Der Grund des guten Lebens: Eine Untersuchung der paradigmatischen Konzepte von Sokrates, Aristoteles und Kant 9783787324903, 9783787324897

Je mehr Möglichkeiten der Lebensführung wir erkennen, desto dringlicher wird die Frage: Wie lebe ich gut? Wer allerdings

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Der Grund des guten Lebens: Eine Untersuchung der paradigmatischen Konzepte von Sokrates, Aristoteles und Kant
 9783787324903, 9783787324897

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PARADEIGMATA 32

PARADEIGMATA Die Reihe Paradeigmata präsentiert historisch-systematisch fundierte Abhandlungen, Studien und Werke, die belegen, daß sich aus der strengen, geschichtsbewußten Anknüpfung an die philosophische Tradition innovative Modelle philosophischer Erkenntnis gewinnen lassen. Jede der in dieser Reihe veröffentlichten Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, in inhaltlicher oder methodischer Hinsicht Modi philosophischen Denkens neu zu fassen, an neuen Thematiken zu erproben oder neu zu begründen.

VIKTORIA BACHMANN

Der Grund des guten Lebens Eine Untersuchung der paradigmatischen Konzepte von Sokrates, Aristoteles und Kant

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-2489-7 ISBN eBook: 978-3-7873-2490-3

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag Hamburg 2013. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: bookfactory, Bad Münder. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Die Begründung des guten Lebens in der gegenwärtigen Philosophie A. Der reflektierte Subjektivismus – Glück durch Selbstaufklärung . . . . . . . . . . 1. 2. 3. 4.

16

Informiertheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weltoffene Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Widerspruchsfreiheit der Zwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 17 19 21

B. Der Objektivismus – Glück durch Verwirklichung eines Maßstabs . . . . . . . .

22

1. 2. 3. 4.

Verwirklichung der menschlichen Grundfähigkeiten . . . . . . . . . . . . . . Verwirklichung eines Hyperguts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwirklichung des unbedingten Ziels und des unbedingten Grundes Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22 24 25 26

C. Die skeptische Reaktion – die Unmöglichkeit einer Glücksbestimmung . . . . . .

27

D. Schlussfolgerungen für die vorliegende Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

1. Die zugrunde gelegte Struktur eines guten Lebens . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rückgang zu den ideengeschichtlichen Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Strukturierter Nachvollzug und Systemvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . .

29 31 32

II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

1. Sokrates’ Glücksverständnis aus der Sicht aktueller Forschung . . . . . 2. Sokrates’ Glücksverständnis in der »Apologie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35 40 42

6

Inhalt

B. Forschungsstand zur sokratischen Prüfungstätigkeit im »Charmides« . . . . . . . 1. 2. 3. 4. 5.

Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Tugenddialog als Begriffskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Tugenddialog als Kritik des Erkenntnisvermögens . . . . . . . . . . . . Der Tugenddialog als Verwirklichung des Gesuchten . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am Tugenddialog »Charmides« 1. Vorgespräch: die Umkehr der Denkrichtung (153a–158e) . . . . . . . . . . a. Sokrates’ Frage nach Weisheit und Schönheit (153a–d) . . . . . . . . . b. Die Schönheit von Charmides’ Körper und Seele (154a–155b). . . c. Besonnenheit als Grund des Gutseins (155b–158e) . . . . . . . . . . . d. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i. Der Gegenstand der Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii. Das Verhältnis von Gegenstand und Befragtem . . . . . . . . . . . . . . . . iii. Das Verhältnis von Gegenstand und Fragendem . . . . . . . . . . . . . . .

43 43 45 49 54 56 57 58 58 60 61 64 64 65 66

2. Hauptgespräch: die Prüfung des Alltagsdenkens und seiner Grundlagen (158e–176d) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Die Prüfung des Alltagdenkens mit Charmides (158e–162b) . . . . i. Selbstreflexion als Antwortfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii. Die Form der Praxis: Besonnenheit ist Bedächtigkeit (159b–160d) iii. Die formgebende Haltung: Besonnenheit ist Scham (160d–161a) . . . iv. Das Prinzip der Praxis: Besonnenheit ist das Seinige zu tun (161b–162b) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . v. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die Prüfung der Grundlagen des Alltagsdenkens mit Kritias (162c–175a). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i. Das Selbstverständnis der Praxis: Besonnenheit ist Gutes zu tun (162c–164c) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii. Die Begründung der guten Praxis: Besonnenheit ist Selbsterkenntnis (164c–175a). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . iii. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Aporie: Erklärung und Konsequenzen (175a–176d) . . . . . . . . . . .

83 110 112

3. Sokrates: die prüfende Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

114

67 67 67 69 71 73 76 78 78

Inhalt

7

III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles A. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

119

B. Forschungsstand zur »Nikomachischen Ethik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

120

1. 2. 3. 4.

Inklusiver versus exklusiver Glücksbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Verhältnis zwischen ethischen und dianoëtischen Tugenden . . . . Die Bedeutung des Nous in der »Nikomachischen Ethik« . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

120 124 128 132

C. Nachvollzug der »Nikomachischen Ethik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133

1. Die Grundlagen des menschlichen Glücks (Buch I) . . . . . . . . . . . . . . a. Der Untersuchungsgegenstand (I, 1094a1–1094b10) . . . . . . . . . . b. Die Untersuchungsmethode und ihre Voraussetzung (I, 1094b10–1095b13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Verbreitete Meinungen zum höchsten Gut (I, 1095b14–1097a14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i. Exkurs: die aristotelische Ideenkritik (I, 1096a11–1097a14) . . . . . d. Aristoteles’ Bestimmung des höchsten Gutes (I, 1097a15–1103a10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i. Exkurs: Die Struktur der menschlichen Seele (I, 1102a4 –1103a10) . e. Zusammenfassung: Entwicklung der Frage nach der Tugend . . .

133 133

2. Die Bestimmung der menschlichen Tugenden (Bücher II, VI, X) . . . a. Die Erscheinung der ethischen Tugend als maßvolles Handeln (II, 1103a14 –1105b18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Die natürliche praktische Tugend als Haltung der Mitte (II, 1105b19–1109b28) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Die eigentliche praktische Tugend als Haltung der Mitte mit Klugheit (VI, 1138b18–1145a11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Zusammenfassung: das Wesen der praktischen Tugend . . . . . . . . e. Die Ursache von Tugend und Glück : die vernünftige Betrachtung Gottes (VI, 1138b18–1145a11; X, 1176a29–1179a32)

133 135 135 138 141 142 143 144 146 147 150 152

3. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

159

D. Strukturvergleich mit dem »Charmides« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

162

1. Struktur der »Nikomachischen Ethik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Erscheinung (NE II, 1103a14–1105b18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Wesen (NE II, 1105b–1109b; VI, 1138b–1145a) . . . . . . . . . . . . . . c. Ursache (NE VI, 1138b–1145a; X, 1176b–1179a) . . . . . . . . . . . . .

163 163 164 165

8

Inhalt

2. Parallelen zwischen der »Nikomachischen Ethik« und dem »Charmides« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Vergleich der einzelnen Stufen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i. Erscheinung (Charmides 158e–161b und NE II, 1103a–1105b; II, 1105b–1109b) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii. Wesen (Charmides 161b–164c und NE II, 1105b–1109b; VI, 1138b–1145a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . iii. Ursache (Charmides 164c–175a und NE VI, 1138b–1145a; X, 1176b–1179a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Vergleich der Denkbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i. Das Denken vom Anspruch her: Aristoteles, Charmides und Kritias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii. Die Umkehr des Denkens bei Sokrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

169 170

3. Konsequenzen des Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171

165 166 166 166 167 169

IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant A. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

173

B. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

174

1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kants Glücksverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Bedeutsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Das Begründungsproblem einer Ethik der Autonomie . . . . . . . . . c. Kants Lösung in der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Das autonome Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

174 175 179 179 181 182 190 192

C. Nachvollzug der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« . . . . . . . . . . . . . .

193

1. Kants Voraussetzungen der Betrachtung (BA III–7) . . . . . . . . . . . . . . a. Methodisch: Betrachtung a priori (BA III–XV) . . . . . . . . . . . . . . . b. Inhaltlich: Vernunftkultur als höchster Zweck des Menschen (BA1–7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . .

193 193 194 195

Inhalt

9

2. Die Betrachtung des guten Willens (BA8–128) . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Die Erscheinung des guten Willens: pflichtgemäßes Handeln aus Achtung fürs Gesetz (BA8–24) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i. Handeln aus Pflicht im Alltagsdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii. Das Problem des Alltagsdenkens und die Aufgabe der Philosophie . . . b. Das Wesen des guten Willens: Autonomie (BA25–96) . . . . . . . . . i. Die Deduktion der Pflicht aus reinen Vernunftbegriffen a priori . . . . ii. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Die Ursache des guten Willens: Vernunft selbst (BA97–128) . . . . i. Die Frage nach der Möglichkeit von Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . ii. Der positive Begriff der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . iii. Die Vernunft selbst als die äußerste Grenze der praktischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

200 200 200 203 204 205 215 217 217 220

3. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

230

D. Strukturvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Struktur der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« . . . . . . . . . . . . 2. Vergleich mit der »Nikomachischen Ethik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vergleich mit dem »Charmides« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Das Ausgangsproblem (Charmides 153a–158d; GMS BA1–7) . . . b. Alltagsdenken (Charmides 158e–162b; GMS BA8–24) . . . . . . . . . c. Reflexion des Alltagsdenkens (Charmides 162c–175a; GMS BA25–128) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. Sokratisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

234 236 237 237 238

226

239 241

V. Schlussvergleich A. Der Ausgangspunkt – Urteilen oder Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245

B. Der Denkvollzug – Begründungsreflexion oder Begründungssuche . . . . . . . . .

249

C. Das Ergebnis – eine neue Qualität des Denkens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

253

D. Konsequenzen für die Gegenwart – Überwindung des Anspruchsdenkens in der Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

254

10

Inhalt

Anhang Literaturverzeichnis A. Textausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Zitierte Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

257 257

Personenregister

265

...............................................

ἐάν τ’ αὖ λέγω ὅτι καὶ τυγχάνει μέγιστον ἀγαθὸν ’ν ἀνθρώπῳ τοῦτο, ἑκάστης ἡμέοας περὶ ἀρετῆς τοὺς λόγους ποιεῖσθαι κ αὶ τῶν ἄλλων περὶ ὦν ὑμεῖς ἐμοῦ ἀκούετε διαλεγονένου καὶ ἐμαυτὸν καὶ ἄλλους ἐξετάζοντος, ὁ δὲ ἀνεξέταστος βίος οὐ βιωτὸς ἀνθρώπῳ, ταῦτα δ’ ἔτι ἦττον πείσεσθέ μοι λέγοντι. (Platon, Apologie 38a)

EINLEITUNG

Das gute Leben ist seit einigen Jahren auch innerhalb der akademischen Philosophie wieder ein Diskussionsgegenstand. Bei einem synoptischen Blick auf diese Debatte findet sich eine Vielheit diskutierter Lebensentwürfe, die oftmals gerade in Absetzung von einander entwickelt werden. Zugleich herrscht zwischen den verschiedenen Positionen in vielen Hinsichten ein argumentatives Gleichgewicht, so dass sie gleichberechtigt erscheinen. Ein Mensch, der sich mit einem existentiellen Anliegen der Philosophie zuwendet, kann sich scheinbar nach eigenem Ermessen eine Antwort aussuchen. Wenn er allerdings ein solches eigenes Maß in die Debatte mitbringt, dann hat er die Frage schon beantwortet, bevor er sie richtig gestellt hat. In der vorliegenden Arbeit wird nach einer rationalen Grundlage gesucht, auf der die persönliche Lebensentscheidung gefällt werden kann, indem nach dem Grund eines guten Lebens gefragt wird. Die Betonung liegt auf dem Grund. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass hier keine Beschreibungen von Lebensweisen zusammengestellt und philosophisch ausgeleuchtet werden sollen. Die Untersuchung zielt tiefer. Hier wird das Fundament gesucht, auf dem aufbauend der Einzelne sein Leben führen sollte, damit es ein gutes Leben wird. Es geht also um die Begründung der Lebensführung. Diese Frage hat in der Philosophie eine lange Tradition und wird hier nicht zum ersten Mal gestellt. Es wäre also vermessen, den Grund des guten Lebens bestimmen zu wollen, ohne auf die Philosophiegeschichte zurückzugreifen, die schon grundsätzliche Möglichkeiten, diese Frage zu beantworten, durchdacht hat. Deswegen wird die Untersuchung einen teilweise historischen Charakter haben. Zugleich ist der Anspruch der Antworten, die bedeutende Denker der Philosophiegeschichte auf die Frage nach dem guten Leben gegeben haben, überhistorisch. Sie wollten nicht bloß etwas über und für ihre Zeit aussagen, sondern haben sich um systematische, allgemeingültige Lösungen der menschlichen Grundfrage bemüht. Um dem Anspruch der Denker gerecht zu werden, muss die Untersuchung also zugleich systematisch angelegt werden. Die durchaus gegebene historische Distanz soll mithilfe von Strukturanalysen überbrückt werden, so dass paradigmatische Konzepte der Philosophiegeschichte für die gegenwärtige Diskussion fruchtbar gemacht werden können. Bücher, die verschiedene in der Geschichte der Philosophie vorgebrachte Entwürfe des guten Lebens zusammenstellen, gibt es in neuerer Zeit ebenfalls viele. Diese Untersuchung will nicht ein weiteres dieser Art sein. Sie will nicht bloß feststellen, was schon einmal über den Grund des guten Lebens gedacht wurde. Denn, wer die genannte Frage in existentieller Weise stellt, der sucht nicht bloß nach einer

14

Einleitung

theoretischen Belehrung über mögliche Begründungsarten. Wer die Frage aus einem Orientierungsbedürfnis heraus stellt, will einen existentiellen Mangel überwinden und kann nicht bei einem Nebeneinander der Positionen stehen bleiben. Die bloße Zurkenntnisnahme von Möglichkeiten wird dem Orientierungsbedürfnis nicht gerecht. Darüber hinaus müssen die Positionen zueinander in Beziehung gesetzt werden, um einzuschätzen, ob eine Antwort der anderen überlegen ist. Deswegen soll in dieser Arbeit im Anschluss an die genannte Strukturanalyse ein Vergleich dieser Strukturen stattfinden. Solch ein Strukturvergleich soll das Verständnis der einzelnen Positionen durch Kontrastierung vertiefen und zugleich die Möglichkeit einer rationalen Entscheidung für oder gegen eine Position als Grund der eigenen Lebensführung bieten. Konkret beginnt die vorliegende Untersuchung mit der gegenwärtigen philosophischen Diskussion zum guten Leben. Eine Auswahl aktuell vertretener Positionen wird kurz diskutiert und anschließend auf ihre philosophiegeschichtlichen Vordenker zurückgeführt. Es zeigen sich drei größere Diskussionsrichtungen: eine subjektivistische, eine objektivistische und eine skeptische. Die ausdifferenzierte und unentschiedene Diskussionslage soll im Rückgang zu ihren philosophiegeschichtlichen Wurzeln geordnet werden, um nach einem begründeten Weg aus der scheinbaren Beliebigkeit zu suchen. Der größte Teil der Untersuchung beschäftigt sich deswegen mit den drei Denkern, die in der gegenwärtigen Debatte von den drei Strömungen begründend herangezogen werden: Kant, Aristoteles und Sokrates/Platon. Im Nachvollzug dieser drei Grundpositionen zeigen sich Begründungsstrukturen, die bis heute zur eigenen Rechtfertigung herangezogen werden. Die Auseinandersetzung mit diesen Begründungsstrukturen soll zum einen die sachlichen Zusammenhänge der so gegensätzlich erscheinenden Positionen verdeutlichen und ein tieferes Verständnis der gegenwärtigen Debatte ermöglichen. Zugleich wird in dieser vergleichenden Auseinandersetzung nach einer richtigen Begründung der Lebensführung gesucht. Im Schlussvergleich werden die Ergebnisse der gesamten Untersuchung noch einmal aufgenommen, so dass eine im Rahmen der vorliegenden Arbeit1 mögliche Antwort auf die Untersuchungsfrage abgeleitet werden kann: Was ist der Grund eines guten Lebens?

Die vorliegende Arbeit wurde in einer früheren Fassung am Philosophie Institut der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen. 1

I. Die Begründung des guten Lebens in der gegenwärtigen Philosophie Die alte Frage nach dem guten und glücklichen Leben2 verschwand im Anschluss an Kants Kritik an eudaimonistischen Moraltheorien weitestgehend aus der philosophischen Diskussion. Kant hatte an den wirkmächtigen antiken Ethiken kritisiert, dass das Glück als Begründung einer Moral- bzw. Tugendlehre nicht zureichend allgemeingültig ist. Er wollte das richtige, moralische Handeln deswegen unabhängig von einer Glücksvorstellung rein aus Vernunftbegriffen begründen. Da das Glück in der Nachfolge Kants als Erfüllung subjektiver Wünsche verstanden wurde, galt es lange als kein adäquater Gegenstand einer philosophischen Theorie mit einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit, und wurde als eine Privatangelegenheit oder als Gegenstand empirischer Wissenschaften3 betrachtet4. Aktuell wird die Frage nach dem guten Leben5 von Kritikern der Moraltheorien kantischer Tradition wieder in die philosophische Diskussion eingebracht. Die Kritiker zeigen drei größere Mängel auf. Erstens beruht die rein auf Vernunftbegriffen gegründete Pflichtenethik bzw. Moraltheorie kantischer Tradition selbst auf einer Vorstellung eines guten Lebens als vernünftige Selbstbestimmung, die von ihren Vertretern ausgeblendet wird. Ohne diese Vorstellung zu reflektieren, bleiben die eigenen Grundlagen verborgen, sodass die daraus resultierenden Probleme unlösbar werden6. Zweitens fehlt dieser Moral ein Zweck, da keine substantiellen Güter angegeben werden, die durch sie geschützt werden sollen. Um solche Güter angeben zu können, bedarf es einer Vorstellung

2 Ich unterscheide zunächst nicht zwischen einem guten und einem glücklichen Leben, weil eine solche Unterscheidung bereits ein Verständnis des Sachverhalts voraussetzt. Da ich aber erst untersuchen möchte, was ein gutes bzw. glückliches Leben ist, benutze ich beide Begriffe synonym als Bezeichnung für eine erstrebenswerte Lebensform. Ich setze dabei keine inhaltliche Bestimmung voraus, sondern lasse mich auf die Bestimmungen der besprochenen Autoren ein. Wenn diese eine entsprechende Unterscheidung treffen, dann werde ich sie ebenfalls diskutieren. 3 Eine umfangreiche Datenbank empirischer Untersuchungen zu diesem Thema hat Veenhoven erstellt. Sie ist im Internet unter http://worlddatabaseofhappiness.eur.nl/index.html einsehbar und enthält fast 7000 Titel (Stand November 2011). 4 Vgl. Steinfath 1998, S. 7–10. 5 Es gibt seit ca. 30 Jahren wieder eine rege philosophische Diskussion zum Glück. Es werden einerseits eigenständige systematische Vorschläge eingebracht, andererseits gibt es Versuche, die alten Antworten der Philosophiegeschichte zu aktualisieren. Vgl. zum Überblick über die Debatte bspw. Hügli 1997; Steinfath 1998; Pollmann 1999; Wolf 1999; Horn 2000. 6 Vgl. Taylor 2002, insbesondere Abschnitt 4.2.

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I. Die Begründung des guten Lebens in der gegenwärtigen Philosophie

eines guten Lebens7. Und drittens gebe es für einen Menschen kein Motiv, sich eine Moral anzueignen, die nicht auf sein Konzept eines guten Lebens bezogen sei8. Die gegenwärtige Diskussion reagiert auf die skizzierten Folgen des Verzichts auf die Frage nach dem guten Leben, indem sie versucht, die von Kant gefestigte Vorstellung, Glück sei die Erfüllung subjektiver Wünsche, zu überwinden. Die gegenwärtig diskutierten Möglichkeiten, das gute Leben zu bestimmen, lassen sich zwei Richtungen zuordnen: dem reflektierten Subjektivismus und dem Objektivismus. Die Kontroverse der Positionen ruft eine skeptische Reaktion hervor, die das menschliche Glück für unmöglich erklärt. Dieser Diskussionsstand wird im Folgenden exemplarisch dargestellt und diskutiert.

A. Der reflektierte Subjektivismus – Glück durch Selbstaufklärung Die Vertreter des reflektierten Subjektivismus9 bleiben in kantischer Tradition und halten grundsätzlich an der Überzeugung fest, dass ein glückliches Leben durch Wunscherfüllung erreicht wird. Zusätzlich zu der genannten Kritik wird das Wunschprinzip in Reinform selbst problematisiert. Da die Erfüllung von Wünschen manchmal mit Enttäuschungen verbunden ist10, führt die Erfüllung von Wünschen nicht immer zum Glück, sondern ist als Lebensprinzip ambivalent. Mit der Ambivalenz geht einher, dass es zufällig ist, ob ein Leben durch Wunscherfüllung glückt. Deswegen wird innerhalb dieser Forschungsrichtung vorgebracht, dass ein Mensch zuerst die individuellen Bedingungen seiner Wünsche reflektieren und dann nur die Wünsche befriedigen soll, die bestimmten Vernunftkriterien genügen. Innerhalb der Position des reflektierten Subjektivismus werden verschiedene Möglichkeiten solcher Kriterien diskutiert. Da diese Konzepte stets an der Idee der Wunscherfüllung als wesentlichem Element des Glücks ansetzen, bleiben sie weitgehend formal und überlassen die materiale Ausfüllung der Form dem Einzelnen. Im Ganzen soll der Einzelne die Ambivalenz des Wunschprinzips durch Nachdenken überwinden. Drei grundsätzliche Möglichkeiten, das Verhältnis von Wünschen und Denken zu fassen, sollen exemplarisch diskutiert werden.

7 8 9

Vgl. Nussbaum 1999, S. 34–39. Vgl. Steinfath 1998, S. 11 f. Vgl. bspw. Griffin 1986; Stemmer 1997 und 1998; Seel 1999; Hossenfelder 2000; Feldmann

2004. 10

Vgl. Stemmer 1998, S. 61.

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1. Informiertheit In Stemmers (1998) Vorschlag bleiben die Wünsche das übergeordnete Glücksprinzip. Das Denken soll bloß die Auswahl der relevanten Wünsche optimieren. Das grundsätzliche Festhalten am Prinzip der Wunscherfüllung begründet er damit, dass wir immer dann davon sprechen, dass etwas gut sei, wenn es das erfüllt, was wir uns davon wünschen11. Allerdings sind nicht alle Wünsche einer Person glücksrelevant, da Enttäuschungen möglich sind. Nur die aufgeklärten oder informierten Wünsche führen zum Glück12. Informiert heißen solche Wünsche, die der Mensch nach Kenntnis aller Wunschbedingungen vernünftigerweise noch hat. Man müsste also bei jedem Wunsch alle Bedingungen reflektieren, um anschließend nach Vernunftkriterien einzuschätzen, ob man diesen Wunsch tatsächlich umsetzen will. Ein solcher Zustand vollständiger Informiertheit ist für den Menschen laut Stemmer aber unerreichbar, weil einem Wünschenden die Erfahrung des Gewünschten fehlt und die Quellen von Wünschen zu vielschichtig sind13. Demnach wäre ein Leben gut, wenn sich die möglichst informierten Wünsche erfüllen und diese Wünsche zufälligerweise mit denen, die man bei vollständiger Informiertheit hätte, übereinstimmen14. Ob ein Leben gut wird, hängt also letztendlich von dieser zufälligen Übereinstimmung ab, so dass die Ambivalenz des Wunschprinzips nicht aufgehoben wird, sondern auf die vielfältigen, ggf. unbekannten Wunschquellen zurückgeführt wird. Die bloße Reflektion der Wunschquellen führt also nicht aus der existentiellen Orientierungslosigkeit heraus.

2. Weltoffene Selbstbestimmung Seel (1999) untersucht in seiner umfangreichen Studie die Form des Glücks. Seine Verhältnisbestimmung von Wünschen und Denken ist der gerade diskutierten genau entgegengesetzt. Das Denken hat in diesem Vorschlag eine Priorität gegenüber dem Wünschen. Seel will durch eine Betrachtung des Wie des menschlichen Wollens eine formale Bestimmung des guten Lebens gewinnen15 und unterscheidet dabei zwischen einem guten, einem gelingenden und einem glücklichen Leben16. Das glückliche Leben ist weiterhin ein Leben, in dem sich die Wünsche des Einzelnen erfüllen. Ein gelingendes Leben hingegen orientiert sich nicht an den Wün11 12 13 14 15 16

Vgl. Stemmer 1998, S. 47–59. Vgl. Stemmer 1998, S. 59–65. Vgl. Stemmer 1998, S. 65–68. Vgl. Stemmer 1998, S. 69. Vgl. Seel 1999, S. 10. Vgl. Seel 1999, S. 125–127.

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schen einer Person, sondern besteht in einem Verhältnis zum eigenen Leben. Damit ist es nicht zustands-, sondern prozessorientiert. Es ist das weltoffen selbstbestimmte Leben. Selbstbestimmung besteht nach Seel darin, dass der Einzelne die Möglichkeit hat und auch nutzt, seinen Lebensweg frei zu wählen. Es ist also die Fähigkeit des Einzelnen, das eigene Leben aus sich selbst heraus zu begründen. Die Weltoffenheit beinhaltet, dass diese Wahl durch Erfahrungen mit der Welt und mit anderen Menschen korrekturfähig bleibt17. Weltoffenheit könnte man folglich als eine Form von zugelassener Fremdbestimmung verstehen. Welcher Lebensweg konkret gewählt wird, scheint für das Gelingen unerheblich zu sein, einzig bedeutsam ist die Begründung dieser Wahl. Die Begründung soll in einem Zusammenspiel von Selbst und Welt erfolgen. Das gute Leben besteht nach Seel aus einem gelingenden und einem glücklichen Leben18. Damit ist das gute Leben ein weltoffen selbstbestimmtes Leben, in dem sich außerdem die eigenen Wünsche erfüllen. Das gelingende Leben hat dabei Priorität, weil es zugleich die Möglichkeit eines glücklichen Lebens eröffnet. Die Wunscherfüllung wird also der Selbstbestimmung untergeordnet. Allerdings ist die Freiheit des Einzelnen bei der Wahl seines Lebensweges, d. h. also die Selbstbestimmung, für ein gelingendes Leben grundsätzlich von einer Bedingung eingeschränkt. Der gewählte Lebensweg darf weder die Möglichkeit zur Selbstbestimmung noch die Fähigkeit zur Korrektur aufheben. Die weltoffene Selbstbestimmung ist also ein Selbstzweck. Indem es zum Selbstzweck erklärt wird, verliert es allerdings den reinen Prozesscharakter und wird zugleich zum Ziel des Prozesses erklärt. Es wird selbstbezüglich gedacht19. Die Fähigkeit zur weltoffenen Selbstbestimmung soll für das Gelingen eines Lebens nach Seel also nicht nur ausgeübt, sondern außerdem gegen mögliche Gefahren verteidigt werden. Die Gefahren entstehen durch den skizzierten Selbstbezug. Denn wenn ein Mensch seine Selbstbestimmung überbetont, dann besteht die Gefahr eines pathologischen Rückzugs des Menschen auf sich selbst. Wenn er allerdings die Weltoffenheit überbetont, dann droht ein pathologisches Sich-Ausliefern an die Welt20. Damit wären nach Seel sowohl das vollständig selbstbestimmte wie auch das vollständig fremdbestimmte Leben schlecht. Gesucht wäre eine Art Balance von beidem. Hier stellt sich die Frage, was es dem Menschen ermöglicht, den Pathologien zu entgehen und das richtige Verhältnis von Selbst- und Fremdbestimmung zu erreichen. Seel bietet nichts an, was diese Aufgabe erfüllen könnte, sondern wirft der Philosophiegeschichte vor, dass sie überhaupt versucht hat, diesen Konflikt zu lösen. Dieser Konflikt gehöre zum selbstbestimmten Leben dazu21. Wenn sich aber nichts 17 18 19 20 21

Vgl. Seel 1999, S. 114–119, 127–136. Vgl. Seel 1999, S. 97–101. Vgl. Seel 1999, S. 120. Vgl. Seel 1999, S. 121. Vgl. Seel 1999, S. 13–48, 122.

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finden lässt, was den Menschen vor diesen Gefahren bewahrt, dann ist das Gelingen des Lebens zufällig und kann jederzeit in eine Pathologie abgleiten. Die Ambivalenz des Wunschprinzips wird nicht überwunden, stattdessen zeigt sich auch die vernünftige weltoffene Selbstbestimmung als problematisch. Sobald diese Fähigkeit zum Selbstzweck und damit zum eigenen Maßstab erhoben wird, bedroht sie sich offenbar selbst. Sie zeigt damit eine Schwierigkeit, die über die bloße Enttäuschung durch die Wünsche hinausgeht, da sie bei falscher Ausführung die eigene Verwirklichung behindert. Hier entsteht also zusätzlich die Frage, wie und woran das vernünftige Vermögen der Selbstbestimmung ausgerichtet werden kann, damit es sich nicht selbst gefährdet. Der Orientierungssuchende muss also einsehen, dass er nicht nur die Ambivalenz seiner Wünsche überwinden, sondern außerdem noch sein Denken schulen muss.

3. Widerspruchsfreiheit der Zwecke Auch nach Hossenfelder (2000) besteht das glückliche Leben in der Erfüllung von Wünschen. Da er den Menschen aber in erster Linie als ein handelndes Wesen begreift, wird die Wunscherfüllung nicht nur Denkbedingungen unterworfen, sondern zusätzlich den Bedingungen des Handelns. Dieser Entwurf bemüht sich um eine Art Gleichgewicht von Denken und Wünschen. In der Struktur von Handlungen liegt nach Hossenfelder a priori, dass sie auf Zwecke gerichtet sind. Als handelndes Wesen folgt der Mensch dem Grundsatz, alle seine Zwecke erreichen zu wollen. Zwecke stellen Handlungsalternativen dar, die der Mensch tatsächlich erreichen will, wobei er die dafür erforderlichen Mittel kennt und ergreift22. Wünsche hingegen sind beliebige Bewertungen von Sachverhalten. Sie orientieren sich an keinerlei Kriterien, helfen dem Menschen allerdings bei der Zwecksetzung, indem sie die prinzipiell gleichwertigen Handlungsalternativen gewichten. Ohne eine solche Gewichtung würde der Mensch sich alle möglichen Handlungsalternativen zu Zwecken machen müssen23. In einem solchen Fall hätte er auch einander widersprechende Handlungsalternativen zu Zwecken erhoben und könnte nicht alle seine Zwecke realisieren, was seinem Grundsatz als handelndes Wesen widersprechen würde. Im Versuch, die eigenen Wünsche zu erfüllen, d. h. durch das Glücksstreben, findet allerdings notwendig eine Gewichtung der Handlungsalternativen statt, so dass eine sinnvolle Zwecksetzung möglich wird. Um der Zwecktätigkeit willen will der Mensch nach Hossenfelder also das Glück und setzt sich damit das Glück zum Zweck, so dass die Erfüllung von Wünschen und damit das Glück 22 23

Vgl. Hossenfelder 2000, S. 41, 45 f. Vgl. Hossenfelder 2000, S. 153–157.

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denselben apriorischen Bedingungen unterworfen ist wie die Erreichbarkeit der Zwecke. Die Realisierbarkeit von Zwecken setzt laut Hossenfelder a priori eine innere und äußere Zweckharmonie voraus. Da Menschen immer in einer Gemeinschaft leben, ist eine äußere Zweckharmonie zwischen verschiedenen Individuen notwendig, um gewährleisten zu können, dass jedes wollende Individuum seine Zwecke erreichen kann, ohne mit anderen Individuen in Konflikte zu geraten. Das Wollen der äußeren Zweckharmonie ist notwendig im Streben nach Zweckverwirklichung enthalten; es ist der Wille zum Recht. Die äußere Zweckharmonie soll durch die Gesetze und die sozialen Normen hergestellt werden24. Damit der Einzelne alle seine Zwecke erreichen kann, ist außerdem notwendig, dass auch innerhalb eines Individuums keine Zweckkonflikte vorkommen. Die innere Zweckharmonie muss durch Widerspruchsfreiheit der Zwecke hergestellt werden, die wiederum dadurch entsteht, dass der Mensch seine Wünsche erfüllen will. Im Streben nach Zweckverwirklichung ist also auch das Wollen der Wunscherfüllung enthalten; es ist der Wille zum Glück25. Wenn nun die Realisierbarkeit von Glück denselben Bedingungen unterworfen ist wie die Realisierbarkeit von Zwecken, dann ist das Glücksstreben eine apriorische Bedingung der eigenen Realisierbarkeit. Das ist insofern problematisch, als dass das Glücksstreben die Widerspruchsfreiheit der Zwecke und nun die eigene Widerspruchsfreiheit gewährleisten muss, obwohl, wie oben gesagt, die Wünsche keinerlei Kriterien und damit auch nicht denen der Logik unterworfen sind26. Die Widerspruchsfreiheit der Wünsche muss also vorausgesetzt werden27. Da der zwecktätige Mensch auf diese Weise seinen Wünschen ausgeliefert ist, ist er damit sowohl in seiner Zweckrealisierung als auch in seinem Glück von einer zufälligen Widerspruchfreiheit seiner Wünsche abhängig. Sobald diese nicht mehr gegeben ist, verliert er seine Glücksmöglichkeit. Das ambivalente Wunschprinzip wird also auch in diesem Fall nicht überwunden. Die Differenzierung zwischen Zwecken und Wünschen verdeutlicht zwar die notwendige Verknüpfung von logischem Denken und dem Streben nach Glück, setzt aber eine Eindeutigkeit der Wünsche voraus, ohne sie gewährleisten zu können. Der Orientierungssuchende kann hieran also einsehen, dass er eines Maßstabs bedarf, der weder in den Wünschen noch in dem Denken schon gegeben ist, sondern erst erworben werden muss.

24 25 26 27

Vgl. Hossenfelder 2000, S. 48–51. Vgl. Hossenfelder 2000, S. 159–162. Vgl. Hossenfelder 2000, S. 155, 165. Vgl. Hossenfelder 2000, S. 160 f.

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4. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich der reflektierte Subjektivismus als ein Versuch beschreiben, das menschliche Streben nach Wunscherfüllung mit seinem Denken zu vereinbaren. Im Hintergrund der Wünsche stehen letztlich die Bedürfnisse eines Menschen und das Denken stellt eine Verwirklichung der menschlichen Vernunft dar. Die diskutierten Vorschläge loten also das glücksrelevante Verhältnis von Bedürfnissen und Vernunft innerhalb eines Menschen aus. Drei prinzipielle Möglichkeiten, das Verhältnis von Bedürfnissen und Vernunft zu denken, werden vertreten. Zunächst besteht die Möglichkeit, die Bedürfnisse und die Vernunft als unabhängige Vermögen innerhalb des Menschen zu betrachten, die für ein gutes Leben in einem bestimmten Verhältnis stehen müssen. Die Vorschläge von Seel und Stemmer gehören zu dieser Betrachtungsweise. Stemmer hält an der Vorrangigkeit des Wunschprinzips für das Glück fest, so dass die Vernunft in Bezug auf das Glück zwar eine wichtige, aber den Bedürfnissen untergeordnete Stellung einnimmt. Sie hat im Bezug auf das Glück eine bloß ordnende Funktion. Seel kehrt das Verhältnis um und sieht das entscheidende Vermögen aller kritischen Einordnung zum Trotz in der Vernunft als Vermögen der weltoffenen Selbstbestimmung. Die Erfüllung von Wünschen bzw. Bedürfnissen führt zwar weiterhin zum Glück, ist aber in Seels Entwurf für das gute Leben im Ganzen eher zweitrangig und der vernünftigen Selbstbestimmung untergeordnet. Beide Entwürfe finden keine Lösung für die Ambivalenz des Wunschprinzips. Die andere Möglichkeit, die Bedürfnisse und die Vernunft nicht grundsätzlich eigenständig, sondern verbunden zu denken, findet sich bei Hossenfelder. In seinem Entwurf wählt der Handelnde aufgrund seiner Wünsche seine Zwecke, deren Erfüllung dann zum Glück führt. Die für das Glück notwendige Widerspruchsfreiheit der vernünftigen Zwecksetzung gründet in der vermeintlichen Widerspruchsfreiheit der Wünsche. Die Überwindung der Ambivalenz der Wünsche wird in diesem Fall schlicht vorausgesetzt, aber nicht nachgewiesen. Insgesamt wird an dem reflektierten Subjektivismus deutlich, dass das Subjekt sowohl in seinen Wünschen als auch in seinem Denken begründungsbedürftig ist. Das Subjekt bringt die Möglichkeit zum Glück aber auch zum Unglück mit, die weder die Wünsche noch das Denken allein eindeutig als Glück verwirklichen können. Damit wird an den diskutierten subjektivistischen Positionen deutlich, dass der Mensch zum Glück eines Dritten bedarf, das über das bloße Subjekt hinaus geht und ihm bei der Überwindung der eigenen Ambivalenz hilft.

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B. Der Objektivismus – Glück durch Verwirklichung eines Maßstabs In der Ambivalenz des Wunschprinzips begründet sich für die Vertreter des Objektivismus28 die Notwendigkeit eines objektiven, überindividuellen Wertmaßstabs, der die Lebensführung bestimmen und dessen Verwirklichung zu Glück führen soll. Unter Berufung auf Aristoteles wird ein solcher Maßstab gesucht, indem die menschliche Natur als die überindividuelle Dimension menschlicher Lebensführung reflektiert wird. Die unterschiedlich akzentuierten Ansätze innerhalb der objektivistischen Position versuchen objektiv gültige Maßstäbe für ein gutes Leben anzugeben. Hierbei kann von der sinnlich-äußeren oder der geistig-inneren Dimension des Menschen ausgegangen werden. Auch hier sollen drei grundsätzliche Möglichkeiten innerhalb dieser Position diskutiert werden.

1. Verwirklichung der menschlichen Grundfähigkeiten Nussbaum (1999) setzt eher an der äußeren, sinnlichen Dimension des Menschseins an. Sie geht davon aus, dass es für ein gutes Leben darauf ankommt, in den unterschiedlichsten Lebenslagen richtig, d. h. zum eigenen Wohl, handeln zu können. Die Bereitschaft, jeweils richtig zu handeln, ist nach Nussbaum die schwache Bestimmung der Tugend. Da es verschiedene Lebensbereiche gibt, die richtiges Handeln erfordern, muss es außerdem starke Bestimmungen der Tugenden für den jeweiligen Bereich geben29. Im Hinblick auf das gute Leben wäre es entscheidend, solche starken Bestimmungen zu finden, um zu wissen, was in jeder Lebenslage richtig ist zu tun. Im ersten Schritt müssen nach Nussbaum die wesentlichen Bereiche des menschlichen Lebens geklärt werden, um im zweiten Schritt das im jeweiligen Bereich richtige Handeln auf einen gemeinsamen Begriff zu bringen. Da der Einzelne innerhalb dieser Bereiche selbst agieren muss, bleibt die konkrete inhaltliche Ausgestaltung allerdings für individuelle Besonderheiten offen. Der Schwerpunkt liegt für Nussbaum bei der Bestimmung der wesentlichen Lebensbereiche aller Menschen, d. h. also bei dem ersten Schritt der von ihr skizzierten Suche. Solche wesentlichen Lebensbereiche bezeichnet Nussbaum als menschliche Grunderfahrungen und versucht anhand von Mythen und anderen Erzählungen, ganz empirisch, herauszufinden, was alle gleichermaßen als wesentlich menschlich anerkennen30. Die Objektivität soll durch diesen Bezug auf die allen Menschen geVgl. bspw. Angehrn 1997; Schaber 1998; Nussbaum 1998 & 1999; Spaemann 2001; Taylor 2002; Höffe 2007. 29 Vgl. Nussbaum 1999, S. 232–234. 30 Vgl. Nussbaum 1999, S. 45–49. 28

B. Der Objektivismus – Glück durch Verwirklichung eines Maßstabs

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meinsamen Grunderfahrungen, bspw. Sterblichkeit oder Körperlichkeit, gewährleistet werden. In ihrer Analyse findet Nussbaum sowohl Möglichkeiten als auch Einschränkungen31. Darauf aufbauend entwickelt sie eine Liste menschlicher Grundfähigkeiten, die eine Minimaltheorie des Guten bilden sollen32. Diese Liste basiert weitestgehend darauf, dass Menschen körperliche Wesen sind, die innerhalb einer natürlichen Welt gemeinsam mit anderen Menschen ein bewusstes Leben führen. Ein Leben, in dem die aufgelisteten Fähigkeiten nicht ausgeübt werden können, ist nach Nussbaum nicht mehr menschlich. Zugleich haben nicht alle aufgelisteten Fähigkeiten die gleiche Funktion. Zwei Fähigkeiten, die praktische Vernunft und die Verbundenheit mit anderen Menschen, organisieren und strukturieren alle anderen33. Die Verbundenheit mit anderen betont die Sozialität des Menschen, da wir niemals als isolierte Einzelwesen handeln, sondern stets in einem sozialen Zusammenhang stehen34. Die praktische Vernunft ist die Fähigkeit, sich eine eigene Vorstellung vom Guten zu bilden und diese planend im eigenen Leben umzusetzen35. Ein gutes Leben wäre also eins, in dem der Mensch seine objektiv gegebenen Grundfähigkeiten gemäß seiner individuellen Vorstellung vom Guten in einer Gemeinschaft verwirklicht. Die Orientierung an dieser Vorstellung soll gewährleisten, dass ein Missbrauch der genannten Grundfähigkeiten ausgeschlossen wird und sie zum Guten und nicht zum Schlechten eingesetzt werden. Einen überindividuellen Wertmaßstab, der die Ausübung der Grundfähigkeiten zum Guten des jeweiligen Menschen wenden kann, gibt Nussbaum nicht an. Wie der Einzelne sicherstellen kann, dass seine Vorstellung vom Guten nicht den bei der Betrachtung der subjektivistischen Position verdeutlichten Schwierigkeiten verfällt, bleibt unthematisiert. Die Liste der Grundfähigkeiten enthält also bloß notwendige Bedingungen eines guten Lebens, die ohne eine ordnende Vorstellung vom Guten für das Glück nicht hinreichend sind. Der Orientierungssuchende wird zwar darauf aufmerksam gemacht, dass sein Leben in einem gewissen Rahmen stattfinden sollte und dass das Gute einen Maßstab der Lebensführung darstellt. Worin das Gute besteht, bleibt allerdings unbestimmt und wird dem Orientierungssuchenden selbst überlassen.

31 32 33 34 35

Vgl. Nussbaum 1999, S. 49–56. Vgl. Nussbaum 1999, S. 57–59. Vgl. Nussbaum 1999, S. 59–62. Vgl. Nussbaum 1999, S. 53, 60. Vgl. Nussbaum 1999, S. 53, 60 f.

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2. Verwirklichung eines Hyperguts Taylor (2002) will den notwendigen Hintergrund einer gelingenden Lebensführung klären. Dazu setzt er in seiner Untersuchung bei den »intuitiven moralischen und spirituellen Vorstellungen«36 der heutigen Menschen und damit an seiner inneren Natur an. Diese Vorstellungen beinhalten nach Taylor Unterscheidungen zwischen richtig und falsch, die von den Wünschen unabhängig sind und selbst Maßstäbe zur Beurteilung von Wünschen darstellen37. Die Gesamtmenge solcher qualitativen Unterscheidungen bildet den notwendigen Hintergrund jeder Lebensführung. Diese Gesamtmenge ist hierarchisch strukturiert, sodass eine der qualitativen Unterscheidungen den Maßstab für alle anderen darstellt und alle anderen ordnet. Diese höchste Unterscheidung nennt Taylor das Hypergut eines Menschen38. Das Hypergut bestimmt als letzter Wertmaßstab die Lebensführung und bildet demnach auch den Maßstab des Glücks. Je nachdem, ob es einem Menschen gelingt, das eigene Hypergut im Leben zu verwirklichen, ist sein Leben als gut zu beurteilen. Allerdings gibt es eine Schwierigkeit. Nach Taylor können sich die Menschen darüber, was gut ist, irren und infolge eines solchen Irrtums etwas zum Hypergut und Maßstab ihres Lebens erheben, was gar nicht gut ist39. In einem solchen Fall wäre ein Leben, in dem das gewählte Hypergut verwirklicht wurde, ein schlechtes Leben. Demnach genügt es für ein gutes Leben nicht, ein beliebiges Hypergut zu verwirklichen. Entscheidend ist es, ein Hypergut zu verwirklichen, das tatsächlich etwas Gutes erfasst. Angesichts der Möglichkeit eines solchen existentiellen Irrtums fordert Taylor dazu auf, die eigenen Vorstellungen vom Guten zu artikulieren, um dann das Hypergut auf Richtigkeit zu prüfen. Allerdings zeigt Taylor nicht, wie eine solche Prüfung vollzogen werden soll. Das praktische Schließen, das Taylor als Verfahren zur Beurteilung von Hypergütern vorschlägt, kann zwar bei der Beurteilung der relativen Überlegenheit eines potentiellen Hyperguts gegenüber einem anderen herangezogen werden40. Die Frage nach der absoluten Richtigkeit eines Hyperguts, lässt sich damit aber nicht beantworten. Auch bei Taylor bleibt also unklar, wie der Einzelne sicherstellen kann, dass sein Wertmaßstab die Ambivalenzen des Wunschprinzips überwindet und das eigene Denken vor Selbstschädigung bewahrt. Der Orientierungssuchende erfährt also nur, dass er seine Vorstellungen artikulieren und prüfen muss.

36 37 38 39 40

Taylor 2002, S. 16. Vgl. Taylor 2002, S. 17. Vgl. Taylor 2002, S. 124. Vgl. Taylor 2002, S. 143. Vgl. Taylor 2002, S. 140 oder Taylor 1995.

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3. Verwirklichung des unbedingten Ziels und des unbedingten Grundes Höffe (2007) untersucht in seiner Studie das Verhältnis von Glück und Moral ausgehend von einer Handlungstheorie. Ähnlich wie bei Hossenfelder führt der handlungstheoretische Ansatz zu einer Verschränkung der beiden vorher scheinbar getrennten Dimensionen des Menschseins. Da das Handeln immer eine freiwillige und wissentliche Tätigkeit ist, beinhaltet es eine bewusste Zielgerichtetheit41. Etwas zum Ziel seines Handelns zu wählen, setzt seinerseits voraus, dass man dieses Etwas in irgendeiner Weise für gut hält. Etwas für gut halten, kann man nach Höffe auf drei aufeinander aufbauenden Ebenen. Die unterste Ebene ist rein instrumentell. Hier wird etwas für gut gehalten, wenn es zum Erreichen eines beliebigen Ziels beiträgt. Diese Ebene bezeichnet Höffe als das technische Gute. Auf der zweiten Ebene werden die Ziele selbst in Bezug auf ein übergeordnetes Lebensziel beurteilt. Hier gilt wiederum als gut, was zum Erreichen des übergeordneten Ziels beiträgt. Die zweite Ebene ist das pragmatische Gute. Auf der dritten und höchsten Ebene werden die übergeordneten Lebensziele selbst zum Gegenstand der Beurteilung. Hier stellt sich die Frage, ob das jeweilige Lebensziel selbst ohne weitere Voraussetzungen oder Bezugnahmen, d. h. unbedingt gut ist. Das ist die Ebene des moralisch Guten42. Glück und Moral sind nach Höffe Begriffe für Lebensziele, die die Ansprüche der dritten, unbedingten Ebene erfüllen. Glück bezeichnet dabei das unbedingte Ziel. Moral fragt allerdings nicht nach einem Ziel des Handelns, sondern nach einem Grund des dem Handeln zugrunde liegenden Wollens. Moral bezeichnet also den unbedingten Grund. Damit steht der Mensch vor zwei unbedingten Forderungen. Als ein Wesen, das nach Erfüllung strebt, ist er den Forderungen des Glücks ausgesetzt und als ein Wesen, das von Gründen bestimmt ist, unterliegt er den Forderungen der Moral43. Das Glück besteht nach Höffe darin, die eigenen Ziele zu erfüllen. Die Erfüllung liegt allerdings nicht vollständig in der Hand des Menschen, sondern ist auch auf günstige Umstände angewiesen. Vom Menschen hängt es allerdings ab, welche Ziele er sich setzt. Für das Glück ist es nach Höffe entscheidend, erstens das richtige Verhältnis zu den eigenen Antriebskräften zu finden, um auf diese Weise seine Ziele zu beeinflussen. Das richtige Verhältnis zu den eigenen Antriebskräften bezeichnet er als Charaktertugend. Zweitens muss der Mensch vernünftige Mittel und Wege zum Erreichen seiner Ziele finden. Diese Fähigkeit ist nach Höffe die intellektuelle Tugend oder die Lebensklugheit44. 41 42 43 44

Vgl. Höffe 2007, S. 55–58. Vgl. Höffe 2007, S. 22–28. Vgl. Höffe 2007, S. 359. Vgl. Höffe 2007, S. 126–129.

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Die Ziele sinnvoll zu setzen und gute Mittel zur Verwirklichung zu finden, ist aber nicht alles, was der Mensch zum eigenen Glück beitragen kann. Da die Fähigkeit, sich durch Gründe bestimmen zu lassen, zu seiner Natur gehört und auch nach Erfüllung verlangt, muss der Mensch über die genannten Tugenden hinaus auch nach Moral streben, um seinen Beitrag zum eigenen Glück zu leisten45. Damit führt die unbedingte Glücksforderung dazu, sich der unbedingten moralischen Forderung unterzuordnen. Auf diese Weise muss der Mensch zwei unbedingte Gute verwirklichen: das unbedingte Ziel und den unbedingten Grund. Die inhaltliche Bestimmung des unbedingten Guten überlässt Höffe dem Einzelnen. Allerdings ergeben sich aus der Forderung nach Unbedingtheit bestimmte formale Kriterien, denen mögliche Inhalte genügen müssen, wie bspw. die Universalisierbarkeit. Im Gegensatz zu Nussbaum und Taylor diskutiert Höffe die Art und Weise, die Objektivität der eigenen Vorstellung vom Guten zu überprüfen. Da Höffe allerdings das Ziel des Handelns und den Grund des Wollens streng unterschieden wissen will46, hätte der Mensch nach gelungener Prüfung zwei unbedingte Gute bestimmt. Schwierig wird eine solche Zweiheit, wenn die moralische Forderung nicht mit der Glücksforderung übereinstimmt, so dass der Mensch entscheiden muss, welchem unbedingten Guten er Folge leistet. Egal, zu wessen Gunsten eine solche Entscheidung ausfallen würde, wäre die Unbedingtheit einer Forderung aufgehoben, weil entweder die Moral- der Glücksforderung unterworfen wäre oder umgekehrt. Die für den Orientierungssuchenden entscheidende Frage, welcher Maßstab immer gültig, d. h. tatsächlich unbedingt ist, bleibt unbeantwortet.

4. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich der Objektivismus als ein Versuch beschreiben, aus der Explikation überindividueller Notwendigkeiten des menschlichen Lebens die Rahmenbedingungen eines guten bzw. glücklichen Lebens zu entwickeln. Die überindividuellen Notwendigkeiten sind hierbei auf die Besonderheiten der Gattung Mensch begrenzt und schließen die nichtmenschliche Welt aus. Man kann deswegen stattdessen auch von der menschlichen Natur sprechen. Nussbaum betont dabei eher die äußeren, durch die materielle Welt vorgegebenen Faktoren des Menschseins und Taylor die inneren, durch die geistige Welt vorgegebenen Faktoren des Menschseins. Dadurch rücken bei Nussbaum die Bedürftigkeiten des Menschen und seine Umgangsweisen damit in den Vordergrund. Bei Taylor aber

45 46

Vgl. Höffe 2007, S. 359. Vgl. Höffe 2007, S. 190.

C. Die skeptische Reaktion – die Unmöglichkeit einer Glücksbestimmung

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dominiert die Fähigkeit des Menschen, sein Leben vernünftig an Wertvorstellungen auszurichten. Beide lassen die Frage unbeantwortet, wodurch der Mensch diese Aspekte seiner Natur eindeutig zu seinem Besten verwirklichen kann. Höffe betrachtet beide Aspekte, die Bedürftigkeit und die vernünftige Ausrichtung, im Zusammenhang und stellt fest, dass beide jeweils eine unbedingte Forderung an den Menschen stellen. Was dem Menschen hilft, aus der Zweiheit eine Einheit zu schaffen, bleibt unbeantwortet. An den objektivistischen Ansätzen wird deutlich, dass in den durch die menschliche Natur vorgegebenen Rahmenbedingungen, in denen sich das menschliche Leben vollzieht, der Wertmaßstab eines guten Lebens nicht schon gegeben ist. Es bleibt festzuhalten, dass die Richtigkeit möglicher Maßstäbe, d. h. ihre Eignung zum Grund eines guten Lebens, fraglich ist und geprüft werden muss. Die menschliche Natur scheint zwar eine Möglichkeit eines Maßstabs zu enthalten und auf seine Notwendigkeit zu verweisen, nicht aber seine Richtigkeit zu garantieren.

C. Die skeptische Reaktion – die Unmöglichkeit einer Glücksbestimmung Die Vertreter der skeptischen Position47 erklären den Streit von Subjektivismus und Objektivismus mit dem Konflikt zwischen individuellen und überindividuellen Bedingungen der Lebensführung. Die grenzenlosen Wünsche stünden in einem prinzipiellen Gegensatz zu den begrenzten menschlichen Fähigkeiten, so dass ein vermittelndes Drittes, das diesen Konflikt auflösen könnte, undenkbar sei. Die skeptische Reaktion darauf ist die Leugnung einer philosophischen Beantwortbarkeit der Frage nach dem guten Leben. Allerdings sind die Zweifel an der Bestimmbarkeit des guten Lebens derzeit weniger diskussionsbestimmend, da gerade der Verzicht auf eine solche Bestimmung zu den skizzierten Schwierigkeiten in der Moraltheorie geführt hat und ein Ausgangspunkt der gegenwärtigen Diskussion ist. Die skeptische Reaktion ist trotzdem eine gewichtige Position, weil sie angesichts des Streits zwischen den Vertretern der anderen Richtungen und ihrer Schwierigkeiten, das gute Leben zu bestimmen, stets einen aktuellen und scheinbar nahe liegenden Ausweg darstellt. Besonders deutlich wird diese Position von Ursula Wolf vertreten. Wolf (1998) kritisiert beide Forschungsrichtungen. Gegenüber Nussbaums Beitrag erhebt sie bspw. den Vorwurf, dass in dieser Analyse bloß empirische Fragen erläutert werden, die zwar in politischen Zusammenhängen relevant, aber philosophisch uninteressant sind. Auch andere Versuche, die Frage nach dem guten Leben zu beantworten, wie

47

Bspw. Hinske 1995; Wolf 1998 & 1999.

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bspw. von Seel, hält Wolf für verfehlt, weil sie den Sinn und Status der Frage, die Methoden und Ziele ihrer Bearbeitung nicht reflektieren48. Da der Mensch nicht nur aktiv lebt, sondern bei der Erfüllung seiner Wünsche auch von äußeren Umständen und Zufälligkeiten abhängig ist, ist die vollständige Wunscherfüllung nach Wolf ein erstrebtes, aber unerreichbares Ziel. Die unbegrenzten Wünsche des Menschen stehen grundsätzlich im Gegensatz zu seinen begrenzten Fähigkeiten. Aus dieser in der menschlichen Existenz angelegten Spannung entsteht zwar die Frage nach dem guten Leben, zugleich begründet sich darin aber auch die Unmöglichkeit ihrer Beantwortung49. Etwas Drittes, das diese Spannung auflösen könnte, gibt es nach Wolf nicht. Deswegen lehnt sie die Suche nach einer Bestimmung des guten Lebens als Aufgabe der Philosophie ab50. Stattdessen stellt sie die wissenschaftliche Frage »Wie sollte ich als ein so konstituiertes Wesen in einer so konstituierten Welt leben?«51 und sieht die Aufgabe der Philosophie in der Klärung der beiden »Sos«. Diese Strukturuntersuchung der Frage führt nach Wolf, wenn sie direkt aus der existentiellen Spannung hergeleitet wird, zu einer aporetischen Auffassung von Philosophie ohne Antworten wie in den Frühdialogen Platons52. Diese Dialoge geben das sokratische Nicht-Wissen wieder. In seinen späteren Werken hat Platon nach Wolf außerdem dargestellt, dass der Mensch nur innerhalb einer guten Gesamtordnung glücklich werden kann. Diese Ordnung sei für uns als ein vollkommenes Gutes aber unerkennbar, obwohl wir grundsätzlich darauf bezogen bleiben. Angesichts dieser existentiellen Spannung besteht in Wolfs Augen die Gefahr, in harmonisierende, metaphysische Systeme zu flüchten, die aber bloße Scheinlösungen darstellen. Diese Flucht kann nur dadurch vermieden werden, dass man sich innerhalb der Philosophie ausschließlich auf die Artikulation der Frage konzentriert und die Suche nach einer Antwort aufgibt53. Zugleich erkennt Wolf allerdings an, dass die Frage nach einem guten Leben in der Alltagspraxis subjektiv beantwortet werden muss, da der Einzelne sonst handlungsunfähig wird. Die aus möglichen subjektiven Antworten resultierenden Lebensentwürfe darzustellen, betrachtet Wolf aber stärker als eine Aufgabe der Literatur und nicht der wissenschaftlichen Philosophie54. Denn als Wissenschaft müsste die Philosophie eine allgemeingültige Antwort bieten, die nicht möglich sei. Die skeptische Reaktion fällt also in Bezug auf die Lebensführung auf die anfänglich kritisierte sub-

48 49 50 51 52 53 54

Vgl. Wolf 1998, S. 32 f. Vgl. Wolf 1998, S. 34 f. Vgl. Wolf 1998, S. 36; Wolf 1999, S. 19–22. Wolf 1998, S. 42. Vgl. Wolf 1998, S. 43; Wolf 1999, S. 22, 31–36. Vgl. Wolf 1998, S. 43. Vgl. Wolf 1998, S. 38.

D. Schlussfolgerungen für die vorliegende Untersuchung

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jektivistische Position zurück und leugnet damit die von den anderen Positionen ernst genommene Orientierungsfunktion der Philosophie. Wolf reduziert das Problem des guten Lebens auf die Unvereinbarkeit von Wünschen und Können. Diese Gegensätzlichkeit innerhalb des Menschen verhindere das vollkommene Glück grundsätzlich. Sie sei unüberwindbar, weil sie in der menschlichen Existenz oder eben in der menschlichen Natur angelegt sei. Wenn man das Problem des guten Lebens auf das grenzenlose Streben nach vollständiger Wunscherfüllung vor dem Hintergrund begrenzter Möglichkeiten reduziert, ist eine Lösung in der Tat undenkbar. Diese Reduktion setzt aber das unreflektierte subjektivistische Wunschprinzip als richtiges Glücksverständnis voraus und konstatiert anschließend die empirische Schwierigkeit seiner Umsetzung. Wie sich bei der Diskussion der subjektivistischen Beiträge zeigte, besteht das Problem des Menschen aber nicht erst in einem Konflikt zwischen Wünschen und Können. Wünsche selbst sind in Bezug auf das Glück ambivalent, ebenso wie das Können selbst, bspw. im Sinne vernünftiger Selbstbestimmung. An der subjektivistischen Position zeigte sich also ein viel tiefergehenderes Problem als Wolf anführt. Man könnte angesichts der Uneindeutigkeit sowohl des Wünschens als auch des Könnens davon sprechen, dass der Einzelne sich zunächst als bloße Möglichkeit zu einem guten Leben darstellt, die eines ausrichtenden Dritten bedarf. Ein solcher Maßstab könnte die grenzenlosen Wünsche begrenzen und die begrenzten Fähigkeiten des Menschen fokussieren, so dass sie auf einem bestimmten Gebiet zur Höchstform entwickelt werden könnten. Der von Wolf dargestellte Konflikt könnte also entschärft werden, weil auf diese Weise jeder Konfliktpol für sich an Eindeutigkeit gewinnen würde. Die objektivistischen Beiträge diskutieren denn auch verschiedene Varianten eines solchen Maßstabs der individuellen Lebensführung. Hierbei zeigte sich die Schwierigkeit, dass der Mensch zwar durchaus einen Maßstab für sich entwerfen kann, seine Eindeutigkeit aber nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden darf. Es fehlte an Wegen, die Richtigkeit des Maßstabsbegriffs zu prüfen und zu begründen.

D. Schlussfolgerungen für die vorliegende Untersuchung 1. Die zugrunde gelegte Struktur eines guten Lebens Betrachtet man die aktuelle Diskussion im Ganzen, dann beginnt sie mit einer Kritik an der unreflektierten subjektivistischen Position, versucht die Schwierigkeiten dieser Position auf verschiedene Weisen zu überwinden und fällt durch den skeptischen Rückzug auf diese Position zurück. Beweist diese argumentative Kreisbewegung die Sinnlosigkeit aller philosophischen Versuche, den Grund des guten Lebens zu verstehen? Wie schon dargestellt, ist der skeptische Rückzug vorschnell und unzureichend

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I. Die Begründung des guten Lebens in der gegenwärtigen Philosophie

begründet. Bei näherer Betrachtung wird eine von allen Positionen zugrunde gelegte Struktur deutlich, die bei der Begründung eines guten Lebens weiterführen kann. Alle Autoren beschreiben eine problematische Ausgangslage des Menschen, zu der er ein richtiges Verhältnis gewinnen muss, um ein gutes Leben zu führen. Es ist entweder die Ambivalenz seiner Wünsche, die Vernachlässigung seiner Natur oder der prinzipielle Konflikt zwischen seinen Wünschen und seinem Können, die den Menschen an einem guten Leben hindern. Ein gutes Leben könnte erreicht werden, wenn er sich als Quelle der Wünsche reflektiert oder seine Natur verwirklicht. Damit würde er jeweils ein richtiges Verhältnis zu seiner Ausgangslage einnehmen. Da die Ausgangslage jeweils eine Beschaffenheit des Menschen als Individuum oder als Gattung ist, kann das Verhältnis dazu präziser als ein Selbstverhältnis des Menschen bezeichnet werden. An der aktuellen Diskussion kann damit zweierlei eingesehen werden. Betrachtet man die Bestimmung des guten Lebens über die Positionsgrenzen hinweg, dann kann erstens das gute Leben begrifflich gefasst werden als ein Leben, in dem der Einzelne seine individuellen subjektiven Wünsche erfüllt und zugleich seine überindividuellen objektiv menschlichen Fähigkeiten verwirklicht. Es gibt keinen grundsätzlichen Widerspruch zwischen diesen Aspekten des menschlichen Lebens. Das Problem betrifft vielmehr die innere Begründung der Wunscherfüllung ebenso wie der Vermögensverwirklichung. Beide Aspekte des menschlichen Lebens bedürfen eines tragenden Grundes, der es dem Menschen ermöglicht, die innere Ambivalenz zu überwinden. Deswegen muss zweitens festgehalten werden, dass der Grund eines guten Lebens zwar offensichtlich in einem Selbstverhältnis des Menschen besteht; es aber ungeklärt ist, welches Selbstverhältnis das richtige ist. Ein richtiges Selbstverhältnis hätte die Aufgabe, die Auswahl der Wünsche zu begründen, sodass bei deren Erfüllung keine Enttäuschung mehr eintritt und sie einander nicht mehr widersprechen. Zugleich müsste es die Verwirklichung der menschlichen Vermögen zu seinem Besten lenken. Bei der Begründung der Lebensführung kann es also nicht in erster Linie darum gehen, welche Wünsche und Vermögen konkret verwirklicht werden sollen. Stattdessen muss zuerst geklärt werden, mit welcher Begründung eine solche Verwirklichung überhaupt gelingen kann. Eine philosophische Begründung eines guten Lebens muss folglich erstens den Mangel der menschlichen Ausgangslage aufzeigen und zweitens darlegen, wie der Einzelne diesen Mangel überwinden kann. Sie sollte verdeutlichen, wie ein Mensch den Übergang von einem falschen Selbstverhältnis zu einem richtigen Selbstverhältnis vollziehen kann.

D. Schlussfolgerungen für die vorliegende Untersuchung

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2. Rückgang zu den ideengeschichtlichen Wurzeln Die Gemeinsamkeit der aktuellen Positionen erlaubte eine Spezifizierung des Forschungsvorhabens; die Unterschiede dieser Positionen sollen dabei helfen, die eigene Herangehensweise an diese Frage zu bestimmen. Die Antworten unterscheiden sich darin, welche Aspekte des menschlichen Lebens sie als glücksrelevant betonen. Bei dem Ansatz des reflektierten Subjektivismus wird die individuelle Dimension des Menschen reflektiert, bei dem objektivistischen Ansatz die überindividuelle Dimension und bei dem skeptischen das Verhältnis beider Dimensionen zueinander. Mit diesen Vorentscheidungen gehen bestimmte Voraussetzungen einher, die an unterschiedliche philosophische Traditionen anknüpfen. In der subjektivistischen Lösung sind zwei kantische Elemente enthalten: erstens die transzendentale Reflexion als Aufklärungsmittel und zweitens die Vernünftigkeit als Kriterium der anschließenden Bewertung der Wünsche55. Die objektivistische Lösung verfährt auf traditionell aristotelischem Erkenntniswege, indem einerseits empirisch vorgefundene Lebensweisen auf das Gemeinsame hin analysiert werden und andererseits angenommen wird, jeder habe schon zureichende Vorstellungen vom Guten56. Die skeptische Reaktion bezweifelt die Möglichkeit eines Wissens vom guten Leben prinzipiell und will sich damit der sokratischen Infragestellung des menschlichen Wissens anschließen57. Neben diesen recht eindeutigen Selbsteinordnungen, gibt es auch Versuche, mehrere Denker zu vereinbaren58. Die aktuellen Vertreter der jeweiligen Position sehen sich zwar in einer Tradition mit Sokrates/Platon, Aristoteles oder Kant, versuchen aber, deren Systeme aktuellen Fragestellungen anzupassen und Probleme, die sie bei ihrem geistigen Vorgänger sehen, zu beheben. Auf diese Weise wird der systematische Kern einer Position

Hossenfelder setzt sich explizit gegen aristotelische Begründungsansätze in der Ethik ab und stellt sich methodisch in die kantische Tradition, obwohl er sich inhaltlich gegen eine kantische Sollensethik entscheidet (vgl. Hossenfelder 2000, S. 7–15, 35–44). 56 Nussbaum verdeutlicht schon im Untertitel ihres Aufsatzes »Zur Verteidigung des aristotelischen Essentialismus«, in welcher Tradition sie steht. Eine ausführliche Darstellung ihrer Art, auf Aristoteles zurückzugreifen, findet sich in ihren Texten mehrfach (vgl. bspw. Nussbaum 1998, S. 201 f.). 57 Wolf beruft sich, wie schon oben dargestellt, explizit auf Sokrates /Platon als den ersten Philosophen, der erstens die Frage nach dem guten Leben existentiell gestellt hat (vgl. Wolf 1999, S. 22, 31 f.) und zweitens in den Dialogen wiederholt aufgezeigt hat, dass das menschliche Wissen vom Guten stets täuschungsanfällig ist (vgl. ebd. S. 17, 32–36). Sokrates /Platon gilt damit für Wolf als Begründer ihrer skeptischen Haltung. 58 Höffe bspw. will die gängige Trennung von Glücks- und Pflichtenethik und damit zwischen Aristoteles und Kant überwinden, indem er auf der Basis einer Handlungstheorie die gemeinsame Wurzel beider Ethikarten nachzuweisen versucht (vgl. Höffe 2007, S. 9–15). 55

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I. Die Begründung des guten Lebens in der gegenwärtigen Philosophie

übernommen und zugleich mit modernen Aspekten überformt59. Um die Grundmöglichkeiten des Menschen, ein Selbstverhältnis einzunehmen, zu untersuchen und dabei die Untersuchung in einem überschaubaren Rahmen zu gestalten, soll in der vorliegenden Arbeit auf den systematischen Kern der jeweiligen Positionen zurückgegriffen werden. Dieser Kern ist von den Denkern Kant, Aristoteles und Sokrates/ Platon paradigmatisch ausgearbeitet worden. Da sie bei der Einführung eines Paradigmas ihre Position gegen die geltende Überzeugung begründen mussten, kann man annehmen, dass die jeweilige Grundposition mitsamt ihrer Begründung von ihnen besonders deutlich ausgearbeitet wurde. Deswegen soll die Frage nach dem Grund des guten Lebens stellvertretend an diese drei Denker gestellt werden.

3. Strukturierter Nachvollzug und Systemvergleich Wie oben erwähnt, treffen die Vertreter der drei aktuellen Positionen eine Vorentscheidung bezüglich der Relevanz einer Dimension des menschlichen Lebens für das Gelingen dieses Lebens. Da eine ähnliche Vorentscheidung zu einer voreingenommenen Betrachtung der Konzeptionen führen und die geplante Untersuchung überflüssig machen würde, will ich auf eine solche Vorentscheidung verzichten. Ob eine Konzeption den anderen überlegen ist, soll erst im Anschluss an einen strukturierten Nachvollzug der jeweiligen Position im Vergleich der Positionen untersucht werden. Die gesamte Arbeit gliedert sich dazu in drei Untersuchungsschritte. Der erste Untersuchungsschritt ist der systematische Nachvollzug der philosophiegeschichtlichen Konzeptionen mit dem Ziel, den Kern der jeweiligen Bestimmung des guten Lebens zu erarbeiten. Der Gedankengang des Autors wird dabei in seinen wesentlichen Argumentationsschritten rekonstruiert. Dieses Vorgehen hat Fröhlich (2007) als »kognitive Reproduktion« bezeichnet60. Entgegen der Reihenfolge der Positionen in der Gegenwartsdebatte werde ich mit dem sokratischen Verständnis des guten Lebens beginnen und mich in der Philosophiegeschichte vorarbeiten. Diese Reihenfolge entspricht der inneren Sachlogik und ermöglicht, interne Bezüge der Autoren angemessen zu berücksichtigen. Der zweite Untersuchungsschritt ist eine systemimmanente Prüfung des erarbeiteten Kerns. Da auf eine eigene Positionierung im Voraus verzichtet wird, bleiben

Höffe hat bspw. sehr einleuchtend dargestellt, wie stark aktuelle Beiträge sich wiederholt auf Aristoteles oder Kant berufen, ohne sich mit diesen Denkern intensiv auseinanderzusetzen. Er fordert deswegen, um diese Tendenz der verkürzten Wahrnehmung der eigenen Vordenker aufzuhalten, »hinter die Aristotelismen zu Aristoteles und hinter die Kantianismen zu Kant zurückzukehren« (Höffe 2010, S. 279). 60 Vgl. Fröhlich 2007, S. 20–23. 59

D. Schlussfolgerungen für die vorliegende Untersuchung

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nur die Kriterien des jeweiligen Autors, um seine Bestimmung zu beurteilen. Es soll überprüft werden, ob die Lösung des Autors seinen eigenen, bei der Problemstellung formulierten Kriterien genügt. Zugleich weist dieser Untersuchungsschritt auf den dritten Teil voraus. Der dritte Untersuchungsschritt ist die vergleichende Betrachtung der Prüfungsergebnisse. Hier sollen die Zusammenhänge der untersuchten Positionen erarbeitet werden. Das Ziel des Vergleiches besteht darin, beurteilen zu können, ob eine Position den anderen überlegen ist und wie sie auf die Schwierigkeiten der Vorgänger reagiert. In diesem Arbeitsschritt kann auch untersucht werden, ob die Nachfolger die von ihren Vorgängern aufgeworfenen Probleme lösen können. In einem abschließenden Vergleich aller drei Denker soll am Ende der Untersuchung zur Forschungsfrage Stellung genommen und der Beitrag der vorliegenden Arbeit zur gegenwärtigen Diskussion dargestellt werden.

II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

A. Einleitung 1. Sokrates’ Glücksverständnis aus der Sicht aktueller Forschung In der Diskussion des guten Lebens nach Sokrates/Platon ist die Textgrundlage sehr heterogen. Zumeist werden kleinere Passagen aus verschiedenen Dialogen (Apologie, Euthydemos, Kriton u. a. m.) zueinander in Beziehung gesetzt, was teilweise zu der Einschätzung führt, das sokratische Glückskonzept sei inkonsistent61. Dieses Vorgehen erscheint angesichts der Dialogform als problematisch. Denn im Verlauf eines Dialogs diskutiert Sokrates oftmals Positionen aus sehr unterschiedlichen Gründen, bspw. um einen Einwand zu verdeutlichen, um eine Frage zu motivieren oder weil der Partner diese Position vertritt, manchmal aber auch, weil er diese Position für richtig hält. Warum eine Position durchdacht wird, ist also von dem Argumentationszusammenhang des jeweiligen Dialogs abhängig62. Wenn nun Äußerungen über das gute Leben oder das Glück aus verschiedenen Dialogen herausgegriffen und in einen neuen Zusammenhang gestellt werden, ohne dass der ursprüngliche Zusammenhang dieser Äußerungen berücksichtigt wird, dann ist die scheinbare Unvereinbarkeit der Aussagen nicht verwunderlich. Einen gänzlich anderen Ansatz zum Verständnis des platonischen Werkes im Ganzen und des darin vorgeführten sokratischen Lebens wählt Zehnpfennig (2001). Sie betrachtet den Aufstieg zur Erkenntnis des Guten als Zentrum des platonischen Werkes63. Dieser wird in den sokratischen Prüfungsgesprächen verwirklicht und ist für das Verständnis von Sokrates’ Denken und Leben von großer Bedeutung64. So-

Vgl. bspw. Annas 1993. Sehr anschaulich wird dieses Problem bei der berühmten Formel »Seiniges Tun«. Im Dialog Charmides wird diese Formel als eine Bestimmung der Besonnenheit diskutiert und verworfen, da kein begründetes Verständnis dieser Phrase vorgebracht wird. In der Politeia (IV, 433e–434a; 441d/e) wird dieselbe Formel von Sokrates als die Bestimmung der Gerechtigkeit eingeführt, ohne dass die Probleme aus dem Charmides (161b–162b) reflektiert werden. Allerdings weist Sokrates darauf hin, dass die vorgebrachten Tugendbestimmungen ohne die Erkenntnis des Guten unverstanden und nutzlos sind (Politeia, IV, 435d; VI, 504b–505b). Hier wird also eine vordergründig identische Position in verschiedenen Zusammenhängen gänzlich anders behandelt, was ohne den Rückgriff auf den jeweiligen Gesprächszusammenhang unverständlich bleibt. 63 Vgl. Zehnpfennig 2001, S. 15. 64 Vgl. Zehnpfennig 2001, S. 63. 61 62

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

krates selbst ordnet seinen prüfenden Gesprächen über die Tugend in der Apologie 65 ebenfalls eine grundlegende Aufgabe zu. In der Apologie verteidigt Sokrates seine Lebensführung mit der Begründung, sie sei die einzig lebenswerte und gute Lebensform. Im Gegensatz zu seinen Mitbürgern hat Sokrates eingesehen, dass er das Gute nicht weiß66. Deswegen hat er sein Leben suchend verbracht und jedes vermeintliche Wissen vom Guten in Gesprächen geprüft. Seine Lebensführung begründet er mit der Einsicht, »dass ja eben dies das größte Gut für den Menschen ist, täglich über die Tugend sich zu unterhalten und über die anderen Gegenstände, über welche ihr mich reden und mich selbst und andere prüfen hört, ein Leben ohne Selbsterforschung aber gar nicht verdient gelebt zu werden«67. In der Forschung zum sokratischen Verständnis des guten Lebens wird Sokrates’ Aussage über die Prüfungsgespräche aber oftmals übersehen oder nicht für wesentlich gehalten. Wolf (1996) deutet zwar das Standhalten in der Prüfung als Sokrates’ Bestimmung des guten Lebens, aber nur als eine Art zweite Wahl68. Sokrates’ Bekundung des Nichtwissens ist für sie ein Beweis für die Unerkennbarkeit des Guten. Da das Gute trotz großer Anstrengung unerkennbar bleibe, fehlt laut Wolf ein Motiv für das mühevolle, prüfende Leben. Sie nimmt damit nicht zur Kenntnis, dass Sokrates in der Apologie keinerlei Relativierung seiner Lebensführung erwähnt, sondern seiner Sache vollkommen sicher ist. In seiner zweiten Verteidigung nun nicht mehr vor Gericht, sondern vor seinen engsten Freunden im Phaidon wiederholt er mehrfach seine Mahnung zur philosophischen Sorge um die Tugend69. Dies sei die richtige Art zu leben und seine Rechtfertigung der Gelassenheit vor dem Tode70. Von einer Skepsis, wie Wolf sie Sokrates zuschreibt, findet sich auch im Phaidon keine Spur. Insgesamt wird in der Forschung zur sokratischen Glückskonzeption das Verhältnis von Glück und Tugend anhand der oben genannten Textausschnitte problematisiert. Wobei noch zu bemerken ist, dass sich zahlreiche Beiträge im Allgemeinen mit dem Verhältnis von Philosophie und Lebensführung bei Platon und Sokrates beschäftigen71. Ich stelle etwas vereinfacht nur die engere Forschungsdiskussion zum Glück dar, um einen Überblick über die Ideen zum Glücksbegriff selbst zu geben.

65 Es wird folgende Textausgabe zugrunde gelegt: Platon, Werke in acht Bänden, gr.-dt., hg. v. G. Eigler, bearb. v. H. Hofmann, übers. v. F. Schleiermacher, Darmstadt 2005. 66 Vgl. Apologie 21d. 67 Apologie 38a. 68 Vgl. Wolf 1996, S. 49 f. 69 Vgl. Phaidon 61b, 69a–e, 91b–c, 107b–c, 114c–e. 70 Vgl. Phaidon 69a–e. 71 Vgl. bspw. Heitsch 1994.

A. Einleitung

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Anderenfalls würde die Auseinandersetzung den Rahmen dieser Arbeit deutlich überschreiten. Glück und Tugend, insbesondere die Weisheit, bilden ausgehend vom Euthydemos die beiden Grundbegriffe der Glücksdebatte. Hier wird hauptsächlich die Argumentation zur Abhängigkeit des Glücks von der Weisheit zugrunde gelegt72. Glück und Tugend werden in der Diskussion entweder gleichgesetzt oder in einem Bedingungsverhältnis gesehen. Eine Richtung sieht Tugend und Glück als identisch an, weil Glück anderenfalls unbestimmt bleiben würde und Sokrates’ Äußerungen in der Apologie und im Kriton dies zusätzlich zum Euthydemos nahe legen73. Sowohl Tugend als auch Glück werden innerhalb dieser Deutung als Arten des Wissens verstanden. Das Tugend- und Glückswissen wird als das erreichbare philosophische Wissen bezeichnet, das über das Wissen vom Guten hinausgeht. Tugend wird also unabhängig von einer Erkenntnis des Guten gedacht. Letztere sei für das Glück bloß instrumentell74. Worin das Tugendwissen selbst besteht, wird nicht geklärt, so dass das Glück trotz Gleichsetzung mit der Tugend letztlich unbestimmt bleibt. Alternativ wird innerhalb dieser Deutungsrichtung die Identität von Tugend und Glück aus einer skeptischen Haltung heraus gelesen. Die Tugend wird hierbei auf die Erkenntnis des Guten zurückgeführt, die für den Menschen aufgrund seines begrenzten Erkenntnisvermögens unerreichbar sei. Ohne diese Erkenntnis sind allerdings sowohl die Tugend als auch das Glück schlechthin unerkennbar und unerreichbar75. In der anderen Forschungsrichtung werden Tugend und Glück mit besonderem Verweis auf die genannte Stelle im Euthydemos unterschieden, weil Sokrates dort davon spricht, dass das Glück durch den richtigen Gebrauch der Güter entsteht. Zum einen wird innerhalb dieser Deutung die Tugend als eine notwendige, aber nicht hinreichende Glücksbedingung aufgefasst76. Wobei das Glück als gutes Handeln verstanden wird, dem die Tugend als Haltung bloß zugrunde liegt77. Für diesen Vollzug der Tugendhaltung bedarf es noch weiterer Güter. Alternativ wird innerhalb dieser Forschungsrichtung die Tugend als eine hinreichende, aber nicht notwendige Glücksbedingung aufgefasst. In diesem Fall wird das Glück weitestgehend als ein lustvoller

Vgl. Euthydemos 278e–282d. Darin zentral: »Die Weisheit ist ja eben gutes Glück« (Euthydemos, 279d). »Da wir glückselig zu sein alle streben und sich gezeigt hat, dass wir dies werden durch den Gebrauch der Dinge, und zwar den richtigen Gebrauch, diese Richtigkeit aber und das glückliche Gelingen uns die Erkenntnis zusichert, so muss demnach, wie man sieht, auf jede Weise ein Mensch dafür sorgen, dass er so weise werde als möglich« (Euthydemos, 282a). 73 Vgl. bspw. Senn 2005. 74 Vgl. bspw. Senn 2005. 75 Vgl. bspw. Wolf 1996. 76 Vgl. bspw. Brickhouse/Smith 1987. 77 Vgl. bspw. Dimas 2002. 72

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

Zustand verstanden. Da auch andere Güter diesen Zustand steigern, ohne zur Tugend beizutragen oder auf sie angewiesen zu sein, hängten Glück und Tugend nicht notwendig zusammen78. Inhaltlich an Vlastos anknüpfend stellt Santas (1993) fest, dass die Schwierigkeiten innerhalb der Diskussion zum sokratischen Glücksverständnis darin begründet sind, dass Sokrates das Gute nicht mit der Lust gleichsetze. Santas behauptet damit, dass das Glück und das Gute zwar als Lust zu verstehen sind, Sokrates dies aber nicht getan hat. Was Sokrates stattdessen unter dem Glück und dem Guten versteht, bleibt unklar. Geht man Santas’ Kritik nach und rezipiert die Forschung zum sokratischen Begriff des Guten, so muss man feststellen, dass die Forschung zum sokratisch-platonischen79 Verständnis des Guten weitgehend theoretisch ausgerichtet und unabhängig von der stärker praktisch-existentiellen Diskussion des sokratischen Verständnisses des glücklichen und guten Lebens ist. Diese Ausrichtung wird vor allem an der jeweiligen Deutung der sokratischen Prüfung im Verhältnis zur Erkenntnis des Guten erkennbar. Dieses Verhältnis ist für die Frage nach dem sokratischen Verständnis des guten Lebens relevant, weil Sokrates selbst nur das geprüfte Leben für lebenswert erachtet80. Nach seiner Selbstsicht gehören also der Tugenddialog und das gute Leben zusammen. Bei der Frage nach dem Guten lassen sich nun weitgehend zwei Forschungszweige festhalten. Innerhalb der einen Forschungsrichtung wird das Gute für prinzipiell unerkennbar erklärt. Es werden verschiedene Gründe für die Unerkennbarkeit vorgebracht. Das Gute als höchste Abstraktionskategorie sei zum einen nicht mehr definierbar, weil keine allgemeinere Kategorie zur Definitionsbildung zur Verfügung stehe81. Oder die Aussagen über das Gute könnten aufgrund der Situationsabhängigkeit des Ausdrucks niemals als richtig bewiesen, sondern nur als falsch widerlegt werden82. Oder, wie schon oben dargestellt, das menschliche Erkenntnisvermögen sei zu begrenzt. Denn das Gute sei, weil es das Lebensganze betreffe, ein so umfassender Sachverhalt, dass es nicht Gegenstand einer Wissenschaft sein könne83. Ferber deutet die sokratische Prüfung dabei als ein Abstraktionsverfahren, das auf eine Definition zielt. Die DefiVgl. bspw. Vlastos 1984. Ich unterscheide sachlich zunächst nicht zwischen Sokrates und Platon, sondern verwende die beiden Namen zur Kennzeichnung von Textautor und Sprecher. An der Forschungsliteratur zu den Tugenddialogen (vgl. Kapitel II, B zum Charmides) wird schnell deutlich, dass der sachliche Unterschied zwischen Sokrates und Platon nach wie vor umstritten und unentschieden ist. Da ich also Sokrates und Platon zunächst als Vertreter der gesamten im platonischen Werk entfalteten Konzepte ansehe, ziehe ich bei der Wiedergabe des Forschungsstands auch solche Literatur heran, die sich selbst als Erforschung nur des platonischen Guten versteht. 80 Vgl. Apologie 38a. 81 Vgl. bspw. Ferber 1989. 82 Vgl. bspw. Stemmer 1992b. 83 Vgl. bspw. Wolf 1996. 78 79

A. Einleitung

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nition könne nicht erreicht werden, weil das Gute selbst den Hintergrund allen Definierens darstelle. Stemmer hingegen sieht in der Prüfung ein Widerlegungsinstrument, das zu einer endlosen Annäherung an die Wahrheit führt. Der Tugenddialog könne dabei höchstens zu Aussagen führen, die in dem konkreten Prüfungsdurchgang mit den konkreten Gesprächspartnern nicht falsifiziert wurden. Die Richtigkeit einer Aussage wäre damit stets völlig an diese Konstellation gebunden und hätte nur relative Gültigkeit. Laut Wolf geht es im Tugenddialog nur um ein methodisches Wissen, das man heranziehen kann, um konkrete Handlungsentscheidungen im Einzelfall zu treffen. Die andere Forschungsrichtung hält das Gute für erkennbar. Bei der Frage, auf welche Weise es erkannt werden kann, werden dabei unterschiedliche Ansichten vertreten. Eine Möglichkeit sei die materiale Einsicht durch eine intuitiv-schauende Erfahrung. Dabei wird das Gute als höchstes Prinzip schlechthin jenseits der Rationalität angesiedelt und als prinzipiell unsagbar verstanden84. Alternativ sei es im Anschluss an die intuitive Schau begrifflich als Einheit fassbar85. Die andere Strömung innerhalb dieser Forschungsrichtung sieht nur eine formale Erkenntnis des Guten als möglich an. Durch rationales Schließen auf die Bedingungen des Erkennens überhaupt solle das Gute als Begründungsprinzip erkannt werden86. Albert und Szlezák sehen in der sokratischen Prüfung dabei eine Vorbereitung der Schau, die zur Einsicht führe, dass das Alltagswissen kein wahres Wissen ist. Die eigentliche Einsicht werde außerhalb des Tugenddialogs in einer mündlichen Tradition vermittelt. Für Ebert ist die Prüfung nur unter einer erkenntnistheoretischen Perspektive als mögliches Analyseverfahren bedeutsam. Eine existentielle Dimension einer solchen Einsicht wird kaum erwähnt. Die skizzierten Deutungen erklären die von Sokrates in der Apologie (38a) geäußerte, hohe Bewertung der Prüfung allesamt nicht, da entweder das Gute gar nicht erreicht oder jenseits der sokratischen Prüfung angesiedelt wird. In beiden Fällen wird das Gute als ein Wissensgegenstand behandelt, der in einer Definition begrifflich erfasst werden soll. Da ein solches Wissen in den sokratischen Prüfungsdialogen nicht gewonnen wird, scheint die erkenntniskritische Deutung gerechtfertigt zu sein. Die positiven Äußerungen über das Gute in der Apologie und in den Gleichnissen in der Politeia scheinen dagegen, für die Möglichkeit einer Erkenntnis des Guten zu sprechen und damit die zweite Deutung zu stützen. Da die Deutungsrichtungen auf entgegengesetzten Voraussetzungen beruhen, fragt sich, wie das fehlende begriffliche Wissen mit der Möglichkeit einer Erkenntnis des Guten vereinbart werden kann. 84 85 86

Vgl. bspw. Albert 1989. Vgl. bspw. Szlezák 1997. Vgl. bspw. Ebert 1974.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

Schrastetter (1989) kritisiert an der Forschung zum platonisch-sokratischen Verständnis des Guten insgesamt, dass der Aufstieg zur Erkenntnis des Guten in seiner eigentlichen Bedeutung nicht erkannt wird. Platons Rede vom Aufstieg, insbesondere in den Gleichnissen in der Politeia, verweise auf den Tugenddialog und das von Sokrates darin verwirklichte Denken, das die Erkenntnis des Guten vorführe87. Schrastetter hält das Gute also für erkennbar. Die Erkenntnis des Guten wird dabei allerdings nicht als eine Definition aufgefasst, sondern als Vollzug eines bestimmten Denkens verstanden. Der Forscher solle dieses Denken allerdings erst selbst verwirklichen und dürfe die Erkenntnis des Guten nicht voraussetzen88. Schrastetters Deutung ist damit mehr eine Aufforderung, selbst nach dieser Erkenntnis zu suchen, als eine Erklärung des sokratischen Verständnisses vom Guten. Wie der Forschungsüberblick verdeutlicht, ist das sokratische Verständnis eines guten Lebens keineswegs geklärt, so dass weiterhin Forschungsbedarf besteht. Hier soll in der sokratischen Selbstdarstellung in der Apologie nach einem Ansatz für die Klärung dieser Frage gesucht werden.

2. Sokrates’ Glücksverständnis in der »Apologie« Wie allgemein bekannt, wird in der Apologie Sokrates’ Selbstverteidigung vor dem Athener Gericht wiedergegeben. Ihm wurde vorgeworfen, die Götter zu leugnen und die Jugend zu verderben89. Er verteidigt sich einerseits, indem er die Unstimmigkeit der Anklage in sich aufzeigt, andererseits erklärt er in einem ungewöhnlich langen Monolog die eigene Tätigkeit. Nach eigener Aussage war Sokrates in seinem Leben weder ein Naturphilosoph noch ein Tugendlehrer90. Die gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe sind vielmehr die Standardvorwürfe seiner Zeit gegen unliebsame Denker. Seine Besonderheit, die den Unmut der Athener erregt hat, bezeichnet Sokrates als die menschliche Art der Weisheit91. Seine Weisheit hat Sokrates in Auseinandersetzung mit einem Spruch des Orakels von Delphi erworben. Denn das Orakel verneinte die Anfrage von Chairephon, ob es einen weiseren Menschen gebe als Sokrates. Diese Bewertung widerspricht allerdings Sokrates’ Selbsteinschätzung, so dass er den Spruch zunächst nicht zu deuten weiß. Er beschließt zu prüfen, was das Orakel meinte, indem er sich mit herausragenden Athenern unterhält, die als besonders weise gelten. Im Verlauf dieser Ge-

87 88 89 90 91

Vgl. Schrastetter 1989, S. 258. Vgl. Schrastetter 1989, S. 239. Vgl. Apologie 18b, 24b/c. Vgl. Apologie 19b–20c. Vgl. Apologie 20c–e.

A. Einleitung

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spräche erreicht Sokrates eine neue Einsicht darüber, was menschliche Weisheit und Torheit sind. Die eigene Weisheit zeigt sich ihm als Einsicht in den eigenen Mangel an Wissen vom Guten, d. h. als das berühmte sokratische Nichtwissen. Denn im Gespräch zeigt sich zwar, dass alle Gesprächspartner nicht wissen, was gut und schön ist. Sokrates bildet sich dieses Wissen im Gegensatz zu den geprüften Athenern aber auch nicht ein. Der größte Unverstand des Menschen ist damit, sich ein Wissen vom Guten einzubilden. Die Aufgabe des Menschen und seine Weisheit sieht Sokrates in der Überwindung dieses Unverstandes92. In beständiger Sorge um die Weisheit prüft er also das eigene und das fremde Wissen, um sich und auch seinen Mitbürgern Gutes zu tun. Wenn sich in der Prüfung herausstellt, dass ein Mensch sich bloß einbildet, das Gute zu wissen, dann wird er von Sokrates darauf hingewiesen und ermahnt, sich um seinen Seelenzustand zu kümmern anstatt um Vermögen oder Ansehen93. Sokrates selbst sieht sich als das beste Vorbild für ein Leben in ausschließlicher Sorge um die Seele. Er ist arm, strebt keine politischen Ämter an, unterstellt sich jederzeit dem Recht94 und verbringt sein Leben allen Hindernissen zum Trotz suchend, in fortwährender Prüfung. Zusammenfassend erklärt er, »dass ja eben dies das größte Gut für den Menschen ist, täglich über die Tugend sich zu unterhalten und über die anderen Gegenstände, über welche ihr mich reden und mich selbst und andere prüfen hört, ein Leben ohne Selbsterforschung aber gar nicht verdient gelebt zu werden«95. Nimmt man Sokrates’ Aussagen in der Apologie ernst, besteht das Grundproblem des Menschen in einem ungerechtfertigten Anspruch auf die Erkenntnis des Guten96. Ein Mensch, der sein Leben nach einem eingebildeten Guten ausrichtet, schadet sich potentiell selbst. Sein vermeintlicher Maßstab hilft ihm nicht, zuverlässig zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. Das Gelingen eines solchen Lebens scheint unwahrscheinlich. Das richtige Verhältnis, das der Mensch zu seinen Vorstellungen vom Guten einnehmen soll und das laut Sokrates den Grund des guten Lebens darstellt, ist die Prüfung dieser Vorstellungen97. Die sokratische Prüfung entlarvt unberechtigte Wissensansprüche und bewahrt so vor einer Selbsttäuschung. Aus dieser Perspektive stellt sich die sokratische Prüfung ausschließlich als ein Mittel dar, das den Menschen von einem unzureichenden, falschen Maßstab befreit. Sokrates’ eigene Einordnung der Prüfung als das Gute des Menschen erhebt sie aber darüber hinaus zu einem positiven Maßstab der Lebensführung. Denkt man an die überlieferten Prüfungsgespräche: Platons Tugenddialoge, die stets aporetisch 92 93 94 95 96 97

Vgl. Apologie 21a–23b. Vgl. Apologie 29d–30b. Vgl. Apologie 31b–33a. Apologie 38a. Vgl. Apologie 22d/e. Apologie 38a.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

enden, so ist zunächst unklar, was an diesen Gesprächen maßstabgebend sein kann. In den Prüfungsgesprächen bleibt kein Maßstabswissen als Ergebnis. Da Sokrates in der Apologie behauptet, das Gute nicht zu wissen, und zugleich das prüfende Gespräch über die Tugend als das höchste Gute des Menschen bestimmt, scheint er mit dem Nichtwissen kein begriffliches Wissen zu meinen. Denn ein solches wäre die Bestimmung des Guten als Prüfung. Der Wert der Prüfung scheint für Sokrates nicht in dem Wissen, sie sei das Gute, zu bestehen. Der Zusatz, ein Leben ohne Selbsterforschung sei nicht lebenswert, deutet stattdessen darauf hin, dass das Positive der Prüfung nur erreicht wird, wenn das Leben geprüft wird. Es scheint also im Vollzug zu bestehen und geht nicht im Wissen von ihr auf. Worin das Positive der Prüfung besteht und welche Art Maßstabsfunktion sie einnimmt, soll im Weiteren untersucht werden. 3. Schlussfolgerungen Sehr deutlich wird in der Apologie ausgeführt, dass das prüfende Gespräch den vorhandenen Mangel an Wissen vom Guten aufdeckt und damit den Einsichtigen vor einem Leben in Selbsttäuschung bewahrt. Unklar ist allerdings, warum diese Prüfung selbst das Gute für den Menschen sein soll. Was ist das Positive, das durch sie in ein Leben eingebracht wird? Um zu erfüllen, was Sokrates über dieses Gespräch behauptet, müsste der Prüfende das Unverständnis aufdecken und es zugleich im Gespräch überwinden. Wie das geschehen kann, ist aus der Apologie allein nicht ersichtlich. Von Platon sind allerdings diverse Gespräche überliefert, in denen Sokrates’ Gesprächspartner Behauptungen über das Gute des Menschen, die Tugend, aufstellen und von Sokrates untersucht werden. Die Dialoge dieser Gruppe zeichnen sich dadurch aus, dass das Gespräch ausschließlich eine Tugend behandelt und sein Verlauf durch die Frage »Was ist diese Tugend?« oder genauer durch die prüfende Frage »Ist das Behauptete die gesuchte Tugend?« bestimmt wird. Diese Tugenddialoge sind die niedergeschriebene Praxis der Prüfung, von der Sokrates in der Apologie nur berichtet. Um herauszufinden, was die existentiell-positive Seite der sokratischen Prüfung sein könnte und worin das gute Leben nach Sokrates besteht, scheint der Tugenddialog also eine gute Textgrundlage darzustellen. Die Dialoge, die neben der Apologie in der Forschungsdiskussion zum guten Leben nach Sokrates herangezogen werden, d. h. also Euthydemos, Kriton, aber auch die Politeia, müsste man in einem zweiten Schritt vor dem Hintergrund einer Deutung des Tugenddialogs untersuchen, um die vordergründig widersprüchlichen Aussagen in ihrem Sachzusammenhang als eine Theorie verstehen zu können. Das ist allerdings nicht das Anliegen dieser Arbeit. Hier soll die sokratische Prüfung am Tugenddialog Charmides selbst nachvollzogen und untersucht werden. Der Gegenstand der Prüfung im Charmides ist die Tugend

B. Forschungsstand zur sokratischen Prüfungstätigkeit im »Charmides«

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Besonnenheit. Sie wird als Glücksursache eingeführt und bezeichnet außerdem klassischerweise das richtige Selbstverhältnis des Menschen, so dass dieser Dialog für meine Fragestellung besonders geeignet ist. Wie sich in der einführenden Auseinandersetzung mit der aktuellen Literatur zum guten Leben zeigte, wird in der Gegenwartsdiskussion stets ein richtiges Selbstverhältnis des Menschen für ein gutes Leben verantwortlich gemacht. Im Charmides ist es aufgrund der Themenstellung neben der Analyse der sokratischen Prüfung zugleich möglich, die verschiedenen Varianten eines Selbstverhältnisses zu durchdenken. Die klassischen Verständnisse des richtigen Selbstverhältnisses als eine Art Mäßigung, Selbstbeherrschung oder -beschränkung bis hin zur Selbstkenntnis werden von Sokrates im Gespräch untersucht, so dass schon auf den ersten Blick scheinbar alle Möglichkeiten diskutiert werden. Da die als Antworten vorgebrachten Selbstverhältnisse sich an dem fragend-prüfenden Selbstverhältnis zu bewähren versuchen, kann am Dialog auch ein Vergleich der Positionen stattfinden. In erster Linie gilt es in diesem Arbeitsschritt allerdings den Gedankengang der Prüfung nachzuvollziehen, um ihre sokratische Seite herauszuarbeiten. Bevor allerdings eine neue Deutung versucht wird, soll einführend der Forschungsstand zum Charmides dargestellt und diskutiert werden.

