Der Erkenntniswert politischer Argumente in der Anwendung und wissenschaftlichen Darstellung des Zivilrechts: Eine Untersuchung zur Bedeutung der 'Kritischen Theorie' für die Jurisprudenz [1 ed.] 9783428452187, 9783428052189

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Der Erkenntniswert politischer Argumente in der Anwendung und wissenschaftlichen Darstellung des Zivilrechts: Eine Untersuchung zur Bedeutung der 'Kritischen Theorie' für die Jurisprudenz [1 ed.]
 9783428452187, 9783428052189

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HORST Z I N K E

Der Erkenntniswert politischer Argumente in der Anwendung und wissenschaftlichen Darstellung des Zivilrechts

Schriften

zur

Rechtβtheorie

Heft 102

Der Erkenntniswert politischer Argumente in der Anwendung und wissenschaftlichen Darstellung des Zivilrechts Eine Untersuchung zur Bedeutung der „Kritischen Theorie" für die Jurisprudenz

Von D r . Horst Z i n k e

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

Alle Rechte vorbehalten © 1982 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1982 bel Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3428 05218 8

Vorwort

Gegen Ende der sechziger Jahre trugen engagierte K r i t i k e r die Diskussion u m eine Erneuerung der Juristenausbildung, bis dahin mehr ein Thema für Expertenzirkel, vor die Öffentlichkeit. Forderungen wie die nach dem „politischen Juristen" sicherten das Interesse des Publikums, erregten aber zugleich heftigen Widerspruch. Die Ablehnung schien verständlich. Hatten nicht der Nationalsozialismus und der Stalinismus das Leitbild vom „politischen Richter" für alle Zeiten entwertet? Die Reformer fühlten sich durch solcherlei Anspielungen diffamiert und mißverstanden. Inzwischen hat die Auseinandersetzung an Schärfe, aber auch an Kraft verloren, und die Reformbestrebungen haben zu Teilerfolgen geführt. Einem fruchtbaren Dialog steht aber wie damals i m Wege, daß grundlegende Standpunkte jener Autoren, die den „neuen Juristen" wollen, undeutlich sind. Eine Klärung der Begriffe war deshalb geboten, u m die Grundlage für ein Gespräch über die Sache selbst zu gewinnen. Diesem Interesse verdanken sich die nachfolgenden Überlegungen. I h r Anlaß bedingt zugleich eine Begrenzung des untersuchten Gegenstandes. Die Arbeit beschäftigt sich m i t einer bestimmten Bezugsgruppe; sie läßt die Frage nach politischen Argumenten i n anderem historischen Zusammenhang und m i t anderem theoretischen Hintergrund offen. Der Untertitel soll auf diese Beschränkung hinweisen. Das Manuskript hat i m Wintersemester 1980/81 der Juristischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu K i e l als Dissertation vorgelegen. A m Zustandekommen der Arbeit hat Herr Prof. Dr. H. E. Henke, mein Doktorvater, wesentlichen Anteil. Er hat sie angeregt und gefördert. I h m gilt mein Dank. Dank schulde ich ferner Herrn Prof. Dr. Dr. LL. M. Graue als Zweitgutachter für seine wertvollen Hinweise; sie haben mich veranlaßt, den Text an mehreren Stellen zu ergänzen. Strande/Kiel, i m A p r i l 1982

Horst Zinke

Inhaltsverzeichnis

I. Teil Der Ruf nach dem politischen Juristen 1.

Einleitung

13

1.1

Berührungspunkte v o n Recht u n d P o l i t i k

14

1.2

Verantwortung nach „oben" u n d Verantwortung nach „unten" . .

17

1.3

Das methodische Problem: Ist beides vereinbar?

18

2.

Die gegensätzlichen Standpunkte zum Verhältnis von Recht und Politik

24

2.1

Die traditionelle These: Recht u n d P o l i t i k als Gegensätze

24

2.2

Die Gegenthese: K e i n Gegensatz v o n Recht u n d P o l i t i k

27

2.21

Rückbesinnung

28

2.22

Der Ruf nach dem politischen Juristen

31

3.

Was bedeutet „politisch" und was sind „politische Argumente"?

37

3.1

Der Ausdruck „politisches A r g u m e n t "

37

3.2

Was ist ein „politisches Argument"?

37

3.21

Müssen w i r nach einem Politikbegriff suchen?

3.22 3.221 3.222 3.223 3.224 3.225 3.226

Politikbegriffe i n Politikwissenschaft, Soziologie u n d lehre M a x Weber Carl Schmitt Der Politikbegriff der Staatslehre Der klassische Politikbegriff Der Politikbegriff der „Kritischen Theorie" Der Politikbegriff der Systemtheorie

3.23

Ergebnis u n d Folgerung

3.24

E i n gemeinsames M e r k m a l der Politikbegriffe

3.25

Können w i r v o n einem einheitlichen, einstufigen Begriff Handlung ausgehen? Der zweistufige Handlungsbegriff bei Habermas Die Möglichkeit eines einheitlichen Handlungsbegriffs

3.251 3.252

38 Staats-

40 40 41 41 42 43 47 52 53

der

55 56 57

8

Inhaltsverzeichnis

3.26

Der Politikbegriff der Justizkritiker: ein Vergleich der v o n den K r i t i k e r n genannten Merkmale m i t den Politikbegriffen 3.261 M a x Weber u n d Carl Schmitt 3.262 L u h m a n n 3.263 „Klassische P o l i t i k " u n d „Kritische Theorie" 3.263.1 Werte, Wertsystem, Folgendiskussion 3.263.2 Das Entscheidungsproblem: „Klassische P o l i t i k " oder „Kritische Theorie"? 3.27

Ergebnis: Die Merkmale eines „politischen Arguments"

58 58 59 60 61 64 68

IL Teil Auslegung von Gesetzen und Folgenkontrolle 4.

Bedeutet „Begründung mit dem Gesetz" dasselbe wie „deduktive Ableitung"?

70

4.1

Die F u n k t i o n dogmatischer Sätze

72

4.2

Die Subsumtion

74

4.3

Ursachen für die Schwierigkeiten bei der Subsumtion

75

5.

Was kann „begründen" sonst bedeuten?

79

6.

Erkennen und Erkenntnis

82

7.

Das Vorläufige jeder Erkenntnis

86

7.1

Ist wissenschaftliche Erkenntnis „sicher"? Die Suche nach letzten Gründen .

87

7.2

Logik ist n u r ein Instrument der K r i t i k

90

8.

Die Bedeutung von Theorien

91

9.

Die Notwendigkeit, Theorien zu überprüfen

95

9.1

Die Methode der Überprüfung

95

9.2

E i n Beispiel

97

10.

Das „Verstehen" in der Jurisprudenz

106

11.

Der „Zirkel des Verstehens"

109

12.

Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation

113

12.1

Der Erkenntniswert politischer Argumente

117

12.11 12.111 12.112

Die Voraussetzungen für „politische" Argumentationen i m Recht 117 „Wissenschaftliche Standards" 119 Ist die Frage nach sozialen Gesetzen überspitzt? 120

Inhaltsverzeichnis 12.12 12.121 12.122 12.123 12.124 12.125 12.126 12.127 12.128 12.129

Soziale Prognosen 121 Sind Rechtsnormen Bedingungen von Prognosen? 123 Verlaufen soziale Entwicklungen gesetzmäßig? 128 Die Bedeutung der Wertvorstellungen 131 Die politischen Parteien u n d ihre Programme 132 Die Wertordnung der I n d i v i d u e n u n d die Wertordnung der Gesamtheit 134 Absichten anstelle v o n Gesetzen? 137 Gründe für eine bewegliche Werte-„Ordnung" 138 Das „ W e l t b i l d " als Entscheidungsgrundlage 141 Prognosen als politisches Instrument 144

12.2

Zusammenfassung

146

III. Teil Die „Unreinheit" der juristischen Praxis 13.

Tatsachen, Interessen und Gesetzesauslegung

14.

Praktische Schwierigkeiten bei der Anwendung der methodischen Regel 156

15.

Argumentieren Gerichte und juristische Schriftsteller „politisch"? 159

15.1

Drei Beispiele

160

15.2

K r i t i k v o m Standpunkt der „traditionellen" Meinung

161

15.3

K r i t i k v o m Standpunkt der Gegenmeinung

163

15.4

Beurteilung der Lösungen

166

15.5

Gründe für den Gegensatz „sachbezogen - personenbezogen"

170

15.6

Die praktischen Schwierigkeiten Eine abschließende Bewertung

172

16.

Thesen

„politischer"

149

Argumentation:

176

Literaturverzeichnis

178

Anhang

192

Abkürzungen

AcP a. F. Anm. AöR ARSP

A r c h i v f ü r die civilistische Praxis alter Fassung Anmerkung A r c h i v des öffentlichen Rechts A r c h i v für Rechts- u n d Sozialphilosophie

BAG BFH ΒG BGB BGBl Β GHZ BStBl BT BVerfGE BVerwG

Bundesarbeitsgericht Bundesfinanzhof Bezirksgericht Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Entscheidungen des Bundesgerichtshofs i n Zivilsachen Bundessteuerblatt Bundestag Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht

DB DRiG DRiZ DWW

Der Betrieb Deutsches Richtergesetz Deutsche Richterzeitung Deutsche Wohnungswirtschaft

ebd.

ebenda

FamRZ FAZ FG Fn. FS

Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Frankfurter Allgemeine (Zeitung) Festgabe Fußnote Festschrift

GBl GBO GG GS GVG

Gesetzblatt Grundbuchordnung Grundgesetz Gedächtnisschrift Gerichtsverfassungsgesetz

HFR HRR Hrsg.

Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung Höchstrichterliche Rechtsprechung Herausgeber

JA JUS JZ

Juristische Arbeitsblätter Juristische Schulung Juristenzeitung

Abkürzungen KN

Kieler Nachrichten

MDR m. w . N.

Monatsschrift f ü r Deutsches Recht m i t weiteren Nachweisen

n. F. NJ NJW

neuer Fassung Neue Justiz

OLG PVS Rdnr. RGZ RuG SchlHA StGB StPO StudK

11

Neue Juristische Wochenschrift Oberlandesgericht Politische Vierteljahresschrift Randnummer Entscheidungen des Reichsgerichts i n Zivilsachen Recht u n d Gesellschaft Schleswig-Holsteinische Anzeigen Strafgesetzbuch Strafprozeßordnung Studienkommentar zum BGB, 1 . - 3 . Buch

VersR VOB WDStRL

Versicherungsrecht Verdingungsordnung f ü r Bauleistungen Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

WEG WM WPM WRSchG

Gesetz über das Wohnungseigentum u n d das Dauerwohnrecht Wohnungswirtschaft u n d Mietrecht Wertpapier-Mitteilungen Wohnraumschutzgesetze

ZfaWT ZfP ZMR ZPO ZRP ZZP

Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie Zeitschrift für P o l i t i k Zeitschrift für M i e t - u n d Raumrecht Zivilprozeßordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Zivilprozeß

I. T e i l

Der R u f nach dem politischen Juristen 1. Einleitung Der Lärm u m den „politischen" Juristen hat sich gelegt. Politik, Justiz und Rechtswissenschaft haben den Streit zuletzt i n der Frage einer Reform der Juristenausbildung und ihrer theoretischen und praktischen Bewältigung 1 ausgetragen. Die Diskussion ist ins Stocken geraten 2 . Unterdessen ist eine neue darüber entbrannt, ob und wie das Experiment der „einphasigen" Ausbildung gemäß § 5 b DRiG fortzuführen sei. Die Chancen auf eine breite Übereinstimmung stehen nicht gut. Schon 1978 sprach sich die Konferenz der Oberlandesgerichtspräsidenten gegen eine Verlängerung aus 3 . Gegenwärtig konkurrieren noch mehrere Ausbildungs-„Modelle" 4 , und ein Gesetzesentwurf des Bundesjustizministers, m i t dem das Ziel verfolgt wird, die einphasige Ausbildung jedenfalls i m Grundsatz bundesweit verbindlich festzuschreiben 5 , stößt auf den Widerstand der unionsregierten Länder. Zeitablauf oder organisatorische Maßnahmen allein erledigen das Problem jedoch nicht. Gelegentliche Beschimpfungen — „rote Kaderschmiede" für „Reformuniversität" 6 — dokumentieren: der Streit ist nicht beigelegt, die Fronten sind verhärtet, von einer „Existenzfrage für den Rechtsstaat" ist gar die Rede 7 . Woher rührt diese Verbissenheit? Woher bezieht der 1 Vgl. hierzu etwa Hesse, Α., Routine u n d Reform, in: Greiffenhagen, M . (Hrsg.), Z u r Theorie der Reform, 1978, S. 57; Troje, Η . E., Juristenausbildung heute, 1979, alle m. w . N. Die Schrift v o n Troje dokumentiert zugleich, daß inhaltliche Reformen auch unter den Bedingungen einer „zweistufigen" Ausbildung möglich sein können. Weiteres unten 1.2.1; 2.22. 2 Hesse, Α., Uber den Stillstand der Debatte zur Reform der Juristenausbildung, JZ 77, 49; Lenk, K., Juristenausbildung zwischen Wissenschaft u n d Berufspraxis, ZRP 75, 234. Wassermann hat kürzlich die Fortsetzung der Diskussion angemahnt, vgl. „ V o n der bürgerlichen zur sozialen Rechtsordnung", Dokumentation 1, Seite 28. 3 F A Z v o m 4. 7.1978. 4 Vgl. Eith, Zehn Jahre einstufige Juristenausbildung, ZRP 82, 47, 51. 5 F A Z v o m 10. 3. 1982, S. 6. « Vgl. die Berichte v o n Reumann i n der F A Z v o m 5.12.1978, S. 2; v. 17.1. 1976, S. 12; v. 14.2.1976, S. 8. 7 Pulch, Die politische F u n k t i o n des Richters — F i k t i o n oder Realität?, DRiZ 76, 33, 33.

14

1. Einleitung

Ausdruck „politischer Richter" eine Reizwirkung 8 , die dazu verleitet, i n einen militärischen Sprachgebrauch zu verfallen? A u f den ersten Blick ist nicht einsichtig, warum das so ist. 1.1 Berührungspunkte von Recht und Politik Allenfalls bei der Betrachtung bestimmter Fallgruppen ist die Erregung verständlich. So gibt es Lebensbereiche, i n denen die Rechtsanwendung und die Politik ineinander überzugehen scheinen. Denken w i r an Ehrenschutzprozesse. Hier werden die Gerichte häufig — ob gewollt 9 oder ungewollt — zu Instrumenten politischer Auseinandersetzungen. Von Bismarck w i r d berichtet, er habe eine Vielzahl von Strafanträgen wegen Beleidigung gestellt 10 . Nicht alle Anfeindungen haben wohl so harmlos geklungen wie die Behauptung, Bismarck rede wie ein Schornsteinfeger 11 . Weniger harmlos ist die Kennzeichnung des Preußischen Abgeordnetenhauses als „Junker- und Geldsackparlament", dessen Verhandlungen eine „reaktionäre Affenkomödie" seien 12 . Derartige Vorwürfe sind auch unserer Zeit nicht fremd. So konnte man während des hessischen Wahlkampfes 1978 hören, das Parlament werde von außerparlamentarischen Kräften gelenkt 1 3 . Häufig gelten die A n griffe den einzelnen Politikern. W i r d ihnen öffentlich vorgehalten, sie seien korrupt 1 4 , hätten eine NS-Gesinnung 15 , unterstützten eine kommunistisch getarnte Wochenzeitschrift 16 , gehörten einer kommunistisch unterwanderten und vom Osten finanzierten Partei an 1 7 , hätten eine Wanderung durch Parteien und Verbände unternommen 1 8 , wollten die Belastbarkeit der Wirtschaft prüfen 1 9 oder gehörten zu den Kunden eines Call-Girl-Ringes 2 0 , so ist das für den Betroffenen nicht nur ein privates Problem, sondern möglicherweise eine Frage des politischen 8

Dubischar, Vorstudium zur Rechtswissenschaft, S. 157; Futter, A u f der Suche nach der P o l i t i k des Gesetzes, S. 38. β Z u m Landesverrats- u n d Beleidigungsprozeß als politischer Waffe vgl. Kirchheimer, Politische Justiz, S. 102 ff., 173 ff. 10 Schwinge, Ehrenschutz i m politischen Bereich, M D R 73, 801, 807. 11 Rechtsprechung des Deutschen Reichsgerichts i n Strafsachen, 1. Band, S. 28. 12 Vgl. RGSt 47, 63. 13 F A Z v o m 10. 8. 1978, S. 2. 14 B V e r f G N J W 70, 651. 15 O L G München N J W 71, 844. 16 B G H N J W 60, 779. 17 O L G Düsseldorf N J W 66, 1235. 18 B G H U F I T A 76, 324. 19 O L G Stuttgart J Z 77, 684. 20 B G H N J W 64, 1148.

1.1 Berührungspunkte von Recht und Politik

15

Überlebens. Über verbissene Reaktionen darf sich da niemand wundern. Sollen die Gerichte inmitten von politischen Auseinandersetzungen „das Recht" finden, dann ist das Richterwort i n der Tat ein politisches Wort. Aber damit ist nicht erklärt, warum der „politische" Jurist einer Stellungnahme i m allgemeinen und nicht nur i m Zusammenhang m i t Beleidigungsprozessen bedarf. Als allgemeine Frage könnte man es ansehen, wären juristische, insbesondere gerichtliche Begründungen parteilich, weil sie die Interessen und Anschauungen einer bestimmten „Klasse" der Bevölkerung als die maßgeblichen bezeichnen: „ I n der Rechtsprechung der Gerichte hat § 847 BGB entsprechend den politischmoralischen Anschauungen der Werktätigen eine inhaltliche Auslegung dahin erfahren, daß die Zahlung eines Schmerzengeldes nicht schlechth i n der finanziellen Abgeltung erlittener Schmerzen dient. Es soll vielmehr die durch die Verletzung bedingten Störungen des körperlichen Wohlbefindens insgesamt — einschließlich erlittener oder noch zu erwartender Schmerzen — und die dadurch bedingte Beeinträchtigung der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ausgleichen 21 ." Wenn auch die Bemerkungen über den Zweck des Schmerzensgeldes einem „bürgerlichen" Urteil entnommen sein könnten, so kommen uns Begründungen wie diese verdächtig vor, weil w i r fragen: M i t welchem Recht soll es auf diese Interessen und Anschauungen ankommen? Sie werden nicht unverdächtiger, bloß weil Gerichte eine Übereinstimmung m i t „öffentlichen" Interessen bemerken: „Die hier vertretene A n schauung (zum Fehlerbegriff i n § 459) wahrt die rechtspolitisch wünschenswerte . . . Beschränkung des Käufers auf die zeitlich begrenzte Gewährschaftshaftung auch für den Kunsthandel 2 2 ." Und sie bleiben verdächtig, selbst wenn das Interesse des ganzen Volkes bemüht wird: „Die Raumnot des deutschen Volkes zwingt zu haushälterischer Verwendung des vorhandenen Bodens, auch soweit es der Bebauung dient 2 3 ." Dieser Argumentationsstil ist aber nicht typisch für das, was i n der gegenwärtigen Jurisprudenz an dogmatischen Äußerungen zu hören und zu lesen ist. Daran ändert nichts, daß w i r gelegentlich eine gewisse Nähe zu solchem zweckgeleiteten Argumentieren 2 4 verspüren, wenn w i r lesen: „Die Rechtsprechung hat die Grenzlinie zwischen nachträglichen 21

B G Leipzig N J 74, 217, 218. RGZ 135, 339, 343; K l a m m e r v o n m i r . 23 RGZ 161, 330, 334. Es geht u m die Frage, ob eine Minderung des gewöhnlichen Gebrauchs gegeben ist, w e n n die E r w a r t u n g des Ausblicks auf eine unbebaute Landschaft enttäuscht w i r d . 24 So kennzeichnet Zöllner, Recht u n d P o l i t i k , S. 135 politische A r g u m e n tation. 22

16

1. Einleitung

Herstellungskosten und Erhaltungsaufwand zugunsten des Bereichs der Erhaltung . . . verschoben und so m i t steuerentlastender Wirkung den gesteigerten Bedürfnissen der Substanzerhaltung und Modernisierung Rechnung getragen 25 ." Worum geht es also? Die zu wenig greifbare Frage verlangt, daß man schrittweise vorgeht. Zu weit liegen die Standpunkte auseinander: Wenn der eine von „Politisierung" spricht und als Ziel der einstufigen Juristenausbildung die „Einheit von technologischem Berufswissen und politischem Orientierungswissen" fordert 2 6 , so macht er sich damit für den anderen zum „geistigen Wegbereiter eines staatlichen oder gesellschaftlichen Totalitarismus" 2 7 . Fragen w i r zunächst einmal weniger befangen: Haben w i r den „politischen" Juristen nicht längst? I n der Frage steckt nicht etwa eine originelle These, schon gar keine revolutionäre. Vielmehr gelangt zu dieser Einsicht jeder, der h i n und wieder eine Tageszeitung liest. Denn was ist „Politik"? Lassen w i r alle scharfsinnigen Unterscheidungen der Wissenschaft vorerst beiseite und vertrauen w i r dem Sprachgebrauch: Dann ist Politik all das, was m i t Parlament und Regierung zu t u n hat. Ganz sicher ist Gesetzgebung „politisch", nicht minder das Unterlassen oder Verhindern von Gesetzgebung. Die Redeschlachten, das Gerangel von Interessen und Interessenverbänden, das öffentliche Zittern vor „Abweichlern" — dieses Schauspiel kann man zusammengenommen „die Politik" nennen. Doch was kommt am Ende heraus? W i r können es i n die Hand nehmen und darin nachlesen, i m Bundesgesetzblatt etwa: bedrucktes Papier ist das Ergebnis. Für Vorgänge dieser A r t liefert ein römisches Sprichwort das passende Bild: „Es kreißen die Berge, geboren w i r d werden eine lächerliche Maus" (Horaz). Aber paßt das B i l d wirklich? Läßt sich sozialer Sprengstoff durch Rotationsmaschinen entschärfen? Dann wären die Menschen nicht wegen der Wiederbewaffnung, der atomaren Rüstung oder der Reform des § 218 StGB auf die Straße gegangen. Sie haben es getan, weil Juristen i n Verwaltung und Justiz das, was i m Gesetzblatt steht, i n die Tat umsetzen. Offenbar nur dadurch gewinnt das Ergebnis parlamentarischer Machtkämpfe sein Gewicht. Wendete niemand die Gesetze an, dann wäre das Parlament eine „Quasselbude" für Moralisten, Rufer i n der Wüste. Angesichts dessen, daß ohne Rechtsanwendung durch Staatsanwälte, Richter und Verwaltungsjuristen Politik gar nicht stattfände, kann eigentlich nur Unbekümmertheit das Wort vom „unpolitischen Juristen" i n den Mund nehmen. 25 26 27

B F H B S t B L I I 1977, S. 281. Wiethölter, Z u r politischen Einschätzung, S. 232. Pulch, Die politische Funktion, S. 35.

1.2 Verantwortung nach „oben" und Verantwortung nach „unten"

17

Nun schwingen Demonstranten bei umstrittenen Gesetzesvorhaben ihre Fahnen nicht vor den Gerichten und Rathäusern, sondern vor den Parlamenten. I m Bewußtsein dieser Leute ist nicht der Gesetzesanwender, sondern der Gesetzeserzeuger der Verantwortliche. W i r d ein Richter durch diese Entlastung von Verantwortung wieder „unpolitisch"? Man mag nicht so recht daran glauben. Immerhin ist soviel erkennbar: Das Problem des „politischen" Juristen hat m i t dieser Verantwortung zu tun. 1.2 Verantwortung nach „oben" und Verantwortung nach „unten" U m Verantwortung geht es also, u m die Verantwortung der gesetzesanwendenden Juristen, das sind: Richter, Staatsanwälte, Verwaltungsjuristen. Angesprochen ist aber auch die Verantwortung derer, die „das Recht" darzustellen und zu lehren haben: der Wissenschaftler. Nach dem Inhalt dieser Verantwortung ist zu fragen, wenn klar werden soll, was es m i t dem „politischen" Juristen auf sich hat. Zwei A n t w o r ten sind denkbar. Die eine A n t w o r t weiß sich dem parlamentarischen System, so wie es aufgrund von A r t . 20 I I , I I I GG rechtlich verfaßt ist, verpflichtet. Danach ist das Parlament durch Wahlen demokratisch legitimiert, nicht aber der Rechtsanwender. Seine Verantwortung ist nach „oben" gerichtet und besteht gegenüber dem Gesetzgeber. Indes ist nicht jeder bereit, den Rechtsanwender so weit von Verantwortung zu entlasten. Wer das nicht tut, gelangt zu einer zweiten A n t wort. Sie weiß sich i m Gegensatz zur ersten A n t w o r t nicht zuallererst der rechtlichen, sondern der tatsächlichen Verfaßtheit unseres Staatswesens verpflichtet. Sie fragt etwa: Ist A r t . 20 I GG verwirklicht und haben w i r einen sozialen Staat 28 ? Diese Meinung entläßt den Rechtsanwender nicht aus der Verantwortung für die Folgen seines Handelns. Verantwortung für die Folgen: das betrifft — i n der Terminologie Wiethölters — nicht mehr nur „technologisches Berufswissen", sondern „politisches Orientierungswissen" 29 . Auch diese Ansicht läßt sich auf unsere Verfassung stützen, und zwar auf das Sozialstaatsgebot des A r t . 20 I GG. Danach hat der Staat die Pflicht, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen 30 . Da der Jurist i n Justiz und Verwaltung staatliche Gewalt ausübt, ist es konsequent, i h m die sozialen Gebote der Verfassung als Maßstäbe an die Hand zu geben. 28 Rasehorn, Über den langen Marsch des kritischen Denkens durch die Institutionen der Justiz, S. 41. 29 Oben bei Fn. 26. 30 Schmidt-Bleibtreu / Klein, A r t . 20, Rdnr. 20.

2 Zinke

18

1. Einleitung 1.3 Das methodische Problem: Ist beides vereinbar?

Beide Antworten, die sich denken lassen, haben also gute — auch verfassungsrechtliche — Gründe für sich. Das Problem läßt sich somit zunächst i n die Frage kleiden, i n welchem Verhältnis etwa Absatz 1 und Absatz 3 von A r t . 20 GG zueinander stehen. Viel spricht für die These, beide Vorschriften seien verfassungsrechtlich gleichwertig 8 1 . Gerade wer von Verantwortung redet, w i r d gerne bereit sein, eine solche Verantwortung nicht nur gegenüber dem Gesetz, sondern gleichermaßen gegenüber der Allgemeinheit zu begründen. Wie aber soll der Rechtsanwender dieser „doppelten" Verantwortung gerecht werden? M i t dieser Frage erhält die Diskussion eine andere Richtung: Ging es bisher u m Verantwortung, so geht es nunmehr u m Verfahren, u m Methode. Läßt sich diese Veränderung des Maßstabes rechtfertigen? Wäre die Frage für den Gesetzgeber zu beantworten, so müßte man sie verneinen. Anders als dem Gesetzesanwender wäre i h m nur die Verfassung bindend vorgegeben, nicht auch das übrige Gesetzesrecht: I n den Grenzen des verfassungsrechtlichen Vertrauensgrundsatzes ist der Gesetzgeber jederzeit befugt, bestehende Gesetze zu ändern. Das Sozialstaatsgebot wäre voll wirksam. Für den Rechtsanwender dagegen läßt sich die Frage auf folgende Alternative zuspitzen: Unterstellt, die Verantwortung gegenüber dem Gesetzgeber, gleichbedeutend m i t strikter Gesetzesanwendung, und die Verantwortung gegenüber den sozialen Folgen der Entscheidung schlössen sich gegenseitig aus und könnten bei der Rechtsanwendung nicht gleichzeitig befolgt werden: Welcher Verantwortung gebührt der Vorrang? Die Antwort, die ich hier geben möchte, lautet: Der Verantwortung gegenüber dem Gesetzgeber gebührt der Vorrang. Es fällt schwer, ein solches Wort gelassen auszusprechen. Z u deutlich hört man den Vorhalt, wie es bei einem verbrecherischen Gesetzgeber mit diesem Postulat bestellt sei: Sieht der Jurist nur auf das Gesetz, so könnte er allzuleicht das willenlose Werkzeug barbarischer Gesetze werden. Eine solche These läßt sich bequem m i t dem Hinweis darauf begründen, daß der Nationalsozialismus die Justiz während der Zeit seiner Herrschaft mißbraucht habe 32 . Der Stand der Forschung trägt 31

Vgl. Maunz, Deutsches Staatsrecht, S. 78. So z.B. Meyer-Cording, K a n n der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 26; Horn, Rationalität u n d A u t o r i t ä t , S. 156; auch Kaufmann, Α., Die Geschichtlichkeit des Rechts, S. 261 ff. verweist n u r auf die v o m Gesetzgeber drohenden Gefahren. Darstellung der Diskussion bei Franssen, Positivismus als juristische Strategie, JZ 69, 766 m i t zahlreichen Nachweisen; Kellmann, Kritischer Rationalismus i n der Rechtswissenschaft?, S. 84 f. m. w. N. 32

1.3 Das methodische Problem: Ist beides vereinbar?

19

diesen Einwand jedoch nicht mehr 3 3 . Der nationalsozialistische Gesetzgeber hat sich i m Zivilrecht 3 4 auf verhältnismäßig wenige Eingriffe beschränkt 35 . Die Masse des bis dahin geltenden Rechts blieb i n Kraft. Eine gesetzespositivistische Haltung der Juristen hätte gar nicht zu einer „Nazifizierung" des Rechts i n dem Umfange führen können, wie es tatsächlich der Fall war 3 6 . Methodisch ist diese Umwertung durch die große Anpassungsfähigkeit der objektiven Auslegungsmethode gegenüber der subjektiv-teleologischen Theorie möglich gewesen 37 . Der Vorwurf verkehrt sich damit i n sein Gegenteil. Begründen möchte ich aber die Entscheidung, weil sie eine Weiche ist für die weitere Untersuchung. Vorab sei betont, daß es sich u m eine Wertentscheidung handelt, der man folgen kann, aber nicht folgen muß. Man kann immer sagen: Was scheren mich Gesetze? Die Entscheidung beruht auf praktischen Überlegungen. Eine Diskussion ist sinnlos und führt zu keinen Ergebnissen, wenn alles zweifelhaft ist: Einige Dinge müssen „außer Frage" stehen. Hier soll außer Frage stehen: Der Vorhalt, eine Argumentation vernachlässige das Gesetz, ist ein tauglicher Vorwurf. Betrachten w i r ein Beispiel: Der Hersteller liefert fehlerhafte Produkte an den Händler, und der Händler verkauft sie i n Unkenntnis des Mangels an den Endverbraucher 38 . Nach überwiegender Meinung muß sich der Käufer wegen seiner Schadensersatzansprüche an den Hersteller halten 3 9 : Der Hersteller sei nicht Erfüllungsgehilfe des Verkäufers gem. § 278, denn der Verkäufer schulde nicht die Herstellung, und zum Zeitpunkt der Lieferung an den Verkäufer bestehe noch keine Verbindlichkeit des Verkäufers gegenüber dem Käufer. 33 Kübler, K o d i f i k a t i o n u n d Demokratie, S. 649; Kirchheimer, Politische Justiz, S. 315 ff., alle m. w . N. 34 Anders ζ. B. i m Straf recht, Wirtschaftsrecht. 35 Vgl. Rosenbaum, Naturrecht u n d positives Recht, S. 363 f. A n m . 127. 36 Ebd. S. 131, 146 ff., 151 ff.; Franssen, Positivismus, S. 768 m . w . N . ; Less, Von Wesen u n d W e r t des Rieht er rechts, S. 44; Rupp, Die Bindung des Richters an das Gesetz, N J W 73, 1769, 1771 m. w . N.; ferner Dubischar, V o r studium zur Rechtswissenschaft, S. 29; Kellmann, Kritischer Rationalismus, S. 84 f.; Schwerdtner, Das Persönlichkeitsrecht, S. 60 m. w . N. A l s Beispiel vergleiche m a n die Darstellung bei Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 400 ff. über die Umdeutung des „Wesens der Ehe"; anhand von D o k u menten aus Lehre u n d Gerichtsbarkeit ist das belegt bei Staff, Justiz i m D r i t t e n Reich, S. 147 ff., 161 ff. 37 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 181 ff. — u n d philosophisch durch den Neuhegelianismus, vgl. Hofmann, Jurisprudenz u n d Politik, S. 41 f.; Rottleuthner, Die Substantialisierung des Formalrechts, S. 230 ff. 38 Vgl. O L G Braunschweig N J W 79, 1552: auch peinlich genaue dogmatische Erwägungen werden dem unterlegenen Kläger nicht das Gefühl nehmen, m a n habe i h n zur Strecke gebracht. 39 Palandt / Heinrichs, § 278, 4 a m. w . N.; Lüderitz, StudK, § 278, 4 a aa; B G H N J W 78, 1157. 2*

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1. Einleitung

Eike Schmidt nennt diese Ansicht i n seinem Schuldrechtslehrbuch „vermeintliche L o g i k " 4 0 und einen „obskuren Argumentationsschleier" 41 . Die herrschende Meinung entlaste den Produzenten und den Verteiler und entziehe dem Käufer den vertraglichen Schutz 42 . Die Arbeitsteilung auf der Händler-/Produzentenseite dürfe den Käufer nicht benachteiligen: Unabhängig hiervon sei der Produzent gem. § 278 Erfüllungsgehilfe des Händlers 4 3 . Schmidt stellt allerdings fest, eine solche Zurechnung schädigenden Verhaltens müsse die Ausnahme bleiben. Die Ausnahme begründet er so: „Nur soziale oder ökonomische Notwendigkeiten bzw. Belastbarkeiten können . . . derartige „Wohltaten" rechtfertigen" 4 4 . Hat E. Schmidt uns das geltende Recht geschildert oder ein Beispiel für „die schöpferische Kraft der schriftstellerischen Jurisprudenz" 4 5 vor Augen gestellt? Einmal angenommen, das letztere träfe zu. Dann könnte man Schmidt vorhalten, seine Lösung wäre nur „richtig", wenn sie sich auf eine positiv-rechtliche Regelung stützen könnte 4 6 . Ein solcher Vorhalt setzt aber Einigkeit über folgendes voraus: Das Gesetz ist Maßstab dafür, ob eine dogmatische Lösung richtig ist oder nicht. Nur wenn eine Argumentation anhand des Gesetzes kritisierbar sein soll, ist es sinnvoll zu sagen, „nach dem Gesetz" müsse eine Lösung anders aussehen. Hält man das Gesetz nicht für einen tauglichen Maßstab, so genügte es, den K r i t i k e r mit einem Achselzucken zu bescheiden. Eine Konsequenz der von m i r getroffenen Entscheidung wurde schon angedeutet: Mein Thema ist fortan nicht mehr die Verantwortung des Juristen, sondern sein methodisches Vorgehen. Diese Verlagerung der Diskussion könnte den Verdacht nähren, hier werde durch den Wechsel des Gegenstandes das Problem des „politischen" Juristen entschärft. Solche Bedenken lassen sich indes zerstreuen, wenn man die Konsequenzen der unterschiedlichen Ausgangspunkte bedenkt. Ohne vorerst Genaueres darüber zu wissen, was „politische Argumentation" bedeutet, läßt sich mit einem Seitenblick auf den Meinungsstand i n der j u ristischen Methodenlehre so viel sagen: Wer die Verantwortung gegenüber der „Gesellschaft" betont, w i r d seinen Blick nach vorne richten 40

Esser / Schmidt, Schuldrecht. Allgemeiner T e i l 2, § 27 I, S. 49. Ebd. S. 50. 42 Ebd. S. 51. 43 Ebd. S. 50 f. 44 Ebd. S. 207; Hervorhebung i m Original. 45 Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, S. 290. 46 I m „Zivilgesetzbuch" der DDR v. 19.6.1975 finden sich Vorschriften, die dem Verbraucher größeren Schutz gewähren, vgl. die §§ 139 I, 148, 151 I I , 156, 158 1 1 Z V G DDR; dazu Kreutzer, C. J., Das Kaufrecht, N J 74, 692, 695 f.; Schmid, Κ., Z u r Bedeutung des neuen Zivilgesetzbuches der DDR, T e i l 1, 1976, S. 23 ff. m. w . N.; Roggemann, Herwig, Zivilgesetzbuch u n d Z i v i l p r o zeßordnung der DDR m i t Nebengesetzen, 1976, S. 46 ff. 41

1.3 Das methodische Problem: Ist beides vereinbar?

21

und eine Entscheidung für die eine oder die andere denkbare Lösung seines Falles von den jeweiligen Folgen abhängig machen. Mittelpunkt seiner Überlegung ist deshalb die „Folgendiskussion", ein Verfahren, von dem Adomeit sagt, es sei die wichtigste Erweiterung der heutigen Methodenlehre 47 . Die Gegenmeinung lehnt eine Orientierung an den Folgen ab, weil nur die auf das Gesetz bezogene Dogmatik gerechte Entscheidungen garantieren könne 4 8 . Schließlich gibt es eine vermittelnde Meinung, derzufolge eine Berücksichtigung von sozialen Vorstellungen von der A r t der jeweils anzuwendenden Norm abhängt 4 9 : Ist eine Vorschrift sehr präzise formuliert, so ist sie für die Entscheidung des Rechtsanwenders bindend; mit abnehmender Präzision sind auch die Folgen als Entscheidungskriterien heranzuziehen. Damit zeigt sich: Die abweichenden Grundvorstellungen haben unterschiedliche methodische Ansätze zur Folge. Die Hinwendung zum wissenschaftlichen Verfahren verschleiert nicht die Frage nach dem politischen Juristen, sondern bringt sie eigentlich erst „auf den Punkt". Mit „Charakter" 5 0 allein ist i n der Wissenschaft noch nichts gewonnen, und bei einem Streit über Verantwortung behält am Ende womöglich jeder recht; ein Streit über Methoden aber sollte sich entscheiden lassen. Es ist daher kein Zufall, daß der Gegensatz von „politischer" und „unpolitischer" Jurisprudenz nicht nur ein Thema für Rechtsphilosophen ist. W i r begegnen i h m inmitten der juristischen Dogmatik und i n der Methodenlehre. A n einige vielzitierte Äußerungen sei erinnert: „ . . . alle historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen . . . sind für die Dogmatik . . . ohne Belang" 5 1 . „Die Gesetzgebung . . . beruht in zahlreichen Fällen auf ethischen, politischen, volkswirtschaftlichen Erwägungen . . . , welche nicht Sache des Juristen als solchen sind 5 2 ." Diese Ansichten betonen also die Verantwortung gegenüber dem Gesetzgeber. Die Gegenbewegung wendet sich entschiedener der W i r k lichkeit zu. Interessenjurisprudenz, Freirechtsschule, Entwicklung des Richterrechts, so lauten die Stichworte, i n denen sich diese Hinwendung ausdrückt. Den Juristen w i r d wieder bewußt, daß Jurisprudenz mehr ist und auch mehr sein muß als das Nachdenken über geschrie47 Adomeit, Methodenlehre u n d Juristenausbildung, ZRP 70, 176, 179; ferner Teubner, Folgenkontrolle u n d responsive Dogmatik, Rechtstheorie 6 (1975), 179, 183 ff. 48 Luhmann, Rechtssystem u n d Rechtsdogmatik, S. 31 ff., 37 ff.; Pawlowski, Überlegungen zur Gerechtigkeit des Rechts, S. 139, 147 ff. 49 K i l i a n , Juristische Entscheidung u n d EDV, S. 208, 212, 217, 238; Raiser, Th., Soziologie i m Gerichtssaal, DRiZ 78, 161, 163 f.; Schuppert, Verfassungsgerichtsbarkeit u n d P o l i t i k , ZRP 73, 257, 258. 50 Camus, Α., Der Fall, deutsche Taschenbuchausgabe, 1957, S. 12: „Wer keinen Charakter hat, muß sich w o h l oder übel eine Methode zulegen." 51 Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, S. I X . 52 Windscheid, Die Aufgaben der Rechtswissenschaft, S. 112.

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1. Einleitung

bene Rechtsregeln. Roscoe Pound, der Begründer der "sociological j u risprudence" i n Amerika, hat die Differenz zwischen dem „gelehrten" Recht und dem i n der Gerichtspraxis „gelebten" Recht i m Titel einer Abhandlung plastisch auf den Begriff gebracht: „Law i n books and Law i n action" 5 3 . I n Deutschland belegt Eugen Ehrlich etwa zur gleichen Zeit (1913) an zahlreichen Beispielen den Gegensatz vom lebenden „zu dem bloß vor Gericht und den Behörden geltenden" Recht" 54 . Von diesem staatlichen Recht sagt er: „Das Recht, wie es auch sein mag, ist stets eine Form der Herrschaft des Toten über den Lebenden 55 ." Das Aufkommen neuer Vertragstypen 5 6 , der Einfluß der wirtschaftlichen Entwicklung auf den Prozeß des Vermögensüberganges von Todes wegen 57 , die eheliche Gütergemeinschaft 58 , der landwirtschaftliche Pachtvertrag 59 , das Nachbarrecht 60 , das Familienrecht 6 1 : Anhand dieser und zahlreicher anderer Beispiele beschreibt Ehrlich den tatsächlichen, den gelebten Rechtszustand. U m so krasser ist der Gegensatz zum Tun der Jurisprudenz: „ . . . die ganze juristische Literatur weiß höchstens vom Gesetz etwas zu sagen" 62 . Was Eugen Ehrlich kritisch beklagt, erhebt Hans Kelsen zur Voraussetzung wissenschaftlicher Rechtserkenntnis und erklärt: „ . . . nur das positive Recht ist Gegenstand der Rechtswissenschaft" 63 . Die Verbannung politischer und moralischer Urteile ist eine Frucht der Bemühung, die Rechtswissenschaft von allem unwissenschaftlichen Beiwerk reinzuhalten. Hierzu zählen nach Kelsens Überzeugung Fragen wie die nach dem richtigen Recht; was Gerechtigkeit bedeute, könne m i t dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nicht beantwortet werden 6 4 . Stünden also mehrere Möglichkeiten zur Wahl, den Inhalt einer Rechtsnorm verbindlich zu bestimmen, so habe die Wissenschaft die Grenze ihrer Kompetenz erreicht; nunmehr müsse sich der Rechtsanwender selbst für eine der Lösungen entscheiden 65 . 53 Pound, L a w i n books u n d L a w i n action, in: American L a w Review 44 (1910), S. 12 ff. Ausführlich zu Pound: Reich, N., Sociological Jurisprudence u n d Legal Realism i m Rechtsdenken Amerikas, Beiheft 23 zum Jahrbuch für A m e r i k a Studien, 1967, S. 55 ff.; Fikentscher, Roscoe Pound. V o n der Zweckjurisprudenz zur "Sociological Jurisprudence", in: FS für Larenz 1973, S. 93. 54 Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, S. 399. 55 Ebd. S. 323. 56 Ebd. S. 322. 57 Ebd. S. 323. 58 Ebd. S. 396. 59 Ebd. S. 396 f. 60 Ebd. S. 397. 61 Ebd. S. 397. 62 Ebd. S. 397. 63 Kelsen, Der soziologische u n d der juristische Staatsbegriff, 2. A u f l . 1928, S. 119; vgl. ferner Reine Rechtslehre, S. 4, 108,112,153 u. ö. 64 Vgl. Reine Reçhtslehre^ S. 50 ff., 65 ff.

1.3 Das methodische Problem: Ist beides vereinbar?

23

Gewiß haben die Streitfragen i m Laufe der Zeit andere Namen erhalten. Doch hat der Gegensatz selbst nichts von seiner Schärfe eingebüßt. Eine Liste von Themen aus jüngerer Zeit mag das dokumentieren 6 6 : Jurisprudenz und Politik 6 7 ; Recht und P o l i t i k 6 8 ; Privatrecht und Politik 6 9 ; Wider die Politisierung der Justiz 7 0 ; Bemerkungen zum Verhältnis von Recht und Politik 7 1 ; Die politische Funktion der Rechtsprechung i n einer pluralen Gesellschaft 72 ; Politik des Gesetzes als Auslegungsmaßstab i m Wirtschaftsrecht 73 ; A u f der Suche nach der Politik des Gesetzes74; Arbeitsrecht und Politik 7 5 ; Richterliche Rechtsanwendung und gesellschaftliche Auffassung 76 . Fassen w i r zusammen: Diskussionsgegenstand kann entweder die Verantwortung des Juristen m i t der Alternative „Gesetzgeber" — „Gesellschaft" sein oder die Frage, ob funktioniert, was gefordert wird. Wer u m den Inhalt der Verantwortung streitet, verteidigt eine Werthaltung, und er fällt eine politische Entscheidung. Das erklärt die Heftigkeit der Attacken. Dem Rechtsanwender aber gibt die Antwort, wie immer sie ausfällt, Steine statt Brot. Klarheit verschafft i h m erst die Probe aufs Exempel. Denn er soll Gesetze anwenden und die Frage ist für ihn: Was passiert m i t dem Gesetz, wenn ich auf die Folgen sehe? Die Verlagerung der Diskussion weg von der Frage der Verantwortung ist demnach keine Verfälschung des Problems, sondern umgekehrt eine Voraussetzung für seine Lösung. Den Ausgangspunkt dieser Arbeit habe ich schon genannt: Die Verantwortung gegenüber dem Gesetzgeber hat den Vorrang. Das Gesetz also soll Maßstab sein für die Begründung einer Entscheidung und dafür, ob Folgen zu berücksichtigen sind. Erläuterung und Ausführung dieses — vorläufig abstrakten — Maßstabs möchte ich noch hinausschieben. Zuvor sind einige Dinge nachzutragen. So ist die Darstellung der gegensätzlichen Auffassungen über die Verantwortung des Rechtsanwenders unvollständig. Einige Vertre65 ββ 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76

Vgl. Reine Rechtslehre, S. 349 ff. Sie w i r d i n der nachfolgenden Darstellung erweitert. Hofmann, ZfP 15 (1968), 39; M a y e r - M a l y , FS für Kelsen 1971, 108. G r i m m , JUS 69, 501; Zöllner, FS der Tübinger Juristenfakultät, S. 131. Ballerstedt, F G für Kunze 1969, 39. Henke, W., DRiZ 74, 173. Henkel, FS für Welzel 1974, 31. Mayer-Maly, D R i Z 71, 325. Steindorff, FS für Larenz 1973, 217. Futter, F G für Esser 1975, 37. Zöllner, DB 70, 54. Birke, Richterliche Rechtsanwendung, 1968.

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2. Die gegensätzlichen Standpunkte

ter jeder Meinungsrichtung sollen zu Wort kommen und das B i l d vervollständigen 7 7 . Ferner sind Ausdrücke benutzt worden, deren Bedeutung noch unklar ist: „Politik" und „Folgendiskussion". Beide Ausdrücke bedürfen der Klarstellung 7 8 .

2. Die gegensätzlichen Standpunkte zum Verhältnis von Recht und Politik 2.1 Die traditionelle These: Recht und Politik als Gegensätze Recht und Politik sind voneinander zu trennen: diese These entspricht dem überkommenen und auch gegenwärtig noch herrschenden Verständnis der Juristen von ihren Aufgaben 1 . Darin drückt sich aus, daß der Jurist, sofern er mit dem Gesetz umzugehen hat, Beschränkungen unterliegt. Die These ist oft ausgeführt und verteidigt worden. Es genügt, i n einigen Beispielen an sie zu erinnern. Sie sollen zugleich einen Eindruck davon vermitteln, wie facettenreich das Verhältnis von Recht und Politik ist, an wie vielen Gegenständen es diskutiert w i r d und wie verschiedenartig die Frageansätze sein können. Liest man bei Forsthoff nach, so bestätigt sich, was eben angedeutet worden ist: der Richter habe nur beschränkte Möglichkeiten zur Gestaltung, weil er an das Gesetz gebunden sei, und er sei nicht berechtigt, diese Schranken zu übersteigen 2 . Politik und Recht seien zwar keine streng getrennten Bereiche: Weil die Rechtspflege die politische Ordnung aufrechterhalte, habe sie am Politischen teil 3 . Auch ist das Rechtsurteil nach seiner Meinung nicht nur eine logische Folgerung aus dem Gesetz, sondern zugleich ein schöpferischer A k t des Richters 4 . Die Gegenüberstellung von Recht und Politik hält Forsthoff für überholt 5 : „Der Richter ist nicht unpolitisch" 6 ; aber er fährt sogleich fort: „ . . . es sind i h m lediglich gewisse Formen politischen Handelns versagt 7 . . . die Politisierung der Rechtspflege ist dem Rechtsstaatler . . . als ein Greuel 77

Unten 1.2.1; 1.2.2. Unten 1.3.22. 1 Z u m gesellschaftlichen B i l d des Juristen vgl. Pardon, Reflexionen zur Ausbildung u n d Prüfung der Juristen, S. 357 ff.; Ramm, R., Das juristische Studium i m Medienverbund, S. 27 ff. m. w . N. 2 Forsthoff, Recht u n d Sprache, S. 39 f. 8 Ebd. S. 35 f. 4 Ebd. S. 39. « Ebd. S. 35. 6 Ebd. S. 38. 7 Ebd. S. 38. 78

2.1 Die traditionelle These: Recht und Politik als Gegensätze

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erschienen und sie w i r d es immer bleiben" 8 . Deshalb, weil die politische Legitimation des Richters keine unbegrenzte, sondern eine begrenzte sei, dürfe er sich nicht vom Gesetz lösen 9 . Forsthoff befürchtet, daß der Richterspruch weltanschaulich-politischen Interessen nutzbar gemacht werden könnte, wenn der Richter einen zu weiten Entscheidungsspielraum beansprucht 10 . So verwundert es nicht, daß er der Lehre Essers entgegentritt, wonach die Dogmatik von einem „fall- und lebensbedingten Vorverständnis" abhänge 11 . I n einem Brief an Esser wendet Forsthoff sich gegen einen solchen Rückgriff auf vornormative Gehalte: Diese Theorie bringe die Gefahr mit sich, „daß der Jurist die Anstrengung einer exakten Interpretation, die schwierig sein kann, vorzeitig aufgibt und den „Rückgriff" als den bequemeren Weg w ä h l t " 1 2 . Dem Richter fehle die Legitimation zur politisch gestaltenden Entscheidung, betont Flume 1 3 . Die These Windscheids enthält nach seiner Meinung einen Gedanken, der heute noch Gültigkeit besitze: Der Jurist als solcher habe nicht über Sachziele zu entscheiden 14 . Als Beispiele solcher Fragen, für deren Beantwortung der Jurist nicht zuständig sei, nennt Flume: Schadensersatz i n Geld bei Verletzung des Persönlichkeitsrechts, Stellung des unehelichen Kindes, Zulässigkeit des Arbeitskampfes, Mitbestimmung, Parteienfinanzierung 15 . Auch bei Flume treffen w i r auf die Ablehnung methodischer Verfahren wie Topik und Rhetorik, die nach Meinung des Autors keine Berechenbarkeit garantieren: er kennzeichnet sie mit „Bindungslosigkeit" ; wesentlich für die Jurisprudenz sei dagegen die inhaltliche Bindung an das positive Gesetz 16 . Stand bisher die Bindung des Richters an vorgegebene politische Entscheidungen i m Vordergrund, so betonen andere Autoren, daß auch umgekehrt i m Verhältnis von Politik und Recht ein Vorrangverhältnis bestehe. So vertritt Bosch den Standpunkt, bei Grundsatzfragen wie der Herabsetzung des Volljährigkeitsalters gehe „es nicht u m ein Poli8

Ebd. S. 35. • Ebd. S. 39 f. 10 Ders., Der Jurist i n der industriellen Gesellschaft, N J W 60, 1277. 11 Forsthoff bezieht sich auf Ausführungen Essers i n einem Aufsatz m i t dem T i t e l „Möglichkeiten u n d Grenzen des dogmatischen Denkens i m modernen Zivilrecht", A c P 172, S. 101; Esser hat das Thema ferner i n der Schrift „Vorverständnis u n d Methodenwahl i n der Rechtsfindung" (1972) ausführlich behandelt. 12 Z i t i e r t bei Esser A c P 172, S. 102 f.; Hervorhebung i m Original. 13 Flume, Richter u n d Recht, S. 26; zustimmend Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtsprechung, S. 25 ff., 32 f. 14 Flume, S. 18, 20; oben 1. bei Fn. 52. 15 Ebd. S. 18. 16 Ebd. S. 34.

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2. Die gegensätzlichen Standpunkte

ticum, sondern u m reine Sachfragen, die nur nach sachlichen Kriterien entschieden werden" dürften 1 7 . Schärfer noch hat Ernst Wolf diese A n sicht i n einem Satz zusammengefaßt: „Die Politik ist an das Recht gebunden, nicht folgt dieses der Politik 1 8 ." Bei Fikentscher begegnet uns zum erstenmal die von i h m so genannte „politische Jurisprudenz" 1 9 , und zwar setzt er sich auseinander m i t dem amerikanischen Juristen O. W. Holmes j r . und m i t Rudolf Wiethölter. Auch Fikentscher sieht Recht und Politik nicht als scharf getrennte Gegensätze. Wiethölter stimmt er darin zu: Das politische Verständnis des Rechts sei bisher i n der traditionellen Rechtswissenschaft Deutschlands zu kurz gekommen. Der Jurist könne sich nicht der Politik entziehen 20 , müsse vielmehr i n der demokratischen Gesellschaft u m eine Verbindung von Recht und Politik bemüht sein 21 . Unüberhörbar ist jedoch das „aber": der Schutz der Schwachen und der Grundsatz der Gleichbehandlung verlangten, daß Gerechtigkeit und nicht Politik für das Recht bestimmend seien 22 . Damit ist schon gesagt, warum der Autor dem Recht Vorrang vor der Politik einräumt: Politik bedeutet nach Fikentscher Macht, nur das Recht gewährleiste Regelhaftigkeit und eine Bindung an unentziehbare Grundrechte 23 . A u f einen weiteren Gesichtspunkt weist uns Winkler h i n 2 4 , nämlich auf Recht und Politik als verschiedene Gegenstände von Erkenntnis. Seine These lautet: Zwischen Rechtswissenschaft und Politik bestehe ein grundsätzlicher Unterschied, ein unmittelbarer Konflikt zwischen beiden Bereichen sei von vornherein ausgeschlossen25. Winkler begründet das mit dem Gegensatz von freier Wertentscheidung i n der Politik und gebundener Werterkenntnis i m Recht. Der Wissenschaftler entscheide frei bei der Wahl des Gegenstandes. Dann gehe es nur noch u m Erkenntnis 2 6 . Zum besseren Verständnis dieser Auffassung seien zwei Äußerungen des Autors zitiert: „Positives Recht ist ein vorgegebener, 17 Bosch, Noch einmal: V o l l j ä h r i g k e i t — Ehemündigkeit — Elterliche Sorge, FamRZ 74, Vorbemerkung S. 1, S. 5 Fn. 30. 18 Wolf, Allgemeiner T e i l des Bürgerlichen Rechts, S. 44; ferner ders., Gerichtliche Erkenntnis: Politische Entscheidung?, RuG 1973, S. 16 f. 19 Fikentscher, Rechtswissenschaft u n d Demokratie bei Justice Oliver Wendeil Holmes, 1970; kritisch zu dieser Schrift die Rezension von Eckertz, Rechtstheorie 1972, 110. 20 Fikentscher, S. 38. 21 Ebd. S. 43. 22 Ebd. S. 26, 35 ff., 39 ff., 43. 23 Ebd. S. 26, 35. 24 W i n k l e r , Wertbetrachtung i m Recht u n d ihre Grenzen, S. 13 ff.; K r i t i k an einigen Thesen Winklers bei Walter, R., Reine Rechtslehre u n d „ W e r t betrachtung i m Recht", in: FS für Hans Kelsen 1971, 309. 25 W i n k l e r , S. 13, 17. 26 Ebd. S. 15 f.

2.2 Die Gegenthese: Kein Gegensatz von Recht und Politik

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der Erfahrung zugänglicher Gegenstand. Rechtswissenschaft, vor allem als Rechtsdogmatik und Rechtstheorie ist daher eine empirische Wissenschaft, die geltende Vorschriften zum Betrachtungsobjekt h a t 2 7 . . . positives Recht ist von den Menschen erzeugt und daher je und je empirisch feststellbar" 28 . Ein Beitrag von Heldrich zur Reform der Juristenausbildung mag den Bericht abschließen. Damit ist jener Streitpunkt bezeichnet, an dem sich i n der jüngeren Vergangenheit die Kontroverse u m das Verhältnis von Recht und Politik entzündet hat 2 9 . Heldrichs Thema ist die Einbeziehung der Sozialwissenschaften i n den juristischen Ausbildungsgang 30 , und w i r finden i n seinem Aufsatz die maßgeblichen Argumente noch einmal gesammelt: Auch wenn Rechtsanwendung m i t Politik zu t u n habe 31 , so verlange A r t . 20 I I I GG, daß Rechtsfälle anhand der vorgegebenen Gesetze entschieden würden 3 2 . Nicht aber seien die Erfordernisse der sozialen Wirklichkeit maßgebend 33 . Die politische Tätigkeit der Exekutive sei etwas anderes als juristisches Argumentieren 3 4 . Fassen w i r zusammen: Gegenüber der regellosen und vom Machtstreben geprägten Politik ist nach überkommener Meinung die Denkweise des Juristen eine gebundene. Denn i h m sei das Gesetz als Handlungsanweisung und Erkenntnisgegenstand vorgegeben. Nur damit seien Überprüfbarkeit und Gerechtigkeit gewährleistet. 2.2 Die Gegenthese: Kein Gegensatz von Recht und Politik Der These von der Trennung des Rechtlichen vom Politischen hält die K r i t i k vor, daß sie Zusammengehöriges voneinander scheide; diese Meinung orientiere sich an juristischer Dogmatik statt an den Nöten der Menschen, Schotte sich gegen Einflüsse von unten ab und diene so den Interessen der Oberen: „Weil du arm bist, bekommst du weniger Recht" 35 . Die A n t w o r t auf solche K r i t i k ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Man zieh die Anhänger derartiger Ansichten der 27

Ebd. S. 8. Ebd. S. 36. 29 Die Entwicklung der Reformdiskussion schildert Ramm, R., Das j u r i stische Studium i m Medienverbund, S. 15 ff. m. w . N. 30 Heldrich, Das Trojanische Pferd i n der Zitadelle des Rechts?, JuS 74, 281; weitere Nachweise etwa bei Behrendt, Aufbruch i n die politische A k tion?, ZfP 22 (1975), 16. 31 Ebd. S. 286. 32 Ebd. S. 284. 33 Ebd. S. 284. 34 Ebd. S. 286 Fn. 36 m . w . N.; zum Thema ferner Ryffel, Rechtssoziologie, S. 221 ff. 35 Rasehorn, Recht u n d Klassen, durchgehend, Zitat S. 12. 28

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2. Die gegensätzlichen Standpunkte

„Rechtsfeindlichkeit" und verdächtigte sie, es m i t dem Grundgesetz nicht so genau zu nehmen 86 . 2.21 Rückbesinnung

Die Härte der Attacken mochte beim Betrachter die Vorstellung erweckt haben, als sei K r i t i k am Recht und seinen Institutionen etwas Unerhörtes und eine neuartige Erscheinung i m staatlichen Leben. Das Gegenteil ist richtig. Die Geschichte der politischen Ideen ist zugleich die Geschichte der K r i t i k an geltenden Ordnungen. Über viele Jahrhunderte haben dabei die K r i t i k e r dem Naturrecht die Maßstäbe entnommen, an denen sie die politische und die soziale Wirklichkeit gemessen haben. Gewiß liegt „dem" Naturrecht materiell keine einheitliche Vorstellung zugrunde; es existieren nicht weniger Naturrechtstheorien als es Philosophen gegeben hat, die über dieses Thema nachgedacht haben. A l l e i n die Frage nach dem Geltungsgrund beantwortet kaum ein Denker wie der andere. So ist der ideale Staat bei Piaton eine philosophische Idee 8 7 ; für Aristoteles dagegen ist das Leitbild der gerechten Polis i n der Natur des Menschen vorgegeben 88 , und Cicero fügt diesem Gedanken hinzu, daß die Menschen untereinander gleich seien: „Welche Definition es daher für den Menschen geben mag: Eine einzige ist gültig für alle 8 9 ." Die christliche Naturrechtslehre nimmt das antike Gedankengut auf und bezieht es i n die Lehren des Christentums ein: Gott sei die Quelle der Gerechtigkeit und der Vernunft 4 0 . Die Aufklärung holte das Naturrecht wieder vom Himmel herunter. Nunmehr sah man seine Geltung i n der Vernunft und i n der Natur des Menschen begründet. Ob aber diesen Naturzustand des Menschen Eigensucht, Machthunger und Kriegsbereitschaft 41 oder Frieden, Freiheit und die Einsicht i n die Notwendigkeit geordneten Zusammenlebens 42 kennzeichnen, ist eine streitige Frage geblieben. So mannigfaltig das Naturrecht auch ausgestaltet sein mochte, so gab es doch eine Gemeinsamkeit: der Gedanke eines überindividuellen, dem menschlichen Tun vorgegebenen Maßstabs. A n dieser Elle mußten 36

Pulch, Die politische F u n k t i o n des Richters — F i k t i o n oder Realität?, S. 33, 35; v. Westphalen, W i r d die Justiz unterwandert?, S. 7. 37 Piaton, Der Staat, 472 - 473. 38 Aristoteles, P o l i t i k I 1253 a 1 - 3; ders., Die Nikomachische E t h i k , I 1094 b 7, 1097 b 12, I X 1169 b 18. 39 Cicero, Uber die Gesetze, 1. Buch, X/29. 40 Augustinus, V o m Gottesstaat, 1. Band, S. 173; 2. Band, S. 563, 567 f., 577 f., 582; Thomas v. A q u i n , Über die Herrschaft der Fürsten, S. 5 ff., 52 ff., 57 ff. 41 Hobbes, Leviathan, S. 75 f., 94 ff., 105,110,120, 131, 133 u. ö. 42 Locke, Über die Regierung, S. 9 ff.; Hume, Of the original contract, S. 43, 44 f., 48, 55 f.; Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, S. 5 ff., 9 ff., 15, 17, 21 f., 116 u. ö.

2.2 Die Gegenthese: Kein Gegensatz von Recht und Politik

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sich Staat und Recht messen lassen. Naturrecht ist also nicht nur ein Mittel der K r i t i k : Naturrecht ist K r i t i k . Darin liegt seine Gefahr für die Herrschenden — aber auch seine Anziehungskraft als Lehre. So blieben die Erfolge nicht aus: Pufendorfs (1632 -1694) naturrechtliche Werke erlebten bis ins 18. Jahrhundert mehr als 60 Auflagen 4 3 , der Naturrechtler Christian Wolff (1679 - 1754) war einer der angesehendsten akademischen Lehrer seiner Zeit 4 4 , und eine der großen Kodifikationen jener Epoche, das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten von 1794, war eine Frucht aufgeklärten Vernunftrechts. Als hätte das naturrechtliche Denken m i t seinen äußeren Erfolgen zugleich seine innere Kraft eingebüßt, so ging seine Bedeutung zurück. Den freiwerdenden Raum nahm i m Deutschland des 19. Jahrhunderts für lange Zeit die historische Rechtsschule v. Savignys ein: I h r Ziel hieß die Erneuerung des römischen Rechts, als die berufenen Interpreten sah sie die gelehrten Juristen an und ihre Mittel waren das begrifflichsystematische und spekulative Denken 4 5 . Diesem Programm begegnete die K r i t i k auf breiter Front, und viele der i n der Rechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts vertretenen Positionen sind unbeschadet aller Unterschiede, die sie i n Einzelfragen aufweisen, innerlich durch ihre Gegnerschaft zur Begriffsjurisprudenz verbunden. Das gilt für die Forderung nach der Gleichberechtigung des deutschen gegenüber dem römischen Recht 46 , für die Betonung des Werts subjektiver Einflüsse gegenüber strenger Deduktion 4 7 , für die „Entdeckung" der hinter den Gesetzen stehenden Zwecke und Interessen 48 , nicht zuletzt für den Vorwurf, die Juristen hätten nicht einen Blick über den Rand ihrer Lehrbücher hinaus für die sozialen Bedürfnisse der Menschen ü b r i g 4 9 und für die Forderung nach der Einbeziehung politischer Überlegungen i n die Staatslehre 50 . Das gilt schließlich für Positionen, die i n der Gegenwart bezogen werden und auf die noch einzugehen sein w i r d 5 1 . 43 Die Information habe ich bei Denzer, Pufendorf, in: Maier u. a. (Hrsg.), Klassiker I I , S. 27, 30 Fn. 9 gefunden. 44 Vgl. Hattenhauer, Grundlagen, S. 24 Rdnr. 50. 45 v. Savigny, V o m Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung u n d Rechtswissenschaft, 1814; ders., System des heutigen römischen Rechts, 1840; Puchta, Cursus der Institutionen, 1841; Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 1862. 46 Beseler, Volksrecht u n d Juristenrecht, 1843; O. v. Gierke, Der E n t w u r f eines bürgerlichen Gesetzbuches u n d das deutsche Recht, 1889. 47 v. Kirchmann, Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1848; Bülow, Gesetz u n d Richteramt, 1885; Kantorowicz, Der K a m p f u m die Rechtswissenschaft, 1906; Fuchs, Gerechtigkeitswissenschaft (hrsg. v o n Foulkes / A . Kaufmann), 1965; Isay, Rechtsnorm u n d Entscheidung, 1929. 48 v. Jhering Der Zweck i m Recht, Bd. I, 1877 (3. A u f l . 1893); Heck, l n t e r essenjurisprudenz, 1933. 49 v. Gierke, Der E n t w u r f , 1889; Menger, Das Bürgerliche Recht u n d die besitzlosen Klassen, 1890.

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2. Die gegensätzlichen Standpunkte

Zuvor aber entstand m i t dem Aufkommen des Nationalsozialismus eine neue Welle revolutionären Rechtsdenkens, und es gehörte „ . . . zu den Kennzeichen der . . . nationalsozialistischen Revolution, daß die Bewegung eine zuvor versiegte Rechtsquelle: das Volkstum, wieder entdeckt und eine neue: das Führertum, erschlossen hat. Weiter weist sie sich dadurch als schöpferische Bewegung aus, daß sie dem Gerechtigkeitsgedanken einen neuen Inhalt geben w i l l und damit ein neues Rechtsideal fordert. Es ist nicht mehr das herkömmliche Ideal formaler Gleichheit der abstrakten Rechtssubjekte, es ist der Gedanke ständisch gestufter Ehre der völkischen Rechtsgenossen . . ." 5 2 . Der Jurist sollte also Partei ergreifen, und er tat es: U m deutsches B l u t und deutsche Ehre vor Juden zu schützen, subsumierte etwa das Reichsgericht auch andere Betätigungen als den Beischlaf unter den Begriff „Geschlechtsverkehr" 5 3 . Der Boden war also gut bereitet, als der Reichsjustizminister m i t dem Führererlaß vom 20. 8.1942 54 den Auftrag erhielt, ohne Bindung an bestehendes Recht eine nationalsozialistische Rechtspflege aufzubauen. Kurz darauf nahm der Minister die Richter m i t der ersten Ausgabe der „Richterbriefe" vom 1.10.1942 i n die Pflicht, indem er sie an ihre zugedachte Rolle als Gehilfen der Staatsführung erinnerte und sie ermutigte, „nicht ängstlich nach Deckung durch das Gesetz (zu) suchen, sondern verantwortungsfreudig i m Rahmen des Gesetzes die Entscheidung (zu) finden, die für die Volksgemeinschaft die beste Ordnung des Lebensvorganges ist". Nur wenige Jahre später, nach dem Zusammenbruch des Reiches, mußte sich das gerade noch für eine tausendjährige Herrschaft gedachte Recht, welches so radikal die vor i h m geltende Ordnung i n Frage gestellt hatte, selbst einer gründlichen K r i t i k unterziehen lassen. Dabei entwickelten sich i m geteilten Deutschland zwei Rechtsordnungen, deren innerer und schließlich auch äußerer Abstand immer größer wurde. Während i m westlichen Teil Deutschlands das Ziel Erneuerung und Säuberung hieß, brach der östliche Teil Deutschlands m i t der Vergangenheit. Ein Marxismus sowjetischer Prägung bildete fortan die Grundlage des staatlichen Lebens und somit auch des Rechts. Die zweite Verfassung der DDR vom 6.4.1968 legte folgerichtig i n ihrem A r t i k e l 1 fest: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat . . . unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei . . . " . A u f dem Gebiet des bürgerlichen 50 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. A u f l . 1914; Triepel, Staatsrecht u n d P o l i t i k , 1927; E. v. Hippel, Uber O b j e k t i v i t ä t , AöR (1927). 51 Wiethölter, Anforderungen an den Juristen heute, S. 5 ff. 52 E. Wolf, Das Rechtsideal des Nationalsozialistischen Staates, ArchRSPh 28 (1934/35), 348. 53 RGSt (GS) 70, 375. 54 Reichsgesetzblatt I S. 535.

