Argumentation in der Jurisprudenz: Zur Rezeption von analytischer Philosophie und kritischer Theorie in der Grundlagenforschung der Jurisprudenz [1 ed.] 9783428472628, 9783428072620

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Argumentation in der Jurisprudenz: Zur Rezeption von analytischer Philosophie und kritischer Theorie in der Grundlagenforschung der Jurisprudenz [1 ed.]
 9783428472628, 9783428072620

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ERIC HILGENDORF

Argumentation in der Jurisprudenz

Schriften zur Rechtstheorie Heft 146

Argumentation in der Jurisprudenz Zur Rezeption von analytischer Philosophie und kritischer Theorie in der Grundlagenforschung der Jurisprudenz

Von

Eric Hilgendorf

Duncker & Humblot * Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hilgendorf, Eric: Argumentation in der Jurisprudenz : zur Rezeption von analytischer Philosophie und kritischer Theorie in der Grundlagenforschung der Jurisprudenz / von Eric Hilgendorf. Berlin : Duncker und Humblot, 1991 (Schriften zur Rechtstheorie; H. 146) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1991 ISBN 3-428-07262-6 NE: GT

D 21 Alle Rechte vorbehalten © 1 9 9 1 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-07262-6

Für Ursel

Vorwort Wollte man den Grundgedanken der vorliegenden Arbeit in einem Satz zusammenfassen, so könnte man vielleicht von dem Versuch sprechen, die Juristen zu einem größeren Selbstbewußtsein ihren philosophischen Kollegen gegenüber zu ermuntern. Der Jurisprudenz - die immerhin so scharfsinnige Autoren wie Karl Engisch, Hans Kelsen oder Alf Ross hervorgebracht hat sollte es möglich sein, einen Mittelweg zu finden zwischen der Scylla völligen Ignorierens philosophischer Vorschläge und der Charybdis kritikloser Unterwerfung. Philosophie und Jurisprudenz können viel voneinander lernen, wenn es gelingt, das Niveau eines gebildeten, aber unverbindlichen Geredes zu überwinden und die Argumente der jeweils anderen Seite ernst zu nehmen. Mit dieser Arbeit möchte ich dazu einen bescheidenen Beitrag leisten. Argumente ernst zu nehmen bedeutet aber auch: sie erforderlichenfalls zu kritisieren. Ich habe mich durchweg um eine sachliche und wohlwollende Kritik bemüht. Sollten meine Ausführungen dennoch gelegentlich als zu scharf erscheinen, so bitte ich darum, mir einen Rest an jugendlichem Ubermut zugute zu halten. Die Literaturangaben sind auf dem Stand von Sommer 1990. Nicht mehr einarbeiten konnte ich die wichtige Arbeit von Delf Buchwald, Der Begriff der rationalen juristischen Begründung (Baden-Baden 1990). Ebensowenig konnte ich die - mir nur als Manuskript vorliegende - Freiburger Dissertation von Andreas Maschke über „Gerechtigkeit als Methode. Zu Karl Engischs Theorie des juristischen Denkens" berücksichtigen. Die Arbeit wurde im Sommersemester 1990 an der Philosophischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen als Dissertation eingereicht. Prof. Dr. Herbert Keuth hat meine Untersuchung großzügig gefördert; viele der darin vorgebrachten Argumente habe ich zum ersten Mal in seinen Vorlesungen und Seminaren kennengelernt. Für seine Unterstützung danke ich ihm herzlich. Wichtige Hinweise habe ich auch von den Professoren Robert Alexy, Rüdiger Bubner, Karl Engisch, Fritjof Haft, Hans-Joachim Koch und Ulrich

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Vorwort

Weber erhalten. Ihnen gebührt ebenso mein Dank wie der Studienstiftung des deutschen Volkes, ohne deren großzügige Förderung die Arbeit nicht hätte geschrieben werden können. Dank sagen möchte ich schließlich Herrn Marius Fränzel für seine aufopferungsvollen sprachkritischen Bemühungen sowie Herrn Alexander Lieventhal für seinen unermüdlichen Einsatz am Computer.

Eric Hilgendorf

Inhalt Α. Allgemeine und juristische Argumentationstheorie I. Problcmaufriß II. Der Gang der Untersuchung B. Die traditionelle Auffassung der Gesetzesbindung I. Verfassungsrechtliche Vorgaben und historischer Hintergrund

13 13 21 25 25

II. Die praktische Bedeutung des Gesetzesbindungspostulates am Beispiel des Strafrechts 28 III. Engischs „Logische Untersuchungen14 IV. Das Rechtsanwendungsmodell von Alf Ross C. Das präzisierte Begrundungsmodell von Koch und RQßmann I. Vereinfachte Darstellung des Modells II. Das verwendete logische Instrumentarium III. Die zugrunde gelegten sprachphilosophischen Annahmen D. Die Kritik am deduktiven Begründungsmodell I. Das Rechtsanwendungskonzept Arthur Kaufmanns II. Die Rechtsanwendungslehre Karl Bergbohms

32 38 43 43 47 48 56 56 60

III. Die Rechtsanwendungslehre Hans Kelsens

65

IV. Die Kritik Neumanns am präzisierten Begründungsmodell

67

E. Die Verwendbarkeit des Toulmin-Schemas in der Jurisprudenz

74

I. Einleitung II. Darstellung des Toulmin-Schemas III. Die Leistungsfähigkeit des Toulmin-Schemas

74 75 80

IV. Das Toulmin-Modell als Alternative zum Modell der deduktiven Entscheidungsbegründung 85

Inhalt

10

F. Strukturalismus in der Rechtswissenschaft I. Einleitung II. Die Thesen Thomas Kuhns III. Grundbegriffe des Strukturalismus IV. Die mengentheoretische Präzisierung des „Verfugens über eine Theorie" V. Die Anwendbarkeit des non-statement view in der Jurisprudenz

87 87 88 90 . . 94 100

G. Die Sonderfallthese

109

H. Die Erlanger Schule und Perelman

119

I. Die moralphilosophischen Vorschläge der Erlanger Schule II. Chaim Perelman und die Diskursethik I.

Die Transzendentalpragmatik I. Einleitung II. Kuhlmanns Argumente gegen das Münchhausen-Trilemma III. Das Grundproblem von Kuhlmanns Fallibilismuskritik

J. Das Verfahren der Letztbegründung I. Das Letztbegründungsargument Kuhlmanns II. Kritik des Letztbegründungsargumentes III. Der „existentielle Widerspruch" bei Hintikka K. Die Diskursethik von Jürgen Habermas I. Einleitung II. „Wahrheitstheorien" III. Die „ideale Sprechsituation" L. Die Fortentwicklung der Diskursethik durch Jürgen Habermas I. Das Universalisierungsprinzip II. Die Begründung des Universalisierungsprinzips M. Der Regelkanon Alexys für den allgemeinen praktischen Diskurs I. Einleitung II. Die Grundregeln

119 125 131 131 132 136 142 142 146 152 158 158 163 173 177 177 181 186 186 188

III. Die Vernunftregeln

192

IV. Die Argumentationslastregeln

195

Inhalt

V. Die Argumentformen VI. Die Begründungsregeln VII. Die Übergangsregeln N. Die Theorie der juristischen Argumentation

197 198 201 203

I. Die interne Rechtfertigung

203

II. Die externe Rechtfertigung

204

III. Resümee Literatur

215 218

Die juristischen Abkürzungen folgen Kirchner, H., Kastner, F.: Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache. 3. Aufl. Berlin 1983

Α. Allgemeine und juristische Argumentationstheorie I. Problemaufriß Das Verhältnis zwischen Philosophie und Jurisprudenz ist seit jeher problemgeladen. Während Juristen dazu neigen, Einflüsse aus der Philosophie abzuwehren,1 sind Philosophen in der Regel hocherfreut, wenn sie von der Rechtswissenschaft oder gar der Rechtsprechung rezipiert werden. Die Skepsis der Juristen hat allerdings nicht verhindern können, daß immer wieder derartige Rezeptionsvorgänge erfolgt sind. So haben in unserem Jahrhundert Neukantianismus (in der Weimarer Zeit), Neuhegelianismus und Phänomenologie (im „Dritten Reich"), die materiale Wertethik (in den fünfziger Jahren) und die Hermeneutik (in den späten sechziger und siebziger Jahren) auf die Rechtswissenschaft und Rechtsprechung intensiv eingewirkt. Seit Mitte der siebziger Jahre gewinnen zwei weitere Strömungen an Einfluß auf die rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung: die analytische Philosophie und die kritische Theorie. Ulfried Neumann hat sich der Mühe unterzogen, die einschlägigen Arbeiten zu sichten und ihre Hauptthesen zusammenzustellen.2 Als Oberbegriff fur die neuen Strömungen hat er, wie bereits andere Autoren vor ihm, die Bezeichnung Juristische Aigumentationslehre" gewählt; häufig spricht er auch von einer „juristischen Argumentationstheorie"3. Neumann ist der Ansicht, im Begriff „Argumentation44 einen gemeinsamen Nenner fur die von ihm zusammengestellten Arbeiten gefunden zu haben. Für die Hinwendung der Rechtstheorie zu dem Thema „Argumentation44 hält er drei Faktoren fur wesentlich: die Entwicklung in der allgemeinen Argumentationstheorie, neuere Diskussionen zum Problem der

1 Eine wichtige Ausnahme stellt die allgemeine Staatslehre bzw. Staatsphilosophie dar, in der Juristen und Philosophen gleichermaßen tatig sind und die bis in die juristische Lehrbuchliteratur und Rechtsprechung hinein rezipiert wird. Vgl. etwa Kriele, M.: Einfuhrung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimitätsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates. 3. Aufl. Opladen 1988 oder Hartmann, K.: Politische Philosophie. Freiburg, München 1981. 2 Neumann, U.: Juristische Argumentationslehre. Darmstadt 1986. 3 A.a.O., S. 10, 12 und pass.

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Α. Allgemeine und juristische Argumentationstheorie

Rechtsanwendung und der Wiederentdeckung des Themas „Argumentation" in der Moralphilosophie. 4 Die allgemeine Argumentationstheorie, auf die Neumann verweist, kann allerdings keineswegs als eine klar umrissene und wohletablierte Disziplin angesehen werden. Es handelt sich dabei vielmehr um die deutsche Variante von Forschungen, die in Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten unter Bezeichnungen wie „Informal logic", „Practical reasoning" oder „Nouvelle Rhétorique" betrieben werden. Auch die Bezeichnung „Dialektik" findet sich.5 Der Ausdruck „Argumentation theory" scheint relativ jung zu sein.6 Er hat aber anderen Bezeichnungen voraus, daß er bereits einen ersten Hinweis auf den Untersuchungsgegenstand der in Frage stehenden Disziplin enthält: die Argumentation. In einer neueren Gesamtdarstellung der Argumentationstheorie wird „argumentation" definiert als „a social, intellectual, verbal activity serving to justify or refute an opinion, consisting of a constellation of statements and directed towards obtaining the approbation of an audience".7 Diese Definition möchte ich im folgenden zugrunde legen. Wichtig ist hiernach, daß „Argumentation" nicht jedes menschliche Verhalten umfaßt, durch das eine bestimmte Reaktion einer anderen Person hervorgerufen werden soll - Gewaltanwendung z.B. gilt nicht mehr als „Argumentation" - , daß aber andererseits „Argumentation" auch nicht auf irgendeine positiv ausgezeichnete „rationale" Weise der geistigen Auseinandersetzung beschränkt ist. Gemeinsam scheint allen Vertretern einer allgemeinen Argumentationstheorie die Vorstellung zu sein, daß die formale Logik für die Analyse von Argumentation in einer natürlichen Sprache ungenügend ist. Dieser skeptische Vorbehalt sollte nicht vorschnell als neue Manifestation des unter Philosophen immer noch weitverbreiteten Ressentiments gegen die formale Logik betrachtet werden. Ein der Logikfeindlichkeit so unverdächtiger Autor wie

4

A.a.O., S. 2. So etwa bei Rescher, N.: Dialectics. A Controversy Oriented Approach to the Theory of Knowledge. Albany, New York 1977. Für den Begriff „Dialektik" spricht, daß durch ihn der historische Hintergrund der heutigen Argumentationstheorie angedeutet wird. Problematisch ist freilich die Vielzahl der Bedeutungen, in denen „Dialektik" verwendet wurde und wird. 6 Vgl. das Titel Verzeichnis bei Barth, E.M., Martens, J.L. (Hg.): Argumentation: Approaches to Theory Formation. Containing the Contributions to the Groningen Conference on the Theory of Argumentation October 1978. Amsterdam 1982, S. 295 - 328. 7 Eemeren, F.H. van, Grootendorst, R. und Kruiger, T.: Handbook of Argumentation Theory. A Critical Survey of Classical Backgrounds and Modern Studies. Dordrecht 1987, S. 7. 5

I. Problemaufriß

15

der Carnap-Schüler Yehoshua Bar-Hillel hat erklärt: „I challenge anybody here to show me a serious piece of argumentation in natural language that has been successfully evaluated as to its validity with the help of formal logic. [...] The customary applications are often careless, rough and unprincipled, or rely on reformulations of the original linguistic entities under discussion into different ones belonging either to some constructed languages or to some standardized natural languages, through processes which are again mostly unprincipled and ill understood."8 Es fragt sich allerdings, auf welche Weise eine „allgemeine Argumentationstheorie" dazu beitragen könnte, den geschilderten Zustand zu ändern. Meines Wissens ist es bislang keinem Vertreter dieser Disziplin gelungen, die Aufgaben und Zielsetzung seines Forschungsgebiets auf eine knappe und doch aussagekräftige Formel zu bringen. Welche Spannweite die Forschungen zur allgemeinen Argumentationslehre mittlerweile erreicht haben, mögen die mehr als 150 Beiträge zur „International Conference on Argumentation" an der Universität Amsterdam im Juni 1986 verdeutlichen9, die von Auseinandersetzungen mit der Logik über Anknüpfungen an die rhetorische Tradition, die Pragmatik und Untersuchungen zu Argumentationsfehlern bis hin zur Moralphilosophie, juristischen Argumentationslehre und Didaktik reichen. Damit umfaßt die allgemeine Argumentationslehre in der Tat, wie die Herausgeber meinen, „something for everyone". 10 Ein Skeptiker wird hier einwenden, eine derart weitgefaßte Disziplin habe gar keine eigene Existenzberechtigung und die relevanten Sachprobleme sofern überhaupt vorhanden - würden am besten durch die zuständigen Einzelwissenschaften behandelt, etwa die Logik, die Linguistik oder eine empirische Kommunikationswissenschaft. Dieser Einwand ist nicht leicht zu entkräften. Es besteht kein Bedarf nach einer neuen „Superdisziplin", wenn die vorhandenen Probleme von etablierten Einzelwissenschaften genauso gut oder sogar besser gelöst werden können. Ich schlage deshalb vor, an jene Autoren anzuknüpfen, die die allgemeine Argumentationstheorie als angewandte Logik betreiben möchten.11 Dieser

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Bar-Hillel, Y : Diskussionsbeitrag. In: Formal Logic and Natural Languages. A Symposium. Hg. Staal, J.F. In: Foundations of Language 5 (1969), S. 256 - 284 (256 f.). 9 Veröffentlicht in Eemeren, F.H. van [u.a.] (Hg.): Proceedings of the Conference on Argumentation 1986. Bd. 1: Argumentation: Across the Lines of Discipline. Bd. 2: Argumentation: Perspectives and Approaches. Bd. 3: Argumentation: Analysis and Practices. Dordrecht 1987. 10 A.a.O., Bd. I, S. 2. 11 So etwa Dauer, F.W.: Critical Thinking. An Introduction to Reasoning. New York

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Α. Allgemeine und juristische Argumentationstheorie

Weg gewinnt an Plausibilität, wenn man sich die Geschichte der allgemeinen Argumentationstheorie vergegenwärtigt. Vertreter dieses Fachs neigen dazu, die Geschichte ihrer Disziplin mit dem Jahr 1958 beginnen zu lassen, als „The Uses of Argument" 12 von Stephen Toulmin und das Gemeinschaftswerk von Chaim Perelman und Lucie Olbrechts-Tyteca: „La Nouvelle Rhétorique. Traité De L'Argumentation" 13 erschienen. Das Interesse an den soeben genannten Sachthemen ist aber natürlich viel älter. Die Geschichte der allgemeinen Argumentationslehre beginnt mit der klassischen Logik, Dialektik und Rhetorik und ihrem Begründer Aristoteles. 14 Die Entwicklung dieser Disziplinen hat zahlreiche kompetente Darstellungen gefunden, so daß ich darauf nicht einzugehen brauche. 15 Es genügt festzuhalten, daß Textanalyse mit logischen Mitteln und die Herausarbeitung und Klassifizierung von Argumentationsfehlern seit jeher einen festen Bestandteil der Logik gebildet haben. Daran änderte sich auch mit der Entwicklung der formalen Logik nichts. Augustus De Morgan widmete das 13. Kapitel seiner „Formal Logic" 1 6 der Analyse von Argumentationsfehlern. Eine besonders ausführliche Analyse derartiger Fehler legte 1884 A. Sidgwick vor. 1 7 Auch fur Rüssel, den frühen Wittgenstein und die Autoren des Wiener Kreises stand die logische Analyse der Sprache im Mittelpunkt ihrer philosophiekritischen Bemühungen.18 Die Geschichte der allgemeinen Argumentationstheorie im engeren Sinn beginnt mit den Arbeiten von Burtt 1 9 , Thouless 20 sowie Cohen und

u.a. 1989, S. VII / Vili. Fogelin, R.J.: Understanding Arguments. An Introduction to Informal Logic. 3. Aufl. New York 1987, S. VI. Lambert, K., Ulrich, W.: The Nature of Argument. New York 1980, S. XI. Walton, D.N.: Informal Fallacies. Towards a Theory of Argument Criticisms. Amsterdam, Philadelphia 1987, S. 1. Woods, J., Walton, D.: Argument: The Logic of the Fallacies. Toronto u.a., 1982, S. V; Popper, K.R.: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. Tübingen 1987, S. 247 bezeichnet die formale Logik als „Organon des kritischen ArgumentierensM. 12 Toulmin, S.: The Uses of Argument. Cambridge 1958. 13 Letzte Auflage u.d.T.: Perelman, Ch., Olbrechts-Tyteca, L.: Traité De L'Argumentation. La Nouvelle Rhétorique. 5. Aufl. Brüssel 1988. 14 Vgl. Eemeren, Grootendorst, Kruiger, Handbook, S. 57. 15 Speziell zur Geschichte der Analyse von Argumentationsfehlern vgl. Hamblin, C.L.: Fallacies. London 1970 (mit umfangreicher Bibliographie). 16 De Morgan, Α.: Formal Logic. London 1847. 17 Sidgwick, Α.: Fallacies. A View of Logic From the Practical Side. London 1884. 18 Vgl. nur Carnap, R.: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. In: Erkenntnis 2 (1931), S. 219 - 241. 19 Burtt, E.A.: Principles and Problems of Right Thinking. New York 1928; 3. Aufl 1946 unter dem Titel: „Right Thinking. A Study of Its Principles and Methods". ND.

I. Problemaufriß

17

Nagel 21 in den dreißiger Jahren und setzt sich fort in den Werken von Stebbing 22 , Naess23 und Black 24 . Wichtige Arbeiten aus den frühen fünfziger Jahren stammen von Beardsley 25 und Copi. 26 Mit Ausnahme von Burtt, Thouless und Beardsley sind alle genannten Autoren - es handelt sich nur um eine Auswahl 27 - dem Umkreis des logischen Empirismus zuzuordnen. Besonders einflußreich wurde das Buch von Arne Naess. Naess' Ziel war es, eine Grundlage für elementare Logikkurse zu schaffen. 28 Weder eine Darlegung der klassischen Logik noch eine Einfuhrung in die symbolische Logik noch gar die Sprachanalyse der analytischen Philosophie schienen ihm für diesen Zweck ausreichend. Schließlich gelangte er nach seinen eigenen Worten „zu einer Art angewandten Logik und Sprachanalyse, die viel enger mit Kommunikationstheorie als mit formaler Logik verknüpft ist." 2 9 Naess diskutiert u.a. Probleme der Interpretation und Präzisierung von sprachlichen Ausdrücken, gibt eine Einführung in die Definitionslehre und erläutert den Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Formulierungen. Er schließt mit einer Reihe von Regeln, deren Befolgung die Sachlichkeit von Argumentation sicherstellen sollen. 30 Die angesprochenen Themenstellungen bei Naess machen deutlich, daß sein Werk ebensogut den Titel einer „Einfuhrung in die Wissenschaftstheorie" oder „Angewandte Logik" tragen könnte. Eine jüngere, Naess stark verpflichtete Darstellung der Argumentationslehre

London 1980. 20 Thouless, R.H.: Straight and Crooked Thinking. London 1930. 21 Cohen, M.R., Nagel, E.: An Introduction to Logic and Scientific Method, New York 1934. 22 Stebbing, S.: Thinking to Some Purpose. Harmondsworth, England 1939. 23 Naess, Α.: Endel elementaerelogiskeemner. Oslo 1941. Dt. u.d.T.: Kommunikation und Argumentation. Eine Einführung in die angewandte Semantik. Kronberg / Ts. 1975. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert. 24 Black, M.: Critical Thinking. An Introduction to Logic and Scientific Method. Englewood Cliffs, New York 1946, 2. Aufl. 1952. 25 Beardsley, M.C.: Thinking Straight. Principles of Reasoning for Readers and Writers. Englewood Cliffs 1950, 3. Aufl. 1975. 26 Copi, I.M.: Introduction to Logic. New York 1953, 7. Aufl. 1987. 27 Wichtige ältere Texte zur allgemeinen Argumentationstheorie finden sich auch in: Anderson, J.M., Dove, P.J. (Hg.), Readings in Argumentation. Boston 1969. 28 Kommunikation und Argumentation, S. IV. 29 Ibid. 30 Naess unterscheidet dabei Normen gegen „tendenziöses Drumherumgerede 44, gegen „tendenziöse Wiedergabe44, gegen „tendenziöse Mehrdeutigkeit44, gegen „das Aufbauen von Buhmännern44, gegen „tendenziöse Originaldarstellungen44 und gegen „tendenziöse Präparierung von Diskussionsbeiträgen44 (a.a.O., S. 160 - 195). 2 Hilgendorf

Α. Allgemeine und juristische Argumentationstheorie

18

trägt sogar den Untertitel „Ein Grundkurs in Argumentations- und Wissenschaftstheorie". M Diese knappen historischen Ausführungen mögen ausreichen, um das Verständnis der allgemeinen Argumentationstheorie als einer angewandten Logik plausibel zu machen. Letztlich handelt es sich natürlich um ein terminologisches Problem. Die von mir vorgeschlagene Definition kann aber immerhin die historische Entwicklung der Disziplin für sich ins Feld fuhren. Historisch-philologische Forschungen, empirische Untersuchungen des menschlichen Kommunikations- oder Argumentationsverhaltens oder gar moralphilosophische Erwägungen haben erst später in die Argumentationstheorie Eingang gefunden. Auch in den beiden grundlegenden Werken Toulmins und Perelmans spielt die Moralphilosophie keine bzw. nur eine untergeordnete Rolle. Der Charakter der Argumentationstheorie änderte sich, als ab Beginn der siebziger Jahre das Thema „Argumentation" auch in der Bundesrepublik entdeckt wurde. 32 Während in älteren Arbeiten zur Argumentation meist ein rhetorisch-philologisches Interesse im Vordergrund gestanden hatte 33 , wurde „Argumentation" nun zu einem emotional besetzten Schlüsselbegriff zahlreicher Disziplinen und Forschungsansätze, so etwa der Sprachwissenschaft, in der sich eine außerordentlich weit verstandene „Pragmatik" als Disziplin etablieren konnte34, oder der Moralphilosophie, in der die „Diskurstheorie" als neue kognitive Ethik auftrat. Die jungen Forschungsansätze waren zumeist betont interdisziplinär ausgerichtet, empiriefeindlich und neigten dazu, wissenschaftliche Darlegungen mit politischen und allgemein moralischen Stellungnahmen zu vermengen. Damit konnten sie eine Aufmerksamkeit erregen, die weit über das Maß hinausgeht, das wisssenschaftlichen Neuorientierungen sonst vergönnt ist. Ganz analog verlief die Entwicklung in der rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung. Daß Juristen neben anderen Tätigkeiten auch argumentieren, ist keine Entdeckung der „juristischen Argumentationslehre". Auch zum Thema „Recht und Sprachwissenschaft" finden sich viele ältere Arbeiten. 35 Es war jedoch erstmals die „juristische Argumentationslehre", die die 31

Follesdal, D., Walloe, L. und Elster, J.: Rationale Argumentation. Ein Grundkurs in Argumentations- und Wissenschaftstheorie. Berlin u.a. 1986. 32 Vgl. Völzing, P.L.: Argumentation. Ein Forschungsbericht. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 10 (1980), S. 204 - 235. 33 Hier seien nur die Namen Lausberg und Plett genannt. 34 Vgl. etwa Braunroth, M. [u.a.]: Ansätze und Aufgaben der linguistischen Pragmatik. Kronberg / Ts. 1975, 2. Aufl. 1978. 35 Z.B. Horn, D.: Rechtssprache und Kommunikation. Grundlegung einer semantischen

I. Problemaufriß

19

Argumentation als solche in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen stellte . Als einen frühen Höhepunkt dieser Entwicklung läßt sich der Brüsseler Weltkongreß von 1971 fur Rechts- und Sozialphilosophie zum Thema: „Die juristische Argumentation44 ansehen.36 Die juristische Verwendbarkeit dieser neuen Ansätze war allerdings von Anfang an umstritten. 37 In der weiteren Diskussion kamen ganz unterschiedliche Gesichtspunkte zum Tragen, etwa der eines deskriptiv orientierten Vergleichs von Argumenten in unterschiedlichen Rechtsgebieten38, die Rezeption und kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie und Wissenschaftstheorie39 oder eine politisch und justizkritisch verstandene „Handlungstheorie4440. Ulfried Neumann unterscheidet in seinem Literaturbericht einen logisch-analytischen, einen topisch-rhetorischen und einen der Diskurstheorie verpflichteten Zugang zur juristischen Argumentationslehre. Hinzu kommen die Analyse von Urteilsbegründungen und „komplexe Modelle44 der juristischen Argumentation 41, wobei letztere Gruppe offensichtlich als Restkategorie zu verstehen ist. Ich halte Neumanns Einteilung für eine brauchbare Arbeitsgrundlage. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß die Zuordnung zu der einen oder anderen Kategorie häufig Schwierigkeiten bereiten wird, denn es ist keine Übertreibung, festzustellen, daß die sich auf den Leitbegriff „Argumentation44 beziehenden Beiträge aus der Rechtstheorie und -philosophie ein fast genauso weites Spektrum umfassen wie die allgemeine Argumentationstheorie. Ohne größere Bedenken hat die „juristische Argumentationslehre 44 Ansätze und Theoriebruchstücke aus der Moral- und Sozialphilosophie, der Sprachwissen-

Kommunikationstheorie. Berlin 1966. Podlech, Α.: Rechtslinguistik. In: Grimm, D. (Hg.): Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften. Bd. 2. München 1976, S. 104- 116, sowie Rieser, H.: Sprachwissenschaft und Rechtstheorie, ibid., S. 117 - 142. Garstka, H.: Zum Beitrag der Linguistik zur rechtswissenschaftlichen Forschung. In: Rechtstheorie 10 (1979), S. 92 - 102. 36 Die Juristische Argumentation. Vorträge des Weltkongresses für Rechts- und Sozialphilosophie. Brüssel, 29. VIII - 3. IX 1971. Herausgegeben im Auftrag der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR). Wiesbaden 1972. 37 Vgl. nur Koch, H.J.: Ansätze zu einer juristischen Argumentationstheorie? In: ARSP 63 (1977), S. 355 - 377. Esser, J.: Juristisches Argumentieren im Wandel des Rechtsfindungskonzeptes unseres Jahrhunderts. Heidelberg 1979. S. 12. 38 Z.B. bei Clemens, C.: Strukturen juristischer Argumentation. Berlin 1977. 39 Z.B. bei Struck, G.: Zur Theorie der juristischen Argumentation. Berlin 1977. 40 So etwa bei Rodingen, H.: Pragmatik der juristischen Argumentation. Was Gesetze anrichten und was rechtens ist. Freiburg, München 1977. 41 A.a.O., S. V - VII.

Α. Allgemeine und juristische Argumentationstheorie

20

schaft und der Logik übernommen und für alte Probleme der juristischen Methodenlehre und Rechtsphilosophie, wie etwa die Frage nach dem Verhältnis von Gesetz und Richter oder das Problem des „richtigen Rechts", nutzbar zu machen versucht. Neumann ist deshalb zuzustimmen, wenn er schreibt, zur „juristischen Argumentationslehre" seien „eine Vielzahl teilweise höchst heterogener Ansätze [zu] rechnen"; „Theorie der juristischen Argumentation" meine „nicht eine bestimmte Richtung , sondern einen bestimmten Problembereich der Rechtsphilosophie".42 Um das amorphe Forschungsfeld der „juristischen Argumentationslehre" zu strukturieren, schlage ich als Ergänzung zu Neumanns materialer Einteilung folgende - keineswegs neuen - Differenzierungen und terminologische Festsetzungen vor. 43 Manchem mögen sie (zu Recht!) als trivial erscheinen, doch werden sie von Argumentationstheoretikern häufig nicht beachtet, so daß es keineswegs überflüssig ist, erneut auf sie hinzuweisen. Argumentation kann unter zwei Aspekten untersucht werden. Der erste betrifft die Stringenz der Argumentation. Sie zu überprüfen ist Aufgabe der Logik, denn nur die Logik kann sicherstellen, daß aus wahren Prämissen auch wahre Konklusionen gefolgert werden. Die Stringenz von Argumentationen ist unabhängig von der Zustimmung eines Publikums. Voraussetzung der logischen Analyse ist die Klärung der Argumentationsstrukturen. Logische Fehler zerstören die Stringenz eines Argumentationszusammenhangs. Sie bilden eine erste Gruppe von Argumentations fehlem. Der zweite Gesichtspunkt, unter dem sich Argumentation analysieren läßt, ist die Plausibilität und Uberzeugungskraft der vorgebrachten Argumente. Plausibilität und Überzeugungskraft sind abhängig vom jeweiligen Auditorium; häufig werden stringente Argumente besonders wirkungsvoll sein, doch gilt dies keineswegs immer. Die Untersuchung der Faktoren, die die Plausibilität und Überzeugungskraft von Argumenten beeinflussen, ist eine empirische Aufgabe. Die Verwendung von im jeweiligen Fall ungeeigneten Überzeugungsmethoden bildet eine zweite Gruppe von Argumentationsfehlern. 44

42

A.a.O., S. 2. Ahnliche Vorschläge macht für den Bereich der Philosophie Bubner, R.: Uber Argumente in der Philosophie. In: Neue Hefte für Philosophie 26 (1986), S. 34 - 54. 44 Eine andere Differenzierung von Argumentationsfehlern speziell für den juristischen Bereich findet sich bei Achterberg, N.: Argumentationsmängel als Fehlerquelle bei der Rechtsfindung. In: Krawietz, W. u.a. (Hg.): Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz. Berlin 1979, S. 43 - 57. 43

I. Problemaufriß

21

Viele eher praktisch ausgerichtete Darstellungen untersuchen das Thema Argumentation - sei es nun die Argumentation vor Gericht, vor einer politischen Versammlung oder in einer Verhandlungssituation45 - unter beiden Aspekten, die allerdings ganz unterschiedlich gewichtet sein können. So steht etwa beim Tübinger Verhandlungsseminar 46 der Leitbegriff „Strukturdenken" und damit die logische Analyse im Vordergrund. Eine scharfe Trennung zwischen logischen und empirischen Fragestellungen ist bei den praktisch orientierten Arbeiten aber nicht erforderlich. Problematischer erscheint mir die Verwischung der genannten Unterscheidung in zahlreichen eher theoretisch ausgerichteten Untersuchungen, die die juristische Argumentation als Thema der rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung behandeln. Zu der Vermengung von logischen und empirischen Gesichtspunkten tritt häufig noch eine Konfusion von deskriptiver und normativer Betrachtungsweise hinzu, obwohl doch auch und gerade für Juristen, zumal wenn sie sich mit rechtswissenschaftlicher Grundlagenforschung beschäftigen, klar sein müßte, daß es zweierlei bedeutet, zu fragen, wie eine Argumentation (faktisch) stattfindet oder zu fragen, wie eine Argumentation stattfinden sollte. Nicht selten verbergen sich derartige Konfusionen hinter dem Zauberbegriff „rationale Argumentation".

I I . Der Gang der Untersuchung In meiner Arbeit geht es weder um eine Gesamtdarstellung noch um einen Ausbau der „juristischen Argumentationslehre" im Rahmen des bisher Erreichten, sondern um die kritische Analyse der neuen Lehren auf ihre Brauchbarkeit für die Arbeit des Juristen. Wie bereits erwähnt, versucht Neumann das Interesse für eine juristische Argumentationstheorie mit den drei Faktoren: allgemeine Argumentationstheorie, neue Vorschläge zum Problem der Rechtsanwendung und Theorie des rationalen Diskurses zu erklären. M . E . läßt sich die juristische Argumentationslehre schärfer als eine Rezeption von analytischer Philosophie und kritischer Theorie in der Grundlagenforschung der Jurisprudenz fassen, wobei die analytische Philosophie vor allem die Rechtsanwendungslehre beeinflußt hat, während aus der kritischen Theorie die sog. „Diskurstheorie" als ein neuer Weg zum „richtigen

45 Vgl. die verwandte Unterscheidung der drei Redegattungen bei Quintillian, M.F.: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hg. und übersetzt von H. Rahn. Erster Teil, Buch I - VI. Darmstadt 1972, S. 299. 46 Vgl. dazu den Sammelband von Gottwald, W., Haft, F.: Verhandeln und Vergleichen als juristische Fertigkeiten. Tübingen 1987.

Α. Allgemeine und juristische Argumentationstheorie

22

Recht" rezipiert wurde. Aus dieser grundlegenden Zweiteilung ergibt sich folgende Gliederung meiner Arbeit: In Kapitel Β steht die traditionelle Auffassung von der Gesetzesbindung im Mittelpunkt. Die Bindung an „Gesetz und Recht" ist in Art. 20 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich verankert. Am Beispiel des Strafrechts werden wichtige Folgerungen aus dem Gesetzlichkeitsprinzip vorgestellt. Die fur den deutschen Sprachraum klassische Untersuchung zu den logischen Strukturen der Rechtsanwendung stammt von Karl Engisch. Seine Vorschläge werden dargelegt und mit dem etwa zeitgleich publizierten Modell des dänischen Rechtstheoretikers Alf Ross verglichen. Im darauf folgenden Kapitel C werde ich mich mit dem Versuch von H. J. Koch und H. Rüßmann beschäftigen, im Rahmen einer „Juristischen Begründungslehre" das Modell der deduktiven Entscheidungsbegründung mit Hilfe der formalen Logik und modernen sprachphilosophischen Vorschlägen zur Semantik zu präzisieren. Die Brauchbarkeit formallogischer Methoden in der Jurisprudenz ist umstritten; vor allem die sog. „deontische Logik" hat immer noch nicht das Stadium der Grundlagenforschung verlassen. 47 Es wird zu zeigen versucht, daß für den Zweck einer Rekonstruktion des Rechtsanwendungsprozesses die übliche Quantorenlogik ausreicht. Hinsichtlich der sprachphilosophischen Rezeptionsversuche wird für Zurückhaltung und eine Besinnung auf die Bedürfnisse der Jurisprudenz plädiert. Kapitel D enthält eine Auseinandersetzung mit der Kritik am Modell der deduktiven Entscheidungsbegründung. Am Beispiel Arthur Kaufmanns wird dargelegt, daß die traditionelle Kritik am Subsumtionsmodell an zahlreichen Mißverständnissen und Fehlinterpretationen der angegriffenen Positionen krankt. Als Beispiel derartiger Fehlinterpretationen wird Kaufmanns Darstellung der Rechtsanwendungslehren von Karl Bergbohm und Hans Kelsen untersucht. Ulfried Neumann hat sich skeptisch zu den in Kapitel C analysierten Präzisierungsvorschlägen Kochs und Rüßmanns geäußert. Es wird gezeigt, daß seine Argumente unzutreffend sind. Anschließend wende ich mich dem Toulmin-Schema zu, einem Analysemodell, das in den fünfziger Jahren von dem amerikanischen Wissenschaftsphilosophen Stephen Toulmin vorgestellt wurde und das Ulfried Neumann als Alternative zum deduktiven Begründungsmodell empfiehlt. Wie sich zeigen wird, ist es schon aus grundsätzlichen Erwägungen ausgeschlossen, mit Hilfe

47

Es erscheint denkbar, daß sich dies infolge des sich immer mehr ausbreitenden Computereinsatzes in der Jurisprudenz, insbesondere der rasanten Entwicklung im Bereich juristischer Expertensysteme, bald ändern wird.

II. Der Gang der Untersuchung

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des Toulmin-Schemas die logische Analyse entbehrlich zu machen. Das Toulmin-Schema kann allenfalls als Ergänzung, nicht jedoch als Ersatz der formalen Logik benutzt werden. Es ist deshalb auch nicht möglich, das Toulmin-Schema als Alternative zum deduktiven Begründungsmodell zu verwenden. In Kapitel F versuche ich, die Brauchbarkeit des vor allem mit den Namen Sneed und Stegmüller verbundenen non-statement view oder Strukturalismus in der Rechtswissenschaft zu überprüfen. Dazu werden die wichtigsten einschlägigen juristischen Arbeiten analysiert. Die Prüfung fallt negativ aus: M . E . ist von keinem der behandelten Autoren dargetan worden, daß der Strukturalismus in der Rechtswissenschaft nutzbringend angewandt werden kann. Die Kapitel G bis Ν bilden den zweiten Teil der Arbeit. Darin soll versucht werde, neuere Vorschläge aus dem Umkreis der kritischen Theorie, soweit sie in der juristischen Grundlagenforschung rezipiert wurden, zu analysieren. Kapitel G beschäftigt sich nach einigen einleitenden Bemerkungen zur Diskurstheorie mit der von Robert Alexy vorgebrachten „Sonderfallthese", wonach der „juristische Diskurs" als ein Sonderfall des „allgemeinen praktischen Diskurses" angesehen werden kann. Die These wird analysiert und es wird offengelegt, daß sie nur um den Preis einer weitgehenden Inhaltsleere aufrechtzuerhalten ist. In Kapitel H gehe ich der Frage nach, ob sich ein ethischer Kognitivismus, wie er von der Diskurstheorie vertreten wird, auf die moralphiiosophischen Vorschläge der Erlanger Schule stützen läßt. M . E . ist diese Frage zu verneinen. Des weiteren untersuche ich, ob sich ein ethischer Kognitivismus auf die Autorität des belgischen Logikers Chaim Perelman berufen kann. Auch dies ist jedoch abzulehnen. Weder die Anregungen der Erlanger Schule noch die Thesen Perelmans sind dem moralphilosophischen Kognitivismus zuzuordnen. Explizit kognitivistisch sind dagegen die moralphilosophischen Vorschläge der von Karl-Otto Apel begründeten Transzendentalpragmatik. Wolfgang Kuhlmann hat die Transzendentalpragmatik ausgebaut und erheblich präzisiert. Seine Thesen sollen in Kapitel I zur Sprache kommen. Es wird zu zeigen sein, daß Kuhlmanns Argumente seinen Anspruch, den Skeptizismus widerlegt und die Grundlagen einer kognitiven Ethik geschaffen zu haben, nicht zu tragen vermögen.

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Α. Allgemeine und juristische Argumentationstheorie

Kapitel J gilt einer vertieften Analyse der zentralen Argumente der Transzendentalpragmatik, insbesondere des sog. „performativen Widerspruchs". Eine Vorform dieses Argumentes findet sich in einer Descartes-Analyse des finnischen Philosophen und Logikers Jaakko Hintikka. Es kann jedoch gezeigt werden, daß sich die Transzendentalpragmatik zu Unrecht auf Hintikka beruft. Um die Begründung einer kognitiven Ethik geht es auch in den Kapiteln Κ und L. Jürgen Habermas hat bereits in den frühen siebziger Jahren die Vorschläge der Transzendentalpragmatiker aufgegriffen. Die Diskurstheorie verbindet sich heute vor allem mit seinem Namen. Ich möchte versuchen, seine wichtigsten einschlägigen Schriften zu analysieren und die zentralen Mängel seines Argumentationsganges aufzuzeigen. Die Kapitel M und Ν schließlich beschäftigen sich mit dem Regelkanon, den Robert Alexy unter Berufung auf die Erlanger Schule, Perelman, Apel und vor allem Habermas aufgestellt hat und den er als Grundlage einer „Theorie der juristischen Argumentation" ansieht. Ein Teil seiner Regeln soll für alle praktischen Diskurse gelten, ein anderer Teil nur innerhalb der Jurisprudenz. Es wird gezeigt, daß die Regeln Alexys schon aufgrund ihrer Formulierung nicht geeignet sind, Diskurse, seien es nun „allgemeine" oder „juristische", zu lenken. Insgesamt muß deshalb die Frage nach der Anwendbarkeit der Diskursethik in der Jurisprudenz negativ beantwortet werden. Die meisten der von mir angesprochenen Themen stehen heute im Mittelpunkt nicht nur der rechtstheoretischen, sondern auch der fachphilosophischen Diskussion. Zu den Thesen der Erlanger Schule, zum Strukturalismus, zur Transzendentalpragmatik oder zu den moralphilosophischen Vorschlägen Jürgen Habermas* existieren ganze Bibliotheken an Primär- und Sekundärliteratur. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß diese Unmengen an Material für die vorliegende Untersuchung nicht restlos aufgearbeitet werden konnten. Ebensowenig beabsichtige ich, eine erschöpfende Analyse der angesprochenen Themenbereiche vorzulegen. Ich beschränke mich vielmehr auf einige wenige, mir besonders interessant erscheinende Aspekte der in Frage stehenden philosophischen Ansätze und rechtswissenschaftlichen Rezeptionsversuche. Das Ziel meiner Arbeit ist erreicht, wenn es mir gelingt, die rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung von einigen begrifflichen Konfusionen zu befreien, Scheinprobleme aufzulösen und damit einer fruchtbaren Einflußnahme der Philosophie auf die Jurisprudenz den Weg zu bahnen.

Β. Die traditionelle Auffassung der Gesetzesbindung I. Verfassungsrechtliche Vorgaben und historischer Hintergrund Nach Art. 20 Abs. 3 GG sind die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an „Gesetz und Recht" gebunden. Dadurch soll der einzelne Bürger vor jedem nicht legalisierten Eingriff des Staates in seine Freiheitssphäre geschützt werden. 1 Die Bedeutung der Unterscheidung von „Recht" und „Gesetz" ist allerdings umstritten. Einig ist man sich nur insoweit, als „Gesetz" im Sinne des Artikels 20 Abs. 3 GG alles positiv gesetzte Recht meint, also nicht nur die formellen (Parlaments-) Gesetze, sondern auch alle von diesen abgeleiteten, schriftlich fixierten Rechtssätze wie etwa Rechtsverordnungen oder Satzungen.2 Die in Artikel 20 Abs. 3 GG ebenfalls statuierte Bindung an das „Recht" wird von manchen als Hinweis auf die (rechtliche) Geltung überpositiver Normen, etwa naturrechtlicher Art, verstanden. Andere leugnen jede eigenständige Bedeutung der Vokabel „Recht". Nach einer dritten, wohl vorherrschenden Ansicht bezeichnet „Recht" in Artikel 20 Abs. 3 GG neben dem positiv gesetzten Recht auch „die von der allgemeinen Rechtsüberzeugung getragenen, ungeschriebenen Normen des Gewohnheitsrechts und die in der Gemeinschaft herrschenden Grundsätze der Gerechtigkeit." 3 Auf diesen Meinungsstreit braucht jedoch hier nicht eingegangen zu werden. Es soll nicht geprüft werden, woran vollziehende Gewalt und Rechtsprechung gebunden sind, sondern wie diese Bindung in einem präzisen Sinn zu verstehen ist. Es soll also der Frage nachgegangen werden, ob sich ein intersubjektiv nachvollziehbares Verfahren auffinden läßt, anhand dessen eine

1

Maunz, Th., Zippelius, R.: Deutsches Staatsrecht. Ein Studienbuch. 27. Auflage München 1988, S. 91. 2 Ibid. 3 Maunz, Zippelius, a.a.O., S. 91 f. Umfassende Nachweise zu den verschiedenen Interpretationsvorschlägen finden sich bei Stern, K.: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 1: Grundbegriffe und Grundlagen des Staatsrechts, Strukturprinzipien der Verfassung, 2. Aufl. München 1984, S. 797 - 801.

Β. Die traditionelle Auffassung der Gesetzesbindung

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Bindung an Gesetz und Recht überprüft werden kann. Erst im zweiten Teil der Arbeit wird ein Versuch zur Sprache kommen, gewisse Normen als „Recht" in einem überpositiven Sinne auszuzeichnen. Die traditionelle Antwort der Juristen auf die Frage nach der Natur der Gesetzesbindung ist der Hinweis auf eine logische Ableitbarkeitsbeziehung: Das Urteil 4 müsse sich in der Form eines Syllogismus mit dem Gesetz als erster Prämisse, der Sachverhaltsbeschreibung als zweiter Prämisse und dem Rechtsspruch als Konklusion darstellen lassen. Nach Wieacker 5 breitete sich dieses Rechtsanwendungskonzept in Europa seit dem 16. Jahrhundert aus. Hobbes spricht bereits ausdrücklich von der Anwendung einer allgemeinen Regel auf einen einzelnen Fall. 6 Besonders deutlich wird die logische Struktur des Rechtsanwendungsprozesses von dem Wolff-Schüler Heinrich Köhler beschrieben7; seither scheint sie Allgemeingut der philosophischen und juristischen Literatur gewesen zu sein.8 Eine umfassende Monographie über die Entwicklung der juristischen Arbeitsmethoden steht noch aus.9 Der Justizsyllogismus wurde freilich schon frühzeitig angegriffen, in unserem Jahrhundert etwa von der Freirechtsbewegung und der juristischen

4

Der Einfachheit halber beschränken sich die nachfolgenden Untersuchungen, sofern nicht jeweils etwas anderes vermerkt ist, auf gerichtliche Urteile. 5 Wieacker, F.: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung. 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 188. 6 Hobbes, Th.: Philosophical Rudiments Concerning Government And Society, S. 193, 245. (The English Works of Thomas Hobbes of Malmesbury. Hg. von W.B. Molesworth, Bd. 2. London 1841. ND Aalen 1962). Vgl. auch Teil 2 Kap. 26 („On Civil Laws") von Hobbes" Hauptwerk: Leviathan Or, The Matter, Form and Power of Commonwealth, Ecclesiastical and Civil. (The English Works of Thomas Hobbes ... , Bd. 3. London 1839, ND. Aalen 1962). 7 Köhler, H.: Exercitationes iuris naturalis. Frankfurt a.M. 1738, § 379 (S. 76). Dort findet sich folgendes Beispiel eines Justizsyllogismus: Titius violavit majestatem principis. Qui violât majestatem principis, is hac vel ilia poena affìciendus est. Ergo Titius hac vel illa poena affìciendus est. 8 Vgl. nur Schopenhauer, Α.: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd.2, S. 144. In: Schopenhauer, Α.: Sämtliche Werke. Textkritisch bearbeitet und herausgegeben von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Bd. 2. 2. Aufl. Stuttgart, Frankfurt 1968. 9 Speziell zur logischen Seite des Rechtsanwendungsprozesses vgl. aber immerhin Villey, M.: Questions de logique juridique dans l'histoire de la philosophie du droit. In: Logique et Analyse 10 (1967), S. 3 - 22; Fiedler, H.: Zur logischen Konzeption der Rechtsfindung aus dem Gesetz und ihren historischen Bedingungen. In: Gesetzgebungstheorie, Juristische Logik, Zivil- und Prozeßrecht. Gedächtnisschrift für Jürgen Rödig. Hg. U. Klug u.a. Berlin, Heidelberg, New York 1978, S. 129 - 139.

I. Verfassungsrechtliche Vorgaben und historischer Hintergrund

27

Hermeneutik. Diese Strömungen haben bereits ausfuhrliche Darstellungen gefunden. 10 Kaum bekannt scheint aber zu sein, daß wichtige Thesen von Freirecht und juristischer Hermeneutik schon im frühen 19. Jahrhundert diskutiert wurden. 11 Regina Ogorek hat nachgewiesen, daß die „Vorstellung einer logisch-mechanischenRichtertätigkeit [...] in dem Teil der Rechtslehre, der sich mit den Regeln der Gesetzesauslegung befaßte, allenfalls als Randerscheinung des beginnenden Jahrhunderts, gewissermaßen als Spätfolge der Kodifikationsbewegung, ausfindig gemacht werden" kann. 12 Zwar sind Ogoreks Ergebnisse nicht unangefochten geblieben13, doch dürfte ihre Arbeit zumindest gezeigt haben, daß in dem alten, aber nach wie vor aktuellen Streit um das Verhältnis von Gesetz und Richter viel zu häufig von unzutreffenden empirisch-historischen Thesen ausgegangen und damit Positionen bekämpft wurden, die so niemals vertreten worden sind. Zwei von Ogorek nicht näher erörterte Stellungnahmen zur Rechtsanwendungslehre, nämlich die Karl Bergbohms und die Hans Kelsens, werden in Kapitel C zur Sprache kommen. Wie wir sehen werden, haben auch ihre Positionen wenig mit jenem naiven Subsumtionsglauben zu tun, den man ihnen in Teilen des heutigen Schrifttums unterstellt. Diese Mißverständnisse sind freilich typisch fur die zahlreichen Konfusionen, mit denen die Diskussion um das juristische Begründungsmodell belastet ist. Davon wird im folgenden noch ausfuhrlich zu sprechen sein. Zuvor möchte ich aber versuchen, am Beispiel des Strafrechts die Bedeutung der Gesetzesbindung fur die Jurisprudenz zu verdeutlichen. Im Bereich des Strafrechts sind die Gefahren durch willkürliches staatliches Handeln besonders groß, so daß hier seit langem die Gesetzlichkeit jedes staatlichen Eingriffs gefordert wird. Es kann deshalb nicht verwundern, daß die wichtigsten Beiträge zum deduktiven Begründungsmodell von Strafrechtlern vorgelegt wurden. Erst in jüngster Zeit wird die Diskussion auch von Vertretern des öffentlichen Rechts und des Zivilrechts geprägt.

10

Vgl. nur Larenz, K.: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. 5. Aufl. München 1983, S. 43 - 62 und 133 - 137. 11 Vgl. Ogorek, R.: Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19.Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1986, insbes. S. 39 - 75. 12 A.a.O., S. 368. Speziell zur Interpretationslehre Montesqieus vgl. dies.: De l'esprit des legendes, oder wie gewissermaßen aus dem Nichts eine Interpretationslehre wurde. In: Rechtshistorisches Journal 2 (1983), S. 272 - 296. 13 Vgl. etwa Schröder, J.: Rezension von Ogorek, R. (wie Fn. 11). In: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 10 (1988), S. 234 - 239.

Β. Die traditionelle Auffassung der Gesetzesbindung

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I I . Die praktische Bedeutung des Gesetzesbindungspostulats am Beispiel des Strafrechts Für das Strafrecht bestimmt Artikel 103 Abs.2 GG und wortgleich der § 1 StGB, daß eine Tat nur dann bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Nach § 93 Abs.l Nr.4 a GG besitzt Artikel 103 Abs.2 GG sogar den Rang eines Grundrechts. Es handelt sich mithin um ein „Elementarprinzip unseres Strafrechts 44.14 Der nullum-crimen-sine-lege-Grundsatz 15 wird häufig auf die Magna Carta von 1215 zurückgeführt. 16 In das deutsche Strafrecht gelangte das Gesetzlichkeitspostulat über das preußische Strafgesetzbuch von 1851, das sich dabei wiederum auf Artikel 4 des Code pénal von 1810 stützte.17 Artikel 116 der Weimarer Reichsverfassung verlieh dem Gesetzlichkeitsprinzip Verfassungsrang, doch blieb der Grundsatz in der Weimarer Zeit umstritten. 18 Der Nationalsozialismus setzte an die Stelle des „nullum-crimen-sinelege" das Prinzip „Kein Verbrechen ohne Strafe 44 (§ 2 RStGB i.d.F. des Gesetzes vom 28. 6. 1935). 19 Heute wird das Gesetzlichkeitsprinzip auch in mehreren völkerrechtlichen Verträgen anerkannt, etwa in Artikel 7 Abs.l der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. 11. 1950. 20 In der Strafrechtsdogmatik werden vier Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips unterschieden:21

14

Schmitt, R.: Der Anwendungsbereich von § 1 Strafgesetzbuch (Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz). In: Festschrift für Hans Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag. Hg.von Vogler, Th. u.a. Bd. 1. Berlin 1985. S. 223 - 233 (223). 15 Diese Bezeichnung geht zurück auf Feuerbach, Α.: Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts. Glessen 1801, § 20. 16 Vgl. die Nachweise bei Krey, V.: Keine Strafe ohne Gesetz. Einführung in die Dogmengeschichte des Satzes „nullum crimen, nulla poena sine lege". Berlin, New York 1983, S. 44 f. 17 So Jescheck, H.H.: Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil. 4. Aufl. Berlin 1988, S. 118. 18 Anschütz, G.: Die Verfassung des deutschen Reichs 1919. 14. Aufl. Berlin 1933, Art. 116 Anm. 1. 19 Vgl. Rüping, H.: Nullum crimen sine poena. Zur Diskussion um das Analogieverbot im Nationalsozialismus. In: Festschrift für Dietrich Oehler zum 70. Geburtstag. Hg. von Herzberg, R.D. Köln u.a. 1985, S. 27 - 42. 20 BGBl. 1952, II, S. 686. 21 Zum folgenden vgl. Haft, F.: Strafrecht Allgemeiner Teil. 4. Aufl. München 1990, S. 4 6 - 5 1 .

II. Die praktische Bedeutung des Gesetzesbindungspostulats

29

(1) Nullum crimen sine lege scripta Dieser Grundsatz bedeutet, daß Gewohnheitsrecht zu Lasten des Täters ausgeschlossen ist, d.h. es dürfen keine neuen Straftatbestände und keine Strafschärfungen auf Gewohnheitsrecht gestützt werden. Der Vorbehalt des Gesetzes ist damit im Strafrecht stärker ausgeprägt als in allen anderen Rechtsgebieten. (2) Nullum crimen sine lege stricta Das Gesetzlichkeitsprinzip beinhaltet auch das Verbot strafbegründender oder strafschärfender Analogie. 22 Unter Analogie wird dabei „die Übertragung der fur einen Tatbestand (A) oder fur mehrere, untereinander ähnliche Tatbestände im Gesetz gegebenen Regel auf einen vom Gesetz nicht geregelten, ihm »ähnlichen4 Tatbestand B 4 4 2 3 oder auch eine „Rechtsanwendung, die über den durch Auslegung zu ermittelnden Sinngehalt einer Strafrechtsnorm hinausgeht4424 verstanden. Die Leistungsfähigkeit der Auslegung und der traditionellen Auslegungsregeln ist allerdings umstritten. Außerdem wird der Begriff „Analogie44 z.T. in einem abweichenden Sinne gebraucht. Anhand einiger Beispiele aus der Rechtsprechung soll der Grundsatz „nullum crimen sine lege stricta44 erläutert werden. Im Jahr 1899 glaubte das Reichgericht, die Entziehung fremder elektrischer Energie nicht als Diebstahl im Sinne des § 242 StGB ansehen zu können, weil elektrischer Strom nicht, wie es § 242 StGB voraussetze, eine „Sache44 im Sinne des Gesetzes sei 2 5 Damit zwang es den Gesetzgeber, den § 248 c (Entziehung elektrischer Energie) in das Strafgesetzbuch einzufügen. Drei Jahrzehnte später war es die mißbräuchliche Benutzung von Münzfernsprechautomaten mit breitgeklopften Geldstücken, die den Richtern Kopfschmerzen bereitete. Nach Ansicht des Reichsgerichts konnte dieses Verhalten weder nach § 248 c StGB noch nach § 263 StGB (Betrug) oder § 146 StGB (Geldfalschung) pönalisiert werden. 26 Deshalb mußte § 265 a StGB (Erschleichen von Leistungen) neu in das Strafgesetzbuch aufgenommen werden. In jüngster Zeit schließlich ergaben sich ähnliche Probleme bei der Verfolgung bestimmter Formen der Computerkriminalität, etwa der unbefug-

22

Eser, Α.: Kommentierung zu § 1 StGB Rz 24. In: Schönke, Α., Schröder, H.: Strafgesetzbuch. Kommentar. 23. Aufl. neubearbeitet von Lenckner, Th. u.a. München 1988 (künftig zitiert als „Sch-Sch-Bearbeiter"). 23 Laren ζ, Methodenlehre, S. 366. 24 Jescheck, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 120. 25 RGSt 32, 165 - 191. 26 RGSt 68, 65 - 69.

Β. Die traditionelle Auffassung der Gesetzesbindung

30

ten Benutzung einer ec-Codekarte. 27 Daraufhin wurde durch Artikel 1 Nr. 9 des 2. Gesetzes zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität vom 15. 5. 1986 ein neuer § 263 a StGB (Computerbetrug) geschaffen. In allen Fällen wurde das Eingreifen des Gesetzgebers notwendig, weil die Gerichte die Anwendung bereits existierender Normen des Strafgesetzbuches als unerlaubte Analogie ansahen. In anderen, ebenso problematischen Fällen meinte die Rechtsprechung dagegen, das rechtspolitisch erwünschte Ergebnis noch mittels Auslegung erreichen zu können. So hat der Bundesgerichtshof in einer seiner ersten Entscheidungen die Verwendung von Salzsäure als den Gebrauch einer „Waffe" im Sinne von § 223 a StGB angesehen28 In BGHSt 10, 375 wurde ein Lkw als „bespanntes Fuhrwerk" im Sinne des § 3 I Nr. 6 des noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden preußischen Forstdiebstahlgesetzes betrachtet. Ein vieldiskutierter Problemfall aus jüngerer Zeit ist die Frage, ob einer Person, die gegen ihren erklärten Willen vom Unfallort verbracht wurde, vorgeworfen werden kann, sich vom Unfallort im Sinne von § 142 StGB „entfernt" zu haben.29 Insgesamt scheint es eine Tendenz zu immer extensiverer Auslegung zu geben. 30 (3) Nullum crimen sine lege certa Das Strafgesetz muß die Tat und deren angedrohte Rechtsfolgen mit hinreichender Bestimmtheit umschreiben. Jedermann soll voraussehen können, welches Verhalten verboten oder mit Strafe bedroht ist. 31 Außerdem soll durch möglichst bestimmte Normen der Entscheidungsspielraum der Richter eingegrenzt und dem Willen der Legislative Wirksamkeit verschafft werden. Auch hier sind die Anforderungen weit schärfer als in anderen Rechtsgebieten (man denke nur an den Treu-und-Glaube-Paragraphen 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches). Doch gibt es auch im Strafgesetzbuch sehr unbestimmte Rechtsnormen.32 Ein besonders prägnantes Beispiel bietet eine Verordnung der Münchner Räterepublik von 1919, wo es hieß: „Jeder Verstoß gegen revolutionäre Grundsätze wird bestraft. Die Art der Strafen steht im freien Ermessen des Richters." 33 In der Gegenwart ist die Ver-

27

Vgl. Sch-Sch-Cramer, Kommentierung zu § 263 a. BGHSt. 1, 3; Zu diesem berühmten Fall vgl. auch Engisch, K.: Einführung in das juristische Denken. 8. Aufl. Stuttgart u.a. 1983 S. 153 und Larenz, Methodenlehre, S. 309. 29 Bejahend das BayObLG NJW 1982, S. 1059 - 1060. 30 Vgl. Schmitt, a.a.O., S. 232 mit Beispielen. 31 BVerfG NJW 1987, S. 3175. 32 Dazu ausführlich Lenckner, Th.: Wertausfüllungsbedürftige Begriffe im Strafrecht und der Satz „nullum crimen sine lege44. In: JuS 1968, S. 250 - 257, 304 - 310. 33 ZStW 40 (1919), S. 511. 28

II. Die praktische Bedeutung des Gesetzesbindungspostulats

31

werflichkeitsklausel des § 240 Π StGB (Nötigung) und deren Anwendung bei Blockadeaktionen gegen Raketenstützpunkte ein besonders drängendes Problem. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht die Klausel als (noch) zulässig erachtet, doch geschah dies nur mit Stimmengleichheit.34 Eine gesetzliche Präzisierung des § 240 StGB dürfte auf mittlere Sicht unumgänglich sein. (4) Nullum crimen sine lege praevia Die vierte Ausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips ist das Rückwirkungsverbot, das aus Artikel 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB i.V.m. § 2 Abs. 1 und Abs. 5 StGB abgeleitet wird. Danach darf eine Tat, die zur Zeit ihrer Begehung straffrei war, nicht nachträglich fur strafbar erklärt werden. Auch eine nachträgliche Strafschärfung ist ausgeschlossen. Dagegen gibt es ein allgemeines Verbot rückwirkender Gesetze im deutschen Recht nicht. 35 Anders als die drei soeben skizzierten Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips soll das Rückwirkungsverbot nicht die Kompetenzen der Legislative sichern es schränkt sie sogar ein - sondern dient der Rechtssicherheit. Jedermann muß sich darauf verlassen können, daß jetzt erlaubtes Verhalten nicht nachträglich für strafbar erklärt wird. Aus dem Zusammenwirken dieser vier Prinzipien ergibt sich die sog. „Garantiefunktion" des Strafrechts, die von Liszt mit der berühmten Wendung vom Gesetz als der „Magna Charta des Verbrechers" umschrieb. 36 Diese Funktion kann das Gesetz jedoch nur dann ausüben, wenn tatsächlich eine Bindung des Rechtsanwenders - also vor allem des Richters - an die Rechtsnorm erreicht werden kann. Die Gesetzesbindung soll nach herrschender Ansicht über eine Ableitung aus dem Gesetz verwirklicht werden. Die Zahl der Schriften, die sich mit dem Verhältnis von Gesetz und Richterspruch beschäftigen, ist kaum noch übersehbar. Doch findet sich, soweit mir ersichtlich, bis in die jüngste Zeit hinein kein Autor, der das genannte Verhältnis so präzise und scharfsinnig untersucht hat wie Karl Engisch.37 Seinen erstmals 1943 erschienenen „Logischen Studien zur Gesetzesanwendung" möchte ich mich jetzt zuwenden.

34

BVerfG NJW 1988, S. 693 - 694. Maunz, Zippelius, Staatsrecht, S. 92. 36 Liszt, F. von: Über den Einfluß der soziologischen und anthropologischen Forschungen auf die Grundbegriffe des Strafrechts. In: Ders.: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge. Zweiter Band: 1892 - 1904. Berlin 1905, S. 75 - 93 (80). 37 Engisch, K.: Logische Studien zur Gesetzesanwendung. Heidelberg 1943,3. A. 1963. 35

Β. Die traditionelle Auffassung der Gesetzesbindung

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I I I · Engischs „Logische Studien" Engischs Untersuchung besteht aus drei Teilen. Zunächst erörtert er die logische Struktur des deduktiven Begründungsmodells. Sie wird als modus barbara bzw. modus ponens identifiziert. Anschließend wendet Engisch sich dem Obersatz 38 dieses Schlusses, dem aus dem Gesetz entnommenen „generellen Sollenssatz" zu. Der bei weitem umfangreichste Teil seiner Studie ist jedoch dem Untersatz gewidmet, wobei Engisch die drei Aspekte Subsumtion, Tatsachenfeststellung und das logische Verhältnis von Tatsachenfeststellung zur Subsumtion unterscheidet. Im vorliegenden Zusammenhang sollen Probleme der Tatbestandsfeststellung nicht diskutiert werden. Im übrigen folgt die Darstellung der von Engisch vorgeschlagenen Reihenfolge. Ich beschränke mich dabei auf die Grundzüge; einige Details der Rechtsanwendungsproblematik werden im nächsten Kapitel zur Sprache kommen, worin ich mich mit dem derzeit anspruchsvollsten Präzisierungsversuch des Modells der deduktiven Entscheidungsbegründung auseinandersetzen möchte. Ziel jeder Gesetzesanwendung ist nach Engisch „die Gewinnung konkreter rechtlicher Sollensurteile". 39 Diese können sowohl positiv („X soll bestraft werden") wie negativ („X soll nicht bestraft werden") formuliert sein. Die negativen Sollensurteile sind zu unterscheiden von solchen Urteilen, die auf ein Unterlassen gerichtet sind („X durfte in dieser Situation nicht töten"). 40 Das Sollensurteil ist wahrheitsdefìnit und unterscheidet sich damit vom Befehl (Engisch spricht auch vom „Imperativischen Sollenssatz"), der nicht als „wahr", sondern lediglich als „gerecht" oder „zweckmäßig" bezeichnet werden kann. Die Begründung des Sollensurteils erfolgt aus dem Gesetz. Daran möchte Engisch „auch gegenwärtig [1942!] festhalten, wo man so viel zu hören bekommt von der Überlegenheit des Rechts über das Gesetz." 41 Das Gesetz besteht aus staatlichen Imperativen. Um aus ihnen wahrheitsdefinite singuläre Sollensurteile abzuleiten, müssen sie in generelle Sollens-

38

Engisch stützt sich bei seiner Analyse auf die traditionelle, nicht-symbolisierte Logik, so daß seine Terminologie gegenüber der modernen formalen Logik teilweise antiquiert erscheint. Ich möchte dort, wo ich Engisch lediglich referiere, seinem Sprachgebrauch folgen; eine „Ubersetzung" seiner Vorschläge in die heutige Terminologie wird im folgenden Kapitel vorgestellt. 39 A.a.O., S. 3. 40 A.a.O., S. 4. 41 A.a.O., S. 5.

III. Engischs „Logische Studien

33

urteile umgewandelt werden. So tritt an die Stelle des gesetzlichen Imperativs: (1) „Wer vorsätzlich und aus Mordlust usw. einen Menschen getötet hat, soll als Mörder mit dem Tode bestraft werden." das generelle Urteil: (2) „Wer vorsätzlich und aus Mordlust usw. einen Menschen getötet hat, soll nach deutschem Strafrecht [...] als Mörder mit dem Tode bestraft werden." 42 (2) ist wahrheitsdefinit, (1) nicht. Nach der Umwandlung des Gesetzesimperativs in einen generellen Satz läßt sich die logische Struktur der Gesetzesanwendung als Syllogismus darstellen: 43

-

„Wenn jemand als Mörder einen Menschen tötet, so soll er ... bestraft werden. M hat als Mörder einen Menschen getötet.

-

M soll ... bestraft werden."

Diese Darstellungsform kann auch gewählt werden, wenn Negationen in den Prämissen vorkommen. Um das Nichtgeiingen einer Subsumtion darzustellen, wählt Engisch folgendes Schema:

-

„Wenn jemand einen Menschen vorsätzlich aus Mordsucht tötet, so soll er mit dem Tode bestraft werden. Wenn jemand einen Menschen nicht vorsätzlich aus Mordsucht tötet, so soll er nicht mit dem Tode bestraft werden. A hat einen Menschen nicht vorsätzlich aus Mordsucht getötet.

-

A soll nicht mit dem Tode bestraft werden." 44

-

Die Konklusion ergibt sich hier über den modus ponens aus den drei letztgenannten Prämissen. Engisch erwähnt jedoch auch die Möglichkeit, die beiden Obersätze zu einem zusammenzuziehen: „Nur wenn jemand einen Menschen vorsätzlich aus Mordsucht tötet, so soll er mit dem Tode bestraft

42

A.a.O., S. 6, 9. A.a.O., S. 9. Engisch spricht hier in Anlehnung an die klassische Logik von einem „gemischt-hypothetischen Schluß" in Gestalt des modus ponens und unterscheidet ihn vom Schluß im modus barbara. 44 A.a.O., S. 12. 43

3 Hilgendorf

Β. Die traditionelle Auffassung der Gesetzesbindung

34

werden 44 . 45 Dieser zusammengezogene Satz hat die logische Struktur eines Bikonditionals und erlaubt damit die Anwendung des modus tollens. Die erste Prämisse des Justizsyllogismus46 bildet, wie bereits ausgeführt, ein generelles Sollensurteil. Es läßt sich meist nicht ohne weiteres aus dem Gesetz durch Umwandlung des Imperativs in einen deskriptiven Satz gewinnen, sondern erfordert weitergehende Überlegungen. Engisch unterscheidet dabei einen intensiven und einen extensiven Aspekt. Der intensive Aspekt umfaßt im wesentlichen47 das, was heute üblicherweise als Auslegung des Gesetzes bezeichnet wird. Auslegungsfragen werden von Engisch ausdrücklich ausgeklammert.48 Der extensive Aspekt beinhaltet die Ergänzung des unmittelbar aus der jeweiligen Rechtsnorm ablesbaren Rechtssatzes zu einem vollständigen Rechtssatz, also etwa durch Hinzufugung von Aussagen über die Zurechnungsfahigkeit, die Rechtfertigung, die Entschuldigung usw. Solche Ergänzungen brauchen nur dann explizit eingefügt werden, wenn sie im zu beurteilenden konkreten Fall angedeutet sind. Dabei scheint sich die Gefahr eines Zirkels zu ergeben: „Einerseits werden nur diejenigen Momente in den Obersatz einbezogen, für die der konkrete Lebensfall die Heranziehung anregt, andererseits soll ja der konkrete Lebensfall erst anhand der juristischen Obersätze beurteilt, innerhalb seiner das Wesentliche vom Unwesentlichen geschieden werden [...]. Zugespitzt: Für den Obersatz ist wesentlich, was auf den konkreten Fall Bezug hat, am konkreten Fall ist wesentlich, was auf den Obersatz Bezug hat. 4 4 4 9 Nach Engischs Ansicht liegt jedoch ein Zirkel nicht vor: Es handelt sich „nur um eine ständige Wechselwirkung, ein Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Obersatz und Lebenssachverhalt [...]. 4 4 5 0 Die Wendung vom „Hin- und Herwandern des Blicks44 ist häufig mißbraucht worden. So hat man sie etwa benutzt, um Engisch als Kronzeugen

45

A.a.O., S. 12 Fn. 1. Dieser Ausdruck wird von Engisch allerdings nicht verwandt. 47 Engisch spricht a.a.O. S. 14 neben der Auslegung noch von „sonstigefn], hier nicht näher zu behandelnde[n] Methoden". Damit dürfte vor allem die seinerzeit hoch in Kurs stehende Analogie gemeint sein. Zur „Subsumtion" und „Subordination", die Engisch ebenfalls dem „intensiven" Aspekt der Zubereitung des Obersatzes zuordnet, vgl. unten S. 35. 48 A.a.O., S. 5. 49 A.a.O., S. 14 f. 50 A.a.O., S. 5. 46

III. Engischs „Logische Studien

35

des sog. „Hermeneutischen Zirkels" zu präsentieren. 51 Engisch selbst hat später betont, die Wendung nur beiläufig gebraucht zu haben.52 Es ist hier selbstverständlich nicht möglich, alle Mißverständnisse und Mystizismen, die mit dem „Hin- und Herwandern des Blicks" in Verbindung gebracht worden sind, zu erörtern. Es sei nur noch einmal darauf hingewiesen, daß die Wendung im Zusammenhang der Gewinnung einer vollständigen Rechtsnorm, also etwa, um ein strafrechtliches Beispiel zu wählen, der Ergänzung eines Einzelnormsatzes durch Feststellungen zu Zurechnungsfahigkeit, Rechtswidrigkeit, Schuldfahigkeitusw., verwendet wird. Derartige StrafbarkeitsVoraussetzungen, so argumentiert Engisch, brauchten nicht explizit angeführt zu werden, wenn der „Lebenssachverhalt" es nicht erforderlich mache. Dies müsse allerdings bei der Rechtsanwendung fortlaufend geprüft werden. Die Wendung vom „Hin- und Herwandern des Blicks" hat also eine viel harmlosere Bedeutung, als es bei oberflächlicher Lektüre den Anschein haben könnte. Hinsichtlich der „intensiven" Bearbeitung der Rechtsnorm unterscheidet Engisch weiter zwischen Subsumtion und Subordination. Bei der Subsumtion wird der jeweils in Frage stehende Einzelfall dem vom Gesetz Gemeinten untergeordnet, bei der Subordination eine Fallgruppe. 53 Die Subordination wird dabei durch sukzessive Präzisierung der relevanten Tatbestandsmerkmale und das Einsetzen präzisierter Ausdrücke anstelle der ursprünglichen Begriffe in den jeweiligen Rechtssatz vorgenommen. Engisch wählt folgendes Beispiel:

-

-

„Wenn jemand einen Menschen vorsätzlich mit gemeingefährlichen Mitteln tötet, so ... . Wenn jemand mit Bombenwurf einen Menschen vorsätzlich tötet, so tötet er einen Menschen vorsätzlich mit gemeingefährlichen Mitteln. Wenn jemand mit Bombenwurf einen Menschen vorsätzlich tötet, so «54

51

Z.B. bei Kaufmann, Α.: Über den Zirkelschluß in der Rechtsfindung. In: Festschrift fur Wilhelm Gallas zum 70. Geburtstag. Hg. von Lackner, K. u.a. Berlin, New York 1973, S. 7 - 20. Auch in: Kaufmann, Α.: Beiträge zur Juristischen Hermeneutik sowie weitere rechtsphilosophische Abhandlungen. Köln u.a. 1984, S. 65 - 77 (74). Zu einem verwandten Problem vgl. auch Keuth, H.: Wissenschaft und Werturteil. Zur Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit. Tübingen 1989, S. 108 - 124. 52 Engisch, Einfuhrung, S. 216 f. (Fn. 54). 53 A.a.O., S. 17. 54 Ibid.