B. Forschungsstand zur sokratischen Prüfungstätigkeit im »Charmides« 1. Überblick Wie bei einem Denker von der Bedeutsamkeit Platons nicht anders zu erwarten ist, gibt es zu seinem Gesamtwerk eine nahezu unüberschaubare Fülle an Forschungsliteratur98. Auch zu dem von mir ausgewählten Tugenddialog Charmides finden sich zahlreiche Aufsätze und Monographien99. Eine intensive Auseinandersetzung mit jedem der vorhandenen Forschungsbeiträge würde den Rahmen dieser Arbeit eindeutig überschreiten. Ich werde die Literatur deswegen zusammenfassend in Grundpositionen betrachten. Diese Grundpositionen werden exemplarisch an einigen ihrer Vertreter diskutiert. Die Diskussion von Einzelargumenten, die wiederholt Anlass zu Kontroversen bieten100, soll zugunsten eines Überblicks über die Deutungsrich98 Erler (2007) bietet eine eindrucksvolle Übersicht über die Platonforschung in ihrer Fülle und zwar sowohl in Bezug auf die Vielfalt der Fragestellungen als auch die Menge der Forschungsarbeiten zu diesen. Ähnlich auch Horn (2009). 99 Erler (2007) bspw. listet in seiner Auswahl der Forschungsliteratur zum Charmides ca. 60 Titel auf. Es lassen sich aber durchaus weitere, von ihm nicht aufgeführte Titel finden. 100 Ein gutes Beispiel stellt eine Textstelle in der Mitte des Dialogs dar (Charmides 165c–166c). Der Übergang von Kritias’ Ausdeutung der Selbsterkenntnis von einer Erkenntnis seiner selbst zu der Erkenntnis ihrer selbst wird heftig diskutiert. M. E. entsteht in diesem Fall ein Großteil

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

tungen und deren Zusammenhänge zurückgestellt werden. Aus demselben Grund werden Aufsätze, die ein oder mehrere Einzelargumente des Dialogs diskutieren oder ein Thema aus dem Gesamtzusammenhang herausgreifen, nicht ausführlich besprochen. Bei der Literaturauswahl liegt das Gewicht also auf Dialoggesamtinterpretationen, insbesondere aber wähle ich Beiträge aus, die die Bedeutung der sokratischen Prüfung selbst thematisieren. Die Frage an die Forschungsliteratur ergibt sich aus meiner Forschungsfrage. Da anhand des Tugenddialogs Charmides untersucht werden soll, wie Sokrates’ Behauptung, der Tugenddialog sei das Gute des Menschen, zu verstehen ist, rückt Sokrates’ Tätigkeit im Dialog in den Vordergrund meines Dialognachvollzugs. Allgemein lässt sich sagen, dass der Großteil der Forschungsliteratur diesen Fokus auf die sokratische Denkleistung nicht teilt, sondern den Dialog als eine Art Traktat liest, in dem es nur wenig bedeutet, welcher Gesprächsteilnehmer etwas sagt. Insgesamt lassen sich die Forschungsbeiträge drei Richtungen zuordnen101. Die erste Forschungsrichtung102 versteht den Tugenddialog als eine reinigende, kritische Vorbereitung auf eine inhaltliche, wahre Lehre über die Tugend, die zwar im Tugenddialog selbst nicht enthalten ist, aber in den späteren Dialogen entfaltet wird. Die Vertreter dieser Richtung sind sich nicht ganz einig darüber, ob Sokrates schon über eine Lösung des diskutierten Problems verfügte oder ob erst Platon diese gefunden hat. Insgesamt wird der Tugenddialog trotzdem als eine Begriffskritik verstanden. Die zweite Forschungsrichtung103 versteht den Tugenddialog nicht primär als eine inhaltliche Begriffskritik, sondern vielmehr als eine Reflexion der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und -methode. Innerhalb dieser Richtung gibt es einerseits Vertreter, die die Vermögensreflexion ausschließlich begrenzend deuten, andererseits aber auch solche, die im Dialog auch eine konstruktive Komponente sehen. Der

der Schwierigkeiten dadurch, dass der Übergang ohne Bezugnahme auf das Dialogganze und den unmittelbaren Zusammenhang der Untersuchung analysiert wird. 101 Je nach Fragestellung lässt die Debatte mit anderer Gewichtung ordnen. Eine etwas andere Ordnung der Deutungsrichtungen zur platonischen Dialektik als eine mögliche Deutung des Tugenddialogs allgemein ist bspw. bei Gonzalez (1998, S. 1–13) nachzulesen. Er sortiert die Debatte seit Schleiermacher, indem er aufzeigt, welches Verhältnis die verschiedenen Deutungsrichtungen zu den beiden Grundprämissen der Platondeutung durch Schleiermacher einnehmen. Die beiden Prämissen sind erstens die Einheit von Werkform und Inhalt und zweitens die Auffassung, Platons Philosophie sei ein theoretisches System. Nach Gonzalez muss die zweite Prämisse aufgegeben werden, wenn man die erste ernst nimmt. Denn dann zeige sich ein nichtpropositionales Verständnis von Philosophie, das Platon vertreten habe. 102 Bspw. Adamietz (1969), Witte (1970), Bloch (1973), Detel (1974), Müller (1976), McKim (1985), Szlezák (1985), Kahn (1988 & 1996), Erler (1996), Vorwerk (2001). 103 Bspw. Hyland (1981), Gloy (1986), Wolf (1996), Carone (1998), Stalley (2000), Benson (2003), Heitsch (2004), Schmidt (2006), Sue (2006).

B. Forschungsstand zur sokratischen Prüfungstätigkeit im »Charmides«

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Tugenddialog wird aber in erster Linie als Kritik des Erkenntnisvermögens verstanden. Die dritte Forschungsrichtung104 versteht den Tugenddialog weder als eine Begriffs- noch als eine Methodenkritik, sondern als Verwirklichung eines Denkens. Die Betonung liegt hierbei auf der überlegenen Denkleistung, die Sokrates in der Prüfung der Partnerantworten vorführt. In Bezug auf Sokrates wird der Tugenddialog in dieser Forschungsrichtung als die Verwirklichung des gesuchten richtigen Denkens verstanden. 2. Der Tugenddialog als Begriffskritik Der gemeinsame Schwerpunkt der Autoren dieser Deutungsrichtung sind die im Tugenddialog untersuchten Definitionen. Es wird konstatiert, dass die vielfältigen in der sokratischen Prüfung aufgedeckten Probleme zwar im Tugenddialog nicht aufgelöst werden, aber prinzipiell auflösbar sind. Die so genannte platonische Ideenlehre soll die Lösung enthalten. Der Grund für das Scheitern der Antworten sei die fehlende Bezugnahme auf die Ideenlehre, mit deren Hilfe eine richtige Bestimmung der Besonnenheit möglich wäre. Damit wird der Tugenddialog im Wesentlichen als eine Suche nach einer Begriffsdefinition aufgefasst105. Die Deutung der sokratischen Prüfungstätigkeit differiert innerhalb dieser Grundposition im Einzelnen in Abhängigkeit davon, ob zwischen Sokrates und Platon ein sachlicher Unterschied gesehen wird oder nicht. Wenn zwischen Sokrates und Platon unterschieden wird106, dann wird Sokrates als der ewig Fragende aufgefasst, der zwar keine Lösung gefunden, aber einen wichtigen Anfang gemacht hat. Seine Prüfungstätigkeit wird als eine Suche nach dem richtigen, beweisbaren Begriff der Tugend aufgefasst. Seine Leistung sieht man dabei darin, die rationale Diskussion ethischer Begriffe angestoßen zu haben. Die Aporie am Dialogende wird als sokratische Aporie verstanden, die Platon aber auflösen konnte. Witte (1970) sieht im Tugenddialog die vollwertige und notwendige Grundübung des philosophischen Denkens, die auf die wahre Lehre innerhalb der platonischen Akademie vorbereiten soll107. Platon selbst biete bspw. in der Politeia die dogmatische Lösung der für Sokrates unauflösbaren Schwierigkeiten und nutze den Tugenddialog Explizit beim Charmides: Zehnpfennig (1987 & 2001), Gonzalez (1998), Tarrant (2000); beim Laches außerdem: Schrastetter (1966) und Fröhlich (2007). 105 Diese Deutungsrichtung steht im Grunde in einer Tradition mit der Deutung von Aristoteles, der die sokratische Untersuchung schon damals als die Suche nach einer Definition verstand (vgl. Aristoteles, Metaphysik). 106 Vgl. bspw. Witte 1970, Bloch 1973. 107 Vgl. Witte 1970, S. 59 f. 104

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unabhängig von der sokratischen Definitionssuche zur Vorbereitung seiner späteren Lehre108. Sokrates sucht laut Witte im Tugenddialog nach einem rationalen, logisch nachweisbaren Begriff der Tugend. Diese Suche ende aporetisch. Zugleich komme in der ganzen Untersuchung sein nichtrationales Vorwissen über das Gute als Maßstab der einzelnen Bestimmungen zum Tragen109. Damit wird nach Witte die Rationalität der Tugendbestimmungen an etwas Nichtrationalem gemessen, so dass Sokrates in keiner Weise über die kritisierten, nicht rational begründeten Wertbegriffe hinausgelangt wäre. Es ist völlig unklar, inwiefern und ob überhaupt sich sein Vorwissen über das Gute von den widerlegten Vorurteilen über das Gute unterscheidet. Das Verdienst, das Witte Sokrates zuschreibt, nämlich die Ethik rationalisiert zu haben, wäre bloßer Schein, da in der Prüfung bloß ein Vorurteil gegen ein anderes, ebenso nichtrationales ausgespielt werden würde. Gänzlich unverständlich ist in einem solchen Fall Sokrates’ Souveränität im Umgang mit den Antworten seiner Gesprächspartner, insbesondere mit Kritias, den Witte vollständig auf der Ebene des rationalen Diskutierens und Definierens ansiedelt110. Die Kombination von rationaler Untersuchung mit einer nichtrationalen Grundlage ist als Deutung der sokratischen Tätigkeit im Tugenddialog höchst unplausibel und nahezu widersprüchlich. Entweder muss der Sokrates des Tugenddialogs nach etwas anderem als dem rationalen Begriff suchen, oder wenn er nach einem solchen Begriff sucht, dann bedarf seine Untersuchung einer anderen Grundlage. Bloch (1973) hat im Grunde eine zweifache Deutung des Dialoggeschehens. Zum einen werden darin falsche Ansichten über Besonnenheit widerlegt, so dass die Gesprächspartner für eine mündliche Belehrung vorbereitet werden111. Zum anderen wird besonders im Kritias-Gespräch die sokratische Vorgehensweise von Platon kritisiert und als philosophische Erkenntnismethode zurückgewiesen112. Bloch schreibt dem Tugenddialog zwar eine vorbereitende, didaktische Funktion zu, zeichnet aber ein kritisches Verhältnis von Platon zu Sokrates. Platon hätte Sokrates nicht vergöttlicht, wie Witte meint, sondern kritisiert. Ein wissender Platon benutzt nach Bloch im Tugenddialog den nichtwissenden und philosophisch gescheiterten Sokrates, um die eigene Lösung philosophischer Probleme vorzubereiten. Als Gründe des sokratischen Scheiterns führt Bloch erstens die Orientierung am Persönlichen statt an der Sache an und zweitens das Festhalten an Analogieschlüssen als Methode113. Allerdings lobt Bloch gerade bei der Deutung des Dialoganfang Sokrates’ konsequentes,

108 109 110 111 112 113

Vgl. Witte 1970, S. 75 f. Vgl. Witte 1970, S. 139–147. Vgl. Witte 1970, S. 82–84. Vgl. Bloch 1973, S. 147 f. Vgl. Bloch 1973, S. 141 f. Vgl. Bloch 1973, S. 142–143.

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sachliches Bezugnehmen auf das Wesentliche114. Mit der Untersuchung der Selbsterkenntnis geht diese Sachorientierung nach Bloch aber verloren. Es ist höchst unplausibel, dass eine Sachorientierung so leicht und grundlos aufgegeben wird, dann aber die Untersuchung fortgeführt wird, obwohl sich Kritias vehement dagegen sträubt und selbst immer weniger dazu beiträgt. Dieses Beharren in der Prüfung kann ganz im Gegenteil nur mit Sokrates’ Sachorientierung erklärt werden. Ebenso schwer nachzuvollziehen ist die Behauptung, die Analogie sei Sokrates’ zentrale Erkenntnismethode. Im Gespräch mit Charmides bspw. tauchen so gut wie keine Analogien auf, im Kritias-Gespräch haben sie zumeist eine didaktische Funktion. Sokrates setzt sie zur Veranschaulichung ein, wenn sein Gesprächspartner eine abstrakte Überlegung nicht versteht. Wenn die Gründe, die Bloch für das sokratische Scheitern anführt, aber nicht stichhaltig sind, dann fragt sich, ob Sokrates überhaupt scheitert und von Platon überwunden werden muss, ob die Aporie am Dialogende überhaupt Sokrates’ Aporie ist. Die anderen Vertreter dieser Deutungsrichtung reagieren implizit auf die skizzierten Schwierigkeiten einer sachliche Unterscheidung von Sokrates und Platon und verzichten darauf115. Um dann die Aporie der Tugenddialoge im Verhältnis zum durchaus positive Aussagen enthaltenden Gesamtwerk Platons zu erklären, wird die sokratische Widerlegung als eine Scheinaporie und als Folge von absichtlichem Irreführen oder Verschweigen interpretiert. Szlezák (1985) deutet den Charmides als eine Art Eingangstest, um in die sokratisch-platonische Exklusivlehre aufgenommen zu werden, die dann mündlich im kleinen Kreis erfolgt. Da Charmides sich als zu unreif und Kritias als zu eitel erweisen, wird ihnen das richtige Wissen vorenthalten116. Der Zweck des Tugenddialogs ist nach Erler (1996) auch in Sokrates’ Augen die Vorbereitung einer Belehrung. Dieser Zweck soll erreicht werden, indem die Gesprächspartner von fragwürdigen Ansichten befreit werden117. Wenn man die Spielregeln der elenktischen Dialektik betrachtet, so stellt man laut Erler fest, dass der Elenchos, d. h. die sokratische Prüfung, selbst gar nicht didaktisch auf Wahrheitsfindung ausgerichtet ist. Vielmehr ist sie als ein Frage-und-Antwort-Spiel zu verstehen, das auf Widersprüche in der Argumentation zielt. Die widerlegte These muss nach Erler nicht notwenig falsch sein, sondern könnte, wie Sokrates gelegentlich andeute, auf anderem Wege durchaus verteidigt werden. Die Widerlegung deckt bloß Schwierigkeiten des vom Partner eingebrachten Vorverständnisses der diskutierten These auf. Damit wäre auch die Aporie künstlich erzeugt118. Auf diese Weise ergibt sich,

114 115 116 117 118

Vgl. Bloch 1973, S. 34–36. Vgl. bspw. Szlezák 1985, Erler 1996. Vgl. Szlezák 1985, S. 128, 147. Vgl. Erler 1996, S. 29. Vgl. Erler 1996, S. 41.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

so Erler, eine Mehrfachfunktionalität des Charmides je nach Publikum. Für den zufälligen Leser tritt die reinigende Dimension in den Vordergrund119. Für den Leser mit Vorkenntnissen aber enthält der Dialog bekannte Problemstellungen, angedeutete Lösungsansätze und fordert somit zum selbstständigen Durchdenken des Problems auf120. Insgesamt lässt sich die Funktion des Tugenddialogs nach Erler also als didaktisch oder pädagogisch bestimmen. Entsprechend ist dann auch die sokratische Prüfungstätigkeit als eine besondere Art der Pädagogik zu verstehen, so dass Sokrates den Tugenddialog ausschließlich um der Gesprächspartner willen führen würde. So wie Sokrates sich in seinen Gesprächen auf das Denken seiner Gesprächspartner einlässt und komplizierte Gedankengänge vereinfachend erklärt, ist eine pädagogische Dimension in seiner Gesprächsführung nicht zu leugnen. Eine Deutung aber, die diesen Aspekt zum zentralen und einzigen Anliegen des Tugenddialogs macht, greift zu kurz. Denn diese Deutung kann nicht erklären, warum Sokrates im Charmides stets betont, dass er das Gesuchte selbst nicht weiß und die Untersuchung in erster Linie um seiner selbst willen führt121. Gänzlich unplausibel wird eine rein pädagogische Deutung des Tugenddialogs angesichts der Tatsache, dass Sokrates eher bereit war zu sterben, als seine Dialogtätigkeit aufzugeben. Wie schon in der obigen Einführung gesagt, sieht diese Deutungsrichtung im sokratischen Tugenddialog eine Suche nach dem Begriff oder der Definition der jeweiligen Tugend und setzt damit die Tradition aristotelischer Sokratesdeutung fort. Jenseits der Unterschiede in den Einzeldeutungen sind sich die Autoren einig, dass der Charmides aporetisch endet, d. h. dass der gesuchte Begriff nicht gefunden wurde, obwohl im Gespräch mehrere, zumindest formal korrekte Definitionen vorgebracht wurden. Da diese Definitionen abgelehnt werden, ist offensichtlich, dass Sokrates nicht schlechthin nach einer Definition sucht. Es wird auch ein Grund seiner Ablehnung benannt. Die vorgebrachten Definitionen seien allesamt nicht rational begründet. Damit ergibt sich eine modifizierte Deutung des sokratischen Dialogs als die Suche nach einer rational begründeten Tugenddefinition. Die im Tugenddialog fehlende Begründung könnte eingebracht werden, indem man entweder auf die geschaute Idee oder auf die Alltagserfahrung Bezug nimmt. Wenn man sich auf eine Ideenschau bezieht, droht allerdings die Gefahr, in die vorphilosophische religiös-mythische Denkweise zu verfallen, die Sokrates stets kritisch behandelt hat. Die Bezugnahme auf die Alltagserfahrung führt zurück zum vorurteilsbehafteten Alltagsdenken, das um seine Grundlagen nicht weiß und von Sokrates ebenfalls im Tugenddialog kritisiert wird. Beides ist im Grunde nicht rational und deswegen als Garant einer rationalen Begründung untauglich oder zumindest frag119 120 121

Vgl. Erler 1996, S. 45. Vgl. Erler 1996, S. 46. Vgl. Charmides 166c–d.

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lich. Man kann eine solche Infragestellung zu vermeiden versuchen, indem man die Ideenlehre als rationale, philosophische Theorie auffasst. Eine solche Lehre besteht aber selbst aus einem Satz von Definitionen und deren Verknüpfungen, so dass man dort wiederum nach der Begründung fragen kann, die selbst nicht in den Definitionen liegt. Es entstünde ein Begründungsregress. Aufgrund der Auseinandersetzung mit der Deutung des Tugenddialogs als Begriffskritik lässt sich festhalten, dass die im Tugenddialog von Sokrates aufgedeckten Probleme in erster Linie auf eine fehlende Begründung zurückzuführen sind. Worin eine Begründung bestehen könnte und ob sie überhaupt möglich ist, ist unklar und wird innerhalb dieser Deutungsrichtung nicht eindeutig geklärt. Eine mögliche Konsequenz aus den skizzierten Begründungsschwierigkeiten zieht die zweite Deutungsrichtung. Sie erklärt eine allgemeine Bestimmung der Tugend für unbegründbar und die Tugend für völlig unerkennbar oder nur in begrenztem Maße erkennbar und versteht den Tugenddialog als eine Kritik der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten. Ob diese Konsequenz mit der sokratischen übereinstimmt und seine Prüfung hinreichend erklärt, soll nun untersucht werden.

3. Der Tugenddialog als Kritik des Erkenntnisvermögens Die Autoren dieser Deutungsrichtung abstrahieren bei der Dialoginterpretation weitgehend von den konkreten Antwortinhalten und betonen die erkenntnistheoretische Dimension. Sie teilen die Ansicht, dass an den konkreten Bestimmungen Grundprobleme der menschlichen Erkenntnisfähigkeit diskutiert und die Grenzen der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten aufgezeigt werden. Die Struktur des menschlichen Erkenntnisvermögens mache es unmöglich, die Tugend und das Gute vollständig und allgemeingültig zu erfassen. Die sokratische Prüfungstätigkeit wird folglich als Ausdruck der sokratischen Skepsis interpretiert. Trotzdem wird im Tugenddialog durchaus eine konstruktive Dimension gesehen. Im Gesprächsverlauf gebe es Hinweise darauf, welche Art Erkenntnis dem Menschen innerhalb der aufgezeigten Grenzen möglich und für seine Lebensführung hilfreich sei. Hyland (1981) sieht in dem Tugenddialog einerseits eine Vorbereitung zur Philosophie auf der Partnerseite und andererseits auf der sokratischen Seite ein Modell der Beschäftigung mit Philosophie. Im Zentrum von Hylands Interpretation steht die sokratische Seite des Dialogs. Sokrates verwirklicht demnach im Dialog eine beispielgebende fragende Haltung. Sie befindet sich zwischen einer unbeugsamen Ideologie und einer radikalen Skepsis und ist Ausdruck einer gemäßigten, verantwortlichen Skepsis. Die Grundlage der fragenden Haltung ist nach Hyland die sokratische Selbsterkenntnis, die einerseits die Begrenztheit und Unvollkommenheit des Menschen, anderseits aber auch seine Ausrichtung auf und sein Streben nach Vollkom-

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menheit einsieht. Kurz, die Selbsterkenntnis besteht in der Einsicht in die erotische Natur des Menschen122. Die sokratische Untersuchungstätigkeit stellt nach Hyland eine aufklärende Reflexion dar. Sie macht einerseits das Strebens- und Lebensziel bewusst, andererseits begrenzt sie durch Widerlegung der Definitionen den Wahrheitsanspruch des Untersuchten. Die philosophische Untersuchung ist nach Hyland in erster Linie eine Haltung zu anderen Menschen und fremden Behauptungen, die auf der eigenen gemäßigten Skepsis beruht. Hyland zieht aus Sokrates’ Beschreibung des Eros im Symposion die Konsequenz, dass die menschliche Natur prinzipiell und unüberwindbar einen Status zwischen Phänomenen und Ideen hat und insofern weder das eine noch das andere in seiner Reinform erfassen kann123. Der Mensch hat von beidem nur eine Ahnung. Da der Mensch also ein Wesen im Zwischenraum ist, kann er auch nur über das zwischen den Polen liegende Verhältnis der Ideen und der Phänomene auf eine philosophisch-rationale Weise sprechen124. Angesichts der Unerkennbarkeit der beiden Pole stellt sich die Frage, wie das Reden über eine Beziehung zweier Elemente philosophisch-rational sein kann, wenn beide Elemente selbst unerkennbar sind und bloß intuitiv erfahren werden. Denn wenn die Elemente einer Beziehung selbst unerkannt sind, dann kann auch die Beziehung zwischen ihnen bloß eine vorgestellte Beziehung, eine reine Spekulation sein. Es ließe sich keinerlei Einigkeit darüber herstellen, ob man über die Beziehung zu demselben Phänomen bzw. zu derselben Idee spricht. Das Reden über die Beziehung bliebe ebenso unbegründet wie das Reden über die beiden Elemente selbst. Die Folge dieses Grundzweifels wäre wiederum entweder eine radikale Skepsis, oder, wenn man deren schädliche Konsequenzen vermeiden will, eine dogmatische Festlegung auf Behauptungen und damit laut Hyland eine Ideologie. Wenn man also bei Sokrates von einer Skepsis gegenüber der Erkennbarkeit von Phänomenen und Ideen ausgeht, dann müsste man ihm auch eine der genannten Konsequenzen unterstellen. Bei der Wahl der Dogmatik als Grundlage seiner Untersuchung könnte man allerdings schlecht erklären, warum er stets sein Nichtwissen betont und seinen Gesprächspartnern die wahre Lehre nicht einfach offenbart. Unterstellt man dagegen eine radikale Skepsis als Untersuchungsgrundlage, dann ist seine lebenslange Erkenntnissuche unerklärlich, wenn er davon ausginge, dass Erkenntnis Vgl. Hyland 1981, S. 15–17, 23. Vgl. Hyland 1981, S. 66 ff. 124 Die Leugnung der Erkennbarkeit der beiden Pole erinnert an Kants Auffassung von den menschlichen Erkenntnisvermögen und deren möglichen Erkenntnisgegenständen. Auch bei ihm sind die Phänomene als Dinge an sich selbst ebenso unerkennbar wie die intelligiblen Gegenstände als Ideen. Das menschliche Erkennen findet auch nach Kant nur zwischen diesen beiden Polen statt (vgl. bspw. Kant, I., Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können). 122 123

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unerreichbar ist. Beide Varianten sind also höchst unplausibel. Es leuchtet zwar ein, dass Sokrates’ Haltung im Tugenddialog jenseits von Dogmatik und Skepsis liegen muss, die gemäßigte Skepsis nach Hyland trifft diese allerdings nicht. In Wolfs (1996) Dialogdeutung scheint die sokratische Untersuchung fast ausschließlich im Vorführen und Entlarven des falschen Denkens zu bestehen. Der konstruktive Teil beschränkt sich auf Andeutungen. Ausgehend von der Überzeugung, das Gute sei schlechthin unerkennbar125, widerlege Sokrates alle inhaltlichen Versuche, es zu erfassen. Als methodische Alternative zu einem inhaltlichen Wissen vom Guten wird laut Wolf auf eine streng sachbezogene Untersuchung verwiesen126. In einer solchen Untersuchung müsste im »vage[n] Vorgriff auf das uneingeschränkt gute Leben«127 für den je konkreten Handlungsfall herausgefunden werden, welches Handeln in diesem Fall gut sei. Da aber im Charmides laut Wolf niemand diese Untersuchung vorführt, fragt man sich, was es denn bedeutet, streng sachbezogen zu untersuchen, und wo man es erlernen kann. Dazu sagt Wolf bezeichnend wenig. Es ist auch schwierig zu verstehen, auf welche Sache man sich bei der Suche nach dem guten Leben oder gutem Handeln beziehen soll, wenn das Gute selbst unerkennbar sei. Der »vage Vorgriff auf das uneingeschränkt gute Leben«128 kann zum einen aufgrund seiner Vagheit eben keine Strenge hervorbringen, zum anderen würde in einem solchen Vorgriff die Erkennbarkeit des Guten doch irgendwie unterstellt. Da aber zugleich behauptet wird, dass das Gute unerkennbar sei, befindet man sich als Interpret entweder in einem permanenten Selbstwiderspruch, oder muss diesen Vorgriff, ähnlich wie schon obige Deutungen, außerhalb des rationalen Vermögens verorten. Damit wäre die Grundlage der sokratischen Untersuchung wieder eine ebenso unbegründete Vorstellung wie die von ihm im Dialog widerlegten Bestimmungen. Die Ausgangslage der Prüfung würde nicht überwunden, sondern wiederholt werden. Da aber ohne die Begründung in der Erkenntnis des Guten alle Vorstellungen vom guten Leben gleichermaßen unbegründet sind, sind sie alle gleichwertig. Auch hier ist der Interpret, der wie Wolf die sokratische Denkweise als seinen Partnern überlegen ansieht, in einem Widerspruch verfangen. Um die Überlegenheit einer Position zu begründen, muss man wiederum auf das Gute irgendwie zugreifen können, was aber zugleich für unmöglich erklärt wird. Eine Deutung der sokratischen Prüfung auf einer skeptischen Grundlage als prinzipielle Begrenzung des menschlichen Erkenntnisvermögens ist also höchst unplausibel, weil sie bei dem Versuch, sich selbst zu begründen, in Widersprüche gerät. 125 126 127 128

Vgl. Wolf 1996, S. 11–15, 26. Vgl. Wolf 1996, S. 113. Wolf 1996, S. 113. Wolf 1996, S. 113.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

Im Gegensatz zu Hyland und Wolf sieht Schmidt (2006) im Charmides keine grundsätzliche Kritik an der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, sondern zunächst eine Kritik Platons an der sokratischen Untersuchungsmethode. Im Zentrum von Schmidts Analyse steht die Behauptung, dass das selbstbezügliche Denken das Grundprinzip des sokratischen Prüfens sei. Diese Behauptung stützt sich im Grunde darauf, dass Sokrates im Charmides als Reaktion auf Kritias’ Widerwillen gegen die Untersuchung sagt, es käme nicht darauf an, ob Kritias oder Sokrates widerlegt werde, wichtig sei einzig die Untersuchung der Sache129. Diese Bemerkung belegt nach Schmidt eine Identität von platonischem Kritias und historischem Sokrates. Der platonische Sokrates im Text sei deshalb eine Maske Platons, der die sokratische Methode ganz nach sokratischer Art immanent kritisiert130. Die Kritik setzt an der Selbsterkenntnis als Wissen vom Wissen an. In der Wissenschaft ihrer selbst wird nach Schmidt das ganze theoretische Bewusstsein versammelt. »Die ›Wissenschaft ihrer selbst und der anderen Wissenschaften‹ ist Totalität, und zwar die Totalität der Vernunft«131. Die im Dialog vollzogene Untersuchung dieser könnte man deswegen auch als »Kritik der reinen Vernunft« bezeichnen. Im Unterschied zu Kants Projekt fehlt hier aber die Verankerung im transzendentalen Subjekt; stattdessen beruht die Kritik im Dialog auf dem selbstbewussten Nichtwissen des Sokrates132. Diese formale »Superwissenschaft« scheitert nach Schmidt an ihrer Nutzlosigkeit für das menschliche Leben, so dass Platon die Selbstzerstörung der Prüfung vorführe. Wenn man tatsächlich ein formales, selbstbezügliches Denken zur Grundlage der sokratischen Prüfung erklärt, dann müsste sich die Prüfung der ersten Antworten im Charmides auch durch Bezugnahme auf formale Wissenskriterien erklären lassen. Schmidt erklärt die Widerlegung der ersten Antworten allerdings nicht mit formalen Problemen, sondern als eine Art performativen Widerspruch zwischen der Bestimmung, bspw. als Scham, und der Tatsache, dass Charmides über seine Tugend spricht133. Charmides verrät nach Schmidt die von ihm reflektierte Adelsethik, indem er sie reflektiert. Die Widerlegung wäre also nicht in formalen Wissenskategorien begründet, sondern in dem Verhalten des Charmides selbst, worauf Sokrates bloß aufmerksam machte. Damit ist Sokrates’ Vorgehen aber nicht mehr bloß formal zu erklären, so dass seine Untersuchungsgrundlage nicht im formalen Wissen vom Wissen bestehen kann. Der bloße Selbstbezug des Denkens wäre dann nicht Sokrates’ Problem, sondern tatsächlich Kritias’. Platon hätte damit im Charmides die Gren-

129 130 131 132 133

Vgl. Charmides 166e. Vgl. Schmidt 2006, S. 66–68. Schmidt 2006, S. 76. Vgl. Schmidt 2006, S. 77. Vgl. Schmidt 2006, S. 63 f.

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zen des sophistischen Denkens aufgezeigt und nicht des sokratischen Denkens. Nur wenn der Dialog nicht als Gesamtgedankengang betrachtet wird, sondern man ihn wie Schmidt in verschiedene, voneinander unabhängige Abschnitte einteilt, leuchtet die Gleichsetzung von Kritias und Sokrates ein. Insgesamt sieht diese Deutungsrichtung im sokratischen Dialog, wie schon gesagt, eine Kritik des menschlichen Erkenntnisvermögens in seinen Grenzen und Möglichkeiten. Damit wird im Grunde die von der begriffskritischen Deutungsrichtung offen gelassene Frage nach Art und Möglichkeit einer Begründung von Tugenddefinitionen aufgenommen. Die Lösung des Begründungsproblems wird dabei auf einer gänzlich anderen Ebene gesucht als vorher. Die Suche nach einer allgemeingültigen, wahren Definition wird aufgegeben. Stattdessen soll der in den Partnerdefinitionen enthaltene Wahrheitsanspruch begrenzt werden, weil sie aufgrund der Struktur des menschlichen Erkenntnisvermögens gar nicht begründet werden können. Dies nachzuweisen sei Sokrates’ Ziel im Dialog. Diese Deutung ist damit der begriffskritischen Deutung entgegengesetzt: sollte dort nach der fehlenden Begründung zumindest außerhalb des Tugenddialogs gesucht werden, muss laut neuer Deutung jegliche Suche nach Begründung als sinnlos unterbunden werden. Die Voraussetzung der erkenntniskritischen Deutung ist allerdings, dass das untersuchte Denken der Partner jegliches menschliche Denken und damit auch das sokratische Denken erfasst. Ohne eine solche Voraussetzung kann die Aporie am Ende des Dialogs keine generelle Skepsis begründen, sondern müsste als ein Scheitern des untersuchten Denkens angesehen werden. Eine Gleichsetzung des untersuchten Denkens mit dem sokratischen Denken ist zudem problematisch, weil sich das sokratische Denken zumindest soweit von dem Partnerdenken unterscheidet, als dass es dessen Schwäche durchschaut und aufzeigt. Was erlaubt es ihm aufzudecken, dass das Partnerdenken seine eigenen Definitionen nicht begründen kann? Weder können die Partner ihre Bestimmungen auf die Idee oder die gesuchte Sache selbst zurückführen, noch findet sich bei ihnen eine andere Begründung. Wenn nun auch Sokrates nichts dergleichen gefunden hat, dann fragt sich, wie er die Differenz von Definition und gesuchter Sache feststellen kann. Der Verweis auf formale Strukturen als Widerlegungskriterium führt nicht wirklich weiter, da die meisten abgelehnten Definitionen formal korrekt sind, aber deren Verständnis sich als problematisch erweist. Die Unerkennbarkeit der letzten und ersten Gründe scheint die einzige Lösung zu sein. Man kann also festhalten, dass diese Deutungsrichtung sehr einleuchtend darlegt, dass ein Denken, wie es die Partner vorführen, die gesuchte Sache nicht erkennt und auch nicht erkennen kann, weil es nicht über sich hinaus geht und sich nur auf sich selbst bezieht. Der Nachweis dieses Mangels kann damit als ein Teilziel des sokratischen Dialogs aufgefasst werden. Das sokratische Denken selbst scheint aber noch darüber hinaus zu gehen. Man könnte an dieser Stelle vermuten, dass Sokrates weiß, was die Tugend ist, und also eigentlich eine begründete Definition, bspw. aufgrund

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der Ideenlehre, besitzt. Dann würde man aber in die erste Deutungsrichtung zurückfallen, deren Schwierigkeiten schon oben diskutiert wurden. Zur Lösung des Rätsels um den sokratischen Dialog bedarf es also eines Neuansatzes jenseits der Begriffssuche aber auch jenseits der bloßen Selbstbeschränkung des sich selbst denkenden Denkens. Diesen Neuansatz wählt die dritte Deutungsrichtung.

4. Der Tugenddialog als Verwirklichung des Gesuchten Innerhalb dieses Forschungsansatzes steht das sokratische Denken selbst im Zentrum der Forschung. Das hat zur Folge, dass die Dialoge nachvollziehend gelesen werden, indem die Argumentationsstruktur im einzelnen und im Zusammenhang herausgearbeitet wird. Sokrates verwirkliche im Durchdenken der Antworten das richtige Denken und führe die gesuchte Tugend vor134. Die jeweiligen Definitionen der fraglichen Tugend sind für Sokrates bloß das Material, an dem gedacht wird. Sie sind nicht das Ziel des sokratischen Dialogs, sondern sein Ausgangspunkt und Mittel, so dass das Fehlen einer Definition am Dialogende keineswegs ein Scheitern des Dialogs bedeutet. Kritisiert und begrenzt wird von Sokrates dabei nicht das menschliche Erkenntnisvermögen schlechthin, sondern bloß das Vermögen, das seine Gesprächspartner verwirklichen. Kritisiert wird der menschliche Verstand, der sich auf ungeprüfte Voraussetzungen über die Tugend und das Gute stützt und deswegen niemals zur Sache selbst vordringt135. Zehnpfennig (1987) verfolgt in ihrer Arbeit insgesamt eine erkenntnistheoretische Fragestellung. Trotzdem unterscheidet sich ihre Deutung prinzipiell von der erkenntniskritischen Deutungsrichtung. Aus dem Nachvollzug der gesamten Denkbewegung heraus zeigt sie, dass im Charmides zwei paradigmatische Denkweisen vorgeführt werden. Zum einen die sophistische, die meint, Sacherkenntnis durch Setzung zu besitzen, und deswegen auf die Suche nach der Sache verzichtet. Und zum anderen die philosophische, die in der rückhaltlosen Suche nach der Sache besteht. Dies sind zwei prinzipielle Möglichkeiten des geistigen Verhältnisses zur Wirklichkeit: Selbstbezogenheit in der Sophistik der Partner und Sachlichkeit in der Philosophie des Sokrates136. An den ersten drei Antworten des Charmides wird demnach das Denken durchdacht, das selbst einen unmittelbaren Sachbezug beansprucht (Reflexionsdenken). In den folgenden Antworten des Kritias wird das Reflexionsdenken selbst reflektiert (Metareflexion). Die sokratische Prüfung stellt nach Zehnpfennig selbst eine Art Metareflexion dar, weil hier die Partnerreflexion auf ihre Richtigkeit hin untersucht wird. 134 135 136

Vgl. Gonzalez 1998, S. 58. Vgl. Zehnpfennig 2001, S. 86 f. Vgl. Zehnpfennig 1987, S. 18.

B. Forschungsstand zur sokratischen Prüfungstätigkeit im »Charmides«

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Gemeinsam mit den Partnern schreitet Sokrates im Verlauf des Dialogs zurück zum Sachgrund, aber nicht als bloße Bewusstwerdung, sondern indem er die Bestimmungen auf ihren Sachgehalt hin durchdenkt. Auf diese Weise vollzieht er eine Metaerkenntnis anderer Art. Seine Erkenntnis bleibt stets auf die gesuchte Sache bezogen, so dass er im Gegensatz zu Kritias das für Erkenntnis strukturell notwendige Differenzkriterium einhält und damit für ihn sowohl Sach- als auch Selbsterkenntnis möglich sind. Seine Selbsterkenntnis ist deswegen keine bloß selbstbezügliche Reflexion. »Die Selbsterkenntnis […], die sich auf die ›Tauglichkeit‹ der Seele richtet, findet im Guten das andere; seine Verwirklichung oder Verfehlung in der eigenen Seele ist das ›etwas‹, dessen Erkenntnis Einsicht in das Selbst gibt. Die so verstandene Selbsterkenntnis kommt erst über die Orientierung am Nicht-Ich, über den Bezug zum Guten zu sich selbst zurück; das Selbst wird sich erkennbar an seinem Verhältnis zum Guten, es ist sich erst mittelbar Gegenstand«137. Die Kernaussage von Zehnpfennigs Deutung beinhaltet, dass man für die Erkenntnis einer Sachausrichtung bedarf, die über die bloße Bewusstwerdung der eigenen Vorurteile hinausgeht und deren Überwindung beinhaltet. Die beiden Seiten des Dialogs verwirklichen jeweils eine dieser Ausrichtungen, so dass die Überlegenheit der sokratischen Sachausrichtung am Scheitern der Bewusstseinsreflexion der Partner bewiesen wird. Wenn sich im Dialog das Gute als der letzte Sachgrund der untersuchten Besonnenheit erweist, dann muss darin auch die Erkenntnis des Guten erreicht werden. Das würde Sokrates’ Aussage in der Apologie, das Leben ohne Tugenddialog sei nicht lebenswert, erklären. Diese Einsicht wäre dasjenige, was Sokrates im Dialog sucht und was die Widerlegung der Partner ermöglicht. Zehnpfennig spricht Sokrates’ Einsicht in ihrer Deutung immer wieder an, lässt aber aufgrund ihrer erkenntnistheoretischen Fragestellung die existentielle Dimension der sokratischen Erkenntnis im Hintergrund. Im Zusammenhang meiner Untersuchung wäre also zunächst das sokratische Denken nachzuvollziehen, um anschließend noch zu klären, ob das im Dialog verwirklichte Denken auch den Grund des guten Lebens darstellt, wie Sokrates es versteht. Das Verständnis des Dialogs als Vollzug zweier Denkweisen vermeidet einerseits die Schwierigkeit, außerhalb des Dialogs nach der Begründung einer Definition suchen zu müssen, und klärt zugleich das konstruktive Moment einer Kritik an dem Denken der Partner, indem es das richtige Denken zugleich vorführt. Gonzalez (1998) beschäftigt sich mit dem Charmides im Zusammenhang einer Untersuchung des platonischen Dialektikverständnisses. Laches und Charmides sieht er dabei als herausragende Beispiele dieser Dialektik im Vollzug an. Entsprechend beschäftigt er sich in erster Linie mit dem Denken, das Sokrates im Dialog verwirklicht. Er stellt zwei Thesen zum Tugenddialog auf. Erstens erreicht die sokratische Prüfung 137

Zehnpfennig 1987, S. 63 f.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

die Erkenntnis der fraglichen Tugend. Zweitens hat diese Erkenntnis nichtpropositionalen Charakter. Sie ist also kein Definitionswissen, aber auch keine bloß formale Erkenntnis. Vielmehr beschreibt er die sokratische Einsicht als etwas zwischen dem naiven, impliziten Alltagswissen des Charmides und dem sophistisch-technischen Wissen des Kritias138. Charmides stellt nach Gonzalez ein Beispiel für die natürliche Besonnenheit dar, die zwar nicht völlig falsch, aber doch unzureichend ist. Sie kann sich selbst weder verstehen noch bewahren. Trotzdem ist sie eine Erfahrung, an der das philosophische Denken anknüpfen kann und muss139. Kritias hingegen stellt die sophistische Lebensvergessenheit dar, die sich um die Erfahrung der Besonnenheit nicht kümmert und stattdessen glaubt, die Tugend mit einer Definition zu erfassen. Diese Haltung führt zu formal korrekten, aber inhaltsleeren Formeln140. Kritias beansprucht zwar zu wissen, was Besonnenheit ist, verwirklicht sie aber nicht. Bei Sokrates verhält es sich nach Gonzalez genau andersherum. Er beansprucht nicht zu wissen, was Besonnenheit ist, verwirklicht sie aber in der Prüfung141. Bei Sokrates zeigt sich das Gute demnach in der Untersuchung. Die Erkenntnis des Guten ist dabei nicht zu verstehen als ein Wissen darüber, was gut ist, sondern als ein Wissen darüber, wie man gut ist und die Dinge gut tut142. Durch dieses Wissen sei man zugleich gut; erreicht werde es aber nur im Vollzug. Gonzalez thematisiert damit die existentielle Dimension der sokratischen Prüfung, allerdings bleibt ungeklärt, was Sokrates zu dieser besonderen Haltung befähigt. Kritias konnte seine Definitionen nicht ausfüllen, weil er nicht besonnen war; Sokrates stellt zwar keine auf, würde sie aber ausfüllen können? Wie hat er diese Art von Besonnenheit erlangt, wenn doch die natürliche, angelegte Besonnenheit des Charmides nicht ausreicht? Was unterscheidet also Sokrates von Charmides und Kritias zugleich? Diese Fragen lässt Gonzalez noch offen.

5. Schlussfolgerungen Zusammenfassend lassen sich aus der Auseinandersetzung mit der vielfältigen Forschungsliteratur zur sokratischen Prüfung im Charmides mehrere Fragen festhalten. Die zunächst offensichtlich erscheinende Deutung der sokratischen Frage als eine Suche nach dem Begriff der Besonnenheit führt recht eindrücklich vor, dass rein formal durchaus ein Begriff der Besonnenheit vorgebracht wird. Die Probleme, die 138 139 140 141 142

Vgl. Gonzalez 1998, S. 21. Vgl. Gonzalez 1998, S. 42–46. Vgl. Gonzalez 1998, S. 50–53. Vgl. Gonzalez 1998, S. 57. Vgl. Gonzalez 1998, S. 55–56, 58.

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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Sokrates aufzeigt, ergeben sich nur aufgrund einer fehlenden Begründung. Was kann die Tugend begründen, ohne die im Dialog aufgedeckten Schwierigkeiten zu wiederholen? Die erkenntniskritische Forschungsrichtung reagiert auf dieses Problem, indem sie die Unmöglichkeit einer begründeten Tugenddefinition zu begründen versucht. Der Dialog wird dafür als eine Kritik am menschlichen Erkenntnisvermögen überhaupt gedeutet. Diese Deutung gewinnt eine starke Plausibilität aufgrund der strukturellen Vollständigkeit der im Dialog untersuchten Antwortmöglichkeiten. Hier wird also die Unerkennbarkeit des Guten postuliert, weil das menschliche Erkenntnisvermögen dafür zu begrenzt ist. Allerdings bleibt unklar, woher man um diese Unerkennbarkeit wissen kann, da eigentlich jede Auskunft über das Gute außerhalb des menschlichen Vermögens liegen müsste, wenn die Kritik berechtigt wäre. Der Versuch die Unerkennbarkeit des Guten wiederum zu begründen, gerät in oben genannte Schwierigkeiten. Diese Forschungsrichtung macht zwar auf die Schwierigkeiten aufmerksam, die grundsätzlich bestehen, wenn man versucht, das Gute zu definieren, hält aber daran fest, dass eine Erkenntnis als Definitionswissen zu verstehen ist. Da Sokrates diese Schwierigkeiten im Dialog offen legt, müssen ihm diese Probleme selbst schon bewusst sein. Wenn er also weiterhin nach der Tugend fragt, dann muss er eine andere Art von Erkenntnis suchen. Welche Art von Erkenntnis sucht Sokrates im Tugenddialog? Die dritte Forschungsrichtung beschäftigt sich nun mit den Arten des Denkens, die Sokrates und seine Partner im Dialog verwirklichen. Hier wird eine Verschiedenheit festgehalten, die sich im jeweiligen Denkvollzug zeigt. Das sokratische Denken wird als überlegene Verwirklichung der gesuchten Erkenntnis bzw. der gesuchten Tugend beschrieben. Aufgrund des jeweiligen Schwerpunktes der diskutierten Forschungsbeiträge ist das Verhältnis von erkenntnistheoretischer und existentieller Dimension im sokratischen Denken nicht ganz klar. Es wird deswegen zu untersuchen sein, inwiefern die von Zehnpfennig aufgedeckte Sachausrichtung zu der von Gonzalez thematisierten Verwirklichung des Gutseins führen kann. Was zeichnet das sokratische Denken im Dialog als Gutes aus?

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am Tugenddialog »Charmides« Platons Charmides stellt einen typischen sokratischen Prüfungsdialog dar. Der fragende Sokrates untersucht gemeinsam mit einem Antwortenden eine Tugend, in diesem Fall die Besonnenheit. Die Untersuchung durchschreitet mehrere Ebenen und endet aporetisch. Dem eigentlichen Untersuchungsgespräch geht ein Gesprächsteil voraus, in dem die beteiligten Personen, im Charmides Sokrates, Kritias und Char-

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

mides, eingeführt werden und der existentielle Hintergrund der folgenden Untersuchung dargestellt wird. Aus dem alltäglichen Miteinander der Menschen entwickelt Sokrates die philosophische Sachfrage. Die Sachfrage nach Besonnenheit markiert im Charmides den Übergang zum Hauptgespräch. Dieses ist zudem durch einen Wechsel des Gesprächspartners in zwei größere Abschnitte unterteilt. Im ersten Abschnitt leitet Sokrates den jungen Charmides bei der Selbstreflexion an und prüft die Ergebnisse dieser Reflexion auf ihren beanspruchten Sachgehalt. Dem Alter und der Unerfahrenheit von Charmides entsprechend gewinnt man in diesem Teil der Untersuchung ein Bewusstsein des Alltagsdenkens, das der junge Mann vorher aufgenommen und unbewusst umgesetzt hat. Im zweiten Abschnitt des Hauptgesprächs übernimmt Kritias die Rolle des Antwortenden und Geprüften. Da Kritias ein sophistisch geschulter Intellektueller ist, erhöht sich das Reflexionsniveau. Die Stufe der Selbstbewusstwerdung, die durch Charmides repräsentiert wurde, wird durch Kritias überschritten zu einer Reflexion des Selbstbewusstseins. Im Kritias-Gespräch können die Grundlagen des bewusstgewordenen Alltagsdenkens untersucht werden. Doch auch diese Reflexion der Selbstreflexion besteht die sokratische Prüfung nicht, so dass die Untersuchung aporetisch endet. Was genau scheitert und welche Einsicht dabei ggf. trotzdem gewonnen wird, soll nun in einem systematischen Nachvollzug143 des skizzierten Dialogs erarbeitet werden.

1. Vorgespräch: die Umkehr der Denkrichtung (153a–158e) a. Sokrates’ Frage nach Weisheit und Schönheit (153a–d) Das von Sokrates berichtete Gespräch findet statt auf dem Gelände einer Palaistra, einer Sport- und Gesprächsstätte der Athener Bildungsschicht. In solchen Einrichtungen pflegten sich die Männer mit den Heranwachsenden im Lehrgespräch und gemeinsamen Sportübungen auszutauschen. Es ist also eine typische Athener Bildungsstätte. Dort trifft der aus dem Krieg zurückgekehrte Sokrates auf alte Bekannte, wie Kritias und Chairephon, die sich für die Neuigkeiten aus der Schlacht interessie143 Der verstehende Nachvollzug als Interpretationsmethode der sokratischen Dialoge wurde von Schrastetter (1966, S. 75ff) eingeführt. Zehnpfennig (2001, S. 12) nutzte ihn als Zugang zum Gesamtwerk Platons. Fröhlich (2007, S. 19ff) hat diese Methode als kognitive Reproduktion des Dialoggedankengang eingesetzt, um die Grundlage der sokratischen Prüfungskompetenz zu untersuchen. Die wesentliche Idee des Nachvollzugs als Interpretationsweise besteht darin, dass sich das Spezifische der sokratischen Untersuchung nur von innen erschließen lässt. Deswegen muss der Interpret den Gedanken nicht bloß distanziert betrachten, sondern die Prüfung gedanklich mitvollziehen, um im Nachhinein über die sokratische Denkleistung reflexiv Auskunft geben zu können.

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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ren144. Sokrates berichtet eher zurückhaltend über den Krieg und will anschließend selbst die Neuigkeiten der Daheimgebliebenen erfahren. Er fragt, »wie es jetzt hier stände mit der Weisheitsliebe (περὶ φιλοσοφίας) und mit den Jünglingen, ob welche von ausgezeichnetem Verstande (σοφίᾳ) oder Schönheit oder beidem sich seitdem hervorgetan hätten«145. Wie ist Sokrates’ Frage zu verstehen? Zunächst einmal fragt Sokrates im Unterschied zu seinen Bekannten nicht nach Ereignissen, sondern nach Menschen. Dabei fragt er nicht bloß nach irgendwelchen Neuigkeiten über Bekannte, sondern nach seiner Leidenschaft, der Philosophie, und dem Entwicklungsstand der Jugend. Da er in dem Nachsatz die zunächst unabhängig erscheinenden Bereiche, Weisheit und Schönheit, miteinander verknüpft, wird deutlich, dass er im Grunde nach dem intellektuellen Nachwuchs fragt. Er zeigt sich damit als jemand, dem der Bildungsstand der Jugend wichtig ist. Die von ihm Angesprochenen sind durchaus relevante Ansprechpartner, da sie neben möglichen Privatlehrern für die Bildung der Jüngeren verantwortlich sind. Die Frage nach Weisheit (σοφία) und Schönheit der Jünglinge kann je nach Deutung als eine Frage nach dem Beitrag der Angesprochenen zur Bildung der nächsten Generation verstanden werden. Denn sie wären als potentielle Lehrer dieser Jünglinge für deren Fortschritte indirekt verantwortlich. Versteht man Schönheit nicht bloß körperlich, sondern auch charakterlich, dann lenkt Sokrates das Gespräch auf die zwei höchsten Wertkategorien für Körper, Charakter und Denken. Selbst wenn es keinen entsprechend ausgezeichneten Jüngling gäbe, wäre der Urteilende ein möglicher Gesprächspartner über diese Gegenstände, weil er mit seinem Urteil ein Verständnis dieser in Anspruch nehmen würde. Sokrates’ Frage bietet damit für alle Anwesenden eine Gelegenheit zur Selbstreflexion. Bei der Rechtfertigung des eigenen Urteils hätte man sogar die Gelegenheit zu einer Selbstprüfung. Wer diese Gelegenheit nutzt, wird sich im Gesprächsverlauf zeigen. Schon zu Beginn des Dialogs ist allerdings festzuhalten, dass Sokrates dem Gespräch diese Richtung gibt. Er tut dies nicht durch eine Belehrung, sondern durch eine Frage. Indem er eine solche Frage stellt, deutet er schon hier eine Art des Gesprächs an, die über den sonst üblichen Austausch von Meinungen und Erlebnissen hinausgeht. Die über einen Ausdruck des Unwissens hinausgehende, bildende Kraft von Sokrates’ Fragen wird im weiteren Gesprächsverlauf zu verfolgen sein.

144 145

Vgl. Charmides 153a–c. Charmides 153d.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

b. Die Schönheit von Charmides’ Körper und Seele (154a–155b) Selbstsicher beantwort Kritias die Frage nach der Schönheit und weist auf seinen Vetter Charmides, den zurzeit alle für den Schönsten halten146. Der Jüngling betritt in dem Moment den Raum, so dass die angepriesene Schönheit direkt erfahren werden kann. Alle Anwesenden sind ergriffen von seiner Erscheinung. Chairephon beschreibt voller Überschwang, wie schön nicht bloß das Gesicht, sondern auch Charmides’ Körper im Ganzen ist. Er schlägt vor, den Jüngling zu entkleiden, um dessen Schönheit in voller Pracht erfahren und bewundern zu können147. Kritias und Chairephon verstehen Sokrates’ Frage nach dem Stand der Schönheit also ganz sinnlich. Die Beurteilungskompetenz begründet Kritias, wie man an seiner Äußerung (»Wie es mit den Schönen steht, o Sokrates, das wirst du, dünkt mich, gleich selbst sehen.«148) erkennen kann, in der direkten sinnlichen Erfahrung. Zugleich erhebt er für die eigene Erfahrung einen Anspruch auf Objektivität. Anderenfalls könnte er nicht davon ausgehen, dass Sokrates’ Erfahrung mit seiner übereinstimmen wird. Sokrates scheint der Einzige der Anwesenden zu sein, der von der sinnlichen Erfahrung nicht vollkommen eingenommen ist. »Auf mich [Sokrates] nun, mein Freund, ist freilich nicht viel zu geben, denn ich bin, wenn Schöne sollen bezeichnet werden, wie Kreide an der weißen Wand. Mir erscheinen alle schön, die in diesem Alter sind«149. Er sieht also nicht die eigene sinnliche Wahrnehmung als Maßstab für Schönheit an, sondern sieht diesen Eindruck in dem Alter, d. h. in einem Zustand des Wahrgenommenen, begründet. Folglich erscheint ihm Charmides zwar auch als schön, aber noch wichtiger ist ihm eine andere Kleinigkeit. Er fragt, ob Charmides auch in der Seele wohlgebildet ist, was sich angesichts seiner Abstammung vermuten ließe150. Kritias kommt bei dieser familiären Konstellation als Charmides’ Lehrer in Frage, so dass er gemäß der in Athen üblichen Praxis für Charmides’ Charakterbildung mitverantwortlich wäre. Dass Kritias sofort versichert, Charmides wäre auch darin »sehr gut und schön (καλὸς κἀγαθος)«151, ist ein deutliches Indiz für ein solches Lehrverhältnis zwischen den beiden Vettern. Damit wäre Charmides’ seelische Schönheit in gewisser Weise auch eine Auszeichnung für Kritias und zugleich auch ein Zeichen seiner eigenen Bildung. Ohne die Kenntnis der entsprechenden Schönheit könnte er weder Charmides’ Schönheit der Seele erkennen, noch bei ihrer Bildung behilflich sein. 146 147 148 149 150 151

Vgl. Charmides 154a–b. Vgl. Charmides 154c–d. Charmides 154a. Charmides 154b/c. Vgl. Charmides 154d–e. Charmides 154e.

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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Angesichts von Kritias’ Zusicherung will Sokrates anstelle des Körpers lieber Charmides’ Seele im Gespräch entkleiden, um deren Schönheit zu betrachten. Woraufhin Kritias ihn mit einem Trick herbeirufen lässt. Sokrates soll vorgeben, er wüsste ein Heilmittel für Charmides’ Kopfschmerzen152. In Sokrates’ Reaktion auf die sinnliche Schönheit des jungen Mannes zeigt sich eine innere Ausrichtung seiner Frage auf die seelische Schönheit, die von seinen Gesprächspartnern übersehen wurde. Die sinnliche Schönheit ist für ihn nur ein Anlass für die Frage nach der seelischen Schönheit. Für Kritias ist die seelische Schönheit hingegen scheinbar so selbstverständlich, dass sie nicht in Frage steht und im Gegensatz zur sinnlichen Schönheit vorausgesetzt werden kann.

c. Besonnenheit als Grund des Gutseins (155b–158e) Als Charmides herantritt, hat die unmittelbare körperliche Nähe zu dem Schönen zunächst auch auf Sokrates eine starke Wirkung. Allerdings gewinnt er die Selbstbeherrschung im Gespräch schnell wieder. Ohne dass Kritias es hätte wissen können, kennt Sokrates tatsächlich ein Mittel gegen Kopfschmerzen, das er bei thrakischen Ärzten gelernt hat. Er kann das von Kritias vorgegebene Thema also aufnehmen. Die thrakische Heilmethode sieht ein Blatt und einen Spruch vor. Sie setzt allerdings voraus, dass man einen Teil nicht ohne das Ganze heilen kann153. Konkret bedeutet diese Maxime, dass ein Teil des Körpers nicht unabhängig vom Gesamtzustand des Menschen geheilt werden kann. Der Körper kann damit nicht ohne die Seele behandelt werden. »Denn alles […] entspränge aus der Seele, Böses und Gutes, dem Leibe und dem ganzen Menschen«154. Deswegen muss zunächst die Seele in einem guten Zustand sein, damit auch der Körper gesunden kann. »Die Seele aber […] werde behandelt durch gewisse Besprechungen, und diese Besprechungen wären die schönen Reden. Denn durch solche Reden entstehe in der Seele Besonnenheit«155. Das anfangs erwähnte Blatt darf nach thrakischer Lehre erst im Anschluss an eine erfolgreiche Besprechung verabreicht werden156. Wenn also die Besonnenheit nach thrakischer Lehre die Gesundheit der Seele darstellt, die für die Gesundheit des Körpers sorgt, dann könnte man Charmides’ morgendliche Kopfschmerzen im Umkehrschluss als ein Zeichen mangelnder Besonnenheit deuten. Sokrates selbst enthält sich eines Urteils über Charmides’ Seelen-

152 153 154 155 156

Vgl. Charmides 155b. Vgl. Charmides 155e–156e. Charmides 156e. Charmides 157a. Vgl. Charmides 157b–c.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

zustand und überlässt ihm die Entscheidung, ob er sich der Besprechung aussetzen will oder nicht. Für den Gesprächsverlauf im Ganzen ist die thrakische Theorie insofern bedeutsam, als dass die seelische Schönheit und Güte, die Kritias Charmides zugeschrieben hat, als Besonnenheit und damit als Tugend konkretisiert wird. Von den möglichen klassischen Tugenden liegt Besonnenheit thematisch nahe, weil sie üblicherweise das richtige Selbstverhältnis des Menschen als eine gewisse Mäßigung bezeichnet. Charmides wird beim Betreten des Raumes und in seiner Reaktion auf die Bewunderung im Kontrast zu seinen Altersgenossen und den Männern so charakterisiert, dass man den Eindruck gewinnt, er wird als einziger in diesem Raum nicht von seinen Affekten beherrscht. Er tobt nicht herum und scheint auch nicht sonderlich selbstverliebt, sondern bescheiden und ruhig zu sein. Die Thematisierung der Besonnenheit ermöglicht es herauszufinden, ob diese Erscheinung bloß zufällig ist oder ob ihr eine eigene Leistung und Tugend zugrunde liegen. Sokrates’ anfängliche Frage verliert in diesem Schritt gänzlich an Äußerlichkeit. Die äußere Schönheit, gewissermaßen als eine Art natürlicher Körperbildung, wird zugunsten der seelischen Bildung eines Menschen zurückgelassen. Wenn Charmides anschließend zu der eigenen Tugend Stellung nehmen soll, dann muss er das eigene Sein zum Gegenstand der Reflexion und des Gesprächs machen. Wenn er sich also auf das Gespräch einlässt, dann entkleidet er in der Selbsterklärung seine Seele für die Gesprächsteilnehmer. Das später eingebrachte Thema der Selbsterkenntnis157 ist damit im Gesprächsthema und in der Gesprächsform selbst angelegt. Bevor Charmides sich zu der vorgeschlagenen Heilmethode und der eigenen Besonnenheit äußern kann, ergreift Kritias das Wort. Der junge Mann bedürfe der thrakischen Besprechung nicht. Er werde nämlich für den Besonnensten seines Alters gehalten, wie er auch sonst in allen Dingen der Beste sei158. Kritias bekräftigt damit sein Urteil über Charmides’ Seelenzustand und begründet seine Richtigkeit mit der Meinung der anderen. Charmides ist vorerst gut, weil er dafür gehalten wird. Angesichts von Charmides’ Abstammung erscheint es auch Sokrates plausibel, dass sich der junge Mann auszeichnet »durch Schönheit und Tugend und was man sonst zur Glückseligkeit zu rechnen pflegt«159. Man kann diesen Verweis auf die Abstammung durchaus mit der thrakischen These, Besonnenheit entstehe durch schöne Reden, vereinbaren. Schließlich könnten die gebildeten Verwandten, wie bspw. Kritias, Charmides auf die richtige Weise besprochen haben, so dass er schon besonnen ist und ihm zur Gesundheit nur noch das Blatt fehlt. Sokrates will es aber genau wissen, denn sollte zu der körperlichen Schönheit des Charmides die seelische Gesundheit, d. h. Besonnenheit, hinzukommen, dann hat ihn »glückselig die Mutter 157 158 159

Vgl. Charmides ab 164c. Vgl. Charmides 157d. Charmides 158a.

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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geboren«160. Auch eine Besprechung nach thrakischer Methode wäre in einem solchen Fall überflüssig. Sokrates plausibilisiert zwar Kritias’ Urteil, lässt sich aber nicht von seinem Anliegen abbringen, die Selbstsicht des Jünglings in Bezug auf die Tugend zu hören und auf diesem Wege die behauptete Tugend zu erfahren. In diesem Beharren wird Sokrates’ Sachorientierung deutlich. Zugleich relativiert sich der Verweis auf die thrakische Heilkunst. Vermutlich müsste der Jüngling, auch wenn er behauptete besonnen zu sein, sich der sokratischen Prüfung stellen. Charmides ist von Sokrates’ Aufforderung zur Selbsteinschätzung beschämt. Er weiß nicht, was er antworten soll, weil er sowohl die Leugnung der eigenen Besonnenheit als auch die Selbstzuschreibung problematisch findet. Zum einen erscheint es ihm »widersinnig«161, die eigene Besonnenheit zu leugnen. Vermutlich würde die Leugnung des eigenen Besonnenseins in Charmides’ Augen gleichbedeutend mit der Aussage sein, dass er unbesonnen ist. Er würde sich damit selbst als untugendhaft und schlecht bezeichnen. Zugleich würde er mit einer Leugnung der eigenen Besonnenheit Kritias und andere als Lügner darstellen und sich vermutlich unbeliebt machen. Kritias zuzustimmen und sich selbst als besonnen zu bezeichnen, wäre in seinen Augen allerdings ein Selbstlob und könnte ebenfalls zu Missgunst führen162. Angesichts dieser Alternativen kann sich der Jüngling eigentlich nur für besonnen halten, ohne es auszusprechen. Charmides’ Antwort reflektiert also zunächst mögliche, in erster Linie soziale Folgen einer Selbstauskunft. Durch eine solche Antwort zeigt sich Charmides als ein vorsichtiger, abwägender junger Mann und zugleich als jemand, der viel Wert auf seinen guten Ruf oder das Ansehen legt. Damit bleibt zwar die Frage, ob er besonnen ist oder nicht, zunächst unbeantwortet, man erfährt aber trotzdem etwas über Charmides’ Wertvorstellungen. Seine Außenwirkung scheint ihm wichtiger zu sein als sein Seelenzustand. Infolge dieser Priorität wird er sich bisher vermutlich darum bemüht haben, die an ihn gestellten gesellschaftlichen Forderungen zu erfüllen, und hat wohl eher nicht über den eigenen Zustand nachgedacht. Dass er bei einer solchen Orientierung tatsächlich so gut sein kann, wie Kritias versichert, ist eher zweifelhaft. Sokrates bietet Charmides einen Ausweg aus dem Dilemma an und will mit ihm gemeinsam untersuchen, »ob du das besitzest oder nicht, wonach ich frage«163. Charmides stimmt dem Untersuchungsvorschlag zu und überlässt Sokrates die Gesprächsführung und die Wahl der Methode.

160 161 162 163

Charmides 158b. Charmides 158d. Vgl. Charmides 158c–d. Charmides 158d/e.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

d. Zusammenfassung In dem folgenden Hauptteil des Dialogs untersucht Sokrates also, ob Charmides das besitzt, wonach er fragt. Aber wonach fragt Sokrates? Aus der anfänglichen Frage nach dem Stand von Weisheit und Schönheit unter den Heranwachsenden ist im Verlauf des Vorgesprächs eine Frage nach Charmides’ Besonnenheit geworden. Die Verschiebung der Frage erscheint auf den ersten Blick willkürlich; betrachtet man aber die dargestellten Zwischenschritte im Zusammenhang, so wird darin eine verblüffende Logik deutlich. Die Veränderung lässt sich in Bezug auf drei Hinsichten beschreiben: erstens in Bezug auf den Gegenstand der Frage, zweitens in Bezug auf das Verhältnis von Gegenstand und Befragtem und drittens in Bezug auf das Verhältnis von Gegenstand und Fragendem.

i. Der Gegenstand der Frage In Bezug auf den Gegenstand der Frage kann man die Veränderung als eine Vergeistigung oder Vertiefung bezeichnen, da das Erfragte auf einer zunehmend grundsätzlicheren Ebene des Menschseins verortet wird. Man darf dabei nicht vergessen, dass Sokrates diese Frage stellt und ihre Vertiefung vorantreibt. Damit sagt die schrittweise Klärung des Fragegegenstandes etwas über Sokrates’ Denkrichtung aus; sie verdeutlich, worauf seine Frage und damit auch seine Prüfung zielen. Kritias und Chairephon fassen im ersten Schritt den Gegenstand der Frage zunächst ganz sinnlich auf als körperliche Schönheit eines Jünglings. Woraufhin Sokrates im zweiten Schritt verdeutlicht, dass er eigentlich die seelische Schönheit meinte. Da der Körper zwar sinnlich wahrgenommen werden kann, die Seele aber nicht, muss die Art der Betrachtung wechseln. Die Seele soll im Gespräch betrachtet werden. Das Verhältnis beider Ebenen des Menschseins, Körper und Seele, bleibt zwar zunächst unreflektiert, aber auch die zweite Art der Schönheit wird Charmides uneingeschränkt zugeschrieben. Im dritten Schritt erklärt Sokrates mithilfe der thrakischen Lehre das Verhältnis von körperlicher und seelischer Ebene des Menschen. Die Seele soll den Grund des eigenen, seelischen und des körperlichen Zustands beinhalten, so dass beides gesund, schön und gut sein soll, wenn die Seele besonnen ist. Damit wird Besonnenheit als Grund sowohl des körperlichen als auch des seelischen Wohlseins eingeführt. Die Frage hat die äußere Betrachtung des Menschen durchschritten und sich dem seelischen Grund der äußeren Erscheinung zugewandt. Der Betrachtungsgegenstand wurde zusätzlich innerhalb des seelischen Bereichs auf Besonnenheit fokussiert. Besonnenheit soll der Grund dafür sein, dass sich die gesamte Seele in einem guten Zustand befindet. Kritias beansprucht also in seinem Urteil über Charmides die Kenntnis dieses Grundes.

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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Im vierten Schritt schlägt Sokrates vor, die Besonnenheit des Charmides nicht mehr bloß beurteilen zu lassen, sondern sie zu untersuchen. Damit wird die eher alltägliche Gesprächspraxis in Form allgemeiner Meinungsäußerung überschritten. Was im Alltagsgespräch unterstellt und beansprucht war, nämlich das Verständnis der Besonnenheit, wird nun selbst Gegenstand der sachlichen Untersuchung. Sokrates’ Frage kehrt damit die übliche Denkrichtung um, so dass im Weiteren die sonst nur unterstellten Grundlagen der Meinungsäußerung selbst zum Gegenstand des Gesprächs werden. Da Besonnenheit als Grund des guten Zustands des Menschen im Ganzen, also von Seele und Körper, eingeführt wurde, wird in der folgenden Untersuchung also das Verständnis dieses Grundes mitgeprüft. Einfacher gesprochen wird im Folgenden das richtige Verständnis des Grundes eines guten Menschseins gesucht. ii. Das Verhältnis von Gegenstand und Befragtem Die zweite Dimension, in der sich die Frage innerhalb des Vorgesprächs verändert, betrifft das Verhältnis von Gegenstand der Frage und Befragtem. Dazu bleibt festzuhalten, dass die Distanz, die anfänglich zwischen Kritias und Chairephon als Befragte und der beurteilten Schönheit der Jünglinge als Gegenstand besteht, zunehmend aufgehoben wird. Es findet eine Art Zusammenführung oder Annäherung beider statt. Wiederum muss bedacht werden, dass Sokrates die Fragebewegung initiiert und aufrechterhält. Die für die Befragten erst schrittweise sichtbare Nähe zum Fragegegenstand kann für Sokrates als Fragenden nicht erst am Ende bewusst werden, sondern ist bloß ein Ausdruck der eigentlichen Reichweite seiner Frage und des von den anderen erhobenen Anspruchs. Zwischen Kritias und Charmides besteht eine verwandtschaftliche Nähe, so dass Kritias im Lichte der eigenen Familie über Charmides’ erst körperliche und dann seelische Qualität urteilt. Sokrates hebt diese Verbindung durch den Verweis auf die gemeinsame Abstammung beider mehrfach hervor. Auf diese Weise verweist die Tugend des Charmides auf Kritias, sodass auch er gewissermaßen mitgemeint ist, wenn Charmides befragt wird. Diese zunächst vermittelte Nähe zwischen Befragtem und Erfragtem wird zunehmend enger. Da Charmides schließlich über das eigene Besonnensein Auskunft geben soll, sind am Ende des Vorgesprächs Gegenstand der Frage und der Befragte nahezu identisch. Sokrates’ Umwendung der Denkrichtung verdeutlicht genau diese Dimension des Anspruchs, den Kritias in seinem Urteil erhebt. Allerdings sind die Aussagen über Besonnenheit als Grund des guten körperlichen und seelischen Zustands allgemeiner Natur, so dass hier keine vollkommene Identität zwischen Charmides und Besonnenheit vorliegen kann. Der Jüngling könnte höchstens ein vollkommen besonnener Mensch sein, der in seiner Lebensführung die gemeinte Besonnenheit verwirklicht. Da Besonnenheit den Grund eines guten

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

Menschseins darstellen soll, wird Charmides dazu aufgefordert, den Grund seines eigenen Seins oder einfacher seiner Lebensführung verständlich zu machen. Die Frage zielt damit auf seinen wesentlichen Kern. In diesem Sinne gibt es zum Ende des Vorgesprächs eine maximale Nähe von dem erfragten Gegenstand und dem Befragten. Auch hierin zeigt sich die schon angesprochene Anlage der späteren Selbsterkenntnisthematik. Die sokratische Frage fordert also die unterstellte Erkenntnis des eigenen Seinsgrundes heraus und zielt damit auf die Selbsterkenntnis. Sie ist also existentiell und nicht bloß begrifflich zu verstehen.

iii. Das Verhältnis von Gegenstand und Fragendem Die dritte Veränderung betrifft das Verhältnis von Fragegegenstand und Fragendem. Da Sokrates das allgemein beginnende Gespräch schrittweise auf die unterstellte Tugend fokussiert, kann man die entsprechende Veränderung als Ausrichtung bezeichnen. Im Gegensatz zu Kritias, dessen Verhältnis zum Erfragten durch Inanspruchnahme und Zuschreibung bestimmt ist, ist Sokrates’ Verhältnis zum Erfragten eben durch die Frage charakterisiert. Seine anfängliche Frage nach den schönen und weisheitsliebenden Jünglingen kann leicht missverstanden werden als bloße Frage nach einer Meinung über Einzelne. Allerdings zeigt sich in der oben beschriebenen Vertiefung des Fragegegenstandes, dass ihn an einer solchen Meinungsäußerung nicht das bloße Urteil, sondern die Grundlage dieses Urteils interessiert. Diese Grundlage hat zwei Dimensionen. Zum einen wird über einen bestimmten Menschen geurteilt, hier über Charmides, damit ist der Zustand dieses Menschen als der beurteilte Sachverhalt die objektive Dimension der Urteilsgrundlage. Zum zweiten urteilt Kritias über Charmides aufgrund seiner Vorstellung darüber, was einen schönen und weisheitsliebenden, später einen besonnenen und allgemein guten Menschen ausmacht. Diese Vorstellung über den beurteilten Sachverhalt ist damit die subjektive Dimension der Urteilsgrundlage. Sokrates lenkt das Gespräch von dem bloßen Urteil über Charmides so um, dass die genannten Dimensionen selbst zum Gegenstand des Hauptgesprächs werden können. Die Aufforderung zur Meinungsäußerung ist nur der erste Schritt der Ausrichtung. Mit der Frage nach den Jünglingen bietet Sokrates den anderen die Möglichkeit einer Meinungsäußerung und schafft für sich damit die Möglichkeit, ein Gespräch zu entwickeln, das auf die sachlichen Grundlagen dieser Äußerung zielt. Der zweite und dritte Schritt markiert die Umkehr der Denkrichtung. Der Übergang von der Betrachtung der äußeren Gestalt zur Betrachtung der Seele in ihrer Tugendhaftigkeit ist ein Schritt zurück zu dem Teil des Menschen, für den die Tugend beansprucht wird. Das eigentlich Gesuchte stellt die Tugend dar. Die Umwendung vertieft sich im

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vierten Schritt als Übergang von einer Fremdbeurteilung der eigenen Tugend zu einer Selbstbeurteilung. Dadurch gerät die eigene Tugendvorstellung in den Blick, so dass die eigentlichen Grundlagen von Denken und Leben untersuchbar werden. Der Zweck der im Vorgespräch verwirklichten Ausrichtung auf die Grundlagen der Tugendzuschreibung wird am Ende des Vorgesprächs deutlich. Die nun in den Blick genommenen Grundlagen sollen einer gemeinsamen Prüfung unterzogen werden. Das Vorgespräch dient also dem Fragenden dazu, die Prüfung des Fragegegenstandes vorzubereiten. Die vollzogene Umkehr ist die Grundlage des folgenden Sachprüfung und zielt auf die Verwirklichung der eigenen Möglichkeit, sachlich zu denken.

2. Hauptgespräch: die Prüfung des Alltagsdenkens und seiner Grundlagen (158e–176d) a. Die Prüfung des Alltagdenkens mit Charmides (158e–162b) i. Selbstreflexion als Antwortfindung »Auf folgende Art also, sprach ich, wird, dünkt mich, die Untersuchung der Sache am besten fortgehen. Offenbar nämlich, wenn dir die Besonnenheit beiwohnt, musst du auch etwas von ihr auszusagen wissen. Denn notwendig muss ihr Einwohnen, wenn sie dir einwohnt, eine Empfindung (αἴσθησίν) hervorbringen, auf welcher dir dann irgendeine Vorstellung von der Besonnenheit sich gründet, was sie wohl ist und worin sie besteht. […] Und dieses, fuhr ich fort, was du meinst, musst du doch, da du hellenisch reden kannst, auch zu sagen wissen, was es dir erscheint. […] Auf dass wir nun beurteilen können, ob sie dir einwohnt oder nicht, so sage mir, sprach ich, was behauptest du, dass die Besonnenheit ist nach deiner Vorstellung?«164. Wie oben thematisiert, sind zum Ende des Vorgesprächs der Gegenstand der Frage und der Befragte nahezu identisch. Diese Nähe schlägt sich auch in der von Sokrates gewählten Art der Antwortfindung nieder. Im Gegensatz zu der Art, wie Charmides im Vorgespräch über seine mögliche Besonnenheit nachdachte, soll er nun vom Urteil seiner Mitmenschen absehen und nur die eigene Wahrnehmung und Vorstellung zugrunde legen. Charmides soll also die Annäherung von Erfragtem und Befragtem nun bewusst vollziehen, die in der Frage schon erreicht wurde. Auch er soll sich auf die eigenen Denk- und Lebensgrundlagen ausrichten. Er soll bei seiner Selbstwahrnehmung beginnen, um zu einer Vorstellung der eigenen Besonnenheit zu gelangen. Von welcher Art diese Selbstwahrnehmung ist, thematisiert Sokrates nicht 164

Charmides 158e–159b.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

und überlässt Charmides die Wahl, so dass der Jüngling seinem Reflexionsniveau entsprechend beginnen kann. Der Übergang von der Wahrnehmung des eigenen Seins zu einer Vorstellung über das eigene Sein ist nicht nur der Anfang der Selbstreflexion. Eine Vorstellung von sich selbst, wenn sie begrifflich gefasst und ausgesprochen wird, bietet die Möglichkeit, nach den Gründen des eigenen Seins zu forschen und zu prüfen, ob ich das bin, was ich sein will oder zu sein beanspruche165. Indem die Selbstwahrnehmung in eine gemeinsame Sprache übersetzt wird (im Zitat oben verweist Sokrates auf Charmides’ Beherrschung des Griechischen), kann ich mir nicht nur selbst verständlich werden, sondern biete außerdem meinen Mitmenschen die Möglichkeit, mich zu verstehen. Es findet eine Art Selbstobjektivierung statt. Auf dieser Grundlage kann ein Urteil über besondere Qualitäten eines Menschen untersucht und ggf. begründet werden. Sokrates spricht damit im Grunde nur aus, was in jedem Gespräch über eine Person, bspw. von Kritias und den von ihm zitierten Mitbürgern, unterstellt wird und fordert Charmides auf, diese Unterstellung einzulösen. Die sprachlich vermittelte Kenntnis des Seelenzustands eines Menschen ist die Grundlage eines jeden Urteils über seinen Charakter und seine Tugend. Auch eine gezielte Selbstgestaltung des Menschen, also eine Bildung, die nicht bloß als Wissensansammlung verstanden werden soll, setzt eine Selbstreflexion voraus, die das eigene unreflektierte Sein auf den Begriff bringt. Der Ansatz an der Selbstwahrnehmung sichert außerdem die Verbindung des vorgebrachten Begriffs zum eigenen Sein und Leben und damit seinen existentiellen Gehalt im Gegensatz zu einer Reflexion, die bloß theoretisch ist und die verbreiteten Meinungen über die Tugend wiedergibt. Charmides kann diesem methodischen Vorschlag also gar nicht widersprechen, ohne seine Mitbürger, die über ihn geurteilt haben, als Lügner zu bezeichnen. Er stimmt, wenn auch zögernd, zu und setzt zu einer Antwort auf Sokrates’ Frage an.

Es werden immer wieder Einwände gegen die Möglichkeit, das eigene Sein begrifflich zu fassen und auszusprechen, vorgebracht. An Charmides’ zögernder Zustimmung will mancher Autor sogar Platons skeptische Haltung gegenüber der sokratischen Methode erkennen. Ich würde Charmides’ Zögern vielmehr als eine Illustrierung seines Tugendverständnisses deuten, das er anschließend ausspricht. Sokrates’ Annahme, man könnte sich von dem eigenen Sein eine aussprechbare Vorstellung bilden, reflektiert m. E. die im vorhergehenden Alltagsgespräch geteilte Unterstellung. Wenn es unmöglich wäre, sich und andere auf diese Weise zu reflektieren, dann wäre bspw. Kritias’ Urteil über Charmides’ Seelenzustand unbegründbar und das Vorhaben, die Seele des Jünglings im Gespräch zu betrachten, sinnlos. Im philosophischen Nachdenken mag sich herausstellen, dass bestimmte Alltagsannahmen unbegründet sind; seine Voraussetzung kann es aber nicht sein, weil sie selbst unbegründet wäre. 165

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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ii. Die Form der Praxis: Besonnenheit ist Bedächtigkeit (159b–160d) »Anfänglich war er [Charmides] nun bedenklich und wollte gar nicht so recht antworten, hernach jedoch sagte er, Besonnenheit dünke ihn zu sein, wenn man alles sittsam verrichte und bedächtig, auf der Straße gehen und sprechen und alles andere ebenso. Und mich dünkt, sagte er, überhaupt eine gewisse Bedächtlichkeit (ἡσυχιότης) das zu sein, wonach du fragst«166. Charmides scheint demnach Sokrates’ Aufforderung, von einer Selbstwahrnehmung auszugehen, als eine Aufforderung zur äußeren Selbstbeobachtung zu verstehen. Die beispielhafte Aufzählung alltäglicher Handlungen mit dem Zusatz »und alles andere ebenso« deutet daraufhin, dass er sich vor seinem inneren Auge handeln sieht und die Gemeinsamkeit aller seiner Tätigkeiten zu erfassen versucht. Die Frage, die Charmides damit beantwortet, könnte lauten: Wann nehme ich meine Besonnenheit wahr? Die Antwort wäre dann: beim Handeln. Der Zusatz »und alles andere ebenso« markiert Charmides’ Anspruch mit seiner Bestimmung etwas Allgemeingültiges zu erfassen. Tugend stellt für ihn also keine bestimmte Tätigkeit dar, sondern etwas, das alle Tätigkeiten begleitet. Wie sich in den folgenden Antworten zeigt, kann durchaus Verschiedenes die konkreten Tätigkeiten begleiten. Die Antwortfindung durch äußere Selbstbeobachtung führt zunächst dazu, die Tugend als die Art zu sehen, wie Handlungen richtig vollzogen werden, als eine für jeden sichtbare Form der Praxis. Charmides’ schon im Vorgespräch sichtbare Art zu handeln ist Bedächtigkeit oder Ruhe. »Ist das auch, sprach ich [Sokrates], gut erklärt? Sie sagen freilich, Charmides, von den Bedächtigen, dass sie besonnen sind. Lass uns also zusehen, ob etwas damit gesagt ist«167. Sokrates weist darauf hin, dass ihm die Bestimmung der Besonnenheit als ruhiges Verhalten bekannt ist und außerdem auch weit verbreitetet. Folglich zieht er zur Untersuchung das im Alltag übliche und schon im Vorgespräch verwendete Qualitätskriterium für sichtbare Formen heran – die Schönheit. Charmides stimmt bedenkenlos zu, dass Besonnenheit als Tugend immer etwas Schönes ist168. Zur Prüfung vervollständigt Sokrates zunächst die von Charmides aufgezählten Verhaltensbeispiele aus dem Bereich körperlicher Betätigungen169. Zu dem alltäglichen »über die Straße gehen und sprechen« kommen musische (»schreiben, Lyra spielen«) und sportliche (»Ringen«) Tätigkeiten hinzu. Bei den neuen Beispielen stellt sich heraus, dass Charmides die schnelle Ausführung für schöner hält als die bedächtige. »Es zeigt sich uns also, sprach ich [Sokrates], was den Leib betrifft, nicht das Bedächtige, sondern das Schnellste und Behendeste als das Schönere. […] Also 166 167 168 169

Charmides 159b. Charmides 159b/c. Vgl. Charmides 159c. Vgl. Charmides 159c–d.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

wäre, was wenigsten den Leib betrifft, nicht Bedächtlichkeit besonnener, sondern die Schnelligkeit, wenn doch Besonnenheit etwas Schönes ist«170. Mit diesem Zwischenergebnis ist die Prüfung der ersten Antwort allerdings noch nicht abgeschlossen. Sokrates erweitert im zweiten Prüfungsschritt den betrachteten Bereich der Tätigkeiten um die seelischen Tätigkeiten und stellt damit eine phänomenologische Vollständigkeit her, die Charmides bei seiner Selbstbeobachtung zwar beansprucht, aber nicht erreicht hat. Innerhalb des Bereichs seelischer Tätigkeiten zieht Sokrates Beispielfälle heran (»Lernen, Lehren und Nachdenken«), die Charmides’ Lebenswelt angehören, so dass Charmides bei der Beurteilung der schöneren Ausführung auf die eigene Erfahrung zurückgreifen kann171. In allen betrachteten Beispielfällen schätzt Charmides eine schnelle Ausführung als schöner ein. Das Fazit dieses Prüfungsschrittes scheint klar zu sein: auch im seelischen Bereich ist Schnelligkeit schöner als Langsamkeit und Bedächtigkeit. Hat sich damit also die Schnelligkeit als Besonnenheit erwiesen? Da die Verhaltensbeispiele, die Charmides anfänglich aufgezählt hat, nicht geleugnet werden, lautet das Prüfungsergebnis anders. »Weder im Gehen noch im Lesen, und auch sonst nirgends wäre das bedächtige Leben irgend besonnener als das nicht bedächtige, da wir in unserer Erklärung vorausgesetzt haben, die Besonnenheit gehöre unter das Schöne, und sich uns nun das Schnelle nicht minder schön gezeigt hat als das Bedächtige«172. Die Bestimmung der Besonnenheit als Bedächtigkeit ist also gescheitert. Zugleich ist auch die Gegenbestimmung als Schnelligkeit verworfen worden. Was bedeutet dieses Ergebnis für die Untersuchungsabsicht? Woran sind die beiden Bestimmungsmöglichkeiten gescheitert? Was Sokrates in seiner Ergänzung von Charmides’ Phänomenologie konsequent verfolgt hat, war Charmides’ Anspruch, die eigene Tugend müsse in allen Tätigkeiten eines Menschen präsent sein. Da die Tugend im Vorgespräch als eine grundlegende Eigenschaft eines Menschen eingeführt wurde, ist die Annahme ihrer Wirksamkeit in allen Lebensbereichen nur folgerichtig. Es lassen sich allerdings beliebig viele Dinge finden, die den Menschen in allen Lebenslagen begleiten, wie bspw. sein Körper. Diese Beliebigkeit ist mit der Tugend aber nicht vereinbar, sie kann nur als etwas in allen Lebensbereichen Wertvolles die menschlichen Tätigkeiten begleiten. Auch diese Annahme ist schon im Vorgespräch thematisiert worden, da Besonnenheit den Grund alles Guten für Leib und Seele darstellen soll. In hässlichen und schlechten Taten darf die Tugend also nicht gesucht werden, sondern nur in schönen und guten. Charmides hat nun versucht eine bestimmte Handlungsform, die Bedächtigkeit, als das herauszustellen, was in allen Lebensbereichen schön ist. In der Prüfung 170 171 172

Charmides 159d. Vgl. Charmides 159e–160a. Charmides 160c/d.

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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hat sich gezeigt, dass diese Annahme nicht richtig ist. Da verschiedene Tätigkeiten verschiedene ihnen gemäße und damit schöne Ausführungsformen fordern, bspw. schnell oder langsam, hat sich damit auch gezeigt, dass überhaupt keine Handlungsform die Tugend selbst ausmachen kann. Die Angemessenheit oder die Stimmigkeit von Ausführung und Tätigkeit bzw. von Form und Inhalt einer Handlung hängt offensichtlich von etwas Drittem ab, das zwar bei der Beurteilung als Maßstab herangezogen, aber bisher überhaupt nicht thematisiert wurde. Da weder die Form noch ein bestimmter Inhalt des Handelns die Forderung nach Allgemeingültigkeit der Tugend erfüllen kann, muss sie jenseits der reinen Handlungsebene liegen, diese aber zugleich entscheidend beeinflussen. Charmides muss bei seiner Selbstwahrnehmung offensichtlich einen anderen Ansatz wählen als bisher, um eine tiefere Ebene seiner Lebensführung reflektieren zu können.

iii. Die formgebende Haltung: Besonnenheit ist Scham (160d–161a) »Noch einmal also, Charmides, sprach ich, und genauer aufmerkend schaue in dich selbst und beobachte, wozu dich die dir einwohnende Besonnenheit macht und was sie wohl sein muss, um dich hierzu zu machen, und dies alles zusammennehmend sage dann grade und dreist, als was sie dir erscheint«173. Entsprechend der Notwendigkeit eine Betrachtungsebene zu erreichen, die dem Handeln zugrunde liegt, präzisiert Sokrates seine methodische Anweisung an Charmides. Charmides soll nun explizit »in sich selbst hineinschauen«. Dieser Verweis auf Charmides’ Innenwahrnehmung im Gegensatz zur schon untersuchten Außenwahrnehmung ist nur konsequent, da sich gerade gezeigt hat, dass die gesuchte Tugend nicht in der öffentlich sichtbaren Handlungsebene aufgeht und deshalb dort nicht gefunden werden kann. Der neue Reflexionsbereich muss der seelische Bereich des Handelnden sein, weil hier zwischen Handlungsformen entschieden wird. Charmides soll dabei nicht bloß beschreiben, welche Zustände er innerhalb seiner Seele beobachtet, sondern erstens nur die besonnenen Phänomene betrachten und zweitens von diesen auf ihren gemeinsamen Grund schließen. Sokrates beschreibt damit einen Weg zu einer Selbstbetrachtung, die nicht bei einem rein subjektiven Erleben verharrt. Der Schluss auf den Grund des Erlebten verobjektiviert das eigene Erleben, da die Struktur von Grund und Folge eine allgemeingültige Verknüpfung beinhaltet. Damit wird eine rationale Untersuchung der Selbstwahrnehmung möglich. Charmides scheint die Anweisung ernst zu nehmen, so dass er erst erneut antwortet, »nachdem er sehr wacker die Sache bei sich überlegt hatte […]. Mich [Charmides] 173

Charmides 160d/e.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

dünkt also, die Besonnenheit mache schämen und den Menschen verschämt, und dass also die Besonnenheit ist, was die Scham (αἰδὼς)«174. Er wechselt also zu einer Innensicht. Man kann zwar von bestimmten sichtbaren Anzeichen, wie bspw. einem Erröten, darauf schließen, dass sich jemand vermutlich schämt, aber es bleibt eine erschlossene Innensicht und keine direkt erfahrene. Der eigene Seelenzustand oder die eigene Haltung zu den Handlungen ist direkt nur dem Handlungssubjekt zugänglich. Nur er weiß, ob er aus Scham langsam läuft oder schnell rechnet oder ob andere Gründe für die Art seines Handelns bedeutsam sind. In diesem Zusammenhang ist die objektivierende Kraft der gemeinsamen Sprache sogar schon dafür notwendig, um das Phänomen seinen Mitmenschen zugänglich zu machen. Zugleich ist die begriffliche Fassung des eigenen Seelenzustands für den Reflektierenden ein notwendiger Schritt, um sich selbst zu verstehen. Scham oder Zurückhaltung ist also nicht nur die neue Bestimmung der Besonnenheit, sondern ein weiterer Schritt der Selbstbewusstwerdung und zugleich auch Charmides’ Selbsterklärung. Das im ersten Schritt reflektierte ruhige Verhalten war die sichtbare Erscheinung dieses Seelenzustands. Die innere Zurückhaltung kam in einer äußeren Zurückhaltung zum Ausdruck. Nun stellt sich an die neue Bestimmung die gleiche Frage wie an die alte. Ist die Scham als handlungsleitende Haltung eines Menschen immer eine Tugend? Als Prüfungskriterium expliziert Sokrates wieder eine im Vorgespräch implizite Voraussetzung, die die neue Bestimmung erfüllen muss. Er benutzt damit den von seinen Gesprächspartnern erhobenen Anspruch als Maßstab und misst Charmides’ Denken auf diese Weise an seiner eigenen Voraussetzung. Im Vorgespräch unterstellten Charmides und Kritias, dass besonnene Menschen stets gute Menschen sind. Damit Besonnenheit allerdings der Grund für dieses Gutsein sein kann, muss auch sie selbst nicht bloß etwas Schönes, sondern auch etwas Gutes sein175. Die Prüfung, ob Scham stets gut ist, fällt sehr kurz aus und besteht bloß aus einem Odyssee-Zitat. Sokrates fragt Charmides, »glaubst du nicht, dass Homeros recht hat, wenn er sagt: Nicht gut ist Scham dem darbenden Manne?«176. Da Charmides Homer zustimmt, erweist sich die Scham als gut und nicht gut zugleich. Das Problem der ersten Bestimmung scheint sich zu wiederholen. Wenn man allerdings das Phänomen der Scham etwas genauer betrachtet, so wird ein Unterschied zur ersten Bestimmung deutlich. Wie man schon im Vorgespräch an Charmides’ zögernder und beschämter Reaktion auf Sokrates’ Aufforderung, die eigene Besonnenheit zu beurteilen, deutlich erkennen kann, ist Scham einerseits ein soziales, zugleich aber auch ein stark reflexives Phänomen. Ein soziales Phänomen ist die Scham insofern, als sie sich als eine 174 175 176

Charmides 160e. Vgl. Charmides 160e. Charmides 161a.