2.2 Die Gegenthese: Kein Gegensatz von Recht und Politik

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Rechts wurde die Kontinuität durch die Einführung eines Familiengesetzbuches (1965) und des Zivilgesetzbuches (1975) auch äußerlich beendet. — I m westlichen Teil Deutschlands gab es trotz Besatzungsstatut und Entnazifizierung keinen vergleichbaren Bruch m i t der Vergangenheit. So griff man auf der Suche nach verbindlichen und überzeitlichen Maßstäben auf das wiederentdeckte Naturrecht zurück 55 . Erst nachdem das Bundesverfassungsgericht entgegen dieser Tendenz i n sorgfältiger Kleinarbeit die Normen des Grundgesetzes als Anknüpfungspunkte für die K r i t i k an Rechtsnormen und A k t e n staatlicher Gewalt herausgearbeitet hatte, verlagerte sich die Diskussion weg vom Naturrecht. Das Spannungsfeld zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit lieferte zunehmend den Anstoß für kritische Besinnung. I n diesen Rahmen gehören auch die Kritiker, die sich unter Berufung auf die ständige Mahnung des Grundgesetzes nach V e r w i r k lichung von Freiheit und Sozialstaatlichkeit gegen die Trennung des Rechtlichen vom Politischen wenden. Einige von ihnen sollen nunmehr vorgestellt werden. Gewiß repräsentiert diese Gruppe nicht alles, was der Gesetzgebung, der Rechtswissenschaft und der Justiz an K r i t i k vorgehalten wird. Sie nimmt aber doch m i t ihrer Forderung nach „Politisierung" eine deutlich abgrenzbare Position ein und fordert durch ihre weitgesteckten Ziele und die überwiegend kompromißlose Schärfe der K r i t i k zur Auseinandersetzung besonders heraus. Diese Umstände mögen die Beschränkung des untersuchten Gegenstandes rechtfertigen. 2.22 Der Ruf nach dem politischen Juristen

Nach Wiethölter sind Recht und Politik als Normensetzung und Normenvollzug identisch 56 . Er fordert daher ein „politisches Recht" und den „politischen Juristen" 5 7 . Fragen w i r zunächst nach den Gründen, die Wiethölter zu seiner Forderung veranlassen. So lassen sich die Konsequenzen, denen w i r uns i n einem zweiten Schritt zuwenden, besser verstehen. Wiethölter begründet die Forderung m i t dem gegenwärtigen Zustand unseres Rechts: Es sei immer noch i m 19. Jahrhundert verwurzelt. Zwei Merkmale hebt der Verfasser hervor: den Gegensatz von Obrigkeitsstaat und privater Gesellschaft sowie das Fehlen einer Sozialethik 58 . 55 Die „Renaissance" des Naturrechts nach dem 2. W e l t k r i e g hat Rosenbaum, Naturrecht u n d positives Recht, 1972 ausführlich dargestellt u n d nachgewiesen. 56 Wiethölter, Anforderungen, S. 22; weitere Schriften bei Fikentscher, Rechtswissenschaft u n d Demokratie, S. 6 Fn. 5; Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 135; zu Wiethölter ferner Schwerdtner, Das Persönlichkeitsrecht, S. 37 ff. 57 Anforderungen, S. 6; ders., Recht u n d Politik, S. 155.

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2. Die gegensätzlichen Standpunkte

Damit ist einmal gemeint, daß das Bürgertum der Monarchie die Politik überlassen und dafür, gewissermaßen als Gegenleistung, eine liberale Gesellschafts- und Wirtschaftsverfassung erhalten hat. Der Absicherung dieser vom Staat getrennten und damit „unpolitischen" Gesellschaft habe das „unpolitische" „Privat-"Recht gedient. Den zweiten Punkt erklärt Wiethölter aus der Zerschlagung des Naturrechts: „Macht" sei an die Stelle des „Guten" getreten. Dadurch habe der Jurist eine wichtige Aufgabe verloren, nämlich die Frage nach den Maßstäben, die an das Recht anzulegen seien. Der Weg sei frei geworden zum „wissenschaftlichen" Recht, gekennzeichnet durch den Verlust jeden Bezugs zur Wirklichkeit, und schließlich zum Positivismus. Die Grundlagen dieses Rechts seien zwar durch Industrialisierung, durch das Entstehen von Demokratien und durch revolutionäre Ideen i n Wissenschaft und Politik zerstört worden. Das Recht selbst sei hiervon aber weitgehend unberührt geblieben: „Unsere Rechtswelt . . . hat zwar Goethe, Kant und Hegel, nicht aber Marx, Darwin, Freud und Hitler „verarbeitet" . . . 5 9 . Die Spaltung Rechtsetzung durch Politik und Rechtsanwendung durch Nichtpolitik ist i n einer demokratischen Gesellschaft unhaltbar geworden 60 ." A u f diese Analyse gründet Wiethölter die Forderung, Rechtswissenschaft und Rechtsprechung hätten an der Aufgabe mitzuarbeiten, die Gesellschaft zu verändern, u m die vom Grundgesetz geforderte freiheitlich soziale Demokratie zu verwirklichen 6 1 . Der erste Schritt, u m dieses Ziel zu erreichen, bezeichnet sogleich einen scharfen Kontrast zur Gegenmeinung: der Vorrang des Rechts sei zu beseitigen. Es gelte zu erkennen, „daß Recht Ausdrucksform politischer Verhältnisse ist" 6 2 . Der nächste Schritt ergibt sich aus dem ersten von selbst, nämlich die Entwicklung einer Gesellschaftstheorie (Sozialtheorie, politischen Rechtstheorie) 63 : Denn die Frage nach den Maßstäben des Handelns und den Wirkungen dieses Handelns sei jetzt nicht mehr abzuweisen. Deshalb solle die Juristenausbildung die Fähigkeit zu politischer Rechtsk r i t i k vermitteln 6 4 . Der Jurist habe nicht nur Gesetze auszulegen, denn es gehe bei dem Umgang mit dem Recht auch u m politische A k t i o n 6 5 . Damit sind die Komponenten benannt, die nach Wiethölter das Handeln des Juristen kennzeichnen: Einerseits Gesetze, Verfassung und Sozial58 69 60 81 62 63 64 65

Anforderungen, Anforderungen, Ebd. S. 25. Vgl. noch Recht Anforderungen, Anforderungen, Anforderungen, Anforderungen,

S. 4 ff., 8 ff. S. 4; Hervorhebung i m Original. u n d Politik, S. 116 f. S. 23. S. 24, 28. S. 20. S. 7.

2.2 Die Gegenthese: Kein Gegensatz von Recht und Politik theorie, anderseits Analysen der Wirklichkeit, also alternative Kausalbeziehungen, die dann der Bewertung bedürften 6 6 . Die Thesen, welche den Gegensatz von Recht und Politik i n Abrede stellen, lassen sich so zusammenfassen: Der Rechtsanwender werde vom Gesetz und von der Verfassung geleitet. Orientierung verschaffe i h m eine zu entwickelnde Gesellschaftstheorie. Seine Arbeit sei Teil politischer Praxis zur Veränderung der politischen Verhältnisse, so daß er „politisch" entscheide 67 . Der Richter habe „politische" Entscheidungen zu treffen, meint auch Wassermann 68 . Die Gleichsetzung von politischem Handeln und der Rechtsprechung ergibt sich für i h n aus der Übereinstimmung beider i n wesentlichen Merkmalen: Politik sei Gestaltung der öffentlichen A n gelegenheiten, die Einflußnahme auf die Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen 69 . Nichts anderes gelte für die Rechtsprechung. Auch sie weise die für das Politische typischen Merkmale auf; denn der Richter übe Macht aus 70 und habe bei der Auslegung einen Gestaltungsspielraum, weil der Entscheidungsprozeß auf keiner seiner Stufen erschöpfend vom Recht gesteuert werde 7 1 . Richtschnur seien die Werte des Grundgesetzes 72 . Damit gelangt Wassermann zu den gleichen Konsequenzen, die uns schon bei Wiethölter begegnet sind: Recht sei ein Instrument zur Gestaltung der Gesellschaft, und die Justiz habe es nicht nur m i t der Vergangenheit, sondern auch m i t der Zukunft zu tun 7 3 . Die mutmaßlichen sozialen Auswirkungen der Entscheidung seien zu ermitteln und die Alternativen sodann zu bewerten 7 4 . Weil das Grundgesetz nicht mehr als eine Richtschnur bei dieser Entscheidung sein könne, fordert er ebenfalls die Entwicklung einer Verfassungstheorie (Sozialtheorie) 75 . Ihr Ziel soll sein, „bei der »Rangordnung 4 der Werte, aber auch bei der Bestimmung von Inhalt und Tragweite der Grundrechte, Verfassungspostulaten und Rechtsgütern" zu helfen 7 6 . Weil der Gesetzgeber diese Arbeit nicht leisten könne, entspreche die Mitverantwortung der Gerichte für die Gestaltung des sozialen Lebens seinem Willen 7 7 . Zum Verständnis dieser Auffassung muß man Wassermanns ββ 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77

Vgl. noch Recht u n d P o l i t i k , S. 157 f. Hierzu Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, S. 113. Wassermann, Der politische Richter, S. 31. Ebd. S. 18. Ebd. S. 21. Ebd. S. 22, 26 ff. Ebd. S. 44 ff. Ebd. S. 18 f. Ebd. S. 57 f. Ebd. S. 56 f. u n d bei Fn. 94. Ebd. S. 56; Hervorhebung i m Original. Ebd. S. 30, 41 f.

3 Zinke

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2. Die gegensätzlichen Standpunkte

Vorstellung vom Gesetzesrecht kennen: Es sei starr und auf Dauer angelegt 78 . Der Richter entscheidet genauso politisch wie der Gesetzgeber: so lautet die These von Eike Schmidt 79 . Nach seiner Meinung ist das Modell der A r t . 20 I I und I I I GG, die Gewaltentrennung und die Bindung an Recht und Gesetz, an den Anforderungen der Wirklichkeit gescheitert. Der Gesetzgeber habe seiner Programmierungsaufgabe nicht genügt 80 . Gleichwohl seien die Gerichte gehalten, jeden ihnen vorgelegten Fall zu entscheiden. I n diesem Entscheidungszwang findet Schmidt die Berechtigung dafür, daß der Richter anstelle des Gesetzgebers versucht, den „sozialen Gegebenheiten und Notwendigkeiten unserer Tage gerecht zu werden" 8 1 . Welche Konsequenzen hat dieser Befund? Schmidt stellt zunächst fest, daß die fehlende demokratische Kontrolle des richterlichen Handelns ausgeglichen werden müsse 82 . Der erste Schritt dorthin erfordere das Erarbeiten eines theoretischen Rahmens, w i r können wohl sagen: einer Gesellschaftstheorie. Denn Schmidt spricht vom Sozialstaat als einem „konstruktiven Aktionsrahmen" 8 3 , von einer „gesellschaftlichen Theoretisierung des Privatrechts" 8 4 , einer „politisch-sozialen Gesamtstrategie" 85 , einer „gesellschaftliche(n) Gesamtkonzeption" und „sozialein) Strategie des Privatrechts" 8 6 . Das Ziel dieser Theorie, an der sich die Justiz auszurichten habe 87 , sei es, das rechtsstaatliche Gebot zu erfüllen, alle Gesellschaftsschichten an den Segnungen des Sozialstaates teilhaben zu lassen 88 . Die Maßstäbe dafür, was i m Rahmen dieser Theorie als richtig oder falsch zu gelten hat, entnimmt Schmidt der Verfassung 89 . I n einem zweiten Schritt beantwortet er die Frage, wie Konflikte unter der Leitung einer solchen Theorie praktisch-methodisch zu lösen seien: Zunächst gehe es „ u m das nur theoriegeleitet mögliche Aufhellen sozialer Bezüge und Interdependenzen" 90 . Das Ziel ist also, unter Anlei78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90

Ebd. S. 41. Schmidt, Normzweck u n d Zweckprogramm, S. 147. Ebd. S. 145. Ebd. S. 145. Ebd. S. 147. Ebd. S. 142. Ebd. S. 143. Ebd. S. 147. Ebd. S. 149. Ebd. S. 150: „Bewertungshorizont der Justiz". Ebd. S. 142 f., 157 f. Ebd. S. 149 f. Ebd. S. 151.

2.2 Die Gegenthese: Kein Gegensatz von Recht und Politik

35

tung der Theorie die soziale Wirklichkeit i m Umkreis des je zu entscheidenden Konflikts zu erkennen (Realanalyse). A u f der Grundlage der „Realanalyse" seien dann verschiedene Alternativen denkbar, den Fall zu entscheiden. Deren Folgen seien i n Form von Prognosen zu ermitteln und an den Forderungen der Theorie zu messen, u m so zu einer Entscheidung zu gelangen 91 . Wenn nicht nur für die Bewertung von Alternativen, sondern auch für die Sachaufklärung eine Theorie maßgeblich ist, so können nicht gleichzeitig die Parteien über die Tatsachen verfügen: I m Zivilprozeß, so folgert Schmidt, dürften die Parteien dem Gericht nicht vorschreiben, wie weit es i m Einzelfall den Sachverhalt aufkläre 9 2 . Es gehe nicht nur u m ihren privaten Konflikt; die Konsequenzen der Entscheidung reichten weiter und über den internen Bereich der Parteien hinaus 9 3 . Weil über das Verhältnis der Rechtswissenschaft zu den übrigen Sozialwissenschaften keine Einigkeit besteht 94 , w i r d es lehrreich sein zu erfahren, wie ein juristisch ausgebildeter Soziologe unser Problem sieht. Lautmanns 9 5 Aufzeichnungen juristischer Entscheidungsprozesse belegen, wie eine „soziologische" von einer herkömmlichen „juristischen" Sicht der Dinge unterschieden ist. Das Buch nennt ebenfalls einen Teil der schon gehörten Argumente und kann darum als Beleg dafür dienen, daß auch die anderen K r i t i k e r als Juristen unsere Frage von einem soziologischen Blickwinkel aus zu beantworten suchen. Lautmann kritisiert, daß i n den meisten Zivilprozessen nur die Tatsachen zur Sprache kämen, welche die Parteien selbst vortrügen. Deshalb würde i n Gerichtsverfahren lediglich über isolierte Ansprüche an Hand der Gesetze entschieden. Die Justiz begebe sich damit der Chance, soziale Konflikte zu lösen 96 . Lautmann bemängelt, daß die Justiz am Vergangenen und an der Wiederherstellung des status quo orientiert sei. Stattdessen seien die sozialen Folgen der Urteile zu berücksichtigen. Statt bloß auf Geschehenes zu reagieren, seien Sozialbeziehungen zu planen. Gerichtsurteile erhielten dann den Charakter von Prognosen, die sich i n der Zukunft zu bewähren hätten 9 7 . Dagegen diene die rechtsmethodische Anweisung, der Richter solle ungeachtet der ferneren 91

Ebd. S. 150 ff. Ebd. S. 159. 93 Ebd. S. 150. 94 Knapper Uberblick m. w. N. bei Ramm, Th., Der juristische Studienplan für die Fernuniversität i m Lande Nordrhein-Westfalen, 1975, 33 ff.; vgl. auch die Referate v o n R i n k e n u n d M ü h l i n : Verhandlungen des 48. DJT, Band I I , 1970, Ρ 7 ff. u n d die anschließende Diskussion Ρ 65 ff. 95 Lautmann, Justiz — die stille Gewalt, 1972. 96 Ebd. S. 63. 97 Ebd. S. 76, 117. 92

3*

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2. Die gegensätzlichen Standpunkte

Konsequenzen entscheiden, der Festigung der bestehenden Ordnung und Machtverteilung 9 8 . A u f weitere Stellungnahmen soll hier nur hingewiesen werden: Nach Adomeit ist das Recht nicht als vorgegebene, erkennbare Realität, sondern als Aufgabe für verantwortliche Gestaltung zu begreifen. Der Richter sei schöpferisch gestaltend tätig 9 9 . Der juristische Determinismus, die Lehre also, daß das positive Gesetz die eine richtige Lösung für die Beurteilung eines Rechtsfalles enthalte, sei tot, die Entscheidung kein Erkenntnisakt, sondern gestaltende Einwirkung auf das Sozialleben 1 0 0 . Die wichtigste Leistung der heutigen Methodenlehre sei die Erweiterung des überkommenen Instrumentariums u m die Folgenanalyse 101 . — I m Zusammenhang mit dem Begriff der „Klassenjustiz" führt Rottleuthner Meinungen über das Verhältnis von Recht und Politik an 1 0 2 . Den Befund, die grundsätzliche Trennung von Recht und Politik, stellt er i n Frage. Der Interpretationsspielraum des Richters und das Richterrecht (Rechtsfortbildung) ließen der Justiz einen Entscheidungsspielraum. Er werde durch Wertungen ausgefüllt, die oft als „politische" bezeichnet würden. Diese Auffassung lehnt er ab: Es gebe keine Kriterien, u m rechtliche von politischen Argumenten zu unterscheiden 103 . Die Gegenthese lautet also: Recht und Politik seien nicht zu trennen. Wer sie für trennbar halte, vereitele die i n der Verfassung niedergelegten Rechte. A n deren Durchsetzung müsse der Jurist mitarbeiten. Das könne er nur, wenn i h m die Folgen seiner Entscheidung klar seien und wenn er über Maßstäbe verfüge, u m die Folgen bewerten zu können. 98 Ebd. S. 77; vgl. noch ders., Richterliches Verfahren, i n : Handlexikon zur Rechtswissenschaft, S. 379 ff.; ferner Kaupen, W., Der Jurist als Behüter oder als Gestalter der Gesellschaft, Recht u n d P o l i t i k 70, 112. 99 Adomeit, Juristische Methode, in: Handlexikon zur Rechtswissenschaft, S. 219. 100 Ders., Methodenlehre u n d Juristenausbildung, S. 176, 180. 101 Methodenlehre, S. 179 unter Bezugnahme auf Kriele; vgl. schon oben 1. Fn. 47. 102 Rottleuthner, Richterliches Handeln, S. 166 ff. 103 Ebd. S. 167. — Beschränkt auf das Wirtschaftsrecht erörtert Steindorff die Frage, welche Bedeutung die „ P o l i t i k des Gesetzes" u n d das „politische Ziel" für die Interpretation haben: Steindorff, E., P o l i t i k des Gesetzes als Auslegungsmaßstab i m Wirtschaftsrecht, FS für Larenz, 1973, 217; dazu Futter, A u f der Suche nach der P o l i t i k des Gesetzes, S. 37 ff. m. w . N., der einige Beispiele v o n „politischer Auslegung" aufführt u n d auf die begrenzte Tauglichkeit der Steindorffschen K r i t e r i e n hinweist, daselbst S. 49 w . N.; ergänzend wäre noch zu nennen Hopt, Was ist v o n den Sozialwissenschaften i n der Rechtsanwendung zu erwarten?, JZ 75, 341, 346. F ü r den Bereich des Arbeitsrechts vgl. Zöllner, Arbeitsrecht u n d Politik, D B 70, 54, 57 u n d Fn. 32. Kritisch zum Rechtsbereich äußern sich Ostermeyer, H., Die juristische Zeitbombe, 1973, z . B . S. 144 ff. zum Stichwort „Politisierung der Justiz"; Schmid, R., Das Unbehagen an der Justiz, 1975, S. 101, 104 f., 117.

3.2 Was ist ein „politisches" Argument?

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3. Was bedeutet „politisch" und was sind „politische Argumente"? 3.1 Der Ausdruck „politisches Argument" Bevor w i r darangehen, aus dem Gegenüber von These und Gegenthese die Fragen herauszuheben, welche die Untersuchung leiten sollen, ist auf eine sprachliche Besonderheit hinzuweisen, die i n der Überschrift steckt. Denn „Politik" und „Argumentieren" können sich nach unserem Alltagsverständnis auf getrennte soziale Bereiche beziehen: einerseits Wissenschaft und Erkenntnis, andererseits eine Form öffentlichen Handelns. Bekanntlich besteht Streit darüber, inwieweit — und ob überhaupt — eine solche Trennung zu Recht behauptet werden kann. So finden w i r i n einem Lehrbuch des Familienrechts folgende Kapitelüberschrift: „Das Familienrecht der DDR als komplexes Leitungsinstrument zur gesellschaftlichen und staatlichen Einflußnahme auf die Entwicklung der Familie 1 ." Die Formulierung kommt uns i n einem Lehrbuch und damit i n einer wissenschaftlichen Abhandlung ungewohnt vor, geht sie doch über rechtspolitische Erwägungen etwa bei der Auslegung von Rechtsnormen weit hinaus. Der Streit ist hier nicht auszutragen; w i r ziehen uns vorläufig auf die Feststellung zurück, daß es sich jedenfalls soziologisch u m trennbare Bereiche handelt 2 . Dies ist u m so leichter möglich, als damit keine Fragen verkürzt werden. Denn ob sich Wissenschaft und Politik i m Denken und Handeln des Wissenschaftlers und Richters wirklich trennen lassen, w i r d hier nicht entschieden. 3.2 Was ist ein „politisches" Argument? Hält man These und Gegenthese vor sich, so ist eine Feststellung rasch möglich: kräftige Gegensätze sind es, die sich da ausdrücken. Schwieriger w i r d es schon, soll man den Punkt bezeichnen, an dem sich erweisen kann, wer recht hat. Gehen w i r der Reihe nach vor: Wenn die jeweilige Richtung der Vorwürfe „verfassungsfeindlich" an die eine und „erzkonservativ" an die andere Seite offenbar davon abhängt, ob sie den „politischen" oder den „unpolitischen" Juristen w i l l , dann muß der Streit m i t dieser Eigenschaft des „Politischen" zu t u n haben. Was aber kennzeichnet sie? Wann ist ein Jurist „politisch" und wann ist er es nicht? 1

A u t o r e n k o l l e k t i v unter Leitung v o n A n i t a Grandke, Familienrecht. L e h r buch, Berlin-Ost 1976, S. 58 ff. 2 Bühl, Einführung i n die Wissenschaftssoziologie, S. 255 für das V e r h ä l t nis von P o l i t i k u n d Wissenschaft; Bahrdt, Wissenschaftliche Experten i n der politischen Praxis, S. 347 ff.

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3. Was bedeutet „politisch" und was sind „politische Argumente"?

Die streitenden Parteien danach zu fragen, wäre der kürzeste Weg, u m es herauszufinden. Wenn sie es uns nur verrieten, was sie selbst unter diesem Schlüsselwort verstehen. Gewiß: Andeutungen entdeckt man allenthalben. Aber w i r wollen nicht nur andeutungsweise über das Thema sprechen. Auch wo mehr gesagt wird, bleibt unklar, warum man gerade dieses oder jenes Merkmal bevorzugt. So lesen w i r bei Wassermann: „Politik ist allerdings namentlich für die neuere Soziologie noch nicht ausreichend definiert, wenn man sie als Beeinflussung sozialer Beziehungen und Ordnungen bezeichnet. Es gehört das Machtmoment dazu . . ." 3 . Warum er dieses i n der politischen Soziologie verwendete Merkmal für seine eigene Untersuchung übernimmt, bleibt ungesagt. Auch der nachfolgende Hinweis darauf, daß die Justiz dieses Merkmal aufweise, ändert nichts daran, daß der Verfasser die Merkmale der Justiz an denen eines bereits vorausgesetzten Politikbegriffs mißt. Ein Gegenbeispiel finden w i r bei Winkler 4 : A m Begriffspaar „Werterkenntnis"/„Wertentscheidung" demonstriert er den Gegensatz von Rechtswissenschaft und Politik. So bleibt nichts weiter übrig, als anderweitig nachzufragen, was „Politik" sei. A m besten tut man das bei jenen Wissenschaften, die Politik als ihren Gegenstand behandeln: bei der Politikwissenschaft, der politischen Soziologie und der Staatslehre. 3.21 Müssen wir nach einem Politikbegriff suchen?

Allerdings muß man auf den Einwand gefaßt sein, ob das wirklich nötig sei. Warum sollen w i r diesen Aufwand treiben? Gewiß ist es schwer erträglich, ständig einen grundlegenden Begriff zu gebrauchen, ohne zu wissen, was damit gemeint ist. Aber enthält der Meinungsstand nicht genügend Hinweise, u m auch ohne die nützliche Hilfe einer Definition herauszufinden, was den Begriff „Politik" kennzeichnen soll? Dem Einwand ist zuzugeben, daß es wohl gelingen möchte, aus den Bruchstücken etwas zusammenzubauen, m i t dessen Merkmalen sich dann weiterarbeiten ließe. Aber u m welchen Preis wäre diese scheinbare Arbeitsersparnis zu haben! Denn was weiß ich vom Politikverständnis derjenigen, die den „politischen" Juristen fordern, wenn ich mich darauf beschränke, die Brocken aufzuklauben, die ich vorfinde? Ich kann weder sagen, ob die Merkmale vollständig sind, noch weiß ich, welches Gewicht sie haben: Kommt es auf alle gleichermaßen an oder ist eines das Entscheidende?

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Wassermann, Der politische Richter, S. 21. W i n k l e r , Wertbetrachtung i m Recht, S. 15 f.

3.2 Was ist ein „politisches" Argument?

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Was herauskäme, wäre ein Produkt des Zufalls. Warum das so ist? Es w i r d noch ausführlich die Rede davon sein 5 , daß alles Erkennen geleitet ist von Theorie, sei es von Alltagsverständnis, von Weltanschauung oder von wissenschaftlicher Theorie, sei es bewußt oder unbewußt. Nicht anders verhält es sich m i t der Wiedergabe dessen, was „Erkenntnis" sein soll. Ohne das geistige „Bild", das hinter Äußerungen steht, könnten w i r vieles nicht verstehen: Wenn etwa § 1355 I, I I BGB i n der seit dem 1. 7.1976 geltenden Fassung vorsieht, daß entweder der Geburtsname der Frau oder der des Mannes gemeinsamer Familienname sein kann, so finden w i r das i n Ordnung. Die Regelung entspricht unserem heutigen Verständnis von der Ehe als einer Gemeinschaft gleichberechtigter Partner 6 . Das war indes, auch unter der Herrschaft des Grundgesetzes, nicht immer so: § 1355 a. F. bestimmte noch, daß der Name des Mannes gemeinsamer Familienname sei. Für uns Heutige überraschend sah der BGH darin keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter 7. Dafür konnte nur eines verantwortlich sein: Das Gericht mußte ein vom gegenwärtigen Verständnis unterschiedliches „Bild" der Ehe vor Augen gehabt haben. So war es denn auch: Die Vorschrift entspreche „dem auch heute noch i n allen Bevölkerungskreisen und bei beiden Geschlechtern weithin herrschenden Bewußtsein, daß der Mann vornehmlich die Familiengemeinschaft nach außen vertritt, die Frau sie i m Innern gestaltet, und daß nach der natürlichen Aufgabenteilung i n der Ehe und Familie diese sich unter dem Namen des Mannes darstellt" 8 . Die Regelung sei „aus einer dem Wesen der ehelichen Gemeinschaft entsprechenden, auch heute gültigen Anschauung hervorgegangen" 9 . Der Wahrheit kommen w i r also ohne Kenntnis des geistigen Hintergrundes kaum auf die Spur, können umgekehrt aber Irrtümern erliegen. Vergleicht man etwa den Jesuitenorden mit der nationalsozialistischen „SS", so w i r d man auf den ersten Blick überraschende Ähnlichkeiten bemerken: Himmler hatte nämlich seine „Schutzstaffel" nach dem Vorbild der „Gesellschaft Jesu" organisiert 10 . Wer bei dieser Feststellung von Ähnlichkeit stehenbleibt und „vergißt", nach den gar nicht mehr ähnlichen weltanschaulichen Inhalten zu fragen, denen beide Organisationen verpflichtet sind, hat nicht einmal einen Zipfel der Wahrheit erhascht. Nicht anders könnte es uns ergehen, hielten w i r die Äußerungen der K r i t i k , so wie sie i n den Schriften ihrer Anhänger i n 5

Unten II.8. • Vgl. Beitzke, Familienrecht, 19. A u f l . 1977, S. 5 f. m. w . N., 54 ff. — i m Gegensatz zu romanischen, angelsächsischen u n d slawischen Gewohnheiten. 7 Β GHZ 25, 163, 167 f. 8 Ebd. S. 168. 9 Ebd. 10 Vgl. Höhne, H., Der Orden unter dem Totenkopf, 1967, S. 135 f.

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3. Was bedeutet „politisch" und was sind „politische Argumente"?

Erscheinung t r i t t , schon für das Ganze ihres Denkens. W i r müssen prüfen, ob nicht Voraussetzungen ungesagt geblieben sind, mit deren Hilfe erst ein Verständnis der Analysen und Forderungen möglich ist. Die Frage nach dem Politikbegriff ist also unentbehrlich. Den philosophischen „Ballast", mit dem auch Politikbegriffe belastet sein werden, darf man nicht ohne weiteres durch eine terminologische Festsetzung über Bord werfen, w i l l man nicht riskieren, Meinungen zu verfälschen. Die Hoffnung, dem richtigen Begriff bei einem Streifzug durch die Nachbardisziplinen zu begegnen, stützt sich darauf, daß die K r i t i k e r innerhalb und nicht außerhalb wissenschaftlicher Denkweise argumentieren. Dann aber werden sie sich, so gebietet es die Vernunft, immer dort auf Konsense und auf Vorgedachtes stützen, wo dies der eigenen Ansicht entspricht. 3.22 Politikbegriffe in Politikwissenschaft, Soziologie und Staatslehre

Die nachfolgende Skizze soll einen Eindruck vom Meinungsstand i n der Wissenschaft vermitteln 1 1 ; sie ist deshalb nach systematischen Gesichtspunkten geordnet worden. Eine historische Betrachtung müßte demgegenüber die Schwerpunkte anders verteilen 1 2 . 3221 Max Weber Unsere Darstellung soll m i t jenem Begriff beginnen, der das Wesen des „Politischen" i n dem Kampf u m die Macht bestimmt, einem Begriff, dem w i r noch heute i n der „Realpolitik" begegnen 13 . Politik ist danach „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt" 1 4 . Wer Politik treibe, erstrebe Macht: Macht entweder als Mittel i m Dienst anderer Ziele oder u m ihrer selbst w i l l e n 1 5 . M i t der Definition ist eine bestimmte wissenschaftstheoretische Vorstellung verbunden, nämlich ein „tiefes W i derstreben gegen die Abgabe von Werturteilen" 1 6 . Es sei unmöglich, 11 Uberblick bei Stammen, Einführung i n die Politikwissenschaft, S. 21 ff.; Matz, Über die Bedingungen einer Kooperation v o n Wissenschaft u n d P o l i t i k , S. 18 ff.; Lenk, K., Politische Wissenschaft, S. 49 ff.; „Theorien über das Wesen des Politischen" anhand einzelner politischer Denker schildert Reding, Politische E t h i k , S. 189 f.; Bohret / Jann / Junkers / Kronenwett, I n n e n p o l i t i k u n d politische Theorie, 1979, S. 25 ff., 453 ff. 12 Dazu Sternberger, V o n den drei Wurzeln der P o l i t i k , F A Z v. 28.9.1972, S. 21 f. 13 Vgl. Narr, Logik der Politikwissenschaft, S. 15 f. m . w . N.; Matz, Über die Bedingungen, S. 19. 14 Weber, P o l i t i k als Beruf, S. 494. 15 Ebd. S. 19.

3.2 Was ist ein „politisches" Argument?

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„praktische" Stellungnahmen wissenschaftlich zu vertreten, denn die verschiedenen Wertordnungen stünden i n unlöslichem Kampf miteinander 17 . Weber plädiert zwar keineswegs dafür, Werturteile der wissenschaftlichen Diskussion zu entziehen 18 . Aber die A n t w o r t auf die Frage, was zu tun sei, kann nach seiner Meinung nur ein Prophet geben 19 . 3.222 Carl Schmitt Einen Unterfall dieses Politikbegriffes bildet die Auffassung von Carl Schmitt. Danach lassen sich politische Handlungen und Motive auf die Unterscheidung von Freund und Feind zurückführen 20 . „Feind" ist nach Schmitt nicht der private Gegner, sondern „eine wenigstens eventuell, d.h. der realen Möglichkeit nach, u m ihre Existenz Jcämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht" 21 . Das Politische liege dabei nicht i m Kampf, sondern i n einem von der realen Möglichkeit eines Krieges bestimmten Verhalten 2 2 . Wie schon bei Max Weber, so ist auch bei Carl Schmitt der Politikbegriff durch „Wertabstinenz" charakterisiert. Denn Schmitt stellt den Unterscheidungsmerkmalen „Freund—Feind" kein zusätzliches Begriffspaar wie etwa „Gut—Böse" zur Seite. Politisches Handeln bleibt somit außerhalb ethischer Bewertungen. 3.223 Der Politikbegriff

der Staatslehre

I m staatsrechtlichen Schrifttum finden w i r häufig Bestimmungen des Politischen, die an den Staat anknüpfen: Politik sei alles, was sich auf die Gestaltung des Staates beziehe 23 . I n deutlichem Kontrast zum Politikverständnis von Max Weber und Carl Schmitt werden die Fest18

Oberndörfer, P o l i t i k als praktische Wissenschaft, S. 137. Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 603. 18 Weber, Die „ O b j e k t i v i t ä t " sozialwissenschaftlicher u n d sozialpolitischer Erkenntnisse, S. 149: „Die K r i t i k macht v o r den Werturteilen nicht h a l t " . Z u dem damit verbundenen weitverbreiteten MißVerständnis vgl. Brecht, Politische Theorie, S. 315 ff.; Albert, T r a k t a t über kritische Vernunft, S. 69. 19 Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 609. 20 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 7, 11 f., 48 u. ö. 21 Ebd. S. 10, Hervorhebung i m Original. 22 Ebd. S. 16. Schmitt weist dem Recht zwar einen relativ eigenständigen Bereich zu. Er betont jedoch, daß es w i e jede andere Sphäre menschlichen Lebens u n d Denkens zur Unterstützung oder Widerlegung einer anderen Sphäre benutzt werden könne, S. 47. 23 Vgl. etwa Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 13; Heller, Staatslehre, S. 204 f.; Triepel, Staatsrecht u n d Politik, S. 20; E. v. Hippel, Über O b j e k t i v i t ä t , S. 409; Leipholz, Der Parteienstaat, S. 111, 123 Fn. 27; Grewe, Z u m Begriff der politischen Partei, S. 75 f.; Scheuner, Das Wesen des Staates, S. 253; Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 684; s. a. B G H JZ 56, 760. 17

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3. Was bedeutet „politisch" und was sind „politische Argumente"?

legungen dieser Gruppe regelmäßig mit dem Hinweis verknüpft, daß politisches Handeln an Werte gebunden sei und die Staatslehre demgemäß nicht ohne politisch-ethische Bewertungen und Berücksichtigung des politischen Umfeldes auskommen könne 2 4 . Sieht man näher hin, so werden Parallelen zur aktuellen Diskussion sichtbar. Insbesondere unsere älteren Autoren haben ihre Thesen zum Teil ausdrücklich der konstruktiven Methode der Gerber-Laband-Schule entgegengestellt 25 . Jene Diskussion könnte man daher als einen Vorläufer des Streites, dem die vorliegende Untersuchung gewidmet ist, bezeichnen 26 . Gleichwohl sollen die genannten Autoren hier nur i m Hinblick auf das von ihnen vertretene Politikverständnis vorgestellt werden. Diese Verweisung i n das zweite Glied läßt sich damit rechtfertigen, daß das gegenwärtige Streitgespräch seinen Schwerpunkt i m Z i v i l - und nicht i m Staatsrecht hat und vor dem Hintergrund einer Verfassung steht, deren Normen unmittelbar geltendes Recht sind. Abschließend wollen w i r nochmals festhalten: Das Politikverständnis dieser Richtung bezieht sich auf den Staat und bindet das Handeln an Werte. 3.224 Der klassische Politikbegriff Historisch am ältesten ist jener auf Aristoteles zurückgehende Begriff, wonach „Politik" Teil der praktischen Philosophie sei. Für Aristoteles ist der Mensch ein für die Gemeinschaft mit anderen bestimmtes Wesen und zum Zusammenleben m i t anderen geschaffen 27 . Philosophisches Nachdenken über die Ziele menschlichen Verhaltens und die A n t wort, es gelte das „Gute" zu verwirklichen, waren deshalb zugleich Gegenstand und Inhalt von Politik 2 8 . Seit dem Beginn der Neuzeit und mit der Entwicklung der modernen Wissenschaft verliert diese Auffassung an Bedeutung 29 . Unter dem Eindruck der Vorherrschaft positivistischer Denkweisen auch i m Reiche der Philosophie und der Gesellschaftswissenschaften w i r d sie dann aber nach dem zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen. Man wandte sich gegen die Verdrängung verbindlicher Maßstäbe und philosophischer 24 Vgl. Jellinek, S. 16 f.; Heller, Die Krisis der Staatslehre, in: Gesammelte Schriften, 1971, S. 3, durchgehend; Triepel, S. 19 f., 32 ff.; E. v. Hippel, S. 407 ff.; siehe ferner Grewe, S. 78, 82; Scheuner, S. 244 f., 257 f.; Krüger, S. 682 f.; Henkel, Bemerkungen zum Verhältnis v o n Recht u n d Politik, S. 32 f. 25 So ζ. B. Jellinek (noch zurückhaltend), Heller, Triepel, E. v. Hippel. 26 Siehe oben 2. bei Fn. 50. 27 Aristoteles, Die Nikomachische E t h i k , I X , 1169 b 18. 28 Ebd. etwa I, 1094 a 1 - 29; 1094 b 8; 1097 b 12; 1098 a 17; V I I I , 1160 a 9 - 30. 29 Dazu Ahrendt, V i t a activa, S. 244 ff.; Habermas, Theorie u n d Praxis, S. 48; Scheuner, Das Wesen des Staates u n d der Begriff des Politischen, S. 226 ff.; Wiethölter, Anforderungen, S. 9 ff.; Hereth, Jenseits der politischen Ökonomie, S. 533 ff.

3.2 Was ist ein „politisches" Argument?

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Orientierung aus der Politikwissenschaft 30 . Der Widerstand richtete sich gegen jene „wissenschaftlich aufgeputzten" Vorstellungen von Politikwissenschaft, die nur nach Gesetzmäßigkeiten suchten, aber keine moralischen Überlegungen mehr anstellten 31 . Für praktische Politikwissenschaft dagegen sei höchste Zielsetzung die Gestaltung einer politischen Ordnung, die das „gute tugendhafte Leben" ermögliche 32 . I m Zentrum wissenschaftlichen Fragens stehe die Herrschaftsordnung 3 3 sowie das Nachdenken über Ziele und Normen der Politik 3 4 . „Politisch" sei ein Handeln, wenn es das Wohl des politischen Verbandes und seiner Menschen berühre, wenn es für das Gemeinwesen bedeutsam sei 35 . Aus der „Einsicht i n die politisch-soziale Wirklichkeit" erhofft sich praktische Politik, die „wissensmäßige(n) Grundlagen für das Vordenken politischen Handelns" erarbeiten zu können 3 6 . „Das politische Handeln bedurfte immer des Wissens von dem, was ist, von dem, was möglich ist und von dem, was sein soll 3 7 ." Neben, oder besser zwischen den geschilderten Politikbegriffen gibt es vermittelnde Meinungen. So bestimmt v. d. Gablentz Macht, Recht und Gestaltung als Elemente der Politik 3 8 . Politik sei demnach Kampf u m die rechte Ordnung 3 9 . — Auch Freund wendet sich dagegen, Politik nur durch ihre Mittel zu kennzeichnen. Zweck und M i t t e l müßten zusammentreffen 40 . Der Politik gehe es u m die Gestaltung der Gemeinschaft 41 , u m den harmonischen Zusammenhalt der menschlichen Gesellschaft 42 . Politik sei also Gestaltung und Formung der Gemeinschaft durch Macht 4 3 . 3.225 Der Politikbegriff

der „Kritischen

Theorie"

I m Verlauf der sechziger Jahre hat die sogenannte „Kritische Theorie" zunehmend Anhänger i n den Sozialwissenschaften gefunden 44 . Den 30 Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik, S. 14, 17 f., 20, 27 ff.; vgl. ferner etwa Hennis, W., P o l i t i k als praktische Philosophie, 1963; Strauss, L., Naturrecht u n d Geschichte, 1956. 31 Sontheimer, Erfordert das Atomzeitalter eine neue politische Wissenschaft?, S. 256 ff., Zitat S. 262. 32 Oberndörfer, P o l i t i k als praktische Wissenschaft, S. 147. 33 Ebd. S. 146. 34 Bergstraesser, P o l i t i k i n Wissenschaft, S. 21 ff.; Oberndörfer, S, 145, 147. 35 Oberndörfer, S. 145. 36 Ebd. S. 146. 37 Bergstraesser, S. 23. 38 v. d. Gablentz, Einführung i n die politische Wissenschaft, S. 45. 39 Ebd. S. 14. 40 Freund, Die P o l i t i k der Freiheit, S. 12 f. 41 Ebd. S. 22. 42 Ebd. S. 13. 43 Ebd. S. 11. 44 Als Beleg k a n n etwa der von Heinrich Schneider herausgegebene Reader:

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3. Was bedeutet „politisch" und was sind „politische Argumente"?

Namen hat ihr Max Horkheimer mit einem berühmt gewordenen Aufsatz über „Traditionelle und kritische Theorie" (1937)45 gegeben. Entscheidend für ihr Verständnis und daher i n Kürze anzudeuten ist die Frage, nach welchen Gesetzmäßigkeiten sich die Menschheit entwickelt. Deren Grundlage ist nach Marx die Produktion der materiellen Güter, die der Mensch zu seinem Leben braucht: „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt 4 6 ." Der Ausdruck „Produktionsweise" umfaßt dabei Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse. Produktivkräfte seien die Mittel, mit denen der Mensch auf die Natur einwirkt, vor allem Maschinen, aber auch die Kenntnisse der Menschen selbst: Die revolutionäre Klasse selbst sei die größte Produktivkraft 4 7 . Die Produktionsverhältnisse bezeichnen nicht das Verhältnis der Menschen zur Natur, sondern ihre Beziehungen untereinander, vor allem die Eigentumsverhältnisse. Sie entsprechen nach dieser Theorie der jeweiligen Entwicklungsstufe der materiellen Produktivkräfte 4 8 , sind also abhängig von ihnen. Die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse bilde ihrerseits „die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt . . ." 4 9 . Diese vielschichtige, konkrete Formation, i n der die Menschen zueinander stehen, kann man die „Gesellschaft" nennen 50 . Die Entwicklung der Produktivkräfte bedinge, daß sich auch die davon abhängigen Verhältnisse änderten. Allerdings geschehe dies nicht i n einem kontinuierlichen Prozeß: „ A u f einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft i n Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten 5 1 ." Dieser Widerspruch führe dann zu Revolutionen und zur Umwälzung des Überbaus. Denn die Eigentumsverhältnisse definieren das Verhältnis der Menschen zu den Produktionsmitteln (Arbeitsgegenstände, Arbeitsmittel), und dieses Verhältnis wiederum definiert die Zugehörigkeit der Menschen zu verschiedenen Klassen. Die hieraus entstehenden Widersprüche der Klasseninteressen führten zum Klassenkampf. Politik sei dieser „Kampf der Aufgabe u n d Selbstverständnis der Politischen Wissenschaft, 1967, dienen, der keinen Beitrag dieser Richtung enthält. 45 Horkheimer, M., Kritische Theorie (herausgegeben v o n A l f r e d Schmidt), Band I I , 1968, S. 137 - 200. 46 M a r x , Z u r K r i t i k der politischen Ökonomie. Erstes Heft. V o r w o r t , S. 13. 47 M a r x , Das Elend der Philosophie, S. 188. 48 M a r x , Z u r K r i t i k der politischen Ökonomie, S. 13. 49 M a r x , Z u r K r i t i k , S. 13. 50 Ausführlicher K l a u s / B u h r (Hrsg.), Marxistisch-Leninistisches W ö r t e r buch der Philosophie, S. 473 ff. δ1 M a r x , Z u r K r i t i k , S. 13.

3.2 Was ist ein „politisches" Argument?

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Klassen . . . u m die Verwirklichung ihrer sozialökonomisch bedingten Interessen und Ziele . . . Als soziale Erscheinung, die alle Lebensbereiche der Gesellschaft durchdringt.. ." 5 2 . Hieraus ergeben sich mehrere Schlußfolgerungen: Zunächst folgt daraus, daß sich jede gleichsam „statische" Betrachtung der Gesellschaft verbietet. Sodann gilt es zu erkennen, daß Politik eine abgeleitete Größe ist, „daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr i n den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln . . ." 5 3 . Dieses Verständnis von Politik ist i m Grundsatz auch für die „ K r i tische Theorie" bestimmend. Fast einhundert Jahre nach Marx' Tod ist aber eine Denkrichtung nicht mehr hinreichend genau beschrieben, nennt man sie nur „marxistisch". Zu vielfältig sind die Verästelungen des marxistischen Gedankengebäudes. Man braucht nur, u m beliebige Beispiele zu nennen, die Veränderungen der marxistischen Lehre durch den Verlauf der politischen Geschichte etwa der Sowjetunion, Jugoslawiens, Chinas, der Dritten Welt und schließlich Europas (Eurokommunismus) zu nehmen, zumeist noch durch „orthodoxe", „revisionistische" oder „neomarxistische" Ideen angereichert, u m bei einem Vergleich zu sehr verschiedenen Ergebnissen zu gelangen. So ist es auch i m Falle der „Kritischen Theorie" notwendig, nach der Schilderung der „klassischen" Grundlagen auf die Besonderheiten hinzuweisen. K a r l Marx' Analyse bezog sich auf einen bestimmten Entwicklungsstand der kapitalistischen Produktionsweise; Habermas spricht hier von einem „liberalen Kapitalismus" 5 4 . Seither habe der Einfluß des Staates auf den Wirtschaftsprozeß durch die „Korrektive einer kreislaufstabilisierenden Sozial- und Wirtschaftspolitik" 5 5 zugenommen. Nicht mehr nur sei die Politik von der ökonomischen Basis abhängig, diese werde umgekehrt auch von der Politik beeinflußt: „Politik ist nicht mehr nur ein Überbauphänomen 56 ." Durch die systemstützenden Maßnahmen des Staates nehme die Politik einen „eigentümlich negativen Charakter an" 5 7 , indem sie sich zur Vermeidung von Krisen und Risiken an der Lösung technischer Fragen orientiere 5 8 . Damit gelangen w i r zu einer 52 Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie, S. 941; vgl. ferner S. 624 ff. m. w . N.; Tudyka, Kritische Politikwissenschaft, S. 18 ff. m. w . N. 53 M a r x , Z u r K r i t i k , S. 12. 54 Habermas, Technik u n d Wissenschaft als „Ideologie", S. 74. 55 Ebd. S. 75. 56 Ebd. S. 75; Hervorhebung i m Original. K r i t i k an der Gleichsetzung v o n „ P o l i t i k " m i t „Staat" bei Tudyka, Kritische Politikwissenschaft, S. 19 f. 57 Habermas, Technik u n d Wissenschaft, S. 77. 58 Ebd., S. 77 f. m. w . N.

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3. Was bedeutet „politisch" und was sind „politische Argumente"?

weiteren Besonderheit. Der parteioffizielle Marxismus-Leninismus „dient als Anleitung zum Handeln i m Klassenkampf" 5 9 . Die „Kritische Theorie" verwendet „Politik" demgegenüber als wissenschaftlich-theoretischen Begriff zum Zwecke der Erkenntnis 6 0 . Die Methode der Erkenntnis müsse dabei jedoch dem besonderen Erkenntnisgegenstand „Gesellschaft" angemessen sein. Koppele sich Politikwissenschaft statt dessen an den technologischen Politikbegriff 6 1 , so sei allenfalls die Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten zur Beherrschung sozialer Techniken möglich 62 . Dieses Vorgehen habe i n den Naturwissenschaften seine Berechtigung, zur Erkenntnis der vom Menschen hervorgebrachten Welt sei es ungeeignet 63 . Ein auf logischen Ableitungen gründender theoretischer Zusammenhang bleibe dem Gegenstand „Gesellschaft" äußerlich, weil empirische Gesetzmäßigkeiten hier prinzipiell zufällig seien 64 . Die i n den Naturwissenschaften vorausgesetzte Trennung von Objekt und erkennendem Subjekt lasse sich i n bezug auf soziale Zusammenhänge nicht durchführen, weil der Forscher dem Zusammenhang, den er erst erkennen wolle, selbst angehöre 65 . Das alles gilt, wie nach dem bisher Gesagten klar ist, auch für die Erkenntnis dessen, was Politik ist und was politisch zu t u n ist. Politik und Politisierung nährten sich aus den Widersprüchen innerhalb der Gesellschaft: „einmal zwischen Produktivkräften und ihrer Verfaßtheit, den Produktionsverhältnissen, zum anderen zwischen den gegebenen Herrschaftsverhältnissen und ihre(r) . . . Legitimation und endlich zwischen den davon erfaßten Klassen" 6 6 . Diese Gegensätze treiben nach materialistischer Vorstellung die Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens voran. Nur verlaufe dieser Prozeß nicht i n der Form empirischer Gesetzmäßigkeiten. Die Gesellschaft sei kein statischer Erkenntnisgegenstand, sie entwickle sich vielmehr i n einem dynamischen, unumkehrbaren Prozeß. Alle Erscheinungen seien historisch einmalig und deshalb nur unter Berücksichtigung der konkreten geschichtlichen Situation erkennbar 6 7 . Kritische Politikwissenschaft dürfe daher nicht nur kritiklos das Gegebene zur Kenntnis nehmen; das sei nichts weiter als eine Verdoppelung von Wirklichkeit. Sie habe stets zu fragen: Was 59

Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie, S. 738. Zutreffend Stammen, Einführung i n die Politikwissenschaft, S. 29. 61 Oben 3. bei Fn. 58. ®2 Habermas, Technik, S. 72 f., 90 f. u n d durchgehend; ders., Analytische Wissenschaftstheorie u n d D i a l e k t i k , S. 298, 301 f.; ders., Theorie u n d Praxis, S. 298 ff., 321 ff. 63 Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie u n d D i a l e k t i k , S. 292. 64 Ebd. S. 292, 296 f. w Ebd. S. 291, 293. 66 Tudyka, Kritische Politikwissenschaft, S. 21. 07 Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie, S. 296, 298. 60

3.2 Was ist ein „politisches" Argument?

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war m i t dem, was w i r heute tun und erreicht haben, einst beabsicht i g t 6 8 und inwieweit dient der gegenwärtige Stand technischer Mittel den Bedürfnissen der Menschen und deren Befreiung 69 ? Das erst ermögliche die „Einsicht i n Gewaltverhältnisse, deren Objektivität allein daher rührt, daß sie nicht durchschaut sind" 7 0 , und dann erst zeige sich, ob das Geschehene jenem entspreche, was hier und heute möglich sei 71 . W i r können das Gesagte so zusammenfassen: Die „Kritische Theorie" w i l l die Differenz erhellen, die zwischen dem tatsächlich erreichten und dem historisch möglichen Maß an Freiheit der Menschen besteht 72 . Das tatsächlich Erreichte bleibe hinter dem real Möglichen zurück: „ K r i tische Theorie" ist daher stets von dem Interesse an Befreiung geleitet. Weil dieses Interesse jede wissenschaftliche Frage leitet und die Menschheit und die sie umgebende Welt sich ständig verändern, ist das Erkennen des Abstandes zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit nicht nur eine dauerhafte Aufgabe, auch sind die Inhalte immer wieder neu und wandeln sich. Verbinden w i r dies m i t der Feststellung 73 , daß Politik als abgeleiteter Begriff den Entwicklungsprozeß der Gesellschaft widerspiegelt, so gelangen w i r zu folgender Festlegung: „Politisch" ist jede A k t i v i t ä t , die sich auf den Prozeß der Selbstverwirklichung und Befreiung der Menschen, sei es fördernd oder hindernd, bezieht 74 . 3.226 Der Politikbegriff

der Systemtheorie

Die Anführung „der" Systemtheorie i n der Überschrift darf man nicht dahin mißverstehen, als handele es sich u m ein einheitliches Lehrgebäude. Gemeint sind damit zunächst bestimmte Aufgaben 7 5 : A l l gemeine Aussagen über Systeme und die sie charakterisierenden Prozesse; Probleme der Kontrolle, Steuerung und Stabilisierung von Systemen; Dynamik und Wandel von Systemen; Theorien über den Niedergang und den Zusammenbruch von Systemen. Gegenüber dem klassischen Politikbegriff und jenem der kritischen Theorie spielt bei der Systemtheorie die inhaltliche Richtigkeit von Politik offenbar keine Rolle. Narr meint deshalb, die Perspektive der Systemtheorie sei die der Regierung 76 . 68 69 70 71 72 73 74 75 7β

Habermas, Theorie u n d Praxis, S. 303. Lenk, K., Politische Wissenschaft, S. 81. Habermas, Theorie u n d Praxis, S. 307. Tudyka, Politikwissenschaft, S. 24. Vgl. noch Massing, P o l i t i k , i n : Handbuch, S. 1094, 1097 f., 1102. Oben 3. bei Fn. 53. Vgl. Tudyka, Kritische Politikwissenschaft, S. 21. I n Anlehnung an Senghaas, Systembegriff u n d Systemanalyse, S. 176 f. Narr, Logik der Politikwissenschaft, S. 18; ferner ders., D a v i d Eastons

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3. Was bedeutet „politisch" u n d was sind „politische Argumente"?

W i e die a l l g e m e i n e K e n n z e i c h n u n g des Gegenstandes der S y s t e m t h e o r i e n a h e l e g t , w e r d e n i n erster L i n i e die Gesellschaftswissenschaften a n i h r i n t e r e s s i e r t sein. Entscheidende A n s t ö ß e k a m e n d e n n auch v o n T . Parsons f ü r die Soziologie u n d v o n D . E a s t o n f ü r d i e P o l i t o l o g i e . Daß die S y s t e m t h e o r i e auch d e n J u r i s t e n h e r a u s f o r d e r n k a n n , l i e g t dagegen n i c h t o f f e n zutage. D a z u b e d u r f t e es eines g e d a n k l i c h e n B r ü k kenschlages m i t d e m Z i e l , auch das Recht u n d seine I n s t i t u t i o n e n d u r c h die systemtheoretische B r i l l e z u b e t r a c h t e n . Diese V e r b i n d u n g h a t b e i u n s N i k l a s L u h m a n n h e r g e s t e l l t . U n t e r seinen z a h l r e i c h e n V e r ö f f e n t l i c h u n g e n b e f i n d e n sich eine Reihe v o n S t e l l u n g n a h m e n z u j u r i s t i s c h e n F r a g e n 7 7 . A u s diesem G r u n d e w o l l e n w i r u n s i n der f o l g e n d e n D a r s t e l l u n g ausschließlich m i t L u h m a n n b e s c h ä f t i g e n 7 8 . N a c h L u h m a n n müssen Systeme „ a l s I d e n t i t ä t e n b e g r i f f e n w e r d e n , die sich i n e i n e r k o m p l e x e n u n d v e r ä n d e r l i c h e n U m w e l t d u r c h S t a b i l i s i e r u n g e i n e r I n n e n / A u ß e n - D i f f e r e n z e r h a l t e n " 7 9 . L u h m a n n h a t sicher recht, w e n n er feststellt, daß diese B e s c h r e i b u n g „ ä u ß e r s t f o r m a l " s e i 8 0 . M u e l l e r n e n n t sie ideologisch: „ L u h m a n n b e s t ä t i g t u n d r e c h t f e r t i g t das bestehende Herrschaftssystem, da er k e i n e m a n d e r e n Interesse als d e m der S y s t e m e r h a l t u n g B e d e u t u n g b e i m i ß t 8 1 . " O b dieser V o r w u r f z u Systemanalyse, S. 430, 436, 442; Messelken, Politikbegriffe der modernen Soziologie, S. 128 ff.; zur Frage einer Sozialphilosophie bei Parsons vgl. R i t sert, Wissenschaftsanalyse u n d Ideologiekritik, S. 118 ff.; kritisch zu Parsons ferner Schulz, Philosophie i n der veränderten Welt, S. 182 ff.; Greven, Systemtheorie u n d Gesellschaftsanalyse, S. 253 ff., 260; Senghaas, System77 Beispielhaft seien folgende genannt: Grundrechte als Institution, 1965; begriff, S. 193. Positives Recht u n d Ideologie, ARSP 1967, 531; Funktionale Methode u n d juristische Entscheidung, A ö R 94, 1969, 1; Legitimation durch Verfahren, 1969, 2. A u f l . 1975; Rechtssoziologie, 1972; Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie u n d Rechtstheorie 2 (1972), 255; Die juristische Rechtsquellenlehre aus soziologischer Sicht, in: Soziologie. René K ö n i g zum 65. Geburtstag, 1973, 387; Rechtssystem u n d Rechtsdogmatik, 1974. 78 Z u L u h m a n n vgl. noch Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie?, S. 266; Tönnies, Reduktion v o n Komplexität, S. 74; Mueller, P o l i t i k u n d K o m m u n i k a t i o n , S. 167; Schulz, Philosophie i n der veränderten Welt, S. 189; Schmid, Niklas Luhmanns funktionalstrukturelle Systemtheorie: Eine wissenschaftliche Revolution?, PVS 70, 186; Ronge / Weihe (Hrsg.), Polit i k ohne Herrschaft?, 1976 m i t zahlreichen Literaturnachweisen; Ellwein, Regieren u n d Verwalten, S. 207 ff. 79 Luhmann, Zweckbegriff u n d Systemrationalität, S. 175. 80 Ebd. Uberhaupt macht es der Verfasser zumindest den Juristen unter seinen Lesern nicht gerade leicht, wie auch die Verärgerung Zöllners (Recht u n d Politik, S. 131 Fn. 1 letzter Absatz) über die „sprachlich unnötig schwer verständlichen Ausführungen Luhmanns" zeigt. 81 Mueller, P o l i t i k , S. 173; ähnlich kritisch Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie?, S. 266 f.; Heyen, Bedingungen einer Rekonstruktion, S. 364 f.; Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, S. 141 ff.; Schmieg, Systemanalyse, in: Handlexikon zur Politikwissenschaft, S. 445 ff.; Bubner, D i a l e k t i k u n d Wissenschaft, S. 126 f.

3.2 Was ist ein „politisches" Argument?

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trifft, ob „Erhaltung" notwendigerweise Festigung des status quo 8 2 bedeutet, ist nunmehr zu klären. Vorläufig 8 3 kann man sich ein System als einen lebenden Organismus vorstellen 8 4 . Ein solcher Organismus ist i m Innern so gegliedert, daß die Teile i m Einklang miteinander sind: er hat Struktur. Er steht aber auch i n Wechsel- und Austauschbeziehungen m i t der Umwelt und reagiert auf deren Veränderungen: er paßt sich an. Das B i l d vom Organismus versagt, wenn man nach der Substanz von sozialen Systemen fragt. Denn soziale Systeme werden „ i m Unterschied zu physischen und biologischen Systemen nur durch Sinn (und nicht durch Materie) zusammengehalten und begrenzt . . ." 8 5 . Woraus bestehen sie also? Sie bestehen aus faktischen Handlungen 8 6 . Das erklärt aber nicht, m i t welchem Recht man von System und Struktur spricht. Genau genommen geht es denn auch gar nicht u m Handlungen, sondern u m Handlungsmöglichkeiten. I n einem Chaos ist theoretisch alles möglich; i n einem System dagegen gibt es nur eine begrenzte Zahl von Möglichkeiten. Innerhalb des Systems muß man deshalb nicht mit allem rechnen: Man erwartet, daß andere sich nur i n bestimmter Weise verhalten werden. Soziale Systeme bestehen also aus Verhaltenserwartungen. Damit diese Erwartungen nicht ständig enttäuscht werden, müssen sie stabil sein. Auch wenn das erwartungsgemäße Verhalten einmal keinen Erfolg hat, w i r d man sich, sofern die Enttäuschung nicht zu einem Dauerzustand wird, beim nächsten Mal i n gleicher Weise verhalten. Diese Stabilisierung gibt dem System Struktur. Die stabilisierten Verhaltenserwartungen verbinden sich i n komplizierteren sozialen Systemen n u n nicht m i t der einzelnen Person. Wer i n der Amtsverwaltung einen Personalausweis haben möchte, erwartet von dem zuständigen Beamten ein bestimmtes Verhalten: Vorlage und Prüfung eines Antragsformulars, Einziehen von Gebühren, Ausfüllen des Ausweises, Stempeln, Vorlage zur Unterschrift usw. Man erwartet 82 Differenzierte Beurteilung bei Tönnies, Reduktion, S. 75 f.; Ryffel, Rechtssoziologie, S. 109 f.; Senghaas, Systembegriff u n d Systemanalyse, S. 195; Röhl, Das Dilemma, S. 67 ff.; Hondrich, Soziale Probleme, soziologische Theorie u n d Gesellschaftsplanung, S. 175 ff. weist darauf hin, daß i n einem solchen F a l l soziale Probleme i n einem stabilitätstheoretischen Paradigma erklärt würden. Sie könnten aber auch i n einem evolutionstheoretischen Paradigma erklärt werden, ohne daß das eine das andere ausschließe. Beide müßten sogar zu denselben Ergebnissen führen. Daß dies nicht der F a l l sei, liege an der faktischen I r r a t i o n a l i t ä t der Forschung. 83 Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 79: soziale Systeme seien nicht als Maschinen oder als Organismen zu begreifen. 84 Organismus u n d Maschine waren denn auch Vorläufer der modernen Systemtheorie, vgl. Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 38 f. 85 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 43 Fn. 11; ders., Soziologische Aufklärung, S. 117; ders., Zweckbegriff, S. 176. 86 Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 42.

4 Zinke

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3. Was bedeutet „politisch" und was sind „politische Argumente"?

dieses Verhalten aber nicht, weil man den Beamten und seine Gewohnheiten zufällig kennt. Vielmehr weiß man, daß ein Beamter i n dieser Funktion eben diese Aufgaben wahrnimmt. Wer zufällig den Posten besetzt, ist belanglos. Abstrakt gesprochen erfolgt die Stabilisierung der Verhaltenserwartungen also auf der Rollenebene: Rolle des Politikers, des Beamten, des Wählers, des Antragstellers 8 7 . Bis jetzt haben w i r nur das Innere eines sozialen Systems betrachtet. Das entspricht der herkömmlichen Vorstellung. Danach versteht man unter „System" eine erschöpfend gegliederte Einheit 8 8 . Man kann von einer ontologischen Systemvorstellung sprechen: das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile 8 9 . Habe ich den Vatikan, die Bischofssitze, die Pfarrstellen, die hierarchische Ordnung und überhaupt alles gesehen, was zur katholischen Kirche gehört, dann gibt es nichts mehr, was man m i r noch zeigen könnte. Gleichwohl ist m i t solcher Aufzählung von Einzelheiten die „katholische Kirche" nicht ausreichend beschrieben. Der immer noch machtvolle soziale und moralische Faktor „Kirche" als solcher ist etwas, das über die Summe seiner Teile hinausgeht. A n der Betrachtung nur des Innenlebens von Systemen entzündet sich Luhmanns K r i t i k . Dieses Mehr, diesen Überschuß erklärt er, mit dem Blick nach außen, als Ordnungsleistung des Systems gegenüber der Umwelt. Die Umweltbeziehung rückt damit i n den Vordergrund. Die Aufgabe von Systemen besteht — kurz gesagt — i n Folgendem: Der Mensch ist nur sehr begrenzt i n der Lage, Eindrücke zu verarbeiten, die von außen auf i h n einwirken. Ohne das System zwischen sich und der praktisch unbegrenzten Vielfalt an Möglichkeiten, welche die Umwelt „anbietet", könnte er nicht vernünftig handeln. Hier h i l f t das System, indem es Verhaltenserwartungen ausbildet und damit zugleich zahlreiche andere Handlungsmöglichkeiten als nicht zum System gehörend auszeichnet. Gehe ich i n die Kirche, so erwarte ich, daß von Gott und den Menschen die Rede ist; ich erwarte hingegen keinen Kommentar zur Entwicklung des Bruttosozialprodukts. Aus dem gleichen Grunde kann der Priester gelassen vor seine Gemeinde hintreten: Er kennt ihre Erwartungen und ist darauf eingerichtet. Damit das so bleibt und die Erwartungen nicht immer wieder enttäuscht werden, müssen die Kräfte des Systems ständig bemüht sein, dessen Bestand zu erhalten. Das ist ein schwieriges und dauerhaftes Problem, weil sich die Umwelt ohne Rücksicht auf das System ständig verändert. Bleibt deshalb die Kirche nicht bei Gott und den Menschen, dann besteht die 87

Luhmann, Soziologische A u f k l ä r u n g , S. 155 f. Engisch, Sinn u n d Tragweite, S. 186; ausführlich zum Systembegriff Buschendorf, Recht — Sinn — Glauben, S. 268 ff. m. w . N. 89 Ausführlich Luhmann, Zweckbegriff, S. 166 ff. 88

3.2 Was ist ein „politisches" Argument?

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Gefahr, daß das System seine Identität verliert und damit seinen Bestand gegenüber der Umwelt. Den Graben zwischen „innen" und „außen" zieht Luhmann m i t dem Ausdruck „Sinn" 9 0 . M i t seiner Hilfe scheidet das System m i t Blick auf die Umwelt Zugehöriges von nicht Zugehörigem. Jetzt w i r d klar, warum ich keinen Erfolg habe, wenn ich vom Pfarrer i n der Kirche Aufklärung über volkswirtschaftliche Probleme erwarte: weil es „sinn"-los wäre. Verlange ich „so etwas" von der Kirche, hält man mich für verrückt, mindestens für unverständig. Sinngerichtete Verhaltenserwartungen bildet das System i m Innern also aus als Reaktion auf Anforderungen von außen. Massengesellschaften haben nun eine unangenehme Eigenschaft: Sie kommen nicht m i t wenigen, allgemein anerkannten Verhaltenserwartungen aus. I m Gegenteil sind die Erwartungen vielfältig und widerspruchsvoll. Wenn einerseits die Bildungspolitik möglichst viele Schüler zum A b i t u r führen w i l l , wollen andererseits die Universitäten Testverfahren ersinnen, u m nur die Geeigneten passieren zu lassen. Solche Erwartungen lassen sich nicht i n einem einzigen System stabil halten, weil sie einander entgegenwirken. U m das System „handlungsfähig" zu erhalten, müssen die auseinanderstrebenden Kräfte i n eigene Systemzweige verwiesen werden. Das System muß deshalb eine zusätzliche Aufgabe erbringen, die Luhmann „Differenzierung" nennt. Differenzierung bedeutet, daß das System Untersysteme ausbildet 91 , die sich der systeminternen Teilleistung annehmen, sich dabei wiederum als System stabil halten und so fort. Bezogen auf den Staat ist etwa die Kirche auch nur Teilsystem, bildet ihrerseits wieder für Unterricht i n Schule und Hochschule, Mission, Verwaltung usw. neben der eigentlichen Hauptaufgabe Untersysteme aus. Das ist eine folgenreiche Entwicklung: W i l l ich eine Frage klären, die m i t dem Religionsunterricht zusammenhängt, so gehe ich nicht zur „Kirche", sondern zur „Verwaltung". Obwohl fraglos eine Teilaufgabe der Kirche betroffen ist, begegne ich der „Kirche" nicht, sondern gleich dem Untersystem „Verwaltung". Wendet man diesen Gedanken auf die Gesellschaft als System an, so liegt die Konsequenz auf der Hand: Schon auf begrifflicher Ebene begegnet uns die „Gesellschaft" i n der Form von Untersystemen. Innen/ Außen-Differenzierung und Sinnzusammenhang bewirken, daß jedes System eine relative Selbständigkeit gewinnt.

90 Luhmann, Zweckbegriff, S. 176; ders., Soziologische Aufklärung, S. 115; ders., Sinn als Grundbegriff der Soziologie, i n : Habermas / Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie?, S. 25 ff. 91 Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 123 ff., 148 ff.

4*

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3. Was bedeutet „politisch" und was sind „politische Argumente"?

Das alles gilt auch für das politische System. Seine Aufgabe ist es, allgemein verbindliche Entscheidungen herzustellen 92 . Die Folge ist aber: Politisches Handeln hat seine zentrale Bedeutung für die Gesellschaft verloren; denn Politik hat ihren Platz nicht mehr an der Spitze einer vertikalen, sondern einen Platz zwischen anderen Funktionen i n einer horizontalen Gliederung. Weil ferner das politische wie jedes andere System und Untersystem gezwungen ist, eigene und keineswegs unverrückbare Gebote des Verhaltens aufzustellen, gibt es nicht die „gute", die „richtige" Politik, und sie „kann nicht mehr als richtige Politik von der Gesellschaft dem Staate abverlangt werden . . ," 9 3 . Die sogenannte „Festigung des status quo" t r i f f t als V o r w u r f die Theorie Luhmanns also nicht unmittelbar. I m Gegenteil gewährleistet die ständige Aufgabe, sich anpassen zu müssen und die Suche nach Ersatzlösungen 94 ein hohes Maß an Beweglichkeit. Der V o r w u r f ist aber insofern berechtigt, als die Frage nach den Maßstäben rein opportunistisch, sozusagen der Not des Augenblicks gehorchend, beantwortet wird. „Politik" ist somit die Aufgabe, solche allgemeinverbindlichen Regeln des Verhaltens festzulegen, die den Bestand des Staates und seine Anpassungsfähigkeit an die Umwelt sichern. 3.23 Ergebnis und Folgerung

Die Absicht war herauszufinden, was Politik kennzeichnet. Ist dieses Ziel nähergerückt? Wie es scheint, kann man unter Politik verschiedenartige Dinge verstehen, so verschieden, daß sie sich nicht unter einem gemeinsamen Begriff zusammengreifen lassen. Sieht man hin, wie die Begriffe Zustandekommen, so verwundert diese Vielfalt nicht. Die angeführten Autoren gehen von unterschiedlichen Weltbildern aus, sie stellen Fragen, die notwendig zu abweichenden Antworten führen müssen. Zielt die Frage darauf ab, die „gute" und damit auch zugleich „richtige" Herrschaftsordnung zu ermitteln, dann ist das Verhältnis einer solchen Theorie zum Staat und seinen Institutionen i m Grundsatz positiv. Ist leitendes Interesse dagegen die Befreiung der Menschen aus nach ihrer Meinung nicht notwendigen Zwängen, so ist das Verhältnis der Theorie zum Staat und seinen Institutionen grundsätzlich kritisch. Entsprechend unterschiedlich ist das, was die Theorien als „Politik" i n ihren Blick nehmen. Der je verwendete Begriff ist also das Ergebnis einer mehrfachen Abstraktion 9 5 : Aus ihrem Gegenstandsbereich hebt die Theorie vermittels einer 92 93 94

Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 159. Luhmann, Politikbegriffe u n d die „Politisierung" der Verwaltung, S. 219. Vgl. Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 32 ff.