Β. Die traditionelle Auffassung der Gesetzesbindung

36

Auf diesem Weg ist es möglich, die einzelnen Auslegungsschritte in das deduktive Begründungsmodell einzufügen und sie dadurch intersubjektiver Prüfung zugänglich zu machen. Der Gewinnung des Untersatzes im Justizsyllogismus widmet Engisch besondere Aufmerksamkeit. Im Untersatz vollzieht sich „die Subsumtion des konkreten Sachverhalts unter die Merkmale des »gesetzlichen Tatbestandes 4 4 4 . 5 5 Engisch versteht, wie bereits angesprochen, unter Subsumtion nicht die Unterordnung eines Begriffs unter einen anderen, sondern die Unterordnung eines Einzelfalls (des „Sachverhalts44) unter die Begriffsmerkmale des Obersatzes (des „gesetzlichen Tatbestands44).56 Doch was bedeutet hier „Unterordnung 44? Engisch versucht die Frage zu beantworten, indem er den Begriff „Unterordnung 44 durch „Zuordnung44 ersetzt. Subsumtion bedeutet also die Zuordnung des in Frage stehenden Einzelfalles „zu der durch den Tatbestand gemeinten Gruppe von Fällen. 4457 Die Subsumtion eines Einzelfalls unter den gesetzlichen Tatbestand umfaßt also „im Grunde nichts anderes, als daß wir jenen Sachverhalt, den wir uns als möglicherweise oder wirklich geschehen vorstellen, im ganzen oder wenigstens in seinen ,wesentlichen Bestandteilen4 gleichsetzen denjenigen Fällen, die zweifellos durch den gesetzlichen Tatbestand gemeint und betroffen sind. 4458 Die Ermittlung der vom Gesetz gemeinten Fälle ist Aufgabe der Auslegung. 59 Im Prozeß der Gesetzesanwendung geht also die Auslegung der Subsumtion voraus. Durch jede erfolgreiche Subsumtion wird natürlich die Klasse der vom Gesetz gemeinten Fälle vergrößert; zeitlich zurückliegende Subsumtionen sind also bei der Auslegung zu berücksichtigen. Auch gescheiterte Subsumtionsversuche fuhren zu einem Auslegungsgewinn, nämlich zu einer Präzisierung des vom Gesetz Gemeinten durch Ausgrenzung der nicht mitumfaßten Fälle. Die Art und Weise, in der der gesetzliche Tatbestand sprachlich gefaßt ist, ist fur die logische Struktur der Subsumtion ohne Belang. Dasselbe gilt fur die Wahl der Auslegungsmethode. Entscheidungsinstanz des Vergleichs von zu subsumierendem Einzelfall und den vom Gesetz gemeinten Fällen ist das Rechtsgefuhl. Engisch behandelt es nur sehr

55

A.a.O., S. 22. A.a.O., S. 23. 57 A.a.O., S. 23; vgl. auch ibid., S. 25 f. 58 A.a.O., S. 26. 59 Zu ihr hat sich Engisch u.a. in : Methoden der Strafrechtswissenschaft. In: Enzyklopädie der geisteswissenschaftlichen Arbeitsmethoden. 11. Lieferung: Methoden der Rechtswissenschaft Teil 1. München 1972, S. 39 - 79 (53 - 65) geäußert. 56

III. Engischs „Logische Studien14

37

kurz, wohl in der zutreffenden Erwägung, daß eine nähere Auseinandersetzung mit diesem Phänomen - Engisch spricht auch von „Wertfuhlen" - in den Aufgabenbereich der empirischen Psychologie, nicht der Rechtstheorie, fallt. Ein besonderes Problem der logischen Analyse der Gesetzesanwendung liegt fur Engisch „in der Tatsache begründet, daß eine Gleichartigkeit des zu subsumierenden Falles mit den durch Auslegung als gesetzesbetroffen ermittelten Fällen meist nur ,in einzelnen Beziehungen4 und nur ,bis zu einem gewissen Grade4 gegeben ist. 4 4 6 0 Welche Aspekte sind nun fur den Ahnlichkeitsvergleich relevant? Die Vergleichsgesichtspunkte sind, wie Engisch hervorhebt, nicht als unveränderlich zu betrachten, wie dies Husserl 61 getan habe, sondern wandeln sich mit dem Fortschritt von Wissenschaft und Praxis. 6 2 Durch besondere sprachliche Mittel kann der Gesetzgeber bestimmte Aspekte als vergleichsrelevant auszeichnen. Die Ermittlung solcher als relevant vorgegebener Aspekte ist dann Sache der Auslegung. Im übrigen hängt die Frage, welche Aspekte der Rechtsanwender zur Grundlage des Ähnlichkeitsvergleichs wählt, davon ab, welche besonderen Interessen ihn bei dem Vergleich leiten. So könnte etwa beim Vergleich zweier Diebstähle der Dunkelheitsgrad zum Zeitpunkt der Tatbegehung eine besondere Rolle spielen, weil dies für die Frage der Strafbedürftigkeit des Angegriffenen und damit fur die Strafwürdigkeit des Angreifers besonders interessiert. Das Beispiel zeigt, daß fur Engisch die den Fallvergleich leitenden Interessen den Motiven und rechtspolitischen Vorstellungen des Rechtsanwenders entstammen, sofern sie nicht, wie oben angesprochen, vom Gesetzgeber vorgegeben sind. Engischs logische Rekonstruktion des Rechtsanwendungsprozesses erscheint mir, von der inzwischen teilweise überholten Terminologie einmal abgesehen, der nach wie vor klarste und brauchbarste Vorschlag in dieser Richtung zu sein. Das zentrale Element jeder Rechtsanwendung ist danach ein Ahnlichkeitsvergleich zwischen den vom Gesetz unzweifelhaft gemeinten Fällen und dem neu zu beurteilenden Sachverhalt. 63 Zahlreiche verfehlte Polemiken und unsägliche My stizismen wären der juristischen Methodenlehre

60

A.a.O., S. 30. Engisch verweist dabei auf Husserls Logische Untersuchungen, Bd. 2. Erster Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. 6. Aufl. Tübingen 1980, S. 112 f. 62 A.a.O., S. 34. 63 Ebenso Haft, F.: Juristische Rhetorik. 4. Aufl. 1990, S. 92 f und pass. 61

38

Β. Die traditionelle Auffassung der Gesetzesbindung

erspart geblieben, wenn man Engischs Ausführungen beizeiten mit der erforderlichen Sorgfalt studiert hätte.

IV. Das Rechtsanwendungsmodell von Alf Ross Es ist bemerkenswert, daß etwa zur gleichen Zeit, als Karl Engisch seine „Logischen Studien" verfaßte, der dänische Rechtstheoretiker Alf Ross zu einem in mehreren Punkten abweichenden Modell der richterlichen Rechtsanwendung kam. In „Imperatives and Logic" 64 setzt sich Ross mit verschiedenen Versuchen auseinander, eine Logik der Imperative zu entwickeln. Er kritisiert insbesondere den Versuch von Walter Dubislav und Joergen Joergensen65, eine Imperativenlogik mit Hilfe des Begriffs „Parallelsatz" zu begründen. 66 Da das Modell Engischs ohne eine Imperativen- oder Normlogik auskommt, sind Ross" Ausführungen insoweit nur von mittelbarem Interesse. Ross erwähnt jedoch auch den Justizsyllogismus, den er, und das ist der entscheidende Unterschied zu Karl Engisch, als einen (Pseudo-)Schluß mit einem Imperativ (dem Gesetz) als Obersatz, einer Tatsachenfeststellung im Indikativ als Untersatz und einem weiteren Imperativ als Konklusion beschreibt. Diese Fassung des Syllogismus, so meint Ross, sei die unter Juristen übliche. Würden im Syllogismus der Rechtsanwendung tatsächlich, wie Ross meint, Imperative auftreten, so wäre Engischs Rekonstruktionsvorschlag sehr problematisch. Es wäre nämlich notwendig, zunächst einmal eine geeignete Logik der Imperative bzw. Normen zu entwickeln.67 Die auf die Herausarbeitung einer derartigen Logik gerichteten Versuche haben bislang zu keinem all-

64

Ross, Α.: Imperatives and Logic. In: Theoria Bd. 7 (1941), S. 53 - 71. Dubislav, W.: Zur Unbegründbarkeit der Forderungssätze. In: Theoria 3 (1937), S. 330 - 342, auch in: Albert, H., Topitsch, E. (Hg.): Werturteilsstreit. 2. Aufl. Darmstadt 1979, S. 439 - 454. Joergensen, J.: Imperatives and Logic. In: Erkenntnis 7 (1937 / 1938), S. 288 - 296. 66 A.a.O., S. 57 ff. 67 So etwa Keuth, H.: Deontische Logik und Logik der Normen. In: Lenk, H.(Hg.): Normenlogik. Grundprobleme der deontischen Logik, Pullach 1974, S. 64 - 88. Keuth vertritt diese Ansicht, wie er mir mündlich mitgeteilt hat, auch heute noch. Anspruchsvolle moderne Darstellungen der deontischen Logik bieten: Aqvist, L.: Introduction to Deontic Logic and the Theory of Normative Systems. Neapel 1987 und Soeteman, Α.: Logic in Law. Remarks on Logic and Rationality in Normative Reasoning, Especially in Law. Dordrecht u.a. 1989. 65

IV. Das Rechtsanwendungsmodell von Alf Ross

39

gemein akzeptierten Ergebnis gefuhrt. 68 Aussichtsreicher erscheint der heute von den meisten deontischen Logikern bevorzugte Weg einer Normsatzlogik zu sein, also die Betrachtung von Aussagen über Normen. Derartige Aussagen sind wahrheitsdefinitund daher der üblichen Aussagen- und Prädikatenlogik zugänglich. Auch Engischs Rekonstruktionsversuch stützt sich auf Aussagen über geltendes Recht. Sein Modell kann also als normsatzlogisch betrachtet werden. Es erscheint jedoch sehr fraglich, ob der Syllogismus der Rechtsanwendung überhaupt in der von Ross offerierten Variante akzeptiert werden muß. Ross behauptet zwar, seine Version sei weitverbreitet und gerade unter Juristen vorherrschend, doch führt er dazu keinerlei Belege an. Mit der Möglichkeit, den Prozeß der Rechtsanwendung wie Engisch mittels einer Normsatzlogik zu rekonstruieren, setzt sich Ross gar nicht auseinander. Was könnte dagegen sprechen, den Justizsyllogismus mit Hilfe einer Normsatzlogik zu rekonstruieren? Ein erster Einwand könnte sich aus der sog. Imperativentheorie ergeben. Die Imperativentheorie behauptet, daß sich Rechtssätze als Imperative ansehen lassen.69 Diese Ansicht wird bald im Kontext einer Betonung der Staatsmacht, bald im Zusammenhang mit einer Zurückweisung des Naturrechts (auctoritas, non Veritas facit legem!), bald im Rahmen logisch-begrifflicher Untersuchungen vertreten. Schon dies zeigt, daß über den genauen Gehalt der Imperativentheorie keine Einigkeit besteht. Engisch selbst hat übrigens der Imperativentheorie die bislang gründlichste und ausführlichste Studie gewidmet70 und sich zeitlebens zu ihr bekannt.71 Die Imperativentheorie liegt auch seinen „Logischen Studien44 zugrunde, wo er ausdrücklich davon spricht, daß die gesetzlichen Imperative, um in den Syllogismus der Rechtsanwendung eingestellt werden zu können, zunächst in wahrheitsdefinite Aussagen über das Gesetz umgewandelt werden müssen.72 Die Imperativentheorie steht also nach Engischs Ansicht seiner Rekonstruktion des deduktiven Begründungsmodells nicht entgegen. Daß diese Auffassung zutreffend ist, ergibt sich daraus, daß die Imperativische Betrachtungsweise von Normen nur eine von verschiedenen möglichen Betrachtungs-

68

Vgl. aber immerhin Rescher, N.: The Logic of Commands. London, New York 1966 oder den in Fn. 67 erwähnten Aufsatz Keuths. 69 Als klassische Vertreter dieser Ansicht gelten Thon, Α.: Rechtsnorm und subjektives Recht. Untersuchungen zur allgemeinen Rechtslehre. Weimar 1878, S. 3. Bierling, E.R.: Juristische Prinzipienlehre. Bd. 1, Freiburg, Leipzig 1894, S. 30. Weitere Nachweise bei Engisch, Einfuhrung, S. 200 f. und Tammelo, I.: Contemporary Developments of the Imperative Theory of Law. In: ARSP 49 (1963), S. 255 -261. 70 Engisch, K.: Die Imperativentheorie. Diss. jur. Gießen 1923 (Masch.). 71 Zuletzt in: Einfuhrung, S. 22 - 35. 72 A.a.O., S. 4.

Β. Die traditionelle Auffassung der Gesetzesbindung

40

weisen ist, die sämtlich nicht wahr oder falsch, sondern bloß mehr oder weniger zweckmäßig sind. Man könnte nun einwenden, die Wahl einer Normsatzlogik sei zwar möglich; dadurch würden jedoch die „eigentlichen44 Beziehungen zwischen den Normen oder Imperativen nicht erfaßt. Wer so argumentiert, mißversteht den Zweck des deduktiven Begründungsmodells. Es geht gar nicht darum, die „eigentlichen44 Beziehungen zwischen Normen oder Imperativen zu erkennen; es ist auch alles andere als klar, was damit überhaupt gemeint ist. Die Logik entdeckt nicht, sondern erfindet; logische Regeln beruhen auf Konvention. Die Wahl eines bestimmten logischen Instrumentariums hängt von dem Zweck ab, den man verfolgt. Zweck des deduktiven Begründungsmodells ist es, den Prozeß der Rechtsanwendung intersubjektiv überprüfbar zu machen. Um dies zu erreichen, genügt es, wie Engisch Aussagen über das geltende Recht zu betrachten und zu fragen, ob daraus eine Aussage über eine zu verhängende Strafe etc. folgt. Es ist dazu nicht erforderlich, Gesetze als Imperative zu betrachten, auch wenn diese Perspektive sich in anderen Zusammenhängen als zweckmäßiger erweisen kann. Der Einwand, die Rekonstruktion in einer Normsatzlogik vernachlässige die „eigentlichen44 Beziehungen zwischen den Normen bzw. Imperativen, entstammt letztlich einer essentialistischen Betrachtungsweise, die in anderen Bereichen längst überholt ist. Ein weiterer Einwand gegen den Rekonstruktionsvorschlag Engischs könnte sich aus dem sog. „Ross'schen Paradoxon44 ergeben. In „Imperatives and Logic44 hatte Ross gegen Dubislav und Joergensen u.a. vorgebracht, nach ihrer Methode sei der Schluß von „Wirf den Brief in den Briefkasten! 44 auf „Wirf den Brief in den Briefkasten oder verbrenne ihn!44 möglich. Dieser Schluß sei jedoch evidentermaßen falsch. 73 Ross' Argument hat die deontischen Logiker seit den vierziger Jahren beunruhigt. Das Paradoxon taucht in jeder deontischen Logik auf, die eine disjunktive Erweiterung zuläßt, also auch in der Normsatzlogik. Es scheint jedoch, als habe man die Probleme des „Ross'schen Paradoxons44 lange Zeit nicht zutreffend eingeschätzt. Das Paradoxon stellt keinen logischen Widerspruch dar, der wegen der „Ex-falso-quodlibet-Regel 44 den entsprechenden Kalkül unbrauchbar machen würde. Es handelt sich vielmehr um ein interpretatorisches Problem. Müssen wir, wenn wir ein Verhalten akzeptieren, das der Norm ρ genügt, auch ein Verhalten akzeptieren, das ρ V q genügt, also etwa die Erfüllung von qi Dann müßten wir, wenn wir „Du sollst nicht

73

A.a.O., S. 62.

IV. Das Rechtsanwendungsmodell von Alf Ross

41

töten!44 akzeptieren, etwa auch „Du sollst nicht töten oder Du sollst stehlen!44 akzeptieren und damit das Verhalten eines Diebes gutheißen. Doch die Analogie zur Aussagenlogik ist trügerisch. Zwar ist in der Aussagenlogik ρ ρ V q eine Tautologie: Wenn ρ wahr ist, so ist auch ρ V q wahr. Daraus folgt jedoch nicht, daß auch die Eigenschaft der Akzeptabilität oder der (juristischen) Rechtmäßigkeit in der Normsatzlogik übertragen würde. Interpretiert man ρ und q als Aussagen über Normen, so ist zwar die Disjunktion ρ V q wahr, wenn ρ wahr ist. Es ist jedoch keineswegs so, daß damit jedes Verhalten, daß der von q beschriebenen Norm genügt, rechtmäßig wäre. Rechtmäßigkeit liegt vielmehr nur dann vor, wenn sich das fragliche Verhalten mit allen Normen einer Rechtsordnung vereinbaren läßt. So bleibt im obigen Beispiel der Diebstahl unrechtmäßig, weil er durch eine andere Norm verboten wird. Diese Sicht des Ross'sehen Paradoxons setzt sich in der neueren Literatur zur deontischen Logik immer mehr durch. 74 Die Normsatzlogik wird also nicht dadurch entwertet, daß in ihr das Ross'sehe Paradox auftritt; insbesondere spricht das Paradoxon nicht gegen die Möglichkeit, die Normsatzlogik für eine Rekonstruktion des Rechtsanwendungsprozesses zu verwenden, zumal eine disjunktive Erweiterung im deduktiven Begründungsmodell gar nicht auftaucht. In „Imperatives and Logic44 bringt Ross noch einen weiteren Einwand gegen den Syllogismus der Rechtsanwendung vor, der, wenn er zutreffend wäre, sowohl die auf einer Imperativenlogik beruhende als auch die auf der Normsatzlogik beruhende Version des deduktiven Begründungsmodells in Frage stellen würde. Ross bezweifelt nämlich, daß der Untersatz des Justizsyllogismus, der üblicherweise als Aussage über einen bestehenden Sachverhalt betrachtet wird, wahrheitsfahig ist. 75 So meint Ross, in (1) Waldeigentümer müssen eine Steuer bezahlen. (2) A ist ein Waldeigentümer. (3) Also muß A eine Steuer bezahlen. enthalte Prämisse (2) den nicht wahrheitsfahigen Bestandteil „Dies ist ein Wald 44 und deshalb sei (2) insgesamt nicht wahrheitsfahig. 76 Doch warum sollte der Satz „Dies ist ein Wald 44 nicht wahrheitsfahig sein? Nach Ross hängt die Wahrheitsfahigkeit des Satzes von der Möglichkeit ab, ihn zu

74 Vgl. z.B. Kutschera, F. von.: Einfuhrung in die Logik der Normen, Werte und Entscheidungen. Freiburg 1973, S. 20. 75 Imperatives and Logic, S. 70 f. 76 A.a.O., S. 71.

Β. Die traditionelle Auffassung der Gesetzesbindung

42

verifizieren: „In order that the conclusion be possible, this sentence must be true, and consequently it must be capable of being verified." 77 Verifizieren könne man einen Satz über ein konkretes Faktum aber „only by connecting it logically with a scientific theory containing the concept (,wood ( ), defined so that a series of protocol statements can be deduced from it." 7 8 Das Recht benutze jedoch nicht die Terminologie einer klar definierten wissenschaftlichen Theorie, sondern die Umgangssprache, und deshalb seien Sätze wie „Dies ist ein Wald" nicht zu verifizieren und damit auch nicht wahrheitsfahig. Diese Auffassung ist unhaltbar. Die Verifikation von Sätzen der Alltagssprache steht vor keinen grundsätzlich anderen Problemen als die Verifikation von Sätzen, die in wissenschaftlicher Terminologie formuliert sind. 79 Auch besteht der von Ross behauptete Zusammenhang zwischen der Wahrheitsfahigkeit eines Satzes und der Möglichkeit seiner Verifikation so nicht. Ross scheint hier unter dem Einfluß des eine Zeitlang von Autoren des Wiener Kreises vertretenen, inzwischen aber längst überholten positivistischen Sinnkriteriums zu stehen. Sein Argument ist denn auch meines Wissens nie aufgegriffen worden. Damit läßt sich festhalten, daß (1) die Rekonstruktion des Rechtsanwendungsprozesses mittels einer Normsatzlogik durchaus möglich ist, und daß (2) die Einwände, die Ross gegen eine auf wahrheitsdefiniten Parallelsätzen beruhende deontische Logik und gegen den Syllogismus der Rechtsanwendung erhebt, Engischs Rekonstruktionsvorschlag nicht treffen.

77 78 79

161.

Ibid. Ibid. So schon Lahtinen, O.: Zum Aufbau der rechtlichen Grundlagen, Helsinki 1951, S.

C. Das präzisierte Begründungsmodell von Koch und Rüßmann I. Vereinfachte Darstellung des Modells D e r derzeit anspruchsvollste Versuch, den Gedanken der deduktiven Entscheidungsbegründung weiter zu präzisieren, stammt von Hans-Joachim Koch und Helmut Rüßmann. 1 Für ihr Modell grundlegend ist die Unterscheidung zwischen einem Haupt- und mehreren Nebenschemata. Prämissen des Hauptschemas sind Gesetzesnormen, Auslegungen 2 dieser Normen und empirische Annahmen über den zur Entscheidung stehenden Sachverhalt. Seine Konklusion bildet die jeweilige Rechtsfolgeanordnung. I n den Nebenschemata werden die Prämissen des Hauptschemas deduktiv begründet (wobei natürlich keine zureichende Begründung intendiert ist). I m folgenden sollen das Hauptschema nur knapp skizziert und die Nebenschemata gar nicht besprochen werden. Ausgeblendet bleibt auch die Vielzahl der besonderen Anwendungsfelder,

auf denen Koch und Rüßmann ihr M o d e l l einsetzen

wollen, etwa in der Ermessenslehre? oder bei dem derzeit vieldiskutierten

1

Das Modell wurde im Rahmen eines von der DFG geforderten Forschungsprojektes entwickelt und in einem noch unveröffentlichten Bericht aus der Feder von R.Trapp (Bd.l) an die DFG vom Juni 1978 vorgestellt. Herr Prof. Dr. Koch hat mir freundlicherweise ein Exemplar dieses Berichtes überlassen, wofür ich mich auch an dieser Stelle noch einmal bedanken möchte. Eine Darstellung des Begründungsmodells findet sich auch in : Koch, H.J, Trapp, R.: Richterliche Innovation - Begriff und Begründbarkeit. In: Harenburg, J. u.a. (Hg.): Rechtlicher Wandel durch richterliche Entscheidung. Beiträge zu einer Entscheidungstheorie der richterlichen Innovation. Darmstadt 1980, S. 83 - 121 sowie in: Koch, H.J.: Das Frankfurter Projekt zur juristischen Argumentation: Zur Rehabilitierung des deduktiven Begründens juristischer Entscheidungen. In: Argumentation und Recht. Vorträge auf der Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung fur Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) in der Bundesrepublik Deutschland. München, 3. bis 6. September 1978. Hg. von Hassemer, W. u.a., Wiesbaden 1980, S. 59 - 86. Die Darstellung im Text stützt sich auf Koch, H.J., Rüßmann, H.: Juristische Begründungslehre. Eine Einführung in Grundprobleme der Rechtswissenschaft. München 1982. 2 Das Wort Auslegung ist bekanntlich mehrdeutig. Hier ist nicht die Auslegungstätigkeit, sondern das Auslegungsergebnis gemeint. 3 Juristische Begründungslehre, S. 85 - 97 und 236 - 243.

C. Das präzisierte Begründungsmodell von Koch und Rüßmann

44

Problem sog. „Prinzipienkollisionen 444. Eine Erörterung dieser Vorschläge würde in Detailprobleme fuhren, die fast ausschließlich von juristischem, nicht von philosophischem Interesse sind. Im Rahmen einer logischen Rekonstruktion des Modells der deduktiven Begründung wichtiger sind die beiden hervorstechendsten Neuerungen, die Koch und Rüßmann gegenüber dem Rekonstruktionsmodell Engischs einfuhren: Die Verwendung einer formalen Sprache (dazu unten Π.) und der Rekurs auf einige Vorschläge der modernen Semantik (dazu unten ΙΠ.). Zunächst möchte ich aber das von Koch und Rüßmann „Hauptschema" genannte Kernstück des deduktiven Begründungsmodells skizzieren. Ein vereinfachtes Modell des Hauptschemas sieht folgendermaßen aus:5 Px P2 P3

: : :

P n+2:

Κ

Ax (Tx ** 0(R(x))) Ax (M xx Tx) Ax (M^x M xx) AxiSx^Mrf

:

0(R(a))

Dabei steht Τ für den Tatbestand der Gesetzesnorm, die Prämissen P 2 bis P n + 1 enthalten Auslegungen (Koch und Rüßmann sprechen von „semantischen Interpretationen") und die Prämisse P n+2 soll „oft 44 eine empirische Behauptung darstellen, gelegentlich aber auch den Charakter einer sprachlichen Festsetzung besitzen.6 Sa steht fur die den konkreten Sachverhalt beschreibende Prämisse, 0(R(a)) fur die Feststellung der Rechtsfolge. M x bis M n bezeichnen Begriffsmerkmale. Koch und Rüßmann erläutern ihr Modell an einem Beispiel aus der Rechtspraxis. Angenommen, es gälte ein Urteil mit folgenden Prämissen logisch zu rekonstruieren: „Fj:

P 2'

4 5 6

Hat die Körperverletzung zur Folge, daß der Verletzte ein wichtiges Glied des Körpers verliert, so ist auf Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren zu erkennen. Körperverletzung Κ hatte zur Folge, daß der Verletzte eine Niere verlor.

A.a.O., S. 244 - 246. A.a.O., S. 56. A.a.O., S. 57.

I. Vereinfachte Darstellung des Modells

P3*:

P4*:

45

Wichtiges Glied ist ein Körperteil, der eine in sich abgeschlossene Existenz mit besonderer Funktion im Gesamtorganismus hat. Nieren sind Körperteile, die eine in sich abgeschlossene Existenz mit besonderer Funktion im Gesamtorganismus haben."7

Daraus soll folgen: „K:

Es ist auf Freiheitsstrafe zwischen einem und fünf Jahren zu erkennen." 8

In diesem Beispiel entspricht offensichtlich P 2 dem, was im vereinfachten Modell des Hauptschemas P n + 3 genannt wurde, während und P 4* die Stellen einnehmen, die im vereinfachten Modell P 2 bis P n+2 eingenommen haben. In einem zweiten Schritt werden diese Prämissen von Koch wie folgt symbolisiert: P x:

P 2:

„Ax Ay Αζ [(Ky A Wz A Eyz A Sxy) 0(R(x))] u „Für alle χ , fur alle y , fur alle ζ gilt: Wenn y eine Körperverletzung ist und ζ ein wichtiges Glied und y die Einbuße von ζ zur Folge hat und χ fur y strafrechtlich verantwortlich ist, dann ist es geboten, daß χ die Rechtsfolge R trifft." 9 „Ka A Nb A Eab A Sca u „Die Handlung a ist eine Körperverletzung, b ist eine Niere, a hatte die Einbuße von b zur Folge und c ist fur a strafrechtlich verantwortlich. " 1 0

Mit Ν enthält P 2 ein Prädikat, daß in P x nicht auftaucht; in P x ist vielmehr an der entsprechenden Stelle W enthalten. Diese Differenz drückt nach Koch und Rüßmann die „Kluft" zwischen Gesetzesnorm und Sachverhaltsbeschreibung aus. 11 P$* und P 4 * dienen dazu, diese „Kluft" zu schließen. In komplexen Fällen wird die Diskrepanz zwischen Sachverhaltsbeschreibung und Wortlaut der Norm natürlich nicht nur bei einem, sondern bei mehreren Tatbestandsmerkmalen auftauchen.

7

A.a.O., S. 49. Ibid. 9 Ibid. 10 Ibid. 11 A.a.O., S. 49. 8

46

C. Das präzisierte Begründungsmodell von Koch und Rüßmann

„Az (Az -> Wz) u „Für alle ζ gilt: Wenn ζ ein Körperteil ist, der eine in sich abgeschlossene Existenz mit besonderer Funktion im Gesamtorganismus hat, dann ist ζ ein wichtiges Glied." 1 2

Pf:

Pf beinhaltet also eine Auslegung - eine semantische Interpretation - des gesetzlichen Ausdrucks „wichtiges Glied". 13 Doch da in P x auch das Prädikat A nicht auftaucht, bleibt die „Kluft" zwischen Sachverhaltsbeschreibung und gesetzlichem Tatbestand weiterhin offen. Es bedarf deshalb noch der weiteren Prämisse: P4*:

„ΛziNz^AzY „Für alle ζ gilt: Wenn ζ eine Niere ist, dann ist ζ ein Körperteil, der eine in sich abgeschlossene Existenz mit besonderer Funktion im Gesamtorganismus hat." 14

Mittels Pf und P 4* ist also die „Kluft" zwischen P x und P 2 geschlossen worden. Es läßt sich nun mit verhältnismäßig wenig Aufwand zeigen, daß aus P x bis Pf tatsächlich K: 0(R(c)) logisch folgt: P s: P 6: Ρ Ί\ P %: P 9: K:

(Κα Λ Wb Λ Eab Λ Scä) Ab -*Wb Nb Ab Nb Wb Κα Λ Wb Λ Eab Λ Sca 0(R(c))

0(R(c)) (aus P x durch U S 1 5 ) (aus Pf durch US) (aus Pf durch US) (aus P 6 und P 7 durch AL) (aus P 2 und P 8 durch AL) (aus P 5 und P 9 durch AL)

Mit Hilfe der Prämissen P x bis Pf läßt sich also der Rechtsanwendungsprozeß im Nierenfall als Ableitungszusammenhang rekonstruieren. 16 Im Anschluß daran diskutieren Koch und Rüßmann noch einige Abwandlungen, die die Verwendung von Bikonditionalen notwendig machen (in dem oben wiedergegebenen vereinfachten Modell waren die Prämissen P x bis Pf von vornherein als Bikonditionale gefaßt 17). Dieses Erfordernis tritt insbesondere dann auf, wenn bei Nichterfüllung des gesetzlichen Tatbestandes eine Verneinung der Rechtsfolge ausgesprochen werden soll. 18

12 13 14 15 16 17 18

A.a.O., S. 50. Ibid. Ibid. US steht für „UniversalSpezifikation" oder „Allbeseitigung". A.A. übrigens BGHSt 28, 100 ff. Vgl. oben S. 44. Vgl. auch oben S. 33 f.

II. Das verwendete logische Instrumentarium

47

I I . Das verwendete logische Instrumentarium Ein erster wichtiger Unterschied des präzisierten Begründungsmodells zu den klassischen Vorschlägen Karl Engischs liegt in der Verwendung einer formalen Sprache. Koch und Rüßmann bezeichnen diese Sprache als eine „deontische Logik" 19 und verwenden in ihrem deduktiven Begründungsmodell den deontischen Operator Ο bei der Symbolisierung der jeweiligen Rechtsfolge. So wurde etwa im obigen Beispiel die Rechtsfolge Κ („Es ist auf Freiheitsstrafe zwischen einem und fünf Jahren zu erkennen") durch den Ausdruck 0(R(x)) symbolisiert. Andererseits ist nicht zu übersehen, daß zahlreiche typische Charakteristika der deontischen Logik bei Koch und Rüßmann fehlen. Dies gilt zwar noch nicht fur ihr Bekenntnis zu einer Normsatzlogik - sie betrachten Ausdrücke wie 0(R(x)) als wahrheitsdefinit - , denn dieser Weg wird heute von den meisten deontischen Logikern einer Imperativenlogik vorgezogen. 20 Bemerkenswerter scheint mir zu sein, daß Koch und Rüßmann auch von der in der deontischen Logik sonst üblichen Interdefinierbarkeit zwischen Erlaubnis-, Gebots- und Verbotsoperator keinen Gebrauch machen. Sie fuhren diese Regeln zwar ein 21 , verwenden sie aber in ihrem Modell der deduktiven Entscheidungsbegründung nicht. Es ist also zu fragen, ob zur Rekonstruktion des Rechtsanwendungsprozesses eine deontische Logik überhaupt erforderlich ist, oder ob nicht vielleicht die übliche Quantorenlogik ausreicht. Damit würde Occams Rasiermesser Genüge getan und die vielfältigen Probleme der deontischen Logik könnten ausgeklammert bleiben. 22 Was spricht eigentlich dagegen, R(x) als „Nach deutschem Recht ist als Rechtsfolge für die Person χ auf eine Freiheitsstrafe zwischem einem und

19

Vgl. Juristische Begründungslehre, S. 43 - 48. Vgl. obenS. 3 8 - 4 1 . 21 A.a.O., S. 43 f. 22 Manche Autoren halten eine Normlogik überhaupt für unmöglich bzw. überflüssig, so etwa Kelsen, H.: Recht und Logik. In: Forum 12 (1965), S. 421 - 425, 495 - 500; auch in: Klecatsky, H., Marcic, R. und Schambeck, H.: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Ausgewählte Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl und Alfred Verdross. Bd. 2, Wien u.a. 1968, S. 1469 - 1497 (vgl. insbes. S. 1492). Skeptisch bemerkenswerterweise nun auch der bedeutendste Pionier der deontischen Logik, G.H. von Wright, in: Norms, Truth and Logic. In: Ders.: Philosophical Papers. Bd. 1: Practical Reason. Oxford 1983, S. 130 - 209. Vgl. auch die zusammenfassende Darstellung von Weinberger, Ο.: Der normenlogische Skeptizismus. In: Rechtstheorie 17 (1986), S. 1 3 - 8 1 . 20

C. Das präzisierte Begründungsmodell von Koch und Rüßmann

48

fünf Jahren zu erkennen 4423 zu interpretieren? Es erscheint sehr fraglich, ob es im Rekonstruktionsmodell von Koch und Rüßmann eine Rolle spielt, ob die Konklusion Κ des Justizsyllogismus durch 0(R(x)) symbolisiert wird oder durch R(x). Der Ausdruck 0(R(x)) wird von Koch und Rüßmann an keiner Stelle in seine Bestandteile aufgelöst; vielmehr werden der deontische Operator Ο und der Ausdruck R(x) durchweg als Einheit betrachtet. Das Zeichen Ο hat bei Koch und Rüßmann also gar nicht die übliche Funktion eines deontischen Operators, sondern dient lediglich der Verdeutlichung, daß es sich bei R(x) um eine Rechtsfolgeanordnung handelt, einen ursprünglich präskriptiven Satz also, der für die Zwecke einer Rekonstruktion des Rechtsanwendungsprozesses in einen deskriptiven Satz umgewandelt wurde. Diese Verwendungsweise des Zeichens Ο macht die von Koch und Rüßmann verwendete Logik aber noch nicht zu einer deontischen Logik. Es handelt sich vielmehr lediglich um die altbekannte und, jedenfalls soweit sie hier relevant wird, unproblematische Quantorenlogik. Die Quantorenlogik ist reich genug, um den Prozeß der Rechtsanwendung in der von Engisch vorgeschlagenen und durch Koch und Rüßmann präzisierten Weise zu rekonstruieren. Engisch konnte also zu Recht in seiner Studie auf normenlogische Untersuchungen verzichten. Natürlich ist es, folgt man der von mir vertretenen Auffassung, ausgeschlossen, bei der Rekonstruktion des Rechtsanwendungsprozesses andere als aussagen- bzw. quantorenlogische Regeln zu benutzen. Die Probleme einer über die übliche Quantorenlogik hinausgehenden deontischen Logik können dann aber auch unberücksichtigt bleiben. Es ist mithin festzuhalten, daß das von Koch und Rüßmann verwendete Instrumentarium unproblematisch ist, weil sie gar nicht, wie manche mißverstandliche Formulierungen nahelegen könnten, eine eigengeartete deontische Logik, sondern die übliche Quantorenlogik benutzen.24

I I I . Die zugrunde gelegten sprachphilosophischen Annahmen Wie kaum eine andere Wissenschaft hat es die Jurisprudenz mit Texten zu tun. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß Rechtstheoretiker immer wieder versucht haben, Kontakte zu den zustandigen Fachdisziplinen, also der

23

Oder kürzer als: „Der Person χ soll nach deutschem Recht die Rechtsfolge R auferlegt werden". 24 So übrigens ausdrücklich Rüßmann, H.: Sprache und Recht. Sprachtheoretische Bemerkungen zum Gesetzesbindungspostulat. In: Zimmermann, J. (Hg.): Sprache und Welterfahrung. München 1978, S. 208 - 233 (S. 214 Fn. 10).

III. Die zugrunde gelegten sprachphilosophischen Annahmen

49

Linguistik und der Sprachphilosophie, zu knüpfen. 25 Diese Kontaktversuche waren natürlich von unterschiedlicher Intensität. Die Ausführungen von Koch und Rüßmann stellen in dieser Hinsicht ein besonders weitgehendes und anspruchsvolles Unternehmen dar. Dies ist in mehrerer Hinsicht problematisch. Zum einen ist es offensichtlich gerade den im vorliegenden Zusammenhang interessantesten Teildiziplinen der Linguistik, der Semantik und Pragmatik, noch nicht geglückt, zu einem einigermaßen tragfahigen Konsens über die grundlegenden Fragestellungen ihres Faches zu gelangen. Allgemein akzeptierte Lehrbücher - für die Jurisprudenz eine Selbstverständlichkeit - sind rar. Vor allem die sog. „Pragmatik" scheint sich teilweise noch in einem vorwissenschaftlichen, philosophischen Zustand zu befinden. Ein neueres Einfuhrungswerk in die Sprachwissenschaft unterscheidet nicht weniger als sechs verschiedene Bedeutungen von „Pragmatik". 26 Vokabeln wie „Diskurs", „Kommunikation", „Verständigung" usw. machen auf ein weiteres Problem der Pragmatik als Wissenschaft aufmerksam, nämlich die Gefahr, daß einzelne Autoren versuchen könnten, unter dem Deckmantel der Linguistik ihren persönlichen Überzeugungen vom Wahren, Guten und Schönen ein breiteres Publikum zu verschaffen. Wie wir unten sehen werden, sind tatsächlich einige Autoren dieser Versuchung erlegen. Schon dies macht deutlich, wie schwierig es ist, aus den genannten Teildisziplinen der Linguistik und Sprachphilosophie fur den Juristen Brauchbares von vorläufig noch Unbrauchbarem zu sondern. Koch und Rüßmann glauben, die Diskussion um die traditionell „Auslegung" genannte juristische Tätigkeit mit Hilfe des von Carnap entlehnten Begriffspaars Intension / Extension voranbringen zu können.27 Diese Begriffe seien hier als bekannt vorausgesetzt. Im obigen Beispiel lautet die Intension des Ausdrucks „Glied" : „mittels Gelenks mit dem Körper verbundener Körperteil". Extension des Ausdrucks dagegen bilden alle jene Körperteile, die die genannte Intension erfüllen. 28 Die Begriffe Intension und Extension sind bekanntlich in der Linguistik, Sprachphilosophie und

25

Vgl. die Nachweise oben S. 18 Fn. 35. Grewendorf, G., Hamm, F. und Sternefeld, W.: Sprachliches Wissen. Eine Einfuhrung in moderne Theorien der grammatischen Beschreibung. 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1989, S. 377 f. 27 Juristische Begründungslehre, S. 129 und pass. 28 A.a.O. S. 130. 26

4 Hilgendorf

C. Das präzisierte Begründungsmodell von Koch und Rüßmann

50

Wissenschaftstheorie umstritten. 29 Dies ist auch Koch und Rüßmann bewußt. Um ihre Position zu starken, diskutieren sie u.a. den ontologischen Status von Intensionen im Hinblick auf den alten Universalienstreit 30, die pragmatische Semantik von Kutscheras?1, die Vorschläge von Grice 32 und die sog. Wahrheitsbedingungensemantik, wie sie etwa von Donald Davidson vertreten wird 3 3 , Putnams Thesen zum Zusammenhang von Extension und Intension34 und andere Vorschläge aus dem Bereich der Pragmatik 35. Ihre Stellungnahme zu den genannten Problemen der linguistischen und philosophischen Semantik, die meist weit über das hinausgeht, was bislang in der Rechtstheorie gewagt wurde, macht die Position Kochs und Rüßmanns natürlich angreifbarer, als sie es ohne diesen Exkurs gewesen wäre. Es kann somit nicht verwundern, daß ihre Darlegungen Gegenstand herber Kritik geworden sind. Zuletzt hat Dietrich Busse, ein der „Strukturierenden Rechtslehre44 Friedrich Müllers nahestehender Sprachwissenschaftler, in scharfer und, um es gleich zu sagen, nicht immer ganz fairer Form die Präzisierungsbemühungen Kochs und Rüßmanns angegriffen. 36 Seine Kritik trägt den Titel: „Koch vs. Rest der Welt. 4 4 3 7 Leider belastet er seine Thesen mit ressentimentgeladenen Vorwürfen gegen eine angeblich autoritäre und extrem hierarchisch strukturierte Jurisprudenz. 38 Diese Schwachstellen seiner Kritik möchte ich jedoch beiseite lassen und mich im folgenden allein auf seine Argumente in der Sache beschränken. Der Hauptvorwurf Busses gegen Koch und Rüßmann lautet, diese operierten mit einem „essentialistischen BedeutungsbegrifF, der Bedeutungen eigenständigen Dingcharakter, einen ontologischen Status platonischer Entitäten44,

29

Vgl. etwa Davidson, D.: The Method of Extension and Intension. In: Schilpp, P.A. (Hg.): The Philosophy of Rudolf Carnap. La Salle, Illinois 1963, S. 311 - 349. (The Library of Living Philosophers vol. XI). 30 A.a.O., S. 133 - 135. 31 A.a.O., S. 136 - 139. 32 A.a.O., S. 139- 141. 33 A.a.O., S. 141 - 145. 34 A.a.O., S. 145 - 151. 35 A.a.O., S. 151 - 158. 36 Busse, D.: Was ist die Bedeutung eines Gesetzestextes? Sprachwissenschaftliche Argumente im Methodenstreit der juristischen Auslegungslehre - linguistisch gesehen. In: Müller, F. (Hg.): Untersuchungen zur Rechtslinguistik. Interdisziplinäre Studien zu praktischer Semantik und Strukturierender Rechtslehre in Grundfragen der juristischen Methodik. Berlin 1989, S. 93 - 148. 37 A.a.O., S. 97. 38 Vgl. z.B. a.a.O., S. 114, 148.

III. Die zugrunde gelegten sprachphilosophischen Annahmen

51

zuschreibe. 39 Mit der Methode von Intension und Extension bezögen sich Koch und Rüßmann auf die Prädikatenlogik, in der die Bedeutungen sprachlicher Zeichen durch Wahrheitsfunktionen ersetzt würden. 40 Ein Zeichen sei danach „dann auf einen Gegenstand anwendbar, wenn der Gegenstand die Eigenschaft enthalte, die das Zeichen ausdrückt. Eines der vielen Probleme einer solchen Sichtweise ist, daß die Angabe von Wahrheitsbedingungen noch keine Bedeutungen beschreibt. 4441 Eine derartige „intensionale Logik44 oder „intensionale Semantik44 (Busse verwendet diese Begriffe offenbar gleichbedeutend) sei durch die Dissertation von H. Bickes42 widerlegt worden. Busses Kritik ist in mehrfacher Hinsicht unzutreffend und verwirrend. Koch und Rüßmann lehnen - entgegen Busses Behauptung - eine starre Beziehung zwischen sprachlichem Zeichen und seinem Referenzobjekt in der außersprachlichen Wirklichkeit ausdrücklich ab. Welche Eigenschaft(en) ein sprachliches Zeichen ausdrücke, hänge von den in einer Gemeinschaft geltenden sprachlichen Konventionen ab: „Es gibt keine konventionsunabhängige wahre, eigentliche oder natürliche Bedeutung eines sprachlichen Ausdruckes 4443 . Damit befinden sie sich sowohl mit der gegenwärtigen Sprachwissenschaft im Einklang, als auch mit den einschlägigen Äußerungen der Wissenschaftstheorie seit den Zeiten des „Wiener Kreises 44 . 44 Nicht nur die Ergebnisse, sondern sogar die Terminologie der Wissenschaftstheorie und Logik glaubt Busse aber offenbar ignorieren zu können. Anders ist es nicht zu erklären, daß er die Prädikatenlogik als „intensionale Logik44 bezeichnet.45 Unter „intensionaler Logik44 versteht man solche logi-

39

A.a.O., S. 99. A.a.O., S. 98. Busse nennt in seiner Kritik allerdings allein den Namen Kochs. 41 Ibid. 42 Bickes, H.: Theorie der kognitiven Semantik und Pragmatik. Frankfurt a.M. 1984. Bickes diskutiert Vorschläge zum Bedeutungsproblem aus Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie und versucht im Anschluß an das strukturalistische Theorienkonzept J. D. Sneeds und Wolfgang Stegmüllers eine neue „semantisch-pragmatische" Theorie zu erstellen, die die Mängel der älteren Theorien vermeiden soll. Es handelt sich zweifellos um eine interessante und sorgfaltig ausgeführte Arbeit, wenngleich, wie in Kapitel F noch auszuführen sein wird, das struktural istische Theorienkonzept keineswegs unproblematisch ist. Trotzdem scheint es mir etwas zu weit zu gehen, wenn Busse seine These „Koch gegen den Rest der Welt" allein auf die Dissertation seines Freundes Bickes stützt. 43 Juristische Begründungslehre, S. 7. 44 Vgl. Mises, R.von: Kleines Lehrbuch des Positivismus. Einführung in die empiristische Wissenschaftsauffassung. Den Haag 1939. Hg. und eingeleitet von F. Stadler. Frankfurt a.M. 1990, S. 7 5 - 1 1 9 und pass. 45 A.a.O., S. 98. 40

52

C. Das präzisierte Begründungsmodell von Koch und Rüßmann

sehen Systeme, in denen Ausdrücke zugelassen sind, deren Extension nicht schon durch die Extension ihrer Teilausdrücke, sondern erst durch ihre Intensionen eindeutig bestimmt ist. 46 Beispiele solcher Logiken sind etwa die Modallogik oder die deontische Logik. Die extensionale Logik zeichnet sich dagegen dadurch aus, daß in ihr die Extensionen von Ausdrücken durch die Extensionen ihrer Teilausdrücke eindeutig bestimmt sind. Die Prädikatenlogik ist ein typisches Beispiel einer solchen extensionalen Logik. Busse täte somit gut daran, die unterschiedliche Bedeutung von Begriffen wie „Prädikatenlogik", „extensionale Logik 44 , „intensionale Logik 44 , „intensionale Semantik44 und „Methode von Extension und Intension44 sorgfaltiger zu beachten. Die Konventionsabhängigkeit der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke läßt sich sogar gegen Busse wenden. Das Wort „Bedeutung44 ist seinerseits ein sprachlicher Ausdruck; die Bedeutung von „Bedeutung44 ist mithin eine Frage der Festsetzung. Festsetzungen sind nicht wahr oder falsch, sondern zweckmäßig oder unzweckmäßig. Der Zweck, den die juristische Methodenlehre bei ihren Bemühungen um Gesetzesauslegung und -bindung zugrunde legt, ist die Klärung der Möglichkeiten und Bedingungen einer Bindung von Exekutive und Judikative an „Recht und Gesetz44 (Art. 20 Abs. 3 GG). Deshalb ist es nicht nur ohne weiteres möglich, sondern sogar ratsam, daß die Rechtswissenschaft dem Begriff „Bedeutung44 einen anderen Inhalt verleiht als eine empirisch verfahrende Sprachwissenschaft oder gar eine spekulative und moralisierende Version von „Pragmatik 44. Busses Vorwurf, die Methode von Intension und Extension beschreibe „noch keine Bedeutungen4447 geht mithin völlig fehl: Entscheidend ist nicht, ob Koch und Rüßmann dem von Busse favorisierten Bedeutungsbegriff folgen, entscheidend ist vielmehr, ob die von Koch und Rüßmann vorgeschlagene Fassung von „Bedeutung44 in der Jurisprudenz fruchtbar angewendet werden kann. Ein anderer, ebenfalls der „Strukturierenden Rechtslehre44 nahestehender Kritiker, Bernd Jeand'Heur 48, bejaht diese Frage, wenngleich mit einigen

46 Vgl. Wolters, G., Schroeder-Heister, P.: Artikel „Logik, intensionale". In: Mittelstraß, J. (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd.2, Mannheim u.a. 1984, S. 666 f. 47 A.a.O. S. 98. 48 Jeand'Heur, B.: Der Normtext: Schwer von Begriff oder Über das Suchen und Finden von Begriffsmerkmalen. Einige Bemerkungen zum Referenzverhältnis von Normtext und Sachverhalt. In: Müller, F. (Hg.): Untersuchungen zur Rechtslinguistik, a.a.O., S. 149 187. Bernd Jeand'Heur bezieht sich in seiner Arbeit häufig auf die jüngere französische Philosophie (Foucault, Derrida), die im deutschen Sprachraum vor allem durch Manfred Franks Vermittlungsbemühungen bekannt geworden ist. In Jeand'Heurs Kritik an Koch und Rüßmann spielen die genannten Autoren jedoch, soweit ersichtlich, keine Rolle; auch sonst

III. Die zugrunde gelegten sprachphilosophischen Annahmen

53

Einschränkungen. Seine Auseinandersetzung mit Koch und Rüßmann ist weit maßvoller als die Busses und gründet sich auch nicht auf eine einzelne, alle anderen Positionen ignorierende Strömung der Sprachwissenschaft. Ausgangspunkt Jeand'Heurs ist die zutreffende Feststellung, daß in unserer Rechtsordnung „grundsätzlich jedes rechtliche Handeln staatlicher Organe an Normtexte 44 gebunden ist. 49 Im Normtext werde auf bestimmte Sachverhalte Bezug genommen; umgekehrt hänge es von der Art der Sachverhalte ab, welche Normtexte fur die rechtliche Beurteilung einschlägig seien. Die damit angedeutete „gegenseitige Bezugnahme von Sprache auf Welt 44 nennt Jeand'Heur im Anschluß an den linguistischen Sprachgebrauch „Referenzverhältnis 44 . 50 Er weist zu Recht auf die zahlreichen sprachwissenschaftlichen Probleme hin, die mit diesem Begriff verknüpft sind. An zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts kann Jeand'Heur aber deutlich machen, daß die Vorstellung, die gesetzlichen Sprachzeichen referierten auf Eigenschaften des in Frage stehenden Sachverhalts, durchaus zu brauchbaren Ergebnissen fuhrt. Mit Hilfe sog. Merkmalsmatrizen läßt sich die merkmalsdifferenzierende Argumentationsweise der Rechtsprechung besonders anschaulich darstellen. 51 Auch der üblichen Darstellung des Justizsyllogismus liegt diese Vorstellung zugrunde. Koch und Rüßmann haben sie, wie bereits ausgeführt, mit Hilfe des Begriffspaars Intension / Extension präzisiert. Insoweit lassen sich die Ausführungen Jeand'Heurs daher nicht als Kritik, sondern eher als Bestätigung von Koch und Rüßmann verstehen. Dennoch glaubt Jeand'Heur, die sprachphilosophische Position von Koch und Rüßmann ablehnen zu müssen. Seine Auseinandersetzung mit der angegriffenen Position krankt jedoch wieder daran, daß er seinen Gegnern eine These unterstellt, die diese gar nicht vertreten: Nicht nur die Begriffsjurisprudenz, sondern der Rechtspositivismus überhaupt - und eben auch Koch und Rüßmann - behaupten nach Jeand'Heur nämlich „eine starre ,ein-zueins4 Beziehung der einzelnen Begriffselemente zu ihren jeweiligen Gegenstandsmerkmalen 4452, ein „,natürliches4 Verhältnis zwischen Sprache (Norm-

ist noch keineswegs klar, welche Auswirkungen diese neuen philosophischen Richtungen auf die Rechtstheorie haben könnten. Auf eine Auseinandersetzung kann deshalb an dieser Stelle noch verzichtet werden. 49 A.a.O., S. 149. 50 A.a.O., S. 150. 51 A.a.O., S. 152 - 160. Vgl. dazu auch ders.: Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit. Berlin 1989, S. 18 - 29. 52 A.a.O., S. 167.

C. Das präzisierte Begründungsmodell von Koch und Rüßmann

54

text) und Welt (Sachverhalt)" 53 und eine „sprecherunabhängige Referenzbeziehung zwischen Sprachzeichen und Gegenstand"54. Jeand'Heur faßt zusammen: „Da diese Ansicht auf ein quasi natürliches, vorgegebenes Referenzverhältnis von Sprache und Welt vertraut, ist es nicht die vom Sprecher / von der Sprachgemeinschaft eingeführte / tradierte Gebrauchsweise der sprachlichen Ausdrücke, welche Referenz und Wirklichkeitsmodelle erst konstituiert, übernimmt und weiterentwickelt; vielmehr stellt sich für Koch / Rüßmann die sprachliche Praxis nur als ein Reflex der angeblich schon per se existierenden, »Sprache-Welt'-Relation dar." 5 5 Jeand'Heur erhebt gegen Koch und Rüßmann also letztlich denselben Vorwurf wie Busse. Bereits oben wurde gezeigt, daß damit die Position von Koch und Rüßmann unzutreffend wiedergegeben wird. Weder Engisch noch Koch und Rüßmann haben die Existenz von sprachgebrauchsunabhängigen, invarianten Referenzregeln oder gar eine „natürliche" Referenzbeziehung zwischen Sprache und Welt behauptet. Die Problematik von Jeand'Heurs Ausführungen zeigt sich auch darin, daß er fünf Thesen, die der amerikanische Sprachphilosoph und Logiker Saul Kripke benutzt hatte, um die von Frege und Rüssel vorgeschlagene Analyse der Bedeutung von Eigennamen zu charakterisieren 56, ohne weiteres auch zur Kennzeichnung des herkömmlichen Rechtsanwendungskonzeptes verwenden zu können glaubt und sodann im Anschluß an Kripke ausführlich „widerlegt". 57 Da diese Ausführungen aber die Position von Koch und Rüßmann gar nicht treffen, brauche ich darauf nicht weiter einzugehen. Hinter den Ausführungen Jeand'Heurs und Busses scheint mir letztlich jene Vorstellung zu stehen, die auch im Zentrum der juristischen Hermeneutik gestanden hatte: Die Rechtsanwendung ist mehr als bloß ein kognitiver Prozeß. Dieser Gedanke ist durchaus zutreffend. Doch was die juristische Hermeneutik in den sechziger und frühen siebziger Jahren unter Berufung auf Heidegger und Gadamer „entdeckte"58 und was nun - diesmal nicht im hermeneutischen, sondern in einem sprachphilosophischen Gewand - wieder-

53

A.a.O., S. 185. Ibid. 55 A.a.O., S. 185 f. Vgl. auch ders.: Sprachliches Referenzverhalten, S. 33 - 37, 54 f. 56 Kripke, S.A.: Name und Notwendigkeit. Frankfurt a.M. 1980, S. 77 ff. 57 Der Normtext: Schwer von Begriff, S. 169 - 185. 58 Sie war allerdings keineswegs die einzige Strömung der Rechtstheorie, die damals mit derartigen Thesen an die interessierte Öffentlichkeit trat. Vgl. etwa den Überblick bei Schwerdtner, P.: Rechtswissenschaft und kritischer Rationalismus. In: Rechtstheorie 2 (1971), S. 67 - 94 und 224 - 244. 54

III. Die zugrunde gelegten sprachphilosophischen Annahmen

55

um als Kritik an einem vermeintlich positivistischen Begriffsdenken angeboten wird, hatte Karl Engisch schon in den vierziger Jahren weitaus präziser analysiert. Koch und Rüßmann haben diese Analyse fortgeführt. Gerade in ihrem Modell wird die Interpretationstätigkeit des Rechtsanwenders Schritt fur Schritt festgehalten und damit offengelegt, inwieweit die Rechtsanwendung nicht mehr Erkenntnis, sondern eine subjektiv gefärbte Entscheidung ist. Busse und Jeand'Heur polemisieren gegen eine Position, die zumindest in der Form, in der sie von den beiden skizziert wird, meines Wissens kaum je vertreten wurde. Die beiden erhalten damit einen Streit um Worte am Leben, der sich längst erledigt hat. Mit Recht schreibt Haft: „Die Quelle, aus der Publikationen mit Titeln wie »Gesetz und Richterspruch 4, ,Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung 4, ,Norm und Rechtsgewinnung4 usw. sprudeln, scheint unerschöpflich. Beinahe täglich wird dabei die Unvollkommenheit des Gesetzes neu entdeckt, wird auf die Suche nach Uberwindung dieser Unvollkommenheit gegangen, und wird dabei der Rechtsanwender, der Richter, neu entdeckt, der nicht nur ,1a bouche qui prononce les paroles de la loi4 im Montesquieuschen Sinne sei, sondera etwas ganz anderes und viel mehr als dieser - und über dieses „Mehr 44 läßt sich dann trefflich schreiben. 4459 Welches Fazit läßt sich aus der Betrachtung der sprachphilosophischen Kritik an Koch und Rüßmann ziehen? Mir scheint, und die Ausführungen Busses und Jeand'Heurs haben dies vielleicht bestätigt, daß sich die Sprachphilosophie und insbesondere die sog. „Pragmatik44 derzeit noch in einem Zustand befinden, der es geraten sein läßt, daß sich die Rechtstheorie angeblichen sprachphilosophischen „Erkenntnissen44 mit äußerster Skepsis nähert. Stattdessen sollte sich die rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung auf die Bedürfnisse der Jurisprudenz konzentrieren und daran die sprachphilosophischen Vorschläge messen. Die schon den Logikern von Port Royal bekannte Unterscheidung von „Begriffsinhalt 44 und „Begriffsumfang 44 hat sich in der Jurisprudenz seit langem bewährt. 60 Das Begriffspaar Intension / Extension, das Koch und Rüßmann der modernen logischen Semantik entnommen haben, knüpft an diese alte Unterscheidung an und bildet sie fort. Das Rekonstruktionsmodell von Koch und Rüßmann kann deshalb eine brauchbare Grundlage für die juristische Arbeit abgeben, wenn man es nicht mit Streitigkeiten belastet, die nicht in die Rechtstheorie, sondern in die sprachwissenschaftliche Grundlagenforschung gehören.

59 60

Haft, F.: Juristische Rhetorik. 4. Auflage Freiburg, München 1990, S. 10. Vgl. Engisch, Einführung, S. 56 - 58 mit Fn. 45a.

D. Die Kritik am deduktiven Begründungsmodell Im folgenden Kapitel möchte ich mich mit der Kritik am Modell der deduktiven Entscheidungsbegründung beschäftigen. Die Vielzahl der Auseinandersetzungen mit dem klassischen Justizsyllogismus ist gar nicht mehr zu überblicken. In jüngerer Zeit hat die Schrift Arthur Kaufmanns über „Analogie und ,Natur der Sache* al besondere Aufmerksamkeit erregt. Für unsere Zwecke eignet sie sich auch deshalb hervorragend, weil sie kurze Exkurse zu den Rechtsanwendungslehren Karl Bergbohms und Hans Kelsens erlaubt, zwei Klassikern des Rechtspositivismus, deren Rechtsanwendungskonzepte seit jeher besonders umstritten sind. Das präzisierte Modell von Koch und Rüßmann dagegen hat, soweit ersichtlich, bislang erst bei Ulfried Neumann ausführlichen Widerspruch gefunden. Mit der Kritik Neumanns möchte ich mich im zweiten Teil dieses Kapitels befassen.

I. Das Rechtsanwendungskonzept Arthur Kaufmanns In seiner Schrift geht es Kaufmann „um den Nachweis, daß jede Rechtsanwendung bzw. Rechtsfindung ihrem Wesen nach kein formallogischer Schluß, keine einfache Subsumtion ist, sondern ein analogischer Prozeß". 2 Orientierungspunkt der Rechtsanwendung sei die „Natur der Sache". Für die Abwertung der Analogie, wie sie etwa im strafrechtlichen Analogieverbot ihren Ausdruck gefunden habe, macht Kaufmann vor allem den Rechtspositivismus verantwortlich. Schon Karl Bergbohm habe erkannt, „daß es vom positivistischen Standpunkt aus so etwas wie ,Natur der Sache4 und Analogie nicht geben" dürfe 3 und Kelsen habe vertreten, Rechtsentscheidungen ließen

1

Kaufmann, Α.: Analogie und „Natur der Sache44. Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus. 2. Aufl. Heidelberg 1982. 2 A.a.O., S. 61. 3 A.a.O., S. 2.

I. Das Rechtsanwendungskonzept Arthur Kaufmanns

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sich aus den positiven Rechtsnormen „streng logisch erschließen 44.4 In Abgrenzung zu diesen angeblich rechtspositivistischen Thesen bezeichnet Kaufmann sein eigenes Rechtsanwendungskonzept als „hermeneutisch44.5 Wie darzulegen sein wird, ist Kaufmanns Darstellung der Positionen von Bergbohm und Kelsen unzutreffend. Außerdem möchte ich zu zeigen versuchen, daß der haltbare Kern von Kaufmanns Thesen durch Karl Engisch bereits vorweggenommen wurde. Dazu soll zunächst das Rechtsanwendungsmodell Arthur Kaufmanns etwas detaillierter vorgestellt werden. Kaufmanns Kemaussage lautet : „Recht ist die Entsprechung von Sollen und Sein 44 . 6 Diesen auf den ersten Blick sehr dunklen Satz erläutert Kaufmann wie folgt: „Das Recht ist eine Entsprechung, das Gesamt des Rechts mithin kein Paragraphenkomplex, keine Einheit von Normen, sondern eine Einheit von Verhältnissen, eine Verhältniseinheit. Verhältniseinheit, Entsprechung: das aber bedeutet Analogie44.7 Für sein Verständnis von Analogie glaubt Kaufmann sich auf Autoren wie Aristoteles, Thomas von Aquin, Hegel und Heidegger stützen zu können und bemüht insbesondere die Analogia-entisLehre der mittelalterlichen Theologie.8 Von dort eine Brücke zu den Problemen der Rechtsanwendung zu schlagen erscheint ihm offenbar nicht weiter schwierig. Als Beispiele allgemein akzeptierter Analogien im Recht nennt Kaufmann u.a. die Gleichsetzung von Beweiszeichen wie Korkbrand, Malerzeichen, Striche auf dem Bierfilz mit „Urkunden44 i.S.v. § 267 StGB oder die Auffassung, ein aufgehetztes Tier sei „Waffe 44 i.S.v. § 250 StGB. Vor dem Hintergrund dieser Entscheidungen sei es unverständlich, daß sich die Rechtsprechung geweigert habe, Elektrizität als eine „Sache44 i.S.v. § 242 StGB zu behandeln. Kaufmann erkennt, daß die Behauptung, zwei Sachverhalte seien einander ähnlich (und deshalb analog zu behandeln) einen bestimmten Aspekt voraussetzt, unter dem die Sachverhalte sich gleichen. Dieses „tertium

4 A.a.O., S. 15. Die Position, die Kelsen hier unterstellt wird, bezeichnet man oft als „Subsumtionsdogma". Die ebenfalls häufig verwendete Charakterisierung des Richters als „Subsumtionsapparat" oder „Urteilsmaschine" findet sich schon bei Radbruch, G.: Rechtswissenschaft als Rechtsschöpfung. Ein Beitrag zum juristischen Methodenstreit. In: Archiv für Social wissen schaft und Socialpolitik 22 (1906), S. 355 - 370 (358). Nach Jung, E.: Das Problem des natürlichen Rechts. Leipzig 1912, S. 13 stammt der Begriff „Subsumtionsautomat" von Bruno Schmidt (ohne nähere Angaben). 5 A.a.O., S. 77 ff. 6 A.a.O., S. 18. 7 Ibid. 8 A.a.O., S. 20 ff.

D. Die Kritik am deduktiven Begründungsmodell

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comparationis" erblickt er in der „Natur der Sache44. Sie sei „der Topos, in dem sich Sein und Sollen begegnen, [...] der methodische Ort der Verbindung (»Entsprechung4) von Wirklichkeit und Wert 44 , kurz „der Angelpunkt des Analogieschlusses [... und ] das Fundament des analogischen Verfahrens sowohl der Gesetzgebung als auch der Rechtsfindung. 449 Doch was meint Kaufmann mit „Natur der Sache44? Karl Engisch hat wiederholt auf die Vieldeutigkeit dieses schillernden Begriffs hingewiesen.10 Auch Kaufmann räumt die Unbestimmtheit von „Natur der Sache44 ein, glaubt jedoch mit Hilfe des sog. „Typus44 zu einer Präzisierung gelangen zu können. Den Typus bestimmt Kaufmann als „die Mittelhöhe zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen44, als „ein vergleichsweise Konkretes, ein universale in re 4 4 . 1 1 Kaufmann knüpft hier an den mittelalterlichen Universalienstreit an und bekennt sich zu einem „gemäßigten Realismus44, wonach „das Allgemeine [...] weder schon ,ante rem 4 noch bloß ,post rem 4 vorhanden , sondern [...] ,in re 4 als das von den realen Einzelnen getragene Wesen und in den verschiedenen Seienden in analoger Weise verwirklicht 44 ist. 12 Er spricht auch von der „Analogizität des Seins 44 . 13 Kaufmann scheint allerdings selbst zu bezweifeln, ob mit dieser Berufung auf die mittelalterliche Metaphysik eine den Bedürfnissen der modernen Rechtstheorie angemessene Präzisierung des Typusbegriffs zu erreichen ist, denn er schließt mit dem Heidegger-Zitat: „Beweisen läßt sich in diesem Bereich nichts, aber weisen manches.4414 Es liegt mir fern, der mittelalterlichen Metaphysik, auf die Kaufmann sich hier beruft, pauschal jeden Wert abzusprechen. Kein Geringerer als Wolfgang Stegmüller hat dem Universalienstreit eine scharfsinnige Untersuchung gewidmet und gezeigt, daß dieser Streit nach wie vor von größter Bedeutung für die Wissenschaftstheorie ist. 15 Uns steht heute freilich ein sehr viel

9

A.a.O., S. 44. Engisch, K.: Auf der Suche nach der Gerechtigkeit. Hauptthemen der Rechtsphilosophie. München 1971, S. 232 - 246; vgl. auch ders., Die „Natur der Sache" im Strafrecht. In: Festschrift für Eberhard Schmidt. Göttingen 1961, S. 90 - 121. Dreier, R.: Zum Begriff der „Natur der Sache", Berlin 1965 (Münsterische Beiträge zur Rechts- und Staatswissenschaft 9). 11 A.a.O., S. 47. 12 A.a.O., S. 56. 13 Ibid. 14 A.a.O., S. 58. 15 Stegmüller, W.: Das Universalienproblem einst und jetzt. In: Archiv für Philosophie 6 (1956), S. 192 -225 und 7 (1957), S. 45 - 81. Nachdruck Darmstadt 1965, 2. Aufl. 1967. 10

I. Das Rechtsanwendungskonzept Arthur Kaufmanns

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präziseres analytisches Instrumentarium zur Verfügung. Ohne also die Bedeutung des Universalienproblems schmälern zu wollen, erscheint es mir doch fraglich, ob ein Eingehen auf diesen Streit, ja ob überhaupt die Fülle des Bildungswissens, das Kaufmann vor seinen Leserinnen und Lesern ausbreitet, fur die Klärung des Rechtsanwendungsprozesses von Bedeutung ist. Engisch hatte, wie oben dargelegt 16, den Kern der Subsumtion als Gleichsetzung des konkreten, zu beurteilenden Falles mit den durch den gesetzlichen Tatbestand zweifellos gemeinten Fällen betrachtet. Eben diese Passage zitiert auch Kaufmann und meint, gerade darin komme der analogische Charakter der Subsumtion ganz deutlich zum Ausdruck. 17 Daraus dürfte zu folgern sein, daß Kaufmann mit „Analogie" in etwa das meint, was Engisch als „Ahnlichkeitsvergleich" angesprochen hatte. Die relevanten Vergleichsgesichtspunkte ergeben sich nach Engisch z.T. aus der Auslegung - wenn nämlich der Gesetzgeber bestimmte Aspekte als besonders vergleichsrelevant ausgezeichnet hat - und sonst aus den jeweiligen Interessen des Rechtsanwenders, der sich dabei natürlich im Rahmen des Rechts zu halten hat. Auch für Kaufmann ist die Auslegung dasjenige Verfahren, das die relevanten Vergleichsgesichtspunkte ermittelt. 18 Er scheint aber von der Auslegung noch mehr zu erwarten. Der Sinn einer Rechtsnorm, so meint Kaufmann, ließe sich allein durch Betrachtung der „Natur 44 der zu beurteilenden Lebenssachverhalte ermitteln. Diese „Natur der Sache44 aber „verweise44 auf den „Typus 44 . 19 Es scheint also, daß Kaufmann die für den Ähnlichkeitsvergleich relevanten Gesichtspunkte aus einer Betrachtung des „Typus44 gewinnen will. Die Verwendung des Typusbegriffs ist in der gegenwärtigen Rechtstheorie weit verbreitet, doch wird damit häufig ganz Unterschiedliches bezeichnet.20 Da Kaufmann aber völlig offenläßt, was er unter „Typus44 verstehen möchte, scheint mir in der Einführung dieses Begriffes kein Fortschritt gegenüber der Rechtsanwendungslehre Karl Engischs zu liegen. In jedem Fall betrifft die Differenz zwischen Engisch und Arthur Kaufmann nur die Frage nach der Herkunft der relevanten Vergleichsgesichtspunkte. Was die logische Struktur der Gesetzesanwendung angeht, so möchte ich Kaufmann jedenfalls verstehen, sind beide einer Meinung. Insofern konnte Engisch mit Recht davon

16

Vgl. oben S. 36 - 37. Analogie und „Natur der Sache", S. 38. 18 A.a.O., S. 39. 19 A.a.O., S. 47. 20 Vgl. dazu die gründliche Untersuchung von Kuhlen, L.: Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie. Berlin 1977. 17

D. Die Kritik am deduktiven Begründungsmodell

60

sprechen, Kaufmanns Rekonstruktionsvorschläge seien den seinigen „verwandt". 21 Zusammenfassend läßt sich also feststellen, daß Kaufmanns Polemik gegen das „Subsumtionsdogma44 die Vorschläge Karl Engischs und damit auch die neueren Präzisierungsvorschläge von Koch und Rüßmann nicht trifft. Kaufmanns eigentlicher Gegner ist der Rechtspositivismus, so wie er ihn sieht. Einer der prominentesten Rechtspositivisten war Karl Bergbohm. Kaufmanns Kritik an Bergbohm möchte ich mich jetzt zuwenden.