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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Befürchtung, den eigenen Ruf zu schädigen oder gar zu verlieren, darstellt. Sie betrifft damit die Beurteilung durch die anderen. Ein stark reflexives Phänomen ist zugleich trotzdem, da die Sorge nur den eigenen Ruf betrifft und damit die erwünschte Selbstdarstellung bzw. das Selbstbild zu beschädigen fürchtet. Der eigene Ruf wird hierbei für etwas wesentlich Gutes gehalten, da sein Verlust sonst nichts wäre, was man fürchten müsste. Damit ist die von Charmides gemeinte Scham nichts Wertschöpfendes, d. h. nichts, was den sich schämenden Menschen gut macht, sondern maximal etwas Werterhaltendes. Wenn ein Mensch also in einem guten Zustand ist, dann mag Scham oder Zurückhaltung ihn davor bewahren, sich durch voreiliges Handeln zu verändern und sich damit selbst zu schädigen. Charmides’ vermeintlich guter Zustand wäre dann der gute Ruf, den er bei seinen Mitbürgern genießt. Wenn der Mensch allerdings in irgendeine Notlage gerät, dann würde eine schamhafte Zurückhaltung ihn in seiner Not verharren lassen und damit auch diesen Zustand erhalten, anstatt seine Überwindung voranzutreiben. Die betrachtete Scham stellt damit eine Art Rückzug des Handelnden auf sich selbst dar und zwar gepaart mit der Unterstellung, man würde sich auf etwas Gutes zurückziehen. Ob diese Unterstellung gerechtfertigt ist und worin dieses Gute ggf. besteht, ist weiterhin offen. Sokrates hingegen vollzieht in dem betrachteten Textstück einen weiteren Schritt in der eingeschlagenen Denkrichtung auf die Begründung hin. In seiner Prüfung wird einsehbar, dass die Tugend allgemein nicht äußerlich gedacht werden kann. Und zwar äußerlich in einem doppelten Sinne. Sie kann erstens nicht als bloßes Handeln aufgefasst werden, weil das Handeln stets von der Haltung her begründet wird. Bei einer Auffassung der Tugend als die eigene Haltung kann die Tugend zweitens nicht gefunden werden, wenn diese Haltung das eigene Sein nicht verbessert. Die Tugend kann für den Einzelnen also nur in einem Selbstverhältnis liegen, das auf die eigene Verbesserung ausgerichtet ist. Sie zeigt sich damit als eine erst zu erbringende Leistung des Einzelnen. Es ist an dieser Stelle des Gedankengangs allerdings noch offen, auf welchen Maßstab diese Haltung der Selbstverbesserung ausgerichtet sein soll. Im Dialog wird dieser Maßstab in den nächsten Schritten in den Blick genommen.

iv. Das Prinzip der Praxis: Besonnenheit ist das Seinige zu tun (161b–162b) »Dies scheint mir [Charmides] ganz richtig gesagt zu sein, Sokrates. Folgendes aber betrachte dir, wie es dich dünken wird, von der Besonnenheit. Eben nämlich erinnere ich mich, was ich schon einen habe sagen gehört, Besonnenheit sei, wenn man das Seinige tue (τὰ ἑαυτοῦ πράττειν). Überlege also, ob dich der dünkt richtig zu erklären, der dieses sagt«177. 177

Charmides 161b.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

Im Unterschied zu den vorhergehenden Antworten wartet Charmides weder eine methodische Anweisung ab, noch nimmt er sich Bedenkzeit. Die neue Bestimmung folgt prompt auf die Widerlegung. Man könnte sagen, dass Charmides angesichts der drohenden Widerlegung und damit eines Gesichtsverlusts vor den Zuhörern die schamhafte Zurückhaltung aufgibt und die Flucht nach vorn antritt. Die neue Antwort ist offensichtlich kein Ergebnis seiner Selbstreflexion, sondern ein fremdes Zitat, sodass zunächst kein Zusammenhang zwischen dem vorgebrachten Begriff und der gelebten Erfahrungswirklichkeit des Charmides hergestellt ist. Charmides eignet sich den Begriff nicht an und will ihn nicht verteidigen, sondern gibt die Verantwortung an den anonymen Zitierten und an Sokrates ab. Indem Charmides die Verantwortung für die neue Antwort von sich weist, versucht er sich unausgesprochen, der Prüfung durch Sokrates zu entziehen. Das forsche Antworten, das scheinbar das Gegenteil der Zurückhaltung darstellt, steht damit im Kontrast zu dem inneren Rückzug vor der sokratischen Sachfrage. Das fremde Zitat lenkt vordergründig von Charmides’ Seelenzustand ab, so dass sein Sein ungeprüft erhalten bleiben könnte. Trotzdem fügt sich die neue Bestimmung in die Reihe der bisherigen ein. Erstens wird die Tugend weiterhin praktisch gedacht. Zweitens vereint die neue Bestimmung die beiden Aspekte, die vorher auf zwei getrennte Antworten verteilt waren. In der ersten Antwort wurde einzig das Handeln betrachtet und in der zweiten ausschließlich der Handelnde. In der dritten Bestimmung soll das Seinige nicht bloß der Fluchtpunkt des schamhaften Rückzugs sein, sondern praktisch verwirklicht, eben getan werden. Eine solche Vereinigung kann nur durch ein allgemeingültiges Prinzip erreicht werden, das als Maßstab des objektiven Handelns und der subjektiven Haltung fungiert. Sokrates vermutet, dass Kritias der Zitierte ist. Dieser will die Verantwortung für den Begriff vorerst aber nicht übernehmen178. Ohne einen Menschen, der für die Deutung dieses Begriffs einsteht, wird der Begriff unverständlich. »Weil doch gewiss derjenige es nicht so gemeint hat, wie die Worte lauten, welcher sagt, Besonnenheit sei, wenn man das Seinige tue«179. Um die Problematik der wörtlichen Bedeutung zu veranschaulichen, greift Sokrates erneut auf Beispiele aus Charmides’ Lebenswelt zurück. Er spricht zunächst von Sprachlehrern, vom Lesen und Schreiben des eigenen oder fremden Namens. Denn deutet man das Seinige wörtlich und damit rein reflexiv, dann müsste der Besonnene sich ausschließlich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern und d. h. nur etwas über sich selbst lernen und lehren und auch bei allen anderen Tätigkeiten nur seine eigenen Bedürfnisse beachten180. Kurz gefasst, der Besonnene müsste vollkommen selbstbezogen, also ein Egoist sein. Bei einer solchen 178 179 180

Vgl. Charmides 161c. Charmides 161d. Vgl. Charmides 161d–162a.

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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Ausdeutung des Seinigen als das unmittelbar Eigene ergeben sich hauptsächlich zwei Probleme. Zum einen scheint eine Unvereinbarkeit von Fachkunst und Besonnenheit zu entstehen. Das ist insofern problematisch, als das fachkundige Handeln als Modell eines qualitativ hochwertigen Handelns dienen kann. Der Fachkundige, bspw. ein Lehrer oder Arzt, zeichnet sich gegenüber dem Laien im Wesentlichen dadurch aus, dass er sich auf seinen Gegenstand einlässt. Diesem Einlassen auf den Gegenstand verdankt der Fachkundige seine Kompetenz. Dazu muss er von sich selbst absehen. Der Lehrer muss bspw. alle Buchstaben und Worte lehren, damit sein Schüler Lesen und Schreiben lernt. Er kann sich nicht darauf beschränken, nur die Buchstaben zu vermitteln, die in seinem eigenen Namen enthalten sind181. Die selbstbezogene Deutung des Seinigen verstößt gegen Charmides’ Annahme, dass die Tugend alle Tätigkeiten begleitet. Denn die Tugend als Tun des Eigenen würde nur die kunstlosen und damit tendenziell schlechten Handlungen begleiten. Der Egoismus des Einzelnen kann das gute Handeln also nicht begründen. Das zweite Problem zeigt sich im Durchdenken einer verallgemeinerten Selbstbezogenheit des Handelns, also eines Egoismus’ aller Menschen. Charmides ist davon überzeugt, dass eine Stadt nicht gut verwaltet wäre, wenn sich darin jeder ausschließlich um das Eigene kümmerte182. Seine Überzeugung leuchtet ein, wenn man wiederum auf die Notwendigkeiten einer Fachkunst blickt. Die Bau- oder Schneiderkunst bspw. erfordert jeweils eine recht hohe Spezialisierung und damit eine ausschließliche Beschäftigung mit einem Gegenstandsbereich. Da aber ein Mensch sowohl ein Haus als auch Kleidung benötigt, wird in der entworfenen egoistischen Stadt jeder Bürger sowohl sein eigener Baumeister als auch Schneider sein müssen. Damit bleibt keine Zeit für eine Spezialisierung und Vervollkommnung auf einem Gebiet, so dass sowohl die Häuser als auch die Kleidung dieser Bürger eher laienhaft und damit schlechter gearbeitet sein werden als in einer arbeitsteilig organisierten Stadt. Schon in diesem technischen Sinne wäre eine egoistische Stadt schlecht verwaltet, so dass die Besonnenheit als etwas Gutes der Grund von etwas Schlechtem wäre. Beide Schwierigkeiten müssen in einem richtigen Verständnis der Tugend überwunden werden. Eine Tugend sollte, wenn sie denn von einem Menschen verwirklicht wird, in allen Lebenslagen möglich sein und kann als Gutes nur Gutes hervorbringen. Da die egoistische Deutung des Seinigen gegen beide Forderungen verstößt, muss sie grundsätzlich verworfen werden. Aufgrund seiner Sachlosigkeit ist der Egoismus als Lebensprinzip also unvereinbar mit einem guten Leben. Sokrates nutzt hier die im fachgerechten Handeln enthaltene Bezugsstruktur, um die Verständnislücke aufzuzeigen. In den Fachkünsten stellt eben nicht der Fachmann, sondern der Fach181 182

Vgl. Charmides 161d. Vgl. Charmides 162a.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

gegenstand das jeweils Seinige dar, so dass die Bestimmung des Seinigen nicht trivial ist. Das richtige Verständnis des Seinigen kann nicht einfach unterstellt werden, sondern muss im Sachbezug erworben werden.

v. Zusammenfassung Da Charmides keine andere Deutung des Seinigen anbietet, ist das Gespräch mit ihm beendet und damit auch seine Selbsterklärung abgeschlossen. Was kann an der erfolgten Prüfung über Charmides’ Seelenzustand und die Tugend Besonnenheit eingesehen werden? Was erreicht Sokrates in der bisher nachvollzogenen Prüfung? Zu Charmides’ Seelenzustand lässt sich folgendes festhalten. Wie schon oben angeführt, fasst die dritte Antwort die beiden ersten in dem Sinne zusammen, als dass sie ihnen als Prinzip zugrunde liegt. Die Tatsache, dass Charmides an solch bedeutsamer Stelle der Selbstreflexion, d. h. als Begründung seiner handlungsleitenden Haltung, einen fremden, unverstandenen Begriff vorbringt, vervollständigt das Bild, das im Verlauf des Gesprächs von dem Jüngling entsteht. Die sich im Vorgespräch abzeichnende Orientierung an den Meinungen seiner Mitmenschen kehrt an dieser Stelle wieder. Sein Leben ist demnach bis in die prinzipielle Begründung hinein fremdbestimmt. Es wäre möglich, dass ihm dieses bisher nicht einmal bewusst war. Sein guter Ruf, den er durch sein bedächtiges Handeln und seine Zurückhaltung bewahrt hat, ist selbst, wie im Vorgespräch von Sokrates angedeutet, bloß eine Folge seiner Familienzugehörigkeit. Charmides’ Leistung reduziert sich auf den Erhalt dieser Familienehre. Die Sorge um den vermeintlichen Wert, den man durch Geburt hat, ist also die von Charmides unbewusst praktizierte Deutung der Formel, man solle das Seinige tun. Er weiß, dass die Lebensführung gut und richtig ist, die den einmal erworbenen Wert erhält, aber worin dieser Wert besteht und wie man ihn erwirbt, weiß er nicht. Sein Seiniges ist damit der Erhalt eines unterstellten und unerkannten Wertes. Da Charmides sich offensichtlich über seinen guten Ruf definiert und diesen zu erhalten versucht, ist das Leben, das er führt, allgemeiner gesprochen das Leben des Selbsterhalts. Die von Charmides verkörperte Version eines egoistischen Selbstbezugs ist also als Streben nach Selbsterhalt zu verstehen. Sokrates führt an der wörtlichen Ausdeutung des Seinigen allerdings vor, dass es notwendig ist, sich um das Verständnis des Seinigen zu bemühen. Ohne eine solche Bemühung füllt der natürliche oder naive Egoismus die Verständnislücke. Ein konsequent gedachter Selbstbezug des Handelnden zeigt sich allerdings als zerstörerisch sowohl für die Fachkünste als auch für die Gemeinschaft, so dass der Handelnde unter recht dürftigen Umständen leben müsste. Damit wird zwar die eigene Existenz erhalten, aber sie wird dadurch nicht wertvoll. Das gute Leben bleibt auf diese Weise unverwirklicht. Der Selbsterhalt des Menschen und der Erhalt des Guten sind also

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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nicht identisch. Über die Besonnenheit als etwas Gutes kann aus dem Nachvollzug der Prüfung also bisher nur eingesehen werden, dass sie sich im Verhalten des Menschen zeigt und als eine innere Haltung zu sich selbst wahrgenommen werden kann. Im Wesentlichen aber zeigt sich, dass sie auf ein richtiges Verständnis des eigenen Seins angewiesen ist. Diese Rückführung der Selbstreflexion von einer Betrachtung des Handelns bis zum Bewußtsein des unterstellten Selbstverständnisses des Handelnden, indem der Zusammenhang der betrachteten Ebenen des Lebensvollzugs hergestellt wird, ist die Leistung der sokratischen Prüfung. In der Prüfung von Charmides’ Selbstsicht wird ein gedanklicher Dreischritt vollzogen. Im ersten Schritt wird das konkrete Handeln als Tugend untersucht, im zweiten die handlungsleitende Haltung und im dritten das Lebensprinzip, das Handeln und Haltung begründen soll. Dieser Dreischritt lässt sich als ein Bewusstseinserwerb beschreiben, da Charmides scheinbar zum ersten Mal aus dem unmittelbaren Lebensvollzug heraustritt und sich der eigenen Seinsweise bewusst wird. Er vollzieht die im Vorgespräch vorgezeichnete Verinnerlichung des Grundes der eigenen Tugend. Die objektiv beobachtbare Handlungsform und die subjektiv eingenommene formgebende Haltung zeigen sich als Folgen der natürlichen Orientierung am Ich, die letztlich den Selbsterhalt zum Maßstab der Lebensführung erhebt. Die sokratische Prüfung verdeutlicht, dass ein Selbsterhalt im Sinne der Existenzsicherung noch kein Werterhalt ist. Das Problem eines natürlichen Selbstbezuges ist das fehlende Verständnis des eigenen Seinigen oder kurz das fehlende Selbstverständnis. Wie oben besprochen, ist die begriffliche Selbstobjektivierung ein notwendiger Schritt des Bewusstwerdungsprozesses, der eine rationale Betrachtung und damit ein Verständnis des eigenen Seins erst ermöglicht. Ein in Bezug auf die eigene Lebensbegründung unbewusst lebender Mensch kann also nicht verstanden haben, was das Seinige ist, das er tun soll, um ein gutes Leben zu führen. An Charmides führt Sokrates vor, dass die reine Bewusstwerdung der gelebten Seinsweise noch nicht zum richtigen Selbstverständnis führt, sondern erst die Notwendigkeit des Sich-Verstehens aufwirft. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus der Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit. Für die unmittelbare Seinsweise des Charmides wurde Tugend, d. h. die Verwirklichung des besten Zustands eines Menschen, beansprucht. Es zeigte sich aber ein Zustand, der sich bestenfalls unabhängig von seiner Qualität selbst erhält und im schlechtesten Fall die vorhandenen Güter für den eigenen Erhalt verbraucht und damit die Grundlage seines Erhalts zerstört. Der unbewusst-praktische Selbstbezug unterstellt zwar das eigene Gutsein; es herstellen kann er aber nicht. Sobald sich der Mensch dieser Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit bewusst wird, kann er nach einem Verständnis des Seinigen suchen. Damit verdeutlicht die sokratische Prüfung das Begründungsverhältnis zwischen Denken und Handeln im menschlichen Leben. Das von Charmides repräsentierte

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

Denken unterstellt, dass das Handeln selbst schon die Begründung eines Lebens darstellt. Das Denken hätte in einem solchen Fall für die Lebensführung eine nachgeordnete Funktion. Es würde bloß die handelnd verwirklichte Begründung bewusst machen. Sokrates zeigt nun in der Prüfung der unbewusst-praktischen Lebensform des Charmides, dass der bloße Lebensvollzug begründungsbedürftig ist, weil er das eigene Maß nicht enthält und sich selbst überhaupt nicht versteht. Damit kann im Hinblick auf Tugend und ein gutes Leben das Handeln das Denken nicht begründen, sondern bedarf umgekehrt selbst einer Begründung durch das Denken. Für ein richtiges Handeln und ein gutes Leben muss also zunächst das Denken richtig sein. In der Prüfung der Charmides-Antworten findet damit eine Vertiefung der im Vorgespräch eingeleiteten Umkehr der Denkrichtung statt. Im Vorgespräch wurde zunächst das Denken von dem ableitenden Blick auf die Folgen unbewusster Voraussetzungen auf diese Voraussetzungen selbst umgelenkt. Charmides verstand diese Umlenkung als eine Aufforderung zur Selbstbetrachtung und began wiederrum bei abgeleiteten Aspekten seiner Selbst: bei seinem Handeln. Innerhalb der von Charmides begonnenen Selbstbetrachtung lenkt Sokrates das Denken vom Handeln auf das Denken selbst um und vertieft damit die Ausrichtung auf die Gründe des Lebensvollzugs. In der vorliegenden Prüfung ist Sokrates derjenige, der über die Tugend als Maß der Lebensführung nachdenkt. Da sich nun in der Untersuchung der Charmides-Antworten zeigt, dass die Begründung der Richtigkeit einer Lebensführung nicht einfach vorausgesetzt werden kann, sondern noch erbracht werden muss, hat sich Sokrates’ Frage nach der Begründung also im Vollzug als gerechtfertigt erwiesen. Die Bedürftigkeit der unbewussten Lebensführung ist ein Mangel, den die sokratische Frage bewusst macht und den sie zugleich im Vollzug zu überwinden ansetzt, da sie nach der fehlenden Begründung sucht. Im weiteren Nachvollzug des Dialogs muss untersucht werden, ob Sokrates die angestrebte Begründung auch erreicht.

b. Die Prüfung der Grundlagen des Alltagsdenkens mit Kritias (162c–175a) i. Das Selbstverständnis der Praxis: Besonnenheit ist Gutes zu tun (162c–164c) Als Charmides andeutet, dass der Zitierte das Seinige vielleicht selbst nicht verstanden hat, kann Kritias sich nicht mehr zurückhalten. Wütend fällt er ins Gespräch ein und wirft Charmides vor, dem Zitierten das eigene Unverständnis zuzuschreiben. »Aber, sprach ich [Sokrates], bester Kritias, das ist wohl nicht zu verwundern, dass dieser [Charmides] es nicht weiß, der noch so jung ist, wohl aber ist zu glauben, dass du es weißt in deinem Alter und bei deinen Beschäftigungen mit diesen Dingen. Wenn

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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du also einräumst, das sei die Besonnenheit, was dieser sagt, und du den Satz übernehmen willst, so möchte ich noch weit lieber mit dir untersuchen, ob das Gesagte wahr ist oder nicht«183. Sokrates greift Kritias’ Einwand auf und lenkt ihn auf die sachliche Ebene, indem er Kritias’ implizit beanspruchte Deutungskompetenz plausibilisiert. Der Altersunterschied der beiden Vettern ist dabei nur vordergründig von Bedeutung. Er erklärt nur, warum Charmides sich noch gar nicht um ein Verständnis der Formel, Besonnenheit sei das Tun des Seinigen, bemühen konnte. Er ist einfach zu jung. Kritias hat aber nicht nur einen Zeit-, sondern auch einen Bildungsvorsprung. Deswegen kann man von ihm erwarten, dass er erstens die von Charmides reflektierte Praxis kennt, zweitens diese schon vorher reflektiert hat, sich also ihrer Voraussetzungen bewusst ist und drittens sich um das Verständnis dieser Voraussetzungen bemüht hat. Indem Kritias die Verantwortung für die These explizit übernimmt184, beansprucht er viertens, ihr richtiges Verständnis schon erworben zu haben. Da Kritias also beansprucht, die letzte Antwort richtig zu verstehen, nimmt Sokrates die Untersuchung wieder auf, indem er an das Problem der wörtlichen Ausdeutung des Seinigen anknüpft. Es zeigte sich, dass Handwerker für sich und für andere etwas tun können. Fraglich war allerdings, ob sie in beiden Fällen besonnen sein können. Vordergründig scheint es zunächst so, als ob eine Tätigkeit für andere der Bestimmung der Besonnenheit als das Tun des Seinigen widerspricht185. Kritias behauptet nun, dass hier kein Widerspruch vorliegt, weil es einen Unterschied gebe zwischen Tun (πράττειν) und Machen (ποιεῖν). Zur Begründung dieser Begriffsunterscheidung beruft er sich auf Hesiod, der gesagt hätte: »Keine Verrichtung ist Schande«186. Nach Kritias hat Hesiod solche Tätigkeiten wie die Herstellung von Schuhen oder Prostitution nicht gemeint, »sondern auch er, glaube ich, hielt Machen für etwas anderes als Verrichten und Tun, und dass etwas zu machen wohl bisweilen Schande wäre, wenn das Schöne nicht dabei ist, keine Verrichtung aber jemals Schande wäre. Denn nur was schön und nützlich gemacht ist, nannte er Werke, und nur ein solches Machen Verrichtungen und Handlungen. Und man muss behaupten, nur dergleichen habe er für das einem jeden Gehörige gehalten, alles Schädliche aber für ungehörig. So dass man glauben muss, auch Hesiodos und jeder andere, wer nur vernünftig ist, halte den, der das Seinige tut, für besonnen«187. Den Unterschied von Machen und Tun erläutert Kritias im Grunde indirekt über eine Neuakzentuierung des Seinigen. Im ersten Schritt wird angedeutet, dass eine Tä-

183 184 185 186 187

Charmides 162d/e. Vgl. Charmides 162e. Vgl. Charmides 162e–163a. Charmides 163b. Charmides 163b–c.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

tigkeit, die jemandem im Sinne einer Annehmlichkeit oder auch als Gelderwerb zur Existenzsicherung nutzt, wie eben die Herstellung von Schuhen oder Prostitution, noch nicht ausreicht für Besonnenheit. Diesen Tätigkeiten kann es nach Kritias an Schönheit mangeln, was dann schändlich ist. Genauer müsste man wohl sagen, dass diese Ziele, also das Angenehme und die Existenzsicherung, auch auf unschönem, unlauterem Wege erreicht werden können. Deswegen muss das Seinige anders und zwar als »das einem jeden Gehörige« verstanden werden. Wer in diesem Sinne das Seinige tut, den hält der Vernünftige für besonnen. Indem Kritias das Seinige mit dem Schönen und Gehörigen gleichsetzt, benennt er einen Maßstab für den oben diskutierten natürlichen Egoismus. Zugleich expliziert er den Anspruch, den die Praxis des Charmides enthält. Der praktische Selbstbezug soll nicht gleichbedeutend mit dem problematischen Streben nach Eigennutz sein, sondern etwas Gutes verwirklichen. Anders formuliert, orientiert sich der Besonnene nicht schlechthin an sich selbst, sondern nur an seinem Guten. Das Handeln, das aus dieser Orientierung resultiert, ist dann schön und nützlich sowohl für den Handelnden als auch für andere. Für die Besonnenheit wäre nach Kritias nur dieses Handeln entscheidend. Woran jenseits des konkreten Nutzens erkannt werden kann, ob der nützlich Handelnde das Seinige tut oder nicht, bleibt zunächst offen. Der Verweis auf die Selbstverständlichkeit des richtigen Verständnisses des Seinigen für jeden, »wer nur vernünftig ist«188, deutet allerdings daraufhin, dass im Grunde jeder, wenn er nur ein wenig darüber nachdenkt, weiß, was sich gehört und dass es vernünftig ist, dieses zu tun. Gutes Handeln wäre damit gleichbedeutend mit wohlüberlegtem und vernünftigem Handeln. In Bezug auf Besonnenheit würden die Menschen sich dann nur darin unterscheiden, dass manche auf ihre Vernunft hören und das Seinige tun, andere aber nicht. Bevor Sokrates Kritias’ Deutung untersucht, vergewissert er sich, ob er sie richtig erfasst hat. »O Kritias, sprach ich, gleich als du anfingst, habe ich wohl beinahe deine Erklärung verstanden, dass du unter dem einem jeden Gehörigen und Seinigen Gutes verständest und den Handlungen, was die Guten machen; denn auch vom Prodikos habe ich tausenderlei dergleichen gehört, wie er die Worte unterscheidet. Ich aber will dir gern gestatten, jedes Wort zu nehmen, wie du willst; erkläre dich aber nur, worauf du jedes Wort beziehst, dessen du dich bedienst. Jetzt also bestimme von vorn noch einmal deutlicher, ob du die Handlung oder Verrichtung, oder wie du es sonst nennen willst, des Guten, ob du diese Besonnenheit nennst«189. Kritias’ Begriffsunterscheidung ist Sokrates also nicht neu. Trotzdem lässt er sich auf diese begrifflichen Feinheiten nicht im Einzelnen ein. Denn er interessiert sich gar nicht für die Worte selbst, sondern nur für die gemeinten Sachverhalte, auf die 188 189

Charmides 163c. Charmides 163d–e.

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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Kritias sich mithilfe der Worte bezieht. Diese kurze Bemerkung erklärt das Fehlen einer ausgefeilten Terminologie im sokratischen Denken. Solange der Bezugspunkt der Begriffe kenntlich gemacht wird, kann Sokrates sich darauf prüfend ausrichten. So zieht er auch im aktuellen Fall das Wesentliche aus Kritias’ Rede heraus und bringt es auf eine kurze Formel. Nach der Rückfrage, ob nur der besonnen sei, der Gutes und nicht Böses macht, fasst Kritias seine neue Bestimmung der Besonnenheit als »das Tun des Guten (τῶν ἀγαθῶν πρᾶξιν)«190 zusammen. »Vielleicht hindert auch nichts, dass du [Kritias] recht habest, sprach ich [Sokrates]; das indessen wundert mich, wenn du glaubst, besonnene Menschen könnten wohl auch nicht wissen, dass sie besonnen sind. – Aber das glaube ich auch nicht, sagte er«191. Die Nähe von vernünftigem, wissentlichem Handeln und gutem Handeln ergab sich zwar in der obigen Analyse von Kritias’ Ausdeutung des Seinigen. Trotzdem folgt Gegenteiliges aus seiner expliziten Bestimmung. Am Beispiel eines Arztes führt Sokrates vor, dass Kritias doch nur den konkreten Nutzen einer Tätigkeit zum Kriterium der Besonnenheit erhebt, wenn er davon spricht, dass man Gutes tun müsse, um besonnen zu sein. Nach Kritias tut ein Arzt etwas Nützliches, wenn er einen Menschen heilt. Indem er Nützliches tut, tut er das, was sich gehört und ist damit besonnen192. Allerdings muss ein Arzt nicht notwendig wissen, dass seine Behandlung erfolgreich sein und der Patient gesund werden wird. »Also bisweilen, sprach ich [Sokrates], indem er nützlich handelt oder schädlich, weiß der Arzt selbst nicht, wie er handelt; dennoch aber, wenn er nützlich handelt, nach deiner Rede, hat er auch besonnen gehandelt. […] Also, wie es scheint, bisweilen handelt er zwar besonnen, indem er ja nützlich handelt, und ist also besonnen, weiß aber selbst nicht, dass er besonnen ist. – Aber dieses, o Sokrates, sagte er, kann doch auf keine Weise sein«193. Das Arztbeispiel lässt sich auch auf andere Künste übertragen, denn auch andere Künstler wissen nicht mit Notwendigkeit im Voraus, ob ihr Werk nützlich sein wird. Je nach Gegenstandsbereich einer Kunst ist ihre tatsächliche und nicht bloß beabsichtigte Nützlichkeit von zufälligen empirischen Umständen oder von den Meinungen anderer Menschen abhängig194, so dass sie eben nicht vorher wissen können, ob sie etwas Nützliches tun. Wie schon oben ausgeführt, verknüpft Kritias das vernünftige Charmides 163e. Charmides 164a. 192 Vgl. Charmides 164a/b. 193 Charmides 164b/c. 194 Ganz deutlich wird diese Zufälligkeit an Kritias’ Bewertung des Schuhmacherhandwerks (vgl. Charmides 163b). Obwohl Menschen lieber beschuht als barfüssig gehen und damit Schuhe durchaus gebraucht werden, ordnet Kritias dieses Handwerk dem bloßen Machen zu. Er leugnet damit dessen Nützlichkeit, ohne diese Abwertung zu begründen. Aus Kritias’ Sicht ist es offensichtlich ausreichend, dass er als ein Vernünftiger diese Tätigkeit als ungehörig ansieht. 190 191

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

und das gute Handeln einerseits ganz eng. Andererseits nimmt er in der expliziten Bestimmung der Besonnenheit keinerlei Bezug auf das Denken, sondern erhebt einzig die Handlungsfolgen zum Kriterium der Tugend. Diese Diskrepanz zwischen impliziten Selbstverständnis der reflektierten Praxis und expliziten Tugendbegriff deckt Sokrates am Arztbeispiel auf. An diesem Untersuchungsschritt lässt sich das grundverschiedene Verhältnis von Kritias und Sokrates zu der reflektierten Praxis verdeutlichen. Kritias muss sich im Unterschied zu Charmides nicht erst um ein Bewusstsein der unmittelbar gelebten Praxis bemühen, sondern setzt schon an diesem Bewusstsein an. Sein Anspruch besteht nun darin, das richtige Verständnis dieses Bewusstseins zu erläutern. Dazu geht er von dem Maßstabsbegriff der Praxis aus – von dem Seinigen. Seine Aufklärung enthält im Grunde zwei Elemente. Zum einen ist das Seinige das, was sich gehört. Es ist also nicht bloß reflexiv gemeint, sondern enthält eine sozialnormative Komponente. Und zum zweiten ist das Handeln, das das Seinige verwirklicht, ein schönes und nützliches, kurz gutes Handeln. Es kann also weder dem Einzelnen noch der Gemeinschaft schaden. Zusammengefasst würde also das richtige Selbstverständnis der Praxis nach Kritias folgendermaßen lauten: wer so handelt, wie es sich gehört, tut das Seinige, handelt also gut und ist damit besonnen. In der Behauptung, etwas würde sich so gehören, ist der Anspruch auf die Richtigkeit und damit auf eine vorhandene Begründung des Handelns enthalten. Eine weitere Begründung dieser Formel erübrigt sich nach Kritias, weil jeder Vernünftige dies so sehen würde. Kritias übernimmt für den Praktiker im Grunde bloß die Aufgabe einer vernünftigen Selbstreflexion. Die Beschränkung der Besonnenheit auf das Tun verdeutlicht Kritias’ Ansicht, die Selbstreflexion für den Praktiker stellvertretend vollziehen zu können. Damit wäre diese Reflexion für die Tugend selbst unwesentlich. Die Einsicht des Vernünftigen wäre in dem allgemeinbekannten Gehörigen konserviert, so dass die eigene Tugendleistung auf das richtige Handeln beschränkt bleiben könnte. Das eigene Verständnis des Gehörigen, d. h. des Maßstabs der Tugend, wäre für die Verwirklichung der Tugend im eigenen Lebensvollzug irrelevant. Diese Bedeutungslosigkeit des Denkens für die Lebenspraxis ist vordergründig nachvollziehbar. Da der Vernünftige nach Kritias die gelungene Praxis reflektiert und bloß ihre Grundlage auf den Begriff bringt, unterstellt er, dass die unreflektierte Praxis schon das Gute verwirklicht. Die Reflexion ist bloß nachgeordnet und bringt nichts wesentlich neues in die Praxis ein. Das richtige Handeln begründet nach Kritias also die Tugend und das gute Leben. In einem solchen Fall bleibt allerdings unklar, wieso eine bestimmte Lebensführung gelingt und eine andere nicht. Wenn man die von Kritias vorgebrachte Überlegenheit des Vernünftigen gegenüber dem Unvernünftigen fassen will, muss man das Verhältnis von Denken und Handeln anders verstehen als eine bloß nachgeordnete Reflexion einer aus sich heraus erfüllten Praxis.

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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Sokrates macht in der Prüfung die von Kritias vergessene Grundlage seiner vermeintlichen Überlegenheit bewusst – eben die Kenntnis der eigenen Handlungsgrundlage. Hier zeigt sich erneut die von Sokrates vollzogene Umkehr der Denkrichtung im Verhältnis zu der Denkrichtung seiner Gesprächspartner: Kritias versucht, den Einzelnen von der Notwendigkeit der Kenntnis der eigenen Lebens- und Handlungsgrundlagen zu befreien; Sokrates hingegen verdeutlicht, dass der Einzelne dieser Kenntnis bedarf. Sokrates bezweifelt nicht, dass das Tun des Guten tugendhaft wäre, sondern dass ein solches Tun allein die Tugend begründet. In seiner Untersuchung wurde bisher deutlich, dass die menschliche Praxis in allen ihren Aspekten begründungsbedürftig ist. Ihre Form kann Ausdruck der Tugend aber auch der Untugend sein. Die handlungsleitende Haltung des Handelnden kann das schon verwirklichte Sein bewahren; sie kann aber keine Tugend begründen, wenn keine vorhanden ist. Das Prinzip der Praxis, als das Tun des Seinigen und Guten auf den Begriff gebracht, verweist selbst über das bloße Handeln hinaus. Dieser Maßstab, d. h. das Seinige und Gute des Menschen, muss zuerst verstanden werden. Damit kann der Maßstab einer guten Praxis nicht mehr in der bloßen Praxis gesucht werden. Auch die Nachahmung der guten Praxis eines Vernünftigen reicht zum Gelingen der eigenen Praxis nicht. Dieser nachgeahmten Praxis fehlt die eigene Begründung. Der Einzelne muss sich selbst um das Verständnis des Maßstabs bemühen, wenn er gut Handeln und ein gutes Leben führen will. Da Sokrates im Gespräch die Grundlage der unbewussten Praxis bewusst macht und in der Prüfung nach dem richtigen Verständnis dieser Grundlage fragt, ist der vorliegende Tugenddialog der Vollzug einer solchen Bemühung um das Verständnis des Maßstabs einer guten Lebenspraxis. Zusammenfassend kann das unterschiedliche Verhältnis zur Praxis auf folgende Art bestimmt werden. Für Kritias ist die Lebenspraxis ein Anlass, um den eigenen Tugend- und Erkenntnisanspruch zu aktualisieren und die Notwendigkeit einer Suche nach einer Begründung abzustreiten. Für Sokrates ist die Lebenspraxis hingegen ein Anlass zur Prüfung des Anspruchs und zur Suche nach der Begründung der Lebensführung.

ii. Die Begründung der guten Praxis: Besonnenheit ist Selbsterkenntnis (164c–175a) »Aber dieses, o Sokrates, sagte er, kann doch auf keine Weise sein; sondern wenn du meinst, dass etwas von dem, was ich vorher behauptete, hierauf notwendig führe, möchte ich lieber etwas von jenem zurücknehmen und mich nicht schämen einzugestehen, dass ich mich unrichtig ausgedrückt habe, lieber als dass ich zugeben sollte, irgendein Mensch, der von sich selbst nicht wisse, könne besonnen sein. Vielmehr möchte ich beinahe sagen, eben dieses wäre die Besonnenheit, das Sich-Selbst-Ken-

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

nen (τὸ γιγνώσκειν ἑαυτόν), und ganz dem beistimmen, der in Delphi diesen Spruch aufgestellt hat«195. Kritias hat zwar bei der Entwicklung des Arztbeispiels jedem Schritt zugestimmt, die Folgen für die Besonnenheit will er allerdings nicht annehmen. Die Undenkbarkeit eines Besonnenen, der sich selbst nicht kennt, bestätigt die Deutung, Kritias denke den guten Praktiker als vernünftig und damit bewusst handelnd. Da der konkrete Nutzen einer Handlung im Voraus nicht feststeht, muss sich der vernünftig Handelnde durch etwas anderes von einem unvernünftig Handelnden unterscheiden. Kehrt man zurück zu der Behauptung, dass das Seinige der Maßstab der guten Praxis ist, dann sollte der gute, vernünftige Praktiker sich daran schon vor der konkreten Tat orientieren und eben dadurch auszeichnen. Dazu muss er das Seinige kennen und richtig verstehen. Diese vorher nur unterstellte Kenntnis des Seinigen erhebt Kritias nun explizit zur Besonnenheit. Damit thematisiert er die vorher unbewusst gebliebene Begründung der von ihm reflektierten Praxis. Betrachtet man die diskutierten Deutungen des Seinigen als das Eigene und als das Gute im Zusammenhang, dann wirft das bisherige Untersuchungsergebnis die Frage nach dem Verhältnis von dem Seinigen als das Eigene und dem Seinigen als das Gute auf. Bei der wörtlichen Deutung des Seinigen als das Eigene zeigte sich, dass ein am Eigenen orientiertes Handeln schädlich ist. Die implizite Unterstellung dieser Deutung beinhaltet allerdings, dass derjenige, der das Eigene tut, sich selbst mindestens insofern kennt, als dass er um die eigenen Bedürfnisse weiß. Anderenfalls könnte er sich selbst gar nicht zum Maßstab des Handelns erheben. Diese Art von unterstellter Selbstkenntnis begründet aber, wie sich zeigte, noch keine gute Praxis. Die zweite Deutung des Seinigen als das Gute wird von Kritias in expliziter Absetzung von der verengten, wörtlichen Deutung eingeführt. Seine Deutung erhebt das Allgemeine, das sich für jeden Vernünftigen gehört, zum Maßstab und damit Norm der Praxis. Ein allgemeines Gutes, das ohne Reflexion des Handelnden selbst verwirklicht werden sollte, war allerdings undenkbar, weil der bloße Praktiker das Gute ebenso wenig erkannte wie sich selbst. Der unreflektiert selbstbezogenen Praxis fehlt also das Gute und der ebenso unreflektiert normbezogenen Praxis das verantwortliche Selbst. Die Nutzlosigkeit eines normlosen Selbstbezuges zusammen mit der Undenkbarkeit des selbstvergessenen Normbezuges deuten darauf hin, dass für die Tugend beides zugleich verwirklicht und erkannt werden muss. Auf welche Weise ein Selbstbezug zugleich mit einem Bezug auf das Gute vollzogen werden kann, ist zunächst eine offene Frage und soll an späterer Stelle wieder aufgenommen werden. Allerdings scheint hier die schon im Vorgespräch durch die Fragebewegung hergestellte Nähe von Erfragtem und Befragtem auf der sachlichen Ebene wiederzukehren. Da das prüfende Denken diese 195

Charmides 164c–d.

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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Nähe aufdeckt und herstellt, liegt die Vermutung nahe, in diesem prüfenden Denken nach der Möglichkeit einer solchen Gleichzeitigkeit zu suchen. Kritias scheint den Zusammenhang seiner Antworten allerdings nicht wahrzunehmen. Statt mit der neuen Antwort explizit auf das Problem der vorherigen einzugehen, will er gänzlich neu ansetzen. »Das Vorige alles schenke ich [Kritias] dir. Denn vielleicht hast du einiges richtiger darüber gesagt, vielleicht auch ich; recht bestimmt aber war gar nichts von dem, was wir sagten. Jetzt aber will ich dir hierüber Rede stehen, wenn du nicht annimmst, die Besonnenheit sei das Sich-SelbstKennen«196. Indem Kritias den Zusammenhang der Bestimmungen aufhebt, lässt er sowohl den Gegenstand der Selbsterkenntnis als auch ihr Verhältnis zur Praxis unbestimmt. Beides muss aber geklärt werden, um Kritias’ neue Antwort zu verstehen und prüfen zu können, ob die gemeinte Selbsterkenntnis den Anspruch des Vorgesprächs erfüllen kann, d. h. ob sie eine Tugend ist und ein gutes Leben begründet. Für Kritias selbst stellen sich diese Fragen offensichtlich nicht, da er nur dann einen Untersuchungsbedarf sieht, wenn Sokrates ihm nicht zustimmt. Als Gewährsmann zieht Kritias diesmal nicht bloß den Vernünftigen heran, sondern den delphischen Gott Apollon selbst197. Das sokratische Nicht-Wissen (165b–c) »Aber Kritias, sprach ich, du handelst mit mir, als behauptete ich, das zu wissen, wonach ich frage, und als könnte ich also, wenn ich nur wollte, gleich dir beistimmen. So verhält es sich aber nicht, sondern ich suche erst mit dir, was wir uns aufgegeben haben, weil ich es eben selbst nicht weiß. Habe ich es also untersucht, dann will ich wohl sagen, ob ich es annehme oder nicht«198. Als Reaktion auf Kritias’ Forderung führt Sokrates sein Untersuchungsinteresse an. Er könne nicht einfach zustimmen, weil er das Gesuchte selbst nicht weiß. Dieses Nicht-Wissen bringt Sokrates in den Dialogen oftmals als Begründung für die Untersuchung vor. Was genau weiß er nicht, so dass er es suchen muss? Den von Kritias zitierten delphischen Spruch kennt Sokrates genauso wie seine gebildeten Mitbürger. Zudem hat er schon bei der ersten Antwort des Charmides darauf hingewiesen, dass die Bestimmung weit verbreitet ist199. Auch die Formel, man solle das Seinige tun, war ihm bekannt. Einzig rätselhaft war das richtige Verständnis dieser200. Dieser Unterschied zwischen der Kenntnis einer sprachlichen Formel, d. h.

196 197 198 199 200

Charmides 165b. Vgl. Charmides 164e. Charmides 165b/c. Vgl. Charmides 159b. Vgl. Charmides 161c.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

dem bloßen Wortwissen und dem Verständnis dieser Worte machte die weiteren Untersuchungsschritte notwendig. Das Wortwissen ist eine Gedächtnisleistung, die auch der junge Charmides vollbringen kann. Das Verständnis hat er sich aber noch nicht erarbeitet; es war erst bei Kritias aufgrund seiner weitergehenden Bildung zu erwarten201. Bisher scheint Kritias allerdings weiterhin auf der bloßen Wortebene zu operieren, da er meint, durch bloß begriffliche Unterscheidungen oder Neudefinitionen das Verständnis nachweisen zu können. Das Verständnis lässt sich, wie die bisherigen Untersuchungsschritte vorführten, aber nicht auf einen Begriff reduzieren, da dieser erneut verstanden werden muss. Das Verständnis selbst scheint damit etwas Nichtbegriffliches zu sein, das an dem begrifflichen Wissen erworben und im Umgang damit bewiesen werden soll. Das von Sokrates gemeinte Nicht-Wissen lässt sich also angesichts des vorliegenden Dialogs zunächst als ein Nicht-Verstehen deuten. Man kann nun fragen, ob ein sachliches Nicht-Verstehen gemeint ist oder bloß das fehlende Verständnis der Bestimmungen des Partners und damit des Partnerdenkens. Da nicht ein beliebiges Denken des Partners untersucht wird, sondern sein Denken über einen bestimmten Sachverhalt, scheint beides zugleich vorzuliegen. Der Dialog selbst, so wie Sokrates ihn führt, ist dann seine Form der Suche nach dem Verständnis eines Sachverhalts und einer Person zugleich. Da Sokrates ankündigt, nach der Untersuchung Kritias’ Bestimmung bewerten zu können202, scheint er davon auszugehen, in der Untersuchung des begrifflichen Wissens das Verständnis der untersuchten Sache nicht bloß zu suchen, sondern auch zu finden. Damit wäre das von Sokrates in der Prüfung vollzogene Denken zumindest sein Weg zu einem Sachverständnis. Ob das Sachverständnis im Dialog erreicht wird und worin es ggf. besteht, muss am Ende des Dialognachvollzugs gefragt werden. Entfaltung: Was ist das schöne und nützliche Werk der Besonnenheit? (165c–166a) »Wenn also die Besonnenheit darin besteht, dass man etwas kennt, so ist sie offenbar eine Erkenntnis und von etwas. Oder nicht? – Das ist sie auch, sagte er, seiner selbst nämlich«203. Nachdem Kritias der grundsätzlichen Bezogenheit einer Erkenntnis auf einen Sachverhalt zugestimmt hat, greift Sokrates zur weiteren Entfaltung der neuen Bestimmung auf das alte Arztbeispiel zurück. Allerdings thematisiert er jetzt nicht mehr bloß die Folgen der ärztlichen Praxis, sondern verdeutlicht die zugrunde liegende Erkenntnisstruktur der Heilkunst selbst. Im Gegensatz zu Kritias stellt 201 202 203

Vgl. Charmides 162d/e. Vgl. Charmides 165c. Charmides 165c.

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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Sokrates auf diese Weise einen Zusammenhang zwischen den Antworten her, so dass das Problem der überschrittenen Stufe auf der nächsten gelöst werden kann. Die Heilkunst als Erkenntnis des Gesunden nutzt dem Menschen, so Sokrates, indem sie Gesundheit bewirkt204. Durch die erkennende Bezugnahme auf das Gesunde weiß der Arzt schon im Voraus, worin der mögliche Nutzen seines Handelns bestehen wird. Fraglich bleibt lediglich das empirische Eintreffen dieses Nutzens. Die Überlegenheit des Arztes gegenüber dem Laien begründet sich eben in der Erkenntnis des spezifischen Handlungsziels. Andere Künste beziehen sich ebenfalls auf je einen spezifischen Sachverhalt und bringen ein entsprechendes, nützliches und schönes Werk hervor205. Insgesamt kann man also aus der Analyse der Heilkunst schließen, dass die erkennende Bezugnahme auf einen spezifischen Gegenstand den Grund einer guten, d. h. nützlichen Praxis darstellt. Das fachspezifische Tun des Guten eines Fachkundigen wäre dann in der jeweiligen Sacherkenntnis begründet. Obwohl Kritias die neue Bestimmung von den vorherigen unabhängig verstanden wissen will, muss die Besonnenheit als Tugend weiterhin etwas Gutes und Nützliches sein. Es stellt sich also die Frage, welchen spezifischen Nutzen die Besonnenheit als Selbsterkenntnis neben den anderen Erkenntnissen hervorbringt. »Kritias, die Besonnenheit als die Erkenntnis seiner selbst, was für ein schönes und ihres Namens würdiges Werk bewirkt sie uns denn? So komm nun und sage es. – Aber Sokrates, sagte er, du untersuchst nicht richtig. Denn diese Erkenntnis ist ihrer Natur nach den übrigen nicht ähnlich, wie auch nicht die übrigen untereinander, du aber führst deine Untersuchung, als wären sie einander ähnlich«206. Schon die übrigen Erkenntnisse bringen nicht alle sinnliche Werke, wie Häuser oder Kleider, hervor. Manche Künste, wie bspw. Mathematik, sind nach Kritias werklos207. Kritias macht damit auf einen Unterschied zwischen eher angewandten, praktischen Künsten, die ein konkretes Werk hervorbringen, und eher betrachtenden, theoretischen Wissenschaften, die nur auf ein Sachverständnis gerichtet sind, aufmerksam. Ob die theoretischen Wissenschaften trotzdem nützlich sind, bleibt zunächst offen. Die Besonnenheit soll ebenso wie diese theoretischen Wissenschaften werklos sein. Damit kann das Seinige, das der Besonnene erkennt, kein empirisches Handlungsziel sein. Aus einer bisher völlig praktisch verstandenen Tugend des Handelns ist damit eine theoretische Tugend des Denkens geworden. Im Zusammenhang der Untersuchung fragt sich, was die Besonnenheit über das fehlende Werk hinaus mit den theoretischen Wissenschaften teilt und welchen Beitrag sie trotz ihrer Werklosigkeit zum Gutsein und Gutleben eines Menschen leistet. 204 205 206 207

Vgl. Charmides 165c/d. Vgl. Charmides 165d. Charmides 165e. Vgl. Charmides 165e–166a.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

Entfaltung: Was ist der Erkenntnisgegenstand der Besonnenheit? (166a–167b) »Darauf sagte ich [Sokrates]: Du hast recht. Aber das kann ich dir doch aufzeigen, wovon nun eine jede von diesen Erkenntnissen die Erkenntnis ist, was wieder etwas anderes ist als die Erkenntnis selbst. So ist die Rechenkunst die Erkenntnis des Geraden und Ungeraden, wie sie sich unter sich und gegeneinander in jeder Menge verhalten. […] Und ist nicht das Gerade und Ungerade etwas anderes als die Rechenkunst selbst?«208. Sokrates gesteht Kritias den Unterschied zwischen den Erkenntnisarten zu und hebt zugleich die grundsätzliche, strukturelle Gemeinsamkeit aller Erkenntnisse heraus – ihre Gegenstandsbezogenheit. Anfänglich hatte Kritias dieser strukturellen Eigenschaft problemlos zugestimmt. Das Neue der aktuellen Überlegung ist die Unterschiedenheit von Erkenntnis und Gegenstand der Erkenntnis. Sokrates verdeutlicht diesen Gedanken an mehreren Beispielen. Die Struktur sei hier an dem Beispiel der Mathematik kurz erläutert. Ganz gleichgültig, ob man die aktuell gemeinte Erkenntnis als Denkprozess, als Ergebnis eines Denkprozesses oder als Wissenschaft deutet, stets gibt es einen Unterschied zwischen der Erkenntnis als Leistung eines Menschen und dem Gegenstand, auf den sich diese Erkenntnis bezieht. In dem zitierten Beispiel wurde diese Struktur an der Mathematik veranschaulicht: die Mathematik soll die Wissenschaft von den Mengenverhältnissen sein, stellt selbst aber kein Mengenverhältnis dar. Mathematik wäre die analytische Betrachtung von Mengenverhältnissen, die selbst wiederum nicht mit dieser Betrachtung identisch sind. Mengenverhältnisse gibt es wiederum auch unabhängig von deren mathematischer Betrachtung. Die Aktualisierung des Denkvermögens an Mengenverhältnissen führt dann zu einer mathematischen Erkenntnis. Die Bezugnahme auf diesen Gegenstandsbereich konstituiert Mathematik und zeichnet sie zugleich vor anderen Erkenntnissen aus. Kritias soll nun auch den Gegenstand der Besonnenheit benennen, der diese Erkenntnis konstituiert und als eine bestimmte Erkenntnis von anderen unterscheidet. Im Grunde ist diese Frage eine Wiederaufnahme der Frage nach dem Seinigen, das den Maßstab der guten Praxis darstellen sollte. Kritias soll nun seinen bisher nicht eingelösten Anspruch, diesen Maßstab richtig zu verstehen, einlösen. Schließlich hat er die Erkenntnis des Seinigen209 zur Besonnenheit erklärt. Wenn er bei der Erklärung des Seinigen scheitert, dann zeigt sich sein Anspruch als leer und unbegründet. »Sage also auch, wessen Erkenntnis denn die Besonnenheit ist, was etwas anderes ist als die Besonnenheit selbst«210. Charmides 166a. Sowohl bei der Einführung der Formel, Besonnenheit sei das Seinige zu tun (vgl. Charmides 161b), als auch bei der Einführung der Besonnenheit als Sich-Selbst-Kennen (vgl. Charmides 164d) wird das Seinige (το ἑαυτόν) als Bezugspunkt aufgeführt. 210 Charmides 166b. 208 209

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Kritias’ Antwort ist mit einer wiederholten Kritik an Sokrates’ Untersuchungsstil verbunden. »Nun bist du [Sokrates] dem auf die Spur gekommen, wodurch die Besonnenheit sich von allen Erkenntnissen unterscheidet, du aber suchst bei ihr eine Ähnlichkeit mit den übrigen. So ist es aber nicht, sondern die übrigen alle sind eines anderen Erkenntnisse, sie allein aber ist sowohl der anderen Erkenntnisse Erkenntnis als auch selbst ihrer selbst. Auch fehlt viel, dass dir das sollte entgangen sein. Aber ich glaube, was du vorher leugnetest, dass du es tätest, das tust du doch, nämlich du gehst nur darauf aus, mich zu widerlegen, und kümmerst dich wenig um das, wovon die Rede ist«211. Bevor der Vorwurf und Sokrates’ Entgegnung besprochen werden, soll zunächst Kritias’ Antwort auf die Gegenstandsfrage ausgedeutet werden. Die Besonnenheit soll sich also in ihrem Verhältnis zum Gegenstand von allen anderen Erkenntnissen unterscheiden. Sie soll sich als einzige nicht auf anderes beziehen müssen, d. h. als Erkenntnis auf einen Sachverhalt, sondern auf sich selbst, d. h. als Erkenntnis auf Erkenntnis. Das Seinige des Besonnenen wäre die Erkenntnis selbst. Diese scheinbar erkenntnistheoretische Wendung ist angesichts des Dialogthemas zunächst etwas überraschend. Denn schließlich sollte Besonnenheit die Tugend eines Menschen sein und damit eine gewisse lebenspraktische Relevanz haben. Zudem würde man bei einer Gegenstandsbestimmung der Selbsterkenntnis zumindest eine Bezugnahme auf den Erkennenden erwarten. Beides scheint auszubleiben. Betrachtet man Kritias’ Aussagen zum Gegenstand der Besonnenheit allerdings im Zusammenhang, dann lässt sich seine Erklärung durchaus nachvollziehen. In seiner langen Rede zur Neubestimmung der Besonnenheit spricht Kritias davon, dass keiner, der von sich selbst nicht weiß, besonnen sein könne212. Anschließend bestimmt er Besonnenheit als das Sich-Selbst-Kennen213. Danach gefragt, ob Besonnenheit eine Erkenntnis von etwas sei, bejaht er mit dem Zusatz »seiner selbst nämlich«214. An dieser Stelle liegt es nahe, diesen Zusatz als einen Verweis auf den Besonnenen selbst zu verstehen. Schließlich fehlte in Kritias’ Augen dem guten Praktiker nichts weiter als eben das Wissen darüber, dass er besonnen ist. Dann allerdings wäre Besonnenheit die Erkenntnis des eigenen Besonnenseins, das man irgendwie vor dieser Erkenntnis erworben hätte, so dass man besonnen wäre ohne Besonnenheit. Dieses Problem umgeht Kritias, indem er das Spezifische eines guten Praktikers im Unterschied zu einem Laien zum Gegenstand seiner Selbsterkenntnis macht – die Erkenntnis215.

211 212 213 214 215

Charmides 166b–c. Vgl. Charmides 164d. Vgl. Charmides 165b. Charmides 165c. Vgl. Charmides 166c.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

Man könnte Kritias’ Ausdeutung folgendermaßen zusammenfassen: Der gute Mensch ist schon als ein guter Praktiker wesentlich ein Vernünftiger und Erkennender, anderenfalls wäre sein Handeln nicht nützlich. Das Seinige, das der gute Praktiker eigentlich verwirklicht, wäre weder das Eigene noch das sozial Gehörige, sondern die Vernunft als Erkenntnisvermögen. Er weiß es nach Kritias bloß nicht. Das entsprechende Tun wäre dann keine Handlungs-, sondern eine Denkpraxis: ein Erkennen. Dieses Erkennen würde sich als nützliche Praxis äußern. Indem der Mensch also seine wesentliche Beschaffenheit als Erkennender einsieht, tut er das Seinige und wird besonnen, so dass die Besonnenheit damit die Erkenntnis der Erkenntnisse und zugleich Selbsterkenntnis wäre. Die Auswirkungen einer solchen Besonnenheit auf die Lebensführung eines Menschen sind nur schwer vorzustellen. Man kann sie vielleicht als eine Art Bekräftigung der eigenen Lebenspraxis verstehen, die das eigene Selbstverständnis als guter Mensch betont, so dass man im weiteren Leben selbstsicherer agiert. Einen wesentlichen Beitrag zum Lebensvollzug würde diese Besonnenheit allerdings nicht leisten. Der sokratische Untersuchungsgrund (166c–e) Sokrates’ Reaktion auf Kritias’ Vorwurf ist zweigeteilt. Zunächst versucht er, den Vorwurf der sachlosen Widerlegungslust zu entkräften216. Anschließend kehrt er dann zur Untersuchung zurück, indem er Kritias’ Antwort zusammenfasst und einen Prüfungsplan entwirft217. Diese Zweiteilung soll bei der Besprechung beibehalten werden. Dem Generalvorwurf der Sachlosigkeit begegnet Sokrates mit einer Selbsterklärung. Der Grund seiner Untersuchung ist stets derselbe und zwar unabhängig von dem Befragten: die »Besorgnis nämlich, dass ich unvermerkt mir einbilden möchte, etwas zu wissen, was ich doch nicht weiß«218. Die Widerlegung des anderen nimmt er dabei zwar in Kauf, doch eigentlich geht es in der sokratischen Untersuchung nicht vorrangig um den anderen Menschen, sondern in erster Linie um das eigene Verständnis des untersuchten Sachverhalts. Diese Selbstsorge ist angesichts des untersuchten Gegenstandes durchaus nachvollziehbar. Bei der Besonnenheit sind die Folgen eines unaufgedeckten, falschen Verständnisses von einer existentiellen Reichweite, die kaum größer sein könnte. Denn die Besonnenheit wurde eingeführt als Begründung des guten Zustands von Körper und Seele. Auch wenn die thrakische Theorie selbst im Dialogverlauf vernachlässigbar ist, teilen doch die Dialogpartner die Ansicht, dass Besonnenheit 216 217 218

Vgl. Charmides 166c–e. Vgl. Charmides 166e–167b. Charmides 166d.

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eine Tugend ist, die zu einem guten und glücklichen Leben führt. Im Untersuchungsverlauf zeigte sich des Weiteren, dass sie für die Handlungspraxis eine orientierende Funktion einnimmt und die innere Ausrichtung des Menschen auf einen Maßstab darstellt. Diese Ausrichtung soll das Leben gelingen lassen. Wenn also jemand sein Leben in dem fälschlichen Glauben führt, diesen Maßstab verstanden zu haben, dann wird dieser Mensch zwar stets Gutes tun wollen, es aber stets verfehlen. Wenn dieser Mensch trotz allem daran glaubt, den Maßstab zu kennen, wird er sich nicht um ein richtiges Verständnis bemühen, um seine missliche Lage zu überwinden. Damit würde er selbstverschuldet ein schlechtes Leben führen. Sokrates’ Sorge ist also durchaus berechtigt. Das Verständnis dieses Lebensmaßstabs durchdenkt Sokrates und zwar nicht um Kritias oder Charmides willen, sondern »auch jetzt behaupte ich, dass ich dieses nur tue, die Erklärung untersuche vorzüglich meiner selbst, vielleicht aber auch der andern guten Freunde wegen. Oder meinst du nicht, dass dieses ein gemeines Gut fast aller Menschen ist, wenn jegliches Ding offenbar wird, wie es sich damit verhält?«219. Sokrates ist also davon überzeugt, dass die Untersuchung, wie er sie im Tugenddialog vollzieht, seine Sorge zerstreuen kann, indem die Wahrheit über »jegliches Ding offenbar wird«. Die Wahrheit worüber erwartet er im vorliegenden Dialog? Im vorliegenden Dialog wird das Verständnis der Besonnenheit geprüft. Wenn Sokrates also aus Sorge vor eigenem Scheinverständnis untersucht, dann wird nicht bloß Kritias’ Erklärung der Besonnenheit geprüft, sondern zugleich auch Sokrates’ Verständnis von ihr. Ein »Ding«, dessen Wahrheit offenbar wird, ist damit Sokrates’ Denken. Das andere untersuchte »Ding« wäre Kritias’ Denken. Da schließlich nicht bloßes Denken untersucht wird, sondern das Denken der Besonnenheit, wäre das dritte »Ding« die Besonnenheit selbst als eben der Sachverhalt, auf den sich das untersuchende Denken bezieht. Damit wären in der sokratischen Prüfung eine Art von Selbsterkenntnis und zugleich eine Art von Sacherkenntnis möglich. Zumindest geht Sokrates davon aus. In dieser Einsicht sieht er den Nutzen seiner Prüfung. Da noch ein zweiter Mensch beteiligt ist, wäre außerdem eine Art von Fremderkenntnis, im Sinne einer Einsicht in das Denken eines anderen Menschen und dessen Sachhaltigkeit möglich. Im bisherigen Untersuchungsverlauf konnte der Zustand von Kritias’ und von Charmides’ Denken recht deutlich nachgezeichnet werden. Es war bei Charmides zunächst ein Denken, das seiner nicht bewusst war. In der Reflexion der eigenen Handlungspraxis musste dieses Bewusstsein erst errungen werden. Bei dem Begründungsversuch dieser Praxis gelang es Charmides nur noch, ihren Maßstab auf den Begriff zu bringen. Das Verständnis des Maßstabs war dem Denken, das nur die Handlungspraxis reflektierte, nicht möglich. Kritias hingegen konnte schon über das Denken 219

Charmides 166d.

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des Charmides reflektieren und brauchte nicht mehr direkt am eigenen Lebensvollzug beginnen. Er konnte die Unterstellung von Charmides’ Lebensführung bewusst machen. Es war die Unterstellung, sich selbst ein Maßstab sein zu können und damit zugleich sich selbst und das Gute zu kennen, ohne einer zusätzlichen Bemühung um Einsicht zu bedürfen. Diese unterstellte Selbsterkenntnis zeigt sich als Grundlage der selbstvergessenen Lebenspraxis des Charmides. Im letzten Prüfungsschritt wird sich also zeigen, ob Charmides und Kritias den Anspruch auf Tugend und damit auf ein gutes Leben für die reflektierte Lebenspraxis zu Recht erheben. Von dem Ergebnis des letzten Prüfungsschrittes hängt es auch ab, ob dieses reflektierende Denken das Denken des Besonnenen vorführt und die Besonnenheit erfasst. Doch was erfährt man im Nachvollzug der bisher erfolgten Untersuchung über das sokratische Denken? Wenn man das Vorgespräch mit heranzieht, dann fällt auf, dass Sokrates im Alltagsgespräch im Unterschied zu den anderen Männern darauf verzichtet, Charmides’ Seelenzustand einfach zu bewerten. Stattdessen führt er einerseits mögliche Gründe für das Urteil der anderen an. Andererseits fragt er nach, ob der Beurteilte mit der Fremdsicht übereinstimmt und wie er sich selbst sieht. Dieses Verhalten lässt sich als ein Zeichen der sokratischen Umkehr verstehen, d. h. dafür, dass für Sokrates die Gründe einer Meinung bedeutsamer sind als die reine Meinungsäußerung. Kritias dagegen scheint die Gründe einer Meinung für vernachlässigbar zu halten und argumentiert gänzlich von den Meinungsäußerungen seiner Mitbürger her. Da Sokrates also das in den Blick nimmt, was für seine Gesprächspartner den unbewussten Hintergrund des Gesprächs bildet, kann seine Denkrichtung im Vergleich zur Denkrichtung seiner Gesprächspartner als genau entgegengesetzt beschrieben werden. Sie denken von den Gründen her und wenden diese unbewusst zur Beurteilung von Menschen oder ähnlichem an. Sokrates aber denkt bewusst auf die Gründe hin und führt die Meinungen in ihrem Begründungszusammenhang zurück. Die methodische Anweisung zu Beginn des Hauptgesprächs bietet auch für Charmides die Möglichkeit, den Blick von den Folgen des eigenen Seins und Denkens umzuwenden auf den Grund dieser Folgen. Die Selbstreflexion ist aber noch nicht die eigentlich sokratische Wendung, wie sich im Weiteren zeigt. Auf jeden Reflexionsschritt seiner Partner reagiert Sokrates mit einer Prüfung. Er prüft jedes Mal aufs Neue, ob das Reflexionsergebnis der Grund für das sein kann, was der Partner vorher für sich in Anspruch genommen hat – hier die eigene Besonnenheit. Wie die Prüfung im Einzelnen vollzogen wird, wurde oben untersucht. Zusammenfassend kann man die Denkleistung, die Sokrates bei jedem Prüfungsschritt erbringt, als Herstellen eines sachlogischen Zusammenhangs innerhalb der vorgebrachten Meinungen über den verhandelten Sachverhalt bezeichnen. In einem solchen Zusammenhang wird die Abhängigkeit der Behauptungen von etwas deutlich, das selbst noch nicht erfasst wurde. Dieser Mangel treibt den Reflektierenden dazu, eine Reflexionsebene tiefer zu schreiten, und fordert Sokrates

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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zur Verwirklichung seiner grundsätzlichen Ausrichtung heraus. Die Selbstprüfung besteht für Sokrates damit nicht so sehr darin, eigene Überzeugungen zu untersuchen. Er bringt ja keine oder kaum eigene Meinungen in das Gespräch ein. In erster Linie besteht für ihn die Selbstprüfung darin, diese Denkleistung erneut zu vollbringen und nicht der Verführung zu verfallen, eine bekannte Meinung ungeprüft als falsch oder richtig vorauszusetzen. Die oben geäußerte Sorge, sich einzubilden, etwas zu wissen, was er doch nicht weiß, ließe sich damit noch besser verstehen. Die Gefahr, die Sokrates meint, ist die eigene Unterstellung, den Grund bestimmter Äußerungen schon zu kennen und also das prüfende Denken im Sachzusammenhang schon verwirklicht zu haben, ohne die Prüfung aktuell zu vollziehen. Eine solche Haltung würde die eigene Umwendung zu den Gründen unterstellen, ohne sie im Vollzug des Denkens zu verwirklichen. Ein solcher Mensch würde sich selbst ebenso verkennen, wie jemand, der sich überhaupt nicht für die Gründe des eigenen Handelns und Denkens interessiert. Das von Sokrates in Anspruch genommene prüfende Denken muss also stets neu vollzogen und damit auch stets neu erworben werden. Die Leistung von Kritias’ Besonnenheit (166e–167b) Nach Sokrates’ Erklärung seiner Untersuchungsmotivation hat Kritias keine weiteren Einwände. Da er überzeugt scheint, kehrt Sokrates zu den inhaltlichen Fragen zurück und nimmt Kritias’ Gegenstandsbestimmung der Selbsterkenntnis wieder auf. »Ich sage also, sprach er [Kritias], dass sie allein unter allen Erkenntnissen sowohl ihrer selbst als der übrigen Erkenntnisse Erkenntnis ist. – Müsste sie nicht auch, sprach ich [Sokrates], der Unkenntnis Erkenntnis sein, wenn der Erkenntnis? – Allerdings, sagte er«220. Kritias bestimmt also Erkenntnisse als Gegenstand der Besonnenheit. Sokrates fügt die Unkenntnis als Negation dieses Gegenstandes hinzu. Der Nachtrag leuchtet ein, wenn man bedenkt, dass ein Fachkundiger nicht nur den Kollegen, sondern auch den Fachfremden erkennen kann. Er kann aufgrund seiner Sacherkenntnis sowohl die entsprechende Sache als auch deren Fehlen feststellen. In der Zusammenfassung wird deutlich, dass Kritias die Selbsterkenntnis zwar rein reflexiv als ein Selbstbezug des Erkennens versteht. Da die Selbsterkenntnis aber zugleich alle anderen Erkenntnisse zum Gegenstand haben soll, meint er eine Art von übergeordnetem Allwissen. Wie sich diese unerwartete Wendung aus dem Zusammenhang der bisherigen Antworten erklären lässt, wurde schon oben besprochen. Es unterstellt die Erkenntnisfähigkeit als den wesentlichen Kern des Menschen und Erkenntnis als den wesentlichen Kern eines guten und nützlichen Menschen. 220

Charmides 166e.

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Sokrates leitet bei seiner Zusammenfassung zusätzlich ab, zu welcher Tätigkeit diese Besonnenheit befähigen würde. »Der Besonnene also allein wird sich selbst erkennen und imstande sein zu ergründen, was er wirklich weiß und was nicht; und ebenso auch wird er vermögend sein, andere zu beurteilen, was einer weiß und auch zu wissen glaubt, da er es ja weiß, und auch wieder, was einer zu wissen glaubt, es aber nicht weiß; sonst aber keiner. Und dies ist also das Besonnensein und die Besonnenheit und das Sich-Selbst-Kennen, zu wissen, was einer weiß und was er nicht weiß«221. Die Tätigkeit des Besonnenen wäre hiernach ein Ergründen des eigenen und des fremden Wissens, also eine Art von Wissensprüfung222. Da Kritias eigentlich eine menschliche Tugend bestimmen sollte, liegt die Frage nach der Rolle einer solchen Selbsterkenntnis im Lebensvollzug nahe. Sokrates spricht die Frage selbst zwar nicht aus, beantwortet sie aber im obigen Zitat. Wenn man fragt, was weiß der Besonnene über sich, wenn er Erkenntnis, Unkenntnis und alle anderen Erkenntnisse erkannt hat, dann liegt Sokrates’ Ableitung nahe. Der so bestimmte Besonnene weiß eben durch eine Selbstanwendung seiner Erkenntniserkenntnis, was er weiß und was nicht. Diese Selbstanwendung müsste in irgend-einer Form von Inventarisierung des vermeintlichen Wissens mit anschließendem Abgleich dieses vermeintlichen Wissens mit der Einsicht in die Erkenntnisse bestehen. Sie müsste eine Prüfung des vermeintlichen Wissens auf seine Wissenshaftigkeit beinhalten. Zumindest wenn Kritias’ Bestimmung richtig ist. Ob sie richtig ist, ist noch offen. Für Sokrates steht nicht nur die Richtigkeit der Gleichsetzung von Erkenntnis der Erkenntnisse mit der Besonnenheit, sondern sogar die Möglichkeit einer solchen Erkenntnis in Frage. Um die Richtigkeit nachzuweisen, müsste im Anschluss an den Beweis der Möglichkeit noch ein Beweis ihrer Nützlichkeit erfolgen, da sie als Tugend weiterhin etwas Gutes sein muss. Sokrates entwirft einen entsprechenden Untersuchungsplan. »Lass uns von Anfang an erwägen, zuerst ob dies wohl möglich ist oder nicht, was einer weiß und nicht weiß, zu wissen, dass er es weiß und nicht weiß, Charmides 167a. In der Forschungsliteratur zum Charmides wird diese Stelle oftmals als ein Verweis auf die sokratische Prüfung gedeutet. Als Gründe für diese Deutung gelten erstens das angedeutete Wissen des Nicht-Wissens als Bestimmung der Selbsterkenntnis und zweitens die Prüfung als Tätigkeit des Besonnenen. Diese Deutung scheint sich vor dem Hintergrund der Apologie nahezu aufzudrängen. Allerdings gibt es gerade in der Apologie eine wesentliche Aussage von Sokrates, die gegen diese Deutung spricht. Sokrates spricht davon, dass seine prüfenden Gespräche über die Tugend das Leben lebenswert machen und das höchste Gut des Menschen sind (vgl. Apologie 38a). Er benennt also einen eindeutigen Gegenstand seiner Prüfungstätigkeit – die Tugend. Mindestens darin unterscheidet sich Sokrates’ Selbstbeschreibung von der Beschreibung von Kritias’ Besonnenem, der Erkenntnis schlechthin zum Gegenstand haben soll. Eine Identifizierung beider ist also nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Die scheinbare Ähnlichkeit lässt sich m. E. anhand der folgenden Auseinandersetzung mit Kritias’ Antwort auflösen. 221 222

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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hernach wenn es auch noch so möglich ist, was für ein Nutzen es uns wohl wäre, es zu wissen«223. Prüfung: Ist eine Erkenntnis der Erkenntnis möglich? (167c–169c) »Ist es nicht so, sprach ich [Sokrates], alles dieses findet statt, wenn, was du jetzt eben sagtest, es eine gewisse Erkenntnis gibt, welche von nichts anderem als von sich selbst und den übrigen Erkenntnissen die Erkenntnis ist und dieselbe zugleich auch von der Unkenntnis? – Allerdings. – Sieh also, Freund, was wir Wunderliches zu behaupten unternehmen! Denn wenn du an andern Dingen dasselbe aufsuchst, wird es dich unmöglich zu sein dünken. – Wie doch und wo?«224. Sokrates führt mehrere Beispiele an, um seine Verwunderung und Ratlosigkeit zu verdeutlichen. Wenn man bspw. das Sehvermögen des Menschen betrachtet, so ist es undenkbar, »es gebe ein Sehen, welches gar nicht ein Sehen derer Dinge ist, die anderes Sehen sieht, sondern nur ein Sehen von sich selbst und anderem Sehen und vom Nichtsehen ebenfalls, und welches keine Farbe sieht, ob es gleich ein Sehen ist, sich selbst aber und anderes Sehen sieht«225. Sokrates sucht nach einer Analogie bei den verschiedenen Vermögen des Menschen. Der Inhalt der gesuchten Analogie ist der fehlende Bezug auf einen für das jeweilige Vermögen spezifischen Gegenstand. Beim Sehen sind es die sinnlichen Dinge und Farben. Beim Hören sind es »Stimmen«. Auf diese Weise kann man bei allen Wahrnehmungsvermögen fortfahren und wird mit Kritias feststellen müssen, dass eine gegenstandslose Wahrnehmung undenkbar ist. Die verschiedenen Wahrnehmungsvermögen verwirklichen sich immer an ihren spezifischen Gegenständen. In diesem Bereich lassen sich keine analogen Fälle finden für ein Vermögen, das sich nur auf sich selbst und sonst nichts bezieht. Als zweiten Bereich betrachtet Sokrates die im weitesten Sinne strebenden Vermögen des Menschen, die die Welt nicht bloß abbilden, sondern ein Verhältnis des Menschen zu den Dingen enthalten und das Handeln mitbestimmen. Er zählt hier das Verlangen nach irgendeiner Lust, das Wollen irgendeines Guts, die Liebe zu irgendeinem Schönen und die Furcht vor irgendeinem Schrecklichen auf226. Man könnte diese Gruppe auch als motivierende Vermögen bezeichnen. Auch hier kann Kritias es sich nicht vorstellen, dass der typische Gegenstand eines jeden Vermögens entfällt, so dass das Verlangen bspw. bloß sich selbst verlangt, aber nichts Lustvolles; oder die Furcht sich selbst fürchtet, aber nichts Furchtbares227. Charmides 167b. Charmides 167c. 225 Charmides 167c/d. 226 Vgl. Charmides 167e–168a. 227 Die im Alltag vorkommende Redewendung, jemand würde die Liebe lieben oder Angst vor der Angst haben, widerspricht dieser Analyse keineswegs. Wie so oft ist die alltägliche Redeweise 223 224

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Betrachtet man die Gemeinsamkeit der zweiten Beispielgruppe, so fällt auf, dass die Bezugsgegenstände dieser Vermögen stets eine Wertung (gut, schön, furchtbar) enthalten. Man kann fast schon sagen, dass die Einordnung eines Gegenstandes als bspw. schön oder gut die Liebe zu ihm begründet. Damit wäre der jeweilige Gegenstand oder genauer die Bewertung eines Gegenstandes eine Art Grund für die Aktualisierung eines bestimmten Vermögens als ein so bestimmtes. Anders formuliert würde sich die generelle Fähigkeit des Menschen, etwas anzustreben, bspw. als Liebe verwirklichen, wenn der Mensch auf etwas Schönes aufmerksam wird. Wenn ein Mensch nie einem Schönen begegnen würde, dann würde seine Möglichkeit zur Liebe niemals Wirklichkeit werden. Die Liebe als solche wäre gar nicht vorhanden ohne ihren spezifischen Gegenstand, so dass das Strebevermögen nur unverwirklichte Möglichkeit bliebe. Die dritte Beispielgruppe betrifft die im weitesten Sinne geistigen Vermögen des Menschen: das Vorstellen und Erkennen228. In Bezug auf Vorstellungen ist sich Kritias ganz sicher, dass diese niemals nur sich selbst und andere Vorstellungen vorstellen können, ohne etwas von dem, was Vorstellungen sonst enthalten, vorzustellen229. Auch die geistige Fähigkeit des Menschen, sich etwas vorzustellen, ähnelt damit den anderen Vermögen. Man kann sich niemanden vorstellen, der vorstellt, ohne etwas vorzustellen. Ein Gegenstand, gleichgültig wie abstrakt und unbestimmt er sein mag, wird stets mitgedacht. Das einzige Vermögen des Menschen, das anders sein soll, ist laut Kritias das Erkenntnisvermögen. Dieses soll als einziges auf den Gegenstandsbezug verzichten und sich trotzdem verwirklichen können. Worin der Unterschied, der diese Möglichkeit begründen könnte, besteht, was also das Erkenntnisvermögen vor den anderen Vermögen grundsätzlich auszeichnet, bleibt offen. Sokrates will die Möglichkeit einer rein selbstbezüglichen Erkenntnis angesichts ihrer Ungewöhnlichkeit nicht leugnen, sondern stellt bloß die fehlende Analogie fest und will vorerst weiter untersuchen. »Wohlan denn, diese Erkenntnis ist doch eine Erkenntnis von etwas und hat eine solche Eigenschaft, vermöge deren sie sich auf etwas bezieht«230. Dieser Grundstruktur des Erkennens hat Kritias schon zu Beginn der Selbsterkenntnis-Untersuchung zugestimmt, so dass die Struktur selbst nicht in Frage steht. Stattdessen betrachtet Sokrates an einfachen Beispielen für Beziehungen auf etwas, wie bspw. an Größenverhältnissen, die Konsequenzen eines reinen Selbstbezugs. verkürzt. Wenn jemand bspw. behauptet, er liebe die Liebe, dann unterstellt er ggf. aufgrund einer Erfahrung, die Liebe selbst sei etwas Schönes. Er vermeint dann, die Liebe als solche zu lieben, dabei liebt er aber die Liebe nur als etwas Schönes. Auf eine ähnliche Weise lässt sich auch die Rede von einer Angst vor der Angst aufschlüsseln. 228 Vgl. Charmides 168a/b. 229 Vgl. Charmides 168a. 230 Charmides 168b.

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Bei Größenverhältnissen scheint die Sachlage klar. Etwas, das größer ist als etwas anderes, ist stets größer als etwas, das kleiner ist231. »Wenn wir nun ein Größeres fänden, welches das Größere ist von anderem Größeren und von sich selbst, gar nicht aber von etwas unter dem, wovon anderes Größere das Größere ist, müsste dem nicht auf alle Weise dieses zukommen, wenn es größer ist als es selbst, auch kleiner zu sein als es selbst? Oder nicht? – Ganz notwendig, Sokrates, sagte er«232. Das Gleiche gilt für das Doppelte von sich selbst und auch für das Schwerere und Ältere und ähnliches mehr. »Und ebenso in allen andern Dingen, was seine Eigenschaft in Beziehung auf sich selbst hat, wird das nicht auch dasjenige an sich haben müssen, worauf die Eigenschaft sich bezieht?«233. Diese Konsequenz ergibt sich notwendig aus der Struktur von Beziehungen. Wenn jedes Element einer Beziehung über seine besondere Eigenschaft im Verhältnis zum anderen Element bestimmt ist, bspw. das Größere überragt das Kleinere, dann verliert es in einem Selbstbezug entweder seine Bestimmung oder es muss seine besondere Eigenschaft auch gegenüber sich selbst verwirklichen. Das Größere hört bspw. auf, größer zu sein, oder müsste zugleich größer sein als es selbst. Um seine besondere Eigenschaft im Selbstverhältnis verwirklichen zu können, muss dieses nun allein stehende Element auch so sein wie sein normales Gegenüber, bspw. das Größere zugleich kleiner als es selbst. Eine solche Gleichzeitigkeit ist bei quantitativen Verhältnissen offensichtlich unmöglich. Aber gilt das auch für andere Verhältnisse, insbesondere für die Erkenntnis? »Das Gehör, sagten wir doch, war von nichts anderem Gehör als von der Stimme, nicht wahr? – Ja. – Also wenn es sich selbst hören soll, so muss es sich selbst, eine Stimme habend hören; denn sonst kann es nicht hören. – Ganz unumgänglich«234. Ähnliches gilt auch für die anderen Wahrnehmungsvermögen. Auch in diesen Fällen ist die Unmöglichkeit eines Selbstbezugs ganz deutlich, da es völlig unklar ist, was es hieße, das Hörvermögen hätte eine Stimme bzw. wäre selbst hörbar, weil es Töne erzeugt. Bei anderen Phänomenen, wie bspw. der Bewegung, die sich selbst bewegt, fällt das Urteil allerdings nicht so eindeutig aus. »Ein großer Mann freilich, o Freund, gehört dazu, um im allgemeinen zu entscheiden, ob gar nichts so geartet ist, seine Eigenschaft auf sich selbst zu beziehen, sondern nur auf ein anderes, oder ob einiges so beschaffen ist und anderes nicht; und wiederum wenn einiges sich auf sich selbst bezieht, ob hierunter auch die Erkenntnis gehört, von welcher wir alsdann behaupten, sie sei die Besonnenheit«235.

231 232 233 234 235

Vgl. Charmides 168b. Charmides 168b/c. Charmides 168c/d. Charmides 168d. Charmides 169a.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

Eine eindeutige Entscheidung der Möglichkeit einer selbstbezüglichen Erkenntnis fällt also nicht. Erfährt man trotzdem etwas über die Möglichkeit einer Selbsterkenntnis? Im ersten Teil der Untersuchung stellt sich heraus, dass die Besonnenheit als ein auf sich selbst anstatt auf einen Gegenstand angewandtes Vermögen eine beispiellose Sonderstellung innerhalb der Vermögen eines Menschen hätte. Alle anderen Vermögen bedürfen zur Verwirklichung ihrer Möglichkeit eines spezifischen Gegenstandes. Man kann diese Besonderheit zunächst als einer Tugend angemessen deuten, da sie ja schließlich eine besondere Leistung des Menschen darstellen soll. Allerdings wird eine so positive Sicht durch die folgende Strukturanalyse erschwert. Ein Selbstbezug hebt die Beziehungsstruktur von zwei Elementen auf und muss deswegen sowohl die spezifische Eigenschaft des Bezugnehmenden als auch des Bezugsgegenstandes in einem Element verwirklichen. Damit muss eine Erkenntnis der Erkenntnis die für Erkenntnisse konstitutive Differenz zwischen Vermögen und Gegenstand einerseits aufheben, da kein anderer Gegenstand vorhanden sein soll, andererseits in sich selbst verwirklichen, damit Erkennen überhaupt vorliegt. Das Denkvermögen, das zunächst die unverwirklichte Möglichkeit des Erkennens ist und sich üblicherweise erst in einer Beschäftigung mit einem Gegenstand verwirklicht, müsste dafür schon als solches Erkenntnis und etwas Erkennbares sein. Wie und ob das möglich ist, lässt Sokrates explizit offen. Die Möglichkeit, die eigene, ggf. bloß unterstellte Gegenstandserkenntnis zu erkennen, wird in der sokratischen Prüfung nachvollziehbar. Denn das vorliegende Prüfungsgespräch beginnt schließlich damit, dass Charmides seine vermeintliche Besonnenheit reflektiert. Eine gegenstandsbezogene Selbstreflexion wird also im Vollzug des Gesprächs vorgeführt. Zugleich wurde das Ergebnis dieser Reflexion von Sokrates geprüft, so dass zusätzlich zur gegenstandsbezogenen Selbstreflexion auch die Möglichkeit einer gegenstandsbezogenen Prüfung der Selbstreflexion vorgeführt wurde. Im Dialog wurde also ein Bezug des sokratischen, prüfenden Denkens auf Charmides’ und anschließend Kritias’ vermeintliches Denken der Besonnenheit verwirklicht. Allerdings ist dieses prüfende Denken nie rein selbstbezogen, sondern findet stets an einem Gegenstand, der Besonnenheit, statt. Kritias behauptet nun, auf einen solchen konstituierenden Gegenstandsbezug verzichten zu können und trotzdem das Erkennen zu erkennen. Ob dieser Gegenstand entbehrlich ist, ist allerdings insofern fraglich, als dass ohne eine Gegenstandserkenntnis das Denkvermögen unverwirklicht ist. Da Kritias diese Bestimmung der Besonnenheit vorgebracht hat, wäre es auch seine Aufgabe, die Möglichkeit dieser besonderen Erkenntnis nachzuweisen. Er soll zeigen, dass eine Erkenntnis der Erkenntnis nicht nur möglich, sondern auch nützlich ist. Denn als Tugend muss Besonnenheit etwas Gutes und Nützliches sein236. Die 236

Vgl. Charmides 169b/c.

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entscheidende Prüfungsfrage ist in der Tat die Frage nach der Nützlichkeit einer Erkenntnis der Erkenntnis. Hier nimmt Sokrates die Grundprämisse des Vorgesprächs wieder auf: die Tugend ist immer etwas Gutes. Sie soll das gute Leben eines Menschen, sein Glück begründen. Mithilfe der Frage nach der Möglichkeit werden die strukturellen Bedingungen und Schwierigkeiten einer rein selbstbezogenen Erkenntnis durchdacht und zugleich von der sokratischen Form der gegenstandsbezogenen Prüfung des Erkennens abgegrenzt. Sokrates zweifelt damit die Möglichkeit einer Selbsterkenntnis keineswegs generell an, sondern hebt nur ihre Angewiesenheit auf einen Erkenntnisgegenstand hervor. Die sokratische Form einer prüfenden Selbsterkenntnis vollzieht sich denn auch an einem spezifischen, für den Menschen fundamentalen Gegenstand – hier an der Tugend Besonnenheit. Prüfung: was weiß derjenige, der die Erkenntnis erkennt? (169c–171c) Kritias ist angesichts des Untersuchungsergebnisses ebenfalls ratlos und kann der sokratischen Aufforderung, Möglichkeit und Nützlichkeit einer Erkenntnis der Erkenntnis nachzuweisen, nicht nachkommen. Er schämt sich deswegen und versucht, seine Verlegenheit vor den Zuhörern zu verbergen237. »Damit wir also doch weiter kämen in der Sache, so sprach ich [Sokrates]: Gut, Kritias, wenn dir das recht ist, so wollen wir für jetzt dieses einräumen, es könne wirklich eine Erkenntnis der Erkenntnis geben, und auf ein anderes Mal untersuchen, ob es sich wirklich so verhält oder nicht. Komm aber und sage mir, wenn dies auch ja möglich ist, was ist es deshalb leichter zu wissen, was einer weiß und was nicht?«238. Nachdem also die Möglichkeit einer selbstbezüglichen Erkenntnis strukturell diskutiert wurde, stellt Sokrates nun die Frage nach der Möglichkeit ihres behaupteten Inhalts und bereitet damit die Untersuchung des Nutzens einer selbstbezüglichen Erkenntnis vor. Was sieht derjenige, der die Erkenntnis erkennt, eigentlich ein? Die anfängliche Behauptung, er sehe ein, was er weiß und was nicht, beruhte auf Kritias’ Behauptung der Besonnene würde alle anderen Erkenntnisse mit erkennen. Die Möglichkeit dieses übergeordneten Allwissens wird nun untersucht. Kritias versteht die Frage offensichtlich nicht und wiederholt bloß, dass »wenn jemand die Erkenntnis ihrer selbst hat, muss er dann auch sich selbst erkennend sein«239. Selbsterkenntnis sei einfach identisch mit dem Wissen, was man weiß und was nicht240. Kleinschrittig zeigt Sokrates auf, inwiefern gerade diese Identität auf dem von Kritias eingeschlagenen Weg nicht erreicht wird. 237 238 239 240

Vgl. Charmides 169c. Charmides 169d. Charmides 169e. Vgl. Charmides 170a.

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Unter der Annahme, »es gebe eine Erkenntnis der Erkenntnis, wird die ein Mehreres imstande sein zu unterscheiden, als dass von zweien das eine eine Erkenntnis ist, das andere keine Erkenntnis? – Nein, sondern gerade soviel. – Ist damit nun dasselbe die Erkenntnis oder Unkenntnis des Gesunden und die Erkenntnis oder Unkenntnis des Gerechten? – Keineswegs«241. Kritias’ Behauptung, Erkenntnis sei der Gegenstand der Selbsterkenntnis, wird nun von Sokrates konsequent durchdacht. Wenn man ernsthaft annimmt, eine Erkenntnis der Erkenntnis sei möglich, dann muss Erkenntnis als Gegenstand neben anderen Erkenntnisgegenständen gedacht werden, wie bspw. das Gerechte. In diesem Zusammenhang gibt es zahlreiche Gegenstände, auf die sich das Denken richten kann und einer davon soll Erkenntnis sein. Wird die Erkenntnis aber auf diese Weise neben die anderen Sachverhalte gestellt, so schließt die erkennende Bezugnahme auf Erkenntnis die gleichzeitige Bezugnahme auf andere Gegenstände, bspw. das Gesunde, aus. Die Erkenntnis der Erkenntnis wird auf diese Weise zu einer eigenständigen Wissenschaft neben anderen, wie bspw. Medizin oder Staatskunde, da jeweils eine Disziplin für einen Gegenstandsbereich zuständig ist. »Also wenn jemand nicht auch noch das Gesunde und das Gerechte dazu kennt, sondern nur die Erkenntnis kennt, indem er von dieser allein Erkenntnis hat, so wird er zwar, dass er etwas weiß und irgendeine Erkenntnis hat, wahrscheinlich wissen von sich selbst und anderen; nicht wahr? – Ja. – Was er aber erkennt, wie soll er das vermittelst dieser Erkenntnis wissen? […] – Auf keine Art. – Und wer dies nicht weiß, der wird doch nicht wissen, was er weiß, sondern nur, dass er weiß? – So scheint es«242. Kritias’ Behauptung führt also in ein scheinbar auswegloses Dilemma. Wenn er die Möglichkeit einer Erkenntnis der Erkenntnis aufrechterhalten will, dann muss er angesichts der Möglichkeits-Untersuchung die Erkenntnis selbst wie einen Sachgegenstand behandeln und ihr also eine eigenständige Disziplin neben anderen zuweisen. Wenn er ihr allerdings diesen Status zuschreibt, dann trennt er sie zugleich von allen anderen Sachgegenständen, so dass sie deren Inhalte nicht als übergeordnete Einsicht erkennen kann. Sie erkennt dann tatsächlich ausschließlich Erkenntnis und sonst nichts. Wie und ob so etwas möglich ist, wird an dieser Stelle explizit nicht mehr untersucht; das Kuriose dieser Art von Erkenntnis wird aber immer deutlicher. Denn nun müsste ein Besonnener möglich sein, der keinerlei Sacherkenntnis erworben hat außer der Erkenntniserkenntnis und damit zwar keinerlei inhaltliche Einsicht, aber doch irgendwie eine Erkenntnis besitzt. Wichtiger sind allerdings die Folgen für die anfänglich angenommene Prüfungsfähigkeit des Besonnenen. Auch sie muss nun eingeschränkt werden. Da der Besonnene 241 242

Charmides 170a. Charmides 170b–c.

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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die anderen Sachgegenstände nicht erkennen kann, kann er auch nicht prüfen, was jemand (er selbst oder ein anderer) erkennt, sondern nur ob jemand eine Erkenntnis besitzt. »Nur soviel, wie es scheint, wird er erkennen, dass jener irgendeine Erkenntnis hat, wovon aber, das wird ihn die Besonnenheit nicht erkennen machen«243. Wieder greift Sokrates auf das Arztbeispiel zurück, um die reduzierte Prüfungsfähigkeit zu veranschaulichen und damit auch die besondere Leistung eines Besonnenen nach Kritias aufzuklären. »Also auch den, der ein Arzt zu sein vorgibt, es aber nicht ist, wird er nicht imstande sein von dem, der es in der Tat ist, zu unterscheiden, noch auch in andern Dingen den Kundigen von dem Unkundigen«244. Denn der Fachkundige, bspw. ein Arzt, zeichnet sich vor einem Scharlatan durch seine besondere Sachkenntnis aus, bspw. des Gesunden und Ungesunden. Nach Kritias weiß der Besonnene aber nichts über das Gesunde und der Arzt weiß nichts über die Erkenntnis. »Dass nun der Arzt irgendeine Erkenntnis hat, wird der Besonnene freilich einsehen; unternimmt er aber zu erproben, was für eine, muss er dann nicht sehen, wovon sie es ist? Oder ist nicht eben dadurch jede Erkenntnis bestimmt, nicht nur dass sie eine Erkenntnis ist, sondern auch was für eine, dass sie es von etwas ist? – Eben dadurch«245. Da die Heilkunde, über die der Arzt verfügt, durch ihren Bezug auf das Gesunde bestimmt ist, muss die Prüfung eines vermeintlichen Arztes eben das Gesunde betreffen und nichts anders. Eine solche Prüfung setzt voraus, dass der Prüfende selbst das Gesunde kennt246. Der Besonnene nach Kritias hat diese Einsicht aber explizit nicht. Ebenso wenig erkennt er als Besonnener andere Sachverhalte. »Auf alle Weise also, wenn die Besonnenheit nur die Erkenntnis der Erkenntnis ist und der Unkenntnis, wird sie auch nicht imstande sein, weder den Arzt zu unterscheiden, der seine Kunst versteht, und den, der sie nicht versteht, sondern es nur vorgibt oder sich einbildet, noch auch irgendeinen andern, ob er wirklich das Seinige versteht, was es auch sei, ausgenommen seinen Kunstverwandten, eben wie die anderen Künstler auch«247. Das tragende Argument dieser Analyse ist im Grunde die von Anfang an anerkannte Struktur: jede Erkenntnis ist eine Erkenntnis von etwas. In dem aktuellen Untersuchungsschritt wird allerdings etwas betrachtet, was bisher nicht im Blick war. Es wird durchdacht, welche Folgen die Bezogenheit der Erkenntnisse auf je einen bestimmten Gegenstand für das Verhältnis verschiedener Erkenntnisse zueinander und für die Prüfungsmöglichkeit von Erkenntnisansprüchen hat. Es zeigt sich, dass die Erkenntnis eines Gegenstandes nicht zugleich die Erkenntnis eines anderen Gegenstandes einschließt, sondern jede Sacheinsicht für sich erworben werden muss. Des 243 244 245 246 247

Charmides 170d. Charmides 170e. Charmides 171a. Vgl. Charmides 171b. Charmides 171c.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

Weiteren zeigt sich, dass jegliche Prüfungstätigkeit in einer Sacherkenntnis begründet sein muss, weil die Prüfung einer bestimmten Erkenntnis nur über den betreffenden Gegenstand erfolgen kann. Was bedeutet diese Feststellung für die vorliegende Untersuchung? Zunächst schränkt diese Feststellung die Möglichkeiten des Besonnenen ein, Fachkundige in ihrer Sacheinsicht zu prüfen. Seine Leistung reduziert sich darauf, Erkennende zu erkennen. Welche Konsequenzen hat die obige Feststellung für die Fachkundigen? Ein Fachkundiger würde durch die Prüfung einer beanspruchten Facherkenntnis die Erkenntnis der entsprechenden Facherkenntnis erwerben. Damit wäre die Erkenntnis einer bestimmten Erkenntnis, d. h. eine Art Sacherkenntnis zweiter Ordnung, die Leistung und nicht die Voraussetzung einer Prüfung. In diesem Untersuchungsschritt wird also die Möglichkeit einer Erkenntnis einer Sacherkenntnis an einem Gegenstand explizit angesprochen; was im letzten Prüfungsschritt nur als Vollzug fassbar war. Die Erkenntnis der Erkenntnis ist aber nur deswegen Gegenstand des Gesprächs, weil sie Kritias’ Ausdeutung der Selbsterkenntnis ist. Nun zeigt sich, dass wenn eine Erkenntnis irgendeiner Erkenntnis möglich ist, dann in der Prüfung einer beanspruchten Sacherkenntnis. Folglich ist Selbsterkenntnis als eine Form von reflexiver Erkenntnis als Prüfungserfolg denkbar. Allerdings stellt sich dabei die Frage, an welchem Gegenstand eine Prüfungserkenntnis gewonnen werden müsste, um eine Selbsterkenntnis zu sein, die zugleich Tugend ist. Das zu erkennende Seinige des Tugendhaften ist weiterhin unbestimmt. Wenn man zusätzlich bedenkt, dass das vorliegende Gespräch selbst eine Prüfung darstellt, dann entstehen weitere Fragen zur sokratischen Prüfung. Oben wurde festgestellt, dass ein bestimmter Erkenntnisanspruch, bspw. die Inanspruchnahme medizinischen Wissens, nur durch einen Erkennenden, bspw. durch einen anderen Mediziner, geprüft werden kann248. Also müsste auch der Anspruch einer Besonnenheitserkenntnis nur durch jemanden untersucht werden können, der diese Erkenntnis selbst erreicht. Heißt dies, dass Sokrates die Besonnenheit schon erkannt hat oder dass er gar kein geeigneter Prüfer ist? Wenn er sie schon erkannt hat, warum muss er dann noch in der Prüfung die Wahrheit suchen, wie er selbst erklärt? Und wenn er sie nicht erkannt hat, wie kann er dann prüfen? Angesichts seines durchgängig souveränen Umgangs mit den Beiträgen von Charmides und Kritias liegt es nahe, Sokrates’ Prüfungskompetenz anzuerkennen. Selbst in seiner vermeintlichen Ratlosigkeit agiert er bspw. ganz selbstverständlich, indem er einen Prüfungsplan entwirft und umsetzt249. Einen deutlichen Gegensatz dazu bietet der vermeintlich selbstgewisse Kritias, dem zu Sokrates’ begründeter Ratlosig248 249

Vgl. Charmides 171b–c. Vgl. Charmides ab 167b.