3.2 Was ist ein „politisches" Argument?

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eigenen Frage bestimmte Erscheinungen heraus. Die Erkenntnis, daß es sich u m eine Abstraktion handelt, verbietet es, sie m i t der Wirklichkeit gleichzusetzen. Aber nicht nur das: Auch die Suche nach einem vorgegebenen, allgemeingültigen Politikbegriff müssen w i r aufgeben. Der Meinung, Politik sei i n einer einheitlichen Definition umschreibbar 96 , können w i r nicht beipflichten. Vielmehr hat Luhmann recht mit seiner Feststellung: „Die alte Diskussion u m das „Wesen" des Politischen ist ergebnislos abgebrochen worden 9 7 ." Politikbegriffe sind stets das Ergebnis eigener wissenschaftlicher Bemühung 9 8 , und sie sind von dem konkreten Zusammenhang abhängig, i n dem sie je verwendet werden 9 9 . Wenn das aber so ist, dann ist vorgezeichnet, was nunmehr zu t u n sein wird: W i r müssen herausbringen, ob w i r der Gegenmeinung innerhalb der Jurisprudenz 1 0 0 einen der dargestellten Politikbegriffe zuordnen können. 3.24 Ein gemeinsames Merkmal der Politikbegriffe

Es war so viel von den Unterschieden zwischen den Politikbegriffen die Rede, daß darüber ihre Gemeinsamkeiten fast vergessen worden sind. Die auffälligste Gemeinsamkeit ist diese: Politik ist stets eine Form öffentlichen Handelns, das sich m i t dem Zustand und der Entwicklung des Staates und seinen Unterorganisationen und Institutionen, den Verbänden, den Gruppen bis zur Familie, kurz: den Formen menschlichen Zusammenlebens beschäftigt. Das läßt sich durch einen Blick auf den Meinungsstand rasch belegen: Max Weber hat Politik als Machtstreben bezeichnet. Der Zustand läßt sich dadurch kennzeichnen, daß i n i h m fremder Wille für das eigene Handeln mitbestimmend ist; denn „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen" 101 . — Für Carl Schmitt bestimmt der nicht weiter zurückführbare Gegensatz von Freund und Feind das Politische. Politik ziele auf eine Situation, i n der eine Gesamtheit von Menschen die eigene A r t von Leben, die eigene A r t von Existenz bewahren könne 1 0 2 . Dies geschehe notfalls durch Kampf, so daß die reale Möglichkeit dieses Kampfes das Verhalten bestimme. 95

Vgl. Narr, L o g i k der Politikwissenschaft, S. 9. Scheuner, Das Wesen des Staates u n d der Begriff des Politischen, S. 248; Reding, Politische E t h i k , S. 80 ff. (dort auch Gegenmeinungen). 97 Luhmann, Politikbegriffe u n d die „Politisierung" der Verwaltung, S. 211. 98 E i n anschauliches Beispiel bei Hättich, Politikwissenschaft, S. 21 ff. 99 Grewe, Z u m Begriff der politischen Partei, S. 78. 100 Oben 1.2.22. ιοί Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 38. 96

102

Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 8 ff.

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3. Was bedeutet „politisch" und was sind „politische Argumente"?

Für Luhmann ist die unüberblickbare, unkontrollierbare Umwelt das Problem menschlichen Erlebens und Handelns. Zweck der Systembildung ist für ihn, diese Vielfalt abzubauen, so daß sinnvolles Handeln möglich werde 1 0 3 . Das Ziel ist also ein Zustand, i n dem die Menschen nicht „ m i t allem rechnen" müssen, sondern ihre Entscheidungen schon auf eine Vorauswahl stützen können 1 0 4 . Der kritischen Theorie geht es u m die Aufhebung von Zwängen. Herzustellen seien Verhältnisse, i n denen ein „zwanglos-dialogisches Zusammenhandeln aller Menschen" möglich sei 1 0 5 . — „Praktische" Polit i k schließlich denkt über das Wesen und den Sinn staatlicher Ordnung nach. Hieraus ergeben sich konkrete politisch-soziale Ordnungsvorstellungen. Diese müßten der moralisch-geistigen Natur des Menschen gemäß sein. Herzustellen sei eine Ordnung, i n der das „gute tugendhafte Leben" möglich sei 1 0 6 . I n der Tat besteht also, wenn auch erst auf einer hohen Ebene der Abstraktion, eine gemeinsame Grundlage bei allen Politikbegriffen. A u f dieser Grundlage müssen auch die K r i t i k e r stehen, weil anders ihre Meinung i n den Politikbegriffen nicht auffindbar wäre. Das ist der Fall; denn ihnen allen geht es u m die Veränderung der „Gesellschaft". Gesellschaft, dieses „bleiche A b s t r a k t u m " 1 0 7 , bezeichnet für uns seit der Neuzeit den Umstand, daß sich der Lebensprozeß der Menschen öffentlich vollzieht — abzuheben vom „Privaten", das nur noch als I n t i m sphäre begriffen w i r d 1 0 8 . Dieses öffentliche Leben ist nicht nur durch äußere Umstände beeinflußt, sondern maßgeblich durch soziale Normen, Gruppeninteressen und Wertvorstellungen 1 0 9 . Beides finden w i r i n den Zielen, die uns die K r i t i k e r nennen 1 1 0 . Es geht ihnen darum, die soziale Demokratie zu verwirklichen, die öffentlichen Angelegenheiten und die zwischenmenschlichen Beziehungen zu gestalten, den Sozialstaat zu verwirklichen und soziale Konflikte zu lösen.

103

Oben 1.3.226. 104 v g l Tönnies, Reduktion von Komplexität, S. 65 f. los Tudyka, Kritische Politikwissenschaft, S. 21. 106

Oberndörfer, P o l i t i k als praktische Wissenschaft, S. 147. Sternberger, F A Z v. 17.1.1979, S. 1. 108 Aufschlußreich Arendt, V i t a activa, S. 38 ff. 109 Noll, Die N o r m a t i v i t ä t als rechtsanthropologisches Grundphänomen, S. 125 ff., 129, 131 f.; Lenk, K., Politische Wissenschaft, S. 25; Reding, Politische Ethik, S. 156; Riegel, Recht, i n : H a n d l e x i k o n zur Rechtswissenschaft, S. 308 f. 110 Oben 1.2.22. 107

3.2 Was ist ein „politisches" Argument?

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3.25 Können wir von einem einheitlichen, einstufigen Begriff der Handlung ausgehen?

I n die Freude, daß die Suche nach dem Politikverständnis unserer K r i t i k e r ein Stück vorangekommen ist, mischt sich alsbald Skepsis: Denn eine Gemeinsamkeit i n den Politikbegriffen und den Auffassungen der Justizkritiker haben w i r zwar gefunden. Ist das aber eine einheitliche Grundlage? Sehen w i r genauer auf das, wovon sie reden: Gestalten, verändern, Rechtsanwendung als Instrument, Grundgesetz als „konstruktiver Aktionsrahmen", Steuerung, Planung usw. Daneben nennen sie uns die Ziele, die sie anstreben: Freiheit, menschenwürdige Existenz, Gleichberechtigung 111 . Die zuerst genannten Ausdrücke verweisen auf ein „technisches" Verhalten, die übrigen bezeichnen Werte. Beide Gruppen von Merkmalen fließen zwar i m alltäglichen Handeln fast ununterscheidbar zusammen. Sachaussage und Wertung, Zweck- und Mittelwahl sind eng verbunden 1 1 2 . Gleichwohl w i r d behauptet, zwischen ihnen bestehe eine Rangfolge. Daraus ergibt sich eine noch zu beantwortende Frage. Bis jetzt konnten w i r davon ausgehen, es nur m i t einem Begriff zu t u n zu haben und m i t nur einem Begriff arbeiten zu können. Begriffe sollen m i t Hilfe der ihnen zugeordneten Merkmale „das Chaos von Eindrücken sprachlich ordnen" 1 1 3 . Vorrangbeziehungen erfordern dagegen einen Maßstab. Maßstäbe aber sind keine Merkmale; sie sind nicht i m Wege eines ordnenden Zusammengriffs erkennbar, sondern von außen an Merkmale anzulegen. Trifft es daher zu, daß zwischen den Gruppen von Merkmalen Vorrangbeziehungen bestehen, dann bedarf es dafür je eines eigenen Begriffs von „Handlung" .Um diese Frage zu klären, wollen w i r von einem Beispiel ausgehen; es soll die folgende Darstellung begleiten. Erinnern w i r uns an die Diskussion u m den Bau von Kernkraftwerken: „ W i r brauchen sie, weil i n der Energieversorgung sonst eine Lücke entsteht", sagen die einen. „Kernkraftwerke sind inhuman, sie sind eine Bedrohung für die Menschheit und ihr Politiker dürft nicht gegen unsere Interessen und gegen unseren Willen handeln", sagen die anderen. Dieser Gegensatz bezeichnet zugleich Grundpositionen der Technokratie- und Planungsdiskussion. I m einen Fall ist das die sogenannte „Technokratiethese": Die gegenseitige Abhängigkeit und Verknüpfung der technischen Welt wirken auch auf Gesellschaft und Politik ein: Wissenschaft und Technik entwickeln sich nach A r t eines naturgesetz111

Oben 1.2.22. Albert, A u f k l ä r u n g u n d Steuerung, S. 91 ff., 161; Luhmann, Zweckbegriff u n d Systemrationalität, S. 21 ff. 113 Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, S. 73. 112

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3. Was bedeutet „politisch" und was sind „politische Argumente"?

liehen Prozesses, und Politik besteht i n der Anpassung an die technischen Sachzwänge 114 . Die Gegenmeinung lehnt diesen beherrschenden Einfluß technischer Sachzwänge ab und stellt neben das „technische" Verhalten ein davon getrenntes, auf Verständigung beruhendes Handeln 1 1 5 . Beide Positionen schließen einander aus, wenn sie i m Einzelfall als Gegensätze auftreten. Daß dies nicht nur eine akademische Formel ist, haben uns die Auseinandersetzungen u m die Kernkraftwerke i n Brokdorf und i n Grohnde gelehrt. A n der Diskussion interessiert hier nur die Frage, ob sich aus ihr Konsequenzen ergeben, die es verbieten, den Politikvorstellungen einen einheitlichen Handlungsbegriff gewissermaßen „überzustülpen" 1 1 6 . 3.251 Der zweistufige Handlungsbegriff

bei Habermas

Den Gegensatz, der sich i n der Kontroverse zwischen Befürwortern und Gegnern der Atomkraftwerke ausdrückt, bezeichnet Habermas 1 1 7 mit der Unterscheidung zweier Handlungstypen: „Arbeit" und „Interaktion". „Arbeit" gehorche technischen Regeln und basiere auf empirischem Wissen. Ihr Ziel sei es, die technische Verfügungsgewalt auszudehnen. Sie bediene sich dabei einer „kontextfreien" Sprache 118 . Das meint wohl eine Sprache wie die der Wissenschaft und Technik, deren Verwendungsregeln unabhängig davon festliegen, wer die Sprache benutzt und bei welcher Gelegenheit dies geschieht. Dem stellt er die durch Alltagssprache vermittelte „Interaktion" gegenüber. „Interaktion" bedeutet Handeln i n bezug auf einen anderen Handelnden. Die Grundlage dieses Handelns seien Verständigung und allgemeine Anerkennung. Interaktion bediene sich der Umgangssprache, und ihr Ziel sei herrschaftsfreie Diskussion der Menschen 119 . Anhand dieser Handlungstypen lassen sich nach Habermas gesellschaftliche Systeme danach unterscheiden, ob i n ihnen „Arbeit" oder „Interaktion" überwiegt 1 2 0 . Wenn staatliche Tätigkeit sich an der „ A r 114 Dazu Glaser, Soziales u n d instrumentales Handeln, S. 67 ff. m. w . N.; Krauch, Die organisierte Forschung, S. 27 ff.; Schuon, Wissenschaft u n d Polit i k i m Spätkapitalismus, S. 115 ff. m. w . N. 115 Näheres sogleich. 118 Die Diskussion ist keineswegs neu. Sie hat eine lange philosophische Tradition u n d k n ü p f t an Unterscheidungen an, die sich schon bei Aristoteles finden. Das k a n n hier nicht dargestellt werden; verwiesen sei deshalb auf Gadamer, Wahrheit u n d Methode, S. 295 ff. 117 Habermas, Technik u n d Wissenschaft als „Ideologie", S. 48 ff. 118 Ebd. S. 62 ff., 72 f. 119 Ebd. S. 62 ff., 91, 98 f. 120 Ebd. S. 63.

3.2 Was ist ein „politisches" Argument?

57

beit" orientiere, dann würden die „praktischen" Fragen ausgeschieden 1 2 1 . Denn die Lösung „technischer" Fragen sei nicht auf öffentliche Diskussion angewiesen. Die Folge sei eine Entpolitisierung der Bevölkerung 1 2 2 . Den Segen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts leugnet Habermas zwar nicht; er könne durchaus zur Befreiung der Menschen beitragen. Allerdings sei das nur dann der Fall, wenn er nicht die öffentliche, uneingeschränkte und herrschaftsfreie Diskussion darüber verdränge, was angemessen und wünschbar sei 1 2 3 . Daraus ergibt sich ein Vorrang der „Interaktion": Die „Technik" komme erst zum Zuge, wenn zuvor Einverständnis über die Ziele bestehe, die es zu erreichen gelte 1 2 4 . Ob also das Schließen der drohenden Energielücke ein Ziel ist, das den Bau von Kernkraftwerken rechtfertigt, ist zunächst durch öffentliche Diskussion zu ermitteln, nicht aber rechtfertigt diese Tatsache für sich schon den Bau. W i r haben es also mit einem zweistufigen Handlungsbegriff zu tun, wobei beide Stufen i n einem Rangverhältnis zueinander stehen. 3.252 Die Möglichkeit

eines einheitlichen

Handlungsbegriffs

Ist diese Rangfolge zwingend? Die ausführlichere Darstellung von Habermas' Auffassung sollte zeigen, daß dem nicht so ist. Sie folgt aus der Annahme, daß die Zwänge der technischen Welt eine freie Diskussion verhindern und sie verzerren, so daß beide Bereiche zu trennen sind. Die herrschaftsfreie Diskussion zur Voraussetzung für technisches Handeln zu machen, ist aber nur möglich durch einen nicht unproblematischen Vorgriff. Dieser Vorgriff besteht einmal i n der Annahme, daß freie und unverzerrte Diskussion überhaupt möglich ist. Das ist schon fraglich i n einer industriellen Massengesellschaft. Ferner steckt darin die Annahme, daß technisch alles machbar und möglich ist, was freie Diskussion als wünschbar formuliert 1 2 5 . Dieser „Vorgriff" hat der K r i t i k nicht standgehalten. Entscheidend ist, daß beide Annahmen die Wirklichkeit verfehlen. Weder ist eine „unverzerrte" Diskussion möglich, noch vermag Einigkeit irgendetwas an technischen Notwendigkeiten zu ändern. So ist der künftige Engpaß i n der Energieversorgung nicht durch Diskussion darüber zu beseitigen, 121

Ebd. S. 77 f. m. w . N. Ebd. S. 78. 123 Ebd. S. 56 f. unter Hinweis auf A r n o l d Gehlen, 98. 124 v g l . Kopperschmidt, Allgemeine Rhetorik, S. 35; ferner Glaser, Soziales u n d instrumentales Handeln, S. 127 ff.; zu den verschiedenen Ansätzen, m i t denen Habermas dies begründet, vgl. Technik u n d Wissenschaft als „Ideologie", S. 120 ff., 146 ff. Das Problem steckt i n der K l u f t zwischen Fakten u n d Werten. Ist ζ. B. eine k o l l e k t i v e W e r t e r m i t t l u n g möglich? Knapper Überblick bei Lau, Theorien gesellschaftlicher Planung, S. 115 ff. m. w . N. 122

125

Glaser, Soziales u n d instrumentales Handeln, S. 12 m. w . N.

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3. Was bedeutet „politisch" und was sind „politische Argumente"?

ob Kernkraftwerke gebaut werden oder nicht: Weder das eine noch das andere ist ein Ergebnis unverzerrten Einverständnisses. Es handelt sich lediglich u m Annahmen und Postulate, die real nicht vorfindbar und vermutlich auch nicht realisierbar sind 1 2 6 . Damit entfällt die Notwendigkeit, beide Formen des Handelns zu trennen. Man kann das zwar t u n — aber man muß es nicht. Daneben bleiben Handlungstypen denkbar, die ohne Trennung auskommen 127 , und es besteht keine Notwendigkeit, von der Verwendung eines einheitlichen Handlungsbegriffs abzusehen. 3.26 Der Politikbegriff der Justizkritiker: ein Vergleich der von den Kritikern genannten Merkmale mit den Politikbegriffen

Nach der Klärung des Handlungsbegriffs wollen w i r die Suche nach dem Begriff der „Politik" fortsetzen und an die Feststellung anknüpfen, allen Meinungen sei das Verständnis von „Politik" als einer Form öffentlichen Handelns gemeinsam 128 . A n dieser Grundlage können w i r festhalten; denn die von uns gesuchten Merkmale sind einem einheitlichen Begriff zuzuordnen, wie die voraufgegangenen Überlegungen gezeigt haben. Der einfachste Weg w i r d sein, nacheinander jene A u f fassungen über Politik auszuscheiden, die m i t dem, was die K r i t i k e r wollen, nicht übereinstimmen. A u f diese Weise, so dürfen w i r hoffen, bleibt am Ende der zutreffende Begriff übrig. 3.261 Max Weber und Carl Schmitt Politik ist für Max Weber Streben nach Macht. Macht aber entzieht sich als eine gestaltlose Größe 1 2 9 jeder Zuordnung zu Eigenschaften wie frei, demokratisch oder sozial 1 3 0 : I n der Tyrannei gibt es Macht ebenso wie i n der Demokratie. Wer inhaltlich bestimmte Ziele verfolgt wie unsere K r i t i k e r , kann m i t einem wertneutralen Begriff wie dem Max Webers nichts anfangen: Der Begriff ist formalistisch, technisch und instrumental; die Ziele fallen aus diesem Verständnis heraus, w e i l es beliebige Ziele sind, denen das eigentlich Politische dient. — Carl 129 Luhmann, Systemtheoretische Argumentation, S. 291 ff.; Jäger, Öffentlichkeit und Parlamentarismus, S. 69 ff. m. w . N.; ders., Repräsentative Demokratie oder Gelehrtenrepublik?, S. 50 ff. m . w . N.; Glaser, Handeln, S. 185 f.; Bollnow, Das Doppelgesicht der Wahrheit, S. 64 ff. m. w . N.; Schulz, Philosophie i n der veränderten Welt, S. 172 f. m. w . N. 127 Vgl. etwa Glaser, Handeln, S. 192 ff.; Narr, Systemzwang als neue Kategorie i n Wissenschaft u n d P o l i t i k , S. 243 f. 128 Oben 1.3.24. 129 Weber, Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 38. wo v g l . Mommsen, Z u m Verhältnis v o n politischer Wissenschaft u n d Geschichtswissenschaft i n Deutschland, S. 303.

3.2 Was ist ein „politisches" Argument?

59

Schmitt kennzeichnet das Politische durch den Gegensatz von Freund und Feind. Dazu läßt sich das Gleiche sagen, wie soeben über die „Macht" bei Max Weber: Auch hier ist eine Zuordnung zu bestimmten Inhalten nicht möglich. Schmitt selbst hat das klar erkannt: Es gebe keinen spezifischen Inhalt des Politischen 131 , und es sei ein I r r t u m anzunehmen, „daß das Politische eine eigene Substanz neben anderen Substanzen „sozialer Assoziationen" bedeute, daß es neben Religion, Wirtschaft, Sprache, K u l t u r und Recht einen besonderen Gehalt darstelle" 1 3 2 . 3.262

Luhmann

Erinnern wollen w i r zunächst daran, welche Ziele die Justizkritiker anstreben 133 . Sie nennen uns Eigenschaften wie „freiheitlich", „demokratisch" und „sozial". Was kennzeichnet sie? Die A n t w o r t fällt leichter, wenn man ihnen eine andere Gruppe von politischen Zielen gegenüberstellt: Uberleben, Stabilität, Gleichgewicht 134 . Jetzt w i r d deutlich, daß die erste Gruppe die einzelnen Menschen i m Auge hat: Sie sollen frei sein, demokratische Rechte besitzen und i n menschenwürdigen Verhältnissen leben. Die andere Gruppe bezeichnet Merkmale, die man nicht den Individuen, sondern den überindividuellen Verbänden zuschreibt, i n Sonderheit der Gesellschaft: Sie sollen überleben, stabil und i m Gleichgewicht sein. Überprüft man anhand dieses gedanklichen „Rasters" die Systemtheorie Luhmanns, so ergibt sich folgendes: Das „System", der zentrale Begriff der Theorie, w i r d als Verbund sinngerichteter Verhaltenserwartungen beschrieben. A n diesem Punkt verbindet sich das „System" also m i t den Erwartungen der Menschen. Die Frage nach dem Inhalt dieser Erwartungen stellt die Theorie allerdings nicht. Vielmehr w i l l sie wissen, welche Funktion die Erwartungen haben. Schon an diesem Punkt können w i r also feststellen, daß die Systemtheorie die Erkenntnisinteressen unserer Bezugsgruppe, die sich ausdrücklich auf die Inhalte bezieht, verfehlt. Die Feststellung bestätigt sich, wenn man die Frage nach der Funktion weiterverfolgt: Verhaltenserwartungen können ein Störfaktor sein, wenn sie enttäuscht werden; umgekehrt führt ihre Bestätigung zur Verfestigung des Systems. A n diesem Punkt stoßen w i r auf den Begriff „Sinn". Er sorgt dafür, daß möglichst keine störenden Einflüsse von außen das Innere des Systems durcheinanderbringen. A n die Stelle von „gut/böse" ist also„störend/nichtstörend" 181 132 133 134

Schmitt, Positionen u n d Begriffe, S. 140 f. Ebd. S. 140; Hervorhebung i m Original. Oben 1.2.22. Vgl. Greven, Systemtheorie u n d Gesellschaftsanalyse, S. 260 ff. m. w . N.

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3. Was bedeutet „politisch" und was sind „politische Argumente"?

als Unterscheidungsmerkmal getreten, wenn es u m die Frage geht, was zu t u n ist. Damit ergibt sich: Die Systemtheorie nimmt an keiner Stelle die Frage nach inhaltlicher Richtigkeit auf. Sie hat statt dessen den Bestand und die Erhaltung des Systems i m Auge. Damit geraten ihr zugleich die individuelle Freiheit und die sozialen Fragen aus dem Blick. Der Politikbegriff der Systemtheorie kann daher nicht der gleiche sein, den unsere K r i t i k e r meinen. Wer m i t dem „politischen Juristen" die Vorstellung verbindet, ein solcher Jurist müsse über Forderungen nachdenken, die zum Besten der Mitglieder der Gesellschaft für alles soziale Handeln verbindlich sein sollen, der w i r d diesen Juristen bei Luhmann nicht finden 1 3 5 . 3.263 „Klassische Politik"

und „Kritische

Theorie"

Der Mangel an politischen Inhalten wie bei „System", „Macht" und „Freund-Feind-Verhältnis" wiederholt sich beim „klassischen" und „kritischen" Politikverständnis nicht. Beide sind auf Inhalte bezogen, die sich mit den einzelnen Menschen verbinden: Die „klassische" Richtung koppelt die Frage nach dem Rechten und Guten an die Frage nach der rechten Herrschaftsordnung 136 : „denn mehr als alles andere entscheidet der Modus der Herrschaftsausübung über die Möglichkeit des guten Lebens" 1 3 7 , und für die „kritische" Theorie ergibt sich eine inhaltliche Bindung aus ihrer Absicht, die Menschen aus historisch überholten Zwängen zu befreien. Doch welchem Lager müssen w i r die Justizkritiker zuordnen? Nach welchem Merkmal können w i r diese Frage entscheiden? Bis jetzt war es möglich, die Politikbegriffe anhand der Inhalte zu scheiden. Die Frage war also: Was wollen die Kritiker? Wenn aber diese Frage nach dem „was" nicht mehr weiterführt, so liegt es nahe, nunmehr nach dem „wie" zu fragen. Wie also finden die K r i t i k e r heraus, ob eine Entscheidung den Menschen mehr Freiheit, mehr Demokratie, mehr Sozialstaatlichkeit bringt? Sehen w i r zunächst auf die A n t worten, die sie selber geben: Da heißt es, idealistische Wertsysteme seien irrational 1 3 8 , und die Rechtswissenschaft habe keine Endzwecke vor Augen 1 3 9 , Wertvorstellungen seien veränderbar 1 4 0 , und politische 135

Zutreffend hierzu Ollero, Die technokratische F u n k t i o n des Rechts i n der Systemtheorie v o n Niklas Luhmann, S. 133 ff. 136 Oberndörfer, P o l i t i k als praktische Wissenschaft, S. 147. 137 Hennis, Bemerkungen zur wissenschaftsgeschichtlichen Situation der politischen Wissenschaften, S. 123. 138 w i e t h ö l t e r , Anforderungen, S. 13. 139 140

Ders., Z u r politischen Einschätzung, S. 241. Schmidt, Normzweck u n d Zweckprogramm, S. 150, 166 A n m . 80.

3.2 Was ist ein „politisches" Argument?

61

Entscheidungen folgten nicht allein logischen Schlußfolgerungen 141 . Und immer geht es u m die Beachtung der Entscheidungsfolgen 142 . Die Antworten helfen uns noch nicht weiter: denn was sind Werte und was ist ein Wertsystem? A n welche Alternative denken die K r i tiker, wenn sie sich gegen logische Schlußfolgerungen wenden? Sehen w i r uns deshalb diese Fragen zunächst etwas genauer an: 3.263.1 Werte, Wertsystem, Folgendiskussion Das Bundesverfassungsgericht hatte zu entscheiden, ob es verfassungswidrig ist, wenn der Schwangerschaftsabbruch i n den ersten 13 Tagen bzw. unter bestimmten Voraussetzungen i n den ersten 12 Wochen nach der Empfängnis straffrei bleibt 1 4 3 . Die Entscheidung hing nach Meinung des Gerichts u. a. von der Auslegung des A r t . 2 I I 1 GG ab. Den Rechtssatz, „jeder" i. S. dieser Vorschrift sei auch das i m Mutterleib sich entwickelnde Leben, begründet das Gericht wie folgt: „Die Sicherung der menschlichen Existenz gegenüber staatlichen Übergriffen wäre unvollständig, wenn sie nicht auch die Vorstufe des »fertigen Lebens', das ungeborene Leben, umfaßte 1 4 4 ." Was erreicht das Gericht m i t dieser Begründung? Ihre Funktion besteht darin, die Alternative von mehreren denkbaren menschlichen Verhaltensweisen entscheidbar zu machen. Grundlage ist dabei ein Wert, nämlich das Leben. Werte lassen sich also bestimmen als Gesichtspunkte des Vorziehens und Nachsetzens von Wirkungen 1 4 5 . Warum aber fällt eine Entscheidung so und nicht anders aus? Die Frage ist deshalb schwierig zu beantworten, weil der Mensch i n konkrete soziale Beziehungen eingewoben ist und i n diesem sich ständig verändernden Umfeld handeln muß. I m Urteil über die Verfassungsmäßigkeit des geänderten Straftatbestandes der Abtreibung 1 4 6 hat das Bundesverfassungsgericht Situationen als positiv ausgezeichnet, i n denen die Pflicht des Staates besteht, einen möglichst weitgehenden Schutz des menschlichen Lebens, sogar des ungeborenen, zu gewährleisten. Als i m Herbst 1977 H. M. Schleyer entführt wurde, u m gegen inhaftierte Terroristen ausgetauscht zu werden, stand auch die Pflicht staat141

Wassermann, Der politische Richter, S. 22. Oben 2. Fn. 66, 74, 91, 97, 101. 143 B V e r f G N J W 75, 573 = BVerfGE 39, 1. 144 N J W 75, 575; Hervorhebimg i m Original. 145 K r a f t , Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre, S. 17, 22, 67; Luhmann, Zweckbegriff, S. 36; Podlech, Wertungen u n d Werte, S. 195 f. m. w . N.; s. a. Stern, Geschichtsphilosophie, S. 120 ff. 146 Oben 3. Fn. 143. 142

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3. Was bedeutet „politisch" und was sind „politische Argumente"?

licher Gewalten, der Regierungen des Bundes und einiger Länder, i n Frage, Leben zu schützen. I m Ergebnis fiel die tragische Entscheidung bekanntlich gegen das Leben des Entführten. Das Bundesverfassungsgericht hat i n dieser Lage den Erlaß einer einstweiligen Anordnung verweigert, m i t deren Hilfe der Austausch Schleyers erzwungen werden sollte 1 4 7 . Werte allein, so lehrt das Beispiel, verhelfen noch nicht zu einer Entscheidung 148 . Denn Werte bezeichnen zwar eine bestimmte Hinsicht der Schätzung von Wirkungen. Sie sind jedoch vom aktuellen Erleben losgelöst 149 . Und konkrete Situationen sind nicht unter je gleichen Hinsichten erlebbar. Die möglichen Wirkungen von Handlungen berühren jeweils ganz unterschiedliche Werte. Konkretes Handeln führt somit i n ein Wertedilemma 1 5 0 . I n dieser Situation muß sich der Handelnde entscheiden. Theoretisch gibt es zwei Möglichkeiten, wie er das t u n kann: Die Lösung ist einmal denkbar m i t Hilfe eines Wertesystems bzw. einer Wertehierarchie 151 , ein Gedanke, den w i r vor allem i n der langen Geschichte des Naturrechts wiederfinden 1 5 2 . Auch Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts deuten i n diese Richtung. Danach hat „das Grundgesetz . . . i n seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet" 1 5 3 . Von dieser Wertordnung sagt das Gericht, sie sei „zugleich eine Wertrangordnung" 1 5 4 . Entscheidungen sind hier nur „von oben her" möglich, und zwar durch einen Blick auf diese Rangordnung: Das Entscheidungsproblem ist i n Wahrheit ein Erkenntnisproblem 1 5 5 . Eine andere Entscheidungshilfe bietet das „Zweck-Mittel-Schema" 1 5 6 . Es blickt nicht „nach oben", löst sich nicht aus dem Kausalzusammenhang einer Situation. I m konkreten Einzelfall w i r d der Zweck „gesetzt". Erst dadurch werden die betroffenen Werte i n eine Ordnung gebracht, indem man festlegt: Diese Wirkung ziehe ich den übrigen Wirkungen vor. 147

Β Ver f G N J W 77, 2255. Siehe auch Podlech, Wertungen u n d Werte, S. 208. 149 Luhmann, Zweckbegriff, S. 36. 150 Luhmann, Zweckbegriff, S. 35 ff.; ders., Wahrheit u n d Ideologie, S. 436 ff., 444 f. 151 Näheres bei Luhmann, Zweckbegriff, S. 37 ff. 152 v g L etwa Winters, Naturrecht, in: Handlexikon zur Rechtswissenschaft, S. 269 ff. m. w . N. 163 BVerfGE 7, 198, 205; ferner z. B. JZ 73, 662, 664; N J W 75, 573, 574 f., 582. 154 BVerfGE 7, 215; Hervorhebung i m Original; ferner etwa BVerfGE 21, 362, 372; ablehnende K r i t i k bei Müller, Juristische Methodik, S. 48 f. m. w . N. 155 Brockard, Zweck, in: Handbuch, S. 1820. 156 Luhmann, Zweckbegriff, S. 37, 42 ff. 148

3.2 Was ist ein „politisches" Argument?

63

Wie diese beiden Wege praktisch aussehen und wie beide Entscheidungsmuster zu abweichenden Ergebnissen gelangen können, läßt sich wiederum an den Entscheidungen über den Schwangerschaftsabbruch und die Entführung ablesen. Der Ausgangspunkt der Argumentation des BVerfG lautet: „Das menschliche Leben stellt . . . einen Höchstwert dar 1 5 7 ." Eine Bedrohung dieses Wertes löst eine negative Stellungnahme, seine Förderung eine positive Auszeichnung aus. Das Werturteil kann man aufgrund seiner begrifflichen Allgemeinheit mit verschiedenen Gegenständen, ζ. B. mit verschiedenen denkbaren Wirkungen, verbinden 1 5 8 . Voraussetzung für eine logisch abgeleitete Auszeichnung wäre nun, daß solche künftigen Zustände als sachlichen Gehalt eine Bedrohung des Höchstwertes aufweisen und damit eine Beschaffenheit, deren negative Auszeichnung schon feststeht 159 . Sowohl beim grundsätzlich straffreien Schwangerschaftsabbruch wie auch i n der Situation des Entführten ist eine solche Bedrohung des Höchstwertes vorhanden. Die negative Beurteilung dieses Zustandes, abgeleitet aus einer Wertrangordnung, an deren Spitze das Leben steht, forderte als Konsequenz den Schutz des Wertes, als Handlung also das Verbot der Schwangerschaftsunterbrechung und den Austausch des Entführten. Das alles gilt aber nur, wenn man von einem System ausgeht. Die Entscheidung über das, was zu t u n sei, fällt dann i m System. Anders ist es dagegen, wenn der Entscheider den jeweiligen „Wertehorizont" berücksichtigt. Die Werte erhalten ihr Gewicht i m jeweiligen Fall erst i m Verhältnis zu den anderen, ebenfalls berührten Werten. Hier können Folgen berücksichtigt .und gewogen werden, wie es die politisch Verantwortlichen i n dem Entführungsdrama tatsächlich getan haben. Auch das Bundesverfassungsgericht spricht i n der Schleyer-Entscheidung 1 6 0 davon, „daß die gebotenen Maßnahmen der Vielfalt singulärer Lagen angepaßt sein müssen". Dieses Entscheidungsverfahren erfordert daher eine weitgehende Aufklärung der konkreten Situation, was wiederum vor dem Hintergrund erweiterter Erkenntnis zur Aufgabe von Werturteilen und zum Setzen neuer Zwecke führen kann 1 6 1 . Für das Verhältnis von Wertesystem und Folgenbewertung folgt hieraus, daß beide sich ausschließen. Entweder fällt die Entscheidung i m System oder erst dann, wenn ermittelt ist, welche Werte i m Einzelfall tatsächlich berührt sind.

157 158 169 160 161

B V e r f G N J W 75, 573, 575; N J W 77, 2255. Vgl. K r a f t , Wertlehre, S. 72. Ebd. S. 156 f., 213 ff. N J W 77, 2255. Luhmann, Zweckbegriff, S. 45.

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3. Was bedeutet „politisch" und was sind „politische Argumente"? 3.263.2 Das Entscheidungsproblem: „Klassische" Politik oder „Kritische Theorie"?

Nunmehr ist klar, was gemeint ist, wenn die K r i t i k e r Wertsysteme ablehnen, sich gegen logische Schlußfolgerungen i n der Politik wenden und die Folgen von Entscheidungen berücksichtigen wollen 1 6 2 : Sie glauben nicht an die Möglichkeit, eine Entscheidung „von oben" her, durch einen Blick auf eine Wertrangordnung, begründen zu können. Vielmehr folgen sie dem „Zweck-Mittel-Schema", entscheiden sich also erst nach Aufklärung der je konkreten Verhältnisse und nach Abwägen und Bewerten denkbarer Folgen. Damit ergibt sich von selbst, was als Nächstes zu erfragen sein wird: Können w i r die „klassische" Politik und die „kritische Theorie" nach diesem Merkmal unterscheiden, können w i r einer der beiden Meinungen dieses Entscheidungsverhalten zuordnen? Beginnen wollen w i r m i t der „klassischen" Richtung. A u f den ersten Blick w i l l es scheinen, als folge sie nicht dem Gedanken einer Werteordnung: W i r lesen, daß „die politische Ordnung und das politisch zu Tuende nicht vorgegeben, sondern aufgegeben, Sache der Gestaltung, der Wahl zwischen Möglichkeiten und der Entscheidung für bestimmte Normen sind" 1 6 3 . Die „Freiheit und Not entscheiden zu müssen" 1 6 4 bedinge daher „die Frage nach den i n der jeweiligen historischen Konstellation enthaltenen Alternativmöglichkeiten politischen Handelns" 1 6 5 . Doch fragen w i r genauer nach dem Hintergrund dieser Sätze. Dann w i r d deutlich, daß sie i n einem anderen Sinn interpretiert werden müssen, als es beim ersten Hinsehen scheinen wollte. Ausgangspunkt ist die Feststellung, „praktische" Politik sei „zutiefst der klassisch-aristotelischen Lehre von der Politik . . . verbunden" 1 6 6 . Was besagt diese „Verbindung"? Zunächst zwingt sie uns, den Sprachgebrauch ernst zu nehmen: „Politisch" ist nicht gleichbedeutend m i t „gesellschaftlich". „Gesellschaftlich" bedeutet, i n Gemeinschaft m i t anderen Menschen zu leben. Für die Griechen stand dagegen das „Politische" als besondere menschliche Fähigkeit geradezu i n einem Gegensatz zum naturhaften Zusammenleben 167 . Aristoteles drückt diesen Gedanken i n einer begriff162

Oben 1.3.263. im Oberndörfer, P o l i t i k als praktische Wissenschaft, S. 145. 184 Bergstraesser, P o l i t i k i n Wissenschaft u n d Bildung, S. 20. 165 Oberndörfer, S. 146. 166 Ebd. S. 148 — was nicht schlicht die Wiederaufnahme platonisch-aristotelischer D o k t r i n e n bedeuten müsse, vgl. Voegelin, Die neue Wissenschaft der P o l i t i k , S. 13. 167 Vgl. Arendt, V i t a activa, S. 27 ff.

3.2 Was ist ein „politisches" Argument?

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liehen Unterscheidung aus, indem er von der „Gemeinschaft" die „politische (staatliche) Gemeinschaft" abhebt: Vom Tier, aber auch von Gott unterscheide den Menschen das Angewiesensein auf die Gemeinschaft 168 . Erst das Leben i n der geordneten politischen Gemeinschaft der Polis aber entspreche der Natur des Menschen, so wie sie i n i h m angelegt sei 1 6 9 . Die politischen Aussagen dieser Lehre darf man indes nicht als ein „Programm" begreifen. Ist der „Staat" als das Ziel, dem die menschliche Gemeinschaft zustrebt, von Natur aus vorgegeben, so kann der Mensch dieser Aufgabe zwar mehr oder weniger gerecht werden; das „Wesen" oder die „Natur" des Seins und damit auch des guten Staates aber liegt dem menschlichen Wollen voraus und ist immer schon festgelegt 170 . Kuhns Feststellung „ . . . der Staat als solcher . . . w i r d seinem Wesen nach nicht gemacht" 1 7 1 t r i f f t genau diesen P u n k t 1 7 2 . Die Schlußfolgerung lautet: Die Menschen schließen sich nicht w i l l k ü r l i c h aufgrund eines Gesellschaftsvertrages zum Staat zusammen, sondern folgen dabei einer vorgegebenen Ordnung der Dinge. Wie kann man diese Ordnung erkennen? Wenn sie vorgegeben ist, dann muß sie auch i n der Wirklichkeit sichtbar sein. Liegt also der Wirklichkeit ihre „Natur" als Bestimmung immer schon voraus, so t r i t t die Natur i n den Dingen selbst i n Erscheinung. Über diese „zeichenhafte W i r k l i c h k e i t " 1 7 3 kann man die den Dingen zugrunde liegende Ordnung erkennen. Folgt der Mensch der Ordnung der Dinge, so folgt er zugleich seiner eigenen Bestimmung 1 7 4 . Voegelin bringt auf den Begriff, worum es geht: „Die Voraussetzung des Unternehmens, das über bloße Meinungen . . . zur Wissenschaft . . . von der Ordnung vordringen w i l l , ist eine durchgearbeitete Ontologie, die alle Seinsbereiche, vor allem den weit-jenseitigen, göttlichen, als real anerkennt 1 7 5 ." So erklärt sich, warum für die „klassische" Politik die Entscheidung darüber, was je zu t u n ist, nicht von der konkreten historischen Situation zu trennen ist: Die „Frage nach dem „guten Handeln" und der „guten Ordnung" ist immer zugleich eine empirische . . . U m „gut" 168

P o l i t i k I 1253 a 27; NE I 1097 b 8 - 11. P o l i t i k I 1252 a 1 - 7 ; 1253 a 1 - 5 ; I I I 1278 b 15-23; NE I 1094 b 8 - 1 1 ; V I I I 1160 a 9 - 30; I X 1169 b 18. 170 Vgl. Aristoteles, P o l i t i k I 1252 b 30 - 1253 a 5; Metaphysik, X I I . Buch. 171 I n : Praktische Philosophie u n d politische Wissenschaft, S. 280. 172 Vgl. Hirschberger, Geschichte der Philosophie, S. 235 ff.; Spaemann, Natur, i n : Handbuch, S. 957 f.; Buschendorf, Recht — Sinn — Glauben, S. 164 m. w . N. 173 Buschendorf, Recht — Sinn — Glauben, S. 163. 174 Hierzu u n d zum Satz „ens et v e r u m et bonum convertuntur" vgl. ebd. S. 163 ff. 175 Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik, S. 14. 169

5 Zinke

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3. Was bedeutet „politisch" und was sind „politische Argumente"?

handeln zu können, müssen w i r wissen, was i s t " 1 7 6 : Sein und Sollen fallen zusammen. M i t welchem Recht aber spricht man von einer „Rangordnung der Werte" 1 7 7 ?. Hier ist i n der Tat eine weitere Überlegung nötig, u m diese Behauptung klären zu können. Der Wertbegriff begegnet uns i n der klassischen Philosophie nicht, er ist ein Produkt der Neuzeit 1 7 8 . „Wert" hat die Funktion eines Ersatzwortes und ist an die Stelle des „Guten" gerückt 1 7 9 . — Der Begriff wurde notwendig, als man nicht mehr nach der den Dingen innewohnenden Ordnung fragte, sondern die Wirklichkeit i n Ursachen und Wirkungen zerlegte. I n der Tat ließen sich die Erscheinungen der Schwerkraft und die Bewegungen der Himmelskörper nicht anders erklären. Das machte dann auch i m „praktischen" Leben die unendliche Vielfalt der Kausalverknüpfungen bewußt und erzeugte damit die Frage, welche Wirkungen anderen vorgezogen werden sollten. Der Beginn dieser Entwicklung aber verbindet sich, wie eben angedeutet, vor allem m i t dem Aufblühen der Naturwissenschaft und der Mathematik seit der Renaissance. So forschte Galilei (15641642) nicht mehr nach den Ursachen der Beschleunigung von Körpern, vielmehr wollte er wissen, wie sie sich bewegten 1 8 0 : Beobachtung, Messung, Experiment und mathematische Abstraktion verdunkelten die Frage nach dem Wesen der Dinge. Die wissenschaftliche Methode, dem Vorbild der Mathematik folgend, erhielt fortan ihren Eigenwert als allgemeingültiges Verfahren, u m zu Erkenntnissen zu gelangen; Descartes (1596 - 1650) widmet ihr ein eigenes W e r k 1 8 1 , und sein Suchen nach letzten Voraussetzungen des Wissens führte i h n zu dem — für ihn unbezweifelbaren — „ersten Prinzip": Ich denke, also b i n ich 1 8 2 — eine Einsicht, die den Bruch m i t der klassischen Vorstellung von Natur dokumentiert. Denn den letzten Grund gesicherter Erkenntnis gibt nunmehr nur noch das menschliche Bewußtsein. Der Mensch als Subjekt t r i t t der Natur als Objekt entgegen, Mensch und Natur sind nicht mehr eins. Damit hat zugleich das Gute, das dem ganzen Sein innewohnt, seine einheitsstiftende und verbindende Wirkung verloren 1 8 3 . Der Graben ist 176

Oberndörfer, P o l i t i k , S. 176 f.; Hervorhebung i m Original. So ebd. S. 175. 178 Luhmann, Zweckbegriff u n d Systemrationalität, S. 36; ders., Wahrheit u n d Ideologie, S. 439 179 Vgl. K u h n , Das Gute, in: Handbuch, S. 671; Stern, Geschichtsphilosophie, S. 168 ff. 180 Galilei, Uber zwei neue Wissenszweige, 3. Tag, S. 15 (S. 152). 181 Descartes, A b h a n d l u n g über die Methode, vgl. V 14: „ . . . Regeln der Mechanik, welche dieselben sind, w i e die der N a t u r " . 182 Ebd. I V 3; ders., Prinzipien der Philosophie, I 7. 183 Vgl. K u h n , Das Gute, S. 671 ff.; Heidegger, Einführung i n die Metaphysik, S. 149 ff. 177

3.2 Was ist ein „politisches" Argument?

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nie mehr ganz geschlossen worden; Kant hat i h n endgültig aufgebrochen, indem er als „gut" nur noch den guten Willen aufweist 1 8 4 . I m Gefolge Kants w i r d die Trennung geradezu zur Voraussetzung von Erkenntnis erhoben; so fordert Rickert, man müsse „einen Abstand zwischen dem Erkennen und seinem Gegenstande schaffen" 185 . Das Aufreißen dieser K l u f t bleibt nicht folgenlos; sie nötigt die Menschen zu einer bis dahin unbekannten Frage: Wie ist das Chaos von Tatsachen, von Ursachen und Wirkungen zu ordnen? Welche Wirkungen sind anderen vorzuziehen? Die Lösung suchte man m i t Hilfe des Wertbegriffes und entwarf Wertsysteme, die, wie bei Max Scheler, als unabhängige Gegenstände gegenüber der Güterwelt gedacht wurden 1 8 6 . A m Ende jenes Verdrängungsprozesses, dem das „Gute" i m klassischen Verständnis schließlich zum Opfer fiel, steht also der „Wert". Nach dem bisher Gesagten ist zugleich klar, daß dieser Wertbegriff für unsere Ausgangsfrage nach einer „Rangordnung der Werte" nicht brauchbar ist. W i r müssen i h m zunächst wieder Leben einhauchen; gehen w i r also einen Schritt zurück und binden w i r den „Wert" erneut i n die gesamte Natur ein. Jetzt hat er wieder die Kraft, eine Ordnung der Dinge aufzuweisen. Denn „das Gute" ist nicht Wert unter Werten, sondern Höchstwert. Weil das „Gute" aber der Natur insgesamt innewohnt, besitzt es zugleich einheitsstiftende Wirkung. Jedes Ding erhält seinen Platz i n einer Rangordnung, so daß ich zu erkennen vermag, welche Entscheidung die richtige, die „gute" ist. A u f der Grundlage dieser Überlegung w i r d verständlich, was Voegelin ausführt: „Eine Wissenschaft vom rationalen Handeln des Menschen i n Gesellschaft w i r d dadurch möglich, daß alle untergeordneten und teilhaften Zwecksetzungen des Handelns bezogen werden auf einen höchsten Zweck 1 8 7 ." Für das Entscheidungsverhalten folgt hieraus, daß Wertekonflikte nicht am Gegenstand selbst auszutragen, sondern auf eine überzeitlich gültige Ordnung zu beziehen sind. „Praktische" Politik folgt also nicht dem Zweck-Mittel-Schema und entspricht nicht dem Entscheidungsverhalten, welches die K r i t i k e r fordern. Was bei der „klassischen" Richtung schwierig war herauszufinden, fällt bei der „kritischen Theorie" leichter. Das Ziel auch dieser Theorie ist zwar das „gute" Leben 1 8 8 . Nur meint diese Aussage hier etwas ganz anderes. Was das „Gute" jeweils konkret bedeutet und was daher politisch zu t u n ist, fügt sich nach dieser Mei184

K a n t , Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 393. Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, S. 2. 186 Scheler, Der Formalismus i n der E t h i k , S. 37 ff. 187 Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik, S. 14. 188 Habermas, Technik u n d Wissenschaft als „Ideologie", S. 162; Theunissen, Gesellschaft u n d Geschichte, S. 10 ff. 185

5*

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3. Was bedeutet „politisch" und was sind „politische Argumente"?

nung gerade nicht einem vorgegebenen Zustand der Sache 189 . Sonst müßte die Erkenntnis der Dinge ohne Berücksichtigung von Ort, Zeit und Umwelt möglich sein: Gerade dem aber widerspricht die „kritische Theorie" 1 9 0 . Erkenntnis ist i h r zufolge abhängig vom jeweiligen geschichtlichen Zustand der Gesellschaft, und sie werde „zum vergänglichen Moment der praktischen Auseinandersetzung der Individuen m i t der Natur und ihresgleichen" 191 . Was zu t u n ist, muß sich aus der konkreten Situation ergeben. Nur befragt der Entscheider die i h m gegebenen Tatsachen nicht nach einer ihnen innewohnenden Ordnung, sondern darauf, inwieweit sie Möglichkeiten eröffnen, menschliches Glück und menschliche Freiheit zu fördern 1 9 2 . Aufweis und Bewerten von Alternativen folgt also nicht einer Werteskala, sondern entspricht dem Entscheidungsmuster, das auch die K r i tiker anwenden. 3.27 Ergebnis: Die Merkmale eines „politischen Arguments"

Der Politikbegriff der „kritischen Theorie" enthält somit jene Merkmale, welche die Justizkritiker auch dem Handeln des Juristen zuschreiben. Abstrakt können w i r das so formulieren: „Politik" ist eine Form öffentlichen Handelns. Die Entscheidung darüber, was je zu t u n ist, gründet auf Analysen der Situationen, i n denen die Entscheidungen stattfinden. Das Ziel ist, Freiheit, Demokratie und Sozialstaatlichkeit zu fördern. Aus der Entscheidungssituation gewinnt man zwar die „richtige" Entscheidung, nicht aber ist sie i n der politischen Wirklichkeit selbst verborgen. Sie ergibt sich vielmehr erst aus den konkreten Handlungsalternativen, die daraufhin zu befragen sind, ob und inwieweit sie die Selbstbestimmung der Menschen verwirklichen. Dieses Entscheidungsmuster „politischer Argumentation" soll für den weiteren Gang der Untersuchung abgekürzt „Folgendiskussion" heißen. Nunmehr sind w i r i n der Lage, genauer zu formulieren, woran sich entscheiden soll, wie das Urteil über die „politische" Argumentation ausfällt. Erinnern w i r uns an den Ausgangspunkt: Aus der Sicht des Rechtsanwenders und Dogmatikers gebührt der Verantwortung gegenüber dem Gesetzgeber Vorrang vor der Verantwortung gegenüber der 189

Massing, Politik, in: Handbuch, S. 1102. Vgl. Massing, Politik, in: Handbuch, S. 1097 f., 1102 f.; Lenk, K., Politische Wissenschaft, S. 76. 191 Schmidt, Die kritische Theorie als Geschichtsphilosophie, S. 39. 192 Ebd. S. 82, 85; Tudyka, Kritische Politikwissenschaft, S. 26. 190

3.2 Was ist ein „politisches" Argument?

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Gesellschaft 193 . Der Jurist ordnet danach die Tatsachen den gesetzlichen Regeln unter und t r i f f t eine entsprechende Auswahl. Dagegen wehren sich die Reformer; sie wollen das soziale Umfeld voll erfassen und dann unter dem Blickwinkel von Freiheit und Selbstbestimmung bewerten. Beide Ansichten sind nur auf den ersten Blick durch Welten getrennt; ein wichtiges Verbindungsstück verknüpft sie: die Verfassung. Die „ K r i t i k e r " holen ihre Maßstäbe nicht aus den Sternen, sondern wollen die Grundrechte verwirklichen 1 9 4 ; für die „Dogmatiker" andererseits ist das Grundgesetz nicht bloß eine Formelsammlung, sondern Bestandteil des geltenden Rechts und folglich bei der Anwendung zu beachten. Was sie maßgeblich unterscheidet, das sind Gewicht und Funktion des positiven Rechts. Die einen verlagern den Schwerpunkt auf die Entscheidungsfolgen, hierauf beziehen sie die Bedeutung der gesetzlichen Regelungen. Für die anderen umgrenzt das Gesetz als Ausgangs-, aber auch als Endpunkt die zu erbringende Erkenntnisleistung. Damit ist uns die Frage gestellt, i n welchem Verhältnis die Entscheidungsfolgen zur Auslegung stehen. W i r können das auch so ausdrücken: Ist es möglich, Gesetze von den Folgen her auszulegen? Hierauf wollen w i r zunächst eine A n t w o r t suchen 195 . Da es u m Fragen der Erkenntnis und u m Methoden geht, werden w i r nicht ohne theoretische Erwägungen auskommen. Ob deren Ergebnisse auch praktischen Erfordernissen entsprechen, dürfen w i r anschließend zu prüfen nicht vergessen 196 . Zunächst aber ist zu ermitteln, wie sich Gesetz und Entscheidungskonsequenzen zueinander verhalten. Dazu sind eine Reihe anderer Fragen zu beantworten. So w i r d zu klären sein, was es m i t der behaupteten Regellosigkeit der Politik auf sich hat, wie es m i t der Bindung an das Gesetz bestellt ist und ob es sich bei Recht und Politik u m verschiedene Erkenntnisgegenstände handelt.

198 194 195 196

Oben 1.1.3. Oben 1.2.22. U n t e n I I . Tei. U n t e n I I I . Teil.

II. Τ e i 1

Auslegung von Gesetzen und Folgenkontrolle

4. Bedeutet „Begründung mit dem Gesetz" dasselbe wie „deduktive Ableitung"? Nachdem geklärt ist, wie „Politik" und „politische Argumentation" zu verwenden sind, wollen w i r uns der Beziehung zwischen der Auslegung von Gesetzen einerseits und der Folgenanalyse andererseits zuwenden. A u f die Rechtsanwendung bezogen ist das die Frage nach der Entscheidungsgrundlage: Begründung mit dem Gesetz oder Begründung m i t den Folgen. Aus der Gegenüberstellung ergibt sich die Anschlußfrage: Wenn eine Entscheidung mit dem Gesetz begründbar ist, können w i r sie dann auch m i t den Folgen begründen? Und wenn umgekehrt die Konsequenzen als Begründung dienen, ist das Gesetz dann noch begründungsfähig oder fällt es i n diesem Fall aus dem Begründungszusammenhang heraus? U m eine A n t w o r t zu finden, muß klar sein, was m i t den angesprochenen Alternativen gemeint ist. Dabei soll zunächst erörtert werden, was es bedeutet, eine Entscheidung mit dem Gesetz zu begründen. Die Antwort w i r d uns sodann den Zugang zur Frage nach dem Erkenntniswert politischer Argumente ermöglichen. Wann ist eine Entscheidung mit dem Gesetz begründbar? Die A n t wort glaubt jeder Jurist zu kennen: Wenn die begehrte Rechtsfolge aus dem Gesetz „folgt", aus dem Gesetz „ableitbar" ist. Der politischen Aussage von der „Bindung an" das Gesetz entspricht methodisch also die „Ableitung aus" dem Gesetz. Denn „Begründung" i m strengen Sinn bedeutet deduktive Ableitung. Darunter versteht man ein Verfahren der mittelbaren Erkenntnis: Aus einer als richtig anerkannten zusammengesetzten Aussage w i r d eine weitere Aussage abgeleitet. Das Verfahren folgt dabei einer Schlußregel 1 . Anerkennung einer Aussage als richtig und Regelhaftigkeit der Folgerung erlauben es, die gewonnene Aussage ebenfalls als richtig zu bezeichnen. 1 Dazu Bocheàski, Die zeitgenössischen Denkmethoden, S. 73 ff.; Weinberger, Rechtslogik, S. 72 ff., 103 ff., 361 ff.

4. „Begründung mit dem Gesetz" gleich „deduktive Ableitung"?

71

Betrachten w i r zum besseren Verständnis ein Beispiel: Die Klägerin w i r d bestohlen. Der Dieb veräußert die erbeuteten Gegenstände an die ahnungslose Beklagte, die ihrerseits die Sachen weiterverkauft. Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Herausgabe des erzielten Erlöses. Kann sie ihren Anspruch auf die §§ 985, 281 BGB stützen? § 281 BGB bestimmt: Erlangt der Schuldner infolge des Umstandes, welcher die Leistung unmöglich macht, für den geschuldeten Gegenstand einen Ersatz oder einen E r satzanspruch, so k a n n der Gläubiger Herausgabe des als Ersatz Empfangenen oder A b t r e t u n g des Ersatzanspruchs verlangen.

Das Reichsgericht lehnte es ab, die Vorschrift i n einem solchen Fall anzuwenden 2 : A u f den Herausgabeanspruch des Eigentümers gegen den redlichen Besitzer passe § 281 BGB nicht. Und warum nicht? Betrachten w i r zunächst die folgende Ableitung, i n der die Begründung des Gerichts steckt; bezogen auf unser Beispiel lautet sie: Wenn ein gesetzliches Schuldverhältnis auf Herausgabe eines Gegenstandes wegen nachträglicher Unmöglichkeit der Leistung insgesamt erlischt, dann ist der Erlös f ü r den geschuldeten Gegenstand gemäß § 281 B G B nicht herauszugeben. Verliert der redliche Besitzer den Besitz des geschuldeten Gegenstandes, so erlischt dadurch das dingliche Schuldverhältnis zwischen Eigentümer u n d Besitzer. Der vormalige Besitzer braucht den Erlös für den geschuldeten Gegenstand gemäß § 281 B G B nicht herauszugeben.

Wie "aber kommen w i r und wie kommt die Rechtsprechung zu der Annahme, die Obersätze der Ableitung seien richtig? Sehen w i r i n das Urteil des Reichsgerichts. Als Grundlage dient die Unterscheidung von obligatorischen und dinglichen Forderungen: Schuldrechtliche Verhältnisse gingen trotz Unmöglichkeit der ursprünglichen Leistungspflicht nicht unter, „weil regelmäßig anzunehmen ist, daß hierauf der Verpflichtungswille nicht gerichtet w a r " 3 . Deshalb könne das Schuldverhältnis, wenn auch jetzt i n Richtung auf die Ersatzherausgabe, weiter wirken. Diese Möglichkeit eines Fortbestehens der Verpflichtung sei beim dinglichen Herausgabeanspruch nicht gegeben: Durch den Besitzverlust werde dem Rechtsverhältnis „der Boden entzogen" 4 . Ohne Kenntnis dieser Begründung hätten w i r auf die Ausgangsfrage, wie denn das Reichsgericht auf die Prämissen der Ableitung gekommen sei, möglicherweise geantwortet: Weil es so i m Gesetz steht. Das hätte, wie w i r jetzt sehen, die richtige A n t w o r t nicht sein können; denn die Unterscheidungen, von denen das Gericht spricht, finden w i r i m Gesetz 2 3 4

RGZ 115, 31. RGZ 115, 33. RGZ 115, 33.

4. „Begründung mit dem Gesetz" gleich „deduktive Ableitung"? nicht. Da ist nirgends festgelegt, daß i m einen Falle die Verpflichtung erlischt, i m anderen dagegen nicht. Aber die Rechtsfolge soll doch „aus dem Gesetz folgen". Was also „steht" i m Gesetz? 4.1 Die Funktion dogmatischer Sätze Betrachten w i r ein weiteres Beispiel: Der Gesetzgeber der ZPO hat an verschiedenen Stellen den Ausdruck „Hauptsache" verwendet, etwa i n § 91 a ZPO — die Vorschrift regelt die Kostenfolge, wenn die Parteien die Hauptsache für erledigt erklären — und i n den Vorschriften über den Arrest und die einstweiligen Verfügungen, §§ 916 ff. ZPO. „Hauptsache" bei § 91 a ZPO ist der Streitgegenstand 5 . Darunter versteht man den prozessualen Anspruch, das ist die vom Kläger begehrte Rechtsfolge, bestimmt durch den Antrag und den zu seiner Begründung vorgetragenen Sachverhalt 6 . Streitgegenstand der summarischen Verfahren ist grundsätzlich 7 die vorläufige Sicherung eines Anspruches oder Rechtsverhältnisses, §§ 916, 935, 940 ZPO; der Gläubiger muß dazu vortragen, die endgültige Durchsetzung seiner Rechte sei gefährdet, §§ 917, 918, 935, 940 ZPO. Fällt die Gefährdung fort oder w i r d etwa der zu sichernde Anspruch endgültig erfüllt, dann vermag der Gläubiger die begehrte Entscheidung nicht mehr durchzusetzen; die Parteien können jetzt die „Hauptsache" gem. § 91 a ZPO für erledigt erklären 8 . B l i k ken w i r nunmehr i n die §§ 916 ff. ZPO, so finden w i r auch dort i n zahlreichen Vorschriften den Ausdruck „Hauptsache". So spricht etwa § 919 ZPO vom „Gericht der Hauptsache". Gemeint ist damit der zu sichernde Anspruch, das zu sichernde Rechtsverhältnis 9 , also der A r rest« bzw. Verfügungsanspruch. Wenn die Parteien den Rechtsstreit gem. § 91 a ZPO für erledigt erklären, ist dann die „Hauptsache" i m Sinne von § 919 ZPO beigelegt? T r i t t die Erledigung dadurch ein, daß die Gefährdung entfällt, so berührt das die „Hauptsache" i m Sinne der §§ 916 ff. ZPO nicht — der Anspruch besteht nach wie vor und ist keineswegs „erledigt". W i r müßten dann so formulieren: Die „Hauptsache i. S. des § 91 a ZPO" ist zwar erledigt, die „Hauptsache i. S. der §§ 916 ff. ZPO" ist es aber nicht. Die Notwendigkeit, den Begriff „Hauptsache" zusätzlich zu kennzeichnen, belegt: Es gibt Fallgestaltun5

Thomas / Putzo, Zivilprozeßordnung, § 91 a, 2 a. Baumbach / Lauterbach / Hartmann, Zivilprozeßordnung, § 2, 2 A ; Arens, Zivilprozeßrecht, 1978, Rdnr. 162; alle m. w . N. 7 Ausnahmsweise sind „Leistungsverfügungen" zugelassen, die über den Sicherungszweck hinausgehen; vgl. Baumbach / Lauterbach / Hartmann, Grundzüge 2 C vor § 916 m. w . N. 8 I m Ergebnis w i e hier Grunsky i m Kommentar v o n S t e i n / J o n a s , ZPO, Band I I I , 19 A u f l . 1975, I I 3 c zu § 922, I I 8 v o r § 935. ö Baumbach / Lauterbach / Hartmann, § 919, 2 A . 6

4.1 Die Funktion dogmatischer Sätze

73

gen, bei denen der Ausdruck i n § 91 a ZPO eine andere Bedeutung als i n den §§ 916 ff. ZPO hat. Wie das Beispiel lehrt, ist Vorsicht mit der Antwort geboten, dies oder jenes „stehe so i m Gesetz", selbst dann, wenn ein Ausdruck mehrfach innerhalb desselben Gesetzes vorkommt. Was i m Gesetz „steht", ist nicht i m direkten Zugriff zu ermitteln. Sonst hätte es genügen müssen, den Gesetzestext i n den Obersatz der Folgerungsbeziehung einzusetzen. Anwendbar wurde das Gesetz erst dadurch, daß dem Ausdruck „Hauptsache" eine weitere Aussage hinzugefügt wurde: „Hauptsache bedeutet . . . " . W i r nennen diesen Vorgang Auslegung. Da sich die Auslegung i n den Ableitungszusammenhang zwischen Gesetz und Sachverhalt einschiebt, müssen w i r fragen, ob die Rede von der „Ableitung aus dem Gesetz" noch gerechtfertigt ist. Dazu ist festzustellen, was bei der „Umformung" eines Merkmals i n einen Satz vor sich geht. U m den Leser nicht zu täuschen, wollen w i r dazu eine Interpretation betrachten, die außer Streit ist: „unverzüglich" i m Sinne von § 111 Satz 2 BGB bedeutet „ohne schuldhaftes Zögern". Kein Jurist hat Bedenken, dieser Auslegung zuzustimmen. Denn der Gesetzgeber selbst hat i n § 1211 BGB definiert, was „unverzüglich" bedeuten soll. Bezogen auf § 111 BGB würde die Folgerungsbeziehung lauten: Wer das Rechtsgeschäft ohne schuldhaftes Zögern zurückweist, weist es „unverzüglich" zurück. A hat das Rechtsgeschäft ohne schuldhaftes Zögern zurückgewiesen. A hat m i t h i n „unverzüglich" zurückgewiesen. Man sieht auf den ersten Blick, welches Bindeglied fehlt: die Rechtfertigung für das Gleichsetzen von „unverzüglich" m i t „ohne schuldhaftes Zögern". Aber warum soll man nicht auch diese Rechtfertigung i n eine Folgerungsbeziehung einbringen? Wenn der Gesetzgeber einen Ausdruck definiert, dann ist diese Bestimmung verbindlich für die Auslegung des Begriffs durch den Rechtsanwender. Der Gesetzgeber hat „unverzüglich" i n § 1211 BGB definiert. Diese Definition („ohne schuldhaftes Zögern") ist für die Auslegung und Anwendung des § 111 BGB verbindlich. Aber schon stehen w i r vor der nächsten Frage: Warum ist diese Begriffsbestimmung verbindlich? I m Falle einer Legaldefinition finden w i r noch durch Hinweis auf die Gründentscheidung — die Verantwortung gegenüber dem Gesetzgeber soll Vorrang vor der Verantwortung

4. „Begründung mit dem Gesetz" gleich „deduktive Ableitung"? gegenüber der Gesellschaft haben 1 0 — m i t Mühe eine Antwort. Nur m i t Mühe deshalb, weil auch dieser Hinweis schon wieder eine Begründung ist. I n allen übrigen Fällen jedoch bedarf die Verknüpfung von Gesetz und Interpretation einer zusätzlichen Begründung. Diese Begründung leistet die juristische Dogmatik. Deshalb kann man die dem Gesetzestext durch „Auslegung" hinzugefügten Sätze auch als „dogmatische Sätze" bezeichnen 11 . Eines jedenfalls muß man sehen: Die Begründung dieser dogmatischen Sätze hat m i t der Folgerungsbeziehung, welche die Ableitung aus dem Gesetz gewährleisten soll, unmittelbar nichts zu tun. Nur das Ergebnis der Begründung gehört zum Ableitungszusammenhang. Weil diese Begründung immer — auch in sogenannten „eindeutigen" Fällen — notwendig ist, kann der „Justizsyllogismus" zwar formal, niemals aber inhaltlich die Verknüpfung zwischen Gesetz und Rechtsfolge lückenlos herstellen 12 . 4.2 Die Subsumtion Die Folgerungsbeziehung ist also nur beschränkt begründungsfähig. Wenn aber die Inhalte von „außerhalb", nämlich von der juristischen Dogmatik her, an die logischen Verknüpfungen herangebracht werden, wie soll dann eine „Ableitung aus dem Gesetz" möglich sein? Eine Erklärung scheint noch denkbar zu sein: Die „dogmatischen Sätze" selbst müssen, stellvertretend für den Text des Gesetzes, i n die Ableitungsbeziehung eingefügt werden. Diese „Ersatzlösung" ist aber nur möglich, wenn w i r eine Bedingung erfüllen können. Denn die Forderung, unsere Ergebnisse müßten „aus dem Gesetz" abgeleitet sein 13 , gilt nach wie vor. Dann liegt es auf der Hand, wie die erwähnte Bedingung lautet: Die Auslegung hat dem Gesetz nichts eigenes hinzugefügt, sondern nur erläutert, was bereits darin vorgegeben war. W i r können das auch so ausdrücken: Bei der Umformung des Tatbestandsmerkmals i n einen Satz darf sich die Bedeutung nicht verändern. Entsprechend diesen Überlegungen unterscheidet die juristische Methodenlehre 14 vom „Gesamtsyllogismus" die „Subsumtion". 10

Oben 1.1.3. So auch der Sprachgebrauch etwa bei v. Savigny, Juristische Dogmatik u n d Wissenschaftstheorie, S. 102, 138 u. ö. 12 Diese Zusammenhänge ergeben sich sehr k l a r aus dem Toulminschen Argumentationsschema; vgl. Toulmin, Der Gebrauch v o n Argumenten, S. 88 ff.; Wunderlich, Grundlagen der Linguistik, S. 69 ff.; Rüssmann, Die Begründung von Werturteilen, JUS 75, 352, 355. Allgemeine K r i t i k an diesem Schema übt Schmidt, J. S., Argumentationstheoretische Aspekte einer rationalen Literaturwissenschaft, S. 182 ff. m. w . N. 13 Oben II.4. 14 Historischer Abriß bei Fiedler, Zur logischen Konzeption der Rechts11

4.3 Ursachen für die Schwierigkeiten bei der Subsumtion

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I m »„Syllogismus der Rechtsfolgebestimmung 4 . . . bildet ein vollständiger Rechtssatz den Obersatz, die Unterordnung eines konkreten Sachverhaltes als eines ,Falles* unter den Tatbestand des Rechtssatzes den Untersatz" 1 5 . Die Subsumtion dagegen betrifft das Unterordnen des Sachverhaltes unter ein Merkmal des Gesetzes16. Theoretisch geschieht das i n zwei Schritten. Logisch vorrangig sei dabei die Interpretation 1 7 : Der Ausleger ermittle den Inhalt des gesetzlichen Merkmals und bediene sich dabei der grammatikalischen, systematischen, historischen, teleologischen — das ist die Frage nach „Sinn und Zweck" — und gegebenenfalls der verfassungskonformen Auslegungsmethode 18 . Das Rangverhältnis dieser Auslegungscanones ist allerdings unklar und Anlaß für einen intensiven Streit gewesen 19 . I n einem zweiten Schritt prüfe der Anwender, ob der Lebenssachverhalt dem Inhalt des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals entspreche. Dies geschehe mittels des Subsumtionsschlusses, und zwar werde eine Aussage über den Sachverhalt subsumiert 20 : „Es werden also Faktenbegriffe unter Rechtsbegriffe subsumiert 21 ." 4.3 Ursachen für die Schwierigkeiten bei der Subsumtion Diese wohlgeordnete Vorgehensweise ist indes nur ein Ideal. Genaueres Hinsehen erweist: Die Auslegung des Gesetzes und die Einordnung des Sachverhaltes vermischen sich. Es geht u m „eine Gleichsetzung des neuen Falles mit denjenigen Fällen, deren Zugehörigkeit zur Klasse (die unter dem Begriff zusammengefaßt ist) bereits feststeht" 22 , u m die „Einstufbarkeit eines Konflikts unter die Fälle, welche die ins Auge gefaßte Regel ordnet" 2 8 . findung aus dem Gesetz u n d ihren historischen Bedingungen, GS für Rödig, S. 129 ff. 15 Larenz, Methodenlehre, S. 256, Hervorhebung i m Original. Die häufige Verwendung des Ausdrucks „Syllogismus" i n juristischen M e t h o d i k - L e h r büchern sollte nicht zu der Annahme verleiten, damit sei der Ausdruck „Deduktion" identisch. Der Begriff „Deduktion" reicht weiter; viele deduktive Argumente lassen sich nicht auf die syllogistische F o r m zurückführen; vgl. Wunderlich, Grundlagen der Linguistik, S. 67 ff. 16 Larenz, Methodenlehre, S. 258 u. ö. 17 Vgl. Bartholomeyczik, Die Kunst der Gesetzesauslegung, S. 18 ff.; Engisch, Einführung i n das juristische Denken, S. 57. 18 Engisch, Einführung, S. 83, S. 221 A n m . 81 b, S. 222 ff. A n m . 82 b. 19 Statt vieler Larenz, Methodenlehre, S. 332 ff. m. w. N.; Esser, Vorverständnis u n d Methodenwahl, S. 124 ff. m. w . N.; A l e x y , Theorie der j u r i s t i schen Argumentation, S. 288 ff. 20 Larenz, Methodenlehre, S. 258 f.; Bartholomeyczik, Die Kunst, S. 23 f. 21 Engisch, Einführung, S. 56 m. w . N. 22 Ebd. S. 56; Zusatz i n der K l a m m e r v o n m i r . 23 Esser, Vorverständnis, S. 30, 90.