I L Die Rechtsanwendungslehre Karl Bergbohms Karl Bergbohm gilt als der „Klassiker des Rechtspositivismus4422, sogar als „Wortführer 44 dieser Bewegung23. Diese herausgehobene Rolle steht in einem merkwürdigen Gegensatz zu der Tatsache, daß Bergbohms Werk wissenschaftlich kaum erfaßt ist. Die Auseinandersetzung mit ihm scheint sich auf die Wiedergabe einiger aus dem Zusammenhang gerissener Passagen seines Hauptwerks „Jurisprudenz und Rechtsphilosophie44 von 1892 nebst Hinzufugung bewegter Verurteilungen zu beschränken.24 Kaufmanns Polemik gegen Bergbohm ist hierfür ein typisches Beispiel. Bergbohms Grundanliegen ist die Kritik des Naturrechts. Unter „Recht44 versteht er auschließlich das positive Recht. Er weist jedoch ausdrücklich darauf hin, er wolle nicht behaupten, „alles positive sei auch gutes, gerechtes, vernünftiges Recht. 4425 Rechtswissenschaft und Rechtspolitik müssen streng auseinandergehalten werden; die „Motive, Ideen, Zwecke44 der letzteren sind noch nicht „Recht44. Gleichzeitig bekennt sich Bergbohm zu den politischen Bestrebungen der Naturrechtslehren des 17. und 18. Jahrhundert 26 ; die Rechtszustände jener Zeit erscheinen ihm „zumeist schlechthin entsetzlich4427 und er bemerkt, unter dem Deckmantel des Vernunftrechts sei „eine gewaltige kritische Arbeit geleistet44 worden. Insofern sei das Vernunft-

21

Engisch, K.: Einführung in das juristische Denken, S. 213 Fn. 45 a. Kaufmann, a.a.O., S. 2. 23 Larenz, Methodenlehre, S. 35 Fn. 42. 24 Dies gilt auch für die bislang einzige umfangreichere Arbeit zu Bergbohm von Kass, R.: Karl Bergbohms Kritik der Naturrechtslehre des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Diss, iur. Kiel 1973. 25 Bergbohm, K.: Jurisprudenz und Rechtsphilosophie. Bd. 1. Leipzig 1892, S. 145. 26 A.a.O., S. 204 - 220. 27 A.a.O., S. 205. 22

II. Die Rechtsanwendungslehre Karl Bergbohms

61

recht „ein wirksames Mittel im Kampfe um die Gestaltung des Rechts" gewesen.28 Es war jedoch nicht selbst „Recht44 i.S. des positiven Rechts. Die in der Nichtbeachtung dieses Unterschiedes liegende terminologische Verwirrung habe für die juristische Praxis „die allertraurigsten Folgen44, nämlich populärphilosophische Spekulation bei den Rechtslehrern und hemmungslose „Einmischung subjektiver Rechtsvorstellungen44 bei den Praktikern gehabt.29 Diesem Zustand mochte Bergbohm durch eine kritische Untersuchung der Verbreitung naturrechtlicher Argumentationsverfahren in der Jurisprudenz und eine anschließende „Reinigung der Terminologie 4430 abhelfen. Soweit zum rechtsphilosophischen Programm Bergbohms. Wer Klarheit liebt und nicht über terminologische Fragen, sondern Sachprobleme streiten möchte, kann Bergbohms aufklärerisches Projekt nur sympathisch finden. Im folgenden möchte ich mich aber nur mit Kaufmanns Kritik an Bergbohm auseinandersetzen. Bergbohm habe, so meint Kaufmann, „ganz richtig erkannt, daß es vom positivistischen Standpunkt aus so etwas wie ,Natur der Sache4 und Analogie nicht geben darf. Und was es nicht geben darf, das gibt es nach Palmströmscher Logik bekanntlich auch nicht. 4431 Natur der Sache und Analogie seien nach positivistischer Auffassung lediglich Mittel, „im Namen der Billigkeit das positive Rechts zu paralysieren 44.32 Voraussetzung dieser Auffassung sei die Ansicht, das positive Recht habe keine Lücken. Bergbohms Auffassung, so meint Kaufmann, sei „nur eine ganz logische Konsequenz des Positivismus-Dogmas, wonach Gesetz und Recht identisch44 seien.33 Kaufmanns Kritik ist in allen wesentlichen Punkten unhaltbar. Zunächst ist Bergbohm keineswegs der Ansicht, Gesetz und Recht seien identisch, wenn man, wie Kaufmann es tut, mit „Gesetz44 das positive Recht, mit „Recht44 dagegen eine überpositive Normen- oder Werteordnung meint. Das ergibt sich schon aus den oben angeführten Bemerkungen Bergbohms über die rechtspolitische Funktion des Vernunftrechts im Zeitalter der Aufklärung. An anderer Stelle erklärt Bergbohm ausdrücklich: Ein „Jurist darf nicht das Recht mit den Gesetzen verwechseln, sonst gerät er in unvollziehbare Vor-

28

A.a.O., S. 209 f. A.a.O., S. 223 ff. 30 A.a.O., S. 104. 31 A.a.O., S. 2. 32 So in der Tat die von Kaufmann, a.a.O., S. 2 f zitierte Formulierung Bergbohms, a.a.O., S. 353. 33 A.a.O., S. 3. 29

D. Die Kritik am deduktiven Begründungsmodell

62

Stellungen hinein". 34 Er meint mit „Recht" hier allerdings nicht das Naturrecht, sondern ein nicht unmittelbar aus den Gesetzen ablesbares positives Recht. Besonders wichtig ist nach Bergbohms Ansicht die Unterscheidung zwischen Recht und (positiven) Gesetzen bei der Analyse des Lückenproblems. Seine Kritik richtet sich gegen die Behauptung, daß das positive Recht Lükken habe, die mit durch den Richter festzustellendem „ideellem" Recht gefällt werden müßten. Eine derartige „Lücke" würde bedeuten, daß das gegebene Rechtssystem „die Antwort versage auf Fragen, die entschieden Rechtsfragen sind, daß es schweige auf die Fragen: Ist diese oder jene Handlung rechtmäßig oder unrechtmäßig? und welche Rechtsfolgen resp. Unrechtsfolgen soll sie haben?"35 und ähnliche Probleme. Derartige Lücken existieren nach Bergbohms Ansicht nicht. Um seine These zu verdeutlichen, unterscheidet Bergbohm zwei verschiedene Bedeutungen des Begriffs „Rechtslücke". Im ersten Fall „bildet das hinzugebrachte Recht eine ausdehnende Ergänzung des angeblich unvollständigen Rechtssystems."36 Dem liegt die Vorstellung zugrunde, daß eine gegebene Rechtsordnung nur an einen geringen Teil der in ihrem Geltungsbereich gelegenen Sachverhalte Rechtsfolgen knüpft. Der Rest fallt in den sog. „rechtsleeren Raum", den Bergbohm auch das „Gebiet der reinen »Freiheit4" oder das „Gebiet des reinen Beliebens" nennt. 37 Darüber, was rechtlich geregelt sein sollte und was nicht, kann natürlich gestritten werden; mit der jeweils gegebenen Abgrenzung „ist [...] kein Beobachter jemals vollkommen einverstanden, auch der positivste Jurist mit der stärksten Neigung zum Quietismus nicht." 38 Nur ist sich der Positivist darüber im klaren, „daß seine abweichende Meinung vorläufig noch keine Änderung des objektiv vorliegenden Zustandes begründet." Er wird also nicht die Existenz einer Lücke behaupten, um diese Lücke dann mit „ideellem" Recht zu schließen. „Von seinem Standpunkt ist hier gar keine Lücke im Recht, sondern ein rechtsleerer Tatsachenraum um das Recht vorhanden; Fragen, welche dem letzteren angehören, sind für ihn keine Rechtsfragen mehr",

34

Bergbohm, K.: Besprechung von Luitpold von Hagens: Staat, Recht und Völkerrecht. Zur Kritik juristischer Grundbegriffe. Rechtswissenschaftliche Erörterungen. München 1890. In: Archiv für öffentliches Recht VI (1891), S. 159 - 163 (160). 35 Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, S. 372. 36 A.a.O., S. 374 f. 37 A.a.O., S. 376 Fn. 7. 38 A.a.O., S. 379.

II. Die Rechtsanwendungslehre Karl Bergbohms

63

sondern betreffen „juristische Adiaphora 44 . 39 Der Rekurs auf ein angebliches ideelles Recht bedeutet danach nicht die Schließung von „Lücken44 innerhalb des positiven Rechts, sondern eine „ausdehnende Ergänzung44 des Rechtssystems. Anders verhält es sich, wenn man eine zweite Bedeutung von „Rechtslücke44 zugrundelegt. Hier handelt es sich um „eine stellenweise Ausfüllung ohne Erweiterung der äußeren Grenzen des Rechts 44 . 40 Bergbohm spricht auch von „Lücken im engeren Sinn 44 . 41 Sie liegen dann vor, wenn der Jurist „in dem betreffenden positiven Recht Entscheidungen auf Fragen [sucht], die jedenfalls den grundsätzlich in den Bereich dieses Rechtes einbezogenen menschlichen Verhältnissen u.s.w. angehören, über welche es aber trotzdem im konkreten Fall - schweigt. 4442 An diesem Punkt differenziert Bergbohm weiter: Gelangt der Rechtsanwender zu der Uberzeugung, dem positiven Recht keine Entscheidung des Falles entnehmen zu können, „so ist rückwärts die angebliche Rechtsfrage für eine unjuristische erklärt - sie fallt in den erwähnten ,rechtsleeren Raum444 . 4 3 In diesem Fall hat sich also der Jurist einer rechtlichen Entscheidung zu enthalten. Kann die scheinbare Lücke dagegen mit juristischen Hilfsmitteln geschlossen werden - und Bergbohm merkt an, daß der Richter üblicherweise eine Entscheidung treffen muß - so bleibt die Entscheidung rechtlicher Natur, fallt also nicht in den „rechtsleeren Raum44. An anderer Stelle spricht Bergbohm davon, daß die Anwendung der Gesetze methodisch oft vor „großen Schwierigkeiten44 stehen könne. 44 Es ist offensichtlich, daß Bergbohms Behandlung des Lückenproblems durchaus noch präzisierungsfahig ist. 45 In seiner jetzigen Form scheint mir Bergbohms Argumentationsgang analytisch zu sein: Läßt sich eine Entscheidung aus dem Gesetz mit rechtlichen Mitteln herleiten, so handelt es sich um eine Rechtsentscheidung, wenn nicht, so fallt die Entscheidung in den

39

Ibid. A.a.O., S. 375. 41 A.a.O., S. 381. 42 Ibid. 43 Ibid. 44 Bergbohm, K.: Abwehr gegen „Ein Wort über die Jurisprudenz und das juristische Studium der Gegenwart". In: Baltische Monatsschrift 25 (1897), S. 581 - 636 (596). 45 Vgl. dazu allgemein Engisch, K.: Der Begriff der Rechtslücke - Eine analytische Studie zu Wilhelm Sauers Methodenlehre. In: Festschrift für Wilhelm Sauer. Berlin 1949, S. 85 - 102. Ders.: Der rechtsfreie Raum. In: Zeitschrift für Staatsrechtswissenschaft 108 (1952), S. 385 - 430. Auch in: Engisch, K.: Beiträge zur Rechtstheorie. Hg. von Bockelmann, P., Kaufmann, A. und U.Klug. Frankfurt a.M. 1984, S. 9 - 64. Vgl. ferner den Sammelband von Perelman, Ch.: Le problème des lacunes en droit. Brüssel 1968. 40

64

D. Die Kritik am deduktiven Begründungsmodell

„rechtsleeren Raum". Bei einer derartigen Konzeption können Lücken im Recht natürlich nicht auftauchen. Überdies wäre es interessant, etwas mehr über jene „Hilfsmittel" zu erfahren, die Bergbohm bei der Gesetzesauslegung anwenden will. Leider scheint er sich dazu nirgendwo ausführlicher geäußert zu haben. Hier kam es jedoch nur darauf an, zu zeigen, daß Bergbohms Ansichten zu dem Lückenproblem keineswegs ein Bekenntnis zu einem „Subsumtionsdogma" enthalten. Weder behauptet Bergbohm, Gesetz und Recht seien identisch, noch ist er der Ansicht, Rechtsfindung erschöpfe sich in einer quasi automatischen Subsumtion. Auch Bemerkungen zur Analogie und zur „Natur der Sache" finden sich bei Bergbohm. Kaufmann zitiert Bergbohms „zynische"46 Bemerkung, noch immer treibe „tropisches Recht unter dem unschuldigen Namen der Analogie sein Wesen; noch immer möchte man der Natur der Sache eine Rechtsnorm abzwingen, die noch nicht da ist; noch immer sucht ein unordentliches und umherschweifendes Billigkeitsgefuhl im Namen der Billigkeit das positive Recht zu paralysieren." 47 Leider macht Kaufmann nicht deutlich, daß Bergbohm in dem zitierten Satz seinerseits zitiert. 48 Er scheint auch nicht bemerkt zu haben, daß Bergbohm hier nicht die Analogie und die Natur der Sache als solche kritisiert, sondern lediglich ihre Verwendung als „Schlupfwege" des Naturrechts. 49 Damit dürfte Bergbohm bei der ganz überwiegenden Mehrzahl der heutigen Rechtstheoretiker und Rechtsdogmatiker Zustimmung finden. Nur diese Funktion der Analogie und des Denkens aus der „Natur der Sache" lehnt Bergbohm ab; ansonsten scheint es ihm „klar zu sein, [ ... daß ] Analogie eine Schlußform, Natur der Sache bezw. [sie] Geist der Rechtsordnung Direktionsmittel und zwar durch ein vorausgegangenes Denken aus den »Quellen4 bedingte Direktionsmittel [...] sind". 50 Ganz ähnlich werden auch heute noch Analogie und „Natur der Sache" bestimmt. Es bleibt also festzuhalten, daß Kaufmanns Kritik an Bergbohm in allen ihren wesentlichen Punkten unzutreffend ist. Bergbohm wird eine Position

46

A.a.O., S. 2. Warum diese Bemerkung zynisch sein soll, ist mir unerfindlich. A.a.O., S. 2 f. 48 Die Passage von „tropisches Recht" bis „Analogie" stammt von Seidensticker, J.A.L.: Juristische Fragmente, Bd.l, Göttingen 1802, S. 196; die Formulierung „unordentliches und umherschweifendes Billigkeitsgefühl" von Schmidt, L.E.W. : Grundsätze des gemeinen und preußischen Pfandrechts, Breslau 1840, S. V, vgl. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, S. 352 f. 49 Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, S. 352. 50 A.a.O., S. 384 Fn. 10; vgl. auch S. 468 f; S. 474 Fn. 52. 47

II. Die Rechtsanwendungslehre Karl Bergbohms

65

unterstellt, die er gar nicht vertreten hat. Kaufmanns Versuch, Bergbohm als Verteidiger des „Subsumtionsdogmas44 zu identifizieren, ist damit gescheitert.

I I I . Die Rechtsanwendungslehre Hans Kelsens Im folgenden soll gezeigt werden, daß auch Hans Kelsen, den Kaufmann als weiteren Exponenten des Subsumtionsdogmas nennt, diese Position keineswegs vertreten hat. Anders als Bergbohm hat Kelsens Rechtsanwendungslehre schon mehrfach kompetente Darstellungen gefunden 51, so daß ich mich bei ihm auf eine knappe Zusammenfassung beschränken kann. Ausgangspunkt der Interpretations-und Rechtsanwendungslehre Kelsens ist die bekannte Vorstellung vom Stufenbau der Rechtsordnung. Unter Interpretation einer Norm versteht Kelsen „ein geistiges Verfahren, das den Prozeß der Rechtsanwendung in seinem Fortgang von einer höheren zu einer niedrigeren Stufe begleitet."52 Interpretiert werden nicht nur die Gesetze, sondern auch die Verfassung und niedere individuelle Normen wie Gerichtsurteile oder Verwaltungsbescheide. Grundsätzlich bestimmt die Norm höherer Stufe die Art und Weise, wie die Norm niederer Stufe erzeugt wird, so etwa im Verhältnis Verfassung / Gesetz oder Gesetz / richterliches Urteil. Diese Bestimmung ist jedoch niemals vollständig. „Die Norm höherer Stufe kann den Akt, durch den sie angewendet wird, nicht nach allen Richtungen hin binden. Stets muß ein bald größerer, bald geringerer Spielraum freien Ermessens bleiben, so daß die Norm höherer Stufe im Verhältnis zu dem sie anwendenden Akt der Normerzeugung oder Vollstreckung immer nur den Charakter eines durch diesen Akt auszufüllenden Rahmens hat." 53 Der Freiraum des Rechtsanwenders kann sich sowohl auf den Tatbestand als auch auf die Rechtsfolge beziehen; er kann von dem die anzuwendende Norm setzenden Organ beabsichtigt sein oder nicht. Innerhalb des durch Interpretation erkannten Rahmens sind mehrere Entscheidungen möglich, „die alle sofern sie nur an dem anzuwendenden Gesetz gemessen werden - gleichwertig sind, wenn auch nur eine einzige von ihnen im Akt des rechtsanwenden-

51

Ζ. B. bei Larenz, Methodenlehre, S. 77 - 81. Kelsen, H.: Reine Rechtslehre. Mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit. Unv. Nachdruck der 2. Aufl. Wien 1960, Wien 1985, S. 346; fast gleichlautend die Definition in: Zur Theorie der Interpretation. In: Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts 8 (1934), S. 9 - 17. Auch in: Klecatsky, H., Marcie, R. und Schambeck, H.: Die Wiener rechtstheoretische Schule. Ausgewählte Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl und Alfred Verdross. Bd. 1, Wien u.a. 1968 , S. 1363 - 1373 (S. 1363). 53 Reine Rechtslehre, S. 347. 52

5 Hilgendorf

D. Die Kritik am deduktiven Begründungsmodell

66

den Organs, insbesondere des Gerichts, positives Recht wird." 5 4 Damit wendet sich Kelsen gegen die Ansicht55, die Norminterpretation könne eine bestimmte Rechtsanwendung bzw. Entscheidung als die allein richtige auszeichnen. Zur Auszeichnung einer bestimmten Rechtsanwendung bedarf es vielmehr eines Willensaktes, einer Entscheidung: „In der Anwendung des Rechtes durch ein Rechtsorgan verbindet sich die erkenntnismäßige Interpretation des anzuwendenden Rechtes mit einem Willensakt, in dem das rechtsanwendende Organ eine Wahl trifft zwischen den durch die erkenntnismäßige Interpretation aufgezeigten Möglichkeiten." 56 Welche Entscheidung dabei getroffen wird, ist kein rechtstheoretisches, sondern ein rechtspolitisches Problem. 57 Dabei spielen auch Normen der Moral und soziale Werturteile in den Entscheidungsprozeß hinein. Neben der Interpretation von Normen durch Rechtsorgane kennt Kelsen noch eine Interpretation durch die Rechtswissenschaft. Während erstere authentisch ist, also Recht schafft, soll sich nach Kelsen die Interpretation durch die Rechtswissenschaft auf die Erkenntnis des durch die Norm vorgegebenen „Rahmens" beschränken. Die Entscheidung zwischen den von ihr aufgezeigten Möglicheiten hat sie dem zuständigen Rechtsorgan zu überlassen. In dieser Zurückhaltung liegt der Gegensatz zwischen Rechtswissenschaft und Rechtspolitik. Kaufmanns These, fur Kelsen sei die konkrete richterliche Entscheidung allein aus dem Gesetz ableitbar, ist also unhaltbar. Kelsens Interpretations und Rechtsanwendungslehre räumt dem Rechtsanwender sogar eine weit größere Freiheit ein, als dies in der traditionellen juristischen Methodenlehre der Fall ist. Kelsen ist deshalb auch scharf kritisiert worden. 58 Dieser Umstand zeigt mit aller Deutlichkeit, wie schablonenhaft die Auseinandersetzung

54

A.a.O., S. 349. Diese Auffassung wird in der Rechtstheorie allerdings heute nicht mehr vertreten. So meint etwa Larenz, der Ausleger wolle zwar „nur den Text selbst zum Sprechen bringen". Er verhalte sich dabei jedoch „niemals nur rein passiv" (Methodenlehre, S. 299). Vgl. aber auch die Diskussion zu der Frage, inwieweit die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe richterlich überprüft werden kann, dazu Maurer, H.: Allgemeines Verwaltungsrecht. 6. Aufl. München 1988, S. 105 - 120. 56 A.a.O., S. 351. 57 A.a.O., S. 350. 58 Vgl. etwa Betti, E.: Ergänzende Rechtsfortbildung als Aufgabe der richterlichen Gesetzesauslegung. In: Festschrift für Leo Raape zu seinem siebzigsten Geburtstag 14. Juni 1948. Hg. von Ipsen, Η.Ρ. Hamburg 1948, S. 379 - 399 (383 - 387). Larenz, Methodenlehre, S. 79 - 81 f. Rupp, H.H.: Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre. Verwaltungsnorm und Verwaltungsrechtsverhältnis. Tübingen 1965, S. 193. 55

I I . Die Rechtsanwendungslehre

a

es

67

um das deduktive Begründungsmodell von einem Teil der Rechtstheoretiker in der Vergangenheit gefuhrt wurde. Eine derart grobe Verfälschung der gegnerischen Position läßt sich Ulfried Neumann, dem bislang wichtigsten Kritiker des präzisierten Begründungsmodells von Koch und Rüßmann, nicht vorwerfen. Dennoch scheint mir auch seine Kritik im wesentlichen unhaltbar zu sein, wie nun zu zeigen sein wird.

IV. Die Kritik Neumanns am präzisierten Begründungsmodell Neumann räumt zunächst ein, daß das alte und, wie wir gesehen haben, notorisch unzutreffende Standardargument gegen Vertreter eines deduktiven Begründungsmodells, wonach diese sich den Richter als einen Subsumtionsautomaten vorstellen, dessen Entscheidungstätigkeit durch Logik vollständig determiniert sei, Koch und Rüßmann nicht trifft. Ihrem Präzisierungsvorschlag liegt ausdrücklich die Trennung von Deduktivitätspostulat und Gesetzesbindung zugrunde. 59 Neumann ist aber der Ansicht, daß nicht nur das Gesetzesbindungs-, sondern auch das Deduktivitätspostulat unhaltbar ist. Er erklärt, ein Allsatz wie Ax (Mx

Fx)

(Für alle χ gilt: Wenn χ ein Mörder ist, soll χ mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werden.)

„begründe [...] den singulären Satz Ma Fa nicht, sondern behaupte [...] ihn" nur. 60 Die Rekonstruktion der Gesetzesanwendung im deduktiven Modell sei deshalb zirkulär. 61 Diese zunächst einigermaßen überraschende Behauptung erläutert Neumann durch folgende logische Überlegungen: Der Allsatz Λχ (Mx Fx) sei „eine Abkürzung fur (Ma Fa) A (Mb Fb) Λ (Me Fe) Λ ... Λ (Μη Fn) 4 4 . 6 2 Deshalb werde im deduktiven Begründungsmodell letztlich (Ma Fa) durch (Ma Fa) begründet. Dieses Phänomen zeigt sich nach Neumanns Ansicht nicht nur bei Allsätzen, sondern gelte für die gesamte (klassische?) Logik: „Jede Satzmenge (i.S. einer Menge ausdrücklich formulierter Sätze) beinhaltet alle Sätze, die logisch aus ihr ableitbar sind." 63 Deshalb hat „die logische Begründung [...] notwendig die Struktur einer petitio prineipii: Sie kann nur zeigen, daß bestimmte Behaup-

59 60 61 62 63

Juristische Begründungslehre, S. 69 und pass. Juristische Argumentationslehre, S. 19. Ibid. und S. 25. A.a.O, S. 19. Ibid.

D. Die Kritik am deduktiven Begründungsmodell

68

tungen andere Behauptungen beinhalten (z.B. die Behauptung Ax (Mx Fx) die Behauptung (Ma -» Fa)); sie kann aber diese Behauptung nicht begründen, weil das auf eine Begründung durch das zu Begründende hinauslaufen würde." 64 Für logische Schlußschemata sei im übrigen die Trennung von Prämissenbegründung und Ableitung kennzeichnend; mit Hilfe einer bloß hypothetisch geltenden Prämisse lasse sich jedoch auch im Verfahren der logischen Ableitung nichts begründen, denn „,begründen4 in einem argumentationstheoretisch und argumentationspraktisch relevanten Sinn kann man eine Behauptung selbstverständlich nicht mit Hilfe von Prämissen, die lediglich hypothetisch angenommen wurden. 4465 Gegen Neumann Ausführungen lassen sich (zumindest) die folgenden Einwände erheben: Zunächst scheint ein Mißverständnis über die im deduktiven Begründungsmodell zu begründende Aussage vorzuliegen. Neumann geht offensichtlich davon aus, begründet werden müsse das materiale Konditional Ma Fa , also etwa der Satz: Wenn Anton ein Mörder ist, dann ist Antoli zu strafen. Im von Koch und Rüßmann „Hauptschema44 genannten Teil ihres Begündungsmodells findet sich dagegen als Konklusion, d.h. als zu begründender Satz, nur die konkrete Rechtsfolgeanordnung, also Fa. Die Aussage Ma gehört dagegen zu den Prämissen des Hauptschemas. Neumann legt zwar seinen Ausführungen ein einfacheres Schema zugrunde, nämlich „ (1)

Ax (Mx

(2)

Ma

(3)

Fx)

Fa" 66,

doch gehört auch nach diesem Schema der aus (1) durch Universalspezifikation gewonnene Satz ( Γ ) : Ma Fa zu den Prämissen des Justizsyllogismus. Dessen Ziel ist es, die Rechtsfolgeanordnung Fa zu begründen. Neumann geht also bei seiner Kritik des deduktiven Begründungsmodells von unzutreffenden Voraussetzungen aus. Ein zweites Problem liegt in Neumanns Verwendung des Wortes „beinhalten44 im vorliegenden Kontext. Ist es wirklich zutreffend, wenn Neumann behauptet, eine Satzmenge „beinhalte44 alle Sätze, die logisch aus ihr ableit-

64 65 66

A.a.O., S. 20. A.a.O., S. 21. A.a.O., S. 18.

IV. Die Kritik Neumanns am präzisierten Begründungsmodell

69

bar sind?67 Nehmen wir das fragliche Verb wörtlich (beinhalten^ und untersuchen eine Satzmenge M, die nur aus einem einzigen Element A bestehen soll. Aus A folgt logisch (A V 5). Die Satzmenge M jedoch beinhaltet! (A V B) nicht. Es ist mithin unzutreffend, daß eine Satzmenge alle Sätze beinhaltet^ die logisch aus ihr bzw. ihren Elementen ableitbar sind. Nehmen wir dagegen „beinhalten" in einem übertragenden Sinn (beinhalte^), so fragt sich, was das Verb nun bedeuten soll. Die einzige plausible Antwort scheint zu sein, den Ausdruck auf die logische Ableitbarkeit zu beziehen. „A beinhalte^ Β" ist dann äquivalent zu „5 folgt logisch aus A". Eine andere Deutung scheint mir in diesem Zusammenhang kaum möglich. Dieses Verständnis von „beinhalten" hat jedoch für Neumanns Position ernste Folgen: Seine These wird trivial, denn sie lautet nur noch: Aus jeder Satzmenge folgen alle Sätze, die logisch aus ihr ableitbar sind. Das ist eine Tautologie. Ein weiteres Problem ergibt sich aus dem von Neumann behaupteten Verhältnis des Allsatzes Ax (Mx Fx) zu den singulären Sätzen (Ma Fa)> (Mb Fb) usw. Neumann behauptet, der erwähnte Allsatz sei „eine Abkürzung für (Ma Fa) Λ (Mb Fb) Λ (Me Fe) Λ ... Λ (Μη Fn)." 6 8 Dies ist jedoch unrichtig. Der Ausdruck Λχ (Mx Fx) besitzt als echter Allsatz 69 einen unendlichen Individuenbereich und ist somit eine „Abkürzung" nicht nur der von Neumann genannten singulären Sätze (d.h. äquivalent zu ihnen), sondern zudem von (M n+i Fn+1), (Mi+2 ^n+2) u s w · Diese Verwechslung von echtem und unechtem Allsatz gewinnt zusätzliches Gewicht, wenn man sie mit Neumanns Behauptung vergleicht, „daß man erst dann weiß, ob wirklich alle Mörder bestraft werden sollen [damit ist offensichtlich die generelle Prämisse im Justizsyllogismus gemeint], wenn man weiß, ob auch der Mörder Anton bestraft werden soll". 70 Mit dieser Behauptung versucht Neumann sein Zirkularitätsargument weiter zu stützen. Dem dürfte jedoch eine unzutreffende Vorstellung über die Herkunft der generellen Prämisse des Syllogismus zugrunde liegen. Der Jurist, der im Justizsyllogismus einen Rechtsfall rekonstruiert - etwa um den Gedankengang des Rechtsanwenders einer kritischen Analyse zu unterziehen - gewinnt seinen Allsatz nicht etwa durch die Beobachtung und Verallgemeinerung vieler Einzel falle (Ma Fa), (Mb Fb), (Me Fe) usw.,

67

A.a.O., S. 19. Ibid. 69 Popper, Logik der Forschung, S. 34 f spricht von „spezifisch allgemeinen" und „numerisch allgemeinen" Sätzen. Nur „numerisch allgemeine" Sätze können durch eine Konjunktion von endlich vielen singulären Sätzen ersetzt werden. 70 Juristische Argumentationslehre, S. 19. 68

D. Die Kritik am deduktiven Begründungsmodell

70

sondern durch eine Umformulierung des gesetzlichen Imperatives „Alle Mörder sollen bestraft werden! 44 in einen wahrheitsdefiniten Allsatz. Neumanns Ausführungen klingen dagegen so, als sei er der Ansicht, um den Allsatz zu formulieren, müsse man zunächst sämtliche Einzelfalle kennen. Dies ist aber natürlich unmöglich, denn da es sich um einen echten Allsatz handelt, ist es ausgeschlossen, jemals alle Anwendungsfalle des Gesetzes in Erfahrung zu bringen. Im übrigen ist in der Logik die Frage der Prämissenbegründung streng von der Frage der Gültigkeit einer Ableitung zu trennen. Mit Hilfe eines gültigen logischen Schlusses lassen sich lediglich aus als wahr anerkannten Prämissen wahre Konklusionen ableiten. Das Problem, woher man wisse, ob die Prämissen denn tatsächlich wahr sind, ist kein logisches Problem. Dies weiß auch Neumann 71 , doch er ist der Ansicht, das Operieren mit bloß als wahr anerkannten Prämissen genüge nicht, denn „,begründen4 in einem [...] relevanten Sinn kann man eine Behauptung selbstverständlich nicht mit Hilfe von Prämissen, die lediglich hypothetisch angenommen werden. 4472 Neumann ist also offensichtlich der Meinung, „begründen44 in einem relevanten Sinn ließe sich eine Behauptung nur mit Hilfe von Prämissen, die sicheres Wissen darstellen. Damit stellt sich Neumann, vielleicht ohne es zu bemerken, in Gegensatz zu der allgemein herrschenden Meinung der Wissenschaftstheorie, wonach es sicheres Wissen nur in den Formalwissenschaften, also der Mathematik und der Logik, gibt. Auch die meisten Philosophen erkennen dies an. In den Kapiteln I und J wird uns ein Versuch beschäftigen, zu zeigen, daß zumindest in der Ethik einige absolut sichere Sätze existieren. Folgte man Neumann, so wäre das, was man in den gesamten Naturwissenschaften üblicherweise „Begründung44 nennt, keine Begründung „in einem relevanten Sinn44. Neumanns Kritik am Modell der deduktiven Entscheidungsbegründung ist somit auch aus diesem Grund nicht überzeugend. Die juristische Argumentation beschränkt sich allerdings nicht auf jene Fragen, die mit Hilfe des Modells der deduktiven Entscheidungsbegründung rekonstruiert werden sollen. Vielmehr werden auch noch viele andere Probleme argumentativ zu lösen versucht. Auch fur diesen Bereich steht Neumann der formalen Logik skeptisch gegenüber und exemplifiziert seine Zweifel an einem Beispiel: Der Bundesgerichtshof hatte in einer Entscheidung zum Problem der Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) des sog. „Mätressentestamentes44 u.a. folgendes

71 72

A.a.O., S. 20 f. A.a.O., S. 21.

IV. Die Kritik Neumanns am präzisierten Begründungsmodell

71

ausgeführt: „Setzt ein Ehemann in einem Testament unter gleichzeitiger Enterbung seiner Ehefrau zu Erben seine Kinder und außerdem eine andere Frau ein, mit der er ehewidrige, wenn auch nicht auf geschlechtlichem Gebiet liegende Beziehungen unterhalten hat, und bevorzugt er die Frau sogar vor den Kindern, so können solche Bestimmungen des Testaments, in denen diese Frau bevorzugt bedacht wird, wegen Verstoßes gegen die guten Sitten nichtig sein." 73 Rüßmann hat in einer Kritik am BGH behauptet, diese Passage habe die logische Struktur (p q V sie sei also tautologisch und nichtsagend.74 Dagegen wendet sich Neumann: „Dieser Vorwurf geht offensichtlich fehl. Daß die angeführte Behauptung des Bundesgerichtshofs nicht tautologisch ist, erhellt schon daraus, daß ihre Negation nicht zu einem Widerspruch fuhrt; die Behauptung, die fraglichen testamentarischen Bestimmungen könnten unter den vorausgesetzten Umstanden nicht wegen Verstoßes gegen die guten Sitten nichtig sein, wäre offensichtlich nicht kontradiktorisch". 75 Neumanns Ausführungen sind jedoch zumindest mißverständlich. Natürlich weiß auch er, daß (1)

(p

q V

^q)

eine Tautologie ist und die Negation von (1), nämlich (2)

^(p-»qV

^q)

ein logischer Widerspruch. Was er moniert, ist vielmehr, daß Rüßmann die fragliche BGH-Passage in einer Weise symbolisiert habe, bei der die eigentliche Aussage des Gerichts verloren geht. Damit hat Neumann ein zentrales Problem der Anwendung formaler Sprache auf natürliche Sprachen angesprochen. Er interpretiert die in Frage stehende Passage so, daß darin behauptet wird, „daß die Erbeinsetzung einer Frau, zu der ehewidrige Beziehungen bestehen, unter bestimmten Umständen ein Argument für die Sittenwidrigkeit des Testaments ist oder zumindest sein kann." 76 Diese Aussage wird durch (1) tatsächlich nicht vollständig wiedergegeben. Welche der beiden Interpretationen, die Rüßmanns oder die Neumanns, den Intentionen des Bundesgerichtshofes eher entspricht, braucht hier nicht entschieden zu werden. Es ist jedoch deutlich

73 So der BGH in: Lindenmaier-Möhring. Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofes. Leitsatz zu § 138 Nr. 1 (Urt. v. 6. 5. 1954). 74 Rüßmann, H.: Zur Abgrenzung von Rechts- und Tatfrage. In: Koch, H.J. (Hg.): Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie. Kronberg / Ts. 1976, S. 242 - 270 (246). 75 A.a.O., S. 28 f. 76 A.a.O., S. 29.

D. Die Kritik am deduktiven Begründungsmodell

72

geworden, daß die Interpretation der in der Sprache der formalen Logik zu symbolisierenden Aussage der Übersetzung in die formale Sprache vorangehen muß. Verschiedene Interpretationen fuhren zu verschiedenen Symbolisierungen. Neumann meint, vor allem „Sinnzusammenhänge" ließen sich nicht mit logischen Mitteln ausdrücken. Nun ist der Begriff „Sinnzusammenhang" und zumal sein Bestandteil „Sinn" außerordentlich vieldeutig; gleichzeitig ist er emotional positiv besetzt. Deshalb wird der Begriff gern in Einwänden gegenüber Präzisierungsbemühungen verwandt: Durch die präzisere Fassung, so sagt man dann, werde der eigentliche „Sinn", der „Sinnzusammenhang" des fraglichen Ausdrucks gar nicht erfaßt. Leider wird dabei selten mitgeteilt, was denn unter dem derart bemühten „Sinnzusammenhang" zu verstehen sei. Auch Neumann macht nicht deutlich, was er mit „Sinnzusammenhang" meint: Sein einziges Beispiel - der Zusammenhang zwischen dem Interesse an der Haltung eines Tieres und der Eigenschaft, Tierhalter zu sein - deutet darauf hin, daß er kausale Zusammenhänge als „Sinnzusammenhänge" ansprechen will. Kausalzusammenhänge sind jedoch durchaus einer präziseren Darstellung mittels formallogischer Mittel zugänglich. Gerade hier zeigt sich ein großer Vorteil der formalsprachlichen Übersetzung: Sie kann zu einer Klärung dessen fuhren, was man „eigentlich" meint. Allein mit dem materialen Konditional, darin ist Neumann aber Recht zu geben, lassen sich Kausalzusammenhänge i.S. notwendiger Zusammenhänge 7 7 und möglicherweise auch noch andere mit „Sinnzusammenhang" bezeichnete Beziehungen allerdings nicht ausdrücken. Gerade Kausalbeziehungen und Erfahrungsgesetze spielen jedoch in vielen Argumentationen eine wichtige Rolle. Daß das materiale Konditional für die Rekonstruktion von Argumentationszusammenhängen unzureichend ist, läßt sich auch daran ersehen, daß das Konditional

bekanntlich nur in einen Fall falsch ist, nämlich wenn ρ den Wahrheitswert „wahr" und q den Wahrheitswert „falsch" annimmt. Das Konditional ist also insbesondere auch dann wahr, wenn die Prämisse (oder die Prämissen) falsch ist, ja sogar wenn Prämisse und Konklusion beide falsch sind. So ist daß Konditional „Wenn London die Hauptstadt von Frankreich ist, so ist der Mond viereckig" wahr. Der Sprachgebrauch verbietet es jedoch, in solchen Fällen von einem „richtigen" oder gar „guten" Argument zu sprechen.

77

Dieses Verständnis von Kausalzusammenhängen ist allerdings seit Hume überholt.

IV. Die Kritik Neumanns am präzisierten Begründungsmodell

73

Allerdings sind diese hier nur gestreiften Probleme einer Anwendung der formalen Logik auf natürlich-sprachliche Argumentation selbstverständlich auch den Logikern nicht verborgen geblieben. Für eine Argumentationstheorie besonders interessant sind die Bemühungen um die Entwicklung einer „Informal logic", wie sie Kapitel A angesprochen wurde. Diese Bestrebungen darzustellen ist allerdings nicht Aufgabe meiner Arbeit. Im folgenden möchte ich nur auf das Toulmin-Modell, welches in der „Informal logic" freilich eine prominente Rolle spielt, eingehen, denn Neumann schlägt dieses Modell als Alternative zum deduktiven Begründungsmodell vor. Es soll nun geprüft werden, ob dieser Vorschlag tragfahig ist.

E. Die Verwendbarkeit des Toulmin-Schemas in der Jurisprudenz I. Einleitung Oben wurde gezeigt, daß Neumanns Kritik am deduktiven Begründungsmodell nicht stichhaltig ist. In diesem Kapitel soll untersucht werden, ob das von Neumann als Alternative zum Justizsyllogismus vorgeschlagene ToulminSchema geeignet ist, dessen Funktion zu übernehmen. Außerdem soll nach weiteren Anwendungsmöglichkeiten des Schemas in der Jurisprudenz gefragt werden. Für Neumann besitzt das Toulmin-Schema gegenüber dem Justizsyllogismus folgende Vorteile: (1) Nur das Toulmin-Schema ist geeignet, die „Struktur von Argumentationen" zu verdeutlichen1 bzw. „angemessen" wiederzugeben.2 (2) Das Toulmin-Schema enthält „echte", d.h. nichttriviale argumentative Übergänge, „während das Syllogismus-Modell das Reden in Trivialitäten zum Maßstab vernünftigen Argumentierens erhebt". 3 (3) Das Toulmin-Modell weist die Informationen aus, „die tatsächlich zur Verfügung stehen und die Konklusion letztlich tragen sollen" . 4 Diesen Punkt bezeichnet Neumann als den entscheidenden Vorteil des Schemas.5 Bereits an dieser Stelle fallt auf, daß von der Gesetzesbindung nicht die Rede ist. Darauf wird später noch zurückzukommen sein. Zunächst soll das Toulmin-Modell, so wie es Stephen Toulmin 1958 in „The Uses of Argu-

1 2 3 4 5

Juristische Argumentationslehre, S. 21. Ibid. A.a.O., S. 22. A.a.O., S. 23. Ibid.

75

I. Einleitung

ment" vorgestellt und in späteren Veröffentlichungen ausgebaut hat6, skizziert werden (Π). Dabei kann ich mich verhältnismäßig kurz fassen, weil das Schema auch im rechtstheoretischen Schrifttum bereits wiederholt dargestellt wurde. 7 In einem weiteren Abschnitt soll das Modell kritisch analysiert und an den Aufgaben, fur deren Bewältigung Toulmin sein Schema entwickelt hat, gemessen werden (ΠΙ). Erst im letzten Teil dieses Kapitels möchte ich mich der Frage nach der Brauchbarkeit des Toulmin-Modells in der Jurisprudenz zuwenden (IV).

I I . Darstellung des Toulmin-Schemas Nach Toulmin lassen sich die meisten Argumente in folgender Form strukturieren: 8 So, ß , C

Since W

Unless R

On account of Β C (claim) steht in Toulmins Schema fur den zu begründenden Anspruch bzw. die zu begründende These. Ein Beispiel fur eine solche These ist etwa „Harry ist britischer Staatsbürger 44. D (data) gibt die Datenbasis wieder, mit der C gestützt werden soll. In „Introduction to Reasoning44 spricht Toulmin statt von „data44 von „grounds44, also Gründen. 9 Als Datum fur „Harry ist britischer Staatsbürger44 fuhrt Toulmin an : „Harry wurde in Bermuda geboren 44. Die „Kluft 44 zwischen D und C soll mit Hilfe einer Schlußregel W

6

Zu nennen ist hier insbesondere die lehrbuchartige Darstellung Toulmin, S., Rieke, R. und Janik, Α.: An Introduction to Reasoning. 2. Aufl. New York 1984. Auf weitere Arbeiten wird im Text hingewiesen. 7 Vgl. Alexy, R.: Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung. Frankfurt a.M. 1978, S. 113 - 117. Struck, G.: Zur Theorie juristischer Argumentation. Berlin 1977, S. 49 - 51. Eine ausfuhrliche Darstellung findet sich auch in: van Eemeren, Grootendorst und Kruiger, Handbook of Argumentation Theory, S. 162 - 297. 8 The Uses of Argument, S. 104. 9 A.a.O., S. 2 9 - 42.

E. Die Verwendbarkeit des Toulmin-Schemas in der Jurisprudenz

76

(warrant) überbrückt werden. Als eine solche Schlußregel betrachtet Toulmin etwa den Satz „Ein Mann, der in Bermuda geboren wurde, ist ein britischer Staatsbürger". Q steht für „modal qualifier". Damit meint Toulmin eine Behauptung abschwächende Ausdrücke wie „wahrscheinlich" oder „vermutlich". R (rebuttal) steht fur solche Bedingungen, die gegen den Übergang von D zu C sprechen könnten. Die Schlußregel W schließlich soll von einer „Stützung" Β (backing) getragen werden. Im vorliegenden Beispiel ist Stützung für die Schlußregel W die Gesamtheit der Rechtsregeln, die die Staatsbürgerschaft von in den britischen Kolonien geborenen Personen bestimmen. Toulmins Formalisierung des Argumentes zu Harrys Staatsbürgerschaft sieht dann insgesamt so aus: 10 Harry was borni in Bermuda J

/

So, presumably,

Since

Unless

A man born in Bermuda will generally be a British subject

Both his parents were aliens / he has become a naturalised American /...

subject

ι

On account of The following statuses and other legal provisions:

Der Syllogismus wird von Toulmin kritisiert, weil in ihm die genannten Differenzierungen unterdrückt würden. Insbesondere die Elemente Β sowie Q und R fanden im Syllogismus keine Entsprechung.11 Diese unzulässige Vereinfachung täusche nicht nur über die Unterschiede zwischen Argumenten in verschiedenen Lebensbereichen hinweg, sondern verschleiere auch, daß die traditionelle Auffassung völlig Disparates als Prämissen des Syllogismus benutzt habe. 12 So werde meist nicht offengelegt, ob eine universelle Prämisse als Schlußregel oder als Stützung (oder beides) zu interpretieren sei. 13 Interpretiere man sie als Stützung, so enthielte sowohl die singuläre Prämisse, der Toulmin das Schemaelement D zuordnet, als auch die universelle

10 11 12 13

The Uses of Argument, S. 105. Vgl. The Uses of Argument, S. 107 - 113. A.a.O., S. 113. Ibid.

II. D s t u n g des Toulmin-Schemas

77

Prämisse faktische Information; angesichts der unterschiedlichen Rollen, die Daten D und die Stützung Β in Argumenten spielten, hält er es fur „rather unfortunate", sowohl D als auch Β als Prämissen zu bezeichnen.14 Deshalb plädiert Toulmin dafür, die universelle Prämisse als Schlußregel zu betrachten und glaubt so, die Unterschiede zwischen genereller und singulärer Prämisse angemessener darstellen zu können: „A »singular premiss4 expresses a piece of information from which we are drawing a conclusion, a »universal premiss4 now expresses, not a piece of information at all, but a guarantee in accordance with which we can safely take the step from our datum to our conclusion. Such a guarantee, for all its backing, will be neither factual nor categorical but rather hypothetical and permissive. 4415 In der Ethik führe die undifferenzierte Verwendung von generellen Sätzen wie „All lying is reprehensible44 oder „All promise-keeping is right44 zu einem unangemessenen ethischen Rigorismus: „Practice forces us to recognise that general ethical truths can aspire at best to hold good in the absence of effective counterclaims 44 . 16 Es sei schädlich, wenn die traditionelle Logik die Umgangssprache in die Formen der Logik presse. Dagegen sei die Darstellung umgangssprachlicher Argumente in seinem Schema zwanglos möglich. Je nachdem, ob der Schwerpunkt des Argumentes auf der Herleitung der Konklusion oder auf der Stützung der Schlußregel liegt, unterscheidet Toulmin „warrant-using 44 und „warrant-establishing 44 Argumente. 17 Unabhängig von ihrer formallogischen Haltbarkeit will Toulmin auf alle Argumente der erstgenannten Art die Bezeichnung „Deduktion44 anwenden. Toulmin differenziert weiter zwischen „analytischen44 und „substantiellen44 Argumenten: „An argument from D to C will be called analytic if and only if the backing for the warrant authorizing it includes, explicitly or implicitly, the information conveyed in the conclusion itself. [...] Where the backing for the warrant does not contain the information conveyed in the conclusion, [...] the argument will be a substantial one 44 . 18 Trotz einiger Unklarheiten ist Toulmin nicht der Ansicht, er habe mit diesen Definitionen die in der Wissenschaftstheorie und Logik übliche Unterscheidung zwischen analytischen

14 15 16 17 18

A.a.O., Ibid. A.a.O., A.a.O., A.a.O.,

S. 114. S. 117. S. 120. S . 125; vgl. auch ibid., S. 133.

E. Die Verwendbarkeit des Toulmin-Schemas in der Jurisprudenz

78

und synthetischen Sätzen wiedergegeben. 19 Analytische Argumente sind nach Toulmin außerordentlich selten. Dies versucht er durch ein Beispiel zu verdeutlichen: 20 „Anne is one of Jack's sisters. Each one of Jack's sisters has (been checked individually to have) red hair. So, Anne has red hair."

-

Dieses Argument scheine, so Toulmin, auf den ersten Blick analytisch zu sein (!). Bei sorgfaltigerer Analyse und Anwendung des Schemas müsse es jedoch in dieser Form dargestellt werden: 21 Anne is one of Jack's sisters

{

}-

Anne now has red hair

Since

Unless

Any sister of Jack's may be taken to have red hair

Anne has dyed / gone white / lost her hair / . . .

On account of the fact that All his sisters have previously been observed to have red hair.

Das scheinbar analytische Argument wird also nach Toulmins Ansicht zu einem substantiellen, wenn man den Zeitfaktor berücksichtigt, d.h. in Betracht zieht, daß die bei der Überprüfung der Stützung gewonnene Information inzwischen möglicherweise nicht mehr zutrifft. Toulmin meint deshalb, „that I can defend my conclusion about Anne's hair with an unquestionably analytic argument only if at this very moment I have all of Jack's sisters in sight, and so can back my warrant with the assurance that every one of

19

Vgl. dazu Kambartel, F.: Artikel „analytisch". In: Mittelstraß, J.: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd. 1. Mannheim u.a. 1980. S. 105 - 107. 20 The Uses of Argument, S. 124. 21 A.a.O., S. 126.

II. D s t u n g des Toulmin-Schemas

79

Jack's sisters has red hair at this moment." 22 Dann aber sei fraglich, wozu es überhaupt noch eines Argumentes bedürfe, um die Rothaarigkeit Annes zu begründen. Analytische Argumente fände man deshalb fast nur in der Mathematik. Toulmin scheint sich hier nicht entscheiden zu können, ob er dem Ausdruck „analytisch" eine neue Bedeutung geben oder ob er die in der Logik übliche Bedeutung beibehalten will. In der Literatur wird im Einklang mit dem bisher Ausgeführten häufig vertreten, nach Toulmin sei eine Argumentation dann substantiell (also nicht-analytisch), wenn die Stützung der Konklusion nicht die Information enthält, die auch in der Konklusion angezeigt wird. 2 3 Diese Interpretation kann sich auf insoweit eindeutige Äußerungen Toulmins stützen.24 Leider scheint sich Toulmin aber nicht durchgehend an seine eigene Wortgebrauchsregeln zu halten, denn einige Seiten weiter behauptet er, „evidente" Argumente wie: (1) „Petersen is a Swede. (2) The proportion of Roman Catholic Swedes is less than 5 % / zero; (3) So, almost certainly / certainly, Petersen is a Roman Catholic." seien analytisch 2 5 Analytische Urteile gewährleisteten nicht die Sicherheit der Konklusion.26 Doch wenn unter den Prämissen eines Arguments eine ist, die den gesamten Informationsgehalt der Konklusion schon enthält (nämlich fl), SO ist, wenn man die Prämissen akzeptiert, auch die Konklusion akzeptiert. Insofern ist die Konklusion also „sicher". Möglicherweise ist Toulmin der Meinung, in dem letztgenannten Beispiel sei die Konklusion zwar bereits in der nicht aufgeführten Stützung „enthalten", nicht aber in der Schlußregel (2), so daß der Übergang von (1) und (2) auf (3) nicht „sicher" ist. Dann müßte man davon ausgehen, daß im Toulmin-Schema die Stützung Β mehr Informationen enthalten kann als die Schlußregel W. Toulmins Ausführungen zu diesen Fragen erscheinen mir noch durchaus ergänzungsbedürftig.

22

Ibid. So z.B. Neumann, Juristische Argumentationslehre, S. 23. 24 Vgl. oben S. 77. 25 A.a.O., S. 132. Zur Frage, ob die zweite Prämisse als „backing44 oder als „warrant44 anzusehen ist, vgl. a.a.O., S. 108 - 113. 26 A.a.O., S. 139. 23

80

E. Die Verwendbarkeit des Toulmin-Schemas in der Jurisprudenz

I I I . Die Leistungsfähigkeit des Toulmin-Schemas „The Uses of Argument44 fand zunächst kaum Resonanz. Toulmin selbst spricht von einem „großen Schweigen44, mit dem die angelsächsischen Logiker und Philosphen das Buch empfangen hätten.27 Deutlich positiver war das Echo seitens der Sprachwissenschaftler. In den Vereinigten Staaten waren es vor allem die Rhetoriker und Vertreter jener Disziplinen, die oben unter die Bezeichnung „Argumentationstheorie 44 subsumiert wurden, die das Werk Toulmins rezipierten. Inzwischen hat es sich dort den Rang eines Klassikers erworben. 28 Die Analyse der Toulminschen Vorschläge setzt einige terminologische Klarstellungen voraus. 29 Toulmin will in seinem Buch logische Probleme untersuchen.30 Unter „Logik44 versteht er jedoch nicht die formale Logik (deduktiver oder induktiver Art). Für ihn ist „Logik44 vielmehr „generalized jurisprudence 4431. Er schreibt: „Logic is concerned with the soundness of the claims we make - with the solidity of the grounds we produce to support them - or, to change the metaphor, with the sort of case we present in defense of our claims 44 . 32 Für dieses Verständnis von Logik glaubt Toulmin sich auf Aristoteles berufen zu können.33 Aus dem obigen Zitat ergibt sich noch ein weiterer wichtiger Unterschied zu dem unter Logikern üblichen Sprachgebrauch. Nach Toulmin beschäftigt sich die Logik mit der „soundness44 (Richtigkeit) von Argumenten, während üblicherweise von der „validity44 (Gültigkeit) von Schlüssen gesprochen wird. 3 4 Toulmin geht es also um die Haltbarkeit von Argumentation (in einem weiten Sinn), während die formale Logik nach dem Verständnis ihrer Anhänger nur Regeln liefern will, mit deren Hilfe wir von wahren Prämissen zu wahren Konklusionen gelangen. Wie bereits oben ausgeführt wurde,

27 Toulmin, S.: Die Verleumdung der Rhetorik. In: Neue Hefte für Philosophie 26 (1986), S. 55 - 68 (56). 28 Vgl. Secor, J.M.: The Influence of Toulmin. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch. Hg. von Dyck, J., Jens, W. und Ueding, G., Bd.8: Rhetorik heute II. Tübingen 1989, S. 57 - 63. 29 So auch Cooley, J.C.: On Mr. Toulmin's Revolution in Logic. In: The Journal of Philosophy 56 (1959), S. 297 - 319 (297 f., 309) und Horovitz, J.: Law and Logic. A Critical Account of Legal Argument. Wien, New York 1972. S. 167 f. 30 The Uses of Argument, S. 1. 31 A.a.O., S. 7. 32 A.a.O., S. 7. 33 A.a.O., S. 2, 95 f., 147 ff. 34 Vgl. Horovitz, Law and Logic, S. 167 f.

III. Die Leistungsfähigkeit des Toulmin-Schemas

81

verwendet Toulmin auch Begriffe wie „deduktiv" und „analytisch" nicht in dem üblichen Sinn. Zentrales Problem in Toulmins Ausführungen und Ursache vieler Mißverstandnisse scheint mir das Verhältnis von Logik im Toulminschen Sinn und der formalen Logik zu sein. Soll das Toulmin-Schema die üblichen Ableitungsregeln ersetzen, zumindest im nicht-mathematischen Bereich? 35 Oder will Toulmin lediglich ein Schema zur Verfugung stellen, mit dem die Struktur faktischer Argumentationen zweckmäßiger erfaßt werden kann? Dann ließe sich eher von einem komplementären Verhältnis sprechen. Viele Interpreten Toulmins entschieden sich für die erste Möglichkeit. So schreibt Horovitz, es gäbe wenig Zweifel, „that he [Toulmin] seriously demands the replacement of formal by ,jurisprudential 4 logic in the very centre of the theory of nonmathematical argument." 36 In der Tat läßt sich Toulmin in diesem Sinne auslegen. So spricht er von zwei „rival models, one mathematical, the other jurisprudential" 37. Bei dieser Lesart sind Toulmins Ausführungen zahlreichen Einwänden ausgesetzt:38 Wie unschwer zu erkennen ist, lassen sich im oben wiedergegebenen Schema zwei Teile unterscheiden. Der erste Teil besteht aus den Elementen Dy W und C. D und C stehen für singulare Sätze, W für einen universellen Satz. Dies sind auch die Bestandteile eines Syllogismus. Das Schulbeispiel dafür lautet: Sokrates ist ein Mensch (D) Alle Menschen sind sterblich (W) Also ist Sokrates sterblich

(C)

35 Diese Interpretation scheinen die Formulierungen in: The Uses of Argument, S. 130, 134, 143 ff. nahezulegen. 36 A.a.O., S. 169; ähnlich Cooley a.a.O., S. 297, 299. 37 The Uses of Argument, S. 95. 38 Ich beschränke mich hier auf die Frage, ob Toulmins Modell bei der Analyse von Argumentation die formale Logik ersetzen kann. Ausfuhrlichere Kritiken Toulmins finden sich etwa bei Cooley, a.a.O., Cowan, J.L.: The Uses of Argument - An Apology for Logic. In: Mind 73 (1964), S. 27 - 45 und bei Manicas, Ρ.Τ.: On Toulmin's Contribution to Logic and Argumentation. In: Journal of the American Forensic Association 3 (1966), S. 83 - 94, auch in: Anderson, J.M., Dove, P.J. (eds.): Readings in Argumentation. Boston 1969, S. 279 - 294.

6 Hilgendorf

82

E. Die Verwendbarkeit des Toulmin-Schemas in der Jurisprudenz

Angenommen, W beinhaltete in diesem Beispiel keine Aussage über die Sterblichkeit aller Menschen, sondern behauptete die Sterblichkeit aller Pferde. Dann wäre Wungeeignet, als „Brücke" zwischenD und Czu dienen; W könnte die Funktion, die Toulmin ihm zuweist39, nicht erlullen. Offensichtlich muß also auch in Toulmins Schema zwischenD und deinerseits, C andererseits eine logische Ableitbarbarkeitsbeziehung bestehen, damit das rekonstruierte Argument Uberzeugungskraft besitzt. Der zweite Teil des Toulmin-Schemas umfaßt die Elemente W und fi. 40 Β soll W „stützen" und zeigen, daß W als Schlußregel überhaupt akzeptabel ist. 41 Dabei besteht Β aus Beobachtungsdaten („factual report of our observations 44 ) 42 . Doch wie können Einzelbeobachtungen einen generellen Satz wie W stützen? Können Einzelbeobachtungen die Wahrheit von Sätzen wie „Alle Menschen sind sterblich" garantieren? Wenn nicht, können dann die Beobachtungen den Allsatz nicht zumindest in irgendeinem Sinn „wahrscheinlich44 machen? Fragen wie diese werden seit langem als „Induktionsproblem44 diskutiert (was Toulmin natürlich bekannt ist). Der zweite Teil seines Schemas besteht also aus nichts anderem als einer Darstellung induktiver Stützung. Allerdings ist es den Induktionslogikern (z.B. Carnap) trotz Entfaltung eines selbst für die Wissenschaftstheorie ungewöhnlichen technischen Aufwandes bislang nicht gelungen, das Induktionsproblem zu lösen. Dies ist zumindest die Ansicht Poppers und der meisten Wissenschaftstheoretiker. Folgt man dieser Auffassung, so kann auch in Toulmins Modell die „Stützung44 der Schlußregel W durch Β nicht die Sicherheit von W garantieren. Allenfalls könnte man W, solange keine falsifizierenden Instanzen aufgetreten sind, mit Popper als „vorläufig bewährt44 bezeichnen.43 Toulmins Modell, so kann jetzt zusammenfassend festgestellt werden, ist also nicht geeignet, die formale Logik bei der Analyse von Argumentation zu ersetzen. Hinter seinen beiden oben beschriebenen Teilen verbergen sich vielmehr Probleme, die sich mit den Mitteln der formalen Logik weitaus präziser darstellen lassen. Das Toulmin-Modell kann die Sicherheit des Ubergangs von Β zu W sowie von D zu C nicht garantieren; diese ist vielmehr abhängig von den zugrunde liegenden logischen Beziehungen. Behält man dies im Auge, so erweist sich Toulmins Kritik an den Logikern als

39 40

Vgl Uses of Argument, S. 98 f. Daß W auch schon im ersten Teil des Schemas genannt wurde, ist hier unproblema-

tisch. 41 42 43

A.a.O., S. 103. A.a.O., S. 105, 115. Vgl. Popper, K.: Logik der Forschung. 9. Aufl. Tübingen 1989, S. 198 - 226.

III. Die Leistungsfähigkeit des Toulmin-Schemas

83

völlig unbegründet. Die Logik beschäftigt sich mit den formalen Beziehungen zwischen Aussagen; sie zeigt, wie wir von wahren Prämissen zu wahren Folgerungen gelangen. Die Verifizierung der Prämissen wird von den Logikern nicht mitreflektiert, sondern den Einzelwissenschaften überlassen. Der Logik geht es also nicht um die „soundness", sondern um die „validity" von Argumenten. Es ist nicht vorstellbar, das Toulmin dies entgangen sein sollte. Toulmins Schema kann und soll also die formale Logik nicht entbehrlich machen. Nach einer zweiten Lesart soll das Toulmin-Modell die formale Logik nicht ersetzen, sondern bei der Analyse von - schriftlich oder mündlich vorgebrachten - Argumenten ergänzen bzw. unterstützen. Im folgenden möchte ich untersuchen, was das Toulmin-Schema in diesem Bereich zu leisten vermag (der Einfachheit halber beschränke ich mich dabei auf seine Leistungsfähigkeit bei der Analyse von Texten). Versucht man das Toulmin-Schema auf ein Argument anzuwenden, so ergibt sich zunächst einmal die Notwendigkeit, die einzelnen Textteile den Elementen des Schemas zuzuweisen. Wir müssen also untersuchen, welche These der Autor eigentlich zu begründen versucht und wie er dabei vorgeht. Wir haben nach einer Prämisse W Ausschau zu halten, aus der mit Hilfe (mindestens) einer weiteren singulären Prämisse D die These C abgeleitet werden soll. Ferner gilt es, eine eventuell vorgebrachte induktive Stützung Β (von W) zu identifizieren. Ausdrücke wie „plausibel", „wahrscheinlich" werden dem Element Q zugewiesen. Schließlich müssen auch die zugehörigen „Ausnahmen" R herausgefunden werden. Alles dies führt zu einer Klärung der Textstrukturen 44 und kann die logische Analyse des Textes vorbereiten bzw. unterstützen. Man könnte allerdings fragen, ob sich alle oder auch nur die meisten Argumente in den Strukturen des Toulmin-Modells, also als deduktiv-nomologische Erklärung zuzüglich angehängter induktiver Stützung der jeweis benutzten generellen Prämisse, darstellen lassen. Toulmin hat sein Schema nach dem Muster der „ordinary-language Philosophen" durch Verallgemeinerung zahlreicher Beispielsfalle, nicht aber durch solide empirische Untersuchungen gewonnen. Damit stellt sich auch ihm ein allgemeines Problem dieses Ansatzes: Die Analyse der Alltagssprache im Oxfordstil stützt sich

44 So bereits Brockriede, W., Ehninger, D.: Toulmin on Argument: An Interpretation and Application. In.: Quarterly Journal of Speech 46 (1960), S. 44 - 53; auch in Anderson, Dovre, a.a.O., S. 263 - 278. Dazu eher kritisch Eemeren, Grootendorst und Kruiger, Handbook of Argumentation Theory, S. 203 f.

84

E. Die Verwendbarkeit des Toulmin-Schemas in der Jurisprudenz

nicht, wie man vielleicht zunächst annehmen könnte, auf breite, mit den Methoden der modernen Sprachwissenschaft durchgeführte empirische Erhebungen, sondern auf die sprachlichen Intuitionen des jeweiligen Autors. Man könnte deshalb etwas überspitzt formulieren, die Untersuchung der Alltagssprache im Oxfordstil analysiere lediglich den Sprachgebrauch der Oxfordphilosophen, was zwar sicherlich interessant und lehrreich, aber kaum zur Grundlegung einer allgemeinen Argumentationstheorie geeignet ist. Erst recht ist diese Vorgehensweise natürlich nicht in der Lage, eine allgemeine metaethische Theorie oder gar eine normative Ethik zu begründen, wie dies im sog. „good-reasons-approach44 versucht wurde. (Letzterem ist übrigens auch Toulmins frühe Schrift: „An Examination of the Place of Reason in Ethics44 aus dem Jahr 1950 zuzurechnen 45). Es macht, wie Albert zu Recht bemerkt hat, einen großen Unterschied, ob man als Bezugsgruppe derartiger Sprachanalysen nur die Oxfordanalytiker wählt oder auch den Sprachgebrauch ehemaliger preußischer Offiziere, ungarischer Magnaten oder Mitglieder katholischer Orden miteinbezieht.46 Toulmins Schema dürfte jedoch diesem Einwand entgehen. Es ist so allgemein gefaßt, daß es zumindest in der Sprachwissenschaft zur Analyse von Texten weite Verbreitung finden konnte. Auch die Vertreter der „Informal logic44 haben Toulmins Modell zur Analyse einer Vielzahl von Argumenten benutzt. Diese breiten Anwendungsmöglichkeiten des Schemas können kaum überraschen, da das deduktiv-nomologische Erklärungsschema in den Naturwissenschaften und den empirisch verfahrenden Sozialwissenschaften allgemein angewandt wird. Man wird also Toulmin zustimmen können, wenn er ausfuhrt, die von ihm herausgearbeiteten Strukturen seien Bestandteile der meisten Argumente. 47 Oben wurde gesagt, die Anwendung des Toulmin-Schemas diene der Klärung von Argumenten. Dies ist natürlich keine vollwertige Alternative zur logischen Analyse, aber deren Voraussetzung. Vor allem sollte beachtet

45 Zu Toulmins Moralphilosophie vgl. Nilstun, T.: Moral reasoning. A Study in the Moral Philosophy of S.E.Toulmin. Lund 1979; Stark, F.: Das Problem der moralischen Rechtfertigung bei S.E.Toulmin. Diss. phil. München 1964, insbes. S. 23 - 64. Eine umfangreiche Bibliographie zu Toulmins Moralphilosophie findet sich bei Mason, Th.F.: The Function of Reason in Ethics According to Professor Toulmin. Excerpta ex dissertationead Doctoratum in Facultate Philosophiae Pontificiae Universitatis Gregorianae. Dublin 1979, S. 54 - 65. 46 Albert, H.: Ethik und Metaethik. Das Dilemma der analytischen Moralphilosophie. In: Archiv für Philosophie 11 (1961), S. 28 - 63; hier zitiert nach ders., Topitsch, E. (Hg.): Werturteilsstreit. 2. Aufl. Darmstadt 1979, S. 472 - 517 (505 Fn. 63). 47 Toulmin, Rieke und Janik, Introduction to Reasoning, S. 185.

III. Die Leistungsfähigkeit des Toulmin-Schemas

85

werden, daß die Darstellung eines Arguments im Toulmin-Schema rein deskriptiv ist. 48 Als Daten, Schlußregel usw. tauchen in Toulmins Modell nur jene Argumentteile auf, die der betreffende Autor als relevante Daten, Schlußregel usw. angibt. Es ist denkbar, daß sich ein Text nicht vollständig in Toulmins Modell abbilden läßt, weil der betreffende Autor z.B. auf die Angabe einer Schlußregel oder auf induktive Stützung verzichtet hat. Dann muß auch die schematische Rekonstruktion des Textes Lücken aufweisen. Je nach Bedeutung dieser Lücken können sodann an der Haltbarkeit des Argumentes Zweifel angemeldet werden. 49 Doch auch wenn sich der Text im Toulmin-Mcîdell vollständig rekonstruieren läßt, ist die Frage nach der Haltbarkeit des geführten Arguments bzw. der geführten Argumente noch ganz offen. Um uns der Brauchbarkeit eines Arguments zu versichern, bedarf es logischer und, im Falle der Prüfung von By evtl. auch im Fall von R und ß , empirischer Untersuchungen. Die Darstellbarkeit im Toulmin-Schema gewährleistet also keinesfalls die Brauchbarkeit des geführten Argumentes, erst recht natürlich nicht dessen Sicherheit. Toulmin bemerkt ausdrücklich, daß es kein sicheres Wissen gibt 50 , insbesondere kein sicheres moralisches Wissen. 51

IV. Das Toulmin-Modell als Alternative zum Modell der deduktiven Entscheidungsbegründung Die Frage nach der Brauchbarkeit des Toulmin-Schemas in der Jurisprudenz kann nun verhältnismäßig kurz beantwortet werden. Neumann ist zunächst zuzustimmen, wenn er meint, das Toulmin-Schema sei besonders geeignet, die Struktur von Argumentationen zu verdeutlichen. Das Schema ist differenzierter als ein syllogistisches Interpretationsmodell und vermag Ausdrucksnuancen einzufangen, die sonst verloren gingen. Insofern kann das Toulmin-Modell tatsächlich mehr Informationen ausweisen als eine Rekonstruktion des Argumentationsganges in Form eines Syllogismus. Neumanns weitere These, wonach die Orientierung am Syllogismus das Reden in Trivialitäten zum Maßstab vernünftigen Argumentierens erhebe, ist

48

So auch Toulmin in: ders., Rieke und Janik, Introduction to Reasoning, S. 16. Vgl. The Uses of Argument, S. 100, 128 (fehlende Schlußregel), 106 (fehlende Daten). 50 Introduction to Reasoning, S. 80. 51 Introduction to Reasoning, S. 120; vgl. auch Jonsen, A.R, Toulmin, S.: The Abuse of Casuistry. A History of Moral Reasoning. Berkely u.a. 1988, S. 19 f und pass. 49

E. Die Verwendbarkeit des Toulmin-Schemas in der Jurisprudenz

86

dagegen unzutreffend. Eine deduktiv-nomologische Erklärung ist weder zirkulär noch trivial; Neumanns anderslautende Behauptungen beruhen auf schwerwiegenden Mißverständnissen. Die Rekonstruktion des Rechtsanwendungsprozesses als Ableitungszusammenhang ist sogar die einzige Möglichkeit, die Stringenz der Begründung des Rechtsspruchs aus dem Gesetz zu überprüfen. Das Toulmin-Modell ist nicht in der Lage, die Bindung an das Gesetz auszudrücken. Dies entscheidet sich vielmehr allein nach den logischen Beziehungen zwischen Gesetz52, Sachverhaltsbeschreibung und Konklusion. Toulmins Schema kann also das Modell der deduktiven Entscheidungsbegründung nicht ersetzen, es hat vielmehr eine bloß heuristische Funktion. Das Schema kann aber helfen, ein Argument zu strukturieren und damit der logischen Analyse zugänglich zu machen. Für die Rekonstruktion des Rechtsanwendungsprozesses ist das Toulmin-Schema mithin nur als Ergänzung, nicht aber als ein Ersatz anzusehen.