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keit schlicht nichts mehr einfällt250. Sokrates kann außerdem Grund und Ziel seiner Prüfung problemlos erklären251 und schließlich schlägt er am Ende des Vorgesprächs dem beschämten Charmides die gemeinsame Prüfung als Ausweg vor252. Aufgrund dieser und weiterer Hinweise im Text kann man von einer Prüfungskompetenz und auch von einem Prüfungsbewusstsein bei Sokrates ausgehen. Muss man also annehmen, dass er die Besonnenheit erkannt hat? Es scheint so. Welche Aufgabe käme dann noch der Prüfung zu, für die er sogar bereit war zu sterben? Wie wäre seine Beteuerung des Nicht-Wissens nach Kritias’ langer Rede zu verstehen? Und natürlich: was hat er erkannt? Am Ende des Dialognachvollzugs soll die sokratische Prüfungsleistung im Ganzen betrachtet werden, da an dieser Stelle der Gedankengang noch nicht vollständig ist. Trotzdem kann eine mögliche Antwort auf die gestellten Fragen schon einmal skizziert werden. Es wurde oben festgestellt, dass die Prüfung einer beanspruchten Sacherkenntnis beim Prüfenden die Sacheinsicht voraussetzt. Zugleich gewinnt der Prüfende in der Prüfung eine Erkenntnis der eigenen und der fremden Sacheinsicht. Der Prüfende kann also in der Prüfung sowohl das eigene als auch das fremde Verhältnis zur fraglichen Sache offen legen und damit entweder den fraglichen Sachverhalt erkennen, oder die Notwendigkeit einer Bemühung um Sacherkenntnis aufzeigen. In beiden Fällen ist die Prüfung ein Gewinn und zwar sowohl für den Prüfenden als auch für den Geprüften. Der Prüfende erreicht zum einen die Sacherkenntnis erneut. Zum anderen sieht er auch das eigene Verhältnis zur entsprechenden Sache ein. Der Prüfende erkennt damit beide Pole seines Sachverhältnisses: sich selbst und die Sache. Die Prüfung selbst stellt die Beziehung zwischen beiden her. Bei Erkenntnisgegenständen, die den Menschen in seinem Sein nicht unmittelbar betreffen, wie bspw. die Gegenstände der Mathematik, mag die erworbene Einsicht in das eigene Sachverhältnis, also eine Art mathematischer Selbsterkenntnis, für die Lebensführung nicht so bedeutsam sein. Bei der Tugend als Erkenntnisgegenstand, wie es im vorliegenden Dialog der Fall ist, ist das Gewicht der Einsicht in das eigene Sachverhältnis, also eine Art tugendhafter Selbsterkenntnis, für die eigene Lebensführung ungleich größer. Die Prüfung zielt in Sokrates’ Fall auf die Einsicht in das eigene Verhältnis zur Tugend. Diese Art von Selbsterkenntnis ist für Sokrates also der Gewinn jeder neu vollzogenen Prüfung. Zugleich besteht in jedem Prüfungsvollzug die Herausforderung, die Tugend erneut zu erkennen. Da die Tugend als der Grund des guten Lebens eingeführt wurde, kann er in jeder Prüfung diesen Grund allgemein und im Bezug auf sein eigenes Leben neu erkennen. Die Prüfung hat also eine 250 251 252

Vgl. Charmides 169c. Vgl. Charmides 166c–e. Vgl. Charmides 158d–e.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

lebensorientierende Funktion. Aus dieser Perspektive ist Sokrates’ Wertschätzung der Prüfung, wie er sie in der Apologie vorbringt, nachvollziehbar. Denn ein Leben, das nicht gut ist, will kein Mensch führen, so dass ein Leben ohne Prüfung für denjenigen, der ihre Bedeutung erkannt hat, nicht lebenswert sein kann. Das sokratische Nicht-Wissen wurde schon einmal thematisiert. An obiger Stelle ließ es sich aus dem Zusammenhang des Dialogs am besten als ein Nicht-Verstehen begreifen, das auf einer noch nicht erfolgten Prüfung beruhte. Im Zusammenhang mit der Überlegung zur Leistung einer Sachprüfung kann man das Nicht-Wissen noch genauer fassen. Wenn ein Erkenntnisanspruch noch nicht oder nicht vollständig geprüft ist, dann weiß man erstens nicht, ob die fragliche Sache tatsächlich erkannt wurde, und zweitens, ob sich das eigene vermeintliche Kennen der Sache bewahrheitet oder auch im eigenen Sachverhältnis Fehler vorliegen. Allein im Prüfungsvollzug werden diese Fragen geklärt. Prüfung: Wäre eine Erkenntnis der Erkenntnis nützlich? (171d–175a) »Welchen Nutzen also, Kritias, sprach ich, hätten wir wohl noch von der so beschaffenen Besonnenheit? Denn wenn, wie wir anfänglich annahmen, der Besonnene wüsste, was er weiß und was er nicht weiß […] und auch einen andern, wie es eben hierin mit ihm steht, zu beurteilen imstande wäre, dann wäre es uns, das können wir behaupten, höchst nützlich, besonnen zu sein. Denn fehlerfrei würden wir selbst unser Leben durchführen im Besitz der Besonnenheit und alle übrigen, soviel ihrer von uns regiert würden«253. Kritias’ anfängliche Behauptung, die Erkenntnis der Erkenntnis sei werklos, kann man leicht als Nutzlosigkeit auslegen. Doch als Tugend kann Besonnenheit nicht nutzlos sein, sondern muss stets gut sein. Wie Sokrates schon mehrfach angedeutet hat, muss der Nutzen einer Erkenntnis nicht notwendig als ein sinnliches Werk verstanden werden. Wenn sich die Erkenntnis der Erkenntnis als eine den anderen Erkenntnissen übergeordnete Sacherkenntnis mit entsprechender Prüfungsbefähigung erwiesen hätte, dann wäre ihr Nutzen ganz offensichtlich – ein fehlerfreies Leben. Ein fehlerfreies Leben müsste zugleich auch ein schönes und gutes Leben sein, sodass eine übergeordnete Sacherkenntnis das Glück begründen könnte254. Sokrates verknüpft mit seiner Frage nach dem Nutzen der Erkenntniserkenntnis die beiden von Kritias getrennten Bereiche des menschlichen Daseins: Denken und Handeln. Kritias hat nach dem Scheitern der Konzeption einer unbewussten guten Praxis ein tatenloses Selbstbewusstsein als Tugend entworfen. Dadurch geht die Einheit des menschlichen Lebens aus Denken und Handeln verloren. Sokrates’ Explika253 254

Charmides 171d. Vgl. Charmides 172a.

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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tion der möglichen Prüfungsfähigkeit des Erkennenden stellt die Verbindung wieder her. Allerdings leuchtet zunächst nur die Nützlichkeit von Sacherkenntnissen ein, da fehlerfreies Handeln auf dem jeweiligen Fachgebiet nur durch eine bestimmte Einsicht ermöglicht und begründet wird. Eine übergeordnete Erkenntnis aller Sacherkenntnisse würde entsprechend fehlerfreies Handeln auf allen Gebieten begründen. Alle denkbaren Bedürfnisse des Menschen wären aufs Beste erfüllt. Eine solche Erkenntnis wurde allerdings nicht gefunden. Da Kritias zunehmend verstummt und offensichtlich keine Vorstellung davon hat, welchen Nutzen eine Erkenntniserkenntnis haben könnte, schlägt Sokrates selbst etwas vor. »Hat etwa, sprach ich, die Besonnenheit, wie wir sie jetzt gefunden haben, dass man nämlich durch sie die Erkenntnis erkennt oder die Unkenntnis, das Gute, dass wer sie besitzt, alles, was er sonst lernen will, leichter lernen und dass ihm alles klarer erscheinen wird, weil er neben jedem, was er lernt, auch noch die Erkenntnis dazu sieht?«255. Vielleicht könnte dieser Besonnene, wenn er neben der Erkenntnis der Erkenntnis eine Sacherkenntnis erwirbt, den Kollegen leichter beurteilen als der Unbesonnene256. Mehr als eine Lern- und Urteilserleichterung fällt aber auch Sokrates nicht ein. Besonders groß wäre der Nutzen einer solchen Besonnenheit nicht; für die Lebensführung wäre sie nahezu nutzlos, was einer Tugend nicht gemäß ist. Die Feststellung ist eigentlich nicht überraschend, da die Reichweite dieser Besonnenheit von einem übergeordneten Allwissen bis hin zu einer einzelnen, vermutlich unmöglichen Erkenntniserkenntnis schrittweise eingeschränkt wurde. Kritias’ These, Besonnenheit sei Selbsterkenntnis im Sinne einer Erkenntnis der Erkenntnis, ist damit im Grunde gescheitert. Doch Sokrates fällt dieses Urteil noch nicht, sondern dehnt die Prüfung noch einmal auf das anfänglich beanspruchte übergeordnete Allwissen des Besonnenen aus. Auf dem aktuellen Stand der Untersuchung müsste man nur die eingeschränkte Besonnenheitsthese als gescheitert ansehen. Weiterhin besteht die Behauptung, dass das übergeordnete Allwissen das Glück des Menschen begründen würde. Wer also, wie Sokrates, nach dem Grund des guten menschlichen Lebens sucht, der muss auch die erste Nutzenbehauptung untersuchen. Diese These kann leicht umschlagen in die skeptische These, das menschliche Glück sei generell unerreichbar, weil das übergeordnete Allwissen einem göttlichen Allwissen gleichkäme, das für den Menschen unerreichbar ist. Für die Frage nach der Tugend, die das menschliche Glück begründet, ist es also von existentieller Bedeutung zu klären, ob das genannte Allwissen der Weg zum Glück ist. Sokrates kleidet den erneuten Prüfungsansatz so ein, als ob ihn der eigene Gedanke selbst verwundern würde. Denn auch unter der Annahme einer übergeord255 256

Charmides 172b. Vgl. Charmides 172b/c.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

neten Sacherkenntnis wäre der Nutzen der Besonnenheit nicht eindeutig belegt257. Diese Verwunderung ist aber im Grunde nur eine Vorwegnahme von Kritias’ Verwunderung, da Sokrates nun Kritias’ bisher unausgesprochene Grundthese in Frage stellt. Schon in seiner ersten Bestimmung der Besonnenheit als Tun des Guten unterstellt Kritias die grundsätzliche Nützlichkeit der Fachkünste für das Leben. Wenn sie den Maßstäben des Gehörigen und Seinigen gemäß vollzogen wurden, sollte ihre Ausübung sogar Tugend sein. Da Kritias bisher aber nicht fähig war aufzuzeigen, worin dieser Maßstab besteht, verbleiben die Künste selbst der einzige Maßstab einer guten Praxis. Die Alternative innerhalb des Partnerdenkens wäre eine maßstablose Praxis, die dann nur noch vom Bedürfnis regiert wird. Diese wurde aber schon bei der Untersuchung von Charmides’ letzter Antwort258 als ungenügend aufgezeigt. Man kann zusammenfassen, dass Kritias nur unter der Annahme einer guten Praxis durch Anleitung der Fachkünste behaupten konnte, die Tugend bestünde in einer bloßen Reflexion auf die übrigen Erkenntnisse. Er muss unterstellen, dass das gute Leben nicht durch die Tugend, sondern durch die Facherkenntnisse erreicht wird. Denn nur dann würde in der Reflexion der Grund des vorher schon verwirklichten guten Lebens erfasst werden. Da der nun wirklich erstaunte Kritias Sokrates auffordert, seine Bedenken zu erklären259, wird Kritias’ bisher implizite Grundthese, das kunstgemäße Leben sei das gute Leben, untersucht. Man kann Sokrates’ Verwunderung deswegen als eine geschickte pädagogische Maßnahme deuten, um Kritias noch einmal zur Beteiligung an der Untersuchung zu motivieren. Unter der Annahme einer regierenden Besonnenheit, die auf allen Fachgebieten den Fachmann vom Scharlatan unterscheiden könnte, wäre das Leben des Einzelnen und des Staates im Ganzen sicherlich fachmännisch organisiert. Keiner, der seine Kunst nicht beherrscht, würde als Fachmann auf dem jeweiligen Gebiet beauftragt werden. Aus einer solchen Organisation der Lebensführung würde wohl nichts anderes folgen, »als dass wir eben gesünder sein werden am Leibe als jetzt und besser aus Gefahren zur See und im Kriege errettet werden, und dass unser Hausgerät, Kleidung, Beschuhung und was sonst noch hierher gehört, kunstreich wird gearbeitet sein, weil wir uns überall wahrer Künstler bedienten«260. Selbst die wahrhaften Wahrsager herauszufinden, gesteht Sokrates diesem Lebensentwurf zu, so dass auch die Zukunft für den Besonnenen keinerlei Unsicherheit mehr bergen würde. »Dass nun das menschliche Geschlecht also versorgt, verständig handeln und leben würde, das 257 258 259 260

Vgl. Charmides 172c–173a. Vgl. oben: die wörtliche Deutung der Formel, man müsse das Seinige tun. Vgl. Charmides 172d–173a. Charmides 173b–c.

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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begreife ich. Denn die achthabende Besonnenheit würde nicht zulassen, dass sich uns der Unverstand als Mitarbeiter neben einschleichen könnte. Dass wir aber, verständig und erkenntnismäßig lebend, auch gut leben und glücklich sein würden, das können wir doch noch nicht einsehen, lieber Kritias«261. Zunächst liest sich Sokrates’ Entwurf wie eine Vision unseres wissenschafts- und fortschrittsgläubigen Zeitalters. Alle Lebensbereiche werden erfasst und optimiert. Kein Wunsch bleibt offen und mehr noch, kein Wunsch wird irgendwie erfüllt, sondern alles wird auf fachmännische Art erfüllt, so dass auch die Wunscherfüllung optimiert wird. Was fehlt Sokrates also noch zum guten Leben? Fehlt hier überhaupt etwas? Deutlich wird an diesem Entwurf, dass auch diese angeblich gute, kunstgemäße Praxis gar nicht vorrangig die Kunst oder die Erkenntnis zum Maßstab hat. Denn die Künste erfüllen zwar die verschiedenen Aufgaben vorbildlich, sind aber nicht dafür zuständig, die anstehenden Aufgaben auszuwählen. Auch der Besonnene ist dafür nicht zuständig; er wählt nur die richtigen Fachkundigen aus. Wer oder was entscheidet in diesem Lebensentwurf darüber, welche Aufgaben bzw. Ziele überhaupt erfüllt werden sollen? So wie es scheint, können diese Rolle innerhalb des vorgestellten Lebensentwurfs nur die Bedürfnisse einnehmen, die in einem Leben, das auf den Selbsterhalt gerichtet ist, die Herrschaft übernehmen. Ein anderer Maßstab wurde bisher nicht vorgebracht. Die Bedürfnisse zeigten sich aber schon an früherer Stelle der Untersuchung als ungeeignet, um ein gutes Leben zu begründen. Sie konnten im besten Fall das Leben erhalten und im schlechtesten Fall verbrauchten sie die Ressourcen, die sie für die den Lebenserhalt und die eigene Erfüllung zu einem späteren Zeitpunkt benötigen262. Sie bedürfen also selbst eines Maßstabs. Die Künste bzw. die verschiedenen Facherkenntnisse sind aber in Bezug auf das gute Leben wertneutral. Sie dienen nur dem jeweiligen Gegenstand. Auf diese Weise können sie nicht als orientierender Maßstab der Lebensführung fungieren, sondern nur bei der Verwirklichung eines Maßstabs behilflich sein. Was Sokrates in dem skizzierten Lebensentwurf letztlich fehlt, ist eben ein solcher Maßstab. »Aber, sagte er [Kritias], du wirst doch nicht leicht ein anderes Ziel des Gutlebens finden, wenn das erkenntnismäßig dir zu schlecht ist. – Lehre mich nur noch das Wenige, sprach ich [Sokrates], welcher Erkenntnis gemäß du denn meinst? Etwa der von der Schneidung der Schuhe? – Beim Zeus, sagte er, die meine ich nicht«263. Auch andere Erkenntnisse, die Sokrates aufzählt, lehnt Kritias als Maßstab einer guten Lebensführung ab. »Also, sprach ich [Sokrates], bleiben wir nicht mehr bei der 261 262 263

Charmides 173c–d. Vgl. oben: die Untersuchung der Antwort, Besonnenheit sei das Tun des Seinigen. Charmides 173d–e.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

Erklärung, der lebe glückselig, der erkenntnismäßig lebe; denn diesen, obgleich sie erkenntnismäßig leben, willst du [Kritias] doch nicht zugestehen, dass sie glückselig sind; sondern du scheinst mir nur als einen in gewisser Hinsicht erkenntnismäßig Lebenden den Glückseligen zu beschreiben«264. Kritias’ Reaktion zeigt zweierlei. Zum einen verdeutlicht seine Verwunderung, wie fundamental für ihn die Annahme ist, das erkenntnisgemäße Leben sei gut. Etwas Besseres kann er sich gar nicht vorstellen. Zugleich versteht er offensichtlich seine eigene Annahme nicht, da er nicht jede Erkenntnis als Grund des guten Lebens anerkennt. Diese Spannung ist für Sokrates der Anlass zur Frage nach der maßgeblichen Erkenntnis. Nach einer Betrachtung mehrerer Erkenntnisse, die vom Allwissen des Wahrsagers bis zur Trivialkenntnis des Brettspielers reichen, nennt Kritias schließlich den Gegenstand der einzigen Erkenntnis, die das gute Leben begründen soll: das Gute und das Böse265. Damit ist einzig das Leben gemäß der Erkenntnis vom Guten und Bösen ein gutes und glückliches Leben. Wenn nun dem Menschen die Erkenntnis des Guten und Bösen fehlte, was würde er verlieren? Die Heilkunst bspw. würde weiterhin für die Gesundheit der Menschen sorgen, so wie jede andere Kunst ihrem Gegenstand dienen würde. »Aber, lieber Kritias, dass alles dieses gut geschehe und zu unserem Nutzen, das werden wir eingebüßt haben, wenn jene Erkenntnis weggenommen ist. – Richtig. – Aber diese ist doch, wie es scheint, nicht die Besonnenheit, sondern sie ist die, deren Geschäft ist, uns zu nutzen. Denn sie ist ja nicht die Erkenntnis der Erkenntnis und Unkenntnis, sondern die Erkenntnis des Guten und Bösen, so dass, wenn diese die nutzende ist, die Besonnenheit etwas anderes sein muss als nutzend«266. Sokrates hebt in seinem Fazit die oben angesprochene Neutralität der Facherkenntnisse hervor. Da sie zunächst nur ihrem spezifischen Gegenstand verpflichtet sind, kümmern die Fachkenntnisse sich nicht um die Verwendung ihrer Erzeugnisse. Die Frage nach dem Nutzen ihrer Werke überschreitet den Gegenstandsbereich der Facherkenntnisse und bedarf einer anderen Einsicht – der Erkenntnis von Gut und Böse. Diese Erkenntnis müsste als Maßstab über die Bedürfnisse wachen und die entsprechenden Aufgaben, die die Fachkünste erledigen sollen, auswählen. Darüber hinaus ist das Fazit für Kritias’ Bestimmung der Besonnenheit vernichtend. Denn entweder ist seine Bestimmung richtig, dann wäre Besonnenheit allerdings nutzlos und damit keine Tugend mehr. In einem solchen Fall würde Kritias den Anspruch nicht erfüllen, den er schon im Vorgespräch für Charmides erhoben hat. Besonnenheit sollte von Anfang an etwas Gutes sein. Oder aber Kritias hält daran fest, dass Besonnenheit etwas Gutes und eine Tugend ist, dann muss er allerdings 264 265 266

Charmides 173e. Vgl. Charmides 174b. Charmides 174c–d.

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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anerkennen, dass er sie nicht bestimmen konnte und damit nicht weiß, was Besonnenheit ist, und natürlich auch nicht einschätzen kann, ob Charmides sie besitzt. In beiden Fällen müsste er sein Nicht-Wissen eingestehen und sich um ein richtiges Verständnis der Tugend bemühen. Kritias aber wählt keine der beiden Möglichkeiten. Stattdessen versucht er sich noch mal zu retten, indem er behauptet, Besonnenheit als Erkenntnis der Erkenntnisse würde den anderen Erkenntnissen vorstehen und damit auch die Erkenntnis des Guten umfassen, so dass sie doch nützlich wäre267. Er versucht damit also die explizit werk- und sachlose, rein selbstbezogene Erkenntnis, wie er sie eingeführt hat, noch einmal zu einem Allwissen umzudeuten. Allerdings wurde schon zur Genüge aufgezeigt, dass die Sacherkenntnisse nicht durch einen Selbstbezug des Erkennens erreicht werden. Sokrates’ Reaktion fällt auch entsprechend kurz aus. Er erinnert an die Feststellung, dass jede Erkenntnis durch ihren Gegenstandsbezug von anderen unterschieden und bestimmt ist. Damit heilt uns nicht Besonnenheit, sondern Heilkunst, weil sie eben das Gesunde zum Gegenstand hat. Nutzen ist analog nicht das Geschäft der Erkenntniserkenntnis, sondern der Erkenntnis des Guten268. Dem muss auch Kritias zustimmen. Die Untersuchung wird von Sokrates nicht weitergeführt, sondern als beendet zusammengefasst und reflektiert. Die Erkenntnis des Guten bleibt damit unangefochten stehen als der Grund eines guten Lebens, wird aber nicht mit der Besonnenheit identifiziert. Hat man also den Grund des guten Lebens gefunden? Es scheint zumindest so, als ob die Erkenntnis des Guten diese Funktion im Gegensatz zu der Besonnenheit, wie Kritias sie verstanden hat, erfüllen kann. Kritias’ Versuch die Erkenntniserkenntnis über die Erkenntnis des Guten zu stellen, bezeugt noch einmal, dass er Erkenntnis als die Fundamentalkategorie des Menschseins ansieht. Offensichtlich unterscheidet er nicht zwischen Erkenntnisfähigkeit als grundsätzliche Möglichkeit des Menschen und verwirklichter Erkenntnisfähigkeit als Sacherkenntnis (bspw. als Erkenntnis des Guten) und betrachtet die menschliche Erkenntnisfähigkeit selbst schon als die Verwirklichung des Guten und nicht als eine bloße Möglichkeit zum Guten. Nur unter diesen Bedingungen kann er behaupten, die Erkenntniserkenntnis sei mit der Erkenntnis des Guten gleichwertig. Diese Identifizierung hat sich allerdings als unhaltbar erwiesen. Die Erkenntnis des Guten muss also eine besondere Aktualisierung des Erkenntnisvermögens an einem Sachverhalt sein und kann nicht mit der bloßen Selbstreflexion gleichgesetzt werden. Auch kann Besonnenheit keine nutzlose Erkenntnis der Erkenntnis sein, da dies ihrer Stellung als Tugend nicht gemäß wäre. Kritias’ Ansatz ist damit vollständig gescheitert. Zusammenfassend soll noch einmal der Gedankengang im Wesentlichen dargestellt und seine Bedeutung diskutiert werden. 267 268

Vgl. Charmides 174d/e. Vgl. Charmides 174e–175a.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

iii. Zusammenfassung Das Kritias-Gespräch enthält zwei grundsätzliche Stufen oder Gedankenschritte. Im ersten Schritt expliziert Kritias den impliziten Anspruch der Praxis, die im Charmides-Gespräch begrifflich gefasst wurde. Im zweiten Schritt wird die Begründung dieser Praxis untersucht. Hierbei wird das Denken, das vorher die Praxis gedacht hat, selbst auf den Begriff gebracht und geprüft. Kurz gefasst, wird im ersten Schritt die Bewusstwerdung der Praxis abgeschlossen und im zweiten Schritt ein Bewusstsein dieses Bewusstseins entwickelt. Der Anspruch der reflektierten Praxis lässt sich folgendermaßen kennzeichnen. Natürlich ist das besonnene Handeln immer ein gutes Handeln. Diese Voraussetzung ist schon im Vorgespräch nachweisbar. Da hier die Praxis von Charmides reflektiert wurde, setzt Kritias also voraus, dass diese Praxis gut ist und denkt in Charmides’ Nachfolge von dieser Voraussetzung her. Was Kritias allerdings noch zusätzlich einbringt, ist die Bestimmung des Seinigen und Guten über das Gehörige, das niemals Schande bereitet und das jeder Vernünftige kennt. Das zunächst so subjektiv scheinende Seinige wird als Gehöriges an das Urteil der Gemeinschaft aller Vernünftigen gebunden. Damit wird das bloß Subjektive ins intersubjektiv Soziale überschritten, so dass nicht jeder Mensch nach Belieben sein eigener Maßstab sein kann, sondern sich an einem verbindlichen Maßstab orientieren muss. Für diesen sozialen Maßstab der Handlungspraxis wird nun Tugend beansprucht. Die Begründung dieses Maßstabs stellt der Vernünftige dar. Ob der soziale Maßstab des Gehörigen also tatsächlich eine gute Praxis begründet, hängt von der Einsicht des Vernünftigen ab, den Kritias als Bürgen anführt. Folgerichtig wird im zweiten Schritt die begründende Einsicht des Vernünftigen untersucht, die aus einer zufällig nützlichen Praxis die gute Praxis eines Besonnenen machen soll. Da jeder Vernünftige nach Kritias weiß, dass das Seinige, das Gute und das Gehörige identisch sind, muss er sich nur seines Wissens bewusst werden, um die Begründung der eigenen guten Praxis zu erfassen. Diese Selbsterkenntnis denkt Kritias fundamental anders als die anderen Facherkenntnisse. Bei den Facherkenntnissen bezieht sich das Erkennen stets auf etwas anderes, was es selbst nicht ist: auf einen zu erkennenden Sachverhalt. Anders soll es bei der Tugend sein. Da diese von dem guten Praktiker schon verwirklicht und dem Vernünftigen schon bekannt ist, muss sich das Erkennen auf etwas beziehen, was der Erkennende selbst ist. Der gute Praktiker zeichnet sich eben dadurch aus, dass er den Maßstab der Vernunft verwirklicht. Deswegen muss der sich selbst erkennende Tugendhafte mit der Vernunft den Maßstab reflektieren, den die Vernunft selbst enthält. Diesen scheint sie aus sich selbst und durch sich selbst zu schöpfen. Kritias reagiert also auf das schwierige Verhältnis von Selbstbezug und Bezug auf das Gute, das sich bei der Untersuchung der Praxis zeigte, indem er Selbst und Gutes als Erkenntnis gleichsetzt. Infolge dieser Gleich-

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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setzung verschwindet der Unterschied zwischen dem Menschen, dem Guten und der Erkenntnis, so dass sich das Erkennen nur noch selbst erkennen muss. Die Schwierigkeiten dieses Selbstbezugs des Erkennens sind oben ausführlich diskutiert. Die Prüfungsergebnisse lassen sich auf folgende Weise zusammenfassen. Die Grundstruktur des Erkennens ist intentional, d. h. man kann stets nur eine Erkenntnis von etwas gewinnen. Die für Erkenntnisse konstitutive Differenz von Gegenstand und Vermögen soll bei der Selbsterkenntnis nach Kritias aufgehoben werden. Kritias’ These setzt zweierlei voraus: Erstens muss dem Erkenntnisvermögen selbst Gegenstandscharakter zugeschrieben werden, da sich das Erkennen anderenfalls nicht darauf beziehen könnte. Und zweitens müsste das Erkennen schlechthin gut sein, damit diese Selbsterkenntnis eine Tugend sein und die gute Praxis begründen kann. Beide Voraussetzungen sind Kritias vor der Prüfung nicht bewusst, obwohl sie die Grundlage seiner These bilden. Sie erweisen sich in der Prüfung als problematisch. Die Vergegenständlichung des Erkennens führt erstens zu nahezu absurden Konsequenzen eines Erkennenden ohne Sacherkenntnis. Da außerdem die Einzelerkenntnisse nicht immer eindeutig nützlich und gut sind, erweist sich die zweite Voraussetzung als falsch. Die Erkenntnis des Guten kann damit nicht in der Selbstreflexion des Erkennens erworben werden. Zudem bedeutet dieses Ergebnis, dass das eigene Gutsein aufgrund der natürlichen Vernunftanlage bzw. des natürlichen Erkenntnisvermögens nicht vorausgesetzt werden kann. Genau diese Voraussetzung bildet aber die Grundlage von Kritias’ Denken. Damit der Vernünftige ein Maßstab der Handlungspraxis sein kann, muss er sich also um die Erkenntnis des Guten bemühen. Diese Bemühung kann nicht die bloße Selbstreflexion des Erkenntnisvermögens sein, sondern muss das voraussetzungsbasierte Denken, das Kritias repräsentiert, überwinden. Damit ist die Betrachtung in Bezug auf die beiden Bereiche des menschlichen Lebens (Handeln und Denken) vollständig. Innerhalb dieser Bereiche sind alle denkbaren Bezugspunkte der Lebensorientierung untersucht worden. Im Handeln zunächst die objektiv wahrnehmbare Erscheinung des Handelnden, dann seine subjektiv wahrnehmbare Haltung als Motiv des Handelns. Das Seinige sollte als allgemeinverbindlicher Maßstab für beides gelten. Das Seinige wurde zunächst wiederum ganz subjektiv vom eigenen natürlichen Sein her verstanden und anschließend ins intersubjektiv Soziale überschritten. In all diesen Fällen wird die Tugendpraxis stets von dem Handelnden her begründet, entweder direkt durch die Anschauung seiner äußeren oder inneren Erscheinung oder indirekt durch Angabe eines Begriffs als Wesen seiner Praxis. Die Vieldeutigkeit des Begriffs fordert den Überschritt von einer Betrachtung der Praxis zu einer Betrachtung des Denkens, das über die Praxis nachdenkt. Die Betrachtung des Denkens macht den vorher bloß vollzogenen Selbstbezug bewusst. Dieser Selbstbezug des Menschen im Denken und Handeln wird zur Tugend schlechthin erklärt und damit als lebensbegründendes Prinzip ver-

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

absolutiert. Er scheitert am eigenen Anspruch, stets Gutes hervorzubringen. Damit scheitert auch ein Denken, das den Menschen selbst uneingeschränkt zum Maßstab des guten Lebens zu erheben versucht. Welche Konsequenzen ziehen die Beteiligten des vorliegenden Dialogs daraus?

c. Aporie: Erklärung und Konsequenzen (175a–176d) »Du siehst also, Kritias, wie sehr mit Recht ich schon lange Besorgnis hegte und wohl mit Grund mich selbst beschuldigte, dass ich gar nichts Nutzes von der Besonnenheit herausbrächte. Denn gewiss würde nicht, was einstimmig für das Vortrefflichste von allen gehalten wird, uns als etwas Unnützes erschienen sein, wenn ich etwas nutz wäre, um eine Untersuchung gut zu führen«269. Sokrates’ Fazit ist angesichts seines souveränen Prüfungsvollzugs und der sicheren Erklärung seines Untersuchungsansatzes höchst verwunderlich. Wenn man im Dialog nach der »lange gehegten Besorgnis« sucht, dann findet man höchstens die Vorrede zu der Untersuchung der Nützlichkeit eines erkenntnisgeleiteten Lebens270. Dort spricht Sokrates von »wunderlichen Einfällen« und davon, dass »noch gar nicht richtig untersucht wurde«. Nicht richtig untersucht wurde an der genannten Stelle die These, ein erkenntnisgemäßes Leben sei ein gutes Leben. Dieses Versäumnis wurde sogleich nachgeholt. Die Beschuldigung, Sokrates untersuche nicht richtig, hat Kritias im Verlauf des Gesprächs allerdings mehrfach erhoben. Sokrates nimmt hier also etwas auf sich, was seinem Verhalten in der Untersuchung eigentlich nicht entspricht. Warum tut er das? Wenn man seine Erklärung des Scheiterns berücksichtigt, dann wird der Zweck seiner Selbstbeschuldigung deutlicher. »Nun aber werden wir ja überall geschlagen und können nicht aufzeigen, was doch wohl dasjenige ist, dem der Wortbildner diesen Namen Besonnenheit beigelegt hat, ohnerachtet wir vieles eingeräumt haben, was gar nicht herauskam in unserer Rede. Denn zuerst haben wir eingeräumt, es gebe eine Erkenntnis der Erkenntnis […]; dann haben wir ferner dieser Erkenntnis eingeräumt, dass sie auch die Werke der übrigen Erkenntnisse erkennen sollte […], um nur den Besonnenen so weit zu bringen, dass er erkennte, was er weiß, dass er es weiß, und was er nicht weiß, dass er es nicht weiß«271. »Und dennoch hat die Untersuchung, wie gutmütig und gar nicht hart wir auch gegen sie gewesen sind, die Wahrheit nicht finden können, sondern ihr dergestalt Hohn gesprochen, dass sie uns, was wir durch ewiges Zugeben und Zudichten

269 270 271

Charmides 175a–b. Vgl. Charmides 172c–173a. Charmides 175b–c.

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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als das Wesen der Besonnenheit aufgestellt hatten, uns dieses zuletzt höchst übermütig als etwas ganz Unnützes gezeigt hat«272. Das eigentliche Problem, das Sokrates thematisiert, sind also die unbegründeten Voraussetzungen, die Kritias’ Bestimmung zugrunde liegen. Das ist zum einen die Möglichkeit einer rein selbstbezogenen Erkenntnis und zum zweiten ihr Status als ein übergeordnetes Allwissen. Beides sind Kritias’ Thesen, die Sokrates bloß untersucht, um in der Sache weiterzukommen. Wenn diese unbegründeten Voraussetzungen also für das Scheitern der Definition verantwortlich sind, dann ist nicht die Untersuchung schlechthin gescheitert. Die Untersuchung hat nur das Ungenügen des voraussetzungsbasierten Denkens aufgedeckt. Dieses Denken hat sich damit als unzureichend erwiesen, um das Wesen einer Tugend zu erfassen. Man kann die Untersuchung sogar als gelungen ansehen, weil sie die Haltlosigkeit dieses offensichtlich unbegründeten Denkens aufgedeckt hat. Die Selbstbeschuldigung erlaubt es Sokrates diese Schwierigkeit zu thematisieren, ohne sie Kritias allein zuzuschreiben. Kritias erleidet damit keinen totalen Gesichtsverlust vor den Anwesenden und hat die Möglichkeit, aus dem Scheitern zu lernen. In diesem Sinne kann man Sokrates’ Schuldübernahme als pädagogisch ansehen. Da er gleich im Anschluss an die Aussage, man hätte die Wahrheit nicht gefunden, behauptet, dass es ihm nicht um seinetwillen leid tue273, muss er noch etwas einsehen, das über das Scheitern der Definition hinausgeht. Zumindest als Definition hat man Besonnenheit aber nicht erfassen können. Die Aporie ist also eine Aporie des voraussetzungsbasierten Denkens, das nach einer Definition der vorausgesetzten Tugend sucht. Dieses Denken wurde in seiner Selbstbezogenheit durchdacht. Es muss überwunden werden, wenn die Tugend erreicht werden soll. Sokrates’ Denken zeigte sich aber als grundverschieden von diesem Denken. Anschließend spricht Sokrates auch zu Charmides und fordert ihn auf, nicht daran zu glauben, dass Besonnenheit nutzlos sei, »sondern nur, dass ich [Sokrates] ein schlechter Forscher bin, die Besonnenheit aber gewiss ein großes Gut ist, und du, wenn du es besitzest, sehr glückselig. Sieh also zu, ob du es etwa besitzest und der Besprechung gar nicht bedarfst«274. Gegenüber Charmides spricht Sokrates aus, was gegenüber Kritias nur implizit bleibt: die Notwendigkeit der Selbstprüfung oder anders formuliert der eigenen Suche nach dem richtigen Verständnis. Denn das richtige Verständnis der Besonnenheit haben Kritias und Charmides bisher ganz offensichtlich nicht erworben. Das Ergebnis des Dialogs soll sie aber nicht entmutigen, sondern im Gegenteil zur Suche auffordern.

272 273 274

Charmides 175c–d. Vgl. Charmides 175d. Charmides 175e–176a.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

Allerdings verstehen die beiden diese Aufforderung anders. Charmides will sich von Sokrates besprechen lassen »alle Tage, bis du sagst, es sei genug«275. Er scheint also zu glauben, dass es ihm an begrifflichem Wissen über Besonnenheit mangelt, das er sich durch Zuhören aneignen kann. Und Kritias selbst sieht bei sich überhaupt keinen Handlungsbedarf, sondern kehrt zu seiner schon im Vorgespräch praktizierten Beurteilung des Charmides zurück, ohne dass er eine Grundlage dafür nachweisen konnte. Es wäre nach Kritias ein Beweis für Charmides’ Besonnenheit, wenn er sich von Sokrates besprechen lässt276. Welche Besonnenheit er wohl meinen mag, muss unklar bleiben. Deutlich ist allerdings, dass Kritias auf seinem Anspruch beharrt und weiterhin davon ausgeht, die Besonnenheit richtig verstanden zu haben. Sokrates’ pädagogische Schuldübernahme für das Scheitern der Bestimmung nutzt Kritias nicht als Möglichkeit zur eigenen Suche, stattdessen befreit er sich gänzlich von der Verantwortung für das Untersuchte und kehrt zu dem gescheiterten Anspruchsdenken zurück. 3. Sokrates: die prüfende Selbsterkenntnis Nachdem der Dialog im Ganzen nachvollzogen wurde, kann im Rückblick die sokratische Prüfung zusammenfassend betrachtet werden, um die Frage nach der sokratischen Begründung des guten Lebens zu beantworten. Die sokratische Denkbewegung entfaltet sich über das gesamte Dialoggeschehen hinweg. Dieser Vollzug selbst muss bei der Reflexion stets mitgedacht werden, so dass die Reflexion nur auf den Begriff zu bringen versucht, was selbst im Prozess des Denkens verwirklicht werden kann und auch muss, damit dem Begriff nicht dasselbe widerfährt wie den Partnerantworten im Dialog. Im Ganzen gibt es zwei Hauptschritte, die das sokratische Denken im Dialog vollzieht. Im ersten Schritt wird die Denkrichtung der Partner umgekehrt. Im Alltagsgespräch wurde stets von der unterstellten Begründung her auf eine konkrete Meinungsäußerung als Urteil über die Tugend hin gedacht. Sokrates wendet das Denken um und nimmt die unterstellten Begründungen selbst in den Blick. Der zweite Schritt füllt das gesamte Hauptgespräch und stellt den Vollzug der eingeschlagenen Denkrichtung dar. Die sokratische Prüfung setzt an dem beurteilten Phänomen an und schreitet konsequent bis zum letzten Grund fort. Zwar denken Sokrates und seine Partner scheinbar gemeinsam, trotzdem lässt sich ein fundamentaler Unterschied zwischen den zwei Arten des Denkens feststellen. Die Linie der Partner wurde schon oben reflektiert und als voraussetzungsbasiertes Denken zusammengefasst, das im Versuch, die vorausgesetzte Tugend zu erfas275 276

Charmides 176b. Vgl. Charmides 176b.

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sen, bloß die eigene Projektion und also bloß sich selbst denkt. Es kann damit auch als selbstbezogenes Denken bezeichnet werden. Das Scheitern dieses Denkens im Dialog ist offensichtlich. Sokrates benennt die unbegründeten Voraussetzungen als Grund des Scheiterns. Was ist am sokratischen Denken anders geartet, so dass es den Mangel des selbstbezogenen Denkens aufdecken und erklären kann? Der Unterschied der beiden Denkweisen zeichnet sich schon im Vorgespräch ab. Wie schon gesagt, setzt Kritias das richtige Verständnis der Besonnenheit stillschweigend voraus und urteilt von dieser Voraussetzung her. Er ist also davon überzeugt, richtig zu handeln (hier: Urteilen) und auch richtig zu denken (hier: Verständnis der Besonnenheit). Sokrates hingegen hält sich mit einem eigenen Urteil zurück und lässt sich auch nicht von dem fremden Urteil einnehmen. Stattdessen plausibilisiert er zunächst das fremde Urteil (hier: durch Abstammung), aber auch ein mögliches gegenteiliges Urteil (hier: durch thrakische Lehre), um anschließend nach seiner Begründung zu fragen (hier: Frage an Charmides mit folgender Untersuchung). Er weiß also um die Ambivalenz der Meinungen und legt deswegen mehr Wert auf die im Hintergrund wirkenden Begründungen. Die Meinungen selbst sind für Sokrates bloß ein Anlass, um seine Ausrichtung auf die Begründung hin zu aktualisieren. Kritias’ Voraussetzung, die fragliche Tugend schon richtig zu verstehen, kann Sokrates nicht teilen. Wenn er diese Voraussetzung teilen würde, müsste er nicht nach der Begründung des konkreten Urteils fragen, sondern könnte, wie es im Alltagsgespräch üblich ist, von der eigenen Vorstellung her das Urteil bekräftigen oder anfechten. Im Umgang mit den Antworten auf seine Sachfrage muss sich Sokrates’ Haltung beweisen und in diesem Denkvollzug verwirklichen. Das Hauptgespräch ist zusätzlich zweigeteilt. In dem ersten Teilgespräch mit Charmides beginnt der Begründungsversuch mit einer Beschreibung der Handlungspraxis und basiert damit auf der Unterstellung, dass das Handeln die Begründung der Tugend selbst darstellt. Sokrates deckt die Schwierigkeiten dieses Ansatzes auf und führt Charmides’ Begründung auf das Prinzip dieser Praxis zurück. Die Maxime, jeder solle das Seinige Tun, bringt Charmides’ zurückhaltende Lebensführung auf den Begriff. Zugleich wird deutlich, dass er nicht aus Einsicht, sondern aus Unsicherheit zurückhaltend ist, da er gar nicht weiß, was das Seinige ist. Er versteht das Prinzip der eigenen Praxis nicht. Er mag zwar in den Augen seiner Mitbürger richtig handeln, begründet ist sein Handeln nicht. Sokrates zeigt nun auf, dass der Begriff erst richtig verstanden werden muss, damit er das richtige Handeln begründen und tatsächlich ein Maßstab einer guten Lebensführung sein kann. An dieser Stelle der Prüfung wird das Begründungsverhältnis von Handeln und Denken einsehbar. Wenn erst das richtige Verständnis des Begriffs ihn zum Maßstab der Lebensführung erhebt, dann begründet das richtige Denken erst das richtige Handeln, die Tugend und damit auch das gute Leben. Die bei Charmides greifbare Unterstellung, das Handeln würde das Denken begründen, muss genau umgekehrt

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

gedacht werden, damit tugendhaftes Handeln möglich wird. Das Verhältnis von Denken und Handeln kennzeichnet ganz deutlich die beiden Denkrichtungen von Sokrates und Charmides. Wenn die entscheidende Wirklichkeit in dem Handeln gesehen wird, dann wird das richtige Denken als Hintergrund dieses Handelns als unproblematisch unterstellt, ohne dass man sich um den Erwerb eines solchen Denkens auf besondere Weise bemühen müsste. Sokrates verdeutlicht in der Prüfung allerdings die Unzulänglichkeit des bloßen Handelns und seine fundamentale Angewiesenheit auf ein begründendes Denken. Die sokratische Prüfungsfrage fordert sein Gegenüber im Grunde dazu auf, das unterstellte richtige Denken zu entfalten und damit den eigenen Anspruch einzulösen. Charmides konnte diesen Anspruch nicht erfüllen, so dass sich das sokratische Denken auf den Grund hin bisher als überlegen gezeigt hat. Das Ungenügen der bloßen Lebenspraxis stellt die Begründung für Sokrates’ philosophisches Nachdenken über den Lebensgrund dar. Er erreicht also im Vollzug der Prüfung eine Begründung für seine Tätigkeit, ohne sie vorher voraussetzen zu müssen, während bei Charmides nur deren Fehlen offensichtlich wird. Kritias tritt nun im zweiten Teil des Hauptgesprächs mit dem Anspruch an, das richtige Denken vorweisen zu können, das Charmides noch fehlt. In diesem Teil geht es also nicht mehr um das Verhältnis von Handeln und Denken in Bezug auf die Tugend, sondern um das richtige Denken selbst, das dem richtigen Handeln zugrunde liegen soll. Der Vernünftige, so Kritias, hat das richtige Verständnis und weiß, dass das Seinige und Gehörige das Gute ist. Entscheidend ist aber vorerst das Tun dieses Guten, vermutlich weil aus Kritias’ Sicht eigentlich jeder Mensch vernünftig ist und also das richtige Verständnis hat. Auf diese Weise ließe sich der Tugendhafte nur an den Handlungsfolgen feststellen, so dass der Vernünftige gelegentlich nicht wüsste, ob er Gutes tut, obwohl er das Gute eigentlich kennt. Kritias’ Lösung ist bekannt. Der tugendhafte Vernünftige muss seine Erkenntnis erkennen. Damit würde der Tugendhafte sich von den anderen Menschen unterscheiden, die zwar auch vernünftig sind, aber nicht um ihre eigene Vernunfteinsicht wissen und deswegen auch nicht wissen, dass sie als Vernünftige stets Gutes tun, wenn sie handeln. Das richtige Denken wäre nach Kritias die Reflexion der eigenen unterstellten Kenntnis des Guten. Es hätte allerdings keinen wirklichen Einfluss auf das Handeln, da dieses schon vor der Selbstreflexion richtig gewesen ist. Kritias löst damit den Zusammenhang von richtigem Denken und richtigem Handeln. Das Scheitern seines Ansatzes wurde schon oben diskutiert. Es bleibt nur festzuhalten, dass die Setzung der Richtigkeit des reflektierten Handelns und des reflektierenden Denkens das bei Charmides aufgedeckte Problem der Praxis nicht löst, sondern es bloß vertieft. Die Setzung der eigenen Tugend verhindert das Erreichen dieser Tugend. Auf der sokratischen Seite des Denkvollzugs lässt sich etwas anderes festhalten. Er ist derjenige, der im ersten Schritt der Kritias-Untersuchung verdeutlicht, dass der unterstellte Vernünftige von der eigenen Tugend nichts weiß, weil die Handlungsfol-

C. Nachvollzug der sokratischen Prüfungstätigkeit am »Charmides«

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gen nicht nur von ihm abhängen. Damit wird einsichtig, dass das richtige Denken, das Kritias dem Vernünftigen zuschrieb, sich auch als Denken ausweisen können muss. Dann erst kann es als solches die Begründung der Tugend darstellen und der von vielen Faktoren abhängigen Handlungspraxis Festigkeit verleihen. Die eigene Vernunft in Form des richtigen Verständnisses des Lebensmaßstabs muss sich ihrer selbst gewiss sein; sie muss die eigene Richtigkeit verstehen und begründen können. Auch im sokratischen Denken nimmt also die Selbsterkenntnis eine zentrale Stellung ein. Allerdings ist diese Selbsterkenntnis keineswegs als Kritias’ Selbstreflexion zu verstehen. Kritias unterstellte, dass jeder Vernünftige das Seinige richtig versteht. Anders formuliert, dass jeder, der über ein Denkvermögen verfügt, d. h. im Grunde jeder Mensch, richtig denkt; er weiß es bloß nicht. In der Prüfung zeigt sich zunächst das Gegenteil. Der unterstellte Vernünftige, d. h. der Mensch, der sich nicht um ein richtiges Denken bemüht hat, sondern von diesem Besitz ausging, denkt falsch; er weiß es bloß nicht. Wie sich in der Prüfung der Selbsterkenntnis nach Kritias zeigte, kann Erkenntnis zum einen erst im Sachbezug erworben werden. Das richtige Denken als Erkenntnis bezieht sich also stets auf einen Sachverhalt. Zudem kann die Richtigkeit des Denkens eines bestimmten Sachverhalts in einer Sachprüfung untersucht und eingesehen werden. Beides, also sowohl den Bezug auf einen Sachverhalt als auch die Prüfung einer behaupteten Sacheinsicht, verwirklicht Sokrates in der vorliegenden Untersuchung der Tugend Besonnenheit. Man kann also schlussfolgern, dass Sokrates in dem vorliegenden Tugenddialog das richtige Denken der Besonnenheit verwirklicht. In Vollzug verwirklicht er zum einen die im Vorgespräch eingenommene Sachorientierung und beweist zugleich die Richtigkeit seines Denkens, indem er die notwendigen Begründungszusammenhänge aufdeckt und sich ihnen unterordnet. Die Bemühung um Begründung zeigt sich als Verwirklichung der angelegten Vernunft, die Kritias meinte voraussetzen zu können. Die ständige Prüfung der vorgebrachten Begründung am erhobenen Anspruch lässt sich folglich als Bemühung um eine Selbsterkenntnis verstehen, die nicht bloß die eigene vermeintliche Einsicht reflektiert, sondern auch das erworbene Sachverhältnis wiederholt klärt. Am Ende des Dialogs zeigte sich die Erkenntnis des Guten als die eigentliche Erkenntnis, die das eigene Handeln und Denken gut und nützlich macht und also die gute Lebensführung erst begründet. Kritias konnte diese Erkenntnis ganz offensichtlich nicht vorweisen. Wie verhält es sich mit Sokrates? Im Charmides wird nur sehr wenig über die Erkenntnis des Guten gesagt. Es gibt keine Theorie über das Gute. Für eine umfassende Theoriebildung müsste man Textstellen aus anderen Dialogen Platons hinzuziehen, die das Gute selbst thematisieren, wie bspw. die Politeia. Zur Verwirklichung der Erkenntnis des Guten kann allerdings schon anhand des vorliegenden Dialogs etwas ausgesagt werden.

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II. Die Begründung des guten Lebens bei Sokrates

Die Erkenntnis des Guten wird zunächst als eine Erkenntnis neben anderen eingeführt mit eigenem Gegenstand und Werk. Der Gegenstand ist das Gute und das Werk der Nutzen der anderen Kenntnisse und Handlungen für das eigene Leben. Anders formuliert soll das Werk dieser Erkenntnis gutes, richtiges Handeln und Denken sein und zwar nicht auf einem eingeschränkten Gebiet, sondern in Bezug auf die gesamte Lebensführung und damit also das gute Leben. Ganz allgemein wurde den Erkennenden im Dialog außerdem die Prüfungsfähigkeit auf ihrem Gebiet zugeschrieben. Die Erkenntnis des Guten lässt sich damit als eine Art übergeordnete Fähigkeit verstehen, aufgrund derer man das Handeln und Denken eines Menschen darauf hin prüfen kann, ob sie gut sind. Wie oben ausführlich diskutiert, führt Sokrates im Charmides eine solche Fähigkeit vor. Damit kann man sagen, dass er eine Art performative Erkenntnis des Guten im Tugenddialog verwirklicht. Man darf also kein begriffliches Wissen über das Gute im Tugenddialog suchen, sondern kann das Denken des Sokrates, das eine solche Erkenntnis im Vollzug verwirklicht, nachvollziehen. Der Tugenddialog enthält damit die Möglichkeit, das richtige Denken des Guten zu erwerben, indem er beim Mitvollzug das Denken auf die eigenen sachlichen Voraussetzungen umkehrt und diese Ausrichtung in ständiger Prüfung von Sachanspruch und innerer Sachlogik der Behauptungen schrittweise vertieft. Das Gute als letzter Grund kann selbst nur als das Voraussetzungslose gedacht werden. Das prüfende Denken hebt im Vollzug die Voraussetzungen des setzenden Denkens schrittweise auf und verwirklicht sich dabei selbst als das Voraussetzungslose. Der Tugenddialog ist Sokrates’ Verwirklichung dieses Denkens. Als ein solcher stellt er die Begründung der guten Lebensführung dar, die das Leben im Vollzug lebenswert macht, wie Sokrates in der Apologie behauptet. Ist die Erkenntnis des Guten als Vollzug des prüfenden Denkens, wie es oben nachgezeichnet wurde, verstanden, dann leuchtet auch ein, dass diese Art von Gespräch stets neu vollzogen werden muss, damit der Lebensgrund erhalten bleibt. Für das gute Leben ist damit nicht das Wissen von der Prüfung entscheidend, sondern der eigene Vollzug der Prüfung.

III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

A. Überblick In der Nikomachischen Ethik277 will Aristoteles das höchste Gut des Menschen bestimmen und stellt fest, dass dieses letzte Ziel des menschlichen Strebens die Glückseligkeit ist. Darin sind sich alle Menschen einig. Da jedoch bei der inhaltlichen Bestimmung des Glücks die Einigkeit endet, will Aristoteles es selbst untersuchen. Die Nikomachische Ethik (NE) lässt sich im Hinblick auf die Frage nach dem Glück dreiteilen. Im ersten Teil expliziert Aristoteles seine Untersuchungsvoraussetzungen und entwickelt seine Bestimmung des Glücks als vernünftige und tugendgemäße Tätigkeit der Seele278. Hier werden also die Grundlagen des menschlichen Glücks betrachtet. In dem zweiten und umfangreichsten Teil des Buches bestimmt Aristoteles die menschlichen Tugenden, die den Weg zum Glück darstellen279. Dieser Teil untergliedert sich wiederum in drei Unterabschnitte: die Bestimmung der ethischen Charaktertugenden280, die Bestimmung der dianoëtischen Verstandestugenden281 und eine Betrachtung der Nebenbedingungen des Glücks282. Im dritten Teil der Gesamtuntersuchung thematisiert Aristoteles abschließend das Verhältnis der Tugenden zum Glück und legt dar, dass die theoretische Schau die höchste tugendgemäße Tätigkeit der Seele und damit auch die eigentliche Glückseligkeit des Menschen ist283. Aristoteles’ Ausführungen zeichnen sich durch einen enormen Detailreichtum aus. Er nimmt viele Meinungen auf, erwägt jeweils das Für und Wider und findet stets zahlreiche Beispiele. Diese Ausführungen sind in verschiedenen Hinsichten interessant und haben zu zahlreichen Forschungsarbeiten angeregt. Für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist aber, wie schon in der gegenwärtigen Debatte zum guten Leben, in erster Linie der sachliche Kern der aristotelischen Überlegungen zur Glückseligkeit relevant. Deswegen werde ich mich im Folgenden darauf konzentrieren, diesen tragenden Gedankengang der Nikomachischen Ethik herauszuarbeiten, und alle Überlegungen zurückstellen, die nachgeordnete Aspekte betreffen. Vor meiner 277 Den zitierten Passagen liegt folgende Textausgabe zugrunde: Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, gr.-dt., hrsg. v. R. Nickel, übers. v. O. Gigon, Düsseldorf/Zürich 2001. 278 Vgl. NE I, 1094a–1103a. 279 Vgl. NE II, 1103a–X, 1176a. 280 Vgl. NE II, 1103a–V, 1138b. 281 Vgl. NE VI, 1138b–1145a. 282 Vgl. NE VII, 1145a–X, 1176a. 283 Vgl. NE X, 1176a–1181b.

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

eigenen Auseinandersetzung mit der Nikomachischen Ethik sollen die innerhalb der Forschung dominanten Deutungen und Fragestellungen dargestellt und diskutiert werden.

B. Forschungsstand zur »Nikomachischen Ethik« Die Forschungsliteratur zur aristotelischen Ethik im Allgemeinen und zur Nikomachischen Ethik im Besonderen ist sehr reichhaltig284. Da die Nikomachische Ethik viele Aspekte des menschlichen Lebens behandelt, gibt es zu ihr sehr viel Literatur zu einzelnen, gelegentlich sehr speziellen Fragestellungen. Im Rahmen dieser Arbeit habe ich mich auf die Literatur konzentriert, die sich in erster Linie mit dem Glücksverständnis in der Nikomachischen Ethik beschäftigt. Innerhalb dieser Literatur gibt es mehrere Hauptfragen, die in der Forschung immer wieder diskutiert werden. Ich will im Folgenden den Forschungsstand auf den Hauptforschungsfeldern skizzieren und in der Auseinandersetzung mit den diskutierten Problemen und Lösungsansätzen meinen Forschungsansatz einordnen. Die Darstellung des Forschungsstandes folgt den dominanten Fragestellungen und hat exemplarischen Charakter.

1. Inklusiver versus exklusiver Glücksbegriff Eine in den letzten Jahren dominante Debatte über den aristotelischen Glücksbegriff wird in erster Linie anhand weniger Stellen aus den Büchern I und X der Nikomachischen Ethik ausgetragen. Diese Debatte wurde von Hardie (1965) in seinem Aufsatz »The Final Good in Aristotle’s Ethics« angestoßen. Entsprechend wurde sie auch schon vielfach zusammengefasst und reflektiert285. Ich will diese Diskussion nicht im Einzelnen wiedergeben, sondern nur die beiden Grundpositionen skizzieren. Innerhalb der genannten Debatte werden zwei Problemfelder bearbeitet: Erstens wird untersucht, ob Aristoteles das Glück als ein inklusives oder exklusives bzw. dominantes Ziel versteht, und zweitens, wie das Verhältnis des praktisch-politischen zum theoretischen Leben zu verstehen ist. Die beiden Fragen sind zwar nicht identisch, hängen aber eng zusammen, so dass sie oftmals parallel behandelt werden286. Siehe Flashar 2004. Flashar listet zum Themenfeld »Ethik bei Aristoteles« ca. 190 Titel auf. Bspw. von Curzer 1991 oder von Kenny 1992. 286 Curzer (1991) behandelt die Frage nach dem Verhältnis von praktischem und theoretischem Leben bspw. losgelöst von der Debatte über die Zielart des Glücks. Ihm geht es dabei darum nachzuweisen, dass das Glück weder nur in der Praxis noch nur in der Theorie, aber auch nicht in einer Kombination von beidem besteht. Er argumentiert für die These, das Glück liege zwar in der Kontemplation, verwirkliche aber sowohl die praktische als auch die theoretische Vernunft. Er bezeichnet dieses Leben als vollständig. Die anderen Deutungen seien einseitig und würden der 284 285

B. Forschungsstand zur »Nikomachischen Ethik«

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Im Grunde steht die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis auch bei den anderen Hauptforschungsfragen stets im Hintergrund. Das lässt sich vermutlich dadurch erklären, dass die Teilung der Seele in einen begehrenden und einen vernünftigen Teil für den aristotelischen Entwurf grundlegend ist und beiden Teilen ein eigenes, vollwertiges Betätigungsfeld zukommt. In dem Spannungsfeld zwischen Begierden und Vernunft entwickelt Aristoteles seine Ethik. Die Forschungsfrage, welche Zielart das Glück darstellt, fokussiert nur einen Aspekt der Gesamtproblematik. Die Entgegensetzung von exklusivem bzw. dominantem und inklusivem Ziel kennzeichnet einen formal-strukturellen Unterschied von Glückskonzeptionen, von dem her anschließend Aristoteles’ inhaltliche Aussagen zum Glück geordnet und verstanden werden sollen. Zwei Möglichkeiten, etwas als Endziel aufzufassen, werden einander gegenübergestellt287. Die exklusive bzw. dominante Glücksauffassung stellt das Glück prinzipiell über alle anderen menschlichen Ziele als alleiniges höchstes Gut. Alle anderen menschlichen Lebensgüter sind demnach von einem niedrigeren Rang. Die Vertreter dieser These288 berufen sich in erster Linie auf Aristoteles’ Aussage im ersten Buch der Nikomachischen Ethik, das Glück würde als einziges aller Güter stets um seiner selbst willen gewählt und niemals um eines anderen Ziels willen289. Alle anderen möglichen Güter, bspw. Ehre, Tugend oder Erkenntnis, könnten zwar um ihrer selbst willen angestrebt werden, werden aber auch um des Glückes willen angestrebt. Deswegen sei das Glück etwas anderes als diese Güter. Es habe einen exklusiven Status290. Das

menschlichen Natur nicht gerecht werden. Sein Ansatz erscheint mir insofern interessant, als er sich nicht mit dem bloßen Auseinanderfallen der aristotelischen Überlegungen in zwei unabhängige Lebensentwürfe zufrieden gibt, sondern nach einer Verbindung zwischen beiden sucht. Allerdings ist es sehr schwer zu beurteilen, inwiefern seine Deutung wirklich der aristotelischen Idee entspricht, da er verschiedene Textstellen aus ihrem Textzusammenhang herausnimmt und außerhalb von diesem diskutiert. Auf diese Weise kann er zwar seine Deutung belegen, aber im Grunde auch jede andere, wenn er die Stellen nur etwas anders kombiniert hätte. Ohne die Bezugnahme auf den immanenten Textzusammenhang kann über die Angemessenheit seiner Deutung nicht entschieden werden. Ältere Beiträge insbesondere im deutschsprachigen Raum, wie bspw. von Gigon (1973) oder Bien (1968/69), kommen bei der Reflexion des Verhältnisses von Theorie und Praxis bei Aristoteles auch ohne die Fragestellung nach der Zielart des Glücks aus. In den genannten Beiträgen geht es allerdings nicht so sehr um die Klärung des aristotelischen Glücksverständnisses, stattdessen steht die Abgrenzung von Aristoteles und Platon bezüglich des Verhältnisses von Handlungspraxis und philosophischer Theorie im Vordergrund. 287 Vgl. dazu Höffe 1996, S. 218–220. 288 Bspw.: Jacobi 1979, Heinaman 1988, Kraut 1989, Kenny 1992, Stemmer 1992a. 289 Vgl. NE I, 1097a15–b21. 290 Kenny (1978, S. 190–214) macht außerdem in seiner Studie zum Verhältnis zwischen Eudemischer und Nikomachischer Ethik deutlich, dass Aristoteles selbst in der Eudemischen Ethik ein inklusives Glücksverständnis vertritt im Gegensatz zum exklusiv-dominanten Glücksverständnis in der Ni-

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

Glück allein erfülle das Leben mit Sinn. Alle anderen Güter führen letztlich nicht zum Gelingen des Lebens, so dass es nahezu gleichgültig sei, ob man sie zusätzlich zum Glück besitze. Wenn die Anhänger dieser Deutung außerdem nach der Lebensform fragen, in der das Glück verwirklicht wird, dann tendieren sie dazu, das theoretische Leben allein als das glückliche Leben anzusehen, da dieses Leben laut Aristoteles’ Aussagen im zehnten Buch am wenigsten der äußeren Güter bedarf und auch keinen Nutzen außerhalb seiner selbst anstrebe291. Es erfülle damit das Kriterium der exklusiven Selbstgenügsamkeit aus dem ersten Buch am besten. Das praktische Leben wird von den Vertretern der Exklusivitätsthese oft als ein weiterer Glücksentwurf neben dem theoretischen Leben aufgefasst. Das praktische Leben ist dann ebenso exklusiv zu verstehen wie das theoretische. Nach dieser Auffassung sind die beiden Lebensformen unvereinbar. Die Vertreter der Gegenthese292 wenden ein, dass die exklusive Glücksauffassung den Status anderer Lebensgüter als Güter relativiere und damit entwerte. Konsequenterweise müsste man behaupten, dass es überhaupt nur ein Gutes gebe – das Glück, was aber von Aristoteles nicht gesagt wird. Sie begreifen das Glück deswegen als ein inklusives Gut, das sich aus den verschiedenen Lebensgütern zusammensetzt und damit nichts eigenständiges, über die anderen Güter hinausgehendes ist. Glück sei vielmehr ein Begriff für ein komplexes Gesamtgebilde aus den Lebensgütern, wie sie von Aristoteles im ersten Buch der Nikomachischen Ethik aufgezählt werden. Auch innerhalb dieses Lagers gibt es verschiedene Umgangsweisen mit der Frage nach dem Verhältnis von praktischem und theoretischem Leben. Das Spektrum reicht von einem Ausschluss des theoretischen Lebens aus den Möglichkeiten des spezifisch menschlichen Lebens, weil Aristoteles es als göttlich bezeichnet, bis hin zu einer komplexen Zusammensetzung aus praktischem und theoretischem komachischen Ethik. Kenny nutzt diese Feststellung für eine Diskussion über die Abfolge der beiden Ethiken und für deren Authentizität. Es ist m. E. jedoch unplausibel, dass Aristoteles zwei entgegengesetzte Glücksauffassungen vertreten soll, ohne diese Tatsache selbst zu thematisieren. Da es ansonsten große Parallelen zwischen den beiden Ethiken gibt, leuchtet die Deutung ein, dass der von Kenny aufgedeckte Unterschied darauf zurückgeführt werden kann, dass Aristoteles verschiedene Aspekte desselben Themenkomplexes betonen wollte (vgl. dazu Kullmann 2010, S. 258–260; Szaif 2004, S. 66/67). Ich werde mich im Weiteren auf die Nikomachische Ethik konzentrieren, da sie im Großen und Ganzen in der Forschung als die wichtigere von beiden Ethiken angesehen wird. 291 Vgl. NE X, 1178a9–1179a9. 292 Bspw.: Hardie 1965, Nussbaum 1986, Ackrill 2010. Kullmann (2010) thematisiert das Zielverständnis zwar nicht, seine Analyse des Verhältnisses von theoretischer und praktischer Lebensform passt aber sehr gut zu der inklusiven Deutung des Glücks. Szaif (2004) diskutiert diese Frage nur nebenbei, neigt aber auch zu einer inklusiven Deutung des Glücks. Broadie (1991) tendiert auch zu der inklusiven Deutung, hält aber die genaue Beantwortung dieser Frage für das aristotelische Glücksverständnis für irrelevant. Diese Debatte halte sich fälschlicherweise mit den Ambiguitäten der Begriffe »Glück« und »Leben« auf. Man kann Broadie auch zu den Vertretern der später beschriebenen Vermittlungsposition zählen.

B. Forschungsstand zur »Nikomachischen Ethik«

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Leben. Die Vertreter der Exklusivitätsthese wenden an dieser Stelle ein, dass es äußerst schwierig sei zu bestimmen, welches Verhältnis der Lebensgüter und Lebensformen das glückliche sei, ohne wiederum ein Kriterium einzuführen, das außerhalb dieser Güter liege. Ebenso unklar sei die Grundlage für die Liste der zu berücksichtigenden Lebensgüter. An diesen Problemen arbeitet sich die Diskussion seit nun fast fünfzig Jahren ab, ohne dass sich eine grundsätzliche Lösung abzeichnen würde. Es gibt auch zunehmend Vermittlungsvorschläge, die beide Aspekte zu integrieren versuchen, indem zwei analytische Betrachtungsebenen in der Argumentation unterschieden werden. Das Glück könne je nach Betrachtungsebene sowohl als inklusives als auch als exklusives Ziel angesehen werden293. Auf diese Weise werden aber die innerhalb der Debatte kritisierten Schwierigkeiten der einzelnen Deutungen des Glücks als exklusives oder inklusives Ziel nicht überwunden, sondern bloß das Verhältnis beider zueinander thematisiert. Diese Debatte im Ganzen bearbeitet den formal-begrifflichen Rahmen des aristotelischen Glücksverständnisses, den Aristoteles zu Beginn des ersten Buches der Nikomachischen Ethik erarbeitet, ohne sich dabei auf die in den folgenden Büchern enthaltenen inhaltlichen Ausführungen einzulassen, in denen Aristoteles sein Verständnis der Sachlage entfaltet. Auf diese Weise operieren die Forscher oftmals von ihrem eigenen Verständnis von Glück oder Tugend her, ohne dass deutlich gemacht werden kann, ob das aristotelische Verständnis damit übereinstimmt oder nicht. Ich vermute, dass sich die Schwierigkeiten, die sich bei der Analyse des formal-begrifflich Rahmens zwar zeigen, aber nicht lösen lassen, mithilfe von Aristoteles’ inhaltlich-sachlichen Ausführungen klären lassen. Die erwähnten Vermittlungsvorschläge stammen zumindest von Forschern, die sich über die Begriffsanalyse hinaus auf die aristotelischen Gesamtüberlegungen einlassen. Der Schwerpunkt meiner Untersuchung liegt deswegen auch auf der inhaltlich-sachlichen Seite der aristotelischen Ausführungen.

Höffe (1996, S. 218–219) deutet eine Zwischenposition an, indem er dem Glück einen transzendentalen Charakter zuspricht, so dass es zugleich exklusiv und inklusiv zu sein scheint. Einerseits stehe das Glück formal über den anderen Zielen, weil es über die Zieltauglichkeit von Zielen überhaupt entscheide (exklusiv), andererseits könne es inhaltlich nur innerhalb dieser Ziele verwirklicht werden (inklusiv). Rese (2003, S. 71–73) macht einen ähnlichen vermittelnden Vorschlag, indem sie die Deutungen des Glücks als exklusives oder inklusives Ziel als eine analytische Fokussierung verschiedener Aspekte des Glücks auffasst. Wenn das Glück als höchstes, scheinbar exklusives Ziel verstanden wird, dann werde seine logische Überordnung über die anderen Ziele betont. Bei der Betonung des inklusiven Charakters des Glücks werde hervorgehoben, dass das Glück nur in Handlungen praktisch umgesetzt werden kann. Beide Aspekte würden bei dem aristotelischen Glücksverständnis zusammengehören. 293

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

2. Das Verhältnis zwischen ethischen und dianoëtischen Tugenden Innerhalb der stärker inhaltlich ausgerichteten Erforschung der aristotelischen Ethik dominiert, wenn man von Detailfragen absieht, die Frage nach dem Verhältnis von ethischen und dianoëtischen Tugenden294. Im Zentrum dieses Forschungszweigs steht der scheinbar zirkuläre Begründungszusammenhang zwischen den genannten Tugendarten. Das untersuchte Problem lässt sich folgendermaßen zusammenfassen. Aristoteles bestimmt im zweiten Buch der Nikomachischen Ethik die ethische Charaktertugend im Ganzen als eine Haltung der richtigen Mitte, wie der Vernünftige sie bestimmen würde295. Im sechsten Buch wird die relevante dianoëtische Verstandestugend Klugheit (φρόνησις) bestimmt als die Fähigkeit, die richtigen Mittel zu dem durch die Charaktertugend anvisierten richtigen Ziel zu finden296. Auf diese Weise begründet die praktische Verstandestugend die ethische Charaktertugend, die gleichzeitig die Voraussetzung der Verstandestugend darstellt. Ob und wie dieses Verhältnis gedacht werden kann, ohne zirkulär zu sein und damit jegliche Erklärungskraft zu verlieren, ist die große Frage dieses Forschungszweigs. Da nach Aristoteles die vernünftige Tätigkeit der Seele gemäß ihrer höchsten Tugend das Glück des Menschen ausmachen soll, ist die Frage nach dem Verhältnis der beiden Tugendgrundarten auch für meine Fragestellung relevant. Je nachdem wie der Zusammenhang von Charaktertugend und Verstandestugend verstanden wird, ändert sich der Begründungszusammenhang der aristotelischen Konzeption des guten Lebens. Innerhalb der Forschung herrscht zunächst ganz grundsätzlich kein Konsens darüber, ob die Charaktertugend als Haltung der Mitte wirklich auf die richtige Einsicht des Klugen297 angewiesen ist. Dass Aristoteles die richtige Einsicht in diesem Zusammenhang überhaupt erwähnt, wird zuweilen auf die historischen Üblichkeiten innerhalb der Athener Elite zurückgeführt, sodass darin kein zwingender systematischer Zusammenhang gesehen wird298. Andere Interpreten wiederum deuten den Einen guten Überblick über die Forschungsliteratur zum Verhältnis von Praxis und Logos und damit auch zum Verhältnis der beiden Tugendarten bei Aristoteles findet man bei Rese (2003). In der umfangreichen Studie von Rhonheimer (1994) ist ebenfalls eine Fülle von Literatur zum Themenkomplex Praxis und praktische Vernunft verarbeitet. 295 Vgl. NE I, 1106b36–1107a2. 296 Vgl. NE VI, 1140a24–b30; 1144a6–1145a6. 297 Vgl. NE II, 1103b31–35, 1106b36–1107a2. 298 Siehe bspw. Wolf 2010. Wolf findet zwar Argumente für eine mögliche Plausibilisierung der These, es sei sinnvoll, sich vernünftig zu den eigenen Affekten zu verhalten, aber nur aufgrund eigener Überlegungen über die psychologisch beobachtbaren Elemente innerhalb des Menschen. Aristoteles’ Ausführungen findet sie weder zwingend noch überzeugend, da diese auf eine objektive Bestimmung des guten Lebens zurückgreifen, wir so etwas heutzutage aber nicht mehr teilen würden. Ganz im Gegenteil zu Wolf stellt Szaif (2004) heraus, inwiefern in den individuell gewählten 294

B. Forschungsstand zur »Nikomachischen Ethik«

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Zusammenhang auf eine instrumentelle Art, wobei die praktische Vernunft eine bloß ausführende und keine maßgebende Rolle spielt und damit letztlich der Bedürfnisbefriedigung dient299. Rhonheimer (1994) weist deswegen in seiner Untersuchung sehr aufwendig nach, dass die Mitte in Bezug auf uns eine vernünftige sein muss, der Vernunftbezug also weder ein rein historisches Artefakt noch rein instrumentell ist. Natürlich sei die Vernunftgemäßheit der Charaktertugend für Aristoteles aufgrund seiner Herkunft aus der platonischen Akademie eine Selbstverständlichkeit. Zugleich sei dies auch sachlich notwendig. Da die Charaktertugend einerseits auf die Sinnlichkeit bezogen ist und zwischen zwei Lastern liegt, andererseits aber selbst das Höchste und Beste ist300, kann sie nicht auf der rein sinnlichen Ebene begründet sein. Wenn die ethische Tugend eine Mitte ausschließlich in Bezug auf Lust und Unlust wäre, dann bliebe sie bloßes Mittelmaß. Erst durch die Vernünftigkeit könne die Mitte über die affektbezogene Erscheinung hinaus eine weitere Dimension gewinnen301. Im Fortlauf seiner Untersuchung zeigt Rhonheimer auf, dass die aristotelische Vernunft eine Doppelfunktion innehat. Einerseits ist sie als höchstes menschliches Vermögen selbst maßgebend und bestimmt also die richtigen anzustrebenden Ziele, andererseits findet sie als praktische Klugheit (φρόνησις) stets die richtigen Mittel zu dem angestrebten Tugendziel der Mitte und ist in dieser Funktion also eher maßanwendend. Die Funktion als maßgebende Instanz soll den drohenden Zirkel überwinden helfen, so Rhonheimer. Der Zirkel lässt sich mit Aristoteles’ Worten auf die knappe Formel bringen: keine ethische Tugend ohne Klugheit und keine Klugheit ohne ethische Tugend302. Rhonheimer deutet diese wechselseitige Abhängigkeit schlicht als Abhängigkeit beider von etwas Drittem. Die Grundlage beider sei der orthos logos, den Rhonheimer als die rechte Einsicht in die unveränderlichen praktischen Prinzipien versteht. Diese werden vom Nous, dem intuitiven Verstand, realisiert303. Der Nous soll den Ausweg aus dem obigen Zirkel ermöglichen. Nach Rhonheimers Ausführungen geht Aristoteles davon aus, dass das Vernunftvermögen von Natur aus auf die Wahrheit ausgerichtet ist und nur von den Leidenschaften von dieser Orientierung abgelenkt wird304. Insofern ist das Problem der aristotelischen Ethik nicht die Frage nach der Erkenntnis des Guten. Aristoteles Lebensformen immer ein Anspruch auf Allgemeingültigkeit und damit Wahrheit enthalten ist, so dass ein Vernunftbezug in den praktischen Lebensurteilen notwendig enthalten ist. 299 Siehe bspw. Kenny 1992. 300 Vgl. NE II, 1107a2–8. 301 Vgl. Rhonheimer 1994, S. 105–116. 302 Vgl. NE VI, 1144b30–32. 303 Vgl. Rhonheimer 1994, S. 407–500. 304 Vgl. Rhonheimer 1994, S. 321/322.

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

bemüht sich nach Rhonheimer vielmehr darum, die blickverzerrenden Hindernisse wegzuräumen, damit dem Handelnden das im Grunde bekannte Gute auch als Gutes erscheint. Die von den Leidenschaften gefärbte falsche Erscheinung soll richtig gestellt werden. Die mäßigende Charaktertugend sorgt für diese Richtigstellung und ist somit die affektive Bedingung für die Wirksamkeit der grundlegenden Wahrheitsorientierung des Nous. Die Klugheit (φρόνησις) als Verstandestugend sorgt hingegen für die praktische Implementierung der allgemeinen Prinzipien in die konkreten Einzelsituationen. Die durch den Nous vorgegebenen praktischen Prinzipien sollen also die aristotelische Ethik begründen. Was sind diese praktischen Prinzipien? Für Aristoteles, so Rhonheimer, stellt sich diese Frage nicht, da er die Behauptung einer grundsätzlichen Wahrheitsausrichtung der Vernunft aus der platonischen Akademie übernimmt und sich eigentlich nur gegen die sokratische These absetzen will, die Tugend sei Wissen305. Deswegen stehe das Verhältnis zwischen Vernunft und den Leidenschaften im Vordergrund der Nikomachischen Ethik. Die theoretische Tätigkeit der Vernunft samt ihrer Tugend, der Weisheit (σοφία), beschäftigt sich mit anderen Gegenständen und ist an dieser Stelle ebenfalls irrelevant, obwohl auch in der Schau der göttlichen Gegenstände der Nous tätig sei. Anscheinend versteht Rhonheimer und nach ihm Aristoteles die natürliche Wahrheitsausrichtung der Vernunft als eine implizite Kenntnis der Wahrheit, die bei allen Menschen als Lebewesen mit Vernunft vorausgesetzt werden könnte und in die Praxis eingebracht werden muss. Dies sei das Erbe der platonischen Akademie. Unabhängig davon, ob diese Sicht der sokratisch-platonischen Philosophie tatsächlich entspricht306, kritisiert Aristoteles die vermeintlich platonische Sicht der für die Praxis relevanten Wahrheit vehement307. Da für Aristoteles die Idee des Guten das Zentrum der platonischen Tugendlehre bildet und er diese Idee entweder als unnötig oder als unmöglich ablehnt, stellt sich schon die Frage, was Aristoteles eigentlich von Platon übernimmt und wie er ohne die kritisierte Idee die Tugend begründet. Er muss also unbedingt etwas zu den letzten Prinzipien seiner Ethik sagen, gerade weil er sich von Platons letztem Prinzip absetzten will. Rhonheimers Untersuchung greift an dieser Stelle also zu kurz, wenn sie die Frage nach den praktischen Prinzipien der Vernunft bei Aristoteles zurückstellt308. Die Frage ist aber durchaus berechtigt und muss von Aristoteles beantwortet werden. Denn von seiner Antwort auf diese Frage hängt es ab, ob er die an Platon kritisierten Mängel überwinden kann und seine Ethik in sich begründet ist.

Vgl. Rhonheimer 1994, S. 413–422, 499. Vgl. dazu Kapitel II, C der vorliegenden Arbeit. 307 Vgl. NE I, 1096a11–1097a14. 308 Für Rhonheimer ist diese Frage ggf. auch deswegen nicht so präsent, weil sein Forschungsinteresse über Aristoteles hinaus geht und er die Weiterentwicklung der aristotelischen Ethik durch 305

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B. Forschungsstand zur »Nikomachischen Ethik«

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Einen ganz ähnlichen Lösungsvorschlag bringt Rese (2003) vor. Ihre Untersuchung behandelt das Verhältnis zwischen Praxis und Logos, wobei sie Logos als Rede auffasst. Da aber die Ansprechbarkeit des Menschen durch die Rede der anderen bei ihm Vernunft voraussetzt, untersucht sie zunächst auch das Verhältnis von Handlungspraxis und Vernunft und damit das Verhältnis zwischen ethischer Charaktertugend und dianoëtischer Verstandestugend. Im Gegensatz zu Rhonheimers Überlegungen behält Rese das menschliche Glücksstreben stets als Horizont ihrer Ausführungen bei. Die Charaktertugend sieht sie als Möglichkeitsbedingung des Glücks, da sie zu einem richtigen Verständnis des Glücks und zur Erkenntnis des wahrhaft Guten in der einzelnen Handlungssituation führen und zur Umsetzung dieses Guten in die Tat befähigen soll309. Bei dem Erwerb der Charaktertugend spielt laut Rese neben der Gewöhnung die praktische Vernunft (φρόνησις) eine zentrale Rolle, weil sie das jeweils Richtige bzw. Mittlere bestimmt. Sie hat eine Vermittlungsfunktion zwischen dem allgemeinen Ziel des Menschen, d. h. seinen Glücksvorstellungen, und der konkreten Handlungssituation310. Das letzte Ziel selbst ist aber nicht der Gegenstand der Überlegungen der praktischen Vernunft, sondern wird durch den Nous bestimmt und auch durch die Charaktertugend bedingt311. Die praktische Vernunft nimmt die entsprechende Zielbestimmung zur Kenntnis und überlegt von dieser Bestimmung her. Die Fähigkeit der richtigen Überlegung (εὐβουλία) wird nach Rese in der Beratung durch und mit anderen erworben. Auch bei dieser Analyse der aristotelischen Lehre vom guten Leben gipfelt alles in der zielbestimmenden Tätigkeit des Nous. Die praktischen Fähigkeiten und Tugenden werden zwar im Umgang mit anderen Menschen und an deren Vorbild erworben, die Grundlage der Anwendung dieser Fähigkeiten stellt nach Rese aber, genauso wie bei der Deutung von Rhonheimer, die Zielbestimmung durch den Nous dar. Fragt man nach, was der genaue Gegenstand des Nous ist, welche Einsicht er gewinnt, wie er sie gewinnt und worin sich die Richtigkeit seiner Einsicht begründet, dann bleibt auch Rese eine Antwort auf diese Fragen schuldig. Sie unterstellt stillschweigend die Wahrheitseinsicht des Nous, ohne dies auch nur zu thematisieren. Den beiden dargestellten Deutungen gemeinsam und insgesamt symptomatisch für Untersuchungen des Verhältnisses von ethischer Praxis und Vernunft bei Aristoteles ist die Einschränkung der Betrachtung im Bereich der Vernunft auf die praktische Vernunft und damit die Verstandestugend Klugheit (φρόνησις)312. Die laut AriThomas von Aquin im Blick hat. Bei Thomas findet er denn auch die gesuchten praktischen Prinzipien. 309 Vgl. Rese 2003, S. 73. 310 Vgl. Rese 2003, S. 103–114. 311 Vgl. Rese 2003, S. 228–229. 312 Siehe bspw. auch Bien 1972, Gottlieb 1994, Smith 1996, Deslauriers 2002, Müller 2004.

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

stoteles höchste Tätigkeit der Vernunft, die Theoria, und die entsprechende höchste Tugend, die Weisheit (σοφία), werden nicht behandelt. Mit diesem Verzicht scheint man Aristoteles’ vermeintlicher Trennung der Lebensformen in eine theoretische und eine praktische nachzukommen, allerdings ist die Begründung dieser Trennung nicht von vornherein klar. Denn wenn es in beiden Lebensformen darum geht, die wesenhafte Tätigkeit des Menschen zu verwirklichen, dann müssen sie entweder eine gemeinsame Begründung in diesem Wesen haben oder aber nur eine der Lebensformen entspricht diesem Ziel. Da beide Lebensformen für die Grundmöglichkeiten, die menschliche Vernunft zu verwirklichen, stehen, liegt es nahe, in der Vernunft selbst das begründende und ggf. sogar verbindende Element zu vermuten. Die Vernunft in ihrer reinsten Form scheint nach Aristoteles der Nous darzustellen, so dass es von dieser Überlegung her einleuchtet, dass in den genannten Untersuchungen der Nous systematisch an der Stelle des letzten Grundes eingeführt wird. An den beiden exemplarisch betrachteten Deutungen wird offensichtlich, dass man sich der Tätigkeit des Nous selbst zuwenden muss, wenn man einen Ausweg aus dem Begründungszirkel zwischen Charaktertugend und praktischer Verstandestugend finden will.

3. Die Bedeutung des Nous in der »Nikomachischen Ethik« Die Menge der Literatur zum Nous bei Aristoteles ist immens. Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu überschreiten, soll hier versucht werden, ein Verständnis des Nous samt seiner Tätigkeit aus der Nikomachischen Ethik heraus zu erarbeiten. Die Verweise auf andere Werke des Aristoteles werden nur zur Illustration der Überlegungen aufgrund der Nikomachischen Ethik dienen. Deswegen berücksichtige ich auch nur solche Literatur, die ihren Schwerpunkt ebenfalls auf die Nikomachische Ethik legt. Da die meisten Arbeiten zum Nous die Metaphysik zugrunde legen oder große Linien durch das Gesamtwerk des Aristoteles ziehen313, reduziert sich durch meinen Fokus die Menge relevanter Literatur. Bien geht sogar soweit zu behaupten, es gebe überhaupt keinen Begründungszirkel, weil der gute Mensch als Maßstab des Guten aufgestellt wird. Dies sei sogar die aristotelische Lösung des Normproblems. Das einzige Problem unserer Zeit sei, dass man sich nicht mehr darüber einig ist, welcher Mensch ein Guter ist. Interessanterweise sagt Bien nichts dazu, dass derjenige, der den guten Menschen als solchen erkennen kann, ihn als eine Verwirklichung des Guten erkennen muss. Wenn er dazu in der Lage ist, dann bedarf er aber des guten Menschen nicht mehr als Maßstab des Guten, weil er das Gute ja schon kennen muss. 313 Die sehr ausführliche und informative Studie von Eriksen (1976) zum Bios theoretikos bspw. greift bei der Analyse des Nous nicht nur innerhalb des aristotelischen Werks weit aus, sondern entwickelt sein Nous-Verständnis aus dem Rückgriff sogar auf vorsokratische Konzepte. Dies ist im Rahmen einer Monographie über den Nous sicherlich sinnvoll und notwendig. Im Rahmen meiner Untersuchung des guten Lebens ist der Nous bei Aristoteles zwar ein bedeutendes Element,

B. Forschungsstand zur »Nikomachischen Ethik«

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Dudley (1982) untersucht die metaphysische Grundlage der Nikomachischen Ethik und greift dabei die Fragen nach dem aristotelischen Verständnis des Nous, der Theoria und des Gottes auf. Er zeigt in seiner Untersuchung, dass Gott das eigentliche Fundament der aristotelischen Ethik darstellt. Das Gottesbild in der Ethik entspreche dem unbewegten Beweger der Metaphysik und sei das Paradigma des vollkommenen Menschen, so dass die Tätigkeit Gottes auch für den Menschen das höchste Glück bedeute. Den Grund für diese enge Verknüpfung von Gott und Mensch sieht Dudley im Nous. Die Nikomachische Ethik enthält demnach sechs Bestimmungen des metaphysischen Gottes314. Er hat eine einfache Natur, er betrachtet, er ist glücklich, ihm kommt Lust zu, er ist gut und unbeweglich. Die ersten beiden Bestimmungen sieht Dudley als wesentlich für Gott an, die anderen vier folgen aus diesen. Die einfache Natur Gottes muss als eine unstoffliche begriffen werden, da alles Stoffliche zusammengesetzt ist. Als unstoffliche Natur kommt nur der Nous in Frage. Damit wäre Gott wesenhaft Nous, d. h. Intellekt. Aus diesem Wesen erklärt sich die betrachtende Tätigkeit Gottes. Gott und der menschliche Nous sind deswegen wesensähnlich, d. h. unstofflich. Alle weiteren Ähnlichkeiten zwischen Gott und Mensch folgen aus der Unstofflichkeit des Nous315. Entscheidend für meine Fragestellung ist Dudleys Vergleich der betrachtenden Tätigkeit Gottes und des Menschen. Betrachten beide dasselbe oder gibt es wesentliche Unterschiede? Und welche Konsequenzen hat die Wesensähnlichkeit zwischen Gott und Mensch für die Ethik, genauer für die praktische Tugend? Anhand verschiedener Textstellen stellt Dudley fest, dass Gott nur sich selbst betrachtet. Alle anderen denkbaren Betrachtungsgegenstände sind weniger wertvoll und kommen als solche nicht als Gegenstände der göttlichen Betrachtung in Frage. Gott selbst ist der beste Gegenstand und auch der einzige, der sich nicht verändert316. Die im Normalfall für eine Erkenntnis notwendige Entzweiung von Erkenntnisobjekt und Erkenntnissubjekt ist laut Dudley kein Problem für Gott. Er bleibt trotz der Selbstvergegenständlichung einer317. Die Folge dieser Besonderheiten ist eine nur teilweise Zugänglichkeit eines solchen Intellekts für den Menschen. Trotzdem sieht Dudley in Gott den eigentlichen Gegenstand der menschlichen Betrachtung, also den Inhalt der Theoria. Sie macht das Glück des Menschen aus, weil er in der Betrachtung Gottes die göttliche Selbst-

da hier aber die Gesamtkonzeption des guten Lebens im Zentrum steht, werde ich zugunsten dieser auf solche Einzelstudien verzichten. Auf eine solche Einordnung verzichtet Eriksen. 314 Vgl. Dudley 1982, S. 13. 315 Vgl. Dudley 1982, S. 26, 41–43. 316 Vgl. Dudley 1982, S. 96. 317 Vgl. Dudley 1982, S. 100.

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

betrachtung nachahmt318. Aufgrund seiner zusammengesetzten Natur kann der Mensch sein Leben nicht in vollkommener Betrachtung vollbringen, sondern muss sich auch um seinen Lebenserhalt bemühen. Auch ist es ihm unmöglich, Gott direkt anzuschauen. Seine Haupttätigkeit ist deswegen das Studium aller Wissenschaften stets im Hinblick auf Gott und in der Bemühung, sich zu Gott zu erheben319. Trotzdem bleibt zwischen göttlichem und menschlichem Intellekt ein grundsätzlicher Unterschied bestehen320. Das Hauptargument für diesen Unterschied ist die zusammengesetzte Natur des Menschen. Es leuchtet allerdings nicht ein, warum der weniger wertvolle, stoffliche Teil des Menschen Einfluss auf den unstofflichen, göttlichen Teil seiner Selbst haben sollte. Es ist zwar nachvollziehbar, dass der Mensch nicht in dauerhafter Betrachtung leben kann, da er die lebensnotwendigen Bedürfnisse seines sinnlichen Teils befriedigen muss und insofern nur gottähnlich und nicht gottgleich ist. Unverständlich ist allerdings, warum der Mensch den Nous, der das Wesen Gottes ausmachen soll, nicht vollständig erkennen kann, da er doch selbst wesenhaft Nous sein soll. Um diese Unmöglichkeit zu erklären, müsste man entweder zwei Sorten Nous – einen menschlichen und einen göttlichen – einführen. Dann ginge allerdings die Pointe von Dudleys Deutung verloren, weil Mensch und Gott grundverschieden wären und Gott dann nicht mehr in so zwingender Weise das Paradigma des vollkommenen Menschen und des glücklichen Lebens wäre. Oder aber man müsste auch dem Menschen die vollkommene Selbstbetrachtung, wenn auch nur punktuell, zugestehen. Dann wäre seine Erkenntnis mit der göttlichen identisch und es müsste erklärt werden, wie das Problem der Entzweiung bei einer Selbstvergegenständlichung umgangen werden kann. Dies scheint aber in Dudleys Augen unmöglich zu sein. Dudleys Deutung des Gottes als die eigentliche metaphysische Grundlage der aristotelischen Ethik ist höchst reizvoll und anregend, weil hier ein Ausweg aus dem Begründungszirkel der Tugenden angedeutet ist. Allerdings stellen sich bei diesem Lösungsvorschlag die skizzierten Fragen, die Dudley selbst nicht beantwortet. Wenn man die Aufgabe des Menschen, Gott im Denken und Leben nachzubilden, als Ausweg aus dem praktischen Zirkel der Tugenden anführen will, dann müssen diese Fragen aber beantwortet werden. Ich werde sie bei meiner Analyse der aristotelischen Ethik deswegen weiterverfolgen. Eine ganz andere Deutung der Rolle des Nous innerhalb der Ethik schlägt Wolf (2002) vor. Sie wendet sich im Rahmen ihres Kommentars der Nikomachischen Ethik dieser Problematik zu und versucht dabei eigentlich zu klären, wie sich das praktisch318 319 320

Vgl. Dudley 1982, S. 113–115. Vgl. Dudley 1982, S. 118–119. Vgl. Dudley 1982, S. 122.

B. Forschungsstand zur »Nikomachischen Ethik«

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politische und das theoretische Leben zum Glück verhalten und warum Aristoteles die Theoria gegenüber der Praxis so aufwertet. Der Nous, so Wolf, ist der höchste Bereich der theoretischen Vernunft, der sich mit den letzten Begriffen und Sätzen der jeweiligen Wissenschaft beschäftigt. Zugleich ist er dasjenige, was im Menschen von Natur aus herrscht und leitet321. Dass der Nous beide Aufgaben zugleich erfüllt, muss mithilfe der aristotelischen Ontologie und Metaphysik erklärt werden, so Wolf. Auf seiner Suche nach einer Erklärung für die stetige Bewegung der Lebewesen braucht Aristoteles als Ursache ein erstes Prinzip, das die Passivität der Materie nicht teilt. Dazu muss das erste Prinzip reine Form und zugleich ständige Aktivität sein. Dieses erste, göttliche Seiende ist der Nous und seine ständige Tätigkeit ist Betrachtung322. Da das erste Seiende das schlechthin einfache Wesen ist, ist es ein Selbstzweck und betrachtet folglich ununterbrochen sich selbst als das beste Seiende. Dieses Seiende wird nach Wolf als erotische Ursache von allem gedacht, d. h. es bewirkt die Welt und das menschliche Handeln durch Anziehung. Alles will demnach so werden wie dieses göttliche Seiende und strebt also zur Selbstbetrachtung. Der Mensch hat durch seine Vernunft, seinen Nous, an dieser göttlichen Möglichkeit teil. Als ein zusammengesetztes Wesen kann er aber nicht ständig in der Selbstbetrachtung verharren. Der Nous ist laut Wolf als ein eigenständiges Wesen nur ein Teil der zusammengesetzten Natur des Menschen. Man fragt sich bei dieser Darstellung des Nous, ob es eigentlich nur ein erstes Seiendes gibt oder viele. Und wenn nur eines, wie alle Menschen daran teilhaben könnten, wenn es doch einfach und unzusammengesetzt ist. Wenn es aber mehrere sein sollten, dann ist es nicht mehr das Erste und die Ursachenfrage wäre wieder ungeklärt. Das erste Seiende scheint denselben Schwierigkeiten ausgesetzt, die Aristoteles im ersten Buch der Nikomachischen Ethik an der platonischen Idee kritisiert, ohne dass deutlich werden würde, wie Aristoteles nach Wolf diese Einwände entkräften will. Für den Zusammenhang der Frage nach dem Glück und der Suche nach einem Ausweg aus dem Zirkel zwischen Charaktertugend und Klugheit ist allerdings etwas anderes von größerer Bedeutung. Es stellt sich die Frage, ob ein sich selbst betrachtender Nous ein Maßstab für die praktische Tugend sein kann. Diese Frage stellt Wolf nicht, da sie keinen Zusammenhang zwischen den beiden Lebensformen sieht und jede für sich betrachtet. Nach ihrer Deutung spielt die Theoria für denjenigen, der das praktische Leben gewählt hat, keine Rolle. Für diesen würde das Wissen um das Gutsein seines Handelns ausreichen323. Für den Theoretiker ist die praktische Lebensform nur insofern von Bedeutung, als dass er darauf angewiesen ist, dass die Politiker die Gesellschaft so gestalten, dass genügend Muße für seine philoso321 322 323

Vgl. Wolf 2002, S. 242. Vgl. Wolf 2002, S. 244/245. Vgl. Wolf 2002, S. 251.

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

phische Tätigkeit entstehe. Er selbst muss nicht zwingend die praktischen Tugend verwirklichen, sondern nur dann, wenn anderenfalls seine theoretische Lebensform gefährdet wäre324. Einen Ausweg aus dem obigen Begründungszirkel bietet sie nicht an. Wolf steht hier exemplarisch für die Deutungen, die einen Zusammenhang von praktischer und theoretischer Lebensform in der aristotelischen Ethik leugnen325. Aristoteles selbst trifft unterschiedliche Aussagen, so dass es zunächst nicht eindeutig ist, ob das Leben der Praxis und das Leben der Theorie vollständig disparate Entwürfe sind, die sich unabhängig von einander realisieren und denken lassen, oder ob es doch einen Begründungszusammenhang zwischen beiden gibt. Da die obigen Schwierigkeiten auf den Nous als letztes Prinzip verweisen, werde ich auch diese Frage in meiner Untersuchung des aristotelischen Gedankengangs weiterverfolgen.

4. Schlussfolgerungen Aus der Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur lassen sich für meinen Untersuchungsansatz zwei Schlüsse ziehen. Zum einen wurde an der Diskussion zum aristotelischen Glücksbegriff deutlich, dass auch bei diesem Autor der von mir gewählte methodische Ansatz eines Nachvollzugs des immanenten Gedankengangs gerechtfertigt ist. Die diskutierten Schwierigkeiten lassen sich anhand einer bloßen Analyse des Begriffsrahmens im ersten Buch der Nikomachischen Ethik nicht lösen. Zum anderen haben die Autoren, die über diese Begriffsanalyse hinaus den inhaltlichen Gedankengang des Aristoteles untersuchten, zwei Grundfragen aufgeworfen, die für das Verständnis von Aristoteles’ Begründung des guten Lebens zentral sind. Erstens: was begründet die Charaktertugenden und die praktische Tugend im Ganzen? Zweitens: welche Bedeutung hat der Nous und damit die theoretische Tugend Weisheit für die anderen Tugenden und das Glück des Menschen? Beiden Fragen will ich mich anhand des Nachvollzugs der Nikomachischen Ethik im Folgenden widmen, um anschließend das aristotelische Glücksverständnis im Ganzen durchdenken und mit dem sokratischen vergleichen zu können.

