzüge. Sollte tatsächlich ein Türkenkrieg geführt 79.

80.

81.

Vgl. Luthers Brief an Spalatin vom 13. März 1319, WA.BR 1, 359,28-31: »Verso & décréta pontificum pro mea disputatione [Leipzig] Et (in aurem tibi loquor) nescio an papa sit Antichristus ipse vel Apostolus eius, adeo misere corrumpitur & crucifigitur Christus (idest veritas) ab eo in decretis.« Ein Jahr später, in seinem wiederum an Spalatin gerichteten Brief vom 24. Fe­ bruar 1520, ist Luther vom Ancichristentum des Papstes überzeugt; vgl. WA.BR 2, 48,26f. Vgl. auch Mau, Luthers Stellung, 647. Derselbe Zusammenhang liegt mit dem Schreiben Lu­ thers vom 18. Dezember 1518 an Wenzeslaus Link vor: Hier wird das antichristliche Regiment Roms erwähnt, das schlimmer sei als die Türken: »Mittam ad te nugas meas, ut videas, an recte divinem Antichristum ilium verum et intentatum a Paulo in Romana curia regnare; peiorem Tu reis esse Romam hodie puto me demonstrare posse.« WA.BR 1, 270,11-14. Vgl. WA.BR 1, 283, Anm. 3 mit Hinweis auf Erasmus, Adagia IV, 1,1 (Opera II-7, 11-44) zum

Die T ürken als Kristallisationspunkt bußtheologischer Auseinandersetzungen

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werden, so müsse er in der Kirche mit Buße einsetzen. Türkenfeldzüge werden als äußere camalia (Krieg) den heimischen spiritualia (Buße) entgegengesetzt82. Spalatin schreibt unter dem Eindruck des Jenaer Landtages, auf dem die von Cajetan auf dem Augsburger Reichstag erbetene Türkenhilfe beraten wurde83, ln der Antwort läßt Lu­ ther erkennen, daß er neulich (»nudius«) bereits »in eandem rem amici Rogatu sermonem ... in Manus Heroum Brandenburgensium« geschickt habe84. Luthers bußtheo­ logische Zurückhaltung gegenüber dem Türkenkrieg wird offenbar für die politischen Beratungen als nützlich empfunden, andernfalls hätte man nicht um eine Stellung­ nahme gebeten. Zugleich wird erkennbar, daß Luther das Problem der Türkenbedro­ hung theologisch-seelsorglich begriffen wissen will. Der o. g. Sermon ist verschollen, es ist jedoch anzunehmen, daß Luther sich darin in gleicher Weise geäußert hat wie gegenüber Spalatin. Wer aber war der »Freund« (ami­ cus), dem Luther antwortete, wer die Auftraggeber, die »Helden« (heroes), die sich des Freundes bedienten, um Luthers Stellungnahme einzuholen? Sicherlich spricht Luther in beiden Fällen nicht stricto sensu. Zugleich lassen sich aber auch konkrete Mutmaßun­ gen anstellen: Unter der Voraussetzung, daß mit amicus nicht der persönliche Freund gemeint sein muß, sondern eine Person bezeichnet werden kann, die einer anderen oder einer Sache freundlich gegenübersteht85, läßt sich hinter dem amicus den damals Luther (noch) freundlich begegnenden Diözesanbischof Hieronymus Schulze (Schultz/Scultetus) von Brandenburg86 vermuten, der fiir den kurbrandenburgischen Hof sicherlich der geeignete Mittelsmann war, um Luthers Stellung zum Türkenkrieg in Erfahrung zu bringen. Seit dem Thesenanschlag standen Schulze und Luther in brieflichem Kon­ takt87; die Ablaßkritik des Augustinermönchs stieß zu gleicher Zeit auf Zustimmung

82.

83.

84. 85. 86. 87.

Sprichwort »Süß dünkt der Krieg den Unerfahrenen (Dulce bellum inexpertis)«: »Mihi sane ne hoc quidem adeo probandum videtur, quod subinde bellum molimur in Turcas« (ebd. 38,781 f.). Im Brief an faul Volz rät Erasmus ebenfalls von dem Ansinnen ab, so viele Türken als möglich umzubringen und ruft statt dessen zum missionarischen Zeugnis eines sittlich-prak­ tischen Christentums auf; vgl. Erasmus, AS 1,8. WA.BR 1, 282,3-6.9-14: »Si recte intelligo te, mi Spalatine, quaeris, an Expeditionem adversus Turcas ex sacris Literis possim tueri & suadere. Est quod non pecunie, Sed vero pietatis studio suscipatur, ego tibi fateor non posse me id polliceri, Contrarium autem copiosissime ... Ubi id egi, ne susciperetur ullo modo bellum huiusmodi. ln eadem est Erasmus in multis locis, sicut melius nosti quam ego. Mihi Visum est. Si adversus Turcas omnino pugnandum est, a nobis primum incipiendum esse, frustra foris bellamus carnalia bella, quando domi superamur spiri­ tual ibus bellis.« Nach wie vor hilfreich ist die bei W 2 XV, Nr. 164-172, zusammengestellte Dokumentation zum Reichstag zu Augsburg und der don verhandelten Türkenfrage. Auszug der Rede Cajetans bei W 2 XV, Sp. 473-476. Vgl. auch Kohnle, Reichstag und Reformation, 26 (Lit.). WA.BR 1,282,6-8. Vgl. Spalatins Bericht über den in der Sache und den Personen Wittenbergs gegenüber gütigen Schulze an Luther, W 2 XV, Sp. 409 (Nr. 129). Vgl. dazu auch Kohnle, Reichstag und Reformation, 51 f.; Eike Wolgast, Luthers Beziehungen zu den Reichsbischöfen, in: Wartburg-Jb Sonderband 1996, 176-206, insb. 182f. Gleichzeitig mit der Übersendung der 95 Thesen an Albrecht von Mainz hat Luther sich im November 1517 an seinen Diözesanbischof, eben Schulze gewandt. Am 6. oder 13. Februar 1518 übersendet Luther an Schulze die noch handschriftlichen Resolutionen zu den Ablaßthesen (gedruckt im Mai) mit einem ausführlichen Begleitschreiben (WA.BR 1, 135-141). Ende März 1518 berichtet Luther an Spalatin, der Abt von Lehnin habe ihm ein Schreiben Schulzes über­ bracht, in dem dieser Luther um Zurückhaltung bei der Verbreitung der Resolutions und des

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Luchen Stellung zum Islam in ihrer historischen und theologischen Entwicklung

bei den später die Reformation ablehnenden Fürsten wie Herzog Georg von Sachsen oder eben Kurfürst Joachim I., deren Herrschaften neben den kursächsischen am stärk­ sten vom Ablaßhandel betroffen waren. Dies würde nicht nur ein Interesse des Branden­ burger Kurfürsten an Luthers Ablehnung eines im Reich unbeliebten Türkenkriegs88, die Luther ja mit der Kritik am Ablaß verbunden hatte, wahrscheinlich machen. Mög­ lich ist auch, daß der Kurfürsten in indirekten Kontakt zu Luther über Schulze getreten ist. Zu Luther selbst Kontakt aufzunehmen kam angesichts des laufenden römischen Verfahrens gegen den Augustinermönch nach dessen unbefriedigend verlaufenen Ge­ sprächen zu Augsburg mit Cajetan fur den Kurfürsten nicht in Frage. Daß Luther die Brandenburger als Heroen bezeichnet, bedeutet keine Anerkennung besonderer histori­ scher Leistungen - ganz allgemein kann der Adel so bezeichnet werden89 - , sondern wohl eher eine ironische Bezugnahme Luthers auf die unter humanistischem Einfluß antikisierende Selbststilisierung der brandenburgischen Höfe, die sich vor allem in den Beinamen der Fürsten im 15. und 16. Jahrhundert (Achilles, Alkibiades, Cicero, Ne­ stor) spiegelt90. Zugleich läßt der Brief erkennen, daß der Reformator in der Frage des Türkenkriegs noch nicht zu einem abschließenden Urteil gelangt ist: »In qua sententia adhuc sum, nisi melioribus füero mutatus elenchis«91. Es ist dieselbe noch bestehende prinzipielle Offenheit, ja Unsicherheit, die Luther schon in den Resolutiones an den Tag legt, wenn dort im gleichen Zusammenhang auf die Notwendigkeit weiterer Erörterungen an anderem O rt und zu anderer Zeit verwiesen wird92. Luthers Anliegen ist, den Ablaßstreit als theologischen Streit um die pastorale Pra­ xis zu führen; die politische, d. h. rWc%>olitische Dimension wird ihm in ihrer Trag­ weite wohl erst im Laufe des Augsburger Reichstages gänzlich bewußt geworden sein. Die theologischen Leitgedanken seiner Auffassung waren eben in jener Predigt zu Mi­ chaelis zusammengefaßt, die Luther Spalatin übersendet: In der Predigt über Mt 18, 1-11 entwickelt Luther - in recht freiem Umgang mit dem Text - erneut seine De­ mutstheologie nach dem Deszendenzmodell gemäß Phil 2. Die Auslegung - im »syn­ ergistischen«93 Charakter der Demut als Vorstufe der Anteilgewinnung an Gott noch ganz vorreformatorisch - gewinnt Konkretion in der Kritik an den Bischöfen und am

88. 89. 90. 91. 92. 93.