52

Von dem Problem einer entsprechenden „Zubereitung" des Gesetzes wird hier abgesehen, vgl. dazu oben S. 32 ff.

F. Strukturalismus in der Rechtswissenschaft I. Einleitung D e r Strukturalismus oder non-statement view is.t ein zumindest in der Bundesrepublik vieldiskutierter wissenschaftstheoretischer Ansatz. E r wurde von Wolfgang Stegmüller 1 i m Anschluß an und in Zusammenarbeit mit Joseph Sneed 2 entwickelt und von Schülern Stegmüllers ausgebaut und präzisiert. 3 Auch außerhalb dieser Schule wird versucht, den Strukturalismus für die Einzelwissenschaften fruchtbar zu machen, und zwar nicht mehr nur für die Naturwissenschaften, sondern auch fur Human- und Sozialwissenschaften. 4 Es kann deshalb kaum überraschen, daß einige Rechtstheoretiker hoffen, den Strukturalismus auch in der Rechtstheorie anwenden zu können. Schon 1976 hatte Herberger angeregt, den non-statement view für die Abgrenzung zwischen normativen und deskriptiven Merkmalen i m Strafrecht zu benutzen. 5 Danach sind Peczenik 6 und Sintonen 7 für eine Anwendung des

1 Stegmüller, W, : Theorie und Erfahrung. Zweiter Halbband: Theorienstrukturen und Theoriendynamik. Berlin u.a. 1973, 2. Aufl. 1985 ( Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd.II / 2, künftig als „II / 2 U zitiert); ders., Theorie und Erfahrung. Dritter Teilband: Die Entwicklung des neuen Strukturalismus seit 1973. Berlin u.a. 1986. (Probleme und Resultate ... Bd.II / 3, künftig als „II / 3" zitiert). 2 Sneed, J.: The Logical Structure of Mathematical Physics. Dordrecht 1971, 2. Aufl. 1979. 3 Vgl neben den Beiträgen in II / 3 auch Balzer, W., Moulines, C.U., Sneed, J.D.: An Architectonic for Science. The Structuralist Program. Dordrecht 1987. Einen aktuellen Überblick gibt Diederich, W: The Development of Structuralism. In: Erkenntnis 30 (1989), S. 363 - 386 mit ausf. Bibliographie von Diederich, W., Ibanna, A. und Mormann, T., ibid., S. 387 - 407. 4 Vgl. etwa Druwe, U.: Theoriendynamik und wissenschaftlicher Fortschritt in den Erfahrungswissenschaften. Evolution und Struktur politischer Theorien. München 1985. Westermann, R.: Strukturalistische Theorienkonzeption und empirische Forschung in der Psychologie. Eine Fallstudie. Berlin, Heidelberg u.a. 1987. 5 Herberger, M.: Die deskriptiven und normativen Merkmale im Strafrecht. In: Koch, H.J.(Hg.): Juristischen Methodenlehre und analytische Philosophie. Kronberg / Ts. 1976, S. 124 - 154 (132 - 134). 6 Peczenik, Α.: Grundlagen der juristischen Argumentation. Wien, New York 1983.

F. Strukturalismus in der Rechtswissenschaft

88

Strukturalismus in der Rechtswissenschaft eingetreten. Die bislang ausfuhrlichste und mit Abstand anspruchsvollste juristische Auseinandersetzung mit dem non-statement view findet sich in Thomas Schlapps kürzlich erschienener Dissertation über „Theorienstrukturen und Rechtsdogmatik44.8 Im folgenden sollen die Vorschläge Peczeniks, Sintonens und Schlapps geprüft werden. 9 Dazu werden nach einer kurzen Darstellung der Entwicklungsvoraussetzungen des Strukturalismus (Π) die Grundgedanken des nonstatement view skizziert und sodann einige Anwendungsmöglichkeiten aufgezeigt (ΙΠ). Danach möchte ich am Beispiel der mengentheoretischen Formulierung des „Verfugens über eine Theorie 44 kurz auf einige technische Einzelheiten des Strukturalismus eingehen und Probleme des neuen Ansatzes ansprechen (IV). Anschießend sollen die Anwendungsvorschläge in der Jurisprudenz kritisch untersucht werden (V).

I I . Die Thesen Thomas Kuhns Nach der herkömmlichen Vorstellung vom wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt entwickeln sich die empirischen Wissenschaften linear in Richtung auf ein immer umfassenderes Wissen über die Welt. Mehr und mehr empirische Daten werden durch immer umfassendere Theorien erklärt, falsche Theorien und Metaphysik werden ausgemerzt. Stegmüller nennt dies die „Vorstellung von der linearen Akkumulation des Wissens 4410 . Thomas Kuhn hat in seinem 1962 erschienenen Buch „The Structure of Scientific Revolutions4411 ein ganz anderes Bild des wissenschaftlichen Fortschritts entworfen. Er unterscheidet dabei zwischen Phasen einer normalen Wissenschaft und solchen einer außerordentlichen Wissenschaft. Kenn-

7

Sintonen, M.: Pragmatic Metatheory for Legal Science. In: Peczenik, Α., Lindahl, L. und Roermund, B. van (Hg.): Theory of Legal Science. Proceedings of the Conference on Legal Theory and Philosophy of Science, Lund, Sweden, December 11 - 14, 1983. Dordrecht u.a., 1984, S. 39 - 52. 8 Schlapp, Th.: Theorienstrukturen und Rechtsdogmatik. Ansätze zu einer struktural istischen Sicht juristischer Theoriebildung. Berlin 1989. 9 Die zweifellos interessante These Herbergers von der Anwendbarkeit des Sneedschen Theoretizitatskonzeptes auf die Abgrenzung von normativen und deskriptiven Tatbestandsmerkmalen ist leider zu wenig ausgeführt, um Gegenstand einer kritischen Prüfung sein zu können. 10 II / 2, S. 156. 11 Kuhn, Th.S.: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago, London 1962. Dt. u.d.T.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a.M. 1967, 2. Aufl. 1976.

II. Die Thesen Thomas Kuhns

89

zeichnend fur die normale Wissenschaft ist es, daß sich die wissenschaftliche Arbeit innerhalb eines unangefochtenen „Paradigmas" vollzieht. Kuhn benutzt diesen Begriff allerdings in einem sehr weiten Sinn; Margaret Masterman hat nicht weniger als 21 verschiedene Verwendungsweisen dieses Terminus bei Kuhn festgestellt. 12 Die Tätigkeit des Forschers in Zeiten der normalen Wissenschaft bezeichnet Kuhn als „puzzle solving44. Dieses „Rätsellösen" vollzieht sich vor dem Hintergrund des akzeptierten Paradigmas. Ein Paradigma wird in Zeiten der normalen Wissenschaften also nicht, wie Popper dies fur wissenschaftliche Theorien fordert, durch empirische Daten falsifiziert. Unlösbare Rätsel diskreditieren nur den Wisenschaftler, der mit den Problemen nicht fertig wird. Widerstehen wichtige Probleme für längere Zeit einer Lösung, dann können sie das Gewicht von Anomalien erlangen. Häufen sich solche Anomalien, so gerät die normale Wissenschaft in eine Krise. Dies führt zu „eine[r] sich unter den traditionsgebundenen Fachwissenschaftlern ausbreitende[n] Unsicherheit, die dem dauernden Unvermögen entspringt, die Anomalien als Rätsel der normalen Wissenschaft zu behandeln und sie im Rahmen dieser Wissenschaft der erwarteten Auflösung zuzuführen." 13 In der Krise wächst die Bereitschaft, neue Wege auszuprobieren. Schließlich taucht ein neues, rivalisierendes Paradigma auf. 14 Die Entscheidung zwischen dem alten und dem neuen Paradigma geschieht nun aber keineswegs mit Hilfe der in der normalen Wissenschaft als solche anerkannten „rationalen" Argumente. Beide Paradigmen sind vielmehr zueinander inkommensurabel. Außerdem ist, wie Kuhn hervorhebt, das neue Paradigma immer noch weit weniger leistungsfähig als das in die Krise geratene alte Paradigma. Die Verdrängung des alten Paradigmas erfolgt vielmehr in der Weise, daß sich Wissenschaftler - und hier vor allem die jüngeren - in einem Glaubensakt für das neue Paradigma entscheiden. Kuhn beruft sich dabei auf Max Planck, der die Revolution der Physik in den zwanziger Jahren mit den Worten kommentiert hatte: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, daß die Gegner allmählich aussterben und daß die her-

12 Masterman, M.: The Nature of a Paradigm. In: Lakatos, I., Musgrave, Α. (Hg.): Criticism and the Growth of Knowledge. Proceedings of the International Colloquium in the Philosophy of Science. London 1965. Vol. 4. London u.a. 1970, S. 59 - 89; dt. u.d.T.: Kritik und Erkenntnisfortschritt. Abhandlungen des Internationalen Kolloquiums über die Philosophie der Wissenschaft. London 1965. Bd. 4. Braunschweig 1974, S. 59 - 88 (61). 13 Stegmüller, II / 2, S. 163. 14 Kuhn, a.a.O., S. 97 if und pass.

F. Strukturalismus in der Rechtswissenschaft

90

anwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut ist." 15 So etabliert sich das neue Paradigma, und die Wissenschaft kann wieder in eine normale Phase eintreten.

I I I . Grundbegriffe des Strukturalismus Kuhns durch empirisch-historische Forschungen gestützte Thesen zur Wissenschaftsentwicklung und seine durch Paul Feyerabend noch verschärfte 1 6 Kritik an der Wissenschaftstheorie haben großes Aufsehen erregt. Es ist allerdings unschwer zu erkennen, daß zum einen Kuhns Quellenbasis ausbaufähig ist - einige seiner historischen Behauptungen scheinen sogar falsch zu sein 17 - und daß zum anderen der Kuhnsche Begriffsapparat noch mancher Verbesserung bedarf. Wolfgang Stegmüller glaubt, die hier erforderliche Präzisierung mit Hilfe des sog. „non-statement view44 erreichen zu können. Sowohl Thomas Kuhn als auch Paul Feyerabend haben sich zu diesem Versuch geäußert 18; dabei war Kuhns Stellungnahme trotz einiger Bedenken eindeutig positiv, die Feyerabends zumindest wohlwollend. Inzwischen ist das strukturalistische Projekt zu einem außerordentlich umfassenden, hochkomplexen und wegen des gewaltigen formalen Aufwandes für den Außenstehenden nur noch schwer verständlichen19 Unternehmen geworden, dessen Ertrag für die Einzelwissenschaften nicht unumstritten ist. Ausgangspunkt des strukturalistischen Ansatzes ist wissenschaftliche Theorien durch Einführung eines Prädikates zu axiomatisieren. Die Verwendung eines Vokabulars zur Axiomatisierung scheint auf Patrick

15

der Versuch, einzelmengentheoretischen mengentheoretischen Suppes zurückzuge-

Planck, M.: Wissenschaftliche Selbstbiographie. Mit einem Bildnis und der von Max von Laue gehaltenen Traueransprache. Leipzig 1948, S. 22. 16 Feyerabend, P.: Wider den Methodenzwang. Frankfurt a.M. 1976. 17 Vgl. Keuth, H.H.: Wissenschaft und Werturteil. Zu Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit. Tübingen 1989, S. 123 m.w.N. 18 Kuhn, Th.: Theory Change As Structure Change: Comments on the Sneed Formalism. In: Erkenntnis 10 (1976), S. 179 - 199. Feyerabend, P.K.: Changing Patterns of Reconstruction. In: British Journal for the Philosphy of Science 28 (1977), S. 351 - 369. 19 Dies gilt auch für Autoren, die ansonsten in der formalen Logik nicht ganz unerfahren sind, vgl. z.B. Quine, W.V.: Reply to Ulrich Gähde und Wolfgang Stegmüller . In: Hahn, L.E., Schilpp, P.A. (Hg.): The Philosophy of W.V. Quine. La Salle, Illinois, 1987, S. 137 f.

III. Grundbegriffe des Strukturalismus

91

hen. 20 Der traditionelle „statement view" hatte Theorien dagegen als Klassen von Sätzen betrachtet. 21 Ein einfaches Beispiel fur die Einfuhrung eines mengentheoretischen Prädikates ist die Axiomatisierung der archimedischen Gleichgewichtstheorie oder archimedischen Statik: 22 „je ist eine archimedische Statik genau dann, wenn es ein A> d> und g gibt, so daß gilt: (1) * = (A, d, g); (2) A ist eine endliche, nichtleere Menge, z.B. A = {a ì9 ..., α η }; (3) (a) d:A-+ R; (b) R; d.h. d und g sind Funktionen von A in R; (4) fur alle Objekte a e A gilt: g(a) > 0; η (5) Σ d(ßi ' g(a t) = 0 (goldene Regel der Statik)." i-l Der Objektbereich der so wiedergegebenen Theorie besteht aus η Objekten. Sie befinden sich um einen Drehpunkt im Gleichgewicht. Die Funktion d gibt den Abstand der η Objekte vom Drehpunkt an, die Funktion g ihr Gewicht. Der g-Wert ist deshalb stets positiv. Die Summe der Produkte d( a d ' S( a i) j e n e Objekte, die sich links des Drehpunktes befinden, ist immer dieselbe wie die entsprechende Summe fur die Objekte rechts des Drehpunktes. Damit wird die sog. „goldene Regel der Statik" ausgedrückt. Die Bestimmungen (1) bis (4) bilden das Begriffsgerüst der Theorie; (5) ihr „eigentliche[s] Axiom". 23 Entitäten, die die Voraussetzungen (1) bis (4) erfüllen, nennt Stegmüller mögliche oder potentielle Modelle der Theorie (Af p ). 2 4 Nur sie können archimedische Gleichgewichtssysteme sein. Ob sie es tatsächlich sind, entscheidet sich danach, ob sie auch Bestimmung (5) erful-

20 Suppes, P.: Introduction to Logic. New York u.a. 1957, Kap. 12 (S. 246 - 305). Vgl. auch McKinsey, J.C.C., Sugar, A.C., Suppes, P.: Axiomatic Foundations of Classical Particle Mechanics. In: Journal of Rational Mechanics and Analysis, vol. 12 (1953), S. 253 - 272, und dazu Moulines, C.U., Sneed, J.D.: Suppes* Philosophy of Physics. In: Bogdan, R.J. (Hg.): Patrick Suppes. Dordrecht 1979, S. 59 - 91 mit Entgegnung Suppes ibid., S. 207 - 212. 21 Die „vorstrukturalistische" (und nach wie vor herrschende) Sicht wissenschaftlicher Theorien ist dokumentiert in: Suppe, F. (Hg.), The Structure of Scientific Theories. Urbana u.a. 1974 (mit umfangreicher Bibliographie auf S. 615 - 646). 22 Vgl. zum folgenden Stegmüller II / 3, S. 22 ff. 23 II / 3, S. 22. 24 Ibid.

F. Strukturalismus in der Rechtswissenschaft

92

len. Modelle der Theorie (M) heißen solche Entitäten, die alle Bestimmungen, also (1) bis (5) erfüllen. 25 Von ihnen unterscheidet Stegmüller schließlich noch die „partiellen potentiellen Modelle44 (M p p ), die man aus den potentiellen Modellen durch Entfernung der theoretischen Größen erhält. 26 Auf diese Weise entstehen die drei Modellklassen M pi M und M pp9 die zusammen den provisorischen Kern Κ der Theorie bilden: „tf = (M p, Μ,

Μ ρρΥ2Ί

Möglich sind ferner sog. „Kernerweiterungen 44, die u.a. Spezialgesetze und sog. „constraints44 enthalten.28 Theoriekern und Kernerweiterung bilden zusammen den „erweiterten Strukturkern 44 E. Diese „erweiterten Strukturkerne44 sind mögliche Argumente einer Funktion Ae, deren Funktionswerte die von der jeweils als Argument verwendeten Theorie zugelassenen Anwendungen darstellen. 29 Mit Hilfe von k e läßt sich also ermitteln, was als möglicher Anwendungsbereich eines „erweiterten Strukturkerns 44 E überhaupt in Betracht kommt. Dem Bereich, in dem eine Theorie angewendet werden soll, entspricht eine Menge I der „intendierten Anwendungen44. I ist nicht extensional vorgegeben, sondern eine offene Menge. Nur eine Teilmenge / 0 von /, die Menge der sog. „paradigmatischen Anwendungen44 der Theorie, ist extensional vorgegeben. In der Theorie Newtons wären solche paradigmatischen Anwendungen etwa die Planetenbewegungen sowie die Bewegungen von Teilsystemen des Planetensystems wie Sonne / Erde, Erde / Mond usw., der freie Fall von Körpern in der Nähe der Erdoberfläche, Pendelbewegungen und die Gezeiten. Aus diesen paradigmatischen Anwendungen soll die Menge I der intendierten Anwendungen in der Weise gewonnen werden, „daß alles, was mit diesen paradigmatischen Beispielen ,hinreichend ähnlich4 ist, ebenfalls als Anwendung dieser Theorie zu zählen hat. 4 4 3 0 Die beträchtliche Vagheit von „hinreichend ähnlich44 glaubt Stegmüller hinnehmen zu müssen. 31 I ist eine Teilmenge der Menge der partiellen potentiellen Modelle (/ £ Λίρρ)·32 Damit soll sichergestellt werden, daß nur partielle potentielle Modelle als intendierte Anwendungen in Frage kommen. Dabei gilt

25 26 27 28 29 30 31 32

Ibid. II / 3, S. 46. Ibid. Vgl. II / 3, S. 56- 66 (constraints) und 67 - 72 (Spezialgesetze). Genauer II / 2, S. 133. II / 3. S. 28. Ibid. II / 3, S. 47.

III. Grundbegriffe des Strukturalismus

93

I e A^JS).33 Die intendierten Anwendungen der Theorie sind also Elemente der Menge der überhaupt möglichen Anwendungen der Theorie. Schon der bisher entwickelte Apparat erlaubt es Stegmüller, zu einigen wichtigen Thesen von Kuhn Stellung zu beziehen. So sei etwa die These von der Immunität bzw. Nichtfalsifizierbarkeit einer Theorie „eine triviale Folge des non statement-view", denn eine Theorie stelle „eine Art von Entität dar [...], von der ,falsifiziert' nicht sinnvoll prädiziert werden" könne. 34 Dem Gedanken, daß sich die Überzeugungen der Forscher hinsichtlich einer bestimmten Theorie wandelten, ohne daß die Theorie als solche geändert werde, lasse sich nun folgende „ganz zwanglose Deutung [...] geben. In nicht weniger als mindestens drei Hinsichten können sich die Überzeugungen bezüglich einer Theorie bei Gleichbleiben der Theorie selbst ändern: (1) neue Anwendungen für die Theorie können entdeckt werden; (2) fur spezielle bisherige Anwendungen können neue Gesetze postuliert werden; (3) einige Anwendungen können durch zusätzliche Nebenbedingungen miteinander verknüpft werden." 35 (1) bis (3) nennt Stegmüller Fälle von „Verstärkungen der Überzeugung". Ihnen stehen „drei mögliche , Abschwächungen der Überzeugung* gegenüber: Ausmerzung gewisser möglicher Anwendungen aus der Klasse der intendierten Anwendungen der Theorie; Preisgabe spezieller Gesetze und Preisgabe von speziellen Nebenbedingungen. Der ruhende Fels im Wandel der Überzeugungen ist diejenige grundlegende Komponente der mathematischen Struktur einer Theorie, welche wir als Strukturkern bezeichnen".36 Etwas technischer ausgedrückt bleibt die Theorie (Κ, Ϊ) dieselbe, während „die mit ihrer Hilfe gebildeten und für richtig gehaltenen Theorienpropositionen I e A m i t der Zeit (f.) variieren. 37 Nun läßt sich auch der Poppersche Falsifikationismus mit der Wissenschaftsauffassung Kuhns versöhnen: „Die Falsifikation betrifft stets nur spezielle Gesetze und zwingt daher den Theoretiker bloß, die versuchte Verschärfung eines E i zu einem E i+ l rückgängig zu machen; denn er kann zwar weiterhin glauben, daß I e A^E,), muß jedoch gleichzeitig zur Kenntnis nehmen, daß I £ Die Theorie (K, Î) bleibt von einem solchen Scheitern des Theoretikers vollkommen unberührt. Im

33 34 35 36 37

II / 2, II / 2, II/2, Ibid. II / 2,

S. 136. S. 15. S. 191. S. 192.

94

F. Strukturalismus in der Rechtswissenschaft

Festhalten des Forschers an der Theorie trotz dieses Scheiterns liegt überhaupt nicht Irrationales, im Widerspruch zum prima-facie-Eindruck." 38 Die soeben skizzierte „Sneedifizierung Kuhns" (Feyerabend) ist nicht nur auf Zustimmung gestoßen.39 Stegmüller hat sich mit der Kritik Feyerabends in einem eigenen Buch auseinandergesetzt und dabei die strukturalistische Reformulierung Kuhns modifiziert und ausgebaut.40 In den neueren Gesamtdarstellungen des Strukturalismus 41 spielt die mengentheoretische Rekonstruktion Kuhns keine beherrschende Rolle mehr. Auch in der sonstigen Wissenschaftstheorie hat sie sich nicht durchsetzen können.42 Ich möchte versuchen, einige mögliche Gründe für diese Zurückhaltung der Wissenschaftstheoretiker am Beispiel der mengentheoretischen Version des „ Verfügens über eine Theorie im Sinn von Kuhn" plausibel zu machen.43

IV. Die mengentheoretische Präzisierung des „Verfügens über eine Theorie" Mit Hilfe des Begriffs des „Verfügens über eine Theorie" soll eine „weitgehende Klärung des Begriffs der normalen Wissenschaft" ermöglicht werden. 44 Stegmüller hat die Einführung dieses Begriffs sogar als vorläufigen Abschluß der Präzisierung des non-statement view bezeichnet.45 Die Definition lautet folgendermaßen:

38

II / 2, S. 193. Vgl. etwa die Kritik Feyerabends, a.a.O. (Fn. 18) oder Pearce, D.: Is There Any Theoretical Justification for a Nonstatement View of Theories? In: Synthese 46 (1981), S. 1 - 39. 40 Stegmüller, W, : The Structuralist View of Theories. A Possible Analogue of the Bourbaki Programme in Physical Science. Berlin u.a. 1979. 41 Vgl. Fn. 3. 42 Hoyningen-Huene, P.: Die Wissenschaftsphilosophie Thomas S. Kuhns. Rekonstruktion und Grundlagenprobleme. Braunschweig, Wiesbaden 1989, erwähnt die „Assimilation Kuhnscher Gedanken in der struktural istischen Wissenschaftstheorie" nur kurz im Vorwort, a.a.O., S. 11. 43 Eine erschöpfende Analyse und Kritik ist natürlich nicht beabsichtigt. 44 II / 2, S. 15. 45 II / 2, S. 193. 39

IV. Die mengentheoretische Präzisierung des „Verfugens über eine Theorie"

„D17 (1) (2) 4 6

(3) (4)

(5) (6)

95

Die Person ρ verfügt zum Zeitpunkt t im Sinn von Kuhn über die physikalische Theorie Τ = (Κ, Ϊ) gdw gilt: (Κ, I, / 0 ) ist eine physikalische Theorie im Sinn von Kuhn; (a) es gibt eine Erweiterung E t von Κ , so daß ρ zur Zeit t glaubt, daß / e A,(£,). (b) Diese Erweiterung ist in dem Sinn die schärfste Erweiterung dieser Art von Κ, daß gilt: (aa) AE [(E ist eine Erweiterung von Κ, so daß ρ zu t glaubt, daß I e A e (E) und (bb) ρ verfugt zur Zeit t über. Beobachtungsdaten, welche diese Proposition stützen) (cc) -*£,££]; ρ wählt I 0 als paradigmatische Beispielsmenge für /; ρ glaubt zu t, daß hi' (wenn If! die Menge der Anwendungen der physikalischen Theorie (Κ, Ϊ) im Sinn von Sneed ist, welche ρ zu t' annimmt, dann ist / 0 £ ρ verfügt zur Zeit t über Beobachtungsdaten, welche die Proposition I e A e (E t ) stützen; ρ glaubt zur Zeit t, daß es eine Erweiterung E von Κ gibt, für die gilt: (a) I e Ae(E)

(b)

Ae(E) C Ae(E,).«

47

In Bedingung (1) wird eine Theorie im Sinne Kuhns als geordnetes Tripel (K, /, I 0 ) dargestellt. Es mag dahingestellt bleiben, ob hier das, was Kuhn unter einer physikalischen Theorie versteht, adäquat wiedergegeben wurde. Problematisch ist jedenfalls, daß im Definiendum noch von der „physikalischen Theorie Τ = (Κ, /)" die Rede war, / 0 also nicht erwähnt wurde. Das geordnete Paar (K, /) ist jedoch nicht identisch mit dem geordneten Tripel (Κ, I, 7 0 ), obwohl Stegmüller im Definiendum und im Definiens offensichtlich dieselbe „physikalische Theorie" meint. Ein solcher Verstoß gegen grundlegende Definitionsregeln ist selbst dann nicht zulässig, wenn man, wie Stegmüller 48 , nicht den Präzisionsgrad der formalen Logik anstrebt. Bestimmung (2 a) verlangt die Existenz einer Kernerweiterung E t, von der die Person ρ zu einer gewissen Zeit t glaubt, daß die Klasse I der intendier-

46

Die Unterteilung in a, b, aa usw. innerhalb von (2) nicht im Original. Stegmüller, II / 2 S. 223. In (6)(b) heißt es dort A(ß t ), doch durfte dies ein Druckfehler sein. 48 II / 3, S. 21. 47

96

F. Strukturalismus in der Rechtswissenschaft

ten Anwendungen (also der Bereich, auf den ρ die Theorie anwenden will) in der Klasse der überhaupt möglichen Anwendungen bei gegebener Kernerweiterung E t enthalten ist. Teil (b) von Bestimmung (2) soll garantieren, daß der Glaube der Person ρ, daß I e A e (E t ) „ein Glaube an die Theorienproposition vom stärksten Tatsachengehalt unter allen Theorienpropositionen ist, an die sie glaubt" , 4 9 (2) ist aber schon deshalb problematisch, weil Stegmüller nicht angibt, unter welchen Voraussetzungen wir davon sprechen können, eine Person ρ „glaube" an eine bestimmte Theorienproposition. Dasselbe gilt für den Gebrauch des Verbes „verfügen" in der Prämisse (bb) von (b). Dies macht deutlich, daß die mengentheoretische Ausdrucksweise und die Verwendung von Symbolisierungen nicht, wie manche Rechtstheoretiker anzunehmen scheinen, eo ipso zu einer Präzisierung führt. Außerdem hatte Stegmüller das Verb schon im Definiens, allerdings in einem anderen Zusammenhang, verwendet. Fraglich ist schließlich auch, welche Beobachtungsdaten denn eigentlich zur Stützung von Theorienpropositionen geeignet sind und wie die Stützung auszusehen hat. Auch im non-statement view stellt sich also, wie nicht anders zu erwarten, das Problem der empirischen Basis und der Bewährung oder Bestätigung bestimmter Aussagen bzw. Aussagenklassen. Bestimmung (3) soll besagen, „daß die Person ρ selbst bereit ist, 70 als paradigmatische Beispielsmenge fur I anzuerkennen". (4) soll ausdrücken, „daß ρ davon überzeugt ist, daß 7 0 eine Teilmenge jeder Menge von intendierten Anwendungen ist, die sie selbst einmal in der Zukunft [...] annehmen wird." Damit soll „das Festhalten an der Menge der Paradigmen im geschichtlichen Ablauf" 50 dargestellt werden. Mit der Erwähnung des „geschichtlichen Ablaufjs]" deutet Stegmüller selbst eine Schwierigkeit an, die sich aus der Formulierung von Bestimmung (3) ergibt: Wenn dort verlangt wird, daß ρ die paradigmatische Beispielsmenge I 0 wählt, so ist damit noch nicht gesagt, ob ρ die paradigmatischen Beispiele erstmalig zusammenstellt oder ob ρ eine von einer anderen Person getroffene Zusammenstellung lediglich übernimmt. Stegmüllers bereits zitierte Umschreibung, ρ würde I 0 als paradigmatische Beispielsmenge für I „anerkennen", zeigt, daß das zweite gemeint ist. Damit wird fraglich, wer 7 0 als erster zusammengestellt hat und wie sich dies in der Sprache des non-statement view darstellen läßt. Eine mögliche Lösung dieses Problems findet sich allerdings in Stegmüllers Definition D16. Dort war definiert worden, was es

49 50

II / 2, S. 194. Alle Zitate dieses Absatzes nach II / 2, S. 223.

IV. Die mengentheoretische Präzisierung des „Verfugens über eine Theorie"

97

heißt, eine physikalische Theorie im Sinn von Kuhn zu sein.51 Über Bestimmung (1) von D17 gilt D16 auch für Bedingung (3) und (4) von D17. Bestimmung (3) von D16 lautet: „(a)

(b) (c)

V/?0 Vf 0 VEq (die Person pQ hat zu t 0 die Menge 7 0 als paradigmatische Beispielsmenge fur 7 gewählt und erstmals die Erweiterung E 0 von Κ erfolgreich auf 7 0 angewendet); /0ç/çMpp; hp hi (wenn If) die Menge der intendierten Anwendungen der physikalischen Theorie Τ = (Κ, 7) ist, welche ρ zu t [...] 52 annimmt, dann glaubt ρ zu t, daß 7 0 9 7/*). 4453

Hinsichtlich (a) ist zu ergänzen, daß E 0 auch die Nullerweiterung sein kann. 54 Es ist nun zu prüfen, ob mit Hilfe dieses Apparates die oben aufgeworfene Frage nach der Herkunft der paradigmatischen Beispielsmenge zufriedenstellender beantwortet werden kann. Bestimmung (3 a) von D16 soll den Erfinder der Theorie bezeichnen und aussagen, daß die paradigmatische Beispielsmenge 70 von ihm „angegeben worden ist und daß dieser Erfinder die Theorie erstmals erfolgreich darauf angewendet hat 44 . 55 Stegmüller spricht hier vom „Erfinder der Theorie44 im Singular. Die Existenzquantoren in (3 a) lassen jedoch zu, daß es mehr als nur eine Person gibt, die 70 als paradigmatische Beispielsmenge für 7 gewählt hat. 56 Unklar ist auch, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit die Anwendung einer Kernerweiterung E 0 auf eine paradigmatische Beispielsmenge 7 0 als „erfolgreich 44 zu qualifizieren ist. In Bestimmung (3) von D15 wird allerdings die Aussage: „es gibt eine Erweiterung E t von ÀT, so daß ρ zu t glaubt, daß E t erfolgreich auf 7/*anwendbar ist44 durch die Formulierung „/? glaubt zu t an die Theorienproposition If e Ae(E t)" umschrieben.57 Analog ließe sich wohl die erfolgreiche Anwendung von E 0 auf 7 0 durch 7 0 e A e (E 0 ) darstellen. Damit würde ausgesagt, daß die Menge der paradigmatischen

51

II / 2, S. 222. Ausgelassen wurde ein Hinweis auf D15, wo der Hilfsbegriff "Menge der intendierten Anwendungen einer Theorie, welche die Person ρ zu t annimmt4*, eingeführt wird. 53 II / 2, S. 222. 54 Ibid. Fn. 61. 55 II / 2, S. 222. 56 So auch Küttner, M.: Theorie unter dem Non-Statement View und der Kuhnsche Wissenschaftler. In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie XII (1981), S. 163 177 (171). 57 I I / 2, S. 221. 52

7 Hilgendorf

F. Strukturalismus in der Rechtswissenschaft

98

Anwendungen in der Menge der überhaupt möglichen Anwendungen bei festgelegtem E 0 enthalten ist. Es fragt sich nur, wie dies festzustellen ist. Solange Stegmüller diese Frage nicht beantworten kann, ist für den Neuling die Entscheidung zwischen konkurrierenden Theorienvätern mit unterschiedlichen 7 0 , 7 0 ', / 0 " usw. und E 0, E 0' y E 0" usw. außerordentlich schwierig. Bestimmung (3 b) von D16 beschreibt das Verhältnis von paradigmatischer Beispielsmenge 7 0 , der Menge der intendierten Anwendungen I und der Menge der partiellen potentiellen Modelle. Interessanter ist die Bestimmung (3 c): Für jede Person ρ und zu jeder Zeit t soll gelten, daß die Menge der von ρ zur Zeit t intendierten Anwendungen Jf nach der Uberzeugung von ρ noch die vom Theorienvater stammende Beispielsmenge 7 0 enthält. Damit möchte Stegmüller das Festhalten am vom Theorienvater geschaffenen Paradigma im Sinne von Kuhn und die Schulenzugehörigkeit von ρ wiedergeben. 58 Die Allquantifizierung über beliebige Personen ρ führt jedoch zu dem Problem, daß (3 c) schon dann nicht erfüllt ist, wenn es einen einzigen Forscher ρ gibt, für dessen persönlich intendierte Anwendungsmenge //'zwar das Antezedenz von (3 c) wahr ist, nicht jedoch das Konsequenz. In diesem Fall wäre X> bestehend aus dem geordneten Tripel (K, /, / 0 ) keine physikalische Theorie im Sinne von Kuhn, wie sie in D16 definiert ist und erst recht könnte niemand im Sinn von D17 über sie verfugen. Beide Definitionen versagen also bei der Existenz eines einzigen Abweichlers mit den angegebenen Qualifikationen. Alles in allem läßt sich deshalb sagen, daß Bestimmung (3) von D16 mit so vielen Problemen belastet ist, daß sich mit ihr die Bedingungen (3) und (4) von D17 nicht zufriedenstellend erläutern lassen. Bestimmung (5) von D17 fordert für die in (2) definierte „schärfste Erweiterung" von Κ eine Beobachtungsstütze. Wie (2 b) ist auch (5) kritischen Anfragen aus dem Umkreis des Basis- und Bewährungs - bzw. Bestätigungsproblems ausgesetzt. In Bestimmung (6) schließlich soll der „Fortschrittsglaube der Person pu bezeichnet werden. „Dieser Glaube findet in der Überzeugung des Forschers ρ seinen Niederschlag, daß seine Theorie in Zukunft verbessert werden wird". 5 9 Problematisch ist, daß nach (6) ein Forscher ρ nicht über eine physikalische Theorie im Sinn von D17 „verfügen" kann, wenn er seine

58 59

II / 2, S. 222 f. II / 2, S. 194.

IV. Die mengentheoretische Präzisierung des „Verfugens über eine Theorie"

99

Theorie für nicht mehr verbesserungsfahig hält. Stegmüller sieht diese Schwierigkeit, meint aber durch sein Explikationsziel gerechtfertigt zu sein: „Worum es letztlich geht, ist die Klärung des Fortschritts der normalen Wissenschaft [...] zum Unterschied von »wissenschaftlichen Revolutionen'. Was mit der [...] Zusatzbestimmung geleistet werden sollte, war die Einbeziehung eines wesentlichen Aspekts des normalen Fortschrittsglaubens, d.h. des Glaubens an den Fortschritt ohne wissenschaftliche Revolutionen. Zu diesem Glauben gehört die Uberzeugung, daß unter Beibehaltung des begrifflichen Fundamentes der Theorie, d.h. des Strukturkerns der Theorie, im Verlauf der Zeit immer schärfere Aussagen über die physikalischen Systeme, auf welche die Theorie angewendet werden soll, gemacht werden können, oder, wie man auch sagen könnte: daß das Verhalten der Individuen, die zu diesen Systemen gehören, in Zukunft immer besser wird erklärt werden können." 60 Spätestens hier wird aber fraglich, was Stegmüller eigentlich rekonstruieren will: das tatsächliche Verhalten von Forschern oder die Beschreibung, die Kuhn davon gegeben hat; daß beides identisch ist, müßte erst noch gezeigt werden. Dazu wären aber natürlich empirische Untersuchungen notwendig. Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, daß Stegmüllers Unternehmen, zumindest was seine Definition des „Verfügens über eine Theorie " anbelangt, unter z.T. sehr unglücklichen Formulierungen leidet, die Mißverständnisse nahelegen. Ein letzter Blick auf D17 soll deutlich machen, daß sein Rekonstruktionsversuch auch unvollständig ist: Die Formen wissenschaftlichen Tätigkeit im Rahmen des „Verfügens über eine Theorie" werden im Definiens mit den Verben „verfügen" (das also, wie bereits erwähnt, sowohl im Definiens also auch im Definiendum auftaucht), „glauben", „wählen" und „annehmen" wiedergegeben. Wenn aber, wie Stegmüller behauptet61, mit dem „Verfügen über eine Theorie" eine weitgehende Klärung des Begriffs der „normalen Wissenschaft" ermöglicht werden soll, und für diese eine „Konstanz der Theorie bei variierenden und miteinander unverträglichen zentralen empirischen Sätzen oder Theoriepropositionen" kennzeichnend ist, 62 dann muß in der Definition des „Verfügens über eine Theorie" auch ein dynamisches Moment Berücksichtigung finden, das unter anderem die Prüfung von und Auswahl unter konkurrierenden „Theoriepropositionen" wiedergibt. Wie die eben zitierten Verben andeuten,

60 61 62

II / 2. S. 195. II / 2, S. 15. Ibid.

100

F. Strukturalismus in der Rechtswissenschaft

ist das in D17 nicht der Fall. Bei der Formulierung der hier fehlenden Bestimmung (7) müßte im übrigen wohl auch angegeben werden, unter welchen Umstanden an der einen „Theorieproposition" festgehalten, eine andere aber aufgegeben werden soll. Auch das Falsifikationsproblem bleibt also akut. Die Kritik an Stegmüllers Definition des „Verfugens über eine Theorie im Sinn von Kuhn" könnte natürlich noch sehr viel weiter getrieben werden. 63 Für eine Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus erscheint mir eine solche Detailuntersuchung weiterführender als eine vergleichsweise pauschale Kritik, wie sie etwa H. Rings vorgelegt hat. 64 Aufgabe meiner Arbeit ist jedoch lediglich eine kritische Untersuchung der Anwendungsmöglichkeiten des non-statement view in der Jurisprudenz, nicht aber eine Gesamtanalyse der Vorschläge von Sneed und Stegmüller. Meine bisherigen Ausführungen haben ihr Ziel erreicht, wenn die Leserinnen und Leser ein wenig skeptisch geworden sind und nicht jede symbolverwendende Darstellungsweise sofort als wissenschaftlichen Fortschritt werten, sondern bereit sind, nüchtern die Vor- und Nachteile einer Verwendung des non-statement view in der Jurisprudenz gegeneinander abzuwägen.

V. Die Anwendbarkeit des non-statement view in der Jurisprudenz Wenden wir uns nun der Frage nach der Anwendbarkeit des non-statement view in der Jurisprudenz zu. Peczenik und Sintonen wollen den Strukturalismus auch in der Jurisprudenz im Rahmen der Untersuchung von Theorienentwicklungen (Stegmüller: Theoriendynamik) einsetzen.65 Wie und mit welchen Problemen dies für Theorien der empirischen (Natur-) Wissenschaften versucht wird, wurde in dem vorangegangenen Abschnitt skizziert. Sintonen erwartet vom Strukturalismus außerdem die Klärung der Frage „on

63 Für einige im Text nicht erwähnte Probleme der „Sneedifizierung Kuhns" vgl. die oben in Fn. 56 angegebene Arbeit von Küttner. 64 Rings, H.: Strukturalistische Wissenschaftstheorie - ein überzeugender Weg? Kritische Bemerkungen zum Sneed-Kuhn-Stegmüllerschen non-statement view wissenschaftlicher Theorien. Diss. phil. Mannheim 1984. 65 Vgl. Peczenik, Α.: Grundlagen der juristischen Argumentation. Wien, New York 1983. Sintonen, M.: Pragmatic Metatheory for Legal Science. In: Peczenik, Α., Lindahl, L. und Roermund, B. van (Hg.): Theory of Legal Science. Proceedings of the Conference on Legal Theory and Philosophy of Science, Lund, Sweden, December 11 - 14, 1983. Dordrecht u.a., 1984, S. 39 - 52.

V. Die Anwendbarkeit des non-statement view in der Jurisprudenz

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what puzzle-solving might amount to in legal dogmatics."66 Sowohl Peczenik als auch Sintonen glauben, daß die Übertragung des Sneed-Stegmüllerschen Konzeptes auf die Jurisprudenz als normative Wissenschaft keine grundlegenden Probleme aufwirft; Sintonen spricht sogar ausdrücklich von einem „methodological monism". 67 Doch auf welche Art „rechtswissenschaftlicher Theorien" soll der nonstatement view überhaupt angewendet werden? Juristen gehen mit dem Wort „Theorie" außerordentlich großzügig um; im Prinzip ist es möglich, jeden sich auch nur geringfügig von anderen Vorschlägen unterscheidenden Lösungsversuch eines juristischen Problems als eigenständige „Theorie" zu bezeichnen. Untersuchungen zum Theoriebegriff in der Jurisprudenz sind rar. Ein früher Versuch einer formalsprachlichen Präzisierung juristischer Theorienbildung stammt von Karl Haag. 68 Sein Vorschlag blieb jedoch ohne Resonanz. In jüngerer Zeit hat sich Ralf Dreier der Mühe unterzogen, den Theoriebegriff der Rechtswissenschaft näher zu beleuchten.69 Er unterscheidet rechtstheoretische von rechtsdogmatischen Theorien und differenziert innerhalb der letzteren wieder in interpretative Theorien, normvorschlagende Theorien, konstruktive bzw. Qualifikationstheorien, Institutionstheorien, Prinzipientheorien, Grundbegriffstheorien und Rechtsgebietstheorien.70 Nehmen wir als Beispiel einer besonders einfachen juristischen Theorie die Apprehensionstheorie zum Wegnahmebegriff des § 242 StGB 71 und fragen, ob ihre Axiomatisierung und mengentheoretische Formulierung nach Art des non-statement view für den Juristen - sei es nun ein Praktiker, ein Rechtsdogmatiker, ein Rechtshistoriker oder ein Rechtstheoretiker - irgendeinen Erkenntnisfortschritt bedeuten würde. Diese Frage scheint nur eine negative Antwort zuzulassen. Die Apprehensionstheorie läßt sich bequem in einem einzigen natürlich-sprachlichen Satz formulieren. Warum sollte man sie durch eine mathematische Ausdrucksweise komplizieren? Etwa um ihre „Struktur" zu verdeutlichen? Vielleicht könnte man im Sneed-Stegmüller-Konzept die für

66

A.a.O. (Fn. 65). A.a.O., S. 39. 68 Haag, K.: Versuch einer Beschreibung und Deutung der wissenschaftlichen Theoriebildung mittels der mathematischen Informationstheorie. In: ARSP 54 (1968), S. 351 374. 69 Dreier, R.: Zur Theoriebildung in der Jurisprudenz. In: Recht und Gesellschaft. Festschrift für Helmut Schelsky zum 65. Geburtstag. Hg. von Kaulbach, F., Krawietz, W. Berlin 1978, S. 103 - 132. ND. in: Dreier, R.: Recht-Moral-Ideologie. Studien zur Rechtstheorie. Frankfurt a.M. 1981, S. 70 - 105 (danach wird im folgenden zitiert). 10 Näher Dreier, a.a.O., S. 73 - 78. 71 Vgl. Sch-Sch-Eser, § 242 Rz. 37. 67

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F. Strukturalismus in der Rechtswissenschaft

den Tatbestand des § 242 StGB relevanten „Lebenssachverhalte44 als „intendierte Anwendungen44 der Apprehensionstheorie und rechtskräftige Feststellungen über das Vorliegen einer „Apprehension44 als Modelle der Theorie ansehen. Doch bleibt die Frage, ob diese Umbenennungen zu mehr fuhren als zu terminologischer Unklarheit und unnötiger Komplizierung. Angesichts dieser Zweifel werden die Gründe, die Peczenik und Sintonen fur eine Verwendung des non-statement view in der Jurisprudenz vorbringen, umso interessanter. Beide diskutieren den Strukturalismus an einem etwas komplexeren, von Aarnio 72 entlehnten Beispiel aus dem Eigentumsrecht. Peczenik73 schildert zunächst die Wandlungen im Eigentumsbegriff der skandinavischen Rechtsdogmatik: Die ältere Theorie Τ, so Peczenik, „sah das Eigentumsrecht als eine Substanz, die in einem bestimmten Moment nur einer Person gehören kann44. Darin gleiche sie den europäischen Eigentumstheorien des 19. Jahrhunderts. Eine neuere Theorie - Peczenik bezeichnet sie als Τ erkläre demgegenüber, „Eigentümer eines Gegenstandes zu sein und gegen bestimmte andere Personen rechtlich geschützt zu sein44, sei dasselbe. Die neue Theorie Τ erfülle dabei die heutigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfordernisse in höherem Maß als die alte Theorie T. In welcher Weise soll nun der non-statement view zur Klärung des Übergangs von der alten Eigentumstheorie Τ zu der neuen Theorie Τ beitragen? Lassen wir dazu zunächst Peczenik selbst zu Wort kommen: „Nach Sneed wird eine Theorie Τ auf eine progressivere, nämlich T\ reduziert, wenn T* weiter entwickelt ist: das, was Τ sagt, kann V auch sagen, nicht aber umgekehrt. Die Reduktion ist auch dann möglich, wenn die Theorien miteinander nicht vergleichbar sind [...]. 44 Dies läßt sich auf die Eigentumstheorien Τ und Τ übertragen: Während Τ die Juristen dazu „zwingt, [...] alle erdenklichen Verhältnisse zwischen einem Verkäufer und einem Käufer in zwei Klassen zu pressen: entweder ist der Verkäufer Eigentümer und nicht der Käufer, oder der Käufer ist Eigentümer und nicht der Verkäufer 44, läßt Τ noch „eine dritte mögliche Situation44 zu, „wenn nämlich der Verkäufer von einigen Gesichtspunkten aus Eigentümer ist, der Käufer aber von anderen Gesichtspunkten aus 44 . 74 Daraus folgert Peczenik: „7" ist

72

Aarnio, Α.: On the Paradigm Articulation in Legal Research. In: Tammelo, I., Aarnio, Α.: Zum Fortschritt von Theorie und Technik in Recht und Ethik. On the Advancement of Theory and Technique in Law and Ethics. Berlin 1981, S. 45 - 56 (insbes. S. 53 ff.) 73 Grundlagen der juristischen Argumentation, S. 151 f. 74 A.a.O., S. 152.

V. Die Anwendbarkeit des non-statement view in der Jurisprudenz

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mithin besser als Γ, weil sie es dem Rechtswissenschaftler erlaubt, Verschiedenheiten zu entdecken, die Γ begrifflich unzugänglich sind und die gleichzeitig sowohl von den Wertungen (den juristischen ,Daten4) als auch von den Rechtsquellen (dem Kern der juristischen »Theorien4) her relevant sind 44 . 75 Auf die von Peczenik sehr kursorisch behandelte skandinavische Eigentumstheorie kann ich hier nicht näher eingehen. Statt dessen möchte ich die Frage stellen, ob Peczenik gezeigt hat, wie der non-statement view auch in der Rechtswissenschaft fruchtbar angewandt werden kann. Die Frage ist offensichtlich zu verneinen: Peczenik ist auf das Sneed-Stegmüllersche Rekonstruktionsmodell nur mit einigen vagen Andeutungen (etwa in den Worten „Kern 44 und „Daten44) eingegangen! Eine mengentheoretische Axiomatisierung der skandinavischen Eigentumstheorie hat er nicht vorgelegt. Allenfalls weisen seine Ausführungen zu Τ und Τ einige Ähnlichkeit zum Kuhnschen Paradigmabegriff auf, obwohl Peczenik diesen Ausdruck im vorliegenden Kontext nicht verwendet. Aber auch wenn man alte und neue Eigentumstheorie als Paradigmata im Sinne Kuhns ansehen wollte, ist damit doch nur eine terminologische Neuerung eingeführt; juristische oder rechtshistorische Sachfragen sind nicht gelöst, ja nicht einmal angesprochen worden. Peczenik hat also nicht gezeigt, wie sich der non-statement view in der Rechtsdogmatik fruchtbar anwenden läßt; ebensowenig hat er stichhaltige Gründe dafür geliefert, warum die übliche historisch-genetische Darstellungsart der Sneed-Stegmüllerschen Formalisierung der Theoriendynamik unterlegen sein sollte. Matti Sintonen76 hat sich ebenfalls für eine Anwendbarkeit des Strukturalismus in der Rechtswissenschaft ausgesprochen. Zunächst skizziert er das strukturalistische Theorienkonzept, wobei er neben den schon eingeführten Theorienbestandteilen Kq (Theoriekern) und / 0 (Menge der intendierte Anwendungen) noch ein „paradigmatisches Theoriennetz44 N p77 sowie, einem Vorschlag von Niniiluoto 78 folgend, eine Menge Η einführt. Η soll Informationen über „the values of the scientific community and an indication of

75

A.a.O., S. 153. Sintonen, M.: Pragmatic Metatheory for Legal Science. In: Peczenik, Α., Lindahl, L. und Roermund, Β. van (Hg.): Theory of Legal Science. Proceedings of the Conference on Legal Theory and Philosophy of Science, Lund, Sweden, December 11 - 14, 1983. Dordrecht u.a. 1984, S. 39 - 52. 77 A.a.O., S. 41. 78 Niiniluoto, I.: The Growth of Theories: Comments on the Structuralist Approach. In: Hintikka, J., Gründer, D. und Agazzi, E. (Hg.): Pisa Conference Proceedings. Bd. 1. Dordrecht 1980, S. 3 - 47. 76

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F. Strukturalismus in der Rechtswissenschaft

what expansions are ,admissible" developments of the existing theory-net" 79 enthalten. Sintonen macht jedoch in seinen Ausführungen zur Anwendbarkeit des strukturalistischen Theorienkonzepts in der Rechtswissenschaft von N p und Η keinen Gebrauch, so daß diese Modifikationen hier auf sich beruhen können. Mit Hilfe des skizzierten Apparates unternimmt es Sintonen, ein Beispiel fur die Untersuchung rechtswissenschaftlicher Theorien im strukturalistischen Modell zu liefern. Dabei benutzt er wieder Aarnios Beispiel vom Wandel der skandinavischen Eigentumstheorie: Die älteren Vorstellungen vom Eigentum nennt er „essentialistisch", die neuen „analytisch". Auch Sintonen gelingt es jedoch nicht, die Leistungsfähigkeit des Sneed-Stegmüllerschen Formalismus bei der Darstellung juristischen Theorienwandels deutlich zu machen. Sintonen betrachtet diesen Wandel als „a legal-dogmatic change in which an essentialist systematization (an analogue of a natural-scientific theory-element) 7 e 0 is replaced by an analytic successor systematization T\ There is change in that Τ gives solutions to [...] anomalies of Γ. Τ may also show Τ to be false: Τ 9 gives a different solution to some problems in their shared domain [...]." 8 1 Sintonen benutzt hier die Kuhnsche Terminologie; auf den Sneed-Stegmüllerschen Präzisierungsversuch geht er jedoch wie Peczenik gar nicht ein. Es kann deshalb keine Rede davon sein, daß Sintonen in dem angeführten Beispiel zeige, wie der non-statement view in der Jurisprudenz sinnvoll angewendet werden kann. Die Kuhnsche Terminologie ist, wie bereits mehrfach erwähnt, in vielen Punkten außerordentlich vage, und dieser Umstand macht es natürlich möglich , Begriffe wie „Paradigma" oder „Anomalie" auch in der Jurisprudenz zu verwenden. Mit der Einführung einer neuen Terminologie ist jedoch noch kein Erkenntnisgewinn verbunden. Deshalb dürfte die Verwendung Kuhnschen Vokabulars in rechtsphilosophischen Kontexten zwar unschädlich, aber auch nicht weiterführend sein. Um die historische Entwicklung eines Rechtsinstituts wie etwa des Eigentums oder gar die großen Bewegungen des juristischen Denkens, etwa die Abfolge von Rechtspositivismus, Interessenjurisprudenz, Wertungsjurisprudenz usw. darzustellen, sind die üblichen historisch-genetischen Methoden - man denke

79

A.a.O., S. 41. Sintonen benutzt fur die alte und die neue Eigentumstheorie die Abkürzungen M T { W und „T 2 M . Um die Einheitlichkeit zu Peczeniks Ausführungen zu wahren, habe ich dafür „T M bzw. „ T a eingesetzt. 81 A.a.O., S. 47. 80

V. Die Anwendbarkeit des non-statement view in der Jurisprudenz

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nur an Franz Wieackers maßgebende „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit" 8 2 - sehr viel geeigneter als der non-statement view. Der jüngste und zugleich anspruchsvollste Versuch einer Anwendung des non-statement views in der Rechtswissenschaft stammt von Thomas Schlapp.83 Es ist hier nicht möglich, mich mit allen Thesen seiner Arbeit auseinanderzusetzen. Ich möchte vielmehr an meine Ausführungen zu Peczenik und Sintonen anknüpfen und der Frage nachgehen, welchen Gewinn eine mengentheoretische Darstellung juristischer Theorien bringen könnte. Bereits oben wurde darauf hingewiesen, daß der Begriff „Theorie" in der Jurisprudenz keine klaren Konturen aufweist. Schlapp erkennt dieses Problem und formuliert als seine erste These: „Tl)

Die gesamte Dogmatik einer juristischen positiven Norm ist eine wissenschaftliche Theorie. Zu einer Dogmatik zählt die Norm selbst." 84

Mit T l ist natürlich nur wenig fur die begriffliche Klärung gewonnen, denn der Begriff „Dogmatik" ist womöglich noch unschärfer als der Ausdruck „Theorie". Schlapp diskutiert deshalb einige repräsentative Positionen zu Begriff und Aufgaben der juristischen Dogmatik 85 und präsentiert im Anschluß daran eine Liste von Fragen, die die herkömmlichen Auffassungen von „Dogmatik" seiner Ansicht nach nicht oder nur unzureichend beantworten können.86 Diese Fragen sind jedoch von vornherein so gestellt, daß eine strukturalistisch reformulierte Rechtsdogmatik, wie sie Schlapp entwickeln möchte, „genau paßt". So stellt sich etwa Schlapps Frage (1), ob sich die empirische Komponente einer Dogmatik innerhalb eines formalen Systems darstellen läßt 87 , fur denjenigen gar nicht, der die Fruchtbarkeit formaler Methoden in der Rechtsdogmatik überhaupt bezweifelt oder der mit der Vorstellung von „empirischen Komponenten" einer Rechtsdogmatik wenig anzufangen weiß. Die anderen „offenen Fragen" Schlapps sind ähnlich geartet. 88 Um die Leistungsfähigkeit des non-statement view in der Rechts-

82

Wieacker, F. : Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2.A. Göttingen 1967. 83 Schlapp, Th.: Theorienstrukturen und Rechtsdogmatik. Ansätze zu einer strukturalistischen Sicht juristischer Theoriebildung. Berlin 1989. 84 A.a.O., S. 14. 85 A.a.O., S. 47 - 79. 86 A.a.O., S. 79 f. 87 A.a.O., S. 79 f. 88 Mit Ausnahme von Frage XIII nach der Anwendbarkeit auf die Dichotomie deskriptive / normative Tatbestandsmerkmale.

F. Strukturalismus in der Rechtswissenschaft

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dogmatik zu prüfen, möchte ich stattdessen Schlapps mengentheoretische Reformulierung des Notwehrparagraphen 32 StGB untersuchen, in der er das von ihm erarbeitete mengentheoretische Instrumentarium zusammenfaßt und exemplifiziert. Nach Schlapp läßt sich das mengentheoretische Prädikat „ist eine Notwehrdogmatik" wie folgt definieren: 89 „n ist eine Notwehrdogmatik gdw 1) η = (Ρ ; Ang; Vert; erf) 2) Ρ = (ρ λ ... ρ,) und η ^ 2 ist eine Menge aggressiv interagierender Menschen 3) Ang = if(ti ... t n) ist eine Menge von Handlungen innerhalb eines Zeitintervalls 4) Vert = (H 4; W(H i)) ist eine Menge von Handlungen, die von einer bestimmten psychischen Disposition gesteuert werden 5) erf: Ang Vert ist eine Funktion auf Ang in Vert 6) y y (y e Ang und fiy) = 0) 7) Λζ (ζ e Ang und ./(ζ) * 0 ~fiy) = é)u (1) und (2) bedürfen keiner weiteren Erläuterung. (3) soll zum Ausdruck bringen, daß ein Angriff (Ang) aus rechtsgutsbedrohenden Handlungen (//*) besteht. Um nur Handlungen innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls zu erfassen, wird if* mit einem Zeitparameter (^ ... t^ versehen. In (4) wird die Verteidigungshandlung (Vert) durch die Abwehrhandlung H* und den darauf bezogenen Willen W(H A) festgelegt. (5) soll ausdrücken, daß die zur Anwendbarkeit des § 32 StGB nötige Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung (die Verteidigungshandlung muß das mildeste mögliche Mittel sein, um den Angriff abzuwehren) eine Funktion ist, die einem Element aus Ang genau ein Element aus Vert zuordnet. Hier geht Schlapp offenbar stillschweigend von der Prämisse aus, es gebe genau eine mildeste Verteidigungshandlung und nicht mehrere gleich „milde" Mittel, den Angriff abzuwehren. (6) bezieht sich auf die Einschränkungen des Notwehrrechts und besagt, daß es Angriffe gibt, gegen die Notwehr prinzipiell unzulässig ist. Dies geschieht mittels einer Funktion/, die Schlapp leider nicht weiter erläutert. Die Funktion / taucht auch in (7) - nach Schlapp dem zentralen Notwehraxiom 90 auf. (7) soll ausdrücken, daß es zu jeder Verteidigungshandlung einen zugeordneten „Verteidigungswert" gibt (vgl. auch (5)), der mit der Starke des

89 90

A.a.O., S. 210. A.a.O., S. 210.

V. Die Anwendbarkeit des non-statement view in der Jurisprudenz

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Angriffs proportional wächst. In einer graphischen Darstellung, in der man auf der x-Achse die Angriffsintensität, auf der y-Achse den jeweils zulässigen Verteidigungswert abträgt, erhielte man nach Schlapp eine exponential verlaufende Kurve, ein Phänomen, dem mit der Notation „z1" Rechnung getragen werden soll. 91 Was Schlapp mit (7) ausdrücken möchte, bleibt unklar. Grundgedanke dürfte sein, daß die Verteidigungshandlung umso „schärfer" sein darf, je bedrohlicher der Angriff ist. Die mengentheoretische Erfassung dieses Gedankens in (7) erscheint mir aber sehr problematisch, y soll sich hier offensichtlich nicht, wie in (6), auf bestimmte Angriffe beziehen, gegenüber welchen Notwehr schlechthin unzulässig ist (also fiy) = 0), sondern symbolisiert Verteidigungshandlungen. Die Funktion/ ist dabei wieder eine Art Metrisierungsfunktion, wobei aber ganz ungeklärt bleibt, wie sich Schlapp die Metrisierung der Stärke von Angriffs- und Verteidigungshandlungen vorstellt. Merkwürdig ist auch der Ausdruck „z1", denn ζ wird doch in (7) als Angriff und ein solcher nach (3) wiederum als Handlung verstanden. Schlapp macht nicht deutlich, wieso er Handlungen so ohne weiteres mit einem Exponenten versehen zu können glaubt; vielleicht hätte „(/(z))1" seinen Absichten besser entsprochen. Wenden wir uns nun abschließend wieder der Frage zu, was mit der mengentheoretischen Darstellung der Notwehrdogmatik gewonnen ist. Es wurde darauf hingewiesen, daß die Übersetzung von strafrechtsdogmatischen Aussagen in ein mengentheoretisches Vokabular leicht Probleme aufwerfen kann: Zum einen tauchen in der mengentheoretischen Darstellungsweise dogmatische Differenzierungen nicht mehr auf; zum anderen verführt das mengentheoretische Vokabular dazu, mit mathematischen Ausdrucksformen in sehr „lockerer" Weise umzugehen. Es bleibt somit zunächst festzuhalten, daß durch die mengentheoretische Ausdrucksweise keine Präzisierung der Notwehrdogmatik erreicht wurde. Offensichtlich abwegig wäre auch die Erwartung, die Formulierung der Notwehrdogmatik als mengentheoretisches Prädikat erleichtere die Anwendung des Notwehrrechts, etwa indem eine strukturierende, vergleichende und wertende Rechtsanwendungstätigkeit nun durch bloße Rechenoperationen ersetzbar geworden wäre. Dies postuliert Schlapp auch gar nicht. Schließlich scheint mir die Mengentheorie auch keinen Gewinn für den Rechtsunterricht zu bedeuten. Zwar sind strukturierende Darstellungen gerade

91

A.a.O., S. 210 f.

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F. Strukturalismus in der Rechtswissenschaft

im Strafrecht von großem didaktischen Wert 9 2 , jedoch bedarf es für die Strukturierung keines mengentheoretischen Vokabulars. Insofern ist Schlapps Darstellungsweise also unnötig kompliziert. Alles in allem bleibt somit festzuhalten, daß der Nutzen einer Anwendung des Strukturalismus in der Rechtswissenschaft bislang nicht dargetan wurde. Peczenik und Sintonen geben zwar vor, den Strukturalismus Sneeds und Stegmüllers zu diskutieren, behandeln in Wirklichkeit aber nur Kuhn und dessen Paradigmabegriff. Die Verwendung dieses Begriffs in der Jurisprudenz ist zwar unschädlich, dürfte aber auch nicht weiterführend sein. Schlapp argumentiert sehr viel sorgfaltiger und überträgt den non-statement view auf genuin rechtswissenschaftliche „Theorien". Doch auch ihm gelingt es nicht, zu zeigen, warum die Dogmatik und Rechtstheorie sich des komplizierten mengentheoretischen Vokabulars bedienen und nicht bei ihrer bewährten natürlich-sprachlichen Ausdrucksweise bleiben sollten.

92

Vgl. etwa die Strafrechtslehrbücher von F. Haft oder D. Kienapfel, wo diese Methode schon seit längerem angewendet wird.

G. Die Sonderfallthese Das Thema „Recht und Moral 44 gehört zu den Klassikern der Rechtsphilosophie. Robert Alexy hat es in seiner „Theorie der juristischen Argumentation44 aufgegriffen und und eine „Sonderfallthese 44 formuliert, wonach der juristische Diskurs „ein Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses44 ist. 1 Aufgrund dieser These glaubt sich Alexy berechtigt, dem Umkreis der Frankfurter Schule entstammende moralphilosophische Vorschläge, die sog. „Diskursethik 44, auch fur den Rechtsanwendungsprozeß zu empfehlen. In diesem Kapitel soll nach einigen einfuhrenden Bemerkungen zur Diskursethik die Sonderfallthese und ihre Begründung durch Alexy einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Im alten Streit zwischen ethischem Kognitivismus und dem ethischen Nonkognitivismus2 haben die Diskursethiker, an ihrer Spitze Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas, eine seltsame Position bezogen. Nonkognitivisten sind der Meinung, alle bisherigen Versuche, auf wissenschaftlichem Wege der Moral ein Fundament zu verschaffen, seien gescheitert. Deshalb müsse man vorerst davon ausgehen, daß letzte Werte nicht der Erkenntnis zugänglich seien; zu derartigen Werten müssen wir uns nach Ansicht der Nonkognitivisten vielmehr bekennen, uns für sie entscheiden.3 Prominente Vertreter dieser Position sind - mit Unterschieden im einzelnen - neben Max Weber etwa Hans Albert und Karl Popper, in der Jurisprudenz Gustav Radbruch4

1

Alexy, R., Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung. Frankfurt a.M. 1978, S. 32, 263. Eine Zusammenfassung dieser Arbeit findet sich in: Alexy, R.: Eine Theorie des praktischen Diskurses. In: Oelmüller, W. (Hg.): Materialien zur Normendiskussion. Bd. 2: Normenbegründung - Normendurchsetzung. Paderborn 1978, S. 22 - 58. 2 Vgl. dazu den Überblick bei Kutschera, F. von: Grundlagen der Ethik. Berlin, New York 1982, S. 39 - 86. 3 Für eine besonders klare zeitgenössische Entwicklung dieser Position vgl. Albert, H.: Traktat über kritische Vernunft. 4. Aufl. Tübingen 1980, S. 55 - 79. 4 Radbruchs Insistieren auf einem Wertbezug des Rechts nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs44 stellt keine Rückkehr zu einem ethischen Kognitivismus dar, sondern ist ein wichtiges Beispiel der selbstverständlich immer gegebenen Möglichkeit, als schlecht empfundenes positives Recht im Namen der Moral oder der Religion zu kritisieren. Vgl.

no

G. Die Sonderfallthese

und Karl Engisch. Die Nonkognitivisten fordern, über moralische Fragen, insbesondere letzte Werte, zu diskutieren; gerade weil derartige Werte letztlich der persönlichen Entscheidung anheimgestellt sind, bedürfe es der Offenlegung der Positionen, der Argumentation über divergierende Meinungen und des Strebens nach einem praktischen Konsens. Niemand hat nach dieser Auffassung einen privilegierten Zugang zum moralisch Richtigen. Diese Ansicht, die in der angelsächsischen Welt schon lange herrschend war, hat sich nach dem zweiten Weltkrieg auch auf dem Kontinent durchgesetzt. Außerhalb kirchlicher Kreise gab es, neben einigen versprengten Anhängern der materialen Wertethik, 5 eigentlich nur noch die sog. Frankfurter Schule, die sich zu einem ethischen Kognitivismus bekannte. Die Position der älteren Frankfurter Schule war allerdings alles andere als klar, denn im Vertrauen auf eine von Marx und Hegel inspirierte Geschichtsphilosophie wurden Begründungs fragen kaum thematisiert. Jürgen Habermas, der Hauptvertreter der jüngeren Generation der Frankfurter Schule, hat die Geschichtsphilosophie aufgegeben und an ihre Stelle den Rekurs auf die Sprache gesetzt.6 Dabei konnte er sich auf Thesen KarlOtto Apels stützen, die dieser als „transzendentalpragmatisch44 bezeichnet hat. In der Jurisprudenz hat sich Robert Alexy zu der Diskursethik bekannt. Details ihrer Vorschläge werden uns weiter unten noch beschäftigen. Hier möchte ich nur auf den eigenartigen Charakter der „Diskursethik 44, wie die moralphilosophischen Thesen Apels und Habermas' üblicherweise genannt werden, aufmerksam machen. In der Diskursethik werden nämlich die kognitivistische und die nonkognitivistische Position miteinander verbunden, indem die Forderung nach Argumentation und Konsens beibehalten, gleichzeitig aber die Behauptung erhoben wird, diese Position ergäbe sich nicht aus der Erfahrung des Scheiterns aller bisherigen moralphilosophischen Letztbegründungsversuche, sondern ließe sich ihrerseits im Sinne des Kognitivismus begründen.7 Das Bekenntnis zu Argumentation und Konsens ist also nach diskurstheoretischer

Radbruch, G.: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. In: Süddeutsche Juristenzeitung 1 (1946), S. 105 - 108. Auch in: Radbruch, G.: Rechtsphilosophie. 8. Aufl. Stuttgart 1973. Hg. von Wolf, E., Schneider, H.P., S. 339 - 350. 5 Die aber zeitweise sehr einflußreich waren; vgl. etwa BGHSt 6, 46; BVerfGE 6, 389. 6 Dazu unten S. 160 - 163. 7 Vgl. Apel, K.-O., Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik. Zum Problem einer rationalen Begründung der Ethik im Zeitalter der Wissenschaft. In: ders.: Transformation der Philosophie. Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Frankfurt a.M. 1973, S. 358 - 435 (412 f.).