4. „Begründung mit dem Gesetz" gleich „deduktive Ableitung"? Schon der Hinweis Isays 24 auf die irrationale, d.h. auf das Rechtsgefühl gestützte Grundlage der richterlichen Urteile, und die Untersuchungen von Ludwig Bendix 2 5 über die Psychologie richterlicher Entscheidungen haben die Bedeutung jener Faktoren für die Rechtsanwendung hervorgehoben, welche die Freirechtsbewegung immer wieder betont hat: die i n der Persönlichkeit des Urteilers gegründeten Wertungen. Zahlreiche Untersuchungen bis zur Gegenwart erhärten die damaligen Befunde. Auch Autoren, die ausdrücklich den Unterschied zwischen Gesetzesauslegung und richterlicher Rechtsfortbildung betonen 26 , gestehen zu, daß Lückenausfüllung und abändernde Rechtsfindung schöpferische Bestätigungen seien 27 . Wenn darüber hinaus betont wird, für die Auslegung von besonderer Bedeutung sei der Wert des Ergebnisses, hiernach habe sie sich i m Zweifel zu richten 2 8 , dann sind m i t den Stichworten „Rechtsfortbildung" und „Folgenbewertung" schon Fragen genannt, die gegenwärtig eine bedeutende Rolle auch i n der überlieferten Dogmatik spielen. Wie w i r gesehen haben, werden die Fragen nicht nur innerhalb der Rechtswissenschaft diskutiert. Lautmann hat i m Wege teilnehmender Beobachtung die Tätigkeit von Richtern untersucht 29 . Aus seiner Studie ergibt sich: Das Subsumtionsmodell kann den Vorgang der Entscheidungsfindung nicht angemessen beschreiben. Auch w i r d danach die Auslegung einer Vorschrift wohl öfter von dem gewünschten Ergebnis her gesteuert, als daß dies umgekehrt der Fall wäre. Untersuchungen über die Psychologie der richterlichen Entscheidung decken sich mit diesem Befund. Der Richterspruch sei mehr als nur das Ergebnis eines Subsumtionsaktes, richterliches Entscheiden ein sich i n einem Entschluß äußerndes Verhalten, das sich nicht von anderen entscheidungsbezogenen Verhaltensweisen unterscheide 80 . 24

Isay, H., Rechtsnorm u n d Entscheidung, 1929, S. 18, 25. Bendix, L., Z u r Psychologie der Urteilstätigkeit der Berufsrichter u n d andere Schriften (hrsg. v o n Manfred Weiss), 1968. Bülow, Kantorowicz, Fuchs sind weitere Namen, die hier genannt werden müßten. Z u recht weist Wassermann warnend darauf hin, daß unsere älteren A u t o r e n i n Vergessenheit zu geraten drohen (auf einer Projekttagung am 21.11.77; vgl. meinen Beitrag i n SchlHA 78, 25). 26 Nipperdey, Allgemeiner T e i l des bürgerlichen Rechts, § 51 A n m . 2 (gegen Isay) u n d durchgehend, § 54 A n m . 16 (gegen Esser). 27 Ebd. §§ 58, 59. 28 Ebd. § 56 I I I . 29 Justiz — die stille Gewalt, S. 81 ff.: Konstruktionsstrategie vs. Ergebnisstrategie. 30 Statt anderer Berkemann, Die richterliche Entscheidung i n psychologischer Sicht, JZ 71, 537 m i t Nachweis des einschlägigen Schrifttums; weitere L i t e r a t u r zum Thema „Der durchschaute Richter" bei Simon, Die Unabhängigkeit, S. 146 ff., besonders S. 159 ff.; Plassmann, Mutmaßungen über Richter, S. 49 f. 25

4.3 Ursachen für die Schwierigkeiten bei der Subsumtion

77

Unter dem Einfluß der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik betonen andere Autoren das gestaltende, konstruktive Element der Rechtsanwendung und Rechtsfindung. Das „Recht" sei keine feste Ordnung von Sollenssätzen und verwirkliche sich nicht i n bloßer Subsumtion, sondern werde gestaltet. Es sei nicht gleichbedeutend m i t der abstrakten Norm des Gesetzes: Das Gesetz stelle nur die Möglichkeit von Recht dar, Textverstehen sei Handeln 3 1 . So verwundert es nicht, daß die Rechtsprechung als die maßgebliche Instanz angesehen wird, welche die Entwicklung des Rechts vorantreibt: Weil es immer u m gerechte Entscheidungen gehe, sei die Tätigkeit des Richters keine „rekonstruktive", sondern eine „konstruktive" 3 2 . Die neueren Untersuchungen bestätigen damit die Feststellung von Less aus dem Jahre 1954, daß „es offene Türen einrennen hieße, wollte man es unternehmen, die richterliche Rechtsanwendung als rechtsschöpferische Tätigkeit zu erweisen" 3 3 . Und i n der Rechtsprechung selbst ist anerkannt, daß der Richter den Normen des Gesetzes einen neuen Sinn beilegen darf, wenn sich die Gerechtigkeitsvorstellungen ändern 3 4 : Die gewandelten Auffassungen habe er „ i n einem A k t des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen" 3 5 . So entsprach es der überkommenen Auffassung von der Würde des Abgeordnetenamtes, daß Diäten kein Gehalt und keine Besoldung seien 36 . Diese Auffassung mochte das Bundesverfassungsgericht nicht übernehmen, weil sich die Verhältnisse, unter denen das herkömmliche Verständnis entstanden war, geändert hätten: Die zeitliche Belastung der Abgeordneten, der Einfluß von Parteien und von Interessengruppen hätten die Bedeutung des A r t . 48 I I I 1 GG, der dem Abgeordneten eine angemessene Entschädigung zusichert, verändert 3 7 . Die Suche nach den Gründen für diesen Einbruch subjektiver Faktoren stößt schnell auf eine Ursache: Die Schwierigkeiten rühren daher, 31 Kaufmann, Α., Durch Naturrecht u n d Rechtspositivismus zur juristischen Hermeneutik, S. 339, 341; ders., Die „ipsa res iusta", S. 27, 34 f., 37, 39; vgl. ferner etwa Larenz, Die Bindung des Richters an das Gesetz als hermeneutisches Problem, i n : FS für Huber 1973, S. 291 ff. m. w . N. 32 Esser, Vorverständnis u n d Methodenwahl, S. 8, 23, 177 f., 181, 194 u. ö. 33 Less, V o n Wesen u n d Wert des Richter rechts, S. 18 u n d durchgehend; ferner Schwerdtner, Rechtswissenschaft u n d Kritischer Rationalismus, S. 68 ff., 232 ff. m . w . N.; Starck, Die Bindung des Richters an Gesetz u n d Verfassung, V V D S t R L 34 (1976), S. 43, 49 ff. m. w . N.. 34 BVerfGE 34, 269, 288 f. 35 Ebd., S. 287. 36 Vgl. BVerfGE 32, 157, 164; 40, 296, 311. 37 BVerfGE 40, 312 ff., 315. Allgemein zum Thema des sozialen Wandels vgl. Rotter, F., Verfassung u n d sozialer Wandel, 1974, S. 59 ff.

4. „Begründung mit dem Gesetz" gleich „deduktive Ableitung"? daß häufig unklar ist, ob die Gleichsetzung mit den Merkmalen des Gesetzes möglich ist oder nicht: Wann ist eine Sache „neu" (§ 950), ein Bestandteil „wesentlich" (§ 119 II), eine Sache „fehlerhaft" (§ 459)? Solche Tatbestandsmerkmale, gekennzeichnet durch fließende, nicht abschließend festgelegte Grenzen, hat man daher als „unbestimmte Begriffe" gekennzeichnet 38 . Da Gesetze sprachlich verfaßt sind, lassen sich die Unklarheiten als sprachliche Phänomene beschreiben. Es geht bei der Interpretation darum, die Bedeutung 3 9 eines Ausdrucks zu verstehen. Die Bedeutung habe ich verstanden, wenn ich die sprachlichen Verwendungsregeln kenne. Diese sogenannten semantischen Regeln 40 legen die Bedeutung fest. Sie beziehen sich auf Bedingungen der Äußerung und darauf, als was die Äußerung unter diesen Bedingungen g i l t 4 1 . Nehmen w i r den Ausdruck „Tod". Seine Bedeutung schwankt, seitdem die Medizin m i t Hilfe von Reanimatoren die Grenze zwischen Leben und Tod verschoben hat. W i r d ein Mensch auf der Straße Opfer eines Verkehrsunfalles und spricht jemand die Worte „Er ist tot", so verbindet der Alltagsverstand der Umstehenden damit die Vorstellung: Sein Herz schlägt nicht mehr. Dieselben Worte, auf der Intensivstation eines Krankenhauses gesprochen, haben für das anwesende ärztliche Personal dagegen die Bedeutung: Es sind keine Hirnströme mehr meßbar. Woher die Schwierigkeiten mit den unbestimmten Rechtsbegriffen rühren, ist nunmehr klar: Die Verwendungsregeln darüber, was ein Ausdruck „bedeutet", lassen uns i m Stich. Dabei unterscheiden Sprachtheorie und -philosophie mehrere Fälle: Die wichtigsten werden als „Vagheit", „Mehrdeutigkeit" und „Porosität" bezeichnet 42 . E i n Ausdruck ist „vage", wenn nicht bei jeder Anwendung sicher entscheidbar ist, ob der Fall dem Ausdruck unterfällt oder nicht. Unbestimmte Rechtsbegriffe sind Beispiele solch vager Ausdrücke. Weiß der Anwender dagegen nicht, welche von mehreren Verwendungsregeln er benutzen muß, dann ist ein Ausdruck „mehrdeutig": Erst der jeweilige Ver38 Henke, Die Tatfrage, S. 68 ff. m i t Darstellung des Meinungsstandes, S. 76, 78. 39 Z u r Bedeutung v o n „Bedeutung" vgl. Wunderlich, Grundlagen der Linguistik, S. 236 ff. m. w . N. 40 Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften, S. 90. 41 v. Kutschera, Sprachphilosophie, S. 46, 66 ff.; Schnelle, Sprachphilosophie u n d Linguistik, S. 210 ff.; Koch, Uber juristisch-dogmatisches Argumentieren i m Staatsrecht, S. 40 m. w . N. 42 Vgl. zum Folgenden: v. Kutschera, Sprachphilosophie, S. 110 ff., 159 f. Fn. 46; Wunderlich, Grundlagen der Linguistik, S. 202, 267 ff. m. w. N.; Podlech, Wertungen u n d Werte i m Recht, S. 187 ff. m. w. N.; ders., Rechtslinguistik, S. 110 f. m. w . N.; Schmidt, J., Einige Bemerkungen zur Präzision der Rechtssprache, S. 392 ff. m. w . N.; Koch, Argumentieren, S. 41 ff. m. w . N.

5. Was kann „begründen" sonst bedeuten?

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Wendungszusammenhang k l ä r t uns ζ. B. darüber auf, ob mit „ A n spruch" der materielle i. S. v. § 194 BGB oder der prozessuale Anspruch — das ist der Streitgegenstand 43 — gemeint ist. Die „Porosität" oder „Offenheit von Begriffen beruht . . . darauf, daß es unmöglich ist, für alle überhaupt denkbaren A r t e n von Situationen Regeln festzulegen. Deshalb enthält ein de facto scharf umrissener Ausdruck stets die Möglichkeit der Vagheit i n sich" 44 . Von der Richtigkeit dieser Feststellung konnten sich unsere Gerichte überzeugen, als sie — wie schon das Reichsgericht 45 — vor der Frage standen, ob auch bei inflationärer Geldwertentwicklung der Grundsatz gilt: „Mark ist gleich Mark", ob also ζ. B. Versorgungsbezüge der Teuerung entsprechend anzugleichen sind 4 6 . Diese Eigenschaften der Sprache stehen häufig einer exakten Interpretation des Gesetzes i m Wege. Solche Exaktheit aber wäre erforderlich für die Ableitung aus dem Gesetz mittels der Folgerungsbeziehung. Da diese Voraussetzungen nicht erfüllbar sind, bedeutet „Begründung mit dem Gesetz" nicht dasselbe wie „Ableitung" aus dem Gesetz 47 . Eine Ableitung ist — wenn überhaupt 4 8 — nur selten möglich. Man mag deshalb von einem „aufgelockerten syllogistischen Denkschema" sprechen 49 : Die Folgerungsbeziehung bietet jedenfalls nicht mehr als einen Rahmen 5 0 .

5. Was kann „begründen" sonst bedeuten? Hat diese Erkenntnis den wissenschaftlichen Bankrott der Jurisprudenz zur Folge? Das hängt davon ab, ob das Verfahren der Deduktion, wie es beschrieben worden ist, die einzig denkbare Begründungsart ist. Die starke Betonung des Syllogismus' mochte den Eindruck erweckt haben, dieser Schluß stehe i m Mittelpunkt juristischen Denkens. Gewiß 43

Thomas / Putzo, Einleitung I I 5. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Band I, S. 620 f. 45 Einerseits RGZ 101, 141, 144 ff.; andererseits RGZ 107, 78, 85 ff. 46 Nein: B A G N J W 65, 1681; B G H W P M 66, 1264; Betr. 68, 751. Bei mehr als 40 °/o Verteuerung — Ja: B A G N J W 73, 959; i h m folgend B G H N J W 73, 1599. Dogmatischer Standort des Problems ist zumeist der „Wegfall der Geschäftsgrundlage". 47 Näher ausgeführt bei Rüssmann, Sprache u n d Recht, durchgehend. 48 Esser, Vorverständnis u n d Methodenwahl, S. 72 f. meint, die Verweisung auf logische Operationen sei eine Täuschung. 49 Henke, Die Tatfrage, S. 123. 50 Z u r K r i t i k am „Syllogismus" vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 50 ff.; Kettembeil, Z u m Charakter der Jurisprudenz als Wissenschaft, S. 33; K i l i a n , Juristische Entscheidung u n d EDV, S. 55 ff.; Berkemann, Gesetzesbindung, S. 301 ff.; Bruns, Zivilprozeßrecht, 1968, S. 165 ff. m. w . N. 44

5. Was kann „begründen" sonst bedeuten? muß die logische Verknüpfung zwischen Gesetz und Rechtsfolge stimmen; und i m Verstoß gegen sogenannte „Denkgesetze" sehen die Gerichte zu Recht einen Revisionsgrund 1 . Die Rechtsanwendung weist indes allzu oft ein B i l d auf, das m i t der Vorstellung von Deduktion nicht übereinstimmt. Da ist nicht von Folgerung die Rede, sondern von „ I n teresse" 2 , „Tendenz" 3 oder „Gesichtspunkt" 4 , nicht von zwingend, sondern von „sachgerecht" 5 und von „möglich" 6 , da leiten die Gerichte nicht ab, sondern „wägen ab" 7 oder fragen, was „typisch" sei 8 . Häufig entsteht jener von Naucke so drastisch geschilderte Eindruck eines „durchgängig akzeptierten hochkomplizierten, objektive Auslegung oder allgemein juristisches Denken heute manchmal auch Topik genannten Gemischs aus Gesetzestreue, Rechtspolitik, eigener und fremder Erfahrung, persönlicher Meinung, Natur der Sache, traditioneller Begründungssprache und Dezisionismus" 9 . Dieses Gemenge hat gewiß nichts m i t Deduktion gemein. Es stellt uns aber vor eine Frage: Wie soll oder wie kann man es überprüfen? Naucke ist gleichwohl zuversichtlich: „Dieses juristische Verfahren zeichnet sich nicht durch methodische Genauigkeit aus, ist aber überprüfbar, wenn man es distanziert handhabt 1 0 ." Nun zielt unsere Ausgangsfrage auf das Verhältnis zwischen der Folgenbewertung und der Auslegung von Gesetzen 11 . Sie führt zu der Vermutung, zwischen einer Begründung m i t dem Gesetz und einer Begründung m i t den Entscheidungsfolgen bestehe trotz allen Vorbehalten gegenüber dem logischen „Schluß" dennoch ein Unterschied. Ist aber ein Gemisch beider begründbar — und nichts anderes heißt überprüfbar —, dann ist diese Unterscheidung offenbar verfehlt. Zum mindesten wäre sie nicht sonderlich plausibel; denn ihr Ziel könnte nur sein, über die bloße Begründbarkeit hinaus nach „methodischer Genauigkeit" zu streben. Ob 1

B G H N J W 66, 502, 503; B G H N J W 66, 499, 500. 3 O L G Schleswig VersR 77, 718, 719. 4 Β GHZ 47, 157, 163. 5 B G H JZ 73, 366, 368. β RGZ 158, 321, 332. 7 O L G Hamburg N J W 70, 762, 763. 8 B G H N J W 74, 1554 u n d 2278. 9 Naucke, Über die juristische Relevanz der Sozialwissenschaften, S. 46; zustimmend Lüderssen, JUS 74, 131, 133; Sack, Einige Fragen u n d Probleme, S. 404 ff. spricht v o n „ausgesparten Restgrößen" bei der herkömmlichen Beschreibung der Rechtsanwendung. 10 Naucke, ebd. Diesem Ziel „vernünftiger" Uberprüfbarkeit dient der Versuch, juristisches Argumentieren als Unterfall eines allgemeinen p r a k tischen Diskurses aufzufassen, vgl. A l e x y , Theorie der juristischen A r g u mentation, S. 263 ff., 283 ff. 11 Oben 1.3.27; I I . Teil. 2

5. Was kann „begründen" sonst bedeuten?

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das für eine praktische Wissenschaft wie die Jurisprudenz von so großer Wichtigkeit ist, möchte man wohl bezweifeln. Die Frage ist nur: Kann man ein Verfahren ohne methodische Genauigkeit als „Begründung" bezeichnen? Was also ist „methodische Genauigkeit"? Wer nach Methoden fragt, muß auf eine Vielzahl von Antworten gefaßt sein. So unterscheidet Bocheùski, u m die Vielfalt nur anzudeuten, von der phänomenologischen Methode die semiotischen, axiomatischen und reduktiven Methoden 12 . Ein weiterer Unterschied ist m i t dem vieldiskutierten Begriffspaar „wissenschaftliche Erklärung" und „Methode des Verstehens" bezeichnet 13 . Juristen schließlich unterscheiden von der historischen die Anspruchsmethode 14 . Die Antworten helfen kaum weiter. Denn sie verraten nicht, was denn nun eine Methode sei. Die Antwort muß sich aus dem Zweck ergeben, den verfolgt, wer sich eines methodischen Vorgehens befleißigt: Angeregt w i r d das Bedürfnis nach einer Methode durch Aufgaben, die gelöst werden sollen; dabei führt der Lösungsweg an Fragen entlang, mit deren Hilfe das Problem „kleingearbeitet" wird. Entsprechend dem jeweiligen Stand der Lösung können auch die Fragen ganz verschieden sein: „Rechtfertigen die vom Kläger vorgetragenen Tatsachen den Klageanspruch?" Oder: „Ist die Sache i m Sinne von § 989 verschlechtert, wenn der Besitzer das Grundstück m i t einer Hypothek belastet 15 ?" Wie w i r alle wissen, genügt es nicht, die Fragen schlicht m i t „ja" oder „nein" zu beantworten. Von der Justiz und der Verwaltung, aber auch von j u ristischen Schriftstellern erwarten wir, daß sie ihre Antworten begründen. Methoden haben offenbar damit zu tun, wie jemand seine Gründe anbringt. So würde es uns kaum befriedigen, sagte etwa ein Richter, kraft seiner Einsicht sei es für i h n evident, daß die Sache sich so und nicht anders verhalte. Vielmehr verlangen w i r von ihm: Die Begründung muß einen Zusammenhang zwischen der A n t w o r t und allgemein anerkannten Gründen ausweisen, und dieser Zusammenhang muß nachvollziehbar, akzeptabel oder auch angreifbar sein 16 . Diesem Bedürfnis entspringen etwa Urteilsrezensionen: Als ζ. B. das Bundesarbeitsgericht den Rechtssatz aufstellte, nach mehr als 20j ähriger Betriebszugehörigkeit seien Ruhegeldanwartschaften unverfallbar 1 7 , prüfte die Literatur i n zahlreichen Stellungnahmen 1 8 die vom 12

I n : Die zeitgenössischen Denkmethoden. Statt vieler Stegmüller, Wissenschaftliche E r k l ä r u n g u n d Begründung, S. 360 ff.; v o n Wright, Erklären u n d Verstehen, durchgehend. 14 Siehe etwa Vogel, Der Verwaltungsrechtsfall, 7. A u f l . 1973, S. 24 ff.; Fabricius, Der Rechtsfall i m Privatrecht, 2. A u f l . 1972, S. 20 f. 15 RGZ 121, 335. 16 Vgl. Wunderlich, Grundlagen der Linguistik, S. 60; Toulmin, Der Gebrauch v o n Argumenten, S. 17 ff. 17 B A G JZ 72, 700 m i t A n m e r k u n g v o n Fenge. 13

β Zinke

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6. Erkennen und Erkenntnis

Gericht vorgetragenen Gründe Punkt für Punkt auf ihre Tragfähigkeit durch. „Methode", so belehrt uns ein Wörterbuch der deutschen Sprache 19 , bedeutet planmäßiges Vorgehen, Suchen nach einem allgemein und immer gültigen Verfahren. Aber es geht bei der „Methode" u m mehr als nur u m ein geordnetes Verfahren. Denn warum fragen w i r so hartnäckig nach Begründungen? Ist es dasselbe, ob ein Wissenschaftler i n einem Experiment den Ursachen der Schwerkraft nachgeht oder ob er Wolkenformen klassifiziert? Wie w i r vermuten, bestehen Unterschiede zwischen den jeweiligen Antworten, die über das Thematische — „Schwerkraft" und „Wolken" sind verschiedene Gegenstände — hinausgehen. Als Grund für die Verschiedenheit läßt sich die A r t der Fragen ausmachen: I m einen Falle zielt sie auf „Gründe", sie w i l l ermitteln, warum der Apfel nach unten fällt; die andere Frage dagegen ist bescheidener: Sie gibt sich mit der Darstellung einer äußeren Ordnung zufrieden, ohne erfahren zu wollen, was die Ordnung „ i m Innern" zusammenhält. Beide Male ist das Verfahren zwar wohlgeordnet und planmäßig. Nur i n einem der beiden Fälle aber erlaubt das Vorgehen die Antwort auf eine „Warum-Frage", und nur i n diesem Fall schließt „der Sinn der Methode die Idee ein, daß ihre Systematik einer Systematik der Sache selber entspricht, i h r folgt und sie i n der Form des Prozesses gewissermaßen nachbildet" 2 0 . Vermutlich nur dann, wenn die „Sache selber" zutage tritt, sind w i r berechtigt, von Erkenntnisgewinn und von wissenschaftlicher Methode zu sprechen. Diesen Vermutungen ist nunmehr nachzugehen. Denn nur die Möglichkeit methodischer Überprüfbarkeit von Aussagen am Gesetz erlaubt eine A n t w o r t darauf, ob i n Folgenanalysen das Gesetz als Kontrollinstanz noch erscheint.

6. Erkennen und Erkenntnis So hat uns die Frage nach der „Methode" zu der Notwendigkeit geführt, darüber nachzudenken, was „Erkenntnis" und was „erkennen" bedeuten. A n diesem Punkt t r i f f t sie sich m i t der Frage nach dem „Erkenntniswert", die das Thema der Untersuchung bestimmt. Gleichzeitig entfernt sich die Untersuchung damit vorübergehend von ihrem „juristischen" Ausgangspunkt. Dieser gedankliche „Umweg" ist aber nicht zu vermeiden. Denn es hat sich nunmehr gezeigt, daß w i r Juristen offenbar zu unbefangen von „Methode", „Begründung", „Ablei18

Nachweise bei Streckel, Unverfallbarkeit v o n betrieblichen Ruhegeldanwartschaften — B A G , A P § 242 — Ruhegehalt — Nr. 156, JUS 74, 631. 19 Mackensen, Neues Wörterbuch der Deutschen Sprache, o. J. 20 Jonas, Bemerkungen zum Systembegriff u n d seiner A n w e n d u n g auf Lebendiges, S. 88.

6. Erkennen und Erkenntnis

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tung" und „Erkenntnis" reden, ohne uns genau klargemacht zu haben, welche Sachverhalte damit gemeint sind. Die voraufgegangenen Überlegungen mündeten i n die Vermutung, daß eine wissenschaftliche Methode die Weise ist, i n der Erkenntnis gewonnen wird. Dann aber steht die Frage, was Erkenntnis sei, i m Vordergrund, und von der A n t w o r t hierauf hängt es ab, was methodische Überprüfbarkeit bedeuten kann. Nehmen w i r an, ein Freund sei Freizeitastronom und wolle uns die Venus zeigen. Nach einigem Suchen hat er Erfolg und fordert uns auf, durch das Fernrohr zu schauen: „Siehst du die Venus?" I n der Optik sehen w i r einen Himmelskörper und bejahen die Frage, weil w i r dem Wissen unseres Freundes vertrauen. Gesehen haben w i r die Venus — aber haben w i r sie „erkannt"? Von einer „Erkenntnis" würde man mehr verlangen müssen, vor allem die Fähigkeit, unsererseits jederzeit die Venus auffinden und einem anderen zeigen zu können. Dazu müßten w i r zuvor etwas über die Venus wissen: ihre Gestalt, den Helligkeitsgrad, die Position relativ zu anderen Himmelskörpern. Dieses Wissen müßte gesichert sein; nur dann stünde es m i r stets zur Verfügung, unabhängig von der Situation, i n der ich es verwende. Weil das Wissen losgelöst ist vom konkreten Anlaß, ist die Erkenntnis scharf zu trennen von dem Vorgang des Wiederauffindens der Venus, w i r können auch sagen: von der Subsumtion. Denn w i r finden die Venus nur deshalb wieder, weil w i r den konkreten Himmelskörper m i t abstrakten Merkmalen, mit „Wissen an sich", vergleichen. Dieser Vorgang des Vergleichens hat schon viel m i t methodischer Erkenntnis zu tun. Er soll daher genauer betrachtet werden. Als Ausgangspunkt mag ein Beispiel dienen, welches Chisholm geschildert hat 1 : Vor Robinsons Insel tauchte eines Tages ein Schiff auf. Robinson und sein Diener Freitag sahen beide das Schiff. Aber nur Robinson erkannte, daß es ein Schiff war; denn Freitag hatte keine Vorstellung davon, was ein Schiff sein könnte: er „sah" nur ein sonderbar geformtes Gefährt. Nehmen w i r an, Robinson hätte Freitag eine allgemeine Vorstellung davon vermitteln können, was ein „Schiff" kennzeichnet: schwimmbar, aus Holz gebaut, mit Masten und Segeln. Wie hätte Freitag die A u f gabe gelöst, herauszufinden, ob i n einem Hafen Schiffe liegen? Er hätte alles, was auf dem Wasser schwimmt, mit den Merkmalen verglichen, die i h m Robinson genannt hatte. Anders gesagt, er hätte die Wirklichkeit mit Hilfe eines fest umrissenen Programmes abgefragt. Damit sind zwei Merkmale genannt, die für das Verständnis dessen, was „Erkenntnis" bedeutet, wesentlich sind: Frage und Frageprogramm. 1

6*

Chisholm, R. M., Theory of knowledge, Englewood Cliffs, 1966, S. 10.

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6. Erkennen und Erkenntnis

A u f den ersten Blick möchte das vielleicht nicht einleuchten: entweder liegen i m Hafen Schiffe oder nicht. Ein Blick genügt schließlich, u m das festzustellen. Die Tatsache indes, daß unser Gehirn fähig ist, i n Sekundenschnelle einen Sachverhalt zu ermitteln, ist noch kein Beweis, daß die Dinge so einfach sind, wie sie scheinen. Einfach wäre alles, könnten w i r die Wirklichkeit i m direkten Zugriff erfassen. Das ist aber offenbar nicht möglich. Bleiben w i r bei Freitag: Robinson hat i h m gesagt, was ein Schiff ist, w i r würden vielleicht sagen: Freitag kann den Begriff „Schiff" definieren. Mehr konnte Robinson nicht tun. Alles weitere ist die Sache Freitags. Die Anwendung seines Wissens muß er selbst vollziehen. Er weiß zwar, was ein Schiff ist. Aber „dieses Schiff" existiert nicht, es ist nichts Reales, sondern ein Gedachtes2. Was wahrnehmbar ist, sind Gebilde mit gewissen Eigenschaften, die w i r „Schiffe" nennen, die sich aber i m einzelnen voneinander unterscheiden. Zwischen Wirklichkeit und erkennendes Subjekt schiebt sich die Sprache 3 ; i n unserem Fall ist das der Begriff „Schiff". Was w i r wissen, übersteigt (transzendiert) das konkret Gegebene und ist i m Bereich des Allgemeinen angesiedelt. A l l unser Wissen besteht aus Entwürfen, gedanklichen Gebilden, m i t deren Hilfe w i r die Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke ordnen. Sie befähigen uns, durch Beobachten, Suchen, Vermuten, Vergleichen und Unterscheiden i n der Welt zurechtzukommen 4 . Erkenntnis ist ein Erfassen „als" ein solches5. Daraus folgt: Sie erfaßt nicht gleichsam blind ein Vorgegebenes und versieht es dann m i t einer Bedeutung, sondern enthält immer schon eine Setzung, w i r können sagen: eine Hypothese 6 . Heidegger hat recht, wenn er feststellt: „Auslegung ist nie ein voraussetzungsloses Erfassen eines Vorgegebenen" 7 . Darum können w i r 2 Leinfellner, Einführung i n die Erkenntnis- u n d Wissenschaftstheorie, S. 15. 3 Die Beispiele könnten zu einem Mißverständnis verleiten, vor dem zu warnen ist: Begriffliches Erkennen ist nicht notwendig an psychische E r lebnisse geknüpft. Erkenntnisse u n d Aha-Erlebnisse sind nicht dasselbe. W i r brauchen n u r an den F a l l zu denken, daß Erkenntnisse mittels logischer Ableitungen gewonnen werden: Wer w o l l t e behaupten, w i r Menschen k ö n n ten v o n Natur aus nicht anders denn logisch zu denken? Umgekehrt ist die begriffliche Verallgemeinerung für jede A r t v o n Erkenntnis „logisch auch dann erforderlich, w e n n sie psychologisch ausgelassen w i r d " , vgl. Brecht, Politische Theorie, S. 245; Chisholm, Erkenntnistheorie, S. 80 ff. m. w . N. 4 Weinberger, Faktentranszendentale Argumentation, S. 237 ff.; zum i n strumentalen Charakter der Erkenntnis vgl. ferner K r a f t , Die Grundlagen der Erkenntnis, S. 12 ff.; Albert, Traktat, S. 40; ders., Theorie und Prognose i n den Sozialwissenschaf ten, S. 126 f.; Kaufmann, Α., Die Geschichtlichkeit des Rechts, S. 252 f. zum Problem der „Sprache als Konstituante der W i r k l i c h k e i t " ; Albert, Wissenschaft u n d Politik, S. 206 m . w . N.: „Die Alltagssprache . . . liefert uns gewissermaßen eine gebrauchsfertige Gesamtorientierung". 5 Dazu noch Buschendorf, Recht-Sinn-Glauben, S. 104. 6 Popper, Objektive Erkenntnis, S. 371.

6. Erkennen und Erkenntnis „nicht sehen, wonach w i r nicht fragen" 8 — die Frage ist vorgängig für alles sacherschließende Erkennen 9 . Das kann man sich an Beispielen aus dem A l l t a g der Gerichte klarmachen. Nehmen w i r die Frage der haftungsbegründenden Kausalität: Der Besatzung eines Funkstreifenwagens fällt des nachts ein Kraftfahrzeug mit schadhafter Beleuchtung auf. Der Fahrer soll anhalten, nimmt aber stattdessen reißaus. Die Verfolgungsjagd endet unglücklich: Der Streifenwagen gerät i n einer Kurve ins Schleudern. Die Folge sind Personen- und Sachschäden. Das Problem des Falles 1 0 war, ob der beklagte Fahrer die Körper- und Eigentumsverletzung adäquat verursacht hatte. Dabei liegt die Betonung auf „adäquat". Denn an dem Kausalzusammenhang i m Sinne einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise, wie sie die bekannte „condicio sine qua non"-Formel ausdrückt 1 1 , bestanden keine Zweifel, auch wenn das Verhalten des Beklagten nur eine „entferntere Ursache" 12 war: Wäre er nicht geflüchtet, hätten i h n die Polizisten nicht verfolgt usw. Die Sache scheint unproblematisch zu sein. Und doch braucht man sich nur — gewissermaßen i n einem Gedankenexperiment — auf das sinnlich Wahrnehmbare zu beschränken, u m zu sehen, wie voraussetzungsvoll unsere Betrachtung ist: Noch so genaue Beobachtung fördert nicht mehr zutage als Bewegungsabläufe, deren Sinn unklar ist. Was alles müssen w i r an Wissen mitbringen, u m das aufgeregte Verhalten der Polizisten als „Verfolgungsjagd" zu kennzeichnen, nicht zu reden vom „Ursachenzusammenhang". Ohne i m voraus eine große Menge an verabredeten Verhaltensweisen zu kennen, könnte man keinen Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Beklagten und dem der Polizisten herstellen. Gäbe es die Institutionen der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung nicht, würde niemand auf den Gedanken verfallen, von einem Ursachenzusammenhang zu reden. Searle nennt solche Tatsachen, die nur aufgrund menschlicher Institutionen wie Heiraten, Baseballspielen, Gerichtsverfahren, Geld usw. erklärbar sind, „institutionelle" i m Unterschied zu „natürlichen" Tatsachen 13 . 7 Heidegger, Sein u n d Zeit, S. 149 f. (Zitat, S. 150); ausführliche Darstellung der Verstehens- u n d Auslegungslehre Heideggers bei Buschendorf, RechtSinn-Glauben, S. 48 ff.; Henrichs, Z u m Problem des Vorverständnisses, S. 43 ff. 8 Beck, O b j e k t i v i t ä t u n d Normativität, S. 49 f. 9 Gadamer, Wahrheit u n d Methode, S. 345; Ströker, Einführung i n die Wissenschaftstheorie, S. 24. Das ist nicht zu verwechseln m i t den Fragen, die aus einer Hypothese abgeleitet sind u n d ihrer Überprüfung an der Realität dienen, vgl. Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, S. 204 f. 10 B G H JZ 67, 639 m i t A n m e r k u n g von Deutsch. 11 Vgl. statt aller Palandt / Heinrichs, Vorbemerkung 5 a, bb v o r § 249. 12 B G H JZ 67, 640. 13 Searle, Sprechakte, S. 78 ff.

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7. Das Vorläufige jeder Erkenntnis

7. Das Vorläufige jeder Erkenntnis Immer aber bleibt unser Zugriff auf die Wirklichkeit zunächst hypothetisch; so kann sich herausstellen, daß der Streifenwagen schon einen Auftrag erhalten hatte, als der Beklagte auftauchte. Dann wäre die wilde Jagd keine „Verfolgungsfahrt" gewesen, vielmehr hätte der Zufall beide Fahrzeuge i n dieselbe Richtung geführt. Erkenntnis vollzieht sich also i n Frageform. Die Frage w i r k t wie ein Scheinwerfer, mit dem w i r die Wirklichkeit ausschnittsweise ableuchten 1 ; was nicht davon erfaßt wird, bleibt i m dunkeln. Das w i r d jeder bestätigen, der je auf einem überfüllten Bahnhof oder Flughafen nach einer bestimmten Person gesucht hat; er hat vielleicht ein paar hundert Leute gesehen, und doch hat er sie eigentlich gar nicht „gesehen". Da sie die gesuchten Merkmale nicht aufwiesen, sind sie eindruckslos am Bewußtsein vorbeigeglitten. Eine andere Frage ist, ob das „Programm" der Frage, ζ. B. die Merkmale des Begriffes „Schiff", welches verantwortlich ist für die Scheinwerferfunktion der Frage, starr oder veränderlich ist. Freitag hätte vor diesem Problem gestanden, wäre i h m plötzlich ein Gebilde begegnet, das alle i h m bekannten Merkmale eines Schiffes, darüber hinaus aber noch ein qualmendes Rohr aufgewiesen hätte, zu dem die Leute „Schornstein" gesagt hätten. Niemand käme wohl auf den Gedanken zu sagen, vernünftigerweise müßte Freitag zu dem Schluß kommen, es handle sich bei dem „Dampfsegler" u m kein Schiff. Man w i r d vielmehr sagen, selbstverständlich müsse Freitag diese Erscheinung unter den Begriff „Schiff" subsumieren und bei dieser Gelegenheit eben dazulernen, daß der Ausdruck „Schiff" mehr umfaßt als nur Segelschiffe. Diese Meinung ist auch richtig; ohne die Bereitschaft, ständig unsere Sprache und deren Verwendungsregeln anzupassen, könnten w i r binnen kurzer Zeit m i t den uns zur Verfügung stehenden Begriffen die Verständigung nicht mehr aufrechterhalten: w i r wären buchstäblich „sprachlos". Wissenserwerb: das ist ein aktiver Vorgang 2 , ständige A r beit am Gebäude der Sprache, immerwährende Bewegung und Umschichtung. Auch die Sprache der Juristen spiegelt eine solche Entwicklung w i der. Kaum eine Sprachregelung der Jurisprudenz blieb i m Laufe der Zeit unberührt. So veränderte sich i n § 459 der „objektive" zum „subjektiv-objektiven" Fehlerbegriff 3 . Als Reaktion auf die veränderte 1 Popper, Objektive Erkenntnis, S. 375; A l b e r t , Probleme der Theoriebildung, S. 43. 2 Weinberger, Faktentranszendentale Argumentation, S. 238. Popper, Obj e k t i v e Erkenntnis, S. 85 f.; Albert, Traktat, S. 26,

7.1 Die Suche nach letzten Gründen

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technische und soziale Umwelt, erforderlich geworden insbesondere durch die Anerkennung der Grundrechte i m Verhältnis der Bürger untereinander, entstand ein umfassender Schutz des sogenannten „allgemeinen Persönlichkeitsrechts" 4 bis h i n zur Zahlung von Schmerzensgeld 5 . Oder denken w i r an den Wandel, den die Auslegung des § 812 I durchgemacht hat, insbesondere an die Verdrängung des Merkmals „auf dessen Kosten" durch den Leistungsbegriff®. Ein weiteres Beispiel ist der Wechsel vom materiellen zum formalen Parteibegriff 7 . M i t den Stichworten „(Teil-)Wirksamkeit des Mätressentestaments" 8 oder Unanwendbarkeit der „Subsidiaritätsklausel des § 839 12 bei der Teilnahme am allgemeinen Straßenverkehr" 9 sind Richtungsänderungen i n der Rechtsprechung verknüpft 1 0 . Wie aber steht es angesichts dieser Wandlungen mit methodischer Sicherheit und Überprüfbarkeit?

7.1 Ist wissenschaftliche Erkenntnis „sicher"? Die Suche nach letzten Gründen A l l die beliebig herausgegriffenen Beispiele belegen eine lebhafte Entwicklung der Rechtssätze. Zu fragen ist aber, ob nicht i n den voraufgegangenen Überlegungen unbemerkt die Brücke von der Alltagserkenntnis zur wissenschaftlichen Erkenntnis überschritten wurde. Was immer Tätigkeit und Aufgaben der Jurisprudenz kennzeichnen mag: Es ist keineswegs ihre Aufgabe, nur Rechtssätze zu schaffen, m i t denen sich die Gesetze an die Entwicklung anpassen lassen. Vielmehr hat sie eine Erkenntnisleistung zu erbringen, die, u m es ganz allgemein auszudrücken, mit „Recht und Gesetz" zu t u n hat 1 1 . So überrascht es nicht, auch Sätze m i t umgekehrter Tendenz vorzufinden, i n denen eine Anpassung ausdrücklich abgelehnt wird. Es ist ζ. B. streitig, ob Feststellungsklagen über die Wahrheit reiner Tatsachen zulässig sind 1 2 . 3 RGZ 67, 86, 87; 97, 351, 352. Andererseits RGZ 135, 339, 342 ff.; RGZ 161, 330, 334; B G H Z 16, 54, 55; N J W 72, 1462 f. 4 Ausführlich Schwerdtner, Das Persönlichkeitsrecht i n der deutschen Z i vilrechtsordnung, S. 79 ff. 5 Std. Rspr. seit B G H Z 26, 349. 6 Esser, Schuldrecht I I , S. 339; B G H Z 40, 272, 277; 58, 184, 188; B G H N J W 74, 39, 40; 1132, 1132. 7 de Boor, Z u r Lehre v o m Parteiwechsel u n d v o m Parteibegriff, S. 33 ff., 42 ff. 8 B G H Z 53, 369, 375 ff. 9 B G H N J W 77, 1238 f. 10 Vgl. noch M a y e r - M a l y , Wertungswandel u n d Privatrecht, JZ 81, 801. 11 Vgl. B V e r f G JZ 73, 662, 665 m. A n m . v. Kübler. 12 Dafür: Leipold, Wirksamer Ehrenschutz durch gerichtliche Feststellung von Tatsachen, ZZP 84 (1971), 150, 160 f.; dagegen: B G H N J W 77, 1288, 1289 ff. m. w . N.

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7. Das Vorläufige jeder Erkenntnis

Auch der Hinweis auf die Rechtslage i n der Schweiz beeindruckt den Bundesgerichtshof nicht: Unser Verfahrensrecht kenne nur die Feststellungklage bezüglich eines Rechtsverhältnisses 13 . Das eigenmächtige Herstellen und Verbreiten von Bildnissen sieht der BGH als Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts an und erklärt dazu weiter: „Das Recht darf sich i n diesem Punkt der technischen Entwicklung nicht beugen 14 ." Was aber kennzeichnet diese — ich möchte sagen: professionelle Form der Erkenntnis gegenüber der Alltagserkenntnis? Es liegt nahe zu sagen: Sie ist sicherer, ihr Wissen ist Gewißheit. Manche glauben das. Sie streben nach Gewißheit als dem Ziel der Erkenntnis; alles Wissen müsse auf letzte und sichere Gründe zurückführbar sein 15 . Leider ist uns die Möglichkeit, unser Wissen derart auf ein festes Fundament zu stellen, verschlossen. Ist ζ. B. die Straße naß, so verhilft m i r folgender Satz zu einer Begründung: Wenn es regnet, dann ist die Straße naß. Hat es tatsächlich geregnet, so habe ich eine Begründung für die Nässe gewonnen. Abgekürzt läßt sich das so schreiben: wenn p, dann q Ρ

q

(Obersatz) (Vordersatz) (Nachsatz)

Bildet der Obersatz einen letzten und sicheren Grund? Offenbar ist das nicht der Fall; denn er bedürfte seinerseits einer Begründung. Das ist auf zwei Wegen möglich: Man kann sich wieder einen logischen Zusammenhang suchen, aus dem der Obersatz ableitbar ist, etwa eine Theorie. Die Theorie müßte dann aber wiederum begründet werden usw. Dieser Weg, sich wie i n einem Fahrstuhl auf immer höhere Ebenen der Abstraktion hinaufzuschieben, führt also buchstäblich ins Nichts, nämlich i n einen unendlichen Regreß. Wer das nicht zur Erbauung, sondern zum Zwecke gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis betreibt, bemerkt alsbald, wie aussichtslos dieses Unterfangen ist. Wer nun der Versuchung nicht widerstehen kann, nach soviel Mühsal doch m i t einem „Ergebnis" aufzuwarten, der w i r d die Fahrt ins theoretische Nichts an 13

Vgl. ebd. B G H JZ 67, 317, 319. 15 Brüggemann, Die richterliche Begründungspflicht, S. 22 f., 62; Einzelheiten, auch zur Geschichte, daselbst S. 22 ff. m. w . N. Z u r K r i t i k an diesem Gewißheitsglauben vgl. Schwerdtner, Das Persönlichkeitsrecht, S. 44 ff. m. w. N. Bollnow, O. F., Philosophie der Erkenntnis, 1970, S. 21: „Die A n fangslosigkeit gehört zu den unentrinnbaren Bedingungen aller menschlichen Erkenntnis." 14

7.1 Die Suche nach letzten Gründen

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irgendeiner Stelle unterbrechen und nunmehr verkünden, die Wahrheit sei gefunden. Irgendeinen Satz w i r d er m i t der Weihe der Erkenntnis versehen, auf daß er nunmehr unser Wissen trage: so entsteht dann ein Dogma 16 . Solcher Dogmatismus mit seiner „selbstfabrizierten Gewißh e i t " 1 7 eignet sich i n der Tat nicht, unsere Erkenntnis zu erweitern 1 8 . Weil die „Rechtsdogmatik" das belastende Wort „Dogmatik" i n ihrem Namen führt, macht sie sich verdächtig. Gleichwohl wecken die A n griffe gegen sie mitunter Erinnerungen an den bekannten „Watschenmann"; denn geht sie wirklich von „unveränderlichen Autoritäten" und „dogmatisch vorausgesetzten Wahrheiten" aus 19 ? Besteht w i r k l i c h ein „Denkzwang" 2 0 ? Stellt sie wirklich ihre einzelnen Sätze „außer Frage"? 21 . Solche Fragen stellen, heißt sie verneinen. Die Tatsache, daß der Text des Gesetzes unveränderlich ist, rechtfertigt nicht den V o r w u r f des „Dogmatismus'". Denn das Gesetz ist nicht allein, sondern nur zusammen mit den dogmatischen Sätzen geeignet, Entscheidungen zu begründen; es ist also nur ein Teil des Systems, welches die Begründbarkeit sicherstellen soll 2 2 . Dieser Teil ist zwar insofern „dogmatisch", als der Text durch den Gesetzgeber als Autorität festgelegt wurde und gegen Veränderungen durch den Rechtsanwender i m m u n ist. Teilimmunisierung bewirkt aber keineswegs die Immunisierung des Gesamtsystems 23 . Um von „Dogmatismus" reden zu dürfen, müßten daher auch die der Buchstabenfolge des Gesetzes hinzugefügten inhaltlichen A u f fassungen mit einem Gewißheitsanspruch versehen sein. Gerade dazu besteht aber kein Anlaß. Die Rechtsdogmatik ist keineswegs tot 2 4 , und 16

Vgl. zum Ganzen A l b e r t , T r a k t a t über kritische Vernunft, S. 8 ff. m. w . N. Ebd. S. 34. 18 Schmidt, R., Methoden u n d Techniken der Wissenschaft, S. X X I I I ; zu den politischen Gefahren vgl. Emge, Die Bedeutung der rechtssoziologischen Sachverhalte für die Dogmatik, S. 188: „ M a n weiß heute freilich auch, w i e spielend einander m i t Hilfe einer solchen Dogmatik und der entsprechenden Bewußtseinslage des gut eingepaßten Juristen die heterogensten Systeme ablösen. Wie handlich u n d bereit für einander ablösende Regime! . . . die ganze Apparatur funktioniert perfekt jeweils i m Neuen, ohne daß dabei auch n u r ,mit der W i m p e r gezuckt* würde." 19 Esser, Vorverständnis, S. 8 f., 91, 94. Der Verfasser spricht von „autonomer Dogmatik", vgl. ebd. S. 157 Fn. 33. Inzwischen hat Esser klargestellt, daß er selbst einen Sprachgebrauch v o n Dogmatik bevorzugt, der wesentlich weiter ist als der hier wiedergegebene: ders., Dogmatik zwischen Theorie und Praxis, S. 519 f., 522, 524 f., 530, 532 f. Die Frage ist allerdings, ob m a n dann noch von „autonomer" Dogmatik sprechen kann. 20 Meyer-Cording, K a n n der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 15. 21 Ballweg, Rechtswissenschaft u n d Jurisprudenz, S. 118 m. w . N. 22 Vgl. v. Savigny, Juristische Dogmatik u n d Wissenschaftstheorie, S. 106. 23 v. Savigny, Die Jurisprudenz i m Schatten des Empirismus, S. 99. 24 Wie Meyer-Cording S. 32 meint. 17

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7. Das Vorläufige jeder Erkenntnis

es besteht auch kein Bedürfnis für ihr Ableben 2 5 . Dogmatisches Denken ist nicht dasselbe wie Dogmatismus 26 . Erkenntnis setzt, wie das B i l d vom Scheinwerfer verdeutlicht, immer voraus, daß die Sache unter einem besonderen Blickwinkel — sozusagen ausschnittsweise — angepeilt wird. Als Dogmatik kann man dann eine Theorie bezeichnen, die den Gegenstand aus dem besonderen Aspekt heraus beschreibt 27 . Betrachten ein Physiker, ein Biologe, ein Maler und ein Landwirt etwa einen Apfel, so sehen sie alle ihn „ m i t anderen Augen", obwohl es immer der nämliche Apfel ist. Weil sie den Gegenstand „Apfel" unter ganz verschiedenen Aspekten „anschneiden", sind ihre Theorien darüber auch ganz unterschiedlich. Die Verschiedenheit unserer Auffassungen und damit unseres Sehens erklärt, warum Gerichte den A n spruch der Parteien auf rechtliches Gehör verletzen und ein „Überraschungsurteil" fällen können, ohne daß die Richter ihr Urteil auf völlig neue Tatsachen gestützt hätten 2 8 . Bewerten sie die bekannten Tatsachen i m Urteil aus einer anderen dogmatischen Sicht, so sind das eben nicht mehr dieselben Tatsachen wie vorher. Der neue dogmatische Standpunkt hebt einen Wirklichkeitsausschnitt ans Licht, der bislang nicht Gegenstand des Verfahrens war, und er bewirkt somit einen „Wechsel der entscheidungstragenden Prozeßthematik" 2 9 . Daraus erhellt aber zugleich, daß man nie sicher sein kann, ob sich i n der Bewertung von Tatsachen nicht noch weitere dogmatische Ansätze finden lassen. Von Dogmatismus könnte man erst reden, wenn etwa Gerichte eine bestimmte Auslegung als unbezweifelbar und für alle Zeit gültig und unabänderbar bezeichneten. Derartiges schreibt kein Richter i n eine Entscheidung.

7.2 Logik ist nur ein Instrument der Kritik Der Weg i n die Höhe auf der Suche nach letzten Gründen jedenfalls ist zwecklos; „hinter jedem Wächter der Wahrheit taucht ein neuer auf", u m ein B i l d von Kafka 8 0 zu gebrauchen. So bleibt nichts übrig, als abzuspringen und den zweiten Weg zu gehen, nämlich die Hypothese an der Wirklichkeit zu überprüfen. Als 25

Vgl. Arzt, Rechtsdogmatik u n d Rechtsgefühl, J A 78, 557 f. m. w. N. Dazu Rothacker, Die dogmatische Denkform, S. 249 f.; v. Savigny, Die Jurisprudenz i m Schatten des Empirismus, S. 100; ders., Juristische Dogmatik u n d Wissenschaftstheorie, S. 106; de Lazzer, Rechtsdogmatik als Kompromißformular, S. 87, 105. 27 Rothacker, S. 294. 28 Vgl. B V e r w G H F R 78, 387. 29 Ebd.; vgl. auch § 278 I I I ZPO. 30 I n seiner Erzählung „Das Gesetz". 28

8. Die Bedeutung von Theorien

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Beispiel mag der Satz dienen: Alle ausgewachsenen Schwäne sind weiß 8 1 . Nehmen w i r an, diese Aussage bestätige sich: So oft w i r einen ausgewachsenen Schwan sehen — jedesmal ist er weiß, wie es auch unserer Alltagsbeobachtung entspricht. Weiß ich nun m i t Gewißheit, daß dies immer, ausnahmslos und für alle Zeiten so sein wird? Dann müßte es möglich sein, von der Wahrheit der Untersätze „p" und „q" auf die Wahrheit des Obersatzes: „wenn p, dann q" zu schließen. Das ist aber nicht möglich; es gibt zwar einen logischen Schluß vom Untersatz auf den Obersatz, aber nur mit dem Ziel, die Unwahrheit des Obersatzes zu beweisen: Wenn ein Schwan erwachsen ist, dann ist er weiß. W i r sehen einen erwachsenen nicht-weißen Schwan. Der Satz „Wenn ein Schwan erwachsen ist, dann ist er weiß" t r i f f t nicht zu. Begegnen w i r also einem nicht-weißen Schwan, so ist die Unwahrheit des Obersatzes bewiesen 32 : denn aus wahrem Obersatz und wahrem Vordersatz folgt — wie oben dargestellt — zwingend der wahre Nachsatz. Ist das nicht der Fall, obwohl der Vordersatz wahr ist — w i r stehen einem ausgewachsenen Schwan gegenüber —, so muß der Obersatz falsch sein. So ist zwar die Unwahrheit von Sätzen, nicht aber ihre Wahrheit mit Sicherheit beweisbar: die Logik ist kein Instrument für positive Begründungen, sondern ein solches der K r i t i k 3 3 . Das Ergebnis lautet: Gewißheit über die Richtigkeit von Aussagen ist kein taugliches Kriterium, um Alltagserkenntnis von wissenschaftlicher Erkenntnis zu unterscheiden.

8. Die Bedeutung von Theorien Dann sind es vielleicht die Theorien, welche die Wissenschaft dem Alltagsverstande voraus hat? Das klingt plausibel; etwas Ähnliches wie die Relativitätstheorie, Theorien über die Entstehung der Erde oder des Lebens gehören wohl nicht zum Alltagswissen. Andererseits hatten schon die bisherigen Überlegungen gezeigt, wieviel Theorie notwendig ist, u m auch nur einfache Erkenntnisleistungen zu vollbringen. Oder man denke an den Straßenverkehr i n einer Großstadt: Ohne die A n 31

Gleichbedeutend m i t : w e n n a ein Schwan ist, dann ist a weiß. Tatsächlich ist durch eine derartige Beobachtung der Allsatz „ A l l e Schwäne sind weiß" falsifiziert worden. 33 Albert, A u f k l ä r u n g u n d Steuerung, S. 71; Popper, Logik der Forschung, S. 16, 44 ff.; Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften, S. 52; vgl. noch v. Savigny, Juristische Methodik u n d Wissenschaftstheorie, S. 127 ff. 82

8. Die Bedeutung von Theorien wendung theoretischen Wissens würde sich das, was w i r Straßenverkehr nennen, i n eine Katastrophe verwandeln; und welche komplizierten physikalischen Gesetze muß ein Fußballspieler anwenden, wenn er den heranfliegenden, i n sich rotierenden und von der Witterung beeinflußten Ball mit dem Kopf oder Fuß i n eine bestimmte Richtung lenkt. Die Notwendigkeit, theoretisches Ausgangswissen zu bilden, ist damit die Voraussetzung jeder Erkenntnis. U m eine Frage zu stellen, benötigt der Erkennende ein beträchtliches Ausgangswissen 1 ; deshalb konnte Freitag den Begriff „Schiff" nicht einfach „aus der L u f t " greifen, er stand vielmehr zunächst ratlos vor der merkwürdigen Erscheinung. Ist ein Gegenstand kompliziert und schwer erkennbar, so ist das theoretische Wissen, mit dessen Hilfe der Gegenstand „begriffen" werden muß, entsprechend kompliziert: Das erklärt, warum Theorien abstrakt und i n der sinnlich wahrnehmbaren Umwelt so nicht auffindbar sind. Wie steht es ζ. B. mit der Erkenntnis von Kausalgesetzen? Sie sind nicht einfach vorzufinden; was w i r sehen, ist folgende merkwürdige Erscheinung: Eine Billardkugel setzt sich i n Bewegung, wenn eine andere K u gel sie anstößt. Das Kausalgesetz, den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, können w i r nicht wie gegenständlich wahrnehmbare „Dinge" einfach auffinden, sondern w i r können es nur denken; es sind hypothetische Annahmen 2 . Als ein juristisches Beispiel für die K l u f t zwischen Theoriebereich und sinnlich Vorfindlichem kann eine bekannte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts dienen, das zu A r t . 12 GG ergangene sogenannte „Apothekenurteil" 3 . A n i h m läßt sich anschaulich studieren, wie das Verständnis einer Textstelle von nur wenigen Zeilen, die als Erkenntnisgegenstand vorgegeben ist, einen umfänglichen theoretischen „Überbau" erfordert. Die Entscheidung spricht ausführlich über „Berufsausübung" und „Berufswahl" sowie die Befugnisse des Gesetzgebers i m jeweiligen Bereich 4 . Hieraus entwickelt das Gericht eine Regelungsbefugnis i n mehreren Stufen 5 , bekanntgeworden als „Stufentheorie" 6 , die i n aller Kürze besagt: Die Ausübung des Berufes dürfe der Gesetzgeber nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit regeln. Sei dagegen die Berufswahl betroffen, so könne sie zwar von der Erfüllung subjektiver Voraussetzungen abhängig gemacht werden; objektive Bedingungen dürften dagegen grundsätzlich nicht aufgestellt werden, da sie dem 1 2 3 4 5 6

Vgl. Rombach, Über Ursprung und Wesen der Frage, S. 169. Vgl. Stegmüller, Das Problem der Kausalität, S. 17. BVerfGE 7, 377 ff. Ebd. S. 400 ff. Ebd. S. 405 ff. Maunz / D ü r i g / Herzog / Scholz, Grundgesetz, A r t . 12, Rdnr. 32.

8. Die Bedeutung von Theorien

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Einfluß des einzelnen entzogen seien. Schlägt dann der Leser nach dem Studium der langen Entscheidung das Grundgesetz auf, so findet er nicht mehr vor als die kargen Worte: „Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden" (Art. 12 I GG). Aber so sehr w i r dieses „Zugangswissen" auch benötigen; weil uns Gewißheit versagt ist, bleibt es fragwürdig und w i r d i n die Frage hineingenommen 7 . Dogmatismus kann auf diese Weise nicht entstehen. Eine solche Frage hat daher stets den Charakter eines Versuchs: „Daß es »Versuch' und »Experiment' i n der Wissenschaft gibt, liegt i m Wesen ihrer Frageweise und ist nicht nachträglich hinzugebracht 8 ." Weil die Frage die Voraussetzungen, von denen sie ausgeht, nicht als unveränderlich ansehen und stets für möglich halten muß, daß sich ihr „Sinn" verändert oder sie gar „sinnlos" wird, kurz: weil die Frage ihre eigene Berechtigung immer mitfragen muß, erlangen w i r dieses „Wissen auf Widerruf" 9 stets aufs Neue. Darum ist die „Lehre" als nachträglicher Wiedervollzug des wissenschaftlichen Frageganges ein Tun, das dem Forschen notwendig zukommt 1 0 . Weiß ich nun, warum meine Feststellung über einen Gegenstand i n bestimmter Weise ausfällt, dann muß sie morgen und übermorgen und — grundsätzlich — für alle Zeit immer gleich ausfallen. Natürlich kann ich nicht voraussagen, daß es so sein wird; dem steht die prinzipiell fehlende Gewißheit entgegen. Jedenfalls aber ist wissenschaftliche Erkenntnis gerichtet auf gesetzmäßige Beziehungen, nicht auf individuelle Besonderheiten: Ein — wie Seeleute wohl sagen würden — „verrosteter Eimer" ebenso wie der blütenweiße Luxusliner erfüllen beide die Merkmale des Begriffes „Schiff". Nur die Wiederkehr immer gleicher Merkmale i n immer gleicher gesetzmäßiger Verbindung kann i n uns den Glauben begründen, nicht nur einen Zufallstreffer erzielt, sondern Erkenntnis gewonnen zu haben 11 . Erkenntnis ist bleibend, sozusagen der Aktualität entrückt; nur deshalb können w i r i n den beiden Gegenständen des Beispielsfalles die Tatsache „Schiff" wiedererkennen. Erkenntnis richtet sich nicht auf individuelle Phänomene, sondern auf 7

Rombach, Uber Ursprung, S. 169. Ebd. 9 Leinfellner, Einführung i n die Erkenntnis- u n d Wissenschaftstheorie, S. 96 f. 10 Rombach, Über Ursprung, S. 190; Frey, Philosophie u n d Wissenschaft, S. 98; zutreffend deshalb die Bemerkung v o n Henke, A u t o r i t ä t u n d E i n sichtigkeit, S. 45, daß „ w i r Forschung u n d Lehre einfach nicht trennen können". 11 Vgl. Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, S. 13. 8

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8. Die Bedeutung von Theorien

gesetzmäßige Beziehungen 12 . Erkennen als Tätigkeit sucht deshalb nach dem Gleichen i m Mannigfaltigen 1 3 , nach einer „invarianten Ordnung" 1 4 , „obj ektiven Βeschreibung" 15 , „Obj ektivation" 1 β , „invarianten Strukt u r " 1 7 oder wie immer man das nennen w i l l . W i r beschreiben diese Eigenschaft der Welt ζ. B. m i t Hilfe von Naturgesetzen, allgemein mit sogenannten „nomologischen Hypothesen": das sind „Immer-und-Überall-wenn-dann-Aussagen" 18 . Ein Verbund solcher Hypothesen, verknüpft durch logische Beziehungen, heißt dann „Theorie" 1 9 . So hat man Hypothesen über gesetzmäßige Beziehungen zwischen Einkommen, Verbrauch, Sparen und Investition zu Theorien über Geldwertschwankungen verbunden 2 0 . Solche Theorien können ein beträchtliches A b straktionsniveau erreichen bis h i n zu rein formalen Gleichungen, Formeln, Kalkülen ohne Realitätsbezug 21 . Sie sind i n diesem Zustand buchstäblich nichtssagend. Den Verlust an Wirklichkeit muß man wieder ausgleichen und dem abstrakten Schema Wirklichkeitsgehalt zuführen, w i l l man das theoretische Wissen verstehen und anwenden. Das geschieht m i t Hilfe von Zuordnungsdefinitionen oder von beispielhaft genannten Anwendungsfällen 2 2 . So werden theoretische Begriffe wie Kraft, Masse, Länge, Zeit, Geschwindigkeit, Beschleunigung definiert, indem man angibt, wie sie gemessen werden 2 3 . Erst diese „Interpretation" gibt dem Theorienzusammenhang dann eine Bedeutung 24 . 12 Matz, Uber die Bedingungen einer Kooperation v o n Wissenschaft u n d P o l i t i k , S. 25 ff. 13 K r a f t , K o n s t r u k t i v e r Empirismus, S. 315; Weinberger, Faktentranszendentale Argumentation, S. 239. 14 K r a f t , Die Grundlagen der Erkenntnis, S. 10, 12 ff. 15 Weinberger, Argumentation, S. 238. 16 Lorenz, Die Rückseite, ebd. 17 Leinfellner, Einführung i n die Erkenntnis- u n d Wissenschaftstheorie, S. 96. 18 A l b e r t , Probleme der Theoriebildung, S. 25; Spinner, Theorie, i n : Handbuch, S. 1493; ferner Popper, Objektive Erkenntnis, S. 219: Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften, S. 48. 19 Albert, Probleme, S. 27. Näheres bei Leinfellner, Einführung, S. 101 ff. I m „ G r e n z f a i r besteht die Theorie aus einer Hypothese u n d ihren A b l e i tungen, vgl. A l b e r t ebd. — Wagner, Die Theorie i n der Rechtswissenschaft, JuS 63, 457 f. betont zu recht, daß nicht jede Ansicht schon eine „Theorie" sei. 20 Vgl. Lipfert, E i n f ü h r u n g i n die Währungspolitik, 5. A u f l . 1971, S. 21 ff. 21 Vgl. Spinner, Theorie, S. 1492 f., 1496, 1500 f. 22 Theobald, Grundzüge der Wissenschaftsphilosophie, S. 84. 23 Siehe Leinfellner, Einführung, S. 106. Dieses A n k o p p e l n v o n Sätzen über Beobachtbares an Sätze aus der Theorie b i r g t einige Schwierigkeiten, auf die ich hier nicht eingehen w i l l : Vgl. Stegmüller, Wissenschaftliche E r k l ä r u n g u n d Begründung, S. 93 ff.; Ströker, Wissenschaftstheorie, S. 70 ff.; Leinfellner, S. 143 ff.; K r a f t , Die Grundformen der wissenschaftlichen Methoden, S. 110; Berger, H., Erfahrung u n d Gesellschaftsform, 1972, durchgehend. 24 Frey, Hermeneutische u n d hypothetisch-deduktive Methode, S. 37; K r a f t , Die Grundlagen der Erkenntnis, S. 48 f.; Ströker, Wissenschaftstheorie, S. 69 f.; ein Beispiel erörtert v. Savigny, Juristische Dogmatik, S. 110 ff.

9.1 Die Methode der Überprüfung

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Aber nicht nur das: T r i t t die Wirklichkeit der Dinge nur gleichsam bruchstückhaft i n „Erscheinung" — die Reaktion der angestoßenen durch die anstoßende Kugel können w i r nur als ein „Zeichen" deuten für die Existenz eines Kausalgesetzes —, so müssen w i r fragen: wie können w i r gleichwohl u m sie wissen? Anders gefragt: Woher wissen wir, ob w i r eine brauchbare Theorie vor uns haben? Erinnern w i r uns: Erkenntnis erfordert Wissen, das über das sinnlich Wahrnehmbare hinausgeht. Nehmen w i r nun an, jemand behauptete, Ursache des Donners sei Thor, der seinen Hammer geschwungen habe. Was ist von einer solchen „Theorie" zu halten? Gewiß fände sie nicht viele Anhänger. Aber warum nicht? Wie also hält man Wissenschaft und Mythologie, wie Zufall und Notwendigkeit auseinander? Dieser Frage ist nunmehr nachzugehen.

9. Die Notwendigkeit, Theorien zu überprüfen Vorab ist wiederum einzuräumen: Sicher werden w i r nie sein können, ob w i r nicht doch einem I r r t u m erlegen sind. Gleichwohl gibt es m i t dieser Einschränkung ein Unterscheidungskriterium, das uns erlaubt, Erkenntnis und Spekulation zu scheiden: die Überprüfung an Beobachtbarem 1 . Wer das Gravitationsgesetz i n Zweifel zieht, der läßt sich vielleicht vom Gegenteil überzeugen, wenn man i h m einen Ziegelstein auf den Fuß fallen läßt. A n dieser Stelle ist auch das Körnchen Wahrheit des Satzes verborgen: Ein Blick ins Gesetz erspart wissenschaftliche Ausführungen. Ist also die „Dreistufentheorie" Spekulation oder läßt sie sich auf das Gesetz stützen? 9.1 Die Methode der Überprüfung Wie die heilsame Forderung zu erfüllen ist, daß man einen überprüfbaren Beweis für theoretische Spekulationen antrete, ergibt sich aus dem bisher Gesagten fast von selbst: Die Methode, die uns Erkenntnis vermitteln soll, muß einen „empirisch-spekulativen Charakter" besitzen 2 . Zu prüfen sei eine Hypothese über einem bestimmten Beobachtungsbereich. Wie diese Hypothese zustandekommt, ist i m Grunde gleichgültig: Sie kann aus einer Theorie abgeleitet oder eine induktive Verallgemeinerung von Einzelbeobachtungen sein, kann aber auch auf 1

Popper, Logik der Forschung, S. 7 f.; Scheuch / Rüschemeyer, Soziologie u n d Statistik, S. 346 ff.; Diemer, Die historische Voraussage, S. 98: „ n u r ein Gott könnte Allgemeinsätze verifizieren". 2 Pfeil, Einführung i n die Philosophie, 4. A u f l . 1975, S. 155.