Sermon vom Ablaß gebeten hat (WA. BR 1, 161 f.). Am 12. Februar 1519 schreibt Luther an Spalatin von einem zurückliegenden und bei aller Zurückhaltung Schulzes gegenüber den Reso­ lutiones und auch Vorhaltungen gegen Luther freundlichen Gespräch mit Schulze in Wittenberg (WA.BR 1,327,1 f.). Aus der anfänglich insgesamt freundlichen Zurückhaltung scheint sich aber doch offene Gegnerschaft zu entwickeln; vgl. Luthers Brief an Staupitz vom 3. Oktober 1519 (WA.BR 1, 514,44-48). Spätestens beim Wormser Reichstag gehört Schulze zu den Widersa­ chern Luthers. Vgl. dazu die 1518 in der Türkensache an die Kurie ergangene Responsio principum Germaniac* Quelle und Übersetzung bei W: XV, Sp. 476-482. Auch die sächsischen Fürsten werden von Luther als Helden tituliert. Vgl. die Adresse des Briefes vom 13. November 1520, WA.BR 2, 213,1 f.: »Sacris principalibus Saxon ici herois«. Margarete Kühn, Die Universität Frankfurt a.d. Oder und der Humanismus in der Mark Bran­ denburg. WA.BR 1. 282,9f. S.o. 207, auch Anm. 75: Es muß offen bleiben, ob der Sermon an die Brandenburger bereits Luthers Bearbeitung der Materie (»neccesaria valdc«) darstellt. Zur theologiegeschichtlichen Einordnung dieses Verständnisses der Demut bei Luther vgl. Mat­ thias Kroeger. Rechtfertigung und Gesetz. Studien zur Entwicklung der Rechtfcnigungslehrc

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Papsttum: »Et haec forma servi debet esse episcopis propria, sicut in euangelio isto docetur. At nunc sicut antichristus in templo Dei sedent, ostendentes se, tanquam sint Deus, potestatem acceptant non nisi in suum commodum rapientes et rapinam arbit­ rantes (praesertim papa), secure quiescentes, nulli servientes, sed omnium servitutis etiam extorquentes per violentiam.« Wahre Demut bestehe darin, »cum omnibus suis bonis aliud nihil facere, quam servire malis, exemplo Christi, nihil sibi tribuendo, sed omnia exinaniendo«94. Die im Begleitbrief (s.o.) geäußerte Absage an einen Türken­ krieg liegt damit ganz im ethischen Gefälle der frühen Demutstheologie Luthers. Der Streit um den Bann und die Bannandrohungsbulle Papst Leos X. Im Schatten des ihm selbst drohenden Bannes95 spitzt Luther seine Bußtheologie noch 1519 - also noch vor der vollzogenen päpstlichen Bannandrohung - auf die Kritik an der Bannpraxis zu. In seiner Kritik mangelnder Büßfertigkeit derer, die ban­ nen, dienen zur Illustration wiederum die Türken gleichsam als Zeugen des Unrechts in der Kirche: Im Sermon von dem Bann macht Luther sich Gedanken zum Geschick derer (vor Gott!), die den Bann aussprechen, wie auch um die seelsorglichen Folgen für die, die als Gebannte leben müssen. Die Bannpraxis ist Unrecht, da sie nicht zur Buße leitet, sondern nur Geld erpreßt; der Bann verfolgt fiskalische Interessen und nicht Kirchenzucht, mit der Konsequenz, daß Christen unter schlimmeren Bedingun­ gen leben als die Türken96. Die Bannpraxis ist reine Tyrannei, ein grausames Spiel vor den Augen der Türken und Heiden97. Bußtheologische Fragen aus römischer Sicht, die Praxis des Banns wie die des T ür­ kenkriegs rücken zusammen in der Bannandrohungsbulle Papst Leos X., die als späte Reaktion auf Luthers Resolutiones zu betrachten ist, insbesondere auf die fünfte, deren zentrale Aussage die Bulle inkriminiert: »Gegen die Türken kämpfen bedeutet, sich Gott zu widersetzen, der durch jene unsere Missetaten heimsucht«98. Der bisherige Gang durch die Äußerungen Luthers sowohl zur Bußtheologie wie auch zu den Tür­ ken zeigt jedoch, daß Luther von seinen theologischen Voraussetzungen her nicht wil­ lens sein kann, in dieser Frage nachzugeben. Dies ist insofern bemerkenswert, als die Absage an einen Türkenkrieg angesichts der Klagen der Stände gegenüber den römi­ schen Finanzforderungen einerseits gute Aussichten hatte, in der Öffentlichkeit Gehör

94. 95. 96.

97.

98.

beim jungen Luther, 188-190. Zum Demutsverständnis in der Römerbriefvorlesung vgl. Rudolf Mau, Heilsnotwendigkeit, 46-49. WA.BR 1. 285,81 - 286,86; 285,66f. Vgl. Rogge, Luther, 187f. WA 6, 66,38 - 67,2: »wo wollen dan bleyben die armen elenden treyber, die umb geIIts willen ein solch weßen mit bannen vil mal mit gewalt und unrecht angcricht haben, das fast leychter die Turcken und Heiden leben, den die Christen?« WA 6, 70,18-22: »Solch böße jämmerlich zeyt ist itzt, das solch wfttriche tyrannen sich yhrer sund und ewigen Schadens unvorschampt und öffentlichen rhuhmen, das grawsam zu hören were mitten unter den Turcken und Heyden, auf}'das sie nur zeyt lieh trotzen mugen und der leydenden zu yhrem ungluck spotten, nit besserung, sondern allein die furcht und falsch erschreckung der leutt suchen.« Bulle vom 15. Juni 1520: »Procliari adversus Turcas est repugnare Deo visitanti iniquitates no­ stras per illos.« DH, Nr. 1484.

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Luthers Stellung zum Islam in ihrer historischen und theologischen Entwicklung