G. Die Sonderfallthese

111

Ansicht nicht Ausdruck der Einsicht, daß wir ethisches Wissen nicht gewinnen können, sondern selbst ethisches Wissen im kognitiven Sinn. Es wird zu prüfen sein, ob dieser Anspruch zu Recht erhoben wird. Auf diesem Wege ist allerdings Vorsicht geboten: Apel hat dem Skeptiker den Atomkrieg in Aussicht gestellt8, Habermas Isolation, Wahnsinn und Selbstmord.9 Unsere Prüfung wird also nicht ungefährlich sein. Trotzdem möchte ich Zweifel am Begründungsprogramm der Diskursethik wagen und auf nichts anderes achten als die Haltbarkeit der vorgebrachten Argumente. 10 In der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie hat sich vor allem Robert Alexy zu dem Programm der Diskursethik und damit zu einem ethischen Kognitivismus bekannt11, wenngleich dieses Bekenntnis in seinem rechtstheoretischen Hauptwerk, der „Theorie der juristischen Argumentation", nur undeutlich formuliert ist. Bestimmter findet es sich in Alexys Kieler Antrittsvorlesung aus dem Jahr 1987. 12 Alexys Buch ist die mit Abstand anspruchsvollste Ausarbeitung der Diskurstheorie in der Jurisprudenz. Ich möchte deshalb seine Arbeit als Ansatzpunkt meiner Analyse benutzen. Ich konzentriere mich also auf Alexy nicht deshalb, weil ich seine Vorschläge für besonders fehlerhaft halte, sondern weil erst er - wie Wolfgang Kuhlmann die Diskursethik mit großem geistigen Aufwand auf ein Niveau gehoben hat, auf dem eine kritische Analyse mehr sein kann als bloß die ständig wiederholte Frage: „Was meint der Autor eigentlich?" In diesem Kapitel soll zunächst die Sonderfallthese Gegenstand der Prüfung sein. Dazu muß erst einmal über den Gehalt der Sonderfallthese Klarheit gewonnen werden. Alexy weist selbst darauf hin, daß die Sonderfallthese zumindest dreierlei besagen könnte: Sie könnte erstens bedeuten, „daß der eigentliche Begründungs- oder Überlegungsvorgang nach den Kriterien des allgemeinen praktischen Diskurses zu geschehen habe (und in glücklichen Fällen auch geschehe) und daß die

8

A.a.O., S. 359 ff. Habermas, J.: Diskursethik - Notizen zu einem Begründungsprogramm. In: ders.: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a.M. 1983, S. 53 - 125 (110). 10 Eine primär ideologiekritisch ausgerichtete Analyse der kritischen Theorie aus juristischer Sicht hat bereits 1982 Horst Zinke vorgelegt: Der Erkenntniswert politischer Argumente in der Anwendung und wissenschaftlichen Darstellung des Zivilrechts. Eine Untersuchung zur Bedeutung der „Kritischen Theorie" für die Jurisprudenz. Berlin 1982. 11 Mißverständlich deshalb Neumann, Juristische Argumentationslehre, S. 91 f., der Alexy eine Position zwischen Kognitivismus und Nonkognitivismus zuschreibt. 12 Alexy, R.: Rechtssystem und praktische Vernunft. In: Rechtstheorie 18 (1987), S. 405 - 419 (insbes. 418 mit Fn. 52). 9

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G. Die Sonderfallthese

juristische Begründung nur der sekundären Legitimation des auf diese Weise gefundenen Ergebnisses diene." 13 Diese Ansicht lehnt Alexy ab. Die zweite Version der Sonderfallthese soll besagen, „daß die juristische Argumentation bis zu einem bestimmten Punkt fuhrt, an dem keine spezifisch juristischen Argumente mehr möglich sind. Hier habe die allgemeine praktische Argumentation einzusetzen."14 Auch diese Spielart der Sonderfallthese wird von Alexy zurückgewiesen. Nach der von ihm favorisierten dritten Lesart der Sonderfallthese sollen auf allen Stufen des Rechtsanwendungsprozesses juristische und moralphilosophische Argumente gleichermaßen zugelassen werden: Die „Verwendung spezifisch juristischer Argumente [ist] auf allen Stufen mit der allgemeiner praktischer Argumente zu verbinden". 15 Mit dieser Begriffsbestimmung allein ist allerdings noch nicht viel gewonnen. Zum einen bleibt offen, worin genau Alexy den Unterschied zwischen der ersten und der von ihm bevorzugten dritten Version der Sonderfallthese sieht. Zum anderen ist noch zu klären, ob Alexy die Sonderfallthese als sprachliche Festsetzung, als empirische Aussage über die Tätigkeit der Rechtsanwender oder als moralisches Postulat versteht. Nach dem oben zitierten Wortlaut ist nur die erste Version der Sonderfallthese deskriptiv; die beiden anderen Versionen sind normativ formuliert. An anderer Stelle 16 präzisiert Alexy die Sonderfallthese wie folgt: Der juristische Diskurs sei ein Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses, weil es „(1) in juristischen Diskussionen um praktische Fragen geht, [...] (2) diese Fragen mit dem Anspruch auf Richtigkeit diskutiert werden [... und] weil die juristische Diskussion (3) unter einschränkenden Bedingungen [...] stattfindet." Alexy versteht also unter einem allgemeinen praktischen Diskurs eine Diskussion, bei der es um praktische Fragen geht, wobei diese Fragen mit dem Anspruch auf Richtigkeit diskutiert werden. Der juristische Diskurs zeichnet sich ebenfalls durch diese Merkmale aus, findet aber - dies ist das qualifizierende Moment - unter einschränkenden Bedingungen wie etwa der Bindung an das Gesetz statt. 17 Handelt es sich hierbei nur um definitorische Festlegungen oder um empirische Aussagen über den tatsächlichen Rechtsanwendungsprozeß? Dies ist eines der Kernprobleme des vorliegenden Kapitels. Alexy äußert sich zu der

13 14 15 16 17

Theorie der juristischen Argumentation, S. 38. Ibid. Ibid. A.a.O., S. 263. A.a.O., S. 37, 262 f.

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Frage nicht ausdrücklich. Der Status der obigen Ausführungen läßt sich jedoch aus der ihnen unmittelbar nachfolgenden Passage teilweise erschließen. Alexy meint dort, die Sonderfallthese lasse sich auf dreierlei Weise angreifen: „Es kann behauptet werden, daß es in juristischen Diskussionen [...] nicht um praktische Fragen geht, daß [...] kein Anspruch auf Richtigkeit erhoben wird oder daß [...] dieser Anspruch zwar erhoben wird, die in juristischen Diskussionen geltenden Einschränkungen es aber nicht rechtfertigen, sie als ,Diskurse4 zu bezeichnen."18 Die von Alexy erwähnten Einwände gehen offenbar von einer feststehenden Bedeutung des Ausdrucks „allgemeiner praktischer Diskurs 44 aus. Fraglich ist fur ihn nur, ob auch juristische Diskussionen die Merkmale „allgemeiner praktischer Diskurse44 aufweisen. Dies deutet darauf hin, daß zumindest seine Bestimmung des „allgemeinen praktischen Diskurses44 lediglich den Status einer terminologischen Festlegung besitzt, also analytisch ist. Der Argumentation halber möchte ich im folgenden dem von Alexy vorgeschlagenen Sprachgebrauch folgen (was natürlich keineswegs zwingend ist) und seine drei selbstformulierten Einwände gegen die Sonderfallthese etwas näher untersuchen. Dem ersten Einwand, wonach es in juristischen Diskussionen nicht um praktische Fragen gehe, kommt Alexy insoweit entgegen, als er einräumt, es gäbe „eine Vielzahl von Erörterungen [...], die auf juristische Fragen bezogen sind und in denen es nicht um die Begründung normativer Aussagen, sondern um die Feststellung von Tatsachen geht. 4419 Alexy nennt hier rechtshistorische, rechtssoziologische und rechtstheoretische Untersuchungen, Beschreibungen des geltenden Rechts und Prognosen zukünftigen Richterverhaltens. Andererseits gebe es sowohl in der Praxis als auch in der Rechtswissenschaft eine auf Lösung praktischer Fragen bezogene Argumentation; diese spiele sogar in beiden Bereichen eine zentrale Rolle. Alexy meint mit „praktische Fragen44 also offenbar Fragen nach der Begründung normativer Sätze. Im moralphilosophischen wie im juristischen Kontext geht es u.a. um die Beantwortung der Frage, warum bestimmte Handlungen ausgeführt oder unterlassen werden sollten. Im Falle der Jurisprudenz ist das Gesetz der Entscheidungsmaßstab, nach dem derartige Fragen zu beantworten sind. Im Fall der Moralphilosophie ist der Maßstab umstritten; es ist sogar fraglich, ob ein allgemeinverbindlicher Maßstab existiert. Beidesmal geht es aber um Fragen des Typs: „Warum sollte ich dies oder

18 19

A.a.O., S. 263. Ibid.

8 Hilgendorf

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jenes tun oder unterlassen?", mithin um praktische Fragen. Insoweit kann Alexy also zugestimmt werden. Als weiteren möglichen Einwand gegen die Sonderfallthese betrachtet Alexy die Behauptung, in juristischen Diskursen werde kein Anspruch auf Richtigkeit erhoben. Alexy räumt ein, daß sich der in „juristischen Diskursen" erhobene Anspruch auf Richtigkeit von dem des „allgemeinen praktischen Diskurses" unterscheidet, hält aber diesen Unterschied im Hinblick auf die Sonderfallthese fur unbeachtlich: „Es wird nicht beansprucht, daß die behauptete, vorgeschlagene oder als Urteil verkündete normative Aussage schlechthin vernünftig ist, sondern nur, daß sie im Rahmen der geltenden Rechtsordnung vernünftig begründet werden kann." 20 In der Tat wird sowohl von Moralphilosophen als auch von Juristen in der Regel verlangt, daß sie sich nicht mit bloßen Behauptungen begnügen, sondern versuchen, diese Behauptungen auch „vernünftig" zu begründen. Leider hat sich bislang keine Einigkeit darüber erzielen lassen, welche Begründung denn als „vernünftig" und damit als „richtig" zu gelten hat. Vokabeln wie „Vernünftigkeit" und „Richtigkeit" sind deshalb außerordentlich unbestimmt. Auch Diktatoren pflegen ihre Entscheidungen als „vernünftig" zu betrachten, und man wird zumindest fragen dürfen, ob sich denn nicht, selbstverständlich innerhalb gewisser Grenzen, auch zweckrationales Handeln als „vernünftig" qualifizieren ließe. Aus der Unbestimmtheit von Alexys Zentralvokabeln „vernünftig" und „richtig" ergibt sich ein weiteres Problem. Bereits Neumann hat darauf hingewiesen, daß nach der herrschenden Auffasssung „Vernünftigkeit" im juristischen Kontext nur relativ auf die vorgegebene Rechtsordnung besteht.21 Auch Alexy scheint dies grundsätzlich zu akzeptieren, denn er sieht in seinen „Regeln und Formen des juristischen Diskurses" eine Gesetzesbindung des Rechtsanwenders vor 2 2 und an anderer Stelle23 heißt es, die juristische Argumentation sei „gekennzeichnet durch die wie immer zu bestimmende Bindung an das geltende Recht." „Richtig" in bezug auf die positive Rechtsordnung und moralisch „richtig" bedeuten jedoch keineswegs dasselbe. Zwar spielen bei der Ausarbeitung neuer Gesetze moralische Erwägungen zweifellos eine beträchtliche Rolle; auch wird der Rechtsuchende oft durch die Gesetze selbst auf die in der

20 21 22 23

A.a.O., S. 264. Juristische Argumentationslehre, S. 87. Vgl. bes. Regel J.2.1 und die Auslegungsregeln 2.2, a.a.O., S. 364 f. A.a.O., S. 262.

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Gesellschaft herrschenden Moralvorstellungen verwiesen. 24 Andererseits ist das rechtlich Gebotene in vielen Fällen fur bestimmte Personengruppen moralisch indifferent oder sogar unmoralisch; man denke nur an die grundsätzliche Verpflichtung zum Wehrdienst oder die Zulassung der Abtreibung. Zwei Wege könnten aus diesem Dilemma herausfuhren. Zum einen wäre es möglich, das positive Gesetz in jedem Fall auch fur moralisch verbindlich zu erklären. Eine solche Position wird gelegentlich als rechtspositivistisch bezeichnet, mir ist jedoch kein Rechtspositivist bekannt, der sie tatsächlich vertreten hätte. 25 Der andere Ausweg besteht darin, die Geltung des rechtlich Gebotenen von seiner moralischen Qualität abhängig zu machen. Diesen Weg wählt Alexy, indem er zwar einräumt, es gäbe „gute Gründe" dafür, den Begriff der richterlichen Entscheidung „im Rahmen einer analytischen Rechtstheorie so zu definieren, daß er diesen Anspruch [auf moralische Richtigkeit] nicht umfaßt." 26 Dies seien „jene Gründe, die ganz allgemein dafür sprechen, den Ausdruck »Rechtsnorm4 so zu gebrauchen, daß er keine Bezugnahme auf moralische Normen einschließt."27 Alexy will den Begriff der juristischen Entscheidung jedoch anders „definieren" (!), denn er glaubt, „daß das Fehlen des Anspruchs auf Richtigkeit [er meint die moralische Richtigkeit] einer Entscheidung zwar nicht notwendig den Charakter einer gültigen richterlichen Entscheidung nimmt, diese Entscheidung aber stets in einem nicht nur moralisch relevanten Sinn fehlerhaft sein läßt." 28 Nach Alexy kann eine richterliche Entscheidung also gültig und gleichzeitig in einem nicht nur moralischen Sinn fehlerhaft sein. Wie ist das zu verstehen? Die Fehlerhaftigkeit, so meint Alexy, gleiche der einer Äußerung wie „Die Katze liegt auf der Matte, aber ich glaube es nicht". 29 Leider macht Alexy nicht weiter deutlich, was er mit dieser Paralle ausdrücken will. Äußerungen wie die von Alexy angeführte werden heute unter der Rubrik „Konversationsimplikaturen" in der Linguistik analysiert. 30 Die Äußerung erscheint sonderbar, weil im ersten Satzteil implizit etwas ausgesagt wird,

24

Vgl. die Übersicht bei Engisch, Hauptthemen der Rechtsphilosophie, S. 95 - 106. A.A. aber viele. Vgl. z.B. Bielefeld, H.: Neuzeitliches Freiheitsrecht und politische Gerechtigkeit. Perspektiven der Gesellschaftsvertragstheorien. Würzburg 1990, S. 43 (zu Thomas Hobbes). 26 A.a.O., S. 266. 27 A.a.O., S. 266 Fn. 10. 28 A.a.O., S. 266 f. 29 Das Beispiel taucht schon bei Austin, J.L.: How to Do Things With Words. The William James Lectures delivered at Harvard University in 1955. Cambridge, Mass. 1962, S. 48 ff. auf. 30 Vgl. Levinson, S.C.: Pragmatics. Cambridge 1983, S. 97 - 166. 25

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was der expliziten Behauptung im zweiten Satzteil widerspricht. Die linguistische Erforschung derartiger Phänomene steckt allerdings noch in den Anfangen. Alexy s Versuch, derartige Widersprüche 31 zur Klärung jener fundamentalen Probleme zu verwenden, die in der Rechtsphilosophie üblicherweise unter dem Titel „Recht und Moral" diskutiert werden, hätte zumindest einiger weiterer Präzisierung bedurft. In ihrer jetzigen Form sind Alexys Ausführungen nicht überzeugend. Sie sind aber symptomatisch für die Hoffnung der Diskursethiker, eine Lösung unserer drängendsten moralischen Probleme ließe sich durch eine Analyse der Sprache finden. Diese Hoffnung sollte man nicht von vornherein als illusorisch betrachten, wenngleich die Sprachwissenschaftler selbst zur Skepsis mahnen.32 Es erscheint jedoch nicht unfair zu verlangen, daß die Diskursethiker ihre aus der Sprachwissenschaft entlehnten oder zumindest von dort inspirierten Begründungsschritte im einzelnen offenlegen; kryptische Hinweise auf angebliche sprachwissenschaftliche Erkenntnisse oder gar bloß die Wiedergabe linguistisch erklärungsbedürftiger Phänomene reichen nicht aus. Ein weiteres Problem der Alexyschen Position scheint mir zu sein, daß er ausdrücklich davon spricht, den Begriff der juristischen Entscheidung im einen oder anderen Sinn zu „definieren". Definitionen sind terminologische Festsetzungen, und natürlich läßt sich „juristische Entscheidung" oder „juristische Diskussion" so definieren, daß sie einen Sonderfall des „allgemeinen praktischen Diskurses" bilden. Alexy scheint aber zu übersehen, daß in diesem Fall seine Sonderfallthese analytisch und mithin trivial wird, während sie über die tatsächliche Situation des Rechtsanwenders gar nichts aussagt. Der letzte von Alexy diskutierte Einwand besagt, es sei wegen der im juristischen Bereich geltenden Einschränkungen unmöglich, juristische Diskussionen als „Diskurse" zu bezeichnen.33 Um diesen Einwand zu beurteilen, muß zunächst geklärt werden, was mit der Vokabel „Diskurs" eigentlich gemeint ist. Bislang wurde dieser Begriff synonym zu „Diskussion" verwendet. Jürgen Habermas hatte den Begriff „Diskurs" bestimmt als „die durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation [...], in der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf

31 Ob es sich um logische Widersprüche handelt, braucht hier nicht entschieden zu werden. 32 Vgl. unten S. 162. 33 A.a.O., S. 263, 269 f.

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ihre Berechtigung hin untersucht werden." 34 Alexy schließt sich offenbar dieser Begriffsbestimmung an. 3 5 Für entscheidend scheint er zu halten, daß es sich bei Diskursen um eine Form von Diskussionen handelt, die bis zu einem gewissen Grade frei von Einschränkungen sind. Angesichts der Weite dieses Erfordernisses kann Alexy rechtswissenschaftliche Erörterungen ohne weiteres als „Diskurse" bezeichnen.36 Sehr viel problematischer ist es, Verhandlungen vor Gericht, etwa einen Strafprozeß, als „Diskurs" im obigen Sinne zu qualifizieren. Neumann verweist zu Recht auf die richterliche Verfahrensherrschaft sowie darauf, daß es im Prozeß in erster Linie um einen günstigen Verfahrensausgang geht, die vorgebrachten Argumente also strategischer Natur sind. 37 Sogar Jürgen Habermas hatte deshalb den Prozeß anfanglich nicht als Diskurs, sondern als strategisches Handeln angesehen.38 Auch Alexy spricht von einer „besonderein] Zwischenstellung" des Prozesses, die es ausschließe, „ihn einfach als Diskurs zu bezeichnen."39 Selbst der Prozeß könne aber „nicht ohne Bezugnahme auf den Begriff des Diskurses theoretisch erfaßt werden." 40 Dem kann man allerdings entgegenhalten, ein Geschehen ließe sich doch wohl auch in der Weise „theoretisch erfassen", daß man es mit dem Diskursbegriff kontrastiert. Alexys Anliegen ist jedoch die Verteidigung der Sonderfallthese. Er muß also versuchen, sogar den Straf]prozeß unter den Diskursbegriff zu subsumieren. Alexy erreicht dies, indem er die einschränkenden Bedingungen des Prozesses einfach ausblendet: Auch die Prozeßparteien und der Richter beanspruchen seiner Ansicht nach, „vernünftig zu argumentieren", denn sie „geben zumindest vor, daß ihre Argumente so beschaffen sind, daß sie unter idealen Bedingungen Zustimmung finden würden. Zur theoretischen Erfassung ihrer Argumentation ist die Diskurstheorie daher nicht nur geeignet, sondern sogar erforderlich." 41

34 Habermas, J.: Wahrheitstheorien. In: Wirklichkeit und Reflexion. Festschrift für Walter Schulz. Hg. von Fahrenbach, H. Pfullingen 1973, S. 211 - 265 (214); auch in: Habermas, J.: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a.M. 1984, S. 127 - 183 (130). 35 Theorie der juristischen Argumentation, S. 139 ff. 36 A.a.O., S. 269. 37 Juristische Argumentationslehre, S. 35. 38 Habermas, J.: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann. In: Ders. / Luhmann, N.: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? Frankfurt a.M. 1971, S. 142 - 290 (200 f). 39 Theorie der juristischen Argumentation, S. 271. 40 Ibid. 41 Ibid.

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Dieser Versuch, Jürgen Habermas diskurstheoretisch zu überholen 42, kostet freilich seinen Preis: Der Gehalt der Sonderfallthese besteht jetzt nur noch darin, daß auch im juristischen Kontext mit dem Anspruch auf „Vernünftigkeit 44 argumentiert wird. Da dieser Anspruch aber mit dem Vorbringen eines Argumentes fast immer verbunden sein dürfte, wird die Sonderfallthese trivial. Die Sonderfallthese gewinnt also ihre prima-facie-Plausibilität aus der Unbestimmtheit der Alexyschen Terminologie, vor allem der Begriffe „vernünftig 44 und „richtig 44. Bisweilen erweckt Alexy den Eindruck, seine These beruhe lediglich auf geeigneten terminologischen Festsetzungen; er scheint nicht zu bemerken, daß die Sonderfallthese in diesem Fall analytisch würde. An anderen Stellen bezieht Alexy die Sonderfallthese auf tatsächliche Verhältnisse, etwa die Rechtwissenschaft oder den Prozeß. Um auch noch den Strafprozeß als Sonderfall des „allgemeinen praktischen Diskurses44 erfassen zu können, läßt Alexy schließlich als gemeinsames Merkmal praktischer Diskurse den „Anspruch auf Richtigkeit44 genügen, der in allen derartigen Veranstaltungen seiner Ansicht nach erhoben wird. In diesem Fall wird die Sonderfallthese also nicht deshalb trivial, weil sie analytisch ist, sondern deshalb, weil sie fast nichts mehr ausschließt.

42 Habermas hat sich den Ausführungen Alexys angeschlossen, vgl. ders., Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. 4. Aufl. Frankfurt a.M. 1987, S. 62 Fn. 63.

H. Die Erlanger Schule und Perelman I. Die moralphilosophischen Vorschläge der Erlanger Schule Die Erlanger (und Konstanzer) Schule ist eine vielbeachtete Richtung der gegenwärtigen Wissenschaftstheorie, die sich vor etwa zwei Jahrzehnten unter der Führung des Mathematikers Paul Lorenzen gebildet hat. Wichtige Vertreter der Erlanger Schule sind heute neben Lorenzen Peter Janich, Friedrich Kambartel, Kuno Lorenz, Jürgen Mittelstraß und Oswald Schwemmer. Die Vorschläge dieser Autorengruppe werden oft unter der Bezeichnung „Konstruktivismus" zusammengefaßt, obwohl dieser Terminus ursprünglich in einem sehr viel weiteren Sinn benutzt wurde. 1 Ein Ahnherr der Erlanger Schule ist der Wissenschaftsphilosoph Hugo Dingler, ein anderer der niederländische Mathematiker L. E. J. Brouwer. Brouwer entwickelte zu Beginn unseres Jahrhunderts den logischen Intuitionismus als Antwort auf die damalige Grundlagenkrise in der Mathematik. Die sog. „dialogische Logikbegründung"2 kann als eine Fortentwicklung des Intuitionismus angesehen werden. Ein weiteres wichtiges und erfolgversprechendes Projekt der Erlanger Schule ist die Erarbeitung einer sog. „Protophysik", durch die die Physik in vorwissenschaftlichen Handlungen fundiert werden soll.3 Lorenzen und seine Schüler haben ihre Vorschläge in einer kaum noch zu übersehenden Vielzahl von Büchern und Artikeln publiziert, so daß interessierte Leserinnen und Leser für einen Gesamtüberblick über die Thesen der Erlanger Schule am besten auf eine der lehrbuchartigen Gesamt-

1 Vgl. Thiel, Ch.: Konstruktivismus. In: Mittelstraß, J. (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Bd.2, Mannheim u.a. 1984, S. 449 - 453. 2 Berühmt geworden ist die Schrift von Kamiah, W., Lorenzen, P.: Logische Propädeutik oder Vorschule des vernünftigen Redens. Mannheim u.a. 1967, 2. Aufl. 1973 u.d.T.: Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens. Zum Intuitionismus vgl. auch Wessel, H.: Logik. 3. Aufl. Berlin (O) 1989, S. 244 - 289. 3 Vgl. Janich, P.: Protophysik. In: Speck, J.(Hg.): Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe. Bd.2 Göttingen 1980, S. 514 - 517; ders. / Tetens, H.: Protophysik. Eine Einführung in: Philosophia Naturalis 22 (1985), S. 3 - 21.

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H. Die Erlanger Schule und Perelman

darstellungen zurückgreifen werden, die 1969, 1973, 1975 und 1987 erschienen sind.4 Im vorliegenden Zusammenhang interessieren nur die moralphilosophischen Vorschläge der Erlanger Schule, und diese nur unter einem bestimmten Aspekt: Wir haben zu prüfen, ob sie als Grundlegung für eine kognitive Ethik benutzt werden können.5 Schon die frühe Schrift Lorenzens aus dem Jahr 1969 enthielt ein kurzes Schlußkapitel über „Foundations of practical philosophy".6 Sehr viel aufsehenerregender war jedoch ein Vortrag, den Lorenzen im selben Jahr auf dem I X . Deutschen Kogreß für Philosophie hielt7, in dem er das Konzept einer „praktischen Vernunft" gegen Angriffe Ernst Topitschs verteidigte. Dies gab Anlaß, über eine „große Koalition" zwischen der Erlanger und der Frankfurter Schule zu spekulieren. Ein fundamentaler Unterschied zwischen den moralphilosophischen Vorschlägen beider Schulen war jedoch nicht zu übersehen: Während die Frankfurter Schule eine kognitive Ethik vertrat, betonte Lorenzen ausdrücklich die Notwendigkeit eines „act of faith" 8 , eines Glaubensakts, und lehnte damit eine kognitive Ethik ab. In den beiden Auflagen von „Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie" wurde aber ein Diskursmodell ähnlich dem von Jürgen Habermas zumindest der Terminologie nach beibehalten und eine klare Entscheidung zwischen kognitiver oder nichtkognitiver Ethik umgangen.

4

Lorenzen, P.: Normative Logic and Ethics. Mannheim u.a. 1969; ders. / Schwemmer, O.: Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie. Mannheim u.a. 1973, 2. Aufl. 1975; Lorenzen, P.: Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie. Mannheim 1987. Die umfassendste kritische Darstellung des Konstruktivismus stammt von Friedmann, J.: Kritik konstruktivistischer Vernunft. Zum Anfangs- und Begründungsproblem bei der Erlanger Schule. München 1981. Speziell zur Begründungsfrage vgl. auch: Rasmussen, S.A.: The Erlangen School. A Critical Note on Their Foundational Programme. In: Danish Yearbook of Philosophy 18 (1981), S. 23 - 44, der aber die Begründungsansprüche der Erlanger m.E. überzogen darstellt. 5 Eine detaillierte Darstellung und Diskussion der älteren konstruktivistischen Ethik findet sich bei Wimmer, R.: Universalisierung in der Ethik. Analyse, Kritik und Rekonstruktion ethischer Rationalitätsansprüche. Frankfurt a.M. 1980, S. 59 - 121. 6 A.a.O., S. 73 - 89. Kritisch dazu und zu dem in Fn.7 genannten Vortrag Keuth, H.: Dialektik versus kritischer Rationalismus. In: Ratio 15 (1975), S. 26 - 39. 7 Lorenzen, P.: Das Problem des Scientismus. In: Landgrebe, L. (Hg.): 9. Deutscher Kongreß für Philosophie (Düsseldorf 1969), Philosophie und Wissenschaft. Meisenheim am Glan 1972, S. 19 - 34. Der Vortrag wurde u.d.T.: „Scientismus versus Dialektik" mehrfach neu abgedruckt, u.a. in: Kambartel, F. (Hg.): Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie. Frankfurt a.M. 1974, S. 34 - 53. 8 Normative Logic and Ethics, S. 74.

I. Die moralphilosophischen Vorschläge der Erlanger Schule

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In neueren Publikationen haben sich führende Vertreter der Erlanger Schule vom Universalitätsanspruch der Diskursethik und damit auch von bestimmten Lesarten ihrer eigenen älteren Vorschläge distanziert. Lorenzen diskutiert in seinem 1987 erschienenen „Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie 44 Fragen der Ethik unter dem Titel einer „Theorie des politischen Wissens".9 Oberster Wert ist fur ihn nun der „Friede". 10 Er lehnt es aber ausdrücklich ab, diesen Wert aus der „Vernunft" zu begründen 11; das in den älteren Publikationen der Erlanger Schule so häufig bemühte „Vernunftprinzip" habe nur Scheinbegründungen erlaubt. 12 Der Sache nach bekennt sich Lorenzen jetzt zu dem Grundgedanken des Relativismus, indem er einräumt, fur den Unbeteiligten sei „die Teilnahme an Theorien um des Friedens willen eine wissenschaftlich unbegründete »Entscheidung4".13 Das Wort „Diskurs" fallt nicht. Lorenzen mißversteht allerdings nach wie vor das Anliegen wertneutraler Sozialwissenschaften, wenn er sie mit einem kruden Nihilismus in Zusammenhang bringt. 14 Trotz dieses Mißverständnisses ist es aber ausgeschlossen, die moralphilosophischen Vorschläge Lorenzens heute noch als Argument fur die sich als kognitive Ethik verstehende Diskursethik zu betrachten. Auch Schwemmer ist inzwischen von seinen früheren Thesen abgerückt. 15 In seiner Marburger Antrittsvorlesung (1984) über „Moralische

9

A.a.O., S. 228 - 254. A.a.O., S. 231, 234, 235, 237 und pass. In „Normative Logic and Ethics", S. 84 war dagegen noch allgemein von „natürlichen4* und „kulturellen" Bedürfnissen die Rede, worunter wohl das Verlangen nach Nahrung, Schlaf, Sexualität usw. gemeint war. Hier wird deutlich, wie bestimmte Bedürfnisse mit zunehmendem Alter die Oberhand gewinnen können, weshalb es natürlich sehr problematisch ist, eine allgemeinverbindliche Moral auf derartige Bedürfnisse gründen zu wollen. 11 A.a.O., S. 243. 12 A.a.O., S. 250; vgl. auch ibid., S. 238. 13 A.a.O., S. 239. 14 A.a.O., S. 274. 15 Schwemmer, O.: Ethische Untersuchungen. Rückfragen zu einigen Grundbegriffen. Frankfurt a.M. 1986, S. 7; anders noch in: ders., Praktische Vernunft und Normbegründung. Grundprobleme beim Aufbau einer Theorie praktischer Begründungen. In: Mieth, D., Compagnoni, F.(Hg.): Ethik im Kontext des Glaubens. Probleme - GrundsätzeMethoden. Freiburg i.Ue., Freiburg i.Br. 1978, S. 138 - 156; u.d.T.: Das Problem der Normbegründung. Praktische Vernunft und Normbegründung. Auch in: Schwemmer, O.: Ethische Untersuchungen (s.o.), S. 1 3 - 3 2 . 10

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H. Die Erlanger Schule und Perelman

Erfahrung und praktische Vernunft" 16 lehnt er ein praktisches Wissen und damit den moralphilosophischen Kognitivismus ab 1 7 und spricht von der „Konsens-Euphorie einiger moderner Ethiken". 18 Schließlich hat sich auch Kambartel von dem älteren Programm der Erlanger Schule abgewandt.19 Es ist somit hinreichend deutlich geworden, daß sich Vertreter einer kognitiven Ethik nicht länger auf die Autoren der Erlanger Schule berufen können. Schon die älteren Vorschläge von Lorenzen, Schwemmer und Kambartel waren bei genauerem Hinsehen nicht dem ethischen Kognitivismus zuzurechnen 20, wenngleich viele der damals verwendeten Formulierungen zu Mißverständissen Anlaß geben konnten. Inzwischen haben die genannten Autoren ihre Positionen geklärt bzw. revidiert, so daß der Unterschied zum ethischen Kognitivismus im allgemeinen und der Diskurstheorie im besonderen unübersehbar geworden ist. Angesichts dieses klaren Befundes erscheint es müßig, die älteren Arbeiten von Erlanger Autoren auf Spuren eines ethischen Kognitivismus hin zu untersuchen. Dies ist auch deswegen unnötig, weil Alexy den entscheidenden Unterschied zum ethischen Kognitivismus der Frankfurter Schule anerkennt und ausdrücklich einräumt, Grundlage der konstruktivistischen Ethik sei „der Gedanke der Zweckrationalität". 21 Damit steht fest, daß die These, bei den Diskursregeln von Habermas und Alexy handele es sich um moralisches Wissen im kognitiven Sinn, nicht auf die Arbeiten der Erlanger Schule gestützt werden kann. Alexy glaubt aber, sich zumindest bei der Herleitung der Diskursregeln auf Vorschläge seitens der konstruktivistischen Ethik stützen zu können.

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U.d.T.: Moralisches Argumentieren und ethischer Pluralismus. Moralische Erfahrung und praktische Vernunft, abgedruckt in: Schwemmer, O.: Ethische Untersuchungen, a.a.O. S. 57 - 76. 17 A.a.O., S. 70 f. 18 A.a.O., S. 72. 19 Kambartel, F.: Begründungen und Lebensform. Zur Kritik des ethischen Pluralismus. In: Kühl mann, W. (Hg.): Moral ität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik. Frankfurt a.M. 1986, S. 85 - 100; auch in: ders., Philosophie der humanen Welt. Abhandlungen. Frankfurt a.M. 1989, S. 44 - 58; vgl.auch ders., Vernunft: Kriterium oder Kultur? Zur Definierbarke it des Vernünftigen, ibid., S. 27 - 43. Dazu wiederum kritisch Mittelstraß, J.: Von der Vernunft. Erwiderungen auf Friedrich Kambartel. In: ders.: Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie. Frankfurt a.M. 1989, S. 120 - 141, der sich aber seinerseits a.a.O., S. 136 ebenfalls vom ethischen Kognitivismus abgrenzt. 20 So auch Friedmann, a.a.O., S. 147 („konventionalistischkonzipierte[s] Begründungsprogramm"). 21 Theorie der juristischen Argumentation, S. 182.

I. Die moralphilosophischen Vorschläge der Erlanger Schule

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Grundlage seiner Ausführungen sind die von Oswald Schwemmer stammenden moralphilosphischen Partien von „Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie". 22 Alexy vereinnahmt den Konstruktivismus fur die Habermassche Moralphilosophie auf denkbar einfachste Weise, indem er eine Identität der Ziele behauptet: „Wer einen durch die Habermasschen Regeln definierten praktischen Diskurs aufnimmt, verfolgt das Ziel gewaltfreier Konfliktbeseitigung. Insofern schließt die Habermassche Theorie die Schwemmersche ein 4 4 . 2 3 Da aber fast alle Ethiken das Ziel gewaltfreier Konfliktbeseitigung verfolgen dürften, lassen sich auf diese Weise nahezu beliebige Ethiksysteme der Diskurstheorie einverleiben und zum Anknüpfungspunkt fur die Gewinnung von Diskursregeln machen. Auf die Ausführungen Schwemmers brauche ich hier nur kurz einzugehen. Er führt zunächst getreu dem Erlanger Programm eine Orthosprache ein und unterscheidet sodann ein Vernunft- und ein Moralprinzip. Im Kontext des Vernunftprinzips nennt Schwemmer drei „Stufen vernünftiger Gemeinsamkeit 44 . Die erste soll in der „Bereitstellung eines [...] gleichen Wortgebrauchs44 zwischen Anredendem und Angeredetem bestehen24, die zweite Stufe darin, daß „der Anredende die Sätze, die anzunehmen er den Angeredeten auffordert, auch selber annimmt. 4425 Die dritte „Stufe vernünftiger Gemeinsamkeit44 umfaßt die Verallgemeinerung der beiden ersten Stufen: sie sollen „in dem Sinne allgemein werden [...], daß die Wörter für jeden beliebigen lehrbar und die Sätze für jeden beliebigen annehmbar gemacht werden. 4426 Als „Vernunftsprinzip 44 bezeichnet Schwemmer „die Forderung [...], diese dritte Stufe der vernünftigen Gemeinsamkeit in den zu Beschlußfassungen geführten Reden herzustellen.44 Durch die Befolgung des Vernunftprinzips ist definiert, was eine „vernünftige Beratung44 ist. 27 Aus der auf Vermeidung von Verstandigungsproblemen abzielenden ersten Schwemmerschen ,Stufe 4 entnimmt Alexy die Diskursregel: „Jeder Sprecher muß jederzeit in einen sprachanalytischen Diskurs übergehen können 44 . 28 Die Sprachanalyse soll also einen einheitlichen Wortgebrauch gewährleisten. In der „Tafel der erarbeiteten Regeln und Formeln 44 taucht diese Regel später

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Alexy benutzt die erste Auflage von 1973. Theorie der juristischen Argumentation, S. 183. Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie (1. Aufl.), S. 115. A.a.O., S. 115 f. A.a.O., S. 116. A.a.O., S. 116. Theorie der juristischen Argumentation, S. 186.

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H. Die Erlanger Schule und Perelman

leicht modifiziert als Übergangsregel (6.2) auf. 29 Aus einem als bloß zweckrational eingeführten Mittel macht Alexy also eine Diskursregel, die doch zumindest bei Habermas, zu dem sich Alexy immer wieder bekennt, eben nicht als zweckrational, sondern als ethisches Wissen im kognitiven Sinn angesehen werden. Der doppeldeutige Status des Alexyschen Regelkanons wird hier besonders deutlich. Dem zweiten Prinzip der konstruktivistischen Ethik, dem „Moralprinzip", gibt Schwemmer folgende Formulierung: „Stelle in einer Konfliktsituation die miteinander verträglichen Supernormen zu den Normen fest, die als Gründe fur die miteinander unverträglichen Zwecke benutzt werden, und stelle zu diesen Supernormen Subnormen auf, die miteinander verträglich sind." 30 Dieses Prinzip soll nach Schwemmer der Moralbegründung dienen, doch hat schon Kambartel 31 , dem Alexy sich anschließt32, auf die Probleme dieses Anspruchs hingewiesen. Das „Moralprinzip" läßt augenscheinlich offen, wie zu verfahren ist, wenn die Streitparteien die von der anderen Seite jeweils vorgeschlagenen Subnormen nicht zu akzeptieren bereit sind. Von einer Moralbegründung kann deshalb keine Rede sein. Alexy entnimmt dem „Moralprinzip" deshalb nur den Gedanken der „Transsubjektivität", wonach in Diskursen ausschließlich subjektive Wünsche im Interesse der Allgemeinheit zur Diskussion gestellt werden müssen (dieser Gedanke taucht auch bei Lorenzen häufig auf 33 ), ohne aber daraus eine Diskursregel zu formulieren. Die eigenwillige Lehre von der Genese von Normensystemen, die Schwemmer auf den letzten Seiten von „Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie" entworfen hat 34 , glaubt Alexy dagegen als Anknüpfungspunkt für die Formulierung einer Diskursregel 35 nutzen zu können. Da Alexy Schwemmers Ausführungen aber lediglich den (nicht ganz neuen) Gedanken entnimmt, „daß man eine Norm (auch) durch Hinweise auf ihre

29

A.a.O., S. 364. Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie, S. 119 f. 31 Kambartel, F.: Wie ist praktische Philosophie konstruktiv möglich? Über einige MißVerständnisse eines methodischen Verständnisses praktischer Diskurse. In: Ders.(Hg.): Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie (Fn.7), S. 9 - 33 (15). 32 Theorie der juristischen Argumentation, S. 189. 33 Vgl. etwa Lehrbuch der konstruktiven Wissenschaftstheorie, S. 251, 272, 303; Normative Logic and Ethics, S. 82. 34 A.a.O., S. 273 - 317. 35 Es handelt sich dabei um Diskursregel 5.2.1. Die Regeln Alexys sollen in den letzten beiden Kapiteln dieser Arbeit im Zusammenhang besprochen werden. 30

I. Die moralphilosophischen Vorschläge der Erlanger Schule

125

Entstehung kritisieren kann" 36 , und sodann diese Einsicht in Regelform formuliert, brauche ich die einschlägigen Passagen bei Schwemmer und Alexy nicht weiter zu diskutieren: Es ist zum einen offensichtlich, daß fur die „Herleitung" der fraglichen Diskursregel die Schwemmerschen Ausführungen nur einen sehr losen Anknüpfungspunkt gebildet haben; zum anderen ist der Status der Diskursregel - technische Regel oder sprachphilosophisch gewonnenes Wissen - erneut unklar geblieben, so daß insoweit auf das oben Ausgeführte verwiesen werden kann. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß die moralphilosophischen Vorschläge der Erlanger Schule nicht als Argument für die Diskursethik betrachtet werden können. Die konstruktivistische Ethik ist weder ein tauglicher Anknüpfungspunkt für eine kognitive Moralphilosophie, wenngleich einige ältere Formulierungen der Erlanger Autoren zu diesem Mißverstandnis Anlaß geben konnten, noch lassen sich aus den konstruktivistischen Vorschlägen ohne gewaltsame Uminterpretation Diskursregeln im Sinne von Habermas und Alexy gewinnen.

I I . Chaim Perelman und die Diskursethik Der 1984 verstorbene Logiker, Jurist und Philosoph Chaim Perelman gilt als einer der Begründer der modernen Argumentationstheorie. Sein zusammen mit L. Olbrechts-Tyteca verfaßtes und 1958 erschienenes Hauptwerk „La nouvelle rhétorique. Traité de Γ argumentation" erlebte bis heute fünf Auflagen und wurde bereits 1965 ins Englische übersetzt. 37 Im folgenden geht es nicht darum, Perelmans Lebenswerk umfassend darzustellen. 38 Uns interessiert ausschließlich die Frage, ob sich Perelman als Gewährsmann einer kognitiven Ethik ansehen läßt. Ein zentraler Begriff in Perelmans Argumentationstheorie ist der des „Auditoriums". 39 Perelman bezeichnet damit das Publikum, das der jeweils

36

A.a.O., S. 193. Die 5. Aufl. erschien 1988 in Brüssel u.d.T.: Traité de l'argumentation. La nouvelle rhétorique. Der Titel der englischen Ausgabe lautet: The New Rhetoric. A Treatise on Argumentation. London 1969. Eine deutsche Übersetzung fehlt noch. 38 Vgl. dazu Bouchard, G.: La nouvelle rhétorique. Introduction a Poevre de Charles Perelman. Ottawa u.a. 1980; zu den philosophischen Grundlagen Perelmans vgl. Rotenstreich, N.: Argumentation and Philosophical Clarification. In: Philosophy and Rhetoric 5 (1972), S. 12 - 23. 39 Vgl. Traité, S. 7, 8 - 10, 18 und pass. 37

126

H. Die Erlanger Schule und Perelman

Argumentierende zu überzeugen versucht. Die Frage, welches Auditorium mit welchen Mitteln zu überzeugen ist, läßt sich im Prinzip auf rein empirische Weise mit den Mitteln der Psychologie und der Soziologie beantworten. Durch diese Verfahren wird über den moralischen Wert der verwendeten Argumente natürlich nicht entschieden. Auch das sog. „universale Auditorium44 kann nicht als allgemeingültiger moralischer Maßstab angesehen werden. Perelman nennt das universale Auditorium zwar eine „norme de l'argumentation objective 4440 , doch konzipiert er sein universales Auditorium ausdrücklich nur als Fiktion 41 , als Idealbild eines nur durch „vernünftige 44 Gründe zu überzeugenden Auditoriums, wobei die Frage, was denn „vernünftige 44 Gründe seien, von Sprecher zu Sprecher anders beantwortet werden kann. Eine kognitive Ethik läßt sich darauf nicht gründen. Diese Interpretation hat Perelman in einer seiner letzten Arbeiten noch einmal bekräftigt.« Alexy dagegen hofft, Perelmans Konzept des universalen Auditoriums als Anknüpfungspunkt für seine Diskursregeln benutzen zu können. Er bestimmt das universale Auditorium „als die Gesamtheit der Menschen in dem Zustand, in dem sie sich befinden würden, wenn sie ihre argumentativen Fähigkeiten entfalten würden44 und glaubt, diesen Zustand mit der Habermasschen idealen Sprechsituation gleichsetzen zu können.43 Diese These ist überraschend: Habermas ist ein prominenter Vertreter eines ethischen Kognitivismus, der aus den Grundstrukturen unserer Sprache moralische Regeln (die Regeln der „idealen Sprechsituation44) gewinnen zu können glaubt. Die „ideale Sprechsituation44 ist für ihn ein möglicher Gegenstand der Erkenntnis. Perelman dagegen betrachtet sein universales Auditorium als Fiktion, die nicht erkannt, sondern lediglich festgesetzt werden kann und hat die Vorstellung von moralischem Wissen im kognitiven Sinn ausdrücklich abge-

40

Traité S. 40. So schon in: Perelman, Ch., Olbrechts-Tyteca, L.: Act and Person in Argument. In: Ethics 61 (1950 / 51), S. 251 - 269 (252). 42 Perelman, Ch.: The New Rhetoric and the Rhetoricians: Remembrances and Comments. In: Quarterly Journal of Speech 79 (1984), S. 188 - 196, insbes. S. 191 ff. Zur Interpretation des „universellen Auditoriums44 vgl auch Golden, J.L.: The Universal Audience Revisited. In: Ders., Pilotta, J.J. (Hg.): Practical Reasoning in Human Affairs. Studies in Honor of Chaim Perelman. Dordrecht u.a. 1986, S. 287 - 304 und Crosswhite, J.: Universality in Rhetoric: Perelman's Universal Audience. In: Philosophy and Rhetoric 22 (1989), S. 157 - 173. Anders die Interpretation bei Ray, J.W.: Perelman's Universal Audience. In: Quarterly Journal of Speech 64 (1978), S. 361 - 375. 43 Theorie der juristischen Argumentation, S. 206. 41

II. Chaim Perelman und die Diskursethik

127

lehnt. 44 Im folgenden soll untersucht werden, ob sich Perelman tatsächlich der ihm von Alexy unterstellten Inkonsequenz schuldig gemacht hat und trotz seiner Ablehnung des ethischen Kognitivismus als Gewährsmann der Diskursethik anzusehen ist. Wenden wir uns dazu zunächst Perelmans Hauptwerk, dem Traité, zu und vergleichen seine Ausführungen zum universalen Auditorium mit den Thesen der Diskurstheoretiker. Jürgen Habermas hat für die Diskursethik einen Anspruch auf universelle Geltung erhoben. Diese Geltung ergibt sich seiner Ansicht nach aus allgemeinen Grundstrukturen der menschlichen Sprache. Demgegenüber ist bei Perelman die Konzeption des universalen Auditoriums nicht nur kulturabhängig, sondern wechselt sogar von Sprecher zu Sprecher. 45 Jeder macht sich nach Perelman ein eigenes Bild des universalen Auditoriums und betrachtet sich selbst als dessen idealen Repräsentanten 4 6 Es ist offenkundig, daß sich ein universales Auditorium in diesem Sinn nicht als allgemeingültiger Maßstab ethischen Wissens verwenden läßt. Perelman wendet sich sogar explizit gegen konsensorientierte kognitive Ethiken und bemerkt unter Hinweis auf Pareto (!) „que le consentement universel invoqué n'est bien souvent que la généralisation illégitime d'une intuition particulière." 47 Damit hat Perelman, ohne die Diskursethik zu kennen, einen ihrer entscheidenden Mängel beschrieben. Auch Alexy räumt ein, daß Perelmans soeben skizzierte Konzeption des universalen Auditoriums nicht als objektiver moralischer Maßstab zu gebrauchen ist. 48 Er glaubt jedoch, bei Perelman noch eine andere Variante des universalen Auditoriums vorzufinden, die es erlaube, Perelman als Gewährsmann der Diskursethik zu betrachten. Dabei beruft er sich auf Perelmans Schrift „Fünf Vorlesungen über die Gerechtigkeit". 49 In der fünften dieser Vorlesungen bestimmt Perelman die Aufgaben der Moralphilosophie in Anlehnung an das Ideal des gerechten Richters. Dieses Ideal beinhalte auch Unparteilichkeit und ein „aktives Engagement zugunsten der gemeinschaftlichen Normen und Werte". 50 Der Richter soll sich also an den in der Gemeinschaft geltenden Normen orientieren. Ganz analog ist es nach Perelmans

44

Vgl z.B. Perelman, Ch.: Juristische Logik als Argumentationslehre. Freiburg, München 1979, S. 150. 45 Traité, S. 43. 46 Ibid. 47 Ibid. 48 Theorie der juristischen Argumentation, S. 205. 49 In: Perelman, Ch.: Über die Gerechtigkeit. München 1967, S. 85 - 163. 50 A.a.O., S. 152.

128

H. Die Erlanger Schule und Perelman

Ansicht Aufgabe des Moralphilosophen, „Werte und Normen [zu finden], die nach seiner Erkenntnis von keinem vernünftigen Wesen zurückgewiesen werden." 51 Dabei übernimmt der Moralphilosoph die in der Gemeinschaft geltenden Werte. Sie besitzen „den Vorzug, daß sie nicht gerechtfertigt werden müssen, weniger weil sie evident sind, als weil sie nicht umstritten sind. Diese privilegierte Ausgangslage wird meistens der Tatsache verdankt, daß sie doppelsinnig oder mehrdeutig und damit verschiedenen Auslegungen zugänglich sind. Des Philosophen Rolle wird also darin liegen, sie zu präzisieren, indem er die Formeln und Interpretationen beseitigt, die nach seiner Meinung nicht vor einem universalen Auditorium verteidigt werden können." 52 Aufgabe des Moralphilosophen ist nach Perelman also die Suche nach faktisch in der Gesellschaft geltenden Werten und Normen und deren Präzisierung zu Gesetzen, die sodann der Gemeinschaft zur Entscheidung vorgelegt werden. 53 Dem wird ein Nonkognitivist ohne weiteres zustimmen können. Von der Diskursethik ist Perelmans Konzeption dagegen weit entfernt, denn dort wird ja behauptet, gewisse moralische Regeln würden unabhängig von jeder Entscheidung für uns gelten, weil sie in den Grundstrukturen der Sprache verankert seien. Perelman steht in der Tradition der Topik und Rhetorik. Von einem ethischen Kognitivismus kann also auch in den „Fünf Vorlesungen über die Gerechtigkeit" keine Rede sein. Worauf gründet sich aber Alexys abweichende These? Die Antwort muß lauten: auf ein Mißverständnis. Perelman faßt im Anschluß an die oben zusammengefaßten Überlegungen seine Vorstellungen von der Aufgabe der Moralphilosophie wie folgt zusammen: „In seiner Bemühung, gerechte Regeln zu formulieren, wird der Philosoph, wie der Richter des common law, nach Präzedenzfallen, die sein Urteil zu lenken geeignet sind, suchen, aber unter den Maximen, die die Entscheidung motivieren [...], nur jene annehmen, die geeignet sind, zu Gesetzen einer universellen Gesetzgebung zu werden w 5 4 (l). Die Formulierung im letzten Halbsatz erinnert natürlich stark an den kategorischen Imperativ Kants. Perelman versucht deshalb, seine Position von den Vorschlägen des Königsberger Philosophen abzugrenzen. Er überträgt dazu die bekannte Formulierung des kategorischen Imperativs: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip

51 52 53 54

A.a.O., S. 153. Ibid. A.a.O., S. 155. A.a.O., S. 153.

II. Chaim Perelman und die Diskursethik

129

einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne " 5 5 , in die Gerichtssprache: „Du hast dich so zu verhalten, als ob Du ein Richter wärest, dessen ratio decidendi ein fur alle Menschen gültiges Prinzip liefern muß" 56 (2). Alexy faßt nun (2) so auf, als habe hier Perelman eine eigene Forderung aufgestellt. Er erkennt nicht, daß es sich bei (2) lediglich um eine Reformulierung von (1) handelt, die Perelman nur zum Zweck einer deutlicheren Abgrenzung von Kant einführt. Perelman bezeichnet wesentliche Bestandteile des kategorischen Imperativs - etwa die Trennung zwischen zu verallgemeinernder subjektiver Maxime und dem allgemeinen objektiven Gesetz - als „wider die Tatsachen", sie scheinen ihm sogar „geradezu ein Hirngespinst" zu sein. 57 Er stellt die rhetorische Frage, ob denn tatsächlich jeder von uns als Richter in letzter Instanz über objektiv gültige, d.h. allgemein verbindliche Prinzipien befinden könne, und verneint dies: Niemals gäbe es die „Gewißheit [...], auf eine objektive und universal gültige Regel zu stoßen."58 Perelman lehnt also auch hier eine kognitive Ethik eindeutig ab. Der Versuch Alexys, Perelman mit Habermas in Verbindung zu bringen, ist damit fürs erste gescheitert. Alexy glaubt jedoch noch eine weitere Verbindungslinie zwischen Perelman und Habermas gefunden zu haben. Er identifiziert kurzerhand das universale Auditorium Perelmans mit der „aufgeklärten Menschheit" und behauptet, es setze sich aus den Menschen als vernünftigen Wesen zusammen. 59 Daraus lassen sich dann diskurstheoretische Folgerungen ziehen: „Aufgeklärt" und „vernünftig", so meint Alexy, seien solche Menschen, die sich auf das Spiel der Argumentation einlassen. Dies setze allerdings den Besitz von Informationen und die Kompetenz der Informationsverarbeitung voraus. Auch für die „nicht so Kompetenten" sei zumindest bei praktischen Diskursen eine Teilnahme „schon deshalb zu fordern, weil auch ihre Interessen betroffen werden." 60 Für diese Forderung beruft sich Alexy auf keinen Geringeren als Karl Popper 61, der somit ebenfalls zum Gewährsmann

55

Kant, I.: Kritik der praktischen Vernunft, S. 30. (Kant's gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. V. Berlin 1908). 56 Fünf Vorlesungen über die Gerechtigkeit, S. 154. 57 A.a.O., S. 155. Insofern ist seine eigene, oben zitierte Formulierung von den eine Entscheidung motivierenden „Maximen" allerdings mißverständlich. 58 Ibid. Auf die Frage, ob Perelmans Kantinterpretation in allen Punkten überzeugend ist, brauche ich hier nicht einzugehen. 59 Theorie der juristischen Argumentation, S. 205. 60 A.a.O., S. 206. 61 Popper, K.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd.2: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen. 6. Aufl. München 1980, S. 288. 9 Hilgendorf

130

H. Die Erlanger Schule und Perelman

der Diskursethik avanciert. Damit glaubt sich Alexy zu der schon eingangs zitierten Gleichsetzung von Perelmans universalem Auditorium und der Habermasschen idealen Sprechsituation berechtigt. Was ist von diesem Argument zu halten? Problematisch ist schon Alexys Ausgangspunkt, nämlich die Identifikation von universalem Auditorium und der „aufgeklärten Menschheit". Alexy erzeugt damit den Eindruck, als habe Perelman an der zitierten Stelle die Relativität des universalen Auditoriums einschränken wollen. Tatsächlich kommt jedoch in der Passage, auf die sich Alexy stützt, der Ausdruck „universales Auditorium" gar nicht vor. Perelman lehnt dort vielmehr die Ansicht ab, die „Vernunft" könne so etwas wie allgemein gültige Werte und Regeln erkennen. Der Kerngedanke der Passage ist also geradezu gegen einen sich auf die „Vernunft" gründenden ethischen Kognitivismus gerichtet. Der einzige „Sinn, den wir der praktischen Rolle der Vernunft geben können", ist nach Perelman, „daß sie [...] Regeln und Kriterien liefert, die wir der Zustimmung aller unterbreiten können. Aber in dem Maß, als diese Regeln nicht notwendig sind, als sie sich nicht durch ihre unwiderlegliche Evidenz aufzwingen, sondern als vernünftiger Vorschlag auf die Zustimmung aller angewiesen sind, ist es nötig, daß alle jene, an die sie sich wenden - die aufgeklärte Menschheit nämlich - sie diskutieren, kritisieren und verbessern können." 62 Dies ist im wesentlichen auch das Programm, das ethische Nonkognitivisten wie Albert oder Popper vorschlagen. Alexys Behauptung, „aufgeklärt" und „vernünftig" seien bei Perelman jene, die sich auf das „Spiel der Argumentation" einlassen, ist außerordentlich irreführend, weil sie sich sowohl im Sinne Perelmans als auch im - ganz entgegengesetzten, nämlich kognitivistischen - Sinne von Habermas deuten lassen. Erst einige Sätze weiter, in denen Alexy die Doppelsinnigkeit seiner Formulierung aufrechterhält, erfolgt die endgültige Vereinnahmung Perelmans, indem Alexy plötzlich die schon erwähnte und menschlich zweifellos sympathische Forderung nach der Teilnahmemöglichkeit auch der „nicht so Kompetenten" an „praktischen Diskursen" aufstellt und so seine Neudefinition des „universalen Auditoriums" im Habermasschen Sinne einleitet. Damit hat Alexy Perelmans Begriffs des universalen Auditoriums von einem kultur- und sogar personenrelativen Ideal zu einem objektiven Maßstab ethischen Wissens uminterpretiert und so in sein Gegenteil verkehrt. Alexys Versuch, Perelman als einen Gewährsmann der Diskursethik zu präsentieren, muß deshalb als gescheitert angesehen werden.

62

Perelman, Ch.: Betrachtungen über die praktische Vernunft. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 20 (1966), S. 210 - 221 (221).

I. Die Transzendentalpragmatik I. Einleitung D i e Transzendentalpragmatik ist der derzeit wohl meistdiskutierte Versuch, den Skeptizismus zu überwinden und zu einer „letztbegründeten" ethischen Theorie zu gelangen. Geistiger Vater der Transzendentalpragmatik ist der Frankfurter Philosoph Karl-Ötto A p e l . 1 E r und seine Schüler haben diesen Ansatz in zahlreichen Arbeiten ausgebaut und auch auf aktuelle politische Fragen angewendet. 2 D i e bislang detaillierteste Studie zur Transzendentalpragmatik hat 1985 Apels Schüler Wolfgang Kuhlmann vorgelegt. 3 Anhand dieser Arbeit soll die Transzendentalpragmatik i m folgenden untersucht werden. D e r erklärte Gegner von Apel und Kuhlmann ist der kritische Rationalismus, aus dessen Umfeld auch die schärfsten Kritiken am transzendentalpragmatischen Letztbegründungsversuch stammen. 4 Es ist in diesem Rahmen

1

Apel, K.O.: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik. In: Ders.: Transformation der Philosophie. Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Frankfurt a.M. 1973, S. 358 - 435. 2 Vgl. zuletzt Apel, K.O.: Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt a.M. 1988. Eine Bibliographie der Apelschen Schriften findet sich in Kuhlmann, W., Böhler, D. (Hg.): Kommunikation und Reflexion. Zur Diskussion der Transzendentalpragmatik. Antworten auf Karl-Otto Apel. Frankfurt a.M. 1982, S. 777 - 786. 3 Kuhlmann, W.: Reflexive Letztbegründung. Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik. Freiburg, München 1985. (Im folgenden zitiert als „Letztbegründung"). Für eine knappe Skizze vgl. ders.: Argumentation und Transzendentalpragmatik. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 11 (1989), S. 3 - 10. 4 Albert, H.: Transzendentale Träumereien. Karl-Otto Apels Sprachspiele und sein hermeneutischer Gott. Hamburg 1975; ders.: Die Wissenschaft und die Fehlbarkeit der Vernunft. Tübingen 1982, S. 58 - 94; ders.:Die angebliche Paradoxie des konsequenten Fallibilismus und die Ansprüche der Transzendentalpragmatik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 41 (1987), S. 421 - 428. Keuth, H.: Fallibilismus versus transzendentalpragmatische Letztbegründung. In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie XIV (1983), S. 320 - 337 (mit Replik von Kuhlmann, W.: Reflexive Letztbegründung versus radikaler Fallibilismus. Ibid. XVI (1985), S. 357 - 374 und Duplik von Keuth, H.: Fehl-

132

I. Die Transzendentalpragmatik

nicht möglich, die Diskussion umfassend wiederzugeben und zu analysieren. Es geht lediglich darum, die wichtigsten Argumente der Transzendentalpragmatik auf ihre Haltbarkeit zu untersuchen. Transzendentalpragmatiker suchen das Fundament der Ethik in der Sprache: Jeder, der argumentiert (dieser Begriff wird sehr weit verstanden) mache Gebrauch von bestimmten Regeln der Argumentation und diese Regeln seien jedem Zweifel enthoben, weil auch der Skeptiker sie „immer schon" anerkannt habe. Die Verneinung dieser Regeln fuhrt nach Ansicht der Transzendentalpragmatiker zu einem „performativen Widerspruch". Im folgenden sollen zunächst die beiden Argumente Kuhlmanns gegen die Position des Fallibilismus und das Münchhausen-Trilemma untersucht werden.

I I . Kuhlmanns Argumente gegen das Münchhausen-Trilemma Kuhlmanns Ausgangsthese lautet: „Die Situation des sinnvoll Argumentierenden ist fur uns schlechthin unhintergehbar". Dieser Satz enthält nach Kuhlmann den Kerngedanken der Transzendentalpragmatik und soll ein synthetisches Urteil a priori darstellen.5 Schon damit bezieht Kuhlmann eine Gegenposition zum Fallibilismus6, der bekanntlich jedes sichere Wissen außerhalb der Formalwissenschaften - also sowohl sicheres Wissen praktischer als auch sicheres Wissen theoretischer Art - fur unmöglich hält. Die bekannteste Version des Fallibilismus im deutschen Sprachraum ist der kritische Rationalismus Karl Poppers. Sein Schüler Hans Albert hat die Einwände des kritischen Rationalismus gegen jeden Versuch einer philosophischen Letztbegründung im Münchhausen-Trilemma zusammengefaßt, wonach der Letztbegründer nur die Wahl zwischen folgenden Alternativen hat: 1) „einem infiniten Regreß, der durch die Notwendigkeit gegeben erscheint, in der Suche nach Gründen immer weiter zurückzugehen, der aber praktisch nicht durchzufuhren ist und daher keine sichere Grundlage liefert;

barkeit oder Sicherheit. Ibid. XIX (1988), S. 378 - 390). Ähnlich auch Fusfield, W.D.: ,The Rules of Argumentation Aren't Valid for Me 1 ... Either! An Additional Refutation of Wolfgang Kuhlmann's Attempted Transcendental-Pragmatic Final-Grounding of Ethics and Epistemology. In: Eemeren, F.H. van (Hg.): Argumentation. Perspectives and Approaches. Proceedings of the Conference on Argumentation, 1986. Bd. 3 A. Dordrecht 1987, S. 336 - 346. 5 Letztbegründung, S. 51. 6 „Fallibilismus" und „Skeptizismus*4 werden hier synonym verwendet.

II. Kuhlmanns Argumente gegen das Münchhausen-Trilemma

133

2) einem logischen Zirkel in der Deduktion, der dadurch entsteht, daß man im Begründungsverfahren auf Aussagen zurückgreift, die vorher schon als begründungsbedürftig aufgetreten waren, und der, weil logisch fehlerhaft, ebenfalls zu keiner sicheren Grundlage führt; und schließlich 3) einem Abbruch des Verfahrens an einem bestimmten Punkt, der zwar prinzipiell durchfuhrbar erscheint, aber eine willkürliche Suspendierung des Prinzips der zureichenden Begründung involvieren würde." 7 Ist Alberts Diagnose zutreffend, so wäre jeder Versuch einer Letztbegründung von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das Trilemma ergibt sich dabei nicht bloß bei Zugrundelegung eines deduktiv-logischen Begründungsbegriffs, sondern entsteht generell, wenn „Gründe" verlangt werden, die nicht mit dem zu Begründenden identisch sind. Es ist somit nur konsequent, wenn sich Kuhlmann zunächst der Kritik des Münchhausen-Trilemmas zuwendet.8 Seine Kritik besteht aus zwei Teilen. Zum einen, so erklärt Kuhlmann, sei die skeptische Position entgegen ihrem eigenen Anspruch nicht zu falsifizieren, zum anderen behaupte der konsequente Fallibilist gar nichts, seine Grundthese sei ohne Gehalt.9 Zur Darlegung des ersten Widerspruchs setzt Kuhlmann an bei der Grundthese des Fallibilismus: „Keine Aussage ist (objektiv) sicher". Kuhlmann führt dazu aus: „Wer behauptet, Jede Uberzeugung ist fallibel 4 bzw., wie man auch noch sagen kann: ,Keine Uberzeugung gilt wirklich sicher 4, ohne dabei die eigene These ausdrücklich auszunehmen, der behauptet das dann auch von seiner eigenen damit zum Ausdruck gebrachten Überzeugung. Er nimmt damit seiner These den Anspruch, den man zunächst einmal hinter ihr erwartet, nämlich daß das, was sie aussagt, auch wirklich der Fall ist, daß sie wirklich wahr ist. Auf die Frage des Opponenten, ob er denn nun wirklich behaupte, [...] daß nichts wirklich sicher gelte, wird der Fallibilist antworten: ,Nein, konsequenterweise meine ich natürlich nur, daß nicht wirklich sicher ist, daß nichts wirklich sicher ist.4 Versuchen wir nun

7

Albert, H.: Traktat über kritische Vernunft. 4. Aufl. Tübingen 1980, S. 13. Seine Analyse präzisiert über weite Strecken die Thesen Apels, vgl. Apel, K.O.: Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik. Versuch einer Metakritik des „kritischen Rationalismus". In: Kanitschneider, B. (Hg.): Sprache und Erkenntnis. Festschrift für G.Frey zum 60. Geburtstag. Innsbruck 1976, S. 55 - 82. 9 Letztbegründung, S. 67. 8

I. Die Transzendentalpragmatik

134

ganz im Sinne des Fallibilismus die Hauptthese des Fallibilismus zu falsifizieren. Nehmen wir dazu an, wir könnten zwingend nachweisen, daß nicht jede Überzeugung unsicher ist. Konfrontieren wir diese letzte Behauptung, daß nicht jede Uberzeugung unsicher ist, mit der Fallibilismusthese, so stellt sich heraus, daß diese wider Erwarten gar nicht falsifiziert ist. Denn der Fallibilist wird bzw. kann jetzt sagen: ,Wenn der Sinn meiner These gewesen wäre: ,Es ist wirklich wahr, daß nichts wirklich sicher ist 4 , dann wäre ich jetzt widerlegt. Aber dies war nicht der Sinn der These. Als konsequenter Fallibilist kann ich sinnvoll ja nur meinen, daß nicht sicher ist, daß nichts wirklich sicher ist. 4 441 0 Es fragt sich nun, ob diese Ausführungen Kuhlmanns These, wonach sich der Fallibilismus nicht falsifizieren läßt und somit in Widerspruch zu seinen eigenen Postulaten steht, zu tragen vermögen. Die Falsifizierbarkeit ist in den Augen des kritischen Rationalisten das entscheidende Kriterium für die Wissenschaftlichkeit einer Aussage. Wäre die Aussage „Keine Aussage ist sicher44 nicht falsifizierbar, müßte sie der konsequente kritische Rationalist deshalb aus dem Bereich der Wissenschaft in die Restkategorie Metaphysik verweisen. Es ist deshalb zu prüfen, ob der Fallibilismus tatsächlich nicht zu widerlegen ist. Ausgangspunkt sei die Grundthese des Fallibilismus: (1) „Keine Aussage ist (objektiv) sicher44 Diese Aussage läßt sich symbolisieren als:

(2)

Ax (Fx - -iSx)

mit Fx fur: χ ist eine Aussage und Sx fur: χ ist (objektiv) sicher. Außerdem sei mit Kuhlmann die Existenz mindestens einer sicheren Aussage unterstellt, also z.B. (3) Fa Λ Sa fur: „α ist eine (objektiv) sichere Aussage44. Aus (2) folgt durch Universalspezifikation (4) Fa

- ι Sa

Dies läßt sich aussagenlogisch umformen zu (5) -«(Fa Λ Sa). Es gilt also

10

Letztbegründung, S. 67 f.

II. Kuhlmanns Argumente gegen das Münchhausen-Trilemma

(6)

Ax (Fx

^Sx)

135

-n(Fa Λ Sa)

Aus (6) und (3) folgt aber mittels des modus tollens (7) -ιΛχ (Fx

-iSc),

d.h. (2) und damit auch (1) sind falsifiziert. Damit ist gezeigt, daß sich die Grundthese des Fallibilismus falsifizieren laßt. Kuhlmanns Argument von der Nichtfalsifizierkeit des Fallibilismus ist deshalb nicht haltbar. Die Widerlegung von Kuhlmanns Argument mag manchen etwas überraschen. Kuhlmann hatte doch versichert, der Fallibilist werde sich durch wiederholte Selbstanwendung seiner Grundthese gegen alle Falsifizierungsversuche immunisieren. Diese zweifelhafte Immunisierungsstrategie taucht in obiger Widerlegung des Fallibilismus nicht auf. Doch warum sollte sich der Fallibilist so verhalten, wie ihm Kuhlmann dies unterstellt?11 Der Gedanke der Widerlegung von hypothetisch akzeptierten Allsätzen ist doch geradezu ein kennzeichnendes Merkmal des kritischen Rationalismus. Kuhlmanns Argumentation ist also nur solange plausibel, bis man erkennt, daß er die gegnerische Position unzutreffend wiedergibt. Seine Kritik trifft nicht Fallibilisten wie Popper, Albert oder Keuth, sondern nur den „transzendentalpragmatisch transformierten Fallibilisten Kuhlmannscher Prägung". 12 Der zweite Widerspruch, in den sich nach Kuhlmanns Ansicht der kritische Rationalist verwickeln muß, besteht darin, „daß er - entgegen seinem Anspruch - gar keine gehaltvolle These vorträgt." Die These des Fallibilisten „Keine Aussage ist (objektiv) sicher" könne nämlich „wiederholt auf sich angewendet werden [...], weil ja mit jeder erneuten Anwendung eine neue Überzeugung [eine Aussage] herauskommt [sie], deren Geltung wieder mit dem Vorbehalt versehen werden sollte. Ja, die eigentliche Bedeutung der Fallibilismusthese zeigt sich erst dann, wenn die These unbegrenzt oft auf sich angewendet wird, denn erst am freilich unerreichbaren Ende des Dialogs zwischen Opponenten: ,Was meinst du wirklich mit deiner Aussage? Wo stehst du wirklich? 4 und dem Fallibilisten, der seine jeweils letzte Version durch Selbstanwendung des Prinzips weiter abschwächt, würde sich herausstellen, was der Fallibilist wirklich behauptet [...]. Der Fallibilist wird nichts als wahr behaupten, auch nicht, daß irgend etwas unsicher ist. [...] Der

11

So auch Albert, Die angebliche Paradoxie, S. 423 f, 426 und pass., Keuth, Fehlbarkeit oder Sicherheit, S. 38. 12 Keuth, Fehlbarkeit oder Sicherheit, S. 384.

I. Die Transzendentalpragmatik

136

konsequente Fallibilist behauptet also gar nichts. Seine These hat in Wirklichkeit gar keinen Gehalt." 13 Kuhlmanns Argument beruht auf der Gleichsetzung von (1) „Keine Aussage ist (objektiv) sicher" mit dem Resultat einer beliebig häufigen Selbstanwendung dieses Satzes. Tatsächlich folgt aus (1) und dem Satz (8) „(1) ist eine Aussage" der Satz (9) „,Keine Aussage ist (objektiv) sicher4 ist nicht (objektiv) sicher". Da (9) seinerseits eine Aussage ist, läßt sich die Selbstanwendung unbegrenzt fortsetzen. Daraus folgt aber nicht, daß die Grundthese des Fallibilismus dieselbe Bedeutung hätte wie das Resultat ihrer unbegrenzten Selbstanwendung. Aus „Keine Aussage ist sicher" folgt nicht nur (9), sondern ebenso die Unsicherheit weiterer Aussagen wie „Gustav Radbruch wurde im Jahr 1878 geboren" und „Alle Juristen sind spitzfindig". Die Grundthese des Fallibilismus besagt also zwar auch, daß es unsicher sei, daß es unsicher sei ..., daß keine Aussage sicher sei, sie besagt aber außerdem noch viel mehr. 14 Es kann deshalb keine Rede davon sein, die Grundthese des Fallibilismus sei mit dem Resultat ihrer unbegrenzten Selbstanwendung gehaltgleich, d.h. also (praktisch) gehaltleer. Auch Kuhlmanns zweites Argument gegen das Münchhausen-Trilemma vermag deshalb nicht zu überzeugen.

I I I . Das Grundproblem von Kuhlmanns Fallibilismuskritik Der Schlüsselgedanke für Kuhlmanns Kritik am Münchhausen-Trilemma und am Fallibilismus ist die Vorstellung, daß derjenige, der die Grundthese des Fallibilismus (1) Keine Aussage ist (objektiv) sicher behauptet und dabei die eigene Behauptung nicht ausnimmt, einen Selbstwiderspruch begehe: „Der eigentliche Grund für die Schwierigkeiten des radikalen Fallibilismus liegt darin, daß der Fallibilist die Rolle des Gewiß-

13 14

324.

Letztbegründung, S. 69 f. So auch Keuth, Fallibilismus versus transzendentalpragmatische Letztbegründung, S.