Vgl. Wolf 2002, S. 250/251. Wie auch bspw. Cooper 1987 oder die oben genannten Autoren, die das Begründungsproblem zwischen den beiden Tugendarten ohne Bezugnahme auf die höchste Vernunft, den Nous, zu lösen versuchen. 324 325

C. Nachvollzug der »Nikomachischen Ethik«

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C. Nachvollzug der »Nikomachischen Ethik« 1. Die Grundlagen des menschlichen Glücks (Buch I) a. Der Untersuchungsgegenstand (I, 1094a1–1094b10) »Jede Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlung und jeder Entschluss scheint irgendein Gut zu erstreben. Darum hat man mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach alles strebt«326. Mit diesem viel zitierten Anfang der Nikomachischen Ethik hat sich Aristoteles darauf festgelegt, das Gute als das Ziel jeglichen Strebens zu begreifen. Diese Festlegung ist bekanntlich folgenschwer und bringt der aristotelischen Ethik den Ruf ein, teleologisch, eben zielgerichtet zu sein. Aristoteles deutet hier schon die Begründungsrichtung seiner Ethik an. Es wird keine Wirkursache des guten Lebens gesucht, die alles gute Handeln erklären kann, sondern ein Ziel, d. h. eine Zweckursache. Dasjenige, worauf das Leben eines Menschen im Ganzen ausgerichtet ist, entscheidet damit nach Aristoteles über die Qualität dieses Lebens und bestimmt die Einzelhandlungen. Aristoteles spricht von einer Zielhierarchie innerhalb der menschlichen Tätigkeiten. Denn einerseits hat jede Tätigkeit ihr konkretes Ziel und erstrebt damit auch ihr konkretes Gut. Andererseits aber stehen einzelne Tätigkeiten im Dienst von anderen und dienen damit mittelbar anderen, höheren Zielen. Damit das gesamte Streben sich nicht ins Unendliche fortsetzt, sondern sich erfüllen kann, muss ein höchstes und letztes Ziel angenommen werden327. Dieses letzte Ziel ist nach Aristoteles das höchste, für den Menschen erreichbare Gut. Die Frage, die Aristoteles in seiner Ethik beantwortet, lautet folglich: worin besteht das höchste Gut, das der Mensch erstrebt?

b. Die Untersuchungsmethode und ihre Voraussetzung (I, 1094b10–1095b13) Da Aristoteles das Gute, das er zu bestimmen versucht, als ein faktisch von den Menschen schon angestrebtes Ziel auffaßt, bildet die empirische Wirklichkeit in der Polis den Ausgangspunkt seiner Untersuchung. Allerdings lässt sich beobachten, dass die Güter, die die Menschen in ihrer Lebenspraxis erstreben, bspw. Reichtum oder Ehre, ihnen nicht immer nutzen, sondern gelegentlich auch schaden328. Da die an326 327 328

NE I, 1094a1–3. Vgl. NE I,1094a1–22. »Das Edle und Gerechte, das der Gegenstand der politischen Wissenschaft ist, zeigt solche

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

gestrebten Güter also ambivalent sind, kann die Untersuchung dieser nur umrisshaft sein, so dass man sich mit einer entsprechenden Vagheit begnügen muss329. Diese Untersuchung ist aus aristotelischer Sicht deswegen auch nur für Menschen mit einer gewissen Lebenserfahrung gewinnbringend. Die unerfahrenen, jungen Menschen kennen die reflektierte Lebenspraxis nicht und haben damit keine Grundlage, um das Gesagte richtig einschätzen zu können. Darüber hinaus ließen sich junge und überhaupt unreife Menschen von den Leidenschaften bestimmen. Aristoteles’ Untersuchung nutzt aber nur denjenigen, die sich in ihrer Lebensführung durch vernünftige Überlegung leiten lassen330. Der Name des höchsten Guts ist laut Aristoteles unabhängig von der charakterlichen Reife allgemein bekannt. Man nennt es Glückseligkeit und setzt es mit gutem Handeln und gutem Leben gleich. Allerdings versteht die Menge darunter etwas anderes als die Denker und selbst ein einzelner Mensch ändert im Laufe des Lebens seine Meinung darüber, was das Glück ausmacht. Die Menschen sind sich also darin einig, dass die Glückseligkeit das höchste Gut ist, aber worin sie besteht, ist unklar. Im ersten Schritt seiner Untersuchung will Aristoteles die gängigsten und am besten begründeten Positionen betrachten, um auf dieser empirischen Grundlage anschließend selbst das Glück zu bestimmen331. Bei einer solchen Untersuchung muss man laut Aristoteles von dem für uns Bekannten ausgehen, um auf das Unbekannte zu schließen. »Darum muss der, der über das Schöne und Gerechte und überhaupt über die politische Wissenschaft hören will, eine gute Lebensführung aufweisen; denn der Ausgangspunkt ist das Dass, und wenn dieses hinreichend sichtbar geworden ist, dann bedarf es nicht mehr des Warum. Wer nun diese Lebensführung besitzt, der kennt entweder die Prinzipien schon oder wird sie leicht begreifen«332. Die gelebte Wirklichkeit des Glücks ist die Voraussetzung seiner Betrachtung, so dass seine Untersuchung zu einem Bewusstsein von etwas führen wird, was er bei sich selbst schon als verwirklicht vorfindet. Da Aristoteles also voraussetzt, dass das Glück in der betrachteten Empirie schon verwirklicht ist, ist sein teilweise empirisches Vorgehen nachvollziehbar. Er beschreibt im ersten Schritt die empirisch beobachtbaren Lebensformen und versucht im zweiten Schritt, das Gemeinsame dieser Lebensformen begrifflich zu fassen.

Gegensätze und solche Unbeständigkeit, dass man vermuten könnte, es beruhe nur auf dem Herkommen und nicht auf der Natur. Dieselbe Unbeständigkeit besteht auch im Bezug auf die Güter; denn viele Menschen kommen durch sie zu Schaden: schon manche sind durch den Reichtum zugrunde gegangen, andere durch Tapferkeit« (NE I, 1094b14–19). 329 Vgl. NE I, 1094b19–21. 330 Vgl. NE I, 1094b27–1095a13. 331 Vgl. NE I, 1095a17–30. 332 NE I, 1095b4–8.

C. Nachvollzug der »Nikomachischen Ethik«

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c. Verbreitete Meinungen zum höchsten Gut (I, 1095b14–1097a14) Im Wesentlichen betrachtet Aristoteles drei bekannte Möglichkeiten des guten Lebens. Die erste Lebensform bezeichnet er als animalisches Dasein333. Darin wird die Lust für das Gute gehalten. Das Leben der Lust wird von der Menge und überhaupt von den rohen Naturen gewählt. Diese Feststellung erklärt Aristoteles damit, dass die Wahl eines Lustlebens eine knechtische, des Menschen nicht würdige Gesinnung offenbart. Den Schein eines edlen Ziels gewinnt die Lust nur deswegen, weil einige sozial höhergestellte Menschen, bspw. Fürsten, ein Lustleben führen. Die zweite bekannte Lebensform ist das politische Leben334. Darin wird vordergründig die Ehre angestrebt. Da aber die Ehre etwas Äußerliches ist und man beim Glück etwas Inneres vermutet, muss etwas anderes das eigentliche Ziel des politischen Lebens sein. Bei genauerem Hinsehen stellt Aristoteles fest, dass der in der Polis Tätige eigentlich nur für die eigene Tugend geehrt werden will. Im Grunde wird also in dieser Lebensform die Tugend für das Gute gehalten. Dieses Leben wird von gebildeten und energischen Menschen gewählt. Als drittes ist noch die betrachtende Lebensform des Philosophen relevant335. Was in diesem Leben als Gutes angestrebt wird, lässt Aristoteles zunächst offen. An späterer Stelle336 scheint er die theoretische Betrachtung selbst als Gutes aufzufassen. Eins will er allerdings sofort klarstellen: Das Gute ist keine Idee.

i. Exkurs: die aristotelische Ideenkritik (I, 1096a11–1097a14) Gegen die in seinen Augen genuin platonische Behauptung, das Gute sei eine Idee, bringt Aristoteles im Wesentlichen zwei Argumente vor. Erstens gibt es sehr viele verschiedene Verwendungsweisen des Begriffs »gut« und entsprechend auch viele Erscheinungsweisen von Gutem anstatt eine einheitliche Verwendung und nur eine Erscheinung337. Das menschliche Gute ist also Vieles und nicht Eines. Zweitens ist bei zwei wesensgleichen Bezeichnungen durch den Zusatz »an sich« nichts Inhaltliches gewonnen, sondern höchstens ein bloß formaler Unterschied entstanden, der letztlich bedeutungslos sei338.

333 334 335 336 337 338

Vgl. NE I, 1095b19–22. Vgl. NE I, 1095b22–1096a4. Vgl. NE I, 1096a4–5. Vgl. NE X, 1176a30–1179a32. Vgl. NE I, 1096a11–1096a34. Vgl. NE I, 1096a34–1096b5.

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

Im Anschluss an diese knappe Kritik bemüht sich Aristoteles selbst um eine Verteidigung der Idee gegen die genannten Argumente, indem er zwischen Mitteln und Zielen unterscheidet. Die obigen Argumente treffen nur eine Idee des Guten, die auch die guten Mittel zu bestimmten Zielen umfassen sollte. Es ist also durchaus möglich, sich gegen die vorgebrachten Einwände zu verteidigen, indem man die Idee nur auf die Ziele bezieht. Allerdings hat Aristoteles auch gegen eine Ziel-Idee Einwände. Selbst wenn man mit der Idee des Guten nur dasjenige Ziel bezeichnen wollte, das um seiner selbst willen erstrebt wird, wiederholen sich die beiden schon genannten Schwierigkeiten. Denn entweder fasst man die Ziele inhaltlich auf, dann wären Lust, Tugend oder Erkennen wieder die relevanten Möglichkeiten, das höchste Gute zu verstehen. Dann gebe es allerdings erneut viele Güter und zugehörige Künste, die nicht aufeinander reduzierbar sind, anstatt ein Gutes. Das eine Gute wäre unmöglich. Oder aber man fasst die Idee des Guten als das einzige für sich selbst erstrebenswerte Ziel auf. Dann wäre sie allerdings eine bloße Form, die von allem Menschlichen getrennt und damit für das Handeln irrelevant und im Leben unerreichbar ist. Das Gute wäre in dem Fall unnötig339. Aus diesen Gründen steht für Aristoteles fest, dass es das Gute als Idee nicht gibt. Unabhängig davon, ob Aristoteles an dieser Stelle die Idee, die Platon und Sokrates im Sinn hatten, richtig verstanden hat, stellt sich die Frage, was die Widerlegung einer so verstandenen Idee für Aristoteles’ eigene Untersuchung bedeutet. Welches Verständnis des Guten in Form der Idee wurde überhaupt widerlegt? Erstens wurde die Idee als etwas verstanden, das verschiedenen Handlungsweisen, Künsten und Begriffsverwendungen gemeinsam ist. Also als etwas, an dem alle aufgezählten Phänomene teilhaben. Aristoteles fragt hier nicht, ob und inwiefern die Phänomene gut sind, sondern setzt dies voraus und stellt anschließend fest, dass sie, obwohl alle gut, doch grundverschieden sind. Um diesen gemeinsam zu sein, müsste die Idee eine und zugleich in sich vielgestaltig sein, wie die Phänomene selbst. Die Unmöglichkeit einer solchen Idee ist einsichtig und wurde schon von Platon im Parmenides340 diskutiert. Die Feststellung dieser Schwierigkeit ist für Aristoteles nun kein Grund, das behauptete Gutsein der betrachteten Phänomene oder gar das unterstellte Verständnis des Guten in Frage zu stellen, sondern ein Grund, die Möglichkeit eines Guten als Idee überhaupt zu leugnen. Das skizzierte Problem betrifft die Idee bzw. das Gute aber nur dann, wenn sie selbst als eine Art Phänomen, d. h. also sinnlich wahrnehmbar gedacht wird. Für Aristoteles’ Untersuchung hat diese Argumentation zur Folge, dass das höchste Gut nicht als ein sinnliches Phänomen gedacht werden darf, wenn es seine Aufgabe erfüllen soll, das letzte Strebens- und Handlungsziel in der Zielhierarchie des Menschen zu sein. 339 340

Vgl. NE I, 1096b7–1097a14. Vgl. Platon, Parmenides 130a–135c.

C. Nachvollzug der »Nikomachischen Ethik«

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Die zweite von Aristoteles diskutierte Möglichkeit, die Idee zu verstehen, lässt sich als ein Lösungsversuch deuten. Diesmal fasst er die Idee als etwas von den Phänomenen unterschiedenes auf, das das Ziel des Handelns und der Künste ist. Anders formuliert, die Phänomene streben auf die Idee zu und wollen sie verwirklichen. Die inhaltlichen Möglichkeiten letzter Ziele hat Aristoteles schon bei der Aufzählung der bekannten Lebensformen genannt. Hier wird die Idee als etwas gedacht, das man sich zunächst bloß vorstellt, um es dann durch Handlungen zu verwirklichen. Die Idee als die Vorstellung eines Handlungsziels wird in der Tat von dem Problem getroffen, dass es Ziele gibt, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen. Wenn Aristoteles selbst das höchste Gut als Zielvorstellung denkt, wie es bei den verbreiteten Lebensformen den Anschein hat, dann trifft ihn das eigene Argument. Es gibt dann nicht ein höchstes Gut, sondern viele Güter. Das Vorhandensein vieler Güter anstatt eines höchsten Guts würde gemäß seiner Anfangsbehauptung, das menschliche Streben könne nur dann erfüllt werden und sinnvoll sein, wenn es ein letztes Ziel gibt341, das menschliche Leben sinnlos machen. Er muss also das Problem der Vielheit der Zielvorstellungen lösen. Das letzte kurz diskutierte Verständnis der Idee als etwas, das von den Phänomenen nicht bloß unterschieden, sondern völlig getrennt ist, reduziert die Idee auf eine bloße Form ohne Inhalt. Eine solche Idee wäre der bloße Begriff »gut« ohne irgendeine Bedeutung. Sie wäre im wahrsten Sinne des Wortes bedeutungslos und könnte deswegen bei der Lebensführung vernachlässigt werden. Wenn es Aristoteles also nicht gelingt, für seinen Begriff »das höchste Gut« bzw. »Glück « eine Bedeutung nachzuweisen, ohne die kritisierten Schwierigkeiten zu wiederholen, dann würde ihn auch dieses Argument treffen. Zusammenfassend können aus der Ideenkritik drei Anforderungen an ein höchstes Ziel gefolgert werden, die auch für das aristotelische höchste Gut gelten. Erstens darf es kein sinnliches Phänomen sein, da es sonst nicht mehr eines wäre. Es muss also über die bloße Sinnlichkeit hinausgehen. Zweitens darf es nicht als bloße Vorstellung gedacht werden, weil auch diese die Einheit des letzten Ziels nicht bewahren kann und somit das Problem der Sinnlichkeit nicht überwindet. Und drittens kann das höchste Gut nicht bloß formal und von der Sinnlichkeit getrennt verstanden werden, sondern bedarf einer inhaltlichen Ausfüllung, die das höchste Gute eines sein lässt und zugleich mit der Sinnlichkeit verbindet. Dies ist die eigentliche Herausforderung bei einer Bestimmung des höchsten Guts für den Menschen.

341

Vgl. NE I, 1094a18–22.

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

d. Aristoteles’ Bestimmung des höchsten Gutes (I, 1097a15–1103a10) Systematisch betrachtet findet Aristoteles empirisch zwei Grundarten der Lebensführung vor: das fremdbestimmte und das selbstbestimmte Leben. Das Leben der Lust ist das fremdbestimmte Leben, da sich der Mensch darin seinen sinnlichen Antrieben ausliefert und seine Ziele nicht mehr selbst setzt, sondern sich eben durch die Sinnlichkeit vorgeben lässt. Dieser Mensch verhält sich nicht mehr zu der eigenen Sinnlichkeit. Das fremdbestimmte Leben wird von Aristoteles als Bestimmung des guten Lebens grundsätzlich verworfen, weil es die spezifisch menschlichen Fähigkeiten vernachlässigt oder missbraucht. Die beiden anderen empirisch vorgefundenen Lebensformen sind zwei Spielarten des selbstbestimmten Lebens: das paktische Leben der Tugend und das theoretische Leben der Philosophie. Beide Möglichkeiten der menschlichen Selbstbestimmung bleiben zunächst nebeneinander stehen und gewinnen in Aristoteles’ eigenem Entwurf eine bedeutende Rolle. Im Grunde ist die gesamte aristotelische Ethik eine Explikation dessen, was laut Aristoteles in diesen beiden Lebensformen verwirklicht wird. Da er sich an mehreren Stellen dagegen verwehrt, eine bloße Theorie der Tugend darzulegen, und seine Lebensbezogenheit betont342, kann man davon ausgehen, dass er nicht nur seine Mitmenschen reflektiert, sondern zugleich auch seine eigene Lebensführung betrachtet. Diese Verbindung zu seiner eigenen Lebensführung ist insbesondere bei der Darstellung des theoretischen Lebens des Philosophen hilfreich. Es wird am aristotelischen Werk anschaulich. Aristoteles’ Herleitung der Glücksdefinition ist zunächst rein begrifflich343. Der analytisch gewonnene Begriff wird anschließend an den gängigen Meinungen über das Glück empirisch verifiziert344. Zunächst stellt Aristoteles klar, dass und inwiefern das Glück tatsächlich das höchste Gut und damit das Endziel des menschlichen Strebens ist. Die erste Charakterisierung eines Endziels beinhaltet, dass es um seiner selbst willen erstrebt wird und damit niemals ein Mittel zu etwas weiterem ist. Die bei den verbreiteten Lebensformen erwähnten Ziele Ehre, Lust, Einsicht und Tugend werden zwar auch um ihrer selbst willen gewählt, aber nicht ausschließlich. Manchmal werden sie auch um des Glückes willen angestrebt, so dass sie dem Glück als einem höheren Ziel untergeordnet werden müssen. Damit kommen sie als Bestimmung des höchsten Gutes nicht in Frage345.

342 343 344 345

Vgl. bspw. NE II, 1103b27–29. Vgl. NE I, 1097a15–1098a20. Vgl. NE I, 1098b9–1102a4. Vgl. NE I, 1097a30–1097b6.

C. Nachvollzug der »Nikomachischen Ethik«

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Als zweite Charakteristik eines Endziels hält Aristoteles die Selbstgenügsamkeit fest. Es lässt keinerlei Mangel und kann hinsichtlich des Werts nicht mit anderen Gütern verglichen werden, sondern steht gewissermaßen außerhalb und über den anderen Gütern. Konsequenterweise müsste man behaupten, dass alle anderen Güter ohne das höchste Gut keinen Wert haben, doch soweit will Aristoteles nicht gehen. Er sieht den Unterschied zwischen den normalen Gütern und dem höchsten Gut in etwas anderem. Der Wert oder Nutzen, den ein Mensch insgesamt von seinen normalen Gütern gewinnt, kann durch das Hinzukommen eines weiteren Guts gesteigert werden. Der Wert des höchsten Guts aber ist unabhängig von den anderen Gütern und wird durch sie nicht erhöht. Diese Attribute erfüllt nach Aristoteles nur das Glück 346 und kein anderes Gut347. Um nun das Wesen des Glücks zu bestimmen, will Aristoteles die spezifische Tätigkeit des Menschen klären348. »Wie nämlich für einen Flötenspieler, einen Bildhauer und überhaupt für jeden Künstler und für jeden, der eine Tätigkeit und ein Handeln hat, in der Tätigkeit das Gute und das Rechte liegt, so wird es wohl auch vom Menschen gelten, wenn anders er eine spezifische Tätigkeit hat«349. Es ist also diejenige Tätigkeit gesucht, die der Mensch abgesehen von seinen Spezialtätigkeiten als Mensch schlechthin verwirklicht. Um diese wesentliche Tätigkeit zu bestimmen, betrachtet Aristoteles die Grundarten des Lebendigen. Das Lebendigsein schlechthin im Sinne von Wachstum und Nahrung teilt der Mensch mit allem Lebenden, selbst mit den Pflanzen. Das wahrnehmende Leben der Sinne teilt er mit allen Tieren. Was als spezifisch menschlich übrig bleibt, ist nach Aristoteles das Leben der Vernunft bzw. das Leben verstanden als Betätigung seines vernunftbegabten Seelenteils. Die Verwirklichung der Vernunft ist also die spezifische Tätigkeit des Menschen, die er gut oder schlecht ausüben kann350. Das Wesen einer gut oder schlecht ausgeübten Tätigkeit ist nach Aristoteles gleich. Der dennoch bestehende Unterschied zwischen diesen Ausübungen liegt nur im Grad der Vollkommenheit der Ausführung oder anders formuliert darin, ob diese Tätigkeit jeweils tugendgemäß ausgeführt wird. Damit unterscheiden sich der glückliche und der nicht glückliche Mensch nicht in ihrer wesenhaften Tätigkeit, sondern in ihrer Art Auf welche Weise das Glück diese Charakteristika erfüllt, führt Aristoteles an dieser Stelle nicht aus. Die dargestellte Forschungsdiskussion zum inklusiven oder exklusiven Glückbegriff versucht diese Frage aber schon an dieser Stelle zu beantworten. 347 Vgl. NE I, 1097b7–21. 348 Schon in den einleitenden Bemerkungen zu seiner Untersuchung unterscheidet Aristoteles zwei Verständnisweisen von Zielen und damit auch von Gütern. Das Gut könne als ein Werk verstanden werden, das in einer Tätigkeit angestrebt und hervorgebracht wird, oder eben als reine Tätigkeit, die auf kein darüberhinausgehendes Werk mehr zielt und damit ein Selbstzweck darstellt (vgl. NE I, 1094a3–6). 349 NE I, 1097b25–28. 350 Vgl. NE I, 1097b33–1098a15. 346

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

diese Tätigkeit auszuüben. »Wenn das alles so ist, dann ist das Gute für den Menschen die Tätigkeit der Seele auf Grund ihrer besonderen Befähigung (ἀρετή)351, und wenn es mehrere solche Befähigungen gibt, nach der besten und vollkommensten«352. Damit hat Aristoteles die beiden Güter der bekannten Lebensformen – Tugend und Einsicht bzw. Vernunfttätigkeit – in seine eigene Glücksbestimmung integriert. Der Besitz der Güter Tugend und Einsicht soll zwar nicht identisch mit dem Glück sein, denn man muss außerdem noch entsprechend tätig sein, aber es ist ohne diese beiden unmöglich. Sowohl die Tugend als auch die Vernunft scheinen in gewisser Weise die Bedingungen der Möglichkeit eines glücklichen Lebens zu sein, deren tätige Verwirklichung das gelebte Glück ist. Auf welche Weise das Verhältnis von Tugend, Vernunft und Glück genau gedacht werden muss, wird Aristoteles in den folgenden Büchern der Nikomachischen Ethik ausführen. Den gerade entwickelten Begriff des Glücks verifiziert Aristoteles anschließend ganz empirisch an den herrschenden Meinungen. Als einer der Grundbegriffe ist das Glück zu wichtig, um sein Verständnis ausschließlich aus den Begriffen zu schließen. »Denn mit der Wahrheit stimmen alle Tatsachen überein, mit dem Irrtum wird dagegen die Wahrheit rasch in Widerspruch geraten«353. Als solche Tatsachen werden mehrere traditionelle Vorstellungen über die menschlichen Güter und das Glück betrachtet. Die aristotelische Glücksdefinition erfülle sie alle354. Insgesamt kann man mit Aristoteles sagen, dass die gängigen Vorstellungen vom Glück alle ein wenig richtig sind. Da sie aber jeweils einen Teilaspekt des Glücks für das Ganze halten, verfehlen sie die Einsicht in sein Wesen. Wie schon die anfänglichen Untersuchungsvoraussetzungen vermuten ließen, bringt die aristotelische Reflexion also nichts grundsätzlich Neues hervor, sondern ordnet die schon vorhandenen Vorstellungen vom Guten und vom Glück. Der vernünftige Mensch soll sich auf dieser Grundlage in dem Dickicht der traditionellen Lebensratschläge leichter zurechtfinden können. Auf den Begriff gebracht, könnte man die Glückseligkeit als die bestmögliche Selbstverwirklichung des Menschen als vernünftiges Lebewesen unter günstigen Umständen bezeichnen. Wenn man nun im eigenen Leben glücklich werden will, drängt sich die Frage auf, wie eine solche Selbstverwirklichung erreicht werden kann und was der Maßstab einer bestmöglichen Selbstverwirklichung ist. Da die aristotelische Antwort auf diese Frage eine bestimmte Struktur der menschlichen Seele voraussetzt, sei diese kurz dargestellt.

351 Gigon übersetzt hier ἀρετή mit Befähigung. Ich halte mich in meiner Besprechung des Textes an die sonst übliche Übersetzung als Tugend (vgl. bspw. Dirlmeiers Übersetzung). 352 NE I, 1098a15–17. 353 NE I, 1098b11–12. 354 Vgl. NE I, 1098b12–1102a4.

C. Nachvollzug der »Nikomachischen Ethik«

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i. Exkurs: Die Struktur der menschlichen Seele (I, 1102a4–1103a10) Die menschliche Seele betrachtet Aristoteles als grundsätzlich zweigeteilt in einen irrationalen und einen rationalen Teil, wobei beide Teile in sich wiederum zweigeteilt sind. Der erste rein irrationale Teil entfaltet seine Wirksamkeit im vegetativen Bereich als Ursache von Ernährung und Wachstum und ist allen Organismen gemeinsam. Dieser Teil wirkt vor allem im Schlaf und ist für das Glück und die Tugend des Menschen irrelevant. Den zweiten irrationalen Seelenteil bestimmt Aristoteles als das Begehrungs- oder das Strebevermögen. Es entspringt zwar dem Irrationalen, hat aber trotzdem am Rationalen teil, weil es dem Rationalen gehorchen und sich von ihm leiten lassen kann. Wenn nun also das Strebevermögen in gewisser Weise am Rationalen teilhat, dann muss auch der rationale Seelenteil in diesem Sinne zweigeteilt sein. Der eine Teil der Vernunft ist laut Aristoteles wesenhaft vernünftig in sich selbst und der andere nur insofern vernünftig, als er auf die Vernunft hört355. Diese Unterteilung der Seele ist grundlegend für die Bestimmung der menschlichen Tugenden als Wege zu seinem Glück. Da die Glückseligkeit das höchste Gut sein soll, kann sie entsprechend auch nur durch Verwirklichung des Höchsten der Seele erreicht werden. Welches Vermögen das höchste der menschlichen Seele ist, spricht Aristoteles an dieser Stelle zwar noch nicht aus, aber da es eine deutliche Unterordnung des irrationalen Teils unter den rationalen gibt, ist auch hier schon eine Entscheidung zugunsten der Vernunft deutlich, die später356 auch explizit ausgesprochen wird. Aufgrund der aristotelischen Glücksdefinition sind aber insgesamt nur die im weitesten Sinne rationalen Seelenteile glücksrelevant, so dass auch nur deren Tugenden untersucht werden müssen. Da die Seelenteile in unterschiedlichem Maße vernünftig sind, muss es auch verschiedene Grundarten der Tugenden geben, die den entsprechenden Seelenteilen zugeordnet werden müssen. Das Strebevermögen der Seele kann nicht im gleichen Sinne tugendhaft sein wie die Vernunft selbst. Da das Strebevermögen seinen Ursprung im Irrationalen hat, muss seine Tugend sich im Umgang des Menschen mit den eigenen irrationalen Begierden verwirklichen, damit auch hier die Seele in vernünftiger Weise tätig sein kann. Die verschiedenen Begierden führen dann zu verschiedenen Tugenden. Aristoteles bezeichnet die Tugenden dieser Art als ethische Charaktertugenden. Sie werden als Ganzes und im Einzelnen in den folgenden Büchern II bis V betrachtet. Da der andere Seelenteil, die Vernunft, von Natur aus rational ist, muss sich ihre Tugend nicht mehr als Überwindung von Irrationalität zeigen. Stattdessen muss es eine Tätigkeit geben, in der die Vernunft ihre Rationalität entfalten kann, so dass 355 356

Vgl. NE I, 1102a26–1103a3. Vgl. NE X, 1176a30–1179a32.

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

nicht bloß die Vernunft vorhanden wäre, sondern eben auch eine vernünftige Tätigkeit der Seele. Eine Möglichkeit wäre die schon oben genannte Anleitung des Strebevermögens nach dem eigenen Maß des Vernünftigseins. Eine Alternative wäre der Versuch, die eigene Vernünftigkeit zu verstehen, oder die Vernunft in der Betrachtung verschiedener Gegenstände zu verwirklichen. Die Tugenden dieses Seelenteils bezeichnet Aristoteles als dianoëtische Verstandestugenden und ordnet sie nach den Betrachtungsgegenständen. Diese Tugenden sind Gegenstand des Buchs VI. Die höchste Vernunfttätigkeit wird zusätzlich im Buch X gesondert betrachtet.

e. Zusammenfassung: Entwicklung der Frage nach der Tugend Wie eingangs erwähnt, untersucht Aristoteles in der Nikomachischen Ethik im Wesentlichen, worin das menschliche Glück besteht und wie man dieses Glück im Leben erreicht357. Bei seiner Glücksbestimmung geht Aristoteles vom Menschen als Gattung aus und setzt voraus, dass der Mensch objektiv eine ihm wesenhafte Tätigkeit hat, die bei guter Ausführung zugleich auch sein Glück bedeutet. Die Tätigkeit, die den Menschen von Natur aus vor allen anderen Lebewesen auszeichnet, ist die Tätigkeit der Vernunft358. Als gutem Phänomenologen ist Aristoteles zugleich bewusst, dass der Mensch kein reines Vernunftwesen, sondern wie alle Lebewesen zunächst einmal ein Sinnenwesen ist, das von seinen Begierden getrieben wird und Befriedigung sucht. Diese zweifache Natur des Menschen stellt ein Spannungsfeld dar, auf dem die Vernunft richtig oder falsch tätig sein und damit zu Glück oder Unglück führen kann. Die richtige und gute Ausübung der Vernunfttätigkeit erfolgt gemäß der spezifischen Tugend als dem jeweils besten Zustand von etwas359. Jedem Seelenteil kommen dabei verschiedene Tugenden zu, so dass der begehrende Teil die ethischen Charaktertugenden und der vernünftige Teil die dianoëtischen Verstandestugenden verwirklichen kann. Da der Mensch aus aristotelischer Sicht von Natur aus sowohl Vernunft als auch Begierden besitzt, entscheidet also die Verwirklichung der Tugenden über das Glück des Einzelnen. Der Glücksuchende muss also seine natürliche Möglichkeit zur Tugend360 verwirklichen. Worin die verwirklichte Tugend besteht, wird in den folgenden Kapiteln der Nikomachischen Ethik ausgeführt. Vgl. NE I, 1094a–1095a. »Es bleibt also das Leben in der Betätigung des vernunftbegabten Teiles übrig« (NE I, 1098a3–4). 359 Vgl. NE I, 1098a7–20. Darin: »[…] dann ist das Gute für den Menschen die Tätigkeit der Seele auf Grund ihrer besonderen Befähigung, und wenn es mehrere solche Befähigungen gibt, nach der besten und vollkommensten« (NE I, 1098a16–17). 360 »Die Tugenden sind also weder von Natur noch gegen die Natur. Wir sind vielmehr von 357

358

C. Nachvollzug der »Nikomachischen Ethik«

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Die Tugendfrage betrifft zwar in erster Linie die menschliche Vernunfttätigkeit, da aber auch die Begierden das Tätigsein des Menschen beeinflussen, muss bei der Bestimmung der tugendhaften Tätigkeit auch das Verhältnis der Vernunft zu den Begierden geklärt werden. Es geht letztlich darum darzulegen, welche Kraft im Menschen die bestimmende sein soll, oder anders formuliert, welches Selbstverhältnis der Mensch einnehmen soll. Sollen die Begierden über die Vernunft oder die Vernunft über die Begierden herrschen? Die erste Möglichkeit würde genau der falschen Ausübung der Vernunfttätigkeit entsprechen, weil dort die spezifisch menschliche Kraft, die Vernunft, von der unspezifischen, den Begierden, benutzt werden würde. Diese Möglichkeit lehnt Aristoteles bei der Diskussion der Lebensformen im ersten Buch als knechtisches Lustleben ab361. Die laut Aristoteles für Tugend und Glück relevante Art des Selbstverhältnisses ist die Herrschaft der Vernunft über die Begierden. Die Glücks- und Tugendfrage der Nikomachischen Ethik lässt sich also als folgende Frage verstehen: Was ist die richtige Art der Vernunftherrschaft im Menschen?

2. Die Bestimmung der menschlichen Tugenden (Bücher II, VI, X) Wie schon im ersten Buch angekündigt, setzt die Untersuchung bei dem veränderlichen und unbeständigen Guten an362. Die im ersten Buch angeführten Beispiele legen nahe, dass Aristoteles zunächst die lebenspraktischen Erscheinungen der Tugend vor Augen hat. Da er bei der Betrachtung der Polis feststellt, dass bspw. schon so mancher an seinem Reichtum zugrunde gegangen ist, kann die Tugend als etwas Gutes nicht in den Gütern selbst bestehen. Sie muss also im Umgang mit diesen gesucht werden. Infolgedessen fängt die Untersuchung auf der Ebene des praktischen Handelns an. Im Verlauf der Untersuchung werden die inneren Voraussetzungen des tugendhaften Handelns schrittweise bewusst gemacht, so dass eine stufenweise Bestimmung der menschlichen Tugend im Ganzen nachvollziehbar wird. Die anfänglich so strikte Trennung der ethischen Tugenden von den dianoëtischen wird dabei genauso durchlässig und fraglich wie die scheinbar so klare Unterscheidung

Natur dazu gebildet, sie aufzunehmen, aber vollendet werden sie durch die Gewöhnung« (NE II, 1103a23–26). 361 Vgl. NE I, 1095b19–22. 362 Vgl. NE I, 1094b10–27. Darin: »Das Edle und Gerechte, das der Gegenstand der politischen Wissenschaft ist, zeigt solche Gegensätze und solche Unbeständigkeit, dass man vermuten könnte, es beruhe nur auf dem Herkommen und nicht auf der Natur. Dieselbe Unbeständigkeit besteht auch in Bezug auf die Güter: schon manche sind durch Reichtum zugrunde gegangen, andere durch Tapferkeit« (NE I, 1094b14–19).

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

zwischen dem praktischen Leben des Bürgers und dem theoretischen Leben des Philosophen.

a. Die Erscheinung der ethischen Tugend als maßvolles Handeln (II, 1103a14–1105b18) Weder die ethischen noch die dianoëtischen Tugenden sieht Aristoteles als natürlichen Besitz des Menschen an. Stattdessen hat der Mensch von Natur aus nur die Möglichkeit, tugendhaft zu werden363. Die dianoëtischen Tugenden werden durch Lehre erworben, die ethischen durch Gewöhnung. Aristoteles’ Betrachtung beginnt mit den ethischen Charaktertugenden. Die Charaktertugenden müssen durch wiederholtes tugendhaftes Handeln eingeübt werden. Auf diese Weise soll sich der Mensch an die Tugend gewöhnen. Das falsche Handeln gewöhnt stattdessen an die falsche Haltung und führt damit zu Lastern364. Für die richtige Lebensführung ist es also entscheidend zu klären, welches Handeln tugendhaft ist, um stets gemäß dieser richtigen Einsicht handeln zu können. »Da nun die gegenwärtige Untersuchung nicht der reinen Forschung dienen soll wie die übrigen (denn wir fragen nicht, um zu wissen, was die Tugend sei, sondern damit wir tugendhaft werden, da wir anders keinen Nutzen von ihr hätten), so müssen wir die Handlungen prüfen, wie man sie ausführen soll. Denn von ihnen hängt es ab, dass auch die Eigenschaften entsprechend werden, wie wir eben gesagt haben. Dass man mit rechter Einsicht handeln soll, ist ein allgemeiner Grundsatz und sei hier vorausgesetzt. Wir werden später noch darüber reden und fragen, was die rechte Einsicht sei und wie sie sich zu den anderen Tugenden verhält«365. Da Aristoteles schon zu Beginn der Ethik feststellte, dass alles Handeln vom Ziel her bestimmt wird, muss er nun das richtige Ziel des Handelns angeben. Aristoteles sieht das Handeln des Menschen natürlicherweise von den Begierden bestimmt. Damit ist also das natürliche Ziel des Handelns die Lust. Die Charaktertugend besteht aus aristotelischer Sicht deswegen grundsätzlich im richtigen Handeln

»Die Tugenden sind also weder von Natur noch gegen die Natur. Wir sind vielmehr von Natur dazu gebildet, sie aufzunehmen, aber vollendet werden sie durch die Gewöhnung« (NE II, 1103a23–26). 364 Vgl. NE II, 1103a34–1103b25. Darin: »Und mit einem Worte: die Eigenschaften (ἕξις) entstehen aus den entsprechenden Tätigkeiten. Darum muss man die Tätigkeiten in bestimmter Weise formen. Denn von deren Eigenarten hängen dann die Eigenschaften ab« (NE II, 1103b21–23). Gigon übersetzt hier ἕξις mit »Eigenschaft« statt der sonst üblichen Übersetzung als »Haltung«. Ich halte mich an die traditionelle Übersetzung (vgl. bspw. Dirlmeiers Übersetzung) und spreche im Folgenden von Haltungen. 365 NE II, 1103b26–34. 363

C. Nachvollzug der »Nikomachischen Ethik«

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in Bezug auf Lust und Unlust366. Dabei sind extrem ausgerichtete Handlungsweisen, d. h. sowohl die Lustmaximierung als auch die Askese, falsch und nicht tugendhaft, weil alles Zuviel oder Zuwenig zerstörerisch ist und nur die Mitte alles Wertvolle erhält367. Die Mitte soll also das richtige Ziel sein, so dass das richtige, tugendhafte Handeln gemäßigtes Handeln sein muss. Wiederholtes gemäßigtes Handeln dient der Einübung der Charaktertugend, weil es daran gewöhnt, die Mitte anzustreben. Allerdings merkt Aristoteles an, dass die Tugend selbst nicht in der äußeren Handlung aufgeht, sondern die innere Verfassung des Handelnden für die Tugend von größerer Bedeutung ist368. Den Grund dafür sieht Aristoteles darin, dass der Wert der Tugendpraxis nicht in ihrem Werk liegt, sondern sie ihren Wert schon im Vollzug verwirklicht. An der reinen, beobachtbaren Handlung selbst kann aber das zugrunde liegende Verhältnis zu den eigenen Begierden nicht erkannt werden, da sowohl der Lüstling als auch der Asket dieselbe äußere Handlung vollbringen können wie der Tugendhafte. Sie werden sich nur in der Begründung dieser Handlung unterscheiden. In der gemäßigten Handlung selbst kann die Tugend also nicht bestehen, sondern erscheint bloß darin. Entscheidend ist die innere Verfassung oder Haltung des Handelnden, die das richtige Handeln hervorbringt. Darin muss der Handelnde dem Tugendhaften gleichen. Es fragt sich also, welche Haltung der tugendhafte Mensch einnimmt.

366 »Es wird also vorausgesetzt, dass die derart bestimmte Tugend sich auf die Lust und den Schmerz im Tun des Besten bezieht [Hervorhebung von mir, V.B.] und die Schlechtigkeit auf das Gegenteil. Aus diesem Tatbestand wird uns noch ein Weiteres in derselben Frage klar. Wenn es nämlich drei Ziele des Erstrebens gibt, das Schöne, Förderliche und Angenehme, und ebenso die Gegensätze, das Hässliche, Schädliche und Schmerzhafte, so wird der Tugendhafte in all diesem das Rechte finden, der Schlechte aber in allem das Rechte verfehlen, vor allem aber, was die Lust betrifft. Denn diese ist allen Lebewesen gemeinsam und folgt allem, was zur Entscheidung kommt [Hervorhebung von mir, V.B.]. Denn auch das Schöne und das Förderliche erscheint angenehm. Ferner ist uns allen das von unserer Säuglingszeit her anerzogen. Darum ist es auch schwierig, diese Empfindung abzustreifen, da das Leben ganz davon durchtränkt ist. Wir ordnen auch die Handlungen, die einen mehr, die andern weniger, gemäß Lust und Schmerz. So ist es also notwendig, dass sich die gesamte Untersuchung darum drehe [Hervorhebung ebenfalls von mir, V.B.]. Denn es bedeutet für das Handeln nicht wenig, ob man sich in richtiger Weise freue oder Schmerz empfinde oder nicht« (NE II, 1104b27–1105a7). 367 Vgl. NE II, 1104a11–29. Darin: »So gehen also Besonnenheit und Tapferkeit durch Übermaß und Mangel zugrunde, werden aber durch das Mittelmaß bewahrt. Aber nicht nur das Werden, Wachsen und Vergehen entsteht aus denselben Ursprüngen und durch dieselben Wirkungen, sondern auch die Tätigkeiten halten sich in demselben Bereich« (NE II, 1104a25–29). 368 Vgl. NE II, 1105a17–1105b18. Darin: »Bei den Tugenden dagegen handelt es sich nicht nur darum, dass die Tat sich irgendwie verhalte, also dass sie gerecht oder besonnen vollzogen werde, sondern dass auch der Handelnde in einer entsprechenden Verfassung handle« (NE II, 1105a28–31).

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

b. Die natürliche praktische Tugend als Haltung der Mitte (II, 1105b19–1109b28) Von den seelischen Phänomenen sind als Tugendbestimmung laut Aristoteles nur die Haltungen relevant, weil sie das Einzige sind, was der Mensch selbst erwirbt und nicht von Natur aus besitzt. Der Mensch ist damit schon für das Vorhandensein von Haltungen verantwortlich, im Gegensatz zu den von Natur aus gegebenen Anlagen und Begierden. Die Haltungen ermöglichen es ihm, sich zu seinen natürlichen Begierden und Affekten zu verhalten und sich seiner natürlichen Fähigkeiten handelnd zu bedienen369. Entsprechend kann es hier richtige und falsche Haltungen geben. Der tugendhafte Mensch nun nimmt die Haltung der Mitte ein, die er seinen Begierden als Maßstab des Handelns entgegensetzt. Sein oberstes Ziel ist immer und in allem die Mitte und nicht die Lust370. Indem also die Mitte nicht bloß das Ziel des äußeren Handelns darstellen soll, sondern auf der inneren Ebene die Mitte als höchstes praktisches Ziel aufgestellt wird, entsteht eine Zielhierarchie im Menschen. Die Ziele der niedrigeren Hierarchieebenen dürfen und können nur zugleich mit dem höheren Ziel verwirklicht werden. Die Lust bspw. kann nur erreicht werden, wenn zugleich auch die Mitte umgesetzt wird. Infolgedessen wird das von Natur aus handlungsleitende Luststreben gemäßigt, aber weder unterdrückt noch maximiert. Diese innere Mäßigung äußert sich in dem praktischen Handeln des Tugendhaften. Die innere Orientierung des Menschen an der Mitte als höchstem Ziel ist damit die richtige Verfassung des tugendhaft Handelnden. Diese Orientierung ist allgemein bekannt als Haltung der Mitte. Nun ist die Mitte aber ein recht formaler Begriff, der auf unterschiedliche Weise verstanden werden kann371. Ein mehrdeutiges Ziel kann aber keinen Orientierungspunkt für das richtige Handeln darstellen. Aristoteles fügt deswegen als Richtigstellung hinzu, dass das Wesen der Tugend nicht einfach in der Haltung der Mitte, sondern in der Haltung der Mitte gemäß der Vernunft und in Bezug auf uns besteht. »Die Tugend ist also ein Verhalten der Entscheidung, begründet in der Mitte im Bezug auf uns, einer Mitte, die durch Überlegung bestimmt wird und danach, wie der Verständige sie bestimmen würde«372. Erst in Verbindung mit der Vernunft als Maß der Mitte kann die Mitte also als tugendhaftes Ziel fungieren, da sie dann nicht mehr dem subjektiven Meinen des Einzelnen unterworfen ist, sondern eine objektive Dimension erhält. Der Einzelne muss

Vgl. NE II, 1105b19–1106a13. Vgl. NE II, 1106a14–1106b35. 371 Aristoteles selbst erläutert verschiedene Bedeutungen der Mitte wie bspw. die arithmetische oder die gegenstandsgemäße (vgl. NE II, 1106a26–1106b29). 372 NE II, 1106b36–1107a2. 369 370

C. Nachvollzug der »Nikomachischen Ethik«

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in jedem konkreten Fall zwar immer noch selbst herausfinden, worin die jeweilige Mitte besteht, aber er muss seine Entscheidung auch rechtfertigen können. Im konkreten Einzelfall ist es aber gar nicht offensichtlich, was jeweils die richtige Mitte in Bezug auf die jeweilige Begierde ist. Bei dieser Entscheidung müssen so verschiedene Faktoren, wie bspw. der richtige Augenblick, der Gegenstand der Handlung, die individuelle Neigung und Konstitution des Handelnden usw., berücksichtigt werden373, dass die praktische Verwirklichung der tugendhaften Haltung von der richtigen Einschätzung dieser Faktoren oder, mit Aristoteles gesprochen, von einer praktischen Klugheit (φρόνησις) abhängt374. Der Tugendhafte muss erkennen, worin die Mitte jeweils besteht und wie sie zu erreichen ist. Damit offenbaren die aristotelischen Charaktertugenden, die im richtigen Umgang mit den Begierden bestehen, ihre Angewiesenheit auf die Verstandestugenden, die in der eigentlichen Vernunfttätigkeit, d. h. dem richtigen Denken, verwirklicht werden müssen. In der bisherigen Tugendbestimmung wurde diese Dimension zwar benannt, aber nicht weiter ausgeführt. Erst im sechsten Buch stellt sich Aristoteles der Frage, was der Tugendhafte erkannt haben muss, um stets die richtige Mitte praktisch verwirklichen zu können. In den Büchern dazwischen wird die Bestimmung der Tugend als Haltung der Mitte auf verschiedene Begierden angewandt, so dass der Begriff phänomenologisch angereichert wird.

c. Die eigentliche praktische Tugend als Haltung der Mitte mit Klugheit (VI, 1138b18–1145a11) Die Mitte, die nach Aristoteles das Gute des praktischen Lebensbereichs sein soll, kann also ohne die explizite Beteiligung der Vernunft zwar gewollt und gewohnheitsgemäß verfolgt werden, aber die eigentliche Festigkeit dieser Haltung muss durch vernünftige Überlegung erreicht werden. Anderenfalls kann der Mensch nicht auf die je spezifischen Umstände einer Situation reagieren und damit seine Tugend nicht bewahren. Die konkrete Mitte in einem Fall kann das Extrem in einem anderen Fall sein. Die Vernunfttätigkeit soll diese Schwankungen auffangen. Angesichts der menschlichen Irrtumsanfälligkeit fragt sich, worin das richtige Denken besteht und welche Einsicht der Mensch braucht, um tugendhaft sein und handeln zu können. Da sich die Richtigkeit bei Aristoteles stets vom Ziel her bestimmt, lässt sich die Frage nach dem richtigen Denken auffassen als eine Frage nach dem richtigen Bezugspunkt oder Gegenstand des Denkens. »Bei allen bisher genannten Eigenschaften, wie auch den andern, gibt es einen Zielpunkt, auf den der Vernunftbegabte hinblickt, seine Kräfte 373 374

Vgl. NE II, 1106b22–24. Vgl. NE II, 1106b36–1107a2.

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

anspannt und einhält, und es gibt eine Umgrenzung jener Mitten, die, wie wir sagten, gemäß der rechten Einsicht zwischen Übermaß und Mangel liegen. Dies ist soweit richtig, aber noch nicht klar. […] Es muss auch bestimmt werden, welches die rechte Einsicht ist und wie sie zu charakterisieren ist«375. Im Bereich der Vernunft trennt Aristoteles zunächst recht scharf zwischen dem Denken, das sich mit den veränderlichen, menschlichen Belangen beschäftigt, und dem Denken, das sich auf die unveränderlichen, göttlichen Gegenstände richtet. Denn damit das Denken seinen Gegenstand erfassen kann, muss nach Aristoteles zwischen beiden eine gewisse Ähnlichkeit bestehen. Den zwei Gegenstandsbereichen entsprechend sieht er im Menschen auch zwei vernünftige Seelenteile – eine praktische und eine theoretische Vernunft. »Denn wenn die Gegenstände der Gattung nach verschieden sind, so ist auch der dem einen oder andern Gegenstand zugeordnete Seelenteil der Gattung nach verschieden, wenn nämlich das Erkennende auf Grund einer gewissen Ähnlichkeit und Verwandtschaft mit dem Gegenstande erkennt. Der eine Teil heiße nun der forschende, der andere der berechnende«376. Die praktische Vernunft denkt über die veränderlichen Gegenstände nach und wägt die verschiedenen Möglichkeiten des Richtigen ab. Die theoretische Vernunft betrachtet und erkennt die unveränderlichen Gegenstände, da es im unveränderlichen Bereich kein Abwägen geben kann, sondern alles mit Notwendigkeit besteht. Um die Tugend des jeweiligen Vernunftteils zu bestimmen, will Aristoteles zunächst die spezifische Aufgabe jedes Teils klären. »Die Wahrheitserkenntnis ist also die Aufgabe beider Teile der Vernunft, und in den Eigenschaften, durch die jeder am ehesten die Wahrheit erkennen kann, liegt die Tugend eines jeden«377. Für die Glücksthematik scheint zunächst nur die auf das Veränderliche gerichtete, praktische Vernunfttätigkeit relevant zu sein, weil die bisher betrachtete Lebensform völlig in der Handlungspraxis aufgeht und das Handeln stets in dem veränderlichen, empirischen Bereich stattfindet. »Drei Dinge in der Seele beherrschen das Handeln und die Wahrheitserkenntnis: Wahrnehmung, Vernunft, Streben«378. Von diesen dreien kann die Wahrnehmung nie die Ursache des Handelns sein, weil aus aristotelischer Sicht auch die Tiere wahrnehmen, aber nicht handeln können. Vernunft und Streben stehen allerdings je nach Bereich in einem komplizierten Zusammenhang. Im Bereich des praktischen Handelns wirken Denken/Vernunft und Begehren/ Streben zusammen, so dass auch das Richtige in diesem Bereich von beiden auf die jeweils spezifische Art fokussiert wird. Wahrheit sieht Aristoteles in diesem Bereich bestimmt durch die Übereinstimmung des Denkens mit dem richtigen Streben, d. h. 375 376 377 378

NE VI, 1138b21–34. NE VI, 1139a8–12. NE VI, 1139b12–14. NE VI, 1139a17–18.

C. Nachvollzug der »Nikomachischen Ethik«

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also mit der Haltung der Mitte. Beide zusammen sind die Ursache des richtigen, tugendhaften Handelns379. Die Tugend der praktischen Vernunft, die diese praktische Wahrheit zu erkennen vermag, ist die schon angedeutete Klugheit (φρόνησις). Der Kluge, wie Aristoteles ihn versteht, bedenkt stets das Zuträgliche und Gute, das der Mensch im Handeln erreichen kann380. Man muss dieses Überlegen wohl nicht so auffassen, dass der Kluge über die Ziele nachdenkt, die gut für den Menschen sind, denn die Mitte als höchstes Ziel der Praxis gibt die Charaktertugend vor. »Ferner kommt das Handeln durch die Klugheit und die ethischen Tugend zustande. Denn die Tugend macht, dass das Ziel richtig wird, und die Klugheit, dass der Weg dazu richtig wird«381. Die Überlegung des Klugen betrifft also eher die konkrete Verwirklichung der erstrebten Mitte. Er muss darüber nachdenken, ob dies oder jenes die richtige Mitte verwirklicht und damit zu einer guten Praxis im Ganzen führt. Sein Überlegen und sein Wissen beziehen sich daher eher auf das Einzelne und Letzte als auf das Allgemeine und Erste und beruhen auf Erfahrung und Wahrnehmung382. Man kann die Klugheit zusammenfassend als ein Erfahrungswissen über erfolgreiche Wege zur Verwirklichung der Mitte bezeichnen. Auf diese Weise sind die Haltung der Mitte und die Klugheit untrennbar miteinander verbunden383 und bilden zusammen die praktische Tugend des Menschen.

»Was ferner beim Denken Bejahung und Verneinung ist, das ist beim Streben das Suchen und Meiden. Wenn nun die ethische Tugend ein Verhalten des Willens ist und der Wille ein überlegendes Streben, so muss also die Einsicht wahr und das Streben richtig sein, wenn die Willensentscheidung gut werden soll. Und es muss eines und dasselbe vom Denken bejaht und vom Streben gesucht werden. Dies ist also die praktische Vernunft und Wahrheit. […] Prinzip des Handelns als Ursprung der Bewegung (nicht als Zweck) ist der Wille; Prinzip der Willensentscheidung ist das Streben und der Begriff des Zweckes. Darum ist die Willensentscheidung ohne Geist, Denken und ethisches Verhalten nicht möglich [Hervorhebung von mir, V.B.]. Denn ein rechtes Verhalten und das Gegenteil ist ohne das Denken und Charakter nicht möglich« (NE VI, 1139a21–35). 380 Vgl. NE VI, 1140a24–1140b30. Darin: »Der Kluge scheint das für ihn Gute und Zuträgliche recht überlegen zu können, nicht das Gute im Einzelnen, also was für die Gesundheit oder Kraft gut ist, sondern was das gute Leben im ganzen angeht. […] Es bleibt also nur, dass sie [die Klugheit] ein mit richtiger Vernunft verbundenes handelndes Verhalten sei im Bezug auf das, was für den Menschen gut oder schlecht ist. […] Da es zwei Teile der vernunftbegabten Seele gibt, so wird die Klugheit die Tugend des einen Teils sein, des meinenden. Denn das Meinen geht auf Dinge, sie sich so und anders verhalten können, und so auch die Klugheit« (NE VI, 1140a25–1140b28). 381 NE VI, 1144a6–9. 382 Vgl. NE VI, 1141b8–22; VI, 1142a14–30. 383 Wie schon oben zitiert. Ganz explizit spricht Aristoteles es an späterer Stelle nochmals aus. »Auch ist mit der ethischen Tugend die Klugheit verbunden und umgekehrt, da ja die Grundsätze der Klugheit sich nach den ethischen Tugenden richten und diese wieder durch jene geordnet werden« (NE X, 1178a16–19). 379

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

d. Zusammenfassung: das Wesen der praktischen Tugend Betrachtet man die bisherigen Ausführungen im Ganzen, dann lässt sich folgendes als Bestimmung der praktischen Tugend des Menschen herleiten. Die Charaktertugend kann sich ohne die Klugheit nicht konsequent praktisch verwirklichen. Sie muss letztlich zur bloßen Absicht verfallen, die von den zufälligen Umständen abhängig und gegenüber der veränderlichen Welt machtlos ist. Die Haltung der Mitte ohne Klugheit stellt deswegen nur eine natürliche, der eigentlichen Tugend bloß ähnliche Tugend dar384. Die Klugheit ihrerseits hat ohne die Charaktertugend kein gutes Ziel und verfällt zur bloßen Findigkeit, die für jedes Ziel einsetzt werden kann und auf diese Weise auch dem Laster dienen kann. »Man muss aber noch einen kleinen Schritt weitergehen: nicht nur die Haltung gemäß der rechten Einsicht, sondern auch diejenige mit der rechten Einsicht ist Tugend. Die rechte Einsicht in diesen Dingen ist aber die Klugheit. […] Es ergibt sich also aus dem Gesagten, dass man nicht in einem wesentlichen Sinne gut sein kann ohne die Klugheit, noch klug ohne die ethische Tugend. Auf diese Weise werden auch die Argumente widerlegt, mit denen man vielleicht beweisen möchte, dass die Tugenden voneinander getrennt sind. […] Dies ist bei den natürlichen Tugenden möglich, nicht aber bei den anderen, auf Grund deren man schlechthin tugendhaft heißt«385. Die eigentliche praktische Tugend des Menschen lässt sich also im Wesentlichen auf den Begriff bringen als verständige Haltung der Mitte. Diese kann dann ihrerseits die verständige, gemäßigte Praxis hervorbringen, die anfänglich von Aristoteles als tugendhaftes Handeln beschrieben wurde. Wenn allerdings die Klugheit aus der natürlichen Tugend die eigentliche Tugend erschaffen soll, dann stellt sich die Frage, ob die Klugheit die Schwierigkeit der natürlichen Tugend überwinden kann. Erkennt der Kluge die Mitte als Maßstab der Praxis?

Vgl. NE VI, 1144b1–18. Aristoteles unterscheidet in NE VI, 1144b15–17 und in NE VI, 1144b53–1145a2 zwischen den natürlichen Tugenden und der eigentlichen Tugend bzw. der Tugend schlechthin, um die Charaktertugenden ohne Klugheit von solchen mit Klugheit abzugrenzen. Wieso Aristoteles diese Tugenden natürlich nennt, ist angesichts der Behauptung am Anfang von Buch II, der Mensch hätte die Tugend nicht von Natur aus, etwas unverständlich, aber der Sinn dieser Unterscheidung scheint mir klar zu sein. Er versucht die unbewusste, nur auf Erziehung und Gewohnheit beruhende richtige Haltung eines jungen Menschen von dem durch bewusste eigene Leistung erworbenen, im Ganzen guten Charakter eines reifen Erwachsenen abzugrenzen. Beides hat in seinen Augen einen Wert. Die natürliche Tugend ist die Voraussetzung dafür, dass die reifere, eigentliche Tugend erworben werden kann, und bildet damit eine notwendige Entwicklungsstufe zur Tugend schlechthin. In diesem Sinne schließe ich mich der aristotelischen Begrifflichkeit an und spreche auch von natürlicher und eigentlicher Tugend. 385 NE VI, 1144b25–1145a1. 384

C. Nachvollzug der »Nikomachischen Ethik«

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So wie Aristoteles die Klugheit versteht, findet sie nur die richtigen Mittel zu einem vorgegebenen, guten Ziel386. Wenn der Mensch also die Mitte als Ziel klar vor Augen hat, dann kann der Kluge stets bestimmen, was ihrer praktischen Umsetzung dient. Es gibt nach Aristoteles schließlich für jede Art von Lebewesen und auch für die verschiedenen Tätigkeitsbereiche eine besondere Klugheit. Anderes formuliert, gibt es ebenso viele Klugheiten wie es Bereiche für eine Mitte gibt387. Die Klugheit ist selbst darauf angewiesen, dass das richtige Ziel jeweils schon festgelegt ist. Die Übereinstimmung mit dem richtigen Strebensziel ist für die praktische Vernunft ja sogar das Wahrheitskriterium388. Der Kluge erkennt die Mitte als Maßstab also nicht, sondern setzt diese Erkenntnis voraus. Damit kann der Kluge die Mitte nicht begründen, obwohl die Richtigkeit der erstrebten Mitte durch die vernünftige Überlegung festgelegt werden sollte389. Für die praktische Tugend im Ganzen droht also ein Begründungszirkel, der darauf hinweist, dass die tugendhafte Praxis nicht aus sich heraus bestehen kann, sondern noch auf etwas angewiesen ist, was bisher nicht thematisiert wurde. Die gemäßigte Praxis kann also nach derzeitigem Stand der Untersuchung selbst noch nicht das Glück des Menschen begründen. Die Klugheit soll trotz der genannten Schwierigkeit aus der natürlichen Haltung der Mitte die eigentliche Tugend des Menschen machen und damit zu seiner Glückseligkeit beitragen390. Es scheint so, als ob allein die Tatsache ausreiche, dass überhaupt Vernunfttätigkeit zur natürlichen Haltung der Mitte hinzukommt, um das Gesamtgebilde zur wirklichen Tugend zu erheben. Wenn diese Art der Vernunfttätigkeit aber das höchste Gut der Praxis, d. h. die Mitte, als solche gar nicht erkennt, was kann dann ihre exponierte Stellung begründen? Vielleicht ist es die Vernunft selbst. Umgekehrt bedarf die Klugheit der Haltung der Mitte zur eigentlichen Tugend. Wieso ist die Mitte selbst als Ziel dann von allen anderen Zielen kategorial unterschieden? Die Mitte wurde anfänglich als das tugendhafte Ziel eingeführt, weil sie alles, was wertvoll ist, erhält391. Damit ist nicht erst die Klugheit bloß auf die Mittel der Tugendumsetzung bezogen. Die Mitte selbst scheint ein Mittel zur Erhaltung von etwas Gutem zu sein. Von etwas Gutem also, das schon unabhängig von der Haltung der Mitte gut ist? Es scheint so, dass man die Frage bejahen muss, wenn das aristotelische System nicht im dem Begründungszirkel von Haltung und Klugheit verharren und an ihm scheitern soll. Dann allerdings gibt es zwei Möglichkeiten, auf die Frage nach einem solchen Guten zu reagieren. Entweder ist die Mitte nicht das höchste Gut der Praxis, wobei es ein anderes gibt, das Aristoteles nur nicht nennt. Oder die Mitte ist 386 387 388 389 390 391

Vgl. NE VI, 1144a6–9; VI, 1145a4–6. Vgl. NE VI, 1141a20–34. Vgl. NE VI, 1139a23–35. Vgl. NE II, 1106b36. Vgl. NE VI, 1144b18–1145a6. Vgl. NE II, 1104a25–27.

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

zwar das höchste Gut der Praxis, aber die Praxis ist nicht die wertvollste Tätigkeit des Menschen. Es müsste dann etwas Wertvolleres als die Praxis geben, das durch eine gute, d. h. gemäßigte Praxis erhalten wird und damit sowohl die Haltung der Mitte als auch die Klugheit begründet. Bei beiden Möglichkeiten muss man sich fragen, ob Aristoteles in seiner Ethik etwas einführt, das die Aufgabe erfüllen kann, die Mitte zu bestimmen und damit Maßstab und Begründung der Praxis zu sein. Wenn sich nichts Derartiges finden lässt, dann wäre der genannte Begründungszirkel unlösbar und damit die aristotelische Ethik unbegründet.

e. Die Ursache von Tugend und Glück: die vernünftige Betrachtung Gottes (VI, 1138b18–1145a11; X, 1176a29–1179a32) Die Tätigkeit der praktischen Vernunft ist gemäß Aristoteles nicht die höchste Vernunfttätigkeit des Menschen und ihre Tugend ist entsprechend auch nicht die höchste menschliche Tugend392. Die höchste Vernunfttätigkeit verwirklicht erst die theoretische Vernunft, die sich mit den unveränderlichen, göttlichen Gegenständen beschäftigt. Ihre Tugend, die Weisheit (σοφία), ist damit die höchste menschliche Tugend. Folgerichtig muss das Leben, das diese Tugend verwirklicht, im höchsten und besten Maße das spezifisch Menschliche verwirklichen und damit auch das höchste und eigentliche Glück des Menschen darstellen393. Aristoteles unterscheidet das praktische und das theoretische Leben als zwei verschiedene Wege zum Glück, die keineswegs gleichwertig sind. Das theoretische Leben wird klar als das glücklichste Leben bezeichnet, das Leben der praktischen Tugend steht an zweiter Stelle. »Was einem Wesen von Natur eigentümlich ist, ist auch für es das beste und genussreichste. Für den Menschen ist dies das Leben nach der Vernunft, wenn die Vernunft am meisten der Mensch ist. Also ist dieses Leben auch das glückseligste. An zweiter Stelle ist dasjenige Leben glückselig, das der sonstigen Tugend gemäß ist«394. Aristoteles ordnet die praktische und theoretische Vernunfttätigkeit zwar verschiedenen Seelenteilen innerhalb des rationalen Teils zu, da sie sich mit verschiedenen Gegenstandsarten beschäftigen. Trotzdem sind beides vernünftige Seelenteile und müssen also etwas Gemeinsames haben, was sie beide von den unvernünftigen Seelenteilen wesentlich abgrenzt. Diese gemeinsame Vernünftigkeit muss einerseits die Brücke zwischen den scheinbar getrennten Lebensformen darstellen und andererseits ihr hierarchisches Verhältnis erklären. Vielleicht 392 393 394

Vgl. NE VI, 1145a6–7. Vgl. NE VI, 1144a5–6; X, 1177a12–1178a8. NE X, 1178a6–9.

C. Nachvollzug der »Nikomachischen Ethik«

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lässt sich darin auch eine Lösung für den Begründungszirkel der praktischen Tugend finden. Man kann wohl in Aristoteles’ Sinne sagen, dass das Glück eines Lebewesens proportional zu seiner Vernunfttätigkeit ist. »Das Leben der Götter ist seiner Totalität nach selig, das der Menschen insofern, als ihnen eine Ähnlichkeit mit dieser Tätigkeit zukommt. Von den andern Lebewesen ist aber keines glückselig, da sie an dem Betrachten in keiner Weise teilhaben. Soweit sich demnach das Betrachten erstreckt, so weit erstreckt sich auch die Glückseligkeit, und den Wesen, denen das Betrachten in höherem Grade zukommt, kommt auch die Glückseligkeit in höherem Grade zu, nicht zufällig, sondern eben auf Grund des Betrachtens, das seinen Wert in sich selbst hat. So ist denn die Glückseligkeit ein Betrachten«395. Die Ursache des Glücks liegt nach aristotelischer Auffassung also in der Vernunft selbst, die sich in der Betrachtung verwirklicht. Die praktische Vernunft und mit ihr die Klugheit sind in ihrer Tätigkeit aber nicht völlig selbstständig. Da die veränderlichen praktischen Belange ihren Betrachtungsgegenstand darstellen, sind sie auf die nicht von der Vernunft vorgegebenen Strebensziele des Menschen bezogen und damit an die zufälligen empirischen Umstände gebunden. Durch diese ursprünglich aus dem Begehrungsvermögen stammenden Ziele sind der praktischen Vernunft gewisse Grenzen gesetzt, so dass sie nicht Vernunft im eigentlichen Sinne sein kann. Dies soll erst die theoretische Vernunft sein können. Worin bestehen also der Wert und die Leistung der theoretischen Vernunft? Die theoretische Vernunft betrachtet nur solche Gegenstände, die mit Notwendigkeit bestehen und unveränderlich sind396. Aber auch innerhalb der unveränderlichen Gegenstände sieht Aristoteles noch Wertunterschiede. Es gibt einerseits erste Prinzipien und andererseits abgeleitete Gegenstände. Die ersten Prinzipien sind zugleich die erhabensten und höchsten Gegenstände einer vernünftigen Betrachtung. Der theoretischen Vernunft sind dadurch verschiedene Betätigungen im unveränderlichen Bereich möglich397. In Form der Wissenschaften (ἐπιστήμη) beschäftigt sich die Vernunft mit den Beweisen der abgeleiteten Gegenstände398 und als Geist (νοῦς) betrachtet sie die ersten Prinzipien399. Die Weisheit (σοφία) als höchste menschliche Tugend vereint gewissermaßen beides. »So wird denn die Weisheit die genaueste der Wissenschaften sein, und der Weise soll nicht bloß wissen, was sich aus den Prinzipien ergibt, sondern er soll auch hinsichtlich der Prinzipien selbst die Wahrheit kennen. So wird also die Weisheit Geist und Wissenschaft sein und als Haupt der Wissenschaften die ehrwür395 396 397 398 399

NE X, 1178b25–32. Vgl. NE VI, 1139a5–15. Vgl. NE VI, 1140b31–1141a8. Vgl. NE VI, 1139b18–36. Vgl. NE VI, 1140b31–1141a8.

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

digsten Gegenstände haben«400. Der Weise erfasst die Wahrheit der höchsten und der abgeleiteten Gegenstände, so dass die Weisheit zugleich auch die höchste Wissenschaft darstellt. Da es im Kosmos noch höhere, göttlichere Gegenstände und Wesen gibt als den Menschen, bspw. die Gestirne, ist die Weisheit nicht die Wissenschaft von dem menschlichen Guten401. Stattdessen versteht Aristoteles die Weisheit als »die Wissenschaft und das Denken über dasjenige […], was seiner Natur nach am ehrwürdigsten ist«402. Das höchste Seiende und damit auch der höchste Gegenstand des Denkens ist Gott. Dies spricht Aristoteles an der zitierten Stelle zwar nicht direkt aus, aber im zehnten Buch gibt es keinerlei Zweifel darüber, was bzw. wer das höchste Seiende ist403. Was könnte auch ehrwürdiger und göttlicher sein als Gott selbst? Die Aufgabe, die die theoretische Vernunft zu bewältigen hat, besteht also offensichtlich darin, die Wahrheit der ewigen Dinge, insbesondere aber Gott zu erkennen. Die Tugend der theoretischen Vernunft, d. h. die Weisheit in ihrer eigentlichen und höchsten Form ist die Betrachtung Gottes und die Wissenschaft von ihm. Die betrachtende Tätigkeit der theoretischen Vernunft ist damit aus zwei Gründen die höchste menschliche Tätigkeit und sein eigentliches Glück. »Ist aber die Glückseligkeit eine der Tugend gemäße Tätigkeit, so muss sie natürlich der vorzüglichsten Tugend gemäß sein, und diese ist wieder die Tugend des Besten in uns. Mag das die Vernunft oder etwas anderes sein, was seiner Natur nach als das Herrschende und Leitende auftritt und das Gute und Göttliche zu erkennen vermag, sei es selbst auch göttlich oder das Göttlichste in uns: immer wird die seiner eigentümlichen Tugend gemäße Tätigkeit die vollendete Glückseligkeit sein. Dass diese Tätigkeit eine betrachtende ist, haben wir bereits gesagt«404. Zum einen hat der Mensch in der Betrachtung Gottes teil am vollkommenen Seienden und zum anderen verwirklicht er darin sein höchstes Vermögen im vollen Sinne. Da die Vernunft das Göttliche im Menschen405 und sein wahres Selbst ist406, ist die Weisheit als höchste Tugend der Vernunft nicht nur über ihren Betrachtungsge-

Vgl. NE VI, 1141a16–20. Vgl. NE VI, 1141a29–1141b3. 402 NE VI, 1141b3. 403 Vgl. NE X, 1176a29–1179a32. Noch eindeutiger sind natürlich Aristoteles’ Ausführungen in der Metaphysik, insbesondere im zwölften Buch. Dort wird der unbewegte Beweger, also Gott, als das höchste Seiende bestimmt, so dass er damit auch der höchste Betrachtungsgegenstand der menschlichen Vernunfttätigkeit sein muss. 404 NE X, 1177a12–18. 405 »Ist nun die Vernunft im Vergleich mit dem Menschen [als einem aus Leib und Seele zusammengesetzten Wesen, V.B.] etwas Göttliches, so muss auch das Leben nach der Vernunft im Vergleich mit dem menschlichen Leben göttlich sein« (NE X, 1177b30–31). 406 »Was einem Wesen von Natur eigentümlich ist, ist auch für es das beste und genussreichste. 400 401

C. Nachvollzug der »Nikomachischen Ethik«

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genstand in Gott begründet, sondern auch aufgrund der Göttlichkeit des Vermögens selbst. Da die Vernunft göttlich und Gott glückselig sein sollen407, muss die Vernunfttätigkeit auch die Ursache der menschlichen Glückseligkeit und der menschlichen Tugend sein. Weil dieses Göttliche unser wahres Selbst sein soll, darf man auch nicht versuchen sich auf das rein Menschliche und Sterbliche zu besinnen, »sondern wir sollen, soweit es möglich ist, uns bemühen, unsterblich zu sein und alles zu tun, um nach dem Besten, was in uns ist, zu leben. Denn mag es auch klein an Umfang sein, ist es doch an Kraft und Wert das bei weitem über alles Hervorragende«408. Die Götter sind nun deswegen vollkommen glückselig, weil sie ununterbrochen vernünftig tätig sein, d. h. betrachten können. Der Mensch kann aufgrund seiner zusammengesetzten Natur nicht ununterbrochen betrachten, sondern muss sich gelegentlich auch um seine sinnlichen Bedürfnisse wie Nahrung u. ä. kümmern und wird sich deswegen auch praktisch betätigen müssen409. Allerdings wird er nur insofern glückselig sein, wie sein Leben dem göttlichen ähnlich ist. Deswegen ist das theoretische Leben, das die menschliche Vernunft in höchstem Maße verwirklicht, das göttlichste und glücklichste und damit auch das höchste Ziel des menschlichen Strebens410. Alle anderen Tätigkeiten und Bestrebungen des Menschen müssen sich also der vernünftigen Betrachtung Gottes unterordnen. Sie ist das höchste Ziel des Menschen und damit auch die Ursache seiner Tugend und seines Glücks. An eine so gewichtige Aufgabenstellung schließt sich die Frage an, ob die Vernunft, wie Aristoteles sie denkt, diese Aufgabe auch wirklich erfüllen kann. Sie wäre gemäß Aristoteles’ eigenem Kriterium nur dann erfüllt, wenn die theoretische Vernunft tatsächlich ihre spezifische Leistung vollbringen und die Wahrheit Gottes erfassen würde411. Um dies zu entscheiden, muss untersucht werden, wie Aristoteles die theoretische Vernunft, ihre höchste Tätigkeit und ihren höchsten Gegenstand, d. h. Gott denkt. Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu überschreiten, werde ich mich um eine anhand der Nikomachischen Ethik mögliche Antwort bemühen. Da Aristoteles die hier getroffenen Aussagen zur Beantwortung der Glücksfrage für ausreichend erachtet, ist diese Beschränkung durch Aristoteles selbst gerechtfertigt. Als was denkt Aristoteles Gott? Gott wird in erster Linie als vernünftig gedacht412. Da er nichts begehrt, kann er auch keine der aristotelischen Charaktertugenden besitzen und nicht praktisch tätig sein. Er ist jenseits des veränderlichen Guten und Für den Menschen ist dies das Leben nach der Vernunft, wenn die Vernunft am meisten Mensch ist. Also ist dieses Leben auch das glückseligste« (NE X, 1178a5–8). 407 Vgl. NE X, 1178b8–9. 408 NE X, 1177b33–1178a2. 409 Vgl. NE X, 1178b33–1179a32. 410 Vgl. NE X, 1178b21–27. 411 Vgl. NE VI, 1139a30–33; VI, 1139b12. 412 Vgl. NE X, 1177b30.

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

Schlechten. Trotzdem gelten Gott bzw. die Götter als in höchstem Maße glücklich, sie müssen also auf irgendeine Weise tätig sein können. Die einzige ihm verbleibende Tätigkeit ist die theoretische Betrachtung der höchsten Dinge, d. h. theoretische Vernunfttätigkeit413. Da Gott selbst der höchste Seinsgegenstand ist, muss er sich folglich selbst betrachten. Die göttliche Tätigkeit und das höchste Glück überhaupt wären damit als eine Selbstreflexion der Vernunft414 zu verstehen. Was bedeutet die Selbstbezogenheit Gottes für den Menschen, der diesen Gott betrachten und erkennen will? Wie Aristoteles zu Beginn der Ausführungen über die Verstandestugenden sagte, muss für eine Erkenntnis eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Erkenntnisgegenstand und dem Erkenntnisvermögen bestehen415. Eine solche Ähnlichkeit ist zwischen Mensch und Gott dadurch gegeben, dass beide vernünftige Wesen sind. Die Vernunft sei schließlich das Göttliche im Menschen416 und sein wahres Selbst417. Prinzipiell müsste eine Gotteserkenntnis also möglich sein. Da eine Erkenntnis die Ausrichtung des Erkenntnisvermögens auf seinen Gegenstand voraussetzt, muss die theoretische Vernunft sich in der Betrachtung auf Gott, der wiederum Vernunft ist, ausrichten. Aristoteles beansprucht, dass der Mensch dabei etwas Übermenschliches erkennt. Fragt man sich nun, wie der Mensch diese Erkenntnis erwerben soll, dann ist man in der schwierigen Lage, dass Aristoteles selbst nur sehr wenig dazu sagt und eher bei Andeutungen bleibt. Es bleibt also die Aufgabe des Interpreten, die im Text enthaltenen relevanten Überlegungen zu einer Antwort zusammenzusetzen. Ich werde versuchen, eine solche Antwort herauszuarbeiten, da Aristoteles’ Verständnis des Glücks in der Gotteserkenntnis gipfelt und damit ohne diese nicht zu verstehen ist. Ob der Mensch dazu fähig ist, Gott direkt anzuschauen, und wie eine solche Betrachtung vollzogen werden müsste, thematisiert Aristoteles in der Nikomachischen Ethik nicht. Explizit sagt Aristoteles aber, dass von den menschlichen Tätigkeiten diejenige am glückseligsten ist, die der göttlichen Tätigkeit am ähnlichsten oder am meisten verwandt ist418. Als wesentliche Tätigkeit Gottes wurde die Selbstreflexion festgestellt. Vgl. NE X, 1178b8–22. Darin: »Nimmt man aber dem Lebendigen jenes Handeln [gemäß der Tugend] und noch viel mehr das Schaffen, was bleibt dann noch außer dem Betrachten? So muss denn die Tätigkeit Gottes, die an Seligkeit alles übertrifft, eine betrachtende sein« (NE X, 1178b20–22). 414 Aus der Nikomachischen Ethik lassen sich die Stellung Gottes und der Gegenstand des göttlichen Denkens nur aus dem Gesamtzusammenhang erschließen. Explizit werden seine Erstrangigkeit und die Selbstbezüglichkeit seines Denkens im zwölften Buch der Metaphysik thematisiert (vgl. dazu: Band 5, in: Aristoteles, Philosophische Schriften in sechs Bänden, Hamburg 1995). 415 Vgl. NE VI, 1139a8–12. 416 Vgl. NE X, 1177b30–31. 417 Vgl. NE X, 1178a5–8. 418 Vgl. NE X, 1178b22–23. 413

C. Nachvollzug der »Nikomachischen Ethik«

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Wenn nun Gott als Vernunft sich selbst betrachtet, dann müsste der Mensch in seiner Tätigkeit Gott am ähnlichsten sein, wenn er genau diesen Selbstbezug nachahmt und ebenfalls seine Vernunft betrachtet. Dann kann der Mensch Gott zu begreifen versuchen, indem er die Tätigkeit Gottes, so weit es ihm als Mensch möglich ist, nachbildet. Die menschliche Weisheit wäre nach dieser Deutung als Reflexion der eigenen theoretischen Vernunft zu verstehen und das höchste menschliche Glück als dauerhafte oder zumindest wiederholte Selbstreflexion der Vernunft. Diese Deutung wird auch von der Behauptung gestützt, das Erkenntnisvermögen müsste sich auf seinen Gegenstand ausrichten, um ihn erkennen zu können. Da Gott wesentlich Vernunft und der Mensch ebenfalls in seiner Vernunft göttlich ist, dann kann der Mensch das gemeinsame göttliche Prinzip durch Ausrichtung auf die Vernunft zu erkennen versuchen. In diesem Selbstbezug der Vernunft besteht dann bei aller in anderen Hinsichten bestehenden Unterschiedlichkeit die höchstmögliche Ähnlichkeit zwischen Gott und Mensch. Die auf sich selbst bezogene Vernunft ist somit implizit schon in der Nikomachischen Ethik das erste Prinzip, aus dem alles folgt, und das letzte Ziel, zu dem alles strebt. Für diese vom Theoretiker angestrebte Weisheit würde Aristoteles also beanspruchen, dass sie die Wahrheitseinsicht der übermenschlichen, ewigen Dinge beinhaltet. Was erkennt der Mensch, der die eigene theoretische Vernunft reflektiert? Kann in einer solchen Selbstreflexion tatsächlich etwas Übermenschliches erkannt werden? Aristoteles beschreibt die theoretische Vernunft als ein Vermögen, das einerseits aus ersten Prinzipien nach logischen Gesetzen schlussfolgert (λόγος)419 und andererseits die Prinzipien selbst schaut (νοῦς)420. Was erkennt man also, wenn man die beiden Arten des theoretischen Denkens selbst reflektiert? Bei der Reflexion der erstgenannten, ableitenden Vernunfttätigkeit könnte man sich der logischen Gesetze, aber auch nur dieser bewusst werden421. Man wüsste anschließend, nach welchen Gesetzen man bisher unbewusst gedacht hat, und könnte aus gegebenen Voraussetzungen stringenter ableiten. Die Wissenschaften wären damit in ihrer Argumentation genauer, ob sie dadurch der Wahrheit ihrer Betrachtungsgegenstände näher kämen, ist fraglich. Denn Ableitungen sind in ihrem Wahrheitsgehalt bekanntlich von der Richtigkeit ihrer Grundvoraussetzungen, d. h. der ersten Prinzipien abhängig. Die Wahrheit der ersten Prinzipien bleibt aber durch die Einsicht in die Ableitungsgesetze unberührt und ungeprüft. Solange die Wahrheit dieser Prinzipien ungeklärt ist, bleibt die gesamte ableitende Wissenschaft bloß hypothetisch. Die ableitende Vernunfttätigkeit (λόγος) ist also darauf angewiesen, dass die Vgl. NE VI, 1139b18–36. Vgl. NE VI, 1140b31–1141a8. 421 In seinen im weitesten Sinne logischen Schriften scheint Aristoteles dieses Projekt einer λόγος-Reflexion durchgeführt zu haben (vgl. dazu: Band 1 und 2, in: Aristoteles, Philosophische Schriften in sechs Bänden, Hamburg 1995). 419 420

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

Prinzipien ihrer Ableitung wahr sind. Neben den logischen Gesetzen wäre die Feststellung dieser Abhängigkeit das Ergebnis der Reflexion der ableitenden Vernunfttätigkeit. Die Einsicht in die Wahrheit der Prinzipien ist aber die Leistung des anderen Teils des theoretischen Vernunftvermögens: des Geistes (νοῦς). Da die Prinzipien oder Grundannahmen, wie der Begriff schon nahe legt, selbst die Grundlage aller ableitenden Beweise sind, kann ihre Wahrheit nicht wiederum durch Ableitung aus etwas weiterem bewiesen werden, sondern muss auf einem anderen Wege eingesehen werden. Aristoteles spricht von einer besonderen Art der Wahrnehmung422. Wir würden der ersten Prinzipien des Denkens ebenso wie der letzten Einzeldinge des Handelns innewerden. In diesem Sinne ist der Geist Anfang und Ende bzw. Ursache und Ziel (ἀρχὴ und τέλος). »Der Geist endlich betrifft das Letzte nach beiden Seiten. Denn auf die ersten und die letzten Begriffe geht der Geist (νοῦς) und nicht der Verstand (λόγος); im ersten Falle geht er auf die Beweise der ersten und unbewegten Begriffe, im zweiten auf das Letzte, das Mögliche, den Untersatz im Bereich des Handelns. Dies sind die Prinzipien des Zweckes. Denn aus dem Einzelnen entspringt das Allgemeine. Dieses muss durch Wahrnehmung erfasst werden, und dies ist eben der Geist. Darum scheinen diese Dinge auch naturgegeben zu sein: weise ist von Natur keiner, wohl aber hat er Takt, Verständigkeit und Geist. […] Darum ist auch der Geist Anfang und Ende«423. Denn einerseits stellt der Geist (νοῦς) (vermutlich unbewusst) die für den jeweiligen Bereich notwendigen Anfangswahrheiten fest: die Wahrnehmung des Einzelnen für die Praxis und des Allgemeinen für die Theorie424; und ist also in diesem Sinne die Ursache der Praxis und der Theorie. Andererseits ist die bewusste Wahrheitsschau des Geistes zugleich das endgültige, höchste Ziel aller Vernunfttätigkeit und aller anderen Tugenden425. Die geschaute Wahrheit kann allerdings selbst nicht mehr rational eingeholt und nachgewiesen werden. Man erreicht sie mit dem Alter und der wachsenden Erfahrung426, letztlich muss man sie wohl glauben. Eine Wahrheit aber, die selbst nicht bewiesen, sondern nur geglaubt werden kann, ist eine bloße Setzung des Geistes. Das einzige, was Aristoteles als Beleg für die Richtigkeit der eigenen Grundannahmen anführt, ist die Behauptung der Gottähnlichkeit der eigenen Vernunft427. Wenn die Vernunft göttlich ist, dann sind natürlich auch ihre ersten Setzungen göttlich und damit richtig. Vgl. NE VI, 1142a25–30; VI, 1143b5. NE VI, 1143a35–1143b10. 424 Vgl. NE VI, 1143a35–1143b5. 425 Vgl. NE X, 1177a12–19; X, 1178a2–8; X, 1178b20–32. 426 Vgl. NE VI, 1142a16–20; VI, 1143b5–17. Darin: »Darum muss man die ohne Beweise vorgetragenen Behauptungen und Meinungen der Erfahrenen, Älteren und Klugen nicht weniger beachten als das Bewiesene. Denn weil sie das Auge der Erfahrung haben, sehen sie richtig« (NE VI, 1143b11–14). 427 Vgl. NE X, 1177b30–1178a8. 422 423

C. Nachvollzug der »Nikomachischen Ethik«

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Was kann der Mensch bei der Reflexion dieser prinzipiensetzenden Vernunfttätigkeit428 erfahren? Zunächst wird er wohl die Prinzipien explizieren, die seinem Denken und Handeln implizit zugrunde liegen und damit seine Lebensführung, Weltwahrnehmung und Wissenschaft bestimmen. Er wird außerdem die innere Ordnung dieser Prinzipien untersuchen und beschreiben können. Letztlich wird er aber feststellen, dass sein Anfang und sein Ende in der Setzung der eigenen Gottähnlichkeit bestehen. Die Göttlichkeit der sich selbst denkenden Vernunft ist das erste Prinzip des aristotelischen Systems und seine höchste, theoretische Einsicht. Aber erfüllt diese Einsicht den Anspruch, etwas Göttliches und Übermenschliches, kurz eine Transzendenz zu erkennen? Die Antwort scheint so einfach wie verheerend zu sein. Um etwas zu erkennen, was über den Menschen hinausgeht, muss die Vernunft sich auf etwas beziehen, das über den Menschen hinausgeht. Wie oben ausgeführt, führt Aristoteles für die höchste Erkenntnis keine Variante an, sich auf eine Wirklichkeit außerhalb des Menschen zu beziehen. In seiner Kritik an der vermeintlichen platonischen Idee argumentiert Aristoteles sogar gegen die Sinnhaftigkeit einer solchen Einsicht. Aus den dargestellten Ausführungen über Gott, den Menschen und das Glück beider folgt stattdessen, dass die höchste Erkenntnis in einem Selbstbezug der Vernunft bestehen müsste. Eine Vernunft, die nur sich selbst reflektiert, verbleibt aber immer innerhalb ihrer eigenen Wirklichkeit. Sie wird sich dabei zwar selbst als der höchste Gegenstand ihres Denkens bewusst, gelangt aber über das veränderliche Sein des Menschen nicht hinaus, so dass eine Erkenntnis von etwas Übermenschlichem und Unveränderlichem, kurz von einer Transzendenz unmöglich zu sein scheint. Der von Aristoteles beschriebene Gott wäre damit eine bloße Projektion des selbstbezüglichen Denkens in seinem Anspruch, etwas Vollkommenes und Gutes zu sein. Diese Setzung zeigt sich als die letzte Ursache des von Aristoteles reflektierten Denkens und Handelns. Die aristotelische Weisheit kann damit als Bewusstsein dieser Setzung verstanden werden.

3. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Als praktische Tugend stellte sich oben die verständige Haltung der Mitte heraus. Ihre tätige Verwirklichung als tugendhaftes Handeln sollte das praktische Glück des Menschen begründen. Dies erwies sich als schwierig, weil das gute Ziel der Praxis – die 428 Aristoteles’ Metaphysik tritt im Selbstverständnis zwar als eine Seinsreflexion auf, da darin aber nicht so sehr Phänomene untersucht werden, als vielmehr die Prinzipien des Denkens geordnet werden, das über das Sein nachdenkt, kann man die Metaphysik durchaus als eine Reflexion der prinzipiensetzenden Vernunfttätigkeit verstehen (vgl. dazu: Band 5, in: Aristoteles, Philosophische Schriften in sechs Bänden, Hamburg 1995).

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

Mitte – weder von der Haltung noch von der praktischen Vernunft verstanden wurde. Der Maßstab der Praxis blieb also unbegründet. Da die Mitte selbst von Aristoteles eingeführt wurde als etwas, das alles Wertvolle erhält, ist es gerechtfertigt, nach dem Ziel der Mitte zu fragen. Die Frage nach dem Ziel der Mitte ist zugleich auch die Frage nach dem Ziel der Haltung der Mitte und der gemäßigten Praxis im Ganzen. Innerhalb der Nikomachischen Ethik deutet alles daraufhin, dass die Tätigkeit der theoretischen Vernunft die Antwort auf diese Frage darstellt. Denn einerseits ist sie das einzige Element der menschlichen Seele, das bei der Bestimmung der praktischen Tugend unberücksichtigt blieb. Andererseits soll sie das höchste menschliche Vermögen darstellen. Nachdem nun die Betrachtung Gottes sich als das eigentliche Ziel der theoretischen Vernunft herausgestellt hat, fragt sich, inwiefern dieses Ziel das Problem der praktischen Tugend lösen kann. Ist die vernünftige Betrachtung Gottes der Maßstab der Praxis und das Ziel der Mitte und wenn ja, auf welche Weise? Zunächst einmal wird mit der Gottesbetrachtung ein Ziel aufgestellt, das eindeutig über die innerhalb der Praxis genannten Ziele hinausgeht und damit den praktischen Begründungszirkel durchbricht. Sie könnte sowohl das Ziel der Mitte als auch den Maßstab der Klugheit darstellen. Die Haltung der Mitte wäre dann nur deswegen etwas Gutes, weil sie, indem sie die Begierden mäßigt, einen Freiraum für die Gottesbetrachtung schafft und zwar sowohl im einzelnen Menschen als auch in einer Gesellschaft. Diesen Freiraum kann weder die Unterdrückung der Begierden noch die Hingabe an sie schaffen, weil beides die gesamte Aufmerksamkeit positiv oder negativ auf die Begierden richtet. Damit zeigt sich der für die theoretische Vernunfttätigkeit notwendige Freiraum als eigentliches Kriterium der richtigen Mitte. Das theoretische Denken stellt den Wert dar, den die Mitte ermöglichen und erhalten soll. Die praktische Klugheit ist dann das Wissen über die Mittel, die notwendig sind, um diesen Freiraum herzustellen. Der gute Praktiker stellt also die Möglichkeitsbedingung des Theoretikers dar, wobei es nicht notwendig ist, dass beide Lebensformen von einem Individuum verwirklicht werden. Eine Gesellschaft von guten Praktikern würde den Theoretiker ebenfalls ermöglichen. Diese Verzahnung von praktischer und theoretischer Tugend leuchtet auch vom theoretischen Leben her ein. Der Theoretiker ist ja, wie Aristoteles mehrfach betont, ein Mensch, der trotz allem mit seinen Begierden umgehen muss. Damit er möglichst lange und intensiv seine Betrachtungen anstellen kann, müssen seine Begierden geordnet sein. Das strebende Vermögen eines Theoretikers muss in ganz außerordentlicher Weise gut erzogen sein in seiner Fähigkeit, auf die Vernunft zu hören wie auf einen Vater. Die Begierden müssen gemäßigt sein, damit das theoretische Nachdenken und die Betrachtung Gottes möglich sind. Die praktische Tugend ist also die notwendige Bedingung der Möglichkeit der theoretischen Tugend. Aristoteles selbst stellt diese Verknüpfung des praktischen und des theoretischen Lebens nicht explizit her, sondern deutet nur an, dass auch der Theoretiker als

C. Nachvollzug der »Nikomachischen Ethik«

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Mensch unter Menschen praktisch tätig sein wird und insofern auch ethische Tugenden verwirklichen muss, obwohl die theoretische Betrachtung die höchste Tätigkeit ist429. Außerdem stellt jede Tugend die Vollkommenheit des jeweiligen Seelenteils dar und muss deswegen verwirklicht werden430. Da er zumindest für die praktischen Tugenden explizit behauptet, dass sie in ihrer eigentlichen Form nicht einzeln verwirklicht werden können431, ist die scheinbar strikte Trennung der Lebensformen in praktische und theoretische fraglich. In der Eudemischen Ethik432 erhebt Aristoteles die Betrachtung Gottes sogar explizit zum Maßstab der Seele im Umgang mit den Gütern und den irrationalen Strebungen. Indem dort das Ziel der theoretischen Lebensform zum Maßstab der praktischen Lebensform erhoben wird, wird deutlich, dass Aristoteles die beiden Lebensformen nicht als völlig getrennte gedacht hat. Es liegt, wie in dieser Arbeit ausgeführt, in der Sachlogik der aristotelischen Argumentation, dass zwischen den beiden Lebensformen ein Bedingungsverhältnis vorliegt, wenn auch nicht derart, dass die Einsicht des Theoretikers direkt inhaltlich für die Praxis relevant wäre. Man kann an dieser Stelle auch die Rangordnung der Lebensformen in Bezug auf das Glück erklären. Das Leben gemäß der praktischen Tugend erhält im Gegensatz zu einem lasterhaften Leben zumindest die Möglichkeit zur theoretischen Tugend. Man könnte sagen, dass der praktisch Tugendhafte in diesem Sinne auch der Möglichkeit nach glücklich ist. Seine Seelenordnung und seine Lebensführung sind insofern von der eigentlich glücksbringenden Tätigkeit bestimmt, als dass die Gottesbetrachtung als letztes Ziel zumindest implizit sein handlungsleitender Orientierungspunkt ist. Zugleich ermöglichen die praktisch Tugendhaften als Mitglieder einer friedlichen Gesellschaft für andere das theoretische Leben. Das Bedingungsverhältnis der beiden Tugendarten bedeutet aber auch, dass nur diejenigen die theoretische Tugend erreichen können, die selbst auch im praktischen Sinne tugendhaft sind und ihre Begierden mäßigen. Nach Aristoteles wird der Theoretiker dies als Mensch unter Menschen sowieso wollen433. Die Verantwortung dafür, dass das menschliche Leben mit Sinn und Glück erfüllt wird, liegt trotzalledem vollständig bei der theoretischen Vernunft. Erst durch eine gelungene Gotteseinsicht wäre das Göttliche im Menschen, so weit wie möglich, verwirklicht und die eigentümliche Leistung des Menschen gemäß seiner höchsten Tugend vollbracht. Erst durch diese Einsicht wäre auch die praktische Tugend, sei es des Theoretikers selbst, sei es der Gesellschaft, die ihn ermöglicht, gerechtfertigt.

429 430 431 432 433

Vgl. NE X, 1178b4–7. Vgl. NE VI, 1144a. Vgl. NE VI, 1144b32–1145a11. Vgl. EE 1249a24–b25. Vgl. NE X, 1178b4–7.

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

Allerdings hat sich in der Analyse gezeigt, dass die theoretische Vernunft keinen Gott schaut, sondern vorerst nur sich selbst. Innerhalb der Nikomachischen Ethik ließ sich kein Ausweg aus der Selbstbetrachtung finden. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass Aristoteles’ Ethik nicht auf Wahrheitseinsicht, sondern auf bloßem Wahrheitsanspruch beruht. Damit ist auch das Leben des Theoretikers unbegründet, seine Tugend und sein Glück bloß behauptet. Auch die praktische Tugend wird davon getroffen, dass die selbstbezogene theoretische Vernunft ihre Aufgabe nicht erfüllen kann. Einerseits ist die praktische Tugend nur als Möglichkeitsbedingung der theoretischen Weisheit begründbar. Diese Weisheit ist ihr übergeordnetes Ziel. Andererseits ist die praktische Tugend für sich betrachtet auf die richtige Einschätzung des wahrnehmbaren Einzelnen angewiesen und bedarf also der richtigen Voraussetzungen durch die Vernunft, den Nous. Das selbstbezogene Denken kann beides nicht einlösen. Es verharrt bei der Setzung der ersten Dinge und muss infolgedessen bei einer bloßen Aktualisierung dieser Vorurteile an den letzten Einzelgegenständen verbleiben. Auch das gemäßigte, praktische Leben verliert auf diese Weise seine Tugend, da es nicht die Wirklichkeit der Vernunft, sondern nur die Möglichkeit zur Verwirklichung erhält. Das Problem liegt damit auf der Ebene des Denkens, das das Handeln bestimmt. Das Denken, das sich selbst schon als erfüllt und vollendet setzt, stellt keine Grundlage des menschlichen Glücks dar und muss überwunden werden, wenn der Mensch glückselig und tugendhaft werden soll.