zu finden, wie auch die Verbindung der Türken- mit der Ablaßfrage zumindest in den sächsischen Herrschaften und in Kurbrandenburg auf Verständnis stieß; andererseits beinhaltet Luthers Stellung zum Türkenkrieg und zu den Türken aufgrund ihrer buß­ theologischen Begründung und ihrer antipäpstlichen Spitze auch das Problem des Widerstandes gegen den Papst und einer ihm polemisch begegnenden ketzerischen Theologie, wie Herzog Georgs bleibende Feindschaft gegenüber Luther seit der Leip­ ziger Disputation zeigt". Wie die Ablaßfrage sehr schnell politisch werden mußte im Ränkespiel zwischen Reich und Kurie um finanzielle (und damit verbunden: militäri­ sche) Macht, so wird und bleibt sie politisch im Problemfeld der Türkenabwehr. Das eine folgt aus dem andern. Aber dies ist eben nur eine Seite. Auf der anderen ist Luther nicht gewillt, die Frage der Türkenabwehr beiseite zu lassen und nimmt - aus theo­ logischen Gründen - zunächst politische Mißverständnisse in Kauf, als gehe es ihm tatsächlich darum, den Türken als den das Reich bedrohenden Feinden keinen Wider­ stand entgegenzusetzen. Welche Rolle die Türkenfrage für das Papsttum spielt, zeigt Papst Leos Schreiben an den sächsischen Kurfürsten Friedrich vom 8. Juli 1520, in dem Leo den Landes­ herrn zum Vorgehen gegen Luther aufforderte. Es handelt sich um den berühmten Brief, in welchem Luther als »Sohn des Bösen« bezeichnet wird99100. Vier Hauptvorwür­ fe erhebt der Papst in seinem Begleitschreiben zur Bannandrohungsbulle: Luther er­ neuere die von der Kirche verdammten Ketzereien Wiclifs, Hus’ und der Böhmen, er bringe das einfache Volk hinter sich, er mißdeute die Schrift. Darüber hinaus halte er es m it den Türken101. Der letzte Vorwurf zeigt nicht nur die Verständnislosigkeit gegen­ über Luthers bußtheologisch intendierter Kritik, er beleuchtet auch die Gefährlichkeit seiner Äußerungen, wenn bei aller Unschärfe des Ausdrucks Luther quasi die Kollabo­ ration mit dem Feind des Glaubens und einem Bedroher des Reichs unterstellt wird. Als versöhnliches Zwischenspiel der sog. »Miltiziade«102103ist Luthers Sendbrief an den Papst Leo X. (12. Oktober 1520, vordatiert auf 6. September10') in die Reforma­ tionsgeschichte eingegangen. Versöhnlich ist allerdings nicht die Kritik Luthers, son­ dern lediglich der Ausgangspunkt: die brüchige Hoffnung prinzipieller Besserungs­ fähigkeit der Kurie durch den Bußruf eines Predigers, ftir den Luther das historische 99. Vgl. Rogge. Luther, 159. Zu Luthers Verhältnis zu Herzog Georg vgl. O tto Vossler, Herzog Georg der Bärtige und seine Ablehnung Luthers, in: HZ 184 (1957). 272-291. 100. W2 XV,Sp. 1405-1408. 101. Vgl. W2 XV. Sp. 1406 (Übersetzung). Daß Luther gegenüber dem gefährlichen Vorwurf der Kumpanei mit den Böhmen auf »türkische«, provozierende Rede nicht verzichtet, wird deutlich in D. M artin Luthers Zusatz zu Hmsers Bock (Sept. 1519), WA 2, 663,21-26: »Atque ut scias, me tuas insidias nihil insidiosas nihil metucre, habe tibi hoc et illude sive illide. si potes: Volo, opto, oro, gratias ago, gaudeo, quod mea dogmata placent boemis, atque utinam placèrent et ludacis et Turcis! immo utinam et tibi et Eccio, posit is vestris impiis erroribus, placèrent! Quid hic facies? An Iudaeum, Turcum, Emserianum et Eccianum me patronum excusabis, quia recuso fortiter me nolle vestra et illorum tueri?« Die Türken scheinen von der Wahrheit des Glaubens ebenso weit entfernt wie Emser: »Sine ergo, infoelix invidia, pro dogmatibus emis sacra fieri, vel a Turca.« Ebd. 667,18 f. 102. Vgl. Rogge, Luther, 164f. Kohnle, Reichstag und Reformation. 31-41. 103. Vgl. Luther, Studienausgabe 2, 3 11. Die Vordatierung erfolgte zur Erweckung des Anscheins, die Bulle sei in Wittenberg noch nicht bekannt geworden, was allerdings seit dem 3. Oktober der Fall war.

Die Türken als Kristallisationspunkt bußtheologischer Auseinandersetzungen

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Beispiel Bernhards anfiihrt. Auch hier vergleicht Luther den römischen H of mit den Türken, wenn er fragt: »Ists nit wahr, das unter dem weytten hymel ist nichts ergers, vorgifltigerß, hessigerß den der Römische hoff? denn er weyt ubirtrift der Turcken untugent ...« 104. Gleichzeitig (Oktober 1320) versucht Luther erstmals, in der Schrift Von den neuen Eckischen Bullen und Lügen seine Stellungnahme zu den Türken gegenüber Eck105 zu präzisieren, allerdings ohne tiefere Entfaltung: »Das ich widder die Turcken kriegen vorwirff, bisz das wir vorhyn frum werden, und darnach mit gotis furcht an sie tzihen, soi mir niemant übel auszlegen, den D. Eck, dem kein lieb noch lust zur warheit ym hertzen ist«106. In der kurzen Erwiderung ist eine wichtige Verlagerung der Tendenz gegeben: Bisher hat Luther vom Türkenkrieg abgeraten, bevor nicht echte Buße getan sei; jetzt ist deutlicher vom Zug gegen die Türken die Rede, nachdem Buße geleistet ist. Der Türkenkrieg rückt explizit in den Bereich des Möglichen und Gebotenen. Zugleich - gerade wenn Luther zur Illustration die Türken heranzieht - steht blei­ bend die Frage des Glaubens im Vordergrund. Luthers Schrift Wider die Bulle des Endchrists vom November 1320 charakterisiert die päpstliche Bulle als öffendiche Ver­ dammung des christlichen Glaubens107, der zu widerstehen sei. Der Papst ist der »Ertzendtchrist«; »und wo er nit wolt auffhoren, uns alszo unvorschampt öffentlich den glauben zuvorpieten, das das weltlich schwerd mit freuden widderstunde, mehr denn keinem Turckenn: den der Turck lessit doch gleubenn wer do will, der Bapst wil nie­ mant lassen gleuben.«108 Luther läßt an dieser Stelle erstmals ein Wissen um Glau­ benstoleranz im Islam erkennen, das in Überzeichnung der antirömischen Kritik er­ neut den Papst als schlimmeren Feind des christlichen Glaubens erweise als den Türken. Nicht nur stellt die nunmehr topische Parallelisierung von Papst und Türke eine Provokation dar, sondern die Ausführungen verweisen auch auf die in der Obrig­ keitsschrift (1323) behandelte Frage der Trag- bzw. Reichweite des der Obrigkeit schuldigen Gehorsams angesichts des Verbots evangelischer (d. h. reformatorischer) Verkündigung109. In der Schrift Grund und Ursach aller Artikel so durch römische Bulle unrechtlich 104. WA 7,6,25-27. 105. Dessen gegen Luther gerichtetes Buch Des heiligen Concilij zu Costentz ... ist am 3. Oktober 1520 in Leipzig erschienen. Vgl. W 2 XV Sp. 1412. 106. WA 6, 584.18-585,1. 107. Vgl. ebd. 627,10-13. 108. Ebd. Z. 25-28. 109. Die Problematik einer falsch verstandenen Evangeliumspredigt, die sich gegen die Obrigkeit richtet, beschreibt Luther in einem Brief vom 17. Juli 1520 an Spalatin (aufgrund seiner Erfah­ rungen als Prediger) eindringlich. Luther erkennt gerade im Mißverstehen seiner Büßpredigt Gottes Gericht, das in der Sendung einer gewaltigen Plage bestehen werde. Später wird Luther als eine der Plagen Gones die Türkengefahr identifizieren. Die eschatologisch geprägte Erwar­ tung des Gerichts geht der eschatologischen Identifizierung also voraus! Luther schreibt ange­ sichts des durch den Satan verursachten Schadens: »Non ego eum timeo, sed metuo, ne Domi­ num aliqua ingratitudine vel vana gloria offenderimus, qui infensus permittat Satanam sic irrepere in medium filiorum Dei. Nec hoc adeo me movet, quam id quod futurum timeo, nempe ne indurati per Satanam et occupati, simus incorrigibiles, quo compleamus iniquitates nostras, et veniat ira Dei, et percutiat nos aliqua insigni plaga in confusionem nostram, qui verbum Dei nobis oblatum non receperimus, aut non digne satis receperimus.« WA.BR 2, 144,19 - 145,28.