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9. Die Notwendigkeit, Theorien zu überprüfen

einem Gedankenblitz beruhen. Den Juristen zwingt i n der Regel ein echter oder fingierter Rechtsstreit dazu, Hypothesen über den Inhalt von Normen auszubilden; sein Beobachtungsbereich ist der Gesetzestext. Weil aber das „Schiff", das „Kausalgesetz", die „Dreistufentheorie" des Bundesverfassungsgerichts das Wahrnehmbare übersteigen, müssen diese theoretischen Sätze zum Zwecke der Nachprüfung mit dem Bereich des Erfahrbaren verbunden werden. Hierzu müssen wir, bildlich gesprochen von oben nach unten, aus der Haupthypothese Unterhypothesen deduktiv ableiten, aus diesen ggfl. weitere Unterhypothesen usf., bis w i r zu einer Sorte von Sätzen gelangen, die einen beobachtbaren Sachverhalt ausdrücken, ζ. B. „die Temperatur an diesem Raumpunkt beträgt 25° C", oder „ i m Gesetz steht: unverzüglich bedeutet ,ohne schuldhaftes Zögern 1 ". Es folgt dann die Anweisung: Sieh nach, ob das Thermometer diesen Wert anzeigt und ob der Satz i m Gesetz steht. Je nach dem Ergebnis der Überprüfung haben sich dann die Unterhypothesen und schließlich die Haupthypothese bewährt oder nicht: der Denkweg verläuft also anschließend wieder von unten nach oben 3 . Das erklärt, warum man hier von einer „hypothetisch-deduktiven Methode" spricht 4 . Das Verfahren zwingt immer wieder dazu, die theoretischen Annahmen anhand ihrer Konsequenzen zu überprüfen. So leitet das Bundesverfassungsgericht aus der Dreistufentheorie ab, eine Begrenzung der Zahl von Apotheken sei unzulässig 5 , hält andererseits aber eine Begrenzung der Amtsstellen der Notare für erlaubt 6 . Einen Anhaltspunkt für die Bestätigung dieser entgegengesetzten A n nahmen fand das Gericht i n A r t . 33 GG: Die Vorschrift erlaube Sonderregelungen, die das Grundrecht des A r t . 12 I GG auf freie Berufswahl zurückdrängten. Die Zahl der verfügbaren Arbeitsplätze für Berufe des öffentlichen Dienstes dürfe deshalb nach „Gesichtspunkten des sachlichen Bedürfnisses" bestimmt werden. Obwohl keine Beamte, gelte diese Regelung auch für Notare. Sie erfüllten Staatsaufgaben, und der Beruf sei nach Eigenart und Berufsrecht (Amtssitz, Amtssiegel, Amtseid usw.) dem öffentlichen Dienst vergleichbar 7 . 3

Göttner, L o g i k der Interpretation, S. 24 ff.; Bocheùski, Die zeitgenössischen Denkmethoden, S. 107 ff.; Leinfellner, Einführung, S. 102 f.; Brecht, Politische Theorie, S. 108 ff.; Wagner, Die Theorie i n der Rechtswissenschaft, JUS 63, S. 458. 4 Ströker, Einführung i n die Wissenschaftstheorie, S. 68; Frey, Hermeneutische u n d hypothetisch-deduktive Methode, durchgehend; A l b e r t , Probleme der Theoriebildung, S. 6 f.; Sachsse, H., Kausalität-Gesetzlichkeit-Wahrscheinlichkeit, 1979, S. 84 ff. 5 BVerfGE 7, 377, 379, 443. 6 BVerfGE 17, 371. 7 Ebd. S. 376 ff. (Zitat S. 377).

9.2 Ein Beispiel

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Instanzen der Überprüfung, so kann man also sagen, sind Logik und Erfahrung 8 . Dabei soll das Gebot nach Überprüfung an erfahrbaren Daten ein Absinken ins rein Spekulative verhindern. Die Forderung nach Uberprüfung an der Logik hat eine andere Funktion: Sie gewährleistet die Überprüfbarkeit der Ableitung. So genügt i m Falle der „Dreistufentheorie" nicht die Feststellung, sowohl die Ableitung über die Apotheken als auch diejenige über die Notarstellen ließen sich i m Objektbereich 9 , nämlich anhand des Gesetzes, bestätigen. Hinzukommen muß, daß beide Sätze aus der Dreistufentheorie folgen und i n der Theorie enthalten sind. Dann und nur dann kann eine Bestätigung der unteren Glieder der Hypothesenhierarchie auch eine Bestätigung der Theorie selbst sein. Weil w i r alle i n der Lage sind, die Ergebnisse zu überprüfen, entsteht so ein Wissen besonderer A r t ; es ist anderem Wissen gegenüber durch seine intersubjektive Übertragbarkeit ausgezeichnet 10 , von i h m läßt sich deshalb sagen, daß es Gemeinbesitz ist 1 1 . Das geschilderte Verfahren bringt solches intersubjektiv gültiges Wissen hervor: es soll deshalb „wissenschaftliche Methode" heißen. Der „Ausflug" i n die Erkenntnistheorie hat somit die erhoffte K l a r heit darüber erbracht, was methodische Überprüfbarkeit bedeutet 12 . Damit steht ein Instrument zur Verfügung, m i t dessen Hilfe nunmehr der Frage weiter nachgegangen werden kann, ob die Jurisprudenz „methodisch" vorgeht. 9.2 Ein Beispiel Insbesondere das Postulat, die Verbindung zwischen Theorie und sinnlich wahrnehmbarer Welt durch logische Ableitungen herzustellen sowie die weitere Forderung, die Ableitungen empirisch zu überprüfen, erinnern beim ersten Hinsehen an Physik, Mechanik, Experiment, kurz: an naturwissenschaftliche Verfahren. Ihre Merkmale erfüllen die Voraussetzungen, von denen gesicherte Erkenntnis abhängt. Die Frage ist aber: Taugt diese Methode für uns Juristen? Oder müssen w i r uns mit einem Weniger an Exaktheit begnügen? A m nachfolgenden Beispiel sollen diese Fragen geklärt werden. Vom Ergebnis w i r d abhängen, ob es weiterhin sinnvoll ist, der politischen Argumentation nachzuspüren. Nehmen w i r an, das juristische Denken folgte nicht den 8

Albert, Probleme der Theoriebildung, S. 7. Der Ausdruck „Objektbereich" bezeichnet jenen Ausschnitt aus der Wirklichkeit, den ein theoretischer Satz beschreiben w i l l (Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, S. 69), also dasjenige, worüber der Satz spricht. 10 Brecht, Politische Theorie, S. 135 f. 11 Theobald, Grundzüge der Wissenschaftsphilosophie, S. 43. 12 Oben II.6. 9

7 Zinke

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9. Die Notwendigkeit, Theorien zu überprüfen

Regeln wissenschaftlicher Methode. Dann verfügten w i r über kein scheidungskräftiges Merkmal, u m traditionelle und politische Begründungen überprüfen zu können. Denn die Untersuchung folgt nicht einer beliebigen Hinsicht, sondern fragt ausdrücklich nach wissenschaftlicher Erkenntnis. Es wäre daher unergiebig, weiterhin einer Meinung k r i tisch nachgehen zu wollen, die sich dagegen wendet, daß juristische Entscheidungen nur m i t dem Gesetz begründet werden. Denn auf methodisch gesicherte Weise wären derartige Begründungen ohnehin nicht möglich. Sollte sich allerdings das juristische Denken jedenfalls i m Prinzip den dargestellten Regeln wissenschaftlicher Methodik zuordnen lassen, so hätten w i r einen Maßstab gewonnen, an dem w i r auch die politische Argumentation messen könnten. Prüfen w i r also, ob j u ristische Begründungen dem hypothetisch-deduktiven Denkschema folgen. U m der Versuchung zu entgehen, ein „passendes" Beispiel zu konstruieren, habe ich den Fall einem amtsgerichtlichen Urteil entnommen. Es geht dabei u m die Frage, ob das Betreiben eines bordellartigen Betriebes i n einer Mietwohnung ein „vertragswidriger Gebrauch" i. S. v. § 553 BGB ist. Das Beispiel 1 3 gibt eine von mehreren denkbaren A r gumentationen wieder. Deshalb ist zunächst der Zusammenhang zu entwickeln, damit der Gedankengang verständlich wird. Das ist noch aus einem anderen Grunde nützlich: W i r werden auf Beispiele stoßen, i n denen mit der „Wertordnung des Grundgesetzes" argumentiert w i r d und dabei sehen, wie problematisch solche Begründungen sind. Die Klägerin ist Eigentümerin eines Wohn- und Geschäftshauses m i t etwa 20 Mietparteien. A n die Beklagte zu 1 vermietete sie eine Wohnung. Als „Benutzungszweck" ist i m Mietvertrag festgelegt: „Pelznäherei oder Wohnräume", ferner: „Untervermietung ist gestattet". Die Beklagte zu 1 vermietete die Räume weiter an den Beklagten zu 2. Unter „Benutzungszweck" steht i m Mietvertrag: „Zur Ausübung eines Gewerbes". Der Beklagte zu 2 nahm zwei finnische Studentinnen i n die Wohnung auf. Sie eröffneten i n der Wohnung zum Zwecke der Prostitution einen „Massage-Salon" und warben m i t Zeitungsanzeigen unter Angabe der Telefonnummer. Die Klägerin erfuhr, u m welche A r t von Massagen es sich handelt. Weil sie u m den guten Ruf ihres Hauses fürchtete, kündigte sie der Beklagten zu 1 fristlos wegen vertragswidrigen Gebrauchs. Sie nimmt beide Beklagten auf Herausgabe i n Anspruch. 13 F a l l nach A G F r a n k f u r t / M . v o m 2.10.1974 (33 C 4249/74). Das U r t e i l ist durch Teilabdruck i n JUS 75, Heft 5, S. V I I I f. unter der R u b r i k : Heiteres aus Gerichts- u n d Behördenakten u n d durch eine Presseveröffentlichung: F A Z v o m 12.12.1974 bekannt geworden. Das U r t e i l t e i l t weitere Einzelheiten m i t , vgl. den Abdruck des Originals i m Anhang.

9.2 Ein Beispiel

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Die Klagen haben aus § 556 I und I I I Erfolg, wenn das Hauptmietverhältnis durch die fristlose Kündigung beendet worden ist. Grundlage ist § 553; entscheidend ist somit die Frage, ob das Betreiben des „Massage-Salons" ein „vertragswidriger Gebrauch" ist. Das hängt davon ab, was i m Einzelfall als „vertragsgemäßer" Gebrauch bestimmt ist und zu welchem Zweck die Wohnung vermietet wurde. Entscheidend hierfür ist vor allem der Inhalt des Vertrages 14 . Als Benutzungszweck ist „Pelznäherei oder Wohnräume" festgelegt worden. Diese Vereinbarung bestimmt auch die Grenzen der Weitervermietung. Wohnzwecken diente die Untervermietung nicht — zumindest nicht i n erster Linie. Das ergibt schon die Klausel „Zur Ausübung eines Gewerbes" i m Untermietvertrag. Aber auch die gewerbliche Nutzungserlaubnis deckt nicht den tatsächlich verfolgten Zweck. Denn ebenso, wie die Verkehrsauffassung darüber entscheidet, ob eine Betätigung noch dem Begriff des „Wohnens" unterfällt oder schon „gewerbliche Nutzung" ist 1 5 , entscheidet die Verkehrsauffassung auch darüber, was mangels vertraglicher Festlegung die Klausel „Pelznäherei oder Wohnräume" bedeutet. Verkehrsauffassung meint den Kontext, i n dem und von dem her eine sprachliche Wendung ihre Bedeutung erhält. W i r d die Wohnung also nicht gerade i n einem Vergnügungsviertel vermietet, läßt sich soviel sagen, daß damit eine Tätigkeit gemeint ist, die nach einem Alltagsverständnis als „bürgerlich" zu gelten hat. Dabei interessiert hier nicht, was von einem derartigen Verständnis zu halten ist 1 6 . Von Bedeutung ist allein, was die Parteien vereinbart haben. Jedenfalls steht diesem Verständnis die Nutzung der Wohnung zum Zwecke der Vornahme sexueller Handlungen gegen Entgelt geradezu entgegen 17 . Die Wohnung w i r d also zu einem vertragsfremden Zweck benutzt. Ob das ein „vertragswidriger" Gebrauch ist, bedarf allerdings besonderer Prüfung. Man muß nämlich fragen, ob nicht die Änderung des Vertragszwecks zulässig ist 1 8 . 14 Ebenso ζ. B. Esser, Schuldrecht I I , S. 102; Larenz, Schuldrecht I I , S. 178; Medicus, StudK, § 536, 2, § 550, 1; Palandt / Putzo, § 535, 2 a, § 550, 2 m. w. N.; Erman / Schopp, § 550 Rdnr. 3; M ü l l e r , Der vertragsgemäße Gebrauch der Mietsache bei der Vermietung v o n Räumen zu Wohnzwecken, Z M R 70, 289: Der Begriff des Wohnzweckes sei i n erster L i n i e negativ, d . h . v o n den Schranken her zu bestimmen. 15 Ebd. S. 291. 16 Daß die Unterscheidung m i t H i l f e der „Bürgerlichkeit" fragwürdig sein kann, zeigt Kühne, Prostitution als bürgerlicher Beruf? ZRP 75, S. 184 ff. m. w . N. 17 O L G K ö l n N J W 74, 1830, 1831 (erotischer Massagesalon): Erhebliche Verletzung des Scham- u n d Sittlichkeitsgefühls i n sexueller Hinsicht. Bei „häufiger wechselnden Männerbekanntschaften" zieht offenbar auch das L G Bonn N J W 76, 1691 re. Sp. die Grenze. E r m a n / Schopp, § 550 Rdnr. 3 m . w . N.: Vertragswidrig sei ein Gebrauch, der dem allgemeinen Moralgefühl widerspreche.



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9. Die Notwendigkeit, Theorien zu überprüfen

I n der einschlägigen Rechtsprechung und Literatur steht denn auch diese Frage i m Vordergrund, wenn es u m das sexuelle Verhalten von Mietern und Untermietern geht. Dabei lassen sich, ohne daß dies i n allen Fällen auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führt, zwei Argumentationsrichtungen unterscheiden. Eine Meinung billigt dem Mieter von Wohnräumen sexuelle Handlungsfreiheit bis zur Grenze strafbarer Handlungen zu. Sie rechtfertigt das mit der Wertordnung des Grundgesetzes. Entgegenstehende Klauseln i n Mietverträgen verstießen gegen A r t . 2 GG und die Grundsätze des sozialen Rechtsstaates 19 . Sie bevorzugten überdies Eigentümer gegenüber Nichteigentümern 20 . Folgt man dieser Auffassung, so ist nur zu fragen, ob das Betreiben eines „Massage-Salons" strafbar ist. Ist dies zu verneinen, liegt kein vertragswidriger Gebrauch vor 2 1 . Dieser Meinung folgt auch das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt, welches als Vorlage für unser Beispiel dient 2 2 . Die Argumentation der Gegenmeinung knüpft an die Vertragsfreiheit an. Danach kann ein Verbot, dritte Personen oder Angehörige i n die Wohnung aufzunehmen, wirksam vereinbart werden 2 3 . Selbst ohne ausdrückliches Verbot hat die Rechtsprechung eine Vertragsverletzung darin gesehen, daß die Mieterin ihren Verlobten auf Dauer i n die Wohnung aufgenommen hat 2 4 : Der Vermieter brauche einen Konkubinat i n seinem Hause nicht zu dulden; diese A r t des Zusammenlebens werde nicht durch A r t . 6 GG geschützt 25 . Die Aufnahme des Verlobten i n die Wohnung sei auch geeignet, das Ansehen des Vermieters zu beeinträchtigen 2 6 . 18

Vgl. Müller, Der vertragsgemäße Gebrauch, S. 291 m. w . N. A G Siegen Z M R 71, 239, 240; A G Wiesbaden W M 72, 46 m i t zustimmender A n m e r k u n g v o n Nies; Schneider, T., Z M R 73, 325; Tondorf, W M 74, 229, der aber die Grenzen enger zieht (gewerbsmäßige Unzucht usw.). 20 A G Wiesbaden W M 72, 46 f.; Schneider, T., Z M R 73, 131, 132. 21 A G Wiesbaden W M 72, 46; Schneider, T., Z M R 73, 132 f., (dort auch zur Strafbarkeit nach altem Recht). Z u r Strafbarkeit ferner O L G K ö l n N J W 74, 1830; Lüthge-Bartholomäus, N J W 75, 1871, 1872 f. m i t weiterer (verwaltungsgerichtlicher) Rechtsprechung, vgl. noch Beer, JUS 77, 374, 376 m. w. N. 22 A n h a n g S. 195. 23 L G Mannheim D W W 75, 165 f. 24 L G K ö l n Z M R 74, 141 f. ( = W M 74, 242); ablehnend Tondorf, W M 74, 229. T. bemängelt die „engherzige Auffassung" des Gerichts, ohne das Problem der Vertragsfreiheit zu diskutieren. Vgl. ferner Schmidt-Futterer, WRSchG, Β 476 m. w. Ν.; v e r m i t t e l n d L G Bonn N J W 76, 1690. Nach A G Bremervörde Z M R 74, 146 besteht k e i n Kündigungsgrund, w e n n dem Vermieter bei Abschluß des Mietvertrages bekannt war, daß die Mieter nicht verheiratet, sondern n u r verlobt waren. 25 L G K ö l n Z M R 74, 142. Z u dem Argument Kühne, Prostitution als bürgerlicher Beruf? ZRP 75, 184, 185 m. w . N. Ferner Erman / Schoop, § 550 Rdnr. 3 m. w . N. 19

9.2 Ein Beispiel

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Nach dieser Auffassung ist also die vom vertraglich vereinbarten Zweck abweichende Nutzung ein „vertragswidriger Gebrauch". Für die Zulässigkeit der fristlosen Kündigung kommt es nur noch darauf an, ob die Vertragsverletzung erheblich ist. A n dieser Stelle interessiert jedoch nicht diese Frage, sondern allèin die Stichhaltigkeit der Gegenmeinung. Welche Wirkung haben also die A r t . 2, 3, 20 I GG auf die Vertragsfreiheit i m Mietrecht? Der Wortlaut dieser Vorschriften sagt hierüber nichts aus. Man mag davon ausgehen, daß die Grundrechte über die Generalklauseln auch i n das Privatrecht hineinwirken 2 7 . Dann ist die Frage, ob es gegen § 1381 verstößt, wenn es der Vermieter untersagt, daß Verlobte — wenn auch vielleicht nur i m Rahmen eines „intensiven Besuchsrechts" 28 — i n die Wohnung aufgenommen werden. Wer dies 29 unter Hinweis auf veränderte Moralauffassungen bejaht, sagt aber damit zugleich dieses: Minderheiten können ihre Ansichten nicht mehr wirksam zum Inhalt von Mietverträgen machen, wenn sich die Ansichten über Moral ändern und toleranter werden, m i t der Folge, daß dem Vermieter nur noch die Entscheidung bleibt, zu vermieten oder nicht zu vermieten 3 0 . Das ist aber eine fragwürdige Konsequenz. Denn aus der Änderung von Moralauffassungen folgt nur, daß man ein zuvor als sittenwidrig empfundenes Verhalten nunmehr hinnimmt. Ist deshalb eine Ansicht, die nach wie vor von der Sittenwidrigkeit solchen Verhaltens ausgeht, nun ihrerseits sittenwidrig 3 1 ? Diese Behauptung kann man nicht m i t guten Gründen vertreten: Eher scheint ein Widerspruch i n der Auffassung zu stecken, jemand, der i n Sachen „Moral" strenger ist als die Allgemeinheit, verstoße schon dadurch gegen die guten Sitten. Argumentiert man nicht m i t dem Grundgesetz, sondern direkt m i t § 138 I, dann geht es u m die Frage, ob die Beschränkung der Freiheit 26 L G K ö l n Z M R 74, 142; vgl. dazu noch L G Mannheim N J W 77, 160 zu § 263 StGB. 27 Larenz, Grundsätzliches zu § 138 BGB, S. 119; B V e r f G seit BVerfGE 7, 198, 204 ff.; Schneider, T., Z M R 73, 325 m. w . N.; zur D r i t t w i r k u n g von G r u n d rechten auf Wohnraummietverträge ferner Weimar, W M 74, 49. 28 Einen solchen Grenzfall behandelt L G Aachen Z M R 73, 330. 29 Wie Schneider, T., Z M R 73, 131 f.; ders., W M 75, 221 u n d die v o n i h m angeführte Rechtsprechung; Tondorf, W M 74, 229; Weimar, W M 74, 50; A G F r a n k f u r t siehe Anhang, S. 195 f. 30 Hierbei w i r d i h m allerdings sogar ein willkürliches Verhalten zugebilligt, vgl. Hummel, Z M E 71, 265, 267; zurückhaltend aber Weimar, W M 74, 49. 31 Auch der Wertempirismus, der Versuch also, über faktische W e r t h a l t u n gen i n der Bevölkerung zu rechtlich verbindlichen Sollenssätzen zu gelangen, bietet aus mancherlei Gründen keinen Ausweg; statt aller vgl. die Darstell u n g u n d K r i t i k bei Röhl, Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, S. 180 ff. m i t Nachweis des Meinungsstandes.

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9. Die Notwendigkeit, Theorien zu überprüfen

übermäßig und damit sittenwidrig ist. Larenz 8 2 hat hierzu Beispielsfälle aus der Rechtsprechung geschildert. Sittenwidrigkeit ist danach angenommen worden bei „Knebelungsverträgen", beim Herbeiführen wirtschaftlicher Abhängigkeit durch sicherungsweise Übertragung aller Vermögenswerte und bei übermäßig einschränkenden Konkurrenzoder Betätigungsverboten. Eine schwere Beeinträchtigung der w i r t schaftlichen Bewegungsfreiheit kennzeichnet also die Beispiele. Vor diesem Hintergrund erkennt man, daß i m vorliegenden Fall eine vergleichbare Behinderung nicht gegeben ist; das Verbot, eine A r t Bordell i n der Wohnung zu betreiben, t r i f f t einen Mieter keineswegs i n unerträglicher Weise. Ist es nun noch Aufgabe des Richters, über das eben Gesagte hinaus Überlegungen anzustellen 88 , etwa darüber, ob das Verbot gewerbsmäßiger Unzucht i n Mieträumen zu einer unberechtigten Bevorzugung von Eigentümern gegenüber Nichteigentümern führt? Der Gesetzgeber hat das Mietrecht i n jüngerer Zeit geändert, nämlich 1971, 1974 und 197684. Man kann deshalb annehmen, daß er i m übrigen die Ausgestaltung des Mietverhältnisses „dem freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte . . . überlassen" wollte 8 5 . Dann aber stimmt die Feststellung, „daß die Vermieterbelange trotz der Sozialbindung des Eigentums nach A r t . 14 Abs. 2 GG insofern einen Mindestbestand aufweisen, als Vertragsfreiheit und persönliche Freiheit auch des Vermieters respektiert werden müssen" 86 . Das Bundesverfassungsgericht spricht von den „üblichen Elementen des i m Grundgesetz angelegten dialektischen Verhältnisses von verfassungsrechtlich garantierter Freiheit und dem Gebot einer sozialgerechten Eigentumsordnung" 8 7 . Bei der Ausgestaltung zwingender mietrechtlicher Vorschriften seien deshalb die Belange des Mieters wie die des Vermieters i n gleicher Weise zu berücksichtigen 88 . Die Begründungen m i t der Verfassung sind also wenig überzeugungskräftig, wenn es u m die Entscheidung von Rechtsfällen geht. 32

Larenz, Grundsätzliches zu § 138 BGB, S. 110 f. Vgl. Schmidt-Futterer, W M 70, 161 u n d das dort wiedergegebene I n t e r v i e w m i t Leibholz. 34 Z u m sozialen Mietrecht Palandt / Putzo, A n m . 13 vor § 535; Derleder, Das System des sozialen Mietrechts u n d seine Grundprobleme, J A 77, 337, 436, 490, 538. 35 L G Hamburg M D R 71, 303; L G B e r l i n W P M 75, 530 zur Wirksamkeit einer Vereinbarung i m Mietvertrag über ein Lastschrift-Einzugsverfahren. 36 Ritter, F. L., A n m . zu O L G Karlsruhe M D R 70, 849, M D R 71, 50. „ V e r tragsfreiheit" als Argument hat selbstverständlich nicht überall das gleiche Gewicht. Die Frage ist immer zu stellen, ob sie nicht faktisch i n bestimmten Fallgruppen nicht mehr besteht. Vgl. dazu am Beispiel des Kaufs fabrikneuer Autos Knieper, Sachmängelgewährleistung u n d Verbraucherschutz, J A 77, 97. 37 B V e r f G N J W 74, 1499 z u m WKSchG. 38 Ebd. S. 1500. 33

9.2 Ein Beispiel

103

Denn Grundrechtsnormen sind überwiegend vage Rechtssätze, die keinen durch Interpretation wenigstens annähernd bestimmbaren Inhalt haben 89 . Sie sind nur durch eine Entscheidung festzulegen. Hierzu ist der Richter aber erst genötigt, wenn die i h m vorgelegte Streitfrage vom Gesetzgeber nicht geregelt worden ist 4 0 . Davon kann hier keine Rede sein. Deshalb sind i n unserem Beispiel die Ausführungen des Amtsgerichts Frankfurt über Änderungen i n der Bewertung sexueller Verhaltensweisen durch die Allgemeinheit 4 1 nicht überzeugend. Denn die abstrakte Feststellung, daß sich Meinungen i n der Bevölkerung wandeln, ist für die Vermieterin keine überzeugende A n t w o r t auf die Frage, warum sie die Ausübung der Prostitution i n ihrem Haus dulden muß. Doch wollen w i r den Fall nicht weiter vertiefen. Lediglich diejenige Position, welche vom Grundsatz der Vertragsfreiheit ausgeht, sollten w i r i n Erinnerung behalten. Denn nunmehr soll geprüft werden, ob ihren Gedankengängen das hypothetisch-deduktive Denkmuster zugrundeliegt: HH

=

Haupthypothese.

AH

= abgeleitete Hypothese.

US

= Überprüfungssatz (er drückt aus, was die Überprüfung i m Beobachtungsbereich — dem Gesetz — ergibt).

HH

= Es ist ein „vertragswidriger Gebrauch" i. S. v. § 553, w e n n der Mieter abweichend v o n vertraglichen Vereinbarungen i n den Mieträumen sexuelle Handlungen gegen Entgelt vornehmen läßt.

AHi

= Maßgeblich für A r t u n d Umfang der Benutzung der Mieträume durch den Mieter ist der Mietvertrag.

AH2

= Es besteht grundsätzlich Vertragsfreiheit; dies g i l t auch für die Benutzimg der Mietsache.

AH2.1

= Das Gesetz bestimmt: es besteht Vertragsfreiheit, u n d dies g i l t auch i m Mietrecht.

AH2.11

= Eine N o r m bestimmt: es besteht Vertragsfreiheit.

ÜS2.11

= Nein, eine solche N o r m existiert nicht; die Hypothese ist nicht bestätigt.

39 Opp, Soziologie i m Recht, S. 124 „ . . . das Grundgesetz . . . enthält eine einzigartige Sammlung v o n Leer formein, unter die fast beliebige Sachverhalte subsumierbar sind". 40 Vgl. Säcker, Die Konkretisierung vager Rechtssätze durch Rechtswissenschaft u n d Praxis, S. 228 ff., 234 m. w . N. 41 Anhang, S. 195 f.

104

9. Die Notwendigkeit, Theorien zu überprüfen

AH2.12

=

AH2.121

= Eine N o r m bestimmt: Schuldverhältnisse können durch Vertrag begründet u n d inhaltlich bestimmt werden.

US2.121

= § 305 bestimmt: „ Z u r Begründung eines Schuldverhältnisses durch Rechtsgeschäft sowie zur Ä n d e r u n g des Inhalts eines Schuldverhältnisses ist ein Vertrag zwischen den Beteiligten erforderlich, soweit nicht das Gesetz ein anderes vorschreibt". Die Hypothese ist bestätigt.

AH2.13

= § 305 g i l t für das gesamte Schuldrecht u n d daher auch für das Mietrecht.

AH2.131

= Der Gesetzgeber hat die Vorschrift als allgemeingültig v o r das besondere Schuldrecht gezogen.

Es existiert eine Norm, die das Bestehen v o n Vertragsfreiheit voraussetzt.

AH2.1311 = § 305 steht i m allgemeinen T e i l des Schuldrechts. US2.1311 = Die Vorschrift steht v o r dem 7. Abschnitt, i n welchem die einzelnen besonderen Schuldverhältnisse geregelt sind. AH2.1312 = Das Mietrecht ist i m zugehörigen besonderen Teil des Schuldrechts geregelt. US2.1312

=

AH2.2

= Der Gesetzgeber hat i n Kenntnis der Vertragsfreiheit die Benutzung der Mietsache nicht ausdrücklich geregelt.

AH2.21

= Das Mietrecht enthält zwar zwingende Regelungen, sie betreffen aber nicht den Verwendungsszweck.

US2.21

= Das Mietrecht enthält zwingende Regeln, ζ. B. über Mängel u n d Mietzins, Untermiete, Kündigung, Erhöhung des Mietzinses usw., z . B . §§ 537 I I I ; 541; 543,2; 547a I I I ; 549 I I 3; 550a; 554 I I Nr. 3; 554 a, 2; 554 b; 556 a V I I ; 556 b I 2; 557 I V ; 557 a I I ; 564 b V I ; 565; 565 c; A r t . 3 des 2. WKSchG.

AH2.22

=

ÜS2.22

= Der Gesetzgeber hat erst i n jüngerer Zeit K ü n d i g u n g u n d M i e t höhe geregelt, 2. WKSchG v. 18.12.1976 i. d. F. v. 18. 8.1978.

Die Vorschriften über die Miete stehen i m 7. Abschnitt.

Der Gesetzgeber hat zahlreiche zwingende Regelungen nachträglich i n das Mietrecht eingefügt.

9.2 Ein Beispiel

105

Schematisch sieht das dann so aus 42 : HH

AHi

ÜS 2 .n

US2.121

US2.1311

US2.1312

ÜS2.21

US2.22

GESETZ Abbildung 1

Wie sich Abbildung 1 entnehmen läßt, folgen auch juristische Begründungen jenem Schema von Ableitung und Überprüfung, das w i r als „wissenschaftliche Methode" bezeichnet hatten: Aus der theoretischen Aussage H H sind Unterhypothesen A H abzuleiten bis h i n zu Sätzen ÜS, die am Gesetz zu überprüfen sind und dabei entweder bestätigt (wie US2.121) oder widerlegt (wie ÜS2.11) werden. Entsprechend sind dadurch die übergeordneten Hypothesen bestätigt oder widerlegt worden. Damit wäre an sich der Weg frei, u m i n gleicher Weise, wie dies soeben bei der „traditionellen" Methode geschehen ist, auch politische Begründungen am Maßstab wissenschaftlicher Erkenntnis zu messen. Zuvor aber ist auf einen grundsätzlichen Einwand einzugehen, weil dieser Einwand die Gültigkeit der hypothetisch-deduktiven Methode innerhalb der Jurisprudenz bestreitet. Der Grundgedanke dieser Meinung lautet: Für die Geisteswissenschaften ist allein eine eigene Methode des Verstehens und nicht ein Verfahren, wie es i n der Naturwissenschaft verwendet wird, angemessen. Das gelte auch für die Jurisprudenz. 42

Die Pfeile bezeichnen den Denkweg u n d seine Richtung.

106

10. Das „Verstehen" in der Jurisprudenz

10. Das „Verstehen" in der Jurisprudenz Sie ist, so sagt man 1 , eine hermeneutische Wissenschaft. Ihr Anliegen sei es, auch i n jenen Bereichen noch vernünftig zu verstehen, die der logisch-empirischen Methode verschlossen seien 2 . Nun ist solch k r i t i scher Frage zuzugeben, daß es sicherlich Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, von denen sich die Schulweisheit nichts träumen läßt, aber man möchte doch sogleich hinzufügen: Für diesen Bereich ist die Schulweisheit eben nicht zuständig. Dieser Einwand ist, wie betont sein soll, nicht bloß schiere Polemik. Er läßt sich durch das Erleben eines großen Philosophen erläutern: Der Nobelpreisträger Bertrand Russell schildert i n seiner Autobiographie 3 , wie ihn das Interesse an gesicherten Grundlagen i n der Mathematik immer weiter von der Wirklichkeit entfernte. Der erste Weltkrieg schließlich und der Anblick der „jungen Männer, die i n Truppentransporte verladen wurden, u m an der Somme abgeschlachtet zu werden" 4 , besiegelte dann die Einsicht, der Wirklichkeit der Welt und der Menschen zuzugehören. Wenn auch die Hoffnung auf Gewißheit und Vollkommenheit zerbrach, so ließ Russell sich doch i n seiner Überzeugung von dem, was Erkenntnis sein kann, nicht beirren: „Ich glaube immer noch, daß etwas 1 Henke, W., K r i t i k des kritischen Rationalismus, S. 28; Larenz, Methodenlehre, S. 181 ff. 2 Henke, W. K r i t i k , S. 24 ff.; Leicht, V o n der Hermeneutik-Rezeption zur S i n n k r i t i k i n der Rechtstheorie, S. 72; vgl. weiter Larenz, Methodenlehre, S. 181 ff.; ebenso z. B. Canaris, Systemdenken u n d Systembegriff, S. 147; Kaufmann, Α., Die „ipsa res iusta", S. 36; Brüggemann, Die richterliche Begründungspflicht, S. 47: „Die i n der A n w e n d u n g des Rechts sich v e r w i r k lichende Rechtssdhöpfung ist ein Vorgang des geistigen Seins, dem ein spezifisch geisteswissenschaftliches Verfahren eignet (Moment des ,Verstehens')" ; Meyer-Cording, K a n n der Jurist heute noch Dogmatiker sein?, S. 43 f. A n ders aber Wolf, E., Allgemeiner T e i l des bürgerlichen Rechts, S. I X ; K i l i a n , Juristische Entscheidung u n d EDV, S. 83 ff. m. w . N.; K r i t i k auch bei Säcker, Die Konkretisierung vager Rechtssätze durch Rechtswissenschaft u n d Praxis, S. 217 f.; vgl. ferner Dreier, Z u m Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft, S. 48 ff.; Röhl, Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, S. 27 f., 30, 95 f., 109, 111 ff. m . w . N.; Schmidt, S. J., Z u m Dogma der p r i n z i piellen Differenz zwischen N a t u r - u n d Geisteswissenschaft, durchgehend; Diskussion u n d K r i t i k des „Verstehens" bei Stegmüller, Wissenschaftliche E r k l ä r u n g u n d Begründung, S. 360 ff.; K r a f t , Die Grundformen der wissenschaftlichen Methoden, S. 12 f., 22 ff.; A l b e r t , Plädoyer für kritischen Rationalismus, S. 106 ff.; zahlreiche Belege enthält das „Jahrbuch für Rechtssoziologie u n d Rechtstheorie", Band 2, 1972; scharfe K r i t i k an der Lehre v o m „Vorverständnis" ü b t Sack, Einige Fragen u n d Probleme der Rechtsanwendung aus soziologischer Sicht, S. 407 ff. 3 Russell, B., Philosophie. Die E n t w i c k l u n g meines Denkens, deutsch 1973, S. 217 ff. 4 Ebd. S. 220.

10. Das „Verstehen" in der Jurisprudenz nur dann wahr ist, wenn es eine bestimmte Beziehung zu bestimmten Tatsachen hat, und daß Tatsachen i m allgemeinen etwas sind, was vom Menschen unabhängig ist" 5 . Mag also das „Verstehen" m i t menschlichem Erleben und dem „Sinn" von menschlichen Handlungen untrennbar verbunden sein, so entbindet diese Einsicht nicht von der Verpflichtung, Rechenschaft darüber abzulegen, was Erkenntnis ist und was nicht. Soweit „Verstehen" als eine besondere Methode der Geisteswissenschaften dargestellt wird, zeigt sich bei näherem Zusehen rasch, wie fragwürdig eine solche Ansicht ist. Die Aufgabe, den Sinngehalt von Normen zu erfassen, beschreibt Larenz als einen Prozeß des Vorausund Zurückblickens und der wechselseitigen Erhellung von Vormeinung und Textzusammenhang, ein Prozeß, der nicht linear verlaufe®. Wo läßt sich dieser Vorgang i n die schematische Darstellung des Erkenntnisvorganges 7 einfügen? Wie es scheint, bleibt nur ein Ort: jener Bereich, der zur Formulierung der Hypothesen hinführt. I m übrigen verläuft der Gedankengang linear. Was folgt aus dieser Ortsbestimmung? Läßt sich durch Larenz* Beschreibung erweisen, daß die hypothetisch-deduktive Methode doch nicht für uns taugt? Denn daß „Verstehen" i n einer Wissenschaft wie der Jurisprudenz, die es mit Texten zu t u n hat, zumindest „vorkommt", w i r d niemand bestreiten wollen. Welchen Raum aber nimmt das „Verstehen" ein? Der Frage wollen w i r nachgehen und dazu auf unser Beispiel zurückgreifen. Folgender Einwand wäre etwa denkbar: Ist nicht die Hypothese AH2.13: „§ 305 gilt für das gesamte Schuldrecht und daher auch für das Mietrecht" 8 durch „Verstehen" gewonnen worden? Der Einwand wäre zwar nicht eigentlich „falsch" — er träfe aber nicht den Punkt, auf den es ankommt. Denn nicht darum geht es, wie eine Hypothese „gewonnen" wird; entscheidend ist vielmehr, ob die Hypothesenhierarchie einen logischen Zusammenhang bildet, ob also i n unserem Beispiel AH2.13 Teil einer Folgerungsbeziehung ist. Verfolgen w i r nochmals den Gedankengang: Wenn das Abweichen von vertraglichen Vereinbarungen ein Verstoß gegen § 553 BGB sein soll, dann muß der Mietvertrag maßgeblich für die Regelung der gegenseitigen Rechte und Pflichten sein. Das wiederum setzt voraus, daß die Rechts5 Ebd. S. 220. Eines allerdings bleibt bei dieser Feststellung zu beachten: Was eine Tatsache ist, läßt sich n u r schwer beantworten; vgl. Ströker, Wissenschaftstheorie, S. 30 ff., 74; Eley, Faktum, in: Handbuch, S. 436 ff. β Larenz, Methodenlehre, S. 181, 184 f., 192; für einen dialektischen D e n k stil plädiert auch Horn, Rationalität u n d A u t o r i t ä t i n der juristischen A r g u mentation, S. 147 ff. 7 Oben S. 105. 8 Oben S. 104. Entsprechendes läßt sich für andere Hypothesen, etwa für

AH2.2, feststellen.

108

10. Das „Verstehen" in der Jurisprudenz

Ordnung vertragliche Abmachungen als verbindlich anerkennt. Da es u m die rechtliche — nicht etwa nur die verkehrsübliche — Verbindlichkeit geht, muß der Gesetzgeber den Grundsatz der Vertragsfreiheit anerkannt haben. Das ist, wenn w i r vom „Besonderen Teil" für einen Moment absehen, i n § 305 BGB geschehen; denn nach dieser Vorschrift erfordern schuldrechtliche Beziehungen grundsätzlich einen Vertrag. Daraus folgt aber umgekehrt, daß der Abschluß eines Vertrages auch genügt, damit Versprechungen verbindlich werden. I m Mietrecht — wie überhaupt i m „Besonderen Schuldrecht" — fehlt eine Vorschrift, die den i n § 305 BGB ausgesprochenen allgemeinen Grundsatz auf die speziellen Vertragsverhältnisse ausdehnt. I n den §§ 535, 536 BGB ist andererseits nur die Überlassung des Gebrauchs i n einem ordentlichen Zustand sowie die Zahlung des Entgelts geregelt. Sollen also zusätzliche Vereinbarungen, die ζ. B. den Gebrauch näher regeln, wirksam sein, so hängt das davon ab, daß § 305 BGB auch für das Mietrecht gilt. Das ist der Inhalt von AH2.13· Der Satz spricht also eine Voraussetzung aus, von der ein anderer Satz logisch abhängt. A n dieser Stelle ist lediglich zu diskutieren, ob tatsächlich eine logische Verknüpfung besteht. Die eigentlichen Zweifelsfragen werden regelmäßig entstehen, wenn zu entscheiden ist, ob die Hypothesen sich bestätigt haben oder nicht. A n dem Einwand, der hier zu erörtern war, ist richtig, daß auch die Ableitungen zunächst auf „Verstehen" angewiesen sind: denn die Hypothesen und deren Untergliederungen fallen nicht einfach vom H i m mel. Ohne Rechtskenntnisse beispielsweise würde es schwerlich gelingen, einen Zusammenhang wie den i n Abbildung 1 skizzierten 9 zu entwickeln. Das ist aber nichts Ungewöhnliches und gilt für jede Wissenschaft, i n der Inhalte von Bedeutung sind — und das sind keineswegs nur die „Geisteswissenschaften". Das Verstehen führt aber, und daran ist festzuhalten, noch nicht zu einem „Schluß", wie Larenz meint 1 0 , sondern verhilft dazu, die Hypothesen zu formulieren 1 1 .

9

Oben S. 105. Methodenlehre, S. 181; vgl. ders., Die Bindung des Richters an das Gesetz als hermeneutisches Problem, S. 300 f. 11 Vgl. Stegmüller, Wissenschaftliche E r k l ä r u n g u n d Begründung, S. 362; Göttner, Logik der Interpretation, S. 24 f.; Schmidt, S. J., Z u m Dogma der prinzipiellen Differenz zwischen N a t u r - u n d Geisteswissenschaften, S. 10; Frey, Hermeneutische u n d hypothetisch-deduktive Methode, S. 35, 39, der die juristische Interpretation allerdings ausklammert, S. 31; Rapp, Methode, in: Handbuch, S. 923; K r a f t , Geschichtsforschung als strenge Wissenschaft, S. 74 ff. Sinn u n d Verstehen bedeuten dabei nicht i m m e r dasselbe: vgl. Leat, D., Das mißverstandene „Verstehen", i n : Acham, K . (Hrsg.), Methodologische Probleme der Sozialwissenschaften, 1978, S. 102 ff.; A l b e r t , Plädoyer für kritischen Rationalismus, S. 106 ff., 135 ff.; ausführlich Göttner, S. 61 ff. 10

11. Der „Zirkel des Verstehens"

109

11. Der „Zirkel des Verstehens" Die Forderung nach „linearer Gedankenführung" erzeugt aber sogleich und zwangsläufig eine andere Frage: ob nicht den juristischen Ergebnissen eine Subjektivität und Zirkelhaftigkeit zu eigen ist, die genauer Erkenntnis eine Grenze setzt. Verantwortlich dafür soll der „hermeneutische Zirkel" oder „Zirkel des Verstehens" sein 1 : Weil der Rechtsanwender sowenig wie jeder andere Mensch aus der „Haut" der konkreten geschichtlichen Situation, i n welcher er handelt, herauskönne, spiegele sein T u n notwendigerweise zugleich sein Gegenwartsverständnis wider: es komme irgendwie immer wieder das heraus, was er über sein „Vorverständnis" von der gerechten Lösung an die Interpretation einer Norm herantrage. Deshalb spricht man von einem „ontologischen Strukturmoment des Verstehens" 2 , was wohl soviel heißen soll wie: Er habe ein unvermeidbares „Vorurteil". Greifen w i r eines der Beispiele heraus, anhand derer A. Kaufmann den Zirkel i m Denken der Juristen aufzuzeigen versucht: Es betrifft A r t i k e l 2 GG und hat Argumentationen zum Gegenstand, i n denen Aussagen „über die ,Natur 4 , das ,Wesen', den »Sinn4 des Menschen und des Rechts . . ." 3 enthalten sind. Anlaß ist die i m Zusammenhang m i t der Diskussion u m das Abtreibungsverbot umstrittene Frage, ob das K i n d i m Mutterleib den Schutz von A r t . 2 GG genießt. Kaufmann zeigt auf, daß einem naturrechtlichen Zirkelschluß unterliegt, wer glaubt, die Frage bejahen oder verneinen zu können. Halte man eine A n t w o r t jedoch für nicht möglich, so argumentiere man gleichermaßen i n einem Zirkel; nur sei es diesmal ein positivistischer 4 . I n jedem Falle werde als Ergebnis nur das herausgeholt, was man vorher an Prämissen hineingelegt habe. Welche Bedeutung haben die voraufgegangenen Überlegungen für den Juristen, der einen Fall lösen soll und zu diesem Zweck das Gesetz auslegen, d.h. Hypothesen über den Inhalt der gesetzlichen Bestimmungen aufstellen muß? A n welcher Stelle muß er über den Zirkel nachdenken? Nirgends? I n der Tat: da der Zirkel gerade kein methodischer sein soll 5 , fehlt i h m die praktische Bedeutung. Das ist über1 Kaufmann, Α., Über den Zirkelschluß i n der Rechtsfindung, S. 15; Esser, Vorverständnis, S. 136 ff., 142 ff. Die Ausdrücke bezeichnen nicht ein einzelnes, abgrenzbares Problem, sondern eine Vielzahl v o n Fragen, vgl. Stegmüller, Der sogenannte Z i r k e l des Verstehens, S. 26 f.; Göttner, Logik der Interpretation, S. 131 ff. 2 Kaufmann, Α., Uber den Zirkelschluß i n der Rechtsfindung, S. 16 ff. m i t Nachweis des einschlägigen philosophischen u n d juristischen Schrifttums; vgl. noch Dreier, Z u m Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft, S. 49 f. m. w . N. 3 Kaufmann, Α., Uber den Zirkelschluß, S. 9; Hervorhebung i m Original. 4 Kaufmann, Α., Über den Zirkelschluß, S. 9 f.

110

11. Der „Zirkel des Verstehens"

raschend. Denn man müßte eigentlich erwarten, daß eine für wissenschaftliche Erkenntnis unerwünschte Erscheinung wie ein Zirkel i r gendwo aufweisbar wäre. Auch müßten an sich die Realwissenschaften i n die Diskussion viel stärker einbezogen werden. Denn auch für Naturwissenschaften beispielsweise gilt, daß ihr Gegenstand nicht einfach eine Sache, sondern ebenfalls etwas Prozeßhaftes ist 6 , bei dem das Verstehen etwa von Hypothesen oder von Theorien eine große Rolle spielt. Gleichwohl w i r d ihnen weder Exaktheit noch objektive Überprüfbarkeit der Ergebnisse bestritten. Von der Jurisprudenz aber heißt es: „Wenn von einer gesicherten Erkenntnis der neueren Interpretationsdiskussion gesprochen werden kann, so ist es gewiß das Eingeständnis der subjektiven, gefühlsmäßigen Steuerung jeder Norminterpretation und die Ablösung jeder Diskreditierung des richterlichen „Vor-Urteils", durch welche sich alle Theorien auszeichneten, die das gefundene Ergebnis formallogisch zu begründen suchten 7 ." Hat der Zirkel also doch konkrete Konsequenzen? Der Punkt, an dem das möglich wäre, ist die Nahtstelle zwischen Theoriebereich und Objektbereich. Denn hier ruht das System aus Hypothesen auf dem Objektbereich auf. Es ist dies der Übergang von der logischen Ableitung zur induktiven Überprüfung, also etwa das Verhältnis von AH2.11 zu ÜS2.11 i m Beispiel 8 . Trennt man hier den Vorgang der Überprüfung nicht ab von der zu überprüfenden Hypothese, so darf man nicht ernsthaft erwarten, daß die Hypothese i n Frage gestellt wird. E i n Zirkel entsteht an dieser Stelle aber nur dann, wenn sich der Anwender entschließt, unsauber zu arbeiten. Ansonsten befolgt er die Anweisung: „sieh nach, ob eine Norm existiert, i n der geschrieben steht: es besteht Vertragsfreiheit", ohne sich u m die Hypothesen zu kümmern, welche zu der Suche angeregt haben. Das Ergebnis dieser Suche ist dann unabhängig von der Hierarchie der angenommenen Obersätze. Ein Zirkel entsteht nicht. Aber erhärtet nicht das Beispiel von Kaufmann, auf das w i r hingewiesen haben 9 , die These, juristische Auslegungen bewegten sich i n einem Kreis? Das ist nicht der Fall. Man stelle sich zunächst vor, die eben angedeutete Diskussion fände ohne Bezug auf A r t . 2 GG statt. Für jedermann sichtbar handelt es sich dann u m politische oder weltanschauliche Meinungsäußerungen. Schlußfolgerungen wären aufgrund der vorher bezogenen Standpunkte als interessebedingte erkennbar. 5

Kaufmann, Α., Über den Zirkelschluß, S. 16, 18. Henrichs, Z u m Problem des Vorverständnisses, S. 49, 54; Hübner, E r kenntnistheoretische Fragen der Geschichtswissenschaft, S. 51 f. 7 Burmeister, Die Verfassungsorientierung der Gesetzesauslegung, S. 61. 8 Oben S. 103, 105. 9 Oben 11. bei Fn. 3. β

11. Der „Zirkel des Verstehens"

111

Was läßt sich aber erweisen, wenn man die Diskussion nunmehr i n den Bezugsrahmen von A r t . 2 GG verlegt, indem man also den gleichen Vorgang nunmehr „Interpretation" nennt? Sicherlich nicht, daß juristische Argumentationen nicht ohne Zirkel auskommen. Vielmehr läßt sich dadurch zeigen, daß A r t . 2 GG keinen angebbaren und umschreibbaren Inhalt hat. Notwendigerweise w i r d dann an „Schlußfolgerungen" unter anderem das herauskommen, was man vorher der Vorschrift an „Inhalt" unterlegt hat. Das gilt aber allgemein für jede Norm, die unpräzise formuliert ist oder sich m i t allgemeinen Umschreibungen begnügt 1 0 und überhaupt für jede Wissenschaft; das Ungeheuer von „Loch Ness" ist ein Hirngespinst, solange man es nicht greifen kann. Es ist also nicht so, daß Gesetze nicht präzise formuliert sein dürfen. Der Einwand, Eindeutigkeit verhindere eine Öffnung der Rechtsnorm zur Wirklichkeit 1 1 , verkennt, daß die Gesetze als Objektbereich für die Überprüfung von Hypothesen unentbehrlich sind. Je greifbarer die Sprache des Gesetzes, u m so mehr Ableitungen kann der Interpret überprüfen, u m so sicherer kann er beurteilen, ob eine Hypothese als bestätigt gelten kann oder nicht und wie hoch der Grad von Bestätigung ist. Sind umgekehrt Vorschriften vage formuliert, so bewegt sich eine Argumentation, wie das eben wiedergegebene Beispiel lehrt, gerade dadurch erst i n einem Kreis. Allerdings müssen w i r uns der Einschränkungen bewußt bleiben, die mit der soeben getroffenen Feststellung verknüpft sind. Denn eine Uberprüfung der Ableitungen setzt voraus, daß sie zu einer Entscheidung darüber führen kann, ob die Endhypothesen bestätigt oder widerlegt sind. Schweigt aber das Gesetz oder sind seine Formulierungen unklar, so entfällt diese Möglichkeit. Ein zweiter Vorbehalt betrifft den Fall, daß zwar eine Prüfung anhand des Gesetzes gelingt, aber Anlaß zu Zweifeln besteht, ob das Ergebnis „gerecht" und „vernünftig" ist 1 2 . I n diesen Fällen muß der Rechtsanwender seine Entscheidung anders begründen, als es durch Rückführung auf das positive Recht möglich wäre 1 3 . Dieser Sachverhalt entspricht dem von Kaufmann geschilder10 Vgl. Grüber, Z u r Anwendbarkeit der Soziologie i n der Jurisprudenz, JZ 74, 665, 667. I n dem Aufsatz geht es u m unbestimmte Rechtsbegriffe (Leerformeln)! Anschauliche Beispiele bietet auch die Diskussion u m die „Grundrechte i m Leistungsstaat"; vgl. dazu den Bericht v o n Starck über die Staatsrechtslehrertagung 1971 i n JZ 71, 738; ferner Säcker, Die Konkretisierung vager Rechtssätze durch Rechtswissenschaft u n d Praxis, S. 228 ff.; zur „semantischen Gehaltlosigkeit" v o n A r t . 3 I GG vgl. Podlech, Gehalt u n d F u n k t i o n des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, S. 85 ff.; zur Vagheit des Ausdrucks „Sozialstaat" daselbst S. 203 f.; Koch, Über j u ristisch-dogmatisches Argumentieren, S. 23 ff. m. w . N. 11 Kaufmann, Α., Die Geschichtlichkeit des Rechts i m Lichte der Hermeneutik, S. 270. 12 Oben 3. bei Fn. 196.

112

11. Der „Zirkel des Verstehens"

ten 1 4 , denn wann ζ. B. ein Urteil „gerecht" ist, läßt sich nicht hinreichend deutlich definieren. Dann aber fließen über das Vorverständnis von Gerechtigkeit, das kaum bei zwei Menschen völlig gleich sein wird, subjektive Maßstäbe i n die Begründung ein. Die „Lösung" ist dann nicht mehr als eine Bestätigung eben dieser Maßstäbe — ein Verfahren, welches i m Kreise verläuft. Vorerst beschäftigt uns allerdings die Frage, ob Gesetze von den Folgen her ausgelegt werden können. Und hier können w i r nur unter der Voraussetzung zu einer A n t w o r t gelangen, daß der Text des Gesetzes eine Überprüfung zuläßt. Unter diesem Blickwinkel ist als Ergebnis festzuhalten: Der „hermeneutische Zirkel" zwingt nicht dazu, eine eigene Methode des Verstehens für die Jurisprudenz zu beanspruchen 15 . Insbesondere besteht kein Anlaß, Logik und Erfahrung als Instanzen der K r i t i k zu verabschieden. Fragen wie: „Darf i n der Wissenschaft nur gerechnet, nicht aber gesprochen werden" 1 6 und Stichworte wie: „Computer-Gerechtigkeit" 1 7 bezeichnen deshalb irreführende Alternativen zur Hermeneutik 1 8 . Hätte Einstein nur „gerechnet", wäre die Relativitätstheorie nicht entstanden. Er mußte erst die Welt der reinen Mathematik und Logik verlassen und durch Beobachtung und Experiment herausfinden, welche Geometrie anzuwenden sei 19 . Nicht einmal hier, i m Reiche der exakten Wissenschaft also, gelten die von A. Kaufmann bezeichneten Alternativen. Sie könnten dazu verleiten, allzu rasch die Verantwortung für Geschriebenes und Gesprochenes abzugeben und den bei der Rechtsanwendung sich vollziehenden „Vorgang des geistigen Seins" 20 nicht nur für abgeschlossen, sondern auch für abgesichert anzusehen, wenn sich das Gefühl einstellt, eine Lösung sei gefunden worden. Von Ludwig Wittgenstein stammt das Wort: „Eine ganze Wolke von Philosophie kondensiert zu einem Tröpfchen Sprachlehre 21 ." Gewiß geht diese Behauptung, die nichts weniger als den Bankrott der traditionellen Philosophie erklärt, 13 Ausführlicher werden w i r diese Frage i m I I I . T e i l diskutieren; vgl. u n ten III.14. 14 Oben 11. bei Fn. 3. 15 I n der Literaturwissenschaft gewinnt eine entsprechende Ansicht zunehmend Anhänger, vgl. Göttner, Logik der Interpretation, durchgehend; Schmidt, J. S., Z u m Dogma, durchgehend m. w . N.; ders., Argumentationstheoretische Aspekte, S. 197 f. 16 Kaufmann, Α., Die Geschichtlichkeit des Rechts, S. 256, ferner S. 265. 17 Ebd. S. 263. 18 Dasselbe g i l t f ü r die Gegenüberstellung v o n T o p i k u n d Systemdenken, vgl. Esser, Vorverständnis, S. 154 ff. 19 Vgl. Carnap, E i n f ü h r u n g i n die Philosophie der Naturwissenschaft, S. 255. 20 Oben 10. Fn. 2. 21 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 356.

12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation

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zu weit: Denn wie sollen w i r die „Welt" erkennen, wenn w i r uns darauf beschränken, die Sprache zu betrachten? 22 Die Warnung aber sollten w i r verstehen und uns an greifbare Dinge halten; nicht aber sollten w i r i n geheimnisvollen geistigen Zuständen Zuflucht suchen und hoffen, hier eine Lösung zu finden.

12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation Weder die Lehre vom „Verstehen" noch der „hermeneutische Zirkel" sind also geeignete Einwände gegen die hypothetisch-deduktive Methode. Sie bleibt das gültige Verfahren, u m Erkenntnisse darauf zu überprüfen, ob sie gesichert sind. A n dieser Elle ist nunmehr die politische Argumentation zu messen. Erinnern w i r uns 1 : Diese Lehre begründet eine Entscheidung damit, daß sie zunächst die möglichen Alternativen eines Falles aufzeigt und sich dann für diejenige entscheidet, welche, wie sie meint, die Selbstbestimmung des Menschen am besten verwirkliche 2 . Die Alternativen, das sind die erwartbaren Folgen ζ. B. des stattgebenden Urteils oder eines Prozeßvergleichs. Sie geben A n t w o r t auf die Frage, wie die Welt sich verändern und nach der Entscheidung aussehen w i r d und welche der Veränderungen man für vorzugswürdig erachtet. W i r haben es also m i t zwei Bereichen zu tun. Ihnen werden w i r uns i m Verlaufe der weiteren Untersuchung nacheinander zuwenden. Da ist zunächst die Frage nach den Folgen: Wie gesichert ist die Voraussicht, daß eintreten wird, was der Entscheidende erwartet? Und wie gesichert ist die weitere Annahme, daß er den künftigen Entwicklungsstand zu einem Zeitpunkt t x auch tatsächlich i n gleicher Weise positiv bewerten kann, wie er sich das jetzt zum Zeitpunkt t 0 vorstellt? Hierauf wollen w i r zunächst eine A n t w o r t geben. M i t der Suche nach den möglichen Alternativen und deren Verlauf ist die Aufgabe, die dem Rechtsanwender gestellt ist, aber noch nicht gelöst: W i r wollen ferner wissen, wie er zu einer Entscheidung kommt, warum er also die eine Alternative der anderen vorzieht. Damit werden w i r uns i m I I I . Teil beschäftigen. Zunächst muß also der Jurist für die Beurteilung der Alternativen die erwartbaren künftigen Situationen empirisch beschreiben; er muß 22

Vgl. unten III.13. Oben 1.3.27. 2 Diese Bestimmung ist deshalb n u r beispielhaft, w e i l i n der Untersuchung die politische Argumentation einer bestimmten Bezugsgruppe überprüft w i r d . Selbstverständlich könnten die Ziele auch anders lauten, etwa „ G u t ist, was dem Volke nützt." 1

8 Zinke

12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation uns mitteilen, wie sich, die Dinge entwickeln könnten, wenn w i r dies oder wenn w i r jenes täten: Beobachtungs- und Überprüfungsgrundlage politischer Argumentation ist die soziale Welt. Das ist aber noch nicht alles: Daneben t r i t t die Rechtsordnung. Denn auch die Lehre vom politischen Handeln des Juristen stellt ihn nicht über das Gesetz: Er soll i n die Verfassung und i n die Gesetze sehen3. Dadurch aber ist sein Beobachtungsbereich und damit seine Entscheidungsgrundlage gegenüber der Situation, die Abbildung 1 ausweist 4 , wesentlich erweitert. Die Frage ist nur: Läßt sich dieser Anspruch einlösen? Kommt bei der politischen Argumentation das Gesetz tatsächlich noch vor? Zum besseren Verständnis wollen w i r als Beispiel für politische Begründungen eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes betrachten. Sie behandelt die Wirksamkeit von Haftungsausschlüssen durch Stromversorgungsunternehmen. Das Gericht entscheidet den Fall durch eine Bewertung zugunsten der Stromerzeuger. Vor allem diese Bewertung wollen w i r genauer betrachten. Doch sehen w i r zunächst auf den Sachverhalt: Weil zwei Freileitungen sich berühren, fällt der Strom aus. Dadurch verenden dem Kläger, einem Hühnerfarmer, zahlreiche Tiere. Gegenüber den Schadensersatzansprüchen beruft sich das Stromversorgungsunternehmen auf den Haftungsausschluß i n seinen A V B 5 . Der Bundesgerichtshof 6 findet: zu Recht. Selbst bei schuldhaftem Verhalten soll gelten: „Die Haftungsfreistellung erfaßt den an eine Unterbrechung der Stromzufuhr geknüpften Schadenersatzanspruch i n jedem rechtlichen Gewände 7 ." Dem Kläger, der einen Schaden von 14 955,50 D M sowie Prozeßkosten i n wohl kaum geringerer Höhe zu tragen hat, erklärt das Gericht: Der Haftungsausschluß „ist mit den berechtigten Belangen der Abnehmer vereinbar und bewirkt nicht, daß das gesamte Betriebsrisiko i n unzulässiger Weise auf den Verbraucher abgewälzt w i r d " 8 . Denn Stromversorgungsunternehmen sollen i m Verhältnis zu Abnehmern kein Haftungsrisiko tragen 9 . Und warum nicht? Wenn Stromversorgungsunter3

So ζ. B. Wiethölter, siehe oben 1.2.22. Oben S. 105. 5 Allgemeine Bedingungen für die Versorgung m i t elektrischer A r b e i t aus dem Niederspannungsnetz; Abschnitt I I Nr. 5 A V B bestimmt, daß Nachlässe u n d Schadenersatz i n keinem F a l l gewährt würden. 6 B G H W P M 75, 866; ferner z.B. i n N J W 75, 1512; JUS 75, 809 Nr. 6; zum Thema ferner B G H N J W 59, 38; N J W 59, 1423; Krage, Haftungsausschluß i n der Energieversorgung, ZRP 76, 135. 7 B G H W P M 75, 867. 8 Ebd. S. 867 m. w . N. 9 Ebd. S. 868. 4

12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation

115

nehmen das Haftungsrisiko trügen, dann entstünden unabsehbare Schäden und der Strom könne nicht mehr zu vertretbaren Preisen abgegeben werden 1 0 . Abgekürzt können w i r den Gedankengang folgendermaßen skizzieren 1 1 : Das Stromversorgungsunternehmen soll grundsätzlich von jeder Haftung, die mit der Energieversorgung zusammenhängt, freibleiben (Sd). Dann muß eine Freizeichnungsklausel existieren (AHG I), die den vorliegenden Fall erfaßt (AHG 2). AHG 2 läßt sich nicht bestätigen; solche Klauseln durchbrechen die gesetzliche Regel — etwa über die positive Vertragsverletzung — und sind als Ausnahmen eng auszulegen 12 . Sie können daher nur die typische Betriebsgefahr, nicht aber solche Erhöhungen der Gefahr erfassen, die i m Verantwortungsbereich des Unternehmens liegen 1 3 . ÜSG 1 führt also zu einem positiven, ÜSG 2 zu einem negativen Ergebnis. Die Haftungsfreistellung ist aber wirksam, wenn Gründe des Gemeinwohls das Abwälzen des Betriebsrisikos auf den Verbraucher fordern (AHG 3). Dann muß es ein zulässiges Argument sein, sich auf das „Gemeinwohl" zu berufen (AHG 3.1). Das ist der Fall, und ÜSG 3.1 bestätigt die Ableitung; denn freiheitsbeschränkende Normen 1 4 gehören dann zur „verfassungsmäßigen Ordnung" i. S. v. A r t . 2 GG, wenn überwiegende Gründe des Gemeinwohls den Eingriff gebieten 1 5 . Die Wirksamkeit der Klausel hängt somit davon ab, daß es dem Gemeinwohl widerstreitet, wenn der Haftungsausschluß sich auf das typische Betriebsrisiko beschränkt, das Versorgungsunternehmen also für solche Schäden einstehen muß, die sich durch sorgfältige Vorkehrungen hätten vermeiden lassen (AHG3.2). Diese Ableitung haben w i r , wie aus der Skizze 16 ersichtlich, nicht anhand des Gesetzes überprüfen können. Ob nämlich das „Gemeinwohl" bei solcher Haftungsverteilung betroffen ist, läßt sich nicht durch einen Blick i n Gesetzbücher ermitteln. Vielmehr müßten w i r wissen, welche tatsächlichen Folgen die Regelung hätte. Entscheidend ist somit, ob die Stromkosten unvertretbar steigen würden (AHw). Das hängt davon ab, ob die Beschränkung des Haftungsausschlusses auf typische Betriebsrisiken zu hohen Schadenersatzforderungen führt (AHw 1) und die Strompreise aufgrund dessen 10

Ebd. S. 867; so auch schon B G H N J W 59, 1423 f. Die Buchstaben u n d Z i f f e r n i n den K l a m m e r n bezeichnen Ableitungen u n d Uberprüfungssätze, w i e aus der Skizze u n d den A b k ü r z u n g e n auf S. 116 ersichtlich. 12 Vgl. Krage, Haftungsausschluß, S. 137. 13 Ebd. S. 136. 14 Die A V B sind für allgemein verbindlich e r k l ä r t w o r d e n u n d entsprechen Rechtsverordnungen; siehe ebd. S. 135 bei Fn. 1. 15 BVerfGE 17, 306, 315; 18, 315, 327; 21, 245, 249; vgl. noch BVerfGE 8, 328; 9, 11; 10, 99; 12, 347. 16 U n t e n S. 116. 11

8*

116

12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation

erhöht werden müßten (AHw 2). Beide Hypothesen wären durch empirische Untersuchungen zu überprüfen; ob sie zutreffen, wissen w i r nicht. Auch der Bundesgerichtshof ist dieser Frage nicht nachgegangen. I m Hinblick auf ÜSw 1 und ÜSw 2 sind daher keine Feststellungen möglich. W i r wollen aber annehmen, sie bestätigen die Ableitungen. Dann ist aufgrund einer politischen Bewertung, deren Merkmale nicht auf das positive Recht gestützt werden können, zu entscheiden, von welchem Kilowattpreis an das Gemeinwohl berührt wäre. Ist diese Grenze überschritten, so wäre die Abwälzung des Betriebsrisikos auf den Verbraucher gerechtfertigt. Schematisch sieht das so aus: Tq

= Gesellschaftstheorie

Sd AHG AHw ÜSG ÜSw

= dogmatischer Satz = abgeleitete Hypothese über dem Objektbereich Gesetz = abgeleitete Hypothese über dem Objektbereich Welt = Uberprüfungssatz (Gesetz) — Uberprüfungssatz (Welt)

AHG1

AHq2

AGQ3.I

AH G 3 2

»AHw AHW1

ÜS G

ÜS G

ÜS G 3 .!