D. Strukturvergleich mit dem »Charmides« In der Analyse des platonischen Charmides wurde festgestellt, dass das Denken der sokratischen Gesprächspartner dem sokratischen Denken unterlegen ist. Außerdem wurde festgestellt, dass Sokrates in der Prüfung die Schwierigkeiten eines voraussetzungsbasierten selbstbezogenen Denkens aufdeckt und ein grundsätzlich anderes prüfendes Denken vollzieht. Es stellt sich nach der Analyse der aristotelischen Ethik die Frage, ob Aristoteles, der beansprucht über Sokrates und Platon hinauszugehen, letztlich das Denken der Partner wiederholt und zum System ausbaut. Dahinter steht die Gesamtfrage meiner Arbeit nach dem guten Leben. Wenn sich zeigt, dass Aristoteles’ Ethik von der Argumentation im sokratischen Dialog getroffen wird, dann sind auch die modernen aristotelischen Konzeptionen vom guten Leben schon durch Sokrates in Frage gestellt worden. Vordergründig haben die Nikomachische Ethik des Aristoteles und Platons Charmides nur wenig gemeinsam. Aristoteles beschreibt monologisch die Gesamtheit menschlicher Tugenden, die das menschliche Glück begründen sollen. Platon lässt Sokrates im Dialog eine Reihe von Definitionen einer Tugend, der Besonnenheit, prüfen. Allerdings wird die Besonnenheit im sokratischen Dialog nur deswegen untersucht, weil

D. Strukturvergleich mit dem »Charmides«

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sie etwas Gutes und Schönes sein und das Glück verursachen soll. In Bezug auf den Untersuchungsgegenstand sind sich die beiden Texte also sehr nahe. Es scheint bloß so, als ob die aristotelische Untersuchung breiter, vollständiger angelegt ist als die sokratische. Allerdings wurde bei der Untersuchung des Charmides aufgedeckt, dass die einzelnen Antworten grundsätzliche Möglichkeiten, die Tugendfrage zu beantworten, darstellen. Die strukturellen Ähnlichkeiten und Unterschiede der beiden Texte sollen im folgenden Vergleich herausgearbeitet werden.

1. Struktur der »Nikomachischen Ethik« Betrachtet man Aristoteles’ Gedankengang über die gesamte Nikomachische Ethik hinweg, so zeigt sich bei der Bestimmung der menschlichen Tugenden eine Denkbewegung, die auf die letzte Ursache des menschlichen Handelns und Denkens zielt und dabei die grundlegenden Ebenen des Menschseins thematisiert. Die Denkbewegung setzt am Handeln an und schreitet über die Haltung der Mitte und die Klugheit immer weiter in den dieses Handeln begründenden Voraussetzungen zurück, bis sie bei Gott als letztem Grund angelangt ist. Die Denkbewegung beginnt, anders formuliert, bei der Erscheinung des untersuchten Gegenstands, versucht im zweiten Schritt das erscheinende Wesen dieses Gegenstands begrifflich zu fassen und macht im dritten Schritt den letzten Grund, die Ursache des untersuchten Gegenstands bewusst. Die konkrete Ausführung dieses Dreischritts im aristotelischen Gedankengang soll zusammenfassend dargestellt werden.

a. Erscheinung (NE II, 1103a14–1105b18) Aristoteles’ Überlegungen setzen an den beobachtbaren Phänomenen und damit sowohl an den herrschenden Meinungen als auch an dem faktischen Handeln der Menschen an. Im ersten Schritt stellt er fest, dass das menschliche Handeln von Natur aus von seinen Begierden bestimmt wird und damit die Lust zum Ziel hat. Die Charaktertugend stellt den richtigen Umgang des Menschen mit seinen Begierden dar und ist also das richtige Verhältnis zu Lust und Unlust. Da alles Wertvolle bei einer extremen Behandlung geschädigt, bei einer maßvollen aber erhalten und gefördert wird, zeigt sich die ethische Tugend als gemäßigtes Handeln in Bezug auf Lust und Unlust. Anschließend wird nach der Begründung dieses Handelns in den Haltungen der Seele gesucht, um das wirklich tugendhafte Handeln von seiner bloßen Nachahmung unterscheiden zu können. Die zugrunde liegende Haltung der Mitte soll die Begierden mäßigen und dadurch das maßvolle Handeln hervorbringen. Die Haltung der Mitte ist als innere Verfassung des Handelnden dessen Begründung; der äußeren Mä-

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

ßigung liegt also eine innere Mäßigung zugrunde. Als Haltung ist sie aber zunächst etwas Subjektives und Uneindeutiges.

b. Wesen (NE II, 1105b–1109b; VI, 1138b–1145a) Da die Mitte deutungsbedürftig ist, fügt Aristoteles hinzu, dass natürlich nur die richtige Mitte gemeint sei. Mit dem Richtigen als Maßstab der Haltung wird auch die Erscheinungsebene überschritten und das natürliche Wesen der Tugend als Haltung der richtigen Mitte bestimmt. Die richtige Mitte soll innerhalb der Zielhierarchie im Menschen an oberster Stelle stehen und das natürliche Luststreben mäßigen. Sie begründet damit die erstgenannte Erscheinung der Tugend sowohl als innere Haltung als auch als äußeres Handeln. Da es aber nicht einfach ist, in jedem Einzelfall die richtige Mitte zu treffen, bedarf die natürliche Charaktertugend noch einer dianoëtischen Verstandestugend, der Klugheit, um sich zur wirklichen, eigentlichen Tugend des Menschen zu verfestigen. Die Haltung der richtigen Mitte gibt dabei das tugendhafte Ziel vor und die Klugheit legt die richtigen, tugendgemäßen Mittel zur Umsetzung dieses Ziels fest. Die eigentliche praktische Tugend im Ganzen ist damit die verständige Haltung der Mitte. Aristoteles ist mit der Klugheit auf einer Ebene des Menschseins angelangt, die zwar je individuell verwirklicht werden muss, aber trotzdem eine allgemeine Form des Denkens als praktisches, handlungsleitendes Erfahrungswissen kennzeichnet. Im Bereich der Vernunfttätigkeit stellt das praktische Denken selbst aber noch nicht die höchste Form dar, sondern bietet ein abgeleitetes und eher unsicheres Wissen, weil es das veränderliche Sein betrachtet. Ebenso wie das veränderliche Seiende nicht aus sich heraus sein kann, sondern von unveränderlichem Seienden abhängt, kann sich auch die Klugheit nicht aus sich heraus begründen. Sie ist auf Vorgaben oder Grundannahmen über die richtigen Ziele angewiesen. Diese Grundannahmen sind aber kein Gegenstand der praktischen Vernunft. Die Grundannahmen des Denkens sind zusammen mit dem unveränderlichen Seienden Gegenstand der theoretischen Vernunft. Aristoteles stellt zwar das menschliche Gute in den Bereich des veränderlichen Seienden, aber weder die Haltung kann es festlegen, sie richtet den Menschen nur darauf aus, noch erkennt die Klugheit es, sie setzt es bloß um. Wovon die Richtigkeit der Mitte abhängt, was also durch die mittlere Haltung und Handlung erhalten werden soll, bleibt unbestimmt.

D. Strukturvergleich mit dem »Charmides«

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c. Ursache (NE VI, 1138b–1145a; X, 1176b–1179a) Die Verständigkeit des Klugen ist also selbst auf eine richtige Zielvorgabe angewiesen. Sie expliziert zwar den Erkenntnisanspruch der natürlichen Charaktertugend, erfüllt ihn aber nicht. Die Charaktertugend als eine Haltung kann den Erkenntnisanspruch selbst ebenfalls nicht erfüllen. Da die Klugheit nur eine der Verstandestugenden ist, verweist sie in ihrem Ungenügen auf die höchste menschliche Tugend. Sie ist als praktisches Denken ganz auf das Handeln und damit letztlich immer auf die Folgen des Denkens gerichtet. Bei der Überschreitung des praktischen Denkens gerät nun die eigene Ursache, die Vernunft, selbst in den Blick. Ihre eigentliche, höchste Tätigkeit ist die theoretische Betrachtung der höchsten, göttlichen Gegenstände. Ihre höchste Tugend ist die Weisheit, die in ihrer eigentlichen und höchsten Form die Erkenntnis des transzendenten Gottes beinhalten soll. Gott ist nach Aristoteles der höchste aller Betrachtungsgegenstände und die Ursache von allem Sein, Denken und Handeln. Ihn nachzubilden und zu erfassen, ist die höchste Tugend und die eigentliche Aufgabe des Menschen. In der Gottesbetrachtung verwirklicht sich die menschliche Vernunft und stellt zugleich sein eigentliches, höchstes Glück dar. Die Möglichkeit der Weisheit ist damit das Ziel, das auch der Praktiker, wenn auch nicht zwingend für sich selbst, anstreben muss, wenn er tugendhaft sein will. In diesem Sinne ist die theoretische Weisheit die Zielursache der praktischen Tugend. Da diese Weisheit den Transzendenzbezug beansprucht, ist letztlich die gelungene epistemische Verbindung zu Gott als Ziel und Grund der Mäßigung auch die Ursache der praktischen Tugend. Sie erkennt die Mitte zwar nicht, aber die Richtigkeit der Mitte bestimmt sich durch die Ermöglichung der Weisheit. Wie sich zeigte, betrachtet die theoretische Vernunft, wie Aristoteles sie unausgesprochen denkt, nur sich selbst und kann in diesem Selbstbezug folglich keine Transzendenz erkennen, sondern verharrt in sich und bei der eigenen Setzung. Der aristotelische Gott erweist sich als eine Projektion der selbstbezogenen Vernunft in ihrem Anspruch auf Erkenntnis und Tugend. Damit verbleibt das aristotelische System in der Linie des voraussetzungsbasierten Denkens, das in der vorausgesetzten Tugend nur sich selbst denkt.

2. Parallelen zwischen der »Nikomachischen Ethik« und dem »Charmides« Im sokratischen Dialog kann auf der Seite der geprüften Partner eine in ihrer Struktur sehr ähnliche Denkbewegung nachvollzogen werden. Allerdings werden im Dialog die Bestimmungen der Partner durch Sokrates fortlaufend daraufhin geprüft, ob sie den mit ihnen verbundenen Anspruch erfüllen. Diese prüfende Dimension fehlt der aristotelischen Betrachtung. Welche Konsequenzen dieser Unterschied hat, soll ge-

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

fragt werden, nachdem die Parallelen zwischen dem aristotelischen Denken und dem Partnerdenken dargestellt wurden. Ich werde zuerst die Parallelen auf den einzelnen Stufen des obigen Dreischritts beschreiben und anschließend die Denkbewegungen von Aristoteles, der sokratischen Gesprächspartner und Sokrates vergleichen.

a. Vergleich der einzelnen Stufen i. Erscheinung (Charmides 158e–161b und NE II, 1103a–1105b; II, 1105b–1109b) Auf der Erscheinungsebene (Handeln, Haltung) wird in beiden Texten eine gewisse Mäßigung (NE: mittleres Handeln, Haltung der Mitte; Charmides: bedächtiges Handeln, Scham) als Tugend angenommen. Was Charmides im Tugenddialog auf den ersten Stufen der Selbstreflexion bewusst wurde, ist für Aristoteles schon in einer verallgemeinerten Version als Erscheinung der Tugend überhaupt fassbar. In diesem Sinne unterscheiden sich die ersten Bestimmungen. Aristoteles fasst die bekannten Meinungen, also fremde Reflexionen, über die verwirklichte Tugend zusammen; Charmides reflektiert dagegen die eigene Handlungspraxis. Aristoteles’ Position ist also eher mit Kritias zu vergleichen, der im Dialog an der Reflexion des Charmides ansetzt und die Grundlagen der reflektierten Praxis thematisiert. Die Ebene der Erscheinung wird in beiden Texten durchschritten, um dasjenige zu erfassen, das die ambivalenten Phänomene zur Erscheinung der Tugend vereinheitlicht. Im Charmides fehlt zunächst das Ziel oder der Maßstab der Mäßigung. Bei Aristoteles wird es mit der Mitte zwar benannt, aber auch zugleich als deutungsbedürftig und damit eben immer noch nicht eindeutig gekennzeichnet.

ii. Wesen (Charmides 161b–164c und NE II, 1105b–1109b; VI, 1138b–1145a) Als Wesen der Tugend bestimmen Aristoteles und die geprüften Partner eine praktische Orientierung an einem Ziel (NE: Mitte; Charmides: Seinige, Gute), das die Ambivalenz der Erscheinungen überwinden soll. Im Dialog werden zwei Deutungen dieses Ziels diskutiert. Die erste Deutung des Seinigen nimmt auf den natürlichen Egoismus des Menschen Bezug und erhebt diesen zum Tugendziel. Da der konsequente Egoismus als selbstbezogenes Handeln aber dem Einzelnen und der Gemeinschaft schadet, ist er keine Ausfüllung der Tugend. Hier wird im Grunde die von Aristoteles gleich zugestandene Deutungsbedürftigkeit des Ziels vorgeführt, indem eine völlig falsche, aber natürliche Deutung diskutiert wird. Aristoteles scheint also die Überlegung des Tugenddialogs zu kennen und auf die Vieldeutigkeit des Begriffs zu reagieren. Die

D. Strukturvergleich mit dem »Charmides«

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zweite Deutung im Dialog ist wieder mit der aristotelischen parallel. Die richtige Mitte als Tugendziel entspricht im Dialog der Gleichsetzung des Seinigen mit dem Guten. In beiden Fällen besteht das Problem darin, dass zwar ein eindeutiges Ziel benannt ist, es aber weiterhin unverstanden bleibt, so dass der beanspruchte Zusammenhang zwischen Denken und Handeln nicht eingelöst wird. Einer rein praktischen Tugend fehlt die Festigkeit oder eben die Eindeutigkeit, so dass etwas, das subjektiv tugendhaft (d. h. als Mittleres oder Gutes) erscheint, sich leicht ins Gegenteil verkehren kann. Die je konkrete Mitte kann in einer anderen Situation leicht zum Extrem werden. Die aristotelische Klugheit expliziert zwar den immanenten Anspruch auf das Verständnis des erstrebten Ziels, kann diese Schwierigkeit aber nicht überwinden, da sie nicht das Ziel erkennt, sondern nur die Mittel seiner Umsetzung reflektiert. Die Klugheit erscheint damit als eine Art Technik, die der Verwirklichung einer unterstellten inneren Tugend dient; sie kann die Tugend nicht begründen. In der Klugheit scheint die praktische Vernünftigkeit wiederzukehren, die Kritias dem guten Praktiker unterstellte, ohne sie explizit in die Bestimmung der Besonnenheit aufzunehmen.

iii. Ursache (Charmides 164c–175a und NE VI, 1138b–1145a; X, 1176b–1179a) Auf der Ursachenebene thematisieren beide Texte die Vernunft selbst. Sowohl die aristotelische Weisheit als auch die Selbsterkenntnis des Kritias sollen die höchste und eigentliche Tugend des Menschen darstellen und alles Vorhergehende begründen. Interessanterweise postulieren beide eine Trennung von Praxis und Theorie, obwohl sie eigentlich auf die theoretische Ebene wechseln müssen, um Schwierigkeiten innerhalb der Praxis zu überwinden. Sowohl Aristoteles als auch der geprüfte Kritias denken den letzten Grund der Tugend als selbstbezogenes Denken, als Selbstreflexion der Vernunft (NE: s. o. göttliche Tätigkeit, Charmides: Erkenntnis der Erkenntnis). Kritias denkt die Selbsterkenntnis im Dialog weder auf eine bestimmte Person noch auf eine Sache bezogen, sondern reflexiv selbstbezogen als Erkenntnis der Erkenntnis. Mit dieser Ausdeutung ist eine Überschreitung der rein subjektiven Ebene beansprucht. Denn obwohl jeder Erkenntnisprozess individuell vollzogen werden muss, unterscheidet sich Erkenntnis von der subjektiven Meinung gerade darin, dass Erkenntnis eine in der jeweiligen Sache begründete Allgemeingültigkeit für alle Subjekte beinhaltet. Sacherkenntnis liegt jenseits der puren Subjektivität. Normalerweise bezieht sich das Erkennen allerdings auf ein anderes und nicht auf sich selbst. Aber ebenso wie die Weisheit des Aristoteles bezieht sich auch bei dem Partner die Erkenntnis, die zugleich Tugend sein soll, nur auf sich selbst.

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

Unabhängig davon, ob so etwas überhaupt möglich ist, verliert eine selbstbezogene Erkenntnis allen sachlichen Inhalt und ist im besten Fall rein formal. Mit dem Inhalt verliert sie aber auch jeglichen Nutzen und kann infolgedessen weder einen Maßstab für das Handeln aufstellen, noch die höchste Verwirklichung des Denkens sein. Wie sich im Dialog zeigt, bedarf die beanspruchte Tugend der Erkenntnis des Guten. Bei Aristoteles nimmt die Erkenntnis des Gottes diese Stellung ein. Aristoteles versucht also den bei Kritias sofort explizierten Bezugszirkel zu vermeiden, indem er die höchste Erkenntnis in der Gottesbetrachtung ansetzt. Man könnte seine Ausführungen also gewissermaßen als Reaktion auf das Dialogende auffassen. Problematisch ist dann seine Gleichsetzung von Gott und Vernunft. Da die menschliche und die göttliche Vernunfttätigkeit in der Nikomachischen Ethik nur dadurch unterschieden werden, dass die göttliche Vernunft nicht durch die Fesseln der Sinnlichkeit aus der Selbstbetrachtung gerissen wird, fallen bei der Gottesbetrachtung Gegenstand und Vermögen im Wesentlichen doch wieder ineinander434. Bei dem Versuch, das unterstellte göttliche Gute reflexiv zu erfassen, geht das voraussetzungsbasierte Denken immer weiter in seinen Denkvoraussetzungen zurück und offenbart am Ende nicht Gott oder das Gute, sondern die Setzung der eigenen Göttlichkeit und den Anspruch auf das eigene Gutsein als seinen letzten Grund. Selbst noch im Selbstbezug kann sich das Denken also nicht vom Guten lösen. Es offenbart noch in seiner Setzung die Notwendigkeit einer Verbindung von Selbst und Gutem sowohl für die Selbsterkenntnis als auch für die Tugend. Man kann also sagen, dass die Setzung des eigenen Gutseins die Scheintugend und ihren Wesensbegriff begründet und im Handeln auch nur den Schein der Tugend hervorbringt.

Wie schon oben angeführt, muss innerhalb der Nikomachischen Ethik die menschliche Art der höchsten Erkenntnis erschlossen werden. Im zwölften Buch der Metaphysik erläutert Aristoteles die Identität von Vermögen und Gegenstand der Vernunfterkenntnis bei Gott explizit. Da die Vernunft selbst das Intellegible ist, das sie erkennt, betrachtet sich die Vernunft selbst (Metaphysik XII, Kap.7). Bei der menschlichen Erkenntnis sind die Aussagen auch hier nicht eindeutig. Einerseits sollen das Sein der Vernunfterkenntnis und des Erkannten nicht dasselbe sein, andererseits sind bei allem, was keinen Stoff hat, Vernunft und Erkanntes nicht verschieden. Deswegen verhalte sich die menschliche Vernunft eine kurze Zeit so wie die göttliche Vernunft die ganze Ewigkeit (Metaphysik XII, Kap.9). Diese Aussagen stützen meine Deutung der menschlichen Theoria und Weisheit in der Nikomachischen Ethik. Zugleich werfen sie neue Fragen auf, die ich aber in dieser Arbeit zugunsten des Vergleichs der Glückskonzepte zurückstellen muss. 434

D. Strukturvergleich mit dem »Charmides«

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b. Vergleich der Denkbewegungen i. Das Denken vom Anspruch her: Aristoteles, Charmides und Kritias Neben der parallelen Schrittfolge besteht ein deutlicher Unterschied der beiden Texte in der phänomenologischen Reichhaltigkeit. Die aristotelische Untersuchung gewinnt aufgrund dieser Reichhaltigkeit eine größere Anschaulichkeit. Im Tugenddialog fehlt zwar diese reichhaltige Phänomenologie, dafür sind die untersuchten Positionen aber auf ihre Grundstruktur reduziert und dadurch einfacher zu durchdenken. Auffällig ist, dass sich in beiden Texten nicht bloß die Schrittfolge wiederfindet, sondern die konkrete Ausfüllung der einzelnen Stufen durch Aristoteles und die sokratischen Gesprächspartner sehr ähnlich ist, ja sich teilweise fast wörtlich wiederholt. Da im Dialog das Denken der geprüften Gesprächspartner dem prüfenden Denken des Sokrates entgegengesetzt war, ist auch eine Gegenläufigkeit von aristotelischem und sokratischem Denken zu erwarten. Aristoteles und die sokratischen Gesprächspartner vertreten beide eine Ethik des Maßes, die den zerstörerischen Egoismus, der auf die Befriedigung der je eigenen Bedürfnisse zielt, auf ein sozialverträgliches Niveau einschränken, eben mäßigen will. In beiden Fällen sieht es zunächst so aus, als ob der Egoismus durch die Ausrichtung an etwas, das selbst für sich genommen immer gut ist, überwunden wird. Sobald im Fortschreiten des Gedankengangs deutlich wird, dass eine gelungene Ausrichtung auf ein solches Ziel das Verständnis dieses Ziels erfordert, schlagen beide dieselbe Begründungsrichtung ein und geben das selbstbezügliche Denken als den Grund an, der eine weitere Bemühung um ein Verständnis des Ziels erübrigen soll. Das selbstbezügliche Denken sollte den Egoismus in Tugend verwandeln. Wenn man den praktischen Egoismus als eine selbstbezogene Praxis des Menschen ansieht, dann sollte dieser durch das selbstbezogene Denken überwunden werden. Im Gegensatz zu der Intention wird der Egoismus dadurch aber eher vertieft und verfestigt. Man kann sagen, dass die geforderte Einschränkung des praktischen, im Grunde empirisch begrenzten Egoismus die Bedingung der Möglichkeit des grenzenlosen theoretischen Egoismus ist, der sich sogar über Gott stellt und ihn nach eigenem Maß entwirft. Sowohl Aristoteles als auch die sokratischen Gesprächspartner durchlaufen also einen Prozess der Bewusstwerdung. Darin werden die impliziten Grundlagen ihres vermeintlich guten Seins expliziert. Es wird deutlich, dass die Tugend und das gute Leben des Menschen sowohl eine Selbsterkenntnis als auch eine Erkenntnis des Guten erfordern. Das Scheitern der bloß vorausgesetzten Erkenntnis weist außerdem darauf hin, dass die beiden Erkenntnisse dem Menschen nicht einfach gegeben sind, sondern erst erworben werden müssen. An diesem Bewusstwerdungsprozess vollzieht sich die sokratische Prüfung. Damit das Ich gut werden kann, muss zunächst einmal die Denkrichtung von der Selbstbe-

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

zogenheit zu einer Sachbezogenheit umgekehrt werden. Ein Problem ist allerdings, dass sowohl die Partner als auch Aristoteles glaubten, sachlich zu denken, sich aber grundlegend über sich selbst irrten. Angesichts dieses Problems fragt sich, ob es überhaupt möglich ist, die Selbstbezogenheit des Denkens zu überwinden.

ii. Die Umkehr des Denkens bei Sokrates Wenn man nur die Nikomachische Ethik vor Augen hat, dann scheint es zunächst so, als ob es keinen Ausweg aus der Selbstbezüglichkeit des Denkens gibt. Man könnte dazu neigen, diese zu akzeptieren und eine Ethik zu entwickeln, die explizit auf dem selbstbezüglichen Denken gründet. Diese Konsequenz scheint Kant aus dem aristotelischen Gedankengang zu ziehen, was später noch untersucht werden soll. Wenn man allerdings nicht bloß die aristotelische Untersuchung, sondern auch den sokratischen Dialog betrachtet, dann eröffnet sich ein Ausweg aus dem voraussetzungsbasierten Denken. Wie schon oben erwähnt, fehlt der aristotelischen Untersuchung die prüfende Dimension, die von Sokrates eingebracht wird. Sokrates verdeutlicht schließlich die Sachlosigkeit des Denkens vom Anspruch her. Im Wesentlichen unterstellen Aristoteles und die sokratischen Gesprächspartner schon auf der praktischen Ebene eine gelungene Ausrichtung auf etwas Gutes und können sich dann auch nur dieser Unterstellung bewusst werden. Aristoteles spricht diese Voraussetzung im ersten Buch aus, wenn er die Art seiner Zuhörerschaft bestimmt; Kritias schreibt sie Charmides im Vorgespräch zu und beansprucht sie für sich implizit bei Gesprächseintritt. Die Unterstellung lautet: »ich bin gut«. Bei dem Versuch, das Gutsein zu erfassen, muss sich dieser Mensch auf sich selbst beziehen und am Ende notwendig die Selbstreflexion mit der Sacherkenntnis gleichsetzen. Diese Unterstellung, oben als Setzung des eigenen Gutseins bezeichnet, ist das eigentliche Problem, das überwunden werden muss. Sie ist dasjenige, was Sokrates in seiner Prüfung in Frage stellt und auf ihre Berechtigung untersucht. Er fordert den Gesprächspartner in der Prüfung auf, seine beanspruchte Ausrichtung auf etwas Gutes zu beweisen. Indem sich Sokrates auf das vom Partner Beanspruchte ausrichtet, denkt er auf jeden Fall nicht mehr bloß das eigene Denken. Der reine, direkte Selbstbezug ist also zunächst schon durch das Einlassen auf das Denken des anderen aufgehoben. Da Sokrates das Denken seiner Gesprächspartner nicht bloß mitdenkt, sondern es außerdem noch daraufhin prüft, ob es den erhobenen Anspruch erfüllt, überschreitet er zugleich auch die Selbstbezüglichkeit des Partnerdenkens. Auf jeder der beschrittenen Erkenntnisstufen zeigt er die Differenz zwischen dem tatsächlich selbstbezogenen Denken der Partner und dem von ihnen beanspruchten sachlichen Denken

D. Strukturvergleich mit dem »Charmides«

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auf. Wie im Tugenddialog nachgezeichnet wurde, setzt diese Prüfung die Sacherkenntnis beim Prüfenden voraus und führt zugleich im Vollzug der Prüfung zu einer erneuten Sach- und Selbsteinsicht. Die Sachbezogenheit darf nicht als Selbstvergessenheit in Sinne einer Unkenntnis der eigenen Denkvoraussetzungen missverstanden werden. Auch die Sachprüfung vollzieht einen Selbstbezug des Denkens, aber dieser ist stets sachlich vermittelt. Die Sachprüfung beginnt nicht mit einer eigenen Tugendsetzung. Schon ganz äußerlich gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen den Partnern und Sokrates, zwischen Aristoteles und Sokrates: Sokrates stellt die Frage nach der Sache anstatt ihre Erkenntnis zu behaupten. Seine Nachfrage erlaubt es ihm im ersten Schritt, die Richtung des Denkens von den Folgen auf die Voraussetzung umzukehren. Dieser Schritt wird zwar von Wissenschaftlern wie Aristoteles durchaus auch vollzogen. Darin unterscheiden sich die Wissenschaftler von dem reinen Praktiker, aber sie erschöpfen sich auch darin. Die anschließende prüfende Nachfrage zeigt erst die eigentliche Umkehr des sokratischen Denkens. Denn nicht die Voraussetzungen und damit das Denken selbst sind sein Ziel, sondern das Vorausgesetzte, das sachlich begründete Denken. Anstatt nur bewusst zu machen, was dem eigenen Handeln unbewusst zugrunde liegt, und auf diese Weise nur das eigene Handeln erklären zu wollen, will Sokrates das Zugrundegelegte selbst verstehen. Für den Partner aber ist das Handeln das Unverstandene, Erklärungsbedürftige und das letzte Zugrundegelegte das Selbstverständliche. Für Sokrates ist das Handeln nur der konkrete Anlass seiner Prüfung. Die prüfende Frage ist Sokrates’ Art, sich auf die vom Partner unterstellte Sache auszurichten, anstatt bei dem eigenen Vorurteil zu verharren. Die Frage ist die Erscheinungsweise seiner Denkweise. Ihr liegt die prüfende Haltung zugrunde, die wiederum wesentlich die Suche nach dem richtigen Verständnis des Guten ist. Das im Tugenddialog nachvollziehbare Denken des Sokrates ist seine Verwirklichung des jedes Mal neu zu erwerbenden richtigen Denkens.

3. Konsequenzen des Vergleichs Aristoteles erkennt in der sokratischen Frage nur das widerlegende Element, weil er Sokrates seine eigene Intention unterstellt. Aristoteles selbst sucht nach eigener Aussage im ersten Buch der Nikomachischen Ethik nach dem Begriff der Tugend, aus dem anschließend praktisch und theoretisch besser abgeleitet werden kann. Das eigene tugendhafte Sein und das richtige Verständnis des Begriffs setzt er bei Sokrates ebenso voraus wie bei sich selbst. Nur auf dieser Grundlage kann der sokratische Dialog als eine Suche nach einem bloßen Begriffswissen missverstanden und als gescheitert angesehen werden. Wie sich in der Charmides-Analyse zeigt, scheitert im Dialog aber nur

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III. Die Begründung des guten Lebens bei Aristoteles

das Denken, das glaubt das Verständnis und die Wirklichkeit des Guten im eigenen Leben voraussetzen zu können. Im Hinblick auf die prüfende, sachbezogene Dimension des sokratischen Denkens ist der platonische Tugenddialog der aristotelischen Untersuchung überlegen. Im Partnerdenken ist einerseits die unbedachte Praxis, anderseits das Denken widerlegt, das nur sich selbst denkt. Das prüfende Denken stellt die Alternative zu beiden dar, indem es das eigene Denken über einen Gegenstand prüft. Aristoteles hingegen fällt auf das Partnerdenken zurück und ist aufgrund der dargestellten Strukturgemeinsamkeit durch die Untersuchung des Sokrates miterfasst. Die aristotelische Ethik bietet zwar ein beeindruckendes Bewusstsein der alltäglichen Ethik, diese erscheint aber letztlich bloß als eine Scheinethik, als ein Insichkreisen des menschlichen Egoismus.

IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

A. Überblick In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Grundlegung bzw. GMS)435 will Kant die Grundlage jeder Moral festlegen. Bei seiner Betrachtung geht er einerseits methodisch davon aus, dass das oberste Moralprinzip rein aus Vernunftbegriffen hergeleitet werden muss436, und andererseits inhaltlich, dass das einzig eindeutig Gute der gute Wille ist437. Der gute Wille ist ein Wille, der von der Vernunft bestimmt wird und auf diese Weise der Kultur der Vernunft dient. In der Kultur der Vernunft erkennt Kant den ersten Zweck der Natur und in der Glückseligkeit nur den zweiten438. Die in seinen Augen ungewöhnliche Behauptung, ein guter Wille selbst sei schon gut, will er in drei Schritten beweisen. Im ersten Schritt439 führt Kant von dem alltäglichen Verständnis des sittlichen Handelns zur philosophischen Reflexion hin und stellt dabei fest, dass der gute Wille als pflichtgemäßes Handeln aus Achtung vor dem Gesetz erscheint. Im zweiten Teil440 überschreitet er die allgemeinphilosophische Betrachtung hin zur Metaphysik der Sitten. Er reflektiert den Begriff der Pflicht, indem er ihn aus der reinen praktischen Vernunft deduziert. Als Wesen des guten Willens stellt sich dabei die Autonomie heraus. Der Wille gibt sich also das im Alltag geachtete Gesetz selbst. Im dritten und letzten Schritt441 geht Kant in einer Kritik der praktischen Vernunft zurück zum letzten Grund der Ethik. Er deckt dabei die Bedingung der Möglichkeit der Autonomie auf, die gewissermaßen in der Teilhabe des Menschen an der Verstandeswelt gründet. An dieser von den Gesetzen der Natur unabhängigen Welt hat der Mensch insofern teil, als er ein vernünftiges Wesen ist. Damit stellt sich die Vernunft selbst als der letzte Grund der Sittlichkeit heraus. Kants Gedankengang soll im Folgenden über die skizzierten Stufen hinweg nachvollzogen werden. Anschließend soll auch dieser Gedankengang im Ganzen betrachtet und in sich durchdacht werden. Im Vergleich mit den Konzeptionen von Aristo435 Es wird folgende Textausgabe zugrunde gelegt: Kant, I., Werke in sechs Bänden, Band IV, Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, hrsg. v. W. Weischedel, Darmstadt 2011. 436 Vgl. GMS BA V–X. 437 Vgl. GMS BA1–3. 438 Vgl. GMS BA4–8. 439 Vgl. GMS BA1–24. 440 Vgl. GMS BA25–96. 441 Vgl. GMS BA97–128.

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IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

teles, Sokrates und seinen Gesprächspartnern Charmides bzw. Kritias soll untersucht werden, wodurch sich Kants Idee eines guten Lebens auszeichnet und ob sie ihren Vorgängern überlegen ist. Zunächst sei auch hier der Forschungsstand dargestellt und diskutiert.

B. Forschungsstand 1. Überblick Wie bei einem Denker mit der Reichweite Kants nicht anders zu erwarten, ist das Werk Kants Gegenstand zahlreicher Monographien und Aufsätze442. Entsprechend gilt die Fülle der Forschungsliteratur zu der Philosophie Kants als im Ganzen unüberschaubar. Um trotzdem einen sinnvollen Überblick über die Forschungslandschaft gewinnen zu können, werde ich mich auf die Fragestellungen beschränken, die sich aus meinem Gesamtprojekt ergeben. In dem Zusammenhang mit Kants Konzeption des guten Lebens443 sind zwei Zweige der Kantforschung relevant. Zunächst werde ich die Beiträge direkt zum Glück bzw. zum guten Leben in Kants Philosophie diskutieren. Dieser Forschungszweig greift recht breit auf verschiedene Werke Kants aus seiner praktischen, aber auch theoretischen Philosophie aus. Die beteiligten Forscher bemühen sich darum, einen Gesamtblick zu entwickeln, indem sie Gedanken aus verschiedenen Werken in einen Zusammenhang stellen. Insgesamt betreffen die Überlegungen zu Kants Glücksverständnis das Verhältnis von Pflichtund Wunscherfüllung. Da sich in diesem Verhältnis das zugrunde liegende Verhältnis von Vernunft und Sinnlichkeit in Kants praktischer Philosophie konkretisiert, steht die Frage nach dem Zusammenhang von Vernunft und Sinnlichkeit im Hintergrund dieser Debatte. Andererseits sind im Rahmen meiner Untersuchung die Forschungsbeiträge direkt zur Grundlegung relevant. Hier ist die Forschungslage sehr differenziert444. Es finden Vgl. bspw. die jährliche Bibliographie der Neuerscheinungen zur Philosophie Kants durch die Zeitschrift Kant-Studien der Kant-Gesellschaft und der Kant-Forschungsstelle der JohannesGuttenberg-Universität Mainz. Darin werden jährlich ca. 200 neue Titel verzeichnet. 443 Ob im Zusammenhang mit Kants Philosophie von einem guten Leben gesprochen werden kann, ist nicht ohne weiteres zu beantworten. Schwierig wird diese Bezeichnung, wenn mit dem guten Leben bestimmte, zumeist antike Lebenskonzepte mitgedacht werden. Allerdings ist diese Verknüpfung weder notwendig, noch wird sie in der Forschung eindeutig durchgehalten. Wenn man mit dem guten Leben zunächst nur die Kennzeichnung der Lebenform meint, die innerhalb einer Ethik befürwortet wird, dann kann im Grunde bei jeder ethischen Theorie etwas herausarbeiten, was als ein gutes Leben gilt. In diesem allgemeinen Sinne spreche ich zunächst auch bei Kant von einem guten Leben, um im Verlauf meiner Analyse die spezifische Lebensform herauszuarbeiten, die von Kant präferiert wird. 444 Als Einordnung der Grundlegung in die allgemeine Diskussion ist ein Beitrag von Schnee442

B. Forschungsstand

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sich unzählige Aufsätze zu verschiedenen Einzelaspekten der Argumentation Kants oder auch zu einzelnen Begriffen seiner Ethik. Eine Detaildiskussion hat meines Erachtens allerdings die Schwäche, dass die diskutierten Argumente oder Begriffe aus dem von Kant dafür vorgesehenen Zusammenhang gerissen werden und damit in ihrer Bedeutung für Kants Ethik nicht mehr eindeutig sind. Ohne eine Bezugnahme auf den von Kant hergestellten Zusammenhang sind die Forscher gezwungen einen eigenen Zusammenhang herzustellen, aus dem heraus die Bedeutsamkeit und das Verständnis der Einzelaspekte hervorgehen. Das führt zu einer gewissen Unklarheit des Bezugspunktes, so dass viele Streitpunkte ggf. leichter lösbar wären, wenn dieser Hintergrund des Verständnisses eindeutig und bewusst wäre. Da schließlich Kants Ethik verstanden werden soll, sollte man auch seinen Gesamtzusammenhang zum Verständnis des Einzelnen heranziehen. Auch aus hermeneutischer Sicht setzt die Beantwortung der Einzelfragen das Verständnis des gesamten Textes voraus. Deswegen konzentriere ich mich auf die Beiträge, die den Gesamtgedankengang Kants in der Grundlegung diskutieren. Bei einer solchen Betrachtung der Grundlegung spitzt sich die Diskussion auf die Frage nach der Begründung der Freiheit bzw. der Autonomie zu, da die Freiheit den Schlussstein der kantischen Ethik auszumachen scheint. Die genannten Forschungszweige werden im Folgenden anhand von ausgewählten Beiträgen stellvertretend diskutiert. Da ich bei meiner Untersuchung den Schwerpunkt auf die Grundlegung lege, bespreche ich die Literatur zum Glücksbegriff eher überblicksartig und setze mich anschließend mit der Literatur zur Grundlegung ausführlicher auseinander.

2. Kants Glücksverständnis Kant hält in seinen Werken im Wesentlichen zwei praktische Ziele des Menschen fest: Glück und Tugend. Diese beiden Ziele lassen sich auf eine zweifache Natur des Menschen zurückführen445. Er ist zugleich ein sinnliches und ein vernünftiges Wesen, so dass beide Aspekte eine eigene Möglichkeit der Erfüllung einfordern. Die Sinnlichkeit des Menschen zielt nach Kant auf eine Befriedigung der vielfältigen Bedürfnisse, die wind (2010) interessant. Schneewind reflektiert die Relevanz der Grundlegung im historischen und systematischen Zusammenhang der Moraldiskussion. Historisch sei sie bedeutsam, weil sie einen Wendepunkt in dem Nachdenken über die Moral bzw. Ethik darstellt, indem sie das begründende Moment, das bis dahin in Gott verortet wurde, in das Subjekt verlagert. Systematisch sei sie weiterhin fundamental, weil hier die Schwäche utilitaristischer Begründungsansätze deutlich wird. In der englischsprachigen, utilitaristisch geprägten Moralphilosophie sei das Werk Kants zudem lange Zeit bedeutungslos gewesen, was sich erst seit Rawls geändert habe, so dass hier noch gesonderter Forschungsbedarf herrsche (vgl. Schneewind 2010, S. 239–247). 445 Vgl. GMS BA4–8.

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den Menschen von den Wechselfällen der Umwelt abhängig macht, und die Vernunft auf die Kultivierung und Verwirklichung einer inneren Ordnung und Gesetzmäßigkeit, die den Menschen zu Freiheit und Selbstbestimmung führt. Die vollständige Befriedigung der Bedürfnisse macht das Glück aus. Die Selbstbestimmung durch das Vernunftgesetz entspricht der Tugend. Das menschliche Leben findet dadurch in einem Spannungsfeld zwischen potentiell entgegengesetzten Forderungen statt. Die Forschungsliteratur zu Glück und gutem Leben nach Kant konzentriert sich nun auf die Frage, ob Kant in dem Sinne zu verstehen ist, dass Sinnlichkeit und Vernunft einander widersprechen und sich damit Glück und Tugend ausschließen. Es lassen sich zwei deutlich unterschiedene Ansätze festhalten. Zum einen wird das Glücksverständnis auf die reine Erfüllung von Bedürfnissen446 beschränkt. Damit wird das Gelingen des Lebens den Zufälligkeiten der empirischen Zustände sowohl im Menschen als auch in seiner Umwelt überlassen. Kant nennt zwei Gründe für diese Zufälligkeit. Erstens ist der empirische Inhalt des Glücksstrebens, d. h. die konkreten Wünsche eines Menschen, im Verlauf des Lebens veränderlich. Zweitens ist die empirische Welt keineswegs an menschliche Bedürfnisse angepasst, so dass selbst bekannte Wünsche nicht notwendig erfüllbar sein müssen447. Die Vernunft spielt bei dieser Deutung des Glücks eine rein instrumentelle Rolle. Sie soll möglichst effiziente Wege zur Bedürfnisbefriedigung ersinnen. Die Tugend des Menschen als spezifische Leistung der Vernunft wird dabei dem Glücksstreben des Menschen entgegengestellt, weil Kant das Glück als Motiv für Tugend verbiete448. Hierbei wird allerdings vernachlässigt, dass Kant im höchsten Gut eine Verbindung von Glück und Tugend erhofft449, obwohl das Glück kein Motiv für tugendgemäßes Handeln sein kann. Diese Sicht auf Kants Glücksverständnis scheint mir stark verkürzt zu sein, da er zwar das Glück eindeutig mit den empirisch zufälligen Wünschen des Menschen im Zusammenhang betrachtet450, aber zugleich hinzufügt, dass es die Wünsche eines Bspw. Rosen 2001, Haucke 2002. Vgl. GMS BA1–2, BA45–48; Kritik der praktischen Vernunft (KpV) A224–226. Nach Hinske (2010) nimmt hier Kant eine Einsicht des Sokrates nach Xenophon über die Ambivalenz der Güter und die Unbestimmtheit des Glücksstrebens auf. Auch bei Kant hätte diese Einsicht die Aufgabe, den Menschen von der unreflektierten Hingabe an das vermeintlich bekannte Glück zu befreien und damit für die vernünftige Tugendpflicht erst empfänglich zu machen. Wem dieses reflektierende Innehalten gelinge, der hätte überhaupt erst eine Chance, ein vernünftiges Leben zu führen (vgl. Hinske 2010, S. 145–146). Auch Hinske deutet hier also Glück und Vernunft als potentielle Gegensätze, obwohl er eine Art Übergang von einer sinnlichen Orientierung zur vernünftigen mitdenkt. Einen solchen Übergang kann man aber sowohl als Trennung als auch als Verbindung der beiden Dimensionen verstehen. Welches Verständnis bei Kant angemessen wäre, ist leider nicht Gegenstand von Hinskes Ausführungen. 448 Vgl. bspw. Rosen 2001. 449 Vgl. KpV A214, A234. 450 Vgl. GMS BA 45–48; KpV A45–47. 446 447

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vernünftigen Wesens sind451. Er kann also keine totale Trennung von Vernunft und Sinnlichkeit bei der Bestimmung der Lebensführung gedacht haben. Bei der Frage nach der Glückseligkeit oder allgemeiner bei der Frage nach einer erfüllten menschlichen Existenz scheint Kant vielmehr das Zugleich als das Gegeneinander von Sinnlichkeit und Vernunft zu beschäftigen. Diesem im Gesamtwerk nachvollziehbaren Ringen um das richtige Verhältnis der genannten Dimensionen des Menschseins trägt der andere Forschungsansatz452 zu Kants Glücksbegriff stärker Rechnung. Innerhalb dieses Ansatzes wird nach dem Zusammenhang von Glück und Vernunft gesucht. Es gibt zwei Hauptvarianten, die dabei diskutiert werden. Entweder wird die Reflexion auf den Zustand erfüllter Wünsche als notwendige Glücksbedingung gesehen453. Das ist zwar eine Möglichkeit, das Glücksstreben mit der Vernunft als theoretisches Reflexionsvermögen zu vereinbaren, vernachlässigt allerdings die eigene Leistung der Vernunft als praktisches, handlungsleitendes Vermögen. Der Konflikt zwischen sinnlichen und vernünftigen Handlungsgründen wäre durch die Reflexion des Handelns nicht ausgeräumt. Alternativ werden nur die vernunftgesetzten Wünsche für glücksrelevant erklärt454. Diese Deutung würde in der Tat Sinnlichkeit und Vernunft schon im Handlungsgrund zu vereinbaren versuchen, muss sich aber darüber hinwegsetzen, dass die Vernunft zunächst nur das Gesetz als Handlungsgrund vorschreibt und keine materialen Wünsche enthält. Eine aus der Vernunft selbst stammende Materie der Sittlichkeit wird von Kant sogar explizit als Grenzübertritt abgelehnt455. Eine solche Materie müsste aufgrund von Erfahrungen innerhalb der intelligiblen Welt erkennbar sein, da in diesem Bereich aber nach Kant keine Erfahrung möglich ist, gibt es auch keine Erkenntnis über mögliche Gegenstände. In diesem Zusammenhang gibt es zwar regulative Vernunftideen, diese können aber keine materialen Wünsche vorschreiben, sondern helfen höchstens bei der Entscheidung über die Angemessenheit vorhandener Wünsche. Man kann beide Deutungsvarianten zusammenfassen als einen Versuch, jeweils einen Konfliktpol in den anderen zu integrieren, so dass die Vernunft konstitutiv für das Glück wird. Die Folge dieses Versuchs scheint entweder eine Reduzierung der Rolle der Vernunft für das Handeln oder eine unzulässige Ausweitung ihrer Leistung. Beides wäre keine zufriedenstellende Lösung der Frage nach dem richtigen Verhältnis von Sinnlichkeit und Vernunft bzw. von Glück und Tugend, da sie Kants Anspruch in skizzierter Weise nicht gerecht wird. 451 452 453 454 455

Vgl. KpV A40, A45, A224. Bspw. Pleines 1984, Römpp 1990, Forschner 1994, Himmelmann 2003. Vgl. bspw. Römpp 1990. Vgl. bspw. Forschner 1994. Vgl. GMS BA119.

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Himmelmann (2003) vermeidet solche Vereinseitigungen und verfolgt stattdessen in einer detaillierten und materialreichen Studie die Entwicklung von Kants Glücksbegriff über verschiedene Werkphasen hinweg. Im Verlauf von Himmelmanns Studie entsteht ein sehr differenziertes Bild von Kants Auseinandersetzung mit dem menschlichen Streben nach Bedürfnisbefriedigung, seiner begrifflichen Fassung in der Vernunftidee der Glückseligkeit und der Notwendigkeit von Freiheit bzw. Autonomie. Demnach sieht Kant das Streben nach Lust als natürlich und zum menschlichen Leben gehörend an. Es käme in der Lebensführung schlicht darauf an, den richtigen Umgang mit diesem Streben zu finden. Weder das asketische noch das hedonistische Leben würde dieses Verhältnis treffen, da die Askese dem Menschen auch die Erfüllung der notwendigen Bedürfnisse versagt, das hedonistische Leben aber die Herrschaft über die Bedürfnisse verliert und das Unglück, das aus einem unerfüllbaren Bedürfnis folgen muss, nicht verhindern kann456. Leitend bei dieser Ausbalancierung von vorhandenen und erfüllten Bedürfnissen ist, so Himmelmann, die Vernunftidee von einem Ganzen der Erfüllung eines Lebens – die Idee des Glücks457. Damit kann auch ein Minimum an Bedürfniserfüllung ohne die Einwirkung der Vernunft gar nicht als Glück erfahren werden, da dem Einzelerlebnis ohne Vernunft die Perspektive auf das Lebensganze fehlt. Die Vernunft hätte dann in Bezug auf das Glück eine ähnliche Funktion, wie sie der Verstand bei der Wahrnehmung der Dinge einnimmt. Sie wäre die formale vereinigende Kraft, die die einzelnen Lusterlebnisse unter die Perspektive der gesamten Lebensführung ordnet. Die genuine Leistung der Vernunft im praktischen Bereich wäre damit aber noch nicht verwirklicht. Das oberste und nach Kant einzige uneingeschränkte Gut ist der gute Wille, der allein vom Vernunftgesetz bestimmt wird. Die Gesetzgebung der Vernunft ist als Freiheit oder Autonomie die oberste Bedingung der Moral und auch des Glücks, da es sonst wie alle Güter auch schaden kann458. Himmelmann analysiert Kants Versuch, im Ideal des höchsten Guts Glück und Moral zu verbinden. Sie konstatiert aber schließlich, dass diese Verbindung einerseits stets verlockend für uns Menschen bleibt, aber im Diesseits nicht verwirklicht werden kann. Der Versuch einer Verbindung sei erklärlich, weil es unserem Streben nach einer gerechten Welt entspricht, wenn der tugendhafte Mensch mit Glück belohnt werden würde. Allerdings liege dieser Ausgleich nicht in unserer Hand, da die Bedürfnisse dem Vernunftgesetz eben nicht immer entsprechen459. Aus Himmelmanns Studie erhält man einen sehr guten Eindruck von Kants Glücksbegriff, der sich vorsichtig zusammenfassen ließe als die Erfüllung aller Wün456 457 458 459

Vgl. Himmelmann 2003, S. 172–175. Vgl. Himmelmann 2003, S. 171 f. Vgl. GMS BA1–2. Vgl. Himmelmann 2003, S. 206–208, 211–213.

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sche, die der moralischen Forderung der Vernunft nicht widersprechen und die Verwirklichung der Tugend nicht verhindern. Damit wäre die Forderung der Vernunft bzw. die Tugend das, was der Mensch auf jeden Fall erfüllen muss, und das Glück das, was er sich zusätzlich erfüllen darf. Aufgrund der Vorrangigkeit der Tugend vor dem Glück muss also auch nach Kants Verständnis der Tugend gefragt werden, wenn man sein Konzept des guten menschlichen Lebens verstehen will. Dies soll in der vorliegenden Arbeit in der Auseinandersetzung mit der Grundlegung geschehen.

3. »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« a. Bedeutsamkeit Eine Beschränkung auf die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als Grundlage der Beschäftigung mit Kants Ethik wird gelegentlich als zu kurz gegriffen kritisiert, da sie Kants eigene Umsetzung der in der Grundlegung entwickelten ethischen Fundamente nicht berücksichtige460. Vielmehr müsste auch die Tugendlehre der Metaphysik der Sitten hinzugezogen werden, um die Anwendung des kategorischen Imperativs zu verstehen. Dieser Einwand von Steigleder trifft sicherlich diejenigen Autoren, die sich eben mit jener Anwendbarkeit beschäftigen, aber nicht solche, die sich mit der Begründung des kategorischen Imperativs auseinandersetzen. Bei der Suche nach der Begründung des kategorischen Imperativs und mit diesem auch der gesamten Ethik Kants ist die Beschränkung auf die Grundlegung durchaus legitim. Denn, wie der Titel schon hinweist, entwickelt Kant eben in der Grundlegung die Basis seiner Ethik, die er im Folgenden voraussetzt. Kaulbach (1988) bspw. bezeichnet die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten als »die Grundlegung zur Grundlegung« der Ethik Kants461. Mit der zweiten Grundlegung ist dabei die Kritik der praktischen Vernunft gemeint, die Kants eigentlicher Metaphysik der Sitten vorausgeht. Die Grundlegung selbst ist auch von Kant in seiner Vorrede als »die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität«462 bezeichnet worden. Fragen der Anwendung des kategorischen Imperativs ebenso wie der Herleitung einzelnen Pflichten gegen sich und andere sind aber erst dann sinnvoll zu bearbeiten, wenn das ethische Prinzip selbst schon verstanden ist. Im Zusammenhang meiner Untersuchung soll das Verständnis der Grundlagen erarbeitet werden, sodass ich mich auch bei der Diskussion des Forschungsstands auf Beiträge zu den Grundlagen der kantischen Ethik beschränke und mögliche Fragen der Anwendung zurückstelle. 460 461 462

Vgl. bspw. Steigleder 2002, S. XI–XII. Vgl. Kaulbach 1988, S. 2. GMS BA XV.

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Trotz der quantitativen Fülle an Arbeiten zur Ethik Kants finden sich eher wenige Beiträge, die sich tatsächlich auf die Grundlegung selbst konzentrieren und den gesamten Gedankengang der Grundlegung betrachten, ohne eine Leseanleitung für den Anfänger zu sein463. Die verbreitete Herangehensweise besteht eher in einer Art synoptischen Betrachtung von Textstellen aus unterschiedlichen Werken Kants, die vordergründig dasselbe Thema behandeln. Schönecker (1999) moniert, dass die entsprechenden Forscher bei diesem Vorgehen darauf verzichten, den jeweiligen Text gründlich zu lesen, und stattdessen das Verständnis vorschnell unterstellen464. Diesen Missstand will er in seiner Untersuchung beheben. Es soll ihm allein darum gehen, »die Bedeutung des Textes besonders von GMS III zu erfassen«465. Bemerkenswerterweise begeht Schönecker selbst zwar nicht den Fehler des vorschnellen Urteilens, sondern arbeitet sehr detailliert und textnah eine Vielzahl von Argumenten heraus. Aber er bedient sich neben der Grundlegung so vieler anderer Texte Kants, dass es selbst bei einer sehr genau mitdenkenden Lektüre, wie Schönecker sie vom Leser verlangt, nur schwer fällt, den Gedankengang Kants in der Grundlegung zu erfassen. Das Ziel seiner Abhandlung, die Deduktion des kategorischen Imperativs in dem dritten Teil der Grundlegung zu klären, meint Schönecker damit im Grunde nicht aus der Grundlegung selbst erreichen zu können. Trotz der hermeneutischen Unstimmigkeit466 macht Schönecker die Fragestellung deutlich, die sowohl Kant in der Grundlegung als auch die Kantforscher in diesem Werk für die schwierigste halten. Es ist die Frage nach der Begründung der Autonomie bzw. der Freiheit. In diesem Punkt scheiden sich die Geister. Die Deutungen 463 Guyer (2007) hat bspw. einen solchen Kommentar in Form einer Mischung aus Textwiedergabe und Fragen zur vertiefenden Lektüre herausgegeben, der in der Tat eine Hilfe für einen ungeübten Leser ist. Die in der Einleitung vorangestellte Deutung der Grundlegung reduziert sich dabei auf die These, die Autonomie sei die Bedingung, unter der die Menschen als Einzelne und als Gesellschaft ihre Handlungs- und Wahlfreiheit bewahren könnten. Die Imperative stellten lediglich die Mittel der Umsetzung einer solchen Autonomie dar (vgl. Guyer 2007, S. 11). Die für Kant so bedeutsame Frage nach der Freiheit selbst bleibt unberücksichtigt. 464 Vgl. Schönecker 1999, S. 18–21. 465 Schönecker 1999, S. 19. 466 Inhaltlich wertet Schönecker viele Textstellen zu bedeutsamen Begriffen aus, wie bzw. zu Freiheit und Determinismus (vgl. Schönecker 1999, S. 208–233), zur Selbsterkenntnis als intelligibles Wesen (vgl. ebd. S. 233–295), zur Einheit des denkenden und wollenden Subjekts (vgl. ebd. S. 295–309) u. ä. m.. Die Fruchtbarkeit dieser Überlegungen für die Argumentation in der Grundlegung scheint allerdings gering zu sein. Sein Fazit besteht darin, dass Kant die Gültigkeit des kategorischen Imperativs durch die Behauptung beweist, dass der Mensch als Teil der intelligiblen Welt das Sittengesetz wolle und da diese Ebene der Sinnlichkeit übergeordnet sei, er auch als Wesen beider Welten diesem Gesetz vor dem Gesetz der Sinnenwelt verpflichtet sei. Letzteres sei die »ontoethische Grundthese« Kants, die seiner sonst so strikten Trennung von Erscheinung und Ding an sich eklatant widerspreche (vgl. ebd. S. 411–412). Schönecker macht allerdings keinen Gebrauch von seinen vorhergehenden Analysen mithilfe anderer Werke Kants, um diese Feststellung zu erklären oder gar einen möglicherweise bestehenden Widerspruch aufzulösen.

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reichen von einer Verteidigung Kants467 über eine Kritik bei grundsätzlicher Zustimmung468 bis zu einer grundsätzlichen Kritik469. Da diese Fragestellung auch von Kant selbst für zentral gehalten wird, werde ich mich bei der Diskussion des Forschungsstands auf dieses Problem konzentrieren und damit den Kreis der besprochenen Literatur nochmals stark einschränken. Das diskutierte Begründungsproblem lässt sich folgendermaßen zusammenfassen.

b. Das Begründungsproblem einer Ethik der Autonomie In den ersten beiden Teilen der Grundlegung führt Kant die alltäglichen Moralbegriffe zurück auf ihre impliziten Voraussetzungen. Die Grundlage dieser Analyse stellt die »gemeine sittliche Vernunfterkenntnis«470 oder anders formuliert die Alltagsvorstellung der Sittlichkeit dar. In der Alltagspraxis wird nach Kant das pflichtgemäße Handeln von allen Menschen als gut angesehen. Die Begründung dieser Wertschätzung der Pflichterfüllung liegt, so Kant, in der Achtung des Sittengesetzes. Dieses wiederum wird dem Menschen durch so genannte Imperative vermittelt, die seinen handlungsleitenden Willen daran erinnern, dass er sich nicht von sinnlichen Neigungen, sondern von den vernünftigen Gesetzen bestimmen lassen soll. Diese Notwendigkeit, sich zwischen zwei Arten von Handlungsgründen zu entscheiden, setzt allerdings voraus, dass der Wille selbstbestimmt, oder mit Kant gesprochen, autonom ist. Die Autonomie des Willens zeigt sich nach Kants eingehender Analyse des alltäglichen Begriffs der Sittlichkeit als dessen letzte Voraussetzung. Zugleich konstatiert Kant, dass es bisher keinen Beweis dafür gibt, dass diese Voraussetzung gerechtfertigt ist und damit tatsächlich den letzten Grund eines sittlichen, guten Lebens darstellt. Nach einer solchen Rechtfertigung zu suchen, ist das erklärte Ziel des dritten und letzten Teils von Kants Grundlegung.

Bspw. Kaulbach 1988, O’Neill 1989, Gerhardt 2002, Steigleder 2002. Bspw. Prauss 1983, Wenzel 1992, Schönecker 1999, Henrich 2001. 469 Bspw. MacIntyre 1995. Die von MacIntyre erneut vorgebrachte Kritik wurde schon sehr viel früher von Schopenhauer in seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral (Hamburg 2007) erhoben. Die Kritik besteht im Grunde in dem Vorwurf, Kant hätte die traditionelle theologisch begründete Moral beibehalten wollen, ohne die traditionelle Begründung explizit zu übernehmen. Dieser Verzicht führe zunächst zum Formalismus und in dessen Folge zum Scheitern des kantischen Projekts einer autonomen Ethik. Zu der Reichweite dieser speziellen Kantkritik wurde bspw. von Mendonça (1993) vorgebracht, dass bei Kant das Subjekt bzw. der Mensch als Zweck an sich selbst die Position des begründenden Gottes einnimmt, so dass der Formalismusvorwurf zunächst zu kurz greift. Inwieweit die Ethik Kants durch eine Vergöttlichung des Menschen begründet werden kann, ist allerdings eine im Weiteren zu untersuchende Frage. 470 Vgl. die Überschrift des ersten Teils der GMS. 467 468

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Das entstehende Begründungsproblem bezeichnet Kant selbst als »eine Art von Zirkel«471. Denn, um die Autonomie des Willens nachzuweisen, führt Kant den Begriff der Freiheit als eine eigene, vom Naturgesetz unabhängige Form der Kausalität vernünftiger Wesen ein472. Da diese Kausalität sowohl praktisch als auch gesetzartig aufgefasst wird, zeigt sich, dass Freiheit und Autonomie des Willens »Wechselbegriffe« sind und deswegen einer den anderen nicht erklärt473. Man müsse die Freiheit des Willens unterstellen, um ihn als sittlich autonom denken zu können. Zugleich setze die Freiheit eine praktische Gesetzlichkeit, d. h. Autonomie voraus. Diesen scheinbar fatalen Zirkel versucht Kant in einem Neuansatz am Verhältnis von Dingen als Erscheinungen und als Dinge an sich aufzulösen. Ob und inwiefern dieser Versuch gelingt, ist Gegenstand der Forschungsdiskussion.

c. Kants Lösung in der Diskussion Viele Forscher sehen in Kants Ethik etwas revolutionär Neues, eine so genannte »kopernikanische Wendung« in der praktischen Philosophie474. Laut Kaulbach besteht diese grundlegende Wende in dem Verhältnis Kants zum Guten. In den philosophischen Ethiken vor Kant bestimmte das Gute als Gegenstand des Wollens und Handelns über die Qualität von beiden. Anders formuliert galt nur solches Handeln oder Wollen als gut, das auf das Gute zielte. Dieses Verhältnis kehrt Kant um. Er erklärt, dass einzig die Art des Wollens und nicht der Gegenstand des Wollens darüber entscheidet, ob etwas Gutes angestrebt wird475. Eine Ethik, die diesem Perspektivenwechsel gerecht wird, bedarf eines neuen Fundaments, das Kant eben in der Grundlegung entwickle. Um dieses Projekt Kants verstehen zu können, müssen so Kaulbach zwei Punkte festgehalten werden. Der erste Punkt betrifft die Ausgangsvoraussetzung der kantischen Untersuchung und der zweite die Bedeutung der Denkbewegung der Grundlegung im Ganzen. Zum einen gehe Kant in seiner Untersuchung von dem »schon immer geführte[n] moralische[n] Leben des ›rechtschaffenen‹ Menschen [aus], dessen ›gemeines‹ sittliches Urteil das Sittengesetz als Maßstab für seine Willensentscheidungen fest im Auge hat. Metaphysik der Sitten macht es sich zur Aufgabe, die Handlungswelt zu kennzeichnen, die dieses Bewusstsein in der geschichtlichen Wirklichkeit des moralischen Lebens schon immer vergegenwärtigt hat«476. Wenn man diesen Ausgangs471 472 473 474 475 476

GMS BA104. Vgl. GMS BA97. Vgl. GMS BA101–104. Vgl. Kaulbach 1988, S. 5. Vgl. Kaulbach 1988, S. 17–31. Kaulbach 1988, S. 14.

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punkt der Überlegungen Kants ernst nehme, dann werde deutlich, dass seine Frage nach der Möglichkeit der Autonomie die Wirklichkeit, d. h. die existentielle Umsetzung, schon unterstelle und ausschließlich nach der Denkmöglichkeit, d. h. nach der Begründung dieser Gesetzgebung frage. Die aus dieser Frage resultierende Ethik hat damit rein reflektorischen, abbildenden Charakter. Sie mag revolutionär in der Reflektionsrichtung sein, die reflektierte Wirklichkeit aber ist ebenso wie schon bei Aristoteles die gute Alltagspraxis. Zum anderen ist nach Kaulbach ein richtiges Verständnis von Kants Darstellung in »Übergängen« notwendig. »Denn im Übergang, den Kant hier jedes Mal vollzieht, geschieht nicht nur eine logische Bewegung, sondern jeweils ein Schritt von einem Stand des Denkens zu einem anderen. In den beiden ersten Abschnitten wird der Über-schritt vom Stand wirklicher, geschichtlich vollzogener Denk- und Willensgestalten des praktischen Bewusstseins zu demjenigen geleistet, von dem aus deren Ursprung in den Blick tritt: Dazu muss der Philosophierende selbst die Grundhandlung der Einnahme des Standes autonomer Gesetzgebung vollziehen. Entsprechendes ist auch zu dem Übergang des letzten Abschnittes zu sagen, der von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft geschieht«477. Kaulbachs Hauptthese zur Deutung dieses letzten Übergangs in der Grundlegung beinhaltet, dass in diesem Abschnitt das Denken dazu gebraucht wird, um die Welt der Autonomie im metaphysischen Denken aufzubauen. Der dritte Abschnitt ist »als eine Handlung des philosophischen Denkens zu begreifen […], durch welche dieses den Schritt vom Stand des ›ich soll‹ zu demjenigen des ›ich will‹ vollzieht«478. Damit wird dieser Abschnitt nicht als eine bloße Theorie über Ethik aufgefasst, sondern zugleich selbst als eine ethische Handlung, als Vollzug des reflektierten ethischen Denkens verstanden. Zusammen mit dem ersten Punkt, der die gelungene Alltagspraxis zur Voraussetzung der Grundlegung macht, müsste man bei dieser Deutung die Grundlegung im Ganzen als die Vorführung einer Rückkehr des sittlichen Denkens zu sich selbst lesen. Wobei Kant bei dem naiven, seiner selbst nicht bewussten sittlichen Denken anfinge und sich stufenweise zu dem sittlichen Selbstbewusstsein vorarbeiten würde. Kaulbach deutet die Grundlegung im Folgenden unter diesem Vorzeichen. Im ersten Abschnitt werde demnach ein grundlegender Perspektivenwechsel vollzogen, so dass im Weiteren die ganze Welt unter der Perspektive des guten Willens gedacht werde479. Im zweiten Abschnitt werde diese Perspektive selbst auf ihre Grundlagen hin befragt, so dass sich das richtige Selbstverhältnis der praktischen Vernunft als die eigentliche sittliche Handlung herausstelle480. Dieses Selbstverhältnis bestehe in 477 478 479 480

Kaulbach 1988, S. 16. Kaulbach 1988, S. 16. Vgl. Kaulbach 1988, S. 17–31. Vgl. Kaulbach 1988, S. 37–119.

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der »Grundhandlung des Ein-nehmens des Standes des Gesetzgebers«481. Wenn nun diese Grundhandlung den Kern der Sittlichkeit darstellt und der Philosophierende diese selbst vollziehen muss, dann müsste dieser Vollzug im dritten Abschnitt der Grundlegung von Kant vorgeführt und von Kaulbach in der Interpretation nachvollzogen werden. Das oben kurz beschriebene Begründungsproblem fasst Kaulbach zunächst als zwei Perspektiven des menschlichen Willens482. Auf diese Weise könne sich der Mensch zugleich als Gesetzgeber und Untergebener ansehen. Um diese Zweiheit zu verstehen, sei die Unterscheidung zwischen dem Ding an sich und dem Ding als Erscheinung notwendig. Diese Unterscheidung verdeutliche die Perspektiven der Selbstbetrachtung. Der Mensch könne sich entweder als Angehöriger der Sinnenwelt und damit als Untergebener betrachten, oder aber als Angehöriger der Verstandeswelt und damit als Gesetzgeber auffassen. Die Ethik Kants sei dann als eine »dialogische Auseinandersetzung« dieser Perspektiven zu verstehen. »Dadurch wird der Weg zur Synthese und Einheit beider Perspektiven geebnet. Die Situation des Menschen als eines Wesens wird in dieser Synthese erkennbar, welches aus dem Zustand des den sinnlich-natürlichen Motiven Ausgesetztseins in denjenigen der Entscheidung für die Vernunftgesetzgebung übergeht; das geschieht durch die Grundhandlung der Einnahme des Standes des Selbstgesetzgebers«483. Der Übergang des Denkens von der sinnlichen zur vernünftigen Perspektive scheint also dem sittlichen Grundhandeln zu entsprechen484. Kaulbach skizziert einen Dreischritt dieses Übergangs. Erstens noch in der Perspektive der Sinnenwelt bzw. Erscheinungswelt werde der Mensch sich selbst zum Objekt. Dieses naturalistische Bild seiner selbst verweise über sich hinaus, so dass der kritische Philosoph im zweiten Schritt die durchscheinende Perspektive der Vernunftwelt bewusst mache. In dieser zeige sich dem Mensch im dritten Schritt ein Bild seiner selbst, so wie er an sich beschaffen sei. In dieser Phase sei der Mensch Objekt und Subjekt zugleich485. Das Bewusstsein dieser Identität könnte man vielleicht als einen vierten Schritt betrachten, in dem man endlich den Stand des Gesetzgebers erreicht. Kaulbach aber fasst die Aufgabe des Philosophen anschließend auf folgende Art zusammen. »Als philosophierender Mensch muss er der Bewegung gedanklich folgen, die er als praktischer Mensch schon vollzogen hat: Sie besteht in der Grundhandlung des Übergangs vom Stand einer naturhaften, heteronomen Verfassung zu demjenigen seines praktischen Selbst-seins«486. Damit ist die gedankliche Bewegung bloß eine Bewusstwerdung des schon erfolgten Über481 482 483 484 485 486

Kaulbach 1988, S. 100. Vgl. Kaulbach 1988, S. 130–131. Kaulbach 1988, S. 132. Dazu auch Kaulbach 1988, S. 134–136. Vgl. Kaulbach 1988, S. 135. Kaulbach 1988, S. 136.

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gangs und kein Weg, um den erforderlichen Stand des Gesetzgebers zu erreichen. Der Übergang als Grundhandlung wird von Kaulbach denn auch explizit von einer bloßen Vorstellung verschiedener Perspektiven unterschieden487 und auch der Maximenprüfung zugrunde gelegt488. Der Übergang selbst bleibt eine ungeklärte Voraussetzung. Der Philosoph kann ihn höchstens im Nachhinein begreiflich machen. Aber auch diesem Begreifen scheinen prinzipielle Grenzen gesetzt zu sein. Man kann diesen Übergang und mit ihm die Perspektive der Vernunftwelt nach Kaulbach nicht Erkennen, sondern nur Denken489. Denn Erkenntnis bedürfe immer eines Objektbezuges und ein solcher sei im Kantischen System nur bei sinnlichen Gegenständen möglich. Da die Perspektive der Vernunftwelt natürlich nicht sinnlich erfahrbar sei, könne sie nicht erkannt werden. »Hier ist keine theoretische Erkenntnis möglich: Vielmehr ist die Voraussetzung des Denkens dieser Welt das vorgängige, durch einen Denkakt zu vollziehende Sich-versetzen in diese Welt und ihre Gesetzgebung. […] Die spekulativen Überlegungen über diese Welt in der Metaphysik der Sitten geschehen in der Perspektive, welche durch das ›praktische‹ Stand-nehmen des Denkenden und Sprechenden in Geltung gesetzt wurde. Durch dieses Standnehmen hat sich das Denken über die Situation des Subjekt-Objekt-Verhältnisses der theoretischen Vernunft hinweggesetzt und sich den Stand des praktischen Gesetzgebers gegeben«490. Aus diesem Stand der Gleichsetzung von Subjekt und Objekt erkenne sich der Mensch als eigentliches Selbst491. Innerhalb der Deutung von Kaulbach erscheint es nun so, als ob diese Perspektive in eigentlicher Weise nur erreicht werden kann, wenn der sittliche Übergang schon vollzogen wurde. Das philosophische Nachdenken kann diesen Übergang aber weder herbeiführen noch erkennen. Welche Rolle spielt dann dieses Nachdenken für die eigene Lebensführung? Was wird dann durch Kants Grundlegung für die existentielle Frage des Einzelnen nach der sittlichen, guten Lebensführung erreicht? Kaulbachs Interpretation führt immer wieder auf die alles begründende Grundhandlung zurück492. Die kritische Philosophie mache diese Voraussetzung und ihre Vgl. Kaulbach 1988, S. 148. Vgl. Kaulbach 1988, S. 149. 489 Vgl. Kaulbach 1988, S. 158. 490 Kaulbach 1988, S. 163–164. 491 Vgl. Kaulbach 1988, S. 164. 492 Eine ganz ähnliche Deutung von Kants Begründung der Freiheit bzw. der Autonomie bietet O’Neill (1989) an. Er betont, dass ein gänzlich neuer Standpunkt notwendig ist, um aus dem Begründungszirkel hinauszutreten. Die kritische Philosophie müsse deutlich machen, wie wir einen solchen Standpunkt erreichen können (vgl. O’Neill 1989, S. 55–56). In seiner Deutung stellt der kategorische Imperativ als das Prinzip der Gesetzlichkeit selbst diesen Standpunkt dar, so dass nicht seine Gültigkeit bewiesen werden muss, sondern es ausreicht aufzuzeigen, dass die Autorität der Vernunft auf Autonomie beruht (vgl. ebd. S. 59, 64). Damit ist die Autonomie auch in dieser Deutung die erste bzw. letzte Voraussetzung, die selbst nicht mehr begründbar ist, aber alles Weitere begründen soll. 487 488

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IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

Notwendigkeit für eine praktische Selbstbestimmung bewusst. Die praktische Vernunft »entwirft die Perspektive der Verstandeswelt als eine ›brauchbare‹ Idee: brauchbar nämlich, um einen ›Glauben‹ des handelnden Menschen an Gesetz und Freiheit zu begründen […]. Dieser Glaube nämlich, der uns über die ›Verstandeswelt‹ dort Gewissheit gibt, wo das ›Wissen‹ ein Ende hat, macht es uns durch das ›herrliche Ideal‹ eines allgemeinen Reiches der Zwecke gewiss, dass wir zu ihm gehören können, wenn wir uns ›nach Maximen der Freiheit, als ob sie Gesetze der Natur wären, sorgfältig verhalten‹. […] Es gibt auch ein Verstehen auf der Basis des Glaubens. Nur ist dessen Gewissheit subjektiver, nicht objektiver Art. […] [Sie] beruht nicht auf objektiver Erkenntnis und sachlicher Begründung, sondern auf der Einsicht in die Notwendigkeit dieser ›Idee‹ bzw. ihrer Perspektive für mich«493. Da die Vernunft zwar das Unbedingt-Notwendige suche, es aber nicht begründen und damit auch nicht begreifen könne, muss sie es voraussetzen. Anders könne sie die Überzeugung des Handelnden, das Gesetz sei absolut notwendig, nicht erfassen. Diese Überzeugung sei dem Handelnden aber aufgrund seiner Selbsterfahrung in dem vernunftgewirkten Gefühl der Achtung gegeben494. Die Grundlegung könne demnach als eine Art Selbstvergewisserung des Handelnden verstanden werden, die ihn vor falschem Denken oder sonstigen Angriffen schützen soll. Ein Mensch, der von der Richtigkeit seiner Praxis nicht überzeugt ist und sich erst fragt, wie er handeln und leben soll, gewinnt allerdings keine Grundlage der Sittlichkeit durch die Lektüre der Grundlegung, so wie Kaulbach sie deutet. Denn der Unsichere erfährt zwar, dass die sittliche Grundhandlung des Übergangs die notwendige Voraussetzung der Sittlichkeit ist, aber er lernt den Vollzug dieses Übergangs nicht. Die Schwachstelle scheint in der Unterstellung einer guten Alltagspraxis oder zumindest in einem Alltagswissen über eine gute Alltagspraxis zu liegen, so dass eine Reflexion auf deren Bedingungen zu einer begründeten Ethik führen könnte. Wenn man diese Voraussetzung teilt, dann ist es im Grunde gar nicht notwendig, den Übergang zum Standpunkt des Gesetzgebers vorzuführen, weil seine gelungene Wirklichkeit letztlich den Kern der anfänglichen Voraussetzung darstellt. Allerdings würde dann der von Kant selbst angemahnte Begründungszirkel unaufgelöst bleiben. Es wird deswegen in der Auseinandersetzung mit Kants Text zu prüfen seien, ob der Übergang zum Standpunkt des Gesetzgebers unproblematisch vorausgesetzt werden kann, ohne dass Begründungsschwierigkeiten entstehen. Ob also die von Kaulbach betonte Grundhandlung den letzten Kern der Ethik Kants darstellt oder ob Kant in der Vernunft selbst eine andere unproblematischere Begründung der Autonomie findet, soll im Nachvollzug der Grundlegung untersucht werden.

493 494

Kaulbach 1988, S. 189–190. Vgl. Kaulbach 1988, S. 191–192.

B. Forschungsstand

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Neben den Autoren, die Kants Ethik unter dem Vorzeichen seiner großen Leistung erklären wollen, findet sich eine Fülle von Autoren, die seine Größe grundsätzlich anerkennen, aber trotzdem verschiedene mehr oder weniger wesentliche Punkte in Kants Ethik in Frage stellen. Diese Forscher sehen in Kants kritischer Philosophie zwar grundsätzlich einen wichtigen Schritt und Neuansatz innerhalb der Ideengeschichte, sind aber von der Ausführung im Einzelnen oder in ihrer Konsequenz nicht überzeugt. Die Vertreter dieser Kritikart wenden sich gegen den landläufigen Formalismusvorwurf, der kategorische Imperativ sei als das Prinzip zur Beurteilung der Maximen und letztlich des Guten selbst leer und könne zur Rechtfertigung von beliebigen Zielen dienen, der schon fast traditionell gegen Kants Ethik erhoben wird. Dieser Vorwurf wird laut Henrich (2001) oder auch Mendonça (1993) schon seit Hegel und Schopenhauer gegen Kants Ethik vorgebracht und ebenso lange werden Gegenargumente zur Verteidigung Kants vorgetragen. Die Gegenargumente zielen im Großen und Ganzen darauf ab, dass der kategorische Imperativ nur vor dem Hintergrund des autonomen Subjekts gedacht wird und damit bloß die äußere Schicht von Kants Ethik darstellt495. Diese Debatte wurde schon vielfach nachgezeichnet, so dass ich es bei dem Verweis auf andere Autoren belasse und mich, wie schon angekündigt, auf die Frage nach der Begründung der Autonomie konzentriere. Da die Autonomie dem kategorischen Imperativ zugrunde liegen soll, erübrigt sich die Diskussion seiner Formalität, wenn seine Voraussetzung sich als unbegründet erweisen sollte. Zu den genannten gemäßigten Kritikern Kants, die ihm grundsätzlich zustimmen, gehört auch Wenzel (1992). Er deutet Kants Ethik im Anschluss an Spaemann als eine Inversion der traditionellen Teleologie. »Kants Lehre besteht, kurz gesagt, darin, Teleologie in ein formales Selbstverhältnis des Willens zu überführen, das alle materialen Zweckbeziehungen apriorisch bestimmt, ohne seinerseits von einem außer ihm Gelegenen – sei es Zweck, sei es Zwang – zu dependieren«496. Der zentrale Gedanke der Grundlegung besteht dabei nach Wenzel in der Idee Kants, ein vernünftiges Wesen sei ein Zweck an sich selbst. Dieser innere Selbstzweck ist der Zweck aller anderen Zwecke, so dass die aristotelische Teleologie von Kant nicht grundsätzlich abgelehnt, sondern auf ihre eigentliche Begründung im Subjekt zurückgeführt wird497. Die Rückführung in der Grundlegung nach einer analytisch-regressiven Methode lasse die Züge einer Phänomenologie des sich selbst aufklärenden Bewusstseins erkennen498. In seiner Interpretation zeichnet Wenzel die Etappen dieser Inversion nach. Im ersten Übergang der Grundlegung werde von Kant die Auflösung der sittlichen Grundbegriffe in der natürlichen Sittlichkeit der Alltagspraxis aufgebrochen, um sie 495 496 497 498

Vgl. bspw. Illies 2001. Wenzel 1992, S. 87. Vgl. Wenzel 1992, S. 90–93. Vlg. Wenzel 1992, S. 101.

188

IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

für die kritisch-philosophische Betrachtung zu gewinnen. Dieser Abschnitt ist also in erster Linie destruktiv und bereitet die eigentliche konstruktive Leistung vor499. In diesem Abschnitt werden bloß die Schwierigkeiten einer naturbegründeten Ethik aufgezeigt, um die eigentlich richtigen Begriffe, wie Pflicht, Gesetzesachtung und guter Wille, einer neuer Begründung unterziehen zu können. Im zweiten Übergang der Grundlegung geschieht etwas Ähnliches. Hier wird allerdings nicht die sittliche Praxis zum Ausgangspunkt der Kritik gewählt, sondern die populäre Moralphilosophie, also die schon vorhandenen Begründungsversuche der gelebten Sittlichkeit. Der handlungsleitende Wille wird in diesem Schritt durch Abstraktion von allen materialen Zwecken und im vollständigen reflexiven Selbstbezug von den falschen Ansätzen gereinigt und zu seiner autonom-moralischen Form geführt. Da der Wille als Vermögen, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln, gedacht wird, wird ihm in dieser vollständigen Selbstreflexion die Gesetzlichkeit als die ihn bestimmende Form und als oberste Bedingung aller Zwecke bewusst500. Zugleich kann von der intentional-teleologischen Struktur des Willens nicht abstrahiert werden, so dass er mangels Alternativen die eigene Form zum Inhalt seines Wollens erheben muss und also sich selbst will. Damit ist die Inversion des Telos vollzogen501. Diese Veränderung wirkt sich auf das Verständnis und die Funktion der Vernunft aus, die als praktische Vernunft von Kant mit dem Willen gleichgesetzt wird. »Teleologie wird transformiert in Autonomie [Hervorhebung im Original], die das Telos vernehmende in eine das Gesetz der Zwecksetzung sich selbst gebende Vernunft «502. Der dritte Übergang schreitet zu einer Kritik des Subjekts fort, die als Kritik der reinen praktischen Vernunft die Möglichkeit der Autonomie aufzeigen soll. In dem Prozess der Kritik wird sich die Vernunft ihrer selbst als Urheberin der Prinzipien und als Vermögen der Autonomie bewusst, so dass sie dem theoretischen und dem praktischen Vernunftgebrauch zugrunde liegen muss und damit ihre Verbindung darstellt. In ihr selbst wäre dann der Gegensatz von Naturgesetz und Gesetz der Freiheit aufgehoben. Diese Feststellung wird, so Wenzel, mit einer ontologischen These verbunden, die eine Art Natur der Vernunft als Wesen einer intelligiblen Welt unterstellt und dadurch Sinnen- und Verstandeswelt in reiner Spontaneität verbindet503. Diese ontologische These widerspricht nach Wenzel nicht nur der Kritik der reinen Vernunft, sondern »unterminiert zudem und allerdings den Anspruch, die moralische Verbindlichkeit des kategorischen Imperativs als Selbstgesetzgebung und Selbstbindung zu legitimieren«504. »Die Erkenntnis der Autonomie des Willens würde infolgedessen 499 500 501 502 503 504

Vgl. Wenzel 1992, S. 119–121. Vgl. Wenzel 1992, S. 125–127. Vgl. Wenzel 1992, S. 130–132. Wenzel 1992, S. 133. Vgl. Wenzel 1992, S. 168–189. Wenzel 1992, S. 193.

B. Forschungsstand

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günstigenfalls zur Anerkennung depotenziert. Schlimmerenfalls würde der intelligible Charakter der Welt und der Synthesis von Selbst und sittlichem Sein anonymisiert«505. Die These Kants, der Mensch sei als Vernunft bzw. als intelligibles Wesen das eigentliche Selbst und als Mensch bloße Erscheinung seiner selbst, kann nach Wenzel als Entmündigung und auch Entsittlichung verstanden werden. Mithilfe dieser These wird die Pflicht zu einer bloßen Entfaltung dieses Wesens degradiert, so dass alle freiwilligen Entscheidungen zu Scheinentscheidungen werden506. Der transzendentalphilosophische Entwurf des Subjekts als Intelligenz scheint auf das unerkennbare, intelligible Substrat überzugreifen, so dass die Kausalität der Vernunft gegenüber der Sinnenwelt zwar vorausgesetzt werden muss, aber nicht nachgewiesen werden kann. Diese Problemlage führt zu einer Vergöttlichung des Subjekts, da seine Funktion als der Grund der Welt und der Sittlichkeit und sein Erkenntnisstatus sich dem Göttlichen stark annähern507. Den Grund für diese Überschreitung der von Kant selbst aufgedeckten Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten sieht Wenzel in dem enormen Begründungsanspruch, den Kant der Vernunft aufgeladen habe, indem er das letzte Unbedingt-Notwendige zur Grundlage des praktischen Weltverhältnisses machen wollte. Da das UnbedingtNotwendige nicht erkennbar sei, muss die Vernunft Voraussetzungen treffen, die sie eben nicht beweisen kann. Eine solche Voraussetzung stellt das subjektimmanente Absolute dar. Es erweckt nämlich das unbegründete Vertrauen auf eine ontologische Weltordnung, die den Menschen von der Selbstbindung entlastet und eine Art sittlichen Determinismus ermöglicht508. Damit würde sich Kants Versuch, die Autonomie des Menschen nachzuweisen, in sein Gegenteil umkehren und seine Heteronomie begründen. Es bleibt bei Wenzels Deutung des intelligiblen Wesens des Menschen allerdings zu fragen, ob er nicht den Fehler begeht, zu dem nach Kant der Alltagsverstand neigt509, und das Subjekt hinter der Erscheinung doch sinnlich als ein unsichtbares Ding denkt510. In einem solchen Fall wäre die gesamte Kritik hinfällig, da ohne eine solche Versinnlichung des Subjekts keine ontologische These vorliegen würde. Die Frage, ob und wie das Subjekt die Rolle des Absoluten für das praktische Weltverhältnis erfüllen kann, ohne dass das gesamte System in Heteronomie umschlägt, Wenzel 1992, S. 194. Vgl. Wenzel 1992, S. 194–196. 507 Vgl. Wenzel 1992, S. 200–203. 508 Vgl. Wenzel 1992, S. 206–207. 509 Vgl. GMS BA107. 510 Für diesen Verdacht spricht Wenzels eigener Vorschlag, die Autonomie aus dem Menschen als Zweck an sich selbst zu begründen (vgl. Wenzel 1992, S. 235–298). Dieser Vorschlag ist sehr interessant und beachtenswert, kann aber im Rahmen meiner Arbeit nicht eigenständig diskutiert werden. 505 506

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IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

muss an Kant aber auch ohne eine Versinnlichung des Selbst gestellt werden. Traditionell war das Subjekt schließlich das Bedürftige, das sich von etwas Absoluten erfüllen lassen wollte. Dieses wird von Kant aufgehoben. Das Subjekt soll einerseits der bedürftige, endliche Mensch bleiben, aber zugleich in sich eine moralische Fülle tragen, die ein externes Absolutes unnötig macht. Diese Gleichzeitigkeit von Mangel und Fülle bleibt erklärungsbedürftig. Deswegen werde ich der Frage nach dem Verständnis des vernünftigen Subjekts einerseits und nach seiner begründenden Funktion als das Unbedingt-Notwendige andererseits in meiner Untersuchung der Grundlegung nachgehen müssen.

d. Das autonome Subjekt In der Auseinandersetzung mit der Forschungsdiskussion wird deutlich, dass die entscheidende Begründungsfunktion in Kants Autonomie-Ethik dem Subjekt zugeschrieben wird. In dem Subjekt, das wesentlich als Vernunft und nur in der Erscheinung auch sinnlich verstanden wird, soll die schwierige Einheit der zwei scheinbar getrennten Welten vorliegen und damit zugleich eine Kausalität aus Freiheit ermöglicht werden. Prauss (1983) setzt in seiner Kantkritik genau an dem Subjektbegriff an, um die fundamentale Schwierigkeit zu erklären, die Kant in seinem Freiheitsbeweis zu lösen versucht. Nach Prauss’ Deutung gipfelt Kants Freiheitsbeweis in dem Versuch, das eigentliche Selbst des Menschen zu bestimmen511. »Worum es Kant in seinem Konstruktionsversuch geht, ist somit nichts Geringeres als dies, das ›eigentliche Selbst‹ der Subjektivität des Menschen überhaupt erst einmal zu gewinnen; er versucht, ihn als Subjekt ursprünglich anzusetzen, als etwas nämlich, das ein ›Selbst‹ in dem Sinne ist, dass es zu sich selbst in einem Verhältnis steht, eben ein Selbstverhältnis [Hervorhebung im Original] bildet«512. Dieses Selbstverhältnis kann nicht von Natur aus gewonnen werden, sondern ist eine Leistung der Vernunft. Als rein theoretisches Phänomen ist ein solches Selbstverhältnis, nach Prauss, unproblematisch denkbar und in Kants System als Selbstbewusstsein bekannt. Im Selbstbewusstsein sei der Mensch frei und autonom, da er die Form der Erkenntnis ausschließlich aus sich selbst schöpft und allem vorschreibt, so dass das Selbstbewusstsein als Bedingung aller Erkenntnis eines anderen zugrunde liege. Als theoretisches Subjekt steht der Mensch zu sich selbst im Verhältnis des Wissens513.

511 512 513

Vgl. Prauss 1983, S. 119–121. Prauss 1983, S. 123. Vgl. Prauss 1983, S. 123–124.

B. Forschungsstand

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Nach Prauss stellt sich die Frage, wie aus dem Zusammentreffen von etwas Nichtpraktischem, wie der bloß theoretischen Vernunft, mit etwas ebenfalls Nichtpraktischem, wie der natürlichen Sinnlichkeit, etwas Praktisches wie der freie Wille entstehen kann514; wie so etwas wie ein Selbstverhältnis überhaupt als praktisches, d. h. als ein Verhältnis des Handelns oder Wollens denkbar sein soll515. Da Kant laut Prauss die Vernunft vorrangig als etwas Theoretisches denkt, gelingt die Konstruktion eines praktischen Selbstverhältnisses nicht. Die beiden Sphären blieben einander äußerlich516. Prauss meint, es wäre grundsätzlich einfacher, die Freiheit des Menschen zu beweisen, wenn man die Vernunft nicht vorrangig als theoretisches Vermögen und dem praktischen Bereich entgegensetzt denken würde. Besser wäre es, wenn man die Vernunft zugleich als etwas Praktisches denken würde, »weil eben Rationalität als solche letztlich nur Selbstverhältnis bedeute, das in Gestalt des Menschen theoretisches sowohl wie praktisches sei«517. Das falsche Verständnis der Vernunft und die Trennung von Theorie und Praxis hätte Kant aus der antiken Tradition, insbesondere von Aristoteles übernommen. Die Erklärung des eingeschränkten Verständnisses der Vernunft aus der Antike und gerade von Aristoteles her scheint eher merkwürdig, da doch gerade bei Aristoteles die tugendhafte Praxis der Menschen von einer praktischen Vernunft geleitet wird und das Strebevermögen dadurch ausgezeichnet ist, dass es auf die Vernunft hören kann518. Aber selbst wenn man diese Merkwürdigkeit vernachlässigt, fragt sich, wieso das Problem, das Kant bearbeitet hat, durch eine schlichte Voraussetzung der Einheit beider Sphären im Begriff der Vernunft gelöst wäre. Es ist doch gerade die Frage, wie ein solches Zugleich von theoretischem und praktischem Vermögen gedacht werden kann. Kants Lösung dieses Problems scheint, nach Ansicht der oben diskutierten Autoren, gerade in der Gesetzlichkeit zu bestehen. Indem die Vernunft sowohl dem Erkennen als auch dem Wollen die Gesetzesform vorschreibe, bilde sie den sittlichen Einheitsgrund beider. Prauss allerdings wollte eine von der Sittlichkeit zunächst unabhängige Freiheit bewiesen wissen519, um dann die Sittlichkeit als eine mögliche Form der Freiheitsausfüllung zu deuten. Diese Möglichkeit wählt Kant nicht. Prauss scheint damit in seiner Deutung ungewollt zu erklären, warum Freiheit unabhängig von der Sittlichkeit schwierig zu beweisen und vielleicht sogar undenkbar ist.

514 515 516 517 518 519

Vgl. Prauss 1983, S. 122. Vgl. Prauss 1983, S. 124 f. Vgl. Prauss 1983, S. 125. Prauss 1983, S. 126. Vgl. NE I bzw. Kapitel III, C der vorliegenden Arbeit. Vgl. Prauss 1983, S. 116.

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IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

4. Schlussfolgerungen Aufgrund der exemplarischen Diskussion der Forschungslage lassen sich für Kants Konzept eines guten menschlichen Lebens drei entscheidende Punkte festhalten. Erstens wird deutlich, dass in Kants Ethik die Tugend vor dem Glück eine Vorrangsstellung einnimmt, so dass das gute Leben ohne Tugend undenkbar ist. Das natürliche Glücksstreben des Menschen wird von Kant zwar als wichtige Triebfeder der Lebenspraxis anerkannt, aber nicht als erstes Ziel dieser Praxis zugelassen. Der zweite Punkt betrifft Kants Tugendverständnis. Es ist in der Forschung unumstritten, dass die Autonomie des Willens den eigentlichen Hintergrund und vielleicht sogar die Wirklichkeit der Tugend darstellt. Schwierigkeiten bereitet den Kantforschern Kants Begründung der Autonomie. Die Vernunft selbst soll die Möglichkeit der Autonomie im Subjekt gewährleisten. Diese begründende Leistung der Vernunft ist der dritte und wichtigste Punkt. Hier herrscht am meisten Uneinigkeit zwischen den Forschern, da es nicht deutlich ist, wie die Vernunft diese Leistung vollbringen kann und worin sie selbst dafür bestehen muss. Die Deutungen der Vernunft reichen von einem Vermögen des Übergangs von einer Perspektive der Betrachtung zur anderen über einen reinen Selbstbezug bis zur Vergöttlichung des Vernunftvermögens. Aus den drei Punkten ergeben sich für meine Untersuchung drei Fragen. Erstens warum ist die Tugend vorrangig für das Gelingen des Lebens? Zweitens was versteht Kant unter Tugend? Und drittens was leistet die Vernunft in praktischer Hinsicht? Trotz der genannten Unterschiede teilen die diskutierten Deutungen in Bezug auf die Vernunft eine Gemeinsamkeit. Von allen wird unterstellt, dass die reflektierte Vernunft des Alltags, die den Ausgangspunkt der Grundlegung darstellt, identisch ist mit der gesuchten Vernunft, die die notwendige Autonomie begründen könnte. Denn nur wenn diese beiden identisch sind, führt eine Reflexion der Bedingungen der Alltagsvernunft zu der Begründung der Autonomie. Angesichts der Schwierigkeiten, die sich oben zeigten, kann man aber auch vermuten, dass die Alltagsvernunft zwar den Begriff der Tugend enthält, aber nicht seine Begründung. Wie bei der Entwicklung anderer menschlicher Fähigkeiten könnte auch in diesem Bereich zunächst eine Veränderung und Selbstbildung erforderlich sein, die erst zu der begründenden Vernunft führen würde. Angesichts dieser Möglichkeit werde ich bei meiner Untersuchung der Grundlegung einerseits im immanenten Nachvollzug die innere Struktur des Gedankengangs herausarbeiten. Andererseits werde ich die Identität von Alltagsvernunft und begründender Vernunft nicht schlicht voraussetzen, sondern offen lassen und im letzten Schritt in einer Selbstanwendung des Systems überprüfen, indem die Frage gestellt wird, ob die systemimmanente Ausführung der Vernunft den für sie ebenfalls innerhalb des Systems erhobenen Ansprüchen genügt.

C. Nachvollzug der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«

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C. Nachvollzug der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« 1. Kants Voraussetzungen der Betrachtung (BA III–7) a. Methodisch: Betrachtung a priori (BA III–XV) In der Vorrede ordnet Kant seine Untersuchung in eine Systematik aller Vernunfterkenntnisse ein. Ethik bestimmt er dabei als die Wissenschaft von den Gesetzen der Freiheit im Gegensatz zur Physik, die sich mit den Gesetzen der Natur beschäftigt. Die Gesetze der Freiheit betreffen nach Kant den Willen des Menschen, da sie vorschreiben, was geschehen soll. Im Gegensatz dazu beschreiben die Naturgesetze nur das, was geschieht520. In jeder von diesen Wissenschaften gibt es einen empirischen Teil, der sich auf Erfahrungsgründe beruft, und einen rationalen Teil, der sich rein aus Vernunftbegriffen begründet. Diesen nur auf Vernunftgründe bezogenen Teil bezeichnet Kant als a priori. Für die Ethik gilt nach Kant, dass sie vollständig auf dem reinen Teil beruht und dem Menschen als vernünftigem Wesen Gesetze vorschreibt. Der Grund der Verbindlichkeit moralischer Gesetze liegt vollständig in den Begriffen der reinen Vernunft, damit diese Gesetze von den Zufälligkeiten der menschlichen Natur unabhängig gültig sind. Lediglich bei der praktischen Befolgung der moralischen Gesetze ist eine durch Erfahrung geschulte Urteilskraft erforderlich, um einerseits die Anwendungsfälle zu erkennen und andererseits auf den Willen des Menschen mit Nachdruck einzuwirken521. Aus dieser Systematik wird ersichtlich, dass Kant sich mit dem reinen Teil der Ethik beschäftigen muss, bevor er ggf. auch empirische Aussagen treffen kann. Auf diese Weise soll eine maximale Verbindlichkeit ethischer Grundsätze gesichert werden. Die apriorische Betrachtung des obersten Moralprinzips ist für Kant aber nicht nur aus theoretischen Gründen zum Erkenntnisgewinn erforderlich, sondern auch für die Lebenspraxis unentbehrlich. Denn bei dem moralisch Guten komme alles darauf an, um des Gesetzes willen zu handeln. Damit man um des Gesetzes willen handeln kann, muss man es in seiner möglichst reinen, von empirischen Antrieben unverfälschten Form kennen. In der Grundlegung soll nun der reine Wille a priori betrachtet werden, um das oberste Prinzip der Moral darzulegen522.

520 521 522

Vgl. GMS BA III–IV. Vgl. GMS BA V–IX. Vgl. GMS BA IX–XV.