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verdammt sind (1521) erneuert Luther seine theologische Kritik am Papsttum110 und ruft - die Provokation muß Luther bewußt gewesen sein - ausgerechnet die Türken zum Zeugen gegen ein Traditionsprinzip auf, das seine reformatorische Theologie als häretische Neuerung111 abtun wolle. Wie soll man aber anders antworten als mit der Wahrheit der Schrift, »... wenn uns der Turck umb unsers glaubens grund fragette, der nichts darauff gebe, wie viel, wie lange, wie groß leut szo adder sunst gehalten hetten? Wyr musten yhe aller dinge schweygen und yhm die heyligen schrifft ym grund amzeigen.«112 Zugleich rückt der Türke an die Seite des antichristlichen Pap­ stes, der dem Altarsakrament Gewalt antut, indem er den Gebrauch in beiderlei Ge­ stalt verbietet: »Wie musten wir thun, wenn er odder der Turck unsz alle beyd gestalt neme?«113 Ja, die Kritik an der päpstlichen Machtpolitik - die spätere Zwei-ReicheLehre ist präludiert - ist so entfaltet, daß der Papst schlimmer handle als die Türken: Es »... ist ym geistlichen recht szo streng vorpottenn dem geistlichen stand gewere unnd wapen zu tragen, und vorgeusset doch niemandt mehr Christen blut denn der aller heiligist vatter der Bapst. Der weidet nu die schaff Christi mit eyszen, buchszen, feur und ist erger denn der Turck, werret kunig, Fürsten, Land und Stet ineinander, ist dennoch darumb kein ketzer noch Turck noch morder noch Tyran, szondernn Chri­ stus stathalter, und gibt Ablasz, sendet ausz botschaflft und Cardinal umb krieg widder den Turcken.«11415 Ausführlich nimmt Luther dann aber Stellung zur Bannbulle wie auch zur Frage des Türkenkriegs im 34. Artikel seiner Kritik113: Er wiederholt zunächst den durch die Bulle verurteilten Satz, wider den Türken streiten bedeute gegen Gott zu kämpfen, gibt also möglichen Mißverständnissen Raum, um sie anschließend um so wirksamer zu entkräften. Der zur Abwendung der Türkengefahr ausgeschriebene Ablaß sei nicht nur finanzieller Betrug, sondern auch Verführung der Gläubigen. Der Papst habe mit dem Argument der Notwendigkeit der Türkenabwehr die Christen nur um ihr Geld 110. Die politische Kritik an der Inkriminierung der die Türken betreffenden Aussagen Luthers hat Ulrich von Hutten auf der Linie der Adelsschrift Luthers in seiner Kommentierung der Bulle vorgetragen; Abdruck bei W 2 XV, Sp. I438f.: »Die Türkenkriege haben euch Fäbsten unsäg­ lichen Gewinn gebracht, da ihr aus Deutschland so viel Geld gezogen habt, als euch beliebt hat, damit der Heerzug hat können ins Werk gerichtet werden, welchs euch doch niemals ein rechter Ernst gewesen ist. Denn wenn die Türken einmal sollten ganz gedämpft werden, was wolltet ihr künftig für einen Feind zu bekriegen erfinden? Daher solltest du, lieber Leo, billig nicht so gar ungehalten gegen die Deutschen sein, daß sie nun seit zwei Jahren deinen Reizungen gegen die Ungläubigen kein Gehör gegeben haben. Denn es schien einem jeden eine Betrügerei, und Ge­ legenheit. durch diese Erfindung seinen Geiz zu ersättigen.« 111. Dies war der gewichtige und grundsätzliche Vorwurf Cajetans gegen Luther in Augsburg, er vertrete eine »theologia nova et erronea«, WA 2, 7,37 und 15,10 (Acta Augustana). 112. WA 1,315.10-13. 113. Ebd. 397,14 f. 114. Ebd. 441,8-14. 115. Die Ausführungen sind plastischer gegenüber der gleichzeitig entstandenen lateinischen Fassung der Assertio omnium articulorum M. Lutheriper bullam Leonis X.t WA 7,140-151. Dort ( 140,24) werden die Türken klassisch als virga charakterisiert, aber sie sind zugleich virga iniquitatis nostrae. Luther spricht von der Erfahrung doppelten Unglücks, das eine ist die Nichterkenntnis des Handelns Gottes zur Buße, das andere die römische Ablaßpraxis und deren finanzielle Motive. Daraus erwächst die prophetisch vorgetragene Folgerung: »Qui habet aures audiendi, audiat et a Bello Turchico abstineat, donee Papae nomen sub caelo valet. Dixi.« Ebd. 141,24 f.

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betrogen und die Kämpfer gegen die Türken jämmerlich im Stich gelassen. Der Papst erweise sich selbst als Ketzer, wenn er gar zum Eidbruch gegen die Türken116 anstifte, indem er die Heiligkeit des Eides ins eigene machtpolitische Kalkül stelle. Erstmals gibt Luther zeitgeschichdiche Belege fiir seine Kenntnis der Türkenkriege, in die der Papst die Völker stürze. Das Hauptgewicht liegt jedoch auf der bleibend theologi­ schen Kritik, die jetzt kurz und präzise vorgetragen wird: Sein Ziel war nicht (nie!) die Vereitelung der Türkenabwehr. Die Bekämpfung der Türken war jedoch getragen von den theologischen und praktischen Vorgaben wahrer Buße und nicht auf der Basis eines machtpolitisch instrumentalisierten Ablaßwesens. Die Ausrufung des Kreuzzugs und seiner Ablässe, gar die Verheißung des Himmels (Seligkeit) fur die Kämpfer liefe­ re die Christen dem zeidichen und ewigen Tod aus, wie der Ausgang der Kämpfe zeige. Von rhetorischer Brillanz ist die Gegenthese Luthers: Gott will ein gut Leben (der Christen) haben. Wahre Buße dient dem Leben, selbst wenn dieses im legitimen Kampf gegen die Türken aufs Spiel gesetzt werden muss. Die Ablaßpraxis des Papstes aber bedeutet den zweifachen Tod117.

116. Die Frage der Gültigkeit bzw. der Lösung des Eides aus eigennützigen Interessen des Papstes ist angeschnitten auch im 16. Bild (»Krieg und Hoffahrt«) des Passional Christi und Antichristi (1521): Die einschlägigen Quellen kanonischen Rechts zur Lösung von Eidespflicht weisen wie­ derum deutlich auf den Zusammenhang des Türkenkrieges. Vgl. PassionaU WA 9, 708,1-8. 117. WA 7, 443,5-33: »Widder die Turcken streitten ist nit andersz denn widder got streben, der durch den Turcken unszer sund strafft. Ach wie schendlich hat unsz der Bapst mit dem Turcken streit nu lange zeit umbfuret, umbs gelt bracht und szo viel Christen vortilget und ungluck angericht: wenn wollen wir doch ein mal des Teuffels aller emsthafftigs affenspiel ym Bapst erkennen? wie ist der feyne kunig Ladislaus zu Hungernn unnd Polen mit szo viel tausent Christen vom Bapst an den Turcken gehetzt und szo iemerlich erschlagen zu Varna, das er dem Bapst folget unnd brach den eyd mit dem Turcken zuvor gemacht, ausz seynem [des Papstes] geheisz. Denn von eyd brechen leren, das der Bapst hab macht eyd zu prechen, ist kein ketzerey? Wie soit der ketzer mugen werden, der aller ding mag thun was er nur wil? Jtem, was ist am letzsten ynn Hungern für ein iamer angericht durch den selben Turcken krieg mit Römischen Ablasz ange­ fangen n? noch müssen wyr dem Bapst blynd bleybenn. Nu hab ich dyssen Artickel nitt alszo gesetzt, das wydder den Turcken nit zu streitten sey, wie der heylyge ketzermecher der Bapst myr alhie au fliegt, szondernn wyr solten zuvor unsz bessernn unnd eynen gnedygen got machen, nit einhyn plumppen, auffs Bapsts Ablasz vorlassen, wye er byszher die Christenn vorfuret unnd noch ymmer vorfuret: denn was vnter eynem ungnedygen got streytten sey auch wydder die vordienten feyndt, weyssen unsz wol die historien des alten Testaments, szonderlich Josue .vij. unnd Judic. xviij. unnd viel mehr. Der Bapst thut nit mehr mit seinem creutz Ablasz auszgeben und himel Zusagen, denn das er der Christen leben ynn tod, yhr Seelen ynn die helle fliret mit grossen hauffen, wie denn dem rechten Endchrist gepurt. Got fragt nit nach kreutzen, Ablasz, streitten. Er wil ein gut leben haben. Da fleugt der Bapst fur mit den seinen mehr denn sonst nieman und wil dennoch den Turcken fressen: darumb geht es unsz auch szo glücklich wydder den Turcken streytten, das wo er vorhynn eyne meyl gehabt, hat er nu hundert meyl landt, noch sehen wyr nit, szo gar hat unsz der Römisch blinden furer gefangenn.«