ÜSwi

Gesetz

AHw2

ÜSu

Welt

Abbildung 2

Nun gehört zu den Grundbedürfnissen der Menschen einer Industriegesellschaft nicht nur der Strom. Liest man deshalb die Begründung unter dem Blickwinkel ihrer Übertragbarkeit auf Freizeichnungsklauseln von Öl- und Autokonzernen, Banken, Warenhäusern, Bauträgergesellschaften usw., dann w i r d rasch bewußt, daß sich m i t einer solchen Argumentation das ganze AGB-Gesetz unterlaufen ließe. Politische Be-

12.1 Der Erkenntniswert politischer Argumente

117

gründungen bei der Rechtsanwendung bergen also möglicherweise die grundsätzliche Gefahr, daß sie sich verselbständigen und dann m i t gesetzgeberischen Wertungen i n Widerspruch geraten. Das deutet auf einen fehlenden oder zumindest gestörten inneren Zusammenhang zwischen der Anwendung von Rechtsnormen und Folgenbewertung hin. Der Frage, ob diese Vermutung zutrifft, ist i m Folgenden nachzugehen. 12.1 Der Erkenntniswert politischer Argumente Das Beispiel, welches w i r soeben betrachtet haben, zeigt uns, daß der dogmatische Satz Sd: „Stromversorgungsunternehmen sollen von jeder Haftung wegen des Ausfalls oder des Schwankens der Energieversorgung freibleiben" sich nicht nur auf Aussagen über das Gesetz, sondern auch auf solche über die Wirklichkeit stützt. Neben „juristischen" Überlegungen zum Schadenersatz, Haftungsausschluß, zur W i r k samkeit und zum Umfang von Freizeichnungsklauseln wären Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Ersatzforderungen und Strompreis zu beantworten. Können w i r jetzt von einem Erkenntnisgewinn sprechen? 12.11 Die Voraussetzungen für „politische" Argumentationen i m Redit

Das entscheidende Argument des Bundesgerichtshofes lautet: Energieversorgungsunternehmen sollen sich von jeder Haftung freizeichnen dürfen, auch wenn das bislang anerkannten Rechtsgrundsätzen widerspricht, weil sonst die Strompreise unvertretbar ansteigen. Die Bewertung der Folgen bewirkt also, daß w i r die Freizeichnungsklauseln neu formulieren: Wenn das Gemeinwohl berührt wird, können sämtliche und nicht nur die „typischen" Betriebsrisiken auf den Kunden abgewälzt werden. Muß aber Sd notwendig so und nicht anders lauten? Die Zweifel hängen damit zusammen, daß w i r nicht wissen, warum eine Folgenanalyse die Dogmatik der Haftungsfreistellung beeinflussen kann. Darauf sind zwei Antworten denkbar. Kommen die Beurteilung der Rechtslage und die der Konsequenzen wie i n unserem Beispiel zu unterschiedlichen Ergebnissen, so kann das einmal daran liegen, daß w i r verschiedene Erkenntnisgegenstände vor uns haben, die, von zufälliger Ubereinstimmung abgesehen, keine Gemeinsamkeiten aufweisen. Der Vorrang der Folgen beruhte dann auf einer Entscheidung des Erkennenden. Möglicherweise haben aber das Gesetz und die Folgen miteinander „zu tun" und sind innerlich verbunden. Dann hätte uns die Folgenanalyse, indem sie zu einer neuen Auslegung der Rechtssätze

12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation anregt, zugleich einen bislang nicht erkannten Aspekt des Erkenntnisgegenstandes „Gesetz" enthüllt. I n dem Falle wären w i r berechtigt, von einem Erkenntnisgewinn zu sprechen; denn w i r könnten angeben, warum die Folgen auf die Beurteilung der Rechtslage zurückwirken, warum also Sd diesen und keinen anderen Inhalt hat. Ob „politische" Argumente einen Erkenntniswert haben oder nicht, hängt also davon ab, ob jene „innere Verbundenheit" besteht, von der w i r soeben sprachen. Wie diese Verknüpfung beschaffen sein muß, bestimmt sich nach den Merkmalen, die w i r wissenschaftlicher Erkenntnis zugesprochen haben 1 7 : Die theoretischen Sätze müssen sich auf einen Beobachtungsbereich zurückführen lassen; beide Ebenen sind durch logische Ableitungen miteinander verknüpft 1 8 . Die Logik gewährleistet die Uberprüfbarkeit der Ableitungen. Darin erschöpft sich aber ihre Aufgabe nicht: Als man darum stritt, ob das ptolemäische oder das kopernikanische Weltbild das richtige sei, haben die Vertreter beider Ansichten zahlreiche Argumente gehäuft. A u f einen Gedanken aber ist niemand verfallen, nämlich zu behaupten, beide hätten recht. Denn die Welt mochte beschaffen sein wie auch immer; ihr Mittelpunkt konnten nicht Erde und Sonne zugleich sein. Weitere Voraussetzung für die Eignung einer Theorie zur Erkenntnisvermittlung ist also ihre innere Widerspruchsfreiheit 19 . Auch die Sprache läßt keine Sätze mit unverträglichen Begriffen zu, selbst dann nicht, wenn i n der Welt der Tatsachen — dem Bedeutungs-„Feld" der Begriffe — eine entsprechend klare Unterscheidung nicht möglich ist: Zerlegt man das Licht, so lassen sich i m Spektrum die Farben „rot" und „orange" zwar nicht genau abgrenzen. Gleichwohl wäre es sprachlich falsch, bezeichnete jemand einen einfarbigen Hut als „rot und orange" 2 0 . Aufgabe der Theorie ist es, einen Ausschnitt der Wirklichkeit zu beschreiben 21 . Diese Aufgabe ist zumindest vorläufig gelöst, wenn es gelungen ist, gesetzmäßige Annahmen zu formulieren, die sich durch Beobachtung überprüfen lassen. Bestätigen sie sich, so dürfen w i r hoffen, den jeweiligen Beobachtungsbereich zutreffend erfaßt, also das Gesetz richtig ausgelegt und die soziale Welt richtig beschrieben zu haben. Stützt sich nun ein und derselbe theoretische Satz wie i n unserem Beispiel Sd nicht nur auf Aussagen über das geschriebene Recht, sondern auch auf solche über andere Tatsachen, so müssen w i r die Hypothese auch i n beiden Beobachtungsbereichen überprüfen. Bestäti17

Oben II.6 ff. Vgl. oben IL9. 19 Vgl. Albert, Probleme der Theoriebildung, S. 53 f. m. w . N.; Spinner, Theorie, in: Handbuch, S. 1492. 20 Vgl. Palmer, Semantik, S. 76. 21 Vgl. Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, S. 69. 18

12.1 Der Erkenntniswert politischer Argumente

119

gen kann sie sich aber nur, wenn w i r eine gesetzmäßige Verknüpfung erfaßt und zutreffend formuliert haben. Damit ist gesagt: Der jeweilige Bereich, auf den w i r unsere Annahmen stützen, muß ein Gefüge von eben dieser Beschaffenheit aufweisen. Soweit w i r Ableitungen formulieren, die beschreiben sollen, welchen Inhalt die Gesetze haben, sind derartige Annahmen grundsätzlich möglich, weil w i r Texte haben, deren Wortlaut feststeht. Fraglich ist aber, ob sich das auch von jenen Aussagen behaupten läßt, die sich auf die soziale Welt beziehen. So könnten zwar i n unserem Beispiel Schadenersatzforderungen die Strompreise hoch treiben — ist das aber auch gewiß? Die Zweifel gründen darauf, daß Preise sich nicht von selbst bilden, sondern festgelegt werden müssen. So könnten die Unternehmen auf Ersatzforderungen nicht direkt mit einer Erhöhung der Tarife reagieren, sondern ζ. B. die Überwachung verschärfen, u m dadurch die Ursachen von Haftungsansprüchen auszuschließen. Damit ist die Frage gestellt, der w i r nunmehr nachgehen müssen: Verläuft die Veränderung sozialer Situationen, die durch eine Entscheidung bewirkt wird, planmäßig? Bezeichnet man den zeitlichen Abstand als „Geschichte", so könnte man zugespitzt fragen: Läßt sich Geschichte planen? Die Forderung, nach Gesetzen i m Verlauf sozialer Ereignisse zu suchen, ist allerdings Einwänden ausgesetzt, denen w i r zunächst nachgehen müssen. Sie entstammen dem wissenschaftlich-politischen Grundverständnis jener Gruppe von Kritikern, m i t denen sich die Untersuchung auseinandersetzt. 12.111 „Wissenschaftliche

Standards"

Anzuknüpfen ist daher an deren Grundverständnis: Der Politikbegriff der K r i t i k e r entspricht jenem der „Kritischen Theorie" 2 2 . Danach ist Erkenntnis stets geleitet vom Interesse an einer Befreiung der Menschen 23 . Dieses Interesse verfehlt aber, wer nach Gesetzmäßigkeiten fragt. Verzerrt deshalb nicht das nach jener Theorie „falsche" Interesse jede Erkenntnis? Da nach der hier vertretenen Ansicht über die Stichhaltigkeit von Hypothesen ihre Überprüfbarkeit i m jeweiligen Objektbereich entscheidet, würde das Problem an dieser Stelle zur Sprache kommen müssen. Ist also eine „objektive" Überprüfung wissenschaftlicher Aussagen gar nicht möglich? Dann müßten voneinander abweichende „ I n teressen" auch die Überprüfbarkeit i n der Weise beeinflussen, daß „Objektivität" nur noch innerhalb der Gruppen erreichbar wäre, welche vom gleichen Interesse geleitet sind. Das würde grob formuliert 22 23

Oben 1.3.27. Oben 1.3.225.

120

12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation

bedeuten: Uberprüfen ein Faschist und ein Kommunist dieselben Sätze, so können sie nicht zu denselben Ergebnissen gelangen. Wie w i r aber wissen, stimmt das nicht. Verantwortlich dafür, daß gleichwohl „Objektivität" erreichbar ist, sind überall anerkannte Regeln, die man als „wissenschaftliche Standards" bezeichnet 24 . Ein solcher Standard lautet ζ. B.: Ein Meßinstrument m i t Zeiger w i r d i n der Weise abgelesen, daß man vom Auge des Betrachters senkrecht über die Spitze des Zeigers von der Skala abliest 25 . I n der Rechtswissenschaft würden beispielsweise folgende Standards gelten: Bei der Interpretation einer Vorschrift ist unbeschadet der jeweils bevorzugten Auslegungsmethode stets vom Wortlaut auszugehen; eine Begründung m i t der Rechtsansicht von Gerichten: nach Meinung des BGH . . . muß i n der Weise erfolgen, daß der Inhalt sämtlicher einschlägiger Urteile verwertet w i r d und nicht nur eines Teiles davon oder gar nur eines einzelnen. Diese Standards sind nicht von „Interessen" abhängig, und deshalb sind der „kommunistische" und der „kapitalistische" Zentner Kohle gleich schwer. Da also auch Fragen, die von völlig entgegengesetzten Interessen geleitet sind, anhand derselben Standards geprüft werden, ist Objektivität insoweit erzielbar 2 6 . 12.112 Ist die Frage nach sozialen Gesetzen überspitzt? Ein weiterer Einwand scheint das wissenschaftliche Ethos zu berühren: W i r d dem kritisierten Standpunkt hier eine Forderung untergeschoben, die er selbst gar nicht aufstellt? Denn wann und wo hat ein „politischer" Jurist behauptet, Veränderungen i m sozialen Bereich verliefen gesetzmäßig? Zugegeben: Niemand hat das behauptet; aber es ist auch nicht nötig. Mag auch nach Auffassung der „Kritischen Theorie" die Anwendung von Gesetzeshypothesen und die Bestätigung von logischen Ableitungen grundsätzlich nur Zufallstreffer erbringen, weil logische Systeme dem Erkenntnisgegenstand „Gesellschaft" immer äußerlich bleiben 2 7 : hier geht es nicht nur u m „Gesellschaft", sondern auch u m Gesetze. Und für sie gilt, daß der Beobachtungsbereich für die Überprüfung von Hypothesen durch den Gesetzestext vorgegeben ist. Dann aber sind gesetzmäßige Annahmen nicht nur prinzipiell möglich, sondern auch nötig, sollen Aussagen über den Inhalt der Gesetze nicht 24

Keuth, O b j e k t i v i t ä t u n d Parteilichkeit i n der Wissenschaft, S. 31. Beispiel v o n K e u t h ebd. 26 Keuth, S. 28 ff. zeigt das an einem konkreten Beispielsfall, indem er unterschiedliche Interessen i n ein Problem einbringt. Münch, Realismus u n d transzendentale E r k e n n t n i s k r i t i k , S. 105 f. weist darauf h i n , daß dem A r g u ment interessegebundener Erkenntnis eine Vermischung der Frage p r a k t i scher A n w e n d u n g m i t derjenigen nach der Wahrheit zugrundeliegt. 27 Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie u n d D i a l e k t i k , S. 292; oben 1.3.225. 25

12.1 Der Erkenntniswert politischer Argumente

121

i m Beiläufigen stecken bleiben. Das wiederum zieht als Konsequenz nach sich, daß über dem Objektbereich „Welt" ebensolche gesetzmäßigen Aussagen möglich sein müssen; denn die abgeleiteten Aussagen folgen aus derselben Theorie Tg. Die bezeichnete Voraussetzung ist also eine Folge des Anspruches, Rechtsgesetze von den Entscheidungsfolgen her auszulegen; Rechtsgesetze und andere soziale Fakten wie Verhaltensweisen, politische und ökonomische Bedingungen müssen dann i n einem gesetzmäßigen Zusammenhang stehen. 12.12 Soziale Prognosen

Somit müssen w i r uns jetzt der Frage zuwenden, ob soziale Veränderungen gesetzmäßig verlaufen können. I n dieser Formulierung ist die Frage allerdings noch zu allgemein gestellt. Denn die Besonderheit politischer Begründungen ist die Bewertung der Folgen einer Entscheidung. Folgen reichen i n die Zukunft. Es handelt sich darum, zum Zeitpunkt der Entscheidung die künftige Entwicklung vorauszusagen. W i r müssen uns also mit der Möglichkeit sozialer Prognosen oder Pläne beschäftigen. Bevor w i r das tun, gilt es einer Sprachverwirrung vorzubeugen, die sich i n den vorangegangenen Formulierungen bereits angedeutet hat. Denn wer nach Überschriften für die gestellte Frage sucht, gerät i n ein Labyrinth von Begriffen. Juristen diskutieren die Frage unter dem Stichwort „Folgendiskussion" 28 . Politologen reden von „Planung"; leider sind sie sich nicht einig, was darunter zu verstehen ist 2 9 . Und Wissenschaftstheoretiker schließlich unterscheiden, wenn auch mit beachtenswerten Gründen, gleich eine Handvoll von Begriffen: prognostische Argumente, Voraussage, Erklärung, Abstraktion, Prognose, Prophezeiung 30 . Weil die Unterscheidungen hier nicht erforderlich sind, soll deshalb die Rede von „Prognosen" sein, wenn es u m die Beziehung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geht. Klären w i r zunächst, i n welcher logischen Form uns eine Prognose begegnen kann. Anschauungsmaterial bietet die Rechtsprechung i n reicher Auswahl, etwa wenn zu entscheiden ist, ob eine „Härte" i m Sinne von § 556 a oder von § 765 a ZPO vorliegt. Betrachten w i r folgende Aussage, i n der ein Gesetz ausgedrückt ist:

28 Siehe Luhmann, Rechtssystem u n d Rechtsdogmatik, S. 31 ff.; Adomeit, Methodenlehre u n d Juristenausbildung, ZRP 70, 176. 29 Lenk, H., Erklärung-Prognose-Planung, S. 74 ff.; Lau, Theorien gesellschaftlicher Planung, S. 59 ff. 30 Lenk, S. 31 f. u n d Fn. 49 daselbst; Diemer, Die historische Voraussage, S. 112 ff.

122

12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation

Gi: Wenn Mietern i n hohem Alter und mit geringem Renteneinkommen, zusätzlich behindert durch Krankheiten, die Mietwohnung gekündigt wird, dann geraten sie i n eine innere und äußere Notlage 31 . „Notlage" ist dabei eine abgekürzte Redeweise und kann stehen für: Verschlechterung der Wohnlage, Verknappung der finanziellen Mittel, physische Belastung durch einen Umzug, psychische Belastung bis h i n zur Selbstmordgefahr wegen der „Entwurzelung" aus der gewohnten Umgebung. Gi könnte sich auf weitere gesetzmäßige Beziehungen stützen, etwa auf solche über den Verlauf des Konkurrenzkampfes auf dem freien Wohnungsmarkt, wenn die Nachfrage groß und das Angebot knapp ist. Man kann sich lebhaft vorstellen, welche Chancen eine 81jährige gebrechliche Frau 3 2 bei der Wohnungssuche dann noch hat. Prognosen benötigen also mindestens ein Gesetz 33 . Dieses Gesetz enthält i n der „wenn-Komponente" die Bedingungen, die gegeben sein müssen, damit eine Prognose möglich wird. Wissenschaftliche Prognosen sind also stets bedingt. Darin unterscheiden sie sich von unbedingten Prophezeiungen wie dieser: Das Reich Gottes w i r d kommen. Treffen w i r diese Bedingungen, etwa die Kündigung bei Gi, i n der Wirklichkeit an, dann folgt zwingend aus dem Gesetz: Auch die „dannKomponente" w i r d eintreffen. Damit ist klar, was man wissen muß, u m erfolgreich vorhersagen zu können: Zunächst ist Kenntnis von Gesetzen nötig, welche die maßgeblichen Bedingungen vollständig erfassen. So wäre bei Gi zu erwägen, ob nicht die öffentliche Daseinsfürsorge als maßgeblicher Faktor zu berücksichtigen ist. Wegen der möglichen sozialen Stigmatisierung — „Fürsorgeempfänger" — und weil die psychischen Belastungen zumindest nicht gelindert würden, wäre die Frage zu verneinen. Ferner müßte es möglich sein, die Bedingungen auch tatsächlich richtig und vollständig zu erfassen, und schließlich müßten sich diese Bedingungen, der maßgebliche Weltausschnitt also, i n vorhersehbarer Weise verändern 3 4 . 31 I n Anlehnung an O L G Karlsruhe Z M R 70, 309, 310, 312; L G Mannheim Z M R 71, 222; A G Hannover W M 70, 41, 42; A G Münster/Westfalen W M 71, 168. Gegenbeispiele, bei denen die Rechtsprechung i n vergleichbaren Fällen die Anwendung v o n § 556 a u n d v o n § 765 a ZPO abgelehnt hat, schildert Kupke, Soziale Benachteiligung i n Mietprozessen, in: Klassenjustiz heute? Vorgänge 1/1973, S. 82 ff. 32 Wie i m F a l l O L G Karlsruhe Z M R 70, 309. 33 Ausführlich ist die S t r u k t u r einer Prognose dargestellt bei Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften, S. 67 ff. 34 Vgl. ebd. S. 72 ff.

12.1 Der Erkenntniswert politischer Argumente

123

Nachdem geklärt ist, von welchen Voraussetzungen eine erfolgreiche soziale Prognose abhängt, ist nunmehr weiterzufragen, ob diese Voraussetzungen tatsächlich gegeben sind. Dabei w i r d auf den ersten Blick die Erörterung sozialer Gesetzmäßigkeiten i m Mittelpunkt stehen. Gleichwohl dürfen w i r dieses Thema nicht i m direkten Zugriff angehen; denn soziale Gesetze kümmern uns nicht „an sich", sondern wegen des möglichen Zusammenhangs mit der Auslegung von Gesetzen. Deshalb müssen w i r zunächst die näherliegende Frage beantworten, ob Gesetze Bedingungen von Prognosen sein können. Erst daran anschließend können w i r übersehen, ob es auf das Vorhandensein sozialer Gesetze noch ankommt. 12.121 Sind Rechtsnormen Bedingungen von Prognosen? Prüfen w i r also die Frage, ob das Gesetz Bedingung bei einer Prognose sein kann. Das wäre genauer dahin zu formulieren, ob die dem Gesetz hinzugefügten inhaltlichen Annahmen diese Funktion haben können: Denn anwendbar und damit funktionsfähig w i r d die Buchstabenfolge des Gesetzes erst durch die dogmatischen Sätze. Eine Argumentation könnte etwa so lauten: G2: Wenn der „vertragswidrige" Gebrauch einer Mietwohnung erst beim Begehen strafbarer Handlungen angenommen wird, dann werden dadurch der soziale Rechtsstaat, die Freiheit und die Gleichberechtigung der Bürger gefördert 35 . Fragte man den Richter, wie er zu dieser Meinung kommt, er könnte auf den folgenden Zusammenhang verweisen: G3: Wenn die Vermieter keine rechtliche Möglichkeit haben, dem Mieter unterhalb der Grenze strafbarer Handlungen Vorschriften zu machen, dann werden sie diese Rechtsansicht respektieren und immer mehr Mieter werden von ihren Rechten Gebrauch machen können. Diese Argumentation stützt sich also auf die Vermutung, daß ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Entscheidungsinhalt und dem Verhalten der davon betroffenen Menschen besteht. Das entspricht der gängigen Vorstellung von einer Prognose 36 . Sie beantwortet die Frage: Warum w i r d das Ereignis E eintreten? Diese Form der Prognose ist jedoch nicht die einzig mögliche. Es gibt ferner Prognosen, i n denen zwar auch die Voraussage eines Ereignisses durch logische Ableitung erfolgt, so daß formal die Bedingungen 35 36

I n Anlehnung an A G Wiesbaden W M 72, 46. So auch Michaelis, Die Entscheidung, S. 317 ff.

12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation für eine Prognose erfüllt sind. Die Besonderheit ist jedoch, daß hierzu keine Ursachen für den E i n t r i t t des Ereignisses genannt werden. Stegmüller bezeichnet eine solche Klasse von Beispielen: Es sind dies Fälle, i n denen man die Vorhersage damit rechtfertigt, daß man sich auf gleichlautende Äußerungen zuverlässiger Experten beruft 3 7 , zum Beispiel: Wenn zuverlässige Meteorologen schlechtes Wetter vorhersagen, dann w i r d es regnen. Heute haben Meteorologen schlechtes Wetter vorhergesagt. Morgen w i r d es regnen. Es handelt sich dabei u m ganz unterschiedliche Gründe, auf die man jeweils die Prognose stützt. I m einen Fall nennt man Ursachen für ein Ereignis, i m anderen Fall Gründe für eine Überzeugung, also Gründe dafür, etwas zu glauben 38 . Die Prognose beantwortet hier i m Unterschied zur anderen Form folgende Frage: Warum glaubst du, daß das Ereignis eintreten wird? Diese Formulierung erscheint auf den ersten Blick besonders plausibel. Denn die Diskussion u m die Einbeziehung der Sozialwissenschaften i n die Jurisprudenz hat uns die Erkenntnis beschert, daß es schwerlich gelingen wird, jeden Juristen zu befähigen, nicht nur juristische, sondern auch wissenschaftlich fundierte soziologische, sozialpsychologische und ggfl. betriebs- und volkswirtschaftliche Aussagen abzugeben 39 . So könnte uns ein Soziologe darauf hinweisen, daß w i r i n G3 nicht alle maßgeblichen Bedingungen erfaßt haben: Die Annahme über das Verhalten von Vermietern gelte nur für einen Teil dieser Personengruppe. A u f den Rest treffe folgende Aussage zu: G4: Wenn Gerichte den Mietern auch entgegen vertraglichen Vereinbarungen einen Handlungsspielraum bis zur Grenze strafbarer Handlungen einräumen, dann investieren Vermieter nicht mehr i n Mietwohnungen, sondern i n andere Objekte, schließen sie keine Verträge mehr mit inländischen Mietern, sondern nur noch m i t Gastarbeitern ab, wandeln sie Mietwohnungen i n Eigentumswohnungen u m usw. 37 Stegmüller, Erklärung, Voraussage, S. 65; zum Problem ferner Lenk, Erklärung-Prognose-Planung, S. 36 ff., 54 ff., 93 f. m. w . N. 38 Stegmüller, Erklärung, Voraussage, S. 64. 39 Vgl. etwa Naucke, Uber die juristische Relevanz der Sozialwissenschaften, S. 51 f.; Heldrich, Das Trojanische Pferd i n der Zitadelle des Rechts? JUS 74, 281, 283 f. m. w . N.; Brohm, Gegenwärtige Tendenzen i n der Reform der Juristenausbildung, DRiZ 74, 273, 275, 277 m. w . N.; das gilt auch für medizinische Fragen, vgl. Lautmann, Justiz — die stille Gewalt, S. 54.

12.1 Der Erkenntniswert politischer Argumente

125

Hier führte die Rechtsprechung also nicht dazu, daß immer mehr Mieter von ihren Rechten Gebrauch machen können: Dem unmittelbaren Vorteil des einzelnen am Prozeß Beteiligten stünden Nachteile der Mieter insgesamt gegenüber. Daher bietet sich als Ausweg an, den Rat von anerkannten Fachleuten einzuholen. Der Sachverständige ist denn auch ein unentbehrliches Beweismittel i m Prozeß 40 . Unterstellen w i r kurzerhand, der Konsens bei 20 anerkannten Fachvertretern über das Eintreten eines bestimmten Ereignisses berechtigte aufgrund voraufgegangener Erfahrungen zu der Zuversicht, daß die Experten recht behalten werden, dann haben w i r ein Gesetz G5 gewonnen; wann immer also die Bedingung „mindestens 20 Fachvertreter sagen das Ereignis voraus" gegeben ist, kann ich das Eintreffen voraussagen. Zweierlei kann man vorläufig festhalten: 1. I n der Tat ist eine Argumentation möglich, die einen Zusammenhang zwischen der Auslegung von Tatbestandsmerkmalen und Entscheidungsfolgen aufweist. Drastisch sichtbar w i r d das am Wechselspiel von G3 m i t G4: Wendet der Entscheider G3 an, dann ist „vertragswidriger Gebrauch" eng auszulegen, u m den Eintritt der gewünschten Folgen zu gewährleisten; wendet er dagegen G4 an und hält er die mittelbaren Folgen für die Gesamtheit der Mieter für das größere Übel, dann w i r d er umgekehrt den Ausdruck weit auslegen. 2. Daraus ergeben sich sogleich Zweifel, ob man dieses Verfahren noch „Auslegung" heißen kann: Hat nicht der Jurist, nachdem er die Alternativen bewertet hat, das Gesetz nur noch m i t einem Etikett versehen? Darf man hier noch von „Erkenntnis" reden? Den Zweifeln ist nunmehr nachzugehen. „Erkennen" als Suche nach der „außersubjektiven W i r k l i c h k e i t " 4 1 bringt erst dann Erkenntnis hervor, wenn es gelungen ist, die immer wiederkehrende Ordnung der Dinge zu erfassen: Erkenntnis bezieht sich auf Gesetzmäßigkeiten. Nimmt man das ernst, folgt daraus einmal, daß Erkenntnis i m Prinzip unabhängig vom erkennenden Subjekt ist 4 2 . Aber nicht nur das: Sie ist auch unabhängig vom Zeitpunkt des Erkennens; das bedeutet, sie ist unabhängig vom Zeitpunkt der Ableitung aus dem Gesetz 43 . Das 40

Vgl. §§ 72 ff. StPO, 402 ff. ZPO, 96, 98,180 V w G O . Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, S. 13. 42 Buschendorf, Recht — Sinn — Glauben, S. 105. 48 Ausführlich zu diesem Problem der strukturellen Ä h n l i c h k e i t v o n E r k l ä r u n g u n d Prognose Stegmüller, Erklärung, Voraussage, durchgehend; Hempel, Deduktiv-nomologische Erklärungen, in: Giesen, B. / Schmid, M. (Hrsg.), Theorie, Handeln u n d Geschichte, 1975, S. 40, 66 ff. 41

12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation kann man sich an einem Beispiel klarmachen. Nehmen w i r dazu das folgende deduktive Argument: Ge: Wenn i n der Gruppe A die Arbeitslosigkeit größer ist als i n der Gruppe B, dann ist die Kriminalitätsrate i n Gruppe A höher als i n Gruppe B 4 4 . V:

I n der Stadt X ist die Arbeitslosigkeit größer als i n der Stadt Y.

N:

I n der Stadt X ist die Kriminalitätsrate höher als i n der Stadt Y.

Nun seien uns Ge und der Vordersatz V bekannt. W i r können daraus den Nachsatz Ν ableiten. Ob er zutrifft, müssen w i r noch feststellen. Ν w i r d also vorausgesagt. Abstrakt gesprochen liegt bei einer Prognose der Zeitpunkt der Ableitung t i vor dem Zeitpunkt der Feststellung des vorausgesagten Ereignisses. Was heißt nun „unabhängig vom Zeitpunkt der Ableitung"? Das bedeutet: W i r können gedanklich den Eintritt des vorausgesagten Ereignisses soweit vorverlegen, daß dieser Zeitpunkt to vor dem der Ableitung liegt 4 5 . Selbstverständlich ist das dann keine Prognose mehr, weil w i r Ν nunmehr kennen. Vielmehr suchen w i r jetzt Ge und V. Das deduktive Argument heißt deshalb auch nicht mehr „Prognose", sondern „Erklärung" 4 6 . A n der logischen Struktur des Arguments hat sich gleichwohl nichts geändert: I n beiden Fällen stehen N, das Gesetz G6 und die Randbedingung V i n einer Folgerungsbeziehung. Deshalb ist es logisch unbedenklich, das zeitliche Verhältnis von Ableitung und Feststellung von Ν umzukehren. Das wollen w i r für beide Typen von Prognosen jetzt t u n und dann erneut die „Warum-Frage" stellen. Erinnern w i r uns: Diese Frage ließ sich bei einer Prognose unterschiedlich beantworten. Man konnte uns entweder a) Ursachen für das Eintreffen des Ereignisses nennen oder b) Gründe für den Glauben, daß es eintreffen werde. Als Beispiel für den Fall a) kann etwa der Vordersatz V i m eben geschilderten Beispiel dienen; und für den Fall b) ist die A n t w o r t schon bekannt: Wenn 20 Fachvertreter das Ereignis vorhersagen, dann w i r d es stattfinden. A n der logischen Struktur sollte sich i n beiden Fällen nichts ändern, wenn w i r das zeitliche Verhältnis verschieben; denn sie ist davon gerade unabhängig. Die Fragen würden nunmehr, bedingt durch die zeitliche Verschiebung, wie folgt lauten: „Warum glaubst du, daß Ν stattgefunden hat?" Nehmen w i r an, es handele sich u m ein längere 44

E i n ähnliches Beispiel schildert Opp, Methodologie, S. 31. Stegmüller, S. 59, 64 nennt das eine Änderung der pragmatischen Zeitumstände. 46 Vgl. Opp, Methodologie, S. 69; grundlegend Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung u n d Begründung, S. 72 ff., 153 ff. 45

12.1 Der Erkenntniswert politischer Argumente

127

Zeit zurückliegendes Ereignis, etwa ein Erdbeben oder einen Vulkanausbruch. W i r könnten dann zur Antwort erhalten: Kenntnisreiche und zuverlässige Historiker haben darüber berichtet. Die Frage: „warum hat Ν stattgefunden?" dagegen ist anders, nämlich durch Angabe von Ursachen für den E i n t r i t t der Ereignisse zu beantworten. Der Unterschied i n den Antworten auf die beiden Fragen ist wohl deutlich: I m einen Falle nennt man uns die Gründe für die Annahme, „daß" ein Ereignis stattgefunden hat. I m anderen Falle erfahren wir, „warum" etwas stattgefunden hat. Das kann man so ausdrücken: I n Bezug auf das Ereignis verfügen w i r nach der A n t w o r t einmal über ein „Was-Wissen", nur i m zweiten Fall dagegen auch über ein „WarumWissen". Nur das Wissen „warum" aber können w i r als wissenschaftlich gesichertes Wissen ansehen; dieses Wissen über das „Warum" zeichnet die Wissenschaft vor dem Alltagswissen aus, und deshalb darf man m i t Schopenhauer „das Warum die Mutter aller Wissenschaften nennen" 4 7 . Sie begnügt sich nicht mit zufälligen, nicht einmal m i t zufällig richtigen Erkenntnissen 48 . Vielmehr muß unser Wissen über einen Gegenstand, so es „wissenschaftlich" genannt zu werden verdient, aus angebbaren Gründen so sein, wie es ist. Denn einem Urteil steht nicht auf der Stirn geschrieben, ob es wirklicher Kenntnis und Erkenntnis entspringt oder bloß nachgebetet ist 4 9 . „Warum-Fragen" leiten die wissenschaftliche Erkenntnis 5 0 . Als Hypothesen stellt sie der Erkennende auf, u m sie dann zu überprüfen. Deshalb erlangt die Wissenschaft nicht nur ein „Was-Wissen", sondern darüber hinaus ein zusätzliches „Warum-Wissen" 5 1 . Nur Antworten auf die Frage, warum ein Ereignis stattgefunden hat, können dieses Ereignis „erklären" und uns Erkenntnisse über den Gegenstand vermitteln 5 2 . Nur sie sind i n der Tat unabhängig vom Zeitpunkt der Erkenntnis und nur auf sie t r i f f t die Gleichwertigkeit von Erklärung und Prognose zu. Die andere Sorte von Folgerungsbeziehung dagegen hat die Bewährungsprobe nicht bestanden, obwohl das Argument zunächst i n der Gestalt einer Prognose recht vernünftig klang. Die Verwandlung i n eine Erklärung hat dann jedoch offenbart, 47

Schopenhauer, Uber die vierfache Wurzel, S. 11. K r a f t , Geschichtsforschung als strenge Wissenschaft, S. 76. 49 Rombach, Über Ursprung u n d Wesen der Frage, S. 142. 50 Weinberger, Faktentranszendentale Argumentation, S. 239; Matz, Uber die Bedingungen einer Kooperation von Wissenschaft u n d Politik, S. 24 f.; Rombach, Uber Ursprung u n d Wesen der Frage, S. 188 ff. 51 Vgl. Morscher, Philosophische Begründung v o n Rechtsnormen?, S. 32 f.; Buschendorf, Recht — Sinn — Glauben, S. 100 f. 52 Vgl. Stegmüller, Erklärung, Voraussage, S. 66; Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften, S. 29. Es handelt sich also keineswegs n u r u m ein t e r minologisches Problem, w i e K i l i a n , Juristische Entscheidung u n d EDV, S. 217 Fn. 182 annimmt. Weitere Unterschiede zwischen E r k l ä r u n g u n d Voraussage nennt Diemer, Die historische Voraussage, S. 111 f. 48

128

12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation

daß dieses Argument nicht auf einer Erkenntnis über den Gegenstand beruht. W i r gewinnen nur Wissen aus „zweiter Hand". Aus alledem folgt: Die Auslegung des Gesetzes kann m i t Blick auf die Folgen nur dann eine „Erkenntnis" vermitteln, wenn sie Antwort auf die Frage sein könnte, warum ein Ereignis stattfinden wird, kurz: wenn die Auslegung Ursache für das künftige Ereignis sein könnte. Das ist jedoch nicht ohne weiteres möglich, wenn auch zuzugeben ist, daß diese Feststellung auf den ersten Blick einer populären Vormeinung zuwiderläuft. Denn „eines ist gewiß und noch gewisser als der Tod, daß nämlich kein Mensch Steuern zahlen würde, wenn das Gesetz sie i h m nicht auferlegte" 53 . Auch die Prognosen G3 und G454 gründen sich auf diese Meinung. Doch verwechseln w i r nicht Feststellungen über die Bedeutung von Tatbestandsmerkmalen i n Gesetzen m i t den Folgen, die das Ergebnis dieser Tätigkeit i n der Wirklichkeit hervorrufen kann 5 5 . Auslegung ist ein A k t der Erkenntnis. Und Erkenntnisakte haben nicht die Eigenschaft, i n Kausalzusammenhängen w i r k e n zu können. A l l e i n durch Denken könnten w i r sonst die Welt verändern. Die Aussichten, irgendwo auf eine gesetzmäßige Beziehung zwischen Auslegung und Folgen zu stoßen, sind also schlecht. Sie verbessern sich erst, wenn w i r als zusätzliche Bedingung einführen, daß sich die Personen, die m i t dem Gesetz umgehen, i n bestimmter gleichbleibender Weise verhalten. Denn Feststellungen über das Gesetz können den Rechtsanwender etwa zu dem Entschluß anregen, eine Klage abzuweisen. Der Ausspruch „Die Klage w i r d abgewiesen" ist zwar nicht identisch m i t der gedanklichen Operation, die zum Ergebnis hatte: Es fehlt an einer Anspruchsgrundlage. Hier soll aber unsere Zusatzbedingung wirksam werden: Der Rechtsanwender soll immer dann, wenn es an einer Anspruchsgrundlage fehlt, zu dem Entschluß kommen, die Klage abzuweisen. A u f diese Weise läßt sich dann doch auf dem Umweg über ein gleichförmiges Verhalten-abweisen oder stattgeben entsprechend dem Ergebnis der Auslegung — die Verbindung zu Folgen i n der „Welt", hervorgerufen durch die Entscheidung, herstellen. Die Zusatzbedingung erlaubt uns daher, i n der Untersuchung fortzufahren. 12.122 Verlaufen soziale Entwicklungen

gesetzmäßig?

Wenden w i r uns deshalb der Frage zu, ob Gesetzmäßigkeiten bestehen, die es erlauben, die Übereinstimmung von Prognose und w i r k 53

Seagle, Weltgeschichte des Rechts, S. 26. Oben S. 123 u n d S. 124. 55 Vgl. noch Seibert, Argumentationsbeispiele S. 316 m. w . N. 54

aus

dem

Rechtsbereich,

12.1 Der Erkenntniswert politischer Argumente

129

lichem Verlauf vorauszusagen. Die zu bewältigende Schwierigkeit liegt dabei i n der Möglichkeit der Voraussage. Diese Feststellung ist nicht so trivial, wie sie auf den ersten Blick scheinen möchte. Betrachtet man menschliche Handlungen und soziale Entwicklungen nachträglich, so w i r d man häufig finden, daß sie einem Plan gemäß verlaufen sind 5 6 . So zielte die Rechtsprechung zum „Pauschalreisevertrag" darauf, „ i n ihren praktischen Auswirkungen den schutzwerten Interessen der Urlauber gerecht" zu werden 5 7 . U m dieses Ziel zu erreichen, begnügte sich die Rechtsprechung nicht damit, unmittelbare werkvertragliche Rechtsbeziehungen zwischen Tourist und Veranstalter auch gegen anderslautende AGB zu begründen 58 . Vielmehr wurde über den Ersatz wegen mangelhafter Leistung hinaus die „vertane" Urlaubszeit ohne weiteres, das heißt: ohne Auseinandersetzung mit § 253, als ersatzfähiger Vermögensschaden angesehen 59 . Man kann i m Nachhinein feststellen, daß diese Rechtsprechung eine durchsetzbare Rechtsposition der Kunden begründet hat, ohne dabei für sie, aufs Ganze gesehen, größere Nachteile eingehandelt zu haben. Doch gehen w i r einige Jahre zurück: War das vorauszusehen? Konnte man sicher sein, daß die Touristikveranstalter die ausländischen Unternehmen kurzfristig zu einem korrekten Verhalten würden bewegen können, mit der Folge, daß das finanzielle Risiko begrenzbar blieb und einen „Massen"-Tourismus zuließ? Was hätte sonst die Rechtsposition genützt, wenn schließlich die Urlauber ohnehin keine Gelegenheit mehr gehabt hätten, sie auszunutzen? Den „wohlverstandenen" Interessen der Betroffenen hätte das nicht entsprochen. Wegen dieser Unsicherheiten w i r d man nur zögernd von einer planmäßigen Entwicklung sprechen wollen. Gadamer hat zu diesem Problem: der Frage nach dem Sinn i m Verlauf von Ereignissen und der anderen Frage nach der Planmäßigkeit dieses Verlaufs ausgeführt: „Offenbar fallen die beiden Fragen nur dann zusammen, wenn ein menschliches Planen dem Verlauf der Ereignisse wirklich gewachsen war. Das aber ist eine Voraussetzung, die w i r als Menschen, die i n der Geschichte stehen, und gegenüber einer geschichtlichen Überlieferung, i n der von eben solchen Menschen die Rede ist, nicht als methodischen Grundsatz behaupten können 6 0 ." 56 Beispiel bei Gadamer, Wahrheit u n d Methode, S. 352 f.: Die Schlacht bei Trafalgar u n d Nelson's Plan. 57 B G H N J W 75, 40, 43. Durch das „Reisevertragsgesetz" v o m 13.12.1978 ist die Materie i n den §§ 651 a - k B G B geregelt worden. 58 Nachweise bei Honsell, Die mißlungene Urlaubsreise — B G H Z 63, 98 ( = N J W 75, 40), JuS 76, 222, 223 Fn. 6. 69 B G H N J W 75, 40, 41 ff.; dazu Honsell, S. 225 ff. 60 Gadamer, Wahrheit u n d Methode, S. 353.

9 Zinke

130

12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation

Fragen w i r , ob diese Skepsis berechtigt ist. U m die Schwierigkeiten zu erkennen, denen w i r dabei begegnen, wollen w i r zunächst ein Beispiel betrachten, i n dem erfolgreich m i t Prognosen gearbeitet wird; gemeint ist die Technik. W i l l ich Strom m i t Hilfe eines wassergetriebenen Turbogenerators erzeugen, gehe ich wie folgt vor: Ich suche eine passende Wasserströmung — Wasserfall, Staustufe — und baue Turbine, Generator und Leitungen zum künftigen Verbraucher. M i t dem Kommando „Wasser marsch" setze ich die Apparatur i n Gang und habe meine Arbeit getan. Der Rest läuft „von selbst", und ich kann sicher sein, daß Lichter brennen und Züge fahren werden: „Die List der technischen Vernunft besteht darin, daß der Mensch, ein technisches Milieu schaffend, es der Natur überläßt, für i h n i m Sinne seiner Absichten zu arbeiten 6 1 ." Diese List ermöglicht es also, eine technische Welt zu erzeugen, i n der w i r die Anfangsbedingungen setzen können 6 2 . Dementsprechend überzeugend ist dann auch der Hinweis auf mögliche unerwünschte Wirkungen, etwa auf die Folgen von Betriebsunfällen, wenn ein Kraftwerk nicht m i t Wasser oder Kohle, sondern mit Atomkraft als Energiequelle betrieben w i r d 6 3 . M i t dem Ausdruck „technisches Milieu" ist sehr anschaulich die Aufgabe ausgedrückt, vor der w i r stehen. Es genügt eben nicht, Gesetze zu kennen. U m eine Situation beherrschen und steuern zu können, müssen auch die Bedingungen gegeben sein. A u f soziale Gesetze bezogen, bedeutet dies: Es muß gelingen, Gesetzes wissen i n jeweils konkreten Situationen auf menschliches Handeln zu beziehen 64 . Und an dieser Stelle zeigt sich der Unterschied zu einem technischen Vorhaben, wie w i r es am Beispiel des Baus einer Wasserturbine geschildert haben: Es gibt bei geschichtlichen Denkmodellen keine Möglichkeit, die passenden Anfangsbedingungen zu setzen 65 , u m damit sozusagen ein „historisches Milieu" zu schaffen. Deshalb fällt auch das Experiment als Überprüfungs- und Erprobungsinstanz aus 66 . Geschichtlich-soziale „Modelle" sind unabänderbar: „Die Verifizierung oder Falsifizierung . . . ist identisch mit der Wirklichkeit" 6 7 . Damit w i r d das Bestimmen eines berechenbaren Ausgangszustandes und das Überprüfen von Hypothesen zu einer schwierigen Aufgabe. Prognosen „bewähren" sich, weil beim 61 Filipec, K r i t i k bürgerlicher Interpretationen der wissenschaftlich-technischen Revolution, S. 974. 62 Tenbruck, Grenzen der Planung, S. 370. 63 Vgl. V G Freiburg N J W 77, 1645, 1646 ( „ W y h l " ) . 64 Vgl. Albert, A u f k l ä r u n g u n d Steuerung, S. 22 f. 65 Vgl. Albert, Probleme der Theoriebildung, S. 62 f. m. w . N. ββ Scholder, Grenzen der Z u k u n f t , S. 69 f.; Ryffel, Rechtssoziologie, S. 241; Piroschkow, Freiheit u n d Notwendigkeit, S. 13 f. 67 Scholder, Grenzen der Z u k u n f t , S. 69.

12.1 Der Erkenntniswert politischer Argumente

131

Vorliegen bestimmter Bedingungen, die einer Gesetzmäßigkeit subsumiert werden können, aufgrund eben dieses Gesetzes auch das vorhergesagte Ereignis eintreffen muß. Kann ich aber die Bedingungen nicht bereitstellen, nun, dann müssen sie schon da sein. Die für eine Prognose bedeutsamen Teile der Wirklichkeit müssen von einer subsumtionsfähigen Beschaffenheit sein 68 . Vereinfacht könnte man sagen: I n der Technik habe ich die Gesetze und schaffe passende Bedingungen; außerhalb der Technik kommt der Berg nicht zum Propheten, vielmehr bereiten uns hier die Voraussetzungen Kopfzerbrechen. Diese Schwierigkeiten kennen nicht nur die sogenannten „Geisteswissenschaften". Die Meteorologie etwa kann sich ihr Wetter auch nicht machen, findet vielmehr die Fülle ihrer Daten: Ort und Zeit, Wind, Bewegung der Tiefdruckgebiete, Verteilung von Luftdruck und -feuchte, Temperatur usw. schon vor und muß nunmehr darangehen, für ihre Prognosen die richtigen Schlußfolgerungen zu finden. A l l e r dings gelingt das den Meteorologen ziemlich oft 6 9 , und die Trefferquote ist hoch. Dieser Erfolg zeigt einmal, daß es ihnen offenbar gelungen ist, den für sie wichtigen Ausschnitt der Wirklichkeit m i t ihren Gesetzesaussagen richtig zu erfassen. Er zeigt aber auch, daß die Elemente dieser Wirklichkeit gesetzmäßig miteinander verknüpft sind. Wie aber steht es m i t der Treffsicherheit i n der sozialen Welt? Zunächst ist festzuhalten, daß der Ausdruck „soziale Welt" zu allgemein ist. Findet man irgendwo i m Bereich menschlichen Zusammenlebens gesetzmäßige Verknüpfungen — und es gibt sie sicherlich —, so ist damit nicht die Frage beantwortet, ob der Jurist i n der für i h n typischen Entscheidungssituation mit diesem Wissen etwas anfangen kann. 12.123 Die Bedeutung der Wertvorstellungen Die Entscheidungssituation läßt sich so kennzeichnen: Nicht nur Fakten wie Umsätze, Gewinne und Mieteinnahmen, Größe von Wohnungen, Kaufkraft von Renten, psychische und physische Belastbarkeit älterer Menschen spielen eine Rolle, sondern auch das Handeln anderer Menschen und Verhaltensmuster wie Sitten, Traditionen usw.; ferner sind Interessen und Wertvorstellungen von Bedeutung 70 . Nicht zuletzt von diesen Faktoren, die man m i t dem Ausdruck „Weltbild" umschreiben könnte, w i r d es abhängen, ob jemand ein hartleibiger „Kapitalist" oder ein sozial eingestellter Unternehmer oder Vermieter ist, ob Verbrau68 69 70

9*

Vgl. Tenbruck, Grenzen der Planung, S. 367. Der Rhythmus des Monsuns w a r schon den Griechen bekannt. Vgl. Delhees, M o t i v a t i o n u n d Verhalten, S. 83 ff., 117 ff., 125 ff.

132

12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation

eher auf ein bestimmtes Unternehmerverhalten m i t einer Veränderung ihrer Bedürfnisse reagieren usw. Ein Grund für diese Abhängigkeit vom „Weltbild" ist der Wille; menschliches Handeln ist durch Entscheidungen, d.h. durch Willensakte bestimmt. Das sieht man deutlich i n einem Konfliktsfall, solange noch keine Wahl getroffen wurde; es herrscht ein Zustand der Tatenlosigkeit ohne zielgerichtetes Verhalten 7 1 . Der Wille äußert sich nicht ohne Ziel, einem Ausbruch gleich; w i r können ihn vielmehr als das Vermögen bezeichnen, „absichtlich, nach selbst gesetzten Zwecken und Regeln zu handeln" 7 2 . Und welche „Zwecke und Regeln" eine Entscheidung bestimmen, w i r d m i t vom „Weltbild" des Betreffenden abhängen. Soziale Situationen, wie sie dem Juristen begegnen, sind also nicht nur durch äußere Bedingungen, sondern darüber hinaus durch Normen, Werte und Bedürfnisse gekennzeichnet, die das Verhalten bestimmen 73 . Die Frage ist also, wie es m i t gesetzmäßigen Verknüpfungen i m Reich der Werte und Ideen bestellt ist. Denn dies wäre erforderlich, u m Prognosen aufstellen und eine Entwicklung steuern zu können. 12.124 Die politischen Parteien und ihre Programme Es liegt nahe, die Frage an jene Institutionen zu richten, die von Verfassungs wegen — A r t . 211 GG — und vor allem tatsächlich die W i r k lichkeit unseres politischen Gemeinwesens formen, an die Parteien. Denn Parteien haben Programme, und sie denken sicher mehr als andere darüber nach, wie man es anstellen muß, die Entwicklung so zu steuern, daß die eigenen Ziele verwirklicht werden. Dann, so könnte man denken, müßte das Verhalten der Politiker die Konsequenz solchen Nachdenkens sein. Was der Betrachter vorfindet, widmet er sich diesem Verhalten, w i r d er m i t dem Stichwort „Konfrontation" umschreiben. E i n mitunter verbissenes Gegeneinander w i r d er bemerken, wenn etwa der eine gegen den anderen m i t den Worten „Freiheit statt Sozialismus" i n den Wahlkampf zieht 7 4 . Solche sich gegenseitig ten doch, so könnte man ermöglichen, welcher der nahe, die Programme zu 71

geradezu ausschließenden Standpunkte müßden Gedanken fortführen, eine Entscheidung Kontrahenten es nun richtig macht. Das legt Rate zu ziehen, von denen die Parteien aus-

Ebd. S. 144. Scholz, Stichwort „ W i l l e " , i n : Braun, E. / Radermacher, H. (Hrsg.), Wissenschaftstheoretisches Lexikon, 1978. 73 Vgl. Albert, A u f k l ä r u n g u n d Steuerung, S. 50. 74 Wahlslogan der Unionsparteien i m B T - W a h l k a m p f 1976; nicht besser ist es, w e n n die Gegenseite v o n der angeblichen „Unfähigkeit zum Frieden" redet. 72

12.1 Der Erkenntniswert politischer Argumente

133

gehen. Ein Vergleich m i t dem, was aus den Programmen gemacht wird, müßte zeigen, ob und wie es möglich ist, politische Ideen umzusetzen. Wie zu erwarten, sind die Parteien nach Aussage ihrer Programme an Werten orientiert. Ein Vergleich aber fördert, bedenkt man die praktischen Gegensätze, Erstaunliches zutage. Hätte man erwartet, daß CDU und SPD von denselben „Grundwerten" Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit ausgehen?75 Schon i n den Programmen finden sich dann allerdings, geht man den Ausformungen der „Grund"-Werte nach, Unterschiede i n den Folgerungen. Greifen w i r zwei beliebige Beispiele heraus, zunächst das Thema „Eigentum". Nimmt man Eigentum als Möglichkeit, persönliche Freiheit zu verwirklichen, dann gibt es Leute, die haben mehr bis viel mehr von diesen Möglichkeiten als andere. U m diesen Zustand zu bessern, stehen zwei mögliche Operationen zur Verfügung: Man verbessert entweder die Chancen der Schwächeren, erreicht Gleichheit auf diese Weise aber allenfalls mittelbar, oder man wendet den Maßstab „Gleichheit" unmittelbar an; dann nimmt man weg oder, wo diesem Vorhaben die Eigentumsgarantie des A r t . 14 GG i m Wege steht, teilt entsprechend zu. Beide i n ihren praktischen Auswirkungen so verschiedene Möglichkeiten finden w i r i n den Programmen wieder: „Eigentum" sieht der eine unter dem Blickwinkel der persönlichen Freiheit. „Gleichheit" taucht hier als Chancengleichheit auf 7 6 . Für den anderen dagegen ist „Eigentum" eine Frage der Verteilungs-„Gerechtigkeit" 7 7 . Wer die Empfindlichkeit der Leute an ihrem Geldbeutel kennt, w i r d sich über nervöse Reaktionen nicht wundern, wenn solche Programmpunkte verwirklicht werden. Ähnlich ist es i m Bereich der Erziehung, wenn hier auch nicht materielle Dinge i m M i t telpunkt stehen. Die eine Seite betont die „gesamtgesellschaftlich notwendige Aufgabe" 7 8 , für die andere sind zunächst Ehe und Familie als „Fundament unserer Gesellschaft" 79 wichtig. „Verlängert" man die skizzierten Abweichungen gedanklich etwa bis h i n zu einer Gesetzesvorlage, dann w i r d verständlich, warum plötzlich Welten zwischen den 75 Grundsatzprogramm 1978 der CDU, Ziffer 12 ff.; Godesberger Programm der SPD: „Grundwerte des Sozialismus" u n d Orientierungsrahmen '85 der SPD, Ziffer 1.1 f.; ähnlich die FDP i n den Thesen 1 - 3 zur „Liberalen Gesellschaftspolitik" der Freiburger Thesen. Vgl. ferner H e l m u t K o h l , Grundwerte, in: Greiffenhagen, M. (Hrsg.), K a m p f u m Wörter, 1980, S. 253; H e l m u t Schmidt, Grundwerte, ebd., S. 264. Kritische Betrachtungen zur „Grundwertedebatte" bei Meyer, Th. (Hrsg.), Grundwerte u n d Gesellschaftsreform, 1981. 76 Grundsatzprogramm CDU Ziffer 78; Freiburger Thesen „Eigentumsordnung" These 1. 77 Orientierungsrahmen '85 Ziffer 2.2; 2.3.2. Über der tagespolitischen Diskussion sollte m a n nicht vergessen, daß sie u m Fragen streitet, auf die A r i stoteles vor mehr als 2000 Jahren bis heute gültige A n t w o r t e n gegeben hat, vgl. Nikomachische E t h i k , V . Buch. 78 Orientierungsrahmen '85 Ziffer 4.6.3. 79 Grundsatzprogramm CDU Ziffer 33 ff.

184

12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation

Parteien zu stehen scheinen. Ungeachtet dessen liegt oft das Produkt gemeinsamer Anstrengungen irgendwo zwischen diesen Positionen, ohne daß i m voraus bestimmbar wäre, wie das Ergebnis lauten w i r d 8 0 . Die Aussichten auf eine positive Beantwortung der Ausgangsfrage sind also wenig gut. Trotz buchstäblicher Übereinstimmung i n den Werten ist offen, was praktisch am Ende herauskommt. 12.125 Die Wertordnung der Individuen die Wertordnung der Gesamtheit

und

Bewertungen, so lehrt dieses Stück praktischer Politik, lassen sich nicht einfach „durchhalten", wenn und weil das soziale Leben weitergeht. Die Veränderung der Welt beugt sich nicht der Idee, die am A n fang steht. Hierzu wäre nötig, stets eine Alternative herauszufinden, die einen Zustand herbeiführt, dessen Bewertung dann den Ausgangswerten entspricht. Hält man eine Diktatur, i n der theoretisch an einer Stelle über die Bewertung befunden wird, für keine angemessene Lösung, dann müßte die Bewertung auf dem Wege über die individuellen Wertungen i n die Tat umgesetzt werden 8 1 . Denn es geht u m die Selbstbestimmung der einzelnen Menschen. Alle Versuche jedoch, eine kollektive Wertordnung auf diesem Wege zu ermitteln, sind zum Scheitern verurteilt. Dafür gibt es viele Gründe 8 2 . So setzt eine kollektive Wertordnung zumindest voraus, daß auch beim Individuum „Ordnung" herrscht 83 , und das heißt: die Welt der Werte 80 E i n Beispiel dafür ist das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge v. 18. 7.1979 (BGBl. I, S. 1061). 81 Vgl. dazu auch Helmer, Sozialtechnik, S. 308 ff. Bartelt, Der Wandel des gesellschaftlichen Wertsystems als Orientierung für einen Neuen Lebensstil, in: Wenke / Zilleßen (Hrsg.), Neuer Lebensstil — verzichten oder verändern? 1978, S. 73 ff. 82 Z u r Diskussion über die Möglichkeit einer solchen „sozialen Wohlfahrtsfunktion" vgl. Podlech, Gehalt u n d F u n k t i o n des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, S. 205 f.; Hoernke, Politische Entscheidung als Sozialwahl, S. 539 f.; Frey, Die ökonomische Theorie der Politik, S. 7 f.; K i l i a n , Juristische Entscheidung u n d EDV, S. 209, 233 f. m . w . N.; ferner A l bert, A u f k l ä r u n g u n d Steuerung, S. 66 f.; grundsätzliche K r i t i k daselbst, S. 74 f., 107 ff. m. w . N.; ders., Wissenschaft u n d Politik, S. 218 ff. zum Thema „Technologische u n d normative Systeme"; Luhmann, Zweckbegriff u n d Systemrationalität, S. 37 ff. m. w . N.; Lau, Theorien gesellschaftlicher Planung, S. 85 ff.; A l d r u p , Das Rationalitätsproblem i n der politischen Ökonomie, S. 45 ff.; Rose, K., Theorie der Außenwirtschaft, 4. A u f l . 1972, S. 385: „Sofern normative Aussagen . . . an die Stelle von Realaussagen oder auch tautologischen Beziehungen treten, fehlt der festgefügte G r u n d neutraler Konzepte, die nunmehr durch „wertgeladene" Formeln w i e „gesellschaftliches O p t i m u m " u n d „soziale W o h l f a h r t " ersetzt werden. Je nachdem, m i t welchem I n h a l t m a n diese Begriffe f ü l l t , w i r d dem einen als sozialer G e w i n n erscheinen, was der andere als Verlust ansieht." 83 Vgl. Tenbruck, Grenzen der Planung, S. 382.

12.1 Der Erkenntniswert politischer Argumente

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muß „hierarchisch" gegliedert sein 84 . Wenn A also Rothaarige Blondinen vorzieht und Blondinen lieber mag als Schwarzhaarige, dann müßte gelten: A zieht Rothaarige Schwarzhaarigen vor. Ein solches Verhalten wäre zwar logisch; aber w i r ahnen schon: faktisch wäre die Schlußfolgerung falsch oder allenfalls zufällig richtig. Denn wie A sich i n einem gegebenen Fall entscheidet, w i r d aller Voraussicht nach von dem konkreten Gegenstand seines Interesses abhängen. Ist aber schon die Werteordnung des einzelnen offenbar beweglich, so läßt sich eine Gesamt-Werteordnung schon gar nicht ermitteln. Übertragen auf den politisch-sozialen Bereich bedeutet das: Eine Ordnung der Werte ist wohl nur denkbar, wenn die Mitglieder der Gesellschaft, und zwar streng genommen alle und nicht nur die wahlberechtigten oder geschäftsfähigen Bürger, i n der Bewertung einer bestimmten Frage übereinstimmen. Hier hätte auch das „politische" Argument seinen Platz; denn die Wahl zwischen Alternativen beruhte auf einem Erkenntnisakt, weil w i r objektiv feststellen könnten, was das „Beste" für die Menschen wäre 8 5 . Andernfalls bedarf die Gesellschaft der politischen Entscheidung, u m handlungsfähig bleiben zu können 8 6 . Und die Zuständigkeit für politische Entscheidungen hat die Verfassung Legislative und Exekutive zugewiesen. So w i r d verständlich, warum der Gesetzgeber zwar an der Sachkenntnis des „Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung" 8 7 interessiert ist, nicht aber an seiner politischen Meinung: Von den Fachleuten sollen i n ihren Gutachten „jeweils verschiedene Annahmen zugrunde gelegt und deren unterschiedliche Wirkungen dargestellt und beurteilt werden. Der Sachverständigenrat soll Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder deren Beseitigung aufzeigen". Der Rat soll „jedoch keine Empfehlungen für bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen aussprechen" 88 . Eine andere Schwierigkeit ergibt sich daraus, daß die Übertragung der individuellen Wertordnungen auf eine überindividuelle Wertordnung rein formal geschieht. Eine solche „Hochrechnung" ist allenfalls eine Karikatur politischer Willensbildung und überdies höchst undemokratisch; denn eines kommt bei ihr nicht mehr vor: die politische Diskussion über Wünschbares. Konflikte werden buchstäblich wegde84 Ausführlich zum Ganzen A l d r u p , Das Rationalitätsproblem i n der p o l i tischen Ökonomie, S. 45 ff., 59 ff. 85 Hoernke, Sozialwahl, S. 542; Röhl, Das Dilemma, S. 201 ff. 86 Einzelheiten bei Podlech, Gehalt u n d Funktion, S. 204 ff. m. w . N.; Lenk, Erklärung-Prognose-Planung, S. 68 f.; A l b e r t , Wissenschaft u n d P o l i t i k , S. 231; David, Die soziologische Methode u n d die Methode der Gesetzgebung, S. 154 ff. 87 Gesetz v o m 14.8.63, BGBl. I S. 685. 88 § 2 des Gesetzes.

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12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation

duziert 8 9 . Gehorcht politisches Handeln etwa dem Imperativ, w i r t schaftliches Wachstum zu garantieren, so führt das leicht dazu, daß sich der Staat von anderen Konflikten abwendet: der Verfall von Städten, die Chancen von Minderheiten und die Umweltverschmutzung kommen nicht mehr i n den Blick 9 0 . Die Annahme, Werte seien gesetzmäßig miteinander verbunden, ist also nicht sehr realistisch. Schon frühzeitig (1933) hat Gunnar Myrdal, der sich i n zahlreichen Untersuchungen m i t der Bedeutung von Normen, Werten und Vorurteilen i n der Gesellschaft und i n den wissenschaftlichen Theorien sowie mit den Beziehungen zwischen der Wissenschaft und den Wertentscheidungen beschäftigt hat, dies hervorgehoben: Die Vorstellung von einer logisch-hierarchischen Ordnung der Wertsetzungen sei wissenschaftlich unhaltbar 9 1 . Mittel, die an sich nur der Durchsetzung vorgegebener Ziele dienen sollten und die Nebenwirkungen seien nicht wertneutral, Ziele nicht unabhängig von anderen Zielen 9 2 . So waren Kernkraftwerke ursprünglich nichts weiter als ein Mittel, u m die drohende Lücke i n der Energieversorgung zu schließen. Inzwischen sind sie der Mittelpunkt „wertgeladener" Diskussionen, die sich u m die Gefahren für die Menschheit, u m eine heile Umwelt und u m gesunde Ernährung drehen. Auch können i m Verlauf von sozialen Prozessen die Mittel auf die ursprünglich autonom gesetzten Ziele zurückwirken 9 3 , wenn etwa die Folgen die Absichten i n Frage stellen. So hat sich die Vereinigung von Gießen und Wetzlar zur „Lahnstadt", ein Mittel, u m die Verwaltung einfacher zu machen, als Fehlschlag erwiesen und ist zurückgenommen worden. Faktisch haben w i r es mit einem Gemisch von unbegrenzt vielen Zwecken und Instrumenten zu tun, die sich ständig i n anderen Beziehungen zueinander befinden 9 4 . Auch soweit ein Konsens tatsächlich vorhanden ist, muß er keineswegs gemeinsame Grundlagen haben 9 5 . So beruht die fast einmütige Ablehnung des Terrorismus von „links" bis „rechts" auf unterschiedlichen Motiven. Die Zuordnung von Werten 89 Lau, Theorien gesellschaftlicher Planung, S. 86; 88 m. w . N.; Engelhardt, P o l i t i k u n d Wissenschaft, S. 80; Frey, ökonomische Theorie, S. 22; Albert, Aufklärung, S. 73 ff., 116 f.; Luhmann, Zweckbegriff, S. 40 f. 90 Mueller, P o l i t i k u n d K o m m u n i k a t i o n , S. 146 ff. (am Beispiel USA). Die Gefahr, K o n f l i k t e auszublenden, ist auch immer dann gegeben, w e n n man versucht, Wesensdefinitionen v o n Planung ζμ bestimmen, vgl. dazu Lenk, Erklärung-Prognose-Planung, S. 77 ff. 91 Myrdal, Das Zweck-Mittel-Denken i n der Nationalökonomie, S. 222; Albert, Wissenschaft u n d P o l i t i k , S. 216 ff. 92 Myrdal, S. 217 ff. 93 Engelhardt, P o l i t i k u n d Wissenschaft, S. 84. 94 Bühl, Einführung i n die Wissenschaftssoziologie, S. 257; Zimmermann, Wirtschaftspolitische Beratung unter Wertabstinenz, S. 499, 503 f. u. ö. 95 Albert, A u f k l ä r u n g u n d Steuerung, S. 98 f. m. w. N.

12.1 Der Erkenntniswert politischer Argumente

137

zu Grundwerten ist nicht logisch zwingend, sondern beliebig; und die Vorstellung von einer Wertskala, die bestimmte Grundwerte wie das „Gemeinwohl" verwirklichen könnte, ist angesichts dessen eine Fiktion 9 6 . Wie die Beispiele zeigen, w i r d dies gerade dadurch bestätigt, daß Menschen immer wieder Dinge tun, die sie als notwendig empfinden, u m fundamentale Werte zu verwirklichen. Sie legen sich dabei aber gewissermaßen selbst Scheuklappen an und berücksichtigen deswegen andere Folgen nicht. Das löst dann Wirkungen aus, die das Wertsystem selbst verändern. Handlungen finden eben nicht i n einem sozialen und psychologischen Vakuum statt. Ihre Folgen breiten sich aus und w i r k e n auf das Wertsystem zurück. Die beabsichtigte Verwirklichung von Werten kann so zu ihrer Verneinung führen 9 7 . Eine „Wertehierarchie" läßt sich deshalb allenfalls nachträglich und dann auch nur quasi als Momentaufnahme ermitteln 9 8 . 12.126 Absichten anstelle von Gesetzen? Dann aber kommt auch menschlichen Handlungen nur nachträglich Notwendigkeit zu, nicht aber sind sie vorhersehbar. Denn es fehlt an gesetzmäßigen Verknüpfungen, unter die man Handlungen subsumieren kann. Dieser unbefriedigende Zustand hat Wissenschaftstheoretiker veranlaßt, nach Alternativen zu suchen. V. Wright hat den Versuch unternommen, einen „praktischen Syllogismus" zu entwickeln, indem er Handlungen nicht durch Gesetze, sondern durch die vom Handelnden verfolgten Absichten oder „Intensionen" erklärt 9 9 . Ein solcher Versuch erscheint plausibel, denn menschliches Verhalten ist dadurch gekennzeichnet, daß es zweckhaft ist. So w i r d etwa das „Lüften" — Gehen zum Fenster, Drehen des Knopfes, Öffnen des Fensters, Absinken der Temperatur — nicht durch Kausalverknüpfungen, sondern erst durch Subsumtion unter die Absicht: „ich werde jetzt lüften" zu einem einheitlichen äußeren Vorgang 1 0 0 . Allerdings nötigt dieses Unterfangen, aus der Not eine Tugend zu machen, zu einer merkwürdigen Konsequenz: Es muß die Existenz eines tatsächlichen Verhaltens voraussetzen 101 , funktioniert also nur, wenn der Handelnde 96 Ausführlich Podlech, Wertungen u n d Werte i m Recht, S. 204 ff.; Albert, Aufklärung, S. 29, 36 f., 65 f. m. w . N.; Engelhardt, Politik, S. 79 f. m i t Nachweis des Streitstandes. 97 Merton, Die unvorhergesehenen Folgen zielgerichteter sozialer Handlung, S. 181 f. 98 Engelhardt, P o l i t i k , S. 80 m. w . N. ββ v W r i g h t , Erklären u n d Verstehen, S. 83 ff. 100 101

Ebd. S. 87. Ebd. S. 109.

138

12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation

i m gegebenen Beispiel tatsächlich gelüftet und dabei die geschilderten Tätigkeiten vollzogen hat. Verwirklicht er seine Absicht dagegen nicht, bleibt man ratlos, eine Erklärung ist nicht mehr möglich, und w i r können über das künftige Verhalten des Betreffenden nichts herausbringen; es ist nicht voraussagbar. Verzichtet man also auf Gesetzesaussagen über menschliches Verhalten — Beispiel: ist die Absicht ρ durch die Handlung q zu verwirklichen, dann w i r d jedermann beim Vorliegen bestimmter Bedingungen darangehen, q zu t u n —, so gilt: aus den Prämissen eines „praktischen Syllogismus" folgt logisch nur dann eine bestimmte Handlung, wenn man diese Handlung ausgeführt hat: es ist eine, wie v. Wright es selbst ausdrückt, „ex post actu verstandene Notwendigkeit" 1 0 2 . U m eine Prognose erstellen zu können, müßten w i r aber eine noch nicht geschehene Handlung ableiten können. 12.127 Gründe für eine bewegliche

Werte-„Ordnung"

Sucht man nach Erklärungen für die Schwierigkeiten, so muß man wiederum auf die Ebene der individuellen Wertungen zurückgehen 103 . Wie w i r gesehen haben, sind Wertrangbeziehungen nicht unabhängig von der Realität; sie lassen sich nicht aus der Wirklichkeit herauslösen 104 . Jede Veränderung der Wirklichkeit würde auch den Wertekatalog, gäbe es ihn, verändern 1 0 5 . Denken w i r an das sogenannte „Ölembargo" als Folge des Jom-Kippur-Krieges von 1973: Diese politische A k t i o n der Araber führte zu einer „Werteverschiebung", weil unvermutet der Kraftstoff knapp wurde. Inhaber von Tankstellen etwa als Verwalter des kostbar gewordenen Produkts gelangten i n der Gunst der Endverbraucher zu höherem Ansehen. Das zeigt zugleich, wo ein Grund für derartige Verschiebungen zu suchen ist: bei den Bedürfnissen des Individuums 1 0 6 . Sie sind eine wichtige Grundlage bei der Ausbildung konkreter Verhaltensziele 107 . „Grundlage" sind sie insofern, als Bedürfnisse nicht unmittelbar das Verhalten bestimmen, sondern nur mittelbar. So hat das Nahrungsbedürfnis zunächst einen Drang zur Folge: w i r fühlen uns hungrig 1 0 8 . Dieses Gefühl löst beim Menschen als Vernunft- und willensbegabtem Wesen nicht automatisch eine A k t i v i tät — Nahrungssuche und -aufnähme — aus. W i r haben die Möglichkeit, das Bedürfnis eine Weile unbefriedigt zu lassen und werden das 102 Ebd. S. 110; zu den Konsequenzen Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Band I I , S. 116 ff. 103 Oben 11.12.125. 104 Luhmann, Zweckbegriff, S. 40. los Myrdal, Das Zweck-Mittel-Denken, S. 220. loe 107 108

Luhmann, Zweckbegriff, S. 40. Delhees, M o t i v a t i o n u n d Verhalten, S. 12 ff., 70 ff., 88, 118 ff., 182 ff. Ebd. S. 14, 28 f.