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IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

b. Inhaltlich: Vernunftkultur als höchster Zweck des Menschen (BA1–7) Im Anschluss an diese eher methodische Einordnung legt Kant auch seine inhaltliche Voraussetzung offen. »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille«523. Denn alle Naturgaben, wie bspw. Talente, werden vom Willen gebraucht und können, wenn dieser schlecht ist, selbst auch schädlich sein. Dasselbe gilt auch für die so genannten Glücksgaben, wie bspw. Macht oder Reichtum. Selbst die Glückseligkeit kann zu Übermut führen und damit schädlich sein. Erst wenn diese Gaben von einem guten Willen gelenkt werden, werden auch sie nützlich524. Ebenfalls gleichgültig für den Wert des guten Willens sind laut Kant die konkreten Handlungsfolgen. D. h. es ist irrelevant, ob das angestrebte Ziel auch erreicht wird oder ob es jemandem nützt, sondern der gute Wille allein ist in sich schon wertvoll525. Auch wenn der Begriff des Willens noch ungeklärt ist, hat Kant die moralische Wirklichkeit im Grunde damit bestimmt, so dass die restliche Untersuchung diese Anfangsbehauptung entfalten und belegen soll. Allerdings hält er seine Behauptung für so ungewöhnlich, dass er vor der eigentlichen Bestimmung des guten Willens zu zeigen versucht, warum dieser so wertvoll ist. Dass etwas Gutes, in diesem Fall ein guter Wille, gut sein soll, ist aber eigentlich nicht verwunderlich. Vielmehr stellt sich eine andere Frage. Wenn es einen guten und einen schlechten Willen geben kann, dann muss der Grund der Güte nicht in dem Willen selbst liegen, sondern in etwas anderem. Was macht also den Willen gut? Da nach Kant weder die Gegenstände, an denen der Wille tätig ist, noch die Folgen des Wollens über die Qualität des Willens entscheiden, verbleibt nur noch der Grund des Wollens als Ursache eines guten oder eines schlechten Willens. Der gute Wille nun scheint nach Kant ein vernünftiger Wille zu sein, denn die Frage, die er zum Beleg seiner These beantworten will, ist: Warum hat die Natur dem Willen die Vernunft als Regentin beigegeben?526 Kants entscheidende Idee bei der Beantwortung dieser Frage besteht darin, dass alle Naturgaben zweckmäßig sind. Gemeint ist, dass eine Naturgabe jeweils das beste Werkzeug ist, um einen bestimmten Zweck zu verfolgen. Wäre nun die eigene Glückseligkeit der eigentliche Zweck eines Wesens, das mit einem Willen und einer Vernunft begabt ist, dann wäre der Natur, so Kant, ein arger Fehler unterlaufen. Glückseligkeit fasst er dabei als die Zufriedenheit des Menschen mit seinem Zustand auf, die durch eine vollständige Befriedigung seiner Bedürfnisse entsteht. Die Vernunft, 523 524 525 526

GMS BA1. Vgl. GMS BA2. Vgl. GMS BA3. Vgl. GMS BA4.

C. Nachvollzug der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«

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so Kant, ist aber kein zuverlässiges Mittel zur Bedürfnisbefriedigung. Viel einfacher ließe sich die Glückseligkeit erreichen, wenn man sich in seinem Handeln vom Instinkt leiten lässt527. Wenn die Natur also das Glück im Sinne einer Bedürfnisbefriedigung zum höchsten Zweck gehabt hätte, dann hätte sie, so Kant, eine praktische Vernunft verhindern müssen. Da der Mensch aber mit einer Vernunft auch als praktisches Vermögen begabt ist, muss es einen anderen Zweck geben, der einzig durch praktische Vernunft erreicht werden kann528. Natürlich stellt sich die Frage, welcher Zweck dies sein soll, denn traditionell gilt die Glückseligkeit als höchster Zweck des Menschen. Der Streit betrifft normalerweise nur das Verständnis des Glücks, wie bspw. Aristoteles es im ersten Buch der Nikomachischen Ethik beschreibt. Was ist nun also nach Kant der höchste Zweck des Menschen, der nur durch praktische Vernunft erreicht werden kann? Als praktisch versteht Kant die Vernunft dann, wenn sie Einfluss auf den Willen ausübt. Eine solche Willensbestimmung nicht als Mittel zu etwas, sondern als Zweck sei die eigentliche Aufgabe der praktischen Vernunft. Der von der Vernunft bestimmte Wille ist das eindeutige Gut, das die Bedingung aller anderen Güter, also auch der Glückseligkeit, darstellt. Die dadurch verwirklichte »Kultur der Vernunft « schränkt zwar das Glücksstreben ein, bringt aber laut Kant eine Zufriedenheit eigener Art hervor, die nur durch die Erfüllung eines vernünftigen Zweckes möglich ist529. Der erste Zweck des Menschen nach Kant ist also die Kultur der Vernunft.

c. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Kant macht also vor seiner eigentlichen Betrachtung des obersten Moralprinzips weit reichende methodische und inhaltliche Voraussetzungen. Er legt sich erstens darin fest, dass das oberste Moralprinzip dem menschlichen Willen Gesetze vorschreibt. Diese Gesetze bezeichnet Kant als Gesetze der Freiheit. Der Gegensatz, den Kant mit dieser Festlegung aufmacht, verläuft nicht zwischen Freiheit und Gesetzmäßigkeit, sondern zwischen zwei Arten von Gesetzmäßigkeit: die beschreibende Gesetzmäßigkeit der Natur und die vorschreibende Gesetzmäßigkeit der Freiheit. Die Gesetze der Freiheit sind der Gegenstand der Ethik und werden im Folgenden betrachtet. Da die Ethik die Gesetze des Willens vernünftiger Wesen enthält, muss diese Erkenntnis am vernünftigen Wesen selbst erworben werden. Dies ist Kants zweite Festlegung. Der Mensch ist dabei nicht schlechthin ein vernünftiges Wesen, sondern wird 527 528 529

Vgl. GMS BA5–6. Vgl. GMS BA7. Vgl. GMS BA7.

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IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

zugleich auch von seiner Leiblichkeit und Sinnlichkeit beeinflusst. Deswegen muss Kant bei seiner Analyse der Gesetze der Freiheit von allem abstrahieren, was an dem Menschen zufällig sein könnte und damit nicht ausschließlich aus der Vernunft heraus erklärt werden kann. Die apriorische Betrachtungsweise ist der Weg Kants, von diesen menschlichen Zufälligkeiten abzusehen. Erst bei einer lebenspraktischen Verwirklichung der Ethik kann man von der Sinnlichkeit des Menschen und den daraus resultierenden Neigungen nicht mehr abstrahieren. Kant sieht deswegen an dieser Stelle auch eine empirisch geschulte Urteilskraft als notwendig an, um zwischen den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft, den Anfechtungen der Neigungen und dem konkreten Willen eines Einzelnen zu vermitteln. Vergleicht man an dieser Stelle die in der Forschung oftmals als entgegensetzt wahrgenommenen Ansätze von Aristoteles und Kant, so kann man nicht sagen, dass zwischen Aristoteles und Kant ein Unterschied besteht im Hinblick auf die Notwendigkeit, sich mit den eigenen Bedürfnissen bzw. Neigungen auseinanderzusetzen und diese gemäß dem Prinzip der Sittlichkeit zu erziehen. Auch Kant sieht diese Herausforderung in der konkreten Lebenspraxis, aber er stellt diesen empirischen Teil der Ethik nicht ins Zentrum seiner Überlegungen, sondern hält sie als etwas Abgeleitetes für nachrangig. Man könnte sagen, dass er deduktiv vorgehen und zuerst das Prinzip der Sittlichkeit a priori festlegen will530. Aristoteles hingegen geht weitestgehend induktiv vor, indem er das Prinzip der Ethik aus dem richtigen Umgang mit den Begierden heraus entwickelt. Aber auch Aristoteles stellt fest, dass der Maßstab dieses richtigen Umgangs von der Vernunft erkannt werden muss. Worin dieser Maßstab besteht und wie er erkannt werden kann, führt Aristoteles allerdings nicht aus, sondern deutet es bloß an531. Im Gegensatz dazu legt Kant den Schwerpunkt seiner 530 Genau genommen ist das Verhältnis von induktivem und deduktivem Vorgehen bei Kant nicht so eindeutig. Denn die Grundlegung im Ganzen führt vom Alltagsdenken zu einer Kritik der praktischen Vernunft hinauf, so dass man einen induktiven Gedankengang vermuten könnte. Allerdings sind die einzelnen Zwischenstufen in sich stets deduktiv gestaltet, so dass die Vermutung nicht ganz zutrifft. Diese methodischen Feinheiten sind für die vorliegende Untersuchung letztlich nicht so bedeutsam. Wichtig ist nur, dass Kant die Kenntnis der moralischen Wirklichkeit gleich zu Beginn des Buches beansprucht und die folgenden Teile seiner Explikation und Begründung widmet. Die empirische Umsetzung spielt für ihn in diesem Zusammenhang nur eine veranschaulichende Rolle. Auch das induktive Vorgehen, wie bspw. von Aristoteles vorgeführt, beinhaltet eine Inanspruchnahme des letzten Gesuchten, was sich in der Auswahl der lebenspraktischen Beispiele äußert. Aristoteles wählt bspw. die gemäßigte Athener Praxis als phänomenologische Grundlage, er hätte aber auch eine bspw. stärker lustbetonte Gesellschaft der von ihm kritisierten Fürsten wählen können, wenn er einen anderen Maßstab im Hintergrund mitgedacht hätte. Auf diese Weise stimmen deduktives und induktives Vorgehen darin überein, dass sie den letzten Maßstab schon zu Beginn der Untersuchung voraussetzen. Die folgende Betrachtung dient bei beiden Ansätzen der Explikation und der Bekräftigung der Richtigkeit des vorausgesetzten Maßstabs. 531 Vgl. dazu Kapitel III, C der vorliegenden Arbeit.

C. Nachvollzug der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«

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Auseinandersetzung auf das vernünftige Prinzip und vernachlässigt ganz bewusst den empirischen Teil. Betrachtet man seine Beispiele für richtiges Handeln (s. unten), so wird schnell deutlich, dass er eine ganz ähnliche Lebenspraxis vor Augen hat wie Aristoteles, wobei bei Aristoteles die Phänomenologie einen viel größeren und wesentlicheren Anteil ausmacht als bei Kant. Die dritte Voraussetzung Kants betrifft die Wirklichkeit des Moralprinzips. Es ist im guten Willen wirksam und muss in der Betrachtung dieses Willens erschlossen werden. Das Moralprinzip wird also als im Grunde bekannt, wenn auch nicht vollständig bewusst, vorausgesetzt. Deswegen sieht Kant den größten Teil der folgenden Überlegungen532 auch als analytisch an. Als synthetisch bezeichnet er erst den letzten Schritt, in dem die Möglichkeit und Notwendigkeit des erschlossenen Prinzips der Sittlichkeit bewiesen werden sollen533. Wieder ergibt sich eine Ähnlichkeit zwischen den Ansätzen von Aristoteles und Kant. Auch Aristoteles setzt bei sich und seinen tugendhaften Zuhörern das gute Leben und damit die Wirklichkeit des von ihm gesuchten Prinzips voraus534. Entsprechend beginnen beide in ihren Betrachtungen bei den vorhandenen alltäglichen Überzeugungen, um das moralische Prinzip herauszuarbeiten und zu entfalten. Der gerade besprochene methodische Unterschied ist also in Bezug auf den Ausgangspunkt der Überlegungen verschwindend gering. Auch inhaltlich zeigt sich in den Auffassungen über die Wirklichkeit des Prinzips des guten Lebens bzw. der Sittlichkeit eine weitergehende Parallele zwischen den beiden Denkern. Kant begreift, wie schon gesagt, den guten Willen als Verwirklichung des eindeutig Guten. Dieser Wille wird von der Vernunft bestimmt und lenkt den Umgang des Menschen mit sich selbst, mit den anderen Menschen und den Dingen in der Welt. Der Wille kann aber auch schlecht sein, wenn er sich von etwas anderem als der Vernunft bestimmen lässt. Da die Vernunft an dieser Stelle von dem Streben nach Bedürfnisbefriedigung (Glücksstreben) als mögliche Bestimmungsquelle des Willens unterschieden wird, kann man vermuten, dass der schlechte Wille sich von den Bedürfnissen bestimmen lässt. Später wird Kant von Neigungen und einem heteronomen Willen sprechen. Auf jeden Fall wird deutlich, dass Kant den Willen als etwas versteht, das im Menschen wirkt und sich selbst dafür entscheidet, auf welche im Menschen waltenden Kräfte er hört. Wenn er auf die Vernunft hört, ist er gut. Wenn er aber nicht auf die Vernunft hört, dann ist er schlecht. Kants Untersuchung widmet sich dann der Analyse des guten Willens. Aristoteles hat eine ganz ähnliche Auffassung von den im Menschen wirkenden Kräften und ihrem Beitrag zum guten Leben535. Zwischen den blinden Begierden 532 533 534 535

Vgl. GMS BA8–96. Vgl. GMS BA97–128. Vgl. Aristoteles, NE I, 1095b. Vgl. Aristoteles, NE I, 1102a–1103a.

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IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

und der Vernunft steht auch bei ihm ein Strebevermögen, das das menschliche Handeln hervorbringt und leitet. Dieses Strebevermögen kann auf die Vernunft hören, d. h. es kann sich von ihr bestimmen lassen, ist aber nicht zwingend von ihr bestimmt. Das auf die Vernunft hörende Strebevermögen ist gut. Es wird von Aristoteles als Charaktertugend gezeichnet und anschließend im größten Teil der Nikomachischen Ethik untersucht. Man kann also schon zu Beginn der Ausführungen Kants erste Parallelen und Unterschiede zu Aristoteles’ Ethik finden. Es ist von grundlegender Bedeutung für meine weitere Untersuchung, dass Aristoteles und Kant die gleiche praktische Wirklichkeit eines guten Lebens vor Augen haben, nämlich eine durch vernünftiges Streben geleitete Handlungspraxis, trotzdem aber auf den ersten Blick sehr verschiedene Begründungen dafür vorbringen. Von diesem Standpunkt aus ist es durchaus möglich, dass Kant die Begründung des maßvollen Lebens findet, die Aristoteles fehlte. Für meine Forschungsfrage nach dem guten Leben ist außerdem Kants schon hier ausgesprochene zumindest analytische Trennung zwischen dem guten und dem glücklichen Leben bedeutsam. Darin äußert sich Kants vierte Voraussetzung. Das Glück fasst er als die Zufriedenheit des Menschen mit seinem Zustand auf 536, was für ihn mit der Befriedigung aller Bedürfnisse gleichbedeutend ist537. Dieser Zustand ist zwar ein Zweck der Natur, d. h. er wird vom Menschen mit Notwendigkeit angestrebt, aber es ist bloß der zweite Zweck. Der erste Zweck und zugleich die Bedingung, unter der der zweite Zweck verfolgt werden darf, ist die Kultur der Vernunft. Die Kultivierung der Vernunft als höchster Zweck des Menschen ist Kants grundlegendste Voraussetzung, die seine gesamte Ethik bestimmt. In praktischer Hinsicht besteht diese Kultur in der Entfaltung eines guten Willens538. Glück und Vernunft sind im kantischen System also voneinander unterschieden. Im Gegensatz dazu besteht im aristotelischen System das Glück genuin in der Verwirklichung der Vernunft und wird von der bloßen Bedürfnisbefriedigung unterschieden539. Kant unterscheidet das Glücksstreben des Menschen zwar von der Sittlichkeit, setzt es ihr aber nicht gänzlich entgegen, wie es ihm gelegentlich vorgeworfen wird. Es wird lediglich in seinem Geltungsanspruch eingeschränkt und unter die Bedingung der Vernunft gestellt. Als Bestimmungsgrund des guten Willens lehnt Kant das Glück aber in der Tat ab. Von Kants oben geschildertem Ansatz her wird diese Ablehnung durchaus nachvollziehbar. Denn die Bedürfnisse sind Ausdruck unserer Sinnlichkeit. Diese ist nach Kant aber ein zufälliger Umstand der menschlichen Natur und kein zwingender Bestandteil eines vernünftigen Wesens. Aus diesem Grund kann 536 537 538 539

Vgl. GMS BA1/2. Vgl. GMS BA7. Vgl. GMS BA7/8. Vgl. Aristoteles, NE I, 1095b.

C. Nachvollzug der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«

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das so verstandene Glücksstreben kein Maßstab für vernünftige Wesen überhaupt sein. Man könnte vielleicht sagen, dass der Mensch erst dann gut wird, wenn er sein Leben als vernünftiges Wesen führt und nicht als bloß sinnliches Wesen. Sieht man davon ab, dass Kant vom Glück spricht, und achtet darauf, dass er damit die vollständige Bedürfnisbefriedigung meint, dann werden auch an dieser Stelle ganz wesentliche Parallelen zwischen Kants und Aristoteles’ Ansatz deutlich. Auch Aristoteles lehnt diesen Lebensentwurf, den er als Leben der Lust bezeichnet, ab. Sein Grund ist derselbe wie Kants Grund. Das Lustleben ist auch nach Aristoteles nicht das gute Leben, weil in dieser Lebensweise die Vernunft vernachlässigt und in Bezug auf ihre eigentliche Bestimmung missbraucht wird540. Erst die vernunftbestimmte Lebensform ist gut und glücklich, weil sie das Wesentliche des Menschen verwirklicht. Beide Denker sehen also die Vernunft als den Grund eines guten Lebens an und beanspruchen gleichermaßen die Kenntnis dieses Grunds. Dieser grundlegenden Gemeinsamkeit zum Trotz gibt es schon im Ansatz einen deutlichen Unterschied zwischen den beiden Ethiken. Aristoteles entwirft das gute Leben als ein Leben auf die Vernunft hin. Die vollständige Verwirklichung der Vernunft an verschiedenen Gegenständen und damit als verschiedene Tugenden ist das Ziel, das von der praktischen und der theoretischen Lebensform anvisiert wird. Kants System hingegen unterstellt bei jedem Menschen eine wirkende Vernunft im vollen Sinne. Die Wirklichkeit der Vernunf als praktisch wirkende Kraft ist in gewisser Weise schon gegeben. Das Problem liegt nach Kant in einem falschen Selbstbewusstsein der Vernunft. Sie missversteht sich sowohl dann, wenn sie sich als bloße Dienerin der Bedürfnisse ansieht, als auch wenn sie sich in theoretischen Spekulationen verliert und die Praxis vernachlässigt. Kants kritische Methode soll dieses falsche Bewusstsein überwinden, indem sie die Möglichkeiten und Grenzen der Vernunft aufklärt und sie auf diesem Weg zu einem richtigen Bewußtsein oder schlicht zur Selbsterkenntnis führt. Zusammenfassend lässt sich also folgende Stoßrichtung für Kants Grundlegung festhalten. Das Prinzip der Sittlichkeit soll unter Absehung von allen Zufälligkeiten der menschlichen Natur a priori festgelegt werden. Zugleich soll dieses Prinzip für den Menschen nichts Neues und Fremdes sein, sondern aus einer vernünftigen Aufklärung über den guten Willen analytisch hervorgehen. Anders formuliert: der Mensch soll über das in ihm wirkende vernünftige Wesen in praktischer Hinsicht aufgeklärt werden, um im richtigen Bewusstsein konsequent gut handeln und gut leben zu können.

540

Vgl. dazu Kapitel III, C der vorliegenden Arbeit.

200

IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

2. Die Betrachtung des guten Willens (BA8–128) a. Die Erscheinung des guten Willens: pflichtgemäßes Handeln aus Achtung fürs Gesetz (BA8–24) Wie oben erwähnt, fasst Kant die Vernunft, nur insofern sie den Willen bestimmt, als praktisch auf. Ein vernunftbestimmter Wille ist dann ein guter Wille und das eindeutig Gute. Um also das Prinzip der Sittlichkeit zu erfassen, wird der Begriff des guten Willens analysiert. »So wie er schon dem natürlichen gesunden Verstande beiwohnet und nicht so wohl gelehrt als vielmehr nur aufgeklärt zu werden bedarf«541. Laut Kant ist der gute Wille für den natürlichen Verstand im Pflichtbegriff fassbar. Zugleich ist innerhalb des Alltagsdenkens die Meinung verbreitet, dass das eigentliche Ziel des Menschen das Glück im Sinne der vollständigen Bedürfnisbefriedigung ist. Die von Kant als eigentliches Ziel des Menschen postulierte Sittlichkeit scheint dem Alltagsdenken in dieser zentralen Stellung zunächst nicht bewusst zu sein, sondern erscheint viel mehr als Pflicht, die das eigene Glück mindert oder einschränkt. Wenn Kant also im Folgenden den alltäglichen Begriff der Sittlichkeit herausarbeitet, dann geschieht dies stets in Auseinandersetzung mit dem natürlichen Glücksstreben des Menschen. i. Handeln aus Pflicht im Alltagsdenken Im Alltag, so Kant, gelten pflichtgemäße Handlungen allgemein als gut. Allerdings kann ihre Pflichtgemäßheit nicht an der konkreten Handlung beurteilt werden. An vier Beispielen für Pflichten (Ehrlichkeit, Lebenserhalt, Wohltätigkeit und Glückssicherung542) erläutert Kant diese Behauptung543. Ein Beispiel sei zur Veranschaulichung wiedergegeben. Ein Kaufmann kann seine Kunden bspw. alle gleichermaßen ehrlich bedienen, weil es die Pflicht gebietet, ehrlich zu sein; oder weil es ihm einen guten Ruf verschafft und dadurch seinen Gewinn steigert, d. h. ihm in seinem Profitstreben nützt; oder aber einfach weil er seine Kunden gern hat. Äußerlich betrachtet, würden die verschiedenen Handlungsmotive dieselbe Handlung hervorbringen, obwohl sie jeweils einen anderen Zweck verfolgen oder, wie Kant es ausdrückt, einen anderen Gegenstand haben. Ihr moralischer Wert wäre deswegen grundverschieden. GMS BA8. Interessanterweise ist es indirekt sogar Pflicht, sein Glück zu befördern, da Unzufriedenheit mit dem eigenen Zustand Pflichtübertritte begünstigt (vgl. GMS BA12–13). Das Glücksstreben darf hierbei aber nicht als Selbstzweck aus Neigung verfolgt werden, sondern rein aus Pflicht. Auch hier wird das Glücksstreben also dem höheren Zweck untergeordnet. 543 Vgl. GMS BA9–13. 541 542

C. Nachvollzug der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«

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Da also die gleiche Handlung aus grundverschiedenen Motiven heraus vollzogen werden kann, ist für ihren moralischen Wert nicht die äußere Übereinstimmung mit der Pflichtforderung entscheidend, sondern nur der Handlungsgrund. »Eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Wert nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird, hängt also nicht von der Wirklichkeit des Gegenstandes der Handlung ab, sondern bloß von dem Prinzip des Wollens, nach welchem die Handlung, unangesehen aller Gegenstände des Begehrungsvermögens, geschehen ist«544. Dieses Prinzip des Wollens ist formell und a priori im Gegensatz zu den Gegenständen des Wollens, die materiell und a posteriori sind545. Der Wille liegt nach Kant zwischen beiden und wird notwendig von einem davon bestimmt. Es gibt damit zwei Möglichkeiten des handlungsleitenden Willens. Zum einen kann der Wille Handlungen im Hinblick auf die Verwirklichung eines materialen Gegenstands anregen. Vor der Handlung muss in diesem Fall irgendein Gegenstand erwünscht werden, der den Zweck des Handelns darstellt. Die Qualität der Handlung und des handlungsleitenden Willens wird daran beurteilt, ob dieser Zweck tatsächlich verwirklicht wurde. Ein solcher zweckgebundener Wille ist nach Kant weder gut noch schlecht, er kann höchstens zweckgemäß oder zweckwidrig sein. Aber selbst bei einem zweckgemäßen Willen würden dann die empirisch zufälligen Umstände darüber entscheiden, ob der Wille zweckmäßig und in diesem Sinne gut war, weil diese Umstände das Erreichen eines Zweckes beeinflussen. Damit bestimmen die materialen Gegenstände oder Zwecke nicht selbst über die Qualität des Willens und stellen also keinen eindeutigen Maßstab der Moral dar. Die Zwecke selbst müssten nach einem eindeutigen Maßstab beurteilt werden546. Die zweite Möglichkeit beinhaltet einen Willen, der von einem formalen Prinzip a priori bestimmt ist und damit unabhängig von möglichen empirischen Zwecken vorliegt. Dieses Prinzip bietet den potentiellen Maßstab der Zwecke, der bei einem zweckbestimmten Willen fehlte. Ein formal bestimmter Wille stellt also bei der Suche nach der Sittlichkeit nicht bloß eine beliebige Alternative dar, sondern ist die notwendige Alternative, die das Problem des zweckbestimmten Willens überwinden kann. Ein formal bestimmter Wille kann ebenfalls handlungsleitend sein, wobei diese Handlungen nicht von ihren empirischen Folgen her beurteilt werden dürfen, weil GMS BA13. Vgl. GMS BA14. 546 Eine ganz ähnliche Schwierigkeit wird im Charmides bei der Prüfung von Kritias’ Antwort, Besonnenheit sei das Tun des Guten, deutlich (vgl. Platon, Charmides 162c–164c oder Kapitel II, C, 2b, i der vorliegenden Arbeit). Dort wird allerdings die Schwierigkeit eines äußerlich als Handlungsfolge verstandenen Guten problematisiert, indem die mangelnde Verantwortung des Handelnden für die eigene Tugend herausgehoben wird. Auch dort wird die Notwendigkeit erarbeitet, das Gute und sich Selbst zu kennen, um ein guter Mensch sein zu können. 544 545

202

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sie gar nicht darauf zielen, einen bestimmten Gegenstand oder Zweck zu verwirklichen. Ein solcher Wille darf nicht so gedacht werden, dass er irgendeinen Effekt erreichen will. Er dient gewissermaßen nur dem Prinzip, das er verwirklicht. Die Qualität eines so verstandenen Willens ist unabhängig von den Zufälligkeiten empirischer Umstände. Der eindeutig gute Wille befreit sich von den Schwierigkeiten empirischer zweckgebundener Handlungsgründe, indem er den Grund seines Wollens in den Menschen selbst verlagert und einem formellen Prinzip a priori folgt. Im Vergleich zur aristotelischen Logik wird der Wertmaßstab nicht an den Zielen bzw. dem Objekt des Handelns angesetzt, sondern gewissermaßen auf der anderen Seite des Handelns – an seinem Entstehungsgrund im Subjekt. Das Denken wird damit innerhalb derselben Struktur des Handelns vom materialen, objektiven Ziel auf den formalen, subjektiven Grund umgelenkt. Ein solcher formal bestimmter Wille ist nach Kants Terminologie ein reiner Wille. Sein formelles Prinzip identifiziert Kant mit dem an dieser Stelle nicht weiter konkretisierten praktischen Gesetz. Auf dieser Basis kann Kant nun die im Alltag angesehene Handlung aus Pflicht auch in ihrer subjektiven Dimension als richtige Gesinnung auf den Begriff bringen. Die Pflicht des Menschen besteht nun darin, »aus Achtung fürs Gesetz«547 zu handeln. Achtung ist dabei die Wirkung des praktischen Gesetzes auf das Subjekt. Sie entsteht aus dem Bewusstsein der Unterordnung des Willens unter das Gesetz, das die Selbstliebe einschränkt und »das wir uns selbst und doch als an sich notwendig auferlegen«548. Die Selbstliebe ist nichts anderes als das vorher thematisierte Glücksstreben eines Menschen, d. h. die Neigung, die eigenen Bedürfnisse befriedigen zu wollen. Bei der Unterordnung des Willens unter das Gesetz wird nun das natürliche Streben nach Glück eingeschränkt, da es nicht mehr als Maßstab des Handelns fungieren kann. Achtung ist die emotionale Folge der Anerkennung dieser Gesetzesmacht, da es offenbar stärker ist als das natürliche Glücksstreben. Die aus der Zurücknahme des Glücksstrebens resultierende Achtung ist also die subjektive Seite der reinen Willensbestimmung, die zu der Maxime führt, unabhängig von allen Neigungen das Gesetz zu befolgen. Die Achtung vor dem Gesetz ist die richtige Gesinnung des Menschen, die im Alltagsbegriff der Sittlichkeit mitgedacht wird. Die objektive Seite der reinen Willensbestimmung ist das praktische Gesetz selbst549. Die Bestimmung der Tugend als Achtung vor dem Gesetz ist philosophiegeschichtlich nicht neu. Aristoteles bestimmt bspw. im fünften Buch der Nikomachischen Ethik die Gerechtigkeit im Ganzen als Achtung vor dem Gesetz und setzt diese mit der Tugend im Allgemeinen gleich. Da das Gesetz stets die Mitte in verschiedenen Bereichen fordert, hält es den Maßstab der Mitte für die Handlungspraxis aufrecht. 547 548 549

GMS BA14. GMS Anm. BA17. Vgl. GMS BA15.

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Man könnte also auch bei Aristoteles die Gesetzesachtung als eine Fassung der richtigen Haltung oder der richtigen Gesinnung verstehen, so dass auf dieser Ebene bei beiden Denkern ein ganz ähnliches Verständnis der Tugend vorliegen würde. Als bedeutenden Unterschied muss man jedoch festhalten, dass Aristoteles das äußere, politische Gesetz meint, das dem Menschen als Hilfsmaßstab dienen soll, um die Mitte anzustreben. Denn die eigene Orientierung an der Mitte kann das Gesetz nicht ersetzen, es kann nur dazu anhalten. Trotzdem kann es in bestimmten Bereichen die objektiv vorgestellte Mitte markieren und damit zumindest den zwischenmenschlichen Bereich strukturieren und indirekt die Begierden mäßigen, die einen Übergriff auf andere Menschen zur Folge hätten, wie bspw. die Habgier. Kant dagegen hat bei der Gesetzesachtung ein inneres Gesetz im Sinn, das zwar auch als objektiv gültig gedacht wird, doch vom Einzelnen ganz individuell im Subjekt vorgefunden werden muss, damit es die implizit anerkannte Geltung auch explizit für den konkreten Einzelnen entfalten kann. Das Gesetz ist zwar in der sich selbst nicht reflektierenden Alltagsvernunft enthalten, kann aber trotzdem noch verkannt werden.

ii. Das Problem des Alltagsdenkens und die Aufgabe der Philosophie Was ist nun das praktische Gesetz, dessen Vorstellung, insofern sie den Willen bestimmt, selbst schon das höchste sittliche Gute sein soll550? »Da ich den Willen aller Antriebe beraubet habe, die ihm aus der Befolgung irgend eines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig, welche allein dem Willen zum Prinzip dienen soll, d. i. ich soll niemals anders verfahren, als so, dass ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden«551. Der gemeine Pflichtbegriff enthält also die Gesetzartigkeit der Maxime als Urteilsmaßstab, der in der eigenen Praxis stets herangezogen werden muss, wenn man entscheiden will, ob eine Handlung aus Pflicht erfolgt und also sittlich gut ist552. Dieses Prinzip der Sittlichkeit ist der gemeinen Menschenvernunft bekannt und muss gar nicht erst gesucht oder gelehrt werden553. Allerdings hat sie es nicht in theoretisch abgesonderter Form vor Augen, sondern verwirklicht es bloß in ihrer Urteilspraxis. Das Problem der gemeinen Menschenvernunft ist nun, dass sie zwar implizit weiß, was gut ist, aber nicht versteht warum, und sich deswegen leicht verwirren und vom Richtigen abbringen lässt durch das Glücksstreben oder durch falsches Denken. 550 551 552 553

Vgl. GMS BA15/16. GMS BA17. Vgl. GMS BA18–20. Vgl. GMS BA21.

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Die Aufgabe der Philosophie besteht nach Kant deswegen nicht darin, das Prinzip der Sittlichkeit zu suchen und zu lehren, sondern diesem im Alltag wirkenden Prinzip Festigkeit und Dauerhaftigkeit zu verschaffen554. Kant beansprucht damit im Folgenden lediglich das, was die Menschen schon immer glauben und mehr oder weniger konsequent befolgen, zu durchdenken. Er will also das Alltagsdenken über die eigenen Grundlagen aufklären. Seine Voraussetzung ist dabei, dass das Alltagsdenken grundsätzlich richtig ist, ohne die Einsicht in die eigenen Grundlagen aber unsicher wird und das Richtige in der Praxis verfehlen kann. Das Bewusstsein dieser Grundlagen soll die Unsicherheit beseitigen. Dieser Anspruch ist soweit dem aristotelischen ganz ähnlich. Auch Aristoteles wollte seine tugendhaften Zuhörer, die im Grunde schon gut lebten, über ihre Prinzipien aufklären, damit sie das Ziel ihres Lebens sicherer treffen. Die von den Leidenschaften bestimmten Menschen konnten von seiner Betrachtung nicht profitieren, sondern mussten erst noch charakterlich reifer werden555. Aristoteles geht also davon aus, dass zwar alle Menschen vernünftig sein könnten, die Verwirklichung der Vernunft aber einer richtigen Erziehung bedarf. Kant hingegen setzt nicht bloß die Möglichkeit der Vernunft, sondern auch ihre Wirklichkeit bei allen Menschen voraus. Kants Anspruch geht sogar noch weiter. Da er nicht nur das faktische Denken der Menschen analysieren will, sondern darüber hinausgehend die Notwendigkeit dieses Denkens a priori nachweisen will, beansprucht er das praktische Denken vernünftiger Wesen überhaupt offen zu legen. Er muss also zeigen, dass das Verständnis des Prinzips der Sittlichkeit als eine Gesetzmäßigkeit der Handlungsmaximen im Wesen des vernünftigen Denkens überhaupt liegt und nicht bloß das zufällige Alltagsdenken eines Menschen ist.

b. Das Wesen des guten Willens: Autonomie (BA25–96) Nachdem im ersten Abschnitt der Übergang vom Alltagsdenken zum philosophischen Denken vollzogen wurde, will Kant im zweiten Abschnitt vom allgemein philosophischen Denken zur Metaphysik der Sitten fortschreiten. Dieser zweite Schritt beinhaltet eine Analyse der Vernunftgebote a priori556, die die Grundlage der richtigen Gesinnung (Achtung vor dem Gesetz) darstellen sollen.

554 555 556

Vgl. GMS BA22–24. Vgl. Aristoteles, NE I, 1094b–1095a. Vgl. GMS BA28.

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Um nun »bis zur Metaphysik […] durch die natürlichen Stufen fortzuschreiten: müssen wir das praktische Vernunftvermögen von seinen allgemeinen Bestimmungsregeln an, bis dahin, wo aus ihm der Begriff der Pflicht entspringt, verfolgen und deutlich darstellen«557. Es folgt also eine Deduktion aus den allgemeinsten Grundsätzen und damit aus Kants grundlegenden Annahmen über die Vernunft. Die Deduktion findet in drei Schritten statt. Erstens wird die Form des guten Willens hergeleitet, zweitens die Materie und drittens das beiden zugrunde liegende Prinzip, das sowohl Form als auch Materie hervorbringt.

i. Die Deduktion der Pflicht aus reinen Vernunftbegriffen a priori Gesetzmäßigkeit als Form des guten Willens »Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien, zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anders, als praktische Vernunft«558. Der Wille ist also zunächst verstanden als Vernunft, die aus Gesetzen Handlungen ableitet. Dabei ist nichts darüber ausgesagt, aus welchen Gesetzen die Vernunft Handlungen ableiten soll. Die entsprechenden Gesetze sind zunächst vorausgesetzt und werden erst später thematisiert. Entscheidend für den Unterschied zu sonstigen Naturdingen ist nur, dass vernünftige Wesen ein eigenes Vermögen zur Befolgung von Gesetzen haben. Sie sind also grundsätzlich fähig zu überlegen, ob sie etwas tun wollen, und zu wissen, warum sie es tun oder lassen. Sie sind nicht bloß getrieben und vollständig durch das Naturgesetz bestimmt. Der Mensch ist nun kein reines Vernunftwesen, sondern auch ein Teil der sinnlichen Natur, so dass sein Wille sowohl von der Vernunft als auch von den sinnlichen Neigungen bestimmt werden kann. Hier kehren die beiden im Alltag reflektierten Arten der Willenbestimmung wieder. Der zweckbestimmte Wille des Alltagsdenkens entspricht dem durch Neigungen geleiteten und der formale Wille ist der vernünftige. Wie schon im Alltagsdenken deutlich wurde, ist der durch Neigungen bestimmte Wille ambivalent und deswegen als Prinzip der Sittlichkeit ungeeignet. Trotzdem konkurrieren die Gebote der Vernunft bei der Bestimmung des Guten mit den Forderungen der Neigungen. »Praktisch gut ist aber, was vermittelst der Vorstellungen der Vernunft, mithin nicht aus subjektiven Ursachen, sondern objektiv, d. i. aus Gründen, die für jedes vernünftige Wesen, als ein solches, gültig sind, den Willen bestimmt. Es wird vom 557 558

GMS BA36. GMS BA36.

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Angenehmen unterschieden, als demjenigen, was nur vermittelst der Empfindung aus bloß subjektiven Ursachen, die nur für dieses oder jenes seinen Sinn gelten, und nicht als Prinzip der Vernunft, das für jedermann gilt, auf den Willen Einfluss hat«559. Hier tritt also die eingangs beschriebene Konkurrenz der beiden höchsten Zwecke des Menschen – Bedürfnisbefriedigung und Vernunftkultivierung – in Erscheinung, indem beide als mögliche, aber nicht gleichwertige Handlungsmaßstäbe wiederkehren. Bei diesen sinnlich-geistigen Mischwesen können sich also das objektiv als gut Erkannte und das subjektiv als gut Empfundene unterscheiden, so dass der Wille eines Vermittlers bedarf, der ihn ggf. zur Erfüllung der Vernunftgebote nötigt. Diese Vermittler haben die Form von Imperativen560. Damit stellen die Imperative eine Möglichkeit dar, das im Menschen wirkende höchste Prinzip der Sittlichkeit zu untersuchen. Entsprechend den beiden Quellen der Willensbestimmung gibt es zwei Arten von Imperativen: bedingte, hypothetische Imperative, die ihre Gültigkeit aus einem vom Willen verfolgten Zweck schöpfen; und unbedingte, kategorische Imperative, die unabhängig von irgendwelchen Zwecken gelten561. Innerhalb der Gruppe hypothetischer Imperative gibt es, so Kant, einerseits eine unendliche Zahl von Regeln der Geschicklichkeit, die die Mittel zu jedem beliebigen denkbaren Zweck enthalten562. Andererseits enthält diese Gruppe die Ratschläge der Klugheit, die der Geschicklichkeit bei der Wahl der Mittel zur eigenen Glückseligkeit entsprechen563. Im Grunde sind diese Unterarten von Imperativen nur dadurch unterschieden, dass die Glückseligkeit von jedem Menschen von Natur aus erstrebt wird, die anderen möglichen Zwecke aber je nach Sinnesart individuell variieren. Man kann also sagen, dass hypothetische Imperative allesamt in dem Dienst der Neigungen und damit des sinnlich bedingten Glückstrebens eines Menschen stehen. Die hypothetischen Imperative sind damit nicht die gesuchten Vermittler der Sittengesetze. Sie sind Ausdruck einer Instrumentalisierung der Vernunft im Dienst der Bedürfnisbefriedigung, da sie hier dazu benutzt wird, sinnvolle, eben vernünftige Wege zu den jeweiligen Zwecken zu ersinnen. Anders verhält es sich bei den kategorischen Imperativen. Diese Art Imperativ betrifft weder die Materie (d. h. nach Kant die Zwecke) noch die Folgen der Handlung, sondern ausschließlich ihre Form und das Prinzip, aus dem sie folgt. Das Wesentlich-Gute einer kategorisch gebotenen Handlung besteht in der Gesinnung des Handelnden, so dass dieser Imperativ auch der Imperativ der Sittlichkeit heißen kann564. 559 560 561 562 563 564

GMS BA38. Vgl. GMS BA37. Vgl. GMS BA39. Vgl. GMS BA41/42. Vgl. GMS BA42/43. Vgl. GMS BA43.

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Damit ist Kant bei der Deduktion aus reinen Vernunftbegriffen an derselben Stelle angelangt wie bei der Analyse des Alltagsdenkens. Die Sortierung der Imperative entspricht der Betrachtung der Handlungsmotive und deren Ordnung. Es fragt sich weiterhin, welches Gesetz im Alltagsdenken geachtet wird und warum. Der kategorische Imperativ als der Vermittler dieses Gesetzes ermöglicht nun aber eine Einsicht, die dem Alltagsdenken nicht möglich war. Kant selbst fragt: »wie sind alle diese Imperative möglich? Diese Frage verlangt nicht zu wissen, wie die Vollziehung der Handlung, welche der Imperativ gebietet, sondern wie bloß die Nötigung des Willens, die der Imperativ in der Aufgabe ausdrückt, gedacht werden könne«565. Die Möglichkeit hypothetischer Imperative ist analytisch, da jemand, der einen bestimmten Zweck will, auch die zu seiner Verwirklichung notwendigen Mittel wollen muss566. In solchen Fällen muss der Wille überhaupt nicht genötigt werden, da er schon einen bestimmten Zweck erwählt hat und nun ganz freiwillig nach den Mitteln sucht, die diesem Zweck dienen. Einzig bei dem Glück als Zweck ist die eindeutige Bestimmung der Mittel schwierig, weil »der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, dass, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. Die Ursache davon ist: dass alle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, insgesamt empirisch sind, d. i. aus der Erfahrung müssen entlehnt werden, dass gleichwohl zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganzes, ein Maximum des Wohlbefindens, in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande erforderlich ist«567. Um einen solchen Begriff vollständig und erschöpfend zu bestimmen, bedarf es einer Allwissenheit, die der Mensch aber nicht erreichen kann568. Wenn man diese Schwierigkeit überwände, dann wäre die Möglichkeit der Ratschläge der Klugheit ebenso analytisch wie bei den Regeln der Geschicklichkeit. Im Grunde zeigt Kants eigene Analyse seines Glücksbegriffs, dass das Glück nicht als Bedürfnisbefriedigung verstanden werden kann. Denn wie Kant selbst ausführt, wird im Begriff Glück eine Totalität mitgedacht, die den ganzen Menschen umfasst. Kant bezeichnet den gemeinten Zustand als ein Maximum an Wohlbefinden. In traditionellen Begriffen ist dieses Empfinden schlicht die subjektive Seite des objektiv bestmöglichen Zustands des Menschen. Ein Verständnis des Glücks als Bedürfnisbefriedigung steht aber in einem unüberwindbaren Gegensatz zur angestrebten Totalität. Unüberwindbar ist dieser Gegensatz nicht deswegen, weil dem Menschen das Allwissen fehlt, sondern weil die Bedürfnisse stets einen umgrenzten Bereich des 565 566 567 568

GMS BA44. Vgl. GMS BA44–45. GMS BA46. Vgl. GMS BA47.

208

IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

Menschen betreffen, da jedes davon nur auf die Aufhebung eines einzelnen, ganz konkreten Mangels zielt. Den Menschen im Ganzen in seinen besten Zustand zu versetzen, so dass sich daraus ein Maximum an Wohlbefinden ergeben könnte, sind die vielen einzelnen Bedürfnisse nicht in der Lage. Sie zielen schlicht nicht auf das Ganze. Sie zeigen allerdings eine Art Musterstruktur, die bei der Bestimmung des Glücks hilfreich sein kann. Es ist von Kant und auch sonst unbestritten, dass die Befriedigung eines Bedürfnisses angenehm ist. Das ist sie eben deswegen, weil ein vorher bestehender Mangel aufgehoben wurde. Erfüllung setzt also die Überwindung eines Mangels voraus. Bei dem Versuch, den bestmöglichen Zustand des Menschen zu bestimmen, der ein Maximum an Wohlbefinden zur Folge hätte, müsste man also zunächst den aufzuhebenden grundsätzlichen Mangel angeben. Die Frage, die bei der Suche nach dem richtigen Glücksverständnis weiterhelfen könnte, kann dann folgendermaßen lauten: Gibt es etwas, das dem Menschen als Menschen grundsätzlich fehlt? Was ist das und wie lässt sich dieser Mangel überwinden? Auf dem bisherigen Stand von Kants Untersuchung kann man wohl mit Kant so antworten. Der Mensch weiß unbewusst, was sein Gutes ist. Damit er sich tatsächlich an diesen Maßstab hält und ein gutes Leben führt, muss er das falsche Bewusstsein seiner selbst überwinden. Aufgrund dieses falschen Bewusstseins lässt er sich von den Bedürfnissen bestimmen und verfehlt sein Gutes. Der Mangel ist also das falsche oder fehlende Bewusstsein seiner selbst. Diesen Mangel will Kant durch die apriorische Analyse der Sittlichkeit überwinden. Er bleibt zwar bei der Identifizierung von Glück und Bedürfnisbefriedigung. Diese Identifizierung ist aber nur möglich, weil er den Anspruch, der beste Zustand des Menschen zu sein, vom Glücksbegriff löst und auf die Sittlichkeit überträgt. Kants Grundlegung ist also trotz der begrifflichen Differenzierung zwischen einem glücklichen und einem guten Leben eine Antwort auf die Glücksfrage, die verstanden wird als die Frage nach dem Grund des guten Lebens. Das Ergebnis von Kants Betrachtung muss sich daran messen lassen, ob es den bezeichneten Mangel überwindet und den Menschen vor der Selbstauslieferung an die Bedürfnisse schützt. Kehren wir nun zurück zu Kants Ausführungen zur Begründung der Imperative. Die Lage beim kategorischen Imperativ ist von der bei den hypothetischen grundverschieden. Da ein kategorischer Imperativ unbedingt gelten soll, kann der Wille in diesem Fall nicht mithilfe eines schon vorhandenen Zwecks gelenkt werden. Die objektiv vorgestellte Gültigkeit eines kategorischen Imperativs kann sich also auf keine Voraussetzung stützen569. Er kann durch kein Beispiel belegt oder widerlegt werden, da seine Wirklichkeit nicht wahrnehmbar ist, sondern Handlungen vorausgeht und

569

Vgl. GMS BA48.

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damit Erfahrungen erst konstituiert570. Seine Möglichkeit muss vollständig a priori untersucht werden. Im Gegensatz zu den hypothetischen Imperativen, deren Inhalt von den jeweiligen Zwecken abhängig ist, sei der Inhalt des kategorischen Imperativs schon immer bekannt. »Denn da der Imperativ außer dem Gesetze nur die Notwendigkeit der Maxime571 enthält, diesem Gesetze gemäß zu sein, das Gesetz aber keine Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt war, so bleibt nichts, als die Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt übrig, welchem die Maxime der Handlung gemäß sein soll, und welche Gemäßheit allein den Imperativ eigentlich als notwendig vorstellt. Der kategorische Imperativ ist also nur ein einziger, und zwar dieser: handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde«572. »Weil die Allgemeinheit des Gesetzes, wornach Wirkungen geschehen, dasjenige ausmacht, was eigentlich Natur im allgemeinsten Verstande (der Form nach), d. i. das Dasein der Dinge, heißt, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist, so könnte der allgemeine Imperativ der Pflicht auch so lauten: handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte«573. Kant veranschaulicht den kategorischen Imperativ, indem er vier traditionelle Pflichten analysiert und aufzeigt, dass sie zu Gesetzen verallgemeinerbar sind, oder genau genommen, dass der Übertritt dieser Pflichten nicht verallgemeinerbar ist574. Vgl. GMS BA49. »Maxime ist das subjektive Prinzip zu handeln, und muss vom objektiven Prinzip, nämlich dem praktischen Gesetze, unterschieden werden. Jene enthält die praktische Regel, die die Vernunft den Bedingungen des Subjekts gemäß (öfters der Unwissenheit oder auch den Neigungen desselben) bestimmt, und ist also der Grundsatz, nach welchem das Subjekt handelt; das Gesetz aber ist das objektive Prinzip, gültig für jedes vernünftige Wesen, und der Grundsatz, nach dem es handeln soll, d. i. ein Imperativ« (GMS Anm. BA52). 572 GMS BA51/52. 573 GMS BA52. 574 Vgl. GMS BA53–57. Gemeint ist die Analyse des Selbstmordverbots, des Lügensverbots, des Verbots eines reinen Lustlebens und des Egoismus. Darin sind natürlich auch vier Gebote enthalten: 1. Lebenserhalt, 2. Ehrlichkeit, 3. vollständige Kultur der eigenen Vermögen und 4. Hilfsbereitschaft. Man kann die Stichhaltigkeit der Argumentationsschritte in jedem der vier Beispiele diskutieren, was in der Literatur insbesondere bei den ersten beiden Beispielen schon oftmals geschehen ist. Im Zusammenhang des Gesamtgedankengangs der Grundlegung erscheint mir aber nur die Absicht Kants im Umgang mit den Beispielen relevant. Er will den kategorischen Imperativ als Grundlage der traditionellen Pflichten nachweisen und nicht neue Pflichten formulieren. Für diesen Zweck reicht es aus festzustellen, dass diese Pflichten durch den Verallgemeinerungstest erklärt werden können. Dass andere Maximen diesen Test ggf. bestehen oder andere Gründe für diese Pflichten vorgebracht werden könnten, ist für Kants Zielsetzung zunächst irrelevant. Die Ableitung der Pflichten, die sich aufgrund des Sittengesetzes für den Mensch festlegen lassen, belässt Kant der Metaphysik der Sitten vor. Dort wird das moralische Prinzip selbst allerdings nicht mehr hergeleitet, sondern als bekannt und bewiesen vorausgesetzt. 570 571

210

IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

Das Fazit dieser Ausführungen enthält das Prüfungskriterium von Handlungsmaximen: »man muss wollen können [Hervorhebung im Original], dass eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde: dies ist der Kanon der moralischen Beurteilung derselben überhaupt. Einige Handlungen sind so beschaffen, dass ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann; weit gefehlt, dass man noch wollen könne, es sollte ein solches werden. Bei andern ist zwar jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich, zu wollen, dass ihre Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde«575. Selbst in gelegentlichen Pflichtübertritten, deren empirisches Faktum Kant nicht leugnet, sieht er noch unsere Anerkennung des kategorischen Imperativs als Pflichtprinzip. Denn obwohl wir uns in solchen Fällen von unseren Neigungen bestimmen lassen, würden wir gar nicht wollen, dass unsere aktuelle Maxime allgemeines Gesetz würde. Stattdessen betrachten wir den eigenen Pflichtübertritt als Ausnahme, womit die Gesetzmäßigkeit der Maxime als eigentliche Norm anerkannt wird576. Für Kant sind diese empirischen Tatsachen ein Beleg für die faktische Wirksamkeit des kategorischen Imperativs in der Alltagswelt. Wenn man beide Formulierungen des kategorischen Imperativs im Zusammenhang mit den Grundlagen seiner Herleitung betrachtet, wird sein Inhalt um einiges deutlicher. In der als zweites zitierten Formulierung wird erklärt, dass das Gesetz in seiner Allgemeinheit die Form des Daseins der Dinge bzw. der Natur ausmacht577. Diese Form wird den Dingen vom Verstand vorgeschrieben, wodurch Natur überhaupt erst konstituiert wird578. Diese Feststellung erklärt auch die anfängliche Voraussetzung der gesamten Deduktion, jedes Ding der Natur wirke nach Gesetzen579. Diese Gesetzmäßigkeit ist eine Vorschrift des Denkens, die im Naturbegriff gefasst ist. Damit ist aber auch am Menschen alles, was zur Natur gehört, immer gesetzmäßig und zwar gänzlich unabhängig von seinen Willensentscheidungen. Der kategorische Imperativ fordert also nicht, dass die Handlungen des Menschen gesetzmäßig sind, denn das sind sie sowieso, weil sie in der sinnlich-wahrnehmbaren Welt stattfinden und damit Teil der Natur sind. Er fordert, dass die Handlungsmaximen des Menschen gesetzmäßig sind. Da die Maximen nicht wahrnehmbar sind, sind sie kein Teil der Natur und damit auch nicht von sich aus gesetzmäßig. Anders formuliert fordert Kant, dass der Mensch das Gesetz nicht nur den Dingen in der sinnlichen Welt vorschreiben soll, sondern ebenso auch sich selbst in dem Bereich des Denkens und Wollens, der nicht zur sinnlichen, sondern zur geistigen Welt geGMS BA57. Vgl. GMS BA58. 577 Vgl. GMS BA52. 578 Vgl. dazu bspw. Kants Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, §36. 579 Vgl. GMS BA36. 575 576

C. Nachvollzug der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«

211

hört. Er soll sich also einer Vorschrift seines eigenen Denkens gemäß verhalten. Nur dann würde er sich von der inhaltlich zufälligen Natur unabhängig erweisen und sittlich gut sein. Aus der Pflichtenanalyse oben ergibt sich außerdem, dass ein Wille, der eine nicht gesetzmäßige Maxime wählt, sich selbst aufhebt580. Vermutlich muss man diese Aussage auf dem jetzigen Stand so verstehen, dass dieser Wille sich den Zufälligkeiten der Neigungen ausliefert und damit seine Souveränität gegenüber der Natur verliert. Der gute Wille zeichnet sich aber gerade durch die Unabhängigkeit und Freiheit von jeglichen zufälligen Einflüssen aus581. Da der Wille schließlich nur als eine bestimmte Ausprägung der Vernunft verstanden wird, würde sich in einem von Neigungen bestimmten Willen die Vernunft ihrer Fähigkeit, den Dingen das Gesetz vorzuschreiben, selbst berauben und sich stattdessen von den Dingen bestimmen lassen. Damit würde sich die Vernunft in praktischer Hinsicht selbst aufheben. Sie wäre selbstzerstörerisch und als solche nicht gut. Bisher hat Kant gezeigt, dass im Begriff der Sittlichkeit eine solche Selbstbestimmtheit und zugleich Gesetzlichkeit des Willens gedacht wird, ob dieser Begriff richtig ist und ein solcher Wille möglich ist, muss noch bewiesen werden. Diese Frage stellt sich Kant später explizit. Zunächst will er aber den oben erhobenen Allgemeingültigkeitsanspruch einlösen und die Frage beantworten, ob der kategorische Imperativ nur für den Menschen gilt oder ein notwendiges Gesetz für vernünftige Wesen überhaupt ist. »Wenn es ein solches ist, so muss es (völlig a priori) schon mit dem Begriffe des Willens eines vernünftigen Wesens überhaupt verbunden sein«582. Das vernünftige Wesen selbst als Materie des guten Willens Die Betrachtung des Begriffs eines vernünftigen Wesens gehört laut Kant in den Bereich der Metaphysik der Sitten, weil es keine sinnliche Erfahrung eines solchen Wesens geben kann. Dieser Teil der praktischen Philosophie behandelt das objektiv-praktische Gesetz und betrifft im Grunde das »Verhältnis[se] eines Willens zu sich selbst, sofern er sich bloß durch Vernunft bestimmt«583. Kant wendet sich also erneut dem vernünftigen Willen zu. »Nun ist das, was dem Willen zum objektiven Grunde seiner Selbstbestimmung dient, der Zweck, und dieser, wenn er durch bloße Vernunft gegeben wird, muss für alle vernünftige Wesen gleich gelten«584. Im ersten Untersuchungsschritt unterschied Kant die Materie eines Willens von seiner Form und stellte fest, dass die Zwecke stets dessen Materie darstellen und das Gesetz die 580 581 582 583 584

Vgl. GMS BA57. Vgl. GMS BA61. GMS BA62. GMS BA63. GMS BA63.

212

IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

Form. Da auch ein gesetzlicher Wille immer etwas wollen muss, werden nun doch die Zwecke betrachtet, obwohl sie vorher als Gründe der Willensbestimmung ausgeschlossen wurden. Innerhalb der Zwecke unterscheidet Kant wiederum zwischen material und formal. Alle materialen Zwecke stehen nach wie vor unter dem Verdacht der Zufälligkeit, da sie von der je individuellen Sinnesart abhängen, diese aber nicht von der Vernunft bestimmt wird. Solche Zwecke haben nur einen relativen Wert im Bezug auf das Begehrungsvermögen, dem sie entspringen. Sie sind die Grundlage hypothetischer Imperative, die also materialen Prinzipien entsprechen585. Wenn es nun neben solchen relativen Zwecken auch einen Zweck an sich selbst gäbe, dann so Kant wäre dieser Zweck die Grundlage des kategorischen Imperativs. Als ein Zweck an sich selbst kommt nur etwas in Frage, »dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat«586. Gibt es also etwas mit absolutem Wert? Die genannten relativen Zwecke gewinnen ihren Wert aufgrund der Bedürfnisse. Diese wiederum haben keinen eigenen Wert, sondern sind nur im Bezug auf die zugrunde liegenden Neigungen wertvoll. Aber auch die Neigungen selbst haben nach Kant keinen absoluten Wert, weil jedes vernünftige Wesen darum bemüht ist, gänzlich frei von diesen zu sein587. Warum dies so ist, erläutert Kant nicht, aufgrund der vorhergehenden Überlegungen lässt sich diese Feststellung aber durchaus erklären. Da die Neigungen die Befolgung des Vernunftgesetzes erschweren und damit eine Gefährdung der Vernunft selbst darstellen, könnte die Vernunft ohne Neigungen ihre Tätigkeit viel leichter entfalten und der sinnlichen und geistigen Welt ihr Gesetz vorschreiben. Jedes Vernunftwesen, das sich selbst im eigentlichen Sinne verwirklichen will, muss also die Freiheit von Neigungen wünschen. Denn das einzige, dessen Dasein einen absoluten Wert hat und insofern ein Zweck an sich selbst ist, ist das vernünftige Wesen588. Da »ohne dieses überall gar nichts von absolutem Wert würde angetroffen werden; wenn aber aller Wert bedingt, mithin zufällig, wäre, so könnte für die Vernunft überall kein oberstes praktisches Prinzip angetroffen werden«589. Das vernünftige Wesen als Zweck an sich selbst ist die implizite Voraussetzung des alltäglichen Begriffs der Sittlichkeit und zugleich auch des kategorischen Imperativs und aller formaler praktischer Prinzipien. Der aus diesem Zweck folgende praktische Imperativ lautet dann folgendermaßen: »Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest«590. Auch dieser Imperativ 585 586 587 588 589 590

Vgl. GMS BA64. GMS BA64. Vgl. GMS BA65. Vgl. GMS BA64–66. GMS BA66. GMS BA66/67.

C. Nachvollzug der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«

213

wird an den schon oben verwendeten Beispielen traditioneller Pflichten veranschaulicht591. Der formale Zweck soll also das vernünftige Wesen selbst sein. Da der Wille selbst Vernunft ist, will sich der Wille also selbst. Ob ein Wille, der sich selbst will, tatsächlich etwas will, ist angesichts der Bestimmung des Willens als ein Ableitungsvermögen fraglich. Man kann aber trotz dieser Fragwürdigkeit feststellen, dass der Erhalt des absoluten Wertes vernünftiger Wesen den Hintergrund des kategorischen Imperativs ausmacht, der dann natürlich von allen vernünftigen Wesen geteilt werden kann. Der Selbsterhalt scheint das Ziel solcher Wesen zu sein, das nach Kant zugleich das Ziel des guten Willens sein und damit die sittliche Wirklichkeit bestimmen soll. Was macht nun dieses vernünftige Wesen aus? Was will der selbstbezogene Wille? Auf dem aktuellen Stand der Betrachtung weiß man im Grunde nur, dass dieses Wesen Gesetze achtet und befolgt und sich dadurch von den Anfechtungen der Sinnlichkeit zu befreien bemüht. Im Wesentlichen ist das vernünftige Wesen also durch Gesetzmäßigkeit charakterisiert. Wenn nun auch der Zweck des Wollens Gesetzmäßigkeit sein soll, dann wird nicht nur die Form der Maximen durch das Gesetz vorgeschrieben und eingeschränkt, sondern auch die Möglichkeit, sich beliebige Zwecke zu setzen, der Gesetzmäßigkeit als oberstem Zweck untergeordnet592. Im ersten Schritt wurden die subjektiven Zwecke bloß in ihrer Umsetzung nach Regeln geordnet. Im zweiten Schritt werden aber diese möglichen Zwecke schon bei ihrer Auswahl der Gesetzmäßigkeit unterworfen. Auf diesem Wege kann sich die Vernunft als Selbstzweck gegenüber der Bedürfnisbefriedigung, die der Zweck der Sinnlichkeit ist und durch die Neigungen vermittelt wird, durchsetzen und in ihrer spezifischen Tätigkeit erhalten. Diese Feststellung beantwortet auch im Grunde schon die Frage, warum der Mensch sich selbst dem Gesetz unterwerfen soll. Die Antwort könnte lauten, weil er darin sein Wesen bejaht und an der Sinnlichkeit verwirklicht. Nachdem nun die Form und die Materie des guten Willens als Gesetz festgelegt sind, stellt sich die Frage nach dem Grund von beiden. Schließlich sucht Kant nach dem Prinzip der Sittlichkeit. Welches Prinzip muss also der Wille befolgen, damit das Gesetz ihn vollständig bestimmt? Autonomie als das Wesen des guten Willens »Es liegt nämlich der Grund aller praktischen Gesetzgebung objektiv in der Regel und der Form der Allgemeinheit, die sie ein Gesetz (allenfalls Naturgesetz) zu sein

591 592

Vgl. GMS BA67–69. Vgl. GMS BA69/70.

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IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

fähig macht (nach dem ersten Prinzip), subjektiv aber im Zwecke; das Subjekt aller Zwecke aber ist jedes vernünftige Werden, als Zweck an sich selbst (nach dem zweiten Prinzip): hieraus folgt nun das dritte praktische Prinzip des Willens, als oberste Bedingung der Zusammenstimmung desselben mit der allgemeinen praktischen Vernunft, die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens«593. Mit diesem dritten Prinzip klärt Kant die Frage nach dem Grund, das Gesetz zu befolgen. Denn trotz der ersten beiden Prinzipien kann man sich noch ein interessegeleitetes Befolgen des Gesetzes denken, bspw. aus Selbstliebe, das selbst nicht von dem Gesetz bestimmt wird. Dann allerdings gebe es doch keinen Unterschied zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen, sondern alle wären hypothetisch594. Wenn man also die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs aufrechterhalten will, dann muss auch dieses fremde Interesse als Grund der Gesetzesbefolgung vermieden werden. Dies geschieht in der Idee eines selbstgesetzgebenden Willens. Dieser Wille braucht keinen weiteren Grund, um das Gesetz befolgen zu wollen. Weil das Gesetz sein Gesetz ist, will er es schon im Moment der Gesetzgebung595. Anders formuliert, die Vernunft selbst gibt das Gesetz nach eigenem Maß und leitet auch selbst daraus Handlungen ab. Es ist ihr Gesetz für sie selbst aus ihr selbst heraus. Sie ist Grund, Inhalt und Form dieses Gesetzes. Diesen Grundsatz der moralischen Gebote nennt Kant das Prinzip der Autonomie des Willens. Alle Gebote, die nicht in einem selbstgesetzgebenden Willen begründet sind, haben im Gegensatz dazu die Heteronomie des Willens zum Grundsatz. Diese begründet nach Kant aber niemals eine Pflicht und damit auch keine Sittlichkeit, sondern nur die Notwendigkeit einer Handlung aus einem bestehenden Interesse heraus596. Wie schon ausgeführt, ist die Vernunft bei diesem instrumentellen Gebrauch nicht Selbstzweck, sondern wird als Mittel dem Zweck der Bedürfnisbefriedigung unterworfen und damit missbraucht. Eine Instrumentalisierung der Vernunft widerspricht aber dem oben explizierten Verhältnis vernünftiger Wesen zu sich selbst, wonach sie sich stets als Selbstzweck ansehen. Damit ist Heteronomie das Prinzip, das überwunden werden muss, damit die Vernunft sich in ihrer spezifischen Funktion der Gesetzgebung selbst erhalten kann. Ihr Gegenprinzip zur sinnlichen Heteronomie ist Autonomie. Von dem Grundsatz der Autonomie her kann Kant nun auch die Moralität selbst bestimmen. »Moralität besteht also in der Beziehung aller Handlung auf die Gesetzgebung […]. Diese Gesetzgebung muss aber in jedem vernünftigen Wesen selbst 593 594 595 596

GMS BA70. Vgl. GMS BA71. Vgl. GMS BA72. Vgl. GMS BA73.

C. Nachvollzug der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«

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angetroffen werden, und aus seinem Willen entspringen können, dessen Prinzip also ist: […], dass der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne«597. Die Pflicht ist dann die praktische Notwendigkeit, nach diesem Prinzip zu handeln598. Da alle vernünftigen Wesen unter diesen Prinzipien stehen, entsteht bei ihrer Erfüllung eine systematische Verbindung aller vernünftigen Wesen durch die selbstgegebenen Gesetze. Diese Verbindung nennt Kant das Reich der Zwecke599. Allein durch seine sittliche Gesinnung ist der Mensch Mitglied dieses Reichs und als solches frei von den Naturgesetzen und nur den eigenen Gesetzen unterworfen. Doch »was ist es denn nun, was die sittlich gute Gesinnung oder die Tugend berechtigt, so hohe Ansprüche zu machen? Es ist nichts geringeres als der Anteil, den sie dem vernünftigen Wesen an der allgemeinen Gesetzgebung verschafft […]. Denn es hat nichts einen Wert, als den, welchen ihm das Gesetz bestimmt. Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Wert bestimmt, muss eben darum eine Würde, d. i. unbedingten, unvergleichbaren Wert haben, für welchen das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgibt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen hat. Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur«600.

ii. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Obwohl Kant anfänglich nur ein Prinzip der Sittlichkeit suchte, hat seine Analyse scheinbar drei Prinzipien hervorgebracht. Wie hängen die drei praktischen Prinzipien zusammen? »Die angeführten drei Arten, das Prinzip der Sittlichkeit vorzustellen, sind aber im Grunde nur so viele Formeln eben desselben Gesetzes, deren die eine die anderen zwei von selbst in sich vereinigt. Indessen ist doch eine Verschiedenheit in ihnen, die zwar eher subjektiv als objektiv-praktisch ist, nämlich, um eine Idee der Vernunft der Anschauung (nach einer gewissen Analogie) und dadurch dem Gefühle näher zu bringen«601. Die Dreiheit der Prinzipien ist also nur eine didaktische Einkleidung einer Einheit. Wie schon bei der Betrachtung des richtigen Handelns deutlich wurde, kommt es bei der Sittlichkeit oder Tugend auf die Art der Maximen als Handlungsgründe an. Gute Maximen bringen gutes Handeln hervor und schlechte eben schlechtes. Jede Maxime aber hat eine Form und eine Materie. Die richtige Form wird im ersten

597 598 599 600 601

GMS BA75/76. Vgl. GMS BA76. Vgl. GMS BA74. GMS BA78/79. GMS BA79/80.

216

IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

Prinzip als Tauglichkeit zum allgemeinen Naturgesetz bestimmt. Die richtige Materie legt das zweite Prinzip als das vernünftige Wesen selbst fest. Damit müssen die naturgesetzhaften Maximen immer die Vernunft zum Zweck haben. Das dritte Prinzip schließlich enthält die vollständige Bestimmung aller sittlichen Maximen. Denn es ist der selbstgesetzgebende Wille, der erstens das Gesetz und die Maximen hervorbringt und zweitens durch sie erhalten werden soll602. Die Gesetzmäßigkeit war auch das kennzeichnende Merkmal des vernünftigen Wesens überhaupt. Die Autonomie kann damit als eine Gesetzgebung verstanden werden, die die gesetzgebende Instanz dazu anhält, sich selbst als gesetzgebend zu erhalten. Auf dieser Grundlage kann Kant nun auch den guten Willen bestimmen. »Der Wille ist schlechterdings gut, der nicht schlecht sein, mithin dessen Maxime, wenn sie zu einem allgemein Gesetz gemacht wird, sich selbst niemals widerstreiten kann«603. Darin sind die drei Prinzipien wiederum vereint. Der kategorische Imperativ als Forderung nach Verallgemeinerbarkeit ist die einzige formale Bedingung, unter der der Wille sich niemals selbst widersprechen wird604. Das vernünftige Wesen als Zweck ist als eine material einschränkende Bedingung gedacht, denn ein Wille, der sich bei jeder Zwecksetzung als Subjekt der Zwecke stets mitdenkt, wird sich ebenfalls nicht widersprechen605. Er wird sich niemals selbst aufheben. Das Autonomieprinzip erklärt zusätzlich zweierlei. Einerseits bietet es im Selbsterhalt des eigenen absoluten Wertes einen Grund für die Unterwerfung unter das Vernunftgesetz, ohne den Willen an eine externe Bedingung zu knüpfen und damit die unbedingte, kategorische Forderung in eine hypothetische zu verwandeln. Anderseits erläutert es die hohe Wertschätzung einer Person, die sich dem Gesetz unterworfen hat und stets aus Pflicht handelt. »Denn so fern ist zwar keine Erhabenheit an ihr, als sie dem moralischen Gesetz unterworfen ist, wohl aber, so fern sie in Ansehung eben desselben zugleich gesetzgebend und nur darum ihm untergeordnet ist«606. Wenn wir nun das Gesetz achten, dann achten wir darin bloß den uns möglichen gesetzgebenden Willen. Damit ist die Autonomie des Willens das oberste Prinzip der Sittlichkeit und das eigentliche Gebot des kategorischen Imperativs607. Die Autonomie soll zugleich das wertvollere Gegenprinzip zum natürlichen Glücksstreben des Menschen darstellen und also den Menschen davor bewahren, sich in seiner Lebensführung selbst an die Bedürfnisse auszuliefern. Das falsche Selbstverständnis als ein bedürftiges, sinnliches Wesen soll durch das Selbstverständnis als

602 603 604 605 606 607

Vgl. GMS BA80–81. GMS BA81. Vgl. GMS BA81. Vgl. GMS BA82–83. GMS BA86. Vgl. GMS BA87–88.

C. Nachvollzug der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«

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ein autonomes, vernünftiges Wesen abgelöst werden. Dieses Wesen ist keineswegs bedürftig, sondern ganz im Gegenteil voller Würde und Macht. Die Gesetzgebung, die sich dazu erhebt, Maßstab aller Werte zu sein, und scheinbar keinen weiteren Maßstab über sich selbst hinaus anerkennt, expliziert Kant also als den inneren Kern des alltäglichen Sittlichkeitsbegriffs. Da hier von Kant kein äußeres, politisches Gesetz gemeint ist, sondern ein inneres, moralisches, fragt sich, wer dieser innere Gesetzgeber genau ist, woher er seine Berechtigung zur Gesetzgebung und seine Fähigkeit, nur richtige Gesetze zu geben, erhält. Der innere Gesetzgeber ist aus dem bisherigen Gedankengang klar ersichtlich. Es ist die Vernunft selbst. Wodurch sie allein berechtigt und fähig ist, gesetz- und maßstabgebend zu sein, wurde bisher nicht geklärt. Es wurde nur offen gelegt, dass sie diese Funktion innehaben muss, wenn der Alltagsbegriff der Sittlichkeit sinnvoll gedacht werden soll608. Die Begründung, d. h. der Beweis der Richtigkeit dieses Begriffs sowie seiner Möglichkeit, fehlt dem Alltagsverständnis. Diese Begründung vorzubringen und damit den Alltagsbegriff vor den Anfechtungen des Glücksstrebens und des falschen Denkens zu schützen, hat Kant zu Beginn seiner Ausführungen zur Aufgabe der Philosophie erklärt. Im letzten Kapitel der Grundlegung will er seinen Anspruch einlösen und a priori beweisen, dass die Autonomie des Willens wirklich und notwendig ist609.

c. Die Ursache des guten Willens: Vernunft selbst (BA97–128) i. Die Frage nach der Möglichkeit von Autonomie Einen Grund, der es notwendig macht, die Möglichkeit eines autonomen Willens nachzuweisen, hat Kant schon ausgeführt. Es ist kurz gefasst der Widerspruch dieses Sittlichkeitsprinzips zu den sonstigen Alltagsmeinungen einerseits und zu den Ansichten der philosophischen Tradition andererseits. Die Diskrepanz innerhalb des Alltagsverständnisses, das sowohl eine Moral lebt, die sich auf die Autonomie zurückführen lässt, aber auch zugleich moralische Forderungen mit heteronomen Prinzipien, wie bspw. dem Glücksstreben, in Zusammenhang bringt, lässt sich mit Kant als Inkonsequenz des Alltagsdenkens erklären. Da dem Alltagsverstand die Grundlagen seiner Meinungen nicht bekannt sind, kann man auch nicht erwarten, dass er die Zusammenhänge zwischen den Meinungen reflektiert oder gar auf Konsistenz prüft. Das Alltagsdenken kennt die Begründungen seiner moralischen Ansichten und Urteile nicht. 608 609

Vgl. GMS BA95. Vgl. GMS BA96.

218

IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

Den Widerspruch zu den Ansichten der philosophischen Tradition führt Kant schlicht darauf zurück, dass die Tradition über das Prinzip der Sittlichkeit irrt. Der Fehler der Tradition bestehe einerseits in einem empirischen, heteronomen Denken. Denn wenn auf empirische Erfahrungen als Gründe zurückgegriffen wird, dann wird das Prinzip der Sittlichkeit, das eigentlich allgemeingültig sein soll, von zufälligen Umständen des Menschseins abhängig gedacht. Die Verallgemeinerbarkeit der menschlichen Natur wird aber keineswegs nachgewiesen, so dass Anspruch und Wirklichkeit empirischer Prinzipien nicht zusammenstimmen610. Andererseits führe eine zwar rationale, aber falsche theoretische Spekulation zu leeren Maßstabsbegriffen, wie bspw. Vollkommenheit oder Gott. Solche vermeintlichen Maßstäbe sind aufgrund ihrer Inhaltlsleere oder Zirkularität zur Begründung einer Moral ungeeignet. Sie setzen das letzte Prinzip, das sie eigentlich herleiten wollen, in ihrer Herleitung stets voraus, so dass die Herleitung keine Erklärungskraft mehr hat611. Das gemeinsame Problem beider traditioneller Ansätze, d. h. also sowohl des Empirismus als auch des Rationalismus, besteht für Kant letztlich darin, dass sie die moralischen Imperative als von etwas anderem abhängig denken und damit entweder in einen Regress der Imperative geraten oder genötigt werden, willkürlich ein letztes Naturgesetz zu setzen, das die Autonomie gänzlich und grundsätzlich unmöglich werden lässt612. Aus diesen Gründen ist also der Widerspruch des von Kant aufgedeckten Autonomieprinzips zu den traditionellen Ansichten zwar ein Anlass, über seine Begründung nachzudenken, aber kein Grund, seine Falschheit anzunehmen. Allerdings würde in Kants Augen jegliche Grundlage für eine Moral verloren gehen, wenn er die Schwierigkeiten der Tradition nicht überwinden kann. Dann wäre die Autonomie zwar die notwendige Grundlage der vom Alltagsdenken unterstellten Moral, aber diese Unterstellung wäre in sich unbegründet und damit die Alltagsmoral eine bloße Chimäre613. Der zweite Grund, nach der Möglichkeit der Autonomie zu fragen, liegt im kantischen System selbst. Denn die Idee eines nach eigenen Gesetzen handelnden Menschen scheint der Idee des Menschen als eines sinnlichen, von Naturgesetzen bestimmten Wesens zu widersprechen. Aber »der Wille ist eine Art Kausalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann; so wie Naturnotwendigkeit die Eigenschaft der Kausalität aller vernunftlosen Wesen, durch den Einfluss fremder Ursachen zur Tätigkeit bestimmt zu 610 611 612 613

Vgl. GMS BA90–91. Vgl. GMS BA91–93. Vgl. GMS BA93–94. Vgl. GMS BA95/96.

C. Nachvollzug der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«

219

werden«614. Die Möglichkeit eines autonomen Willens verknüpft Kant auf diese Weise mit der Möglichkeit der Unabhängigkeit vom Naturgesetz. Eine solche Unabhängigkeit führt er ein als Kausalität vernünftiger Wesen und deren Freiheit. Die Unterscheidung von vernünftigen und vernunftlosen Wesen knüpft an die schon zu Beginn der philosophischen Willensbetrachtung erfolgte Unterscheidung zwischen Dingen der Natur, die schlicht nach Gesetzen wirken, und vernünftigen Wesen, die nach der Vorstellung von Gesetzen handeln können615. Diese Dualität zieht Kant also wieder heran, um die Möglichkeit eines autonomen Willens aufzuzeigen. Neu ist allerdings die Verknüpfung des Handelns nach Gesetzesvorstellungen mit der Freiheit von den Naturgesetzen. Diese Verknüpfung soll der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie sein. Aber diese negative Bestimmung der Freiheit reicht nach Kant nicht aus, um ihr Wesen und damit die Möglichkeit von Autonomie einzusehen616. Sie stellt zunächst nur eine begriffliche Präzisierung dar. Da die Freiheit nicht als eine Gesetzlosigkeit oder Beliebigkeit, sondern als eine Eigengesetzlichkeit verstanden ist, wird offensichtlich, dass »ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei«617 ist. Diese Verknüpfung von Autonomie und Freiheit soll im nächsten Schritt den Beweis des synthetischen Satzes, »ein schlechterdings guter Wille ist derjenige, dessen Maxime jederzeit sich selbst, als allgemeines Gesetz betrachtet, in sich enthalten kann«618, a priori ermöglichen. Solche Sätze könne man nämlich nur beweisen, indem »beide Erkenntnisse durch die Verknüpfung mit einem dritten, darin sie beiderseits anzutreffen sind, unter einander verbunden werden. Der positive Begriff der Freiheit schafft dieses dritte«619. Was sind die beiden Erkenntnisse, die verbunden werden sollen? Es scheinen einerseits die Bestimmung des guten Willens als gesetzlicher Wille und andererseits die Eigenschaft der Maxime zu sein, sich selbst enthalten zu können. Die beiden Elemente – Gesetzlichkeit und Selbstbezüglichkeit – entsprechen dem schon am Alltagsdenken aufgedeckten Tugendverständnis. Denn im Alltag wurde das Handeln als gut angesehen, dem die Achtung vor dem Gesetz als Motiv zugrunde lag. Zugleich sollte das Gesetz nur um seiner selbst willen befolgt werden, ohne dass der Handelnde einen darüber hinausgehenden Nutzen erwartet. Diese beiden Momente des Alltagsdenkens wurden von Kant in ihrer inneren Logik weiterverfolgt und auf einer höheren Reflexionsebene begrifflich gefasst, so dass nun die Möglichkeit besteht, über ihre Begründung nachzudenken. Es wurde außerdem deutlich, dass die Gesetzlichkeit die Form der Sittlichkeit beschreibt und die Selbstbezüglichkeit das 614 615 616 617 618 619

GMS BA97. Vgl. GMS BA36. Vgl. GMS BA97. GMS BA98. GMS BA98/99. GMS BA99.

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IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

Kriterium für mögliche Inhalte darstellt. Autonomie war der Begriff für die Verknüpfung beider Elemente. Der positive Begriff der Freiheit, der die Möglichkeit der Autonomie einsichtig machen soll, muss also die Grundlage der Verknüpfung von Gesetzlichkeit und Selbstbezüglichkeit enthalten, um dem Alltagsdenken eine Begründung zu verschaffen und damit die Aufgabe der Philosophie zu vollenden. Die Deduktion des positiven Freiheitsbegriffs aus der reinen praktischen Vernunft erfolgt in zwei Schritten. Im ersten Schritt wird der Anspruch auf Freiheit auf alle vernünftigen Wesen ausgedehnt und im zweiten Schritt wird seine Notwendigkeit erschlossen. Anschließend wird die Möglichkeit des kategorischen Imperativs abgeleitet. ii. Der positive Begriff der Freiheit Die Allgemeingültigkeit der Freiheit Da das Prinzip der Sittlichkeit für alle vernünftigen Wesen gelten soll, muss die Freiheit des gesetzgebenden Willens nicht nur für Menschen bewiesen werden, sondern für vernünftige Wesen überhaupt. Die Verallgemeinerung des Freiheitsanspruchs beginnt mit einer Festsetzung des Beweiskriteriums in der praktischen Philosophie im Unterschied zur theoretischen Philosophie. »Ich sage nun: Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum, in praktischen Rücksicht, wirklich frei, d. i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, eben so, als ob sein Wille auch an sich selbst, und in der theoretischen Philosophie gültig, für frei erklärt würde«620. Damit erklärt Kant die Möglichkeit des Handelns zum Maßstab seiner Überlegungen. Er muss folglich beweisen, dass vernünftige Wesen nur unter der Idee der Freiheit handeln können. Da bisher kein anderen Begriff von Freiheit entwickelt wurde, muss man wohl von dem negativen Freiheitsbegriff ausgehen und die zu beweisende These so verstehen, dass vernünftige Wesen nur handeln können, wenn sie von den Naturgesetzen unabhängig sind. »Nun behaupte ich: dass wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, notwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der es allein handle. Denn in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist, d. i. Kausalität in Ansehung ihrer Objekte hat«621. Wenn Kant also davon spricht, dass ein vernünftiges Wesen nur unter der Idee der Freiheit handeln kann, dann bezieht er sich damit auf den Prozess der Willensbildung, der dem konkreten Handeln vorausgeht. Diese Fokussierung auf den Willen leuchtet ein, da die eigentlich verhandelte Frage nach der Möglichkeit von Autonomie die Selbstbestimmung des Willens betrifft und nicht 620 621

GMS BA100. GMS BA100/101.

C. Nachvollzug der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«

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seine empirischen Handlungsfolgen. Weil der Wille selbst aber als eine praktische Ausprägung der Vernunft verstanden wird, stellt sich die Frage nach der Freiheit des Willens in ihrem Kern als die Frage nach der Freiheit der Vernunft heraus. Die Vernunft selbst war bisher Kants unhinterfragtes Maß der Deduktionen und der Maßstab für die Annehmbarkeit von Prinzipien. Mit der Rückführung der Freiheitsfrage bis zur Vernunft ist Kant also auf der tiefsten und grundlegendsten Ebene seines Systems angelangt. Die folgende Begründung der Möglichkeit eines freien, autonomen Willens ist damit nicht nur eine Begründung der Alltagsmoral, sondern zuallererst die Begründung eines Denkens, das ausschließlich aus der im Alltag vorgefundenen Vernunft heraus zu denken versucht. Damit kann man Kants Frage nach der Möglichkeit des autonomen Willens in die folgende Frage umformulieren: Ist die Vernunft frei und eigenständig in dem Sinne, dass sie selbst der erste und letzte Grund ist, aus dem sie alles ableitet und begründet? Oder ist sie abhängig und bedürftig in dem Sinne, dass sie stets einen anderen Bezugspunkt braucht, aus dem heraus sie sich selbst und alles aus sich Abgeleitete versteht? Besinnt man sich an dieser Stelle kurz zurück auf die aristotelische Ethik, dann kann man diese Frage relativ klar beantworten. Für Aristoteles ist die Angewiesenheit des Vernunftvermögens auf einen anderen Gegenstand eine Selbstverständlichkeit. Zugleich ist die Erkenntnisfähigkeit auf solche Gegenstände beschränkt, zu denen eine gewisse Ähnlichkeit besteht622. Diese Gleichzeitigkeit von Ähnlichkeit und Verschiedenheit führt in letzter Konsequenz dazu, dass die höchste Wirklichkeit und die höchste Einsicht doch in der Vernunft, wenn auch in einer göttlichen Vernunft, zusammenfallen623. Der so gedachte Gott lässt sich dann aber nicht mehr so leicht von einer Projektion des Menschen von sich selbst unterscheiden und wird von Kant in seiner theoretischen Philosophie schließlich als eine bloße Idee der Vernunft entlarvt624. Als Konsequenz dieser Entlarvung scheint Kants Ansatz, nun die menschliche Vernunft selbst explizit zum Maßstab zu erheben, zunächst einzuleuchten. Die Folgen dieser Verlagerung des Maßstabs aus einem konkreten oder einem absoluten Gegenstand in das subjektive Vermögen sollen am Ende von Kants Überlegungen thematisiert werden. Was sagt also Kant zu der Freiheit der Vernunft? »Nun kann man sich unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewusstsein in Ansehung ihrer Urteile anderwärts her eine Lenkung empfinge, denn alsdenn würde das Subjekt nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe, die Bestimmung der Urteilskraft zuschreiben. Sie muss sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muss sie als praktische 622 623 624

Vgl. Aristoteles, NE VI. Explizit in: Aristoteles, Metaphysik XII. Vgl. Kritik der reinen Vernunft A567–642.

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IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens, von ihr selbst als frei angesehen werden; d. i. der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein, und muss also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden«625. Kants Antwort auf die Frage nach der Freiheit der Vernunft scheint vorerst aus zwei Elementen zu bestehen. Erstens muss die Vernunft sich in ihrer Urteilspraxis als selbstbestimmt und frei denken, anderenfalls wären die gefällten Urteile nicht ihre Urteile, sondern die von etwas anderem bspw. der Antriebe. Insofern die Vernunft also eigene Urteile zu fällen glaubt, muss sie sich selbst für frei halten. Daraus ergibt sich zweitens, dass insofern ein Wille mein Wille ist, ich ihn ebenfalls als frei und selbstbestimmt denken muss, da er anderenfalls ein fremder, durch etwas von mir Verschiedenes bestimmter Wille wäre. Die Idee, die Vernunft bzw. der Wille sei frei, wird in diesem Argument mit einer zweiten Idee verknüpft. Nämlich mit der Idee, dass die Vernunft die Urteile als ihre Urteile ansehen und den Willen entsprechend als eigenen Willen denken will. Die Selbstbestimmung oder die Freiheit ist die Denkvoraussetzung, unter der die Vernunft sich selbst denken kann. Der so verallgemeinerte Freiheitsanspruch gilt als Denkvoraussetzung natürlich für alle vernünftigen Wesen, die sich selbst denken, d. h. ein Bewusstsein ihrer selbst haben. »Wir haben den bestimmten Begriff der Sittlichkeit auf die Idee der Freiheit zurückgeführt; diese aber konnten wir, als etwas Wirkliches, nicht einmal in uns selbst und in der menschlichen Natur beweisen; wir sahen nur, dass wir sie voraussetzen müssen, wenn wir uns ein Wesen als vernünftig und mit Bewusstsein seiner Kausalität in Ansehung der Handlungen, d. h. mit einem Willen begabt, uns denken wollen, und so finden wir, dass wir aus eben demselben Grunde jedem mit Vernunft und Willen begabten Wesen diese Eigenschaft, sich unter der Idee seiner Freiheit zum Handeln zu bestimmen, beilegen müssen«626. Für diese freien, vernünftigen Wesen gilt das obige Sittengesetz, das sie nicht nur befolgen sollen, sondern sogar befolgen wollen, insofern ihre Vernunft ohne Hindernisse praktisch ist627. Nur für solche Wesen, die zusätzlich von der Sinnlichkeit affiziert werden, wie wir Menschen, stellt die Notwendigkeit des Vernunftgesetzes ein Sollen dar. In Bezug auf vernünftige Wesen als solche scheint es also, »als setzten wir in der Idee der Freiheit eigentlich das moralische Gesetz, nämlich das Prinzip der Autonomie des Willens selbst, nur voraus, und könnten seine Realität und objektive Notwendigkeit nicht für sich beweisen«628. Es hat sich im Grunde nur gezeigt, dass wir uns dem sittlichen Gesetz unterwerfen müssen, wenn wir uns als vernünftige und mit einem Willen begabte Wesen denken 625 626 627 628

GMS BA101. GMS BA 101/102. Vgl. GMS BA102. GMS BA103.

C. Nachvollzug der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«

223

wollen, aber dass wir es sind oder warum wir es wollen sollten, konnte bisher nicht bewiesen werden. Es zeigte sich also »eine Art von Zirkel, aus dem, wie es scheint, nicht heraus zu kommen ist«629. Die Notwendigkeit der Freiheit Um aus diesem Erklärungszirkel herauszukommen, setzt Kant an unserem Verhältnis zur sinnlichen Welt neu an. »Eine Auskunft bleibt uns aber noch übrig, nämlich zu suchen: ob wir, wenn wir uns, durch Freiheit, als a priori wirkende Ursachen denken, nicht einen anderen Standpunkt einnehmen, als wenn wir uns selbst nach unseren Handlungen als Wirkungen, die wir vor unseren Augen sehen, uns vorstellen«630. Nach Kant kennt schon der Alltag das Gefühl, »dass alle Vorstellungen, die uns ohne unsere Willkür kommen (wie die der Sinne), uns die Gegenstände nicht anders zu erkennen geben, als sie uns affizieren, […] wir dadurch, auch bei der angestrengtesten Aufmerksamkeit und Deutlichkeit, die der Verstand nur immer hinzufügen mag, doch bloß zur Erkenntnis der Erscheinungen, niemals der Dinge an sich selbst gelangen können«631. Anders kann es sich nur bei den Vorstellungen verhalten, die wir aus uns selbst heraus bilden. Die Dinge außerhalb von uns bleiben uns damit in ihrem eigentlichen Sein verborgen. Trotzdem muss hinter jeder Erscheinung ein an sich seiendes Erscheinendes unterstellt werden, anderenfalls ergibt die Aussage, wir würden nur die Erscheinung kennen, keinen Sinn. Erscheinung und Sein wären identisch. »Dieses muss eine, obzwar rohe, Unterscheidung einer Sinnenwelt von der Verstandeswelt abgeben, davon die erste, nach Verschiedenheit der Sinnlichkeit in mancherlei Weltbeschauern, auch sehr verschieden sein kann, indessen die zweite, die ihr zum Grunde liegt, immer dieselbe bleibt«632. Die Annahme einer gleich bleibenden Verstandeswelt ergibt sich also aus dem alltäglichen Verhältnis zur sinnlichen Welt, das den Erscheinungen der Dinge ein eigenständiges, von den menschlichen Sinnen unabhängiges Sein zuschreibt. Damit dieses Sein den Einheitspunkt der verschiedenen Erscheinungen darstellen kann, muss ihm außer der Eigenständigkeit auch die Beständigkeit unterstellt werden. Da diese Zuschreibungen Notwendigkeiten des Denkens explizieren und nicht die der Sinne, leuchtet es ein, die Ebene dieses erschlossenen Seins als Verstandeswelt zu bezeichnen. Zu sich selbst hat der Mensch nach Kant ein analoges Verhältnis. Er ist sich zunächst als eine Erscheinung des inneren Sinns gegeben und gewinnt dadurch einen empirischen, vielgestaltigen Begriff seiner selbst, so wie sein Bewusstsein von seiner 629 630 631 632

GMS BA104. GMS BA105. GMS BA105/106. GMS BA106.

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IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

Natur affiziert wird. »Indessen er doch notwendiger Weise über diese aus lauter Erscheinungen zusammengesetzte Beschaffenheit seines eigenen Subjekts noch etwas anderes zum Grunde Liegendes, nämlich sein Ich, so wie es an sich selbst beschaffen sein mag, annehmen, und sich also in Absicht auf die bloße Wahrnehmung und Empfänglichkeit der Empfindungen zur Sinnenwelt, in Ansehung dessen aber, was in ihm reine Tätigkeit sein mag (dessen, was gar nicht durch Affizierung der Sinne, sondern unmittelbar zum Bewusstsein gelangt), sich zur intellektuellen Welt zählen muss, die er doch nicht weiter kennt«633. Selbst der Alltagsverstand gelange zu dieser Feststellung, sobald ein Mensch nur ein wenig nachdenklich sei. Die Annahme eines beständigen und eigenständigen Ichs hinter den einzelnen Handlungen, Wünschen, Meinungen, kurz hinter seinen vielfältigen Erscheinungen spiegelt die Alltagsannahme wider, ein Mensch sei einerseits im Laufe seines Lebens irgendwie derselbe und andererseits für seine Lebensäußerungen verantwortlich. Würde man diese Annahme aufgeben, dann würden die alltäglichen Handlungsweisen gegenüber anderen Menschen ihren Sinn verlieren, weil sie keinen Adressaten und keinen Urheber mehr hätten, sondern bloß Ausdruck von Naturgesetzmäßigkeiten, wie bspw. das Wetter, wären. Kant hat also in der Idee des Menschen als eigenständiges und beständiges Ich eine grundlegende Annahme des Alltagsdenkens und -handelns aufgedeckt. Laut Kant neigt der Alltagsverstand aber ebenso leicht, wie er hinter den Erscheinungen etwas Erscheinendes unterstellt, dazu das Erscheinende selbst sinnlich zu vergegenständlichen und damit doch auf eine Erscheinung zu reduzieren634. Die philosophische Aufgabe besteht also darin, das richtige Verständnis des unterstellten inneren Menschen zu entwickeln. Das Unsinnliche des Menschen, wodurch er sich von allen anderen Dingen unterscheidet, ist nach Kant erwartungsgemäß die Vernunft. »Diese, als reine Selbsttätigkeit, ist sogar darin noch über den Verstand erhoben«635. Denn der Verstand bleibt an die Sinnlichkeit gebunden, obwohl er auch selbsttätig ist und Begriffe hervorbringt. Er kann aber keine anderen Begriffe hervorbringen als solche, die die sinnlichen Vorstellungen ordnen sollen. Ohne die Sinnlichkeit würde er gar nichts denken636. Die Vernunft aber vollzieht in der Schöpfung der Ideen so reine Spontaneität, dass sie den Bereich des Verstandes überschreitet und »ihr vornehmstes Geschäft darin beweiset, Sinnenwelt und Verstandeswelt von einander zu unterscheiden, dadurch aber dem Verstande selbst seine Schranken vorzuzeichnen«637. Die Vernunft ist also der innere Mensch, das eigenständige und beständige Ich. Der Verstand stellt damit

633 634 635 636 637

GMS BA107. Vgl. GMS BA107. GMS BA108. Vgl. GMS BA108. GMS BA108.

C. Nachvollzug der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«

225

eine Art theoretisches Brückenvermögen zwischen der Sinnlichkeit und der Geistigkeit des Menschen dar und wird von beiden beschränkt, so ähnlich wie der Wille das praktische Brückenvermögen bildet. Beide erfüllen die Aufgabe, der Sinnlichkeit eine Gesetzmäßigkeit vorzuschreiben. Der Mensch muss sich also als ein Wesen denken, das sowohl der sinnlichen als auch der intelligiblen Welt angehört. Ohne die sinnliche Dimension würde der Mensch keinerlei Erfahrung von sich haben und folglich keinen gehaltvollen Begriff seiner selbst bilden können. Um aber sich selbst als ein Selbst, d. h. ein beständiges und eigenständiges Wesen, begreifen zu können, muss der Mensch sich als Intelligenz und damit als ein Teil der Verstandeswelt auffassen. Keines der beiden Teile kann er aufgeben, ohne sich selbst zu verlieren. »Mithin hat es [das vernünftige Wesen] zwei Standpunkte, daraus es sich selbst betrachten, und Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlungen, erkennen kann, einmal, so fern es zur Sinnenwelt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie), zweitens, als zur intelligibelen Welt gehörig, unter Gesetzen, die, von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sein«638. Kurz gefasst, ist der Mensch als Vernunft frei vom Naturgesetz und nur dem eigenen Gesetz verpflichtet. Anders formuliert könnte man sagen, dass die Vernunft den Menschen als Ding an sich darstellt und auf diese Weise auch alle Eigenschaften innehat, die diesen Dingen denknotwendig zugeschrieben werden müssen: Eigenständigkeit und Beständigkeit. Als ein Ding in der Erscheinung ist er aber ebenso wie andere Erscheinungen den Naturgesetzen unterworfen. Das Problem der Gleichzeitigkeit von Freiheit und Naturgesetz erscheint damit als eine Vermischung von Betrachtungsweisen. Die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs Im Grunde ist die Möglichkeit des kategorischen Imperativs schon in dem Beweis der Zugehörigkeit des Menschen zu den beiden Welten enthalten und muss nur noch expliziert werden. Wäre der Mensch ein reines Vernunftwesen, dann würden alle seine Handlungen dem Vernunftgesetz entspringen und damit immer dem Prinzip der Sittlichkeit, d. h. der Autonomie des Willens, entsprechen. Als reines Sinnenwesen wiederum würden alle Handlungen aus den Naturgesetzen folgen und damit dem heteronomen Prinzip der Glückseligkeit gemäß sein. »Weil aber die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben, enthält, also in Ansehung meines Willens (der ganz zur Verstandeswelt gehört) unmittelbar gesetzgebend ist […], so werde ich mich als Intelligenz, obgleich anderseits wie ein zur Sinnenwelt gehöriges Wesen, dennoch dem Gesetze der ersteren, d. i. der Vernunft […] und also

638

GMS BA108/109.