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Luthers Stellung zum Islam in ihrer historischen und theologischen Entwicklung

b) Die Hauptschrifien des Jahres 1520 und weitere Schriften bis 1521 An den christlichen Adel (1520) In Luthers Schrift An den christlichen Adel wird mehrfach die Türkenfrage aufgegrif­ fen. Luthers Hauptkritik gilt dem ausgeuferten Pfründenwesen; die Kritik wird ver­ schärft vorgetragen gegenüber den Kardinalen, deren Dotationen Gottesdienst und Predigt verhindern, statt zu gewährleisten, wie in Italien bereits zu beobachten und nun fur Deutschland zu befurchten ist: »warumb? die Cardinal mußen die gutter ha­ ben. Kein Turck het Welschlandt szo mugen vorterben und gottis dienst nyderlegenn.«118 Aufgabe des Papstes sei es, auf Fragen des Glaubens Antwort zu geben, nicht, die Finanzkraft der Kurie zu stärken. Der Zufluß deutscher Gelder ist dem Papst je­ doch zweckgebunden zugesagt worden: »die vorwilligung aber ist alszo geschehen, das der bapst durch solch grosz gelt soit samlen einen schätz, zustreytten widder die Turcken und ungleubigen, die Christenheit zuschutzen, auflf das dem adel nit zu­ schwer wurd allein zustreittenn, sondern die priesterschafft auch etwas dartzu thet. ... Wen man nw widder die Turcken streyttenn vorgibt, szo senden sie erausz botschaflft, gelt zusamlen / viel mal auch ablas herausz geschickt, eben mit der selben färb, widder den Turcken zustreytten, meynend, die tollen Deutschen sollen unendlich todstocknarn bleyben, nur ymer gelt geben, yrem unaussprechlichem geytz gnug thun, ob wir gleich öffentlich sehen, das widder Annaten, noch ablas gelt, noch allis ander einn heller widder den Turcken, sondern altzumal in den sack, dem der poden ausz ist, kumpt ...« 119. Bischöfe und Fürsten sollen das Ihre tun, um solchen Betrug und Dieb­ stahl abzustellen. Grundsätzlich ist aber ein Türkenkrieg gar nicht Angelegenheit des Papstes. »Auch szo man yhe widder die Turcken wolt ein solchenn schätz samlen, solten wir billich der mal eynsz witzig werden, und mercken, das deutsche Nation den selben basz bewaren künde den der Bapst, seyntemal deutsche Nation selb volck gnug hat zum streyt, szo gelt furhanden ist.«120 Daß deutsches Ablaßgeld in die päpstlichen Prachtbauten geflossen ist, steht fiir Luther außer Zweifel. Solcher Betrug an den Deutschen schadet zugleich der ganzen Christenheit an Leib und Seele. In der Feststellung dieses offensichtlichen Schadens an der Christenheit liegt der logische Anknüpfungspunkt zur Erörterung der Schadensbegrenzung. Diese gilt aber nicht primär den Türken und dem Interesse ihrer Abwehr, sondern der Abwendung des Grundübels im Streiten gegen die Tyrannei des römi­ schen Regiments als ärgstem Dieb und Räuber121. Daß bleibend theologische Ablaßkritik und Türkenfrage, Ausbeutung und Instru-

118. 119. 120. 121.

WA 6.416,24-26. Ebd. 418,16-20; 4 1 8 ,2$-419,6. WA 6. 419,23-26. Ebd. 427,13-21: »Die weil den solchs teutfelisch regiment nit allein ein öffentlich rauberey, triegerey und tyranney der helli&chen pfortten ist, szondem auch die Christenheit on leyp und sec) vorterbet, sein wir hie schuldig allen vleisz furtzuwenden, solch jamer und zurstorung der Christenheit zuweren. Wollen wir widder die Turcken streytten, szo lasset vns hie anheben, da sie am allerergistenn sein: hencken wir mit rechte die diebe unnd kopffen die reuber, warumb solten wir frey lassen den Römischen geytz, der der grossist dicb vnd reuber ist, der auff erden kummen ist odder kummen mag, und das allis in Christus und sanct Peters heyligem namen?«

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mentalisierung der Türkenabwehr zu finanziellen Zwecken im Zusammenhang ste­ hen, zeigt Luthers Kritik an den casus reservati als den Fällen, deren Lösung dem Papst Vorbehalten ist, zu denen neben gewaltsamer Verhinderung des Pilgerzugs und Fäl­ schung päpsdicher Briefe auch die WafFenhilfe an die Türken zählte122. Diese casus seien Willkür. Die eigentlichen Übel würden erlassen, Hauptsache sei, »das man niemandt hyndere gelt gen Rom zubringen, das sie für dem Turcken sicher in wollust leben, und mit yhren loszen, unnutzen bullen und brieflfe die weit in yhrer thyranney behalten.«123 Sündhaft sei auch die päpstliche Entbindung von der Eidespflicht, die Luther er­ neut an den Erfahrungen mit den Türken veranschaulicht. Luther belegt mit Erzäh­ lungen aus dem Alten Testament und der Geschichte die schlimmen Folgen des Eid­ bruchs. »Unnd bey uns vor hundert Jaren der feyne kunig zu Polen und Ungern Vladislaus leyder mit szo viel feynis volcks erschlagen wart vom Turcken, darumb das durch Bepstliche botschaflft und Cardinal er sich liesz vorfuren, und den seligen, nütz­ lichen vonrag unnd eyd, mit dem Turcken gemacht, zureysz.«124 Und ist nicht »jamer zwischen Behmen unnd uns«125 auf den Eidbruch freien Geleits durch Kaiser Sigis­ mund gegenüber Hus und Hieronymus von Prag auf dem Konstanzer Konzil zurückzufuhren?! »Ich hoff, der jungst tag sey fur der thur, es kann unnd mag yhe nit erger werdennn, den es der Römische stuel treybt.... ist das nit der Endchrist, szo sag einn ander wer er sein muge.«126 Die ganze Heuchelei schreit nach einer neuen christlichen Begründung geistlichen wie weltlichen Rechts und Regiments - gerade angesichts der Türcken: »Man sagt, das kein feyner weltlich regiment yrgend sey, dan bey dem Turcken, der doch wider [we­ der] geystlich noch weltlich recht hat, szondern allein seinen Alkoran, szo müssen wir bekennen, das nit schendlicher regiment ist, dann bey unns durch geystlich und welt­ lich recht, das kein stand mehr gaht natürlicher vornunflft, schweyg der heyligen schrifft gemesz«127. Zweifellos sind diese Äußerungen Luthers zunächst durch anti­ römische Kritik veranlaßt. Zugleich rücken die Überlegungen des Reformators wieder in die Nähe der Unterscheidung der beiden Regimente, wie sie 1523 in der Obrig­ 122. Wieder aufgenommen in der Bulle vom Abendfressen, (1521/22), WA 8,691*720. Dort, 708,27 - 709,8, heißt es: »Er [Papst] vormaledeyet die den Turcken unnd Saracener eyszen und holtz tzufuren, das man achten solle, es sey seynn ernst, der Christenheit guts tzuthun. Wen ehr aber Christus stadthalter were, so wurde er auff seyne fusse treuen, hyngehen und den Turcken das Euangeli predigen, daran setzen leyb und leben: das were eyn Christlich weysze, die Turcken zubestreytten und die Christenheyt mehren und schützen. Denn wo tzu dienet es, daß man dem Turcken leyplich werct? Was thut der Turck boszes? Er nympt Land eyn und regirt tzeytlich. Müssen wir doch dasselb auch vom Bapst selbs leyden, der unsz doch leyb und leben schindet, wilchs der Turck nicht thut!. Datzu lest der Turck eynen yglichen in seynem glawben bleyben: das thut der Bapst auch nicht, szondern tzwingt alle weit vom Christen glauben auff seyn teuffelische lugen, das freylich an leyb, gut und seel des Bapsts regiment tzehen mal erger ist denn des Turcken. Und wen nicht Christus selbs den Endchrist sturtzen soit nach der schrift und man yhe den Turcken vortilgen wolt, must man an dem Bapst anfahen.« 123. WA 6.432,11-13. 124. Ebd. 453,31-454,3. 125. Ebd. 454.6. 126. Ebd. Z. 12-16. 127. Ebd. 459,24-29.