III. Das Grundproblem von Kuhlmanns Fallibilismuskritik

137

heitsanspruchs bei philosophischen Aussagen vom Typ (1) falsch einschätzt44.15 Dieses Argument ist nicht neu. Im Gegenteil: die Vorstellung, ein konsequenter Skeptizismus gegenüber moralphilosophischen Letztbegründungsversuchen - Juristen sprechen hier traditionellerweise von „Relativismus44 müsse sich im Falle einer Selbstanwendung irgendwie „selbst aufheben 44, ist ein beliebter Topos nicht nur der Erkenntnistheorie, sondern auch der Rechtsphilosophie. Meist läuft das Argument der „Selbstaufhebung 44 des Relativismus allerdings nur auf die Behauptung hinaus, die angegriffene Position habe bestimmte unannehmbare faktische Konsequenzen.16 Ein Widerspruch im logischen Sinn läge dann natürlich nicht vor. Gelegentlich tauchen in der Rechtsphilosophie allerdings auch Formulierungen auf, die an die Thesen Kuhlmanns erinnern. 17 In der Gegenwart scheint die Selbstaufhebungsfigur vor allem im theologisch inspirierten Schrifttum Hochkonjunktur zu haben. 18 Ein junger Metaphysiker hat kürzlich die Selbstaufhebungsfigur unter Berufung auf Kuhlmann sogar als das zentrale Argument der Philosophie bezeichnet.19 Schon dies rechtfertigt es, den Argumentationsgang Kuhlmanns etwas näher zu untersuchen. Kuhlmann umschreibt die Kemthese des Fallibilismus [(1): „Keine Aussage ist (objektiv) sicher44] mit „Legitime absolute Sicherheit ist nicht möglich 44 . Ich möchte offenlassen, ob damit tatsächlich ein Präzisionsgewinn gegenüber (1) verbunden ist und nur die These von dem angeblichen Selbst-

15

Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung versus radikaler Fallibilismus, S. 361. So z.B. bei Ryffel, H.: Grundprobleme der Rechts- und Staatsphilosophie. Philosophische Anthropologie des Politischen. Neuwied, Berlin 1969, S. 269 - 288 (insbes. 273 fl). Dagegen zu Recht Engisch, Hauptthemen der Rechtsphilosophie, S. 265 - 270. 17 So z.B. bei Emge, C.A.: Über das Grunddogma des rechtsphilosophischen Relativismus. Berlin, Leipzig 1916, S. 62. 18 Vgl. etwa Weissmahr, B.: Ontologie. Stuttgart u.a. 1985, S. 30 - 35. 19 Hösle, V.: Carl Schmitts Kritik an der Selbstaufhebung einer wertneutralen Verfassung in Legalitat und Legitimität. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61 (1987), S. 1 - 34 (2). Vom selben Autor stammt der bemerkenswerte Versuch, unter Berufung auf Kuhlmann aus angeblichen Selbstwidersprüchen des Münchhausen-Trilemmas einen „wahrheitslogischen Gottesbeweis" zu entwickeln. Selbst Anhänger der Transzendentalpragmatik werden sich hier die bange Frage stellen, ob Hösle dem Selbstaufhebungsargument nicht doch etwas zu viel zumutet. Vgl. Hösle, V.: Begründungsfragen des objektiven Idealismus. In: Philosophie und Begründung. Hg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg. Frankfurt a.M. 1987, S. 212 - 267 und dazu die Replik von Albert, H.: Hösles Sprung in den objektiven Idealismus. Über die Verwirrungen eines ganz gewöhnlichen Genies. In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 20 (1989), S. 124 - 131. 16

138

I. Die Transzendentalpragmatik

Widerspruch untersuchen. Damit ein Selbstwiderspruch entsteht, müßte in (1) zumindest implizit ein Anspruch auf absolute Sicherheit erhoben werden. Mit Kuhlmann ist also zu fragen: „Wo steckt in (1) so etwas wie ein absoluter Gewißheitsanspruch? " 2 0 Kuhlmann räumt zunächst ein, daß nicht mit jeder Behauptung ein absoluter Gewißheitsanspruch erhoben wird. 2 1 Nicht jede philosophische oder jede reflexive Behauptung (er meint damit eine „Behauptung über alle Behauptungen, einschließlich sich selbst") soll mit einem absoluten Gewißheitsanspruch verbunden sein. 22 Hinsichtlich des Bereichs empirischer Behauptungen hatte sich Kuhlmann ohnehin zum Fallibilismus bekannt.23 Für alle diese Fälle ist Kuhlmann der Ansicht, es sei „ausreichend, wenn man die jeweilige Behauptung als bloße Hypothese vorträgt, zu deren Verteidigung man allerdings bereit sei." 24 Welche Aussagen sind es aber dann, die ohne einen Anspruch auf absolute Gewißheit nicht erhoben werden können? Kuhlmann antwortet, es handele sich dabei um jenen „Typ von Aussagen, in dem philosophisch in erkenntnisbzw. sprachkritischer Perspektive über Gewißheits- und Geltungsprobleme von Aussagen überhaupt geredet wird." 2 5 Er nennt sie auch „reflexive geltungstheoretische Aussagen" und stellt fest : „Weil (1) zu diesem Typ von Aussagen gehört, widerspricht (1) sich selbst". 26 Dies ist freilich noch bloße Behauptung. Es ist nun zu prüfen, wie sie von Kuhlmann begründet wird. Zunächst argumentiert er, bei den Aussagen des genannten Typs müsse aus „sinnkritischen Gründen" ein Anspruch auf absolute Gewißheit erhoben werden. 27 An anderer Stelle 28 hatte Kuhlmann „sinnkritisch" solche Gründe genannt, die „die Bedingungen der Möglichkeit sinnvoller Zeichenverwendung" betreffen. Darf man daraus schließen, daß es gar nicht möglich ist, (1) sinnvoll als bloße Hypothese vorzutragen? Dies hätte die für Kuhlmanns

20

Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung versus radikaler Fallibilismus, S. 361. Ibid. 22 Ibid. 23 Letztbegründung, S. 67. Ebenso auch Apel, zuletzt etwa in: Grenzen der Diskursethik? Versuch einer Zwischenbilanz. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 40 (1986), S. 3 - 31 (7). 24 Reflexive Letztbegründung versus radikaler Fallibilismus, S. 361. 25 A.a.O., S. 362. 26 Ibid. 27 Ibid. 28 Letztbegründung, S. 25. 21

III. Das Grundproblem von Kuhlmanns Fallibilismuskritik

139

Position unerfreuliche Folge, daß sich der Fallibilist gar nicht in einen Selbstwiderspruch verwickelt, sondern schlichtweg Unsinn produziert. 29 Leider expliziert Kuhlmann sein „sinhkritisches" Argument nicht weiter. Hier bleibt deshalb nur festzuhalten, daß die Berufung auf angeblich existierende „sinnkritische Gründe" Kuhlmanns These von der Selbstwidersprüchlichkeit der fallibilistischen Position nicht zu stützen vermag. Kuhlmanns zweites Argument lautet folgendermaßen: „Der Fallibilist weist im Namen einer vernünftigen Vorsicht überschwengliche Ansprüche ab. Nun ist aber Vorsicht nichts anderes als der Versuch, sicher zu gehen. Kann es wie (1) behauptet - legitime Sicherheit überhaupt nicht geben, dann ist auch die ganze epistemologische Bemühung um Vorsicht, aus der (1) seinen Sinn bezieht, sinnlos." 30 Der „Trick" dieses bemerkenswerten Argumentes liegt darin, daß Kuhlmann sich die Mehrdeutigkeit des Wortes „sicher" zunutze macht. In (1) wird „sicher" i.S.v. „objektiv sicher" verwendet. Dagegen ist natürlich der Versuch des hier von Kuhlmann arg strapazierten Fallibilisten „keineswegs der Versuch [...], legitime absolute Sicherheit zu finden. Er (ver-) sucht nicht etwas, das er für unmöglich hält." 31 Auch Kuhlmanns nächstes Argument ist überaus problematisch. Er schreibt: „Wenn die Aussagen, mit deren Hilfe die Vorsicht (der Versuch, sicher zu gehen) des Fallibilisten realisiert werden soll, als genauso unsicher gelten müssen, wie die Aussagen, die der eigentliche Anlaß des fallibilistischen Rats zur Vorsicht waren, dann ist der Versuch, vorsichtig zu sein, witzlos. Man kann dann eben nicht vorsichtig sein." 32 Für mich ist nicht erkennbar, wie die fallibilistische Position durch dieses Argument getroffen werden könnte. Angesichts des Scheiterns aller bisherigen Versuche, zu sicherem Wissen außerhalb der Formalwissenschaften zu gelangen, glaubt sich der Fallibilist zu der Meinung berechtigt, sicheres Wissen sei für uns nicht erreichbar. Er ist aber grundsätzlich bereit zuzugestehen, daß es einem zukünftigen Forscher - oder einer Forscherin - doch noch gelingen könnte, einen Weg zu sicherem Wissen außerhalb der Formalwissenschaften zu finden. Insofern ist die fallibilistische Position also lediglich vorläufig. Man mag sie auch „vorsichtig" nennen; wieso sie aber „witzlos" sein soll, bleibt mir unerfindlich. Kuhlmanns Argument ist nicht mehr als ein Wortspiel.

29 30 31 32

So auch Keuth, Fehlbarkeit oder Sicherheit, S. 382. Reflexive Letztbegründung versus radikaler Fallibilismus, S. 362. So Keuth, Fehlbarkeit oder Sicherheit, S. 383. Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung versus radikaler Fallibilismus, S. 362.

I. Die Transzendentalpragmatik

140

Sein letztes Argument kündigt Kuhlmann mit der Bemerkung an, er wolle nun „die Sache etwas genauer" betrachten.33 Auch der Fallibilist müsse als Epistemologe „auf Maßstabe, Kriterien und Verfahren [...] Bezug nehmen, mit deren Hilfe sich Geltungsansprüche bestätigen und abweisen lassen und mit deren Hilfe weiter die Unterscheidung zwischen bloßen Hypothesen und absolut gewissen Aussagen allererst gemacht werden kann." Diese Maßstäbe, Kriterien und Verfahren, so meint Kuhlmann weiter, benötigen wir, damit die „Unterscheidung zwischen bloßer Hypothese und absolut sicherer Behauptung" sinnvoll ist. 34 Wenn nun, so fahrt Kuhlmann fort, der Fallibilist „seine diesbezüglichen Einsichten [...] als grundsätzlich unsicher erklärt, dann muß das auch durchschlagen auf das für sein kognitives und sprachliches Handeln konstitutive Handlungsverständnis [...]". 3 5 Leider macht Kuhlmann nicht weiter deutlich, was mit der Vokabel „Handlungsverständnis" gemeint ist und welche „durchschlagenden" Auswirkungen darauf er erwartet. Immerhin stellt er dem Fallibilisten folgende Konsequenzen in Aussicht: „Er kann weder beanspruchen, er vermute wirklich (qua Epistemologe), noch stelle er wirklich (1) als bloße Hypothese auf, noch schließlich, er wisse, was das in der Proposition von (1) zu iterierende ,ist unsicher4 wirklich bedeute."36 Kuhlmann postuliert also, sicheres Wissen um Maßstäbe sei unverzichtbar, um die Unterscheidung zwischen Hypothesen und absolut sicheren Aussagen durchführen zu können. Warum dies so sein soll, macht Kuhlmann nicht klar. Der Fallibilist erwartet sicheres Wissen nur in den Formalwissenschaften, unser Wissen über die Welt hält er dagegen für grundsätzlich fehlbar. Für diese Unterscheidung stützt er sich nicht auf „absolut sichere" Maßstäbe irgendwelcher Art, sondern auf die übliche Bedeutung des Ausdrucks „sicheres Wissen". Auch Kuhlmanns letztem Argument kann deshalb nicht gefolgt werden. Kuhlmann ist es also, so kann zusammenfassend festgestellt werden, nicht gelungen zu zeigen, daß reflexive „geltungstheoretische" philosophische Aussagen nicht sinnvoll als bloße Hypothesen vorgetragen werden können. Es scheint sich vielmehr bei diesem Aussagetyp - wie bei allen anderen (nicht-analytischen) Aussagen auch - so zu verhalten, daß eine Behauptung durchaus mit Wahrheitsanspruch vorgetragen werden kann, ohne eo ipso für

33 34 35 36

Ibid. Ibid. A.a.O., S. 363. Ibid.

III. Das Grundproblem von Kuhlmanns Fallibilismuskritik

141

diese Behauptung absolute Sicherheit zu postulieren. Kuhlmanns „sinnkritische These44 ist nicht haltbar. Damit ist auch sein Angriff auf das Münchhausen-Trilemma fehlgeschlagen.

J. Das Verfahren der Letztbegründung I. Das Letztbegründungsargument Kuhlmanns Es bleibt Kuhlmann indessen noch ein weiterer Weg, um die Unhaltbarkeit des Fallibilismus darzulegen: Eine einzige „letztbegründete" Aussage bzw. Norm würde genügen, um die Position des Skeptikers zu widerlegen. Es ist somit zu prüfen, ob das Verfahren der transzendentalpragmatischen Letztbegründung tatsächlich zu letztbegründeten, a priori geltenden, synthetischen Sätzen zu führen vermag. Kuhlmann setzt an bei der Frage: „Kann man alles bezweifeln oder bestreiten?"1 Anders gewendet: „Wie kann man sich gegen jeden möglichen Zweifel schützen?"2 Offensichtlich nicht dadurch, daß angesichts bestimmter Aussagen die möglichen Zweifel der Reihe nach durch Gründe entkräftet werden, da nie sichergestellt werden könnte, ob nicht noch ein weiteres skeptisches Argument nachgeschoben werden kann. Nach Kuhlmann verbleibt dem Letztbegründer deshalb ,„nur der folgende Weg, nämlich in aller Allgemeinheit auf die Struktur, auf die Bedingungen der Möglichkeit und damit auf die Grenzen des Zweifels bzw. des Bestrebens überhaupt zu reflektieren und von daher nach Aussagen zu suchen, die vor jedem Zweifel sicher sein können".3 Es bedarf also zunächst einer Theorie des Zweifels. Dabei, so Kuhlmann, „ergibt schon eine flüchtige Betrachtung der Sache folgendes: 1) Bezweifeln oder Bestreiten sind Handlungen, die gelingen oder mißglücken können. [...] Nur sinnvolles Zweifeln bzw. Bestreiten kann Evidenzen erschüttern, d.h. nur sinnvoller Zweifel zählt überhaupt in unserem Zusammenhang. [...] 2) Wer etwas bezweifelt oder bestreitet, der behauptet (zumindest implizit) etwas, nämlich entweder, daß es sich nicht so verhält, wie gerade gesagt, oder, daß es nicht sicher ist, ob es sich wirklich so verhält. Ob das Bestreiten sinnvoll ist oder nicht, hängt also davon ab, ob jeweils die Bedingungen

1 2 3

Letztbegründung, S. 71. A.a.O., S. 72. Ibid.

I. Das Letztbegründungsargument Kuhlmanns

143

sinnvollen Behauptens gegeben sind oder nicht." 4 Daraus ergibt sich fur Kuhlmann, „daß wir auf eine Grenze des sinnvollen Zweifels gestoßen sind, die von keinem Zweifel, der fur unser Problem der Letztbegründung relevant sein kann, zu überschreiten ist. [...] Die Unterstellungen, die von einem sinnvoll Zweifelnden gemacht werden müssen, insofern er zweifelt, sind vor jedem möglichen Zweifel sicher. Denn wenn der Zweifel sich auf diese Unterstellungen richten würde, dann zerstörte er sich selbst."5 Es könnte also so scheinen,· als seien die „Bedingungen sinnvollen Behauptens" - Kuhlmann zählt dazu Existenzaussagen wie: Es gibt Geltungsansprüche, eine Welt, eine Sprache sowie die Geltung bestimmter Regeln6 - tatsächlich über allen Zweifel erhaben. Diese Herleitung transzendentalpragmatisch letztbegründeter Aussagen bzw. Normen leidet jedoch unter einem schwerwiegenden Mangel. Auch Kuhlmann erkennt dies: „Das Bisherige hat trotz aller Plausibilität einen erheblichen Schönheitsfehler, nämlich den, daß es so aussieht, als könne man es ohne weiteres bestreiten. Das bisher gewonnene Resultat stammt aus einer theoretischen Reflexion über den Zweifel, [...] einer philosophischen Theorie des Zweifels und teilt mit allen Theorien den Nachteil, daß sie auf theoretischen Annahmen - nämlich über den Zweifel - beruht. Es gibt zunächst keinen systematischen Grund, warum diese theoretischen Annahmen sich nicht bezweifeln lassen sollen [...]." 7 Anders formuliert: Jede Letztbegründung setzt voraus, daß alle Prämissen auch ihrerseits letztbegründet sind. Diese Bedingung ist bezüglich Kuhlmanns Theorie des Zweifels aber nicht erfüllt; seine These, jedes Bezweifeln oder Bestreiten sei auch ein Behaupten, ist sogar ziemlich unplausibel. Kuhlmann zufolge kann sich die Lösung dieser Schwierigkeit nur mit Hilfe einer „strikten Reflexion" ergeben. Ihre Möglichkeit ergibt sich aus der besonderen Natur von (Sprech-) Handlungen, die sich nach Kuhlmann von anderen Gegenständen theoretischer Forschung dadurch unterscheiden, „daß konstitutiv zu ihnen, und zwar, bevor sich eine Theorie ihrer annimmt, schon ein begleitendes Bewußtsein, Verständnis, Wissen von ihnen gehört [...]. Dieses Wissen ist Teil der Sprechhandlung selbst, diese ist ohne jenes nicht vollständig. Entsprechendes gilt von den Voraussetzungen derartiger Sprechakte qua sinnvoller [sie] Sprechakte. Es handelt sich hier um Vorausetzun-

4 5 6 7

A.a.O., S. 72 f. A.a.O., S. 74. Vgl. a.a.O., S. 73. A.a.O., S. 75.

144

J. Das Verfahren der Letztbegründung

gen, die nicht wie Randbedingungen zu einem Naturprozeß einfach gegeben sind, sondern um solche, die vom Handelnden (intentional) gemacht werden, die von ihm wenigstens implizit unterstellt werden müssen."8 Die „strikte Reflexion" soll es nun ermöglichen, dieses begleitende Handlungswissen explizit zu machen, „neben dem Thematischen auch das Thematisieren selbst zu sehen."9 Nach diesen Darlegungen sind wir nach Kuhlmann nun endlich hinreichend gewappnet, das eigentliche Letztbegründungsargument durchzuführen. Zu beweisen ist die Aussage: „Die Situation des sinnvoll Argumentierenden ist für uns unhintergehbar." Dieser Satz ist für Kuhlmann äquivalent der Konjunktion der folgenden Aussagen:10 „ 1 ) Wir können die Regelnund Prasuppositionen sinnvoller Argumentation nicht sinnvoll, d.h. ohne mit uns in Widerspruch zu geraten, bestreiten. 2) Wir können diese Regeln und Präsuppositionen nicht sinnvoll, d.h. ohne petitio principii, begründen. 3) Wir können uns nicht sinnvoll, d.h. ohne sie zumindest implizit anzuerkennen, gegen ihre Anerkennung entscheiden." Jede dieser Aussagen soll einen synthetischen Satz a priori darstellen, dessen Negation notwendig falsch ist. So ist die Behauptung ρ: „Die Regeln der Argumentation gelten für mich nicht" für Kuhlmann notwendig falsch, ρ scheitert daran, daß jeder, der ρ als sinnvoll gemeintes Argument ausspricht, die Regeln der Argumentation „immer schon" anerkannt haben muß. Hätte er dies nicht, so käme seiner Behauptung gar nicht der Status eines „sinnvollen" Argumentes zu. Daraus, daß das „Immer-schon-Anerkannthaben" der Regeln der Argumentation als Faktum dargestellt wird, könnte der philosophisch „unverbildete" Leser, insbesondere jener ohne transzendentalpragmatische Neigungen, leicht zu der Schlußfolgerung gelangen, ρ sei gar nicht notwendig falsch, sondern nur faktisch falsch, „und das auch nur, wenn es wirklich ein Faktum ist, daß der Sprecher die Regeln anerkannt hat. Das aber müsse zunächst

8

A.a.O., S. 77. A.a.O., S. 80. 10 A.a.O., S. 82.

9

I. Das Letztbegründungsargument Kuhlmanns

145

empirisch geprüft werden." 11 Kuhlmann hält jedoch eine solche empirische Prüfung (die natürlich ρ seines a-priori-Charakters berauben würde) fur entbehrlich: Daß der Sprecher die Regeln anerkannt hat, müssen wir schon akzeptiert haben, damit wir das Problem und damit die Basis für eine derartige Untersuchung überhaupt erst erlangen. 12 Wie ergibt sich aus dem bisher Ausgeführten eine normative Ethik? Kuhlmann ist der Meinung, daß zu den von uns „immer schon" notwendig anerkannten Argumentationsregeln auch fundamentale ethische Normen gehören. 13 Die Basis für die Explikation - Kuhlmann spricht auch von „Entfaltung" - der in den Argumentationsregeln enthaltenden Normen ist die Tatsache, „daß wir hinter unseren Willen zur rationalen Argumentation [...] nicht mehr zurückkönnen." 14 Daraus ergibt sich als oberste Norm: „Wenn wir wirklich ernsthaft etwas wissen wollen, wenn wir an der Lösung eines Problems ernsthaft interessiert sind, dann ist es geboten, daß wir uns rational argumentierend um die richtige Lösung bemühen." Diese Norm kann auch als kategorischer Imperativ formuliert werden und lautet dann: „Argumentiere rational!" 15 (Norm 1) Die weitere „Entfaltung" dieses Imperativs führt zu folgenden Geboten: „Bemühe dich um einen vernünftigen Konsens!"16 (Norm 2) „Bemühe dich in allen Fällen, in denen deine Interessen mit denen anderer kollidieren könnten, um einen vernünftigen praktischen Konsens mit ihnen!" 17 (Norm 3) „Bemühe dich stets darum, zur (langfristigen) Realisierung solcher Verhältnisse beizutragen, die der Realisierung der idealen Kommunikationsgemeinschaft näherkommen, und trage stets dafür Sorge, daß die schon existierenden Bedingungen der möglichen Realisierung einer idealen Kommunikationsgemeinschaft bewahrt werden!" (Norm 4 ) 1 8

11 12 13 14 15 16 17 18

Keuth, Fallibilismus versus transzendentalpragmatische Letztbegründung, S. 330. Letztbegründung, S. 89. A.a.O., S. 182. A.a.O., S. 184. A.a.O.., S. 185. A.a.O., S.189. A.a.O., S. 208. A.a.O., S. 214 f.

10 Hilgendorf

146

J. Das Verfahren der Letztbegründung

I I . Kritik des Letztbegründungsargumentes Wenden wir uns nun der Kritik des transzendentalpragmatischen Letztbegründungsargumentes zu! Ist es Kuhlmann tatsächlich gelungen, der Ethik und Rechtsphilosophie ein sicheres Fundament zu schaffen? Das Schicksal der Natur- und Vernunftrechtslehren stimmt wenig optimistisch. Auch Kuhlmanns Ausführungen scheinen mir iç vielen Punkten angreifbar zu sein. Anders als Apel und Habermas hat sich Kuhlmann aber zumindest um einen Präzisionsgrad bemüht, der es erlaubt, die Probleme seines Ansatzes klar herauszuarbeiten, worauf hinzuweisen ich bei aller Kritik an Kuhlmann nicht versäumen möchte. Beginnen wir bei dem Ergebnis seines Begründungs Verfahrens, den Normen (1) bis (4): Zunächst läge es nahe, auf die relative Gehaltlosigkeit dieser angeblich a priori und kategorisch geltenden Moralregeln zu verweisen und daraus ihre Unbrauchbarkeit für die Lösung konkreter moralischer oder rechtlicher Konfliktsituationen zu folgern. Dieser Einwand übersähe jedoch, daß die transzendentalpragmatische Letztbegründung der Ethik - wie übrigens die Diskursethik überhaupt - als zweistufiges Verfahren konzipiert ist. 19 Die „letztbegründeten" Normen (1) bis (4) bilden lediglich den Rahmen, innerhalb dessen über die für die jeweilige Konfliktsituation relevante Norm diskutiert wird. Die Normen (1) bis (4) stellen also, juristisch gesprochen, nur Geschäftsordungsregelndar. Als Diskussionsmaterial nennt Kuhlmann die Bedürfnisse, Interessen und konkreten Vorschläge der Argumentierenden; dieser „Rohgehalt" wird in praktischen Diskursen „bearbeitet" 20. Die Diskussionsergebnisse teilen den Status der Letztbegründetheit nicht. Schwerwiegender erscheint mir ein zweiter Einwand. Nach Kuhlmann ergeben sich die Normen (2) bis (4) aus der obersten Norm (1): „Argumentiere rational!" Das Verfahren, mittels dessen Kuhlmann von (1) zu (2) bis (4) gelangt, ist jedoch sehr zweifelhaft. Um eine logische Ableitung kann es sich nicht handeln, da es nach Kuhlman dabei zu einer Gehaltvermehrung kommt, während eine logische Deduktion günstigstenfalls zu gehaltgleichen, meist aber zu gehaltärmeren Sätzen führt; logische Schlüsse auf gehaltvollere Sätze sind unmöglich. Wie sollen sich also die Normen (2) bis (4) aus (1) gewinnen lassen? Und noch schwerwiegender: Wie kann gewährleistet werden, daß dabei der Charakter der Letztbegründetheit bewahrt wird?

19 20

Vgl. Letztbegründung, S. 247. A.a.O., S. 247 f.

I.

Letztbegründungsarguments

147

Erstaunlicherweise meint Kuhlmann, das zur Bewältigung dieser Aufgabe anzuwendende Verfahren sei „einfach und unproblematisch. Es besteht im wesentlichen darin, daß wir uns zunächst fragen, was es denn allgemein, global und im ganzen ist, was wir immer schon anerkannt haben". 21 Dies ist die Frage, die Kuhlmann jeweils beim Ubergang von (1) auf (2), von (2) auf (3) usw. stellt, und er beantwortet sie in jedem Fall einfach dadurch, daß er die jeweils gehaltvollere Norm angibt. Mit welcher Berechtigung dies geschieht, bleibt dabei im Dunkeln. 22 Einen Anschein von Plausibilität gewinnen die „Übergänge" allenfalls dadurch, daß Kuhlmann gewisse Assoziationen benutzen kann, die üblicherweise mit dem Begriff „rational" verbunden sind. So kann er sich einem verbreiteten Sprachgebrauch anschließen, wenn er „rationales" Argumentieren mit Konsens und Gewaltfreiheit in Verbindung bringt. Dieses Verfahren ist aber offenbar vom jeweiligen historisch gewachsenen Sprachgebrauch abhängig und damit als Begründung völlig untauglich. Um die bisher vorgebrachte Kritik an einem Beispiel zu erläutern, soll im folgenden der Übergang von Norm (2) zu Norm (3), dem in Kuhlmanns Argumentationsgang eine ganz besondere Bedeutung zukommt, näher untersucht werden. Nach Kuhlmann ist nämlich der ethische Gehalt von Norm (2) nicht größer als der von Norm ( l ) 2 3 und der von Norm (4) derselbe wie der von Norm (3). 2 4 Damit es nicht bei der gehaltarmen25 Norm (1) bleibt, muß also beim Übergang von Norm (2) zu Norm (3) eine entscheidende Gehaltvermehrung erfolgen. Kuhlmann meint sogar, daß sich der Gehalt von Norm (2) auf „logisch-theoretische Aspekte" beschränke und daß erst Norm (3) die „praktische Seite der Argumentation" einbeziehe.26 Für den Übergang von Norm (2) zu Norm (3) stellt sich somit die Frage, was wir mit Norm (2) alles implizit anerkannt haben.27 Kuhlmann beantwortet die Frage in drei Schritten. „Immer schon" anerkannt haben wir seiner Ansicht nach zunächst, „daß wir qua ernsthaft Argumentierende zur Kooperation mit anderen Argumentationsteilnehmern verpflichtet sind." 28 Er begründet dies damit, daß Argumentation eine Form

21 22 23 24 25 26 27 28

A.a.O., S. 182. Vgl. auch Fusfield, The Rules of Argumentation, S. 343. A.a.O., S. 193. A.a.O., S. 208. So Kuhlmann selbst, a.a.O., S. 186. A.a.O., S. 196. Ibid. Ibid.

J. Das Verfahren der Letztbegründung

148

der Kommunikation sei. Kuhlmann scheint nicht zu sehen, daß dies lediglich eine Berufung auf den üblichen Sprachgebrauch darstellt und sein Argument mithin analytisch ist. Offen ist ferner, woher das Moment der Verpflichtung stammt. Kuhlmann äußert sich dazu nicht. Vermutlich soll es aus der Vokabel „ernsthaft 44 entnommen werden. Aber dies kann doch nur heißen, daß Kuhlmann den Ausdruck „zur Kooperation mit anderen Argumentationsteilnehmern verpflichtet sein44 in die Bedeutung von „ernsthaft argumentieren44 aufgenommen hat. Sein Argument ist also wieder analytisch. Der zweite Schritt in Kuhlmanns Argumentationsgang weist denselben Fehler auf. „Haben wir anerkannt, daß wir mit möglichen Argumentationspartnern qua ernsthaft Argumentierende kooperieren sollen, dann ist darin auch enthalten, daß wir unsere Argumentationspartner als wahrheits- und zurechnungsfähige Subjekte anerkennen sollen. 4429 Diese Behauptung begründet Kuhlmann damit, daß es sonst „keinen Sinn44 ergebe, ihnen gegenüber Geltungsansprüche zu erheben und mit ihnen zusammenarbeiten zu wollen. 3 0 Wieder ist leicht zu sehen, daß das Erheben von Geltungsansprüchen und die Zusammenarbeit schon zur Bedeutung von „Argumentation44 bzw. „Kooperation44 gehören und Kuhlmann somit lediglich einen bestimmten Sprachgebrauch referiert. Eine als „letztbegründet44 auftretende Ethik kann jedoch keineswegs bloß auf einen bestimmten Sprachgebrauch gestützt werden. Kuhlmanns letzter „Entfaltungsschritt 44 betrifft die Form der Kooperation, genauer die Verpflichtung, „als gleichberechtigte Partner zu kooperieren, uns wechselseitig als gleichberechtigt in der Argumentation anzuerkennen und zu behandeln.4431 Kuhlmanns Begründung lautet: „Wenn wir als Argumentierende an Wahrheit und Sicherheit interessiert sind, dann müssen wir mindestens wollen, daß bei der Entscheidung über das, was gelten soll, 1) keine anderen Faktoren als gute Argumente eine Rolle spielen, und 2) daß mögliche gute Argumente nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Die Argumentation muß also formal so beschaffen sein, daß nichts, was bei der Wahrheitsfindung hindern könnte, eine Rolle spielt, und das alles, was eine Rolle spielen sollte, auch tatsächlich mitspielen könnte. 4432

29 30 31 32

A.a.O., S. 197. Ibid. A.a.O., S. 198. Ibid., S. 198.

I.

Letztbegründungsarguments

149

Auch dieses Argument erscheint mir allerdings sehr problematisch. Warum sollte nicht auch ein Sklave unter Zwang „gute" Argumente vorbringen? Was versteht Kuhlmann überhaupt unter einem „guten" Argument? M i r scheint, daß hier der Gedanke der Gleichberechtigung wieder in die Definition von „gutes Argument" eingegangen ist. Dann wäre Kuhlmanns Beweisgang erneut analytisch. Für diese Interpretation spricht auch seine Formulierung, ein Diskurs, „der hinsichtlich der zu behandelnden Fragen, der zu berücksichtigenden Gesichtspunkte irgendwelchen prinzipiellen Beschränkungen" unterliege, verdiene „den Namen des Diskurses in Wahrheit nicht." 33 Welche Kommunikationsformen wir „Diskurs" nennen, ist doch offensichtlich eine Frage der sprachlichen Konventionen! Kuhlmanns Ausführungen sind allerdings zu kursorisch, um letzte Klarheit über das von ihm Gemeinte gewinnen zu können.34 Kuhlmann faßt seine Ausführungen wie folgt zusammen : „Wir sind als ernsthaft Argumentierende verpflichtet zu kooperieren und einander dabei als gleichberechtigte, wahrheits- und zurechnungsfähige Argumentationspartner anzuerkennen und zu behandeln."35 Die obige Untersuchung hat gezeigt, daß dieser Satz analytisch ist; er expliziert nur, was Kuhlmann implizit als die Bedeutung von „ernsthaft Argumentieren" eingeführt hatte. 36 Der Übergang von Norm (2) zu Norm (3) beruht mithin auf sprachlicher Konvention. Da der Schritt von Norm (2) zu Norm (3) aber in Kuhlmanns „Entfaltung" des Gehalts von Norm (1) der entscheidende Schritt war, folgt daraus, daß das gesamte zur „Entfaltung" von Norm (1) geführte Argument analytisch ist. Aber möglicherweise ist ja zumindest Norm (1) letztbegründet. Auch Norm (1) soll durch Reflexion auf das, was wir „immer schon" anerkannt haben, gewonnen werden: „Das Erste, was wir anerkannt haben, sofern wir

33

A.a.O., S. 206. Kuhlmann beruft sich a.a.O., S. 196, 198 fur sein Argument auf Darlegungen von Jürgen Habermas. Die Auseinandersetzung mit dessen Thesen soll aber erst in den Kapiteln Κ und L erfolgen. 35 A.a.O., S. 198. 36 So im Ergebnis schon Gethmann, C.F., Hegselmann, R.: Das Problem der Begründung zwischen Dezisionismus und Fundamentalismus. In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 8 (1977), S. 342 - 368 (350). Höffe, O.: Sind Moral- und Rechtsbegründung kommunikations-(konsens-, diskurs-) theoretisch möglich? - Einige Thesen. In: Ders.: Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie. Frankfurt a.M. 1979, S. 243 - 250 (248) und Leist, Α.: Diesseits der ,Transzendentalpragmatik': Gibt es sprachpragmatische Argumente für Moral? In: Zeitschrift für philosophische Forschung 43 (1989), S. 301 - 317 (315). 34

150

J. Das Verfahren der Letztbegründung

sinnvoll argumentieren [...], ist dies, daß wir hinter unseren Willen zur rationalen Argumentation [...] nicht mehr zurückkönnen." 37 Der Fallibilist wird hier sofort vermuten, bei Kuhlmanns Bemerkung handele es sich um eine Tautologie: Wer sinnvoll (d.h. rational) argumentieren will, will rational argumentieren. Kuhlmanns Beweisgang ist aber komplexer. Er behauptet, Norm (1) gehöre zu den „unhintergehbaren", weil „immer schon" anerkannten Argumentationsregeln. 38 Unterstellen wir für einen Augenblick, es gäbe tatsächlich derartige Argumentationsregeln, und fragen uns, ob es Kuhlmann gelungen ist zu zeigen, daß Norm (1) dazugehört! Überraschenderweise sind Kuhlmanns Ausführungen zu diesem entscheidenden Punkt äußerst lakonisch. Nachdem er die Frage aufgeworfen hat, welche ethisch relevanten Normen es denn seien, die wir „immer schon" anerkannt haben und der Formulierung einiger Anforderungen an das Gesuchte39 stellt er unmittelbar die oben schon zitierte Behauptung auf, wonach von uns „immer schon" der Wille zu einer „rationalen" Argumentation anerkannt sei. Weitere Begründungsversuche finden sich nicht. Dies erscheint um so problematischer, als Kuhlmann auch sonst nirgends präzisiert, was seiner Ansicht nach alles zu den unhintergehbaren Argumentationsregeln und -Voraussetzungen gehört. 40 Eine an anderer Stelle angeführte Liste 41 war ausdrücklich mit einem „z.B." eingeleitet worden; Norm (1) taucht in der Liste nicht auf. Es ist Kuhlmann mithin nicht gelungen zu zeigen, daß Norm (1) zu den „letztbegründeten" Argumentationsregeln gehört. Spätestens an diesem Punkt wird fraglich, welche Regeln denn nun überhaupt den Status der Letztbegründung beanspruchen dürfen. Solange Kuhlmann dies nicht präzisiert, droht eine Inflation letztbegründeter Argumentationsregeln und Moralnormen. Einen amüsanten Vorgeschmack davon gewährt die (soweit erkennbar nicht ironisch gemeinte) These Micha Brumliks, „letztbegründet" im Sinne der Transzendentalpragmatik seien auch § 1 JWG 4 2 und das biblische Gebot: „Seid fruchtbar und mehret euch!" 43

37

A.a.O., S. 184. A.a.O., S. 182. 39 A.a.O., S. 184. 40 Vgl. auch Fusfield, The Rules of Argumentation, S. 337 ff. 41 Letztbegründung., S. 73; vgl. auch ibid., S. 113. 42 § 1 Abs.l JWG lautet: „Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit." 38

I.

Letztbegründungsarguments

151

Aber kann denn überhaupt von einer Letztbegründung gesprochen werden? Damit nähern wir uns dem Hauptargument der Transzendentalpragmatik. Das zentrale Argument Kuhlmanns hatte gelautet, die Behauptung: „Die Regeln der Argumentation gelten für mich nicht" sei notwendig falsch, weil jede sinnvolle Behauptung die Geltung der Argumentationsregeln schon voraussetze. Um diese These zu prüfen, stellen wir folgendes Gedankenexperiment 44

an:** Angenommen, uns seien im Gegensatz zu dem oben Ausgeführten alle Argumentationsregeln im Sinne Kuhlmanns bekannt. Die Gesamtheit dieser Regeln R x - R m nennen wir M x. Dann ist es widersprüchlich, im Sinne der Regeln M x zu behaupten, die Regeln M x würden für die eigene Behauptung nicht gelten. Diese Behauptung widerspräche ja der vorangegangenen Annahme, hier werde etwas im Sinne der Regeln M x behauptet. Nehmen wir nun weiter an, jemand lehne eine dieser Argumentationsregeln ab, z.B. R gf und beharre darauf, R g durch R n zu ersetzen. Die Gesamtheit der Regeln R x Rfy R h - R n heiße Af 2 . Diese Situation ist keineswegs konstruiert, man denke nur an die Möglichkeit abweichender Logikkalküle. Auch jetzt könnte niemand im Sinne der Regeln M l zutreffend behaupten, die Regeln M x gälten für ihn nicht, oder im Sinne der Regeln M 2 gehaupten, die Regeln M 2 gälten für ihn nicht. Es wäre aber durchaus möglich, im Sinne der Regeln M x die Behauptung aufzustellen, die Regeln M 2 gälten nicht, oder im Sinne der Regeln M 2 die Behauptung aufzustellen, die Regeln M x gälten nicht. Weder M x noch M 2 wären somit „unhintergehbar". Man könnte nun meinen, es seien aber doch zumindest die M x und M 2 gemeinsamen Regeln R x - Rj> R h- R m unhintergehbar und damit letztbegründet. Um das zu überprüfen, setzen wir das Gedankenexperiment fort. Unser Regel Verweigerer lehne nun nicht nur R , sondern die Regeln R g und R h ab und ersetze sie durch R n und R 0. Wir erhalten dann Af 3 . Im Sinne des Regelkanons Af 3 kann nun zu Recht behauptet werden, die Regeln M x gälten für die eigene Behauptung nicht. Der Bestand an „unhintergehbaren" und damit

43

Brumlik, M.: Über die Ansprüche Ungeborener und Unmündiger. Wie advokatorisch ist die diskursive Ethik? In: Kuhlmann, W. (Hg.): Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik. Frankfurt a.M. 1986, S. 265 - 300 (266). Möglicherweise müßte also auch der Regelkanon Alexys erweitert werden, etwa durch eine Grundregel R F r u c f a l : Mehre nach Kräften die Zahl deiner Rechtsgenossen, es sei denn, es gibt rationale Gründe, dies nicht zu zu tun! 44 Das Argument stammt von Keuth, Fallibilismus versus transzendentalpragmatische Letztbegründung, S. 335.

152

J. Das Verfahren der Letztbegründung

letztbegründeten Argumentationsregeln ist somit weiter zusammengeschrumpft. Es erübrigt sich, das Gedankenexperiment fortzufuhren. Durch das Herausnehmen weiterer Argumentationsregeln Äj usw. läßt sich die Menge der gemeinsamen Argumentationsregeln bis auf 0 verringern. Keine Argumentationsregel ist dann mehr „unhintergehbar" und letztbegründet. Man könnte freilich einwenden, unter diesen Bedingungen sei eine „sinnvolle" Kommunikation unter Menschen gar nicht mehr möglich. In der Tat dürfte es für Personen, die ihre Äußerungen nach völlig unterschiedlichen Regeln bilden, schwierig sein, sich einander verständlich zu machen. Welcher Regelkanon jedoch für ein Funktionieren der Kommunikation unerläßlich ist, ist keine transzendentalphilosophische, sondern eine rein empirische Frage. Dieser Regelkanon enthielte auch keine a priori geltenden Normen; die Argumentationsregeln wären vielmehr bloß ein Mittel, um Kommunikation zu ermöglichen. Die so ermittelten Gebote könnten deshalb keine absolute Gültigkeit und „Unhintergehbarkeit" beanspruchen. Als Resümee bleibt somit festzuhalten, daß sogar das zentrale Argument der Transzendentalpragmatik fehlerhaft ist. Die kritische Analyse der Thesen Wolfgang Kuhlmanns wäre aber nicht vollständig, wenn das Problem des sog. „performativen Widerspruchs" nicht auch noch aus einem anderen Blickwinkel diskutiert würde. Der Ausdruck „performativer Widerspruch" stammt nämlich weder von Apel noch von Kuhlmann, sondern wurde durch den finnischen Logiker und Philosophen Jaakko Hintikka geprägt, der damit eines der berühmtesten Argumente der Philosophiegeschichte, das „Cogito, ergo sum" des René Descartes, rekonstruieren wollte. Sowohl Apel als auch Kuhlmann stützen sich wiederholt auf Hintikkas Ausführungen - zu Unrecht, wie nun zu zeigen sein wird.

I I I . Der „existentielle Widerspruch" bei Hintikka Das zweifellos bekannteste reflexive Argument der Neuzeit stammt von René Descartes. Auf der Suche nach einer sicheren Basis unseres Wissens zog er alle Gewißheiten des Alltags in Frage und zweifelte schließlich sogar an der Existenz des Himmels, der Erde, an der denkender Wesen und Körper - bis er schließlich doch auf eine, wie er meinte, unbezweifelbare Tatsache stieß: „Sed mihi persuasi, nihil plane esse in mundo, nullum coelum, nullam terram, nullas mentes, nulla corpora, nonne igitur etiam me non esse? Imo certe ego eram si quid mihi persuasi. Sed est deceptor nescio quis, summe

III. Der „existentielle Widerspruch" bei Hintikka

153

potens, summe callidus qui de industria me semper fallit; haud dubie igitur ego etiam sum, si me fallit, et fallat quantum potest, nunquam tarnen efficiet, ut nihil sim quamdiu me aliquid esse cogitabo, adeo ut omnibus satis superque pensitatis denique statuendum sit hoc pronuntiatum: ego sum, ego existo, quoties a me profertur, vel mente concipitur, necessario esse verum." 45 Heute herrscht allerdings weitgehend Einigkeit, daß auch dieses Argument uns kein sicheres Wissen verschaffen kann. Das „Cogito, ergo sum" ist kein gültiger logischer Schluß; es fehlt die zweite (und überaus problematische) Prämisse: „Alles was denkt, existiert". Eine besonders einflußreiche neuere Analyse des „Cogito, ergo sum" hat der finnische Philosoph und Logiker Jaakko Hintikka vorgelegt. 46 Ob Hintikka Descartes zutreffend interpretiert hat, gehört nicht in den Rahmen dieser Untersuchung. 47 Bei seiner Analyse entwickelt Hintikka jedoch die Struktur eines sog. „performativen" oder „existentiellen" Widerspruchs, auf die sich Apel und Kuhlmann bei der Ausarbeitung der Transzendentalpragmatik berufen haben. 48 Hintikkas Modell des „existentiellen Widerspruchs" läßt sich überdies als besonders sorgfaltig ausgearbeitete Version des Selbstaufhebungsargumentes ansehen. Deshalb sollen nun Hintikkas Vorschläge etwas genauer analysiert werden. Hintikka ist der Ansicht, Descartes habe sein berühmtes Argument nicht mit der erforderlichen Präzision vorgetragen. Descartes' zentrale These, so meint Hintikka, sei die Behauptung gewesen, es sei unmöglich, die eigene

45

Descartes, R.: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Auf Grund der Ausgabe von Arthur Buchenau neu herausgegeben von Lüder Göbe. Hamburg 1959, S. 42 / 44. (Philosophische Bibliothek Bd. 250 a). 46 Hintikka, J.: Cogito, Ergo Sum: Inference Or Performance? In: Philosophical Review 81 (1962), S. 3 - 32. 47 Zweifelnd z.B. Kenny, Α.: Descartes. A Study of His Philosophy. New York 1968 S. 40 - 62 m.w.N. auf S. 228 Nr.,5, 7. 48 In gewisser Nähe zum transzendentalpragmatischen Kernargument steht auch die Analyse von Lenk, H.: Philosophische Logikbegründung und rationaler Kritizismus. In: Ders.: Metalogik und Sprachanalyse. Studien zur analytischen Philosophie. Freiburg 1973, S. 88 - 143. Lenk vertritt darin die These, daß auf gewisse logische Regeln, etwa die Negation, die Implikation oder den modus ponendo ponens nicht verzichtet werden kann, ohne die Idee der kritischen („rationalen") Prüfung aufzugeben. Dies ist zutreffend, wenn man, wie Lenk es tut, „rationale Kritik" so definiert, daß die genannten Regeln darin enthalten sind (a.a.O., S. 108). Die Fundierung der logischen Regeln beruht also nach Lenk auf sprachlicher Konvention. Das ist fur das Programm einer transzendentalpragmatischen „Letztbegründung" natürlich nicht ausreichend.

154

J. Das Verfahren der Letztbegründung

Existenz zu verneinen, also etwa zu behaupten „Descartes existiert nicht". 49 Doch was bedeutet hier „Unmöglichkeit"? Es wäre für Descartes zweifellos möglich gewesen, den genannten Satz auszusprechen. Dies verneint auch Hintikka nicht; er versucht aber zu zeigen, daß sich Descartes in diesem Fall in einen „existentiellen Widerspruch " verwickelt hätte: Es sei ρ ein Satz und a ein singulärer Terminus. Dann ist es nach Hintikka fur die durch a bezeichnete Person genau dann existentiell widersprüchlich, ρ zu äußern, wenn der Satz „/r, und a existiert" (p A Vx (x = a)) logisch widersprüchlich ist. 5 0 Deshalb wäre es für Descartes existentiell widersprüchlich gewesen zu behaupten, Descartes existiere nicht. Ebenso wäre es heute für N.N. existentiell widersprüchlich zu behaupten: „N.N. existiert nicht". Hintikka betont, daß die geäußerte Widersprüchlichkeit nicht dem geäußerten Satz als solchem, sondern der Äußerung des Satzes, also dem Sprechakt der Behauptung, zukommt. 51 Hintikka schafft noch einen weiteren Berührungspunkt zur modernen Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie, indem er aus ihr den Begriff der „Performanz" bzw. „performativ" entlehnt und formuliert: „The inconsistency (absurdity) of an existentially inconsistent statement can in a sense be said to be of performatory (performative) character. It depends on an act or „performance", namely on a certain person's act of uttering a sentence [ . . . ] . " 5 2 Apel und später Kuhlmann scheinen die Bezeichnung „performativer Widerspruch" von Hintikka übernommen zu haben.53 Schon vor Hintikkas Analyse des „Cogito, ergo sum"-Argumentes hatten die Begriffe „performativ" und „Performanz" allerdings in der Linguistik und Sprachphilosophie eine steile Karriere hinter sich. 54 Sprachphilosophische Erwägungen spielen bei Hintikka jedoch keine größere Rolle. Wenden wir uns nun einer kritischen Analyse des „existentiellen" bzw. „performativen" Widerspruchs zu. Descartes ging es darum, ein sicheres

49

Vgl. Hintikka, Cogito Ergo Sum, S. 116. Ibid. 51 Dazu im einzelnen Hintikka, a.a.O., S. 117 ff. 52 A.a.O., S. 118. 53 Vgl. Kuhlmann, Letztbegründung, S. 89, 230 und pass. 54 Einen sorgfaltigen Überblick gibt Anderson, J.S.: How to Define „Performative". Uppsala 1975. 50

III. Der „existentielle Widerspruch" bei Hintikka

155

Fundament unseres Wissens zu finden. Die Transzendentalpragmatik will zeigen, daß wir gewisse Argumentationsregeln „immer schon" anerkannt haben und diese Regeln deshalb eine objektiv sichere Basis fur unser Handeln bilden. Der Satz ρ „Die Regeln der Argumentation gelten fur mich nicht" darf aber nicht bloß ein faktisch falscher Satz sein; auf diesem Wege wäre objektive Sicherheit nicht zu erreichen, ρ muß vielmehr notwendig falsch sein. Als notwendig falsch betrachtet man jedoch üblicherweise nur logisch widersprüchliche Sätze, also Sätze, die sich auf ρ Λ zurückführen lassen. Wäre jedoch der Satz „Die Regeln der Argumentation gelten für mich nicht" logisch widersprüchlich, so wäre seine Negation, deren notwendige Wahrheit Kuhlmann ja beweisen will, eine nichtssägende Tautologie. Die Anwendung der Selbstaufhebungsfigur führt also nur dann zu den erwünschten Ergebnissen, wenn ihr Ergebnis weder eine bloß faktisch falsche Aussage noch ein logischer Widerspruch ist. Erforderlich ist vielmehr eine andere Art von Widerspruch. 55 Es ist also zu prüfen, welcher der genannten Kategorien sich der Hintikka'sche existentielle bzw. performative Widerspruch zuordnen läßt. Rufen wir uns dazu Hintikkas Konzeption noch einmal in Erinnerung! Existentiell widersprüchlich ist danach die Äußerung eines Satzes ρ für eine Person a genau dann, wenn der weitere Satz (1)

,,/r, und a existiert"

logisch widersprüchlich im üblichen Sinn ist. Angenommen also, eine Person - nennen wir sie René - >vürde äußern: p:

„René existiert nicht",

so wäre dies existentiell widersprüchlich, weil (Γ)

„René existiert nicht und René existiert"

logisch widersprüchlich (im üblichen Sinn) ist. Hintikka ist nun offensichtlich nicht der Ansicht, schon ρ sei logisch widersprüchlich im üblichen Sinn. Auch die Äußerung von ρ durch René ist nicht logisch widersprüchlich, (sonst wäre die Konstruktion über (1) auch überflüssig), ρ ist also entweder bloß ein faktisch falscher Satz, oder es liegt ein Widerspruch eigener Art vor. Leider äußert sich Hintikka hierzu nicht explizit. Um nicht gegen „Occams Rasiermesser" zu verstoßen, ist es zweck-

55

Vgl. Keuth, Fallibilismus versus transzendentalpragmatische Letztbegründung, S. 332.

156

J. Das Verfahren der Letztbegründung

mäßig, zunächst die erste Alternative zu prüfen, also zu fragen, ob ρ nicht vielleicht bloß als faktisch falscher Satz zu interpretieren ist. Dazu sei ein kleines Gedankenexperiment erlaubt. Stellen wir uns vor, René befände sich in Paris, und ein Skeptiker in Tübingen würde äußern: „René existiert nicht". Offensichtlich wäre diese Äußerung (bzw. der geäußerte Satz) faktisch falsch; der Annahme eines Widerspruchs besonderer Art bedürfte es nicht. Nichts anderes würde natürlich gelten, wenn sich René zum Zeitpunkt der skeptischen Äußerung in Tübingen befände; die Ortsveränderung von René hat keine Auswirkungen auf die Falschheit der in Frage stehenden Behauptung. Allenfalls könnte man sagen, daß nun die Chance, daß der Skeptiker René trifft und damit die Falschheit seiner Behauptung erkennen kann, beträchtlich gestiegen ist. Gehen wir nun einen Schritt weiter und nehmen an, René und der Skeptiker befanden sich im selben Zimmer und wieder äußerte der Skeptiker: „René existiert nicht". Dies im Beisein von René zu äußern wäre zweifellos sehr merkwürdig; wahrscheinlich würde man die Äußerung zunächst metaphorisch auffassen. Würde der Skeptiker dagegen auf einem wörtlichen Verständnis seiner Äußerung beharren, so würde niemand seine Behauptung als zutreffend akzeptieren. Warum nicht? Offenbar weil in Renés Person eine falsifizierende Instanz unmittelbar bereitsteht, um die Äußerung des Skeptikers als falsch zu entlarven. Es handelt sich bei der Behauptung des Skeptikers also auch in diesem Fall nur um einen faktisch falschen Satz. Nehmen wir nun in einem letzten Schritt an, René selbst würde die Behauptung aufstellen, er existiere nicht. Auch diese Äußerung wäre, wörtlich genommen, absurd, weil die Anwesenden René ja wahrnehmen und damit seine Äußerung als falsch erkennen können. Aber auch in diesem Fall würde es sich lediglich um einen faktisch falschen Satz handeln, denn selbst wenn wir die - recht problematische - Prämisse machten, daß René einen privilegierten Zugang zum Faktum seiner eigenen Existenz hat, würde die Behauptung „René existiert nicht" doch an einem Faktum scheitern - der Existenz Renés - und nicht an einem Widerspruch eigener Art. Vielleicht ist dies auch Hintikkas Ansicht, denn er formuliert: „The reason why Descartes' attempt to think that he does not exist necessarily fails is for a logician exactly the same as the reason why his attempt to tell one of his contemporaries that Descartes did not exist would have been bound to fail as soon as the hearer realized who the speaker was." 56

56

Cogito, Ergo Sum: Inference Or Performance?, S. 119.

III. Der „existentielle Widerspruch" bei Hintikka

157

Renés Äußerung erscheint also deshalb absurd, weil die falsifizierende Instanz in der Person des Sprechers selbst anwesend ist, so daß die faktische Falschheit der Behauptung „René existiert nicht" sofort und unmittelbar erkannt werden kann. Existientiell widersprüchliche Äußerungen im Sinne Hintikkas sind mithin letztlich solche Äußerungen, die faktisch falsch sind und deren Falschheit ohne weiteres erkennbar ist. Darin liegt ihre Absurdität. 57 Der existentielle Widerspruch ist also ein besonders qualifizierter Unterfall einer faktisch falschen Äußerung. Einen performativen Widerspruch eigener Art hat Hintikka nicht dargelegt. Es steht Hintikka natürlich frei, fur das ihn interessierende Phänomen die Bezeichnung „existentiell widersprüchlich" einzuführen. Dies ändert jedoch nichts daran, daß eine existentiell widersprüchliche Äußerung bloß eine faktisch falsche Äußerung und die Negation einer „existentiell widersprüchlichen" Äußerung bloß faktisch wahr, nicht aber notwendig wahr ist. Hintikkas existentieller Widerspruch ist deshalb fur die Zwecke der Transzendentalpragmatik nicht zu gebrauchen. Apel, Kuhlmann und auch Habermas stützen sich mithin zu Unrecht auf die Autorität Hintikkas. Möglicherweise bleibt den Transzendentalpragmatikern aber noch ein Ausweg: Bei der Herleitung der im „begleitenden Handlungswissen" enthaltenden Argumentationsregeln hatte Kuhlmann sich wiederholt auf die „strikte Reflexion" gestützt. Könnte es nicht möglich sein, mit Hilfe der „strikten Reflexion" zu unhintergehbaren und damit letztbegründeten Regeln zu gelangen? Dies ist zu bejahen. Kuhlmann müßte dann aber die „strikte Reflexion" offen als Erkenntnisvermögen besonderer Art zu konzipieren, etwa als eine Art von „Wertschau", wie sie aus der materialen Wertethik Max Schelers und Nicolai Hartmanns bekannt ist. Die Transzendentalpragmatik stünde damit freilich vor den bekannten Problemen platonisierender Ethikkonzeptionen, die sie mit der Hinwendung zur Sprachphilosophie gerade vermeiden wollte. In seiner jetzigen Form ist das Projekt einer transzendentalpragmatisch letztbegründeten Diskursethik gescheitert.

57

Ob allerdings auch das ursprüngliche Argument Descartes' auf eine so einfache Weise aufgelöst werden kann, möchte ich bezweifeln. Darauf kommt es hier aber nicht an.

Κ . Die Diskursethik von Jürgen Habermas I. Einleitung Jede wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas steht zunächst vor einem dreifachen Problem. Die erste Schwierigkeit liegt in der Fülle der Primär- und Sekundärliteratur. Habermas ist einer der produktivsten philosophischen Autoren der Gegenwart und hat zu einer Vielzahl von Problemen Stellung bezogen, ohne aber - und darin liegt die zweite Schwierigkeit - seine Thesen immer hinreichend präzis auszuarbeiten. Seine Ausführungen zeichnen sich deshalb nicht selten durch eine beträchtliche Vagheit und Interpretationsbedürftigkeit aus. Hinzu kommt, daß sich Habermas häufig auf andere Autoren beruft, bei der Interpretation seiner Gewährsleute aber sehr großzügig verfahrt. Die dritte Schwierigkeit liegt darin, daß Jürgen Habermas nicht nur Wissenschaftler, sondern zugleich - und vielleicht vor allem - ein politisch aktiver Intellektueller ist; von ihm geprägte Schlagworte wie „herrschaftsfreier Diskurs 44 oder „ideale Sprechsituation44 haben einen festen Platz im Legitimationsvokabular zahlreicher politischer Gruppierungen gewonnen. Es ist hier nicht der Ort, um über das politische Wirken von Jürgen Habermas zu urteilen. Sehr problematisch ist jedoch, daß rein wissenschaftliche Kritik an Habermas oft ohne weiteres als Ablehnung des von ihm vertretenen politischen Standpunktes verstanden wird. Ich möchte deshalb ausdrücklich betonen, daß meine Kritik an Habermas' ethischem Kognitivismus von der Bewertung seiner politischen und moralischen Positionen ganz unabhängig ist. Ich wende mich auch nicht gegen ein bestimmtes Kommunikationsideal, das Habermas mit den Worten „herrschaftsfreier Diskurs 44 zu kennzeichnen versucht hat, obgleich mir die historische Relativität derartiger Ideale offenkundig zu sein scheint.1 Hier geht es nur darum, ob Habermas zeigen kann, daß bestimmte politische und moralische Positionen „richtig 44 oder „wahr 44 im Sinne eines kognitiven Wissens sind.

1

Dazu neuestens Göttert, K.H.: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie. München 1988.

I. Einleitung

159

Um den beiden zuerst genannten Schwierigkeiten zu entgehen, möchte ich mich im folgenden auf die wichtigsten Arbeiten beschränken, in denen sich Habermas zur Begründung des ethischen Kognitivismus geäußert hat, also auf seine grundlegenden Schriften zur sog. Konsenstheorie der Wahrheit und Richtigkeit.2 Die Konsenstheorie und die damit verbundene „Universalpragmatik 443 werden allerdings in der Literatur meist als das Kernstück der kritischen Theorie und ihrer Fortfuhrung durch Jürgen Habermas verstanden4, so daß die folgende Untersuchung durchaus Relevanz für eine Einschätzung der kritischen Theorie im ganzen beanspruchen kann. Außerdem ist es gerade die Diskursethik, die auch im rechtstheoretischen Schrifttum diskutiert wird. 5 Habermas* Begründung einer kognitivistischen Ethik - viele Moralphilosophen sprechen lieber von einer Fundierung der „Vernunft 44 oder der „Rationalität44 - hat naturgemäß schon zahlreiche Interpreten gefunden. 6 In den meisten dieser Arbeiten werden aber statt einer Detailkritik eher kommentierende Betrachtungen angeboten, Ergänzungen vorgeschlagen, Parallelen zu anderen Philosophen gezogen und in essayistischer Form eigene, durchaus wertvolle Gedanken zu Papier gebracht.7 Gelegentlich scheinen Habermas' Thesen auch nur als Anknüpfungspunkt zu dienen, um das eigene Lebensgefühl offenbaren zu können. Versuche, den Argumentationsgang Habermas'

2

Habermas, J.: Wahrheitstheorien. In: Fahrenbach, H.(Hg.): Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag. Pfullingen 1973, S. 211 - 265. ND. in: Habermas, J.: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a.M. 1984, S. 127 - 183. (Danach wird im folgenden zitiert). Habermas, J.: Diskursethik Notizen zu einem Begründungsprogramm. In: Ders.: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a.M. 1983, S. 53 - 125. 3 Vgl. Habermas, J.: Was heißt Universalpragmatik? In: Apel, K.O. (Hg.): Sprachpragmatik und Philosophie. Frankfurt a.M. 1976, S. 174 - 272. ND. in: Habermas, J.: Vorstudien (Fn.2), S. 353 - 440. 4 Vgl. z.B. McCarthy, Th.: Kritik der Verständigungsverhältnisse. Zur Theorie von Jürgen Habermas. Frankfurt a.M. 1989, S. 309. 5 Vgl. neben den Arbeiten von Alexy und Neumann auch Habermas, J.: Wie ist Legitimität durch Legalität möglich? In: Kritische Justiz 1987, S. 1 - 16. 6 Vgl. etwa die Nummern 165, 227, 358, 556, 606, 652 und 718 in Görtzen, J.: Jürgen Habermas. Eine Bibliographie seiner Schriften und der Sekundärliteratur 1952 - 1981. Frankfurt a.M. 1982. 7 Vgl. etwa Hesse, H.: Widersprüche der Moderne. Einwände gegen Habermas' Konzept kommunikativer Rationalität. In: Gamm, G.(Hg.): Angesichts objektiver Verblendung. Über die Paradoxien kritischer Theorie. Tübingen 1985, S. 252 - 281; Schnädelbach, H.: Transformation der kritischen Theorie. In: Philosophische Rundschau 29 (1982), S. 161 - 178, auch in: Honneth, Α., Joas, H. (Hg.): Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas* „Theorie des kommunikativen Handelns*4. Frankfurt a.M. 1986, S. 15 - 34; Taylor, Ch.: Sprache und Gesellschaft. In: Honneth, Joas, a.a.O., S. 35 - 52.

160

. Die Diskursethik

Jürgen Habermas

genauer zu analysieren, sind rar. 8 Die kommentierende und assoziierende Vorgehensweise hat zweifellos ihre Berechtigung; sie ist in der Regel auch weitaus interessanter als eine pedantische Detailkritik. Trotzdem werde ich anders verfahren und Habermas' Vorschläge Satz fiir Satz auf ihre Haltbarkeit prüfen. Es geht um nicht weniger als die Möglichkeit der Grundlegung einer universalistischen Moral, und in derart wichtigen Fragen scheint mir eine akribische Analyse durchaus angebracht zu sein. Auch Wolfgang Kuhlmann hat sich bei seiner Ausarbeitung der Transzendentalpragmatik an einem sehr hohen Ideal methodischer Genauigkeit und Klarheit orientiert. Deshalb möchte ich im folgenden die Vorschläge von Jürgen Habermas ernstnehmen und mit derselben Sorgfalt untersuchen wie oben die Argumente Kuhlmanns. Zur Bewältigung seiner Begründungsaufgabe stützt sich Habermas seit Beginn der siebziger Jahre nicht mehr auf eine von Marx und Hegel inspirierte Geschichtsphilosophie, sondern auf sprachphilosophische Erwägungen. Nicht zu Unrecht hat man von einer „linguistischen Wende" dér kritischen Theorie gesprochen.9 Diese Wende vollzog sich allerdings nicht über Nacht. Zwar meinte Habermas schon in seiner Frankfurter Antrittsvorlesung über „Erkenntnis und Interesse" (1965), das „Interesse an Mündigkeit" könne „a priori eingesehen werden", weil Mündigkeit für uns mit der Struktur der Sprache gesetzt sei: „Mit dem ersten Satz ist die Intention eines allgemeinen und ungezwungenen Konsensus unmißverständlich ausgesprochen."10 Doch noch in „Zur Logik der Sozialwissenschaften" (1967) redete Habermas dunkel von der Sprache als einem „Gespinst [...], an dessen Fäden die Subjekte hängen und an ihnen zu Subjekten sich erst bilden." 11 In dem 1970 verfaßten Vorwort von „Zur Logik der Sozialwissenschaften. Materialien." ist dagegen bereits von einer „sprachtheoretische[n] Grundle-

8

Vgl. aber immerhin Fusfield, W.D.: Can Jürgen Habermas' „Begründungsprogramm" Escape Hans Albert's Münchhausen-Trilemma? In: Rhetorik 8 (1989), S. 73 - 82 oder Keuth, H.: Erkenntnis oder Entscheidung? Die Konsenstheorien der Wahrheit und der Richtigkeit von Jürgen Habermas. In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 10 (1979), S. 375 - 393. 9 Baumanns, P.: Sprechakttheorie - Universalpragmatik - Ethik. Zur linguistischen Wende der Kritischen Theorie. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 2 (1978), Heft 2, S. 45 - 70. Das transzendentalpragmatische Zwischenspiel bei Habermas am Beginn seiner sprachphilosophischen Phase soll hier nicht eigens thematisiert werden. 10 Habermas, J.: Erkenntnis und Interesse. In: Ders.: Technik und Wissenschaft als „Ideologie". Frankfurt a.M. 1968, S. 146 - 168 (163). 11 Habermas, J.: Zur Logik der Sozial Wissenschaften. Frankfurt a.M. 1967, S. 124 (Philosophische Rundschau, Beiheft 5).

I. Einleitung

161

gung der Sozialwissenschaften" die Rede. 12 Noch deutlicher manifestiert sich die Wendung zur Sprachphilosophie 1971 in den an der Princeton University gehaltenen „Vorlesungen zu einer sprachtheoretischen Grundlegung der Soziologie"13 und der etwa gleichzeitig entstandenen Arbeit „Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz (Vorlage fur Zwecke einer Seminardiskussion)".14 Die darin entwickelten Ansätze wurden in den Arbeiten „Wahrheitstheorien" 15 und „Was heißt Universalpragmatik?" 16 fortentwickelt, wobei sich die erste Arbeit mit Problemen der Ethik und des WahrheitsbegrifFs auseinandersetzt, während die zweite fast ausschließlich sprachphilosophischen Fragestellungen, nämlich einer Weiterentwicklung der Theorien von Austin·, Searle und Chomsky gewidmet ist. 1973 spricht Habermas bereits explizit von einer „kognitivistische[n] Sprachethik". 17 Die Sprachphilosophie spielt auch in Habermas" bisherigem Hauptwerk, der „Theorie des kommunikativen Handelns"18 eine zentrale Rolle; die Diskursethik wird dort aber nur erwähnt 19, jedoch nicht weiter ausgebaut.20 Dies geschieht erst 1983 in den beiden Aufsätzen „Diskursethik - Notizen zu einem Begründungsprogramm" und „Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln". 21 Sie stellen den gegenwärtig noch aktuellen Stand der Habermasschen Diskursethik dar. In dieser Ubersicht ist bereits angedeutet, daß sich die von Habermas entwickelte Version der Diskursethik von seinen sprachphilosophischen Thesen i.e.S., also von dem Projekt einer „Universalpragmatik", trennen

12

Habermas, J.: Zur Logik der Sozial Wissenschaften. Materialien. Frankfurt a.M. 1970,

S. 7. 13

Veröffentlicht erst 1984 in: Habermas, J.: Vorstudien (s. Fn. 2) S. 11 - 126. In: Habermas, J.; Luhmann, N. (Hg.): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? Frankfurt a.M. 1971, S. 101 - 141. 15 S.o. Fn. 2. 16 S.o. Fn. 3. 17 Habermas, J.: Legitimationsprobleme im Spatkapitalismus. Frankfurt a.M. 1973, S. 152. 18 Habermas, J.: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde, Frankfurt a.M. 1981. 4. Auf. 1987. 19 Vgl. z.B. Bd. 1, S. 387: „Verständigung wohnt als Telos der menschlichen Sprache inne.u 20 Eine knappe und kritische philosophische Würdigung dieses Werks findet sich bei Hartmann, K.: Human Agency between Life-world and System: Habermas* Latest Version of Critical Theory. In: Journal of The British Society for Phenomenology 16 (1985), S. 145 - 155. 21 Beide in: Habermas, J.: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a.M. 1983, S. 53 - 125 und 127 - 206. 14

11 Hilgendorf

162

. Die Diskursethik

Jürgen Habermas

läßt. Diese Trennung dürfte die Position Habermas9 sogar stärken, da Habermas9 sprachphilosophische und linguistische Vorschläge von der Sprachwissenschaft eher skeptisch aufgenommen worden sind. Schon 1973 hat Yehoshua Bar-Hillel die sprachwissenschaftlichen Ausführungen von Habermas als durchweg fehlerhaft und konfus bis hin zur Unverständlichkeit bezeichnet.22 Ebenso meint Schnelle, „daß Habermas die Darlegungen von Searle und Austin an fast allen wichtigen Stellen, an denen er sie zitiert, mißversteht oder inkorrekt darstellt, und zwar so, daß die resultierenden Feststellungen nur schwer in präzisem Sinne verständlich sind." 23 Der ostdeutsche Sprachforscher Gerhard Heibig schließlich wirft Habermas vor, gar kein spezifisch linguistisches Anliegen zu verfolgen, sondern die Linguistik „zur Begründung seiner gesellschaftstheoretischen und philosophischen Konzeption" zu mißbrauchen. 24 Heibig spricht von einem „unangemessenen[n] Versuch, linguistische Forschungsergebnisse philosophisch zu verallgemeinern sowie gesellschaftstheoretische Probleme linguistisch klären zu wollen. Im Gegensatz zu solchen Versuchen, bestimmte Theorien einer Einzelwissenschaft zum Philosophie-Ersatz zu machen, muß man davon ausgehen, daß es keine (primär) linguistische Lösung philosophischer und gesellschaftstheoretischer Fragen gibt - damit würde die Sprachwissenschaft in ungerechtfertigter Weise zu einer Art ,Super-Wissenschaft 4 erhöht [...]. 4 4 2 5 Soweit die kritischen Stimmen. Zu entscheiden, ob Habermas9 linguistische Überlegungen letztlich eine fruchtbare Weiterentwicklung sprachwissenschaftlicher Theorien darstellen oder nicht, fallt in die Kompetenz der Linguisten. Im vorliegenden Zusammenhang geht es nur darum, Habermas9 Thesen zu einer Moralbegründung kritisch zu analysieren. Die Untersuchung seiner einschlägigen Schriften wird zeigen, daß die entscheidenden Argumentationsschritte nicht sprachwissenschaftlicher, sondern philosophischer Natur sind. Deshalb sollen im folgenden genuin linguistische Probleme, etwa die Frage, ob Habermas seine linguistischen Gewährsleute zutreffend interpretiert hat, nicht erörtert werden.

22 Bar-Hillel, Y.: On Habermas* Hermeneutic Philosophy of Language. In: Synthese 26 (1973), S. 1 - 12. 23 Schnelle, H.: Sprachphilosophie und Linguistik. Prinzipien der Sprachanalyse a priori und a posteriori, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 42. Vgl auch ders.: Empirische und transzendentale Sprachgemeinschaften. In: Apel, K.O. (Hg.): Sprachpragmatik und Philosophie. Frankfurt a.M. 1976, S. 394 - 440 (insbes. 421 - 436). 24 Heibig, G.: Entwicklungen der Sprachwissenschaft seit 1970, Leipzig 1986, S. 208. 25 A.a.O., S. 210.