226

IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

der Autonomie des Willens unterworfen erkennen«639. Das beständige Ich muss sich dem Vernunftgesetz also gar nicht unterwerfen, sondern ist davon als solches wesentlich bestimmt. Es muss sich bloß seiner eigenen Beschaffenheit bewusst werden. Der Imperativ verweist den Menschen bloß auf sein eigentliches Wesen. Zusammenfassend kann man also folgendes festhalten. Die Autonomie des Willens ist möglich, weil der Mensch in seinem Selbstverständnis notwendig ein Subjekt seiner sinnlichen Erscheinungen annimmt, das selbst nicht sinnlich sein kann. Dieses Subjekt ist die Vernunft als reine Selbsttätigkeit. Als solche ist der Mensch vollständig frei und unabhängig vom Naturgesetz und nur dem eigenen Gesetz unterworfen. Vor diesem Hintergrund scheint die Sittlichkeit einen einzigen Zweck zu haben: die Freiheit der Vernunft zu sichern und zu erhalten. Zugleich ist diese Freiheit die Möglichkeitsbedingung der Sittlichkeit. Das Vernunftgesetz, das der sittlich gute Mensch verwirklicht, ist dann das Mittel des Selbsterhalts der Vernunft. Ob diese Selbstbezüglichkeit einen problematischen Zirkel darstellt oder nicht, hängt letztlich von dem Verständnis der Vernunft ab. Wenn sie selbst der einzige Grund und Zweck der Autonomie und damit der Sittlichkeit ist, dann stellt sich die Frage, was sie selbst ist und ob dieses die Autonomie als etwas eindeutig Gutes begründen kann.

iii. Die Vernunft selbst als die äußerste Grenze der praktischen Philosophie Den Anlass, über die Grenze der praktischen Philosophie nachzudenken, stellt für Kant eine Problematisierung seiner Deduktion der Freiheit dar. Alles, was ein Gegenstand möglicher Erfahrung sein kann, ist notwendig von den Naturgesetzen bestimmt und muss es auch sein, »wenn Erfahrung, d. i. nach allgemeinen Gesetzen zusammenhängende Erkenntnis der Gegenstände der Sinne, möglich sein soll. Daher ist Freiheit nur eine Idee der Vernunft, deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist, Natur aber ein Verstandesbegriff, der seine Realität an Beispielen der Erfahrung beweiset und notwendig beweisen muss«640. Aus theoretischer Sicht scheint nun die Abhängigkeit des Willens von den Naturgesetzen viel besser begründet zu sein, weil sie dem theoretischen Maßstab entspricht. Schließlich ist eine theoretische Erkenntnis nach Kant ohne eine sinnliche Erfahrungsgrundlage nicht möglich. Aus praktischer Sicht aber scheint »der Fußsteig der Freiheit der einzige, auf welchem es möglich ist, von der Vernunft bei unserem Tun und Lassen Gebrauch zu machen«641. Denn der Maßstab der praktischen Philosophie ist laut Kant die Handlungsfähigkeit642. 639 640 641 642

GMS BA111. GMS BA114. GMS BA114. Vgl. GMS BA100.

C. Nachvollzug der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«

227

Das Dilemma, das Kant hier zu fassen versucht, ist also eines der Vernunft mit sich selbst. Je nachdem, welchen Maßstab sie an die Freiheitsproblematik anlegt, muss sie sich anders entscheiden. Der Kern des Problems besteht darin, dass sie keinen der Maßstäbe aufgeben kann, ohne sich selbst als theoretisches und praktisches Vermögen aufzugeben, d. h. ohne gegen ihr Selbstverständnis zu verstoßen. Deswegen nimmt Kant an, dass der Widerspruch zwischen Natur und Freiheit nur ein scheinbarer und der Mensch in verschiedenen Hinsichten frei und zugleich abhängig ist643. Wie begründet sich also der praktische Anspruch auf Freiheit? »Der Rechtsanspruch aber, selbst der gemeinen Menschenvernunft, auf Freiheit des Willens, gründet sich auf das Bewusstsein und die zugestandene Voraussetzung der Unabhängigkeit der Vernunft, von bloß subjektiv-bestimmten Ursachen, die insgesamt das ausmachen, was bloß zur Empfindung, mithin unter die allgemeine Benennung der Sinnlichkeit, gehört. […] Denn, dass ein Ding in der Erscheinung (das zur Sinnenwelt gehörig) gewissen Gesetzen unterworfen ist, von welchen eben dasselbe, als Ding oder Wesen an sich selbst, unabhängig ist, enthält nicht den mindesten Widerspruch; dass er [der Mensch] sich selbst aber auf zwiefache Art vorstellen und denken müsse, beruht, was das erste betrifft, auf dem Bewusstsein seiner selbst als durch Sinne affizierten Gegenstandes, was das zweite anlangt, auf dem Bewusstsein seiner selbst als Intelligenz, d. i. als unabhängig im Vernunftgebrauch von sinnlichen Eindrücken (mithin als zur Verstandeswelt gehörig)«644. Der Freiheitsanspruch gründet also ebenso wie die Behauptung der Unfreiheit in dem Selbstbewusstsein des Menschen. Damit ist das Problem von gleichzeitiger Freiheit und Abhängigkeit vom Naturgesetz kein rein theoretisches, sondern betrifft ganz praktisch-existentiell das Selbstverständnis des einzelnen konkreten Menschen. Bin ich frei und zur Selbstbestimmung verpflichtet oder unfrei und vom Naturgesetz bestimmt? Und wenn beides zugleich stattfinden soll, wie hängen Selbst- und Fremdbestimmung zusammen? Kants Auflösung dieses Dilemmas greift das Verhältnis von Sinnen- und Verstandeswelt wieder auf. Das eigentliche Selbst des Menschen, d. h. sein beständiges und eigenständiges Wesen, ist die Vernunft. Als Mensch, d. h. als sinnlich-geistiges Mischwesen, ist er bloß eine Erscheinung seiner selbst645. In seinem Selbst ist der Mensch also frei und selbstbestimmt, in seiner Erscheinung aber auch von anderen, äußeren Faktoren beeinflusst. Frei ist er also nur in seinem Denken als Vernunft. Damit kann er das Vorhandensein von Neigungen, die eine Folge seiner Sinnlichkeit sind, nicht beeinflussen und ist dafür auch nicht verantwortlich. In seiner Gewalt und Verantwortung liegt nur das Verhältnis zu diesen.

643 644 645

Vgl. GMS BA115–116. GMS BA117. Vgl. GMS BA118.

228

IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

Interessanterweise ist aber die Freiheit der Vernunft nicht total, sondern auch sie hat eine Grenze. Diese Grenze beginnt dort, wo man das eigentliche Geschäft und die eigentliche Stärke einer freien Vernunft vermuten würde, nämlich in ihrer Fähigkeit, den Gegenstand ihres Gesetzes, d. h. sich selbst, und ihre Freiheit zu verstehen. Denn nach Kant muss der Mensch zwar die Vernunft als frei und der Verstandeswelt angehörig denken, um sich selbst als praktisches, vernünftiges Wesen denken zu können646. Zugleich kann er sich als ein solcher aber nicht mehr verstehen, weil der Begriff der Freiheit und der Verstandeswelt zwar notwendige, aber trotzdem unerklärliche Voraussetzungen, bloße Ideen der Vernunft sind und damit keine Gegenstände möglicher Erfahrung647. »Denn wir können nichts erklären, als was wir auf Gesetze zurückführen können, deren Gegenstand in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann. Freiheit aber ist eine bloße Idee, deren objektive Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht in irgend einer möglichen Erfahrung, dargetan werden kann«648. »Wo aber die Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da hört auch alle Erklärung auf, und es bleibt nichts übrig, als Verteidigung«649. Man kann es an dieser Stelle dahingestellt lassen, ob es tatsächlich richtig ist, dass Erfahrung immer nach Naturgesetzen stattfinden muss, oder ob nicht auch eine Vgl. GMS BA119. In der Kant-Forschung wird diskutiert, ob und inwiefern das von Kant in Der Kritik der praktischen Vernunft eingeführte »Faktum der Vernunft« (vgl. KpV A54–58, §7 mit Anmerkungen) das Begründungsproblem löst (vgl. bspw. verneinend O’Neill 2002 oder im Gegenteil Gerhardt 2002, insbesondere S. 208–227). In der relevanten Passage führt Kant den kategorischen Imperativ als das Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft ein. »Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns vorher nicht gegegeben), herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt als synthetischer Satz a priori« (KpV A55–56). Das Bewußtsein des moralischen Gesetzes dränge sich uns auf, wenn wir über Handlungsoptionen entscheiden und dabei bemerken, dass eine der möglichen Handlungsweisen die gesollte ist, obwohl eine andere vielleicht die der Neigung entsprechende wäre (vgl. KpV A53–54). Darin zeige sich die reine praktische Vernunft dem handelnden Individuum. Kant scheint m. E. mit dem Faktum gegenüber der Grundlegung nichts Neues einzuführen, sondern die alltägliche Ausgangssituation, die er auch in der Grundlegung darstellt, bloß anders zu beschreiben. Auch in der Grundlegung sprach er davon, dass die gemeine Menschenvernunft weiß, was gut ist, es allerdings nicht begründen kann und deshalb verschiedenen Verführungen ausgesetzt ist (vgl. GMS BA20–24). Das Faktum der Vernunft lässt sich m. E. als dieses unbegründete Wissen des Alltagsdenkens verstehen, das von Kant aus der Perspektive der kritischen Reflexion als eine Selbstäußerung der Vernunft eingeordnet wird. Damit wäre das Faktum etwas, das in seinem Anspruch anzugeben, was für den Menschen zu tun gut ist, nach Kants Aussagen in der Grundlegung noch der Begründung bedarf. Die Begründung sollte erst in der kritischen Reflexion und letztlich in einer Selbsterkenntnis der Vernunft erreicht werden (die zentrale Stellung der Selbsterkenntnis in der Philosophie Kants wird auch von Gerhardt betont (vgl. bspw. Gerhardt 2006)). Gerade eine Selbsterkenntnis der Vernunft zeigte sich aber in der Grundlegung als problematisch. 648 GMS BA120. 649 GMS BA121. 646 647

C. Nachvollzug der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«

229

eigene geistige Form der Erfahrung als ein bestimmtes Denken möglich ist. Entscheidend ist für die von Kant vorgebrachte Ethik, dass die Vernunft sich selbst zugleich als frei und unfrei zu denken scheint und das nicht in Bezug auf eine Nebensächlichkeit, sondern in ihrer grundlegenden Beziehung zu sich selbst. Damit die Vernunft die Grundlage der autonomen Ethik sein kann, muss sie sich selbst als frei denken. Sie kann aber ihre Freiheit nicht verstehen, weil sie zum Verständnis eine Bedingung der Freiheit angeben müsste, dann aber in Kants Verständnis nicht mehr frei wäre. In ihrer Bindung an das ableitende Denken ist sie also unfrei. Da die Vernunft der letzte Grund der Sittlichkeit sein soll, diese aber sich selbst nicht verstehen kann, ist auch alles aus ihr abgeleitete, d. h. die gesamte Sittlichkeit unverständlich. Kant bringt in seiner Schlussbemerkung auch dafür eine Erklärung vor, die zugleich einen Gegenentwurf zu seiner Ethik rechtfertigen könnte. »Nun ist es ein wesentliches Prinzip alles Gebrauchs unserer Vernunft, ihr Erkenntnis bis zum Bewusstsein ihrer Notwendigkeit zu treiben (denn ohne diese wäre sie nicht Erkenntnis der Vernunft). Es ist aber auch eine eben so wesentliche Einschränkung eben derselben Vernunft, dass sie weder die Notwendigkeit dessen, was da ist, oder was geschieht, noch dessen, was geschehen soll, einsehen kann, wenn nicht eine Bedingung, unter der es da ist, oder geschieht, oder geschehen soll, zum Grunde gelegt wird. Auf diese Weise aber wird, durch die beständige Nachfrage nach der Bedingung, die Befriedigung der Vernunft nur immer weiter aufgeschoben. Daher sucht sie rastlos das Unbedingtnotwendige, und sieht sich genötigt, es anzunehmen, ohne irgend ein Mittel, es sich begreiflich zu machen«650. Wenn man nun diese allgemeine Ausführung über das Ziel und die Erkenntnisfähigkeit der Vernunft auf die Ethik überträgt, dann lässt sich die Problematik auf folgende Weise beschreiben. Die Vernunft zielt zwar auf das letzte Unbedingtnotwendige, kann nach Kant etwas aber nur durch Ableitung aus etwas anderem verstehen. Damit ist das Letzte notwendigerweise unverstehbar. Eine Ethik der Autonomie genügt nun einerseits dem Anspruch auf Unbedingtheit, denn es gibt nichts, woraus sie abgeleitet werden kann. Andererseits ist sie aus demselben Grunde unverstehbar und auch unbegründbar. Damit kann die Vernunft die Notwendigkeit einer solchen Ethik zwar feststellen, aber nicht verstehen. Eine Ethik der Autonomie genügt also nur einer Forderung der Vernunft – der Unbedingtheit, vernachlässigt aber die andere Forderung – die Ableitbarkeit. Im Gegenzug würde eine Gegenethik der Heteronomie das Problem der mangelnden Erklärbarkeit sofort überwinden, weil sie ein Letztes außerhalb der Ethik annimmt, aus dem die Ethik abgeleitet und begründet werden kann. Die Ethik der Heteronomie kann also die andere Forderung der Vernunft erfüllen – die Ableitbarkeit. Zugleich vernachlässigt sie die Forderung nach Unbedingtheit, was Kant an dieser 650

GMS BA127/128.

230

IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

selbst kritisiert. Damit lassen sich sowohl eine autonome als auch eine heteronome Ethik aus den Forderungen der Vernunft, wie Kant sie versteht, herleiten. Kant schließt seine Ausführungen mit einer angesichts der vorhergehenden Zuversicht eher resignierend anmutenden Bemerkung. »Und so begreifen wir zwar nicht die praktische unbedingte Notwendigkeit des moralischen Imperativs, wir begreifen aber doch seine Unbegreiflichkeit, welches alles ist, was billigermaßen von einer Philosophie, die bis zur Grenze der menschlichen Vernunft in Prinzipien strebt, gefordert werden kann«651.

3. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Was kann man nun im Ganzen als Kants Antwort auf die Frage nach dem guten menschlichen Leben festhalten? In der Grundlegung nimmt Kant den Leser mit auf einen Gedankengang, der zu dem obersten Prinzip der Sittlichkeit und seiner Begründung hinführt. Da Kant an den konkreten Alltagsmeinungen ansetzt, durchschreitet er auf seinem Gang zum letzten Grund der Sittlichkeit grundlegende Dimensionen des Menschseins und verknüpft diese miteinander. Die so entstehende Struktur lässt sich als seine Bestimmung des guten Lebens auffassen. Sie sei im Folgenden zusammenfassend dargestellt. Die problematische Ausgangslage des Menschen besteht nach Kant in seiner sinnlich-geistigen Doppelnatur, weil sie zwei scheinbar gleichberechtigte, aber gegenläufige Lebenszwecke beinhaltet. Die Sinnlichkeit zielt auf das Glück im Sinne einer vollständigen Bedürfnisbefriedigung als Lebenszweck und die geistige Dimension fordert die Tugend als eine Kultur der Vernunft. Zwischen diesen beiden Zielen und dem konkreten Handeln eines Menschen steht der Wille, der sich von den Bedürfnissen oder von der Vernunft bestimmen lassen kann. Der Wille leitet die Handlungen eines Menschen an und enthält seine Handlungsmaximen. In diesem Spannungsfeld zwischen Glück und Tugend entwickelt Kant seine Ethik. Den Ansatz zur Lösung des Ausgangsproblems bietet der Alltag selbst. Denn schon darin werden Glück und Tugend nicht als gleichwertige Handlungsziele angesehen, sondern das Handeln aus Pflicht wird für besser gehalten als das Handeln aus Bedürfnis. Pflichtgemäßes Handeln wird mit Tugend im Zusammenhang gedacht. Gemeint ist dabei nicht bloß die objektive, äußere Übereinstimmung einer Handlung mit den Pflichtforderungen. Vielmehr wird schon im Alltag die subjektive, innere Gesinnung des Handelnden geschätzt, der ausschließlich aus Achtung vor dem Gesetz handeln will.

651

GMS BA128.

C. Nachvollzug der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«

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Damit unterstellt der Alltag, dass diese Gesinnung wertvoller ist als das eigene Glück. Tatsächlich halten sich aber nur wenige daran und lassen sich stattdessen vom Glücksstreben leiten, weil die Alltagsvernunft nach Kant nicht erklären kann, warum die Gesetzesachtung wertvoll ist. Der Eigennutz, d. h. die Erfüllung von Bedürfnissen, wird dabei schon im Alltag als Zweck oder Motiv der Pflichterfüllung explizit ausgeschlossen. Die Pflichterfüllung soll ausschließlich Selbstzweck sein. In der Wertschätzung der Gesetzesachtung unterstellt der Alltag außerdem, dass es überhaupt möglich ist, sich in seinem Handeln nicht von den sinnlichen Bedürfnissen leiten zu lassen, sondern von einer Gesinnung, die wohl als etwas Geistiges aufzufassen ist. Die Voraussetzungen dieser beiden Unterstellungen entfaltet Kant im Weiteren und überschreitet damit das Alltagsdenken. Im Anschluss an das Alltagsdenken stellen sich zwei Fragen: Welches Gesetz wird geachtet? Und warum soll man das Gesetz befolgen wollen, wenn es doch nicht zum Glück führt? Da alle möglichen Gesetzesinhalte unter dem Generalverdacht des Eigennutzes oder, in Kants Vokabular, der Selbstliebe stehen, bleibt als einziges, ausschließlich um seiner selbst willen Geachtetes nur die Gesetzesform selbst. Damit ist bei dem guten Menschen kein bestimmtes Gesetz Gegenstand der Achtung und Grund des Handelns, sondern das Gesetzmäßige überhaupt. Und was soll gesetzmäßig sein? Da Handlungen sinnlich vollzogen werden müssen, sind sie in ihrer äußeren Erscheinung als Teil des Naturgeschehens immer gesetzmäßig. Die sittliche Forderung nach Gesetzmäßigkeit zielt nicht auf das Handeln selbst, sondern auf die Handlungsgründe oder, kantisch gesprochen, auf die Maximen. Der berühmte kategorische Imperativ beinhaltet diese Forderung und der ebenso berühmte Verallgemeinerungstest für Maximen veranschaulicht seine Anwendung. Beides ist nur bei einem menschlichen Willen relevant, da dieser nicht ausschließlich vernunftbestimmt ist, sondern auch sinnlich affiziert werden kann. Nach der Reduktion der sittlichen Forderung auf die reine Gesetzesform muss allerdings das Problem gelöst werden, dass ein Gesetz nicht nur eine Form, sondern stets auch einen Inhalt gebietet, d. h. dass ein Wille immer etwas will und eine Handlung stets einen Zweck verfolgen muss. Innerhalb des Alltagsdenkens wurde aber an dem guten Menschen geschätzt, dass seine Gesetzesachtung immer Selbstzweck ist. Damit darf das geachtete Gesetzmäßige stets nur sich selbst gebieten, so dass Form und Inhalt zusammenfallen müssen. Eine solche Übereinstimmung von Form und Inhalt als Gesetzmäßigkeit sieht Kant in der Vernunft selbst. Sie stellt damit den Ursprung der sittlichen Forderung dar. In der Achtung des Gesetzes wird eigentlich die Würde und Macht der gesetzgebenden Vernunft, d. h. ihre Fähigkeit zur Autonomie, geachtet. Da der handlungsleitende Wille selbst als praktische Vernunft verstanden wird, ist das geachtete Gesetz also sein eigenes Gesetz. Der Wille hat damit eine Doppelfunktion. Einerseits leitet er Handlungen aus dem Gesetz ab, andererseits gibt er dieses

232

IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

Gesetz aus sich selbst heraus. Damit leitet der Wille die Handlungen aus sich selbst ab, so dass er das Gesetz, das er als menschlicher Wille befolgen soll, als reiner Wille schon immer will. Der sittliche Wille ist nach Kant also ein autonomer Wille. Alternativ gibt es den Willen, der die Handlungen nicht aus sich selbst heraus ableitet, sondern sich einem anderen Zweck, wie bspw. dem Glück als Bedürfnisbefriedigung, unterordnet. Ein solcher Wille ist heteronom und unsittlich, weil er die Alltagsforderung nach Selbstzweckhaftigkeit der sittlichen Gesinnung verletzt. Die Autonomie des Willens stellt sich also als eigentlicher Kern, als Wesen der Sittlichkeit heraus. Wenn also Sittlichkeit und damit ein gutes Leben für den Menschen möglich sein sollen, dann nur, wenn er in seiner Lebensführung die sinnliche Orientierung auf die Bedürfnisbefriedigung überwindet und sich von der praktischen Vernunft leiten lässt. In diesem Schritt hat Kant die Ausgangsalternative – Glück oder Tugend – noch nicht aufgelöst, sondern nur expliziert, was der zweite Pol des Dilemmas wesentlich beinhaltet. Die alltägliche Entgegensetzung von Glück und Tugend wurde dadurch im Grunde nur verschärft, da nun offensichtlich ist, dass die Alternative tatsächlich grundsätzlichen Charakter hat und dem Menschen eine beständige Anstrengung abverlangt. Er muss sich immer wieder entscheiden, welche Handlungsgrundlage er wählt. Die eigentlich schwierige Frage stellt Kant sich im dritten und letzten Schritt seines Gedankengangs. Wie ist Autonomie angesichts der Naturgesetze, die den Menschen als sinnliches, bedürftiges Wesen bestimmen, möglich? Die Frage nach der Möglichkeit der Autonomie führt Kant zu der Grundlage seines Systems – zu der Vernunft selbst. Autonomie, verstanden als Freiheit vom Naturgesetz, entpuppt sich als eine für die Vernunft notwendige Voraussetzung, um sich selbst denken zu können. Zugleich hängt die Sinnlichkeit und mit ihr die Natur für uns Menschen von der Vernunft ab, da die Vielheit der Erscheinungen der Dinge und Menschen stets ein Erscheinendes unterstellt, das diesen Erscheinungen Einheit und Beständigkeit verleiht. Das jeweils Erscheinende ist dabei kein Teil der sinnlichen Welt, sondern eine Idee der Vernunft. Bei dem Menschen ist die Vernunft selbst das Erscheinende. Damit ist der Mensch, wenn er sich selbst zu verstehen versucht, als Vernunft frei vom Naturgesetz und also autonom. Die Ethik der Autonomie ist folglich ein Versuch der Vernunft, ihre eigene Denk- und Verstehbarkeit gegenüber der Sinnlichkeit durchzusetzen und aufrechtzuerhalten. In der eigenen Denk- und Verstehbarkeit besteht die Erfüllung des Menschen als Vernunftwesen. Man könnte die eigene Denk- und Verstehbarkeit auch als das richtige Bewusstsein der Vernunft über sich selbst oder kurz als Selbsterkenntnis bezeichnen, so dass das Ziel der Vernunft und die Alternative zum Bedürfnisstreben eben Selbsterkenntnis wäre. Zu diesem Ziel wollte Kant selbst in der Grundlegung hinführen und den Menschen von einem falschen Selbstbewusstsein befreien. Allerdings kann die Vernunft nach Kant etwas nur dadurch verstehen, dass sie es von einer Bedingung ableitet. Die Vernunft darf sich selbst aber nicht wiederum von

D. Strukturvergleich

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etwas ableiten, weil sie dann nicht mehr frei wäre und sich selbst nicht mehr als das Erscheinende, die Idee des Menschen auffassen könnte. Sie soll sich nach Kant selbst das Letzte sein. Die Vernunft ist sich selbst auf diese Weise aber notwendig unverständlich, so dass ihr eine Selbsterkenntnis unmöglich wird. Eine Ethik der Autonomie, die sich auf diese unverstehbare Vernunft stützen soll, verliert auf diese Weise ihr Fundament und wird selbst unverstehbar. Es scheint an dieser Stelle fast so, dass eine Ethik der Heteronomie ein Versuch der Vernunft ist, aus der eigenen Unverstehbarkeit hinauszugelangen, indem sie einen übergeordneten Zweck entwirft, aus dem sie das eigene Sein ableiten kann. Wie Kant aber ausführlich dargelegt hat, projiziert sich die Vernunft in den heteronomen Ethiken bloß selbst an die Stelle des letzten Grundes und gerät damit in einen Begründungszirkel. Die Rückkehr zu den Bedürfnissen als Bestimmungsgrund des eigenen Handelns erscheint als ein sinnvoller Ausweg angesichts der scheinbaren Unmöglichkeit einer vernünftigen Selbstbestimmung des Menschen. Dann allerdings werden Kants Einwände gegen das Bedürfnisstreben wieder relevant. Zum einen liefern sie den Menschen den Zufälligkeiten der Natur aus, so dass er keinerlei Gewalt mehr über sein Leben hat. Zum anderen verliert der Mensch sich selbst, da er keinerlei Einheitspunkt mehr hat, wenn er sich nur noch als die sinnlichen Erscheinungen begreift. Die Selbstauslieferung an die Bedürfnisse widerspricht also der eigenen Denkvoraussetzung als Mensch. Die Aporie scheint perfekt und vollständig.

D. Strukturvergleich Wie angekündigt, sollen auch im Anschluss an die Untersuchung der kantischen Ethik die Parallelen und Unterschiede zwischen dieser Ethik der Autonomie und dem Gedankengang in dem sokratischen Tugenddialog Charmides herausgearbeitet und diskutiert werden. Der Vergleich dient einerseits einer stärkeren Akzentuierung der Position Kants, andererseits kann auf diesem Wege das Verhältnis der Positionen zueinander und zur Frage nach dem guten Leben untersucht werden. Im Tugenddialog gab es zwei Gedankenbewegungen, die aneinander stattfanden – das Denken der geprüften Partner und das des prüfenden Sokrates. Hier stellt sich also die Frage, ob Kant an dem bloß reflektierenden Denken der Partner oder an dem prüfenden Denken des Sokrates anknüpft. Die Schwierigkeiten eines Vergleichs des Tugenddialogs mit einem philosophischen Traktat sind bemerkenswerterweise bei diesem Text von Kant nicht so groß, weil er selbst ganz explizit verschiedene Stufen des Nachdenkens markiert hat. Wie schon in dem Vergleich des Tugenddialogs mit der aristotelischen Ethik dienen die Stufen oder Ebenen, die beim Durchdenken der jeweiligen Tugendvorstellung durchschritten werden, als strukturelles Gerüst des Vergleichs. Die Betrachtung der Ähnlichkeiten und Unterschiede auf

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IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

den einzelnen Stufen bereitet den Vergleich der Denkrichtungen vor. Des Weiteren werden die in der Besprechung der kantischen Ethik schon eingeflossenen Vergleiche mit der aristotelischen Ethik an dieser Stelle nochmals aufgenommen und vertieft. Als Grundlage des Vergleichs seien die Stufen des kantischen Gedankengangs noch einmal kurz dargestellt.

1. Struktur der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« Da Kant seine Untersuchung selbst in drei größere Kapitel unterteilt hat, fällt es nicht schwer, die verschiedenen Stufen zu finden. Im ersten Kapitel beschreibt Kant die Erscheinung der Tugend oder kantisch gesprochen des guten Willens, im zweiten Kapitel wird die zweite Stufe beschritten, indem das Wesen des guten Willens offen gelegt wird, und im dritten und letzten Schritt geht Kant zurück zum letzten Bestimmungsgrund des guten Willens oder anders formuliert zu seiner Ursache. Indem Kant die Denkschritte der einzelnen Kapitel als Übergänge von verschiedenen Denkweisen markiert, fügt er eine übergeordnete Gliederungsebene ein. Diese zweite Ordnung hebt die skizzierte Stufenordnung nicht auf, ermöglicht aber eine höhere Differenziertheit bei der Betrachtung der inneren Zusammenhänge. Hierbei ergibt sich zunächst eine große Zweiteilung der Grundlegung in erstens eine Darstellung des Alltagdenkens und zweitens eine philosophische Reflexion über dieses Alltagsdenken und seine Grundlagen. Die Darstellung des Alltagsdenkens wird im ersten Kapitel der Grundlegung abgeschlossen, die beiden folgenden Kapitel enthalten die Reflexion dieses Denkens. Das Alltagsdenken wird in drei Elementen vollständig erfasst. Zunächst wird ein objektiviertes Tugendverständnis als pflichtgemäßes Handeln bewusst gemacht. Objektiviert ist dieses Verständnis insofern, als hier die Tugend wie ein äußerliches, allgemein feststellbares Phänomen behandelt wird, das eben nach objektiven Kriterien durch Beobachtung beurteilt werden kann. Anschließend wird die individuell-subjektive Dimension dieser Tugend thematisiert. Im Alltagsverständnis nimmt der Tugendhafte das eigennützige Glücksstreben als Handlungsmotiv zurück und handelt selbstlos, so dass die Pflichterfüllung als Selbstzweck erscheint. Diese Zurücknahme ist insofern subjektiv, als dass sie nicht allgemein beobachtet werden kann, sondern nur der Einzelne das eigene Motiv in einer Selbstbetrachtung ergründen kann. Diese beiden Dimensionen entsprechen auch in Kants Sinne einer Erscheinung der Tugend, weil sie entweder dem äußeren oder dem inneren Sinn zugänglich und somit ein Gegenstand möglicher Erfahrung sind. Als Erscheinung verweisen sie notwendig auf ein Erscheinendes, das über sie selbst hinausgeht und sie zu Erscheinungen derselben Sache verbindet.

D. Strukturvergleich

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In dem Begriff der Pflicht deutet sich sowohl in der objektivierten wie auch in der subjektivierten Dimension des alltäglichen Tugendverständnisses eine gewissermaßen absolute Norm als der verbindende Bezugspunkt an. Diese wird als das vereinigende Prinzip, das über die Erscheinungen hinausgeht, begrifflich gefasst. Die verpflichtende Norm ist das Gesetz, dessen Achtung in der Zurücknahme des Glücksstrebens seinen Ausdruck findet und dem das Handeln entsprechen soll. Die richtige Gesinnung wird vom Alltagsdenken folglich als Achtung vor dem Gesetz aufgefasst. Sie stellt das ethische Prinzip dar, dessen Verwirklichung die Alltagspraxis zu einer guten Praxis machen soll. Warum das Gesetz achtenswert und welches Gesetz genau gemeint ist, weiß der Alltag nach Kant nicht; er weiß nur, dass das Gesetz zu achten gut ist. Die begriffliche Fassung des ethischen Prinzips ist also die Grenze des alltäglichen Tugendverständnisses. Was mit diesem Begriff eigentlich gemeint ist, ist der Gegenstand der philosophischen Betrachtung des Alltagsdenkens. Man sieht also, dass das Alltagsdenken an der Schwelle zur Wesensbetrachtung verharrt. Einerseits kennt es den Begriff, der den Einheitspunkt der Erscheinungen markiert – das Gesetz, andererseits fehlt ihm aber das Verständnis dieses Wesensbegriffs. Kants philosophische Betrachtung setzt an dem Alltagsbegriff der Tugend an. Dabei beginnt sie ebenfalls mit einem objektivierten Verständnis der Tugend, indem zunächst das geachtete Gesetz, also das Objekt der Achtung, betrachtet wird. Anschließend wird auch auf dieser Reflexionsstufe die Subjektseite untersucht und das gesetzesachtende Vernunftwesen als eigentlicher Zweck des Gesetzes herausgestellt. Damit wird das Vernunftvermögen, das je individuell in einem Subjekt verwirklicht wird, selbst zum Maßstab des Gesetzes erhoben. Im dritten Reflexionsschritt wird das ethische Prinzip der Achtung vor dem Gesetz zurückgeführt auf sein Wesen – die Autonomie. Die Achtung des Gesetzes zeigt sich ebenso als eine Folge der Autonomie, die als Selbstgesetzgebung der eigentliche ethische Akt sein soll, so wie im Alltagsdenken das pflichtgemäße Handeln eine Erscheinung der Achtung war. Die Pflicht des Tugendhaften besteht damit nicht bloß in der Befolgung und Achtung des Gesetzes, sondern im Wesentlichen in der Gesetzgebung. Möglich soll diese Gesetzgebung dadurch sein, dass die Vernunft als das eigentliche Selbst des Menschen ihre Ursache ist. Sie ist das einzige Wesen mit einem absoluten Wert. Schließlich soll sie das Objekt der richtigen Gesinnung, d. h. die Gesetzesform, und auch das Subjekt, als Zweck des Gesetzes und zugleich Gesetzgeber, sein. Die Vernunft soll außerdem die Stelle des Absoluten der Tradition einnehmen, da alles ausschließlich in ihr selbst begründet werden soll. Die Vernunft soll also alle drei Dimensionen des alltäglichen Tugendverständnisses – Objekt, Subjekt und Absolutes – unmittelbar in sich vereinen.

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IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

2. Vergleich mit der »Nikomachischen Ethik« An der dargestellten Struktur wird zunächst deutlich, dass Kants Reflexion des Alltagsdenkens die aristotelische Reflexion des Alltagshandelns schon im Ansatz voraussetzt. Aristoteles betrachtet das Alltagshandeln selbst und widmet sich nicht so sehr dem Alltagsdenken. Er bemüht sich darum, aus dem vermeintlich tugendhaften Handeln der Menschen einen Begriff der Tugend herauszuarbeiten, und meint, das richtige Verständnis dieses Begriffs bei den Handelnden aufgrund ihres guten Charakters voraussetzen zu können. Dieser sehr empirische Ansatz an der Alltagspraxis lässt sich vielleicht als ein Versuch erklären, die in seinen Augen platonische Ideenmetaphysik zu überwinden. Kant wiederum reagiert auf eine aristotelisch geprägte Tradition, die den Alltagsbegriff schon herausgearbeitet hat und seine Begründung entweder in einer metaphysischen oder empirischen Erkenntnis suchte. Kants Rückgriff auf das Alltagsdenken stellt einen Versuch dar, eine verstiegene Metaphysik ebenso wie einen übertriebenen Empirismus zu überwinden. Beide Denker verstehen sich also als Überwinder eines falschen Denkens. Aristoteles setzt dabei an der objektivierten Dimension der Tugend an und verbleibt in dieser Ausrichtung. Seine Reflexion legt den Schwerpunkt auf die Mitte und ihre verschiedenen praktischen Umsetzungen, so dass bei ihm das Subjekt der Tugend und seine Denkvoraussetzungen in den Hintergrund treten. Damit bleibt auch Aristoteles’ eigenes Auswahlkriterium der für seine Betrachtung relevanten Praxis unbewusst. In den dianoëtischen Tugenden deuten sich zwar die Voraussetzungen der Tugend innerhalb des Subjekts an, aber auch diese werden von Aristoteles stark von deren Objekt her gedacht. Sowohl die Klugheit als auch die Weisheit werden über ihr Objekt definiert. Die Vernunft selbst, die eigentlich in diesen Tugenden verwirklicht werden soll, bleibt im Hintergrund der Betrachtung. Das Subjekt verliert sich an das Objekt, könnte man sagen. Kant entlarvt dieses objektzentrierte Denken als eine Projektion des Subjekts in das Objekt und setzt als Konsequenz daraus direkt im Subjekt an der Vernunft an. In seiner beständigen Ausrichtung auf das Denkvermögen selbst verliert er aber den Denkgegenstand. Alles, was als Objekt, wie bspw. das Gesetz, in seinem System auftaucht, wird stets vom Denkvermögen her gedacht und damit sofort subjektiv überformt. Hier wird also das Objekt in das Subjekt aufgelöst, so dass das Subjekt am Ende nichts mehr zu denken scheint. Trotz dieses Unterschiedes im Vollzug der philosophischen Betrachtung teilen beide Denker ihr Verhältnis zum Alltag. Denn beide gehen davon aus, dass in der betrachteten Alltagswelt tatsächlich Tugend verwirklicht wird und das reflektierte Handeln gut ist. Diesen impliziten Anspruch der Praxis stellen sie an keiner Stelle in Frage. Ganz im Gegenteil sind beide Denker explizit darum bemüht, die Richtigkeit dieses Anspruchs nachzuweisen und vor skeptischen Angriffen zu verteidigen. Die

D. Strukturvergleich

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grundlegende Gemeinsamkeit von Aristoteles’ und Kants Ethik besteht also in dem Festhalten am Anspruch des Alltags. Auch sie beanspruchen damit die Wirklichkeit der Tugend und in Folge der Wirklichkeit auch ihre Erkenntnis. Aufgrund dieses Beharrens stellen beide Ethiken eine bloße Explikation dessen dar, was im Alltag implizit unterstellt wird. Beide Ethiken stellen also Bewusstwerdungsprozesse dar. Sie sind komplementär zueinander, da sie jeweils eine Dimension des Alltagsdenkens vereinseitigen und auf ihren letzten Grund zurückführen. Am Ende stellt sich bei beiden Denkern die Frage, wie die menschliche Vernunft den Grund des guten Lebens einsehen kann. In Folge seiner Objektorientierung beantwortet Aristoteles diese Frage mit dem Verweis auf die Notwendigkeit einer Gotteserkenntnis und seiner menschenmöglichen Nachahmung. Kants Antwort fällt aufgrund seiner Subjektbezogenheit als Einforderung einer Selbsterkenntnis und Selbstschöpfung aus. Die aristotelische Gotteserkenntnis soll die menschliche Selbsterkenntnis enthalten und die kantische Selbsterkenntnis soll die Gotteserkenntnis ersetzen. Beide Entwürfe haben sich als problematisch erwiesen. Es stellt sich nun die Frage nach den Konsequenzen dieses Dilemmas. Kann der Mensch grundsätzlich weder sich selbst noch Gott erkennen oder kann das Dilemma erklärt und überwunden werden?

2. Vergleich mit dem »Charmides« Bevor ich auf diese schwierige Frage eingehe, soll Kants Ethik mit dem Tugenddialog verglichen werden. Da die bisherigen Ergebnisse vermuten lassen, dass die sokratische Prüfung einen Ansatz zur Überwindung des Dilemmas darstellt, soll die Frage im Anschluss des Vergleichs thematisiert werden. Auch im Charmides lässt sich eine der Grundlegung ähnliche Zweiteilung in Alltagsdenken und dessen Reflexion nachzeichnen, wobei innerhalb jedes Teils ebenfalls ein sich vertiefender Gedankengang vorliegt. In beiden Texten geht der eigentlichen Tugenderörterung eine Problemdarstellung voraus.

a. Das Ausgangsproblem (Charmides 153a–158d; GMS BA1–7) In Platons Charmides wird im Vorgespräch652 der alltägliche Umgang der späteren Gesprächspartner (Sokrates, Kritias und Charmides) miteinander vorgeführt. Kritias lobt Charmides und schreibt ihm alle denkbaren Qualitäten zu. Es gibt aber unterschwellig einen Konflikt darüber, ob die schöne Gestalt, die gute Herkunft und der gute Ruf 652

Vgl. Platon, Charmides 153a–158d.

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IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

des Jünglings schon als Begründung seiner Tugend ausreichen, oder ob es eigentlich der Zustand seiner Seele ist, der für alles sonstige Gute oder Schlechte verantwortlich ist. Kritias tritt dabei mit einem starken Anspruch auf und meint, seinen Anspruch durch die Meinung anderer legitimieren zu können. Es ist das unklare Verhältnis von Sinnlichkeit, Sozialität und Geistigkeit, das im Hintergrund dieses Alltagsproblems steht. Sokrates verhindert einen Meinungsstreit durch seine Sachfrage und das Angebot einer gemeinsamen Prüfung der impliziten Tugendvorstellungen. Die später untersuchten Bestimmungen der Tugend können im Tugenddialog also stets an der vorher dargestellten Praxis veranschaulicht werden und explizieren ihre Grundlagen. In Kants Grundlegung gibt es keine Darstellung eines Alltagsgeschehens. In der Vorrede wird zunächst eine Systematik aller Wissenschaften präsentiert, die die Notwendigkeit einer neuen Grundlage für die Ethik nachweisen soll. Kant beginnt seine Ausführungen zum Guten selbst eigentlich mit der Lösung eines Problems, das er erst im Verlauf des Textes erläutert. Die Behauptung, das eindeutig Gute sei einzig der gute Wille, soll letztlich die Kontroverse darüber beenden, ob das Streben nach Bedürfnisbefriedigung oder nach einer Kultivierung der Vernunft das höchste Ziel des Menschen und damit der Grund eines guten Lebens ist653. Kant setzt direkt bei dem Alltagsdenken an, das selbst eigentlich schon eine Reflexion der Alltagspraxis ist. Der Konflikt besteht in diesem Fall in einem unklaren Verhältnis von Sinnlichkeit und Geistigkeit. Die Sozialität fungiert, ähnlich wie für Kritias, als Legitimierung, da Kants Lösungsansatz sich in dem Alltagskonsens begründet. Es wird also in beiden Texten ein recht ähnliches Problem entwickelt. Das Verhältnis von Sinnlichkeit und Geistigkeit in Bezug auf das gute Leben und die Tugend des Menschen soll geklärt werden. Unterschiedlich sind dabei die methodischen Ansätze der Denker. Kant bestätigt die grundsätzliche Richtigkeit des Alltagsdenkens und will es über sich selbst aufklären. Sokrates hingegen äußert sich weder positiv noch negativ über die fragliche Richtigkeit, sondern will die impliziten Vorstellungen auf ihren Sachgehalt prüfen. Die Haltung Kants zu den im Alltag wirkenden Vorstellungen wird eher von Kritias verkörpert, der den Anspruch des Alltags teilt.

b. Alltagsdenken (Charmides 158e–162b; GMS BA8–24) Die ersten drei Antworten des jungen Charmides654 lassen sich als eine Wiedergabe des geläufigen Alltagsdenkens beschreiben. Dabei erfasst Bedächtigkeit, die Charmides als langsames Verhalten versteht, die objektiv beobachtbare Dimension. Scham Vgl. GMS BA1–7. Vgl. Platon, Charmides: Bedächtigkeit 158e–169d, Scham 160d–161b und Tun des Seinigen 161b–162b. 653 654

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beschreibt die dazugehörende subjektive Zurückhaltung bzw. Mäßigung. Beide werden durch die Formel, Besonnenheit sei das Tun des Seinigen, zusammengefasst und begründet. Mit dem Seinigen wird auf den Begriff gebracht, weswegen man sich zurücknehmen soll bzw. worauf man bedacht sein sollte. Für das alltägliche Denken stellt das Seinige also den letzten Grund dar und nimmt damit die Stellung des Absoluten ein, das die objektive und die subjektive Dimension der Tugend verbinden soll. Damit liegt ein struktureller Dreischritt vor, der dem Anfang der Betrachtung in der Grundlegung entspricht. Kant hält sich mit den ersten beiden Dimensionen (pflichtgemäßes Handeln und Mäßigung der Selbstliebe) allerdings nicht weiter auf, sondern führt sie zügig auf das Prinzip der Gesetzesachtung zurück. Er setzt damit die Selbstreflexion des Alltags schon soweit voraus, dass ein Begriff dieser Praxis vorliegt. Kant beginnt gewissermaßen gleich auf dem Stand des Kritias. Sokrates hingegen hilft Charmides, der den zunächst unreflektierten Alltag repräsentiert, bei der Entwicklung eines Begriffs, der dem eigenen Anspruch entspricht und nicht auf wenige Phänomene beschränkt ist. Im Tugenddialog wird das Alltagsdenken nicht bloß wiedergegeben, sondern dem eigenen Anspruch gemäß entfaltet und zugleich von Sokrates auf die Erfüllung dieses Anspruchs geprüft. Am Tugenddialog kann also auch der Anfänger Denken lernen. Zugleich weist Sokrates in der Prüfung die Notwendigkeit einer Begründung des Alltags nach, die über eine bloße Begriffsbildung hinausgeht. Im Tugenddialog nimmt das Seinige die Funktion des Gesetzes ein. Es ist dasjenige, das man achten soll, bei dessen Übertritt man sich schämen muss. Der Alltag versteht das Seinige rein reflexiv als das Eigene655. Ein solches Verständnis des Seinigen führt nun zu einer nahezu solipsistischen Praxis, die sowohl das Gemeinwohl als auch das Einzelwohl auflöst. Die Notwendigkeit, diesen zentralen Begriff erst richtig zu verstehen, wird offensichtlich. Sokrates zeigt also in der Prüfung auf, dass man das Verständnis des Alltagsbegriffs erst noch erwerben muss. Die Begründungbedürftigkeit des Alltagsbegriffs wird im Gegensatz dazu von Kant zwar auch behauptet, aber nicht nachgewiesen.

c. Reflexion des Alltagsdenkens (Charmides 162c–175a; GMS BA25–128) Wie schon oben ausgeführt, stellt der Wesensbegriff der Tugend die Scharnierstelle zwischen dem alltäglichen und dem philosophischen bzw. sophistischen Denken dar. Im Charmides ergreift Kritias an dieser Stelle das Wort und bekräftigt seinen Anspruch, die Tugend zu kennen, indem er behauptet, die richtige Deutung des Tun 655

Vgl. Platon, Charmides 161b–162b.

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IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

des Seinigen vorbringen und verteidigen zu können656. Sokrates fasst Kritias’ Ausdeutung als Tun des Guten zusammen, wobei Kritias das Gute hier objektivistisch als angesehene Handlungsfolgen versteht. Die Passage657, in der Kritias’ erste Deutung untersucht wird, verdeutlicht zunächst den Anspruch, ein praktisches Prinzip der Lebensführung zu bestimmen. Zugleich stellt sich in der Prüfung heraus, dass das Gute nicht objektivistisch gedacht werden kann. An den Handlungsfolgen kann der Vernünftige vom Unvernünftigen nicht unterschieden werden. In diesem Untersuchungsschritt wird also das zunächst objektbezogene Denken auf das darin vergessene Subjekt umgewendet, was sich in der nächsten Bestimmung der Tugend als Selbsterkenntnis äußert658. Man kann sagen, dass an Kritias’ Antworten ein Übergang von einer Ethik im Sinne Aristoteles’ zu einer Ethik im Sinne Kants exemplarisch vorgeführt wird. Denn Kant bedarf dieser Umwendung nicht. Er reflektiert von Anfang an die Handlungsvoraussetzungen innerhalb des Subjekts. Aber auch er betrachtet zunächst die objektivierte Dimension des guten Willens – die Gesetzesform. Man könnte sagen, dass Kant das Seinige des Menschen als das unbedingte Vernunftgesetz bezeichnet, das gut ist, weil es die Vernunft erhält. Das autonome praktische Vernunftvermögen, das Kant mit dem guten Willen identifiziert, ist das Subjekt der Tugend als Zweck und Urheber des Gesetzes. In beiden Argumentationen wird also die gleiche Begründungsstruktur sichtbar. Kant und Kritias greifen auf das subjektive Denkvermögen zurück, um die Richtigkeit der objektiven Handlungsnorm zu belegen. Beide verabsolutieren das Denkvermögen, indem sie es selbst im Selbstbezug zur Ursache der Tugend und des guten Lebens erheben. Bei Kant ist diese Verabsolutierung schon in der Vorrede angekündigt, da das oberste Prinzip der Moral aus reinen Vernunftbegriffen a priori hergeleitet werden soll. Auch bei Kritias ist dieser Rückzug ins Subjekt konsequent. Da er an seinem Tugendanspruch festhält, ihn aber auf der Objektseite nicht einlösen kann, bleibt ihm nur die Möglichkeit einer Tugendbestimmung vom Subjekt her. An seinem Verständnis der Selbsterkenntnis als einer Erkenntnis der Erkenntnis659 zeigt sich auch bei Kritias der reine Selbstbezug des Vernunftvermögens als letzter Grund. In beiden Texten werden Möglichkeit und Nutzen einer selbstbezogenen Vernunft thematisiert660. Im Charmides wird grundsätzlich die Möglichkeit eines Denkens, das nur sich selbst denkt, untersucht, indem die inneren logischen Notwendigkeiten eines solchen Denkens expliziert werden. Im Verlauf dieses Untersuchungsteils wird die Struktur des 656 657 658 659 660

Vgl. Platon, Charmides 162c–e. Vgl. Platon, Charmides 163a–164c. Vgl. Platon, Charmides 164c–165b. Vgl. Platon, Charmides 165c–166c. Vgl. Platon, Charmides 167b–175a; Kant, GMS BA97–128.

D. Strukturvergleich

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Bezugnehmens auf etwas aufgedeckt. Da Kritias nicht willens und auch nicht fähig ist, nachzuweisen, ob die von ihm gemeinte Selbsterkenntnis dieser Struktur genügt, lässt Sokrates die Entscheidung über die grundsätzliche Möglichkeit offen und geht zur Untersuchung des Nutzens über. Es zeigt sich, dass der fraglichen Erkenntnis jeglicher Nutzen fehlt, da sie in ihrem Selbstbezug keinen Bezug zum Guten hat. In der Grundlegung betrachtet Kant die Möglichkeit einer aus dem Selbstbezug gesetzgebenden Vernunft angesichts der Naturgesetze, die den Menschen als sinnliches Wesen bestimmen. Er will also ihre Wirksamkeit und nicht ihre innere Denkbarkeit nachweisen. Die logische Denkbarkeit einer solchen Vernunft scheint er dabei zu unterstellen. Er erhebt die Denkbarkeit der Vernunft als letzten Zweck sogar zur eigentlichen Begründung der gesamten Ethik. Die so verstandene Selbsterkenntnis zeigt sich bei Kant als der gesuchte Nutzen und damit auch als Grund eines guten Lebens. An Kants Ausführungen wird einsichtig, warum die Vernunft sich von der Sinnlichkeit unabhängig denken muss. Eine von der Sinnlichkeit unabhängige Vernunft ist notwendig, weil der Mensch sonst keinen Einheitspunkt hätte und sich in eine Vielzahl von Erscheinungen auflösen würde. Kant will die Vernunft nun aber nicht bloß von der Sinnlichkeit unabhängig, sondern schlechthin unabhängig und stattdessen selbstbezogen denken. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten wurden oben thematisiert. Sie werden aufgrund der sokratischen Prüfung im Charmides verstehbar. Die Vernunft als ein unsinnliches Vermögen, dessen Leistung die Erkenntnis ist, ist eine Art, auf Sachverhalte Bezug zu nehmen. Die von Kant und Kritias vertretene Selbstbezugnahme unterstellt die Sachhaltigkeit des Vermögens selbst, die aber in der Möglichkeit des Beziehens nicht enthalten ist, sondern erst in einem verwirklichten Bezug erreicht werden kann. Anders formuliert: das Denken ist nicht von sich aus sachhaltig. Es ist bloß die Möglichkeit zur Sachlichkeit, die verwirklicht werden kann, aber nicht durch bloße Unterstellung erreicht wird. Die berechtigten Fragen, die sich nun stellen, lauten: Worin besteht diese Sachlichkeit und wie kann sie verwirklicht werden? Gibt es ein Beispiel für diese Verwirklichung?

d. Sokratisches Denken Die Antwort der vorliegenden Arbeit auf diese Frage ist angesichts der vorhergehenden Kapitel sicher nicht unerwartet. Die sokratische Prüfungstätigkeit wurde gerade auf diese Weise charakterisiert als ein beständiges Bezugnehmen auf die von den Geprüften beanspruchte Sache. Das von Sokrates dabei verwirklichte Denken ist von dem Denken seiner Gesprächspartner und, wie sich nun zeigt, auch von dem Denken Kants grundverschieden. Schon der Ansatz ist ein grundsätzlich anderer. Sokrates setzt nicht voraus, dass das Alltagsdenken und die Alltagspraxis richtig sind, sondern untersucht diesen Anspruch. Diese Untersuchungsabsicht zielt nicht bloß auf eine

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IV. Die Begründung des guten Lebens bei Kant

Explikation der unbewussten Voraussetzungen. Eine solche Bewusstwerdung ist nur eine notwendige Stufe der Prüfung und nicht ihr Ziel. Das Ziel der Prüfung ist die Verwirklichung des prüfenden Denkens. An dem Alltagsdenken macht Sokrates bewusst, dass die beanspruchte Tugend alle Lebensbereiche umfassen muss und deswegen weder auf ein objektiv-sinnliches (bedächtiges Verhalten) noch ein subjektiv-seelisches (Scham) Phänomen eingeschränkt werden kann. Bei der Begriffsbildung gemäß dem sachlich inhärenten Allgemeinheitsanspruch müssen diese Phänomenbereiche zwar miterfasst werden, aber sie stellen nur die Bereiche dar, in denen sich Tugend äußert. In der durch Sokrates strukturierten Begriffsbildung wird die Betrachtung von den objektiven und subjektiven praktischen Folgen auf den Grund dieser Folgen im Subjekt selbst umgewendet. Die Prüfung durchschreitet die Stufe des Handelns und Empfindens und wendet sich dem Denken zu. Das Denken der Partner wird anschließend untersucht, indem Sokrates nach dem richtigen Verständnis des gebildeten Begriffs (Tun des Seinigen) fragt. Sokrates’ Frage nach dem Verständnis zeigt, dass er diese Umwendung zum Denken schon vollzogen hat. Charmides verweigert die Umwendung und zieht sich aus dem Gespräch zurück. Kritias beansprucht, sie zwar vollzogen zu haben, beweist mit seinem ersten Beitrag aber eher das Gegenteil. Hier ist Kant den sokratischen Gesprächspartnern weit voraus. Er bedarf der Umwendung zum Denken nicht mehr. Denn er benutzt das Alltagsdenken nur um aufzuzeigen, dass sein Ansatz, das oberste Prinzip der Sittlichkeit allein aus der Vernunft herzuleiten, schon im Alltagsdenken eine Rechtfertigung findet. Allerdings zeigt Kants Umgang mit dem Alltagsdenken zugleich, dass er die Umwendung zum Denken ganz anders versteht als Sokrates. Kant benutzt das Alltagsdenken als Hinführung zu seinem Reflexionsgegenstand und betrachtet dabei den Anspruch des Alltags, zu wissen, was gut ist, als erfüllt. Sokrates hingegen verwirklicht einen gänzlich anderen Umgang mit den Voraussetzungen des Alltagsdenkens. Sie sind für ihn kein Zeichen für den Besitz der Wahrheit, sondern Anlass und Möglichkeit der Wahrheitssuche. In der Untersuchung von Kritias’ Verständnis der Selbsterkenntnis wird deutlich, wohin sich Sokrates umwendet. Er wendet sich nicht direkt dem Denken selbst zu, sondern dem, was das untersuchte Denken zu erkennen beansprucht – der gesuchten Sache. Kritias unterstellt schließlich, dass sein Denken sachhaltig ist, dass er etwas denkt, das gut ist. Diese vorausgesetzte Bezugnahme auf einen Sachverhalt verwirklicht Sokrates, indem er sie prüft, d. h. sein eigenes Denken den inhärenten Sachforderungen unterwirft und den anderen auffordert, dasselbe zu tun. Da in der Prüfung Sachanspruch und Sachvorstellung in ihrer inneren Logik aneinander gemessen werden, ist die Prüfung selbst auch die Verwirklichung des gesuchten sachlichen Denkens. Sie ist der verwirklichte Selbstzweck, den Kant in der Vernunft unterstellte. Außerhalb der Prüfung bleibt die Möglichkeit des sachlichen Denkens unverwirk-

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licht, so dass die bloß sich selbst reflektierende Vernunft zwar einsehen kann, dass sie der Grund der Tugend sein müsste, aber sie kann nicht einsehen, dass sie es ist. Das Ergebnis der Prüfung ist dementsprechend kein Wissen über das sachliche Denken, sondern dessen Verwirklichung, die allerdings immer wieder neu erreicht werden muss. Die Überlegenheit des sokratischen Denkens gründet in der inneren Umkehr der Denkrichtung. Er reflektiert nicht bloß sein Vorurteil über die Tugend, um sich der eigenen Richtigkeit zu versichern. Sein Denken bezieht sich damit nicht mehr nur auf ihn selbst. Stattdessen sucht er nach dem sachlichen Kern der vorgebrachten Vorstellungen, um das Richtige einzusehen und tugendhaft zu werden. Die objektivistische Projektion wird durch die fortwährende Selbstanwendung der durchdachten Maßstäbe überwunden und der subjektivistische Rückzug durch die Sachausrichtung vermieden. Das Dilemma, das sich am Ende von Kants Grundlegung zeigt, entsteht nicht, weil das Denkvermögen sich in der Prüfung zwar von der Sinnlichkeit löst, sich aber nicht auf sich selbst zurückwendet, sondern auf den unterstellten Sachmaßstab bezogen bleibt. Das prüfende Denken ist außerdem kein ableitendes Denken, weil es nicht auf einer Setzung beruht, sondern Setzungen aufhebt. Die in der Prüfung geschaffene Wirklichkeit des Denkens ist gleichermaßen Sach- und Selbsterkenntnis. Da den Sachforderungen im eigenen Denken nachgegangen wird, muss entweder beides zugleich unverständlich bleiben oder verstanden werden. Auf die Frage nach der Möglichkeit, sich selbst und Gott zu erkennen, kann deswegen eine Antwort angedeutet werden. Selbsterkenntnis scheint zumindest Sokrates im Tugenddialog zu verwirklichen. Ob im Tugenddialog außerdem auch eine Gotteserkenntnis möglich wäre, muss an dieser Stelle offen gelassen werden. Da die Untersuchung im Tugenddialog allerdings im Guten gipfelt und Gott eine ähnliche Begründungsfunktion im Argumentationsgang einnimmt wie das Gute, scheint es zumindest nicht ausgeschlossen, dass auf diesem Wege auch eine Gotteseinsicht möglich wäre.

V. Schlussvergleich

Nachdem die verschiedenen Konzepte des guten Lebens nachvollzogen wurden, soll ein Vergleich dieser Konzepte meine Untersuchung abschließen. Je zwei Denker wurden schon in den jeweiligen Kapiteln in Beziehung gesetzt, nun soll aber der Zusammenhang aller drei Denkansätze verdeutlicht werden. Um den Vergleich systematisch zu gestalten, werde ich für alle Denker zunächst den Ausgangspunkt darstellen. Im zweiten Schritt gilt es dann, die Denkrichtung, die von dem Ausgangspunkt jeweils eingeschlagen wird, und die vollzogenen Denkschritte zu kennzeichnen. Drittens werden die Ergebnisse der Auseinandersetzungen zusammengefasst. Als letztes sollen in einem kurzen Ausblick mögliche Konsequenzen meiner Untersuchung für die gegenwärtige Debatte und den nach Orientierung suchenden Menschen aufgezeigt werden.

A. Der Ausgangspunkt – Urteilen oder Fragen Wie man es bei dem Versuch, den Grund eines guten Lebens zu bestimmen, erwartet, setzen alle Denker in gewisser Weise am alltäglichen Leben der Menschen an. Dieser Anfang im Leben ist den drei Denkern gemeinsam, allerdings verhalten sie sich unterschiedlich dazu, so dass der genaue Ansatzpunkt jeweils anders gewichtet ist. Platon stellt im Vorgespräch des Charmides eine Situation dar, die so oder so ähnlich stattgefunden hat. Es war für die Athener Bildungsschicht sicherlich ganz alltäglich, sich in einer Palaistra zu Sport und Gespräch zu treffen. Sokrates entwickelt die philosophische Sachfrage aus dieser alltäglichen Situation, so dass die Verbindung zwischen Leben und Philosophie nachvollziehbar wird. In den agierenden Personen gibt es damit eine gewisse Einheit von Lebensvollzug und Nachdenken über die Begründung dieses Lebens. An den drei Hauptpersonen des Dialogs Charmides, Kritias und Sokrates werden schon im Vorgespräch verschiedene Haltungen zu ihrem Lebensvollzug deutlich. Charmides stellt die Stufe des unbewussten, aber von der Gemeinschaft als richtig anerkannten Lebens dar. Er weiß, dass er als gut gilt, und bemüht sich, diesen Ruf zu erhalten. Er übernimmt damit unbewusst den Anspruch seiner Mitbürger, das gute Leben zu verwirklichen. Den Grund für dieses gute Leben soll die von Charmides unbewusst verwirklichte Tugend bilden. Charmides beginnt mit Sokrates’ Hilfe, die eigene Lebensführung zu reflektieren, um das darin unterstellte Gute zu erfassen. Charmides hat also bis dahin noch kein eigenes Verhältnis zum eigenen Lebensvollzug erworben. Er stellt den Praktiker dar, über den die ande-

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V. Schlussvergleich

ren nachdenken, weil sie in ihm die Verwirklichung des guten Lebens voraussetzen. Kritias stellt die Stufe des bewussten Lebens dar. Er ist einer derjenigen, die Charmides das gute Leben und die Tugend zuschreiben. Damit beansprucht Kritias nicht nur die Erkenntnis des Guten, sondern außerdem noch die Fähigkeit zu erkennen, ob ein Mensch das Gute in seiner Lebensführung verwirklicht. Er verkörpert das reflektierte Leben, das die eigenen und fremden Grundlagen zu kennen behauptet. Kritias’ Verhältnis zur alltäglichen Lebenspraxis besteht in Zuschreibung des Guten und anschließender Reflexion dieses Guten. Charmides ist für Kritias ein Repräsentant der guten Praxis. Charmides bedarf aus Kritias’ Sicht höchstens einer begrifflichen Aufklärung über die eigene richtige Praxis; die Tugend hat er schon. Beide zusammen repräsentieren Charmides und Kritias das Leben im Anspruch des Guten. Sie unterstellen bewusst oder unbewusst die Begründung ihrer Lebensführung und urteilen von ihr her über die konkreten Einzelbelange des Lebens. Sokrates erhebt keinen solchen Anspruch wie Charmides oder Kritias, sondern untersucht diesen Anspruch. Sokrates verkörpert das prüfende Leben, das nach der Begründung sucht, anstatt ihren Besitz bei sich oder anderen zu unterstellen. Wie schon vorher diskutiert, ist das sokratische Denken im Verhältnis zu dem Denken seiner Partner gegenläufig. Anstatt von einer unterstellten Begründung her zu denken, denkt er umgekehrt auf die Begründung hin. Er setzt an dem konkreten Lebensvollzug des Charmides an und arbeitet die innere Struktur und Begründungsbedürftigkeit dieses Lebens heraus. Anschließend wendet er sich Kritias zu, der eine Theorie über die Qualität der Charmides-Praxis vorbringt, und untersucht an dieser Theorie das Denken, das der Praxis des Charmides eine Begründung zuschreibt. Sokrates’ Verhältnis zum alltäglichen Lebensvollzug ist identisch mit seinem Verhältnis zu der Theorie über diesen Lebensvollzug. In beiden Fällen fordert er das anspruchsbasierte Leben heraus, den eigenen Anspruch einzulösen. Sein Verhältnis lässt sich als anspruchsfrei und prüfend bestimmen. Er ist der Sache zugewandt, die beansprucht wird. Platons Dialog stellt damit zwei Grundmöglichkeiten der Lebensführung dar: das anspruchsbasierte und das anspruchsprüfende Leben. In der ersten Variante wird die Begründung der eigenen Lebensführung unterstellt; in der zweiten wird sie aktiv gesucht. Aristoteles beginnt die Nikomachische Ethik mit einer Reflexion aller menschlichen Tätigkeiten auf ihr Ziel hin. Er abstrahiert schon im ersten Satz von dem konkreten Lebensvollzug des Einzelnen und konzentriert sich in seiner Untersuchung auf den so entstehenden Allgemeinbegriff des höchsten Ziels. Das letzte Ziel aller Tätigkeiten und das höchste notwendig erstrebte Gut ist das Glück. Da nach einer solchen Einführung des Glücksbegriffs jeder Mensch notwendig nach Glück strebt, kann Aristoteles mit seiner Betrachtung an den bekannten Lebensformen und Lebensbegrif-

A. Der Ausgangspunkt – Urteilen oder Fragen

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fen ansetzen. Er übernimmt damit den Anspruch der Alltagspraxis, das gute Leben verwirklicht zu haben, und versucht, den Grund dieser unterstellten Verwirklichung begrifflich zu erfassen. Seine Grundvoraussetzung ist also, dass die reflektierte Handlungspraxis das Gute erstrebt und verwirklicht. Der Mangel der Praxis besteht bloß darin, dass sie ihren Maßstab, das erstrebte höchste Gute, nicht genau kennt. Kant eröffnet seine Grundlegung zur Metaphysik der Sitten in der Vorrede mit einer Systematisierung der vorhandenen und notwendigen wissenschaftlichen Disziplinen. Diese Vorrede dient dazu, den vom Leben abgewandten Wissenschaftler von der Notwendigkeit einer Ethik zu überzeugen, die ihr oberstes Prinzip allein aus der Vernunft selbst begründet. Kant behauptet, dass alle Ethiken vorher schlecht oder falsch begründet waren. Die eigentliche Untersuchung beginnt Kant mit seiner Bestimmung des guten Willens als einzigen Grundes eines guten Lebens. Kant setzt also mit dem Anspruch ein, den Grund des guten Lebens endlich richtig zu erfassen. Erst anschließend greift er auf den Alltag zurück. Die gemeine Menschenvernunft, wie Kant das Alltagsdenken bezeichnet, weiß, was gut und richtig ist, nämlich die Achtung des Gesetzes; sie weiß bloß nicht, warum das Gesetz geachtet werden soll. Kant bekräftigt damit den Anspruch des Alltagsdenkens, das Gute zu kennen. Das Alltagshandeln entspricht laut Kant nicht immer dem eigentlich bekannten Maßstab. Der Grund dafür ist das fehlende Verständnis bzw. die fehlende Begründung des richtigen Wissens. Diese Begründung will Kant in einer Selbstaufklärung der Vernunft nachholen. Seine Grundvoraussetzung ist also, dass das reflektierte Alltagsdenken das Gute schon aus sich selbst heraus kennt. Vergleicht man die skizzierten Ansätze, so zeigt sich eine ganz klare Gemeinsamkeit von Kritias, Aristoteles und Kant. Alle drei setzen eine Lebenspraxis voraus, die in irgendeiner Form das gute Leben schon verwirklicht, zugleich aber einen Mangel hat, den sie beheben wollen. Man kann sagen, dass alle drei eine Lebenspraxis reflektieren, wie sie von Charmides repräsentiert wird. Sie beanspruchen das Gute für sich und den reflektierten Alltag von Beginn an. Kritias schreibt Charmides die Verwirklichung der Tugend uneingeschränkt zu. Aristoteles erhebt den Anspruch für das Alltagshandeln, weil es stets das Gute zum Ziel hat, und Kant für das Alltagsdenken, weil es den Begriff des Guten als Urteilsmaßstab benutzt. Sie selbst wollen das richtige Bewusstsein des Guten einbringen. Alle drei treten den Versuch an, die Rechtmäßigkeit des erhobenen Anspruchs nachzuweisen. Trotz des geteilten Anspruchs fokussieren Kritias, Aristoteles und Kant auf einen jeweils anderen Aspekt an der reflektierten Lebenspraxis und diagnostizieren entsprechend verschiedene Mängel. Kritias schreibt Charmides die Tugend zunächst uneingeschränkt zu. Da sich im Verlauf der sokratischen Prüfung die Begründungsbedürftigkeit der Charmides-Lebensführung zeigt, muss Kritias sein Urteil modifizieren. Zuerst will er Charmides durch einen richtigen Begriff der Praxis (Tun des Guten) belehren und damit einen Mangel an Maßstabswissen ausgleichen. Nachdem diese Möglichkeit scheitert, ver-

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V. Schlussvergleich

ordnet Kritias dem guten Praktiker eine Selbstreflexion, um die Begründung der eigenen Tugend in der eigenen Erkenntnisfähigkeit einzusehen. Kritias sieht bei dem Praktiker also erst einen Mangel an Maßstabswissen und dann einen Mangel an Selbstwissen. Beide Ansätze werden von Sokrates als ungenügend aufgezeigt. Aristoteles und Kant haben ein differenzierteres Verhältnis zur Charmides-Lebenspraxis als Kritias. Aristoteles sieht die Tugend nur in Charmides’ Handeln verwirklicht und diagnostiziert einen Mangel an Maßstabswissen. Deswegen konzentriert er sich auf den Lebensmaßstab des Charmides-Lebens, auf das Objekt seines Tuns. Kant hingegen sieht die Ambivalenz des Handelns trotz des vorhandenen Maßstabswissens (Achtung vor dem Gesetz). Da dieses Wissen offensichtlich nicht ausreicht, um immer danach zu handeln, muss dem Praktiker noch etwas anderes fehlen. Nach Kant fehlt es ihm an der Begründung seines Maßstabswissens. Da eine Begründung der eigenen Lebensführung stets eine Leistung des Einzelnen ist, kann sie auch nur im Subjekt selbst gesucht werden. Deswegen wendet sich Kant dem Subjekt selbst und darin dem maßstabssetzenden Vermögen zu. Aristoteles und Kant lassen sich also dem anspruchsbasierten Denken der sokratischen Gesprächspartner zuordnen. Sachlich knüpft Aristoteles dabei an der ersten Antwort des Kritias an und Kant an der zweiten. Folglich bietet sich die Deutung an, dass Aristoteles in der Nikomachischen Ethik das praktische Gute entfaltet, das Kritias als Maßstab nur benennt. Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten lässt sich damit auffassen als eine Darstellung, inwiefern die Selbstreflexion des Vernunftvermögens eine notwendige Reaktion auf das unbegründete Maßstabswissen ist, wenn an dem Anspruch der Richtigkeit des Alltagsdenkens festgehalten wird. Beide Ethiken können als ein indirekter Versuch verstanden werden, die sokratische Widerlegung im Charmides zurückzuweisen, ohne dass man unterstellen muss, dies sei die Absicht der beiden Autoren gewesen. Wie schon oben dargestellt, gibt es einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen dem anspruchsbasierten und dem anspruchsprüfenden Denken. Sokrates führt im Charmides dieses prüfende Denken vor. Die gemeinsame Voraussetzung des anspruchsbasierten Denkens, die vorgefundene Lebensweise des Charmides sei schon gut, teilt Sokrates nicht. Er setzt aber auch keine andere Behauptung dagegen, sondern lässt sich selbst anspruchsfrei auf den Anspruch ein. Sokrates’ Denken verwirklicht sich an dem anspruchsbasierten Denken und fokussiert auf die beanspruchte Wirklichkeit, die Sein und Erkennen der Tugend begründen soll. Wenn also Aristoteles und Kant den Anspruch von Kritias übernehmen und zu verteidigen versuchen, bieten sie damit auch einen Ansatzpunkt für das prüfende Denken.

B. Der Denkvollzug – Begründungsreflexion oder Begründungssuche

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B. Der Denkvollzug – Begründungsreflexion oder Begründungssuche Bei dem Vergleich der Ansätze hat sich gezeigt, dass in Platons Tugenddialog zwei grundsätzliche Denkweisen vorgeführt werden, von denen nur eine von Aristoteles und Kant fortgeführt wird. Das prüfende Denken des Sokrates geht dabei verloren; das setzende Denken des Kritias wird zum System ausgebaut. Bei dem Vergleich der Denkvollzüge soll deswegen abschließend betrachtet werden, ob Aristoteles und Kant die sokratische Widerlegung überwinden konnten. Da das Anspruchsdenken vor seiner Prüfung auftreten muss, werde ich mit dem Vollzug des Anspruchsdenkens bei Aristoteles und Kant beginnen und anschließend zu seiner Prüfung durch Sokrates zurückkehren. Aristoteles bestimmt das Gute zunächst ganz formal als Strebensziel aller menschlichen Tätigkeiten. Der Grund des guten Lebens wird folglich vom Ziel des Lebens, dem Objekt des Handelns und Denkens, her gedacht. Hier wiederholt sich Kritias’ Erläuterung des praktischen Selbstverständnisses als das Tun des Guten. Aristoteles will dieses letzte Ziel näher bestimmen. Zuerst fasst er die Mitte als das werterhaltende Ziel der Praxis und die Charaktertugend als Haltung der richtigen Mitte. Ihre tätige Verwirklichung stellt das Glück des Praktikers dar. Im Anschluss daran beschreibt er zweitens die verschiedenen richtigen Verwirklichungen dieser Mitte in Bezug auf verschiedene Begierden des Menschen. Im dritten Schritt führt er die Verstandestugenden ein, die einerseits die praktische Verwirklichung der Mitte unterstützen und andererseits den höchsten Gegenstand überhaupt (Gott) betrachten sollen. Die gegenständliche Welt- und Menschbetrachtung ist mit dem Erreichen Gottes vollständig, weil Gott das höchste, absolute Objekt ist, an dem sich der Mensch betätigen kann. Das höchste Lebensziel ist folglich die Betrachtung Gottes und die höchste Lebensform die menschenmögliche Nachahmung der göttlichen Selbstbetrachtung. Die gesamte Ethik lässt sich als Aristoteles’ Entgegnung auf das Argument im Charmides lesen, wonach der Praktiker von seiner Tugend nichts wissen kann, solange sie nur von den Folgen seiner Tat her bestimmt ist. Diesen Einwand versucht er mit einer Theorie auszuräumen, in der er den Praktiker insgesamt darüber aufklärt, dass er das Gute als Mitte erstrebt und damit im Recht ist. Allerdings kann Aristoteles das Problem nicht lösen, wie der Praktiker in der konkreten Situation die richtige Mitte treffen kann und damit im Einzelfall sicher tugendhaft handeln kann. Da auch bei Aristoteles das praktische Gelingen des Lebens weiterhin von der guten Tat abhängt, in der sich die richtige Haltung verwirklicht, überwindet er die problematische Abhängigkeit der Lebenserfüllung von den zufälligen Umständen nicht. Das theoretische Gelingen in der Betrachtung Gottes ist für den Praktiker nicht möglich. Die Scheinbarkeit der aristotelischen Gotteserkenntnis wurde schon thematisiert und wird sehr eindrucksvoll von Kant aufgezeigt.

250

V. Schlussvergleich

Kant verwehrt sich gegen jegliche objektivistische Begründung in der Ethik, weil der Mensch mögliche Gegenstände entweder erst aus der Erfahrung kennt oder bloß selbst konstruiert. Da die gemachten Erfahrungen vielfältig und eher zufällig sind, lässt sich damit keine Allgemeingültigkeit begründen. Die bloß konstruierten Gegenstände, wie bspw. Gott, lassen sich nicht als wirklich beweisen, so dass sie keine Begründungsmacht haben können. Kant setzt deswegen an dem Subjekt selbst an, das die Erfahrung macht bzw. die Gegenstände konstruiert. Die Aufklärung der gemeinen Menschenvernunft erfolgt durch stufenweises Zurückschreiten in der Begründung des guten Handelns zu einer reinen Vernunft, die vorher unbewusst wirksam war. Der Grund des guten Lebens wird im Menschen selbst, genauer: in seiner Vernunft angesetzt. Zuerst wird das im Alltag geachtete Gesetz auf das gesetzgebende Vermögen zurückgeführt. Da es auch das zwecksetzende Vermögen ist, zeigt es sich zweitens als Selbstzweck und damit als unbedingter Maßstab des Wollens, Handelns und Denkens. Dieses maßgebliche Vermögen ist die Vernunft. Damit sie diese Aufgabe erfüllen kann und also die Begründung des Alltagsdenkens liefern kann, muss sie drittens als freie und letzte Ursache gedacht werden. Nur als solche bewahrt sie die Einheit des Menschen, bietet ihm einen Maßstab im Umgang mit der Welt, seinen Mitmenschen und seinen Begierden und stellt den Grund aller Erkenntnis dar. Die reine Vernunft ist also das absolute Subjekt und damit das Gegenstück zu Gott als absolutem Objekt. Die reine Selbstbetrachtung der Vernunft soll die schon im Alltag wirksame Ethik begründen. Kants Ethik lässt sich ebenfalls als eine Erwiderung auf ein Argument des Charmides lesen. Es scheint, als ob Kant die Möglichkeit und Nützlichkeit eines nur sich selbst denkenden Denkens vorführen und beweisen will. Die Möglichkeit führt er vor, indem er in den Bedingungen der Möglichkeit der gemeinen Menschenvernunft schrittweise zurückschreitet und dabei von allen zunächst mitgedachten Inhalten zunehmend abstrahiert. Er beweist damit zwar eine Vollziehbarkeit einer solchen Rückbeugung des Denkens auf sich selbst, zeigt zugleich aber auf, dass dieses Denken sich selbst am Ende nicht mehr verstehen kann. Da die völlig autonome Vernunft nach Kant keinerlei Ursache haben darf, kann sie sich nicht mehr von einem anderen Sein ableiten und damit auch nicht mehr verstehen. Die anvisierte Nützlichkeit einer autonomen Ethik in Form von Umstandsunabhängigkeit wird nicht erreicht, weil die sich selbst nicht verstehende Vernunft das objektbezogene Denken nicht überwinden kann, sondern gerade die Angewiesenheit des Denkens auf einen Denkgegenstand vorführt. Der Vollzug der denkenden Selbstbetrachtung durch Kant überwindet also das Problem der Kritias-Antwort nicht, sondern bestätigt geradezu die Kritik an ihrer Unmöglichkeit, weil es verdeutlicht, dass dieses Denken am Ende leer ist. Wie schon vorher diskutiert, zeigen sich die beiden Ethiken als komplementär zueinander. Sie beginnen an den beiden Polen des im Alltag verwirklichten Lebens.

B. Der Denkvollzug – Begründungsreflexion oder Begründungssuche

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Aristoteles setzt an den Zielen der Menschen an und denkt alles von diesen her. Kant hingegen setzt an dem Menschen selbst an und erklärt alles von seinem ziel- bzw. zwecksetzenden Vermögen her. Im Tugenddialog werden beide Möglichkeiten, den Anspruch zu begründen, in ihrer Grundstruktur durchdacht. Kritias’ erste Bestimmung der Tugend als das Tun des Guten deutet die Tugend wie Aristoteles vom Ziel oder genauer vom Ergebnis des Handelns her, also objektivistisch. Kritias’ zweite Bestimmung der Tugend als Selbsterkenntnis thematisiert die Rückbeugung des Denkens auf sich selbst als eigentlichen Grund des guten Lebens, wie es auch bei Kant geschieht. Von Kritias werden im Dialog also beide Begründungsfiguren vertreten, die später Aristoteles und Kant zu großen Systemen ausbauen. Es ist bekannt, dass Kant seine Ethik in Kenntnis und Kritik einer aristotelisch geprägten Tradition ethischer Begründungen entwickelt hat. Unter der Annahme, dass das Gute schon bekannt ist, scheinen die beiden Begründungsversuche zwingend zu sein. Worin sollte sich das eigene Gutsein anderenfalls begründen lassen, wenn nicht in den eigenen Zielen oder in dem die Ziele setzenden Denken? Die beiden so gegensätzlich erscheinenden Systeme zeigen sich als Spielarten desselben Denkens. Sie sind die Ausdifferenzierungen des Anspruchsdenkens, das aus dem faktischen Lebensvollzug heraus die unterstellte Begründung eines guten Lebens durch konsequente Reflexion herauszuarbeiten versucht. Im Tugenddialog vollzieht sich an dem Anspruchsdenken von Charmides und Kritias das prüfende Denken des Sokrates. Im Gegensatz zu Kant, Aristoteles und Kritias entwirft Sokrates keine Theorie, die sein Leben begründen soll. Das Charmides-Gespräch, das die Reflexion der vorher unbewussten Praxis vorführt und einen Begriff dieser Praxis erarbeitet, stellt eine Besonderheit des Tugenddialogs dar. Aristoteles und Kant setzen diese Reflexion voraus. Allerdings wird in dem Charmides-Gespräch erstens vorgeführt, wie das Denken, das sich um den Grund des eigenen Lebens bemüht, anfangen muss. Nämlich mit einem Versuch, das eigene Handeln auf den Begriff zu bringen, um daran einzusehen, dass das Handeln selbst begründungsbedürftig ist und über sich selbst hinaus verweist. In der Charmides-Prüfung wird zweitens deutlich, dass das Handeln, die Haltung, der faktischnatürliche Mensch überhaupt niemals den Grund für das gute Leben selbst darstellen können, sondern ihn bestenfalls umsetzen. Der unverstandene Begriff eines möglichen Maßstabs kann ebenfalls nicht als Begründung dienen. Die Begründung muss, wie Sokrates’ Prüfung es zeigt, im Denken liegen. Dieser Teil des Dialogs rechtfertigt Sokrates’ philosophisches Nachdenken über das Gute als existentiell notwendig. Sokrates beginnt also nicht mit einem Anspruch auf eine vorhandene, aber ggf. noch unbewusste Begründung. Stattdessen zeigt er an der anspruchsbasierten Praxis die Rechtmäßigkeit seiner Suche nach einer Begründung auf. Damit ist die Notwendigkeit von Ethik überhaupt begründet worden. Die philosophische Beschäftigung mit den Fragen der Lebensführung, die Aristoteles und Kant als sinnvoll voraussetzen,

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V. Schlussvergleich

bekommt hier im Tugenddialog durch Sokrates’ Untersuchung der bloßen Praxis eine Grundlage. Zunächst ist allerdings offen, ob jedes Nachdenken über die Lebensfragen begründet ist oder nur ein bestimmtes. Die nächste Frage ist also, welche Ethik die richtige Ethik ist. Sokrates behält seine Denkrichtung auf die Begründung der Lebensführung bei, indem er Kritias’ Bestimmungen darauf hin untersucht, ob sie den erhobenen Anspruch erfüllen. Kritias versucht nun, die Rechtmäßigkeit seines Anspruchs zuerst vom Ziel der Praxis und danach vom sich selbst denkenden Denken her zu begründen. Im ersten Schritt zeigt Sokrates auf, dass ein bestimmtes Ziel auch zufällig erreicht oder verfehlt werden kann. Wenn also der Grund eines guten Lebens, die Tugend, davon abhängt, ob man ein bestimmtes Ziel faktisch erreicht oder nicht, dann bleibt das Leben im Vollzug unbegründet. Man könnte sogar das richtige Ziel anstreben und trotzdem unbegründet leben, wenn man es aufgrund zufälliger Umstände nicht erreichen kann. Damit ist eine rein objektivistische Ethik nicht das gesuchte richtige Denken. Sokrates verdeutlicht, dass die Verfassung des Handelnden selbst für die Lebensbegründung entscheidend ist, so dass der Lebensgrund des Einzelnen weder in der Welt bzw. den Mitmenschen liegen, noch stellvertretend durch andere geschaffen werden kann. Der Einzelne muss selbst richtig denken. In der zweiten Antwort wechselt Kritias vollständig in die Innenperspektive des Menschen. Seine Unterstellung, dass der Mensch im Grunde schon richtig denkt und also das Gute erkannt hat, ihm aber das Bewusstsein der eigenen Einsicht fehlt, lässt sich allerdings nicht begründen. Die reine Selbstbetrachtung kann weder als möglich noch als nützlich nachgewiesen werden. Sokrates zeigt auf, dass Erkenntnis erstens stets durch einen Sachbezug konstituiert wird und Selbsterkenntnis zweitens in einer Prüfung der beanspruchten Sacherkenntnis erreicht wird. Beides beinhaltet eine bewusste Anstrengung. Damit kann die Erkenntnis des Guten nicht unbewusst vorliegen, so dass der Grund des guten Lebens nicht durch bloße Selbstbewusstwerdung eingesehen werden kann. Also ist auch eine rein subjektivistische Ethik nicht das gesuchte richtige Denken. Insgesamt wird an Sokrates’ Untersuchung einsichtig, dass die gesuchte Ethik sowohl ein Selbstverständnis des Menschen als auch ein Sachverständnis des Guten beinhalten muss. Da das Alltagsdenken beides bloß unterstellt und das Denkvermögen als solches zunächst nur die Möglichkeit des Erkennens ist, bedeutet dieses Ergebnis, dass das eigene Denken verändert werden muss. Grob lässt sich am Tugenddialog ein Dreischritt der Selbstveränderung feststellen. Erstens muss eine innere Umkehr des Denkens stattfinden, indem die Grundlagen der eigenen Lebensführung zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht werden. Zweitens müssen diese Grundlagen in einer Reflexion auf den Begriff gebracht werden, an dem drittens die Prüfung als Verständnissuche vollzogen werden kann. Die Reflexion wird durch die Prüfung schrittweise vertieft, so dass das Denken von der äußeren Selbstwahrnehmung des

C. Das Ergebnis – eine neue Qualität des Denkens

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Denkenden bis zu seinen letzten Voraussetzungen fortschreitet. Zugleich hebt die Prüfung die Voraussetzungen als sachlich unzureichend auf, sodass das Denken sich von ihnen lösen kann. Damit wird der bloße Selbstbezug des voraussetzungsbasierten Denkens durch Sokrates aufgebrochen und zugunsten des sachlich orientierten Denkens überwunden. Ein Sachbezug darf selbst allerdings nicht bloß vorausgesetzt, sondern muss ebenfalls im Prüfungsvollzug bewiesen werden. Erst auf diese Weise erreicht das Denken die Selbstständigkeit, die es als Grund der Lebensführung braucht, und stellt tatsächlich selbst das letzte bzw. erste Prinzip dar, ohne von irgendeiner Voraussetzung abzuhängen. Diese Selbstständigkeit wird nicht durch völlige Lösung von der Sache erreicht, sondern gerade durch eine konsequente Bindung an die beanspruchte Sache, d. h. an das Gute. Damit stellt das prüfende Denken nicht bloß den Grund irgendeines Lebens, sondern des guten Lebens dar. Die gesuchte Ethik wird also von Sokrates im Tugenddialog vollzogen.

C. Das Ergebnis – eine neue Qualität des Denkens Das Ergebnis des jeweiligen Denkweges wurde schon angesprochen und soll hier zusammenfassend als Ergebnis meiner Untersuchung festgehalten werden. Aristoteles sieht den Grund des guten Lebens in dem Ziel, dem Objekt eines Lebens; Kant hingegen in dem Subjekt, dem zwecksetzenden Vernunftvermögen. Dass diese Trennung eine Vereinseitigung darstellt, wird schon allein daran deutlich, dass beide Denker doch nicht völlig ohne den vernachlässigten Teil auskommen. Aristoteles zieht die Vernunft als das höchste Vermögen des Menschen heran, um ihn von allen anderen Lebewesen abzugrenzen; und Kant verobjektiviert das Vermögen als Gesetz zum Gegenstand der Achtung, um den Maßstab des Handelns und Wollens anzugeben. Kant entlarvt dabei Aristoteles’ höchsten Gegenstand (Gott) als eine unerkannte Projektion der Vernunft und spätere Denker661 entlarven Kants sich selbst denkende Vernunft als gegenstands- und machtlos. Ein ähnliches Problem zeigt sich im Tugenddialog bei Kritias. Der gute Praktiker weiß nichts von seiner Tugend und der Selbsterkennende weiß nichts über das Gute ; beide Möglichkeiten scheitern an dem Selbstanspruch, den Grund für das eigene gute Leben anzugeben. Selbsterkenntnis und Erkenntnis des Guten lassen sich ohne WiVgl. dazu bspw. Fichte, Die Bestimmung des Menschen, Zweites Buch. Wissen, Hamburg 2000. Darin diskutiert Fichte die Voraussetzungen eines Denkens, das sich selbst zur Ursache allen Seins erklärt. Er zeigt sehr deutlich die fatalen Konsequenzen eines solchen Selbstbezugs auf. Seine Lösung unterscheidet sich stark von der sokratischen, da er nicht den Anspruch auf das Gute aufgibt, um danach zu suchen, sondern zurückkehrt zur Praxis und dem in ihr wirkenden Willen. Zur Frage nach dem Verhältnis der Ansätze von Sokrates und Fichte verweise ich auf die Arbeit von Zehnpfennig (1987). 661

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V. Schlussvergleich

derspruch nicht getrennt denken. Zugleich lassen sie sich nicht als natürlicher Besitz eines Menschen unterstellen, ohne dass die Unterstellung unbegründet bleibt. Nur die Möglichkeit zur Erkenntnis des Guten und zur Selbsterkenntnis kann als natürliche Gabe des Menschen festgestellt werden. Ihre Verwirklichung bleibt eine Aufgabe für jeden Einzelnen. Von den untersuchten Philosophen zeigt sich Sokrates als derjenige Denker, der die Verwirklichung der menschlichen Möglichkeit, die eigene Lebensführung zu begründen, im Tugenddialog vorführt. Als Fazit des Vergleichs lässt sich folgendes festhalten. Erstens ist das menschliche Leben von sich aus begründungsbedürftig, weil es zunächst bloß die Möglichkeit für ein gutes, aber auch für ein schlechtes Leben darstellt. Zweitens lässt sich der Grund eines guten Lebens nicht in einer Theorie festschreiben, sondern bedarf einer eigenen Denkleistung, genauer einer Selbstveränderung des Einzelnen. Damit sich das Denken weder im Gegenstand vergisst, noch im reinen Selbstbezug entleert, muss es drittens den eigenen Sachbezug stets prüfend nachweisen, wann immer ein Sachanspruch erhoben wird. Darin erreicht das Denken eine neue Qualität, da es sowohl einen Sachbezug verwirklicht, als auch in einer Überwindung des bloßen Anspruchs die eigene Sachlichkeit einsieht. Der platonisch-sokratische Tugenddialog kann dabei als Denkschule für den Einzelnen dienen.

D. Konsequenzen für die Gegenwart – Überwindung des Anspruchsdenkens in der Prüfung Bei der einführenden Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Debatte zum guten Leben konnte herausgearbeitet werden, dass der Grund eines guten Lebens stets in einem Selbstverhältnis des Menschen gesehen wird. Je nach Denktradition, in der die verschiedenen Beiträge stehen, sollte das richtige Selbstverhältnis entweder durch die ordnende Kraft der Vernunft ganz aus dem Subjekt heraus gewonnen, oder in der Verwirklichung objektiver Maßstäbe erreicht werden. Die subjektivistischen Beiträge bemühten sich um eine Verhältnisbestimmung von Wünschen und Denken, die zum guten Leben führen sollte. Die objektivistischen Beiträge versuchten, aus einer allgemeinen Konstitution des Menschen einen Maßstab für die Selbstverwirklichung abzuleiten, der eine gute Lebensführung begründen kann. Bei beiden Ansätzen zeigten sich Schwierigkeiten. Ein für sich unausgerichtetes Vernunftvermögen konnte nicht als Grundlage einer sinnvollen Wunschauswahl dienen und ungeprüfte Maßstäbe konnten die menschlichen Vermögen nicht zu seinem Besten ausrichten, so dass in beiden Fällen eine Begründung der Lebensführung fehlte. Diese Ansätze konnten auf die Konzeptionen von Kant und Aristoteles zurückgeführt werden. Die Schwierigkeiten beider wurden ausführlich diskutiert. Da sich an den Ansätzen von Kant und Aristoteles nicht einzelne Argumente als schwierig

D. Konsequenzen für die Gegenwart

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gezeigt haben, sondern die Begründungsstruktur selbst, kann sich auch ein Neuansatz auf derselben strukturellen Basis nicht bewähren. Das richtige Selbstverhältnis kann auch in der Gegenwart nicht mehr nur vom Subjekt oder nur vom Objekt her gedacht werden, wenn es die diskutierten Schwierigkeiten überwinden soll. Für die gegenwärtige Diskussion kann diese Feststellung als Anlass zur Selbstprüfung dienen, um die eigenen Grundvoraussetzungen aufzuklären und zu überdenken. Die in der gegenwärtigen Diskussion geäußerte Skepsis gegenüber der Möglichkeit eines richtigen Selbstverhältnisses kann im Anschluss an die vollzogene Untersuchung nur in Vernachlässigung des sokratischen Denkens als begründet erscheinen. Die beiden Spielarten des Anspruchsdenkens als Objektivismus und Subjektivismus haben zwar aneinander jeweils Recht, leiden aber jeweils an den dargestellten Schwierigkeiten, so dass die skeptische Haltung angesichts des Anspruchsdenkens im Ganzen durchaus plausibel erscheint. In der Untersuchung hat sich deutlich gezeigt, dass das Anspruchsdenken die gesuchte Begründung des guten Lebens nicht bieten kann. Die Skepsis angesichts des Anspruchsdenkens ist zwar berechtigt, sie beruft sich aber zu unrecht auf Sokrates als Vordenker. Im Gegensatz zur skeptischen Position leugnet Sokrates die Möglichkeit eines guten Lebens und die Erkennbarkeit seines Grundes nicht, sondern durchdenkt die vorgebrachten Gründe. Er setzt den objektivistischen und subjektivistischen Ansichten keine eigene Vorstellung entgegen, denn damit würde er ebenso einen Anspruch auf Erkenntnis des Guten erheben wie die widerlegten Partner. Stattdessen zeigt sich in dem von Sokrates vorgeführten prüfenden Denken die grundsätzliche Alternative zum Anspruchsdenken. Damit ist auch der eigentliche Mangel, den ein Mensch in seinem Streben nach einem guten Leben zu überwinden hat, bezeichnet. Es ist das Anspruchsdenken, das eine Einsicht voraussetzt, um die es sich noch nicht bemüht hat. Diese zunächst unbewusst von unseren Mitmenschen übernommene Haltung, man sei irgendwie gut und müsse dieses Gutsein nur noch äußern, sollte ein Anlass dazu sein, sich selbst und andere zu fragen, worin denn dieses vermeintliche Gutsein besteht. Das so gewonnene Bewusstsein von der eigenen lebensleitenden Vorstellung überwindet das Anspruchsdenken noch nicht, sondern bildet es reflexiv ab. Die eigentliche Herausforderung besteht in der fortwährenden Überprüfung, ob diese Vorstellung den eigenen mitgedachten Maßstäben genügt. Die stetige Wiederholung verhindert folglich, dass man Wünsche zu erfüllen versucht, die den eigenen Maßstäben widersprechen und deswegen enttäuschend sind. Zugleich fokussiert sie das eigene Denken und schult es in einer Sachlichkeit, die die Wahl eines selbstwidersprüchlichen Maßstabs der Lebensführung verhindert. Ein solcher Maßstab würde die Prüfung nicht bestehen. Die Prüfung der verschiedenen Ansichten über den Grund eines guten Lebens stellt selbst schon das richtige Selbstverhältnis des Menschen und den eigentlichen

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V. Schlussvergleich

Grund des guten Lebens dar. Den Übergang vom Anspruchsdenken zum prüfenden Denken kann der Orientierungssuchende am sokratischen Tugenddialog nachvollziehen und einüben.

»Und wenn ich wiederum sage, dass ja eben dies das größte Gut für den Menschen ist, täglich über die Tugend sich zu unterhalten und über die anderen Gegenstände, über welche ihr mich reden und mich selbst und andere prüfen hört, ein Leben ohne Selbsterforschung aber gar nicht verdient gelebt zu werden, das werdet ihr mir noch weniger glauben, wenn ich es sage.« (Platon, Apologie 38a)

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PERSONENREGISTER

Albert 39 Annas 35 Aristoteles 14, 22, 31–32, 45, 119–172, 174, 183, 187, 191, 196–199, 202– 204, 221, 233–234, 236–237, 240, 246–249, 251, 253–254 Bien 121, 127–128 Bloch 44–47 Brickhouse/ Smith 3 7 Broadie 122 Cooper 132 Curzer 120 Dimas 37 Dirlmeier 140, 144 Dudley 129–130

Heitsch 36, 44 Henrich 181, 187 Himmelmann 177–178 Hinske 27, 176 Höffe 22, 25–27, 31–32, 121, 123 Hossenfelder 16, 19–21, 25, 31 Hyland 44, 49–52 Illies 187 Kant 14–16, 31–32, 50, 52, 170, 173– 243, 247–251, 253–254 Kaulbach 179, 181–186 Kenny 120–122, 125 Kullmann 122 MacIntyre 181 Mendonça 181, 187

Ebert 39 Eriksen 128–129 Erler 43–44, 47–48

Nussbaum 16, 22–23, 26–27, 31

Ferber 38 Fichte 253 Forschner 177 Fröhlich 32, 45, 58

Platon 14, 28, 31–32, 35–36, 38, 40, 42–47, 52, 57–58, 68, 121, 125–126, 131, 135–136, 159, 162, 201, 236– 240, 245–246, 249, 254 Prauss 18, 190–191

Gerhardt 181, 228 Gigon 119, 121, 140, 144 Gonzalez 4 4–45, 54–57 Guyer 180

O’Neill 181, 185, 228

Rese 123–124, 127 Rhonheimer 124–127 Römpp 177

Hardie 120, 122 Hegel 187

Santas 38

266

Personenregister

Schmidt 44–52 Schneewind 175 Schönecker 180–181 Schopenhauer 181, 187 Schrastetter 40, 45, 58 Seel 16–18, 21, 28 Senn 37 Sokrates 14, 31–32, 35–118, 126, 132, 136, 162, 165–166, 169–172, 174, 176, 233, 237–243, 245–249, 251–256 Spaemann 22, 187 Steigleder 179, 181 Steinfath 15–16 Stemmer 16–17, 21, 38–39, 121

Szaif 122, 124 Szlezák 39, 44, 47 Taylor 15, 22, 24–26 Vlastos 38 Wenzel 181, 187–189 Witte 44–46 Wolf 15, 27–29, 31, 36–39, 51–52, 124, 130–132 Zehnpfennig 35, 45, 54–55, 57–58, 253