12.1 Der Erkenntniswert politischer Argumente

139

auch häufig tun, etwa wenn w i r u m 11 Uhr Hunger verspüren, der Betrieb, i n dem w i r arbeiten, aber erst u m 12 Uhr Mittagspause hat. Aber schon ist man auf ein weiteres, i m weitesten Sinne „soziales" Bedürfnis gestoßen, das Bedürfnis nach Anpassung an eine Gemeinschaft oder nach Anerkennung als zuverlässiger Mitarbeiter. Das alles zeigt, daß Bedürfnisse wichtige Gründe für das Verhalten des Menschen sind. Und diese Bedürfnisse bilden keine feste, logisch koordinierte oder koordinierbare Ordnung 1 0 9 . Zwar hat die Psychologie eine A r t Hierarchie der Bedürfnisse aufgestellt: So gründet nach Maslow die Bedürfnispyramide auf den physiologischen Bedürfnissen und steigt auf über Sicherheit, Zugehörensund Liebesbedürfnisse, Selbstschätzung bis h i n zur Selbstverwirklichung 1 1 0 . Diese Hierarchie ist aber keineswegs starr, sondern unterliegt mannigfachen Verschiebungen, Veränderungen, Überlappungen und Abweichungen 1 1 1 . Denn der Mensch kann nicht alles und schon gar nicht alles auf einmal erreichen. Deshalb muß er eine Vorzugsordnung aufstellen, die es i h m erlaubt, vernünftige und erreichbare Ziele zu setzen 1 1 2 . W i l l also unser hungriger Mitarbeiter seinen guten Ruf nicht gefährden, w i r d er die Nahrungsaufnahme noch hinausschieben. Damit er die richtigen Ziele setzt, muß die Vorzugsordnung seinen Bedürfnissen angemessen sein; sie ist also bedingt durch die zutreffende Definition dieser Bedürfnisse. Bei ihnen handelt es sich jedoch nicht u m vorgegebene Größen. Vielmehr ergibt sich das, was dem Menschen jeweils zu seinem Wohlbefinden fehlt, aus einem Gemisch von Empfindungen und Interpretationen von Situationen. So w i r d der A r beitnehmer i n unserem Beispiel seinen Hunger möglicherweise dann nicht unterdrücken, wenn er auf seinen Ruf keine Rücksicht zu nehmen braucht, etwa weil i h m gekündigt wurde. Es „handelt sich bei dem, was w i r unsere Bedürfnisse nennen, u m Konstrukte, die w i r mittels Interpretation, Zuordnung und Vergleich abstrahierend aus unseren Empfindungen und den Situationen herausdestillieren" 1 1 3 . Bedürfnisse lassen sich nicht isoliert betrachten, sie sind i n Situationen verwoben. Dadurch sind sie auch wieder m i t anderen Bedürfnissen verbunden, so daß ein Geflecht von Bedürfnissen entsteht, das sich gegenseitig bedingt. W i r d i n diesen Zusammenhang eingegriffen, indem man etwa 109 Myrdal, Das Zweck-Mittel-Denken, S. 222; Tenbruck, Grenzen der Planung, S. 378 f. 110 Z i t i e r t nach Delhees, S. 92. 111 Ausführlicher ebd. S. 91 ff. 112 Tenbruck, Grenzen, S. 378 ff. hat diesen Zusammenhang näher ausgeführt. 113 Ebd. S. 382; ferner Albert, A u f k l ä r u n g u n d Steuerung, S. 76 ff.

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12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation

bestimmte Bedürfnisse bevorzugt befriedigt, so hat das Folgen für das subjektive Wohlbefinden, die nicht vorhersehbar sind. Eine Verschiebung kann auch dadurch geschehen, daß sich plötzlich eine Lage ändert. Das löst dann neue Empfindungen aus. Denn für das tägliche Leben haben nur jene Bedürfnisse eine Bedeutung, deren Befriedigung man bewußt als notwendig empfindet. Dieses „Programm" erfaßt keineswegs die gesamten Bedürfnisse; nicht davon berührt sind all jene, die latent befriedigt werden. Gefährdet ein Ereignis diesen Zustand, w i r d etwa der Kraftstoff knapp, so taucht der Mangel nunmehr i m Bewußtsein auf. Damit ändern sich aber nicht nur die Bedürfnisse, auch die Vorzugsordnung verschiebt sich, was wiederum eine Ä n derung der Zielsetzungen bewirkt. Das kann sogar zur Aufgabe liebgewordener Gewohnheiten führen, etwa dazu, einen „autofreien Sonntag" zu akzeptieren. Dabei reicht schon „die bloße Vorstellung, daß Bedürfnisse nicht befriedigt werden können . . . , u m Verschiebungen i n der Bedürfnishierarchie zu veranlassen" 114 . So genügt häufig die A n kündigung von Preiserhöhungen, u m „Hamsterkäufe" auszulösen — mit der Folge, daß die dafür aufgewendeten Mittel woanders fehlen. Weil es sich an keiner Stelle u m isolierbare und berechenbare Größen handelt, ist dieser Vorgang nicht beherrschbar. Die Möglichkeit kontrollierter Entwicklung wäre aber eine Voraussetzung, u m Handlungen steuern zu können. Schon die menschlichen Bedürfnisse sind also zu verwickelt, als daß sich auch nur theoretisch eindeutige Abstufungen angeben ließen. Entsprechend „unberechenbar" ist das Verhalten der Menschen. Man kann allenfalls hier und da gewisse „Trends" feststellen. Aber damit ist es wie mit der Mode: Was die Menschen i m Einzelfall dann w i r k lich t u n werden, ob sie die Hose kaufen, bloß weil sie „modern" ist und obwohl sie kneift — wer wollte das voraussagen? Was für den Einfluß auf die Menschen fehlt, das ist der ein Gesetz kennzeichnende Anspruch genereller Gültigkeit 1 1 5 . Denn Gesetze sind von historischen Zufälligkeiten unabhängig, es sind „All-Sätze" 1 1 6 . So drückt nach einem Beispiel von A l b e r t 1 1 7 der Satz „Alle Kölner Unternehmer i n der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zahlten Einkommensteuer" trotz Verwendung des Ausdrucks „Alle" kein Gesetz aus. Denn der Satz ist i n eine endliche Zahl von Einzelaussagen über jeden einzelnen Unternehmer übersetzbar. Das Beobachtungsfeld des sozialen Lebens läßt nur Prognosen 114

Delhees, M o t i v a t i o n u n d Verhalten, S. 94 f. Popper, L o g i k der Forschung, S. 34; A l b e r t , Probleme der Theoriebildung, S. 23 m. w . N.; Opp, Methodologie der Sozialwissenschaften, S. 45, 48 f. 116 Popper ebd., A l b e r t ebd., Opp ebd. 117 Ebd. S. 23 Fn. 13. 115

12.1 Der Erkenntniswert politischer Argumente

141

m i t „historischem Charakter" zu 1 1 8 . Es besteht daher keine Möglichkeit, Hypothesen zu überprüfen. Denn w i r können immer nur Prozesse und Tatsachen von historischer Einmaligkeit beobachten. Die Beobachtung nur einmaliger Vorgänge kann aber nicht Grundlage zur Voraussicht der zukünftigen Entwicklung sein 1 1 9 . W i r sind nicht i n der Lage, Handlungen und Situationen so einheitlich zu erfassen, daß gesicherte Prognosen möglich wären 1 2 0 . W i r benötigen Theorien und Gesetze, die einen Zusammenhang aus der Wirklichkeit herauslösen, der uns hilft, die Welt besser zu verstehen. So kann etwa der Physiker aus den unendlich vielen Verknüpfungen, die i n der Natur wirken, einige wenige herausschälen, u m i n einem Experiment die Fallgeschwindigkeit messen zu können. Vergleichbare Zusammenhänge finden w i r i m sozialen Leben nicht 1 2 1 . 12.128 Das „ Weltbild"

als Entscheidungsgrundlage

Gleichwohl sind die Menschen ständig genötigt, Entscheidungen zu fällen, die i n die Zukunft reichen. Was verleiht diesen Entscheidungen Halt und Festigkeit, wenn es doch Gesetze und gesicherte Wertmaßstäbe nicht sein können? Dann muß sich der Mensch m i t dem begnügen, was er hat und was er vorfindet. Und das ist vor allem sein Welt- und Geschichtsverständnis 122 . Diese scheinbar harmlose Feststellung führt uns unversehens vor eine andere schwierige Frage. Denn wie kommt unser Weltbild zustande? A u f diese Frage sind mehrere Antworten denkbar. Eine gibt uns Whorf: Die Sprache formt den Gedanken 1 2 3 . Das Weltbild ist nach seiner Meinung ein Produkt der Sprache, die w i r sprechen. Andere bestreiten das 1 2 4 : Rein sprachliche Wirkungen auf das Weltbild und damit auf das Handeln seien selten 1 2 5 . Beide Antworten zwingen uns jedoch nicht, dem Streit weiter nachzugehen. Denn die Bedeutung des Weltbilds leugnet zu recht keine von ihnen. Sie liegt i n folgendem: I n die Beurteilung historischer Ereig118 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 31 f., 84 Fn. 63, 90 f., 100 f.; Lenk, Erklärung-Prognose-Planung, S. 27 m. w . N. 119 Popper, Das Elend, S. 85 f. m. w . N. 120 Merton, Die unvorhergesehenen Folgen, S. 175 f. 121 Albert, Theorie u n d Prognose, S. 131. 122 Vgl. schon oben 11.12.123. 123 Whorf, Sprache, Denken, W i r k l i c h k e i t , S. 11 f. 124 Vgl. Betz, Verändert Sprache die Welt?, S. 32 ff. m. w . N. Eine lange Tradition, i n der w i r die Namen v o n Cato, Plutarch, Dante, Voltaire, Talleyrand finden, hat die Meinung „Die Sprache ist ein M i t t e l zum Verbergen der Gedanken". 126 Betz, S. 35.

142

12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation

nisse und Prozesse geht diese subjektive Welt-Vorstellung ein. Das Verständnis von sich und der Geschichte als Verständnis von Wirklichkeit w i r d nach vorne verlängert und bildet dadurch die Grundlage der Vorstellung von „ Z u k u n f t " 1 2 6 . Ähnliches gilt für die Maßstäbe, nach denen sich bemißt, was „richtig" und was „falsch" ist. Es sind dies zumeist aus der geschichtlichen Tradition überkommene und vertraute Maßstäbe. Sie werden an die vorausschaubare Zukunft angelegt 127 . Eine Chance allerdings, die gegenwärtige Geltung der Maßstäbe auch für die Zukunft zu retten, besteht nicht. Sie sind wandelbar. Das haben auch Parteien erkannt, die ihr Handeln ausdrücklich auf eine weltanschauliche Grundlage stellen. So beruht „die Politik der CDU . . . auf dem christlichen Verständnis vom Menschen und seiner Verantwortung vor G o t t " 1 2 8 , und Mitbestimmung und Vermögensbeteiligung etwa seien „Ausdruck christlich-sozialen Gedankenguts" 129 . Gleichwohl stellt das Programm fest, daß sich aus christlichem Glauben kein bestimmtes politisches Programm ableiten lasse 130 . Dieses Eingeständnis muß man als Konsequenz der Erkenntnis deuten, daß i m politischen Alltag, bei der Mühsal des Details, selten offen zu Tage liegt, was das politisch „Richtige" ist. A u f diese Weise entsteht, mehr oder weniger verschieden bei den einzelnen Menschen, ein Bild, i n dessen Rahmen dann ζ. B. beurteilt wird, was politisch zu t u n ist 1 3 1 . Die Zukunft erscheint als „generalisierte Vergangenheit" 1 3 2 . W i l l man nicht i n der Astrologie einen Ausweg suchen, ist dieser Zustand nicht zu ändern und der darin steckende Fehler unvermeidbar. E i n Fehler ist es deshalb, weil die Zukunft immer viel reicher an Möglichkeiten ist als die Vergangenheit 1 3 3 . Unsere Vorstellung von Gegenwart und Vergangenheit bildet dagegen nur einen Ausschnitt ab: Gegenwärtig erlebte Zukunft und künftige Gegenwart sind nicht identisch 1 3 4 . Menschliches Verhalten läßt sich nicht berechnen. Denn zumindest i n Grenzsituationen wissen w i r nicht, wie die Menschen reagieren werden. Man kann „ihnen zwar sagen . . . , was sie t u n sollen, aber niemand weiß, was sie t u n werden" 1 3 5 . Zukunftsbezogene Entscheidungen sind i n dieser Lage von vielen Voraussetzungen 126

Scholder, Grenzen, S. 71 m. w . N.; Röhl, Das Dilemma, S. 69 f. Lübbe, Theorie u n d Entscheidung, S. 91. 128 Grundsatzprogramm 1978 Ziffer 1. 129 Ebd. Ziffer 79. 130 Ebd. Ziffer 5. 131 Dreitzel, Rationales Handeln u n d politische Orientierung, S. 32. 132 Luhmann, Rechtssystem u n d Rechtsdogmatik, S. 37. 133 Ebd. S. 36. 134 Ebd. S. 47. 135 Scholder, Grenzen, S. 77 unter Bezugnahme auf K a n t ; Dreitzel, Rationales Handeln u n d politische Orientierung, S. 19, 35 f.; Michaelis, Die E n t scheidung, S. 321 f. 127

12.1 Der Erkenntniswert politischer Argumente

143

abhängig und riskant 1 3 6 , und sie bekommen so „lange A r m e " 1 3 7 , daß sich ihre Auswirkungen der Voraussicht entziehen 138 . Man darf deshalb auch kein zu einfaches B i l d davon entwerfen, wie sich Entscheidungen i m politisch-sozialen Bereich verwirklichen. Es ist nicht so, daß einer Phase der Aufbereitung von Alternativen nur noch die politische Entscheidung und dieser wiederum, gewissermaßen i m „Durchgriff", nur der Vollzug folgt. Man braucht erneut nur an die Planung und den Bau der Kernkraftwerke zu denken. Wer wollte behaupten, bei der politischen Entscheidung über ihre Errichtung Dinge vorausgesehen zu haben, wie sie später i n Brokdorf und Grohnde geschahen? Aber auch i m „Normalfall" handelt es sich u m einen stufenförmigen Prozeß m i t zahlreichen Zwischenentscheidungen, die dann die Richtung des ferneren Verlaufs bestimmen 1 3 9 . Eine solche Verfestigung bewirkt einerseits, daß der Spielraum der Entscheidung enger w i r d 1 4 0 , zeigt aber andererseits auch, daß man nie ganz sicher sein kann, was am Ende „herauskommt" 1 4 1 . Diese Einsicht dämpft Hoffnungen hinsichtlich jenes Mittels, von dem man sich eine größere Leistungsfähigkeit der Politik versprechen könnte, von der möglichst umfassenden Ermittlung und Verarbeitung von Informationen. Auch dieses Mittel hat nur einen begrenzten Wert. Zum einen können Informationen die Wertentscheidungen nicht vollständig bestimmen 1 4 2 . Man sollte diese Schwierigkeiten zwar insofern nicht überschätzen, als empirische Forschung Diskussionen über Werte weitgehend ersetzen kann 1 4 3 . Läßt sich etwa schlüssig nachweisen, daß die Drohung mit dem Tode keine abschreckende Wirkung auf mögliche Täter ausübt, dann ist, hält man blanke Rache für kein akzeptables Motiv, die Diskussion u m diese Strafdrohung eigentlich erledigt, ohne noch christliches Gedankengut und die Menschenwürde bemühen zu müssen. Dessen ungeachtet bleibt aber die Tatsache bestehen, daß der Ausgang derartiger Diskussionen kaum abschätzbar ist. 138

Genaueres bei Luhmann, Rechtssystem, S. 36 ff. Glaser, Soziales u n d instrumentales Handeln, S. 9,190. iss v g l . Görlitz, Z u einem Konzept rationaler P o l i t i k , S. 68. 130 Bahrdt, Wissenschaftliche Experten i n der politischen Praxis, S. 435; E r n s t / H o p p e , Das öffentliche Bau- u n d Bodenrecht, Raumplanungsrecht, 1978, S. 97. 140 Bahrdt ebd. 141 Vgl. ferner Hondrich, Soziale Probleme, soziologische Theorie u n d Gesellschaftsplanung, S. 179 ff. zum Prozeß der sozialen Problemerzeugung. Verf. spricht i m Zusammenhang m i t der Gesellschaftsplanung zutreffend v o n einer A r t Sisyphus-Arbeit, S. 184. 142 Vgl. Werner, Soziale I n d i k a t o r e n u n d politische Planung, S. 28 ff., 128 ff., 149 ff.; Ryffel, Rechtssoziologie, S. 150 f., 221 f. 143 Vgl. Noll, Gesetzgebungslehre, S. 125 ff.; siehe aber auch Werner, S. 252. 137

144

12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation

Die Zunahme des Wissens u m die Machbarkeit der Welt hat noch eine andere Schattenseite. Sie schafft immer neue und erweiterte Entscheidungsräume, die wiederum Entscheidungen und Konsense erfordern und dadurch die Vielfalt steigern 1 4 4 : I n Unwissenheit lebt es sich leichter, so könnte man diese paradoxe Lage kennzeichnen. Wesentliche Voraussetzungen für eine Kontrolle der Menschen sind jedenfalls nach wie vor nicht gegeben. Noch so umfassendes Wissen kann an diesem Zustand nichts ändern. Tenbruck 1 4 5 betont deshalb zu Recht, daß Wissen und Kontrolle nicht einfach gleichzusetzen seien. Entscheidungen erfordern i n dieser Lage eine A r t „Scheuklappenprinz i p " 1 4 6 , eine objektive Beschränkung des Blickfeldes. Dieses „Prinzip" ist dann zwar notwendige Voraussetzung einer Entscheidung, nicht aber hinreichende Bedingung, u m den Verlauf sozialer Prozesse steuern zu können. Es ist nach alledem nicht zu sehen, wo gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen Hypothesen, die zu überprüfen sind, und einer künftigen Beschaffenheit der Welt bestehen. Ist das aber nicht möglich, ist nicht zu sehen, wie die Auslegung von Gesetzen von den Folgen der Entscheidung her möglich sein sollte. Selbst gewissenhafte Planung würde daran nichts ändern, weil keine Möglichkeit besteht, den Plan gesteuert und kontrolliert durchzuführen. 12.129 Prognosen als politisches

Instrument

Allerdings gibt es eine Ansicht, die von der hier vertretenen Meinung abweicht. Danach haben Prognosen sogar eine entscheidende Bedeutung, weil man sie als Instrumente zur „Führung der Gesellschaft durch die Partei der Arbeiterklasse" einsetzt 147 . Nun ist zuzugeben, daß Prognosen i n der Tat ein Motor der Entwicklung sein können, und zwar auch dann, wenn sie unrichtig sind 1 4 8 . Diese Erscheinung ist seit längerem unter der Bezeichnung "self fulfilling prophecy" bzw. "suicidal prophecy" bekannt 1 4 9 . Gemeint ist damit, daß erst durch eine Prognose die Menschen zu einem Verhalten veranlaßt werden, welches dann die Prognose, die auch ein Gerücht sein kann, entweder bestätigt oder widerlegt 1 5 0 . Die Prognose selbst schafft also 144

Vgl. Zacher, Pluralität der Gesellschaft als rechtspolitische S. 167 f. 145 Grenzen der Planung, S. 367. 146 Luhmann, Rechtssystem u n d Rechtsdogmatik, S. 35. 147 Eichhorn I, Gesellschaftsprognose u n d Handeln, S. 1278 f. 148 Scholder, Grenzen der Z u k u n f t , S. 78 f. 149 Dazu ausführlich Röhl, Das Dilemma, S. 235 ff. m. w . N.

Aufgabe,

12.1 Der Erkenntniswert politischer Argumente

145

erst die Verhältnisse, welche sich dann nachträglich als „Bestätigung" oder „Widerlegung" erweisen. Deshalb sind veröffentlichte Prognosen über den Ausgang einer Wahl oder über Zuwachsraten, Gewinn- und Lohnentwicklung, man denke an Reaktionen der Tarifparteien, fragwürdig. Es ist also nicht zu bestreiten, daß Prognosen die Zukunft mitgestalten. Nur ist mit dieser Erkenntnis nicht viel für die Frage gewonnen, ob und inwieweit w i r diesen Vorgang steuern können. Hier gilt dasselbe wie bei allen anderen Fragen, die man an die Möglichkeit einer Steuerung der sozialen Welt richtet: W i r wissen, vor allem i n Grenzfällen, wenn die Alternativen eng beieinander liegen, nicht, was die Menschen t u n werden, ob sie eine Prognose bestätigen oder ihr Verhalten so einrichten, daß die Prognose widerlegt wird. Vom Ausmaß der Unsicherheit kann man sich leicht überzeugen, betrachtet man andere vom Menschen beeinflußte Faktoren, die unsere Zukunft bestimmen, etwa die Wissenschaft und die Technik. U m das einzusehen, braucht man nur an große Entdeckungen vergangener Jahrhunderte zu denken, durch die Weltbilder zum Einsturz gebracht wurden, und an die Atomenergie, die uns seit Hiroshima und bis zum heutigen Tage beschäftigt. Wissenschaft sitzt nicht i m Glashaus. Sie ist Produktivkraft und steuert die soziale Entwicklung m i t 1 5 1 . Damit w i r d aber zugleich jene Voraussetzung sichtbar, die gegeben sein müßte, damit dieser Vorgang vorausschaubar wird: W i r müßten wissen, was w i r zukünftig wissen werden 1 5 2 . Gleiches gilt für die prinzipielle Unvorhersehbarkeit künftiger technischer Entwicklung 1 5 3 . Von derartigen Voraussetzungen können w i r nicht ausgehen. Es gibt keine Theorie, die es möglich machte, den Inhalt von Entdeckungen vorauszusagen. Neue Ideen sind offenbar die „autonomen Faktoren der sozialkulturellen Entwicklung" 1 5 4 . Der Erkenntnisfortschritt bewirkt seinerseits eine unvorhersehbare Änderung von Bedürfnissen, Wertungen, Normierungen 1 5 5 , eine Erscheinung, auf die w i r schon einmal gestoßen sind 1 5 6 .

150 Drastische Beispiele bei Merton, Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen, S. 144 ff. 151 Lübbe, Theorie u n d Entscheidung, S. 91; Bühl, Einführung i n die Wissenschaftssoziologie, S. 259; Rohrmoser, G., Die Krise der Institutionen, 3. A u f l . 1973, S. 26. 152 Lübbe, S. 92; ausführlicher Opp, Z u r A n w e n d u n g sozialwissenschaftlicher Theorien für praktisches Handeln, S. 415 ff.; Verf. diskutiert hier eine entsprechende These K a r l R. Poppers. 153 Glaser, Soziales u n d instrumentales Handeln, S. 114. 154 A l b e r t , A u f k l ä r u n g u n d Steuerung, S. 49 ff. m. w . N.; Z i t a t S. 51. 165 Ebd. S. 51. 156 Oben 11.12.127. 10 Zinke

146

12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation

Wer gleichwohl, gestützt auf eine materialistische Gesellschafts- und Geschichtstheorie, soziale Prognosen für möglich h ä l t 1 5 7 , vertritt einen anderen Wissenschaftsbegriff. Diese Vermutung bestätigt sich sogleich, fragt man nach den Zielen, denen Prognosen dienen. Da liest man, aus den Prognosen ließen sich „taktische, planerische, ideologische Schlußfolgerungen und Entscheidungen für das organisierte Handeln der Massen unter Führung der Partei der Arbeiterklasse" ableiten 1 5 8 . Vor allem sei „hervorzuheben, daß die marxistisch-leninistische Konzeption i n der politisch-sozialen Prognostik eine wissenschaftlich fundierte, zielstrebige, prinzipienfeste und zugleich elastische Taktik des politischen Kampfes ermöglicht" 1 5 9 . Vor diesem Hintergrund verwundert uns nicht, welchen Zielen i n der DDR die Ausbildung künftiger Richter während ihrer „Assistentenzeit" verpflichtet ist: Sie sei „als Einheit von politischer Erziehung und fachlicher Qualifizierung so zu gestalten, daß die Assistenten befähigt werden, das sozialistische Recht auf der Grundlage der Beschlüsse der Partei der Arbeiterklasse m i t hoher Wirksamkeit anzuwenden" 1 6 0 . Wer es indes nicht als die Aufgabe der Wissenschaft ansieht, Instrument i m Kampf u m politisch-soziale Veränderungen zu sein, wer i n Frage stellt und nicht schon für beantwortet hält, wessen Interessen durchzusetzen sind und wer über ihre Rangfolge zu befinden hat, w i r d weiter nach der objektiven Erkennbarkeit eines gesetzmäßigen Verlaufs fragen und dabei vor den alten und ungelösten Aufgaben stehen. 12.2 Zusammenfassung Wer Recht anwendet, greift i n das Leben anderer Menschen ein; er prüft, teilt Vorteile zu, versagt oder entzieht sie, kurz: Er übt Macht aus. Ausüben von Macht ist niemals folgenlos. Wer das nicht bedenkt, ist entweder blind oder verantwortungslos. Sollen aber die Folgen als Entscheidungshilfe dienen, gar die Entscheidung i m Einzelfall begründen, sind schlüssige Feststellungen wiederum über die Folgen nötig und damit die Fähigkeit, unsere Gegenwart kontrolliert i n die Zukunft zu verlängern. Hier sind unseren Erkenntnismöglichkeiten aber enge Grenzen gesetzt. Praktisch h i l f t nur eines: Der Versuch, durch Diskussionen, die, so gut es geht, von Zwängen wie der Rücktrittsdrohung führender Poli157 Eichhorn I, Gesellschaftsprognose, S. 1286; Bauer / Kosin, Probleme der Gesellschaftsprognose u n d der P o l i t i k i n Deutschland, S. 12 u. ö. 158 Eichhorn I , S. 1279. 159 Eichhorn I, S. 1288. 160 § 1 I I „Richterassistentenordnung" (GBl. der DDR v o m 24.1. 78).

12.2 Zusammenfassung

147

t i k e r 1 6 1 und den Vorurteilen frei zu halten sind, eine Übereinstimmung der jeweiligen Öffentlichkeit zu erreichen und damit die Verantwortung für nie ganz übersehbare Folgen auf möglichst viele Schultern zu verteilen. Dem Rechtsanwender h i l f t solcher Rat wenig. Denn er muß seine Entscheidung begründen, nicht aber kann er sich auf die Suche nach Mehrheiten machen. Darum gerät er unvermeidlich i n Schwierigkeiten, verbeißt er sich i n die Frage nach den Folgen seines Tuns. A m Beispiel der Rechtsprechung zu § 556 a und § 765 a Z P O 1 6 2 erkennt man das deutlich, und zwar gerade i n den Fällen, die scheinbar nur eine Meinung zulassen: Denn gelten die Vorschriften nicht für die Armen, die A l t e n und Kranken, auf welche Fälle sollen sie dann anwendbar sein 163 ? Gleichwohl w i r d man den Richtern, die anders entschieden haben, nicht schlichtweg Ignoranz, Bösartigkeit oder Leichtfertigkeit vorwerfen dürfen. Sie haben sich gewiß u m eine gerechte Lösung bemüht und eben das zeigt: Es sind offenbar doch mehr Meinungen als nur die eine möglich. Das gilt u m so mehr, je verwickelter die Sachverhalte sind. Schon die Frage nach den mittelbaren Folgen, die gleichwohl als Folgen i n die Entscheidung eingehen müßten, läßt sich kaum noch beantworten. Was kann das Gesetz bei dieser A r t von Argumentation zur Begründung der Entscheidung beitragen? Gar nichts. Die Begründung anhand einer Diskussion der Folgen kann sich nicht auf gesetzmäßige Annahmen über die Beschaffenheit der „sozialen Welt" stützen. Über den Inhalt der Gesetze lassen sich solche Annahmen indes formulieren 1 6 4 . Eine an wissenschaftlichen Kriterien meßbare Theorie Tg, überprüfbar i m Objektbereich „Rechtsgesetz" und i m Objektbereich „soziale Welt", ist somit nicht möglich. Sie läßt sich nicht auf diese beiden Beine stellen; nur der eine Fuß findet sicheren Grund, der andere dagegen kann nur mit aller Vorsicht aufgesetzt werden. Beim Ubergang zu den Konsequenzen einer Entscheidung fällt deshalb das Gesetz buchstäblich aus dem Begründungszusammenhang heraus. I m Gesetz mag stehen was immer: Bei einer Begründung m i t den denkbaren Folgen ist die Hereinnahme gesetzlicher Vorschriften bloßes Zitat, sie dient der Aufgabe, Feigenblatt für Eigenmacht zu sein. Wer es nicht glauben mag, sehe nach, wie es zur Entschädigung i n Geld für Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gekommen ist: 161 Beispiel: F D P - M i n i s t e r bei der Diskussion u m den Bau v o n sog. „schnellen B r ü t e r n " . 162 Oben 11.12.12 ff. 163 Vgl. die K r i t i k v o n Kupke, Soziale Benachteiligung i n Mietprozessen, S. 83. 184 Oben 11.12.112.

10*

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12. Die Wissenschaftlichkeit politischer Argumentation

Trotz der Bestimmung des § 253 BGB, wonach nur i n den ausdrücklich genannten Fällen ein Nichtvermögensschaden i n Geld abzugleichen sei, hatte der Bundesgerichtshof seit 1954 das Bestehen eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkannt 1 6 5 und seit 1958 für Verletzungen dieses Rechts eine Entschädigung i n Geld zugebilligt 1 6 8 . Als diese Rechtsprechung durch einen betroffenen Verlag m i t der Verfassungsbeschwerde bekämpft wurde, verfolgte das Bundesverfassungsgericht zunächst die historische Entwicklung und stellte dabei fest, daß sich der Gesetzgeber i n der Vergangenheit, aber auch i n der jüngeren Gegenwart nicht habe entschließen können, einen solchen Anspruch gesetzlich zu begründen 1 6 7 . Unter Hinweis auf die „Wertvorstellungen der Verfassung" billigte das Gericht gleichwohl die Meinung des Bundesgerichtshofs und erklärte dazu, es bestehe ein Bedürfnis nach wirksamem Schutz der privaten Sphäre 168 . Zu den methodischen und dogmatischen Bedenken gegen eine solche Rechtsprechung erklärt das Gericht: „Der Bundesgerichtshof und die i h m folgenden Gerichte haben damit nicht das System der Rechtsordnung verlassen und keinen eigenen rechtspolitischen Willen zur Geltung gebracht . . . " 1 6 9 . Selten so klar wie hier kann man beobachten, wie dem von der Rechtsprechung rechtspolitisch gewünschten Ergebnis nachträglich gleichsam wie eine „wächserne Nase" (Schopenhauer) die Behauptung aufgesetzt wird, das alles sei noch irgendwie Auslegung des Gesetzes. Dieser Befund verstärkt das Argument, dem Rechtsanwender — besonders dem Richter — fehle die demokratische Legitimation für derartige Entscheidungen, und er möge sich deshalb an das Gesetz und damit an das halten, was die Parlamente beschlossen und zu verantworten hätten 1 7 0 .

165

B G H Z 13, 334 ff. B G H Z 26, 349. 167 BVerfGE 34, 269, 270 ff., 291 f.

166

168 169 170

Ebd. S. 280 ff. Ebd. S. 292. Vgl. oben 1.2.1.

III. T e i l

Die „Unreinheit" der juristischen Praxis

Die Ergebnisse aus Teil I I könnten folgende Empfehlung nahelegen: Juristische Begründungen sind von Aussagen und Wertungen über die soziale Welt zu trennen. Allerdings verfehlte diese Forderung die j u ristische Praxis. Es gehört zu den gesicherten Erkenntnissen, daß bei der Rechtsanwendung juristische Argumente, Tatsachenerkenntnisse und Bewertungen aller A r t zusammenfließen 1 . Was folgt daraus für die bisherigen Überlegungen? Gelten etwa für die Praxis die Gebote gesicherter Überprüfbarkeit nicht? Diese Fragen lassen sich nur beantworten, wenn man klärt, was genau bei der Subsumtion vor sich geht.

13. Tatsachen, Interessen und Gesetzesauslegung Engisch 2 hat m i t einer bekannten Formulierung vom „ H i n - und Herwandern des Blickes" die Tatsache ausgedrückt, daß der Rechtsanwender Gesetz und Sachverhalt nicht isoliert voneinander für die spätere Subsumtion zusammenstellt, sondern von Anfang an Auslegung und Faktensammlung aufeinander bezieht. Belegt aber nicht die Feststellung, an deren Richtigkeit nicht zu zweifeln ist, daß eben doch auch die „Wirklichkeit" und nicht nur das Gesetz dogmatische Sätze begründen? Bekräftigen läßt sich der Verdacht überdies durch den Hinweis, wie tatsächlich argumentiert w i r d 3 . I n juristischen Begründungen verschmelzen häufig das Rechtliche und das Tatsächliche i n einer Interessenbewertung: So entscheidet der Bundesgerichtshof die Frage, i n welchem Umfang § 27 I Nr. 2 WEG den Verwalter befugt, die Wohnungseigentümer zu vertreten, nach „dem Gesetzeszweck unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen aller Beteiligten" — die der Allgemeinheit, der Wohnungseigentümer und des Verwalters 4 . Ähnlich verfährt das Gericht auch anderswo, etwa wenn zu klären ist, wie die 1 2 3 4

Oben II.4.3. I n : Logische Studien, S. 15. Vgl. Teubner, Folgenkontrolle u n d responsive Dogmatik, S. 186 ff. B G H N J W 77, 44, 45.

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13. Tatsachen, Interessen und Gesetzesauslegung

nach § 638 I der kurzen Verjährung unterliegenden Schäden von Mangelfolgeschäden aufgrund positiver Vertragsverletzung abzugrenzen seien 5 . I n diesen Fällen gilt demnach: „Entscheidend sind die Interessen; an sie muß man anknüpfen, sonst gerät man i n begriffliche Scheinwelten 6 ." Wie ist es da mit der These bestellt, Überprüfungsbereich für dogmatische Sätze sei das Gesetz? Nun ist eines unbestreitbar: Gesetze sollen i n der konkreten W i r k lichkeit angewendet werden. Zur Rechtsanwendung gehören also notwendigerweise auch Kenntnisse über die soziale Welt. W i l l der Richter ermitteln, ob Kreditunkosten „ i n der Zeit des ständig zunehmenden Kraftverkehrs als adäquate Folgen eines Verkehrsunfalls zumindest dann anzunehmen (sind), wenn der Schadenbetrag die Summe von 1000,— D M übersteigt", so muß er sich Kenntnisse über die „inzwischen erfolgte (...) Veränderung i n der sozialen Struktur der Gesamtheit der am Straßenverkehr teilnehmenden Autofahrer" verschaffen 7 . U m unser Wissen über die soziale Welt erweitern zu können, müssen w i r die Welt der Gesetze verlassen. Hier lag der Hauptirrtum der Begriffsjurisprudenz: Der Umgang allein mit Begriffen 8 vermittelt keine Erkenntnis. Aber belegen läßt sich m i t solchen Einwänden nur eines: Die Schritte, mit denen sich der Rechtsanwender der Lösung seines Falles nähert, sind nicht säuberlich getrennt nach Rechts- und Tatfrage, die Wege dorthin verschlungen. Das ist an sich keine neue Erkenntnis 9 . Wie aber steht es mit der Forderung, anschließend zu überprüfen, was als „Lösung" gefunden worden ist 1 0 ? I n den bisherigen Überlegungen ist der „Sachverhalt" zwar hier und da erwähnt 1 1 , seine Funktion aber noch nicht überprüft worden. Verfolgen w i r den Gedankengang nochmals, nunmehr aber anhand des Vorganges, den w i r „Subsumtion" nennen und der dadurch charakterisiert ist, daß auch Feststellungen über die Welt i n i h m vorkommen. Er läßt sich wie folgt kennzeichnen: Das Gesetz beruht auf einem Werturteil. I n i h m w i r d menschliches Verhalten bewertet 1 2 . I n diesem abstrakten Werturteil ist die Klasse all der Sachverhalte eingeschlos5

Vgl. B G H N J W 76, 1502 f. m. w . N. Puttfarken, Gegenwartsprobleme der deutschen Zivilprozeßrechtswissenschaft, JUS 77, 493. Grundlegend zur „lnteressenjurisprudenz" v. Ihering, Der Zweck i m Recht I, 1877; Heck, lnteressenjurisprudenz, 1933. 7 A G Bonn D A R 1973, 238, 239. 8 Vgl. die Darstellung bei Larenz, Methodenlehre, S. 20 ff. 9 Oben Π.5.; 11.11. 10 Oben II.9.1. 11 Oben Π.5.; 11.12.12. 12 B V e r f G N J W 75, 573, 580; Schmidt, Einige Bemerkungen zur Präzision der Rechtssprache, S. 398. 6

13. Tatsachen, Interessen und Gesetzesauslegung sen, die ebenso zu bewerten sind, wie es das abstrakte Werturteil vorsieht. Nun sei ein konkreter Sachverhalt zu beurteilen. Zunächst klärt der Rechtsanwender die Bedeutung der sprachlichen Ausdrücke 1 3 ; w i r w ü r den sagen: Er legt das Gesetz aus. Dabei gibt er an, worauf bei der Beurteilung des Sachverhaltes zu achten ist. Damit ist der Beitrag, den das Gesetz für die Frage leisten kann, wie der konkrete Sachverhalt zu beurteilen sei, erschöpft. Diese Frage läßt sich nicht durch sprachliche Untersuchungen beantworten. Vielmehr muß man dazu Einzelheiten über die „Welt" herausfinden. Wie aber die Wirklichkeit beschaffen ist, kann man nicht durch Untersuchungen der Sprache entdecken 14 . Und Gesetze sind sprachlich verfaßt. I m Bereich „Gesetz" lassen sich Ableitungen aus einer Theorie nur insoweit überprüfen, als sie Feststellungen über die Sprache enthalten: „Beschränkte Geschäftsfähigkeit" bedeutet Vollendung des siebenten und Nichtvollendung des achtzehnten Lebensjahres, §§ 106, 2 BGB. Solche Feststellung über die vom Gesetzgeber benutzte Sprachregelung vermittelt m i r noch keine Erkenntnis darüber, ob die Regelung inhaltlich sinnvoll und richtig ist, ob also 17jährige tatsächlich nur beschränkt geschäftsfähig „sind": Ist die Altersgrenze völlig w i l l k ü r l i c h festgelegt worden? Beruht sie auf Erfahrungssätzen und wenn ja, auf welchen 15 ? Abstrakt gesprochen, bedeutet das: Erkenntnisse über die Sprache ermöglichen keine Erkenntnisse über die Welt 1 6 . Eben dieser Umstand verlockt zu den Versuchen, den Umkreis sprachlicher Betrachtungen zu verlassen und die Wirklichkeit i n die Argumentation einzubeziehen. Die Enttäuschung, daß w i r vom Gesetz, an das der Jurist „gebunden" sein soll, so frühzeitig i m Stich gelassen werden, läßt sich anscheinend mildern. Denn die Untersuchung der Sprache hat festgelegt, wonach w i r suchen müssen, so daß sich auf der Grundlage des Gesetzes die Unklarheit darüber ausräumen läßt, welche konkreten Gegenstände dem Ausdruck unterfallen. Wie w i r wissen, ist dieser optimistische Glaube trügerisch. Dafür sind mehrere Ursachen verantwortlich. 13 Z u m Sprachgebrauch vgl. Koch, Uber juristisch-dogmatisches Argumentieren i m Staatsrecht, S. 35. 14 Stegmüller, Wissenschaftliche E r k l ä r u n g u n d Begründung, S. 56 ff.; Schmidt, Bemerkungen, S. 395 f., 410 f.; Koch, Argumentieren, S. 34. 15 Die 7-Jahres-Grenze i n §§ 104 Nr. 1, 106, 828 I B G B ist (entwicklungs-) psychologisch gerechtfertigt u n d abgesichert; für andere Altersgrenzen (z. B. §§ 2, 828 I I BGB, 1 I I JGG) t r i f f t das nicht zu, vgl. Wegener, Einführung i n die forensische Psychologie, 1981, S. 120,160 ff. 16 Dazu v. Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache, S. 182 ff.

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13. Tatsachen, Interessen und Gesetzesauslegung

Ein Grund ist, daß die Einordnung des Sachverhaltes unter das Gesetz nicht geradlinig verläuft. Dieser Vorgang ist immer wieder von Werturteilen durchsetzt. Sehen w i r uns die Auslegung und die Subsumtion genauer an: Vorstellungen darüber, wie das Gesetz auszulegen ist, sind stets i n Denkzusammenhänge eingebettet. Voraussetzungsloses Erfassen eines Vorgegebenen ist nicht möglich 17 . I n zahlreichen Fällen ist dieser Zusammenhang mit dem Etikett „Theorie" versehen worden: So kennen w i r bei der Wandlung i m Kauf recht die „Vertragstheorie", die „Herstellungstheorie", die „Theorie des richterlichen Gestaltungsaktes" und schließlich gar eine „gemischte Theorie" 1 8 ; i m Schadensrecht kennen w i r die „Differenztheorie" und die „Austauschtheorie" 19 , ferner die „Äquivalenztheorie" und die „Adäquanztheorie" 2 0 , und bei der Schuldübernahme i n § 415 spricht man von „Verfügungstheorie" oder „Angebotstheorie" 21 . Der Abstraktionsgrad dieser Zusammenhänge ist verschieden hoch; auch ist zweifelhaft, ob man wirklich von einer „Theorie" sprechen kann 2 2 ; denn häufig ist die „Theorie" kein logischer Zusammenhang von Sätzen, sondern nicht mehr als eine Interpretation eines Merkmals. Doch wollen w i r der Einfachheit halber den Sprachgebrauch beibehalten. Bei diesen Theorien handelt es sich u m Annahmen über den Inhalt der Gesetze. Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, daß sie zumindest auch zu dem Zweck aufgestellt worden sind, i m Einzelfall gerechtere Ergebnisse als etwa eine konkurrierende Theorie zu erzielen 23 . Ob es sich u m die Deutung einzelner Vorschriften handelt, ζ. B. durch die Saldotheorie, Bereicherungstheorien, subjektive oder objektive Theorie zum Fehlerbegriff, u m das Verständnis eines Rechtsgebiets, ζ. B. u m Theorien der S traf ζ wecke oder eine ganze Disziplin, ζ. B. u m Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, es geht allemal u m Entwürfe, die menschliches Verhalten bewerten und insofern nichts anderes darstellen als das, was auch der Gesetzgeber tut. Schon hier ist sichtbar, daß Werturteile i n dem jeweiligen theoretischen Zusammenhang enthalten sein können. Hinzu kommt, daß der Richter oder der Wissenschaftler bei seiner Arbeit mit dem Gesetz und beim Durchdenken alternativer Theorien „seinen" Fall nicht aus dem Auge läßt. I m Gegenteil ist er bemüht, den Parteien ein gerechtes Urteil zu geben. Und hier gilt, „daß es i n der Realität keine Gleichheit, 17 18 19 20 21 22 23

Oben I I . 6. Fn. 7. Vgl. Palandt / Putzo, § 465, 1. Esser / Schmidt, Schuldrecht. Allgemeiner T e i l 1, S. 80. Palandt / Heinrichs, 5 a, b v o r § 249. Esser / Schmidt, S. 259 m. w . N. Berechtigte K r i t i k bei Puttfarken, JUS 77, 493, 494. Vgl. Wagner, JUS 63, 461 ff.; Schmidt, Bemerkungen, S. 431.

13. Tatsachen, Interessen und Gesetzesauslegung sondern nur Ähnlichkeit gibt, die gemäß dem K r i t e r i u m „Mehr oder weniger", somit inhaltlich und das heißt aufgrund einer konkret zu treffenden Wertentscheidung bestimmt werden muß" 2 4 . Die juristische Tätigkeit w i r d auf dieses Ergebnis gleichsam ausgerichtet. Es entsteht i n der Tat jene Situation, die Engisch mit dem B i l d vom Hin- und Herwandern des Blickes so plastisch verdeutlicht. W i r kommen u m die Feststellung nicht herum, daß der Anwendungsvorgang häufig von konkreten Werturteilen gesteuert und überprüft wird. Der Meinung, daß i n den dogmatisch-systematischen Aussagen Wertungen enthalten seien 25 , ist also zuzustimmen. Jetzt braucht man nur noch an das Verhältnis der Sprache zur Wirklichkeit zu denken, u m die Konsequenz aus der eben getroffenen Feststellung zu erkennen: Logische Untersuchungen der Sprache können Feststellungen über die Welt nicht ersetzen. Zu dieser Welt gehören auch Werturteile. Zur Begründung der Werturteile aber kann das abstrakte Werturteil „Gesetz" nichts beitragen. Sein Beitrag könnte nur darin bestehen, Aussagen über das Gesetz zu ermöglichen 26 . Solche Aussagen aber können nur beschreiben, was i m Gesetz steht: „Unverzüglich" bedeute „ohne schuldhaftes Zögern". M i t der empirisch beschreibenden Sprache, i n der ich über die Sprache „Gesetz" spreche, kann ich keine konkreten Sollenssätze gewinnen. Denn aus dem Sein — und Gesetze, sind sie erst einmal festgeschrieben und somit „geronnene P o l i t i k " 2 7 , gehören dem Sein an — folgt kein Sollen. Die Betonung liegt dabei auf dem Wörtchen „konkret". Gewiß können w i r dem geschriebenen Recht Sollenssätze entnehmen; manchmal hat es uns der Gesetzgeber leicht gemacht, sie zu erkennen und eine Verpflichtung deutlich ausgedrückt: „Durch den Kaufvertrag w i r d der Verkäufer einer Sache verpflichtet . . . " , § 433 I BGB. Aber das ist kein konkreter, sondern ein abstrakter Sollenssatz. Ob A „wirklich" dem Β die Sache übergeben und das Eigentum verschaffen soll, müssen w i r erst noch feststellen. Erst danach „ist" A konkret verpflichtet. Das Sollen i m konkreten Fall ist nicht i n der beschreibenden Sprache dogmatischer Sätze über das Rechtsgesetz definierbar 2 8 , den konkreten Sollenssatz gewinnt der Rechtsanwender selbst, nicht aber kann er ihn ableiten. 24 Haft / Krumbhaar, Juristische Informationssysteme, N J W 73, 85, 87, Hervorhebung i m Original; ferner Kaufmann, Α., Analogie u n d Natur der Sache, 1965, S. 29. 25 Schmidt, Bemerkungen, S. 431; Podlech, Wertungen u n d Werte, S. 209. 28 Das geschieht i n einer Metasprache, einer Sprache also, dié über eine andere Sprache — die Sprache des Gesetzes — spriòht. 27 G r i m m , Recht u n d P o l i t i k , S. 502. 28 Vgl. Podlech, Wertungen u n d Werte, S. 195 m. w . N.; zur Unterscheidung von Objektsprache u n d Metasprache u n d den damit zusammenhängenden Fragen vgl. Albert, E t h i k u n d Meta-Ethik, S. 473 ff., 480 ff.; Adomeit, Rechtswissenschaft u n d Wahrheitsbegriff, durchgehend sowie die Diskussion der

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13. Tatsachen, Interessen und Gesetzesauslegung

Die Gesetze können uns also bei der Lösung nicht helfen. Tun w i r deshalb den letzten Schritt, dann begreifen w i r die Forderungen der Justizkritiker: fragen wir, wie konkrete Werturteile begründet werden. Die Antwort ist bekannt: Werturteile lassen sich nur durch eine Diskussion der Folgen begründen 29 . Damit hat die Folgendiskussion ihre Stellung i n der Rechtswissenschaft erhalten. Die Frage nach der Bindung an das Gesetz ergibt sich nicht, weil das Gesetz die Wertung nicht begründen kann. W i r haben das Verfahren so ausführlich dargestellt, damit man einsieht, daß jener erste Sinnentwurf, m i t dem sich der Jurist der Lösung eines Falles nähert, i m Laufe der Zeit mannigfaltigen Einflüssen ausgesetzt ist, sich mehrfach ändert und sich dabei notwendigerweise immer weiter von dem entfernt, was noch „Auslegung des Gesetzes" heißen könnte. Diese zunehmende Distanz vom Gesetz ist der Preis dafür, daß die rechtswissenschaftlichen Aussagen bei der gedanklichen Durchdringung eines Falles sozialen Gehalt aufnehmen; je weiter die Subsumtion fortschreitet, u m so mehr nimmt der Jurist die Besonderheiten des Problems auf und bezieht sie i n seine rechtliche Würdigung ein. Schließlich bildet sich ein Ergebnis, das der Rechtsanwender subjektiv als „Lösung" empfindet. M i t dieser Erkenntnis könnten w i r uns zufrieden geben, bestünde nicht die Forderung, juristische Entscheidungen m i t dem Gesetz zu begründen. Wie w i r zu zeigen versuchten 30 , gründet das Ergebnis der Subsumtion infolge der „Distanz vom Gesetz" nicht nur auf Annahmen über den Inhalt von Rechtsnormen, sondern i m Laufe des Anwendungsverfahrens immer stärker auf Argumenten wie etwa die „soziale Strukt u r der Autofahrer" oder auf Interessenabwägungen, auf Argumenten also, die aus einer Betrachtung der Wirklichkeit gewonnen worden sind. Wie w i r ferner zu zeigen versuchten 31 , vermögen solche „sozialen" Erwägungen eine Überprüfung anhand rechtlicher Regelungen nicht zu ersetzen. Deshalb ist die „Lösung", zu welcher der Rechtsanwender gelangt, abschließend darauf zu befragen, inwieweit sie m i t dem Inhalt der Gesetze übereinstimmt 3 2 . dort vertretenen Thesen bei Meyer / Schmidt, Noch einmal: Wahrheitsbegriff, durchgehend. 29 Schmidt, Bemerkungen, S. 402 ff.; Podlech, Wertungen, S. 196 ff. m . w . N . ; ders., Recht u n d Moral, S. 136 ff.; Rüssmann, Die Begründung von W e r t u r t e i len, S. 357. 30 Oben III.13. 31 Oben II.12.2. 32 Z u r Frage, ob u n d i n w i e w e i t die Kenntnis über konkrete Gegenstände den Schluß auf die Bedeutung v o n Ausdrücken zuläßt, vgl. Stegmüller, Das Wahrheitsproblem u n d die Idee der Semantik, S. 150; Seiffert, E i n f ü h r i m g i n die Wissenschaftstheorie 1, S. 46 m . w . N . ; Koch, Über juristisch-dogmatisches Argumentieren i m Staatsrecht, S. 34.

13. Tatsachen, Interessen und Gesetzesauslegung Die Erkenntnis, daß Rechtsnormen nicht von den Folgen her ausgelegt werden können, zwingt also i n der konkreten Anwendung zu einem Vorgehen i n zwei Takten. Das Verfahren läßt sich an der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Vererblichkeit des Schmerzensgeldanspruches verdeutlichen. Das Beispiel zeigt besonders klar die „Zweistufigkeit", weil das Gericht den zweiten Schritt mit einer Verzögerung von einem Jahrzehnt ausführte. Dabei nötigte die Rückbesinnung auf den Inhalt des § 847 Abs. 1 BGB zu einer Änderung der Rechtsprechung. Der BGH vertrat zunächst die Meinung, „daß der Schmerzensgeldanspruch auch dann vererblich ist, wenn er während der bis zum Ableben andauernden Bewußtlosigkeit des Verletzten rechtshängig geworden und die Prozeßführung von den Erben genehmigt worden ist" 3 3 . Diese Meinung stellte sich i n den Dienst der Interessen des Verletzten: Für den Fall seines Ablebens wünsche der Geschädigte i n aller Regel den Übergang des Anspruches auf die Angehörigen 3 4 . Als juristische „Brücke" zu dieser Interessenbewertung dienten die Vorschriften über die Geschäftsführung ohne Auftrag, bei denen es auf den mutmaßlichen Willen des Geschäftsherrn ankomme, wenn der wirkliche Wille nicht feststellbar sei 35 . Die Frage, ob sich das Ergebnis jener Bewertung der Interessenlage auf § 847 Abs. 1 BGB gründen lasse, beantwortete das Gericht zehn Jahre später: Die nunmehr „allein mit dem Gesetz vereinbar gehaltene Lösung" 3 6 war, daß es von jetzt ab „einer Willenskundgebung des Verletzten selbst" bedurfte 3 7 . Die „Brücke" zur GoA brach zusammen; wegen der höchstpersönlichen Natur des Anspruches aus § 847 B G B 3 8 konnte es nur auf den w i r k lichen, nicht dagegen auf den mutmaßlichen Willen des Geschädigten ankommen. Somit ergibt sich: Eine Trennung des Rechtlichen vom Tatsächlichen kann i n dieser Allgemeinheit nicht gefordert werden. Dem Postulat stünde entgegen, daß sich bei der Subsumtion die Rechts- und die Tatfragen vermischen. Diese Einsicht zwingt aber nicht dazu, die methodischen Anforderungen aus Teil I I zu verabschieden. I m Gegenteil bewähren sie sich jetzt. Denn sie erst ermöglichen es, i n der Subsumtion bis h i n zur subjektiven „Lösung" die Herausbildung einer Hypothese wiederzuerkennen; daraus folgt zugleich, daß die Überprüfung des dogmatischen Satzes bis dahin noch nicht stattgefunden hat und erst zu leisten ist. Die methodische Regel, i n zwei Takten vorzugehen, wieder33 34 35 36 37 38

BGH BGH BGH BGH BGH BGH

JZ JZ JZ JZ JZ JZ

68, 135, 136 m. w . N. u n d zustimmender A n m . v o n E. Böhmer. 68, 135; ferner Behr, N J W 61, 2242, 2243. 68, 135. 78, 29, 30 m i t ablehnender A n m . v o n Brehm, JZ 78,191. 78, 29. 78, 29.

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14. Praktische Schwierigkeiten

holt also nur die schon bekannte Tatsache, daß die Formulierung der Hypothese und ihre Überprüfung zwei getrennte methodische Schritte sind. Aus dem tatsächlichen Entscheidungsverhalten — dem „Durchringen" bis zu einer „Lösung" — läßt sich demnach kein tauglicher Einwand gegen die Forderung nach methodischer Überprüfbarkeit gewinnen. Der Einwand deckt nur auf, daß jener Teil der „Begründung", der zumeist i m Mittelpunkt methodischer Betrachtungen steht, erst zu einer Hypothese verhilft.

14. Praktische Schwierigkeiten bei der Anwendung der methodischen Regel Aber können w i r bei der Formulierung dieser methodischen Regel stehen bleiben? Oder w i r d man uns vorhalten: Theoretisch mag die Regel zwar stimmen — aber sie taugt nicht für die Praxis? Der Einwand w i r d plausibel, wenn w i r uns weitere Fragen vorlegen. Was sollen w i r dem Juristen raten, der bei der „Nach-" Prüfung feststellt, daß der Gesetzgeber an sein Problem nicht gedacht hatte, wie es den Gerichten etwa m i t dem Schutz des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes widerfuhr 1 ? Oder was ist zu tun, wenn die Schadensersatzklage gegen einen Produzenten nach den Grundsätzen der Beweislastverteilung abgewiesen werden müßte, jedoch „die schutzbedürftigen Interessen des Geschädigten — gleich ob Endabnehmer, Benutzer oder D r i t t e " 2 — eine Umkehr der Beweislast für das Verschulden erheischen 3? I n derartigen Fällen w i r d unsere Regel zwar nicht sinnlos; denn die Forderung, Entscheidungen m i t dem Gesetz zu begründen, ist nach wie vor gültig: Es ist ein Gebot nicht nur methodischer, sondern auch demokratischer Redlichkeit, offenzulegen, ob man das Gesetz angewendet oder einen Schritt darüber hinaus getan hat. Oft genug aber bleibt die Beachtung der Regel folgenlos, und zwar immer dann, wenn die für richtig gehaltene Lösung des Rechtsfalles mit dem Gesetz nicht begründbar ist. Wie die Beispiele lehren, kann das am Schweigen des Gesetzes oder daran liegen, daß u m der Sachgerechtigkeit w i l l e n die „regelgerechte" Lösung zurücktreten muß. Die Fälle sind keine mühsam zusammengesuchten Ausnahmen. Vielmehr geben sie ein getreues B i l d alltäglicher Schwierigkeiten. Verantwortlich für diese Schwierigkeiten ist einmal der Entscheidungszwang, insbesondere das Verbot, eine 1 2 3

Vgl. B G H Z 29, 65, 70. B G H Z 51, 91,105 „Hühnerpest". Ebd. S. 102 ff.

14. Praktische Schwierigkeiten gerichtliche Entscheidung deshalb abzulehnen, weil das Gesetz keine passende Antwort bereithalte. Verantwortlich dafür sind aber auch Vorschriften der Verfassung, vor allem diejenigen über die Grundrechte. Auch wenn das Grundgesetz „eine einzigartige Sammlung von Leerformeln (enthält), unter die fast beliebige Sachverhalte subsumierbar sind" 4 , so haben doch die Rechtsanwender „das Verfassungsrecht und die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte zu beachten" 5 . A n diese Tatsache sind die Fachgerichte vom Bundesverfassungsgericht immer wieder nachdrücklich erinnert worden. Unser höchstes Gericht hat Entscheidungen zum Beispiel aufgehoben, wenn der Richter „die Tragweite des Rechts auf Meinungsfreiheit . . . verkannt (und) . . . das Grundrecht der Pressefreiheit nicht i n Erwägung gezogen" hat 6 , oder wenn das Willkürverbot verletzt worden ist, weil „sich für eine bei der Auslegung und Anwendung einer einfach-rechtlichen Norm getroffene Abwägung sachlich zureichende, plausible Gründe nicht mehr finden lassen" 7 . Hat der Richter über einen vom Gesetzgeber nicht bedachten Sachverhalt zu entscheiden und sind zusätzlich Grundrechte betroffen, dann verschmelzen Rechtsfortbildung durch „Richterrecht" und „verfassungskonforme Auslegung" zu einer Begründung, deren Stichhaltigkeit durch Rückfrage beim Gesetzestext nicht direkt überprüfbar ist. Als Beispiel mag der „Höllenfeuer"-Fall dienen 8 : Dort ging es u m einen Eingriff i n einen eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, und zwar durch abfällige K r i t i k i n einer katholischen Wochenzeitung. Die Frage, ob der betreffende A r t i k e l „böswillige" oder „gehässige" und damit rechtswidrige Schmähkritik enthalten habe oder ob die Formulierungen noch Ausdruck zulässiger Meinungsäußerung gewesen seien, beantwortete der Bundesgerichtshof „unter Würdigung des politisch-gesellschaftlichen Gehalts der Auseinandersetzung und der vorangegangenen Herausforderung" 9 . Begründungen wie die eben gehörten lassen uns fragen, ob w i r nicht so rasch wie möglich die eingangs formulierte Regel aufgeben müssen. U m eine A n t w o r t zu finden, wollen w i r zunächst nochmals auf den Ausgangspunkt blicken und einige Zwischenergebnisse notieren: Bei der Anwendung von Gesetzen auf konkrete Sachverhalte gewinnt der Jurist die Lösung des Falles aus einem Gemenge von Argumenten, die teils dem Rechtssystem entnommen sind, sich überwiegend aber auf 4

Opp, Soziologie i m Recht, S. 124, oben 9. Fn. 39. Dazu BVerfGE 7, 198, 204 ff.; 18, 85, 92; 25, 256, 263; B V e r f G N J W 79, 2607. • BVerfGE 25, 256, 263. 7 BVerfGE 42, 64, 73; 11, 283, 287; B V e r f G N J W 79, 1925 m. w . N. 8 Β GHZ 45, 296. 9 Ebd. S. 310. 5

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14. Praktische Schwierigkeiten

soziale, psychologische und tatsächliche Sachverhalte beziehen. Deshalb besteht die Forderung, das Produkt des Entscheidungsprozesses anschließend anhand der Gesetzestexte zu überprüfen. Diese Forderung ergab sich aus den Überlegungen i m II. Teil, deren Ziel es war, den Erkenntniswert politischer Argumente am Maßstab der „wissenschaftlichen Methode" 1 0 zu überprüfen. Die Regel beruht also auf theoretischen Gründen. Sie ist Konsequenz der Anforderungen, die w i r an wissenschaftlich gesichertes Wissen stellen: Ableitbarkeit und Überprüfbarkeit. Diese Bedingungen bleiben selbst dann richtig, wenn sie, blickt man auf das tägliche Tun i n den Gerichten und Verwaltungen, nur noch als Ideal vor uns stehen, wenn der Alltag über sie hinweggeht. Der Blick auf die Praxis kann uns aber vor falschen Schlußfolgerungen bewahren. Fruchtlos wäre es, verlangten w i r u m wissenschaftlicher Strenge willen, der rechtsanwendende Jurist dürfe seine Entscheidung nur m i t Sätzen begründen, die sich auf den Gesetzestext stützen lassen. Den Rat könnte der Angesprochene nicht befolgen. Die praktischen Konsequenzen aus den theoretischen Einsichten müssen daher i n eine andere Richtung weisen. Erinnern w i r uns an die große Reform des Steuerrechts vor einigen Jahren: Schon kurz nach dem Inkrafttreten dieses „Jahrhundertgesetzes", wie seine Verfasser es gerne nannten, offenbarten sich i m Recht der Einkommensteuer systematische Fehler, die eine schnelle Korrektur verlangten. Der Vorgang veranlaßte den damaligen Finanzminister zu dem Ausspruch: „Ich glaube, mich t r i t t ein Pferd." Das Beispiel verweist auf eine der Ursachen, die der Anwendung unserer Regel i m Wege stehen. Oftmals sind Gesetze nicht so gut, wie sie sein könnten: „Schlecht gearbeitete Gesetzestexte m i t ihren hohen sozialen Kosten sind heute weitgehend vermeidbar 1 1 ." I n der Tat sind Prozesse, i n denen lediglich u m die Auslegung unklarer Regelungen gestritten wird, kein notwendiges Übel. Durchsichtige Systematik der Gesetze und Widerspruchsfreiheit i m Verhältnis zu anderen Normbereichen würden helfen, so manchen Rechtsstreit außergerichtlich beizulegen. Jedenfalls aber ermöglichten sie dem Rechtsanwender, sein Ergebnis mit dem Gesetz zu begründen, die Regel also zu befolgen. 10

Oben II.9.1. Podlech, Rechtslin^iistik, S. 110 f., 115, Z i t a t S. 111. Allerdings stellen Fristen, Termine, H e k t i k , Kompromisse über I n h a l t u n d Formulierung der Vorschriften, vielleicht auch sprachliches Unvermögen die Verfasser v o n Gesetzen v o r Schwierigkeiten, die m a n nicht unterschätzen darf. Das Thema ist ausführlicher behandelt bei Diederichsen, Die Flucht des Gesetzgebers aus der politischen Verantwortimg, durchgehend. Schneider, Über den Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung, S. 1276 erinnert daran, daß sich die Sprache des Gesetzgebers nach dem vorgestellten Adressaten u n d seinen methodischen Gewohnheiten richtet. 11

15. Argumentieren Gerichte und juristische Schriftsteller „politisch"? 159 Unser Thema ist aber nicht die Gesetzgebungslehre, sondern die politische Argumentation. Überdies könnten bessere Gesetze nur eine der Quellen verschließen, aus denen sich die „Unreinheit" praktischer Jurisprudenz speist. Das Stichwort „sozialer Wandel" erinnert an die Grenzen, die uns gezogen sind, wenn w i r menschliches Verhalten mit Hilfe sprachlicher M i t t e l regeln wollen. Jede Formulierung und systematische Ordnung ist notwendig vom „Weltbild" des Verfassers bestimmt 1 2 . Gegenwärtiges Wissen und Werten umgrenzt die Bedeutung von Begriffen. Verändern sich aber Moral, Wirtschaft und Technik, so müssen w i r stets aufs neue fragen, ob die alten M i t t e l für die neuen Probleme taugen 1 3 : Begründet eine „wilde Ehe" familienrechtliche Beziehungen zwischen den Partnern 1 4 ? Wie sind „leasing" und „factoring" rechtlich einzuordnen 15 ? Braucht der Bezieher einen Teil der Stromrechnung nicht zu bezahlen, weil das Energieversorgungsunternehmen die Elektrizität auch aus Kernenergie gewinnt 1 6 ?

15. Argumentieren Gerichte und juristische Schriftsteller „politisch"? Wenn aber die Justiz und die Wissenschaft auf solche „Herausforderungen" 1 mit dem Bestand an Rechtsregeln allein häufig nicht angemessen reagieren können — argumentieren die Juristen i n diesen Fällen nicht politisch? T r i f f t auf sie nicht all das zu, was w i r i m II. Teil über den Erkenntniswert politischer Begründungen erarbeitet haben? Jetzt erinnern w i r uns der Bemerkung Nipperdeys, die Auslegung habe sich i m Zweifel nach dem Wert des Ergebnisses zu richten 2 . Ist Nipperdey ebenfalls ein „politischer" Jurist, w e i l er auf die Entscheidungsfolgen sieht? Die Antwort auf jede der drei Fragen kann nur lauten: i m Grundsatz ja. Aber warum nur „ i m Grundsatz"? Zwar werden, insofern übereinstimmend m i t den Überlegungen der „Reformer" 3 , für die Entscheidung auch Argumente herangezogen, die nicht dem Text des Gesetzes 12

Oben 11.12.128. Vgl. oben II.4.3. 14 Ablehnend O L G Saarbrücken N J W 79, 2050. 15 Vgl. Palandt / Putzo, 4 vor § 535; Palandt / Heinrichs, § 398, 8. 18 Bejahend A G Stuttgart N J W 79, 2047 m i t ablehnender A n m . v o n Lüke; verneinend A G Hamburg N J W 79, 2315; L G D o r t m u n d N J W 81, 764; O L G H a m m N J W 81, 2473. 1 Siehe Diederichsen, Die Industriegesellschaft als Herausforderung an das bürgerliche Recht, N J W 75, 1801 ff. 2 Oben 4. bei Fn. 28. 3 Oben 1.2.22. 13

15. Argumentieren Gerichte und juristische Schriftsteller „politisch"? entnommen sind. Dennoch müssen gewichtige Unterschiede bestehen. Anders ließe sich das unfreundliche Verhältnis zwischen „kritischen" und „dogmatischen" Juristen nicht erklären. So w i r d zum Beispiel i n der Diskussion u m Form und Inhalte der Juristenausbildung oft mehr über Radikale als über Rechtswissenschaft gestritten 4 , und die Angegriffenen beklagen sich über eine „Reform i n feindlicher Umwelt" 5 . 15.1 Drei Beispiele Um die Verschiedenheit der Standpunkte besser zu erkennen, wollen w i r Beispiele aus der Rechtsprechung untersuchen, die, nimmt man die Auswirkungen der Urteile und das öffentliche Interesse zum Maßstab, als „politische" Entscheidungen gelten müssen. I n Fall eins, auf den schon hingewiesen wurde®, hatten Kernkraftgegner die Stromrechnung nicht voll bezahlt und einen Rest m i t der Begründung zurückbehalten, das Versorgungsunternehmen liefere den Strom teilweise aus einem Kernkraftwerk. Das Amtsgericht Stuttgart billigte dem Bezieher ein Zurückbehaltungsrecht zu und wies die Zahlungsklage ab. Fall zwei behandelt die Voraussetzungen einer wirksamen Beurkundung gemäß § 313 BGB. I n einem notariellen Grundstückskaufvertrag, der auch die Errichtung eines Hauses vorsah, hatten die Parteien auf die Baupläne verwiesen, diese Pläne der Vertragsurkunde aber nicht beigefügt. Nachdem das Haus errichtet worden war, verlangte der Verkäufer das Grundstück heraus. Der Bundesgerichtshof gab i h m Recht: „ . . . wegen der unterbliebenen Beifügung der Baupläne zu der Niederschrift . . . ist der notarielle Vertrag . . . insgesamt nichtig" 7 . Entgegen seiner früheren Auffassung lehnte es das Gericht ab, die Pläne i m Wege der Vertragsauslegung zu berücksichtigen 8 . Fall drei schließlich betrifft den „Bummelstreik" der Fluglotsen aus dem Jahre 1973. U m ihre Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen und höherer Besoldung durchzusetzen, griffen die Flugleiter, überwiegend Beamte, zur Selbsthilfe. Sie meldeten sich krank oder setzten die Arbeitsleistung herab. Die Folge waren erhebliche Verzögerungen, zeitweise brach der Luftverkehr zusammen, Schäden i n M i l lionenhöhe entstanden. Betroffen waren vor allem die Passagiere sowie die Touristikunternehmen. Der Bundesgerichtshof 9 und das Bundes4 5 β 7 8

Behrendt, Aufbruch i n die politische Aktion?, ZfP 22 (1975), 16 ff. m. w . N. Bericht 1974 der Universität Bremen, S. 12 f. Oben 14. bei Fn. 16. B G H N J W 79, 1496, 1497. Ebd. m. w . N.