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Luthers Stellung zum Islam in ihrer historischen und theologischen Entwicklung

keitsschrift entfaltet werden. Darüber hinaus ist der Abschnitt aber auch von Belang fair die Systematik, die Luther im Verhältnis zum Islam entwirft: Erstmals lässt er erkennen und trägt diese Erkenntnis polemisch - als Mangel geistlichen und welt­ lichen Rechts aufgrund der dort koranischen128, d. h. islamischen Begründung! - vor, daß das Gesellschafts- bzw. Herrschaftssystem der Türken besondere Hochschät­ zung129 verdiene, auch wenn sein Wissen auf Gerüchten (»Man sagt«) beruht. Diese Gerüchte stehen aber zumindest in Spannung zum bisherigen alleinigen Bild der Tür­ ken als militärische Gegner und Reichsfeinde. Angesprochen sind nicht nur die beiden jeweils Regimente begründenden Rechte, sondern auch die Ständelehre, ohne daß diese bereits entfaltet würde. Den Regimenten - ebenfalls noch ohne Entfaltung sind dabei Vernunft (Welt) und (Schrift-)Offenbarung (Gott - Kirche) zugeordnet. Implizit läßt der Reformator damit durchblicken, daß er keine Vorstellung vom Koran selbst besitzt, der nicht nur beansprucht, Schriftoffenbarung zu sein, sondern als sol­ che Recht und »Regiment« gerade begründet und dabei allerdings keine Unterschei­ dung von zwei Regierungsweisen Gottes kennt. Luthers Ausführungen werfen ent­ sprechend zwei Fragen auf: die der Begründung christlichen guten Regiments wie die Erklärung bzw. Beurteilung offenbar guten Regiments bei Ungläubigen. Beiden Fra­ gen wird sich Luther in der Folgezeit widmen. Aber auch im geschichtstheologischen Zusammenhang kommt Luther auf die Tür­ ken zu sprechen. Ausgangspunkt ist wieder antirömische Kritik, die Kritik an der Theorie der translatio imperii. Vom griechischen Kaisertum habe der Papst das Reich empfangen und den Deutschen überlassen, wofür er Anspruch auf den Dank der Deutschen zu haben vorgebe. Aber dieses Römische Reich sei, vor allem durch Ver­ schulden der Päpste, längst am Ende: »Es ist on zweyffel, das das recht Römisch reych, davon die schlifft der propheten Numeri .xxiiij. und Daniel [2, 44] vorkundet haben, lengist vorstoret und ein end hat, wie Balaam Numeri xxiiij. klar vorkundigt hat, da er sprach >Es werden die Römer kummen und die Juden vorstoren, und darnach weiden sie auch unter gehens und das ist geschehen durch die Gettas [Goten], Sonderlich aber, das des Turcken reich ist angegangen bey tausent jaren, und ist also mit der zeit abegefallen Asia und Affrica, darnach Francia, Hispania, zuletzt Venedig auff kum­ men, und nichts mehr zu Rom blieben von der vorigen gewalt.«130 Nicht nur rückt die eschatologische Geschichtsbetrachtung in die Bewertung der Türken als histori­ sches Phänomen ein, sondern es ist auch zum Ausdruck gebracht, daß der »Abfall« (Klein-)Asiens und Afrikas »bey tausent iaren«131 durch den Aufstieg der Ommayaden in Syrien und Nordafrika seit dem 7. Jahrhundert Luther in Umrissen bekannt ist. 128. Das Won »Alcoran« findet sich zuvor bereits in Luthers Responsio vom 26. März 1520 (s. u.). 129. Hans Sturmberger, Das Problem der Vorbildhaftigkeit des türkischen Staatswesens im 16. und 17. Jahrhundens und sein Einfluß auf den europäischen Absolutismus, Xlle Congrès Internatio­ nal des Sciences Historiques, Vienne, 201-209. Der Aufsatz überzeugt hinsichtlich der Ausfüh­ rungen zu Luther nicht; auch scheint Sturmberger allein von Pfeffermanns Untersuchung zur Zusammenarbeit der Renaissancepäpste abhängig zu sein (Zitate!). 130. WA 6, 462,23-30. Zu »Gettas« vgl. Luther, Studienausgabe 2, 159, Anm. 513. 131. Luther spricht in seiner Schrift Von dem Papsttum zu Rom gegen Alfeld vom Juni 1520 (WA 6, 314,33) von der Obrigkeit der Türken, die anhalte »nu schier tausent jar«, womit nur das Auf­ kommen Mohammeds, also des Islam, gemeint sein kann und nicht der Türken als ethnische Gruppe. Luther kennt und bemüht also Traditionen (vgl. auch WA.TR 1, 453,24-26), die ihr

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Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche Luthers zweite Hauptschrift des Jahres 1520 dient der sakramentstheologischen Aus­ einandersetzung mit der römischen Kirche. Der Reformator entwickelt seine Kritik an der römischen Lehre in der Darstellung dreier »Gefängnisse«, deren erstes im Entzug des Laienkelchs besteht. Auf einem Konzil solle der rechte Gebrauch beider Elemente beschlossen werden. Die Abendmahlspraxis sub una ist jedoch - Luther spielt mit dem Begriff »Gefangenschaft« - nicht anders zu bewerten als christliche Gefangenschaft unter türkischer Tyrannei, der die jetzige kirchliche Gefangenschaft unter der römi­ schen Tyrannei entspreche132. Ja, die römische ist schlimmer als die türkische133. An dieser Stelle, noch ohne Beziehung auf die Türken, jedoch auf die Heiden und in Bestreitung der Sakramentalität kommt Luther auf die Ehe zu sprechen: Die Ehe ist älter als die Kirche - »fuerit ab initio mundi«134 - und kann schon von daher kein Sakrament sein. »Non minus enim erant Matrimonia patrum [des Alten Bundes] sancta quam nostra, nec minus vera infidelium quam fidelium, nec tarnen in eis ponunt sacramentum«135. Die Frage der Ehe ist damit fur Gläubige wie Ungläubige nicht außerhalb des Willens Gottes gestellt, sondern kann gerade, weil sie ab initio mundi, d. h. im Schöpferwillen Gottes ihre Begründung erfährt, später auch in Lu-

132.

133. 134.

135.

Skopus im zeitgleichen Beginn der Herrschaft von Papst und Türke/Islam gewinnen, d. h. dem Papsttum Gregors, Sabinius und Bonifaz’ III. Möglicherweise steht die erste Tradition in Span­ nung zur zeitgleichen in De captivitate. Denn sollte hier um das Jahr 1000 gemeint sein, so wäre damit der Beginn des 11. Jahrhunderts markiert, d.h. das Aufkommen türkischer Nomaden­ stämme unter Togril Beg Mohammed (gest. 1063), also nicht des Islam, sondern türkischer Ethnien (Turkvölker), deren zunehmender Einfluß im 13. Jahrhundert in die Entwicklung des späteren Osmanischen Reichs einmündet. Vgl. Endreß, Islam, 148 f.; Matuz, Osmanisches Reich, 14-16; Jorga, Osmanisches Reich 1 ,1-145. Im Horizont der geschichtstheologischen Ten­ denz des Abschnitts ist die zweite Tradition belegt durch die in den vierziger Jahren entstandene Supputatio annorum Luthers. Dort ist mit dem Jahr 1000 das Aufkommen des Antichrist (Papst) markiert: »solvitur nunc Satan, Et fit Episcopus Romanus Antichristus, etiam vi gladij.« WA 53, 152. Auf dieser Linie liegen auch die Randglossen zur Johannesapokalypse (Kap. 20, 3) von 1546: »Die tausent jar müssen anfahen, da dis Buch ist gemacht, denn der T&rck ist aller erst nach tausent jaren körnen, In des sind die Christen blieben, vnd haben regiert, on des Teuffels danck. Aber nu wil der T&rck dem Bapst zu hälffe körnen, vnd die Christen ausrotten, weil nichts helffen wil.« WA.DB 7, 469. Womöglich rechnet Luther mit zwei sich ergänzenden bzw. stei­ gernden endzeitlichen Schüben. WA 6, 507,21-29: »Itaque non hoc ago, ut vi rapiatur utraque species, quasi necessitate praecepti ad eam cogamur, Sed conscientiam instruo, ut patiatur quisque tyrannidem Romanam, sciens sibi raptum per uim ius suum in Sacramento propter peccatum suum. tantum hoc volo, ne quis Romanam tyrannidem iustificet, quasi recte fecerit, unam speciem laicis prohibens, sed detestemur eam nec consentiamus ei, tarnen feramus eam non aliter, ac si apud Tu ream essemus captivi, ubi neutra specie liceret uti. Hoc est, quod dixi, mihi pulchrum videri, si generalis Concilii statuto ista captivitas solveretur et nobis Christiana ilia libertas e manibus Romani tyranni restitueretur...« »... veram Ecclesiae libertatem non modo captivent sed pessundent penitus, etiam plus quam T urca...«; ebd. 536,15-17. Ebd. 550,33. Luther wird an dieser Begründung der Ehe (supralapsarisch) festhalten. Vgl. dazu die einschlägigen Schriften Oswald Bayers, insb.: Natur und Institution, in: ders., Freiheit, 116146; ders., Luthers Verständnis der Ehe, ebd. 211-223. Ebd. Z. 35-37.