II. „Wahrheitstheorien

163

I I . „Wahrheitstheorien" Die immer noch zentrale Arbeit für die Entwicklung der Habermasschen Diskursethik ist der Aufsatz über „Wahrheitstheorien" aus dem Jahr 1973. 26 Es handelt sich dabei um einen der wichtigsten Aufsätze von Habermas, der unter den verschiedensten Aspekten analysiert wurde und zahlreiche Kommentare und Kritiken hervorgerufen hat. 27 Keuth hat gezeigt, daß die von Habermas vorgeschlagende Konsenstheorie der Wahrheit und Richtigkeit als Wahrheitstheorie nicht haltbar ist und insbesondere nicht ohne eine Bezugnahme auf eine von unserem Dafürhalten unabhängige Außenwelt auskommt. 28 Die Konsenstheorie weist als Wahrheitstheorie dieselben Probleme auf wie die Korrespondenztheorie, leidet aber zudem noch unter eigenen Schwächen und kann somit die Korrespondenztheorie nicht ersetzen. Ich möchte mich Habermas unter einem anderen Blickwinkel nähern und fragen, ob es ihm gelungen ist, einen Weg zu moralischem Wissen im kognitiven Sinn zu zeigen. Habermas glaubt mit der Herleitung seiner Diskursregeln den ethischen Nonkognitivismus und Skeptizismus überwunden zu haben. Darin sind ihm einige'Rechtstheoretiker, etwa Robert Alexy, gefolgt. Alexy hat sogar im Vertrauen auf die von Habermas postulierte Grundlegung den diskursethischen Ansatz unter großem Aufwand zu präzisieren versucht. Auf diesen Versuch werde ich in den beiden letzten Kapiteln dieser Arbeit noch ausführlich zu sprechen kommen, wobei ich aber schon an dieser Stelle anmerken möchte, daß mir Alexys Vertrauen in die Habermassche Grundlegung der Moral ungerechtfertigt zu sein scheint. Habermas beabsichtigt zunächst, einige Vorfragen zu klären. Er folgt dem in der Wissenschaftstheorie üblichen Sprachgebrauch und bezieht „wahr" und „falsch" auf Aussagen, nicht etwa auf Sätze oder Äußerungen. Unter „Diskurs" will er „die durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation" verstehen, „in der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin untersucht werden." 29 Die Redundanztheorie der Wahrheit weist er für Diskurse zurück; auch die Korrespondenztheorie der Wahrheit lehnt er ab. Der von ihm präferierten Konsenstheorie der Wahrheit und Richtigkeit zufolge „darf ich [...] dann einem Gegenstand ein Prädikat zusprechen, wenn auch jeder andere, der in ein Gespräch mit mir eintreten könnte, demselben Gegenstand das gleiche

26 27 28 29

Vgl. oben Fn. 2. Vgl. oben Fn. 6. Vgl. den oben Fn. 8 angegebenen Aufsatz. Habermas, Wahrheitstheorien, S. 130.

. Die Diskursethik

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Jürgen Habermas

Prädikat zusprechen würde. Ich nehme, um wahre von falschen Aussagen zu unterscheiden, auf die Beurteilung anderer Bezug - und zwar auf das Urteil aller anderen, mit denen ich je ein Gespräch aufnehmen könnte (wobei ich kontrafaktisch alle die Gesprächspartner einschließe, die ich finden könnte, wenn meine Lebensgeschichte mit der Geschichte der Menschheit koextensiv wäre). Die Bedingung fur die Wahrheit von Aussagen ist die potentielle Zustimmung aller anderen." 30 Kriterium für die Wahrheit von Aussagen ist also ein (noch näher zu qualifizierender) Konsens; eine Bezugnahme auf die „reale Außenwelt", die „Wirklichkeit", fehlt. Außerdem deutet Habermas schon hier gewisse ethische und politische Konsequenzen der Konsenstheorie an?1 und weitet die Konsenstheorie auch auf die Richtigkeit von Geboten und Wertungen aus. 32 Letztere sollen nicht in theoretischen, sondern in praktischen Diskursen überprüft werden. Im vierten und fünften Teil seines Aufsatzes, betitelt „Zur Logik des Diskurses" und „Die ideale Sprechsituation" finden sich Habermas' Kernthesen zur Begründung der Konsenstheorie. Er beginnt seine Ausführungen mit der Diskussion zweier selbsterhobener Einwände: Der erste Einwand bezieht sich darauf, „daß Wahrheit nicht mit den Methoden der Gewinnung von wahren Aussagen verwechselt werden darf." 33 Es handelt sich hierbei um ein altes Argument aus der Diskussion um den Wahrheitsbegriff: Wahrheitstheorie und Wahrheitskriterium sind strikt zu trennen, wenn man sich nicht terminologische Schwierigkeiten einhandeln will. Die Frage, was wir unter „Wahrheit" verstehen wollen, meint etwas ganz anderes als die Frage, ob bzw. wie eine Aussage als (im jeweils gemeinten Sinn) „wahr" erkannt werden kann. Habermas ist der Ansicht, seine Theorie sei von diesem Problem nicht betroffen: „Die Behauptung, daß Wahrheit und Richtigkeit diskursiv einlösbare Geltungsansprüche von Äußerungen sind, bezieht sich zwar auf die Argumentationspraxis im allgemeinen, aber keineswegs auf bestimmte Methoden der Gewinnung wahrer Aussagen oder richtiger Gebote." 34 Dieser Satz läßt sich am ehesten so verstehen, daß Habermas keine Methode, d.h. kein Kriterium zur Gewinnung und Auszeichnung wahrer Aussagen angeben will.

30 31 32 33 34

A.a.O., A.a.O., A.a.O., A.a.O., Ibid.

S. S. S. S.

136 f. 136 Fn. 15. 137. 159.

II. „Wahrheitstheorien

165

Andererseits bezeichnet Habermas den Konsens ausdrücklich als „Wahrheitskriterium 44 . 35 In einem späteren Zusatz hat Habermas diese Bezeichnung allerdings fur „irreführend" erklärt und ausgeführt, die Konsenstheorie erkläre „die Bedeutung des Wahrheitsbegriffs" 3 6 Dies spricht wieder fur eine Wahrheitstheorie. Angesichts dieser Unklarheiten und Unstimmigkeiten überrascht es nicht, daß auch unter den Habermasinterpreten keine Einigkeit besteht. So nehmen Keuth und wohl auch Alexy Habermas beim Wort und betrachten den Konsens als Wahrheitskriterium. 37 Weinberger dagegen spricht von einer Definition des Begriffs „Wahrheit" durch den Konsens bei Habermas. 38 Vielleicht läßt sich Habermas am ehesten analysieren, wenn man beide bei ihm angelegten Interpretationsmöglichkeiten im Auge behält und untersucht, wie er bald mit der einen, bald mit der anderen Version operiert. Dieser Weg soll im folgenden eingeschlagen werden. Einen zweiten Einwand gegen die Diskurstheorie hält Habermas für schwerwiegender: „Wenn wir unter ,Konsensus4 jede zufallig zustande gekommene Übereinstimmung verstehen würden, könnte er offensichtlich als Wahrheitskriterium nicht dienen." 39 Habermas begründet dies nicht weiter, vielleicht weil er das Problem für unmittelbar einleuchtend hält: Akzeptierte man jeden beliebigen Konsens als Wahrheitskriterium, so könnte innerhalb der einen Diskussionsgruppe ein Konsens über die Geltung von p, in der anderen aber ein Konsens über die Geltung von nicht-/? erzielt werden. Man stünde dann vor der Wahl, entweder „Wahrheit" auf eine Gruppe zu relativieren oder aber Widersprüche in Kauf zu nehmen. Um dies zu vermeiden, möchte Habermas nicht jeden Konsens als Wahrheitskriterium gelten lassen, sondern allein einen „begründeten" Konsens.40 Der „Sinn

35

A.a.O., S. 160. A.a.O., S. 160 Fn. 32. Vgl. auch ders.: Entgegnung. In: Honneth, Α., Joas, H. (Hg.): Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas „Theorie des kommunikativen Handels". Framnkfurt a.M. 1986, S. 327 - 405 (352). 37 Keuth, Erkenntnis oder Entscheidung, S. 379; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 135. 38 Weinberger, O.: Die Rolle des Konsenses in der Wissenschaft, im Recht und in der Politik. In: Aarnio, Α., Niiniluoto, I. und J.Uusitalo (Hg.): Methodologie und Erkenntnistheorie der juristischen Argumentation. Beiträge des Internationalen Symposions „Argumentation in Legal Science" vom 10. bis 12. Dezember 1979 in Helsinki, Berlin 1981 , S. 147 - 165 (160) (Rechtstheorie Beiheft 2). 39 Wahrheitstheorien, S. 160. 40 Ibid. 36

. Die Diskursethik

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Jürgen Habermas

von Wahrheit 44 ist, so Habermas, „daß jederzeit und überall, wenn wir nur in einen Diskurs eintreten, ein Konsens unter Bedingungen erzielt werden kann, die diesen als begründeten Konsensus ausweisen.4441 (Das Schwanken zwischen Wahrheitskriterium und Wahrheitsdefinition ist hier wieder offensichtlich). Daraus ergibt sich aber, wie auch Habermas sieht, sofort eine weitere Schwierigkeit: Die Antwort auf die Frage, ob ein Konsens unter den erwähnten wahrheitsverbûrgenden (oder wahrheitsdefinierenden?) Bedingungen zustandegekommen ist, kann nicht wiederum von einem begründeten Konsens abhängig gemacht werden, dieser von einem weiteren begründeten Konsens usw., sonst geriete man in einen infiniten Regreß (Habermas meint, die Konsenstheorie verwickle sich hier in einen „Widerspruch 4442. Das ist jedoch offensichtlich nicht dec Fall). Außerdem dürfte sich der sorgfaltige Leser spätestens an dieser Stelle noch eine weitere Frage stellen: Was versteht Habermas eigentlich unter einem „begründeten44 Konsens? Eine Lösung dieser Probleme erhofft sich Habermas von einer „Logik des Diskurses 44. Er beruft sich dabei auf Vorarbeiten von Chaim Perelman, Yehoshua Bar-Hillel und Stephen Toulmin. 43 In seinen weiteren Ausführungen stützt sich Habermas aber ausschließlich auf Toulmin. Was versteht also Habermas unter der „Logik des Diskurses44? Er grenzt sich zunächst sowohl von der Aussagenlogik als auch von einer „transzendentalen Logik44 ab und bezeichnet die Logik des Diskurses als „pragmatisch44 : „Sie untersucht die formalen Eigenschaften von Argumentationszusammenhängen 44 . 44 Die Qualität eines Argumentes (Habermas spricht von dem „eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Argumentes 4445) beruht nicht auf logischen Erwägungen oder Erfahrung, sondern auf anderen Kriterien. Dies ist überraschend, hält man doch üblicherweise gerade jene Argumente, die ihre Kraft aus rein logischen Verhältnissen beziehen oder die sich zumindest auf empirisch gut bewährte Gesetzmäßigkeiten stützen können, für besonders überzeugend. Es ist deshalb interessant, wie Habermas seine These verteidigt: Für die Qualität eines Argumentes, so meint er, seien Logik und Empirie deshalb ohne Belang, weil eine „Argumentation aus einer Kette nicht von Sätzen, sondern von Sprechakten besteht. Zwischen diesen pragmatischen

41 42 43 44 45

Ibid. Ibid. A.a.O., S. 161. A.a.O., S. 161 f. A.a.O., S. 161.

II. „Wahrheitstheorien44

167

Einheiten der Rede kann der Ubergang weder ausschließlich logisch [...] noch kann er empirisch begründet werden." 46 Diese Begründung ist sehr merkwürdig. Sprechakttheoretiker wie Austin und Searle haben zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß wir beim Äußern von Argumenten auch „handeln" und dabei von „Sprechakten" gesprochen. Die Untersuchung derartiger Sprechakte ist ein interessantes und vielversprechendes Arbeitsgebiet der linguistischen Pragmatik. 47 Es ist jedoch nicht ersichtlich, wie die Berücksichtigung der pragmatischen Dimension ein nach den üblichen Kriterien - etwa aus logischen Gründen - unhaltbares Argument zu einem haltbaren oder umgekehrt machen sollte. Zwar läßt sich die Uberzeugungswirkung schlechter Argumente durch geeignete „pragmatische" Mittel erhöhen, doch ändert dies an der Qualität des derart „gestärkten" Argumentes gar nichts. Es kann deshalb keine Rede davon sein, die Qualität eines Argumentes sei von Logik oder empirischen Gesetzmäßigkeiten unabhängig. Auch Toulmin, den Habermas indirekt als Gewährsmann anführt, hat dergleichen nie behauptet; seine Argumentationstheorie benutzt als Grundeinheiten im übrigen nicht Sprechakte, sondern Sätze. Nach diesen einführenden Bemerkungen untersucht Habermas unter Verwendung eines vereinfachten Toulmin-Schemas Argumentationen im erfahrungswissenschaftlichen und moralischen Bereich, also „theoretische" und „praktische" Diskurse. Die Leistungsfähigkeit des Toulmin-Schemas wurde bereits diskutiert. 48 Ich möchte deshalb gleich auf die Art und Weise eingehen, in der Habermas das Schema für seine Zwecke verwendet. Als Beispiel für einen theoretisch-empirischen Diskurs bringt er vor: 49

46 47 48 49

A.a.O., S. 162. Vgl. den Überblick bei Levinson, S.C.: Pragmatics. Cambridge 1983, S. 226 - 283. Vgl. oben Kap. E. Wahrheitstheorien, S. 165. Der Wortlaut von D wurde unwesentlich verändert.

. Die Diskursethik

168

Jürgen Habermas

Das Wasser in diesem Topf dehnt sich aus

Das Wasser In diesem Topf wird erhitzt D

C

(Ein entsprechendes Oesetz der Thermodynamik) W

Kasuistische Evidenz zur Stützung der Hypothese

Β Wie bereits erarbeitet wurde, reicht die bloße Darstellung eines Argumentes im Toulmin-Schema nicht aus, um die Qualität des Argumentes zu sichern. Für D , C, Wund Β wird vielmehr dasjenige in das Schema eingestellt, was der jeweils Argumentierende als Daten, Schlußfolgerung, Schlußregel und Stützung der Schlußregel vorbringt. Um die Leistungsfähigkeit des Argumentes zu überprüfen, bedarf es anderer Überlegungen: Folgt C aus W und Dl Gibt es Gründe B, die Schlußregel W zu akzeptieren? Von einer zwingenden logischen Beziehung zwischen Β und W kann natürlich nicht gesprochen werden, da die Induktion bekanntlich unzuverlässig ist. Nach Habermas hängt aber die Qualität des Argumentes und damit dessen konsenserzielende Kraft von einem ganz anderen Faktor ab: der „Angemessenheit der zu Argumentationszwecken verwendeten Sprache und des entsprechenden begrifflichen Systems".50 Er versucht dies zu erläutern, indem er erklärt, „das Sprachsystem [... lege] die Grundbegriffe fest, mit denen das erklärungs- bzw. rechtfertigungsbedürftige Phänomen C so beschrieben wird, daß einerseits die in dieser Beschreibung auftretende singuläre Existenzaussage aus den in D und W auftretenden Aussagen abgeleitet werden kann und daß andererseits Β für jedermann, der an einem Diskurs teilnehmen kann, ein hinreichendes Motiv ist, W zu akzeptieren." 51 Merkwürdigerweise spricht Habermas hier von einer Ableitung von C aus D und W, während er doch oben die Logik für die Analyse von Sprechhandlungen für unzuständig erklärt hatte. Der Leitgedanke bei Habermas dürfte folgende Erwägung sein: Unsere Sprache stellt das Vokabular zur Verfugung, in welchem wir unsere Argumente ausdrücken. Je reicher die Sprache ist, desto differenzierter können wir uns äußern. Diese Erscheinung wird in der Linguistik,

50 51

A.a.O., S. 165. A.a.O., S. 165 f.

II. „Wahrheitstheorien44

169

Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie schon lange diskutiert. 52 Die weiteren Ausführungen Habermas* zu der Bedeutung des gewählten Sprachsystems sind außerordentlich dunkel.53 Er identifiziert die „Grundprädikate bewährter Begründungssprachen" mit kognitiven Schemata im Sinne Piagete 54 und bestimmt sie als „Ergebnisse einer aktiven Auseinandersetzung des Persönlichkeits- und des Gesellschaftssystems mit der Natur [ . . . ] . " 5 5 Die Induktion meint er nun einfach als „die exemplarische Wiederholung genau des Typs von Erfahrung, an dem die in die Grundprädikate der Begründungssprache jeweils eingegangenen kognitiven Schemata zuvor ausgebildet worden sind", bestimmen zu können.56 Offenbar glaubt Habermas, die so interpretierte Induktion würde den Schluß von Einzeldaten auf eine Gesetzesaussage zulassen, doch sind seine Ausführungen auch in diesem Punkt nicht klar. Im selben Abschnitt finden sich auch Bemerkungen zur Konfrontation von Sätzen mit der Realität. Eine solche Konfrontation wird sonst üblicherweise als empirischer Test für die Haltbarkeit einer Aussage betrachtet; die Aussage soll an der Realität scheitern können. Habermas dagegen schlägt vor, nicht einzelne Sätze, sondern ein Sprachsystem insgesamt mit der Realität zu konfrontieren. 57 Leider macht er nicht deutlich, welchem Zweck eine derartige Konfrontation dienen sollte. Da ein Sprachsystem zu jeder Aussage auch die zugehörige Negation enthält, kann durch die Konfrontation eines ganzen Sprachsystems mit der Realität natürlich das Sprachsystem nicht empirisch getestet werden. Habermas* Ausführungen zu kognitiven Schemata, Induktion und der Konfrontation von Sprachsystemen mit der Wirklichkeit spielen aber in seinem weiteren Argumentationsgang keine entscheidende Rolle mehr, so daß ich von einer weiteren Analyse absehe. Es genügt festzuhalten, daß nach Ansicht von Habermas die Qualität eines Argumentes nur von der „Angemessenheit" der verwendeten Sprache abhängt, nicht dagegen von logischen Überlegungen oder empirischen Untersuchungen. Diese These, so zweifelhaft sie ist, möchte ich im folgenden als zutreffend unterstellen, um unsere Leitfrage weiter verfolgen zu können: Was versteht Habermas unter einem „begründeten Konsens"? Den entscheidenden Gedan-

52

Vgl. etwa Kutschera, F. von: Sprachphilosophie. 2. Aufl. München 1975, S. 289 344 mit weiteren Nachweisen. 53 So auch Baumanns, Sprechakttheorie - Universalpragmatik - Ethik, S. 60 f. 54 Wahrheitstheorien, S. 167. 55 Ibid. 56 A.a.O., S. 167 f. 57 A.a.O., S. 168 f.

. Die Diskursethik

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Jürgen Habermas

ken zur weiteren Entwicklung dieses Begriffs bringt Habermas unmittelbar im Anschluß an eine Rekapitulation seiner bisherigen Überlegungen vor (so daß bei einem unsorgfaltigem Leser der Eindruck entstehen könnte, der Autor fasse hier nur schon Erarbeitetes zusammen). Habermas" Anknüpfungspunkt ist seine These von der Notwendigkeit eines „angemessenen" Sprachsystems. Diese „Angemessenheit44 möchte Habermas sicherstellen: „Ob eine Sprache einem Objektbereich angemessen ist, [...] - diese Frage muß selbst Gegenstand der Argumentation sein können. Dabei handelt es sich um eine Frage, welche direkt nur durch ein Hin- und Hergehen zwischen Begriff und Sache entschieden werden könnte. Nur einem metaphysischen Geist, der nicht Geist von unserem Geist ist, wäre dieser direkte Zugriff möglich. Wir sind auf den Gang der Argumentation angewiesen, die einen Wechsel der Ebenen der Argumentation glücklicherweise zuläßt. Die formalen Eigenschaften des Diskurses müssen deshalb so beschaffen sein, daß die Diskursebene jederzeit gewechselt und ein zunächst gewähltes Sprach- und Begriffssystem gegebenenfalls als unangemessen erkannt und revidiert werden kann [ . . . ] . w 5 8 Habermas möchte also den Diskurs mit bestimmten formalen Eigenschaften ausstatten, die sicherstellen sollen, daß die verwendete Sprache revidiert werden kann: „Ein argumentativ erzielter Konsens darf dann, aber auch nur dann als Wahrheitskriterium [!] angesehen werden, wenn strukturell die Möglichkeit besteht, die jeweilige Begründungssprache, in der Erfahrungen interpretiert werden, zu hinterfragen, zu modifizieren und zu ersetzen. 4459 Ein unter solchen Voraussetzungen zustandegekommener Konsens ist ein „begründeter 44 Konsens. Habermas' Argumentationsgang ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Während er oben die „Angemessenheit44 der Sprache als Voraussetzung für die Qualität der in ihr formulierten Argumente eingeführt hatte, ist hier plötzlich die Rede von der Wahrheit von Aussagen. Weiterhin sind bislang die - noch näher zu explizierenden - formalen Eigenschaften des Diskurses bloß als Mittel konzipiert, um die „Angemessenheit44 der verwendeten Sprache sicherzustellen. Schließlich drängt sich hier erneut die Frage auf, ob Habermas tatsächlich meint, ein unter den angegebenen Bedingungen erzielter Konsens sei ein Wahrheitskriterium, oder ob er lediglich beabsichtigt, den Begriff „Wahrheit 44 in seinem Sinne umzudefinieren. Nach dem üblichen Verständnis von Wahrheit kann ein noch so qualifizierter Konsens kein

58 59

A.a.O., S. 171. A.a.O., S. 171 f.

171

II. „Wahrheitstheorien

Kriterium fur die Wahrheit einer Aussage sein: Der Satz „Gustav Radbruch wurde im Jahr 1878 geboren44 ist wahr genau dann, wenn Gustav Radbruch tatsächlich im Jahr 1878 geboren wurde, gleichgültig, ob darüber ein Konsens erzielt wird oder nicht. Die Wahrheit einer Aussage ist abhängig von einer bestimmten Beziehung zur Außenwelt, nicht dagegen von einem Konsens. Der kann allenfalls ein Indiz fur die Wahrheit der Aussage sein. Auch praktische Diskurse versucht Habermas in seinem vereinfachten Toulmin-Schema darzustellen. Er wählt ein Beispiel aus dem Schuldrecht: 60 A hat dir das Geld für vier Wochen geliehen. " D

Du sollst A bis Ende der ' Woche 50 DM zurückgeben.

C

(Eine entsprechende Norm, z.B.:) Darlehen sollen innerhalb angegebener Frist rückerstattet werden. W

Kasuistische Evidenz zur Stützung der Hypothese,

B:

(Eine Reihe von Hinweisen auf Folgen und Nebenfolgen der Nonnanwendung für die Erfüllung akzeptierter Bedürfnisse, z.B.:) Darlehen ermöglichen einen flexiblen Einsatz knapper Ressourcen.

Der Jurist wird hier eine Erwähnung des Gesetzes (§ 607 BGB) sowie eine Feststellung des Fristablaufs vermissen. Darauf soll es aber nicht ankommen. Habermas diskutiert den praktischen Diskurs ganz analog dem theoretischen Diskurs. Er meint allerdings, daß eine Konsentheorie der Richtigkeit von Normen mit weniger Einwänden zu rechnen habe als eine Konsenstheorie der Wahrheit von Aussagen, weil es auf der Hand zu liegen scheine, „daß praktische Fragen, die sich in Ansehung der Wahl von Normen stellen, nur durch einen Konsensus unter allen Beteiligten und allen potentiell Betroffenen entschieden werden können. 4461 In der Tat ist der Konsensgedanke weit verbreitet, obwohl z.B. Vertreter eines naturrechtlichen Denkens die Geltung bestimmter Normen nicht von einem Konsens abhängig machen wollen. Auch das Grundgesetz hat in den Artikeln 19 Abs. 3 und 79 die (juristische) Geltung bestimmter Normen konsensunabhängig ausgestaltet. Ganz so unproblematisch, wie Habermas

60 61

A.a.O., S. 165. A.a.O., S. 172.

172

. Die Diskursethik

Jürgen Habermas

anzunehmen scheint, ist der Gedanke einer Konsenstheorie der Richtigkeit von Normen also doch nicht. Wie sogleich zu zeigen sein wird, ist die Konzeption auch im einzelnen vielen Einwänden ausgesetzt. Fraglich ist zunächst, wie die für den praktischen Diskurs zentralen Normen der Stufe Wzm gewinnen sind. Brückenprinzip zwischen der Stützung Β und der Schlußregel W ist diesmal das Universalisierungsprinzip. Dadurch sollen „alle die Normen, die partikulare, nicht verallgemeinerungsföhige Interessen verkörpern, als nicht konsensfahig" ausgeschlossen werden. 62 Im übrigen verläuft der Argumentationsgang von Habermas hier genauso wie oben: Die konsenserzielende'Kraft des Arguments beruht auf der Voraussetzung, daß die jeweils verwendete Sprache „angemessen" ist. „Angemessen" soll die Sprache fur den moralischen Bereich dann sein, wenn sie „bestimmten Personen und Gruppen unter gegebenen Umständen eine wahrhaftige Interpretation ihrer eigenen partikularen wie auch vor allem der gemeinsamen und konsensfahigen Bedürfnisse erlaubt." 63 Um die „Angemessenheit" der Sprache zu gewährleisten, muß es nach Habermas auch hier möglich sein, die verwendete Sprache zu überprüfen und notfalls zu revidieren. Deshalb soll auch der praktische Diskurs so ausgestaltet werden, daß er „schon aufgrund seiner formalen Eigenschaften die Garantie [... gibt], daß die Teilnehmer jederzeit die Diskursebene wechseln und sich der Unangemessenheit tradierter Bedürfnisinterpretationen innewerden können." 64 Die Probleme des von Habermas angesprochenen Universalisierungsprinzips sind bereits von anderen Autoren ausführlich untersucht worden. 65 In keiner seiner zahlreichen Versionen ist das Universalisierungsprinzip in der Lage, eine kognitive Ethik zu begründen. 66 Darauf soll hier nicht noch einmal eingegangen werden. Stattdessen möchte ich mich jetzt dem Kernproblem der Habermasschen Diskursethik, der „idealen Sprechsituation", zuwenden.

62

A.a.O., S. 172 f. A.a.O., S. 173. 64 A.a.O., S. 173 f. 65 Vgl. zuletzt die übersichtliche und sowohl die moralphilosophische wie rechtstheoretische Diskussion erfasssende Studie von Wimmer, R.: Universalisierung in der Ethik. Analyse, Kritik und Rekonstruktion ethischer Rationalitätsansprüche. Frankfurt a.M. 1980. 66 Vgl. Wimmer, a.a.O., S. 358 - 360. 63

III. Die „ideale Sprechsituation"

173

I I I . Die „ideale Sprechsituation" Was sind also jene formalen Eigenschaften des Diskurses, auf denen die konsenserzielende Kraft des Arguments beruhen soll? Habermas nennt sie die Eigenschaften einer „idealen Sprechsituation". Er versteht darunter „eine Sprechsituation, in der Kommunikationen nicht nur nicht durch äußere kontingente Einwirkungen, sondern auch nicht durch Zwänge behindert werden, die sich aus der Struktur der Kommunikation selbst ergeben." Dies soll dadurch erreicht werden, daß „für alle Diskursteilnehmer eine symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen und auszufuhren", gewährleistet wird. 6 7 Habermas9 Ausführungen zur idealen Sprechsituation lassen im einzelnen zahlreiche Fragen offen. 68 Hier interessieren aber nur die vier Postulate, die Habermas aus seiner Symmetrieforderung ableiten zu können glaubt. Sie lauten: 1)

„Alle potentiellen Teilnehmer eines Diskurses müssen die gleiche Chance haben, kommunikative Sprechakte zu verwenden, so daß sie jederzeit Diskurse eröffnen sowie durch Rede und Gegenrede, Frage und Antwort perpetuieren können." 2) „Alle Diskursteilnehmer müssen die gleiche Chance haben, Deutungen, Behauptungen, Empfehlungen, Erklärungen und Rechtfertigungen aufzustellen und deren Geltungssanspruch zu problematisieren, zu begründen oder zu widerlegen, so daß keine Vormeinung auf Dauer der Thematisierung und der Kritik entzogen bleibt." 3) „Zum Diskurs sind nur Sprecher zugelassen, die als Handelnde gleiche Chancen haben, repräsentative Sprechakte zu verwenden, d.h. ihre Einstellungen, Gefühle und Wünsche zum Ausdruck zu bringen." 4) „Zum Diskurs sind nur Sprecher zugelassen, die als Handelnde die gleiche Chance haben, regulative Sprechakte zu verwenden, d.h. zu befehlen und sich zu widersetzen, zu erlauben und zu verbieten, Versprechen zu geben und abzunehmen, Rechenschaft abzulegen und zu verlangen usf." 69

67

Ibid., S. 177. Vgl. Baumanns, Sprechakttheorie - Universalpragmatik - Ethik, S. 54 - 58. Auch Habermas bezeichnet in: Interview mit T. Hviid Nielsen. In: Habermas, J.: Die nachholende Revolution. Kleine Politische Schriften VII. Frankfurt a.M. 1990, S. 114 - 145 (131 f) den Ausdruck „ideale Sprechsituation" als mißverstandlich. Seine Ausführungen ibid. sind aber leider nicht geeignet, zu einer Klärung beizutragen. 69 Wahrheitstheorien, S. 177 f. 68

174

Κ. Die Diskursethik von Jürgen Habermas

Was ist nun mit der Angabe dieser Diskursregeln als der Bedeutung der „idealen Sprechsituation" erreicht? Habermas hatte den Begriff der „idealen Sprechsituation" eingeführt, um solche formalen Diskurseigenschaften auszuzeichnen, die gegeben sein müssen, um die „Angemessenheit" der in Diskursen verwendeten Sprache zu gewährleisten. Die Diskursregeln sind also bislang nur als Mittel zu einem bestimmten Zweck - der Gewährleistung von „Angemessenheit" - eingeführt. Damit gelten sie, kantisch gesprochen, nur hypothetisch und stellen keineswegs ethisches Wissen i. S. des Kognitivismus dar, den Habermas doch verteidigen bzw. neu begründen wollte. Auf zwei weitere Probleme seiner Konzeption weist Habermas selbst hin: Läßt sich eine „ideale Sprechsituation" überhaupt verwirklichen? Oder ist sie bloß eine Utopie? Und noch schwerwiegender: Wie können wir überhaupt feststellen, wann die Bedingungen der „idealen Sprechsituation" erfüllt sind?70 Offensichtlich ist es ausgeschlossen, diese Frage von einem weiteren Diskurs abhängig zu machen, denn so gelangen wir zwangsläufig in einen infiniten Regreß. Von der Beantwortung dieser Fragen hängt es ab, ob Habermas' Verteidigung des Kognitivismus zum Scheitern verurteilt ist oder nicht. Deshalb verdient seine Antwort auf die genannten Einwände und Fragen besondere Aufmerksamkeit. Seine Entgegnung ist sehr überraschend: Habermas behauptet einfach, die Regeln der „idealen Sprechsituation" hätten wir „immer schon" anerkannt, so daß sich die eben angesprochenen Probleme gar nicht oder doch in gänzlich anderer Form ergäben. Das ist natürlich eine sehr elegante Lösung; es fragt sich aber, ob sie auch stichhaltig ist. Das folgende Argument ist ein typisches Beispiel des Habermasschen Begründungsstils; um die Analyse zu erleichtern, habe ich die Argumente, die Habermas in einem Block vorbringt, optisch getrennt und ihnen Ziffern vorangestellt: (1) „Wenn es zutrifft, daß wir einen vernünftigen, d.h. argumentativ erzielten und zugleich wahrheitsverbürgenden Konsensus von einem bloß erzwungenen oder täuschenden Konsensus letztlich nur durch Bezugnahme auf eine ideale Sprechsituation unterscheiden können; (2) wenn wir weiterhin davon ausgehen dürfen, daß wir uns faktisch jederzeit zutrauen und auch zutrauen müssen, einen vernünftigen von einem trügerischen Konsensus zu unterscheiden, weil wir sonst den vernünftigen Charakter von Rede preisgeben würden;

70

A.a.O., S. 179.

III. Die „ideale Sprechsituation"

175

(3) und wenn gleichwohl in keinem empirischen Fall eindeutig festgestellt werden kann, ob eine ideale Sprechsituation gegeben ist oder nicht (4) dann bleibt folgende Erklärung: Die ideale Sprechsituation ist weder ein empirisches Phänomen noch bloßes Konstrukt, sondern eine in Diskursen unvermeidliche, reziprok vorgenommene Unterstellung." 71 Was ist von diesem Argument zu halten? Prämisse (1) dürfte analytisch sein; ich möchte dies hier jedoch nicht näher untersuchen und (1) einfach hypothetisch als zutreffend betrachten. Auch (3) sei als zutreffend unterstellt. Interessanter ist Prämisse (2). Sie umfaßt zwei Behauptungen: (2.1):

Wir trauen uns faktisch jederzeit zu, einen vernünftigen von einem trügerischen Konsens zu unterscheiden

und (2.2):

Wir müssen uns dies zutrauen, weil wir sonst den vernünftigen Charakter von Rede preisgeben würden.

Nach (1) können wir einen vernünftigen von einem täuschenden, also trügerischen Konsens letztlich nur durch Bezugnahme auf eine ideale Sprechsituation unterscheiden. Nach Prämisse (3) kann jedoch in keinem Fall eindeutig festgestellt werden, ob eine ideale Sprechsituation gegeben ist oder nicht. Daraus folgt fur (2.1), daß uns unser Selbstvertrauen, einen vernünftigen von einem trügerischen Konsens jederzeit unterscheiden zu können, auf Abwege gefuhrt hat und wir uns mehr zutrauen, als wir zu leisten vermögen. Die Begründungslast liegt nun auf Prämisse (2.2). Es handelt sich dabei um einen hypothetischer Satz: Wenn wir den „vernünftigen Charakter der Rede" bewahren wollen (was immer sich Habermas auch darunter vorstellt), dann müssen wir uns zutrauen, einen vernünftigen von einem trügerischen Konsensus zu unterscheiden. Wer bereit ist, den „vernünftigen Charakter der Rede" preiszugeben, der braucht sich auch nicht zuzutrauen, einen vernünftigen von einem trügerischen Konsens zu unterscheiden. Warum sollte er dies auch tun, da sein Selbstvertrauen nach Habermas eigenen Prämissen (1) und (3) unbegründet ist? Schon aus diesen Gründen vermag Habermas" Herleitung der Diskursregeln als „immer schon" anerkannt nicht zu überzeugen. Sein Argument enthält noch einen weiteren Fehler: Selbst wenn man (1) bis (3) akzeptiert, folgt daraus keineswegs (4). Vereinfacht formuliert, argumentiert Habermas wie folgt: Wir können einen vernünftigen von einem trügerischen Konsens nur durch Bezugnahme auf eine ideale Sprechsituation

71

A.a.O., S. 180.

176

. Die Diskursethik

Jürgen Habermas

unterscheiden, müssen uns diese Unterscheidung auch zutrauen, können sie aber mangels Bezugnahmemöglichkeit auf die ideale Sprechsituation nicht durchführen - also haben wir die ideale Sprechsituation „immer schon44 anerkannt! In dieser gestrafften Form wird die Unhaltbarkeit des Arguments offensichtlich. In seinen jüngsten Äußerungen zur „idealen Sprechsituation44 wählt Habermas einen anderen Argumentationsgang: „Wir orientieren uns zu jedem beliebigen Zeitpunkt an dieser Idee [der idealen Sprechsituation bzw. der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft], wenn wir uns darum bemühen, daß (a) alle irgend relevanten Stimmen Gehör finden, (b) die besten aller beim gegenwärtigen Wissensstand verfugbaren Argumente zur Geltung gelangen und (c) nur der zwanglose Zwang des besseren Argumentes die Jaund Nein-Stellungnahmen der Teilnehmer bestimmt. 4472 Der Fehler dieses Argumentes ist offensichtlich: Da (a) bis (c) eine Umschreibung der „idealen Sprechsituation44 bilden, lautet Habermas* These einfach: Wir orientieren uns an der „idealen Sprechsituation44, wenn wir uns an der „idealen Sprechsituation44 orientieren! Es handelt sich also um eine nichtssagende Tautologie. Mit dem Scheitern dieser Begründungsversuche bricht auch Habermas' Verteidigung des moralphilosophischen Kognitivismus zusammen. Habermas ist es nicht gelungen zu zeigen, daß wir die Regeln der „idealen Sprechsituation44 „immer schon44 anerkannt haben. Er hat nicht zu zeigen vermocht, daß es sich bei diesen Regeln um Wissen im kognitiven Sinn und nicht nur um hypothetisch geltende Regeln handelt. Wichtige Begriffe seiner Theorie etwa die Vokabel „Angemessenheit44 - bleiben völlig unklar. Damit ist natürlich über den moralischen Wert seiner Diskursregeln gar nichts ausgesagt. Ob wir seine Diskursregeln akzeptieren, ist aber, wenn die obige Analyse zutreffend ist, keine Frage der Erkenntnis, wie es Habermas behauptet, sondern eine Frage der persönlichen Entscheidung. Die „ideale Sprechsituation44 ist ein Ideal, dessen Geltung wir nicht erkennen, sondern an das wir bloß glauben können. Habermas' Versuch einer sprachphilosophischen Fundierung der Moral ist deshalb gescheitert.

72

Habermas, J.: Interview mit T. Hviid Nielsen, S. 131.

L. Die Fortentwicklung der Diskursethik durch Jürgen Habermas Der Aufsatz „Diskursethik - Notizen zu einem Begründungsprogramm" 1 enthält die bislang jüngste Ausarbeitung der Vorschläge Habermas* zur Diskursethik. Die Grundkonzeption seines Entwurfes bleibt dabei erhalten, jedoch werden einige Modifikationen und Präzisierungen eingeführt, die im folgenden analysiert werden sollen.

I . Das Universalisierungssprinzip In einem ersten Abschnitt bringt Habermas „moralische Alltagsintuitionen" am Beispiel der durch eine Kränkung hervorgerufenen Entrüstung als Argument gegen den ethischen Nonkognitivismus vor. 2 Strawson3 folgend, weist Habermas darauf hin, daß die Entstehung derartiger Ressentiments durch ein geeignetes Verhalten, etwa rechtzeitige Entschuldigungen, verhindert oder rückgängig gemacht werden könne. Auch ein Moralphilosoph besitze die genannten Alltagsintuitionen. Habermas weist ferner daraufhin, daß derartige Intuitionen - Habermas spricht jetzt von „normative[n] Erwartunglen]" 4 bei allen Angehörigen einer sozialen Gruppe auftreten und daß sie dabei als in einem Sinne begründbar angesehen werden, der über bloße Zweckrationalität hinausgeht. Diese Hinweise sind im Kern zutreffend. Fraglich ist jedoch, ob die Existenz derartiger Erwartungen als Argument gegen den ethischen Nonkognitivismus taugt. Auch ein erklärter Skeptiker wie Hans Albert hat wiederholt darauf hingewiesen, daß unseren moralischen Alltagsintuitionen

1 In: Habermas, J.: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a.M. 1983, S. 53 - 125. 2 A.a.O., S. 55 ff. 3 Strawson, P.F.: Freedom and Resentment. In: Ders., Freedom and Resentment and Other Essays. London 1974, S. 1 - 2 5 . 4 Diskursethik - Notizen zu einem Begründungsprogramm, S. 58.

12 Hilgendorf

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L. Die Fortentwicklung der Diskursethik durch Jürgen Habermas

offenbar so etwas wie ein Wertpiatonismus zugrunde liegt5, doch hat Albert daraus zu Recht nicht gefolgert, der Wertpiatonismus sei eine zutreffende ethische Theorie. Unsere AUtagsintuitionen sind trügerisch und zu einem großen Teil das Produkt von Vorurteilen. Habermas' Argument ist deshalb wenig überzeugend. Im Anschluß an seine Strawson-Interpretation versucht Habermas die These zu belegen, daß normative Sätze wahrheitsfahig sind. Er beruft sich dabei auf Alan R. White 6 und Stephen Toulmin 7 . White referiert allerdings an der von Habermas zitierten Stelle nur mögliche Argumente, ohne selbst Stellung zu beziehen.8 Toulmin hat sich inzwischen ausdrücklich von Habermas und dem ethischen Kognitivismus distanziert und zu einem rhetorischtopischen Ansatz bekannt.9 Auf diese Differenzen brauche ich hier jedoch nicht näher einzugehen, weil auch Habermas einräumt, die „Wahrheit 44 normativer Sätze sei in einem anderen Sinn zu verstehen als die deskriptiver Sätze. 10 Er spricht deshalb von einem „wahrheitsanalogen44 Geltungsanspruch und einer korrespondierenden „normativefn] Richtigkeit44. Habermas verwendet die Worte „Wahrheit 44 bzw. „wahr 44 mithin in einem weiteren Sinn als üblich. Eine derartige Sprachkonvention ist zulässig, wenn sie, wie hier bei Habermas, offenkundig gemacht wird. Die entscheidende Frage lautet: Kann Habermas zeigen, daß bestimmte normative Sätze „wahr 44 in seinem Sinne sind, hat er einen Weg zu (kognitivem) ethischen Wissen gefunden? Der zweite Abschnitt dient Habermas vor allem der Einführung des Universalisierungsprinzips. Habermas knüpft an seine Ausführungen in dem Aufsatz über Wahrheitstheorien an und bezeichnet die Universalisierung als das in praktischen Diskursen wirksame Brückenprinzip. Er behauptet, die von Kants kategorischem Imperativ angeregte Universalisierbarkeitsideeläge allen kognitivistischen Ethiken zugrunde. 11 Diese These ist zwar falsch - in kognitivistischen Ethiken wie etwa der materialen Wertethik kommt dem Universalisierungsgedanken keineswegs eine grundlegende Bedeutung zu - doch ist Habermas jedenfalls darin zuzustimmen, daß das Postulat der Verallgemeine-

5

Vgl. etwa Albert, H.: Traktat über kritische Vernunft, S. 55, 64, 77. White, A.R.: Truth. New York 1971, S. 61. 7 Toulmin, S.: An Examination of the Place of Reason in Ethics. Cambridge 1953. 8 So White selbst a.a.O., S. 65. 9 Toulmin, S.: Die Verleumdung der Rhetorik. In: Neue Hefte für Philosophie 26 (1986), S. 55 - 68 (68); ähnlich übrigens schon ders. in: Is There a Fundamental Problem in Ethics? In: The Australasian Journal of Philosophy 33 (1955), S. 1 - 19. 10 Diskursethik - Notizen zu einem Begründungsprogramm, S. 66. 11 A.a.O., S. 73. 6

I. D s Universalisierungsprinzip

179

rungsfahigkeit von Maximen oder Normen spätestens seit Kant eine beherrschende Rolle in der europäischen Rechts- und Moralphilosophie gespielt hat. Dies ist zweifellos ein interessantes geistesgeschichtliches Faktum; fur die Begründung einer kognitiven Ethik ist mit dem Hinweis auf die Verbreitung des Universalisierbarkeitsgedankens jedoch offensichtlich noch nichts gewonnen. Habermas müßte uns zumindest mitteilen, an welche der zahlreichen Versionen dieses Gedankens12 er anknüpfen möchte. Er entscheidet sich fur folgende Variante: Jede „gültige Norm [muß] der Bedingung genügen, daß die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung fur die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert (und den Auswirkungen der bekannten alternativen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können." 13 Habermas nennt dies den Grundsatz U. Seine Befolgung soll offenbar eine notwendige Bedingung fur die moralische Geltung jeder Norm darstellen. Den Universalisierungsgrundsatz U unterscheidet Habermas von dem „diskursethischen Grundsatz" D, wonach „eine Norm nur dann Geltung beanspruchen [darf], wenn alle von ihr möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses Einverständnis darüber erzielen (bzw. erzielen würden), daß diese Norm gilt." 1 4 Den naheliegenden Einwand, U gelte bloß kulturrelativ, versucht Habermas im dritten Abschnitt mit einer „transzendentalen" Begründung von U zu beantworten. Er geht zunächst auf Apels Transzendentalpragmatik ein, die in ihrer von Kuhlmann stammenden präzisierten Form - bereits besprochen wurde. 15 Habermas schließt sich den Argumenten Apels und Kuhlmanns gegen das Münchhausen-Trilemma an und übernimmt auch die Figur des performativen Widerspruchs. 16 In einigen Punkten wird der transzendentalpragmatische Ansatz jedoch modifiziert: Habermas diskutiert zunächst zwei mögliche Einwände gegen Apels Konzept. Der erste Einwand lautet, es würden nur diejenigen normativen Gehalte aus den Diskursvoraussetzungen gewonnen, die zuvor durch eine

12

Zu den verschiedenen Versionen des kategorischen Imperativs bei Kant vgl. zuletzt Schnoor, Ch.: Kants Kategorischer Imperativ als Kriterium der Richtigkeit des Handelns. Tübingen 1989. 13 Diskursethik - Notizen zu einem Begründungsprogramm, S. 75 f. 14 A.a.O., S. 76. 15 Vgl. oben Kap. I und J. 16 A.a.O., S. 90 - 93.

180

L. Die Fortentwicklung der Diskursethik durch Jürgen Habermas

geeignete Definition von „praktischem Diskurs" eingebaut worden seien. 17 Ein solches Verfahren - oben wurde gezeigt, daß Kuhlmann es tatsächlich anwendet - stellt natürlich eine petitio principii dar. Apel, so meint Habermas, versuche (!) dem Einwand aber „dadurch zu begegnen, daß er die Präsuppositionsanalyse nicht auf moralische Argumentationen einschränkt, sondern auf die Bedingungen der Möglichkeit der argumentativen Rede überhaupt anwendet."18 Diese Verteidigung Apels ist bemerkenswert, weil sie offensichtlich ungeeignet ist, den petitio-principii-Einwand zu entkräften. Wenn oben davon die Rede war, den Ausdruck „praktischer Diskurs" in geeigneter Weise zu definieren, so ist es nun der Ausdruck „argumentative Rede" bzw. „Argumentation" . Durch eine Ausweitung des Untersuchungsbereichs von moralischen Argumentationen zu Argumentation überhaupt wird der Einwand, die „Herleitung" der angeblich „immer schon" anerkannten Argumentationsvoraussetzungen beruhe auf einem simplen definitorischen Trick, keineswegs ausgeräumt. Dies ist so offenkundig, daß mir zweifelhaft erscheint, ob die Ausführungen Habermas' zu diesem Punkt überhaupt als Verteidigung Apels gemeint sind. Der zweite Einwand Habermas' betrifft die Reichweite der auf transzendentalpragmatischem Wege gewonnenen Regeln. Diese Regeln würden nämlich, so Habermas, nach dem Ansatz Apels nur innerhalb von Argumentationen gelten, nicht dagegen außerhalb. Der Weg Apels, den Argumentationsvoraussetzungen unmittelbar ethische Grundnormen zu entnehmen, sei nicht tragfahig, denn Grundnormen des Rechts und der Moral fielen überhaupt nicht in die Zuständigkeit der Moralphilosophie. Sie müßten vielmehr als Inhalte betrachtet werden, die der Begründung in praktischen Diskursen bedürften. Die moralisch-praktischen Grundvorstellungen änderten sich mit den historischen Umständen.19 Dies klingt fast so, als wolle Habermas den ethischen Kognitivismus zugunsten einer begründungsskeptischen Position aufgeben. Dieser Eindruck wäre jedoch irrig. Habermas unterscheidet vielmehr zwischen den angeblich aus der „Grundstruktur" der Sprache gewonnenen Diskursregeln, für die er den Status kognitiven Wissens reklamiert, und solchen Regeln oder Normen, die im praktischen Diskurs, also in einer durch die Diskursregeln geleiteten Diskussion über moralische Fragen, gewonnen werden. Letztere können sich

17 18 19

A.a.O., S. 95. Ibid. A.a.O., S. 96.

I. D s Universalisierungsprinzip

181

zwar wandeln, doch ergibt sich ihre „Richtigkeit" per definitionem aus der Einhaltung der Diskursregeln. In diesem Sinne stellen auch sie „Wissen" i.S.d. Kognitivismus dar.

I I . Die Begründung des Universalisierungsprinzips Nach seiner Kritik an Apel wendet sich Habermas erneut dem Problem der Begründung des Grundsatzes U zu. Mit Hilfe des transzendentalpragmatischen Selbstaufhebungsarguments möchte er nachweisen, „wie das als Argumentationsregel fungierende Verallgemeinerungsprinzip von Voraussetzungen der Argumention überhaupt impliziert wird." 2 0 Habermas steht mithin vor einer doppelten Aufgabe: Zum einen muß er zeigen, daß es „immer schon" anerkannte Argumentationsvoraussetzungen gibt, zum anderen hat er nachzuweisen, daß diese Argumentationsvoraussetzungen das Universalisierungsprinzip implizieren. Habermas unternimmt jedoch zunächst keines von beidem, sondern fuhrt erneut eine Unterscheidung ein, diesmal auf der Ebene der Argumentationsvoraussetzungen, indem er „Voraussetzungen auf der logischen Ebene der Produkte, der dialektischen Ebene der Prozeduren und der rhetorischen Ebene der Prozesse" unterscheidet.21 Als Beispiele fur Argumentationsvorausetzungen nennt er Alexys Regeln 1.1 bis 1.3 (logische Ebene), 2.1 und 2.2 (prozedurale Ebene) und 3.1 bis 3.3 (rhetorische Ebene). 22 Mit diesen und anderen Regeln werde ich mich in den letzten beiden Kapiteln meiner Arbeit noch ausfuhrlich auseinanderzusetzen haben. Entscheidend ist nun, welchen Status Habermas diesen Regeln zuweist. Sind sie bloß Bestandteile eines Ideals, eines moralischen Leitbildes, fur das man sich entscheiden, daß män aber auch ablehnen könnte? Damit wäre fur die Begründung der Diskursethik nichts gewonnen. Auch der definitorische Trick, den Begriff „Argumentation" einfach so festzusetzen, daß aus ihm die genannten Regeln ableitbar sind, vermag der Diskursethik keine tragfahige Grundlage zu verschaffen. Dies erkennt auch Habermas und erklärt, es müsse nun „gezeigt werden, daß es sich bei den Diskursregeln nicht einfach um

20

A.a.O., S. 97. Ibid. 22 Habermas beruft sich dabei auf Alexy, R.: Eine Theorie des praktischen Diskurses. In: Oelmüller, W. (Hg.): Materialien zur Normendiskussion. Bd.2: Normenbegründung und Normendurchsetzung. Paderborn 1978, S. 22 - 58 ( 36 - 41). Die Numerierung der Regeln wird von Habermas allerdings verändert. 21

L. Die Fortentwicklung der Diskursethik durch Jürgen Habermas

182

Konventionen handelt, sondern um unausweichliche Präsuppositionen."23 Wieder soll dies durch Aufdeckung eines „performativen Widerspruchs 44 geschehen. Habermas trifft dabei die - von ihm gern verwendete - Vorsichtsmaßnahme, seine Ausführungen als nur exemplarisch und mithin skizzenhaft und vorläufig zu bezeichnen.24 Seine Argumente verbindet er mit zwei Beispielen. Im ersten geht es um folgende Äußerung: (1)*

„Ich habe H schließlich durch eine Lüge davon überzeugt, daß p«25

Dieser Satz, so meint Habermas, sei paradox, (gemeint ist wohl: performativ widersprüchlich), denn es „gehört allgemein zur Bedeutung des Ausdrucks »überzeugen4, daß ein Subjekt aus guten Gründen eine Meinung faßt. 4426 Das Problem dieses Argumentes ist unschwer zu erkennen: Die Bedeutung des Verbs „überzeugen44 hängt vom allgemeinen Sprachgebrauch ab. Es spricht einiges für die empirisch-linguistische These, daß die meisten Menschen das Wort „überzeugen44 so gebrauchen, daß Lügen als Uberzeugungsmittel ausscheiden. Doch aus einem faktischen Sprachgebrauch folgt bekanntlich keineswegs die moralische Geltung irgendwelcher Normen. Möglicherweise erkennt auch Habermas die Unbrauchbarkeit seines Argumentes, denn er fügt an, er wolle sich „nicht mit dem lexikalischen Hinweis auf die Bedeutung von »überzeugen4 44 begnügen. Deshalb bringt er noch ein zweites Argument vor: „Überzeugungen beruhen letztlich auf einem diskursiv herbeigeführten Konsens. Dann besagt aber (1)*, daß H seine Uberzeugungen unter Bedingungen gebildet haben soll, unter denen sich Überzeugungen nicht bilden können. Diese widersprechen nämlich pragmatischen Voraussetzungen der Argumentation überhaupt, in diesem Fall der Regel (2.1). 4 4 2 7 Leider weist auch dieses Argument schwerwiegende Mängel auf: Ob wir „Überzeugung44 so definieren, daß das Wort einen „diskursiv herbeigeführten Konsens44 im Habermasschen Sinne meint, ist wieder eine Frage des Sprachgebrauchs. Insoweit kann auf das zum ersten Argument Ausgeführte verwiesen werden. Habermas' zweiter Fehler besteht in der Berufung auf die Alexysche Diskursregel (2.1). Die Geltung dieser Regeln will er doch gerade

23 24 25 26 27

A.a.O., S. 99 f. A.a.O., S. 100. Ibid. Ibid. Ibid.

II. Die Begründung des Universalisierungsprinzips

183

beweisen! Habermas beruft sich mithin auf das, was bewiesen werden soll, und begeht eine klassische petitio principii. Die gesamte Begründungslast liegt nun auf dem dritten von Habermas vorgebrachten Argument. Er schreibt: „Daß diese Präsupposition [gemeint ist die Diskursregel 2.1] nicht nur hier und da, sondern unvermeidlicherweise fur jede Argumentation zutrifft, kann des weiteren dadurch gezeigt werden, daß man einem Proponenten, der sich anheischig macht, die Wahrheit von (1)* zu verteidigen, vor Augen fuhrt, wie er sich dabei in einen performativen Widerspruch verstrickt. Indem der Proponent irgendeinen Grund für die Wahrheit von (1)* anfuhrt und damit in eine Argumentation eintritt, hat er u.a. die Voraussetzung akzeptiert, daß er einen Opponenten mit Hilfe einer Lüge niemals von etwas überzeugen, sondern allenfalls dazu überreden könnte, etwas fur wahr zu halten. Dann widerspricht aber der Gehalt der zu begründenden Behauptung einer der Voraussetzungen, unter denen die Äußerung des Proponenten allein als eine Begründung zählen darf." 28 Doch warum sollte der Proponent, indem er einen Grund fur die Wahrheit von (1)* anfuhrt, die genannte Voraussetzung akzeptiert haben? Und wieso handelt es sich dabei um eine der Voraussetzungen, die angeblich vorliegen müssen, wenn die fragliche Äußerung als Begründung angesehen werden soll? Habermas stellt hier Behauptungen auf, ohne sie auch nur ansatzweise zu begründen. Um zu zeigen, daß es sich bei den angesprochenen Alexyschen Diskursregeln nicht nur um sprachliche Konventionen, sondern um „unausweichliche Präsuppositionen" jeder Argumentation handelt, diskutiert Habermas noch ein zweites Beispiel, das aber ebensowenig zu überzeugen vermag wie das erste. Da es sich im wesentlichen um eine Wiederholung der bereits analysierten Fehler handelt, möchte ich darauf hier nicht mehr eingehen. Im Ergebnis akzeptiert Habermas die von Alexy aufgestellten Regeln als „immer schon" anerkannte Argumentationsvoraussetzungen. Nun fühlt Habermas sich hinreichend gewappnet, um seine zweite Aufgabe in Angriff zu nehmen: Die Ableitung des Universalisierungsgrundsatzes U. Im Gegensatz zu seinen Ausführungen zu (1) faßt er sich diesmal außerordentlich kurz; sein Argument umfaßt nicht mehr als einen Absatz: 29

28 29

A.a.O., S. 100 f. Die vorangestellten Ziffern wurden der Anschaulichkeit halber nachträglich eingefugt.

184

L. Die Fortentwicklung der Diskursethik durch Jürgen Habermas

(1) „Wenn jeder, der in Argumentationen eintritt, u.a. Voraussetzungen machen muß, deren Gehalt sich in Form der Diskursregeln (3.1) bis (3.3) darstellen läßt; und (2) wenn wir ferner wissen, was es heißt, hypothetisch zu erörtern, ob Handlungsnormen in Kraft gesetzt werden sollen, (3) dann läßt sich jeder, dër den ernsthaften Versuch unternimmt, normative Geltungsansprüche diskursiv einzulösen, intuitiv auf Verfahrensbedingungen ein, die einer impliziten Anerkennung von ,t/ 4 gleichkommen." 30 Es bedarf keiner umfangreichen Erläuterungen, um zu erkennen, daß (3) aus (1) und (2) nicht folgt, es sein denn, wir definieren unter der Hand das in Prämisse (2) angesprochene „Wissen" so, daß es die Anerkennung des Universalisierungsgrundsatz U mit umfaßt. Damit würde sich Habermas freilich wieder den Vorwurf einer petitio principii einhandeln. Habermas schiebt noch eine weitere Begündung nach, indem er schreibt, aus „den genannten Diskursregeln" - er meint wohl die Regeln (3.1) bis (3.3) ergebe sich, „daß eine strittige Norm unter den Teilnehmern eines praktischen Diskurses Zustimmung nur finden kann, wenn ,t/ 4 gilt." 3 1 In (3.1) bis (3.3) ist jedoch von dem Universalisierungsgrundsatz U überhaupt nicht die Rede. Die genannten Regeln enthalten (/nicht einmal indirekt, sonst hätte Alexy keinerlei Veranlassung gehabt, in seinem Regelkanon den Universalisierungsgrundsatz als Regel gesondert anzuführen. 32 Auch mit seinem Versuch, U aus den angeblich „immer schon" anerkannten Argumentationsvoraussetzungen herzuleiten, ist Habermas also gescheitert. Merkwürdig ist überdies, daß Habermas den Regelkanon Alexys einerseits als „immer schon" anerkannt betrachtet, andererseits aber versucht, fur U noch einmal eine gesonderte Begründung auszuarbeiten. Alexys Regelkanon enthält U zumindest dem Sinne nach schon explizit 33 , so daß die Notwendigkeit einer besonderen Begründung gar nicht mehr besteht. Warum Habermas so vorgeht, läßt sich seinen Ausführungen nicht entnehmen. Habermas betrachtet seine Begründung der Diskursethik als „Rekonstruktion [...] vortheoretischen Wissens" und hält, anders als Apel und Kuhlmann,

30

A.a.O., S. 103. Ibid. 32 Vgl. Theorie der juristischen Argumentation, S. 250 - 254 bzw. ders.: Eine Theorie des praktischen Diskurses, S. 38, 48. 33 Vgl. Theorie der juristischen Argumentation, S. 251 f; Eine Theorie des praktischen Diskurses, S. 48. 31

II. Die Begründung des Universalisierungsprinzips

185

das von ihm verwandte Rekonstruktionsverfahren immerhin fur fehlbar. Damit ist auch das ethische Wissen, das die Diskursethik in ihrer Habermasschen Version postuliert, kein sicheres, unbezweifelbares Wissen wie bei Apel und Kuhlmann, sondern fallibles Wissen. 34 Es soll sich jedoch, und dies ist der Unterschied zu skeptischen Positionen wie der Webers oder Radbruchs, immer noch im ethisches Wissen im kognitiven Sinn handeln. Die vorangegangenen Untersuchungen haben gezeigt, daß Habermas diesen Anspruch zu Unrecht erhebt. In den letzten fünf Kapiteln wurden moralphilosophische Vorschläge, die in der gegenwärtigen Rechtstheorie und Rechtsphilosophie als mögliche Argumente fur eine sich als kognitiv verstehende „Diskursethik" diskutiert werden, kritisch untersucht. Wie ich zu zeigen versucht habe, ist die philosophische Grundlage der Diskursethik und einer sich darauf aufbauenden „Theorie der juristischen Argumentation" nicht tragfahig, sei es, weil die als Gewährsleute bemühten Autoren eine kognitive Ethik gar nicht vertreten (so die Erlanger Schule und Perelman), oder sei es, weil die Begründungsbemühungen der Philosophen schwerwiegende Fehler aufweisen, wie es bei der Transzendentalpragmatik und bei Jürgen Habermas der Fall ist. Damit ist natürlich das letzte Wort über die verschiedenen Bemühungen zur Schaffung einer juristischen Argumentations- oder Begründungslehre noch nicht gesprochen. Es ist aber ausgeschlossen, eine derartige Lehre wie Apel, Kuhlmann oder Habermas auf Regeln zu stützen, die angeblich aus den „Grundstrukturen" der Sprache gewonnen sind und deshalb als Wissen im kognitiven Sinn verstanden werden. Doch auch wenn die juristische Argumentations- oder Begründungslehre mit Regeln operiert, die nicht als Wissen im kognitiven Sinn, sondern nur als Mittel, eine gewisse Form der Argumentation zu gewährleisten, angesehen werden, ist zu verlangen, daß die Argumentationsregeln in einer Weise formuliert sind, die eine Steuerung faktisch vorkommender Argumentation überhaupt zuläßt. Auch in dieser Hinsicht sind viele der Regeln, die in der bisherigen Diskussion vorgeschlagen wurden, sehr problematisch. Dies möchte ich in den beiden letzten Kapiteln meiner Arbeit am Beispiel des von Robert Alexy formulierten Regelkanons zu zeigen versuchen.

34

A.a.O., S. 107. Vgl. dagegen die scharfe Kritik Apels in: Normative Begründung der „kritischen Theorie" durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit? Ein transzendentalpragmatisch orientierter Versuch, mit Habermas gegen Habermas zu denken. In: Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag. Hg. von Honneth, A. u.a., Frankfurt a.M. 1989, S. 15 - 65.

M. Der Regelkanon Alexys für den allgemeinen praktischen Diskurs I. Einleitung Robert Alexy hat die Ergebnisse seiner aufsehenerregenden Untersuchung zur Theorie der juristischen Argumentation in einem umfangreichen Katalog von „Regeln und Formen" zusammengefaßt, der nicht nur den „allgemeinen praktischen Diskurs", sondern auch den „juristischen Diskurs" leiten soll. In diesem Kapitel möchte ich zunächst die „Regeln und Formen" des „allgemeinen praktischen Diskurses" diskutieren. Alexy betrachtet sie als die Keimzelle eines künftigen „Gesetzbuches der praktischen Vernunft". 1 Dieser außerordentlich hohe Anspruch rechtfertigt es, seine „Regeln und Formen" etwas genauer zu untersuchen, selbst wenn dabei gelegentlich der Anschein von Pedanterie entstünde. Der Herausarbeitung der „Regeln und Formen" widmet Alexy die gesamte zweite Hälfte seines Buches. Er unterscheidet zwischen den Regeln und Formen des allgemeinen praktischen Diskurses und denen des juristischen Diskurses. Erstere zerfallen in „Grundregeln", „Vernunftregeln", „Argumentationslastregeln", „Argumentformen", „Begründungsregeln" und „Ubergangsregeln", letztere in die Regeln und Formen der „internen Rechtfertigung" und die der „externen Rechtfertigung". Ehe ich mit der Analyse dieses Regelwerkes beginne, möchte ich kurz die Leitgedanken meiner Kritik darlegen. Meine erste Frage richtet sich auf den Geltungsgrund der Alexyschen Regeln. Handelt es sich bei ihnen um sicheres ethisches Wissen im Sinne der Transzendentalpragmatik oder doch zumindest - wie bei Habermas - um fallibles ethisches Wissen im kognitiven Sinne? Oder haben wir die Alexyschen Regeln lediglich als aus irgendwelchen persönlichen Präferenzen entspringende Vorschläge des Autors anzusehen, fur deren Befolgung kein anderer Grund zu nennen wäre als ebendiese Präferenzen? Eine weitere Möglichkeit schließlich wäre es, den Alexyschen Regeln den Status eines

1

Theorie der juristischen Argumentation, S. 234.

I. Einleitung

187

Mittels einzuräumen, durch das ein bestimmtes Ziel zu erreichen wäre. Das Regelwerk wäre danach als zweckrational aufzufassen. 2 Um welche Art von Geltungsgrund es sich bei den Alexyschen Regeln handelt, geht aus den Ausführungen des Autors leider nicht hervor. Seine enge Anknüpfung an Apel und vor allem an Habermas deutet aber darauf hin, daß er wenigstens einen Teil seines Regelkanons als letztbegründet oder zumindest als ethisches Wissen im kognitiven Sinn betrachtet. In einer jüngeren Arbeit 3 hat er als Kandidaten fur eine letztbegründete Regel die Forderung nach Verallgemeinerbarkeit genannt, ohne dies allerdings näher auszufuhren. Offensichtlich mißt er den Details einer derartigen Begründung seiner Diskursregeln auch keine größere Bedeutung für seine weiteren Ausführungen zu, denn „jedenfalls" könne ja „behauptet werden, daß nicht sicher ist, daß sie nicht begründet werden können." Das Problem dieses Argumentes liegt darin, daß es auf ausnahmslos alle Regeln zutrifft und deshalb völlig untauglich ist, um eine bestimmte Regel oder Menge von Regeln auszuzeichnen. Ebensogut könnte man eine beliebige empirische Hypothese (etwa über die Existenz geflügelter Einhörner auf dem Planeten Jupiter) allein aus dem Grund akzeptieren, daß ja nicht sicher ist, daß sie nicht wahr ist. Dies kann Alexy also nicht gemeint haben. Die fragliche Passage dürfte vielmehr so zu interpretieren sein, daß die Nichtfalsifiziertheit der Begründbarkeitsthese lediglich als Argument gegen eine a-limine-Zurückweisung jedweder Begründungsversuche eingeführt wird, nicht aber als Argument für die Auszeichnung bestimmter Regeln oder Normen. Bei Zugrundelegung dieser Interpretation ist fur die Frage nach dem Geltungsgrund der Alexyschen Regeln aber offenbar noch nichts gewonnen. Im Nachwort zur 2. Auflage seiner „Theorie der juristischen Argumentation" hat Alexy eine deutliche Hinwendung zur Transzendentalpragmatik Karl-Otto Apels und Wolfgang Kuhlmanns erkennen lassen. Damit weist Alexy der deutschen Rechtstheorie wiederum neue Wege, denn die Transzendentalpragmatik ist dort bislang nur sehr oberflächlich rezipiert worden. Allerdings scheinen mir auch die Argumente der Transzendentalpragmatiker fur einen ethischen Kognitivismus nicht stichhaltig zu sein.4 Weiteren Aus-

2

Zu der Möglichkeit, Argumentationsregeln als Mittel für eine geordnete Austragung von Konflikten aufzustellen, vgl. Eemeren, F.H. van, Grootendorst, R.: Rules for Argumentation in Dialogues. In: Argumentation 2 (1988), S. 499 - 510. 3 Alexy, R.: Probleme der Diskurstheorie. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 43 (1989), S. 81 - 93 (83). 4 Vgl. oben Kapitel I und J.

188

M. Der Regelkanon Alexys fur den allgemeinen praktischen Diskurs

fuhrungen Alexys zur Transzendentalpragmatik darf man mit Spannung entgegensehen. Meine zweite Frage gilt der Leistungsfähigkeit der Alexyschen Regeln und Formen fur die juristische Arbeit. Alexys Regeln sollen den gesamten Tätigkeitsbereich der Juristen erfassen. Es fragt sich aber, ob sie überhaupt geeignet sind, den Prozeß der Rechtsanwendung zu leiten. Hier könnten etwa folgende Probleme auftauchen: Schränken Alexys Regeln den Handlungsspielraum ihrer Adressaten ein? Wäre diese Frage zu verneinen, so wären die Regeln wirkungslos und mithin überflüssig. Oder, und dies ist das andere Extrem, verlangen die Regeln etwas faktisch oder gar logisch Unmögliches? In diesem Fall wären die Regeln ebenfalls nicht zu erfüllen. Die dritte Leitfrage zielt auf die Vereinbarkeit des Alexyschen Regelwerks mit grundlegenden Wertungen unseres Rechtssystems, etwa der Bindung des Rechtsanwenders an das Gesetz. Was sollte geschehen, wenn derartige Wertungen mit dem, was Alexy in der Nachfolge von Apel und Habermas in den Grundstrukturen der Sprache „entdeckt" hat, nicht übereinstimmen? Es handelt sich hierbei offensichtlich um eine Variante des alten Problems eines Zusammenstoßes von positivem mit „überpositiven" Recht. Unversehens sind wir also auf eines der klassischen Probleme der Rechtsphilosophie gestoßen.

I I . Die Grundregeln Die erste hier zu besprechende Gruppe von Regeln nennt Alexy die „Grundregeln". 5 Sie lauten: „(1.1) (1.2) (1.3)

(1.4)

Kein Sprecher darf sich widersprechen. Jeder Sprecher darf nur das behaupten, was er selbst glaubt. Jeder Sprecher, der ein Prädikat F auf einen Gegenstand a anwendet, muß bereit sein, F auch auf jeden anderen Gegenstand, der a in allen relevanten Hinsichten gleicht, anzuwenden. Verschiedene Sprecher dürfen den gleichen Ausdruck nicht mit verschiedenen Bedeutungen benutzen."6

Die Geltung dieser Regeln ist nach Alexy „Bedingung der Möglichkeit jeder sprachlichen Kommunikation, in der es um Wahrheit oder Richtigkeit geht". 7 Alexy meint also offenbar, die Möglichkeit sprachlicher Kommuni-

5 6 7

Theorie der juristischen Argumentation, S. 234 - 238. A.a.O., S. 234 f. A.a.O., S. 234.

I . Die

runregeln

189

kation sei nicht bloß faktisch von der Geltung der genannten Regeln abhängig - diese Behauptung ließe sich grundsätzlich empirisch überprüfen sondern versteht seine Behauptung als ein sog. „transzendentales" Argument. Die Brauchbarkeit dieses Argumenttyps ist allerdings außerordentlich umstritten8; vor allem scheint sogar unter den Befürwortern transzendentaler Argumente keine Einigkeit zu bestehen, welche Voraussetzungen ein solches Argument genau besitzt. Alexy äußert sich leider zu diesem Problem nicht, sondern schließt sich ohne weiteres Jürgen Habermas an, der von der „Nachkonstruktion allgemeiner und unvermeidlicher Präsuppositionen möglicher Verständigungsverhältnisse" gesprochen und für dieses Verfahren die Bezeichnung „Universalpragmatik" geprägt hat. 9 Einige Einwände gegen diesen Ansatz wurden schon diskutiert. Doch nehmen wir fur einen Augenblick an, es gäbe tatsächlich „allgemeine und unvermeidliche Präsuppositionen möglicher Verständigungsprozesse". Kann Alexy dann zeigen, daß etwa seine Regel (1.1) „Kein Sprecher darf sich widersprechen" dazugehört? Merkwürdigerweise versucht Alexy dies erst gar nicht. Stattdessen erläutert er, was mit der Regel (1.1) gemeint ist: Regel (1.1), so erklärt Alexy, verweise auf die Regeln der Logik. Diese Regeln gelten seiner Ansicht nach auch fur „normative Aussagen".10 Das Joergensensche Dilemma 11 ließe sich leicht vermeiden, indem man einen der folgenden Wege beschreite: So könne man zum einen die Werte „wahr" und „falsch" durch Werte wie „gültig" und „ungültig" oder „rechtens" und „nicht rechtens" ersetzen. Zum anderen sei nachweisbar, daß auch in normativen Sätzen enthaltene Vokabeln wie „und", „wenn-dann", „alle" und „einige" logische Beziehungen zwischen derartigen Sätzen voraussetzten. Schließlich erwähnt Alexy noch die Möglichkeit der Entwicklung geeigneter Semantiken, mit deren Hilfe auch

8

Vgl. die Beiträge in: Schaper, E., Vossenkuhl, W.: Bedingungen der Möglichkeit. „Transcendental Arguments*4 und transzendentales Denken. Stuttgart 1984, und darin insbes. den Überblick von Hartmann, K.: Transzendentale Argumentation. Eine Abwägung der verschiedenen Ansätze, a.a.O., S. 17 - 41. Zu Recht kritisch Chisholm, R.: What Is a Transzendental Argument? In: Neue Hefte fur Philosophie 14 (1978), S. 19 - 22. 9 Vgl. oben Kap. K. 10 Dieser Ausdruck ist nach herkömmlicher Auffassung eine contradictio in adjecto, weil „Aussage44 als wahrheitsdefiniter Satz verstanden wird, Normen dagegen als nicht wahrheitsfahig gelten. 11 Das Dilemma besteht darin,' daß wir einerseits in der Alltagssprache auch hinter normativen Sätzen eine logische Struktur vermuten, andererseits aber die übliche formale Logik nur fur wahrheitsdefinite Sätze, also nicht fur Normen, definiert ist. Vgl. dazu Joergensen, J.: Imperatives and Logic. In: Erkenntnis 7 (1938), S. 288 - 296.