15.2 Kritik vom Standpunkt der „traditionellen" Meinung

161

disziplinargericht 10 werteten die „komplotthafte(n) Solidarisierungshandlungen" 1 1 der Flugleiter als sittenwidrige Amtspflichtverletzungen. Hätte die Mehrzahl der Juristen i n allen drei Beispielen ebenso entschieden? Ich glaube nicht. Allerdings könnte ich zur Antwort erhalten, die Sachverhalte seien politisch und sozial so brisant, da sei fast jedes Ergebnis möglich und auch vertretbar. Wie hoch zum Beispiel das Gericht die Gewissensfreiheit und ein etwaiges Widerstandsrecht der „Boykotteure" i n Fall eins bewerte, könne nicht abgeschätzt werden. Demgegenüber möchte ich die These vertreten, daß eine sachliche Entscheidung zwischen Zustimmung und Ablehnung möglich ist und Übereinstimmung bestehen kann, ob ein Urteil als „vernünftig" zu gelten hat oder nicht. Wie sich freilich Beifall und K r i t i k verteilen, w i r d mit davon abhängen, welchen theoretischen Ausgangspunkt und welchen Maßstab der Betrachter wählt 1 2 . Diese Erkenntnis wollen w i r ausnutzen und die Beispiele einmal vom „traditionellen" und sodann vom Standpunkt der „kritischen Juristen" her beleuchten. Das Ziel ist, die Unterschiede zwischen beiden Positionen am konkreten Fall sichtbar werden zu lassen. 15.2 Kritik vom Standpunkt der „traditionellen" Meinung I n Fall eins kann der Abnehmer die Einrede aus § 320 I BGB erheben, wenn er einen fälligen Gegenanspruch hat 1 3 . Das Versorgungsunternehmen hat den Strom geliefert, ist seinen Verpflichtungen also nachgekommen. Allerdings ist der Kunde m i t einer der Energiequellen, aus denen die Elektrizität gewonnen wird, nicht einverstanden. W i r d dadurch die Leistung „ungebührlich"? Dazu bedürfte es eines Rechtssatzes, der es zuließe, die „an sich" ordnungsgemäße Leistung zusätzlich politisch oder moralisch zu bewerten. Derartige Rechtssätze gibt es zwar, vor allem die §§ 138, 242 BGB. Sind aber wie hier die Voraussetzungen dieser Vorschriften nicht gegeben, dann sollen allein sachliche Gegebenheiten und nicht Bewertungen das Rechtsverhältnis bestimmen. Deshalb kann zum Beispiel ein Mieter den Mietzins nicht deshalb zurückhalten, weil der Vermieter der verfassungsfeindlichen KPD angehört oder ein Neo-Nazi ist, und „Jaffa"-Apfelsinen müssen voll bezahlt werden, auch wenn der Käufer ein politischer Gegner Israels ist. Die Entscheidung des Amtsgerichts Stuttgart ist daher abzulehnen. 9

B G H JZ 77, 718; JZ 78, 239. BDiszG N J W 75, 1905. 11 Ebd. S. 1906. 12 Oben Π.6.; II.7.1. 13 Das A G Stuttgart argumentiert (S. 2048) m i t § 273 BGB. 10

i l zinke

15. Argumentieren Gerichte und juristische Schriftsteller „politisch"? Auch i n Fall zwei können w i r dem Richterspruch nicht beipflichten. Zweck der Beurkundung i n § 313 BGB ist es unter anderem, voreilige Verpflichtungen zu verhindern und, nach rechtskundiger Beratung, Beweis über das Vereinbarte zu ermöglichen 14 . Die Vorschrift soll nicht nur vorbeugen, sondern auch sichern. Vorbeugen und sichern: beide Wirkungen stehen nicht zufällig nebeneinander. Vielmehr gehören sie notwendig zusammen. Gegenüber „alltäglichen" Rechtsgeschäften sind hier die Voraussetzungen für die Wirksamkeit des Vertrages wesentlich erschwert. Dann muß ihnen aber, sind die Bedingungen erfüllt, ein entsprechend großer Schutz zukommen. Der Formzwang erleichtert es daher nicht nur, Abschluß und Inhalt des Vertrages zu belegen; er dient darüber hinaus der Rechtssicherheit 15 . Vor allem auf diese W i r kung vertraut der Rechtsverkehr und nimmt dafür die m i t der Beurkundung verknüpften Zeit- und Geldaufwendungen hin. Ist also eine notarielle Urkunde dem geltenden Recht entsprechend errichtet worden, dann sollen die Parteien glauben dürfen, daß nun „nichts mehr passieren kann". Möglicherweise zehntausende von Erwerbern haben sich nach dem Abschluß ähnlicher Verträge auf die vermeintlich abgesicherte Rechtsposition verlassen, nicht ahnend, daß i h r Vertrauen durch den Bundesgerichtshof enttäuscht werden würde. Denn die Nichtigkeitsfolge erfaßt nicht nur „aktuelle", sondern auch längst abgeschlossene Verträge. Sofort nach Bekanntwerden des Urteils bekamen manche Käufer die Folgen des Urteils zu spüren: Für einige Verkäufer mußte es zu verlockend sein, unter Hinweis auf die neue Rechtsprechung einen „Nachschlag" zu fordern oder den Kaufgegenstand zurückzuverlangen 16 . Den Betroffenen blieb zunächst nur die Hoffnung, daß die Gerichte sie m i t dem Einwand „unzulässiger Berufung auf Formmängel" 1 7 hören würden. Der Bundesjustizminister sah sich jedenfalls veranlaßt, den Käufern zu ihrem Schutz ein Gesetz i n Aussicht zu stellen und sie bis dahin zum „Durchhalten" aufzufordern 18 — ein Versprechen, das inzwischen eingelöst wurde 1 9 . I n der Beurteilung von Fall drei besteht vermutlich noch am ehesten zustimmende Einigkeit, obwohl es die m i t der Sache befaßten Gerichte hier nicht leicht gehabt haben. Denn die Flugleiter haben die offene Auseinandersetzung sorgsam gemieden; sie haben weder die Arbeit niedergelegt noch Streikposten aufgestellt, sondern sind wegen „Un14

Vgl. B G H N J W 79, 1495, 1496; 1496, 1497; 1498, 1499. Vgl. Ο GHZ 1, 219, 220. 16 Beispiel: O L G München N J W 79, 2157. 17 Dazu Esser / Schmidt, Schuldrecht. Allgemeiner T e i l 1, S. 52 f. m . w . N . ; O L G München ebd.; L G München I N J W 79, 2158. 18 Vgl. F A Z v. 14. 9.1979, S. 13; K N v. 20.9.1979, S. 9. 19 Gesetz v o m 20.2.1980, BGBl. I S. 157. 15

15.3 Kritik vom Standpunkt der Gegenmeinung

163

Wohlseins" zum Arzt gegangen. Der Nachweis einer Pflichtverletzung i m Einzelfall war durch diese Taktik erschwert 20 . Gleichwohl haben sich die Gerichte durch diese Schwierigkeiten den Blick nicht nehmen lassen und sie haben ausgesprochen, was jedermann offenkundig war: Eine Gruppe von Leuten an wichtigen „Schaltstellen" der Technik hat u m persönlicher Vorteile w i l l e n enormen Schaden an Gesundheit und Vermögen unbeteiligter Dritter angerichtet. Selbst wenn der Unmut der Flugleiter durch achtenswerte Gründe hervorgerufen sein sollte, so waren doch die M i t t e l der Auseinandersetzung mißbräuchlich. Solches Verhalten durchgehen zu lassen, hätte — ganz abgesehen von beamtenrechtlichen Vorschriften — nicht nur allen Grundsätzen von Gerechtigkeit, Fairneß und gegenseitiger Rücksichtnahme Hohn gesprochen, es hätte auch eine verhängnisvolle Wirkung auf andere Gruppen von „Spezialisten" ausgeübt. 15.3 Kritik vom Standpunkt der Gegenmeinung M i t gleicher Selbstverständlichkeit, wie es soeben bei der gewohnten „dogmatischen" K r i t i k möglich war, läßt sich die Gegenansicht nicht handhaben. Denn am Selbstverständnis der traditionellen Jurisprudenz hat diese Meinung nicht teil, sie begeht andere Pfade. Deren Wegmarken wollen w i r uns nochmals vor Augen führen. Nun stehen w i r nicht zum ersten Mal vor der Aufgabe, die Voraussetzungen der „politischen Argumentation" nachzuvollziehen. Früher schon 21 sind w i r der Frage nachgegangen, ob Gesetze von den Folgen her ausgelegt werden können. Dazu haben w i r geprüft, ob gesicherte Aussagen über den Verlauf des sozialen Lebens möglich sind. Weil schon das nicht m i t dem notwendigen Grad an Gewißheit gelingen w i l l , konnte an jener Stelle offen bleiben, wie die „kritischen Juristen" die Handlungsmöglichkeiten bewerten. Jetzt aber hat sich herausgestellt, daß die Schwierigkeiten praktischer Begründungen m i t den theoretischen Lösungen, zu denen w i r gelangt sind, nicht immer zu bewältigen sind. Damit sind w i r zugleich von jener „offenen Frage" eingeholt worden; bei aller Ubereinstimmung der gegensätzlichen Positionen, bedingt durch lückenhafte oder schlechte Gesetze, Forderungen nach „Gerechtigkeit" und „Verwirklichung von Grundrechten": der maßgebliche Unterschied, wenn er vorhanden ist, muß sich nunmehr daran zeigen, wie die Entscheidung für eine der Alternativen begründet wird. 20 E i n Beispiel hierfür ist BDiszG N J W 75, 1905 f.: Das Gericht n a h m die behaupteten Schwindelanfälle als gegeben h i n ; es konnte dem Beamten n u r noch vorhalten, die Dienstunfähigkeit zu spät gemeldet zu haben. 21 Oben 11.12.

11*

15. Argumentieren Gerichte und juristische Schriftsteller „politisch"? Der Gegenmeinung zufolge soll das eine „politische" Begründung sein 22 . Was die Autoren darunter verstehen, haben die Untersuchungen i m I. Teil klargestellt 2 3 : Politische Entscheidungen sind von einem „emanzipatorischen Interesse" geleitet. Diese abkürzende Formulierung besagt, daß die Tatsachen darauf befragt werden, inwieweit sie Möglichkeiten eröffnen, Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen zu fördern, inwieweit zum Beispiel die Technik ihren Bedürfnissen und ihrer Befreiung dient. Eng mit dem „emanzipatorischen" ist dabei ein „praktisches" Interesse verbunden: M i t Selbstbestimmung sei eine nur an S achzwängen orientierte Entscheidung „von oben" herab nicht vereinbar. Was not tue, sei deshalb die zwanglose und öffentliche Diskussion darüber, was zu t u n sei 24 . Befragen w i r unter diesen leitenden Gesichtspunkten unsere drei Fälle. Fall eins 25 : Die Parteien streiten nur „zufällig" u m Stromrechnung und Zurückbehaltungsrecht; die eigentliche Bühne ist nicht der Gerichtssaal. Was zur Verhandlung steht, ist die friedliche Nutzung der Atomenergie. Notwendigkeiten wie das knapper werdende Erdöl diktieren nach Ansicht von Politikern und von Vertretern der Energiewirtschaft den Bau von Kernkraftwerken. Die Versorgung m i t Energie nützt, daran ist ernsthaft kein Zweifel möglich, wichtigen Bedürfnissen der Bevölkerung. Aber auch die Gegner berufen sich auf elementare Forderungen wie den Schutz von nuklearen Katastrophen, den Anspruch auf eine menschenwürdige Umwelt und auf gesunde Nahrungsmittel. Wem sollen w i r Recht geben, wenn doch beide Positionen den menschlichen Bedürfnissen dienen? Soll größere Selbstbestimmung Maßstab für die Entscheidung sein, so müssen w i r den Kernkraftgegnern beipflichten; denn der „Einstieg" i n die wirtschaftliche Nutzung der Kernenergie schafft unumstößliche Tatsachen für die Zukunft. M i t den Anlagen selbst und ihren Risiken, m i t der Erwärmung der Flüsse, mit der Gefährdung der Luft und vor allem m i t dem radioaktiven Abfall müssen künftige Generationen leben, ob sie wollen oder nicht. Diese „Festschreibung der Zukunft" aber widerstreitet demokratischen Prinzipien, weil sie dem Wechsel von Mehrheiten ihren Sinn nimmt26. Hinzu kommt, daß die Errichtung von atomaren Anlagen offenbar mehr von wirtschaftlichen Interessen als von öffentlichen Willensbildungsprozessen beeinflußt ist: Zu stark ist dafür die Opposition i m 22 23 24 25 2e

Oben 1.2.22. Oben 1.3.27. Oben 1.3.251. Oben 14. bei Fn. 16, 15. bei Fn. 6. Vgl. Ellwein, Regieren u n d Verwalten, S. 28.

15. Kritik vom Standpunkt der

eeneinung

165

Lande. A l l e i n i m Verfahren u m das Kraftwerk i n Brokdorf treten vier Gemeinden und etwa 250 Einzelpersonen als Kläger auf 2 7 . Auch sind auffallend häufig Teilgenehmigungen für sofort vollziehbar erklärt worden 2 8 , obwohl die Entsorgungsprobleme nicht gelöst sind. Das nährt den Verdacht, unabhängig vom Ausgang der Diskussion sollten vollendete Tatsachen geschaffen werden. Das Votum gegen den Atomstrom legt zugleich fest, wie Folgekonflikte gelöst werden müssen. Die Logik dieser „Primär"-Entscheidung erlaubt es i n Fall eins nicht, die Versorgung m i t Elektrizität aus dem politischen Zusammenhang zu lösen und sie abstrakt, als Leistung „an sich", zu bewerten: Energie aus einem Kernkraftwerk kann keine ordnungsgemäße Erfüllung sein. Dann aber hatte der Beklagte Recht damit, einen Teil der Rechnung nicht zu bezahlen. Auch Fall zwei 2 9 behandelt einen Sachverhalt, der geeignet ist, i m Einzelfall bedrückende Konsequenzen herbeizuführen. Überraschend genug, w i l l es gleichwohl zunächst nicht gelingen, Ansatzpunkte für eine K r i t i k zu finden. Denn darüber, ob Baupläne der notariellen Urkunde beigefügt werden müssen oder nicht, läßt sich juristisch zwar trefflich diskutieren — für die Selbstbestimmung der Menschen aber ist diese Frage ohne Bedeutung. Wie es scheint, ist der Fall zu abstrakt, u m „politische" Konturen zu erhalten. W i r müßten mehr über die Beteiligten wissen. Statten w i r sie also mit Eigenschaften aus. Verkäuferin der Grundstücke soll eine kapitalkräftige Wohnungsbaugesellschaft sein, und Käufer sind Arbeiter und Angestellte, die den Lohn ihres entbehrungsreichen Arbeitslebens für ein spätes häusliches Glück hingegeben haben. Beriefe sich jetzt die Verkäuferin auf Formnichtigkeit, u m noch weiteren Gewinn herauszupressen, so gäbe es nur eine Meinung: W i r d der einzelne Mensch derart zum Spielball wirtschaftlicher Interessen, so muß er geschützt werden. Die maßgeblichen Besonderheiten könnten aber auch ganz anders verteilt sein. W i r brauchen nur an Fall eins anzuknüpfen und zu unterstellen, Käuferin sei eine GmbH, die auf dem Grundstück ein Atomkraftwerk errichten w i l l , vielleicht gar einen „Schnellen Brüter". Sogleich würde die „Grundentscheidung" gegen Kernenergie auch die Beurteilung dieses Falles präjudizieren. Weil der m i t dem Kauf verfolgte Zweck einer politischen Bewertung nicht standhielte, bestünden keine Bedenken, die Konsequenzen aus der Formnichtigkeit zu ziehen. I m Gegenteil wäre dies die einzig richtige Folgerung. 27 F A Z v. 2.10.1979, S. 6; eine andere Zeitung, K N v. 3.10.1979, S. 5, nennt 5 Gemeinden u n d etwa 300 Einzelkläger. 28 So auch i m Falle Brokdorf, vgl. ferner etwa O V G Münster N J W 79, 380. 29 Oben 15. bei Fn. 7.

15. Argumentieren Gerichte und juristische Schriftsteller „politisch"? Fall drei 3 0 bereitet uns die gleichen Schwierigkeiten wie Fall zwei. Nur sind sie diesmal m i t Zusatzinformationen nicht aus der Welt zu schaffen; denn w i r kennen von vornherein die Beteiligten besser. Dies gilt vor allem für die Fluglotsen. Sie sind zwar Arbeitnehmer. Gleichwohl treffen auf sie die Voraussetzungen, die das B i l d von der Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit des Streiks als einer Form sozialen Kampfes gegen Benachteiligung geprägt haben 3 1 , nicht zu. Sie sind keine „Unterprivilegierten", die m i t höherem Lohn und längerem Urlaub auch ein Mehr an Selbstverwirklichung erkämpfen müssen; Flugleiter sind gut bezahlte und herausgehobene Spezialisten m i t Pensionsanspruch, und Ängste u m ihren Arbeitsplatz kennen sie nicht. Immerhin läßt sich auch hier der Gegensatz von „Kapital" und „Arbeit" ausmachen und als Ursache des Konflikts der Widerstreit von Arbeitnehmergegen Arbeitgeber-Interessen bestimmen 32 . Maßgeblich ist jedoch ein anderer Punkt: Betroffen waren nicht nur die Eigner von Produktionsmitteln, nämlich der Staat und die Touristik-Unternehmen; der bewußt i n die Urlaubszeit verlegte „Bummelstreik" wurde auch auf dem Rücken tausender von „pauschalreisenden" Mitbürgern ausgetragen, die sich von einem Arbeitsjahr erholen wollten. Dieser Eingriff i n das Selbstbestimmungsrecht von Personen, die selbst Abhängige sind, brandmarkt den „Bummelstreik" endgültig und nimmt i h m den Charakter einer Maßnahme, die der Befreiung diene. W i r müssen also feststellen, daß i n Fall drei mit „politischen" Argumenten nicht weiterzukommen ist. So bleibt nichts übrig, als den Sachverhalt „juristisch" zu entscheiden, wie es bereits geschehen ist 3 3 .

15.4 Beurteilung der Lösungen Beide Begründungen scheint eine Gemeinsamkeit zu verbinden: Sie argumentieren m i t den Folgen der Entscheidung. Diese Feststellung enthüllt keine Neuigkeit, blickt man auf die zuletzt erörterte „moderne" Richtung. Sie gilt aber auch für die „dogmatische" Lösung. Nehmen w i r ζ. B. Fall 2: Wie w i r k t sich die Nichtigkeit des Grundstückskaufvertrags für die Käufer aus? Ähnliches gilt i m Fall 3 für den Hinweis auf die mögliche „Wirkung" des „Bummelstreiks" auf andere Berufsgruppen des öffentlichen Dienstes. Nun haben die Überlegungen i m II. Teil ergeben, daß die „Folgenbewertung" eine Begründung mit dem Gesetz nicht ersetzen kann 3 4 . W i r müssen deshalb die 30 31 32 33 34

Oben 15. bei Fn. 9 u n d 10. Vgl. Weick, Arbeitskampf, in: Handlexikon zur Politikwissenschaft. Vgl. Rüthers, Arbeitsrecht u n d politisches System, 1973, S. 26. Oben III.15.2. Oben II.12.2.

15.4 Beurteilung der Lösungen

167

Frage prüfen, mit welchem Recht w i r i m Rahmen einer Darstellung, die ausdrücklich vom Standpunkt der „traditionellen" Jurisprudenz ausgeht 35 , auf die „Folgen" einer Entscheidung sehen. Eine Gegenüberstellung der beiden Lösungswege soll uns zu einer A n t w o r t verhelfen. Auffälliger Ertrag der Betrachtungen zu Fall eins sind die klaren Alternativen, die sich je nach Ausgangslage ergeben. Sie unterstreichen, wie verschieden eine „dogmatische" von einer „politischen" Begründung sein kann. Dieses Ergebnis war vorgezeichnet durch die Einsicht, daß alle Erkenntnis bedingt ist durch die Fragen, die an einen Gegenstand gerichtet werden 3 6 : Wer wissen w i l l , ob die Tatbestandsmerkmale von Anspruchsgrundlagen, Einwendungen und Einreden erfüllt sind, erhält auch nur insoweit, also der Frage entsprechend, eine Auskunft. Wenn aber ein „emanzipatorisches Interesse" 37 bestimmend ist, so ist eine von der ersten Alternative abweichende A n t w o r t die Folge. Aus diesem Grunde darf der Jurist niemals vergessen, daß von i h m nicht nur eine „richtige", sondern auch eine „gerechte" Entscheidung erwartet wird. Nur dann gerät die „soziale Frage" überhaupt i n sein Blickfeld. Damit ist zugleich der Nutzen „politischer" Argumentation bezeichnet. Sie erst ermöglicht es uns, den Rechtssätzen neue Perspektiven abzugewinnen und sie i n einem anderen als dem gewohnten Lichte zu sehen. Spätestens an dieser Stelle erinnern w i r uns an die Regel, abschließend die „Lösung" m i t dem Inhalt der Gesetze zu vergleichen 38 . Dadurch w i r d uns zugleich bewußt, welchem Umstand w i r die anschaulichen Gegensätze verdanken: der Möglichkeit, Fall eins m i t dem Gesetz zu lösen 39 . So konnten w i r der „dogmatischen" eine abweichende „politische" Lösung gegenüberstellen. Blieben w i r an diesem Punkte stehen, so wäre der Fortschritt bescheiden und lediglich eine erste Stufe erklommen, u m zu einer A n t wort auf die Frage nach dem Erkenntniswert „politischer" Argumente zu gelangen. Wie w i r gesehen haben, kommt auch der gesetzestreue Jurist auf die Dauer mit den Regeln des positiven Rechts allein nicht aus. Was w i r bisher herausgefunden haben, betrifft deshalb n u r jene Entscheidungen, die eine Begründung m i t dem Text des Gesetzes zulassen. W i r sind aber auf eine weitere Gruppe von Sachverhalten gestoßen. I n diesen Fällen muß auch der „Dogmatiker" eine ausdrück35 3e 37 38 39

2047.

Oben III.15.2. Oben II.6. Oben III.15.3. Oben III.13. a. E. Vgl. dazu noch L ü k e i n seiner A n m e r k u n g zu A G Stuttgart N J W 79,

15. Argumentieren Gerichte und juristische Schriftsteller „politisch"? liehe Antwort darauf geben, ob seine Ergebnisse „gerecht", „sozial" und „vernünftig" sind. Die Alternativen, i n Fall eins noch klar geschieden, liegen nunmehr enger beisammen. Das zwingt dazu, nach einem anderen Unterscheidungsmerkmal als der „Begründung mit dem Gesetz" zu suchen. Wie notwendig eine solche Prüfung auf „zweiter Stufe" ist, zeigt ein Blick auf Fall drei 4 0 . Hier wäre ein Hinweis auf das Gesetz zwar nicht falsch, aber aus mehreren Gründen wenig hilfreich. Denn schon die Subsumtion kommt nicht ohne Wertungen aus. So stellte der Bundesgerichtshof fest 41 , der beklagte „Verband Deutscher Flugleiter" sei Gehilfe i m Sinne von § 830 BGB. Das Argument, die Koalitionsfreiheit des A r t . 9 I I I Grundgesetz verbiete es, dem Verband ein Haftungsrisiko aufzuerlegen, ließ das Gericht nicht gelten: Die „innere ,Nähe' des Beklagten zu den Flugleitern und ihrer ,Aktion' sowie . . . die besonders schweren Auswirkungen des , Streiks' (machten) eine abweichende Beurteilung notwendig" 4 2 . Ferner verrät uns eine Untersuchung der „Rechtslage" nicht, warum sich der Sachverhalt gegen eine „politische" Bewertung sperrt. Hier kann uns Fall zwei 4 3 weiterhelfen. A n i h m konnten w i r eine plötzliche Qualitätsveränderung erleben, gleichsam den „Umschlag" von einem politisch neutralen zu einem politisch „griffigen" Sachverhalt. Bewirkt wurde die Verwandlung durch Zusatzinformationen über die Parteien. Nun ist zusätzliche Sachaufklärung prozessual nichts Besonderes. Bemerkenswert an dem Vorgang ist die A r t des Wissens, welches hinzugewonnen wurde. Es sind dies Tatsachen, die m i t der Sache selbst, u m die gestritten wird, etwa den Voraussetzungen einer wirksamen Beurkundung, nichts zu t u n haben. A u f diese weitergehenden Erkenntnisse war die „dogmatische" Lösung nicht angewiesen. Hier begegnen sich die Parteien nur i n ihrer jeweiligen „Rolle", etwa als Verkäufer und Käufer. Dieses Absehen von individuellen Besonderheiten, w i r können sagen: die Blindheit gegenüber der Person, kennzeichnet traditionelle Jurisprudenz. Sie argumentiert sachbezogen. Fragen w i r dagegen i m Einzelfall nach Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums, dann muß Justitia die Binde von den Augen nehmen. Die Blickrichtung ist personenbezogen. Wie es einer Forderung der Justizreformer entspricht 44 , ist das Umfeld des Rechtsstreits aufzuhellen und sind Gerichtsverfahren als soziale Konflikte aufzufassen, die beizulegen oder zu lindern die Aufgabe des Juristen sei. Allerdings erfordert diese Sichtweise, daß ein Prozeß von 40 41 42 43 44

Oben 15. bei Fn. 9 u n d 10. B G H JZ 78, 239, 241; oben 15. Fn. 9. B G H JZ 78, 242, Hervorhebung i m Original. Oben 15. bei Fn. 7. Oben 1.2.22.

15.4 Beurteilung der Lösungen

169

vornherein i n bestimmter Weise beschaffen ist. Die sozialen Beziehungen müssen Begriffen wie „Freiheit" und „Selbstbestimmung" als Instrumenten der K r i t i k Angriffsflächen bieten. Weil das i n Fall drei nicht möglich war, konnten w i r das Dreiecksverhältnis: Staat-Fluglotsen-Touristikunternehmer nicht aufbrechen und bewerten. Solche Schwierigkeiten werden immer auftreten, wenn Sachverhalte „falsch programmiert" sind, wenn sie sich nicht i n passende Zweierbeziehungen wie: „arm-reich", „schwach-stark", „mächtig-ohnmächtig", „freiunfrei", „sozial erwünscht-sozial unerwünscht" zerlegen lassen. Dann muß der „politische" Jurist doch zum Gesetzbuch greifen, u m den Fall entscheiden zu können. A n diese Möglichkeit ist zwar gedacht: Der Jurist soll auch i n die Gesetze sehen 45 , gleichwohl verbleibt ein unbehagliches Gefühl; denn gerade i n Grenzfällen ist kaum vorhersehbar, welche Entscheidungsgrundlage etwa der Richter wählen wird. Grundsätzlicher als die eben diskutierten Bedenken und auch durch ein künftiges „politisches" Recht nicht zu überwinden ist ein Einwand, der sich wiederum i m Anschluß an die Erörterung von Fall zwei 4 6 formulieren läßt. Bemerkenswert an diesem Beispiel war nicht nur, daß der Sachverhalt politisch erst greifbar wurde, nachdem w i r den Parteien Leben eingehaucht hatten. Von der Verteilung der Eigenschaften auf die Beteiligten hing darüber hinaus die Entscheidung über Sieg oder Niederlage ab. Diese Wirkung ist Grundlage unseres Einwandes. Denn sie steht der Regelung von Sachfragen durch Gesetze i m Wege. So muß festgelegt sein, welche Bedeutung die Farben „Rot", „Gelb" und „Grün" an Ampelanlagen haben. Die Verkehrssicherheit verlangt eine generelle Geltung dieser Signale, unabhängig davon, wer auf eine Kreuzung zufährt. Nicht anders verhält es sich, u m an unser Beispiel anzuknüpfen, m i t den formellen Voraussetzungen eines Grundstückskaufvertrages. Sie bemessen sich nach Kriterien, die gleichermaßen für alle Fälle gelten. Werden sie jedoch i n einem Prozeß nochmals bewertet, so hebt das ihre Allgemeingültigkeit auf. Der Weg wäre frei für eine Kadijustiz. Wie ist es aber mit der traditionellen Ansicht bestellt, wenn die Frage nach dem „gerechten" und „vernünftigen" Ergebnis gestellt werden muß? Ist nicht die Orientierung an sachlichen Merkmalen auf den Fall beschränkt, daß ein Gesetzestext eindeutige Aussagen enthält? Die Frage ist zu verneinen. Knüpfen w i r abermals an Fall zwei an: Beruft sich eine Partei auf die Formnichtigkeit eines Vertrages gemäß §§ 313, 125 BGB, so kann die Gegenseite den Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegenhalten, wenn der Formmangel treuwidrig ausge45 46

Oben 1.2.22. Oben III.15.3.

15. Argumentieren Gerichte und juristische Schriftsteller „politisch"? nutzt werden soll 4 7 . Hier sind i n der Tat die Beziehungen der Parteien zueinander oder sonstige an sich sachfremde Erwägungen m i t zu berücksichtigen 48 . Selbst i n diesem Fall verdrängen nicht bloße Billigkeitserwägungen die sachgebundene Argumentation. Trotz Einbeziehung der möglichen Folgen werden die Maßstäbe der K r i t i k wie „Rechtssicherheit", „Zweck der Beurkundung", „Grundsätze dienstrechtlicher Vorschriften" dem positiven Recht entnommen und sind damit sachlicher und nicht persönlicher Natur. Die „Treuwidrigkeit" des Berufens auf einen Formmangel läßt sich auf objektive Gründe stützen: W i r lehnen i n Fall zwei die Entscheidung des Bundesgerichtshofs nicht deshalb ab, weil uns ein anderes Ergebnis irgendwie „ b i l l i ger" erscheint. Vielmehr verfehlt es den m i t dem Gesetz verfolgten Zweck und ist deshalb sachwidrig, wenn die Anwendung einer Vorschrift, die dem Schutz der Rechtsgenossen dient, stattdessen Angst und Schrecken verbreitet.

15.5 Gründe für den Gegensatz „sachbezogen-personenbezogen" Die Suche nach dem Hintergrund des Gegensatzes von „sachgebunden-personengebunden" stößt bald auf ein anderes Begriffspaar, m i t dem w i r i m I. Teil zu t u n hatten: „Wertsystem — Folgenbewertung" 4 9 . Dort verband sich mit dem Ausdruck „Wertsystem" zugleich eine Erkenntnistheorie. Deren naturrechtliche Inhalte machen w i r uns i n der Gegenwart nicht mehr zu eigen. Ferner ist der Begriff „System" i m strengen Sinne des Wortes nicht auf unsere Rechtsordnung anwendbar; eine logisch geschlossene Regelung durch Gesetze ist nicht möglich 5 0 . Gleichwohl ist eine Form von „Systemdenken" kennzeichnend für das „sachgebundene" Argumentieren der traditionellen Juristen 5 1 . Es orientiert sich an einer Idee, ist „idealistisch". Die Idee könnte man, m i t Blick auf den Freiheitssatz (Art. 2 Grundgesetz), den Gleichheitssatz (Art. 3 Grundgesetz), das Sozialstaatsgebot (Art. 20 I Grundgesetz) und die Gewaltenteilung (Art. 20 II, I I I Grundgesetz), wie folgt formulieren 5 2 : Das Verhalten der Menschen w i r d durch eine Rechtsordnung gesteuert, die für alle gleichermaßen gilt; und diese Ordnung soll vernünftig und berechenbar sein, Nutzen und Lasten gerecht verteilen und dem Besten der Mitglieder der Gesellschaft dienen. „Unvernünf47

Palandt / Heinrichs, § 125, 6 m. w . N. Vgl. Palandt / Heinrichs ebd. 49 Oben 1.3.263.1. δ0 Vgl. Engisch, Sinn u n d Tragweite juristischer Systematik, S. 176 f.; Canaris, Systemdenken u n d Systembegriff, S. 25 ff. 51 Vgl. noch ebd. S. 16 ff., 40 ff. 52 Oben 1.2.1. 48

15.5 Gründe für den Gegensatz „sachbezogen-personenbezogen"

171

tig" ist sie zum Beispiel, wenn ihre Regelungen nicht miteinander harmonieren. So war es „vernünftig", daß der Bundesgerichtshof einer nicht i m Vereinsregister eingetragenen Gewerkschaft die aktive Parteifähigkeit zuerkannte 5 3 , obwohl § 50 I I ZPO das Gegenteil vorsah. Denn i n den anderen Gerichtszweigen hatte der Gesetzgeber die Gewerkschaften, ihrer sozialen Bedeutung entsprechend, für voll parteifähig angesehen: §§ 10 Arbeitsgerichtsgesetz, 61 Nr. 1 VWGO, 70 Nr. 2 SGG, 58 I I FGO. Ebenso widerspricht es i m Beurkundungsfall dieser „Idee", daß bei einer Änderung der Rechtsprechung die Anwendung von Vorschriften für viele Menschen nur noch Nachteile bringt. Gleiches gilt für den „Fluglotsenfall", wo eine Minderheit auf Kosten Unbeteiligter materielle Vorteile erpressen wollte. Demgegenüber bezieht sich „kritisches" Denken nicht auf eine „idealistische" Ordnung. Das Mißtrauen gegen „Ideen" 5 4 speist sich aus historischen Erfahrungen: Die Rechtswelt habe „Marx, Darwin, Freud und Hitler" erlebt, sich aber bis heute nicht m i t ihnen befaßt 55 . Dabei können w i r den Namen Hitler für die Abwertung von Ideen wie „Volk, Vaterland, Gemeinschaft" setzen. M i t Marx ist einer der bedeutendsten Gegner des Idealismus' genannt 5 6 : „Die ,Idee' blamierte sich immer, soweit sie von dem ,Interesse' unterschieden war 5 7 ." Dieser Feststellung kann man nicht bestreiten, daß sie Wahres ausspricht: Wie steht es u m „Gleichheit" und „Gerechtigkeit", wo der „Schwarz"-Arbeiter als Steuerhinterzieher vor Gericht steht, gigantische Verschwendung von Steuermitteln durch Politiker jedoch folgenlos bleibt? Entspricht den Ideen von „Menschenwürde" und „Sozialstaat", was ein Blick i n psychiatrische Anstalten offenbart? W i r d angesichts dessen nicht zum Ideologen, wer Ideen predigt? Stellt er sie nicht dadurch i n den Dienst derer, die von den realen Verhältnissen den größten Nutzen haben? Hatten nicht Marx und Engels recht, als sie i n das „Kommunistische Manifest" von 1847 hineinschrieben: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse 58 ?" Zweck der Fragen war es nicht, eine abgewogene A n t w o r t zu erarbeiten. Sie sollten ins Bewußtsein rücken, wie anfällig Ideen dafür sind, zu abgegriffener Münze i m politischen A l l t a g zu werden, unbekümmert u m die Wirklichkeit von Einzelschicksalen. 53

Β GHZ 50, 325. Vgl. oben 3. Fn. 138. Wiethölter, Anforderungen, S. 13. 56 Z u beachten bleibt, daß marxistische Philosophie die Ausdrücke „Materialismus" und „Idealismus" oftmals unpräzise gebraucht, vgl. Wetter, Sowjetideologie heute I. Dialektischer u n d historischer Materialismus, 1962, S. 24 ff., 38 ff. 57 M a r x , Die heilige Familie, in: Die Frühschriften, S. 320. 58 I n : M a r x , Die Frühschriften, S. 546. 54

55

15. Argumentieren Gerichte und juristische Schriftsteller „politisch"? Die „kritische" Gegenmeinung fragt deshalb nach dem konkreten Wohlergehen der Menschen, nach den Möglichkeiten zur Befreiung, die der jeweilige Konflikt enthält 5 9 . M i t Blick auf die vorangegangenen Überlegungen ist vorauszuschicken: Indem sie den Menschen, seine Freiheit und Selbstbestimmung i n den Mittelpunkt stellt, ist diese A n sicht nicht minder „idealistisch" als die von ihr bekämpfte „traditionelle" Richtung. Dieser philosophische Gesichtspunkt soll uns hier nicht beschäftigen. Was bleibt, das ist der Widerstand gegen den Vorrang des Rechts 60 und gegen die Vorstellung, durch ein Normensystem die Ideen von „Demokratie" und „Sozialstaat" zu verwirklichen. Diese Vermittlung, dieser „Umweg" über die Rechtsordnung ist der Punkt, auf den die K r i t i k an „idealisierten Wertsystemen" 6 1 zu beziehen ist. Der „Vorrang" des Rechts, ausgedrückt i n der Formel von der „Bindung an das Gesetz", verhindert die unmittelbare politische A k t i o n 6 2 . Er zwingt stattdessen dazu, über Texte nachzudenken. Wenn das Ergebnis dieses Nachsinnens sein soll, einen sozialen Konflikt anhand von Kriterien zu entscheiden, die dem Gesetz entnommen sind, müssen w i r fragen: Was ist praktisch mit den Idealen vom „Gerechten" und „Sozialen", die das Leben i n der Gemeinschaft beherrschen sollen, an welcher Stelle haben w i r uns u m ihre Erfüllung gekümmert? Man muß zugeben, bei der Vielfalt auseinanderlaufender Gesetze beherrscht technisches Denken die Rechtsanwendung — nicht zufällig heißt die zivilrechtliche Methode des Richters Relations-„Technik". Die Gefahr ist groß, daß uns Begriffe wie „Gerechtigkeit" nur noch als Erinnerungsposten begegnen. Bleiben sie abstrakt, der Bezug auf sie folgenlos, werden sie nicht mehr auf die soziale Wirklichkeit bezogen: dann hat sich die Idee „blamiert". Die Erinnerung daran schließlich, daß aus allein wissenschaftstheoretischen Gründen konkrete Regelungen gefordert werden 6 3 , macht betroffen. Denn dieser Zwang, i n Gesetze zu blicken, fördert die Tendenz, „Ideal" und „Leben" immer weiter und auf Dauer zu trennen. 15.6 Die praktischen Schwierigkeiten „politischer" Argumentation: Eine abschließende Bewertung Vor jeder Entscheidung über das Für und Wider politischer Begründungen i m Recht muß als Lehre aus dem bisher Gesagten eines bewußt bleiben: Wenn sich aus dem II. Teil ergeben hat, daß „wissenschaftliche 59 60 81 62 M

Oben 1.3.27. Vgl. oben 2. bei Fn. 62. Oben 3. Fn. 138. Vgl. oben 2. Fn. 65. Oben II.9.

15.6 Eine abschließende Bewertung

173

Erkenntnis" die logische Verknüpfung theoretischer Sätze mit der Wirklichkeit zum Zwecke der Überprüfung bedeutet, so können w i r diese Einsicht und die Notwendigkeit, i n der Praxis nach „gerechten" und „vernünftigen" Ergebnissen zu suchen, nicht auf einen Nenner bringen. Der Versuchung, eine „harmonische Lösung" zu erzwingen, muß widerstanden werden. Patentlösungen gibt es für diesen Konflikt nicht. Zu fragen ist deshalb, ob nicht der entschlossene Schritt i n Richtung auf die „politische" Begründung eine Lösung sein kann. Bei einem Blick zurück zeigt sich indes bald, daß die Summe der praktischen Schwierigkeiten zu groß wäre. W i r hatten gesehen, daß die Frage nach Freiheit und Selbstbestimmung die Gültigkeit genereller Regelungen i m Einzelfall wieder aufhebt 6 4 . Moderne Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland sind aber auf Rechtssätze m i t allgemeiner Geltung angewiesen, m i t deren Hilfe Sachfragen bewältigt werden können: Die umfassende Wirksamkeit von Grundrechten, Fortschritte i n Technik und Naturwissenschaft, neue soziale Verhaltensweisen wie Bürgerinitiativen und der Mangel, vielleicht auch der Schwund an gemeinsamen Überzeugungen sind nur die wichtigsten Ursachen 65 . Die Bürger befolgen ein Gesetz auf Dauer aber nur dann, wenn sie annehmen können, daß es auch i m einzelnen Fall gilt. Ausnahmen und Durchbrechungen werden regelmäßig erst hingenommen, wenn wiederum die allgemeine Erwartung besteht, ein Fall werde als atypisch angesehen: So kann man m i t allgemeiner Zustimmung rechnen, wenn ein Verwaltungsbeamter einem arbeitslosen Millionär das „Stempelgeld" verweigert 6 6 . Da auch die „Reformer" nicht ohne Gesetze auskommen könnten, wären bei konsequenter Anwendung ihrer Forderungen Konflikte nicht zu vermeiden. Sie würden sich dadurch verstärken, daß auf Dauer keine Neigung der Bürger zu erreichen wäre, Entscheidungen hinzunehmen. Die generelle Bereitschaft zur Anerkennung staatlicher Maßnahmen ist auch durch gesetzmäßige Verfahren bedingt 6 7 . Die Gesetzmäßigkeit dieser Verfahren und Urteile müßte sich dann i m Einzelfall darlegen lassen, sie ist abhängig von der Möglichkeit des Nachweises, daß die Entscheidung auf das Gesetz zurückführbar ist. Das ist m i t „politischen" Begründungen nicht zu erreichen 68 .

64

Oben III.15.4. • 5 Vgl. Starck, Übermaß an Rechtsstaat? ZRP 79, 209 ff. ββ So geschehen i n der Schweiz, vgl. F A Z v. 29.11.1975, S. 5. 67 Dazu Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 30 ff. e8 Oben I I . Teil.

15. Argumentieren Gerichte und juristische Schriftsteller „politisch"? Somit ergibt sich: Eine „glückliche Synthese" der gegensätzlichen Meinungen ist nicht zu erreichen. Praktische Schwierigkeiten verbieten es, allein auf den moralischen Appell zu hören, der sich mit den Forderungen der K r i t i k e r verbindet. So bleibt nur übrig, diesem Anspruch innerhalb traditioneller Jurisprudenz Geltung zu verschaffen. Das nimmt „politischen" Argumenten weitgehend die Begründungsfähigkeit: Ist ein Fall m i t den gesetzlichen Regelungen entscheidbar, so vermag die Folgenanalyse zwar wertvolle Dienste bei der Bildung einer Hypothese zu leisten, sie trägt zur Aufhellung des sozialen Umfeldes bei und bietet die Möglichkeit, neue Fragen an das Gesetz zu richten. Die Entscheidung richtet sich aber danach, ob die ins Auge gefaßte Lösung anhand des Gesetzestextes bestätigt werden kann. Bietet das Normengefüge dem Rechtsanwender keine ausreichende Entscheidungsgrundlage, so muß auch der gesetzestreue oder -gläubige Jurist „politisch" entscheiden. Wie die Gegenüberstellung der „dogmatischen" und „politischen" Lösungen unserer drei Rechtsfälle i m I I I . Teil gezeigt hat, bestehen aber auch jetzt noch Unterschiede: Die „kritischen" Juristen untersuchen den Fall unmittelbar unter der leitenden Hinsicht von menschlicher Freiheit und Selbstbestimmung, also personenbezogen; ob sie ihn unter diesem Blickwinkel entscheiden können, hängt davon ab, daß sich Alternativen wie „frei — unfrei" bilden lassen. Herkömmliche Methodik fragt auch jetzt nach den Sachstrukturen, und sie läßt sich von der „Idee" eines Rechtssystems leiten, das eine A n t w o r t auf das vorläufig ungeregelte Problem geben soll. Dieser Schritt über den Text des Gesetzes hinaus legt die Entscheidung i n die Hand des Rechtsanwenders; ob er etwa eine Analogie bejaht oder nicht, muß entschieden, kann nicht „erkannt" werden. Immerhin sichert die Blickrichtung auf das „System" nicht nur die Entscheidbarkeit des Konflikts. Indem sie sich gedanklich an eine „gerechte" und „vernünftige" Rechtsordnung anlehnt, sichert sie auch für die Zukunft das i n Gesetzen, gerichtlichen Äußerungen und rechtswissenschaftlichen Beiträgen angesammelte Entscheidungsmaterial. Dieser Bestand erhält i m Rahmen akzeptabler Grenzen die Richtung und damit vor allem die Berechenbarkeit staatlicher Maßnahmen; er dient damit einem dringenden Bedürfnis der Menschen. Bedenken Entscheidungsträger diese Tatsache nicht, dann müssen sie m i t nervösen Reaktionen der Öffentlichkeit rechnen, wie es i n den „Beurkundungsfällen" geschah 69 . Behutsamer dogmatischer Vorbereitung zum Trotz 7 0 : die Entscheidungen brachen faktisch m i t der 69 Oben 15. bei Fn. 14 ff. Vergleichbares Beispiel: B G H N J W 77, 146 nahm der Vormerkung ihre „Konkursfestigkeit" i n den Fällen, i n denen der zugrundeliegende Vertrag die Errichtung eines zum Z e i t p u n k t der K o n k u r s eröffnung noch nicht fertiggestellten Hauses vorsah; § 24 K O sollte hier nicht gelten. Der Gesetzgeber korrigierte diese Rechtsprechung durch eine Ä n d e rung des § 24 K O (G. v. 22. 6. 1977, B G B l S. 998).

15.6 Eine abschließende Bewertung

175

bisherigen Praxis. Vor allem bei sozial bedeutsamen Gegenständen wie dem Grundstücksverkehr sind die Menschen nicht bereit, jede Schwenkung mitzutragen. Haben sie sich „eingerichtet", dann besteht die allgemeine Erwartung, es möge so bleiben. Diesem Bedürfnis nach Rechtssicherheit widerspricht eine Methode, die i n sachlich vergleichbaren Fällen zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangt 71 . Auch insoweit würden die Vertreter dieser Richtung auf keine Bereitschaft stoßen, ihre Entscheidungen hinzunehmen. So sehr die K r i t i k an der Verfassungswirklichkeit und den dafür verantwortlichen Institutionen legit i m und notwendig ist: Ihre Folgen sind deshalb nicht automatisch „besser" als die der Gegenansicht. Sie muß sich ihrerseits auf ihre demokratische Legitimation befragen lassen. Und hier besteht die Gefahr, daß i n einer Industriegesellschaft auch die Frage nach dem individuellen „Glück" nicht verstanden wird, weil für die Bedürfnisse der Menschen ebenso die Berechenbarkeit staatlicher Maßnahmen wichtig ist. Was aber ist zu tun? Ist der Ruf nach besseren Gesetzen ein brauchbarer Ausweg? Gewiß entspräche dieser Weg den demokratischen Spielregeln. Aber er würde kaum helfen, den Graben zwischen dem Gebot nach Bindung an das Gesetz und der Notwendigkeit politischer Begründungen zu verengen. Denn die Zukunft läßt sich nicht i n Gesetzen vorwegnehmen. Die Reaktionen der Öffentlichkeit und des Gesetzgebers auf die BGH-Rechtsprechung i n Fall zwei 7 2 haben das gezeigt. Die Unmutsäußerungen verweisen aber darauf, wie die A u f nahmebereitschaft für staatliche Maßnahmen erleichtert werden könnte: durch öffentliche Diskussion über künftige Entwicklungen i m Gemeinwesen. Allerdings muß man diesen Vorschlag sogleich vor unerfüllbaren Wunschträumen i n Schutz nehmen, und man darf unsere industrielle Massengesellschaft nicht m i t einem germanischen Thing verwechseln — „Öffentliche Meinung" als Grundlage politischer Herrschaft ist eine Fiktion 7 3 . Das Ziel ist bescheidener: Die Diskussion einer begrenzten Öffentlichkeit soll bei der übrigen Bevölkerung ein Problembewußtsein erzeugen. Beispiele dafür sind Veranstaltungen wie der Juristentag oder rechtspolitische Kongresse der Parteien. Das sind die Orte, u m die künftige Gestaltung des Staates und die dahin führenden Wege zu erörtern. Dort kann man über den Weg „von der bürgerlichen zur sozialen Rechtsordnung" 74 nachdenken, über Gleichberechti70

Vgl. die Stellungnahme des BGH-Richters Hagen i n N J W 79, 2135. Vgl. oben 15. bei Fn. 29 die Diskussion v o n F a l l 2. I n rechtliche Begriffe gefaßt: Der Vertrauensgrundsatz ist verletzt u n d damit das Gebot nach Rechtssicherheit, das seinerseits Bestandteil der Gerechtigkeit ist. 72 Oben 15. bei Fn. 14 u n d 15. 73 Vgl. Habermas, S t r u k t u r w a n d e l der Öffentlichkeit, S. 278 ff. 74 So das Leitthema des 5. rechtspolitischen Kongresses der SPD i n Saarbrücken v o m 29.2. bis zum 2.3.1980. 71

176

16. Thesen

gung, Beteiligung des Bürgers an obrigkeitlichen Entscheidungen, Einführung sozialer Grundrechte 75 , kurz: über die Forderungen, die auch die Justizkritiker geltend machen. Nur geschieht das alles i n einem „Denkkongreß" 7 6 und nicht i m Gerichtssaal; man argumentiert bewußt rechtspolitisch 77 und braucht sich deshalb nicht nach der demokratischen Legitimation befragen zu lassen. Dieser Weg erscheint als ein geeignetes Mittel, u m der übrigen Öffentlichkeit rechtspolitische Neuerungen i n der Breite der Erörterung vorzustellen. Schon diese Kenntnis nimmt später obrigkeitlichen Maßnahmen, die sich noch i m Rahmen des Diskussionsspektrums bewegen, ihre Unberechenbarkeit. Aber wenn sich auch auf diese Weise die Grundlage der politischen Teilhabe verbreitern läßt — eine Tatsache gilt es festzuhalten: Für den, der entscheiden und Gesetze anwenden muß, ist der Nutzen gering. Die Öffentlichkeit etwa eines Gerichtssaales ist ein wenig geeignetes Forum, vor dem sich politische Maßnahmen legitimieren ließen.

16. Thesen 1. Die von K r i t i k e r n geforderte „Einheit" von technologischem Berufswissen und politischem Orientierungswissen ist abzulehnen. 2. Konsequenz dieser Forderung wäre eine Methode der Rechtsanwendung, welche die konkrete Entscheidung damit begründet, daß sie die denkbaren Folgen anhand politischer Maßstäbe bewertet. 3. Gesicherte Aussagen über Folgen i m sozialen Bereich sind jedoch nicht möglich, weil menschliches Verhalten sich nicht vorherbestimmen läßt. 4. Die Methode der Folgenbewertung führt dazu, daß die Gesetze für die Entscheidung keine Bedeutung haben: Sie fallen aus dem Begründungszusammenhang heraus. Eine irgendwie geartete „Vermittlung" oder gegenseitige „Ergänzung" ist nicht möglich. 5. Die K r i t i k e r wollen eine Entscheidung m i t dem Gesetz und außerdem m i t den Folgen der Entscheidung begründen. Dieser Anspruch ist nicht einlösbar: Erkenntnisse über die soziale Welt und Erkenntnisse über Gesetze sind nicht zugleich möglich. 6. Für die Rechtsanwendung gilt: Erkenntnisse über die soziale Welt können keine Entscheidung begründen; sie haben dienende Funk75 76 77

Dokumentation 1, S. 45 ff., 239 ff.; 2 durchgehend. Dokumentation 1 aus dem V o r w o r t . Dokumentation 1, S. 3 ff.

16. Thesen tion und helfen nur dabei, Hypothesen auszubilden, die anhand der Gesetze zu überprüfen sind. 7. Der Erkenntniswert politischer Argumente besteht darin, dem Rechtsanwender die Augen für das, was er tut, zu öffnen. Er muß anschließend jedoch den Blick wieder zurückwenden und fragen: Entspricht „meine" Entscheidung dem, was auch der Gesetzgeber wollte? 8. Die Bildung von Thesen und ihre Überprüfung sind i n der Rechtsanwendung und i n wissenschaftlichen Darstellungen strikt auseinanderzuhalten. 9. Aus dem Trennungspostulat (These 8) ergibt sich die Forderung nach besseren Gesetzen und dem Ausbau der Gesetzgebungslehre als wissenschaftlicher Disziplin. 10. Durch die Verfassung oder die Gesellschaft werden häufig Herausforderungen an das Recht gestellt, denen mit dem Bestand an gesetzlichen Regelungen allein nicht begegnet werden kann. Die theoretischen Konsequenzen von These 8 lassen sich praktisch nicht immer durchhalten. 11. Für „politische" Juristen ist die i n These 10 dargestellte Lage ein Fall wie jeder andere: Sie fragen nach den Möglichkeiten von Freiheit und Selbstbestimmung, argumentieren also personenbezogen. 12. Überkommene juristische Methodik versucht auch jetzt noch, sachbezogene Begründungen zu finden. Hierzu läßt sie sich von der „Idee" eines zwar nicht logisch, aber doch sachlich geschlossenen Rechtssystems leiten, das den Fall lösen soll. 13. Das Verfahren nach These 12 sichert die Entscheidbarkeit des Falles. Ferner erhält sie i n gewissen Grenzen die Beständigkeit der Entscheidungspraxis. Dies entspricht einem Bedürfnis der Öffentlichkeit nach Rechtssicherheit. 14. „Politische" Argumentation ist darauf angewiesen, daß sich ein Konflikt nach Merkmalen wie „frei — unfrei", „gleich — ungleich" usw. aufspalten läßt. Hiervon hängt die Entscheidbarkeit ab. 15. „Politische" Argumentation steht dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit entgegen. Denn die Frage nach Freiheit und Selbstbestimmung verlangt, das soziale Umfeld eines Konflikts aufzuklären. Damit kommt den persönlichen Eigenschaften der Parteien entscheidendes Gewicht zu. Als Folge sind auch i n sachlich gleichgelagerten Fällen abweichende Entscheidungen möglich.

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Anhang Urteil des AG Frankfurt am Main vom 2.10.1974 — 33 C 4249/74 — Tatbestand: Die Klägerin, eine Geschäftsfrau i n F r a n k f u r t am Main, ist V e r w a l t e r i n u n d befreite V o r e r b i n hinsichtlich des Hauses ( ) i n F r a n k f u r t am Main. Sie ist v o n dem i n Kanada wohnhaften Testamentsvollstrecker i n diesem Prozeß zur Klageerhebung schriftlich bevollmächtigt. Bei dem Haus handelt es sich u m ein W o h n - u n d Geschäftshaus m i t etwa 20 Mietparteien. Die Klägerin hat durch schriftlichen Mietvertrag v o m 17.1.1972 eine aus 3 Z i m m e r n nebst Nebenräumen bestehende Wohnung an die Beklagte zu 1), ebenfalls eine Geschäftsfrau i n F r a n k f u r t am Main, auf die Dauer v o n 5 Jahren zu einem monatlichen Mietzins v o n D M 460,— vermietet. A l s Benutzungszweck ist i n § 1 des Mietvertrages angegeben: „Pelznäherei oder W o h n räume". Ferner findet sich i n dieser Bestimmimg der Zusatz: „Untervermietung ist gestattet." Die Klägerin hat sowohl gegen die Hauptmieterin als auch gegen den Untermieter Klage auf Räumung u n d Herausgabe der Mieträume erhoben, gestützt auf vertragswidrigen Gebrauch der Mietsache. Die Beklagte zu 1) hatte die Mieträume zunächst an Mitarbeiter ihres Betriebes vermietet, die jedoch i m F r ü h j a h r 1973 auszogen. Nachdem die Räume bis Herbst 1973 leergestanden hatten, erfolgte dann durch schriftlichen Mietvertrag v o m 21.9.1973 eine Untervermietung an den Beklagten zu 2), wobei als Benutzungszweck i m Mietvertrag angegeben wurde: „ Z u r Ausübung eines Gewerbes". Der Beklagte zu 2) n a h m seinerseits zwei finnische Studentinnen i n die Wohnung auf, die i n der W o h n i m g einen „Massage-Salon" auf Telefonbasis m i t Zeitungswerbung eröffneten. A l s die K l ä g e r i n h i e r v o n Kenntnis erlangte, hat sie der Beklagten zu 1) m i t Schreiben v o m 7.11.1973 fristlos gekündigt. Die Beklagte zu 1) hat daraufhin das Türschloß der Eingangstür der Wohnung auswechseln lassen. Der Beklagte zu 2) hat sich gegen diese Maßnahme m i t einer einstweiligen Verfügung m i t Erfolg zur Wehr gesetzt. Insow e i t w i r d auf das U r t e i l v o m 16.11.1973 i n den A k t e n 33/332 C 1501/73 Bezug genommen. Die Beklagte zu 1) hat, nachdem die Räumungsklage gegen sie u n d den Untermieter anhängig gemacht w a r , ihrerseits ebenfalls gegen den Beklagten zu 2) auf Räumung u n d Herausgabe geklagt. Dieses Verfahren ist bis zur Entscheidung des vorliegenden Räumungsprozesses wegen möglicher V o r -

Urteil des AG Frankfurt am Main vom 2.10.1974

193

greiflichkeit ausgesetzt. Insoweit w i r d auf die A k t e n 33 C 4425/74 Bezug genommen. Die K l ä g e r i n behauptet: Der Beklagte zu 2) betreibe m i t Wissen u n d B i l l i g u n g der Beklagten zu 1) i n den Mieträumen ein Bordell, zumindest einen bordellartigen Betrieb. Auskünfte, die i h r Sohn unter einer bestimmten, i n einer Zeitungsanzeige abgedruckten Telefonnummer v o n einer Dame erhalten habe, hätten an Eindeutigkeit nichts zu wünschen ü b r i g gelassen. Diese Benutzung der W o h nung sei aber vertragswidrig u n d schädige das Ansehen ihres Hauses. Die Hauptmieterin, die Beklagte zu 1), habe diese vertragswidrige Benutzung aber überhaupt erst ermöglicht, indem sie die Mieträume über einen M a k l e r als Massage-Salon habe anbieten lassen. Die K l ä g e r i n hat beantragt, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, die v o n dem Beklagten zu 2) innegehaltene Wohnung i n dem Haus ( ) i n Frankfurt am Main, bestehend aus 3 Räumen, Toilette u n d Baderaum an die K l ä g e r i n herauszugeben. Die Beklagten haben beantragt, die Klage abzuweisen. Die Beklagten wenden ein: A. Die Beklagte zu 1): Nachdem monatelange Versuche zur Weitervermietung der Wohnung erfolglos geblieben seien, wodurch i h r ein erheblicher finanzieller Ausfall entstanden sei, habe sie sich auf Empfehlung des Maklers entschlossen, die Räume als „Massage-Salon" anzubieten. Es möge zwar sein, daß m a n heutzutage überwiegend damit die Vorstellung v o n sexueller Betätigung v e r binde. Sie jedenfalls habe diese Kenntnis bisher aber nicht gehabt, vielmehr angenommen, es handele sich u m die Vermietimg an einen H e i l p r a k t i k e r bzw. einen medizinisch-geprüften Masseur. Nachdem sie aber darüber aufgeklärt worden sei, was es i n W i r k l i c h k e i t damit für eine Bewandtnis habe, habe sie alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft, u m die Ausübung v o n Prostitution i n den Mieträumen zu unterbinden. B. Des Beklagten zu 2): Er ist der Auffassung, die Klage sei bereits unschlüssig. I m übrigen werde i n der Wohnung weder ein Bordell noch ein bordellartiger Betrieb u n t e r halten. Wegen des Parteivorbringens i m einzelnen w i r d auf das schriftsätzliche Vorbringen Bezug genommen, darüber hinaus auf den gesamten vorgetragenen A k t e n i n h a l t sowie auf die bereits zitierten Beiakten.

Entscheidungsgründe : Die Klage ist nicht begründet. 13 zinke

194

Anhang I.

Der Räumungs- u n d Herausgabeanspruch setzt eine rechtswirksame fristlose Kündigung voraus, die nach dem aufgezeigten Sachverhalt n u r i n § 553 BGB, evtl. auch i n § 554 a B G B eine Rechtsgrundlage finden könnte. Für eine fristlose K ü n d i g u n g nach § 554 a B G B fehlt es aber bereits nach dem eigenen Vortrag der K l ä g e r i n an der tatbestandsmäßigen Voraussetzung einer schweren, schuldhaften Störung des Hausfriedens. Andererseits ist auch eine fristlose K ü n d i g u n g gemäß § 553 B G B — worauf die Klägerin ihren Anspruch ausdrücklich stützt — nicht begründet.

II. Nach dieser Bestimmung steht dem Vermieter das Recht der fristlosen Kündigung bei vertragswidrigem Gebrauch durch den Mieter oder dessen Untermieter sowie Fortsetzung dieses Gebrauchs trotz A b m a h n u n g zu. Diese Begriffsbestimmung deckt sich insoweit m i t dem Unterlassungsanspruch des § 550 BGB. A l s weiteres K r i t e r i u m k o m m t aber noch nach der N o r m des § 553 B G B hinzu, daß der vertragswidrige Gebrauch eine erhebliche Verletzung der Rechte des Vermieters zur Folge haben muß. Dabei ist die zusätzliche A n f ü h r u n g der unbefugten Gebrauchsgewährung bzw. Gebrauchsbelassung an D r i t t e i n diesem Zusammenhang e x e m p l i f i k t i v zu verstehen, wobei m a n nach der Terminologie des Gesetzgebers davon auszugehen hat, daß bereits die ohne Zustimmung des Vermieters oder gar gegen dessen e r k l ä r ten W i l l e n vorgenommene Untervermietung als solche bereits als erhebliche Verletzung der Vermieterrechte zu bewerten ist. Daraus ergeben sich folgende rechtlichen Konsequenzen nach dem vorliegenden Sachverhalt: Der Tatbestand einer generell unbefugten Untervermietung durch die Beklagte zu 1) muß hier ausscheiden, da der Beklagten zu 1) vertraglich das Recht der Untervermietung, u n d zwar sowohl zu Wohnzwecken als auch zu gewerblichen Zwecken eingeräumt war. Soweit bezüglich der gewerblichen Benutzung eine Einschränkung i m Vertrag enthalten ist („Pelznäherei") könnte die Abweichung h i e r v o n infolge der Vermietung als „Massage-Salon" — da der generelle gewerbliche Benutzungszweck gewahrt ist — n u r dann rechtlich relevant sein, w e n n durch diese Variante des Benutzungszwecks eine erhebliche Verletzung der Vermieterinteressen eingetreten oder m i t Sicherheit zu erwarten wäre. Konkrete Angaben hierzu läßt der Klagevortrag vermissen. Das Gericht vermag eine solche Feststellung nach dem aktenkundig gewordenen Sachverhalt auch nicht auf G r u n d sonstiger E r k e n n t nisse zu treffen.

III. M i t dem W o r t „Massage-Salon" verbindet sich i m heutigen Sprachgebrauch i n der Bundesrepublik die landläufige Vorstellung, daß es sich u m einen oder mehrere, m i t sanitären Einrichtungen ausgestattete Räume handelt, i n welchen auch sexuelle Betätigungen gegen Entgelt geboten werden. Diese Begriffsbestimmung dürfte weitgehend bereits i m Allgemeinbewußtsein unserer modernen kloralistischen 1 Gesellschaft eingegangen sein. Die Asso1

Vermutlich ein Schreibfehler. „Pluralistisch" dürfte gemeint sein.

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ziation m i t medizinischer Massage läßt schon die Wortverbindung m i t „Salon" als einen Treffpunkt für Geselligkeit u n d Unterhaltung nicht zu, mag sich diese Unterhaltung auch i n anderen Formen vollziehen als i n den französischen Salons des 18. Jahrhunderts. Jedenfalls würde keine staatlich geprüfte Masseuse i n Prospekten oder Zeitungsinseraten die Bezeichnung „Massage-Salon" für ihren Betrieb verwenden, da dies unvermeidlich die Verwechslung m i t einer Liebesdienstofferte zur Folge hätte. Der Beklagten zu 1) als einer lebenserfahrenen, m i t dem Zeitgeschehen vertrauten Geschäftsfrau k a n n daher auch die behauptete Ahnungslosigkeit über den Begriff „Massage-Salon" nicht geglaubt werden. IV. Andererseits ist auch der pauschale V o r w u r f der Klägerin, die Beklagte zu 1) habe es durch die Untervermietung an den Beklagten zu 2) zugelassen, daß i n den Mieträumen ein Bordell, zumindest ein bordellartiger Betrieb eröffnet werde, v ö l l i g abwegig. Offenbar w i l l die Klägerin sich damit auf die durch das 4. Strafrechtsreformgesetz v o m 23.11.1973 (BGBl. I Seite 1725) aufgehobene Bestimmung des § 180 Abs. I I StGB beziehen, der jetzt durch § 181 a Abs. I StGB ersetzt ist. I n der Neufassung erscheint der Begriff Bordell bzw. bordellartiger Betrieb — abzuleiten aus dem Altprovencalischen, was ursprünglich Dirnenhütte bedeutete — nicht mehr. Vielmehr bringt der Gesetzgeber des Strafrechtsreformgesetzes jetzt gleich die Begriffsdefinition als „das gewerbsmäßige Unterhalten oder Leiten eines Betriebs, i n dem Personen der Prostitution nachgehen, sofern diese i n persönlicher oder wirtschaftlicher Abhängigkeit gehalten werden oder die Prostitutionsausübung durch Maßnahmen gefördert w i r d , die über das bloße Gewähren v o n Wohnung . . . hinausgehen". Daß diese Bestimmung, die den Schutz der Prostituierten v o r Ausbeutung u n d Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit bezweckt (vgl. Schwarz, StGB-Kommentar zu § 180 a, A n m . 1) schon v o n der Grundkonzeption her den vorliegenden Sachverhalt nicht erfaßt, bedarf keiner näheren Begründung. Der aktenkundig gewordene Sachverhalt läßt lediglich die Feststellung zu, daß der Beklagte zu 2) als Untermieter der Beklagten zu 1) 2 Studentinnen i n die Wohnung aufgenommen hat, die als „ C a l l - G i r l s " der Prostitution nachgehen. D a r i n ist aber keine strafbare Handlung zu erblicken, da das W o h nungsgewähren an Prostituierte für sich allein straflos ist. Andererseits ist auch keine strafbare Handlung seitens der beiden jungen Damen erkennbar, da die Prostitution als solche grundsätzlich nicht strafbar ist, u n d die besonderen Qualifikationsmerkmale der A h n d u n g nach der F o r m des Anbietens (auf belästigende oder grob anstößige Weise), jetzt lediglich als Ordnungswidrigkeit m i t Bußgeld bedroht (Art. 2 § 1 4. Strafrechtsreformgesetz) hier ebenfalls nicht gegeben sind. V. Es bleibt somit n u r zu prüfen, ob die Aufnahme der beiden, der Prostitut i o n nachgehenden Studentinnen, i m vorliegenden F a l l unter dem Aspekt des § 138 Abs. I B G B nach allgemeiner Lebenserfahrung die Kündigung der Klägerin rechtfertigen könnte. Auch dies ist zu verneinen. 13*

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Anhang

Die allgemeine Auffassung darüber, was gegen die guten Sitten verstößt oder — u m bei der auch heute noch p r a k t i k a b l e n Definition des Reichsgerichts (RGZ 80, 221) zu bleiben: „was dem Rechtsgefühl aller b i l l i g u n d gerecht Denkenden" zuwiderläuft, ist als sittliche Bewertung durch die Gesellschaft Wandlungen unterworfen, die insbesondere i m Sexualbereich i n den letzten 2 Jahrzehnten zu frappierenden Anschauungsänderungen geführt haben. Diesen Wandel der sittlichen Bewertung, gekennzeichnet durch eine weitgehende — auf manchen Gebieten (ζ. B. Kunst, Film) vielleicht zu w e i t gehenden — Liberalität u n d Toleranz, hat sich auch der Prostitution bemächtigt, die keineswegs i m m e r bei allen V ö l k e r n i m Geruch des niederen, oder gar unsittlichen Gewerbes stand bzw. steht. Es sei n u r daran erinnert, daß die Prostitution i n bestimmten Formen auch i n verschiedenen Kulturstaaten des Abendlandes zu hohem Ansehen u n d teilweise sogar zu politischer Einflußnahme gelangt ist. Die berühmtesten Vertreterinnen der Hetären des A l t e r tums, der Kurtisanen an italienischen Fürstenhöfen i m M i t t e l a l t e r oder der Mätressen französischer Könige sind geschichtliche Beispiele dafür. Selbst aus dem jüngsten Zeitgeschehen ist bekannt, daß sich arrivierte Prostituierte i n demokratisch regierten Ländern Westeuropas der besonderen Gunst v o n M i n i s t e r n oder anderen hochgestellten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens erfreuten. F ü r die Frage, ob heute i n der Bundesrepublik die Ausübung der Prostit u t i o n i n einer P r i v a t w o h n u n g v o n der Allgemeinheit als sittlich anstößig empfunden w i r d , ist aber entscheidend darauf abzustellen, i n welcher Form sich das Anbieten vollzieht. Unstreitig erfolgt es hier durch gelegentliche Inserate i n einer Frankfurter Tageszeitung unter der Bezeichnung „MassageSalon" u n d m i t Angabe einer Telefonnummer. Inserate dieser A r t finden sich i n fast allen Tageszeitungen v o n Großstädten, allerdings m i t Schwerp u n k t b i l d u n g bei bestimmten Zeitungen, w o diese Anzeigen täglich mehrere Spalten, evtl. sogar eine ganze Seite oder mehr füllen. Es ist k a u m anzunehmen, daß die Lektüre dieser Anzeigen auf eine breite Ablehnung durch die Öffentlichkeit stößt, da sonst i h r Abdruck auf längere Dauer sicher nicht möglich wäre. Vielmehr dürfte die allgemeine Reaktion des Leserpublikums hierauf aus teils amüsierter, teils indifferenter Toleranz bestehen. M a n akzeptiert bzw. toleriert sie eben als eine spezielle Ausdrucksform unserer modernen Massengesellschaft auf dem Unterhaltungssektor. Da diese Inserate auch keine Angaben über die Lage der Wohnung enthalten, bleibt die A n o n y m i t ä t weitgehend gewahrt. Diesem anonymen Charakter des Angebots k o m m t besonders zustatten, w e n n sich die Wohnung i n einem größeren Miethaus m i t einer Vielzahl v o n Mietparteien befindet, w i e dies hier der F a l l ist. Somit erscheint auch die Besorgnis der Klägerin u m den Ruf ihres Hauses i n diesem F a l l nicht begründet. Etwas anderes könnte sich allerdings dann ergeben, w e n n andere Mieter des Hauses sich über die Belästigung, die sich aus der Besonderheit der Benutzung der Wohnung ergeben, ζ. B. ruhestörenden Lärm, ständiges K o m men u n d Gehen v o n wechselnden männlichen Personen innerhalb des Hauses u n d dergleichen, beschwert oder der K l ä g e r i n gar rechtliche Konsequenzen angekündigt hätten. I n dieser Hinsicht hat die K l ä g e r i n aber nichts vorgetragen, u n d offenbar k a n n sie dies auch nicht. Soweit die K l ä g e r i n zuletzt noch behauptet hat, die damaligen Parteivertreter der K l ä g e r i n u n d der Beklagten zu 1) hätten sich gelegentlich eines Telefonats anfangs März 1973 über eine einverständliche Beendigung des

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Hauptmietverhältnisses geeinigt, ist diese Behauptung i n Ermangelung näherer Angaben über den Zeitpunkt der Beendigung u n d der sonstigen Bedingungen hinsichtlich i h r e r rechtlichen Beachtlichkeit zu allgemeingehalten. Eine solche, lediglich telefonisch getroffene Vereinbarung wäre auch nach § 2 1 des Mietvertrags wegen Formverstoßes unwirksam. Zumindest hätte es anwaltlicher Gepflogenheit entsprochen, diese Vereinbarung schriftlich gegenseitig zu bestätigen. Unter diesen Umständen sah das Gericht auch keinen Anlaß, dem angebotenen Zeugenbeweis der K l ä g e r i n bezüglich dieses Telefonats stattzugeben. Zusammenfassend ist somit festzustellen, daß unter Berücksichtigung aller Umstände die hier vorliegende Abweichimg v o m vertraglichen Benutzungszweck keine erhebliche Verletzung der Rechte des Vermieters erkennen läßt. Die Klage w a r daher abzuweisen m i t der Kostenfolge aus § 91 ZPO u n d der Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 709 Ziff. 4 ZPO.