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thers Islamkritik gegen die Türken als nicht an Christus Glaubende aufgegriffen wer­ den. Von den guten Werken (1520) Luthers Schrift Von den guten Werken - in der Freiheitsschrift berührt Luther die Tür­ ken nicht - bietet die Begründung einer reformatorischen Ethik, die in Auslegung des Dekalogs das Verhältnis von Glaube und Werke entfaltet. Der Glaube ist das einzige »Werk«, das recht verstanden diesen Namen verdient; in Anlehnung an Röm 14, 23 kann es deshalb bei den Heiden, Juden oder Türken letztlich nur Sünde geben136137. Glaube ist kein Werk im Sinne sittlichen Handelns, sondern Voraussetzung allen rech­ ten Tuns. So heißt Glauben nichts anders als existentieller Vertrauensvollzug im Ge­ horsam gegen das erste Gebot. Denn es gilt, »das alle die, szo yn got nit vortrawenn altzeit, unnd nit sich seiner gunst, huld und wolgefallens vorsehen in allen yhren wercken odder leyden, leben odder sterben, szondern bey andern dingen odder bey yhn selbst solchs suchen, disz [1.] gebot nit halten und warhaflftig abgotterey treiben, ob sie gleich auch aller anderer gebot werck theten, dartzu aller heiligen gebet, fasten, gehorsam, gedult, keuscheit, unschult auff einem hauffen hettenn. Dann das heubtwerck ist nit da, on wilchs die andern alle nichts sein, dan ein lauter gleissen, scheinen, ferben und nichts dahinden, vor wilchem uns Christus warnet ...« 13?. Dabei zeigt sich, daß Luthers reformatorische Entdeckung auch in der Türkenfrage zu begriff­ lichen Verschiebungen und Präzisierungen fuhrt. Terminologisch steht nicht mehr die Buß- und Ablaßfrage im Vordergrund, die Frage der Buße ist in den Glaubens­ begriff, die Frage rechter Abwehr der Türken in das Problem rechten Handelns vor Gott aufgenommen. Im veränderten System kann Luthers bleibendes Anliegen neu und anders formuliert werden: Der wahre Schaden der Christenheit ist nicht der, den der Türke anrichtet, sondern die mangelnde Geltung von Gottes Wort und das Überhandnehmen der Sünde. Dagegen streitet aber niemand! Die Geistlichen sind die wahren »Türken«, die der Christenheit Schaden zufiigen, weil sie ihr Hirtenamt ver­ nachlässigen und zugleich den Türken »fressen« wollen. Der Schaden, den die Türken anrichten, ist nur der Lohn Gottes für die Verachtung des Leidens und Sterbens Jesu Christi138. Was kann gegen die Türken helfen? Allein Gottes Gebot der Fürbitte, ins­ 136. WA 6, 206.14-18: »Das leret sanct Paul Ro. xiiij. [V. 23] alles was nit ausz odder im glauben geschieht, das ist sunde. Von dem glauben und keinem andern werck haben wir den namen, das wir Christgleubigen heissen, als von dem heubtwergk, dan alle andere werck mag ein heyd, Jude, Turck, szunder auch thunn, aber trawenn festiglich, das ehr got wolgefalle, ist nit muglich dann eynem Christen mit gnadenn erleucht unnd befestiget.« 137. Ebd. 210, 10-18. 138. In der Auslegung zum dritten Gebot heißt es: »O got, wie blind, Ja unsinnig sein wir Christen worden! wen wil des tzoms ein end sein hymlischer vater?... Wen der Turck stedt, landt und leut vorterbet, kirchen vorwustet, so achten wir der Christenheit grosen schaden geschehen. Da kla­ gen wir, bewegen kunig und fürsten zum streit. Aber das der glaub untergeht, die lieb erkaltet, gottis wort nachbleibt, allerley sund überhand nimpt, da gedenckt niemandt Streitens, Ja Bepst, Bischoff, priester, geistlichen, die dyses geystlichen streytis wider dise geistliche viel mal erger Turcken sol ten Hertzogen, heubtleut und fenrichen sein, die sein eben selbst solcher Turcken und teuffelisches heres fürsten und furgenger, wie Judas der Juden, da sie Christum fiengen. Es must ein Apostel, ein Bischoff, ein priester, der besten einer sein, der Christum anhub umbt-

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besondere für die Obrigkeit, sowie die Verheißung der Erhörung, nicht aber eigen­ mächtiges Handeln, sei es im Türkenkrieg oder sonst: »Thustu das [Beten] mit fleysz, szo bisz gewisz, du bist der besten streyter und hertzog eyner, nit allein widder die turcken, sondern auch widder die teuffei und hellischen gwalt. Thustu es aber nit, was hulfF dichs, das du alle wunder tzeichen aller heiligen thetist, und alle Turcken erwurgkist, unnd doch schuldig erfunden wurdist, als der seines nehstenn nodturflft nit geacht hette unnd dadurch widder die liebe gesundiget. Dan Christus wirt am jüngsten tag nit fragen, wievil du fur dich gebeten, gefastet, gewallet, disz odder das than hast, sondern, wievil du den andern, den allergeringstem!, wol than hast.«139 Deutlich stehen also die Türken als äußere Bedrohung vor Augen, zugleich sind sie Manifestationen höllischer Gewalt; die Betonung scheint geradezu auf der Identifizie­ rung der Widersacher Luthers als »Türken« zu liegen, wenn reformatorische Kritik an der finanziellen Bedrückung der Gesellschaft durch Rom und an der sittlichen Ver­ wahrlosung der Kleriker in die Worte gefaßt wird: »Sihe, das [die Bischöfe und Präla­ ten] weren die rechten Turcken, die die kunig, fürsten unnd der adel soit am ersten angreiffen, nit darinnen gesucht eygen nutz, sondern alleinn besserung der Christen­ heit und hynderung der lesterung unnd Schmach gotlichs namens ...« l4° Die wahre Gefahr fur die Kirche geht also vom römischen Klerus aus, Abhilfe kann nur die Ob­ rigkeit schaffen, der ein Christ in der Fürbitte dient, ln der Perspektive der Adels­ schrift wird die Obrigkeit zum Handeln, zur Verhinderung von Gotteslästerung auf­ gefordert, nicht gegen die Türken als Ungläubige, wie man annehmen sollte, sondern gegen den römischen Klerus. Zugleich leitet die Auslegung zum vierten Gebot über zur Perspektive des Gehorsams in der Obrigkeitsfrage. Wieder sind die Türken zur Illustration herangezogen. Luther insistiert auf dem Gehorsam der Untertanen gegen­ über der weltlichen Obrigkeit, »es were dan das sie öffentlich dringen wolt widder got odder menschen unrecht zuthun, wie vor Zeiten, da sie nach nit Christen ware, unnd der Turck noch thut, als man sagt. Dan unrecht leydenn vorterbt niemand an der seien, ja es bessert die seien, ob es wol abnimpt dem leyb und gut. Aber unrecht thun das vorterbet die sele, ob es gleich aller weit gut zutrug«141. Luther unterscheidet also nicht nur eine Gehorsamspflicht gegenüber einer potestas christiana von vor- d.h. nichtchristlicher potestas, sondern qualifiziert solche potestas als widergöttlich und un­ recht, wieder ganz im Sinne von Röm 14, 23 (s.o.). Demzufolge hätte die türkische Obrigkeit keinen Anspruch auf christlichen Gehorsam, christliche Untertanenschaft wäre zum Widerstand verpflichtet142. Luther entfaltet diesen Gedanken jedoch nicht;