190

M. Der Regelkanon Alexys fur den allgemeinen praktischen Diskurs

Normen die Wahrheitswerte „wahr 44 oder „falsch 44 zugeschrieben werden könnten.12 In der Tat läßt sich mit Hilfe dieser Ansätze das Joergensensche Dilemma zumindest prima facie vermeiden. Es ist aber sehr fraglich, ob dies allein ausreicht, um eine brauchbare deontische Logik zu schaffen. Angesichts der Tatsache, daß sich von den zahlreichen deontischen Kalkülen bis jetzt keiner hat durchsetzen können, wird man dies eher zu verneinen haben. Da Alexy seine Grundregel (1.1) ausdrücklich auch auf „deontische Unverträglichkeiten44 bezieht13, handelt er sich das Problem ein, nach welchem der zahlreichen deontischen Kalküle er etwaige „normative Widersprüche 44 überhaupt festzustellen gedenkt. Bis dies nicht geklärt ist, ist die Regel (1.1) im normativen Bereich gar nicht anwendbar. Im Bereich der Tatsachenaussagen läßt sich die Grundregel (1.1) unter Zugrundelegung der üblichen Aussagen- und Prädikatenlogik befolgen. Alexy hat jedoch nicht gezeigt, wieso diese Logik Bedingung der Möglichkeit jeder sprachlichen Kommunikation, in der es um Wahrheit oder Richtigkeit geht, sein sollte. Zwar dürfte die faktische Möglichkeit sprachlicher Verständigung eine zugrunde gelegte logische Grammatik voraussetzen, doch wäre zum einen zu zeigen, daß dies die übliche Aussagen- und Prädikatenlogik sein muß, zum anderen ist ungeklärt, in welchem Sinne es sich hier um ein „transzendentales44 Problem handelt. Grundregel (1.2) lautet: „Jeder Sprecher darf nur das behaupten, was er selbst glaubt.44 Dadurch wird nicht nur gelegentliches Lügen verboten, sondern ebenso jedes hypothetische Argumentieren. Allerdings modifiziert Alexy die Regel insofern, als (1.2) das Äußern von Mutmaßungen nicht ausschließen soll; verlangt sei lediglich, daß Mutmaßungen als solche gekennzeichnet werden. Wieso diese Regel konstitutiv für jede sprachliche Kommunikation sein soll 14 , ist mir unerfindlich. Mit der Grundregel (1.3) möchte Alexy erreichen, daß jeder Sprecher seine Prädikate konsistent verwendet. Dies soll dadurch ermöglicht werden, daß der Sprecher durch die Erstanwendung des Prädikates F auf einen Gegenstand a verpflichtet wird, dieses Prädikat auch auf jeden anderen Gegenstand anzuwenden, der a „in allen relevanten Hinsichten gleicht44. Doch

12 13 14

A.a.O., S. 235. A.a.O., S. 236. So aber Alexy, ibid.

I . Die

runregeln

191

welche Hinsichten sind „relevant"? Diese fur die Anwendbarkeit der Regel entscheidende Frage läßt Alexy leider wieder offen. 15 Noch fragwürdiger ist die Leistungsfähigkeit der Version (1.3') der eben behandelten Grundregel, die fur evaluative Ausdrücke gelten soll: „Jeder Sprecher darf nur solche Wert- und Verpflichtungsurteile behaupten, die er in allen Situationen, die der, in der er sie behauptet, in allen relevanten Hinsichten gleich sind, ebenfalls behaupten würde." 16 Auch hier bleibt die Weise, wie bei der Prüfung von Situationen auf ihre „Gleichheit" die relevanten von den irrelevanten Hinsichten geschieden werden sollen, unklar. Man könnte zwar versuchen, diejenigen Hinsichten fur relevant zu erklären, die der jeweilige Sprecher fur relevant hält. Dadurch würde die Frage nach „relevanten Hinsichten" sprecherrelativ. Dies würde allerdings zu dem Folgeproblem fuhren, daß der einzelne Sprecher seine Überzeugungen hinsichtlich der Relevanz bestimmter Aspekte durchaus ändern kann; überdies ließe sich das Verhalten des Sprechers kaum am Maßstab der Regel (1.3') kontrollieren, da der Sprecher nach Belieben gewisse Hinsichten fur relevant, andere dagegen für irrelevant erklären könnte. Auf diesem Weg gibt es offensichtlich kein Fortkommen. Alexys Grundregel (1.3') wäre allenfalls dann brauchbar, wenn er auch Regeln fur die Relevanz der verschiedenen zur Verfugung stehenden Aspekte angeben könnte - übrigens ein altes Problem der Rechtstheorie17 und der Rechtsdogmatik.18 Grundregel (1.4) verlangt, daß verschiedene Sprecher den gleichen Ausdruck nicht in verschiedenen Bedeutungen benutzen. Wörtlich genommen, schließt diese Regel aus, während einer Diskussion z.B. das Wort „Verdienst" einmal im Sinn von „Einkommen", ein andermal in der Bedeutung von „Leistung" zu verwenden. Warum dies Bedingung der Möglichkeit jeder sprachlichen Kommunikation sein soll, ist mir unerfindlich. Es ist ohne Zweifel zweckmäßig, problematische Ausdrücke zu klären, wenn man sich nicht in rein terminologische Probleme verstricken will. Doch die Sprache von allen Homonymen zu reinigen, dürfte eine unnötige Roßkur sein. Vielleicht ist dies auch Alexys Ansicht, denn er verlangt, zunächst von der Umgangssprache auszugehen und den Wortgebrauch nur festzulegen, wenn

15

Alexy hat das hier angesprochene Problem jedoch zweifellos gesehen; vgl. dazu seine Bemerkungen zum Hareschen Prinzip der Universalisierbarkeit, a.a.O., S. 96. 16 A.a.O., S. 237. 17 Vgl. oben S. 37. 18 Vgl nur Maunz, Zippelius, Staatsrecht, S. 207 ff m.w.N.

192

M. Der Regelkanon Alexys fur den allgemeinen praktischen Diskurs

es zu Unklarheiten und Mißverständnissen kommt. 19 Alexy scheint nicht zu bemerken, daß seine Grundregel (1.4) ihrem Wortlaut nach sehr viel mehr verlangt.

I I I . Die Vernunftregeln Seine zweite Regelgruppe nennt Alexy die „Vernunftregeln 44. Sie sollen die wichtigsten Bedingungen fur die Vernünftigkeit von Diskursen definieren. 20 Dies könnte man so verstehen, als wollte Alexy lediglich einen bestimmten Sprachgebrauch für den Ausdruck „vernünftiger Diskurs 44 vorschlagen. Doch sehen wir uns die Regeln im einzelnen an! An ihrer Spitze steht die „allgemeine Begründungsregel44 (2): „Jeder Sprecher muß das, was er behauptet, auf Verlangen begründen, es sei denn, er kann Gründe dafür anführen, die es rechtfertigen, eine Begründung zu verweigern. 4421 Welche Argumente kann Alexy für die Geltung dieser Regel anführen? Er geht von der Beobachtung aus, daß ein praktischer Diskurs - also eine Diskussion über moralische Fragen - ohne Behauptungen irgendwelcher Art nicht möglich ist. An diese Beobachtung knüpft Alexy eine sehr problematische These: „Wer etwas behauptet, will nicht nur zum Ausdruck bringen, daß er etwas glaubt, er beansprucht darüber hinaus, daß das, was er sagt, auch begründbar, daß es wahr oder richtig ist. 4 4 2 2 Aus dieser These will Alexy sodann seine „allgemeine Begründungsregel44 (2) ableiten. Doch fraglich ist schon, welchen Status Alexys These über Behauptungen und damit Regel (2) überhaupt besitzen sollen. Handelt es sich um eine empirische Hypothese über den faktisch vorkommenden Sprachgebrauch? Oder möchte Alexy nur eine bestimmte Terminologie vorschlagen? Oder gründet sich (2) sogar auf „Grundstrukturen der Sprache44 und kann somit den Status ethischen Wissens für sich reklamieren? Alexy scheint eine kognitivistische Antwort zu bevorzugen, 23 doch ist nicht ganz klar, ob alle Regeln Alexys „begründet44 i.S.d. Kognitivismus sein sollen oder nur ein Teil von ihnen.

19 20 21 22 23

Theorie der juristischen Argumentation, S. 237. A.a.O., S. 242. A.a.O., S. 239. A.a.O., S. 238. Vgl. a.a.O., S. 165 - 168 sowie das Nachwort zur 2. Auflage.

I . Die

entregeln

193

Daran schließt sich ein zweiter Kritikpunkt an. Als empirische Behauptung ist Alexys These nämlich falsch, als Definitionsvorschlag sehr unzweckmäßig: Zahlreiche Autoren sind der Meinung, Behauptungen seien gar nicht zureichend begründbar. Außerdem sind sie der Meinung, der Anspruch auf Wahrheit bzw. Richtigkeit ließe sich keineswegs mit dem Anspruch auf Begründbarkeit gleichsetzen.24 Man könnte nun versuchen, Alexys Argument dadurch zu retten, daß man die Vokabel „begründbar" nicht im Sinne von „zureichend begründbar" versteht, sondern die Angabe irgendwelcher Gründe genügen läßt. Alexy dürfte diese Deutung jedoch selbst ausschließen, indem er feststellt, der „Anspruch auf Begründbarkeit" habe nicht zum Inhalt, daß der Sprecher selbst in der Lage sei, eine Begründung zu geben; es reiche vielmehr aus, daß er sich auf die Begründungskompetenz bestimmter anderer Personen bezieht, um die Richtigkeit seiner These zu verbürgen. 25 Die Angabe dieser Ausweichmöglichkeit ergäbe keinen Sinn, wenn es dem Sprecher zugestanden wäre, „irgendwelche" Gründe vorzubringen. Die Wendung Alexys vom „Anspruch auf Begründbarkeit" bietet einen dritten Ansatzpunkt zur Kritik. Die oben angesprochene These Alexys über den Sprachgebrauch hatte - will man sie nicht als analytisch und damit trivial ansehen - deskriptiven Charakter. Die daraus abgeleitete Vernunftregel (2) dagegen ist normativ. Wie bewerkstelligt Alexy den hier offensichtlich vorliegenden Ubergang von einem „Sein" zu einem „Sollen"? Zunächst meint „Anspruch auf Begründbarkeit" nur, daß der Sprecher beansprucht, er selbst oder andere könnten die jeweils in Frage stehende These begründen. 26 Nur einen Absatz weiter erklärt Alexy jedoch, der „Anspruch auf Begründbarkeit" besage nicht, „daß der Sprecher jederzeit jedermann gegenüber jede Behauptung begründen muß. Wenn er eine Begründung verweigert, ist es jedoch erforderlich, daß er Gründe anfuhren kann, die eine solche Verweigerung rechtfertigen." 27 Unter der Hand ist also aus dem Anspruch, man könne selbst oder durch andere eine These begründen, eine Verpflichtung Dritten gegenüber geworden. Der naturalistische Fehlschluß Alexys wird nur durch definitorische Vorkehrungen verdeckt. Ganz offen bleibt auch, woher Alexy die dem „Anspruch auf Begründbarkeit" - vielleicht hieße es nun besser „Anspruch auf Begründung" angehängte salvatorische Klausel „es sei denn, er kann Gründe anfuhren, die es rechtfertigen, eine Begründung zu verweigern" gewonnen hat. Und welche

24 25 26 27

Vgl. etwa die oben S. 131 Fn. 4 genannten Autoren. A.a.O., S. 238. Ibid. A.a.O., S. 239.

13 Hilgendorf

194

M. Der Regelkanon Alexys fur den allgemeinen praktischen Diskurs

Gründe sind es eigentlich, die es rechtfertigen, eine Begründung zu verweigern? Meint Alexy beliebige Gründe, so wird seine Regel gehaltleer, weil sie gar kein Verhalten mehr verbieten kann. Meint er dagegen in irgendeinem Sinne qualifizierte Gründe, so müßte Alexy deutlich machen, wie er sich die Qualifikation denkt. Möglicherweise müßte zunächst ein Metadiskurs 28 über das Vorliegen qualifizierter Gründe geführt werden. Da für diesen Metadiskurs aber wohl dieselben Diskursregeln zu gelten hätten wie fur die Diskurse erster Stufe, stieße tnan wieder auf das Problem der Auslegung von salvatorischen Klauseln wie der von (2), womit offensichtlich ein infiniter Regreß bzw. Zirkel angelegt ist. Alexy zufolge - und hier schließt er sich explizit an Habermas an - erheben wir in Diskursen nicht nur einen Anspruch auf Begrûndbarkeit, sondern machen noch weitere Unterstellungen: „Wer etwas begründet, gibt zumindest vor, den anderen, zumindest was das Begründen anbelangt, als gleichberechtigten Begründungspartner zu akzeptieren und weder Zwang selbst auszuüben noch sich auf von anderen ausgeübten Zwang zu stützen." Außerdem soll der Argumentierende beanspruchen, seine Behauptung nicht nur gegenüber seinem Gesprächspartner, sondern gegenüber jedermann verteidigen zu können. 29 Wieder fragt sich, woher Alexy und Habermas diese Informationen eigentlich beziehen. Oder handelt es sich nur um terminologische Festlegungen hinsichtlich der Verwendungsweise des Wortes „begründen"? Diese Fragen verbieten sich ja nicht schon deshalb, weil Vokabeln wie „Gleichberechtigung", „Zwanglosigkeit" und „Universalität" in hohem Maße positiv besetzt sind. Dieselbe Fragwürdigkeit haftet auch den diesen „Präsuppositionen" entsprechenden Regeln an: „(2.1) (2.2)

Jeder, der sprechen kann, darf an Diskursen teilnehmen. a) Jeder darf jede Behauptung problematisieren. b) Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen. c) Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern.

28 Alexy spricht a.a.O., S. 185, 237 von einem „sprachanalytischen Diskurs", es wird aber nicht klar, ob in diesem Diskurs auch über die Auslegung von Diskursregeln diskutiert werden soll. 29 A.a.O., S. 239.

I . Die

(2.3)

entregeln

195

Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine in (2.1) oder (2.2) festgelegten Rechte wahrzunehmen." 30

Diese Regeln sind ganz offensichtlich nicht praktikabel. Bei ihrer wörtlichen Befolgung müßte jede geordnete Diskussion zusammenbrechen. Auch Alexy sieht dieses Problem, doch glaubt er seine Regeln verteidigen zu können: Zwar seien sie als positives Kriterium problematisch, sie könnten jedoch als negatives Kriterium wirksam werden: „Begründungen, die nicht akzeptiert werden würden, wenn (2.1) bis (2.3) (einschließlich der weiteren Diskursregeln) erfüllt wären, sind als ungültig anzusehen."31 Fraglich ist nur, wie Alexy denn feststellen will, wann dieses negative Kriterium erfüllt ist. (2.1) und (2.2) sind ohne jeden Zeitindex formuliert; Regel (2.3) dürfte sogar so zu verstehen sein, daß sie eine zeitliche Begrenzung des Diskurses explizit ausschließt. Diskurse müssen also nach Alexy grundsätzlich endlos fortgesetzt werden. Es ist mithin denkbar, daß eine Begründung, die Erfüllung von (2.1) bis (2.3) und der anderen Diskursregeln unterstellt, bis zum Zeitpunkt Τ nicht akzeptiert wurde, zum Zeitpunkt Τ aber plötzlich akzeptiert wird, etwa weil ein ganz neuer Gesichtspunkt in die Diskussion eingebracht wurde. Deshalb ist es ausgeschlossen, die Ablehnung einer Begründung durch Diskurspartner in der idealen Sprechsituation als endgültig anzusehen.32 Darum kann die Ablehnung auch kein brauchbares negatives Kriterium für die Haltbarkeit der Begründung darstellen. Ein anderes Ergebnis ergibt sich nur aus der Warte des Jüngsten Gerichts.

IV. Die Argumentationslastregeln Die allgemeine Begründungsregel (2) hatte nur die Begründungslast für Behauptungen geregelt. In einer dritten Regelgruppe, die Alexy „Argumentationslastregeln" nennt, möchte er das Ausmaß und die Verteilung von „Argumentations- oder Begründungslasten" allgemein festlegen. Alexy stützt sich dabei auf die bereits eingeführten Regeln (2) und (1.3"). Aus ihnen soll sich folgende Regel (3.1) ergeben:

30 31 32

A.a.O., S. 240. Ibid. So auch Alexy, Zeitschrift fur philosophische Forschung 43 (1989), S. 85 f., 87.

196

„(3.1)

M. Der Regelkanon Alexys f r den allgemeinen praktischen Diskurs

Wer eine Person A anders als eine Person Β behandeln will, ist verpflichtet, dies zu begründen." 33

Alexys Ansicht, die Regel (3.1) ergebe sich aus den Regeln (2) und (1.3'), ist zunächst deshalb problematisch, weil in (2) und (1.3') auf der Tatbestandsseite von „Behauptungen" die Rede ist, in Regel (3.1) dagegen von einer bestimmten Willensrichtung einer Person. Alexy versucht sich über diese Schwierigkeit hinwegzuhelfen, indem er erklärt, wer A anders als Β behandeln wolle und (1.3') befolge, der behaupte, daß ein relevanter Unterschied bestehe, und diese Behauptung habe er gemäß Regel (2) zu begründen. Er scheint nicht zu sehen, daß der bloße Wille, A anders als Β zu behandeln, fur den Tatbestand der Regel (1.3') unbeachtlich ist. Eine Willensregung ist noch keine Behauptung. Wenn wir dagegen mit Alexy den Willen, A anders als Β behandeln zu wollen, als Behauptung betrachten würden, ist nicht ersichtlich, wieso wir zur Herleitung von Regel (3.1) die Regel (1.3') benötigen, dann dann folgt (3.1) schon allein aus (2). Alexys zweite Argumentationslastregel lautet: „(3.2)

Wer eine Aussage oder Norm, die nicht Gegenstand der Diskussion ist, angreift, muß hierfür einen Grund angeben".34

Alexy begründet diese Regel mit einem Hinweis auf Chaim Perelman, dem er ein „Prinzip der Trägheit" 'zuschreibt, wonach „eine Auffassung oder eine Praxis, die einmal akzeptiert wurde, nicht ohne Grund wieder aufgegeben werden darf." 35 In der Tat spricht Perelman von einer „inertie psychique et sociale" 36 , also einer geistigen und sozialen Trägheit, meint damit aber, ganz im Sinne des üblichen Sprachgebrauchs, die Neigung der meisten Menschen, an einer einmal gefaßten Meinung festzuhalten. 37 Aus diesem wohlbekannten Faktum folgt natürlich keineswegs die Geltung der Regel (3.2). Im übrigen ist (3.2) schon deshalb problematisch, weil nirgends deutlich gemacht wird, welche „Gründe" zur Stützung des Zweifels angeführt werden dürfen. Sind beliebige Gründe zugelassen, so läuft Regel (3.2) leer. Regel (3.3) lautet:

33

A.a.O., S. 243. A.a.O., S. 244. 35 A.a.O., S. 216 f, 243. 36 Traité, S. 142. 37 Es ist jedoch zuzugeben, daß sich bei Perelman auch Formulierungen finden, die bei wohlwollender Interpretation fur Alexys Interpretation sprechen; vgl. z.B. Fünf Vorlesungen, S. 92. 34

IV. Die Argumentationslastregeln

„(3.3)

197

Wer ein Argument angeführt hat, ist nur bei einem Gegenargument zu weiteren Argumenten verpflichtet". 38

(3.3) soll verhindern, daß ein Sprecher von seinem Diskussionspartner immer weitere Gründe fordert. Leider bleibt ungeklärt, was dabei als „Argument" zu gelten hat. Es reicht offenbar schon aus, daß der jeweilige Sprecher seine Äußerung als Argument betrachtet. Damit, ist es ausgeschlossen, über Regel (3.3) faktisch vorkommende Diskussionen zu disziplinieren. Problematisch ist auch Regel (3.4): „(3.4)

Wer eine Behauptung oder eine Äußerung über seine Einstellungen, Wünsche oder Bedürfnisse in den Diskurs einfuhrt, die nicht als Argument auf eine vorangegangene Äußerung bezogen ist, hat auf Verlangen zu begründen, weshalb er diese Behauptung oder diese Äußerung einführt". 39

Damit möchte Alexy möglicherweise einer exzessiven Inanspruchnahme der Regeln (2.2.b) und (2.2.c) entgegenwirken. Dann wäre vielleicht Regel (3.4) nur als ein Mittel anzusehen, um den reibungslosen Gang der Diskussion sicherzustellen. Da in (3.4) aber keinerlei Anforderungen an die Art der „Begründung" gestellt werden, bleibt es offenbar dem jeweiligen Sprecher überlassen, was er als „Begründung" ansieht. Dann ist es aber offensichtlich nicht möglich, das Sprecherverhalten durch Regel (3.4) zu steuern.

V. Die Argumentformen Nach Alexy läßt sich die allgemeinste Form praktischer Diskurse symbolisch wie folgt darstellen: .(4)

G Ä* 40

wobei R* für eine Regel beliebiger Stufe steht und N* für eine beliebige „normative Aussage". Was G symbolisieren soll, sagt Alexy leider nicht, es ist aber zu vermuten, daß G eine Abkürzung für „Grund" darstellen soll. 41

38

A.a.O., S. 244. A.a.O., S. 245. 40 A.a.O., S. 246. 41 In diesem Sinne gebraucht Alexy den Buchstaben G bei seiner Diskussion der Vorschläge Stevensons, vgl. a.a.O., S. 64. 39

198

M. Der Regelkanon Alexys f r den allgemeinen praktischen Diskurs

Nach Alexy muß N* aus G und R* folgen. 42 Wieder läßt Alexy die entscheidenden Fragen offen: Ist (4) als Festsetzung zu verstehen und mithin analytisch? Oder ist (4) eine aus den „Grundstrukturen der Sprache" gewonnene Erkenntnis darüber, wie wir unsere praktischen Diskurse gestalten sollen? In Betracht kommt schließlich noch die Interpretation als deskriptive Aussage über alle faktisch vorkommenden praktischen Diskurse. Auch in diesem Fall wäre (4) trivial, denn nachträglich läßt sich natürlich immer eine passende Regel R* „zubereiten", aus der zusammen mit den vorgebrachten Gründen G das Diskussionsergebnis N* folgt. (4) zerfallt nach Alexy in zwei Unterformen: .(4.1)

Τ R

und

„(4.2)

F R N",

Ν"

wobei N fur singuläre „normative Aussage", R für Regel, T fur die die Anwendungsbedingungen einer Regel R beschreibende Aussage und F fur die „Folgen [...] der Befolgung der von Ν implizierten Imperative" steht.43 Alexy glaubt, mit (4.1) und (4.2) zwei Grundformen der Legitimierung singulärer Normen gefunden zu haben, nämlich die Bezugnahme auf eine als geltend vorausgesetzte Regel und die Begründung durch Hinweis auf die Folgen der Orientierung an N. Die in der Geistesgeschichte ebenfalls häufig anzutreffende Begründung durch göttliches Gebot oder durch eine unmittelbare Wertschau dürfte in diesen Argumentformen allerdings nicht ohne weiteres unterzubringen sein, 44 obwohl sich natürlich passende Regeln im Nachhinein konstruieren ließen. Deshalb scheint mir Alexys Vorschlag anderen, weniger formalen Typisierungen moralphilosophischer Begründungsversuche - wie etwa dem Karl Engischs - unterlegen zu sein. 45

VI. Die Begründungsregeln Mittels der „Argumentformen" lassen sich nach Ansicht Alexys beliebige Verhaltensregeln rechtfertigen. Unter Bezugnahme auf Hare, Habermas und

42

A.a.O., S. 247 Fn. 66. A.a.O., S. 245. 44 Alexy betrachtet derartige Verfahren allerdings nicht als rationale Argumentationsbzw. Erkenntnisverfahren, vgl. Theorie der juristischen Argumentation, S. 58 ff. 45 Vgl. Engisch, Hauptthemen der Rechtsphilosophie, S. 207 - 231. 43

VI. Die Begründungsregeln

199

Baier formuliert Alexy deshalb drei Versionen der Universalisierbarkeitsforderung, die offenbar als Kriterien fur den moralischen Wert der jeweils in Frage stehenden „normativen Aussage" gedacht sind. Die Regeln lauten: „(5.1.1)

„(5.1.2)

„(5.1.3)

Jeder muß die Konsequenzen der in einer von ihm behaupteten normativen Aussage vorausgesetzten Regel für die Befriedigung der Interessen einer jeden einzelnen Person auch fur den hypothetischen Fall akzeptieren können, daß er sich in der Situation dieser Person befindet." 46 Die Konsequenzen jeder Regel für die Befriedigung der Interessen eines jeden einzelnen müssen von allen akzeptiert werden können." 47 Jede Regel muß offen und allgemein lehrbar sein." 48

Die Wendung vom „Akzeptieren-können" der Konsequenzen einer bestimmten Regelbefolgung ist außerordentlich problematisch. Ist damit die auf rein empirische Weise festzustellende Fähigkeit gemeint, bestimmte Konsequenzen einer Regelbefolgung zu billigen? Oder meint „Akzeptieren können" dasselbe wie „Akzeptieren wollen", so daß nach (5.1.1) und (5.1.2) bei jeder Formulierung einer Regel auch die Bedürfnisse von verstockten, kompromißunfahigen Querulanten zu berücksichtigen wären? Und wer ist überhaupt gemeint, wenn (5.1.2) von „allen" spricht? Alle Menschen, die zu einem gewissen Zeitpunkt existieren? Alle volljährigen Bürger eines Staates? Oder sind es, um eine beliebte Modevokabel zu verwenden, alle „Betroffenen"? Dies sind nur einige der Fragen, welche die Formulierungen Alexys aufwerfen. Die hier angerissenen Probleme sind keineswegs neu, sie haben vielmehr die Geschichte des Verallgemeinerungsprinzips von Anfang an begleitet49 und stellen häufige Topoi fast jeder moralphilosphischen Diskussion dar. Umso erstaunlicher ist es, daß Alexy die Diskursregeln (5.1.1) und (5.1.2) ohne jeden weitergehenden skeptischen Vorbehalt in seinen Regelkanon aufnimmt. 50 Immerhin erkennt aber auch Alexy an, daß die Regeln (5.1.1) bis (5.1.3) „noch nicht so etwas wie die Gewähr einer vernünftigen Einigung" bie-

46

Theorie der juristischen Argumentation, S. 251. A.a.O., S. 252. 48 Ibid. 49 Vgl. etwa die Nachweise bei Wimmer, Universalisierung in der Ethik, S. 200 ff. zur Kantkritik Hegels. 50 Vgl. aber Theorie der juristischen Argumentation, S. 104. 47

200

M. Der Regelkanon Alexys fur den allgemeinen praktischen Diskurs

ten. 51 Ein Verfahren, daß dies in jedem Fall gewährleiste, existiere nicht. Doch glaubt Alexy, ein Verfahren normieren zu können, durch „das zumindest die Wahrscheinlichkeit der Veränderung faktisch vorgegebener unvereinbarer Auffassungen in Richtung auf eine vernünftige Einigung erhöht44 wird. 5 2 Dieses Verfahren wird durch die Diskursregel (5.2.1) festgelegt, mit deren Hilfe solche moralischen Normen eliminiert werden sollen, die entweder schon seit ihrer Entstehung nicht „rational zu rechtfertigen 44 waren oder aber diese „rationale Rechtfertigung 44 zwar zunächst besaßen, inzwischen aber verloren haben.53 Alexy macht leider nicht deutlich, was er in diesem Zusammenhang unter „rationaler Rechtfertigung 44 verstehen möchte; wahrscheinlich ist damit gemeint, daß die fraglichen moralischen Regeln auch dann beibehalten worden wären, wenn man in der Vergangenheit unter den Bedingungen einer idealen Sprechsituation über sie entschieden hätte. 54 Da aber (5.2.1) nach Alexys Ansicht die ideale Sprechsituation mitdefiniert, dürfte die Diskursregel nach obiger Interpretation zirkulär sein. Ein ähnliches Problem stellt sich bei Diskursregel „(5.2.2)

Die den moralischen Auffassungen der Sprecher zugrunde liegenden moralischen Regeln müssen der Überprüfung ihrer individuellen Entstehungsgeschichte standhalten können. Eine moralische Regel hält einer solchen Überprüfung nicht stand, wenn sie nur aufgrund nicht zu rechtfertigender Sozialisationsbedingungen übernommen wurde. 4455

Bemerkenswerterweise meint Alexy hier selbst, es müsse leider offenbleiben, was unter „nicht zu rechtfertigende[n] Sozialisationsbedingungen44 zu verstehen sei 5 6 Er scheint nicht zu bemerken, daß (5.2.2) dadurch unanwendbar wird.

51

Theorie der juristischen Argumentation, S. 252. A.a.O., S. 253. 53 Ibid. 54 Auch hier stellt sich allerdings das Problem, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit eine Entscheidung unter den Bedingungen der „idealen Sprechsituation14 als definitiv anzusehen ist. 55 A.a.O., S. 253 f. 56 Ibid. Er fugt an, daß Sozialisationsbedingungen auf jeden Fall dann nicht zu rechtfertigen seien, wenn sie dazu führten, „daß der Betreffende nicht bereit oder nicht in der Lage ist, an Diskursen teilzunehmen14. 52

VI. Die Begründungsregeln

201

Als letzte Begründungsregel fuhrt Alexy die Regel (5.3) ein, die sicherstellen soll, daß in praktischen Diskursen nicht Luftschlösser gebaut, sondern Ergebnisse erzielt werden, die sich auch verwirklichen lassen. Sie lautet: „(5.3)

Die faktisch gegebenen Grenzen der Realisierbarkeit sind einzuhalten." 57

Alexys Skepsis gegenüber leerem Gerede verdient zweifellos Zustimmung. Es erscheint aber sehr fraglich, ob sich die Praxistauglichkeit des Alexyschen Programms allein durch Regel (5.3) sicherstellen läßt, denn die praktische Realisierbarkeit der Diskurstheorie hängt nicht allein von den in Diskursen behandelten Inhalten ab, sondern auch von den Diskursregeln selbst. Die obige Analyse hat gezeigt, daß zahlreiche Diskursregeln in einer Weise formuliert sind, die ihre praktische Verwendbarkeit ausschließt.

V I I . Die Übergangsregeln Die letzte Regelgruppe des allgemeinen praktischen Diskurses nennt Alexy „Übergangsregeln", weil sie den Übergang vom praktischen Diskurs in andere Diskursformen sichern sollen. Es sind dies die Regeln „(6.1) (6.2) „(6.3)

Es ist jederzeit jedem Sprecher möglich, in einen theoretischen (empirischen) Diskurs überzugehen. Es ist jederzeit jedem Sprecher möglich, in einen sprachanalytischen Diskurs überzugehen" und Es ist jederzeit jedem Sprecher möglich, in einen diskurstheoretischen Diskurs überzugehen." 58

Regel (6.2) soll sprachliche Klärungen erlauben 59, was natürlich auch der Nicht-Diskurstheoretiker sympathisch finden wird, wenngleich er vielleicht keine so anspruchsvolle Formulierung („sprachanalytischer Diskurs") dafür gewählt hätte. Ob (6.2) den „Grundstrukturen der Sprache" entnommen ist, macht Alexy leider wieder nicht deutlich. Dasselbe gilt für Regel (6.3). Interessanter ist Regel (6.1), mit deren Hilfe Tatsachenwissen bereitgestellt werden soll. Der in der Klammer eingefügte Hinweis auf die Empirie deutet darauf hin, daß Alexy nicht - wie Habermas - die Wahrheit von Tatsachenaussagen allein von einem Konsens über ihre Geltung abhängig machen,

57 58 59

A.a.O., S. 254. A.a.O., S. 255. Vgl auch a.a.O., S. 185 f.

202

M. Der Regelkanon Alexys fur den allgemeinen praktischen Diskurs

sondern zumindest hier auf eine von unserem Dafürhalten unabhängige Außenwelt rekurrieren will. Abschließend stellt sich die Frage nach der Leistungsfähigkeit der bislang besprochenen Regeln des „allgemeinen praktischen Diskurses". Alexy war angetreten, einen Ausweg aus dem Münchhausen-Trilemma zu zeigen und gleichzeitig so etwas wie die Keimzelle eines „Gesetzbuchs der praktischen Vernunft" zu schaffen. Es wurde dargelegt, daß er dieses Ziel nicht erreicht hat: Zum einen sind seine Regeln ihrerseits noch durchaus begründungsbedürftig; zum anderen leiden sie an so vielen Formulierungsproblemen, daß ihre Befolgung im Rahmen einer moralphilosophischen Diskussion höchst unzweckmäßig wäre. Im folgenden letzten Kapitel wird zu prüfen sein, ob diese oder ähnliche Probleme auch bei Alexys Regeln fur den „juristischen Diskurs" auftauchen.

Ν. Die Theorie der juristischen Argumentation Alexy glaubt, die Diskurstheorie nicht nur in der Moral- und Rechtsphilosophie, sondern auch in der juristischen Methodenlehre anwenden zu können. Er konzentriert sich auf das Problem der Rechtfertigung rechtlicher Urteile. Dabei unterscheidet Alexy eine interne und eine externe Rechtfertigung. Bei ersterer geht es um die logische Ableitbarkeit des Urteils aus den jeweiligen Prämissen, also vor allem aus dem Gesetz und der Feststellung der Tatbestandserfullung. Bei der externen Rechtfertigung wird dagegen nach der Begründbarkeit dieser Prämissen gefragt.

I. Die interne Rechtfertigung Alexy beginnt mit einer Wiedergabe des juristischen Syllogismus: „(J.l.l) *(1)

*(2) (3)

Ax (Tx

ORx)

Ta ORa

(1), ( 2 Γ 1

Dem entsprechen die beiden Regeln „(J.2.1) Zur Begründung eines juristischen Urteils muß mindestens eine universelle Norm angeführt werden. (J.2.2) Das juristische Urteil muß aus mindestens einer universellen Norm zusammen mit weiteren Aussagen logisch folgen." 2 ( J . l . l ) soll die Struktur der einfachsten Form der internen Rechtfertigung angeben. Abgesehen von der eigentümlichen Formulierung in Regelform befindet sich Alexy mit seinen Regeln (J.l.l) bis (J.2.2) im Rahmen der traditionellen Methodenlehre. 3 Dies gilt auch fur die Forderung, bei der Gewinnung der singulären Prämissen nicht mit ad-hoc-Festsetzungen zu

1 2 3

Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 274. A.a.O., S. 275. Vgl. oben Kap. B.

204

Ν. Die Theorie der juristischen Argumentation

operieren. Alexy versucht diesem Postulat durch Regel (J.2.3) Rechnung zu tragen: „(J.2.3) Immer dann, wenn zweifelhaft ist, ob a ein Γ oder ein M* ist, ist eine Regel anzugeben, die diese Folge entscheidet."4 Mit „Regel" meint Alexy hier Wortgebrauchsregeln. Die Entscheidung über das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale (Ta) und die „Zubereitung" der Sachverhaltsbeschreibung auf die Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes hin soll also nicht willkürlich erfolgen, sondern sich am allgemeinen bzw. am juristischen Sprachgebrauch orientieren. Auch die Frage, wieviele Entfaltungsschritte in Regelform fur die interne Rechtfertigung erforderlich sind, glaubt Alexy in Form zweier Regeln beantworten zu können: „(J.2.4) Es sind so viele Entfaltungsschritte erforderlich, daß man zu solchen Ausdrücken gelangt, von denen nicht mehr streitig ist, daß sie auf den fraglichen Fall zutreffen." 5 (J.2.4) ist insofern problematisch, als früher oder später die Angabe weiterer Entfaltungsschritte - in traditioneller Terminologie: eine weitere Auslegung des in Frage stehenden Tatbestandsmerkmals auf die Sachverhaltsbeschreibung hin - die Rechtsanwendung nicht mehr fordert, sondern eine Entscheidung nötig wird, um die Kluft zwischen Sprache und realer Außenwelt zu überwinden. Diese Entscheidung dürfte häufig streitig bleiben, so daß nach (J.2.4) immer neue Entfaltungsschritte nötig wären. (J.2.S) fordert sogar, „möglichst viele" Entfaltungsschritte anzugeben.6 Da die Möglichkeit zur Angabe neuer Entfaltungsschritte wohl immer besteht, brächte die konsequente Erfüllung dieser Regel die Rechtspflege bald zum Erliegen.

I I . Die externe Rechtfertigung Aufgabe der externen Rechtfertigung ist die Begründung der im Rahmen der internen Rechtfertigung Verwendeten Prämissen.7 Alexy unterscheidet dabei fünf Gruppen von „Regeln und Formen". Sie betreffen die Rolle der

4 5 6 7

A.a.O., S. 279. M steht fur „Merkmal". A.a.O., S. 280. Ibid. A.a.O., S. 283.

II. Die externe Rechtfertigung

205

Empirie, die traditionellen canones der Auslegung, die juristische Dogmatik, die Präjudizienverwertung und spezielle juristische Argumentformen. Alexy betont zunächst zu Recht die Bedeutung empirischer Sätze fur die Jurisprudenz - die zweite Prämisse des Justizsyllogismus gehört in diese Kategorie - und verweist fur deren Begründung auf die empirischen Einzelwissenschaften. Angesichts der Fehlbarkeit unseres empirischen Wissens hält er „Regeln des vernünftigen Vermutens" fur erforderlich, ohne diesen Vorschlag aber näher zu erläutern. 8 Sehr viel ausfuhrlicher behandelt Alexy die canones der Auslegung. Als Ausgangspunkt wählt er die Symbolisierung: „(J.1.2')

*(1) *(2) *(3) (4)

Ax (Tx Ax (Mx Ma ORa

ORx) Tx)

(R) (W) (1) - (3)" 9

Aus (1) und (2) folgt (2'): Ax(Mx-+ ORx). (T) nennt Alexy eine „Interpretation von R durch W u ( 4 ) · W steht dabei für „Wortgebrauchsregel". 10 Aufgabe der canones der Auslegung ist die Begründung derartiger Interpretationen. 11 Dabei unterscheidet Alexy erneut sechs Gruppen, die er als die semantische, genetische, historische, komparative, systematische und teleologische Auslegung bezeichnet.12 Eine semantische Interpretation soll dann vorliegen, „wenn eine Interpretation R ' von R mit dem Hinweis auf den Sprachgebrauch gerechtfertigt, kritisiert oder als möglich behauptet wird." 1 3 Dem entsprechen die drei Argumentformen „(J.3.1)

8

R' muß aufgrund W i als Interpretation von R akzeptiert werden.

A.a.O., S. 287. A.a.O., S. 288. 10 Ibid. 11 A.a.O., S. 288 schreibt Alexy, die canones könnten außerdem „auch unmittelbar zur Begründung von nichtpositiven Normen sowie zur Begründung einer Vielzahl weiterer juristischer Sätze herangezogen werden**. Es ist mir nicht ganz klar, was Alexy damit meint; zumindest die Begründung nichtpositiver Normen dürfte nach Alexys eigenem Modell eher in den Bereich des „allgemeinen praktischen Diskurses** fallen. (Vgl. aber auch a.a.O., S. 300). 12 A.a.O., S. 288. 13 A.a.O., S. 289. 9

Ν. Die Theorie der juristischen Argumentation

206

(J.3.2) (J.3.3)

R 9 kann aufgrund W k nicht als Interpretation von R akzeptiert werden. Es ist möglich, R f als Interpretation von R zu akzeptieren, und es ist möglich, R' nicht als Interpretation von R zu akzeptieren, denn es gelten weder W· noch W k," 14

Argumente der Form (J.3.1) und (J.3.2) hält Alexy fiir definitiv; im Falle der Anwendbarkeit von (J.3.3) dagegen fuhrt seiner Ansicht nach „die semantische Auslegung zu dem Ergebnis, daß mit semantischen Mitteln allein keine Entscheidung herbeigeführt werden kann." 15 Bei (J.3.1) bis (J.3.3) handelt es sich um eine nur der Form nach neue Umschreibung des altbekannten Wortlautargumentes. Läßt der Wortlaut des Gesetzes in einem gegebenen Fall nur eine Entscheidung zu, so hat der Richter sich daran zu halten. Das Wortlautargument ist ohne Zweifel eines der wichtigsten Argumente bei der Rechtsanwendung. Die Rechtsprechung hat sich allerdings gelegentlich nicht gescheut, über den Wortlaut des Gesetzes hinauszugehen,16 was Alexy natürlich bekannt ist. Auf die bekannten Probleme des Wortlautargumentes soll hier nicht weiter eingegangen werden. 17 Ein genetisches Argument soll vorliegen, wenn eine Norminterpretation durch Hinweis auf den Willen des Gesetzgebers gerechtfertigt wird. Auch dieses Argument ist eines der Standardargumente der Rechtsanwendung. Dabei möchte Alexy zwei Grundformen unterscheiden: „Die erste Grundform liegt vor, wenn gesagt wird, daß f^ = R' unmittelbar Gegenstand des Willens des Gesetzgebers war, die zweite, wenn behauptet wird, daß der Gesetzgeber mit R die Zwecke Z l, Z2, ..., Z r t in der Kombination K ([Zj, Z2, Z J K) verfolgte und die Geltung von R in der Interpretation notwendig zur 18 Verwirklichung von (Z l 9 ..., Z n) Κ ist." Es ist unbestreitbar, daß der Gesetzgeber mit dem Erlaß einer Norm mehrere Zwecke verfolgen kann. Es scheint mir aber fraglich, ob es wirklich einen Erkenntnisfortschritt bedeutet, wenn diese doch kaum überraschende Tatsache durch merkwürdige Formeln wie „([Zj, Zj, Z J K)" ausgedrückt wird. Alexy macht von diesem Monstrum auch gar keinen Gebrauch, sondern fuhrt dafür schon vier Zeilen weiter die Abkürzung Ζ (für „Zwecke") ein. Es

14 15 16 17 18

Ibid. A.a.O., S. 290. Vgl. oben S. 30. Vgl. dazu z.B. Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 77 f. A.a.O., S. 291.

II. Die externe Rechtfertigung

207

handelt sich mithin wohl nur um den Versuch, weniger symbolisierungsfreudige Kollegen zu verunsichern. Seine beiden Grundformen des genetischen Arguments sehen damit wie folgt aus: „(J.4.1) (J.4.2)

*(1) R' ( = T^r) ist vom Gesetzgeber gewollt. (2) R' *(1) Mit R wird vom Gesetzgeber Ζ verfolgt.

*(2) (3)

R' uì9

Alexy räumt ein, daß es sich weder bei (J.4.1) noch bei (J.4.2) um eine logische Ableitung von R' handelt. Um zu R' zu gelangen, bedürfe es weiterer Prämissen. Für (J.4.1) schlägt Alexy als Zusatzprämisse folgenden Satz vor: „(a)

Daß der Gesetzgeber R in der Interpretation durch W (/^ = Λ*) wollte, ist ein Grund dafür, daß R' gilt." 2 0

Es ist aber offensichtlich, daß R' selbst bei Hinzufugung von (a) in (J.4.1) nicht folgt. Selbst wenn man (a) umformen würde zu (a*)

Wenn der Gesetzgeber R in der Interpretation durch W (/^ = /?*) wollte, dann gibt es einen Grund dafür, daß R' gilt.

so folgt in (J.4.1) bloß, daß es einen Grund dafür gibt, daß R ' gilt. Noch problematischer sind die beiden Prämissen, die Alexy der Argumentform (J.4.2) hinzufugen will: „(b) (c)

Daß der Gesetzgeber mit R den Zweck Ζ verfolgte, ist ein Grund dafür, daß es bei der Anwendung von R geboten ist, Ζ zu verfolgen. Wenn es geboten ist, einen Zweck Ζ zu verfolgen, ist auch das zur Verwirklichung von Ζ notwendige Mittel geboten."21

(b) ist analog (a) formuliert und deshalb keine brauchbare Prämisse fur (J.4.2). (c) wird von Alexy folgendermaßen symbolisiert:

19 20 21

Ibid. Ibid. Ibid.

208

„(S)

Ν. Die Theorie der juristischen Argumentation

*(1) OZ *(2) ~ιΑί (3) OM u

„Es ist geboten, daß der Zustand Ζ der Fall ist. -«Z Wenn M nicht der Fall ist, ist Ζ nicht der Fall (d.h. M ist Bedingung von Z). Es ist geboten, daß M der Fall ist. t t 2 2

Alexy hält (S) für einen gültigen logischen Schluß. Um dies nachweisen, seien allerdings „grundlegende, sowohl die deontische Logik als auch die Theorie der Zweck-Mittel-Beziehung betreffende Überlegungen erforderlich". 2 3 Alexy glaubt sich deshalb mit der „intuitive[n] Plausibilität von (S)" begnügen zu können.24 Leider können bekanntlich gerade derartige „intuitive Plausibilitäten" in der formalen Logik in die Irre führen. Die logische Geltung von (S) - oder besser: das Bedürfnis, (S) als logisch gültig einzuführen - erscheint mir allerdings nicht einmal plausibel. Konsequent angewandt, bedeutet (S) nichts anderes, als daß der Zweck die (zu seiner Herbeiführung erforderlichen) Mittel heiligt. Es ist mir unerfindlich, warum man einer derartigen Maxime den Status einer logischen Wahrheit einräumen sollte. Auch Alexy weist allerdings daraufhin, daß (S) noch gewisse „Präzisierungen, Modifikationen und Einschränkungen" erfordere. Dabei dürfte es möglich sein, meinem Einwand - etwa durch eine entsprechende Klausel oder einschränkende Interpretation - Rechung zu tragen. Die Wortlautauslegung erfordert Aussagen über den allgemeinen Sprachgebrauch, die genetische Auslegung Aussagen über den Willen des Gesetzgebers. Alexy verlangt, diese Aussagen in das jeweils geführte Argument einzufügen; er nennt dies das „Erfordernis der Sättigung".25 Zur Verwendung dieses seltsamen Ausdrucks ist er möglicherweise durch Frege angeregt worden. 26 Das Erfordernis der „Sättigung" wird von Alexy etwas später auf alle Argumentformen der Auslegung ausgedehnt. Alexy formuliert: „(J.6)

Jede der zu den canones der Auslegung zu rechnenden Argumentformen ist zu sättigen."27

Mit dieser Regel möchte Alexy „leeres Gerede" bei Diskursen verhindern.

22

A.a.O., S. 292. Ibid. 24 Ibid. 25 A.a.O., S. 293. 26 Frege gebraucht das Adjektiv „ungesättigt" als Synonym zu „ergänzungsbedürftig", vgl. Frege, G.: Funktion und Begriff. In: ders.: Funktion, Begriff und Bedeutung. Fünf logische Studien. Hg. von G. Patzig. 6. Aufl. Göttingen 1986, S. 18 - 39 (22, 36). 27 Theorie der juristischen Argumentation, S. 302. 23

II. Die externe Rechtfertigung

209

Unter einem historischen Argument versteht Alexy den Fall, daß „Tatsachen aus der Geschichte des diskutierten Rechtsproblems als Gründe fur oder gegen eine Auslegung angeführt werden." 28 Damit weicht Alexy von der üblichen Verwendung dieses Begriffs ab, die sich in etwa mit dem Verfahren, das Alexy unter der Rubrik „genetische Argumentation" geschildert hatte, deckt. Desweiteren kennt Alexy komparative Argumente, die der Rechtsvergleichung dienen, und systematische Argumente, in denen die logischen Beziehungen zwischen Normen thematisiert werden. 29 Sehr viel ausfuhrlicher analysiert Alexy den teleologischen Argumenttyp. Da es sich dabei nicht um eine Darlegung der gesetzgeberischen Zwecke handeln soll, spricht Alexy auch von „objektiv-teleologischen" Argumenten. 30 Doch welche Zwecke sind objektiv geboten? „Die Antwort der Diskurstheorie lautet, daß diejenigen Zwecke vernünftig oder im Rahmen der geltenden Rechtsordnung objektiv geboten sind, die die im Rahmen der geltenden Rechtsordnung aufgrund vernünftiger Argumentation Entscheidenden setzen würden." 31 Damit wird der allgemeinen Diskurstheorie ein Einfallstor in die Jurisprudenz eröffnet. Ist ein Zweck Ζ als objektiv geboten anerkannt, so soll ein Argument mit folgender Struktur gefuhrt werden: „(J.5)

*(1) (3)

OZ Λ'"32

(J.S) entspricht bis auf die erste Prämisse (J.4.2) und besitzt dieselbe Struktur wie (S). Deshalb kann hier auf die obigen Ausführungen verwiesen werden. Jeder Jurist macht schon früh die Erfahrung, daß die einzelnen Auslegungsmethoden zu unterschiedlichen Ergebnissen fuhren können. Es wird deshalb schon lange diskutiert, ob sich eine Rangfolge der Auslegungsregeln aufstellen läßt. 33 Auf diese Auseinandersetzung bezieht sich Alexys Diskursregel

28 29 30 31 32 33

A.a.O., S. 294. A.a.O., S. 294 f. A.a.O., S. 296. Ibid. A.a.O., S. 297. Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 328 - 332.

14 Hilgendorf

Ν. Die Theorie der juristischen Argumentation

210

„(J.7)

Argumente, die eine Bindung an den Wortlaut des Gesetzes oder den Willen des historischen Gesetzgebers zum Ausdruck bringen, gehen anderen Argumenten vor, es sei denn, es lassen sich vernünftige Gründe dafür anfuhren, den anderen Argumenten den Vorrang einzuräumen." 34

Mit dieser Argumentationslastregel möchte Alexy die Bindung an das geltende Recht sicherstellen. Der rechtsstaatliche Ansatzpunkt verdient Zustimmung und wird auch von zahlreichen anderen Autoren betont.35 Leider erklärt Alexy nicht, wie er zu verfahren gedenkt, wenn das geltende Recht diskurstheoretischen Einsichten in die „Struktur der Sprache" widerspricht. Diese Möglichkeit ist ja keineswegs von vornherein auszuschließen. Wahrscheinlich griffe in einem solchen Fall die von Alexy wieder vorsorglich angefugte salvatorische Klausel ein. Diesmal erkennt Alexy allerdings, daß die Klausel allenfalls dann brauchbar ist, wenn geklärt ist, was unter „vernünftige Gründe" verstanden werden soll, und erklärt: „Um vernünfige Gründe handelt es sich nur dann, wenn sie sich in einer vernünftigen juristischen Diskussion rechtfertigen lassen".36 Dies ist offensichtlich zirkulär, denn Alexy definiert die „vernünftige" juristische Diskussion ja ihrerseits durch die Einhaltung der Diskursregeln. 37 Deshalb ist auch (J.7) erheblichen Zweifeln ausgesetzt. Das Problem der Rangordnung der juristischen Auslegungsmethoden thematisiert auch Diskursregel „(J.8)

Die Bestimmung des Gewichtes von Argumenten verschiedener Formen hat nach Gewichtungsregeln zu erfolgen." 38

Unter „Gewichtungsregeln" versteht Alexy „vernünftig begründbare [...] Regeln" über das Rangverhältnis der Auslegungsmethoden.39 Gerade die Existenz dieser Regeln steht jedoch in Frage. Alexy schwächt (J.8) noch zusätzlich ab, indem er einräumt, Gewichtungsregeln ließen sich nur in Bezug auf bestimmte Auslegungssituationen und bestimmte Rechtsgebiete entwickeln; außerdem gälten sie niemals mit endgültiger Gewißheit. Damit dürfte Alexy aber den Regelcharakter seiner „Gewichtungsregeln" weitgehend aufgehoben und den Begriff selbst ad absurdum geführt haben.

34 35 36 37 38 39

Theorie der juristischen Argumentation, S. 305. Vgl. etwa Koch, Rüßmann, Begründungslehre, S. 179 ff. A.a.O., S. 305. A.a.O., S. 223 f. A.a.O., S. 306. Ibid.

II. Die externe Rechtfertigung

211

Aus den Regeln (2.2a) und (2.2b) soll sich schließlich die Diskursregel (J.9) ergeben: „(J.9)

Alle Argumente der zu den canones der Auslegung zu rechnenden Form, die möglicherweise vorgebracht werden könnten, sind zu berücksichtigen. 4440

Da die Möglichkeit, sich einer der Auslegungsmethoden zu bedienen, von der Qualität des dabei vorgebrachten Arguments völlig unabhängig ist, läuft (J.9) darauf hinaus, stets alle Auslegungsregeln zu berücksichtigen. Interpretiert man (J.9) ferner so, daß nicht nur alle sechs Auslegungsformen, sondern überhaupt alle Vorschläge zur Auslegung einer bestimmten Norm zu berücksichtigen sind - und diese Interpretation wird vom Wortlaut der Regel nahegelegt - , so wird der Richter durch (J.9) völlig überfordert. Besonders ausführlich untersucht Alexy die dogmatische Argumentation. Unter einer „Rechtsdogmatik" versteht er „eine Klasse von Sätzen, die [...] auf die gesatzten Normen und die Rechtsprechung bezogen, aber nicht mit ihrer Beschreibung identisch sind, [...] untereinander in einem Zusammenhang stehen, [...] im Rahmen einer institutionell betriebenen Rechtswissenschaft aufgestellt und diskutiert werden und [...] normativen Gehalt haben". 41 Für die dogmatische Argumentation formuliert Alexy zwei Regeln, nämlich: „(J. 10)

(J.ll)

„(J.12)

Jeder dogmatische Satz muß, wenn er angezweifelt wird, unter der Verwendung mindestens eines allgemeinen praktischen Argumentes begründet werden. Jeder dogmatische Satz muß sowohl einer systematischen Überprüfung im engeren als auch einer systematischen Überprüfung im weiteren Sinne standhalten können." 42 und Wenn dogmatische Argumente möglich sind, sind sie zu benut«43

zen. In (J.10) knüpft Alexy an eine schon geraume Zeit geführte Diskussion über den Gerechtigkeitsgehalt dogmatischer Sätze an. Zahlreiche Autoren 44 haben zu Recht darauf hingewiesen, daß die Grenze zwischen Sätzen der Dogmatik und allgemeinen Rechtsprinzipien bzw. Prinzipien der Gerechtig-

40 41 42 43 44

Ibid. A.a.O., S. 314. A.a.O., S. 325. A.a.O., S. 334. Vgl. die Nachweise bei Alexy, a.a.O., S. 324 f.

212

Ν. Die Theorie der juristischen Argumentation

keit fließend ist und daß die * Akzeptanz der Rechtsdogmatik von jenen allgemeinen Prinzipien abhängt. Andererseits dürfte sich nicht jeder Zweifel an der Geltung oder Brauchbarkeit eines dogmatischen Satzes auf seine Übereinstimmung mit fundamentalen Rechts- oder Gerechtigkeitsprinzipien beziehen. Deshalb verlangt (J.10), der fur alle Zweifelsfälle eine derartige Begründung verlangt, zu viel. ( J . l l ) soll der Konsistenzkontrolle dienen. Unter einer systematischen Begründung im engeren Sinn versteht Alexy die Prüfung der logischen Beziehungen „zwischen dem zu überprüfenden Satz und den übrigen dogmatischen Sätzen sowie den Formulierungen der als geltend vorauszusetzenden Rechtsnormen." 45 Die systematische Überprüfung im weiteren Sinn definiert er als Prüfung „auf das nach allgemeinen praktischen Gesichtspunkten zu beurteilende Verhältnis der mit Hilfe des zu überprüfenden dogmatischen Satzes begründbaren singulären normativen Sätze zu den singulären normativen Sätzen, die mit Hilfe der übrigen dogmatischen Sätze bzw. der Formulierungen der Rechtsnormen begründbar sind." 46 Die Konsistenzkontrolle soll hier also auf der „unteren" Ebene der singulären normativen Sätze vorgenommen werden. Setzt man die Verwendbarkeit der üblichen Aussagen- und Prädikatenlogik voraus, so ist die systematische Begründung im engeren Sinn unproblematisch, obgleich natürlich eine Überprüfung des jeweils in Frage stehenden Satzes nur an einigen und keineswegs an allen dogmatischen Sätzen vorgenommen werden kann. Weniger problemlos ist die systematische Überprüfung im weiteren Sinne, weil Alexy nicht deutlich macht, wie er sich eine exakte Prüfung an „allgemeinen praktischen Gesichtspunkten" vorstellt. Vielleicht will er lediglich sagen, das Rechtsgefuhl müsse entscheiden, ob man bestimmte singuläre normative Sätze akzeptieren wolle oder nicht. Offen geblieben ist auch wieder die Frage nach dem Geltungsgrund von (J.ll). Dies ist anders bei (J.12), denn Alexy formuliert explizit, (J.12) werde von den „Grundsätzen der Diskurstheorie" gefordert. 47 Leider läßt Alexy völlig offen, wie dies zu verstehen ist; eine Ableitbarkeit aus „Grundstrukturen der Sprache" hat er jedenfalls nicht dargelegt. Im übrigen ist (J.12) auch deshalb Zweifeln ausgesetzt, weil dogmatische Argumente - mögen sie auch falsch sein - immer möglich sind. Auch zur Verwendung von Präjudizien formuliert Alexy zwei Regeln:

45 46 47

A.a.O., S. 322. Ibid. A.a.O., S. 334.

II. Die externe Rechtfertigung

„(J.13) (J.14)

213

Wenn ein Präjudiz fur oder gegen eine Entscheidung angeführt werden kann, ist es anzuführen. Wer von einem Präjudiz abweichen will, trägt die Argumentationslast."48

Grundlage dieser Argumentationslastregeln soll das Universalisierbarkeitsprinzip (1.3)' bilden 49 , woraus sich ergebe, daß „Gleiches gleich zu behandeln" sei. Doch wann sind zwei Fälle einander „gleich"? Völlige Gleichheit liegt nur bei Identität der Fälle vor. Damit steht Alexys Vorschlag vor den bekannten Problemem des verfassungsrechtlichen Gleichheitsatzes, auf die hier nur verwiesen sei. Abschließend wendet sich Alexy noch den von ihm sog. speziellen juristischen Argumentformen argumentum e contrario, argumentum a fortiori und argumentum ad absurdum zu. Das argumentum e contrario formuliert Alexy in Anlehnung an Ulrich Klug 5 0 als Regel „(J.15)

*(1) Λχ (OGx Fx) (2) Ax ( - i F * 1OGx) ( l ) " 5 1

Alexy merkt an, (J.15) sei ein logisch gültiger Schluß. Dies ist wegen der Äquivalenz von (1) und (2) natürlich zutreffend. Das Argument setze aber, so Alexy, voraus, daß die Rechtsfolge OGx tatsächlich nur bei Vorliegen von Fx eintreten soll. Alexy spricht damit den entscheidenden Mangel des argumentum e contrario an: Mit der Entscheidung, daß OGx nur dann folgen soll, wenn Fx gegeben ist, ist bereits entschieden, daß bei NichtVorliegen von Fx auch OGx nicht gilt. Den Analogieschluß möchte Alexy durch folgende Regel ausdrücken: „(J.16)

*(1) Ax (Fx V F sim * - OGx). *(2) Ax (Hx F sim x). (3) Ax(Hx-» OGx) (1), (2)" 5 2 ,

wobei „F sim χ" als „* ist einem F ähnlich" gelesen werden soll. 53 Alexy ist natürlich zuzustimmen, wenn er ausfuhrt, problematisch sei nicht der Schluß von (1) und (2) auf (3), sondern die Begründung von (1) und (2). Zur

48 49 50 51 52 53

A.a.O., S. 339. A.a.O., S. 335 i.V.m. Fn. 170. Klug, U.: Juristische Logik. 4. Aufl. Berlin 1982, S. 137 - 143. A.a.O., S. 342. A.a.O., S. 343. A.a.O., S. 342. Vgl. auch Klug, Juristische Logik, S. 109 - 137.

Ν. Die Theorie der juristischen Argumentation

214

Begründung von (1) fuhrt Alexy aus, dem Gesetz ließe sich im Normalfall nur eine Anordnung der Form „(la)

Λχ (Fx

OGx) u

entnehmen. Um von (la) zu (1) zu gelangen, schlägt Alexy eine weitere Regel vor: „(lb)

Rechtlich gesehen ähnliche Sachverhalte sollen die gleiche rechtliche Folge haben." 54

(lb) betrachtet Alexy als Sonderfall des Universalisierbarkeitsgrundsatzes (1.3'). Damit belastet er (lb) aber unnötigerweise mit den zahlreichen Problemen von (1.3'). 5 5 Auch ist offensichtlich, daß (lb) aus (1.3*) nicht ohne einige terminologische Anstrengungen folgt. Sehr viel einfacher dürfte es sein, (lb) per Konvention einzuführen, wobei man sich zwanglos auf den verfassungsrechtlich verankerten Gleichheitssgrundsatz (Art. 3 GG) berufen könnte. Die Begründung von Prämisse (2) des Analogieschlusses betrifft die Frage nach der Feststellung der erforderlichen „Ähnlichkeit". Alexy verzichtet diesmal darauf, diese Frage mittels Angabe einer Regel zu beantworten und betont stattdessen die Notwendigkeit einer Wertung 56 , die allerdings nicht auf einer Entscheidung beruhen, sondern mit Hilfe „alle[r] im juristischen Diskurs möglichen Argumente" getroffen werden soll. 57 Dieser für einen Diskurstheoretiker konsequente Gedanke belastet den Analogieschluß mit den Mängeln der Diskursethik und ist deshalb abzulehnen. (J.17) soll die reductio ad absurdum wiedergeben und lautet: „(J.17)

*(1) *(2) (3)

O-iZ R'-+Z ι Ä'"58,

wobei Z fur „Zustand" steht, R' fur eine bestimmte Interpretation I einer Norm R durch eine Wortgebrauchsregel W (Alexy stellt dies dar durch die Formel = R') und Ο fur den bekannten deontischen Operator des Gebotenseins.

54 55 56 57 58

A.a.O., S. 344. Vgl. oben S. 191 A.a.O., S. 344. A.a.O., S. 344 f. A.a.O., S. 345.

II. Die externe Rechtfertigung

215

Zur Frage nach der Gültigkeit von (J.17) verweist Alexy auf seine Ausführungen zu Schema (S). 5 9 Er ist der Ansicht, die Struktur von (J.17) entspreche der von Schema (S). Diese Behauptung ist jedoch nicht ohne weiteres haltbar, wie man deutlich sieht, wenn man in (S) fur Ζ "'Ζ und fur Μ - ι / Γ einsetzt: (S')

(1) (2) (3)

Ο-πΖ /Γ-»Ζ CM/T

(J.17) und (S') unterscheiden sich also deutlich in der jeweiligen Konklusion (3). (J.17) hinge mithin selbst dann in der Luft, wenn (S) ein gültiges Schema wäre. Problematisch ist auch, daß in (S) der deontische Operator Ο ein Gebot des Gesetzgebers ausdrückt, in (J.17) 0~«Z dagegen lediglich bedeuten soll, daß die Interpretation R 9 „zu untragbaren, sinnlosen, nicht einsehbaren oder durch ähnliche Ausdrücke zu bezeichnenden Ergebnissen fuhrt", die „ - zumindest nach der Auffassung der Argumentierenden - als verboten anzusehen" sind. 60 Dies ist jedoch keineswegs dasselbe; Juristen pflegen in solchen Fällen auf den Unterschied von Rechtszustand de lege lata und Rechtszustand de lege ferenda hinzuweisen. Es darf mithin bezweifelt werden, ob (J.17) tatsächlich eine brauchbare Präzisierung des argumentum ad absurdum darstellt. Die letze Regel des juristischen Diskurses lautet: „(J.18)

Die speziellen juristischen Argumentformen sind zu sättigen."61

Mit „sättigen" dürfte wieder gemeint sein, daß die speziellen juristischen Argumente vollständig vorzubringen sind. 62

I I I . Resümee Welches Resümee läßt sich aus der Diskussion der juristischen Diskurstheorie ziehen? Es wurde gezeigt, daß der Anspruch der philosophischen Diskursethik - sei es in der Apel / Kuhlmannschen oder der Habermasschen Version - die Grundlagen fur eine kognitive Ethik zu liefern, gescheitert ist. Die angeblich „unhintergehbaren" und „immer schon" anerkannten Regeln

59 60 61 62

Vgl. oben S. 208. A.a.O., S. 345. A.a.O., S. 346. Vgl. oben S. 208.

216

Ν. Die Theorie der juristischen Argumentation

der Argumentation sind nicht Gegenstand möglicher Erkenntnis, sondern bedürfen zu ihrer Geltung einer Entscheidung; es handelt sich mithin nicht um Wissen im kognitiven Sinn, sondern um Festsetzungen. Dies gilt auch für die Regeln, die Alexy fur den „allgemeinen praktischen Diskurs" und den „juristischen Diskurs" formuliert hat. Festsetzungen sind nicht wàhr oder falsch, sondern nur mehr oder weniger zweckmäßig. Alexys Regelkanon wurde deshalb in einem zweiten Schritt auf seine Zweckmäßigkeit zur Regulierung juristischer Argumentation hin untersucht. Auch in dieser Hinsicht erwiesen sich seine Vorschläge aber als durchaus problematisch. Trotz Verwendung weiter, dehnbarer Formulierungen und zahlreicher salvatorischer Klauseln ist es Alexy nicht gelungen, durch die Angabe von Diskursregeln der Vielfalt und Komplexität der in der juristischen Methodenlehre diskutierten Probleme gerecht zu werden. Es wurde gezeigt, daß Alexys Regeln sogar häufig in einer Weise formuliert sind, die Mißverständnisse nahelegt, so daß nicht nur die alten Probleme der Rechtstheorie nicht gelöst, sondern neue geschaffen werden. Ich halte deshalb den Versuch Alexys, eine „Theorie" der juristischen Argumentation zu schaffen, für gescheitert. Das bedeutet nicht, daß sich von Alexy nicht sehr viel lernen ließe; zahlreiche seiner terminologischen Neuerungen und Detailanalysen - etwa seine Ausführungen zur juristischen Dogmatik - betrachte ich als außerordentlich weiterführend. Auch was die geistige Durchdringung aktueller philosophischer Vorschläge und deren Aufarbeitung für die Jurisprudenz betrifft, hat Alexy der deutschen Rechtstheorie ganz neue Maßstabe gesetzt. Unhaltbar scheint mir jedoch der Versuch, die juristische Argumentation in das Korsett von Diskursregeln zu zwängen, die noch dazu teilweise in einem deduktiven Zusammenhang zueinander stehen und ein System bilden sollen. Alexys .Vorschläge entstammen insofern der Tradition des klassischen Rationalismus. Alles in allem erweist sich so die eingangs erwähnte Skepsis der Juristen gegenüber der Philosophie als nicht unberechtigt. Die Vorschläge zu einer Rezeption der formalen Logik und Semantik in der Rechtsanwendungslehre sind zwar durchweg haltbar, doch gehen sie, von der Terminologie einmal abgesehen, hinsichtlich ihre Analyse der Grundstrukturen der Rechtsanwendung über die Untersuchungen Karl Engischs kaum hinaus. Seine eigentliche Leistungsfähigkeit zeigt das neue Instrumentarium erst bei der Anwendung auf juristische Detailprobleme, die aber in der vorliegenden Arbeit nicht thematisiert wurden. Im Vergleich zu den meisten heutigen Rezeptionsversuchen sind die Vorschläge von Koch und Rüßmann außerdem wegen ihrer Klarheit und ihrer gründlichen, alles leere Gerede vermeidenden Beherrschung der schwierigen sprachphilosophischen Materie vorbildlich.

III. Resümee

217

Für die Jurisprudenz interessant sind auch neuere Ansätze zur Argumentationsanalyse, wie sie im Rahmen der „Informal logic44 diskutiert werden. Insbesondere das Toulmin-Schema ist ein brauchbares Mittel zur juristischen Urteils- und Begründungsanalyse. Der technisch weit aufwendigere Strukturalismus findet dagegen in der Jurisprudenz keine adäquaten Anwendungsfelder. Ebenso scheint mir der Versuch, mit Hilfe der Diskursethik zu einer Rechtsbegründung bzw. einer juristischen Argumentationstheorie zu gelangen, gescheitert zu sein.

Literatur

Aarnio , Α.: On the Paradigm Articulation in Legal Research. In: Tammelo, I., Aarnio, A. (Hg.): Zum Fortschritt von Theorie und Technik in Recht und Ethik (Rechtstheorie Beiheft 3). Berlin 1981, S. 45 - 56 Achterberg, N.: Argumentationsmängel als Fehlerquellen bei der Rechtsfindung. In: Krawietz, W. u.a. (Hg.): Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz. Berlin 1979 (Rechtstheorie Beiheft 1) Albert, H.: Ethik und Metaethik. Das Dilemma der analytischen Moralphilosophie. In: Archiv fur Philosophie 11 (1961), S. 28 - 63. Auch in: ders., Topitsch, E.: Werturteilsstreit. 2. Aufl. Darmstadt 1979, S. 472 - 517. (Wege der Forschung Bd. 175) — Traktat über kritische Vernunft. Tübingen 1968. 4 Aufl. 1980. (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften Bd. 9) — Transzendentale Träumereien. Karl-Otto Apels Sprachspiele und sein hermeneutischer Gott. Hamburg 1975 — Die Wissenschaft und die Fehlbarkeit der Vernunft. Tübingen 1982 — Die angebliche Paradoxie des konsequenten Fallibilismus und die Ansprüche der Transzendentalpragmatik. In: Zeitschrift fur philosophische Forschung 41 (1987), S. 421 - 428 — Höstes Sprung in den objektiven Idealismus. Über die Verwirrungen eines ganz gewöhnlichen Genies. In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 20 (1989), S. 124 - 131 Alexy, R.: Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung. Frankfurt a.M. 1978. 2., um ein Nachwort erweiterte Aufl. 1991 — Eine Theorie des praktischen Diskurses. In: Oelmüller, W. (Hg.): Materialien zur Normendiskussion. Bd. 2: Normenbegründung und Normendurchsetzung. Paderborn 1978, S. 22 - 58 — Rechtssystem und praktische Vernunft. In: Rechtstheorie 18 (1987), S. 405 - 419 — Probleme der Diskursethik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 43 (1989), S. 81 - 93 Anderson, J.M., Dovre, P.J. (Hg.): Readings in Argumentation. Boston 1969

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