139. 140. 141. 142.

zubringen. Also musz die Christenheit auch nit den von denen, die sie beschirmen solten, vorstöret werden, unnd sie doch szo wahnwitzig bleiben, das sie dennoch den Turcken fressen wol­ len, und also das hausz und schaff stal da heymen selbs antzunden und brennen lassen mit schaf­ fen und alles was drynnen ist, und nichts deste weniger dem wolff in den puschen nachgedencken. Das ist die zeit, das ist der Ion, den wir vordient haben durch undanckbarkeit der unendlichen gnaden, die uns Christus umbsonst erworben hat mit seinem theuren blut, schwerer crbeit und bittern todt.« Ebd. WA 6, 241,27 - 242,10. Ebd. 242,17-25. Ebd. 258.5-8. WA 6. 259,13-18. Vielleicht ist dies aber auch nur ein Gedankenspiel oder ein nicht ausgeführter Gedankengang. Zum Widerstandsrecht gegenüber weltlicher Obrigkeit hat Luther sich damals noch nicht geäu-

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der Zusammenhang dient der Unterscheidung des Schadens an Leib oder Seele. Den­ noch ist die differenzierte Sicht der potestates festzuhalten, weil Luther in dieser Frage wie noch zu zeigen ist143 - Korrekturen bzw. Präzisierungen vornimmt. Luthers Entfaltung der Ethik als Begründung rechten christlichen Handelns, die er wie geschildert als Erklärung des Dekalogs vorträgt, erkennt den ersten vier Geboten zu, sie hätten »yhr werck in der vornunflft«144. Mit diesem Vernunftverständnis143 er­ folgt ein Rückgriff auf die frühe Demutstheologie: »... das ist, das sie [die Gebote] den menschen gefangen nehmen, regieren und unterthan machen, auff das er sich selb nit regiere, nit sich gut dunck, nit etwas vonn yhm selb halt, sondern sich demütig erkenne vnd furen lasse, damit die hoffart erweret wirt«146. Die Vernunft wirkt über­ fuhrend und den menschlichen Hochmut begrenzend (negative)'*7. Die folgenden Gebote (5-10) dienen der Abtötung der Konkupiszenz im Wirken der Glaubens­ gerechtigkeit. Luther entfaltet hierzu das alttestamentliche Tötungsverbot (positive) als neutestamentliches Gebot der Sanftmut, d. h. unter Rückgriff auf die Bergpredigt und deren Seligpreisung der Sanftmütigen (Mt 5» 5) und das Gebot der Feindesliebe (Mt 5,44). Erneut steht Mt 5» 47 im Hintergrund, wenn scheinbare (»gleißende« vgl. wieder Röm 14, 23) und wahre Sanftmut aus Glauben einander gegenübertreten: Ist letztere die, von der Jesus in der Bergpredigt spricht, so gilt von der ersten: »Solche sanflftmutickeit haben auch unvornunfftige thiere, lewen unnd schlangen, heydenn, Judenn,

143. 144. 145. 146.

147.

ßert. Hier bestimmend ist allein das Problem der jeweiligen und somit auch gemeinsamen Ty­ rannis von Kurie und Türke. Wie fromme Christen unter solcher Herrschaft leben können, interessiert Luther noch nicht; daß unter beider Tyrannis Christen zu finden sind, steht für Lu­ ther dagegen außer Frage; vgl. Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten ( 1520), WA 6, 316,12 f.: »Sag ich, das auch unter dem Turcken Christen bleybenn, datzu in aller weit, wie vortzeyten unter Nerone und anderen tyrannen.« Nur wenig später - in derselben Schrift - scheint Luther von der parallel zu setzenden Legitimität päpstlicher und türkischer Obrigkeit trotz olTenkundigen Unrechts auszugehen, der gegenüber die Gehorsamspflicht gilt, die Luther im Falle des Papsttums an zwei Bedingungen (keine Verketzerungen, Schrift als Kri­ terium) knüpft: »Szo ist mein meynung von dem Bapstum also gethan: Die weyl wir sehen, das der Bapst ist ubir alle unsere Bischoff in voller gewalt, da hyn ehr on gotlichcn rad nit ist kummenn, wie wol ichs nit acht, das ausz gnedigem, sondern mehr ausz zornigem rad gotis datzu kummenn sey, der zur plag der weit zulessit. das sich menschen selbs erheben und andere untertrucken, szo wil ich nit, das yemant dem Bapst widderstreb, sondern gotlichen rad furchte, die selb gewalt in ehren habe unnd trage mit aller gedult. gleich als wenn der Turck über uns were, szo kan sie [Gewalt] an schaden [für die Seele] sein.« bbd. 321,31 - 322,1. S.u. 393-399. WA 6. 265,28. Auf den hier wirksamen Vemunftbegrifl'wird später an anderer Stelle noch Bezug genommen, s.u. 367-370 und 459 f. WA 6. 265,28-32. Stärksten Ausdruck fand dies Anliegen in der Römerbriefaaslegung (Glosse zu Röm 1,1), WA 56, 3,6-11: »Summa et intentio Apostoli in ista Epistola est omnem lustitiam et sapientiam propriam destmere et pcccata atque insipientiam, que non erant (i.e. propter talem lustitiam non esse putabantur a nobis), rursum statue re, augere et magnificare (i.e. facere, vt agnoscantur adhuc stare et multa et magna esse) ac sic demum pro illis vere destruendis Chri­ stum et lustitiam eius nobis neccessarios esse.« D. h. der Vemunftbegrifl rückt nahe an den Begriff des Gesetzes bzw. dessen überführenden Cjebrauch (usus elenchticus).

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Turckenn, buffen [Buben], morder, bosze weyber. Disze allesampt sein tzu frieden und senflft, wo man thuc was sie wollen odder sie mit friden lesset... also were der bosze geyst auch senfftmutig, wo es yhm noch seinem willen gienge«14814950. Ziel christlicher Ethik ist dienende Nächstenliebe als Inbegriff der Uneigennützigkeit, welche den Tür­ ken neben Heiden und Juden samt allen nicht sittlich Handelnden als wesensfremd erscheinen muß. Luthers Auseinandersetzung m it den Universitäten Löwen* Köln und Paris Am 19. März 1320 sendet Luther die publizierten Verurteilungen seiner Lehre durch die Universitäten Löwen und Köln an Spalatin mit der Ankündigung der responsio ad condemnationem doctrinalem'4**, die am 26. März 1320 erscheint. Die Schrift eröffnet - nach und neben dem Streit mit Tetzel und Eck - auch in der Türkenfrage einen neuen Kriegsschauplatz, den Luther mit Ironie und Schärfe in der Diktion betritt. Wieder dienen die Türken zur Illustration in der Polemik des Reformators, hier gegen die Unterdrückung des Evangeliums, nicht also gegen militärische Gewalt. Erstmals nennt dabei Luther in diesem Zusammenhang den Koran als »Schrift« der Türken, der die Predigt des Evangeliums verbiete. Vorausgesetzt ist also ein Zusammenhang von Koran und Verbot des Evangeliums bei den Türken. Aber deren Tyrannei reiche eben nicht heran an die Frechheit und Anmaßung der christlichen »schulmäßigen Verdammer«130, die ihre Autorität über die der Schrift setzten. Zu beachten ist auch hier wieder der nähere Zusammenhang, wenn Luther die anhebende oder bereits an­ gebrochene Herrschaft des Antichrist in der Überhebung über das Wort Gottes selbst gegeben sieht131. Die Heranziehung der Türken gewinnt also ihre Stringenz in der 148. WA 6. 266.4-11. 149. Ebd. 170-19$. 150. WA 6, 181,24-34: »Dicitur Euangelium Christi apud Turcas non liccre praedicari. At si istis doctrinalibus damnatoribus sua fiducia et tantae arrogantiae bulla constiterit, quae tyrannis Turcarum poterit ei conferri? Nam quid causae, quaeso, afferunt in hac condemnatione met, qui tarn densis scripturis mca munivi? Aut quid spirat haec damnatio nisi bullam fiduciae superbissimae, istam >Nos sumus Magistri nostri eximii et almae universitatis Theologi: quicquid dixerimus, Euangelium est, quicquid damnaverimus, haeresis est